Poetik der Umschrift: Erzählungen Franz Kafkas im Kontext zeitgenössischer Gemeinschaftsdiskurse [1 ed.] 9783412527389, 9783412527365

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Poetik der Umschrift: Erzählungen Franz Kafkas im Kontext zeitgenössischer Gemeinschaftsdiskurse [1 ed.]
 9783412527389, 9783412527365

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POETIK DER UMSCHRIFT ERZÄHLUNGEN FRANZ KAFKAS IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER GEMEINSCHAFTSDISKURSE

CLEMENS DIRMHIRN

:: INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar-Jena), Alice Stašková (Jena), Václav Petrbok (Prag) und Štěpán Zbytovský (Prag)

Band 22

Clemens Dirmhirn

POETIK DER UMSCHRIFT Erzählungen Franz Kafkas im Kontext zeitgenössischer Gemeinschaftsdiskurse

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Zeichnung von Franz Kafka aus dem Schwarzen Notizbuch. © National Library of Israel, Jerusalem. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52738-9

Inhaltsverzeichnis Danksagung

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Einleitung

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Idealisierung und Verwirklichung von Gemeinschaft Modi der Vermittlung von Idee und Wirklichkeit 1.1 Kafkas Babel-Umschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Zerstreuung als Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Durchlässigkeit zwischen Antike und Moderne: BabelAnalogien und -Identifikationen . . . . . . . . . . . 1.1.3 Distanznahmen zum biblischen Babel-Mythos . . . . 1.2 Fortschritt und Verwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Kafkas ‚Heidentum‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aporien der Verwirklichung: Kafkas literarische Erkundungen 83 2.1 Die Unvereinbarkeit von Idealität und Realität . . . . . . . . 83 2.2 Metaphysisches Streben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.3 Literarische Erkundungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

II Einigungsmittel

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen 3.1 Gründungserzählungen und die Imagination geschlossener Gemeinschaften. Zu Kafkas Wir sind fünf Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft. Zu Kafkas Sündenfallumschriften . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Produktive Ursprungsmythenrezeption im Gemeinschaftsdiskurs um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Kafkas Sündenfall-Umschriften . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Fetischisieren: Das kollektivierende Potential von Undingen. Zu Kafkas Blumfeld ein älterer Junggeselle 4.1 Blumfeld und der Fetischcharakter der Bälle . . . . . . 4.2 Kollaps zwischen gesellschaftlicher und privater Sphäre 4.3 Ein Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Frage der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Widerständigkeit der Bälle . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Die entautomatisierende Wirkung der Bälle . . . . . . . 4.7 Blumfelds Reaktionen auf die Bälle . . . . . . . . . . . 4.7.1 Ignorieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.2 Verheimlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.3 Entledigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Metaphorisieren: Baumetaphern und der zionistische Palästina-Diskurs. Zu Kafkas Alles fügte sich ihm zum Bau 221 5.1 Abgrenzung und Verewigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5.1.1 Annullierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.1.2 Grenzziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 5.1.3 Feindbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 5.2 Politische Argumentation und politische Metaphorik . . . . . 230

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Wuwei: Kafkas China-Erzählungen im Kontext zeitgenössischer China-Diskurse 243 6.1 Die Aktion und die China-Diskurse um 1900 . . . . . . . . . 250 6.2 Kafkas China-Umschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Schlussbemerkungen

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Bibliografie

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Personenregister

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Danksagung Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich an der Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht und verteidigt habe. Sie ist das Resultat inspirierender Dialoge mit zahlreichen Akademiker:innen und Freund:innen sowie der praktischen Unterstützung mehrerer Institutionen und Organisationen. Besonderer Dank gilt meinen Professor:innen, allen voran Prof. Dr. Joseph Vogl und Prof. Dr. Irmela Krüger-Fürhoff, die diese Arbeit mit Interesse, Anteilnahme und konstruktiver Kritik begleitet haben. Des Weiteren bedanke ich mich bei Prof. Dr. Birgit Erdle, die mein Interesse am Thema geweckt hat. Zudem haben die Teilnehmenden unterschiedlicher Kolloquien, Konferenzen und Sommerakademien mit ihrer großzügigen Bereitschaft zur Diskussion die Studie entscheidend vorangetrieben. Besonders möchte ich in diesem Zusammenhang Nora Weinelt und Christoph Sauer danken, mit denen ich im Rahmen unseres sogenannten „Mini-Kolloquiums“ in intensivem und unglaublich bereicherndem und bestärkendem Austausch stand. Dank geht auch an das Kolloquium von Prof. Dr. Joseph Vogl, an die Kolloquien der Friedrich-Schlegel Graduiertenschule, an die IFK-Akademie 2018 zum Thema „Modelle der Zugehörigkeit: Freundschaft, Verwandtschaft, Netzwerk“ sowie an die Mitglieder der Deutschen Kafka Gesellschaft. Ohne ein dreijähriges Stipendium der Friedrich-Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien respektive ein Abschlussstipendium der FAZIT-Stiftung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ein Druckkostenzuschuss des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds ermöglichte schließlich die Publikation in der vorliegenden Form. Für Gutachtertätigkeiten und Beratung bedanke ich mich bei Prof. Dr. Manfred Weinberg sowie bei den Herausgebern der Reihe „Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert“ Prof. Dr. Alice Stašková, Prof. Dr. Steffen Höhne und Dr. Václav Petrbok. Für die vielfältige Unterstützung durch und die fruchtbaren Gespräche mit Prof. Dr. Hans-Gerd Koch, Prof. Dr. Klaus Wagenbach, Katharina Laszlo, Stefan Rois und Simon Steinbeiß bin ich unendlich dankbar. Meinen Eltern danke ich für ihre bedingungslose Bereitschaft zur Unterstützung und für ihre Geduld. Mein größter Dank gilt schließlich Verena Perna, die mich durch alle Höhen und Tiefen dieser Arbeit begleitet und mich stets unterstützt und bestärkt hat.

Einleitung Das Adjektiv ‚kafkaesk‘ wird verwendet, um Erfahrungen oder Situationen zu bezeichnen, die von Absurdität, Beunruhigung, Bedrohlichkeit, Verunsicherung, Ungewissheit, latenten Schuldgefühlen und Resignation geprägt sind. Häufig resultieren sie aus der Konfrontation eines bzw. einer Einzelnen mit einer mächtigen, doch opak und ungreifbar bleibenden, bürokratisch organisierten Allgemeinheit, der sich dieser oder diese hilflos ausgeliefert sieht.1 An diesem Wort, das seit 1973 im Duden verzeichnet ist und in zahlreiche weitere Sprachen Eingang gefunden hat,2 wird der emblematische Status sinnfällig, den die Literatur Franz Kafkas erlangt hat. Dabei steht sie vornehmlich für ein Gefühl der Entfremdung, der existenziellen Einsamkeit, der Isolation des Individuums in und nach der Moderne. Mit Gemeinschaft wird sie im Allgemeindiskurs hingegen selten assoziiert – und wenn doch, so meist nur unter dem Vorzeichen ihres Fehlens. Zurecht wurde darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Bedeutung des Wortes ‚kafkaesk‘ im Zuge seiner alltagssprachlichen Verwendung weitgehend vom Autor, auf den es verweist, und von dessen Texten losgelöst und verselbständigt hat.3 Dennoch reflektiert und prägt es weiterhin die Art und Weise, wie Kafka und die Figuren seiner literarischen Texte – insbesondere außer1

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Auf ähnliche Weise umschreibt Thomas Anz die Bedeutung dieses Wortes. Für ihn bezeichnet es „Situationen und diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung, des Ausgeliefertseins an unbegreifliche, anonyme, bürokratisch organisierte Mächte, der Konfrontation mit Terror, Absurdität, Ausweg- oder Sinnlosigkeit, mit innerer Düsternis, Schuld und Verzweiflung“. Vgl. Thomas Anz. Franz Kafka. Leben und Werk. München: C.H. Beck, 2009, S. 14. Vgl. eng.: ‚Kafkaesque‘, frz.: ‚kafkaïen‘ bzw. ‚kafkaïenne‘, ital., span., portug.: ‚kafkiano‘ bzw. ‚kafkiana‘. Vgl. Anz, Franz Kafka, s. Anm. 1, S. 14. Thomas Anz problematisiert damit jene Bedeutung, die im Duden mit „in der Art der Schilderungen Kafkas“ angegeben wird. „Kafkaesk (Lemma)“. In: Duden – Deutsches Universalwörterbuch. Hrsg. von Dudenredaktion. 9. Aufl. Berlin: Dudenverlag, 2019, S. 974. Sein Befund deckt sich auch mit jenem Rainer Nägeles, der sich kritisch auf eine weitere im Duden verzeichnete Bedeutung des Wortes bezieht. Laut Duden meint ‚kafkaesk‘ nämlich auch „auf rätselhafte Weise unheimlich, bedrohlich“. Nägele stellt demgegenüber überzeugend dar, dass sich Kafkas Texte durchaus mit Begriffen wie dem Rätselhaften, Befremdlichen in Verbindung bringen lassen, nicht aber mit dem des Unheimlichen. Vgl. Rainer Nägele. „Kafkaesk“. In: Odradeks Lachen. Fremdheit

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halb des einschlägigen wissenschaftlichen Diskurses – vielfach wahrgenommen werden. Ohne die Kraft der literarischen Bilder Kafkas wäre die Karriere, die der von seinem Namen abgeleitete Begriff gemacht hat, gewiss nicht möglich gewesen. Doch diese Bilder, die in der Tat oftmals – wenn auch keineswegs ausschließlich – auf Erfahrungen fundamentaler Entfremdung hindeuten, zeichnen sich wesentlich durch ihre Vieldeutigkeit und Offenheit aus. Zwar werden scheinbar klare Oppositionen etwa zwischen Kollektiv und Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft,4 Einheit und Zerstreuung, Ideal und Wirklichkeit, Mythos und Moderne auch in vielen Texten Kafkas aufgerufen, wodurch sie sich als äußerst anschlussfähig für ganz unterschiedliche zeitgenössische Gemeinschaftsdiskurse erweisen, die mit solchen Dichotomien operieren. Bei genauer Lektüre zeigt sich jedoch meist, dass diese Leitdifferenzen in den Kafka’schen Texten mit unterschiedlichen erzählerischen Mitteln unterlaufen werden. Festlegungen auf eine Seite innerhalb dieser Polaritäten werden ihrer Komplexität nicht gerecht. Aufgrund dieser Ambivalenz, die Kafkas Texte auszeichnet und jede scharfe Antithetik unterläuft, lässt sich aus der Assoziation Kafkas mit all dem, was unter den Begriff der Gesellschaft bzw. der Moderne rubriziert wird – sei es die Einsamkeit, die Entfremdung, die Auflösung des Subjekts, die Kontingenz, das Occasionelle,5 die Fragmentierung oder der Bruch – keineswegs eine grundsätzliche Verweigerung oder

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bei Kafka. Hrsg. von Hansjörg Bay und Christof Hamann. Freiburg im Breisgau, Berlin: Rombach Verlag, 2006, S. 21–39, S. 21. Gemeinschaft und Gesellschaft ist auch der Titel einer äußerst wirkmächtigen Schrift Ferdinand Tönnies’, die über den sozialwissenschaftlichen Diskurs hinaus starke Verbreitung gefunden hat und bis in die Gegenwart nachwirkt. Die dort entfaltete scharfe Antithetik verdeckt allerdings eine gewisse Ambivalenz des Gemeinschaftsbegriffs. Während nämlich die ideale oder quasi-ideale Gemeinschaft konzeptionell in direkte Opposition zum eng mit der Moderne verknüpften Verständnis von Gesellschaft gesetzt wird, ist der Gemeinschaftsbegriff als solcher ein genuin modernes Phänomen, da er seinerseits eine Reaktion auf die krisenhafte Erfahrung modernen gesellschaftlichen Lebens darstellt.Vgl. Lars Gertenbach u. a., Hrsg. Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag, 2010, S. 38. D. h. dem Begriffsinhalt, der auf eine idealtypische überzeitliche und vorpolitische Gemeinschaft im Sinne Tönnies’ deutet, steht die unübersehbar historische Signatur seiner überaus politischen Verwendung gegenüber, die vornehmlich in Krisenzeiten Konjunktur hat, denn gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung der Entfremdung, der Vereinzelung und Vereinsamung werden Forderungen nach Gemeinschaft allererst virulent. Unter dem Begriff des Occasionellen werden all jene defigurierenden Kräfte zusammengefasst, die klassisch-repräsentative Formen auflösen und so Ununterscheidbarkeitszonen einführen. Bei Carl Schmitt wird die Möglichkeit eindeutige, klare Unterscheidungen treffen zu können zum Kriterium, um die Klassik von der Romantik abzugrenzen. Vgl. hierzu Friedrich Balke. „Fluchtlinien des Staates. Kafkas Begriff des Politischen“. In: Gilles De-

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Unzuständigkeit in Fragen der Gemeinschaft ableiten. Umgekehrt folgt aber aus Kafkas literarischem Einsatz für bzw. Auseinandersetzung mit alternativen Gemeinschaftsentwürfen ebensowenig sein Einstimmen in den zeitgenössischen Chor derer, die regressiven Gemeinschaftsutopien das Wort reden. Früh schon haben sich Wissenschaftler wie Klaus Wagenbach oder Gilles Deleuze und Félix Guattari darum bemüht, das Bild Kafkas6 als introvertierten, weltabgewandten, düsteren „Dichter der Einsamkeit, der Schuld und des inneren Unglücklichseins“7 zu korrigieren und dafür plädiert, Kafka als politischen Autor zu profilieren und in seiner Zeit zu verorten. Nicht zuletzt seine literarischen Texte zeigen, dass er sich keineswegs von der Welt zurückzog, sondern die Entwicklungen seiner Zeit vielmehr genau verfolgte. Tatsächlich verstellt das Klischee eines einsamen, nur um sich kreisenden, resignativ-fatalistischen und eskapistischen Autors, an dessen Herausbildung Kafkas Darstellung seiner selbst in den Briefen und Tagebüchern gewiss ihren Anteil haben, zwei entscheidende Qualitäten seiner Literatur: zum einen ihren genuin politischen Charakter und zum anderen deren auf Intertextualität basierende Schreibweise, die hier als Poetik der Umschrift genauer in den Blick genommen werden soll. Dennoch hat man Kafka und seine Protagonisten auch innerhalb der wissenschaftlichen Kafka-Rezeption immer wieder auf die Rolle des Solitärs festgelegt, Kafkas eigene mitunter ironisch übersteigerten Selbststilisierungen zu unkritisch übernommen8 oder aus einem Denken in Oppositionen heraus falsche Schlüsse daraus gezogen und daher lange Zeit hindurch vernachlässigt, dass Überlegungen zu alternativen Modellen kollektiven Zusammenlebens,

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leuze. Fluchtlinien der Philosophie. Hrsg. von Friedrich Balke und Joseph Vogl. München: Wilhelm Fink Verlag, 1996, S. 150–178. Dagegen hat jüngst Klaus Wagenbach „die Schulweisheit vom dunklen Kafka“ kritisiert und mit einer kleinen Anthologie versucht, einen heiteren Kafka stark zu machen. Im Vorwort macht Wagenbach auf die Retuschierung des letzten Kafka-Portraits von 1923 durch die Werbeabteilung des Fischer Verlags in den 50er Jahren aufmerksam, die den Eindruck eines düsteren, geheimnisvollen, der Welt enthobenen Kafka vermitteln sollte. Vgl. Klaus Wagenbach. „Vorbemerkung“. In: Ein Käfig ging einen Vogel suchen. Komisches und Groteskes. Zusammengetragen von Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach, 2018, S. 9–12, S. 9 sowie die Gegenüberstellung von unbearbeitetem und bearbeitetem Portrait auf S. 10. Gilles Deleuze und Félix Guattari. Kafka. Für eine kleine Literatur. Übers. von Burkhart Kroeber. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1976. Diesbezüglich hat auch Monika Schmitz-Emans eine Warnung ausgesprochen: „Kurzschlüssig wäre es allerdings, Kafkas Selbststilisierungen beim Wort zu nehmen. Vor allem am Klischeebild des einsamen, weltabgewandten, schriftstellerisch und beruflich erfolglosen Autors wäre vieles zu korrigieren.“ Monika Schmitz-Emans. Franz Kafka. Epoche – Werk – Wirkung. München: C.H. Beck, 2010, S. 25 f.

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die man im Unterschied – nicht im Gegensatz – zu den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen als gemeinschaftliche bezeichnen könnte,9 gleichermaßen im Zentrum von Kafkas literarischem Schaffen stehen. So behauptet etwa Marthe Robert in ihrer Monografie Einsam wie Franz Kafka, Kafka sage selten ‚wir‘.10 Dagegen konnte Vivian Liska in ihrem Buch Fremde Gemeinschaft, das zuvor bereits auf Englisch unter dem in diesem Zusammenhang aussagekräftigeren Titel When Kafka says we. Uncommon communities in German-Jewish literature 11 erschienen war, überzeugend darstellen, dass Kafka die erste Person Plural viel häufiger verwendet, als gemeinhin angenommen wird.12 Tatsächlich durchzieht dieses Personalpronomen nicht nur seine Tagebücher und Briefe, sondern auch Kafkas Erzählungen und Fragmente während der gesamten Zeit seines Schaffens. Nun wirft aber schon die Verwendung dieses Pronomens unweigerlich eminent politische Fragen rund um jene Gemeinschaften auf, die die verschiede9

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Wenn hier am Begriff der Gemeinschaft festgehalten wird, so geschieht dies, um die Wirkmacht, die von ihm ausgeht, nicht den totalitären, identitären, völkischen oder nationalistischen Tendenzen innerhalb des politischen Diskurses zu überlassen. Allerdings gilt es, ihn von seinen substanzialistischen Bedeutungen zu befreien, ihn zu ‚entwerken‘, um es mit Jean-Luc Nancy zu sagen. D. h. seine „Desymbolisierung“ anzustreben „und die machtgestützten Rituale politisch-sozialer Identitätsstiftungen“ zu unterlaufen. Joseph Vogl, Hrsg. Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994, S. 10. Dabei lässt sich festhalten, dass die Erzählungen Kafkas selbst von solchen Strategien zeugen, die auf ‚Entwerkung‘ zielen. Zur Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Festhaltens am Gemeinschaftsbegriff siehe auch Jean-Luc Nancy. Die herausgeforderte Gemeinschaft. Übers. von Esther von der Osten. Zürich, Berlin: diaphanes, 2007, S. 19, S. 30 ff. Vgl. Marthe Robert. Einsam wie Franz Kafka. Fischer Taschenbuch Verlag, 1987, S. 52. Der Titel des Buchs geht im Übrigen auf eine Anekdote aus Gustav Janouchs Gespräche mit Kafka zurück, der zufolge Kafka auf die Frage, ob er so einsam wie Kaspar Hauser sei lachend geantwortet haben soll: „Viel ärger als Kaspar Hauser. Ich bin einsam – wie Franz Kafka.“ Gustav Janouch. Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Erweiterte Neuausgabe: 41.–50. Tausend. S. Fischer, 1981, S. 86. Die Selbstironie und das Lachen Kafkas, die sich im Buchtitel nicht vermitteln, machen deutlich, wie durch Dekontextualisierung der Eindruck eines Ernstes entsteht, den die Aussage in ihrem ursprünglichen Zusammenhang nicht erweckte. Vivian Liska. When Kafka says we. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press, 2009. Vgl. Vivian Liska. Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne. Göttingen: Wallstein, 2011, S. 20. Neben Liska hat sich auch Ritchie Robertson mit den Besonderheiten der ersten Person Plural und ihrer Verwendung in Kafkas Erzählungen auseinandergesetzt: Ritchie Robertson. „‚Ich‘ and ‚wir‘. Singular and Collective Narrators in Kafka’s Short Prose“. In: Kafka und die kleine Prosa der Moderne. Kafka and Short Modernist Prose. Hrsg. von Manfred Engel und Ritchie Robertson. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010, S. 67–77.

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nen Verwendungsweisen des ‚Wir‘ jeweils suggerieren. Bereits eine frühe Tagebucheintragung vom 26.03.1911 thematisiert im Zuge der Schilderung des nächtlichen Heimwegs vierer Freunde ein Unbehagen beim Sprechen für andere, wenn es heißt: „Franz schien es als bekomme er zur Strafe dafür dass er ungebeten für alle rede, eine hohle Stimme.“13 Der Gebrauch der ersten Person Plural, an den sich das Problem der Fürsprache14 notwendigerweise knüpft, wirft Fragen der Repräsentation und der Legitimität des Sprechens für andere auf. Entsprechend sind diese Fragen noch in den zahlreichen späteren Erzählungen, in denen ein meist namenlos bleibender Ich-Erzähler als Exponent eines größeren Kollektivs spricht,15 ebenso virulent wie jene nach den Möglichkeiten innerhalb eines ‚Wir‘ zu differenzieren.16 Zudem sind Fragen des Ein- und Ausschlusses, der Zugehörigkeit und damit der Konstituierung von Gruppen nicht zuletzt aufgrund jener Ambiguität der ersten Person Plural im Deutschen unvermeidlich, die darin besteht, dass der oder die Angesprochene(n) mitgemeint oder exkludiert sein kann/können.17 In diesem Zusammenhang ließe sich noch ergänzen, dass Kafkas Erzählungen häufig das unpersönliche Indefinitpronomen ‚man‘ enthalten,18 das verwendet werden kann, um bestimmte Verhaltens- oder Wahrnehmungsweisen als konventionell, üblich oder allgemeingültig zu markieren, ohne genauer spezifizieren zu müssen, unter welchen Bedingungen dies zutrifft und ob die Gültigkeit solcher Behauptung auf bestimmte Personengruppen einzuschränken wäre. Folglich stellt sich auch hier die Frage der Legitimität pauschalen Urteilens respektive wie man sich die Erzählinstanz eigentlich vorzustellen hätte, die so unpersön-

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Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1990 (im Folgenden zit. als KKAT), S. 166. Zur Konstellation der Fürsprache, die in vielen von Kafkas Texten verhandelt wird, siehe Doreen Densky. Literarische Fürsprache bei Franz Kafka. Rhetorik und Poetik. Hrsg. von Beate Kellner und Claudia Stockinger. Bd. 33. Deutsche Literatur. Studien und Quellen. Berlin, Boston: De Gruyter, 2020 und Rüdiger Campe. „Kafkas Fürsprache. Koloniale Visionen in Schaffsteins Grüne Bändchen und Kafkas Das Schloß“. In: Kafkas Institutionen. Hrsg. von Arne Höcker und Oliver Simons. Bielefeld: transcript, 2007, S. 189–212. So etwa in Beim Bau der Chinesischen Mauer, Ein altes Blatt, Zur Frage der Gesetze, Forschungen eines Hundes, Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse, um nur einige wenige zu nennen. So etwa in der Erzählung Zur Frage der Gesetze Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II), S. 270–273. Andere Sprachen, wie das in der Sahelzone gesprochene Fulfulde, differenzieren hier mit je eigenen Personalpronomina. Vgl. Robertson, „‚Ich‘ and ‚wir‘“, s. Anm. 12, S. 71–75.

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lich wirkt19 und doch immer wieder in den Verdacht gerät, befangen zu sein und bloß Meinungshaftes als allgemeingültig auszugeben. Entsprechend zeugt bereits die prominente Verwendung der genannten Pronomina von einer anhaltenden Auseinandersetzung mit Fragen der Herstellung von Allgemeinheit, der ästhetischen und politischen Repräsentation von Gruppen sowie ihrer Konstituierung durch Inklusion, Exklusion, Homogenisierung und Normalisierung. Der Art und Weise, wie solch gemeinschaftsbezogene, politische Fragen und Aporien in Kafkas Texten verhandelt werden, gilt das zentrale Interesse der vorliegenden Arbeit. Die Relevanz der Literatur Kafkas für die Auseinandersetzung mit Fragen der Gemeinschaft und umgekehrt hat man gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft auf zwei Forschungsfeldern vermehrt wahrgenommen: Im Nachgang der Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte ist ein verstärktes Interesse an ungewöhnlichen Formen von Gemeinschaft von Seiten poststrukturalistischer Theorien zu bemerken. Sie wenden sich gleichermaßen gegen eine ontologische Vorrangigkeit sowohl des Individuums als auch der Gemeinschaft, indem sie beide Konzepte dekonstruieren.20 Dabei teilen diese Theorien das Anliegen, einen Begriff von Gemeinschaft zu retten, der totalitären substanzialistischen Tendenzen entkommt und entsprechenden Vereinnahmungen entgegentritt.21 Wichtige Beiträge kommen etwa von Maurice Blanchot,22 Jean-Luc Nancy,23 Giorgio Agamben,24 Roberto Esposito25 und Joseph Vogl.26 Aus dieser Richtung hat auch die neuere Kafka-Forschung ent-

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Vgl. Joseph Vogl. „Vierte Person. Kafkas Erzählstimme“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68.4 (1994), S. 745–756, S. 754 f. Einen kompakten Überblick zur Bedeutung des Kommunitarismus-Liberalismus-Streits für die Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftsbegriff im Rahmen poststrukturalistischer Theorien bietet Gertenbach u. a., s. Anm. 4, S. 153 ff. Ebd., S. 158. Maurice Blanchot. Die uneingestehbare Gemeinschaft. Übers. von Gerd Bergfleth. Berlin: Matthes und Seitz, 2007, S. 184. Jean-Luc Nancy. Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart: Patricia Schwarz, 1988; Jean-Luc Nancy. Being singular plural. Übers. von Robert D. Richardson und Anne E. O’Byrne. Bd. 1. Stanford: Stanford University Press, 2000; Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, s. Anm. 9. Giorgio Agamben. Die kommende Gemeinschaft. Übers. von Andreas Hiepko. Berlin: Merve Verlag, 2003. Roberto Esposito, Sabine Schulz und Francesca Raimondi. Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Übers. von Sabine Schulz und Francesca Raimondi. Berlin: diaphanes, 2004. Vogl, Gemeinschaften, s. Anm. 9.

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scheidende Impulse erhalten und der Auseinandersetzung mit Gemeinschaftsentwürfen in Kafkas Texten verstärkt ihre Aufmerksamkeit gewidmet.27 Die Beiträge Vivian Liskas28 ließen sich in diese Aufzählung insofern aufnehmen, als sie mit diesen Ansätzen die Ausrichtung teilen, sich „jeder Verbundenheit oder Verschmelzung [zu widersetzen], die auf einem vereinheitlichten, institutionalisierten und ausgrenzenden gemeinsamen Grund besteht und einem scharf definierten Ziel und einer klaren Konzeptualisierung ihrer selbst unterworfen ist.“29 Allerdings distanziert sie sich vom Ideal eines „quasi willkürlichen Zusammenschlusses“30 innerhalb vieler dieser Ansätze, da es einem solchen Ideal „an allen Spuren, die einer gemeinsamen Vergangenheit, Erziehung, Tradition, Sprache, Religion oder Geschichte entstammen“31 mangle. Mit der Loslösung von allen intrinsischen Bindungen ignoriere oder verneine man die Brüche, Leiden und Ambivalenzen, von denen Kafkas Texte Zeugnis ablegen. Damit schlägt sie – und ähnlich auch Caspar Battegay32 – die Brücke zu einer weiteren Perspektive, aus der Kafkas Auseinandersetzungen mit Gemeinschaft beleuchtet werden, nämlich zu stärker historisch orientierten Zugängen, die vornehmlich an Kafkas Verhältnis zum Judentum bzw. zum Zio-

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Siehe etwa Joseph Vogl. Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München: Wilhelm Fink, 1990; Joseph Vogl. „Grenze der Gemeinschaft. Undarstellbarkeit bei Kafka“. In: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard. Hrsg. von Christine Pries und Wolfgang Welsch. 1935. Weinheim: VCH Acta humaniora, 1991, S. 143–152; Joseph Vogl. „Kafkas Babel“. In: Poetica 26 (1994), S. 374–384; Caspar Battegay. Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Reihe Jüdische Moderne. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2011; Stijn De Cauwer. „Tearing Down the Wall. Franz Kafka and the Possibility of a Literary Immunity“. In: Neophilologus 99.3 (2015), S. 449–464; Obrad Savić. „Community of non-belonging“. In: Belgrade Journal for Media and Communications 2 (2012), S. 11–29; Benno Wagner. „‘Lightning no Longer Flashes’. Kafka’s Chinese Voice and the Thunder of the Great War“. In: Franz Kafka. Narration, rhetoric, and reading. Hrsg. von Jakob Lothe, Beatrice Sandberg und Ronald Speirs. Theory and interpretation of narrative. Columbus: The Ohio State University Press, 2011, S. 58–80. Vivian Liska. „Nachbarn, Feinde und andere Gemeinschaften“. In: Kafka, Zionism and Beyond. Hrsg. von Mark H Gelber. Tübingen: Niemeyer, 2004, S. 89–105; Liska, When Kafka says we, s. Anm. 11; Liska, Fremde Gemeinschaft, s. Anm. 12; Vivian Liska. „‚Wir‘ sagen. Zur Frage der Zugehörigkeit und Gemeinschaft“. In: Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Hrsg. von Isolde Charim und Gertraud Auer Borea. Bielefeld: transcript, 2012, S. 175–183. Liska, Fremde Gemeinschaft, s. Anm. 12, S. 12. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12. Battegay, Das andere Blut, s. Anm. 27.

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nismus interessiert sind, das anhand historischer und biografischer Quellen rekonstruiert wird.33 Was bislang noch aussteht und mit dieser Arbeit geleistet werden soll, ist eine Untersuchung derjenigen Erzählungen Kafkas, die sich mit unterschiedlichen Formen und Aporien der Gemeinschaft auseinandersetzen, die die theoretisch-politische Ausrichtung dekonstruktivistischer Ansätze mit einer diskurshistorischen Perspektive verknüpft, aus der ein breiteres Spektrum an Gemeinschaftsdiskursen – über das Jüdische hinaus – in den Blick genommen wird.34 Dies erscheint angesichts der zu untersuchenden Erzählungen notwendig, die mit ihrer spezifischen Poetik der Umschrift unterschiedliche diskursive Konstellationen aufrufen und als Resonanzboden nutzen, so die leitende These. Kafka war ein genauer Beobachter seiner Zeit, nahm virulente Diskurse präzise wahr und vermochte diese in seine literarischen Texte zu übersetzen bzw. einzubinden. Seine Aufmerksamkeit gegenüber technischen Neuerungen etwa im Bereich neuer Kommunikations- und Speichermedien wie dem Parlographen, dem Telefon, der Telegraphie,35 dem Kino36 oder auch für neue Transportmittel,37 seine Involvierung in den Modernisierungsprozess 33

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Siehe etwa Ritchie Robertson. Kafka. Oxford: Clarendon Press, 1987 und (Giuliano Baioni. Kafka - Literatur und Judentum. Übers. von Gertrud Billen und Josef Billen. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994). Für Arbeiten, die dieses Spektrum über Judentum und Zionismus hinaus vor allem in Richtung versicherungs- und verwaltungstechnischer Diskurse erweitert haben, siehe folgende Beiträge von Benno Wagner: Benno Wagner. „Die Versicherung des Übermenschen. Kafkas Akten“. In: Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hrsg. von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008, S. 259–294; Benno Wagner. „Fürsprache - Widerstreit - Dialog. Karl Kraus, Franz Kafka und das Schreiben gegen den Krieg“. In: Kafka, Prag und der Erste Weltkrieg. Kafka, Prague and the First World War. Hrsg. von Manfred Engel und Ritchie Robertson. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 257–272; Benno Wagner. „‚Ende oder Anfang¿. Kafka und der Judenstaat“. In: Kafka, Zionism and Beyond. Hrsg. von Mark H Gelber. Tübingen: Niemeyer, 2004, S. 219–238; Benno Wagner. „Kafkas ‚vergleichende Völkergeschichte‘. Eine Skizze zum Verhältnis von Literatur und kulturellem Wissen“. In: Aussiger Beiträge (2 2008), S. 89–99; Wagner, „‘Lightning no Longer Flashes’“, s. Anm. 27. Vgl. dazu etwa Wolf Kittler. „Schreibmaschinen, Sprechmaschinen. Effekte technischer Medien im Werk Franz Kafkas“. In: Franz Kafka. Schriftverkehr. Hrsg. von Gerhard Neumann und Wolf Kittler. Freiburg im Breisgau: Rombach, 1990, S. 76–163. Vgl. dazu Hanns Zischler. Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996. Schon 1907, als sich der Bestand an Motorrädern in der gesamten Donaumonarchie auf lediglich 5387 Fahrzeuge beläuft, schreibt Kafka seinem Freund Max Brod einen Brief aus Triesch, jenem Ort in Böhmen, in dem sein Onkel Siegfried Löwy als Landarzt arbeitet, in dem er ihm begeistert von seinen vielen Motorradfahrten mitteilt, er fahre viel Motor-

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des Versicherungswesens,38 sein Interesse an den Siedlungsplänen in Palästina,39 am Anarchismus40 und an unzähligen weiteren Aspekten des zeitgenössischen Geschehens sind gut dokumentiert. Und wenn man in der folgenden Notiz aus dem sogenannten achten Oxforder Oktavheft jenes Aussagesubjekt, das hier ‚ich‘ sagt, mit Kafka gleichsetzen darf, so präsentiert er sich gleichsam als Medium seiner Zeit, wenn er festhält: „ich [habe] das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämpfen sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht habe, kräftig aufgenommen“.41 Dass Kafkas Texte auch heute noch große Aktualität beanspruchen können, scheint an eben diesem Vermögen zu liegen, bestimmte ihnen zeitgenössische Entwicklungen zu reflektieren, die bis heute fortwirken oder andauern und damals wie heute drängende Fragen, etwa nach alternativen Formen des Zusammenlebens, aufwerfen. Mit der Dominanz werkimmanenter bzw. allegorischer Interpretationen, die die Kafkaforschung insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg lange bestimmte,42 wurde aber nicht nur die Welthaltigkeit der Texte Kafkas verkannt, sondern auch ein wesentlicher Aspekt ihrer Schreibweise übersehen:

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rad. In einem Die Aeroplane in Brescia betitelten Artikel, der am 28. September 1909 in der Prager Zeitung Bohemia erschien, berichtet er von einer der ersten internationalen Flugshows, die vom 5. bis 13. September bei Brescia in Italien stattgefunden hatte. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe 1900–1912. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1999 (im Folgenden zit. als KKABr 1), S. 53; Klaus Wagenbach. Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Zweite Auflage der dritten, erweiterten Neuausgabe 2008. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2008, S. 54, 123 ff. Vgl. Joseph Vogl. „Lebende Anstalt“. In: Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hrsg. von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008, S. 21–33; Wagner, „Die Versicherung des Übermenschen“, s. Anm. 34. Vgl. Robertson, Kafka, s. Anm. 33; Mark H Gelber, Hrsg. Kafka, Zionism and Beyond. Tübingen: Niemeyer, 2004; Wagner, „‚Ende oder Anfang¿“, s. Anm. 34; Philipp Theisohn. Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005; Iris Bruce. Kafka and Cultural Zionism. Dates in Palestine. Madison: University of Wisconsin Press, 2007; Na’ama Rokem. „Zionism before the Law. The Politics of Representation in Herzl and Kafka“. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 83.4 (2008), S. 321–342. Vgl. Klaus Wagenbach. Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend. 1883–1912. Bern: Francke Verlag, 1958, 162 ff. KKAN II, S. 98. Nach Klaus Wagenbach kam die werkimmanente Interpretation vornehmlich jenen Germanisten zupass, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus kompromittiert hatten. Zugespitzt formuliert es Wagenbach in einem Interview anlässlich seines 80. Geburtstags folgendermaßen: „Je brauner, desto werkimmanenter.“ Vgl. https:// www.deutschlandfunk.de/zum–80-geburtstag-von-klaus-wagenbach–100.html.

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das Kalkulieren mit der unvermeidlichen intertextuellen Dimension von Texten. Im Folgenden soll diese Schreibweise als Poetik der Umschrift, der EntWendung, des Paragrammatischen genauer in den Blick genommen werden. Zunächst lässt sich festhalten, dass sich diese Poetik als intertextuelle Schreibweise präsentiert,43 als Verfahren, das Elemente aus höchst heterogenen literarischen wie außerliterarischen Kontexten aufgreift, transformiert, überlagert und zu neuen Ensembles kombiniert.44 Lektüre und Schrift, Produktion und Rezeption sind dabei eng verschränkt.45 Mit Julia Kristeva kann man diese Transformationen von Schreibweisen in Lesarten und Lesarten in Schreibweisen als „Schreiben-Lesen [écriture-lecture]“46 bezeichnen. In diesem Zusammenhang macht Kristeva auf weitere Bedeutungen des Verbs ‚lesen‘ in der Antike aufmerksam,47 das „auch ‚sammeln‘, ‚pflücken‘, ‚erspähen‘, ‚aufspüren‘, ‚greifen‘, ‚stehlen‘“48 bedeute und 43

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Schreibweise wird hier im Sinne Roland Barthes verwendet. Während der historische Kontext eines bestimmten literarischen Textes häufig in Opposition zur ästhetischen Struktur dieses Textes gesetzt wird, hat Roland Barthes bereits in den 1950er-Jahren in seinem Buch Le degré zero de l’écriture versucht, die ästhetische Form eines Textes aus seiner Situierung in einem spezifischen kulturellen Kontext zu verstehen. Im Unterschied zu herkömmlichen Auffassungen von Schreibweise (Vgl. beispielsweise den Lexikoneintrag „Schreibweise“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2013, S. 678–679, S. 678) meint ‚écriture‘ bei Barthes gerade nicht etwas Ahistorisches. Für Barthes ist Schreibweise im Unterschied zu Sprache oder Stil „eine Funktion“, in der das „Geschaffen[e]“ und die „Gesellschaft“ aufeinander bezogen sind, „sie ist die durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise, sie ist die in ihrer menschlichen Intention ergriffene Form, die somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist.“ Roland Barthes. Am Nullpunkt der Literatur. Aus dem Französischen übers. von Helmut Scheffel. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2006, S. 18. In ähnlicher Weise charakterisieren Claudia Liebrand und Franziska Schößler „Kafkas intertextuelles Verfahren“ vgl. Claudia Liebrand und Franziska Schößler. „Einleitung“. In: Textverkehr. Kafka und die Tradition. Hrsg. von Claudia Liebrand und Franziska Schößler. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 7–16, S. 7. Zum Verhältnis von Lesen und Schreiben bei Kafka siehe ausführlich Andreas B. Kilcher und Detlef Kremer. „Die Genealogie der Schrift. Eine transtextuelle Lektüre von Kafkas Bericht für eine Akademie“. In: Textverkehr. Kafka und die Tradition. Hrsg. von Claudia Liebrand und Franziska Schößler. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 45–72. Hier wird mit Bezug auf Kafka „die poetologische Funktion des Lesens“ an einer „Pänomenologie des Lesens“ festgemacht, ebd., S. 46. Julia Kristeva. „Zu einer Semiologie der Paragramme“. In: Strukturalismus als interpretatives Verfahren. Hrsg. von Helga Gallas. Darmstadt: Luchterhand, 1972, S. 161–200, S. 171. Vermutlich bezieht sie sich dabei auf das altgriechische Verb légein. Kristeva, „Zu einer Semiologie der Paragramme“, s. Anm. 46, S. 171.

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also auf ein Moment der aktiven Aneignung verweise. Etwas zugespitzt lässt sich entsprechend von einer ‚Poetik der Ent-Wendung‘ sprechen, bei der aus dem Archiv verfügbarer Texte49 – dazu sind auch Sprechakte zu zählen – etwas ‚aufgeschnappt‘, ‚erhascht‘ und – bewusst oder unbewusst – dem eigenen Text anverwandelnd eingeschrieben wird. In diesem Sinne lässt sich auch Kafkas vermutlich mit Blick auf die BlumfeldErzählung verfasste Tagebuchnotiz: „Ich schreibe Bouvard und Pécuchet sehr frühzeitig“50 als Anspielung auf das intertextuelle Verfahren Gustave Flauberts verstehen, das sich im Falle dieses unvollendet gebliebenen Romans bekanntlich durch besonders exzessives aneignendes Zitieren und Persiflieren unterschiedlicher literarischer und wissenschaftlicher Texte auszeichnet. Bei Flaubert wie bei Kafka entspricht dabei die Heterogenität und Kontingenz potentieller Referenztexte einer gewissen Wahllosigkeit ihrer eigenen Lektüren.51 So liest Kafka Klassiker wie Goethe, Grillparzer, Dostojewski, Kleist und Flaubert52 ebenso wie Zeitschriften, Memoiren oder Kinderbücher, etwa jene Heinrich Hoffmanns oder Schaffsteins grüne Bändchen, die er als „offenbar[en] Schund“53 bezeichnet bzw. als „Vorschrift“ seines Lebens beschreibt, der er entweiche oder entwichen sei und die er doch zu seinen Lieblingsbüchern zählt.54 49

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Der Begriff des Archivs wird hier im Sinne Moritz Baßlers verwendet und umfasst „die Summe aller Texte einer Kultur, die einer Untersuchung zur Verfügung stehen“. Moritz Baßler. Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-KontextTheorie. Tübingen: Francke, 2005, S. 196. KKAT, S. 726. Zwischen Konzeption und Beginn der Niederschrift liegen bei Flaubert über zehn Jahre, wobei er zur Vorbereitung nach eigener Angabe über 1500 Bücher gelesen haben soll. So schreibt er am 24.01.1880 an Mme Roger des Genettes: „Savez-vous à combien se montent les volumes qu’il m’a fallu absorber p[ou]r mes deux bonshommes ?– À plus de 1,500.“ Gustave Flaubert. Flaubert à Edma Roger des Genettes, Croisset, 24 janvier 1880. Correspondance électronique de Flaubert. Hrsg. von Yvan Leclerc und Danielle Girard, 2017. URL: https://flaubert.univ-rouen.fr/jet/public/correspondance/trans.php?id= 13494 (besucht am 30. 03. 2020). Die vier letzteren zählt er in einem Brief an Felice Bauer gar zu seinen gefühlten Blutsverwandten. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe 1913–März 1914. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2001 (im Folgenden zit. als KKABr 2), S. 275. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005 (im Folgenden zit. als KKABr 3), S. 271. Ein Verzeichnis jener Bücher, die Kafkas Bibliothek umfasste bzw. die er in Briefen und Tagebüchern erwähnt, findet sich in: Jürgen Born. Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1990.

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Dass diese Absichtslosigkeit der Lektürewahl durchaus Programm ist, wird in einer Textstelle aus den Hochzeitsvorbereitungen deutlich, in der Rezeption und Produktion ebenfalls eng aufeinander bezogen sind, sofern man in der ‚Unternehmung‘, von der hier die Rede ist, ein Schreibprojekt vermuten darf: Bücher sind nützlich in jedem Sinn und ganz besonders, wo man es nicht erwarten sollte. Denn, wenn man eine Unternehmung vorhat, so sind gerade die Bücher, deren Inhalt mit der Unternehmung gar nichts Gemeinschaftliches hat, die nützlichsten. […] Denn der Leser, der doch jene Unternehmung beabsichtigt, also irgendwie […] erhitzt ist, wird durch das Buch zu lauter Gedanken gereizt, die seine Unternehmung betreffen. Da nun aber der Inhalt des Buches ein gerade ganz gleichgültiger ist, wird der Leser in jenen Gedanken gar nicht gehindert und er zieht mit ihnen mitten durch das Buch […].55

Gerade die Abwesenheit inhaltlicher Gemeinsamkeiten zwischen den vorausliegenden Lektüren56 bzw. den aufgerufenen Kon-Texten und dem literarischen Text erweitert die „Möglichkeiten […] intertextueller Resonanzen und Assonanzen“57 und sorgt für die Öffnung und Polyvalenz des an sich fixierten literarischen Textes. Je zahlreicher die Perspektiven auf eine bestimmte Thematik, etwa auf jene gemeinschaftlichen Zusammenlebens, je vielfältiger die Äußerungsweisen und Diskurse, aus denen Sprachbilder, Narrative, Erklärungsmuster, etc. eingebunden werden, desto vielschichtiger stellt sich diese Thematik dar und desto deutlicher gewinnt ein literarisches Wissen von ihr an Kontur. Mit Joseph Vogl ließe sich zur Bezeichnung des Grads dieser Vielschichtigkeit von einer besonders ausgeprägten „Überschneidungsdichte“58 sprechen. Kafkas intertextuelles Verfahren präsentiert sich also wesentlich als „Arbeit am Kontext“59 und zeichnet sich einerseits durch ein zentrifugales Moment der Dispersion aus, sofern möglichst zahlreiche, heterogene Kon-Texte aufgerufen werden, die den fixierten Text öffnen, andererseits eignet ihm auch ein zentripedales Moment der Überlagerung, da all diese disparaten Kon-Texte palimpsestartig im literarischen Text durchscheinen und sich in ihm versammeln. 55

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Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I), S. 48. Das kann sowohl Lektüren auf Seiten der Produktion als auch auf Seiten der Rezeption betreffen, wobei der Autor immer bereits der erste Leser seiner Texte ist. Kilcher und Kremer, s. Anm. 45, S. 70. Joseph Vogl. „Poetologie des Wissens“. In: Einführung in die Kulturwissenschaft. Hrsg. von Harun Maye und Leander Scholz. München: Wilhelm Fink, 2011, S. 49–71, S. 67. Andreas B. Kilcher. „Kafkas Proteus. Verhandlungen mit Odradek“. In: Kafka verschrieben. Hrsg. von Irmgard M. Wirtz. Göttingen, Zürich: Wallstein, 2010, S. 97–116, S. 100.

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In der Einleitung zum Sammelband Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka skizzieren Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner die historischen Veränderungen, die einen Umbruch weg vom hermeneutischen Paradigma der Kommunikation und der Intersubjektivität hin zum Paradigma des Paragrammatischen60 und der Intertextualität eingeleitet haben, welcher wesentlich jene Bedingung darstellt, die Kafkas Schreibweise nicht nur motiviert, sondern geradezu ermöglicht. Diese historischen Veränderungen lassen sich als Problemgefüge fassen, dessen Faktoren einerseits mit Verschiebungen in der Ökonomie des Wissens durch den Historismus und andererseits mit Verschiebungen in der Ökonomie der Rede durch die Massenpresse gegeben sind.61 Diese beiden Faktoren sind nach Balke/Vogl/ Wagner verantwortlich für einen doppelten Selektivitätsverlust, der in eine „posthumanistische Krise“62 geführt habe: Je mehr Menschen durch Alphabetisierung und Zugang zu Massenmedien in die Lage versetzt werden humanistische Botschaften zu empfangen, desto rascher verkommen sie zur Phrase. Diese Situation erzeugt einen Resonanzraum63 unhintergehbarer Vielstimmigkeit, in dem sich in jede Rede andere Stimmen einschalten, die zu jenem „unpersönlichen Redegestöber“64 anwachsen, das Joseph Vogl in Anlehnung an Gilles Deleuze als ‚vierte Person‘ bezeichnet hat.65

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Der Begriff geht auf Ferdinand de Saussures Anagrammstudien zurück. Paragramm bezeichnet ein Wort oder Textsegment, das aus anderen Worten oder Textsegmenten abgeleitet ist. Für Kristeva impliziert die paragrammatische Konzeption der poetischen Sprache bei Saussure drei Hauptthesen: „A) Die poetische Sprache ist der einzige ‚unendliche‘ Kode. B) Der literarische Text ist ein Doppeltes (un double): Schreiben-Lesen [écriturelecture]. C) Der literarische Text ist ein Beziehungsbündel.“ Kristeva, „Zu einer Semiologie der Paragramme“, s. Anm. 46, S. 164. Vgl. Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. „Einleitung“. In: Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hrsg. von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008, S. 7–18, S. 7. Ebd., S. 8. In der Theoriebildung wird dieser in Schreibweisen bereits präsente Umbruch zunächst bei Michail Michailowitsch Bachtin und später im Anschluss an ihn durch Julia Kristeva nachvollzogen. Julia Kristeva. „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hrsg. von D. Kimmich, R. G. Renner und B. Stiegler. Stuttgart: Reclam, 1996, S. 334–348. Balke, Vogl und Wagner, „Einleitung“, s. Anm. 61, S. 7. Vgl. Vogl, „Vierte Person“, s. Anm. 19 bzw. Gilles Deleuze. Logik des Sinns. Übers. von Bernhard Dieckmann. Aesthetica. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993, S. 397, S. 190. Siehe auch Gilles Deleuze. Differenz und Wiederholung. Übers. von Joseph Vogl. München: Wilhelm Fink, 1992, S. 150.

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Früh schon hat etwa Friedrich Nietzsche diese Veränderungen wahrgenommen, wenn es im Kapitel „Vom Lande der Bildung“ in Also sprach Zarathustra in äußerster Zuspitzung heißt: Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch – erkennen! Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern! […] Aus Farben scheint ihr gebacken und aus geleimten Zetteln. Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus euren Gebärden. […] Ja, wie solltet ihr glauben können, ihr Buntgesprenkelten! – die ihr Gemälde seid von allem, was je geglaubt wurde! […] Alle Zeiten schwätzen widereinander in euren Geistern; und aller Zeiten Träume und Geschwätz waren wirklicher noch, als euer Wachsein ist!66

Eben diese Weltlage, die noch jene der babylonischen Sprachverwirrung zu überbieten scheint, sofern hier die Sprachen und Vorstellungen aller Zeiten durcheinander gehen, zeichnet etwa auch Kafkas China in Beim Bau der chinesischen Mauer aus, wenn der chinesische Erzähler feststellt: „Man hörte zwar viel, konnte aber dem vielen nichts entnehmen.“67 Allerdings zeigen sich bei Nietzsche respektive Kafka unterschiedliche Haltungen und Strategien, um mit dem jeweils festgestellten Eindringen des Paragrammatischen in den Raum der Kommunikation umzugehen: Während Nietzsche seinem Zarathustra angesichts dieser Verhältnisse noch anklagende Worte in den Mund legt, scheint dieses Eindringen bei Kafka bereits als unhintergehbare Tatsache hingenommen zu sein. Unter diesen unveränderlichen Bedingungen stellt sich Schreiben nunmehr als Aufgabe dar, bei der es nicht mehr auf das Auffinden einer traditionslosen „erste[n] Sprache“68 ankommt, sondern auf eine Haltung produktiver Rezeption, auf die „reflektierte Bewirtschaftung des paragrammatischen Raums“.69 66

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Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra I–IV. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1999 (im Folgenden zit. als KSA 4), S. 153 f. KKAN II, S. 350. Friedrich Nietzsche. Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, DionysosDithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1999 (im Folgenden zit. als KSA 6), S. 300. Balke, Vogl und Wagner, „Einleitung“, s. Anm. 61, S. 13.

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Wie aber ist der an sich grenzenlose intertextuelle bzw. intermediale Resonanzraum, den es fortan zu nutzen und zu hegen gilt, bei Kafka strukturiert, wie wird er inszeniert? Die palimpsestartige70 Struktur der Texte Kafkas vermag das gesamte Spektrum möglicher Bezüge abzudecken: von vereinzelten ‚dialogischen‘ Passagen, in denen trotz aller Transformationen relativ deutlich zuordenbare ‚VorSchriften‘ erkennbar bleiben, über zahlreiche ‚polylogische‘ Textstellen, die ganze Ensembles potentieller Referenztexte, d. h. diskursive Formationen aufrufen, bis hin zum allgegenwärtigen heteroglossen ‚babellogischen‘ Gemurmel, das den gesamten Text und noch die aufgerufenen Verweistexte überlagert, aber stets unverständlich bleibt.71 Dabei wird dieses Gemurmel oder Rauschen als solches in verschiedener Weise ausgestellt und somit vernehmbar gemacht, ohne es deshalb verständlich werden zu lassen. Thematisch wird es etwa durch die Beschreibung der kommunikativen Bedingungen innerhalb der Diegese, die sich häufig als störanfällig erweisen, was wiederholt implizite wie explizite Vergleiche mit dem Mythos des Turmbaus zu Babel motiviert.72 Diese Störanfälligkeit liegt nicht nur an den unzuverlässigen medialen Kanälen innerhalb der erzählten Welt 70

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Die Verwendung des Begriffs ‚Palimpsest‘ macht es nötig, sich von Gérard Genettes Prägung des Begriffs hinsichtlich des damit implizierten Intertextualitätsverständnisses abzugrenzen (vgl. auch Kilcher und Kremer, s. Anm. 45, S. 51.), denn letzlich haben alle Texte (nicht nur die literarischen) eine palimpsestartige, paragrammatische Struktur (Kristeva) und sind Teil eines texte général (Derrida). Daher kann es keine „Literatur auf erster Stufe“ geben, wie Genette unterstellt, wenn er im Falle mehr oder weniger explizit markierter Zitathaftigkeit von einer „Literatur auf zweiter Stufe“ spricht. Immer schon redet eine Vielzahl anderer Stimmen mit. Entsprechend handelt es sich stets um ein n-stufiges Palimpsest. Dass sich Genette zur Behauptung einer Literatur auf zweiter Stufe hinreißen lässt, hat vorallem damit zu tun, dass er sich dem Phänomen „der Hypertextualität von ihrer sonnigsten Seite her näher[t], nämlich jener, bei der die Ableitung des Hypertexts vom Hypotext zugleich massiv (das ganze Werk B wurde vom ganzen Werk A abgeleitet) deklariert wird und mehr oder weniger offiziell erfolgt“, wie er selbst eingesteht. Gérard Genette. Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. 6. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2006, S. 20. Im Falle Kafkas hat man sich hingegen der ‚schattigen‘ Seite der Interoder Transtextualität zu stellen. Selbst dort, wo man unverkennbar eine einzelne Stimme identifiziert zu haben vermeint, auf die Kafkas Text zu antworten scheint, muss man feststellen, dass in dieser Stimme immer schon andere Stimmen (Polylog) mitsprechen, die ihrerseits weitere Stimmen einbinden, so dass in jedem Sprechakt oder Text ein unverständliches und unpersönliches Gerede oder Gemurmel nachhallt. Die Gliederung in Dialog – Polylog – Babellog ist dem Band Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner, Hrsg. Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008 entlehnt. So etwa in Beim Bau der chinesischen Mauer. Vgl. KKAN I, S. 343 f.

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oder an der inszenierten unzulänglichen Übersetzung respektive historischen Überlieferung des erzählten Textes, die etwa im Anschluss an Ein altes Blatt versuchsweise im Rahmen einer Herausgeberfiktion fingiert und dafür verantwortlich gemacht wird, dass unterschiedliche Zeitebenen Spuren im literarischen Text hinterlassen haben,73 sondern auch und vor allem an der implizit zugrundegelegten Subjektkonzeption, in der das Subjekt nicht länger als einheitliche abgeschlossene Position eines Sprechens aufgefasst zu sein scheint. Das betrifft nicht zuletzt die häufig unpersönliche Erzählstimme, die damit zum Einfallstor für Diskursmassen unterschiedlichster Provenienz wird. Während das unhintergehbare und doch stets unverständlich bleibende Hintergrundrauschen solchermaßen als etwas ständig Präsentes immer wieder zu Bewusstsein gebracht wird, scheint Kafkas Poetik der Umschrift bei der Einbindung anderer Texte in den literarischen Text das entgegengesetzte Ende des Spektrums, das eindeutig identifizierbare, im Extremfall explizit ausgewiesene direkte Zitat, möglichst zu meiden, ohne aber ausschließlich auf der Ebene des völlig unbestimmten, unverständlichen „Redegestöbers“ zu verbleiben. Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit gilt entsprechend der Ebene des ‚Polylogs‘, die durch Kafkas ‚disseminierende‘74 Kontexteinbindung bespielt wird. Diese ‚disseminierende‘ Kontexteinbindung sucht das produktive Missverständnis und pflanzt in die sich mitunter einstellende Überzeugung, in einem Text Kafkas ein Zitat eindeutig ausfindig gemacht und identifiziert zu haben, das Korn des Zweifels, welches verhindert, sich all zu schnell mit dieser vermeintlichen Gewissheit zu beruhigen und stattdessen immer wieder darauf drängt, die Suche nach weiteren potentiellen Resonanztexten fortzusetzen. Entsprechend gilt es die Funktionsweise einer solchen ‚disseminierenden‘ Einbindung des Kontexts sowie deren Effekte genauer in den Blick zu nehmen. 73

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Vgl. Franz Kafka. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Oxforder Oktavhefte 3 & 4: 3. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern, 2008 (im Folgenden zit. als 8◦ Ox3), S. 126 f. Von der ‚disseminierenden‘ Funktion des Kontextes spricht auch Manfred Engel. Dabei scheint er aber in erster Linie die Seite der Rezeption im Blick zu haben. Dieser „wilden Kontextualisierung“, die er vornehmlich mit dem New Historicism assoziiert, steht er dezidiert kritisch gegenüber, da dabei nicht auf die Reduktion, sondern auf die Steigerung der Interpretationsvielfalt gezielt werde. Vgl. Manfred Engel. „Kontexte und Kontextrelevanzen in der Literaturwissenschaft“. In: KulturPoetik 1 (2018), S. 71–89, S. 76 f. Wenn im Rahmen dieser Arbeit in begrifflicher Anlehnung an Engel von ‚disseminierender‘ Kontexteinbindung gesprochen wird, so geht mit dem Gebrauch dieser Terminologie keineswegs ein Einverständnis mit Engels Präferenz für Lektüren einher, die an der Reduktion von Interpretationsvielfalt interessiert sind.

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In diesem Zusammenhang ist der Zürauer Zettel Nr. 108 besonders aufschlussreich, da er Kafkas Aufmerksamkeit für spezifische Verknüpfungsoperationen belegt, die ganze Textensembles im literarischen Text aktualisieren. So heißt es in dem betreffenden Zettel: „Dann aber kehrte er zu seiner Arbeit zurück, so wie wenn nichts geschehen wäre.“ Das ist eine Bemerkung, die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.75

Hier wird deutlich, dass es dabei nicht so sehr auf originelle Formulierungen ankommt, sondern sich im Gegenteil gerade stereotype Stehsätze wie der zitierte besonders eignen, um eine „unklare Fülle alter Erzählungen“ in der abgeschlossenen Fixiertheit eines literarischen Matrixtextes präsent zu machen. Entsprechendes Material – und hier zeigt sich erneut die intensive Anteilnahme Kafkas am zeitgenössischen Geschehen – findet sich also gerade nicht im Erhabenen, Abseitigen oder Arkanen, sondern stets in dem, was in aller Munde ist: In den „alten, alten Geschichten. Alle Bücher sind voll davon, in allen Schulen malen es die Lehrer an die Tafel, die Mutter träumt davon, während das Kind an der Brust trinkt“.76 Mit der genauen Erkundung weiterer solcher Verknüpfungselemente und -strategien77 will die vorliegende Arbeit zu einem besseren Verständnis jener ausgeprägten Anschlussfähigkeit der Texte Kafkas beitragen, die in der Forschung bis heute einen Exzess allegorischer Lesarten hervorgerufen hat, aber kaum auf ihre textstrategischen Ursachen hin untersucht wurde. Es gilt also vorrangig auf Gemeinplätze, Binsenweisheiten und typische Erklärungsmuster für verbreitete Problemlagen zu achten, die Kafkas Texte mit zeitgenössisch virulenten Diskursen verbinden. Wenn also Bertolt Brecht im Gespräch mit Walter Benjamin Kafkas „Geheimniskrämerei“,78 kritisiert, so liegt dieser keine vorgebliche Tiefe und auch keine grundsätzliche Verweigerung von Referenz zugrunde, sondern erklärt sich im Gegenteil aus einem Exzess möglicher Referenzen, der gerade von jenen Bildern ausgeht, die Brecht „brauchbar“ nennt. D. h. sie erklärt sich

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KKAN II, S. 139. KKAN I, S. 382. Ein Kunstgriff, der eine Textpassage erscheinen lässt, als kenne man sie aus hundert alten Geschichten, ergibt sich auch durch zerstreutes Lesen oder ungenaues Erinnern: Dies gilt sowohl für den Autor selbst als auch inszenierterweise auf der Ebene der Darstellung bzw. der Figuren. Siehe dazu Kilcher und Kremer, s. Anm. 45, S. 46 ff. Walter Benjamin. Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hrsg. von Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 151.

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allenfalls aus der Verweigerung, sich auf eine bestimmte Referenz festlegen zu lassen. Entsprechend hat eine Lektüre, die Kafkas intertextueller Schreibweise gerecht werden möchte, von vereindeutigenden, disambiguierenden Kontextualisierungen abzusehen. Es gilt nicht, die unausgesetzte Symbolbildung seiner Texte stillzustellen, sondern ihre potentiell unendliche transtextuelle79 Verweisstruktur anzudeuten und in Ausschnitten exemplarisch nachzuzeichnen.80 Dabei zeigt sich, dass dieser auch vom Autor nicht zu kontrollierende Exzess potentieller Referenzen81 dennoch nicht gänzlich beliebig und ungerichtet ist. Vielmehr fokussiert der literarische Text, bedingt durch die konkreten Verknüpfungselemente, je unterschiedliche diskursive Konstellationen und wird so gewissermaßen zum „Konferenzraum“ für bestimmte Diskurse, die abseits der Literatur mitunter kaum gemeinsam in den Blick genommen werden.82 Entsprechend ist für jeden spezifischen Text zu zeigen, wie es gelingt, bestimmte diskursive Konstellationen bzw. an ihren Rändern ausfransende Text-Ensembles aufzurufen. Gleicht man sodann die aufgrund ähnlicher Bildsemantik, Mythen, Erklärungsmuster oder Raumordnungen aufgerufenen Kon-Texte mit den korrespondierenden Stellen im Matrixtext ab, so treten auffällige strukturelle Analogien hervor, aber auch gewisse Differenzen, die sich als – nicht notwendigerweise intendierte – Transformationsprozesse beschreiben lassen, welche diese Kontexte im Zuge ihrer Einbindung in den literarischen Text durchlaufen: Dies können Transformationen mittels Ironisierung, Überbietung, Bildumkehr, Wörtlichnehmen von Metaphern, Fragmentierung, Verschiebung, Verrätselung, Veränderung der Erzählperspektive oder Genrewechsel sein. Entsprechend lassen sich Kafkas Texte in ihrem ‚Antworten‘ – Kristeva spricht auch von einer „écriture-réplique“83 – auf die in ihnen aufgerufenen KonTexte, Wissens- und Diskursformationen verstehen.

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Transtextualität bezeichnet nach Gérard Genette die „textuelle Transzendenz“ eines Textes. Genette, Palimpseste, s. Anm. 70, S. 9. Im Gegensatz zu Genette geht diese Arbeit von einem weiten Textbegriff aus, weshalb sich diese textuelle Transzendenz auch auf die außerliterarische Wirklichkeit beziehen lässt, da auch diese letztlich nur als Text vermittelbar ist, wobei Text ausdrücklich nicht mit Schriftlichkeit gleichzusetzen ist. Vgl. diesbezüglich auch Kilcher und Kremer, s. Anm. 45, S. 51 und Kilcher, „Kafkas Proteus“, s. Anm. 59, S. 101. Entsprechend eignet sich die Autorfunktion in keinster Weise, um das Feld möglicher Verweise einzugrenzen. Vgl. Wagner, „Kafkas ‚vergleichende Völkergeschichte‘“, s. Anm. 34, S. 95, 98. Kristeva, „Zu einer Semiologie der Paragramme“, s. Anm. 46, S. 170 f.

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Dabei verleiht diese ‚disseminierende‘ Kontexteinbindung Kafkas Texten eine abstrahierende Funktion und einen analytischen Charakter.84 Erkenntnisse, die aus dem literarischen Text gezogen werden können, bleiben in ihrer Gültigkeit nicht auf einen Referenztext beschränkt, sondern lassen sich aufgrund sichtbar werdender Strukturanalogien – wohl gemerkt in den Grenzen, die durch die jeweiligen Transformationen angezeigt werden – auf all die potentiell aufgerufenen Texte und Diskurse beziehen. Folglich kann Kafkas Texten eine besondere strategische und methodische Position zugewiesen werden. Denn nimmt man ihre analytischen Qualitäten ernst, so lässt sich die in der sogenannten „Kafka-und-Forschung“ dominante Blickrichtung innerhalb des Text-Kontext-Verhältnisses versuchsweise umkehren: Kontexte dienen nicht länger (nur) der Auslegung und Plausibilisierung rätselhafter Textpassagen, vielmehr können Kafkas Texte selbst als programmatische Basis aufgefasst werden, um die in ihnen – wie prekär auch immer – aufgerufenen Texte und Diskurse scharfzustellen. Dabei wird deutlich, dass Kafka nicht nur deshalb als politischer Autor begriffen werden muss, weil Fragen kollektiven Zusammenlebens in seinen Texten in expliziter Weise verhandelt und entsprechende zeitgenössische Debatten eingebunden werden. Jene Bilder und Topologien, die diese Diskurse in Kafkas Texten präsent machen, erfüllen innerhalb dieser aufgerufenen Diskurse vielfach zugleich die Funktion, all die Kollektive, von denen hier jeweils die Rede ist, in ihrer Totalität allererst vorstellbar, imaginierbar zu machen. Damit sind sie Elemente jener Kunst, die durch „Topik und Topologie, Redeordnung und Raumordnung“85 auf die Erzeugung eines politischen Körpers gerichtet ist. Diese Kunst ist wesentliches Merkmal jeder Politik, die sich stets durch Verdecken der Gemachtheit dieses Körpers – etwa durch seine Naturalisierung – zu stabilisieren sucht. In Abgrenzung zu der Politik [la politique] hat man in der neueren französische Philosophie – etwa bei Claude Lefort – den Begriff des Politischen [le politique] geprägt,86 wobei beide Begriffe insofern in ein Spannungsverhältnis zueinander gebracht werden, als 84

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Es handelt sich dabei nicht unbedingt um ein Alleinstellungsmerkmal der literarischen Texte Kafkas. Dieser Zusammenhang spielt jedoch für die in ihnen wirksame Poetik eine wesentliche Rolle. Joseph Vogl. „Asyl des Politischen. Zur Topologie politischer Gelegenheiten“. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Hrsg. von Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke. München: Wilhelm Fink Verlag, 2003, S. 23– 38, S. 23. Friedrich Balke. „Politik und Leidenschaft in der neueren französischen Philosophie“. In: Merkur 52.594/595 Postmoderne. Eine Bilanz (1998), S. 987–994.

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unter dem Politischen all das verstanden werden kann, was sich im Diskurs der Politik in Form von politischen Antinomien bemerkbar macht. Zielt die Politik auf „die Herstellung und Repräsentation von gemeinen Plätzen und Orten der Gemeinsamkeit“,87 auf die „Identifizierung von Gliedern und Teilen, die sich im Imaginären des einheitlichen Körpers treffen“, so strebt das Politische nach einer „Desintegration des politischen Körpers“88 und danach, seine „Raum- und Redeordnung“ zu unterbrechen. Entsprechend lässt sich das Politische als jenes Moment begreifen, das im Unvereinbaren, im Paradoxen, im Widersprüchlichen solcher Fixierungen oder Figurationen insistiert89 und an die Kontingenz dieser Fixierungen und damit grundsätzlich an die Möglichkeit alternativer Optionen Gemeinschaft darzustellen erinnert – daran, dass eine Gemeinschaft nicht zwangsläufig so vorgestellt werden muss, wie sie beispielsweise durch bestimmte Metaphern, Ursprungsmythen, territoriale Bestimmungen oder kategoriale Unterscheidungen repräsentiert wird, dass sie sich immer auch anders imaginieren ließe. Denn die Vorstellungen gemeinschaftlichen Zusammenlebens sind am Ende immer handlungsleitend für die Organisation dieses Zusammenlebens. Wenn im Zuge politischer Interventionen also der stets provisorische, künstliche, kontingente Charakter jener Figurationen hervorgehoben wird, die im Rahmen der Politik etwa durch Naturalisierung oder Institutionalisierung verfestigt wurden, so geht es dabei nicht um die Zurückweisung solcher Fixierungen als falsches Bewusstsein zugunsten einer tieferen Wahrheit, sondern vielmehr darum, sie wieder zum Gegenstand eines Aushandlungsprozesses zu machen. Dies wird, so meine These, – und hier zeigt sich die politische Sprengkraft, die Kafkas Poetik der Umschrift selbst eignet – vor allem durch die Übertragung der politische Körper konstituierenden Bilder und Topologien anderer Diskurse in jenen der Literatur ermöglicht, denn diese De- bzw. Rekontextualisierung aktiviert eine veränderte Rezeptionshaltung. Jene Rezeptionshaltung, die literarische Texte verlangen, zeichnet sich wesentlich durch die permanente Reflexion ihres Sprachgebrauchs aus. Jedes verwendete Bild, jede Metapher und jedes andere Stilmittel, das erlaubt, sich Gemeinschaften und andere Kollektive, die als Ganze nie in den Blick geraten können, „‚vertretend‘ vorstel-

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Vogl, „Asyl des Politischen.“, s. Anm. 85, S. 25. Ebd., S. 24. Vgl. Joseph Vogl. „Vorwort. Beiträge zu einer Theorie des Politischen“. In: Gesetz und Urteil. Beiträge zu einer Theorie des Politischen. Hrsg. von Joseph Vogl. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2003, S. 7–9, S. 8.

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lig“90 zu machen, muss sich die Frage gefallen lassen, warum ausgerechnet dieses Bild, diese Metapher, dieses Stilmittel gewählt wurde. In genau diesem Sinne also sollen Kafkas Texte im Rahmen dieser Arbeit als politische Texte gelesen werden, als Erkundungen von Gemeinschaftsdiskursen, die genuin Diskurse der Politik sind, wobei auf das Politische in ihnen aufmerksam gemacht wird, auf die Widersprüche und Antinomien, die in den diskursiven Fixierungen durch die Politik eingeschlossen bleiben und diese – lenkt man die Aufmerksamkeit auf sie – von innen heraus zu denaturalisieren vermögen. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil mit dem Titel Idealisierung und Verwirklichung von Gemeinschaft widmet sich der Frage, wie ausgewählte Texte Kafkas verbreitete zeitgenössische Konzeptionen der Verwirklichung idealer Gemeinschaft im Modus der Umschrift aufgreifen, reflektieren und einen neuen, geschärften Blick auf all jene Kontexte freigeben, die sich solcher Konzeptionen bedienen. Im ersten Kapitel wird zunächst deutlich gemacht, dass sich Kafkas Babeltexte durch bestimmte Verknüpfungsoperationen nur indirekt mit dem biblischen Mythos des Turmbaus zu Babel verbinden lassen. Anschlussfähiger erweisen sie sich hingegen für zeitgenössische Kollektivierungsprojekte, die sich mehr oder weniger explizit in die Tradition des Babelmythos stellen. Dabei – so meine These – führen Kafkas Texte vor, wie die Konzeption von Verwirklichung in all diesen zeitgenössischen Projekten erlaubt, das je eigene Vorhaben in die Tradition dieses Mythos zu stellen und es solchermaßen als künftige Erfüllung eines alten Menschheitstraums aufzuwerten bzw. wie man sich umgekehrt mit der Berufung auf Babel eben auf diese Konzeption von Verwirklichung einlässt und festlegt, und sich damit ein aporetisches Problem der Unvermittelbarkeit von Idealität und Wirklichkeit, von Einheit und Zerstreuung einhandelt. Sodann wird gezeigt, wie insbesondere im Stadtwappen der zeitgenössische Glaube an den technisch-zivilisatorischen Fortschritt als Garant für die Überwindung dieser Aporie reflektiert und konterkariert wird, wobei die Erzählung diesen Glauben als Spezifikum einer älteren Generation exponiert, der jüngere Generationen gegenübergestellt werden, die diesen Glauben nicht mehr teilen und sich entsprechend auf das Aporetische 90

Hans Blumenberg. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998, S. 25.

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dieses Problems zurückgeworfen sehen. Dabei lassen sich Resonanzen in unterschiedlichen zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskursen deutlich machen. Während der überwiegende Teil jener zeitgenössischen Texte, in denen die Verwirklichung einer idealen Gemeinschaftsform gefordert wird, darauf verzichtet, die jeweils zugrundegelegte Konzeption von Verwirklichung bzw. möglicher Alternativen dazu zu reflektieren, liegt mit Max Brods Heidentum – Christentum – Judentum ein Text vor, der drei Formen der Idealisierung sowie drei entsprechende Konzeptionen, wie die jeweilige Idealvorstellung zu verwirklichen wäre, voneinander abgrenzt. Am Ende des ersten Kapitels werden Kafkas Kritik und Modifikationen an diesem Schema nachvollzogen, wodurch sich nochmals neue Perspektiven auf Kafkas eigene Babeltexte eröffnen. Im zweiten Kapitel wird untersucht, inwieweit sich die einzelnen argumentativen Schritte der Kritik an Brods Schema auch in anderen literarischen Texten Kafkas auffinden lassen und welche Resonanzen in diesen Texten jeweils vernehmbar gemacht werden können. Dabei wird schließlich Beim Bau der chinesischen Mauer als Text gelesen, in dem mit der Konstatierung einer „Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft“91 ein Ausweg aus den Aporien der Verwirklichung aufgezeigt wird. Der Hinweis auf diese Schwächen macht nämlich deutlich, dass dem menschlichen Bewusstsein die Sphäre der Ideen und jene des Tatsächlichen gleichermaßen unzugänglich bleiben. Entsprechend wird die Bedeutung des Imaginären für die Konstitution von Kollektiven herausgestellt, wobei dieses Imaginäre als Gegenstand kultureller Praktiken92 sowie als Betätigungsfeld der Politik allererst in den Blick gerät und nach einer Freilegung des Politischen verlangt. Die Einsicht in die Bedeutung des politischen Imaginären leitet über zum zweiten Teil der Arbeit, in dem mit jedem der vier folgenden Kapitel ein anderes Einigungsmittel und eine damit verbundene kulturelle Praktik ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt wird. Bei allen Einigungsmitteln ist die Dimension des Imaginären entscheidend, da sie sich gerade in dem Maße als Mittel der Einigung erweisen, in dem sie die Imagination von Kollektiven zu formen vermögen bzw. verrät die Tatsache, dass sie zeitgenössisch als Einigungsmittel in Betracht kommen, einiges über die Art und Weise, in der diejenigen Kollektive, die mit ihrer Hilfe gebildet werden sollen, imaginiert werden. 91 92

KKAN I, S. 355. Die Bedeutung kultureller Praktiken für das politische Imaginäre hebt auch Felix Trautmann hervor. Vgl. Felix Trautmann. „Das politische Imaginäre. Zur Einleitung“. In: Das politische Imaginäre. Hrsg. von Felix Trautmann. Köln: August Verlag, 2017, S. 9–27, S. 10 ff.

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Dabei stellen diese Einigungsmittel entweder selbst zugleich jene Verknüpfungselemente – etwa Mythen, Metaphern und Konzepte – dar, die Kafkas Texte mit den zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskursen verbinden, oder sie hängen eng mit diesen zusammen, wobei diese Verknüpfungselemente – das begründet die außergewöhnliche Anschlussfähigkeit der Texte Kafkas – zeitgenössisch meist gehäuft auftreten, was mit bestimmten thematischen Konjunkturen oder Trends zu tun hat, denen auch die Gemeinschaftsdiskurse am Beginn des 20. Jahrhunderts folgen. Im dritten Kapitel – d. i. das erste Kapitel des zweiten Abschnitts – werden solche Texte Kafkas analysiert, die die Effekte von Ursprungs- und Gründungsmythen und damit des Erzählens auf die Imagination von Gemeinschaften im Plural einerseits und von Gemeinschaft im Singular andererseits genauer in den Blick nehmen – d. h. von Gemeinschaften, die sich über Einschluss und Ausgrenzung konstituieren bzw. von Gemeinschaft, die sich idealerweise als entgrenzte präsentiert. Bei der Imagination letzterer ist im zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurs eine Häufung von Umdeutungen und Umschriften des biblischen Sündenfallmythos zu beobachten. In diesem Kapitel werden sowohl Texte Kafkas analysiert, die sich als Umschriften des Sündenfallmythos selbst lesen lassen, als auch solche, die Umschriften zeitgenössischer Sündenfallumschriften, also Umschriften zweiter Ordnung, darstellen. Die Interventionen, die Kafkas Texte – so meine These – dabei vornehmen, zielen mit unterschiedlichen Strategien darauf ab, das Streben nach einer mit Einheit konnotierten, verlorenen, metaphysischen Gemeinschaft stillzustellen. Wenn dabei deutlich wird, dass sowohl die autoritäre Setzung eines Ursprungs als auch sein Offenlassen gewisse Gefahren mit sich bringen, so deutet sich ein Ausweg in einigen Texten Kafkas im unentscheidbaren Nebeneinander konkurrierender Ursprungsmythen an, die sich gegenseitig in Schach halten. Im vierten Kapitel wird mit dem Blumfeld-Erzählfragment ein Text untersucht, der – hierbei ebenfalls einen breiteren Trend aufgreifend93 – die Auswirkung von (Un)dingen auf das menschliche Selbstverständnis und Sozialverhalten thematisiert und damit nicht nur auf das Materielle als Gegenstand eines Imaginierens aufmerksam macht, das man als Fetischisieren bezeichnen kann, sondern überdies die Bedeutung solcher Imaginationen für das zwischenmenschliche Zusammenleben erkundet. Wenn die Gesellschaft dabei auch als Kollektiv in Betracht kommt, das sich im Zuge der kapitalistischen Warenproduktion und -zirkulation formiert, auf Dauer stellt und den Ein93

Man denke insbesondere an das Genre des Slapstick im soeben populär gewordenen Medium des Stummfilms, aber auch generell an das zunehmende literarische und wissenschaftliche Interesse am Materiellen und seiner Bedeutung für Sozialverhältnisse.

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zelnen zu überdauern vermag, so scheint sich dem kinderlosen Junggesellen Blumfeld die Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv als Alternative zum Fortleben durch biologische Reproduktion darzustellen. Dieser Wunsch die eigene, individuelle, endliche Existenz durch Zugehörigkeit zu einer kollektiven Über-lebenseinheit zu transzendieren präsentiert sich als Variante einer der beiden grundsätzlicheren Verknüpfungen, die das fünfte Kapitel adressiert. Hier wird herausgearbeitet, wie Kafkas Text Alles fügte sich ihm zum Bau auf einen Zusammenhang von Abgrenzung und Verewigung einerseits und auf einen Zusammenhang von politischer Argumentation und politischer Metaphorik andererseits aufmerksam macht. In zionistischen Texten, die sich zunächst durch Gemeinsamkeiten der verwendeten sprachlichen Bilder aufrufen lassen, werden diese Zusammenhänge gleichermaßen deutlich. Dabei zeigt sich, dass die auffällig verbreitete Verwendung von Baumetaphern in diesen Texten, die sich vielfach als Reaktion auf das im ersten Kapitel herausgearbeitete aporetische Problem einer notwendigen, jedoch unmöglichen Vermittlung von Idee und Realität erklären lässt, gewisse „Redekonsequenzen“94 nach sich zieht, die vorgeben, wie Zugehörigkeit und Ausschluss im Rahmen dieses auch biopolitischen Projekts organisiert werden. Zeigt sich im fünften Kapitel dem durch Kafkas Erzählung sensibilisierten Blick auf die dort aufgerufenen Kon-Texte eine Neigung, auf die Verbesserung der Natur des Menschen oder einer bestimmten Menschengruppe hinwirken zu wollen, so fokussiert das sechste und letzte Kapitel mit wuwei ein daoistisches Konzept des (Nicht-)Handelns, das eine Form des Herrschens oder Handelns propagiert, die möglichst nicht in den ‚natürlichen‘, von Dao bestimmten Lauf der Dinge eingreift. Wuwei wird nur in dem Sinne als Handeln begriffen, als es sich einschaltet, um jene Faktoren zurückzudrängen, die der Entfaltung einer ‚natürlichen‘ Ordnung – und das heißt für zeitgenössische westliche Rezipienten auch und vor allem einer ‚natürlichen‘ Ordnung des Zusammenlebens – entgegenstehen.95 Dabei wird dem Faktum Rechnung getragen, dass Kafkas China-Texte zu einer Zeit entstehen, in der es nicht zuletzt 94 95

Ralf Konersmann. „Vorwort: Figuratives Wissen“. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt: WBG, 2007, S. 7–21, S. 16. Was sich auf den ersten Blick wie eine Absage an biopolitische Regierungstechniken ausnehmen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen zumindest mit der thanatopolitischen Kehrseite der Biopolitik als kompatibel. So wurde gerade im sozialdarwinistischen Diskurs die eugenische Thanatopolitik als notwendiges Gegensteuern zur widernatürlichen „Kontraselektion“ gerechtfertigt, die der Sozialstaat mit sich bringe, denn letztere führe unausweichlich zu „Degeneration“. Zur sozialdarwinistischen Argumentation mit der „Kontraselektion“ vgl. Markus Jansen. Das Wissen vom Menschen. Franz Kafka und die Biopolitik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 61 ff.

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aufgrund europäischer Kolonisierungsversuche und gravierender politischer Umbrüche in China selbst eine erhöhte Aufmerksamkeit für China auch im deutschsprachigen Raum gibt. Besonderes Augenmerk liegt auf der westlichen Rezeption daoistischer Utopien herrschaftslosen Zusammenlebens, die man insbesondere von anarchistisch-kulturkritischer Seite zum idealen Gegenentwurf zur westlich-kapitalistischen Gesellschaft stilisiert. Vor dieser Folie wird Beim Bau der chinesischen Mauer nochmals auf andere Weise lesbar: Im Text werden – so die in diesem Kapitel vertretene These – Konstellationen aus daoistischen Utopien (vermeintlich) herrschaftslosen Zusammenlebens aufgerufen und überprüft. Diese Überprüfung gelingt einerseits, indem diese utopischen Ausgangsbedingungen durchgespielt und immer wieder in ihrem Kippen in dystopische Szenarien vorgeführt werden, wodurch gewisse Ambivalenzen und blinde Flecken innerhalb des Ausgangssettings hervortreten. Andererseits bringt Kafkas Text ganz unterschiedliche Diskurse in einen Dia- bzw. Polylog und ermöglicht so wechselnde Perspektiven auf die aufgerufenen Kon-Texte.

Teil I Idealisierung und Verwirklichung von Gemeinschaft

1. Modi der Vermittlung von Idee und Wirklichkeit Am augenfälligsten werden zeitgenössische Überlegungen zur Verwirklichung von Gemeinschaft vielleicht in jenen Texten Kafkas verhandelt, die auf den kulturhistorisch äußerst wirkmächtigen Topos des Turmbaus zu Babel Bezug nehmen: Hervorzuheben ist Das Stadtwappen, eine im September 19201 verfasste Erzählung, die ihren Titel von Max Brod erhalten hat, sowie das bereits im März 19172 niedergeschriebene Erzählfragment Beim Bau der Chinesischen Mauer. Gemäß der biblischen Erzählung versuchen die Menschen bekanntlich auf einer Ebene im Lande Shinar einen Turm zu bauen, dessen Spitze „bis an den Himmel“ reichen solle, um sich einen Namen zu machen, unter dem sie sich sammeln wollen, um der von Gott befohlenen Zerstreuung in alle Länder zu entgehen (Gen 11,4). In dem prägnanten und überaus einprägsamen Bild eines Turms als Verbindung zwischen Himmel und Erde wird hier die Aufrechterhaltung von Gemeinschaft im Sinne einer Totalität als aporetisches Problem der Vermittlung des Irdischen mit dem Himmlischen gefasst und diese Dichotomie mit jener von Zerstreuung und Einheit verknüpft.3 Vor 1

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Zur genauen Datierung und zur Textgrundlage siehe Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II App.), S. 91 und S. 93 f. Zur Datierung vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I App.), S. 86 f. und Roland Reuß. HistorischKritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Oxforder Oktavhefte 3 & 4: Franz Kafka-Heft 6. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Historisch-Kritische Franz Kafka-Ausgabe (FKA). Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld Verlag, 2008 (im Folgenden zit. als FKH6), S. 3–6. Diese Verknüpfung liegt auch der Urbild-Abbild-Theorie Platons zugrunde und wurde besonders von Friedrich Nietzsche u. a. in seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne kritisiert. Vgl. Friedrich Nietzsche. „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“. In: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870–1873. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1988, S. 873–890, S. 880. Nietzsche ebnet hier die ontologische Unterscheidung zwischen dem gemeinhin mit Wahrheit assoziierten Begriff und der mit Literatur und Lüge verbun-

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dem Hintergrund einer beispiellosen Faszination für das antike Mesopotamien wird dieser Topos in völlig unterschiedlichen Kollektivierungsprojekten um 1900 aufgegriffen und zum antiken Vorläufer des eigenen Vorhabens stilisiert. Die im Mythos etablierte Verknüpfung von Vorstellungen idealer Gemeinschaft mit Einheitssemantiken wird dabei übernommen (bzw. eine innerhalb zeitgenössischer Projekte bereits bestehende Verknüpfung gestützt) und das Problem der Verwirklichung solch homogener Gemeinschaft – in Analogie zur Frage ihres Erhalts innerhalb der biblischen Erzählung – als Problem der Vermittlung dieses Ideals mit einer unüberschaubar heterogenen Realität konzeptualisiert. Stets gilt es in all diesen Unternehmungen die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, Einheit und Vielheit zu überwinden – ein Streben, das nicht selten in einem allgemeinen Zwang zur Homogenität resultiert. Diese beiden Oppositionspaare – Idealität und Realität einerseits und Einheit und Zerstreuung andererseits – werden in ihrer Parallelität auch in Kafkas Erzählungen verhandelt und zwar nicht nur in seinen Babel-Umschriften, sondern – wie im zweiten Kapitel dieses ersten Teils der Arbeit noch deutlich wird – in all seinen Texten, die sich mit dem Problem der Verwirklichung eines Gemeinschaftsideals auseinandersetzen.4 Sie alle arbeiten sich an der verhängnisvollen Verknüpfung von Gemeinschaftsmetaphysik mit Einheitsvorstellungen und Gemeinschaftsempirie mit Konnotationen von Heterogenität und Zerstreuung ab, die in der Bibel nicht erst mit der Babel-Erzählung, sondern bereits mit der Geschichte des Sündenfalls eingeführt wird und etwa auch in Platons Urbild-Abbild-Theorie bis heute nachwirkt. Als Umschriften, die diese problematische Verknüpfung thematisieren, können Kafkas Babel-Texte nicht nur auf die biblische Erzählung bezogen werden, sondern bleiben gleichermaßen für die breite Babel-Rezeption um 1900 anschlussfähig, ohne sich dabei auf einen bestimmten Kon-Text festlegen zu lassen. In Kapitel 1.1 kann sogar deutlich gemacht werden, dass Kafkas Babel-

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denen Metapher ein, indem er vorführt, dass die Begriffsbildung auf „Gleichsetzen des Nichtgleichen“, also auf dem Prinzip der Metapher beruht und erklärt dieses Prinzip zur Voraussetzung für die Ideenlehre Platons respektive für Abstraktion im Allgemeinen. Mit dem Namen, den sich die Bauleute machen wollen, wird diese Problematik auch in der biblischen Erzählung berührt. Zur Problematik der Vermittlung von tatsächlicher Vielheit und idealer Einheit durch einen Namen als Mittel der Repräsentation vgl. ausführlicher Joseph Vogl. „Kafkas Babel“. In: Poetica 26 (1994), S. 374–384, S. 374–376. Vgl. etwa den Text Eine Gemeinschaft von Schurken, in dem eine Gemeinschaft beim Versuch im Reigen in den Himmel aufzusteigen in ihre Elemente zerschlagen wird und abstürzt. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II), S. 42 f.

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Erzählungen durch bestimmte Merkmale auffallen, die sie deutlich von der biblischen Erzählung abheben, während sie für die Berufung auf Babel in hohem Maße charakteristisch sind. Die biblische Erzählung selbst ist somit eher indirekt, als gemeinsamer Referenzpunkt, von Bedeutung. Um eine Vorstellung von der Breite der Bezugnahmen auf diesen antiken Mythos im Rahmen unterschiedlicher zeitgenössischer Kollektivierungsprojekte zu vermitteln, die sozusagen den Resonanzboden für Kafkas Erzählungen bilden, werden exemplarisch drei Bewegungen schlaglichtartig beleuchtet. So soll anhand des nation buildings im Deutschen Reich unter Kaiser Wilhelm II., der zionistischen Bewegung und des kulturkritisch-anarchistischen Diskurses angedeutet werden, wie vielschichtig Kafkas Babel-Texte mit diesen mitunter sehr gegensätzlichen Kon-Texten interagieren, in welcher Weise man sich darin jeweils auf den Babel-Mythos beruft und wie Gemeinschaftsmetaphysik und Gemeinschaftsempirie sowie Einheit und Dispersion, deren Vermittlung als Verwirklichung von Gemeinschaft stets angestrebt wird, in all diesen Texten und Kon-Texten aufeinander bezogen werden.5 Dabei führen Kafkas Erzählungen vor, was auch in Kafkas expliziter Kritik an Brods Heidentum – Christentum – Judentum deutlich wird: dass diese Konzeption von Verwirklichung immer in die Aporie einer notwendigen doch unmöglichen Vermittlung der beiden Sphären führt und führen muss, da das Ideale per definitionem das Andere des Empirischen ist. Als solche lässt sie sich auch durch den technischen Fortschritt nicht auflösen, wie man es um 1900 vielfach noch erhoffte (vgl. Kapitel 1.2). Vielmehr kann und muss man Strategien entwickeln, um mit diesem aporetischen Verhältnis umzugehen (vgl. Kapitel 1.3). Die Frage welche Strategien und Möglichkeiten in Kafkas Erzählungen hierbei aufgezeigt und welche Schwierigkeiten herausgestellt werden, die diese Lösungsversuche ihrerseits aufwerfen, wird dann nochmals ausführlicher Gegenstand des zweiten Kapitels sein. 5

Kafkas Sympathien für Zionismus und anarchistische Kulturkritik wurden Gegenstand einiger Kontroversen innerhalb der Kafka-Forschung. Kafkas Beschäftigung mit diesen Diskursen ist jedoch weitgehend unbestritten und kann – nicht zuletzt aufgrund dieser Kontroversen – als bekannt vorausgesetzt werden. Etwas ungewöhnlicher mag der Kontext des preußischen nation building anmuten. Wie Polaschegg und Weichenhan herausgearbeitet haben, ist das Babel-Sujet aber untrennbar mit diesem Kontext verbunden. Zu Kafkas eigenem Verhältnis zu Reichsdeutschland vgl. Hans-Gerd Koch. „Franz Kafka – Patriot ohne Vaterland“. In: brücken - Germanistisches Jahrbuch TSCHECHIEN SLOWAKEI 15 (2007), S. 9–19.

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Modi der Vermittlung von Idee und Wirklichkeit

1.1 Kafkas Babel-Umschriften Während der Erzähler im Stadtwappen den offenbar endlosen Verlauf des babylonischen Turmbaus über zahllose Generationen hinweg in den Blick nimmt, werden in der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer die auf Babel bezogenen Analogiebildungen im Zuge des titelgebenden gigantischen Bau- und Kollektivierungsprojekts thematisiert. Der chinesische Erzähler, der von Baubeginn an selbst am Mauerbau beteiligt gewesen sein und dennoch auch von der Beendigung des Baus im Norden erfahren haben will6 , verweist nämlich auf das Buch eines Gelehrten aus „den Anfangszeiten des Baues“, in welchem dieser die Vergleiche zwischen Turm- und Mauerbau „sehr genau zog“. Wie weit diese bezeichnenderweise pluralisierten „Anfangszeiten“ zurückliegen, bleibt aufgrund unbestimmter Zeitangaben ebenso uneindeutig wie die historische Einordnung der Gegenwart des Erzählers.7 Dieses Buch sei damals „in aller Hände“8 gewesen, wobei sich dem Erzähler bei aller zugestandener Genauigkeit aufgrund gewisser Widersprüchlichkeiten, auf die im Folgenden noch genauer eingegangen wird, letztlich nicht erschließt, wo die jeweiligen Vorhaben darin in geistiger Hinsicht und wo als tatsächliche Bauwerke angesprochen

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Aufgrund einiger Widersprüchlichkeiten steht die Zuverlässigkeit dieses Erzählers, gerade was Zeitangaben anlangt, in Frage. Die Nachricht vom Mauerbau soll mit etwa 30 Jahren Verspätung in seinem Dorf eingetroffen sein, als er 10 Jahre alt war und am Beginn des Mauerbaus soll er 20 Jahre alt gewesen sein. Doch während an der Begründung des System des Teilbaus deutlich wird, dass die Arbeit am Mauerbau selbst in einem langen Menschenleben nicht zum Ziel führen würde, ist davon die Rede, dass der Mauerbau zum Zeitpunkt, als der Bericht einsetzt, bereits an der nördlichsten Stelle beendet worden war, wie es im ersten Satz der Erzählung heißt. Ein Faktum, das in weiterer Folge allerdings relativiert und partiell zurückgenommen wird, wenn es heißt, dass die Lücken oft erst verfüllt wurden, nachdem der Mauerbau bereits als vollendet verkündet worden war. Gerüchteweise seien manche dieser Lücken nicht nur nie geschlossen worden, vielmehr nähmen sie sich ungesicherten Quellen zufolge gar größer aus als die erbauten Mauerteile.Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I), S. 340, 356, 341, 337, 338. Zur Unmöglichkeit letzterer vgl. Sara Landa. „‚Vergleichende Völkergeschichte‘. Kafkas China zwischen geschichtsloser Statik und postrevolutionärem Umbruch“. In: Kafkas China. Hrsg. von Kristina Jobst und Harald Neumeyer. Bd. 5. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 105–119, S. 110 und Yan Zhang. „Das Chinabild in Kafkas ‚Beim Bau der chinesischen Mauer‘“. In: China in der deutschen Literatur 1827–1988. Hrsg. von Uwe Japp und Aihong Jiang. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Peter Lang, 2012, S. 93–102, S. 95. KKAN I, S. 343.

Kafkas Babel-Umschriften

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sind. Dabei sei dieses Buch nur ein Beispiel unter vielen für die Verwirrung, die dem Erzähler zufolge damals geherrscht habe.9 Diese allgegenwärtige Praxis das eigene auf Kollektivierung zielende Projekt mit jenem im antiken Babylonien engzuführen, wobei Mythos und Historie, Anspruch und Wirklichkeit einander mitunter auf verwirrende Weise überlagern, entspricht sehr genau der Situation um 1900, als die Berufung auf Babel insbesondere in der deutschsprachigen Öffentlichkeit eine beispiellose Konjunktur erfährt. Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan haben dieses zwischen 1890 und 1930 vor allem in Deutschland „wieder erstehende Babylon“10 als diskursives Ereignis im Sinne Foucaults in mehreren Publikationen anschaulich rekonstruiert und dabei geopolitische, archäologische, städtebauliche, astronomische, mythologische, religiöse sowie ästhetische Diskurse samt ihrer Praktiken berücksichtigt.11 Im Nachgang einer breiteren „orientalischen Renaissance“12 zählen einerseits der Historismus mit seiner diskursübergreifenden Dominanz historischer Stoffe und andererseits die Reichsgründung 1871, die Deutschlands Eintritt in den europäischen Imperialismus mit seiner engen Verzahnung von Finanzkapital, Industrie, Außenpolitik und Wissenschaft einleitete, zu den wichtigsten Faktoren, welche den Boden für diese Konjunktur bereiteten13 – eine Kon9 10

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Vgl. KKAN I, S. 344. Das wiedererstehende Babylon von Richard Koldewey, erschienen 1913 ist auch der Titel eines der einflussreichen archäologischen Publikationen dieser Zeit. Robert Koldewey. Das wiedererstehende Babylon. Die bisherigen Ergebnisse der deutschen Ausgrabungen. 2. Aufl. 6. Sendschrift der deutschen Orient-Gesellschaft. Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1913. Vlg. Andrea Polaschegg. „Auferstanden aus Ruinen. Die diskursive Babylonisierung Berlins im frühen 20. Jahrhundert“. In: Zeitschrift für Germanistik XXI.3 (2011), S. 462–479; Andrea Polaschegg. „Wir (alle) sind Babylon (gewesen). Eine deutsch-babylonische Genealogie der Moderne“. In: Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne. Hrsg. von Barbara Vinken. Paderborn: Wilhelm Fink, 2015, S. 63–90; Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan, Hrsg. Berlin – Babylon. Wagenbach, 2017; Michael Weichenhan. „Die Sterne Babylons. Leitfaden zur Konstruktion einer globalen Kultur am Anfang der zivilisierten Menschheit“. In: Antike als Transformation. Hrsg. von Hartmut Böhme u. a. Bd. 49. Transformationen der Antike 1910. Berlin, Boston: De Gruyter, 2017, S. 15–38. „De la renaissance orientale“ heißt auch der Titel des 1841 publizierten wirkmächtigen Essays von Edgar Quinets, in dem er die Geschichte der Welt als eine Art Hochzeit beschreibt, die nur dann fruchtbar sei, wenn sich Orient und Okzident vereinigten. Vgl. hierzu Barbara Vinken. „Einleitung“. In: Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne. Hrsg. von Barbara Vinken. Paderborn: Wilhelm Fink, 2015, S. 7–11, S. 7. Vgl. Polaschegg, „Wir (alle) sind Babylon (gewesen). Eine deutsch-babylonische Genealogie der Moderne“, s. Anm. 11, S. 64 ff.

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junktur, die bald schon auch in den Nachbarstaaten wahrzunehmen ist.14 Ausschlaggebend waren dann nicht zuletzt die ergiebigen und publizistisch intensiv begleiteten archäologischen Ausgrabungsarbeiten unter der Leitung des deutschen Architekten Richard Koldewey, die 1899 begonnen wurden und neben dem berühmten und bis heute im Pergamon-Museum ausgestellten Ischtar-Tor samt zugehöriger Prozessionsstraße im Jahre 1913 eine weitere Sensation zu Tage förderten: einen ursprünglich etwa 90 Meter hohen, gestuften Quaderturm, eine sogenannte „Zikkurat“, in der man jenen Turm zu erkennen meinte, von dem schon die biblische Erzählung berichtet.15 1.1.1 Zerstreuung als Ausgangslage Was allerdings nicht nur Beim Bau der chinesischen Mauer, sondern auch die Erzählung Das Stadtwappen näher an die zeitgenössischen Identifikationen jeweils unterschiedlicher Vorhaben mit dem antiken babylonischen Projekt heranführt, ist zunächst die gegenüber der biblischen Erzählung völlig veränderte Ausgangslage: Am Beginn der alttestamentarischen Erzählung steht – nicht zuletzt als Folge der vorangegangenen zerstörerischen Sintflut – eine weitgehende Einheit16 der Menschengemeinschaft: „[A]lle Welt [hatte] einerlei Zunge und Sprache“ (Gen 11,1) und ist noch nicht in alle Länder zerstreut. Folglich zielt der Turmbau lediglich auf den Erhalt dieser gegebenen sprachlichen und territorialen Einheit, was jedoch von Gott vereitelt wird.17 In beiden Texten Kafkas sieht man sich hingegen von Anfang an einer unüberschaubaren, sozusagen nachbabylonischen linguistischen Vielfalt, einer territorialen Segmentierung sowie einer hierarchischen Stratifizierung der am Bau beteiligten Menschen gegenüber, die gleichermaßen als Antrieb wie als Folge des jeweiligen Projekts der 14

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Dass diese Babelbegeisterung auch Prag erfasste, zeigt etwa das bis heute erhaltene prunkvolle Keramik-Dekor im 1913 bis 1914 neugebauten Café Imperial. Die Entwürfe, die Jugendstilästhetik mit Motiven aus dem Umkreis der stark popularisierten Grabungsberichte Koldeweys aus Mesopotamien amalgamieren, stammen von Jan Beneš. Ausführlicher zu Koldewey und den Ausgrabungen vgl. Polaschegg, „Wir (alle) sind Babylon (gewesen). Eine deutsch-babylonische Genealogie der Moderne“, s. Anm. 11, S. 69 und die dort angeführten Referenzen sowie Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 10–12. Der Verlust der Einheit des Menschen setzt zwar im Grunde bereits mit dem Sündenfall ein, der den Mensch dazu verdammt, für sein Überleben als Gattung auf Vermehrung angewiesen zu sein, doch die Sintflut markiert durch die Zerstörung dieser Vielheit innerhalb der Gattungen einen Neuanfang. Als solche läuft sie allerdings dem Gebot Gottes, die ganze Erde zu füllen, zuwider.

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Kollektivierung, der Einigung, der Schaffung eines Gemeinschaftsbewusstseins erscheinen. In Beim Bau der Chinesischen Mauer sind sprachliche und funktionale Differenzierung sowie topographische Zerstreuung geradezu ins Extrem getrieben: Die Bevölkerung ist über ein unermessliches Gebiet verteilt, in dem schon die Provinz des Erzählers zehntausend Dörfer umfasst, obgleich sie ihrerseits nur eine von fünfhundert Provinzen Chinas darstellt.18 Überdies sind die Dialekte dieser Provinzen, einer gestrichenen Passage zufolge, so wesentlich verschieden, dass bereits Nachrichten aus der Nachbarprovinz, insofern sie überhaupt ankommen, zu Missverständnissen respektive Unverständnis führen.19 Doch auch im Stadtwappen, in dem ja zunächst der Beginn des babylonischen Turmbaus selbst thematisiert wird, ist von „Dolmetscher[n]“20 die Rede sowie von verschiedenen rivalisierenden „Landsmannschaft[en]“21 innerhalb der am Bau beteiligten Arbeiterschaft. Mit dieser gegenüber der biblischen Erzählung geradezu invertierten Ausgangssituation etabliert der Erzähler im Stadtwappen ein Gegennarrativ, das in ganz unterschiedlichen Kollektivierungsprojekten um den Beginn des 20. Jahrhunderts resoniert. Auch hier inszeniert man sich trotz eines notorisch diagnostizierten Mangels an Einheit mit seinem jeweiligen Projekt der Beseitigung dieses Mangels mehr oder weniger explizit als in der Tradition des Turmbaus zu Babel stehend. So wird etwa im Rahmen des deutschen Nation-building-Projekts, das im Vorfeld des ersten Weltkriegs unter Kaiser Wilhelm II. deutlich an Fahrt aufnimmt, die sogenannte „Kleinstaaterei“ als jener Zustand der Zerstreuung lesbar, den es in einem großen Einigungsprojekt zu überwinden gilt. Im (National-)Zionismus ist es dagegen naheliegenderweise die jüdische Diaspora oder Galut, deren Einigung man sich mit der Errichtung eines „Musterstaat[s]“22 westlicher Prägung verschrieben hat.23 Dabei wird das eigene 18 19 20 21 22 23

Vgl. KKAN I, S. 355. Vgl. KKAN I App., S. 298. KKAN II, S. 318. KKAN II, S. 319. Theodor Herzl. Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig, Wien: Breitensteins Verlags-Buchhandlung, 1896, S. 26. Dabei drängt sich der Vergleich mit Babel geradezu auf, denn im Falle der Juden scheint sich gewissermaßen das Schicksal der Menschheit als ganzer, ganz so wie es in der biblischen Babel-Erzählung dargestellt wird, innerhalb eines einzigen Volkes wiederholt zu haben: So wurde die jüdische Bevölkerung nach dem Untergang des Reiches Juda und der Zerstörung ihres ersten Tempels durch die Babylonier unter Nebukadnezar II über die gesamte Erde zerstreut, wobei sich auch die sprachliche Einheit des Volks unter dem

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Unternehmen vor 1900 häufig als zweiter – und aufgrund des technisch-zivilisatorischen Fortschritts aussichtsreicherer – Versuch dargestellt, das Ideal einer geeinten Gemeinschaft zunächst wieder zu erreichen, um es dann erfolgreich auf Dauer zu stellen. Quer zu diesen beiden nationalistischen Bestrebungen und diese dabei teilweise überlagernd steht der kulturkritische Diskurs. Innerhalb des letzteren macht man sehr unterschiedliche, mitunter gegensätzliche, Ursachen für ein Fehlen an Einheit verantwortlich. Neben der Diagnose, dass das Zweckdenken innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft die Individuen vereinzele und einander entfremde, beklagt man vielfach das fortschreitende Auseinandertreten von Rationalität und Spiritualität, Okzident und Orient, Wirklichkeit und Ideal. Innerhalb der anarchistischen Spielart der Kulturkritik setzt man naheliegenderweise gerade nicht auf die Errichtung eines Nationalstaats, sondern sucht durch die Etablierung egalitärer Verhältnisse die Kultur zu erneuern und eine geeinte Menschengemeinschaft zu schaffen.24 So wirbt etwa der Psychoanalytiker und Anarchist Otto Gross in seinem Aufsatz Zur Orientierung der Geistigen für das universalistisch angelegte kulturelle Erneuerungsprojekt eines revolutionären Kommunismus, in dem es eine Ordnung zu schaffen gelte, die eine „freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums, der Liebe und des Geistes“25 ermögliche. Diese Ordnung, die mit dem „Endziel alles Kommunismus“ in eins fällt, sei ein Zustand, in dem keine Form der Vormacht über einen anderen möglich wäre. Derzeit stehe nämlich

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Einfluss der jeweiligen umgebenden Mehrheitssprachen zunehmend auflöste. Dieser Auflösung ist man in Teilen innerhalb der zionistischen Bewegung bekanntlich mit der Revitalisierung und Modernisierung des nur noch als Liturgiesprache verwendeten Hebräischen begegnet. Der sogenannte Kulturzionismus, dem Kafka höchst ambivalent gegenüberstand – er fühlte sich ihm explizit nicht zugehörig und verfolgte ihn doch mit großem Interesse – oszilliert zwischen diesen mitunter völkisch-nationalistischen und anarchistischkulturkritischen Tendenzen. Wo sich Kulturkritik mit zionistischen Tendenzen und Lamarckismus verbindet, liegt das Übel mitunter in der drohenden Entfremdung des ‚Volkscharakters‘ infolge der langen Aufsplitterung des Volkes fernab der gleichsam ins Blut übergegangenen ursprünglichen ‚Scholle‘. Entsprechend wird die Rückkehr nach Palästina zumindest als wichtiger Schritt auf dem Weg zu kultureller Erneuerung gewertet, die letztlich aber auf eine Überwindung des Nationalismus und auf die Erlösung der gesamten Menschheit zielt.Vgl. etwa Martin Buber. Drei Reden über das Judentum. Frankfurt/Main: Rütten & Loening, 1916, S. 19, S. 92. Im kulturzionistischen Diskurs sind Babelreferenzen allerdings auffallend abwesend. Der Grund hierfür kann in den antijüdischen Tendenzen der Babylonisten im sogenannten Babel-Bibel-Streit vermutet werden. Otto Gross. „Zur Orientierung der Geistigen“. In: Die Aktion 13.13 (1923), Sp. 345–346, Sp. 346.

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einem angeborenen, lebendigen Menschentum noch die herrschende maschinelle Ordnung entgegen, wie sie „als Staat, Gesetz und Autorität, als Strafrecht wie, als bürgerliches Recht, als Ehe und Prostitution, als Kapital…“26 bestehe. Sie begünstige lediglich den konservativen Menschentyp, der sich in Abgrenzung zum revolutionären durch seine geringere Widerstandskraft gegen den Druck zur Anpassung an die anderen und „gegen die Suggestionen von außen her, gegen die aufgedrängten Gefühle, Werturteile und Normen“27 auszeichne. In schärfster Entgegensetzung wird die Ordnung, die den einen Menschentypen gedeihen lässt, zum tödlichen Umfeld des anderen und umgekehrt. Entsprechend stelle aber auch die Politik des Kompromisses des realpolitischen Sozialismus eine große Gefahr dar, wenn sie letztlich für geringfügige Abmilderungen die Fortsetzung der alten Ordnung in Kauf nimmt und damit „um jeden Einzelnen herum die endlose Einsamkeit.“ Am Ende seiner Ausführungen umreißt Gross das Programm und die Stoßrichtung dieses Projekts, das er nicht als sein alleiniges verstanden wissen will, wie die Verwendung der ersten Person plural verdeutlicht: Wir wollen die Macht den Machtlosen geben, den Räten der Armen, damit die Macht wieder ein Kollektivgefühl der Menschen miteinander werde, und unpersönlicher Besitz des unpersönlichen Gesellschaftskörpers. Bis einst die Menschen noch einmal beginnen, als Ausdruck eines schrankenlosen Einander-Verstehens und ihrer Freude aneinander einen Turm in den Himmel hinauf zu bauen. Erst dieser Bau wird dann den Namen tragen dürfen: Kultur…28

Damit wird auch dieses utopische Vorhaben von einem als defizitär ausgewiesenen Istzustand motiviert, der von Vereinzelung, mangelndem wechselseitigen Verständnis und Abwesenheit eines Kollektivgefühls geprägt ist, und folglich beseitigt werden müsse. Dabei stützt die Referenz auf Babel ein dem gesamten Text unterliegendes Narrativ verlorener ursprünglicher Einheit und Eintracht, die es künftig wiederzuerlangen gelte.29 Dass diese Sehnsucht nach Einheit und Gemeinschaft gleichermaßen in die fernste Zukunft wie in die frü26 27 28 29

Ebd., Sp. 345. Ebd., Sp. 346. Ebd., Sp. 346. So heißt es etwa an anderer Stelle: In jedem, dem der Kommunismus innere Berufung ist, winkt ein lebendiger, ursprungnaher, von einer Jugendzeit der Menschheit her im besten Blut noch fortgeerbter Urgeist: ein unmittelbares Wissen vom Unterschied zwischen Mensch und Mensch: ein selbstverständliches dort ewig heimatlos und hier zu Hause Sein, dort losgelöst und hier ins Leben eingegliedert vom dominierenden Element im eigenen Innersten, der revolutionären Menschheitsseele, die jedem Menschen solcher Art den Dienst des unbeschränkten großen Lebens zur Schicksalsbestimmung macht; ebd., Sp. 346.

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heste Vergangenheit der Menschheit gerichtet und somit mindestens ebenso regressive Züge trägt, wie sie behauptet progressiv zu sein, kristallisiert sich vielleicht am deutlichsten in der Doppeldeutigkeit des Wortes „einst“. Das je eigene Projekt in die Tradition des Turmbaus zu Babel zu stellen, erscheint nicht zuletzt deshalb so attraktiv, weil diese Tradition gerade im Begriff ist, neu imaginiert zu werden. Dabei geht die Anerkennung neuentdeckter archäologischer Quellen mit dem Bedeutungsverlust und der Relativierung jenes Wissens einher, das sich bislang nur auf eine überwiegend religiös geprägte schriftliche Tradition stützen konnte. Die biblischen und andere herkömmliche Mythen und Sagen scheinen ihre Kraft, Erklärungen etwa für die Entstehung der Sprachenvielfalt, für die räumliche Streuung unterschiedlicher Kulturen oder auch für die Herkunft überlieferter Namen zu liefern, endgültig einzubüßen und werden im Zuge dieses Funktionsverlustes zunehmend selbst erklärungsbedürftig. Das Interesse verlagert sich auf Fragen ihrer eigenen historischen Entstehungsbedingungen, die man aus Hinweisen in den Texten selbst zu erschließen sucht.30 Ob es sich beim Stadtwappen gleichsam um heraldische Ausführungen handelt, die aus historischen Umständen das Motiv der Faust im Wappen der nicht genannten Stadt erklären möchten, oder aber um eine Umschrift der biblischen Babelerzählung, die das Motiv im Wappen als Beglaubigungsstrategie für das eigene Gegennarrativ heranzieht, bleibt letztlich offen. Diese Offenheit des Genres bei gleichzeitiger Unmöglichkeit Handlung und Gegenwart des Erzählers historisch eindeutig zu verorten, kombiniert mit der umgekehrten Ausgangslage der biblischen Erzählung, eröffnen im Falle beider Erzählungen einen weiten Assoziationsraum und machen sie für ganz unterschiedliche zeitgenössische Vorhaben der Gemeinschaftsstiftung anschlussfähig, ohne sich auf ein bestimmtes festlegen zu lassen. 1.1.2 Durchlässigkeit zwischen Antike und Moderne: Babel-Analogien und -Identifikationen Doch Kafkas Erzählungen lenken die Aufmerksamkeit noch auf ein weiteres Charakteristikum des zeitgenössischen Babelbooms: Wenn im Stadtwappen 30

Vgl. etwa Hermann Gunkel. Genesis übersetzt und erklärt von Hermann Gunkel. 3. Aufl. Bd. 1. Göttinger Handkommentar zum Alten Testament. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1910. Zu den Ausführungen zum Turmbau zu Babel dieses einflussreichen Vertreters der religionsgeschichtlichen Schule siehe insbesondere S. 92–101. Gunkel ging von zwei Quellen aus, die der biblischen Erzählung zugrundeliegen sollen: von einem „Stadtbericht“ mit dem Thema Sprachverwirrung und von einer „Turmbaurezension“ mit dem Thema Zerstreuung. Vgl. auch https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/36310/.

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mit Blick auf den Beginn des babylonischen Turmbaus von „Dolmetscher[n]“, „Landsmannschaft[en]“ und „Arbeiterunterkünfte[n]“31 die Rede ist, so zeigt sich nicht nur die bereits anfänglich gegebene Heterogenität der Bauleute, sondern auch die anachronistische Überlagerung und wechselseitige Überformung unterschiedlicher Zeitebenen. Deutlich wird dies auch am neuzeitlichmodern anmutenden Fortschrittsdenken, das der Erzähler den Menschen zur Anfangszeit des Baus unterstellt und das zentral für seine Erklärung ist, weshalb man sich bald schon mehr um den Bau der Arbeiterstadt als um den Turmbau gekümmert habe. Umgekehrt scheint in all den Sagen und Liedern, die im Laufe der Zeit hervorgebracht wurden sowie im Wappen der Stadt über Generationen und Zeiten hinweg stets unverändert die urtümlich anmutende Vorstellung einer übermenschlichen anthropomorphisierten Gewalt präsent zu bleiben. Diese zur Schau gestellte „Durchlässigkeit zwischen Antike und Moderne“32 ist in hohem Maße charakteristisch für den zeitgenössischen Babel- und Gemeinschaftsdiskurs. So betont Andrea Polaschegg immer wieder, wie perfekt sich das neu entstehende Babelbild „in das Selbstbild von Deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik einfügt: man [müsste] es für eine zeitgenössische Erfindung halten […], wäre es nicht tatsächlich ausgegraben und von den Keilschrifttafeln abgelesen worden.“33 Dabei offenbart sich diese Kompatibilität nicht nur auf dem publizistischen Feld der Satire sondern etwa auch im Bereich der Ästhetik, wo sich „die Verbindung von Ornamentik und Abstraktion in der mesopotamischen Bildgestaltung“34 als ausgesprochen anschlussfähig erweist. Beispiele reichen von Buchillustrationen35 über Kunstgewerbe36 bis hin zur Architektur.37 Mit Blick auf die zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurse hat man sich mit der Berufung auf den Babylonischen Turmbau bzw. auf die gesamte babylonische Kultur als antikes Vorbild vielleicht am weitesten innerhalb des deutschen nation-buildings unter der Regentschaft Kaiser Wilhelms II. vorgewagt, das mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 gerade erst begonnen hatte. Wilhelm II. selbst ging dabei so weit, König Hammurabi, einen babylonischen 31 32 33 34 35 36 37

KKAN II, S. 318 f. Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 10. Polaschegg, „Wir (alle) sind Babylon (gewesen). Eine deutsch-babylonische Genealogie der Moderne“, s. Anm. 11, S. 63. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 70–74. Vgl. ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 75–78.

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Herrscher aus dem 18. Jhdt. vor Christus, noch Jahre nach seiner Abdankung zum geistigen Ahnherr der Hohenzollern zu stilisieren.38 Doch die Analogiebildungen und Aneignungen der Vergangenheit im Rahmen des deutschen nation building gehen sowohl hinsichtlich der Akteure als auch thematisch weit über die Person des Kaisers hinaus. Sie betreffen unterschiedlichste kulturelle Bereiche und werden auch von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Großunternehmern unterstützt und vorangetrieben. Aufgrund der gegenüber anderen Nationen in Europa „verspäteten“ Formierung eines Nationalstaats spielen Fragen nach kultureller Herkunft und Besonderheit im deutschen Kaiserreich eine deutlich größere Rolle als in anderen Nationen wie Frankreich, England oder Russland. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der große persönliche und finanzielle Einsatz nicht nur des deutschen Kaisers für das Grabungsprojekt der Deutschen Orient Gesellschaft in Mesopotamien.39 Mit den Ausgrabungen konnte man zum einen unter Beweis stellen, dass man als Nation durchaus in der Lage war, sich mit seinen archäologischen Unternehmungen, an die sich immer auch imperiale Interessen knüpften, etwa gegenüber England oder Frankreich zu behaupten, die im Zweistromland bereits seit Jahrzehnten Präsenz gezeigt hatten.40 Zum anderen generierte man so auch neues Wissen über eine babylonische Kultur, auf die man sich als antikes Vorbild berufen konnte. Nicht nur war diese – anders als die griechischrömische Antike – noch nicht durch andere Nationen besetzt, man konnte sich mit Babylonien auf eine ungleich ältere Kultur berufen, die es ermöglichte, die Bedeutung des griechisch-römischen Altertums und der jüdisch38

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Kaiser Wilhelm II. konnte König Hammurabi aufgrund populärwissenschaftlicher Publikationen zum 1901/1902 ausgegrabenen und erschlossenen Codex Hammurabi, in denen der König als frühester Gesetzgeber dargestellt wurde, bei einer breiten Leserschaft als bekannt voraussetzen. In seinem im Exil in den Niederlanden verfassten Buch Das Königtum im alten Mesopotamien schreibt Wilhelm II. über Hammurabi: „Seine auf der berühmten Stele verzeichneten Gesetze erregen auch heute noch unsere Bewunderung; klar durchdacht und praktisch gefasst regeln sie bis in alle Einzelheiten das öffentliche und das private Leben. Eine auf uns gekommene umfassende amtliche Korrespondenz beweist, dass diese Gesetzesvorschriften nicht nur ‚auf dem Papier‘, das heißt auf Ton und Stein, standen, sondern dass der Herrscher persönlich mit strenger Energie auch für ihre strikte Durchführung sorgte! Ein babylonischer Vorgänger König Friedrich Wilhelms I., ‚des Baumeisters des preußischen Staates‘!“ Wilhelm II. „Das Königtum im alten Mesopotamien“. In: Berlin – Babylon. Eine deutsche Faszination. Hrsg. von Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan. Wagenbach, 2017, S. 125–135, S. 128 f. Vgl. Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 10 f. Vgl. ebd., S. 11.

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christlichen Kultur für das abendländische Selbstverständnis zu relativieren und in den Schatten zu stellen. In diesem Zusammenhang ist besonders der Panbabylonismus, eine Strömung innerhalb der deutschen Altorientalistik um die Jahrhundertwende hervorzuheben, im Rahmen dessen man bemüht war nachzuweisen, dass die astrale Weltanschauung der babylonischen Kultur die Grundlage aller Religionen und Kulturen der Welt bilde.41 Dies sollte im sehr breit rezipierten sogenannten Babel-Bibel-Streit insbesondere anhand der biblischen Weltanschauung und Symbolsprache verdeutlicht werden, deren Eigenständigkeit und Originalität damit in Frage gestellt wurde. Mit dem Panbabylonismus wurde das Vergleichen von Moderne und mesopotamischem Altertum, die Suche nach Kontinuitäten zwischen beiden und die Konstruktion eines kulturellen Ursprungs, auf den man sich berufen konnte, also buchstäblich institutionalisiert. Einer seiner Hauptvertreter war Hugo Winckler. An den Titeln seiner Publikationen – etwa Himmels- und Weltenbild der Babylonier als Grundlage der Weltanschauung und Mythologie aller Völker 42 von 1901, Die babylonische Kultur in ihrer Beziehung zur unsrigen43 von 1902 oder auch Die babylonische Geisteskultur in ihren Beziehungen zur Kulturentwicklung der Menschheit 44 von 1907 – lassen sich Zuschnitt und Stoßrichtung dieses wissenschaftlichen Feldes gut ablesen. Die Panbabylonisten stellten heraus, dass im Astralkult, der die gesamte babylonische Kultur geprägt haben soll, nicht zwischen „Wissenschaft, Religion und sozialer Organisation“45 unterschieden wurde. Diese Feststellung machte den Kult bei Künstlern und Intellektuellen auch im Umkreis der Kulturkritik um die Jahrhundertwende besonders attraktiv und anschlussfähig für ihre spezifisch modernen Sehnsüchte nach neuen Formen des Zusammenlebens und einer erneuerten Religiosität, in denen Rationalität und Spiritualität, Gesellschaft und Gemeinschaft wieder in Einklang gebracht wären. Zudem beruhten alle Einrichtungen dieser Kultur auf Sternenkonstellationen und mithin auf einem Naturphänomen, das gewissermaßen universal, für alle Zeiten 41

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Vgl. ebd., S. 19–21. Ausführlicher zum Panbabylonismus siehe Polaschegg, „Wir (alle) sind Babylon (gewesen). Eine deutsch-babylonische Genealogie der Moderne“, s. Anm. 11, S. 78–83 und (Weichenhan, s. Anm. 11). Hugo Winckler. „Himmels- und Weltenbild der Babylonier als Grundlage der Weltanschauung und Mythologie aller Völker“. In: Der alte Orient 2/3 (1901). Hugo Winckler. Die babylonische Kultur in ihrer Beziehung zur unsrigen. Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1902. Hugo Winckler. Die babylonische Geisteskultur in ihren Beziehungen zur Kulturentwicklung der Menschheit. Leipzig: Quelle & Meyer, 1907. Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 19.

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und Völker gleich und doch von jedem sinnlich wahrnehmbar war. „Zugespitzt formuliert“, so schreiben Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan in der Einleitung zu ihrem Sammelband Berlin – Babylon, „lautete das Versprechen, dass sich im Rückgriff auf die babylonische Astralkultur die babylonische Sprachverwirrung rückgängig machen ließe, weil man es hier mit einer universalen Struktur zu tun hatte, die eben deshalb auch das ersehnte Ganze aus Szientismus und Spiritualität bilden konnte.“46 Dass sich die babylonische Kultur trotz ihres Alters keineswegs primitiv präsentierte, sondern, wie sich schnell herausstellte, über ein in seiner Abstraktheit für den modernen Geschmack höchst ansprechendes Keilschriftsystem sowie über erstaunliches mathematisches und astronomisches Wissen verfügte, begünstigte die „Durchlässigkeit zwischen Antike und Moderne“,47 die unterschiedlichste gesellschaftliche Bereiche betraf und die die Babel-Begeisterung um 1900 wesentlich charakterisiert. Überall ließen sich Versatzstücke aus dem babylonischen Altertum scheinbar nahtlos in die Moderne einfügen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den Plänen für ein neues Berlin, das von einer kleinen Residenzstadt zu einer Weltstadt ausgebaut werden sollte – Pläne, die auch aufgrund des Weltkriegs in ihrer vorgesehenen Monumentalität nicht verwirklicht werden konnten und eine deutliche Faszination für den Turm als zentrales Gestaltungselement bezeugen. Dabei ließ man sich bei den Entwürfen gleichermaßen von der modernen Hochhausarchitektur amerikanischer Metropolen, wie von der durch Koldewey ausgegrabenen und rekonstruierten Form des Babelturms, der „Zikkurat“, inspirieren, die mit ihrer kubisch-symmetrischen Ästhetik ungleich moderner anmutete, als sie etwa in den berühmten Gemälden Pieter Bruegels imaginiert wurde.48 Hier ließ sich eine großstädtische Zukunft perfekt mit einem antiken Leitbild verbinden, für das sich Babylon mit seiner Monumentalarchitektur, seiner Bevölkerungsdichte, seiner Sprachenvielfalt und Internationalität sowie mit seiner Macht in besonderer Weise anbot. Die Überlagerung unterschiedlicher Zeitstufen ist auch in Beim Bau der chinesischen Mauer allgegenwärtig und betrifft sowohl die Ebene der histoire wie jene des discours. Die mitunter kurios wirkenden Projektionen zwischen Vergangenheit und Gegenwart im zeitgenössischen Diskurs, die schon damals satirisch aufgegriffen werden,49 scheinen hier noch überboten und etwa mit Blick 46 47 48 49

Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 20. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 27 ff. Vgl. die Beispiele in Polaschegg, „Wir (alle) sind Babylon (gewesen). Eine deutschbabylonische Genealogie der Moderne“, s. Anm. 11, S. 70–72.

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auf das Kaisertum thematisch zu werden, wenn man vergangene Herrscher auf den Thron hebt, während man die gegenwärtigen zu den Toten zählt.50 Doch während man im zeitgenössischen Babel-Boom meist bemüht ist, die Sprünge zwischen Antike und Moderne möglichst mühelos aussehen zu lassen, führt das anachronistische Zeitverhältnis in Kafkas Texten immer wieder in Paradoxien und wird auffällig. So gehen auch auf der Ebene des discours laufend unterschiedliche Zeitebenen durcheinander. In Anachronismen wie „Volkskraft“,51 „vergleichende Völkergeschichte“52 oder auch „Menschenmaterial“,53 etc. deutet sich eine Gegenwart des Erzählens an, die wie im Stadtwappen in der Moderne zu vermuten wäre. Dieser Vermutung steht aber wiederum die homodiegetische Erzählsituation bzw. die behauptete Zeitgenossenschaft des Erzählers mit der von ihm erzählten Geschichte entgegen, die ihrerseits Elemente enthält, die mitunter zwar historisch verortbar sind, doch in völlig unterschiedliche Jahrhunderte oder gar Jahrtausende weisen.54 Entsprechend bleibt auch hier trotz einiger ausgelegter Fährten der Spielraum möglicher Assoziationen enorm groß.

1.1.3 Distanznahmen zum biblischen Babel-Mythos Wenn in Beim Bau der chinesischen Mauer die Berufung auf Babel und die BabelRezeption ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden, so fällt allerdings auf, dass nicht nur die Analogiebildungen, sondern auch die Distanznahmen, die der namenlose Wir-Erzähler zwischen titelgebendem Mauerbau und babylonischem Turmbau vornimmt, in hohem Maße charakteristisch für die Babel-Referenzen innerhalb zeitgenössischer Kollektivierungsprojekte sind. Über das utopisch anmutende Vorhaben, dessen Vollendung allerdings bereits verkündet wurde, nämlich das scheinbar unendlich große China zu ummauern, heißt es: 50 51 52 53 54

Vgl. KKAN I, S. 352 f. KKAN I, S. 344. KKAN I, S. 348. KKAN I, S. 355. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich diese Widersprüche vielleicht durch spätere Überformungen einer fiktiven Überlieferungsgeschichte erklären, wie sie Kafka im Anschluss an Ein altes Blatt angedacht hat – auf diesen Text wird am Beginn von Kapitel 6 genauer eingegangen. Allerdings lassen sich damit nicht alle Unregelmäßigkeiten wegerklären, die durch die Co-Präsenz einander ausschließender Zeitebenen entstehen. Vielmehr deutet sich jene Erzählstimme, der keine kohärente Subjektposition zugeschrieben werden kann, als Quelle solcher Inkohärenzen an.

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Zunächst muß man sich doch wohl sagen, daß damals Leistungen vollbracht worden sind, die wenig hinter dem Turmbau von Babel zurückstehn, an Gottgefälligkeit allerdings, wenigstens nach menschlicher Rechnung, geradezu das Gegenteil jenes Baues darstellen.55

Hier deutet sich die Ambivalenz des mesopotamischen Topos mit seiner doppelten Codierung als historisches Geschehen und biblischer Mythos an, die auch die zeitgenössischen Vergleiche des jeweiligen eigenen Unternehmens mit jenem des babylonischen Turmbaus vor Herausforderungen stellt. Denn einerseits erlauben diese Vergleiche, das je eigene Projekt der Gemeinschaft in die Nähe des gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Ausgrabungen besonders faszinierenden antiken Bauvorhabens zu rücken und das angestrebte Ziel gleichsam als Erfüllung dieses uralten Menschheitstraums einer geeinten Menschengemeinschaft durch die erfolgreiche Vermittlung von Idee und Wirklichkeit, Einheit und Vielheit darzustellen. Die Analogien lassen das eigene Vorhaben also gewissermaßen als zweiten erfolgsversprechenderen Versuch erscheinen, bei dem man aus den Fehlern des ersten gelernt habe, wobei sich mit diesem zweiten Versuch auch das Versprechen verknüpft, jene fatalen Folgen, die der erste nach sich gezogen habe, endgültig zu beseitigen. Andererseits handelt man sich mit der Suggestion, das eigene Unterfangen stehe in der Tradition des antiken Vorhabens, den Verdacht der Hybris bzw. der Gotteslästerung ein. Jedenfalls wird dieser Vorwurf wirkmächtig in der Bibel erhoben, wenn Differenz und Vielfalt zum Gebot Gottes erklärt und dem Versuch der Menschen, diesem Gebot die Einheit ihrer Gemeinschaft entgegenzuhalten, Frevelhaftigkeit attestiert wird. Entsprechend stehen Unternehmen, die sich in die Tradition des babylonischen Turmbaus stellen, unter erheblichem Rechtfertigungsdruck. Zu entkräften gilt es dabei nicht nur die Argumente und Narrative der biblischen Erzählung selbst, sondern auch jene aus anderen einflussreichen Texten, die im Zuge ihrer langen und produktiven Rezeption hervorgegangen sind. Innerhalb der europäischen Denktradition spielten dabei auch die in der Frühen Neuzeit an Bedeutung gewinnenden Naturwissenschaften eine gewichtige Rolle. Zwar konkurrieren sie bereits mit biblischen Erklärungsmodellen, doch sucht man sie zu diesem Zeitpunkt auch noch mit der Weltsicht der Bibel zu harmonisieren. Zu nennen wäre hier etwa der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher, der sich – wenn nicht die Vermittlung des Physischen mit dem Metaphysischen – so doch die Harmonisierung von Physik und Metaphysik zur

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KKAN I, S. 343.

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Lebensaufgabe gemacht hat.56 Er setzte dem neuzeitlichen Auseinandertreten von Rationalität und Glaube seine Versuche entgegen, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften mit den Aussagen der Bibel in Einklang zu bringen. Dieses Anliegen liegt auch seiner 1679 erschienenen Schrift Turris Babel 57 zugrunde, in der er mit physikalischen und bautechnischen Argumenten versucht, die Unmöglichkeit und – insofern die Naturgesetze als gottgegeben angesehen wurden – Frevelhaftigkeit der Verwirklichung eines Himmelsturms zu beweisen, um dann aber das im Zuge dieses eigentlich gotteslästerlichen Ansinnens tatsächlich hervorgegangene Bauwerk als strahlenden Beginn aller späteren Architektur zu feiern.58 Entsprechend bleibt die Diskrepanz zwischen idea56 57

58

Damit dürfte er auch für die modernen kulturkritischen Bestrebungen, Spiritualität und Szientismus zu vereinen, von Interesse gewesen sein. Athanasius Kircher. Athanasii Kircheri ... Turris Babel sive archontologia qua primo priscorum post diluvium hominum vita, mores rerumque gestarum magnitudo, secundo turris fabrica civitatumque exstructio, confusio linguarum & inde gentium transmigrationis, cum principalium inde enatorum idiomatum historia, multiplici eruditione describuntur & explicantur. Amstelodami: ex officina JanssonioWaesbergiana, 1679 (im Folgenden zit. als Turris Babel). Bernhard Greiner macht in Fußnote 20 seines Aufsatzes Bernhard Greiner. „Mauer als Lücke. Die Figur des Paradoxons in Kafkas Diskurs der Kultur“. In: Arche Noah. Die Idee der ‚Kultur‘ im deutsch-jüdischen Diskurs. Hrsg. von Bernhard Greiner und Christoph Schmidt. Bd. 26. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag, 2002, S. 173–195, S. 191 auf dieses Buch aufmerksam. Er bezieht sich allerdings aus anderen Gründen auf Kircher. Er weist damit auf jene Tendenz innerhalb der Babel-Rezeption hin, die die „Vielfalt (der Sprachen) auf eine ursprüngliche Einheit zurückzuführen“ sucht. In Turris Babel bewertet Athanasius Kircher den Turmbau von Babel, ganz analog zum namenlosen Gelehrten in Kafkas Erzählung, unter zwei Aspekten, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen: in geistiger Hinsicht als frevlerisches Vorhaben und als reales Bauwerk, so wie es tatsächlich realisiert wurde, als ein großartiges Meisterwerk menschlicher Erfindungsgabe und Leistungsfähigkeit, als Urmuster aller späteren Architektur. Dass die Realisierung des idealen Baus gotteslästernd wäre, suchte Kircher dadurch nachzuweisen, dass ein solch gewaltiger Turm gegen die von Gott gegebenen Naturgesetze verstoßen würde. Daher entwarf er Pläne des Turmes und stellte konkrete Überlegungen an, wieviel Arbeitskraft für einen solchen Bau aufgewendet werden müssten. Seiner Meinung nach betrug die Entfernung zwischen Erde und Himmel 265.380 Kilometer. Hierfür hätten rund 4.500.000 Arbeiter etwa 3400 Jahre ununterbrochen arbeiten müssen. Das Gewicht des Turmes hätte das Gewicht der Erde übertroffen und so die Erde aus ihrer Mittelstellung im Kosmos gehebelt und zum Untergang der Welt geführt. Vgl. Turris Babel, S. 40. Das Eingreifen Gottes war somit keine Strafe, sondern eine Notwendigkeit, um die Schöpfung zu bewahren. Gewisse Echos dieser Überlegungen vermeint man in Kafkas Erzählung zu vernehmen, wenn sich der Erzähler fragt, „wozu […] in dem Werk Pläne, allerdings nebelhafte Pläne des Turmes gezeichnet und Vorschläge bis ins Einzelne gemacht [waren], wie man die Volkskraft zu dem künftigen neuen Werk straff zusammenfassen solle?“ KKAN I, S. 344. Im Übrigen gibt es bei Kircher auch einen Chinabezug. In seiner Schrift China monumentis illustrata von 1667 hatte er sich eingehend mit China auseinandergesetzt

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lem Anspruch einerseits und tatsächlichem Ergebnis der Anstrengungen andererseits, zwischen göttlicher und irdischer Sphäre, bei ihm letztlich unüberwindlich. Zu einflussreichen Texten dieser Art scheint auch das Buch des Gelehrten aus den Anfangszeiten des Mauerbaus zu zählen. Gestützt auf neue Methoden und Quellen bringt es einen weiteren Einwand gegen das Projekt des Mauerbaus ins Spiel, den es aus Sicht des Erzählers auszuräumen gilt: So erfährt man über die Stoßrichtung des Buchs, der Gelehrte habe nicht nur unter Rückgriff auf „Schriften und Bericht[e]“, sondern auch auf Untersuchungen „am Orte selbst“ darin zu beweisen gesucht, dass der Turmbau „keineswegs aus den allgemein behaupteten Ursachen nicht“ verwirklicht werden konnte „oder daß wenigstens unter diesen bekannten Ursachen sich nicht die allerersten“ befänden, sondern dass er „an der Schwäche des Fundamentes scheiterte und scheitern mußte“.59 Der neue Einwand betrifft also nicht länger (nur) die – wie man annehmen darf – mangelnde Gottgefälligkeit des geplanten Unternehmens, sondern seine aufgrund statischer Erwägungen in Frage stehende praktische Durchführbarkeit. Allerdings wird in der Darstellung des Erzählers nicht deutlich, ob im Buch des Gelehrten die allgemein behaupteten, auf schriftliche Quellen gestützten – vermutlich also theologischen – Argumente um empirische, bautechnisch-naturwissenschaftliche ergänzt werden60 , oder ob letztere in Konkurrenz zu ersteren treten.61 Entsprechend bleibt auch unentscheidbar, ob die Widerlegung des vom Gelehrten ins Treffen geführten Arguments, zugleich die „allgemein behaupteten Ursachen“ für das Scheitern des Baus ausräumen würde, zu denen der Einwand der mangelnden Gottgefälligkeit zweifellos zählt. Aufgrund dieser Ambivalenz lassen sich die europäischen Kontexte, die die Rede des Erzählers in Kafkas Text hier offenbar überformen, zeitlich nicht scharf eingrenzen. Der Vorzug, der eindeutig der baustatischen Argumentation gegeben wird, weist aber auf eine Zeit, in der sich Naturwissenschaft und

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und hier etwa die Ausbreitungswege der frühen Menschheit, nach der Sintflut und dem Turmbau von Babel diskutiert, wobei er die Chinesen als Nachkommen Chams betrachtete. Vgl. Athanasius Kircher. Athanasii Kircheri E Soc. Jesu China Monumentis, Qua Sacris quà Profanis, Nec non variis Naturae & Artis Spectaculis, Aliarumque rerum memorabilium Argumentis Illustrata ... Amstelodami: Meurs, 1667 (im Folgenden zit. als China monumentis), S. 226. KKAN I, S. 343. Dies suggeriert die Formulierung wonach „unter diesen bekannten Ursachen sich nicht die allerersten“ befinden. KKAN I, S. 343. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn es zunächst heißt, dass der Turmbau „keineswegs aus den allgemein behaupteten Ursachen nicht“ verwirklicht werden konnte. KKAN I, S. 343.

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Theologie bereits weitgehend ausdifferenziert haben und der Hinweis auf die Untersuchungen „am Orte selbst“,62 die als Quellen berücksichtigt werden, lässt unweigerlich an Koldeweys zum Zeitpunkt der Niederschrift gerade erst vier Jahre alten Grabungserfolg denken bzw. an die zunehmende Anerkennung der Archäologie als Wissenschaft um 1900. Letztere war entscheidend für den Umgang mit der Bibel innerhalb des preußischen nation building. „Altertumsforschung wurde“, so halten auch Polaschegg und Weichenhan fest, „in Deutschland bis dato von Philologen betrieben. Deren Leitmedium waren Texte, nicht Steine.“63 Als wichtiger Schauplatz dieses Paradigmenwechsels kann der erwähnte Babel-Bibel-Streit aufgefasst werden. Im Zuge dieses Gelehrtenstreits standen sich zwei Gruppen von Wissenschaftlern gegenüber: Auf der einen Seite solche, die sich wesentlich auf die Ergebnisse der Archäologie stützten, um die Bedeutung der Bibel für die abendländische Kultur zugunsten der Bedeutung, die sie der babylonischen Kultur zugestanden, zu relativieren – ihnen kann ein gewisses Naheverhältnis zu Kaiser Wilhelm II. und seinem Projekt, eine neue deutsch-nationale Identität zu schaffen, attestiert werden64 – und auf der anderen Seite solche, die aus vorwiegend konservativer, christlicher oder jüdischer Position heraus die Bedeutung der Bibel verteidigten und der Schrift als Quelle den Vorzug gaben. Für erstere waren die Grabungstätigkeiten Koldeweys von großer Bedeutung, denn durch sie wurde die Autorität der Bibel auch hinsichtlich der Bewertung des antiken Einigungsprojekts geradezu wörtlich untergraben, stellte sie doch fortan nicht mehr die alleinige Informationsquelle in Sachen babylonischer Turmbau und der Frage der Möglichkeit seines Gelingens dar. Auf diesen Akt der Demythisierung der biblischen Erzählung folgte allerdings sogleich die Remythisierung im Sinne eines neuen Gründungsmythos, der auf die Gesamtheit aller gegenwärtigen Kulturen bezogen wurde, an deren Spitze man die eigene sah. Man konnte sich nun in eine Tradition stellen, die doppelt so alt war wie die Bibel – wobei man nicht nur versuchte, die Bedeutung des Judentums für die abendländische Kultur herunterzuspielen, sondern auch den Juden ihre geistige Selbständigkeit und Produktivität abzusprechen.65 62 63 64

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KKAN I, S. 343. Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 10. Kaiser Wilhelm II. war beim ersten Vortrag des deutschen Assyriologen Friedrich Delitzsch persönlich zugegen, den dieser am 13. Januar 1902 vor der Deutschen Orientgesellschaft in der Sing-Akademie zu Berlin hielt, und der als Auslöser des Streits galt. Vgl. ebd., S. 64. Martin Buber ist dieser Streit nicht entgangen. Augenscheinlich bezieht er Stellung gegen die Position Friedrich Delitzschs und anderer Protagonisten des Babel-Bibel-Streits, wenn er schreibt: „Die Juden sind ein Spätling des Orients: Sie erscheinen zu einer Zeit, da die

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Die Widersprüchlichkeiten in jenem Buch aus den Anfangszeiten des Baus, die der gleichzeitigen Lesbarkeit von Mauer und Turm jeweils als tatsächliches Bauwerk und als (Ideal-)vorstellung geschuldet sind, und die der Erzähler nicht aufzulösen weiß, weisen zunächst auf die entscheidende Bedeutung des Imaginären bei diesem hoch politischen Unterfangen des Mauerbaus. Parallel dazu deutet sich in ihnen der Kontext eines Übergangs vom Paradigma der Schrift, der Theologie, des Mythos hin zu jenem der Artefakte, der Archäologie, der Geschichte an. Die Zeit des Erzählens – der Mauerbau wurde bereits als vollendet verkündet – scheint dagegen mit Kontexten zu korrespondieren, die bereits nach einem solchen Scheitelpunkt liegen, wenn die diesseitige Sphäre, jene des Empirischen, zunehmend zur maßgeblichen geworden ist. Jedenfalls wird die angebliche Gottgefälligkeit des Mauerbaus nicht lange begründet, sondern lediglich behauptet, mit dem lapidaren Zusatz, dass sie dies „jedenfalls nach menschlicher Rechnung“66 sei. Die göttliche Sphäre scheint den Menschen

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großen Völker des Orients längst aus der Ära der Plastizität, der bestimmend formenden Erfahrungen getreten waren, und ihre schöpferische Kraft beginnt sich zu offenbaren, als jene Völker die ihre längst in weitausgespannten Kulturen ausgeprägt hatten. Zwei dieser Kulturen, von denen die biblischen Urkunden der ältesten Wanderungen Israels zu erzählen wissen, die babylonische und die ägyptische, haben das junge Volk der Juden beschenkt. Eine Gruppe von Gelehrten hat aus dieser Tatsache die Unselbständigkeit und Unproduktivität des jüdischen Geistes ableiten zu können geglaubt. Aber all ihr Bemühen geht von einer grundfalschen Voraussetzung aus: es bestehe die produktive Selbständigkeit eines Menschen oder eines Volkes darin, daß die Inhalte seiner Schöpfung nicht von andern hergenommen sind. Das Gegenteil ist wahr; schaffen heißt die Elemente in sich versammeln und zum Gebilde verschmelzen, und es gibt keine andre zulängliche Selbständigkeit als die der Gestaltung. Nicht wo einer ein ‚Motiv‘ findet, sondern was er daraus bildet, ist historisch entscheidend.“ Martin Buber. „Reden über das Judentum“. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Bd. 2. Gerlingen: Lambert Schneider, 1993, S. 50 f. Der letzte Satz könnte programmatisch für Kafkas Poetik der Umschrift stehen. In zionistisch-messianistischen Texten, etwa in Bubers Reden über das Judentum, ist die Babelgeschichte im Übrigen auffallend abwesend. Gegen sie werden daher gegenläufige Stellen kanonischer Texte stark gemacht, wie die Lehre von der Schechina, der Einwohnung Gottes. Demnach trete die Totalität der Gemeinschaft nicht in Konkurrenz zur göttlichen, sondern würde diese verwirklichen – „geradezu das Gegenteil“ an Gottgefälligkeit also zum babylonischen Turmbau. Eine weitere Strategie zur Rehabilitierung der menschlichen Tat ist die Verbreitung der Vorstellung, dass die Schöpfung Gottes nicht ein einmaliges Werk und Ereignis gewesen sei, sondern permanent durch den Menschen erneuert/fortgeführt wird. „Die Welt des wahren Judentums ist die Welt der Einheit alles Erdenlebens, einer Einheit nicht des Seins, sondern des Werdens, und eines Werdens nicht aus sich selber, sondern aus der Gestaltung durch den Geist – den Menschengeist, den sich der Gottesgeist erkor.“ Ebd., S. 93. KKAN I, S. 343.

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nicht (mehr) zugänglich zu sein, entsprechend ist es müßig, lange über die Gottgefälligkeit zu streiten. Gewichtiger ist dagegen jener zweite Einwand des Gelehrten, der etwa bei Athanasius Kircher noch mit dem ersten in eins fällt und die grundsätzliche Durchführbarkeit des Unternehmens betrifft: Er suggeriert, dass es für die Verwirklichung eines idealen Bauwerks wie dem babylonischen Himmelsturm kein ausreichend festes Fundament in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit gebe und geben könne67 . Dennoch behauptet er, „die große Mauer werde zum erstenmal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen neuen Babelturm schaffen“,68 wobei er dies dem Erzähler zufolge wohl nur „in geistiger Hinsicht gemeint“69 haben könne, denn die Mauer bilde „nur eine Art Viertel- oder Halbkreis“. Wenn allerdings bereits die imaginäre Dimension der Mauer, die Mauer als Idee und Vorstellung, als Teil einer symbolischen Ordnung, als etwas Geistiges das Fundament eines neuen Babelturms – möglicherweise zu verstehen als neues Gemeinschaftsgefühl – abgeben würde, so erschiene die tatsächliche Mauer überflüssig – ein Gedanke, den der Erzähler angesichts der enormen Opfer, die der Bevölkerung durch den Bau bereits abverlangt wurden, sogleich wieder aufgibt.70 Entsprechend versucht der Erzähler den impliziten Einwand des Gelehrten, ideale Bauwerke hätten kein hinreichendes Fundament in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit, in zwei Anläufen zu zerstreuen. Zum einen behauptet er, der Gelehrte habe sich mit dem Argument der mangelhaften Fundamentierung gar nicht auf den Turm in seiner Eigenschaft als tatsächliches Bauwerk bezogen, eine Behauptung, der allerdings schnell die konkreten, wenn auch „nebelhafe[n] Pläne des Turms“ und die detaillierten Vorschläge, „wie man die Volkskraft zu dem neuen künftigen Werk straff zusammenfassen solle“, entgegenstehen.71 Zum anderen versucht der Erzähler den Einwand mit dem 67

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Dies legt zumindest der Satz nahe, wonach dieser Gelehrte herausgefunden haben will, dass der Turm „an der Schwäche des Fundaments scheiterte und scheitern musste.“ KKAN I, S. 343 [Hervorhebung C.D.]. KKAN I, S. 343. KKAN I, S. 344. Vgl. KKAN I, S. 344. Hier zeigen sich gewisse Parallelen zum Buch von Athanasius Kircher. Enthält es doch auch konkrete Abbildungen eines Turms, der von der Erde zum Mond ragt (Siehe Turris Babel, S. 38), also von einer Vorstellung, deren Unmöglichkeit er eigentlich nachzuweisen sucht. Darüber hinaus stellt er Berechnungen an, wieviele Arbeitskräfte damals verfügbar waren und wieviele Arbeitsstunden zur Errichtung eines solchen Baus notwendig wären, wobei am Ende die Erde als Fundament untauglich erscheint, da sie aus dem Mittelpunkt

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Hinweis auf die erfolgten Fortschritte in der Baukunst wegzuwischen. Damit soll der technische Fortschritt die Überwindung des Gegensatzes von Idee und Wirklichkeit durch schrittweise Annäherung letzterer an erstere verbürgen, was charakteristisch für viele zeitgenössische Vergemeinschaftungsprojekte ist, die sich mehr oder weniger offen in die Tradition des babylonischen Turmbaus stellen und bei Einwänden gegen die Möglichkeit der Verwirklichung eines solchen Projekts, insbesondere wenn auf das Scheitern aller bisherigen Versuche verwiesen wird, gleichermaßen mit dem Fortschrittsnarrativ argumentieren. Im Folgenden soll dies am Beispiel des zionistischen Diskurses verdeutlicht werden. Mit ähnlichen Mitteln versucht Theodor Herzl im Judenstaat den Einwänden gegen die Möglichkeit der Verwirklichung seines zionistischen Projekts zu begegnen. Dabei scheint er zunächst – ähnlich, wie dies der chinesische Erzähler dem Gelehrten unterstellt, – eine Idee zum Fundament für sein Projekt erklären zu wollen, denn augenscheinlich ist ihm bewusst, dass er für die Umsetzung seines Vorhabens nicht auf die Kraft des Imaginären verzichten kann: Niemand ist stark oder reich genug, um ein Volk von einem Wohnort nach einem anderen zu versetzen. Das vermag nur eine Idee. Die Staatsidee hat wohl eine solche Gewalt. Die Juden haben die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen […]. Nun handelt es sich darum, zu zeigen, dass aus dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann.72

Herzl stellt die Attraktivität des Ziels, die nicht zuletzt in ihrer Idealität liegt, gerade nicht als Hindernis seiner Verwirklichung dar, sondern als Voraussetzung seines Erreichens. Nur große Ideen vermögen genügend Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu mobilisieren, die nötig seien, um solch große Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn die Verwirklichung einer solchen „Idee hängt nur von der Zahl ihrer Anhänger ab.“73 Dennoch geht Herzl auf Distanz zu aus seiner Sicht all zu schwärmerischen Positionen, wie sie später besonders von der sozial-radikalistischen Strömung

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des Universums gehebelt würde. Vgl. Turris Babel, 37 ff. Zugleich ähnelt der Ton auch jenem aus Herzls Judenstaat, wenn im Kapitel „Unser Menschenmaterial“ davon die Rede ist, dass die „Society of Jews […] in der Lage sein [wird], eine wissenschaftlich genaue Statistik unserer Menschenkräfte vorzubereiten“, um die Umsetzbarkeit der anstehenden Arbeiten zu gewährleisten. Herzl, s. Anm. 22, S. 63. Und auch Achad Haam spricht explizit von der zerklüfteten „Volkskraft“ der in der Diaspora zerstreuten Juden, die es zu überwinden gelte. Achad Haam. Am Scheidewege. Übers. von Israel Friedlaender. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin: Jüdischer Verlag, 1913, S. 30, 111. Herzl, s. Anm. 22, S. 15. Ebd., S. 5.

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innerhalb des Zionismus, von den sogenannten Kulturzionisten, vertreten werden. So meint Herzl angesichts des Einwands, man solle nicht neue Unterschiede zwischen die Menschen bringen und keine neuen Grenzen errichten, sondern lieber die alten zum Verschwinden bringen: das sind liebenswerthe Schwärmer, die so denken; aber der Staub ihrer Knochen wird schon spurlos zerblasen sein, wenn die Vaterlandsidee noch immer blühen wird. Die allgemeine Verbrüderung ist nicht einmal ein schöner Traum. Der Feind ist nöthig für die höchsten Anstrengungen der Persönlichkeit.74 .

Dagegen scheint Buber – das wird in seiner Auseinandersetzung mit dem Messianismus deutlich – in der Errichtung eines jüdischen Staats bloß ein Etappenziel auf dem Weg zur wahren Erlösung zu sehen: Der Messianismus ist die am tiefsten originale Idee des Judentums. Man bedenke: in der Zukunft, in der ewig urfernen, ewig urnahen Sphäre, fliehend und bleibend wie der Horizont, in dem Reich der Zukunft, in das sich sonst nur spielende, schwankende, bestandlose Träume wagen, hat der Jude sich unterfangen, ein Haus für die Menschheit zu bauen, das Haus des wahren Lebens. Was sonst alles in den Völkern an Sehnsucht, an Hoffnung, an Wunsch sich um das Gefühl der Zukunft rankte, war alles relativ: es konnte so kommen, in naher Zeit, in ferner Zeit, es konnte auch anders kommen – man wünschte, man träumte sein Kommen, aber wer wußte es, ob es kommen würde, wer konnte wagen daran zu glauben, wenn der kalte, klare Tag zum Fenster herein schien? Hier aber waltete etwas von Grund aus anderes; hier konnte es nicht kommen, sondern es mußte kommen, denn jeder Augenblick verbürgte es und das Blut verbürgte es und Gott verbürgte es; und das Kommen war nicht in naher Zeit, nicht in ferner Zeit, es war in der endgültigen Zeit, in der Fülle der Zeit, am Ende der Tage: in der absoluten Zukunft. Und das, was kommen sollte, das war wohl oft etwas Relatives, die Befreiung eines gepeinigten Volkes und seine Sammlung um Gottes Heiligtum, aber auf den Gipfeln war es das Absolute, die Erlösung des Menschengeistes und das Heil der Welt, und da war jenes Relative als das Mittel zu diesem Absoluten gefühlt. Hier war zum erstenmal in aller Macht das Absolute als das Ziel verkündet, als das in der Menschheit und durch sie zu verwirklichende Ziel.75

Mit der Formulierung „Befreiung eines gepeinigten Volkes und seine Sammlung um Gottes Heiligtum“ – damit ist offenbar der Tempel gemeint – scheint Buber auf den Nationalzionismus anzuspielen, den er seinerseits nur als relatives Mittel zum höheren Zweck, zum Erreichen des Absoluten verstanden wissen will. Während also bei Buber die Realisierung eines jüdischen Staats bestenfalls als Etappenziel und Mittel zum Erreichen des großen Ziels, der Verwirklichung des Göttlichen auf Erden, des Paradieses, der Gemeinschaft gefühlt werden könne, grenzt sich Herzl von so hochtrabenden Ansprüchen 74 75

Ebd., S. 83. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 65, S. 40 f.

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ab und sieht gerade in der Idee ein Mittel zum Zweck, um genügend Menschen für die Realisierung seines Vorhabens zu gewinnen.76 Dabei scheint Herzl nicht ganz auf die Anziehungskraft verzichten zu wollen, die von der Idee hinter dem mythischen Babel-Projekt immer noch ausgeht. Diese soll offenbar durch die so naheliegenden Analogien mit dem eigenen Projekt auf dieses übergehen und vermutlich auch sicherstellen, dass sich die radikalistische Jugend mit angesprochen fühlt und an Bord des Unternehmens bleibt, auch wenn es für diese nur ein Etappenziel darstellt.77 Dennoch scheut Herzl davor zurück, den Aufbau eines neuen Gemeinwesens in Palästina direkt mit dem Turmbau zu Babel zu vergleichen, denn offenbar möchte er sich nicht den Vorwurf einhandeln, utopischen Träumereien anzuhängen, die keine Aussicht auf Verwirklichung haben. Diesem Vorwurf sucht er nicht nur mit der Verschiebung des Bilds vom bisherigen Traum zum kommenden taghellen Gedanken zu begegnen, er wehrt ihn schon am Beginn seines Buches wortreich ab, wenn er sein Vorhaben nicht als „Utopie“ oder „Phantasie“78 missverstanden wissen möchte, sondern es lediglich als „Construction“79 oder „Combination“, als Neuanordnung von „materiellen Bestandteilen“ des künftigen Baus charakterisiert, die für jedermann nachprüfbar, „in der Wirklichkeit vorhanden“80 seien. Entsprechend zieht Herzl die Parallelen zum Babylonischen Turmbau nur verdeckt und pars pro toto in der Beschreibung der künftigen Errichtung von Arbeiterunterkünften: 76

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Achad Haams Position scheint dazwischen zu liegen, wenn er schreibt: „Unter den Juden Westeuropas ist, wie mir scheint, Zangwill [gemeint ist Israel Zangwill, Anm. C.D.] der einzige, der die Bedeutung dieser ‚idealen Frage‘ erkannte und mit unzweideutigen Worten erklärte, daß die Krankheit unseres immer mehr verkümmernden Volkes einzig und allein durch ein neues Ideal oder durch die Rückkehr nach Zion geheilt werden kann.“ Achad Haam korrigiert Zangwill allerdings insofern, als er das Oder durch ein Und ersetzt. Die Rückkehr auf den angestammten Boden würde wieder „ein großes nationales Ideal“ entstehen lassen und ein nationales Ideal die Sammlung des Volkes in Zion voranbringen. Haam, Am Scheidewege, s. Anm. 71, S. 29 f. Wenn sich der Erzähler angesichts des Diktums des Gelehrten: „Also zuerst die Mauer und dann den Turm“ fragt, wie die Mauer das Fundament für einen neuen Babelturm abgeben kann, wenn sie als tatsächliches Bauwerk nur eine Art Viertel- oder Halbkreis beschreibt und über große Lücken verfügt, so lässt sich angesichts des Arguments im zionistischen Kontext: zuerst der Staat, dann die allgemeine Verbrüderung, die komplementäre Frage aufwerfen, wie ein Staat mit seinen Grenzen und den Freund-FeindUnterscheidungen, die diese mit sich bringen, die Basis für das Ziel einer allgemeinen Verbrüderung bilden solle. Herzl, s. Anm. 22, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 3.

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So klingt vielleicht schon in Herzls Erwähnung der „natürliche[n] Beschaffenheit der Gegend“, die das „Genie unserer jungen […] Architekten anreg[en]“81 soll, die biblische Erzählung mit ihrer Erwähnung der Tiefebene von Shinar an, die die Menschen dazu herausforderte, unabhängig von Stein und Kalk, die nur in der Nähe von Gebirgen verfügbar waren, Ziegel zu brennen und Asphalt als Mörtel zu verwenden (vgl. Gen 11,3), um auch in der Ebene bauen zu können. Und ähnlich wie die Menschen damals auf Ziegel als seriell hergestellte einförmige Bauelemente zurückgreifen mussten, so räumt auch Herzl ein, dass man billig und einförmig bauen müsse. Dennoch solle es gelingen die „Häuser mit ihren Gärtchen“ überall „zu schönen Gesamtkörpern“ zu vereinigen, „und wenn das Volk auch nicht den grossen Zug des Ganzen verstehen wird, so wird es sich doch wohlfühlen in dieser leichten Gruppirung.“ Entscheidend ist aber der unmittelbar darauf folgende Satz: „Der Tempel wird weithin sichtbar darin stehen, weil uns ja nur der alte Glaube zusammengehalten hat.“82 In diesem letzten Bild eines weithin sichtbaren repräsentativen Baus, der auf das gemeinsame Merkmal der Zugehörigkeit verweist und inmitten einer Siedlung steht, sind die Babel-Reminiszenzen deutlich erkennbar. Zudem führt Herzl die Begriffe Arbeiterschaft und Volk eng, wenn in diesem Kapitel mit dem Titel „Arbeiterwohnungen“ sodann die Rede vom „Volk“ ist, das sich in den Siedlungen wohl fühlen werde, wodurch in Analogie zur biblischen Erzählung das Bild eines Volks von Bauleuten gezeichnet wird, wie es etwa auch in Martin Bubers Rede Die Erneuerung des Judentums 83 aufgegriffen und in Kafkas Babel-Erzählungen ironisch gewendet wird.84 Aufgrund dieses Kurzschlusses von Arbeiter und Volk verhalten sich die Arbeiterstädte zum gesamten kommenden Gemeinwesen auch nicht mehr wie ein Teil zum Ganzen, vielmehr repräsentieren sie dieses Ganze. Wenn sich die Arbeiter also um einen weithin sichtbaren Tempel in ihrer Mitte sammeln, der ihre Einheit, und „den alten Glauben“85 als Kriterium ihrer Zugehörigkeit und ihres Zu81 82 83

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Ebd., S. 36. Ebd., S. 36. „Die Bausteine mögen, ja müssen schon jetzt zusammengetragen werden, aber das Haus wird erst dann errichtet werden können, wenn das Volk wieder zum Baumeister geworden ist.“ Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 65, S. 43. So heißt es etwa in Beim Bau der chinesischen Mauer : „[F]ast jeder gebildete Zeitgenosse war Mauerer von Fach und in der Frage der Fundamentierung untrüglich.“ KKAN I, S. 343. Das Attribut „alt“ mag in den Ohren der Kulturzionisten um Buber vermutlich unfreiwillig zweideutig geklungen haben. Was bei Herzl noch als alt-ehrwürdig intendiert gewesen sein dürfte, ist im Kontext der Jugendbewegung eher mit überkommen und verkrustet konnotiert. Der erstarrten Religion hält man nun die lebendige Religiosität entgegen.

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sammenhalts symbolisiert, so entsteht kraft dieser Engführung zugleich ein imaginärer Babelturm im Zentrum des künftigen Gemeinwesens, um das sich das gesamte Volk sammeln wird, wenn es „auch nicht den grossen Zug des Ganzen verstehen wird“, wie es bei Herzl heißt. Diesen Andeutungen und Anspielungen Herzls, die suggerieren, hier werde ein Projekt von mythischem Ausmaß angestrebt, um genügend Menschen von seiner Idee begeistern zu können, stehen detaillierte Ausführungen entgegen, wie dieses angedeutete Ziel umzusetzen wäre, denn dieses soll gleichwohl erreichbar erscheinen und nicht den Eindruck erwecken, es schwebe in abgehobenen, idealen Sphären.86 Entsprechend sieht sich Herzl vor die Herausforderung gestellt: die richtige Balance zwischen Nebelhaftigkeit und Konkretheit seiner Zukunftsvision zu finden, eine Herausforderung, die er auch thematisiert, wenn er festhält: In der Darstellung der Idee habe ich mit einer Gefahr zu kämpfen. Wenn ich all’ die in der Zukunft liegenden Dinge zurückhaltend sage, wird es scheinen, als glaubte ich selbst nicht an ihre Möglichkeit. Wenn ich dagegen die Verwirklichung vorbehaltlos ankündige, wird Alles vielleicht wie ein Hirngespinst aussehen. Darum sage ich deutlich und fest: ich glaube an die Möglichkeit der Ausführung, wenn ich mich auch nicht vermesse, die endgiltige Form des Gedankens gefunden zu haben.87

Bei der notwendigen Konkretisierung der Idee und bei der Ausarbeitung eines Plans, wie diese Idee verwirklicht werden könne, vertraut Herzl voll auf „die technischen Errungenschaften“,88 die bisher noch kaum für die Menschlichkeit eingesetzt worden seien, wobei er den „märchenhafte[n] Fortschritt“, der diese Errungenschaften mit sich gebracht habe, auch für die Zukunft voraussetzt und immer wieder als Garant für die einzigartige Möglichkeit und zunehmende Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung seines grob skizzierten Plans einsetzt: An der Ausarbeitung dieses Planes, den ich nur anzudeuten vermag, werden sich unsere scharfsinnigsten Köpfe betheiligen. Alle socialwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Zeit, in der wir leben, und der immer höheren Zeit, in welche die langwie86

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Diesen Spagat auszuhalten ist Herzls zionistischer Bewegung auf Dauer nicht gelungen. Herzl selbst positionierte sich stets näher am Pragmatismus und legte den Akzent v. a. auf die Umsetzbarkeit seines Plans. Dies machten ihm die sogenannten Kulturzionisten, die sich vom sogenannten Nationalzionismus abzugrenzen suchten, auch zum Vorwurf. So formuliert etwa Martin Buber in seiner zweiten Rede über das Judentum offensichtlich auch in Richtung Herzl, ohne diesen explizit zu nennen: „wer das Unmögliche nicht mehr zu begehren vermag, kann nur noch das Allzumögliche vollbringen.“ Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 65, S. 28. Herzl, s. Anm. 22, S. 5. Ebd., S. 10.

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rige Ausführung des Planes fallen wird, sind für den Zweck zu verwenden. Alle glücklichen Erfindungen, die schon da sind und die noch kommen werden, sind zu benützen. So kann es eine in der Geschichte beispiellose Form der Landnahme und Staatgründung werden, mit bisher nicht dagewesenen Chancen des Gelingens.89

Bis hierher sollte deutlich geworden sein, dass Kafkas Babel-Erzählungen als Umschriften zeitgenössischer Kollektivierungsprojekte mit mehr oder weniger ausgeprägten Babel-Reminiszenzen lesbar sind, und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich in puncto Gottgefälligkeit und Umsetzbarkeit in gleicher Weise von wirkmächtigen Wertungen etwa des biblischen Babel-Mythos oder auch seiner ebenfalls einflussreich gewordenen Rezeptionen abgrenzen. 1.2 Fortschritt und Verwirklichung Mit der Frage nach der Umsetzbarkeit bzw. der Möglichkeit der Verwirklichung des Ideals, ist meine Argumentation zugleich bei jenem Thema angelangt, das im Zentrum dieses ersten Teils der Arbeit stehen soll. Wie bereits deutlich wurde, lassen sich Beim Bau der chinesischen Mauer und die Erzählung Das Stadtwappen als diskurshistorische Umschriften solcher Diskurse begreifen, in denen man sich auf den technisch-zivilisatorischen Fortschritt90 als Garant für die Verwirklichung idealer Formen von Kollektivität beruft. Innerhalb dieser Berufungen soll der Fortschritt, wie bereits ausgeführt, die Möglichkeit verbürgen, die Wirklichkeit schrittweise an das Ideal anzunähern, bis dieses tatsächlich erreicht wäre. Besonders im Stadtwappen wird die Argumentation, der Fortschritt stehe für die Realisierbarkeit des Unternehmens ein, in einem Gedankenexperiment durchgespielt und überprüft, wobei die Pointe darin besteht, dass sich ausgerechnet der Fortschrittsglaube als Faktor erweist, der dem Streben nach Verwirklichung des Ziels entgegensteht, ja dieses nahezu zum Erliegen bringen kann. Dies führt dazu, dass konkrete Tätigkeiten weniger auf das eigentliche Ziel gerichtet werden, sondern sich auf Bereiche konzentrieren, die als Mittel zum Erreichen des Ziels betrachtet werden. Dabei führt diese Mittel-zum-Zweck89 90

Ebd., S. 73. Polaschegg und Weichenhan weisen darauf hin, dass die Identifikation mit Babel, wie sie im deutschen Kaiserreich in besonderer Weise betrieben wurde, durchaus nicht als Widerspruch zum Fortschrittsnarrativ begriffen wurde: „Vielmehr ist das antike Babylon hier zur Chiffre einer Moderne geworden, die sich selbst als universal begreift und zugleich als beschleunigt empfindet von einer Dynamik, deren Unaufhaltsamkeit im Lichte Babylons – und das ist entscheidend – ebenso auf den Gipfel des Fortschritts führen konnte wie in den apokalyptischen Untergang.“ Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 13.

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Logik effektiv vom Ziel weg. Dies wird nicht nur im Stadtwappen deutlich, sondern lässt sich auch in Beim Bau der chinesischen Mauer genauer verfolgen. Wenn im Folgenden versucht wird nachzuzeichnen, wie Kafkas Erzählungen Das Stadtwappen und Beim Bau der chinesischen Mauer dabei jeweils auch auf Herzls Judenstaat ‚antworten‘91 und entsprechend die Ebene des ‚Dialogs‘ – im Unterschied zu jener des ‚Polylogs‘ oder ‚Babellogs‘ – im Fokus der Aufmerksamkeit steht, so soll damit weder eine entsprechende Autorintention unterstellt, noch die Existenz der anderen Ebenen geleugnet werden. Auch ist Herzls Judenstaat gewiss nicht der einzige Text mit dem beide Erzählungen in einen Dialog treten könnten. Es geht hier nicht darum, aufgrund der im Folgenden herausgestellten Analogien etwa zu behaupten, die beiden Texte Kafkas wären Parabeln auf den Zionismus. Vielmehr handelt es sich um Umschriften all jener mehr oder weniger zeitgenössischen Kollektivierungsprojekte, die sich auf den technischen Fortschritt berufen, um die Diskrepanz zwischen zu verwirklichender Idee und Realität als überwindbar zu behaupten. Da ein solches Kollektivierungsprojekt in Herzls Judenstaat zweifellos skizziert wird, lässt sich an ihm exemplarisch zeigen, wie solche Texte zunächst durch analoge Argumentationsweisen aufgerufen werden, um dann aber von ihnen abzuweichen und die blinden Flecken dieser Argumentation aufzuzeigen, wobei sie entsprechend auch in allen potentiell aufgerufenen Resonanz-Texten hervortreten. Wie bereits dargelegt, steht – abweichend zum biblischen Mythos und übereinstimmend mit den zeitgenössischen Projekten, in denen man sich in der Tradition des Turmbaus zu Babel sieht – am Beginn des Turmbauprojekts im Stadtwappen nicht bereits die ideale mit Einheit konnotierte Gemeinschaft, sondern im Gegenteil, die mit Zerstreuung assoziierte Gesellschaft. Dabei wird das Problem der Verwirklichung des unverfügbaren Ideals als Problem einer Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit exponiert. Dies zeigt sich zunächst an der vom Erzähler nachgezeichneten Argumentation aus der Anfangszeit des Baus, als man der Meinung war: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen.92 91

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Damit sei auf den in der Einleitung bereits erwähnten, von Kristeva geprägten Begriff der „écriture-réplique“ angespielt. Julia Kristeva. „Zu einer Semiologie der Paragramme“. In: Strukturalismus als interpretatives Verfahren. Hrsg. von Helga Gallas. Darmstadt: Luchterhand, 1972, S. 161–200, S. 170 f. KKAN II, S. 318.

Fortschritt und Verwirklichung

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Eine ähnliche Meinung drückt sich auch in Herzls Judenstaat aus, einem Text aus der Anfangszeit des Zionismus, wie man sagen könnte. Denn wie im obigen Zitat bereits deutlich wurde, hebt Herzl ebenfalls die Langlebigkeit des jüdischen Traums vom eigenen Staat hervor, der die Juden „die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch“ begleitet habe und von dem es nun zu zeigen gelte, dass aus ihm „ein tagheller Gedanke werden“ könne. Damit stehen auch hier – wie im Stadtwappen und in Beim Bau der chinesischen Mauer – dem rein geistigen oder gedanklichen Idealbild des Baus die tatsächlichen Versuche, ihn zu verwirklichen, gegenüber.93 Im Unterschied zum Judenstaat ist im Stadtwappen aber implizit schon gesagt, dass der Turm nie vollendet werden kann, wenn es heißt, dass der Wunsch, den Bau zu vollenden, so lange besteht, wie es Menschen gibt. Was die Menschen zunächst dennoch an ihrem Vorhaben festhalten lässt, ist die zunehmende Aussicht auf Erfolg, denn unter Zuhilfenahme immer neuer Errungenschaften, insbesondere im Zuge des stetigen bautechnischen Fortschritts, scheint der Hiatus zwischen Idee und Wirklichkeit mit der Zeit immer geringer zu werden: In dieser Hinsicht also muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer.94

Ganz ähnliche Argumentationsweisen finden sich auch in Herzls Judenstaat, wenn es heißt: die technischen Erfinder, die wahren Wohlthäter der Menschheit, [werden] auch nach Beginn der Judenwanderung weiterarbeiten und hoffentlich so wunderbare Dinge finden wie bisher, nein, immer wunderbarere. […] Zur Errichtung von Städten genügen uns jetzt soviele Jahre, als man in früheren Epochen der Geschichte Jahrhunderte brauchte – dafür zahllose Beispiele in Amerika.95

Doch genau an diesem Punkt macht der Erzähler im Stadtwappen deutlich, dass gerade der Fortschrittsglaube, der die Menschen an ihrem idealen Ziel festhalten lässt, auch dazu führen kann, dass die tatsächliche, auf dieses Ziel gerichtete Bautätigkeit eingestellt wird: Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühn? Das hätte nur dann Sinn, wenn man hoffen könnte, den Turm in der Zeit einer Generation aufzubauen. Das aber war auf keine Weise zu erwarten. Eher ließ sich denken, daß die nächste Generation mit ihrem vervollkommneten Wissen die Arbeit der vorigen Generation schlecht finden und 93 94 95

In Beim Bau der chinesischen Mauer zeigt sich dies am Doppelcharakter der Mauer als tatsächlichem Bauwerk einerseits und als etwas Geistigem andererseits. KKAN II, S. 318 f. Herzl, s. Anm. 22, S. 79.

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das Gebaute niederreißen werde, um von neuem anzufangen. Solche Gedanken lähmten die Kräfte und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der Arbeiterstadt.96

Hier wird das um 1900 so verbreitete Fortschrittsargument weitergedacht und gegen sich selbst gewendet. Während etwa bei Herzl die Tatsache, dass „[d]ie ersten Männer, welche diese Bewegung beginnen, […] schwerlich ihr ruhmvolles Ende sehen“97 werden, noch die Chance birgt, die während der „langwierigen Ausführung des Planes“98 hinzukommenden „socialwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften“ zu integrieren und „für den Zweck zu verwenden“, liegt der Akzent in Kafkas Erzählung auf dem im Fortschrittsnarrativ ebenso implizierten Aspekt des schnellen Veraltens des bereits Geleisteten. Dieser Aspekt zeigt sich auch bei Herzl selbst, wenn er mit allen Vorläufern seines Projekts aufzuräumen sucht: „Wenn ich an die Stelle eines alten Baues einen neuen setzen will, muss ich zuerst demoliren und dann construiren. Diese vernünftige Reihenfolge werde ich also einhalten.“ Entsprechend seien im Rahmen der zionistischen Unternehmung zunächst „dumpfe alte Vorstellungen hinwegzuräumen, die politischen und national-ökonomischen Vorbedingungen festzustellen und der Plan zu entwickeln.“99 Doch Herzl verabsäumt es – dies wird vor dem Hintergrund der Lektüre des Stadtwappens besonders deutlich – zu reflektieren, was dies für die Aussicht auf Verwirklichung seines eigenen Projektes impliziert. Im Stadtwappen wird dagegen herausgearbeitet, dass der Fortschrittsglaube auch ein Glaube an die im Wortsinn unverbesserliche, absolute Tat ist, die erst am Endpunkt des unaufhörlichen Fortschritts ausgeführt werden könne und damit erst am Ende der Zeit Bestand hätte. Entsprechend misst man, hängt man diesem Glauben an, der Gegenwart für das Erreichen des Ziels wenig Bedeutung bei. Da aber die Gegenwart alleine die Möglichkeit bietet, tätig zu werden, verschiebt sich die Aufmerksamkeit weg vom eigentlichen Ziel, dem Bau eines Turms, der die Einheit der Gemeinschaft garantiert, hin zu den Mitteln, die diesem Ziel dienen sollen – der Arbeiterstadt –, wobei diese Mittel zum Zweck immer mehr zum Selbstzweck werden. Dabei wird offensichtlich, dass man sich mit diesen zum Selbstzweck gewordenen Mitteln zum Zweck vom eigentlich angestrebten Ziel zunehmend wegbewegt. Denn während die von Beginn an in den Hintergrund tretende Arbeit am idealen Turm auf die Einheit der angestrebten Gemeinschaft zielen sollte, vertieft die tatsächliche Arbeit an der entstehenden Arbeiterstadt 96 97 98 99

KKAN II, S. 319. Herzl, s. Anm. 22, S. 4. Ebd., S. 73. Ebd., S. 17.

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nur bestehende Differenzen. Die Landsmannschaften100 verstricken sich in immer heftiger werdende Kämpfe um das schönste Quartier, Kämpfe, die durch die stetig sich steigernde „Kunstfertigkeit“101 weiter angeheizt werden. Am Ende ist es – hier nimmt Kafka eine Umkehr der Zuordnung von Idealität und Einheit respektive Realität und Zerstreuung vor – der Widerstreit, der die Kämpfenden an die Stadt und aneinander bindet.102 Die Lektüre von Kafkas Text lässt die in ihm aufgerufenen Kontexte in einem bestimmten Licht erscheinen. Entsprechend ließe sich dem zionistischen Projekt insgesamt, so wie es von Herzl erdacht wird, nach dieser Lektüre vorwerfen, dass man nicht zuletzt als Folge dieses Fortschrittsglaubens das angestrebte Ziel, einen Musterstaat zu errichten, aus den Augen verloren habe und seine Kraft etwa auf die Organisation zionistischer Kongresse konzentriere, wobei die innerzionistischen Differenzen sich zunehmend vertiefen. Während man sich also immer stärker in realpolitischen Problemen und Uneinigkeiten verheddere, rücke das Ziel der Gründung eines perfekten Staats in immer weitere Ferne, wobei sich nur auf niedrigerer Ebene103 zu wiederholen scheint, was zumindest aus kulturzionistischer Sicht bereits auf der übergeordneten Ebene104 stattgefunden hat. Denn folgt man dem kulturzionistischen Diskurs über den Nationalzionismus, so ist letzterem die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom eigentlichen Zweck hin zu den Mitteln, die dann allerdings zum Selbstzweck werden, von vornherein eingeschrieben. Für Kulturzionisten kann ein jüdischer Staat – und selbst wenn es sich um einen Musterstaat handeln solle – bestenfalls ein Etappenziel auf dem Weg zur allgemeinen Verbrüderung darstellen, weil selbst beim Erreichen dieses Ziels die Nationen untereinander nur in Gegnerschaft verbunden wären, wie Herzl selbst zugesteht, wobei er diese Gegnerschaft als produktives Konkurrenzverhältnis deutet. Mit dieser baldigen Hinwendung zu einem Mittel-zum-Zweck-Denken ist im Stadtwappen genau das exemplifiziert, was Kafkas chinesischer Erzähler mit Blick auf die Anfangszeiten des Mauerbaus vermutet: dass es damals vielleicht 100 Auch hier bieten sich Anknüpfungspunkte zu Herzls Judenstaat, weil darin immer wieder beteuert wird, dass die Partikularitäten der einzelnen, je um einen Rabiner organisierten „Ortsgruppen“, denen ein eigener Abschnitt in Herzls Schrift gewidmet ist (Vgl. ebd., S. 53–64), auch nach der Auswanderung nach Palästina gewahrt bleiben sollen, ebd., S. 57. 101 KKAN II, S. 319. 102 Vgl. KKAN II, S. 323. 103 D. h. auf der Ebene der Verwirklichung der Staatsidee, wie sie Herzl verfolgt. 104 D. i. die Ebene der allgemeinen Verbrüderung, der Erlösung der gesamten Menschheit, wie sie im Messianismus erhofft wird.

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deshalb so „viel Verwirrung der Köpfe“ gab, „weil sich so viele möglichst auf einen Zweck hin zu sammeln suchten.“105 Auf diese Paradoxie, wonach die Sammlung auf einen Zweck hin zu Verwirrung führe, hebt auch der kulturkritische Einwand gegen jegliches Zweckdenken ab, das aus dieser kulturkritischen Sicht die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gesellschaft präge, während diese Beziehungen in der anzustrebenden Gemeinschaft einen Zweck für sich darstellen sollen.106 Nach einem solchen Gemeinschaftsideal sehnen sich die Bauleute in Beim Bau der chinesischen Mauer, nach einer Gemeinschaft des Blutes, die man wohl als Volksgemeinschaft bezeichnen muss, in der „jeder Landsmann“ (wie) „ein Bruder“107 wäre, den man nicht als Mittel zum Zweck begreift, sondern den man um seiner selbst willen bis zur Selbstaufopferung liebt und der einem umgekehrt sein Leben lang mit allem, was er hat und ist, dafür dankbar bleibt. In ekstatischer Weise wird solche Gemeinschaft, ganz wie bei Tönnies, sodann als großer Organismus, als Blutkreislauf beschrieben,108 der, wie Tönnies hervorhebt, anders als eine Maschine keinen Zwecken unterworfen ist, sich vielmehr selbst als Zweck genügt.109 Ob auch die Führerschaft, die der Erzähler als die den Mauerbau verantwortende Instanz begreift, dieses Ziel verfolgt, bleibt im Dunklen. Für den Erzähler scheint sie jedenfalls „etwas Unzweckmäßiges“110 zu wollen, denn die Mauer, die im „System des Teilbaus“111 erbaut wird, eignet sich mit ihren Lücken, die im Zuge dieser abschnittsweise vorgehenden Baumethode notwendig entstehen, nicht dazu, äußere Feinde abzuhalten – eher im Gegenteil. Den Zweck dieser Baumethode vermutet er daher in der Besänftigung der Ungeduld der Bauleute, die „den Bau in seiner Vollkommenheit endlich erstehen […] sehen“112 wollen, denn dieses System ermöglicht immerhin Teilerfol105 KKAN I, S. 344. 106 So bezieht sich etwa auch Otto Gross am Ende seines Aufsatzes Die Psychoanalyse oder wir Kliniker, der im Zuge einer mit Ludwig Rubiner in der Zeitschrift Die Aktion ausgetragenen Kontroverse u. a. über die vereinzelnden bzw. kollektivierenden Effekte der Psychoanalyse entstanden ist, auf dieses Sujet: „Bis jetzt hat nur Einer das Problem in Ganzheit konzipiert: der die Geschichte vom Bau in Babylon schrieb. – Es scheint Gesetz zu sein, daß jedesmal sich die Verwirrung wieder erneut, wenn der Versuch gemacht wird, einen Turm in den Himmel zu bauen. – – –“ Sp. 634 Otto Gross. „Die Psychoanalyse oder wir Kliniker“. In: Die Aktion 3.26 (1913), Sp. 632–634. 107 KKAN I, S. 342. 108 Vgl. KKAN I, S. 342. 109 Vgl. Ferdinand Tönnies. Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig: Fues’s Verlag, 1887, S. 143. 110 KKAN I, S. 345. 111 KKAN I, S. 337. 112 KKAN I, S. 340.

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ge, die ein intensives Gemeinschaftsgefühl hervorrufen, das diese Ungeduld lindern solle. Indem man aber das Gemeinschaftsideal, das eng an die Vollendung der Mauer geknüpft ist, die ja ihrerseits mit dem Turmbau zu Babel assoziiert wird, als anzustrebendes Ziel setzt, als „künftige[s] neue[s] Werk“, zu dem die „Volkskraft […] straff zusammengefasst werden soll“,113 indem man es also als obersten Zweck begreift, dem alles und jeder als Mittel zu seinem Erreichen untergeordnet wird, wird es notwendigerweise verfehlt und sein Gegenteil, die Gesellschaft, verwirklicht. Innerhalb dieser wird dem Einzelnen gerade kein Selbstzweck zugestanden, vielmehr sieht er sich zu einem bloßen Mittel zum Erreichen eines letztlich unerreichbaren Ziels degradiert, was am deutlichsten im Begriff „Menschenmaterial“114 zum Ausdruck kommt, mit dem Effekt, dass das Erreichen des angestrebten Ideals noch dringlicher erscheint. Mit Blick auf den Zionismus hat sich vornehmlich die kulturzionistische Richtung diesen kulturkritischen Einwand zu eigen gemacht: Aus kulturzionistischer Sicht erliegt man mit dem nationalzionistischen Weg dem verhängnisvollen Zusammenhang, wonach man gerade im Anstreben des Ziels dieses nicht nur verfehlt, sondern ihm geradezu entgegenarbeitet. Und Herzl selbst scheint dies mit seiner Bildsprache unfreiwillig am deutlichsten hervorzuheben, wenn er, um die Durchführbarkeit seines Plans zu unterstreichen, sein Unternehmen auch als „Construction“ einer Maschine umschrieben hat, deren Getriebe er zwar nur anzudeuten vermöge, deren Antriebskraft aber die „Judennoth“ sei, die mächtig genug wäre, Menschen und Güter zu transportieren.115 Denn mit dem Bild der künstlichen, vom Menschen stets „zu bestimmten Zwecken angefertigt[en]“116 Maschine bedient er sich genau jener Metapher, mit der Tönnies die Gesellschaft im Gegensatz zur reinem Selbstzweck verpflichteten organischen Gemeinschaft charakterisiert. Dass das Ideal der Gemeinschaft um so sicherer verfehlt und stattdessen die Gesellschaft verwirklicht wird, je nachdrücklicher man versucht, sich auf sein Erreichen hin zu organisieren, wird in Beim Bau der chinesischen Mauer am eindrücklichsten anhand der funktionalen Differenzierung innerhalb der chinesischen Gesellschaft durchgespielt, die in Herzls Judenstaat in ähnlicher Weise feststellbar ist. 113 KKAN I, S. 344. 114 KKAN I, S. 355; Dieser in den Bereich der Biopolitik weisende Begriff fällt auch in Herzls Judenstaat Herzl, s. Anm. 22, S. 26, S. 60, S. 63 f. bzw. später bei Arthur Ruppin. „Die Auslese des Menschenmaterials für Palästina“. In: Der Jude 8-9 (1918), S. 373–383. 115 Vgl. Herzl, s. Anm. 22, S. 4. 116 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, s. Anm. 109, S. 143.

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Der Mauer als etwas Geistigem und der Mauer als etwas Tatsächlichem entsprechen nämlich innerhalb der von Kafkas Erzähler beschriebenen chinesischen Gesellschaft infolge der Aufgabenteilung zunächst die oberste Führerschaft auf der einen und die Tagelöhner auf der anderen Seite. Während nach Meinung des Erzählers die Führerschaft ausschließlich mit der Planung des Mauerbaus und der Ausgestaltung der Mauer in ihrer idealen Form betraut ist, sind die Tagelöhner lediglich für die niederen ausführenden Tätigkeiten zuständig, wobei sie – wenigstens dem Erzähler zufolge – nur am Lohn, nicht aber an der ideellen Dimension des Baus, an dem sie mitwirken, interessiert seien.117 Diese Aufgabenteilung findet sich in ähnlicher Weise auch in Herzls Judenstaat, wo die Planung und Leitung des Unternehmens dem sogenannten „Gestor der Juden“ obliegt, einer „grosse[n] moralische[n] Person“,118 die von der „Society of Jews“119 bekleidet werden soll, während für die tatsächliche Ausführung und Umsetzung der Pläne die „Jewish Company“ zuständig ist,120 die „zum Theil nach dem Vorbilde der grossen Landnahmegesellschaften gedacht“121 ist und die vorallem Massen an „unskilled labourers“122 benötigt. Zwischen Führerschaft auf der einen und Tagelöhnern auf der anderen Seite stehen nun in Kafkas China-Erzählung die Bauleute, zu denen sich auch der Erzähler zählt, und in deren Verantwortung die schier unlösbare Aufgabe der Vermittlung der beiden Aspekte der Mauer – Idealität und Realität – liegt. Dabei versucht man offenbar die unüberwindliche Diskrepanz – dies wird auch in der Technik des Teilbaus offenkundig – dadurch beherrschbar zu machen, sie in kleinere Einheiten zu zerlegen, Zuständigkeiten aufzuteilen, jeden nur für einen bestimmten Bereich auf dem solchermaßen zunehmend als Kontinuum erscheinenden Übergang vom Tatsächlichen zum Idealen Verantwortung übernehmen zu lassen: Zu den niedern Arbeiten konnten also zwar unwissende Taglöhner aus dem Volke, Männer Frauen Kinder, wer sich für gutes Geld anbot verwendet werden, aber schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger im Baufach gebildeter Mann nötig, ein Mann der imstande war, bis in die Tiefe des Herzens mitzufühlen um was es hier gieng. Und je höher die Leitung desto größer die Anforderungen natürlich.123

117 118 119 120 121 122 123

Vgl. KKAN I, S. 340 f. Herzl, s. Anm. 22, S. 49. Ebd. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 33. Ebd., S. 37. KKAN I, S. 339.

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Damit wird aber nicht nur die Aufgabe gleich einer infinitesimalen Annäherung in kleinste Einheiten zergliedert, sondern gleichermaßen die chinesische Bevölkerung. Während mit dem Ziel, Idealität und Realität der Mauer zur Deckung zu bringen, implizit auch die Gleichheit aller am Bau beteiligter Bevölkerungsgruppen vom Tagelöhner bis zur Führerschaft in Aussicht steht,124 führt die Sammlung auf diesen Zweck hin bis zum Erreichen dieses idealen Umschlagspunktes zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der Gesellschaft, in der die einzelnen Berufsgruppen immer stärker voneinander dissoziiert werden. Dies zeigt sich etwa an den strengen Zugangsbeschränkungen innerhalb des chinesischen Bildungs- und Ausbildungssystems. Jeder erhält gerade soviel Bildung und Wissen, wie für seine Aufgabe im großen Ganzen notwendig erscheint.125 Der Erzähler selbst ist hierfür das beste Beispiel, wenn er mit zwanzig Jahren durch Ablegen der „oberste[n] Prüfung der untersten Schule“ „die oberste Höhe der [ihm] zugänglichen Ausbildung“126 erreicht hat. Doch nicht nur der Zugang zu Wissen, Bildung und Ausbildung ist durch die Position innerhalb der Hierarchie determiniert, auch das Selbstbestimmungs- bzw. Mitspracherecht innerhalb der Organisation der chinesischen Bevölkerung scheint von ihr abzuhängen. Alleine die Beurteilung, wieviel Grad an Bildung zum Ausüben einer bestimmten Tätigkeit tatsächlich nötig ist, scheint ganz bei der Führerschaft zu liegen. Je tiefer man sich in der Hierarchie befindet, desto weniger Wissen und Mitbestimmung scheint einem zugestan124 Diese Vision trifft tatsächlich aber eher auf kulturzionistische Ideen einer künftigen egalitären Gemeinschaft zu. Herzl bekennt sich zwar dazu, dass im künftigen Staat niemand geknechtet werden und gesellschaftlicher Aufstieg ermöglicht werden soll, denn auch wenn jeder nur vermeint „sich selbst zu heben“, komme am Ende „ein gewaltiger Zug nach oben“ ins Volk, durch den „die Gesamtheit gehoben“ werde, doch letztlich spricht sich Herzl für die Beibehaltung von Hierarchien und einer top-down-Politik aus. Vgl. Herzl, s. Anm. 22, S. 74. 125 Auch hierzu finden sich Echos bei Herzl, wenn er den Bau von „HandwerkerFortbildungsschulen“ fordert, „die aufsteigend nach höheren Zwecken den einfachen Handwerker befähigen sollen, technologische Kenntnisse zu erwerben und sich mit dem Maschinenwesen zu befreunden.“ ebd., S. 36 f. Überdies lässt sich festhalten, dass das Problem der Unvermittelbarkeit von Idealität und Realität im chinesischen Schulwesen in Form des Gegensatzes von abstrakter Wahrheit und empirischer Erkenntnis wiederkehrt: „Je tiefer man zu den unteren Schulen herabsteigt, desto mehr schwinden begreiflicherweise die Zweifel am eigenen Wissen, und Halbbildung wogt bergehoch um wenige seit Jahrhunderten eingerammte Lehrsätze, die zwar nichts an ewiger Wahrheit verloren haben, aber in diesem Dunst und Nebel auch ewig unerkannt bleiben.“ KKAN I, S. 349. 126 KKAN I, S. 340.

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den zu werden, selbst die eigenen Wünsche und Ziele betreffend. Jedenfalls vermutet der Erzähler, „alle menschlichen Gedanken und Wünsche“ würden in der „Stube der Führerschaft“ kreisen „und in Gegenkreisen alle Ziele und Erfüllungen“.127 Wo diese Stube sich befinde und wer sich darin aufhalte, kann er allerdings nicht in Erfahrung bringen. Doch der Erzähler scheint sich ganz seinem Schicksal ergeben zu haben und der Führerschaft blind zu vertrauen, wenn er feststellt: wir haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft uns selbst kennengelernt und gefunden, daß ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte.128

Die Führerschaft – dies zeigt sich noch deutlicher in weiteren Textstellen – scheint vom Erzähler ihrerseits im Bereich des Idealen verortet zu werden, wobei dieses höchst assymmentrische Verhältnis zwischen Führerschaft und Geführten wie eine (allerdings nur leicht) überzeichnete Version des Verhältnisses zwischen Arbeitern und der den Aufbau des Staats organisierenden „Society of Jews“ aus Herzls Judenstaat anmutet.129 Hier wie dort sind die Anordnungen der „Führerschaft“ bzw. der keineswegs demokratisch legitimierten „Society of Jews“ gehorsam zu befolgen. Auf das sogenannte einfache Volk, das in der kaiserlichen Botschaft schon angesichts des effektiv machtlosen Kaisers als „jämmerliche Untertanen“130 bezeichnet wird, blickt man dagegen mit einer gewissen Herablassung: Es wähnt sich in guten Händen, wenn sich ihm „auch nicht der grosse Zug des Ganzen“131 erschließt, wie es bei Herzl heißt. Und so wie das chinesische Volk, das zwar nicht vom Kaiser, wohl aber von der Führerschaft geleitet zu werden scheint, „[k]eineswegs sittenlos“132 ist, so soll auch die Society of Jews „von oben herab für die Sittlichkeit“133 127 KKAN I, S. 345. 128 KKAN I, S. 344 f. 129 Na’ama Rokem hat in ihrem Artikel Zionism before the Law: The Politics of Representation in Herzl and Kafka bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Herzl und Kafka gleichermaßen „tropes of the legal profession, particularly that of the Gestor, or advocate“ einsetzen. Vgl. Na’ama Rokem. „Zionism before the Law. The Politics of Representation in Herzl and Kafka“. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 83.4 (2008), S. 321–342, S. 321. Während Rokem dabei aber den Prozess in den Blick nimmt, möchte ich hier v. a. den Analogien und Umschriften nachgehen, die in der Auseinandersetzung mit der Führerschaft in Kafkas Babeltexten, insbesondere in Beim Bau der chinesischen Mauer, auffallen. 130 KKAN I, S. 351. 131 Herzl, s. Anm. 22, S. 36. 132 KKAN I, S. 354. 133 Herzl, s. Anm. 22, S. 37.

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sorgen und selbst die Unterhaltungshäuser leiten, denn „die Massen [sind] noch ärger als die Parlamente, jedem Irrglauben unterworfen, jedem kräftigen Schreier zugeneigt. Vor versammeltem Volke kann man weder äussere noch innere Politik machen. Politik muss von oben herab gemacht werden.“134 Herzl verteidigt seine offen undemokratische Variante politischer Repräsentation mit der Notsituation, in der sich die Juden befinden: „Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert, seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängniss. Es braucht vor Allem einen Gestor.“135 Den Begriff „Gestor“ entnimmt er dabei einem Konzept aus dem römischen Recht, der „negotiorum gestio“.136 Diese besagt: „Wenn das Gut eines Behinderten in Gefahr ist, darf Jeder hinzutreten und es retten.“137 Dieser Retter, dieser „Führer fremder Geschäfte […] hat keinen Auftrag, das heisst keinen menschlichen Auftrag. Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Nothwendigkeit ertheilt.“ In dieser „negotiorum gestio“ also sieht Herzl den „Rechtsgrund des Staates“, der ihm aufgrund des „zuweilen drückende[n] Verhältniss[es], in welchem die Regierten zu den Regierenden stehen“, unerlässlich erscheint und der „bald zu sehr in den Menschen (Uebermachts-, Patriarchal- und Vertragstheorie), bald rein über den Menschen (göttliche Stiftung), bald unter den Menschen (dingliche Patrimonialtheorie) gesucht“ oder gänzlich offengelassen werde. Der Staat entstehe durch den Daseinskampf eines Volkes, wobei es nicht möglich sei, umständlich einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ein solches Vorgehen würde die gesamte Unternehmung von vornherein zum Scheitern verurteilen und das Volk gegen den äußeren Notstand wehrlos machen. „Alle Köpfe sind nicht unter einen Hut zu bringen, wie man gewöhnlich sagt. Darum setzt der Gestor einfach den Hut auf und geht voran.“138 Doch Herzl ist schnell bemüht klarzustellen, dass der Gestor kein einzelnes Individuum sein dürfe. „Ein solches wäre lächerlich oder – weil es auf seinen eigenen Vortheil auszugehen schiene – verächtlich. Der Gestor der Juden muss in jedem Sinne des Wortes eine moralische Person sein. Und das ist die Society of Jews.“139

134 135 136 137 138 139

Ebd., S. 74. Ebd., S. 69. Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 70.

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Im unmittelbar darauf folgenden Kapitel „Der Gestor der Juden“140 führt Herzl sodann aus, wie er sich die Bildung der Society of Jews vorstellt, wobei er zunächst nicht von ‚Bildung‘ spricht, einem Prozess in den sich womöglich unterschiedliche Akteure aktiv einbringen wollten, sondern unpersönlicher und passivischer von ‚Entstehung‘: „Dieses Organ der Volksbewegung […] wird thatsächlich vor allem Anderen entstehen. Die Entstehung ist eine überaus einfache. Aus dem Kreise der wackeren englischen Juden, denen ich in London den Plan mittheilte, wird sich diese moralische Person bilden.“141 In ähnlicher Weise ist auch der chinesische Erzähler bemüht, die Führerschaft zu depersonalisieren, um sie nicht auf lächerliche Weise als Person zu repräsentieren. Und wenn ich mir einen solchen Gedanken über die Führerschaft erlauben darf, so muß ich sagen, meiner Meinung nach bestand die Führerschaft schon früher, kam nicht zusammen, wie etwa hohe Mandarinen, durch einen schönen Morgentraum angeregt, eiligst eine Sitzung einberufen, eiligst beschließen, und schon am Abend die Bevölkerung aus den Betten trommeln lassen, um die Beschlüsse auszuführen, sei es auch nur um eine Illumination zu Ehren eines Gottes zu veranstalten, der sich gestern den Herren günstig gezeigt hat, um sie morgen, kaum sind die Lampions verlöscht, in einem dunklen Winkel zu verprügeln. Vielmehr bestand die Führerschaft wohl seit jeher und der Beschluß des Mauerbaues gleichfalls.142

Dabei korrespondiert die Vermutung, die Führerschaft bestehe wohl seit jeher und der Beschluss des Mauerbaues gleichfalls, mit Herzls Aussagen, wonach das Organ der Volksbewegung „thatsächlich vor allem Anderen entstehen“143 werde und wonach der Rechtsgrund des Staates, bzw. der Anlass seiner Gründung, kein Beschluss oder „menschlicher Auftrag“, sondern eine „höhere Notwendigkeit“144 sei. Wenn also Kafkas Erzähler mit seiner wohl naiven Überzeugung vom quasi göttlichen Wesen der Führerschaft ausführt, wie man sich die Führerschaft nicht vorzustellen habe, so führt er – bezieht man die Passage auf Herzls Überlegungen zum Gestor im Judenstaat – in geradezu komischer Weise die Diskrepanz zwischen dessen Ideal einer möglichst depersonalisierten Führerschaft und seiner allzumenschlichen Vision, wie und mit wem sie tatsächlich zu besetzen und umzusetzen wäre, vor. Denn Herzl hat – so lässt sich diese Passage deuten – keineswegs gezeigt, wie aus dem Traum vom eigenen Staat, den die Juden „die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch“ geträumt haben, ein 140 141 142 143 144

Herzl, s. Anm. 22, S. 70. Ebd., S. 70 [Hervorh. C.D.]. KKAN I, S. 348. Herzl, s. Anm. 22, S. 70. Ebd., S. 68.

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„tagheller Gedanke“145 wird, sondern ihn bestenfalls in einen „schönen Morgentraum“146 verwandelt. Den hohen Mandarinen, die angeregt durch diesen Traum eiligst eine Sitzung einberufen und die Bevölkerung zum Ausführen ihrer Beschlüsse aus den Betten trommeln lassen, würden in dieser spezifischen Lesart, die Kafkas Text als ironisches Antworten auf konkrete Passagen aus Herzls Judenstaat begreift, die wackeren englischen Juden in London entsprechen, denn eiligst scheint auch deren Sitzung einberufen worden zu sein. Herzl stellt seine Leser nämlich vor vollendete Tatsachen und schließt sie von jeglicher Mitbestimmung aus, wenn er sie lediglich wissen lässt, dass er diesem von ihm erkorenen Kreis seinen Plan bereits mitgeteilt habe.147 Während nun der Erzähler die tatsächlich wirkenden Machteffekte, die offenbar nicht vom Kaiser auszugehen scheinen, einer Führerschaft zuschreibt, die aus seiner Sicht für die imaginäre-ideelle Dimension des Mauerbaus zuständig ist, wobei er sie selbst in der Sphäre der Ideen ansiedelt, blickt er auf die Tagelöhner mit einer gewissen Verachtung herab, da sie nur der Lohn treibe und sie im Gegensatz zu den Bauleuten nicht „bis in die Tiefe des Herzens [mitfühlten], um was es hier gieng“.148

145 Ebd., S. 15. 146 KKAN I, S. 348. 147 Man beachte das Präteritum in der bereits zitierten Textstelle: „Aus dem Kreise der wackeren englischen Juden, denen ich in London den Plan mittheilte, wird sich diese moralische Person bilden.“ Herzl, s. Anm. 22, S. 70 [Hervorh. C.D]. Gestützt werden könnte diese Lesart auch durch den Hinweis auf den launischen Gott, den diese Mandarinen anbeten würden, und der sich ihnen gestern günstig gezeigt habe, um sie morgen schon zu verprügeln. Denn Herzls Wahl ist vermutlich auf einen mächtigen, einflussreichen Personenkreis gefallen und London gerade im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als unangefochtener Finanzplatz bekannt. Entsprechend legt Herzls Erwähnung Londons nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund kursierender antisemitischer Stereotype für viele wohl deren Tätigkeit im Börsengeschäft nahe. Dem leistet Herzl selbst Vorschub, wenn auch die Jewish Company als Aktiengesellschaft mit Sitz in London gegründet werden soll, wobei die Kosten, die hierfür anfallen, von „[u]nsere[n] zahlreichen Finanzkünstler[n]“ berechnet werden sollen, eine Planungsaufgabe, die in die Zuständigkeit der Society of Jews fällt. Ebd., S. 33. Die Kritik des chinesischen Erzählers an den falschen Vorstellungen, die man sich von der Führerschaft mache, lässt sich als Kritik an Herzls angedachter Besetzung des Gestor übertragen. Dabei lässt sich auch Kritik an der von Herzl favorisierten Besetzung der Society of Jews vernehmen, mit der man antisemitischen Ressentiments Vorschub leisten würde. 148 KKAN I, S. 339. Ähnlich zynisch blickt mitunter Herzl auf die Arbeiter, wenn er behauptet die Company könne billig bauen, weil sie die Arbeiter nicht zu bezahlen brauche. Vgl. Herzl, s. Anm. 22, S. 37. Kafka scheint sich in seiner Skizze „Die besitzlose Arbeiterschaft“ mit eben diesen Arbeitern auseinandergesetzt zu haben – darauf deuten zahlreiche mo-

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Verglichen mit der Ausgangslage findet sich die chinesische Bevölkerung also nach dem – Gerüchten zufolge vermeintlichen – Abschluss des Bauvorhabens nicht nur weiterhin linguistisch und territorial segmentiert, sondern trotz oder gerade wegen der Sammlung auf einen Zweck hin darüber hinausgehend äußerst fein stratifiziert. Der zunehmende zivilisatorische Fortschritt führt im Stadtwappen zu einem Mittel-zum-Zweck-Denken, das schon in Beim Bau der chinesischen Mauer letztlich die soziale Zergliederung der Bevölkerung vorantreibt, wobei sich der gleiche Effekt auch in den aufgerufenen Kontexten nachvollziehen lässt. Dabei erkennt bereits die zweite oder dritte Generation, dass sich Idee und Realität durch Fortschritt nicht vermitteln lassen und mithin die Sinnlosigkeit des ganzen Unternehmens.149 Die Folge ist eine radikale Negation der gegebenen Verhältnisse: Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinander folgenden Schlägen zerschmettert werden wird.150

Mit diesem Zusammenhang zwischen Fortschrittsglauben und Auslöschungsphatasien erfasst Kafka einen wesentlichen Zug der zeitgenössischen BabelFaszination. So stellen auch Polaschegg und Weichenhan mit Blick auf die Babel-Begeisterung innerhalb des deutschen Kaiserreichs fest: Es finde sich in der deutschen Geschichte kaum eine Epoche, deren allgemeine Fortschrittsbesessenheit von einer derart ausgeprägten Faszination für Untergangsszenarien flankiert worden ist, wie die Zeit um 1900, was deren Affinität zu Babylon als topischer Heimat der Apokalypse zusätzlich verstärkt hat.151

Die Sehnsucht nach einer Auslöschung der tatsächlichen Gegebenheiten, die angesichts großer Ambitionen als höchst unzulänglich empfunden werden, dürften Ausdruck jener „Opposition gegen das Bestehende“152 sein, die nach Helmut Plessner den im Vorfeld des Ersten Weltkriegs aufkommenden sozialen Radikalismus charakterisiert.

149 150 151 152

tivische Überschneidungen wie etwa die Überlegungen zum Siebenstundentag bei Herzl und zum Sechsstundentag bei Kafka. Vgl. Herzl, s. Anm. 22, S. 38 und KKAN II, S. 106. Vgl. KKAN II, S. 323. KKAN II, S. 323. Polaschegg und Weichenhan, s. Anm. 11, S. 13. Helmuth Plessner. „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924)“. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker. Bd. V, Macht und menschliche Natur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 7– 133, S. 14.

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Den Begriff des ‚sozialen Radikalismus‘ prägt Plessner in seinem 1924 veröffentlichten Buch Grenzen der Gemeinschaft, das sich angesichts der Ausweitung der Gemeinschaftsdebatte von einem reinen Gelehrtendiskurs zu einer breiten öffentlichen Diskussion dezidiert auch an ein fachfremdes Publikum wendet. Bezeichnet ist damit eine Geisteshaltung, die kommunistisch-sozialistische Positionen ebenso durchzieht wie völkisch-nationalistische. Dabei können ihm nicht nur etwa die Kulturkritik, das Luthertum, die deutsche Jugendbewegung und die Lebensreformbewegung mit Reformpädagogik und Freikörperkultur zugerechnet werden – geradezu ein Paradebeispiel für sozialen Radikalismus, das Impulse aus all diesen Bewegungen empfangen hat, und das besonders für Kafkas Umfeld höchst relevant ist, hat Plessner unterschlagen: den Kulturzionismus. Wesentliche Aspekte, die diese Geisteshaltung auszeichnen, sind ein Denken in Dualismen153 sowie kompromisslose Forderungen nach der Verwirklichung ‚wahrer‘, absoluter Gemeinschaft. Zentrale Oppositionen stellen jene zwischen dem heterogenen Bestehenden und dem homogenen Überzeitlichen, zwischen dem allzu Möglichen und dem ewig Unmöglichen, zwischen dem kompromisshaft Vermittelten und dem kompromisslos Unvermittelten, zwischen der bedingten Gesellschaft und der unbedingten Gemeinschaft dar, wobei die Sympathien und Antipathien stets klar verteilt sind. Plessners unverkennbar unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs formulierter Einwand gegen den sozialen Radikalismus richtet sich in erster Linie gegen das dualistische Grundschema seiner zugrundeliegenden Anthropologie, das von einer „Zerklüftung im Menschen“ ausgeht „zwischen Innerlichkeit und Körper, Geist oder Gemüt und Gewalt, kampflosem Gemeinschaftskontakt und physisch bedingtem Egoismus.“154 Damit stehen den hohen Gemeinschaftsidealen, etwa von gewaltlosem Zusammenleben, an denen konzessionslos festgehalten wird und die darum notwendig in einer rein geistigen Sphäre verbleiben, die Zwänge der empirischen Welt entgegen, in der jeder auf seine körperliche Existenz mit seinen Bedürfnissen zurückgeworfen und zur Verteidigung seiner persönlichen Eigeninteressen gezwungen ist. Während also nach Plessner „der Pazifismus alle edlen Instinkte resorbiert, fließen die unedlen seinem Widerspiel zu“ und bewirken so eine „Verrohung der Kampfsitten“,155 die gerade in deren Technisierung und Mechanisierung besteht. Vor dem Hintergrund der Schrecken des Ersten Weltkriegs wird besonders deutlich, welch verheerende Folgen es zeitigt, die moderne Erfahrung allgegenwärtiger Ununterscheidbarkeitszonen innerhalb 153 Vgl. ebd., S. 14. 154 Ebd., S. 24. 155 Ebd., S. 24.

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der Immanenz des Bestehenden zu ignorieren, zu einem Denken in Dichotomien Zuflucht zu nehmen und sich stets nur auf die Seite des Ideals zu schlagen, das aber ewig unverwirklicht bleiben muss. Hinter die Erkenntnis des Occasionellen, der Auflösung klarer Unterscheidungen, gelangt man offenbar nicht mehr ungestraft zurück. Wenn im Stadtwappen die Abkehr vom Glauben an den technisch-zivilisatorischen Fortschritt als Mittel zu kultureller Erneuerung der Gesellschaft hin zu einer idealen Form des Zusammenlebens vornehmlich als Generationenfrage erscheint, so wird die Zeit um 1900 als Zeit des Übergangs und eines solchen Generationenwechsels lesbar. Als solche präsentiert sie sich tatsächlich, was sich hinsichtlich des Zionismus in Form eines deutlichen Bruchs zwischen der fortschrittsgläubigen Generation Herzls und jener der jüngeren sozialradikalistischen Kulturzionisten um Martin Buber bemerkbar macht, zu der sich viele aus Kafkas Umfeld zählen – etwa sein enger Freund Max Brod, der jüdische Studentenverein Bar Kochba oder auch die Redaktion der Zeitschrift Selbstwehr. Zwar wird in beiden Generationen die Verwirklichung idealer Formen von Kollektivität als Problem der Vermittlung von Idee und Realität gefasst, doch während dieses Problem für die Generation Herzls im Vertrauen auf den märchenhaften technischen Fortschritt und angesichts einer scheinbar moderateren Idealvorstellung lösbar erschien, stellt es sich den Kulturzionisten angesichts ihrer radikalen Idealvorstellung und ihres verlorenen Glaubens an den Fortschritt als aporetisches Problem dar, dessen Lösung aber – und das ist entscheidend – nichtsdestoweniger angestrebt werden müsse. 1.3 Kafkas ‚Heidentum‘ In Kafkas Generation bzw. in seinem engeren und engsten Umfeld gilt also – analog zu den späteren Generationen im Stadtwappen – das Fortschrittsargument bereits als erledigt, während die radikalistische Haltung innerhalb junger intellektueller Kreise Konjunktur hat. Dies ließe sich an unzähligen Stellen insbesondere in Bubers Reden über das Judentum zeigen, die dieser auf Einladung des Bar Kochba in Prag hielt und die entsprechend in Kafkas Umfeld in aller Munde waren, oder auch in Artikeln in Zeitschriften, die Kafka nachweislich regelmäßig laß, wie Der Jude, Die Aktion, Die Selbstwehr bzw. in Aufsätzen von Otto Gross, Ludwig Rubiner, Rudolf Kayser, Arnold Zweig und anderen. Ich beschränke mich hier exemplarisch auf Max Brods Versuch, drei universelle Arten der Idealisierung und der entsprechenden Modi der Vermitt-

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lung der jeweiligen Idealvorstellungen mit der Realität zu systematisieren. Brod selbst spricht in diesem Zusammenhang von drei „Geisteshaltungen“156 , wobei die augenscheinlich von ihm favorisierte Haltung des „Judentums“ als Überwindung der beiden zuvor exponierten Positionen „Heidentum“ und „Christentum“ konzipiert ist.157 Obwohl solche Idealisierungen und entsprechende Erwägungen, wie die jeweils resultierenden Idealvorstellungen zu erreichen wären, in den ersten beiden Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts omnipräsent sind,158 ist Brod einer der wenigen, der tatsächlich versucht hat, diese zu schematisieren und zu reflektieren. Darüber hinaus fällt die Wahl auf ihn, weil er zum engsten Umfeld Kafkas zählen kann und sich dieser zu Brods Überlegungen explizit – und zwar kritisch – geäußert hat. Den Grundstein für seine Typologie legt Brod bereits im Winter 1915 im Rahmen eines Vortrags mit dem Titel Die drei Hauptströmungen der zeitgenössischen Literatur, der gleichnamig in der Zeitschrift Zeit-Echo erscheint.159 Diese Skizze enthält bereits in nuce Überlegungen, die Brod später zu seiner zweibändigen, 1921 erschienenen Monographie Heidentum – Christentum – Judentum. Ein Bekenntnisbuch ausbauen wird. Hier wie dort grenzt Brod zunächst die beiden Geisteshaltungen ‚Heidentum‘ und ‚Christentum‘ hinsichtlich der jeweiligen Rolle, die sie „der materiellen Natur“ und dem Einzelnen „auf dem Wege zu Gott zuweisen“,160 voneinander ab. Dabei erweisen sie sich als einander 156 Max Brod. Heidentum – Christentum – Judentum. Ein Bekenntnisbuch. Bd. 2. München: Kurt Wolff, 1921, S. 11 und Max Brod. „Die drei Hauptströmungen der zeitgenössischen Literatur. Erste Rede eines Zyklus, skizziert“. In: Zeit-Echo 2.13 (1916), S. 196–199, S. 197. 157 Brods Behauptung, die drei Geisteshaltungen seien universell, steht ein Stück weit die Entwicklungslogik entgegen, die er mit seiner Begrifflichkeit einführt, und in der die Vergangenheit offenbar dem Heidentum, die Gegenwart dem Christentum und die Zukunft dem Judentum zu gehören scheint. Damit lässt sich das von Polaschegg und Weichenhan festgestellte Nebeneinander von Fortschrittsfaszination einerseits, die, wie noch gezeigt wird, mit dem Heidentum identifiziert werden kann und Untergangsszenarien andererseits, die sowohl mit Christentum als auch mit Judentum in Zusammenhang gebracht werden können, vor dem Hintergrund von Brods Systematisierung sowohl als Dauerzustand, als auch als Übergang begreifen. 158 Siehe etwa Rudolf Kayser. „Der neue Bund“. In: Der Jude 3.11 (1918), S. 523–529 und Arnold Zweig. „Entgegnung“. In: Der Jude 3.11 (1918), S. 529–535. 159 Brod, „Die drei Hauptströmungen der zeitgenössischen Literatur“, s. Anm. 156. Kafka hat den Artikel in dieser Form nachweislich gelesen. Er legt ihn einer Postkarte vom 30.05.1916 an Felice Bauer bei. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005 (im Folgenden zit. als KKABr 3), S. 164 und den entsprechenden Kommentar auf S. 517 ff. 160 Brod, „Die drei Hauptströmungen der zeitgenössischen Literatur“, s. Anm. 156, S. 197.

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diametral entgegengesetzt, während das ‚Judentum‘ als deren Überwindung profiliert wird. So zeichne sich das ‚Heidentum‘ durch Verabsolutierung der materiellen Natur aus. Heidnische Idealvorstellungen stellten lediglich Extrapolationen des Empirischen dar.161 Götter und andere Repräsentationen des Absoluten seien intensivierte Abbilder der sinnlichen Welt und diese Ideale suche man „auf dem Wege der natürlichen, ungebrochenen Fortentwicklung der sichtbaren Welt“162 zu erreichen. Durch die uneingeschränkte Bejahung des Empirischen sei jegliche Kritik, etwa am Machttrieb, ausgeschlossen. Die Folge sei die Etablierung einer Herrenmoral, in der Gemeinschaft auf Herrschen und Dienen, Über- und Unterordnung gegründet sei. Das „Ideal der Gemeinschaft“ werde in der Gefolgschaft, das „Ideal des Einzelnen im ‚Helden‘ oder im schrullenhaften ‚Eigenbrödler‘“163 gefunden. Das ‚Christentum‘ präsentiere sich dagegen als „äußerste Negation des ‚Heidentums‘“164 und suche „sein Ideal auf dem Wege der vollständigen Verneinung aller natürlichen Triebe“. „Das Erreichen einer höheren Welt“ sei aber „nach übereinstimmender christlicher Ansicht nur durch ein Wunder möglich (paulinische Gnadenwahl, gratia praeveniens)“ und menschliches Handeln hierfür im besten Falle eine Nebensache, wobei im paulinischen Christentum die Scheidung der sinnlichen von der übersinnlichen Welt am radikalsten vollzogen sei. Die Gemeinschaft erscheine „ins Spirituelle gerückt, eine Kirche der Geister und nicht der Leiber.“ „Das isolierte Individuum, der ‚Mönch‘ und der ‚Heilige‘“165 seien Typen dieses Ethos. Anders als das Christentum, das „in der Auslöschung, Vernichtung, Verneinung der sichtbaren Welt den Weg zum Geist“ suche, wolle und müsse das ‚Judentum‘ durch die sichtbare Welt hindurch, um sie zu heiligen. Gefühl und Vernunft seien dafür gleichermaßen erforderlich, wobei die sichtbare Welt „als Basis der geistigen (und nur als solche) wichtig“ sei. Die zentrale messianische 161 Diese Feststellung entspricht exakt der Mythosdefinition, auf die sich Buber in Der Mythos der Juden bzw. im Nachwort zu Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse mit Rückgriff auf Platon beruft: Mythos sei demnach „ein Bericht von göttlichem Geschehen als einer sinnlichen Wirklichkeit.“ Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 65, S. 76 bzw. „die Einstellung der Dinge in die Welt des Absoluten.“ Martin Buber. Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse. Leipzig: Insel-Verlag, 1910, S. 87. 162 Vgl. Brod, „Die drei Hauptströmungen der zeitgenössischen Literatur“, s. Anm. 156, S. 197. 163 Ebd., S. 197. 164 Ebd., S. 198. 165 Ebd., S. 198.

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Aufgabe sei es, Gottes Reich auf Erden zu verwirklichen, allerdings weder durch Fortsetzung der Triebe, wie im Heidentum, noch durch deren Unterdrückung wie im Christentum, sondern durch „die aus der sittlichen Freiheit des Menschen entspringende Tat“ des Einzelnen, aber in der Gemeinschaft mit anderen. Der jüdische Idealtypus sei daher „der ‚Prophet‘, der zugleich Seher und tätig Eingreifender, Priester und Politiker“ sei.166 Im ‚Heidentum‘ und im ‚Christentum‘, so wie Brod es versteht, decken sich also je die Art und Weise der Idealisierung mit jener der Realisierung des entsprechenden Ideals: Im Falle des ‚Heidentums‘ vollziehe sich beides durch Steigerung und im Falle des ‚Christentums‘ durch Negation des Empirischen. Während Brod die Haltung des ‚Christentums‘ mit seiner Verneinung alles Menschlich-Irdischen als abgehoben, lebensfeindlich und weltfremd kritisiert, erklärt er das ‚Heidentum‘ für primitiv, da man sich innerhalb dieser Geisteshaltung das wahre Absolute nicht anders denn als Intensivierung des Empirischen vorstellen könne. Dies wird besonders eindringlich in jenem Abschnitt aus Heidentum – Christentum – Judentum anschaulich, den Brod Kafka im Juni oder Juli 1920 zur kritischen Beurteilung gegeben hat:167 Die Götter des heidnischen Volksglaubens […] sind nichts anderes als intensivierte Menschen. Von der menschlichen zur Heroen- und Götterwelt führt eine einfache Stufenleiter, deren höhere Sprosse stets ein „mehr“, nie ein „anders“ verlangt. Ganz sinnfällig, quantitativ zeigt sich dies, wenn auf dem Schilde des Achilles (Ilias 19) die Götter […] einfach geometrisch größer als die sterblichen Menschen erscheinen. Solch primitive Vorstellung von Macht und Stärke scheint mir dem schreckenerregenden Gesichtsausdruck und der Ausstattung mit Dolch, übergesunden Freßzähnen usf., wie sie Negerfetische zeigen, benachbart. Die Griechen bedienten sich nur ästhetisch vornehmerer Symbole.168

166 Vgl. ebd., S. 198 f. 167 Brod kündigt in einem Brief vom 9. Juni 1920 an, dass er Teile des Manuskripts zu Heidentum – Christentum – Judentum Kafka „zur Beurteilung borgen“ wolle. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe 1918–1920. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2013 (im Folgenden zit. als KKABr 4), S. 730. In einem Brief vom 19. Juli 1920 an Milena Pollak wird deutlich, dass Kafka das Manuskript bereits erhalten, aber noch kaum angefangen hat, es zu lesen. KKABr 4, S. 238, vgl. auch den entsprechenden Kommentar auf S. 610. Zur Frage, was Kafka genau gelesen hat, führt Malcolm Pasley im Nachwort zum von ihm herausgegebenen Briefwechsel zwischen Kafka und Brod aus: „Was Kafka unter dem Titel ‚Heidentum‘ zu lesen bekam und kritisiert, ist offenbar zum Teil in den zweiten Band dieses Buches S. 258–279 eingegangen; der Abschnitt ‚Liebe als Diesseits-Wunder. Das Lied der Lieder‘ findet sich im zweiten Band S. 5–55.“ KKABr 4, S. 610 zitiert nach Max Brod/Franz Kafka. Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989, S. 500. 168 Brod, Heidentum – Christentum – Judentum, s. Anm. 156, S. 261 f.

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Im Gegensatz zu ‚Heidentum‘ und ‚Christentum‘ werden in Brods ‚Judentum‘ Idealisierung und Realisierung nicht als analoge Prozesse begriffen: Zwar scheint die Idealisierung wie im ‚Christentum‘ durch Negation des Empirischen zu erfolgen, doch die Verwirklichung dieses Ideals könne aufgrund der genannten Kritikpunkte am ‚Christentum‘ eben nicht ebenfalls durch Negation des Empirischen erreicht werden. Allerdings führt auch eine allmähliche Annäherung des Empirischen an das Absolute, wie sie im ‚Heidentum‘ angestrebt wird, nicht zum Ziel, denn wenn dieses im ‚Heidentum‘ erreichbar erscheint, so nur deshalb, weil das heidnische Ideal als bloße Intensivierung der sinnlich erfahrbaren Welt nicht eigentlich in der Sphäre der Idealität liege, die sich nicht durch ein quantitatives Mehr, sondern durch ein qualitatives Anders von der Realität abheben müsse. Wie Idee und Realität im ‚Judentum‘ erfolgreich zu vermitteln wären, lässt Brod weitgehend offen. Angedeutet wird entweder in Anlehnung an Bubers Gleichnis- bzw. Erneuerungsbegriff169 die plötzliche Einstellung des Absoluten ins Empirische,170 oder aber die Vorstellung, Gott wirke an der menschlichen Tat immer schon mit.171 Mit Blick auf den im Stadtwappen geschilderten Wechseln von einer Generation, die in ihrem Vertrauen auf den technischen Fortschritt noch an die schrittweise Annäherung an ein Ideal glaubt, hin zu den folgenden Generationen, die diesen Glauben verloren, die Unerreichbarkeit des Ideals und damit die Sinnlosigkeit des ganzen Unternehmens längst erkannt haben und erfüllt sind von der Sehnsucht, die bestehende, unerträgliche und aussichtslose Realität möge beseitigt werden, wobei es, wie gezeigt, deutliche Resonanzen im 169 „[I]ch meine mit Erneuerung durchaus nichts Allmähliches und aus kleinen Veränderungen Summiertes, sondern etwas Plötzliches und Ungeheures, durchaus nicht Fortsetzung und Verbesserung, sondern Umkehr und Umwandlung.“ Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 65, S. 28. 170 „Auf irgend einem, heute noch ungeahnten Wege wird plötzlich eines Tages der Genius niederfahren und die neue Gemeinschaft wird, ohne es einen Moment vorher gewußt zu haben, ihre neue Kunst haben; so oder niemals.“ Max Brod. „Unsere Literaten und die Gemeinschaft“. In: Der Jude 7 (1916), S. 457–464, S. 464. 171 Wenn aber die Trennung zwischen menschlicher und göttlicher Tat als immer schon aufgehoben gedacht wird, stellt sich jenes Problem, das es zu überwinden gilt: die Divergenz zwischen Idealität und Realität, eigentlich als Scheinproblem dar. Bei Buber ist das Kriterium für die unbedingte, göttliche Tat die Entscheidung: „In der Unbedingtheit seiner Tat erlebt der Mensch die Gemeinschaft mit Gott. Nur für den Lässigen, den Entscheidungslosen, den Geschehenlassenden, den in seine Zwecke Verstrickten ist Gott ein unbekanntes Wesen jenseits der Welt; für den Wählenden, den sich Entscheidenden, den um sein Ziel Entbrennenden, den Unbedingten ist er das Nächste, das Vertrauteste, das er selber handelnd ewig neu verwirklicht und erlebt, und eben darin das Geheimnis der Geheimnisse.“ Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 65, S. 69.

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zeitgenössischen Babel- und Gemeinschaftsdiskurs gibt, lässt sich die dargestellte Geisteshaltung der ersten Generation vorläufig auf Brods Charakterisierung des ‚Heidentums‘ beziehen,172 während die folgenden Generationen nicht eindeutig in Brods Schema verortbar sind. Zwar drückt sich am Schluss des Stadtwappens in „Sagen und Liedern“ eine Negation des Bestehenden aus, allerdings wird offengelassen, ob die Zerstörung der Stadt zugunsten einer besseren Zukunft im Diesseits oder im Jenseits ersehnt wird. Entsprechend bleibt die Haltung am Ende des Stadtwappens auf ‚Christentum‘ und ‚Judentum‘ gleichermaßen beziehbar. Vorläufig muss die Assoziation der ersten Generation mit Brods ‚Heidentum‘ deshalb sein, weil Kafka in seiner Kritik an Brods Überlegungen in seinem Brief vom 06.08.1920 gewisse Modifikationen an dessen Schema notwendig erscheinen lässt. Im Laufe der folgenden Ausführungen wird auch deutlich, weshalb es bezüglich der späteren Generationen unerheblich ist, ob sie dem ‚Christentum‘ oder dem ‚Judentum‘ zugeordnet werden. In seiner Kritik, die gewissermaßen eine Apologie des ‚Heidentums‘ darstellt, bezweifelt Kafka die vermeintlich primitive Art der Idealisierung, die Brod diesem unterstellt und hält fest, dass er an kein ‚Heidentum‘ in seinem Sinne glaube, denn auch die Griechen hätten sehr wohl „einen gewissen Dualismus“173 zwischen dem Empirischen und dem Absoluten gekannt. Als Beispiel führt Kafka die Moira an, von der Brod selbst behauptet, dass sie etwa bei Homer als etwas Dunkles, Unaufgelöstes, Allbezwingendes über oder hinter den Göttern stehe, da letztere nichts gegen erstere auszurichten vermögen.174 In dieser Hinsicht, d. h. mit Blick auf die Idealisierung, scheint sich also der Unterschied zwischen ‚Heidentum‘ und ‚Christentum‘, wie Brod ihn behauptet, für Kafka nicht aufrechterhalten zu lassen, was sich in seiner Feststellung niederschlägt, die alten Griechen seien „in religiöser Hinsicht […] eine Art lutheranische Sekte“175 gewesen. Kafka scheint also im entscheidend Göttlichen, so wie es sich in der Moira andeute, keineswegs eine Intensivierung des Empirischen zu sehen, sondern vielmehr dessen radikale Negation, wodurch es dem Empirischen, Irdischen, Bestehenden ebenso unversöhnlich gegenüber steht wie im ‚Christentum‘ und in gewissem Sinne auch im ‚Judentum‘176 . 172 Die schrittweise Annäherung garantiert der technisch-zivilisatorische Fortschritt. Die Ableitung eines Ideals durch Intensivierung des Gegebenen zeigt sich im Ziel einen Turm zu bauen, der bis an den Himmel ragt. 173 KKABr 4, S. 285. 174 Vgl. Brod, Heidentum – Christentum – Judentum, s. Anm. 156, S. 264. 175 KKABr 4, S. 285. 176 Zwar erstrebt man im Judentum nicht die Aufhebung des Sinnlichen zugunsten eines Ideals, das sich außerhalb der Sphäre des Sinnlichen befände, sondern zugunsten eines

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Entsprechend dürften für Kafka die Operationen der Idealisierung und ihr entsprechendes Resultat, die Vorstellung des Absoluten, des entscheidend Göttlichen, des Himmels nicht die maßgeblichen Kriterien zur Unterscheidung der von Brod vorgeschlagenen Geisteshaltungen darstellen, denn diese Vorstellung scheint in allen drei Fällen die gleiche zu sein und letztlich aus einer dualistischen Entgegensetzung zum Empirischen hervorzugehen. Was die drei Haltungen also für Kafka wesentlich unterscheidet, ist nicht die Art und Weise der Idealisierung und auch nicht das entsprechende Resultat dieser Idealisierung, die jeweilige Idealvorstellung, sondern das jeweilige Verhältnis zu dieser Vorstellung des Absoluten. Während man nun innerhalb des ‚Christen‘- und ‚Judentums‘ zu diesem Absoluten strebe – sei es nach dem Tode durch Gnadenwahl im Falle des ersteren oder noch im Leben durch die Verwirklichung Gottes in der Welt im letzteren – versuche man im ‚Heidentum‘, so wie Kafka es auffasst, das „entscheidend Göttliche“177 auf Distanz zu halten und jedem metaphysischen Streben – das betrifft auch jenes nach ‚wahrer‘ Gemeinschaft – eine Absage zu erteilen. Gerade die vermeintlich primitive Vorstellung der Götterwelt, die Brod so lächerlich und rührend erscheint und offenbar für das Zeugnis und Ergebnis einer schwachen Glaubenskraft hält, wird von Kafka als „großes nationales Erziehungsmittel“ begriffen, um – ähnlich wie Nietzsche dies einmal beschrieben hat178 – „das Entscheidende sich vom irdischen Leib zu halten, Luft zum menschlichen Atem zu haben.“179 Dabei reagiert er mit der Formulierung „Luft zum irdischen Atem […] haben“ offenbar auf Brods offene Favorisierung des ‚Judentums‘, die sich in dessen Bewunderung für die „Kühnheit“ ausdrückt, „mit der die Juden einen durchaus unerfahrbaren Sinn der Welt als ihren Gott einsetzten, und von ihm her deduktiv die Welt ableiteten“180 – eine Kühnheit, die auf Brod „geradezu atemraubend“181 wirkt. Mit diesem geschickten rhetorischen Manöver und ei-

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zukünftigen Sinnlichen, das vom Idealen nicht mehr getrennt wäre, dennoch geht es auch hier um die Aufhebung des Bestehenden zugunsten etwas radikal anderem. KKABr 4, S. 285. Nietzsche spricht an einer Stelle in Jenseits von Gut und Böse von den früheren aufrechteren Tugenden, „um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten.“ Friedrich Nietzsche. Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1999 (im Folgenden zit. als KSA 5), S. 151. KKABr 4, S. 285. Brod, Heidentum – Christentum – Judentum, s. Anm. 156, S. 264 f. Ebd., S. 265.

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ner Sensibilität für ambivalente Bilder nimmt Kafka den bei Brod positiv besetzten Ausdruck „atemraubend“,182 wörtlich und macht auf den negativen Aspekt dieses ambivalenten Ausdrucks aufmerksam. Die Kühnheit, mit der die Juden das entscheidend Göttliche der Welt überordnen, erscheint nicht mehr atemberaubend im herkömmlichen, idiomatischen Sinne, sondern bürdet dem Menschen eine zu große Last auf, erdrückt ihn und lässt ihm keine Luft zum Atmen. Zudem setzt Kafka Brods abwertender Engführung der alten Griechen mit zeitgenössischen Vorstellungen des Primitiven durch die anachronistische Unterstellung einer altgriechischen Nation eine Aufwertung entgegen und ergreift für diese klar Partei:183 Denn wenn Brod dem ‚Heidentum‘ vorwirft, „eine innerlich andere, unsichtbare, absolute Welt, ein ‚neuer Himmel‘“ werde „nicht statuiert und nicht gewünscht“,184 so stimmt Kafka mit dieser ‚heidnischen‘ Absage an jegliches Streben nach dem Absoluten, nach einer metaphysischen Gemeinschaft, voll und ganz überein.185 Einer „teoretisch vollkommene[n]“ – also ihrerseits idealen, unerreichbaren, aber als irdisch vorgestellten – „Glücksmöglichkeit, nämlich an das entscheidend Göttliche glauben und nicht zu ihm streben“,186 waren die Griechen mit ihrer dem wahren Absoluten vorgelagerten Götterwelt Kafka zufolge „vielleicht näher als vie182 Es ist auffällig, dass Brod den Ausdruck „atemraubend“ anstatt des geläufigeren „atemberaubend“ verwendet. Da mir das Manuskript, das Kafka von Brod erhalten hatte, nicht zugänglich ist, und ich mich hier auf den Text Brods in der veröffentlichten Form beziehen muss – also auf einen Text, in den mögliche Anregungen Kafkas bereits eingearbeitet sind, wäre es ebenfalls denkbar, dass Brod hier auf Anregung Kafkas den positiv besetzten idiomatischen Ausdruck ‚atemberaubend‘ zum weniger idiomatischen „atemraubend“ abgeändert haben könnte. Der Effekt der Entautomatisierung, der Verfremdung, ließe einen demnach leichter über das ambivalente Bild der Atemlosigkeit stolpern. 183 Die Formulierung ‚Nationales Erziehungsmittel‘ scheint einen modernen Nationalstaat (also ein relativ junges Konzept) vorauszusetzen, während vermeintlich „Primitive“ dadurch zu Primitiven erklärt wurden, dass man ihnen die komplexe Organisationsform des Staates absprach und ihnen nur die als einfach vorgestellte des Stammes zuschrieb. Auf die Tatsache, dass Kafka die heidnische Transzendenzlosigkeit und Diesseitsorientierung zur Grundlage seiner literarischen Ethik macht, hat bereits Joseph Vogl hingewiesen: Vgl. Joseph Vogl. Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München: Wilhelm Fink, 1990, S. 217 f. 184 Brod, Heidentum – Christentum – Judentum, s. Anm. 156, S. 261. 185 Diese offene Parteinahme für das ‚Heidentum‘, für die Hinwendung zum Diesseits, lässt sich bereits an einer Stelle aus einem der letzten Briefe Kafkas an Felice vom 01.10.1917 ablesen. Siehe dazu ausführlicher Fußnote 53 in Kapitel 2 dieser Arbeit. 186 KKABr 4, S. 285. Dieser Gedanke treibt Kafka bereits längere Zeit um: Etwas abgewandelt heißt es bereits im Zürauer Zettel Nr. 69: „Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben.“ KKAN II, S. 65.

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le andere.“187 Diese Götterwelt beschreibt Kafka als Mittel, „um die Blicke der Menschen festzuhalten“ – offenbar um sie nicht auf das entscheidend Göttliche fallen zu lassen. Schließlich scheint die Erkenntnis des Absoluten unweigerlich dazu zu führen, nach ihm streben zu müssen und somit zu einer lebensfeindlichen Opposition gegen das Bestehende, denn das irdische Leben ist mit dem Absoluten nicht vereinbar. Als Mittel der Ablenkung vom Absoluten war die griechische Götterwelt Kafka zufolge gewiss weniger tief […] als das jüdische Gesetz, aber vielleicht demokratischer (hier waren kaum Führer und Religionsbegründer) vielleicht freier (es hielt fest aber ich weiß nicht womit es hielt) vielleicht demüthiger (denn der Anblick der Götterwelt brachte nur zum Bewußtsein: also nicht einmal, nicht einmal Götter sind wir und wären wir Götter, was wären wir?)188

Entsprechend wirft er im Umkehrschluss all jenen Haltungen, die sich durch ihr Streben nach Verwirklichung des Absoluten auszeichnen189 – allen voran jener, die bei Brod ‚Judentum‘ genannt wird, und der man deutlich ihre Nähe zum Kulturzionismus anmerkt – vor, in ihrem Streben potentiell undemokratisch, unfrei und hochmütig zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Modifikationen scheint es als werde im Stadtwappen das Potential des ‚Heidentums‘ in Kafkas Sinne, wie es sich in der Generation der Fortschrittsgläubigen zeigt, erprobt. Denn es ist genau dieser Fortschrittsglaube, der dazu führt, dass in der ersten Generation an das Ideal und die Möglichkeit es zu erreichen, geglaubt, aber nicht zu ihm gestrebt wird: An187 Dieser Zustand erinnert an jenen der ungetauft verstorbenen Kindern im Limbus: „Dem Theologen [Thomas] zufolge kann die Strafe der ungetauften Kinder, die – von der Erbsünde abgesehen – ohne jede Schuld gestorben sind, keine qualvolle Strafe wie die der Hölle sein, sondern lediglich eine ausschließende, die in der Vorenthaltung der Anschauung Gottes besteht. Doch bereitet dieser Entzug den Bewohnern des Limbus – im Unterschied zu den Verdammten – keinerlei Schmerz: da sie nur über eine natürliche und nicht über eine übernatürliche Erkenntnis, mit der uns die Taufe begabt, verfügen, wissen sie nicht, dass sie des höchsten Gutes beraubt sind.[…] Die schlimmste Strafe – der Entzug der Anschauung Gottes – verkehrt sich so für die Bewohner der Vorhölle in einen Zustand natürlicher Fröhlichkeit: Auf immer verloren verweilen sie schmerzlos in ihrer Gottverlassenheit. Es ist nicht Gott, der sie vergaß, sondern sie haben ihn je schon vergessen, und über dieses Vergessen hat die göttliche Vergesslichkeit keine Gewalt. […] Weder selig wie die Erwählten noch verzweifelt wie die Verdammten, sind sie von einer unauslöschlichen Freude erfüllt.“ Giorgio Agamben. Die kommende Gemeinschaft. Übers. von Andreas Hiepko. Berlin: Merve Verlag, 2003, S. 11 f. 188 KKABr 4, S. 285. 189 Plessner wird dieses Streben später als zentrales Merkmal des sozialen Radikalismus ausweisen, das er in Deutschland in besonderer Weise zugespitzt sah: „Deutschlands klassisches Problem ist also die Frage der Vereinbarkeit von Wirklichkeit und Idee, sozial gefaßt von Politik und Moral.“ Plessner, s. Anm. 152, S. 21.

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gesichts der Überzeugung, die Fortschritte in der Baukunst würden sich auch in der Zukunft fortsetzen, geht die damals herrschende Meinung nämlich „dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen; man mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen.“190 Im weiteren Verlauf wird aber deutlich, dass diese Glücksmöglichkeit eben nur eine theoretische ist. Tatsächlich lässt sich das Streben nach einer Alternative zum Gegebenen nicht dauerhaft verleugnen, zumal das Mittel-zum-Zweck-Denken, das der Fortschrittsglaube nach sich zu ziehen scheint, das Leiden an den tatsächlichen Verhältnissen und damit den Wunsch, diese zu beseitigen, wie er die späteren Generationen auszeichnet, beständig steigert. Im Stadtwappen scheint also am Fortschrittsglauben weniger die Tatsache problematisiert zu werden, dass dieser die Verwirklichung des Ziels behindere. Dies scheint geradezu sein Vorzug zu sein. Vielmehr vermittelt es die Einsicht, dass angesichts des Leidens an den bestehenden Verhältnissen das Streben danach, diese zu beseitigen, unhintergehbar ist. Mit dem Verlust des Fortschrittsglaubens ändert sich zwar die Erwartung der Erreichbarkeit des Ziels, aber das Festhalten an der Beseitigung der gegebenen Verhältnisse, das gewissermaßen ein Festhalten am Ziel trotz des Wissens um seine Unerreichbarkeit impliziert, bleibt ungebrochen, mit allen Konsequenzen, die dies gemäß Kafkas Kritik an den beiden monotheistischen Geisteshaltungen mit sich bringt: die Präsenz von Führern,191 eine Unfreiheit, die sich etwa darin zeigt, dass alles Denken, Handeln und alle kulturellen Leistungen einzig auf die Opposition gegen das Bestehende konzentriert zu sein scheinen und ein Hochmut, der bei völliger Aussichtslosigkeit am hybrischen Vorhaben festhalten lässt. In Beim Bau der chinesischen Mauer stellt sich die Sache dagegen etwas weniger aussichtslos dar. Hier scheint die Haltung der Bauleute, so, wie sie vom Erzähler geschildert wird, beständig zwischen Streben nach der Verwirklichung des Idealen im Hier und Jetzt und Unterlaufen dieses Strebens zu oszillieren. Die Verwirklichung eines Ideals, von dem unklar bleibt, ob es als erreichbar vorgestellt wird oder nicht, wird angestrebt mit allen negativen Konsequenzen, die dies nach sich zieht: Hierarchisierung und Stratifizierung der Gesellschaft durch Sammeln auf einen Zweck hin, Führerfiguren, Unfreiheit und Hochmut – und all dies, wie dargestellt wurde, jeweils mit deutlichen Resonanzen in zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskursen. Und doch wird sie auch nicht an190 KKAN II, S. 318. 191 Nicht nur in Beim Bau der chinesischen Mauer, sondern auch im Stadtwappen ist von Führern die Rede. Vgl. KKAN II, S. 319.

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Modi der Vermittlung von Idee und Wirklichkeit

gestrebt, denn die unzweckmäßige Bauweise des Teilbaus scheint dieses Ideal beständig zu unterlaufen und zu verfehlen, wenn man den Gerüchten glauben schenken darf, wonach sie vorallem Lücken produziere, die größer sein sollen als die errichteten Mauerabschnitte.192 Dabei erlaubt gerade diese Bauweise, trotz aller mutmaßlichen Lücken, die Fertigstellung der Mauer als erreicht zu verkünden und so das Streben nach Vollendung stillzustellen oder wenigstens die Sehnsucht danach etwas zu besänftigen. Wenn sodann in dieser Erzählung gezeigt wird, wie im Streben nach der Ummauerung Chinas und der Schaffung wahrer Gemeinschaft nur die Gesellschaft mit ihrer Heterogenität, Vereinzelung und Zerstreuung geformt und verwirklicht wird, so versucht sie auch zu zeigen, wie gerade die Zerstreuung als Resultat dieses Verfehlens einer homogenen Gemeinschaft wiederum Freiräume eröffnet, in denen sich zeitweilig ein „gewissermaßen freies, unbeherrschtes Leben“193 andeutet. Diese Oszillation zwischen Streben und Nicht-Streben, Dystopie und Utopie, scheint schließlich auch das Resultat einer literarischen Suchbewegung nach Strategien zu sein, mit der Unvermittelbarkeit von Idee und Wirklichkeit umzugehen, zu versuchen, sich in dieser Situation einzurichten und die im Verfehlen der Gemeinschaft entstehenden Freiräume sichtbar zu machen. Diese Suche soll im folgenden zweiten Kapitel nochmals genauer in den Blick genommen werden.

192 Vgl. KKAN I, S. 338. 193 KKAN I, S. 354.

2. Aporien der Verwirklichung: Kafkas literarische Erkundungen In Kafkas Kritik an Brods Heidentum – Christentum – Judentum, die bereits Gegenstand des ersten Kapitels dieser Arbeit war, lassen sich drei argumentative Schritte unterscheiden: In einem ersten Schritt geht Kafka vom grundsätzlichen Problem einer unhintergehbaren Unvermittelbarkeit des Tatsächlichen, sinnlich Erfahrbaren mit dem Idealen, Göttlichen aus, das anders als bei Brod alle drei Geisteshaltungen betreffe. Aufbauend auf dieser Annahme weist er in einem zweiten Schritt das metaphysische Streben der beiden monotheistischen Geisteshaltungen mit der Begründung zurück, dieses sei hochmütig, befördere undemokratische Verhältnisse und mache unfrei sowie unglücklich und verteidigt dagegen die ‚heidnische‘ Geisteshaltung, die diesem Streben am stärksten widerstehe. Entsprechend stellt sich drittens die Frage nach ‚heidnischen‘ Strategien, um mit der behaupteten Unvermittelbarkeit bzw. mit einer zwar unbestreitbar vorhandenen, doch letztlich unerfüllbaren Sehnsucht nach Verwirklichung eines Ideals, insbesondere eines Gemeinschaftsideals, bestmöglich umzugehen. Im aktuellen Kapitel wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese Positionen, die Kafka in seiner Kritik an Brod bezieht, auch in seinen literarischen Texten präsent sind und in welcher Weise sie weiterentwickelt werden. Wenn in Kafkas Apologie des ‚Heidentums‘ mit der Skizzierung einer ‚theoretisch vollkommenen irdischen Glücksmöglichkeit‘ bereits eine Fluchtlinie im Umgang mit den Aporien der Verwirklichung angedeutet wird, die, wie gezeigt, im Stadtwappen aufgegriffen und erprobt zu werden scheint, so gilt es darzulegen, inwiefern sich etwa auch Beim Bau der chinesischen Mauer als Fortsetzung dieser Suche nach Auswegen aus diesen Aporien mit den Mitteln der Literatur begreifen lässt. Zuvor soll allerdings noch untersucht werden, in welcher Weise die ersten beiden Argumentationsschritte aus Kafkas Kritik an Brods Schema in einzelnen anderen literarischen Texten ihren Niederschlag gefunden haben. 2.1 Die Unvereinbarkeit von Idealität und Realität Am prägnantesten und zugleich anschaulichsten wird das Sujet der Unvermittelbarkeit von idealer und empirischer Sphäre im Zürauer Zettel Nr. 32 verhan-

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Aporien der Verwirklichung: Kafkas literarische Erkundungen

delt, wo zu lesen ist: „Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeuten eben: Unmöglichkeit von Krähen.“1 Als unvermittelbar erweisen sich die beiden Sphären gerade deshalb, weil die Sphäre des Himmels – ganz so, wie dies Brod für das ‚Christentum‘ gezeigt und Kafka auf das ‚Heidentum‘ ausgeweitet hat – nichts anderes als die Negation der sinnlich erfahrbaren Welt darstellt. Himmel ist – das wird hier überdeutlich – per definitionem das Andere der empirischen Erscheinungen und als deren Entgegensetzung weder für diese erreichbar, noch kann er selbst zu einer solchen werden. Diese Form der Unvereinbarkeit – dies hat bereits Bernhard Greiner in Bezug auf Beim Bau der chinesischen Mauer und auf Das Schweigen der Sirenen dargelegt – lässt sich innerhalb der Erzählungen Kafkas weder durch Hegels dialektische Vermittlung des Geistigen mit dem Sinnlichen überwinden, noch kommt man ihr mit der Kant’schen Figur eines symbolischen Brückenschlags zwischen Empirie und Idee im Raum der Kunst bei.2 Sämtli1

2

Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II), S. 120. Bernhard Greiner. „Mauer als Lücke. Die Figur des Paradoxons in Kafkas Diskurs der Kultur“. In: Arche Noah. Die Idee der ‚Kultur‘ im deutsch-jüdischen Diskurs. Hrsg. von Bernhard Greiner und Christoph Schmidt. Bd. 26. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag, 2002, S. 173–195. Bernhard Greiner macht hier auf die Auseinandersetzung mit Problemen der Vermittlung von idealer und empirischer Sphäre in Texten Franz Kafkas aufmerksam und arbeitet Kafkas spezifischen Umgang mit diesen getrennten Sphären als Figur des Paradoxons heraus, das in doppelter Verneinung gründe. Unter einem Paradoxon sei die „Umkehrung einer Aussage, die widersinnig erscheint, sich bei genauerem Nachdenken aber als richtig erweist“ (S. 177) zu verstehen. In Kafkas Erzählungen finde sich das Paradoxon insofern verdoppelt, als es nicht nur erzählerisch exponiert, sondern zugleich performativ vollzogen werde. Diese Verdopplung bewirke eine Dynamisierung des „zuerst statisch erscheinenden Raum[s] des ‚Dazwischen‘, indem es auf immer neuen Stufen der Betrachtung die eine Position […] in die entgegengesetzte […] verwandelt und umgekehrt, als eine Bewegung, die die beiden Welten […] ständig auseinanderhält und so eine Öffnung schafft statt eines Übergangs“ oder einer dialektischen Vermittlung. Während Kants Figur des Brückenschlags nämlich den Nachteil einer vorausgesetzten Kunstgläubigkeit mit sich bringe und in diesem Glauben einer „erhabenen Täuschung“ erliege, (vgl. S. 175) könne Hegels dialektische Vermittlung, bezogen auf Gemeinschaft, durch ihren totalisierenden Gestus das Fremde, Andere nicht anders als vom Identischen, Eigenen her denken. (Vgl. S. 191) Beide hätten aber im deutsch-jüdischen Kulturdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts einen lebendigen Bezugsrahmen: den Neu-Kantianismus um die neu begründete Kulturphilosophie mit Vertretern wie Hermann Cohen oder Ernst Cassirer und andererseits die Beschäftigung mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie etwa bei Nachman Krochmal und Franz Rosenzweig. (Vgl. S. 175).

Die Unvereinbarkeit von Idealität und Realität

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che Texte Kafkas, in denen dieser Dualismus präsent ist, beharren – so meine These – auf der Unmöglichkeit, die beiden Sphären zu vermitteln. Als weiteres Beispiel lassen sich nochmals die Babeltexte anführen, in denen die Vermittlung von Idealität und Realität bekanntermaßen das zentrale Problem darstellt. Hier indiziert Kafkas Arbeit an den Metaphern des Bauens die Unmöglichkeit ihrer Aufhebung. Baumetaphern stellen – darauf wird in Kapitel 5 noch genauer eingegangen – im zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurs eine beliebte Strategie dar, mit sprachlichen Mitteln über die Unvermittelbarkeit von tatsächlicher Gesellschaft und ‚wahrer‘ Gemeinschaft hinwegzutäuschen. Dies trifft schon auf jene Generation zu, die noch an den technischen Fortschritt als Mittel zum tatsächlichen Erreichen ihres Ideals glaubt. Noch entscheidender sind solche Metaphern aber für die Generation der sozialen Radikalisten, die trotz der eingestandenen Unmöglichkeit, ideale Gemeinschaft und tatsächliche Gesellschaft zu vermitteln, die Notwendigkeit dieser Vermittlung betont und an der Absicht, erstere zu verwirklichen, festhält, weshalb sie diese unmögliche Verwirklichung allererst vorstellbar machen muss. Auch wenn das angestrebte Ideal der sozialen Radikalisten völlig unerreichbar ist, entsteht durch metaphorische Übertragung doch der Eindruck, dieses Ideal könne, wenn auch nur in fernster Zukunft, am Ende der Zeit erreicht werden. In diesem Sinne hat, um nur ein Beispiel zu nennen, Martin Buber die Erneuerung des Judentums, die für ihn wesentlich die Schaffung einer neuen Menschengemeinschaft ist, mit dem Bau eines Hauses im „Reich der Zukunft“ verglichen.3 Diese etablierte Verknüpfung von Bauen mit gelingendem Verwirklichen, scheint in Kafkas Babel-Texten angegriffen und verunsichert zu werden. Wenn das Ideal als etwas zu Bauendes vorgestellt werden soll – so scheint die Prämisse zu lauten –, so kann dieses Bauen kein herkömmliches Bauen sein, sondern eines, das an kein Ende kommt, in dem die Lücken größer als die Mauerteile sind,4 in dem man sich im Graben der Fundamente verliert,5 in dem man gerade aufgrund des als Naturgesetz vorausgesetzten Fortschritts ins Stocken gerät,6 in dem sich die Vollendung zwar verkünden lässt, aber nie den Tatsa3 4

5 6

Vgl. Martin Buber. „Reden über das Judentum“. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Bd. 2. Gerlingen: Lambert Schneider, 1993, S. 40. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I), S. 338. „Wir graben den Schacht von Babel“ lautet eine kurze Notiz Kafkas, die dies prägnant auf den Punkt bringt. KKAN II, S. 484. KKAN II, S. 318 f.

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Aporien der Verwirklichung: Kafkas literarische Erkundungen

chen entspricht.7 Und schon die Errichtung einer großen Mauer, die nur das Fundament für einen neuen Babelturm, für eine künftige Verbindung von Himmel und Erde abgeben soll, erscheint hier unmöglich. 2.2 Metaphysisches Streben Angesichts der unüberwindlichen Kluft zwischen göttlicher Welt und Realität geht Kafka in seiner Kritik an Brods Schema in einem zweiten Schritt auf Distanz zur Forderung nach kompromissloser Verwirklichung eines metaphysischen Ideals. Dadurch hebt er sich nicht nur entschieden von Brod, sondern generell von den in seiner Generation weit verbreiteten sozial-radikalistischen, neoromantischen8 Forderungen, wahre Gemeinschaft konzessionslos zu verwirklichen, ab. Ein vermutlich Ende 1922 niedergeschriebener Text,9 den Max Brod posthum unter dem Titel Von den Gleichnissen publizierte, inszeniert das Aufeinandertreffen beider Haltungen – jener, die das Streben nach dem Absoluten propagiert mit jener, die dieses Streben zurückweist – in Form eines Dialogs. In der einleitenden Passage ist zunächst von „Viele[n]“ die Rede, die sich als bodenständig und pragmatisch präsentieren und damit von den „Weisen“ abheben, denen sie Realitätsferne vorwerfen. Viele beklagten sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: „Gehe hinüber“ so meint er nicht, daß man auf die andere Straßenseite hinüber gehn solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas was wir nicht kennen, was auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und was uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse 7 8

9

KKAN I, S. 337 f. Zur Bewegung, die mitunter als Neoromantik bezeichnet wird, und in der sich libertäre Ideen häufig mit der Forderung, einen verlorenen Gemeinschaftszustand wiederzuerlangen, verbindet, siehe insbesondere die Arbeiten von Michael Löwy: Michael Löwy und Renée B. Larrier. „Jewish Messianism and Libertarian Utopia in Central Europe (1900–1933)“. In: New German Critique 20.2 (1980), S. 105–115; Michael Löwy. Erlösung und Utopie. Übers. von Dieter Kurz und Heidrun Töpfer. Berlin: Philo, 2002; Michael Löwy. „Franz Kafka et l’anarchisme“. In: Études littéraires 41.3 (2010), S. 41–50; Michael Löwy. „Romantic Prophets of Utopia: Gustav Landauer and Martin Buber“. In: Gustav Landauer. Anarchist and Jew. Hrsg. von Paul Mendes-Flohr und Anya Mali. Berlin, München, Boston: De Gruyter, 2015, S. 64–81. Zur Datierung vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II App.), S. 127 f.

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wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist und das haben wir gewußt. Aber das womit wir uns eigentlich jeden Tag abmühn, sind andere Dinge.10

Am Ende des ersten Satzes scheint die Erzählinstanz unvermittelt in die freie indirekte Rede zu wechseln. Dabei wird aber durch die Verwendung der zweiten Person Plural gänzlich verunklart, wer hier eigentlich spricht. Es lässt sich schlicht nicht entscheiden, ob man es hier mit einem Wir-Erzähler zu tun hat, der zunächst vorgeblich außenstehend über die Vielen spricht, um sich bald schon als einer von ihnen zu erkennen zu geben, ob hier nur die Stimme eines Einzelnen im discours indirect libre wiedergegeben wird, der als Teil der Vielen für diese spricht, oder ob hier die Vielen selbst das Wort ergreifen und gleichsam im Chor die Erzählstimme kapern. Der Imperativ in dem den Weisen zugeschriebenen „‚Gehe hinüber‘“, das sozusagen als Minimalbeispiel eines Gleichnisses vorgebracht wird, suggeriert, die Weisen träten den Vielen gegenüber missionarisch auf: Sie scheinen bemüht, diese vom Streben nach einem Zustand oder einer Erfahrung zu überzeugen, die jenseits ihres täglichen Lebens liegen solle. Allerdings kann dieser unvergleichliche Zustand selbst von den Weisen11 nicht einfach bezeichnet werden. Er lässt sich lediglich in Gleichnissen andeuten, doch mit diesen Andeutungen dringen die Weisen zu den Vielen nicht durch. Wenn im Zürauer Zettel Nr. 57 festgehalten wird: „Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie entsprechend der sinnlichen Welt nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt“,12 so scheinen die Vielen, die ganz in der Immanenz der sinnlichen Welt verbleiben, nur mit dem vergleichenden Gebrauch der Sprache etwas anfangen zu können. Der andeutende Gebrauch erschöpft sich hingegen lediglich im Markieren von etwas Unfassbarem, das als solches außerhalb der Reichweite und des Strebens der Vielen liegt, wobei sich die Vielen der Begrenztheit ihrer Erkenntnisfähigkeit ohnehin bewusst waren. Nach dieser Lage(r)bestimmung aus der Perspektive der Vielen entfaltet sich ein Dialog zwischen einem Fürsprecher der Weisen, der, wie noch deutlich werden wird, möglicherweise selbst zu diesen zählt, und einer weiteren Person, die die Meinung der Vielen vertritt: 10 11

12

KKAN II, S. 531 f. Wenn die Weisen propagieren, jenes sagenhafte Drüben aufzusuchen, so suggerieren sie implizit, dass sie selbst dieses Drüben bereits erfahren haben. Dies ist allerdings für den Erzähler nicht überprüfbar und bleibt daher offen. KKAN II, S. 126.

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Darauf sagte einer: Warum wehrt Ihr Euch? Würdet Ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret Ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei. Ein anderer sagte: Ich wette daß auch das ein Gleichnis ist. Der erste sagte: Du hast gewonnen. Der zweite sagte: Aber leider nur im Gleichnis. Der erste sagte: Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast Du verloren.13

Auf den Vorwurf des Fürsprechers der Weisen hin, die Vielen sträubten sich dagegen, den Gleichnissen zu folgen – also etwa jenem, das dazu auffordert, „hinüber“ zu gehen und damit selbst Gleichnis zu werden – springt der „ander[e]“ den Vielen bei und gibt sich als einer von ihnen zu erkennen. Mit seiner Vermutung, die Aussage des „eine[n]“ sei ihrerseits ein Gleichnis, weicht er auf die Metaebene aus und bestätigt performativ den Vorwurf seines Gegenübers. Zugleich gibt er damit zu verstehen, dessen Rede sei als Gleichnis ohne Belang für ihn und die Vielen. Denn weder die Gleichnisse noch das stets unfassbar bleibende Unfassbare selbst, auf das diese Gleichnisse beständig hindeuten, haben für das tägliche Leben der Vielen, das ihnen alleine relevant erscheint, auch nur den geringsten Nutzen. Dies unterstreicht der Vertreter der Vielen auch mit seinem Bedauern, „leider nur im Gleichnis“ [Hervorh. C.D.] gewonnen zu haben. Doch auch der Verteidiger der Weisen setzt auf die Kraft des Performativen, um seine Position zu bekräftigen: Indem er mit „Du hast gewonnen“ zunächst bestätigt, seine vorherige Aussage sei tatsächlich ein Gleichnis gewesen, suggeriert er, selbst ein Weiser zu sein. Dies scheint ihn zu legitimieren, auf dem Gebiet der Gleichnisse, das für beide jenseits der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit liegt, ein endgültiges Urteil treffen zu können14 , während sein Gegenüber hier nur Vermutungen anstellen kann. Damit stehen die beiden Positionen einander aber letztlich unvereinbar gegenüber: Während der ‚andere‘ die Aussage des ‚einen‘ bei seinen, wie man mit Max Brod sagen könnte, ‚heidnischen‘ Gesinnungsgenossen dadurch zu diskreditieren sucht, sie als Gleichnis und somit als Rede ohne Relevanz und Aussagekraft für die ihnen einzig zugängliche Welt des Alltäglichen zu entlarven, dabei aber nur im Modus der Vermutung sprechen kann, nimmt der ‚eine‘ für sich in Anspruch, über die außerhalb der erfahrbaren Welt liegende Wahr13 14

KKAN II, S. 532. Die hier präsentierte Lesart setzt voraus, dass es sich bei dem ‚einen‘ und bei dem ‚ersten‘ um ein und dieselbe Person, handelt. Theoretisch ließe sich ‚der erste‘ auch den Aussagen in der einleitenden Passage zuordnen, denn diese gehen der Rede des ‚einen‘ voraus, wenn dieser auf sie nur reagiert. Der Zusammenhang legt allerdings stark die im Fließtext vorgeschlagene Lesart nahe.

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heit, auf die die Gleichnisse stets hindeuten, Bescheid zu wissen, zieht aber die Legitimation dafür implizit aus der Behauptung, Zugang zu einer Sphäre zu haben, die von jenen, gegenüber denen er sich behaupten möchte, als nicht relevant erachtet wird – seine Behauptung ist für diese nicht überprüfbar und bleibt notwendig reine Behauptung. Bemerkenswert ist, dass die beiden gegensätzlichen Haltungen, die hier jeweils zum Metaphysischen eingenommen werden, mit jenen Haltungen korrespondieren, die in Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrtums, einem kurzen Text aus der Götzen-Dämmerung Nietzsches, annähernd den Anfangs- und Endpunkt innerhalb einer ideengeschichtlichen Entwicklung markieren. Dabei wird nicht etwa die Genese eines Irrtums nachgezeichnet, der darin bestünde die wahre Welt zunehmend als Fabel zu verkennen. Vielmehr wird in sechs Schritten umrissen, wie sich umgekehrt die problematische platonische Annahme einer „wahren Welt“, die sich hinter der scheinhaft-empirischen verberge, im Laufe der Zeit gewandelt habe, wobei sie schließlich durch Nietzsches Philosophie, die Brod übrigens explizit dem ‚Heidentum‘ zuordnet,15 endgültig als Irrtum und bloße Fabel erkannt und verworfen wird: 1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes »Ich, Plato, bin die Wahrheit«.) 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (»für den Sünder, der Buße tut«). (Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfaßlicher – sie wird Weib, sie wird christlich…) 3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) 4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?… (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.) 5. Die »wahre Welt« – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! 15

Vgl. Max Brod. Heidentum – Christentum – Judentum. Ein Bekenntnisbuch. Bd. 1. München: Kurt Wolff, 1921, S. 13 und innerhalb jenes Textauszugs, den Kafka gesichert gelesen hat: Max Brod. Heidentum – Christentum – Judentum. Ein Bekenntnisbuch. Bd. 2. München: Kurt Wolff, 1921, S. 279.

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(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Plato’s; Teufelslärm aller freien Geister.) 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)16

In diesem ideengeschichtlichen Abriss der Vorstellung einer „wahren Welt“ stellt sich Nietzsches Philosophie als „umgedrehter Platonismus“17 dar. Als solchen hatte Nietzsche sie selbst bereits zuvor charakterisiert, denn im Unterschied zu Platons Philosophie liege ihr gerade kein Streben nach dem Absoluten, nach Einheit, Reinheit oder Wahrheit zugrunde. Möchte man die in Nietzsches Text als unsinnig herausgestellte Trennung in eine metaphysische „wahre Welt“ und eine empirische scheinhafte noch beibehalten, so folgt ihre Stoßrichtung, ebenfalls mit Nietzsche formuliert, vielmehr der Maxime: „je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“18 Wenn also ‚Heidentum‘ die Zurückweisung jedes metaphysischen Strebens meint, so steht Brods Zuordnung Nietzsches zum ‚Heidentum‘ durchaus im Einklang mit dessen eigener Wahrnehmung seiner Philosophie. Das Streben innerhalb der Nietzsche’schen Philosophie gilt ganz dem Leben im erfahrbaren Diesseits, sie sucht die größtmögliche Distanz zum wahrhaft Seienden und steht damit in größter Nähe zu jener theoretisch „vollkommene[n] irdische[n] Glücksmöglichkeit“, die Kafka im Zuge seiner Apologie des ‚Heidentums‘ und in ähnlicher Form bereits zuvor im Zürauer Zettel Nr. 69 skizziert hat, nämlich „an das entscheidend Göttliche glauben und nicht zu ihm streben.“19 Wenn nun in Kafkas Text der erste, für die Weisen eingenommene Dialogteilnehmer davon spricht, dass die Vielen, unter der Maßgabe den Gleichnissen zu folgen, selbst zu Gleichnissen geworden wären, so lässt sich diese Sicht der Dinge mit jener aus der ersten Phase in Nietzsches Ideengeschich16

17

18 19

Friedrich Nietzsche. Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, DionysosDithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1999 (im Folgenden zit. als KSA 6), S. 80 f. Friedrich Nietzsche. Nachgelassene Fragmente 1869–1874. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 7. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1988 (im Folgenden zit. als KSA 7), S. 199. KSA 7, S. 199. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe 1918–1920. Hrsg. von HansGerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2013 (im Folgenden zit. als KKABr 4), S. 285, Hervorh. im Original.

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te der „wahren Welt“ verknüpfen. Hier wie dort wird nämlich offenbar behauptet, die „wahre Welt“ sei für den Weisen tatsächlich erreichbar, er könne selbst Teil dieser metaphysischen Ordnung werden. Von den ‚heidnischen‘ Vielen aus gesehen würde er als Teil dieser für sie unerkennbaren Ordnung damit selbst ihren Horizont des Fassbaren überschreiten, wodurch auch auf ihn lediglich in Gleichnissen angespielt werden könnte. Selbst zum Gleichnis zu werden scheint also zu implizieren, Teil des sagenhaften Drüben, des Metaphysischen, der „wahren Welt“ zu werden, auf die die Gleichnisse nur hinzudeuten vermögen. Die antimetaphysische, ‚heidnische‘ Haltung des zweiten Dialogteilnehmers, die auch jene der Vielen darstellen soll,20 lässt sich ebenfalls innerhalb Nietzsches ideengeschichtlichen Abrisses, und zwar schon nahe am Endpunkt der Entwicklung, am Übergang von der vierten auf die fünfte Etappe auf dem Weg zur Abschaffung der „wahren Welt“ verorten: Denn streng genommen schließen die Vielen die Existenz einer Welt jenseits der erfahrbaren zwar (noch) nicht kategorisch aus und sie fordern auch nicht explizit deren Abschaffung, doch die Bezeichnung dieser jenseitigen Welt als „irgendein sagenhaftes Drüben“ [Hervorh. C.D.] ist schon sehr nahe an Nietzsches Erklärung der „‚wahren Welt‘“ zur bloßen „Fabel “, und wie im fünften Schritt Nietzsches bestreiten sie dezidiert jeglichen Nutzen, den dieses Drüben für sie haben könnte. Während allerdings die beiden nahezu antagonistischen Haltungen zum Metaphysischen bei Nietzsche als unterschiedliche Stufen innerhalb eines diachronen Entwicklungsprozesses von Platons Ideenlehre hin zu seinem eigenen „umgedrehten Platonismus“ erscheinen, sind sie in Kafkas Text durch die Form des Dialogs in ein synchrones Verhältnis gesetzt. Dabei ist die in Kafkas Text inszenierte Gleichzeitigkeit beider Haltungen durchaus näher an den tatsächlichen zeitgenössischen Verhältnissen. Denn das Streben nach dem Absoluten, das bei Nietzsche mit Platon und dem Christentum in Verbindung gebracht wird, ist mit Nietzsches Philosophie keineswegs ein für alle Mal überwunden. Vielmehr erfährt es im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, etwa im Zuge der erwähnten Neoromantik bzw. durch solche Bewegungen, die Plessner als sozialen Radikalismus analysiert hat, eine Renaissance, wobei in Kafkas Umfeld besonders die kulturzionistische Ausprägung des sozialen Radikalismus 20

Dass die antimetaphysische Haltung ausgerechnet von den Vielen vertreten wird, könnte man als Spitze gegen Nietzsche lesen, der zwar dem ‚Heidentum‘ das Wort redet, aber doch auch beständig gegen den Herden-Trieb auftritt und alle Durchschnittlichkeit verachtet.

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großen Anklang findet, sodass antimetaphysische Haltungen im zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurs eher die Ausnahme bilden. Bietet Nietzsches Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde mit seiner Thematisierung beider Haltungen einenen aufschlussreichen Resonanzboden, wobei sich sein Verfasser – zumindest der Sache nach – als Gewährsmann der ‚Heiden‘ ins Spiel bringt, so ist mit Bubers Nachwort 21 zu dem 1910 erschienenen, von ihm übersetzten22 und zusammengestellten Buch Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse mindestens ein weiterer, und zwar zeitgenössischer Text palimpsestartig in Kafkas Erzählung präsent, der die beiden Haltungen ebenfalls in ein dichotomes Verhältnis setzt. Spätestens vor dem Hintergrund weiterer Texte Bubers wird allerdings wenig überraschend deutlich, dass er sich am entgegengesetzten, pro-metaphysischen Pol positioniert. Die Präsenz dieses weiteren Textes im Text ergibt sich etwa durch die analoge Konstellation weniger Weiser mit privilegiertem Zugang zum Metaphysischen, denen die ahnungslosen Vielen gegenüberstehen. Zudem wird das Gleichnis als sprachliches Medium der Vermittlung, sowohl zwischen sinnlicher und übersinnlicher Sphäre einerseits als auch zwischen beiden Gruppen andererseits, thematisiert und problematisiert. Dabei ist auffälligerweise ebenfalls explizit von Menschen die Rede, die zu Gleichnissen werden. Bevor hier jedoch noch genauer auf die Wechselverhältnisse eingegangen wird, die sich zwischen Kafkas Erzählung und Bubers Nachwort, das er sieben Jahre später auch eigenständig unter dem Titel Die Rede, die Lehre und das Lied 23 veröffentlicht, herausstellen lassen, gilt es, Bubers Text, der sich mit dem frühen Daoismus auseinandersetzt und daher als Kontext für Kafkas Erzählung zunächst abwegig erscheinen mag, mit Blick auf das zeitgenössische Projekt des Kulturzionismus zu kontextualisieren. Tatsächlich bereitet Buber – das ist in der Forschung bislang kaum beachtet worden – in diesem Aufsatz nämlich vieles von dem vor, was er später aufgreifen, weiterdenken und explizit auf sein kulturzionistisches Projekt übertragen soll. So versucht er in seinem Nachwort gleichsam das Wesen des ‚morgenländischen Geistes‘ fassbar zu machen, wobei dieses für Buber – hier zeigt sich deutlich sein ‚Radikalismus‘ im Sinne Plessners – an seinen Anfängen, und 21 22

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Martin Buber. Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse. Leipzig: Insel-Verlag, 1910, S. 82–117. Buber übersetzte aus englischen Übersetzungen und arbeitete mit Wang Ching-t’ao, einem chinesischen Sprachdozenten am Institut für orientalischen Sprachen zusammen, den er in der Veröffentlichung allerdings nicht namentlich nennt. Für Details zur Übersetzung siehe Irene Eber. „Martin Buber and Taoism“. In: Monumenta Serica 42 (1994), S. 445–464 und Jonathan R. Herman. I and Tao. New York: State University of New York Press, 1996. Martin Buber. Die Rede, die Lehre und das Lied. Drei Beispiele. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

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das heißt für ihn im Daoismus, am reinsten zu Tage tritt. Und zu diesem reinen, unverfälschten Wesen morgenländischen Geistes, das in seinem Aufsatz als ‚Lehre‘ Gestalt annimmt, möchte Buber das Judentum mit seinem Kulturzionismus zurückführen, wie er später auch in seinen Reden über das Judentum deutlich macht.24 So wird Buber etwa in seiner Rede Der Geist des Orients und das Judentum, ausgehend von der geografischen Verortung des ursprünglichen Judentums an der Grenze zwischen Ost und West sowie der zeitlichen Einordnung seiner Entstehung am Umschlagspunkt von der geistigen Vorherrschaft des Orients hin zur gegenwärtigen des Okzidents,25 mit seinem Projekt der Erneuerung dieses Judentums nichts Geringeres als eine Überwindung des Gegensatzes von östlicher und westlicher Existenz- und Denkweise zugunsten der östlichen anstreben, denn die westliche stellt sich ihm als Irrweg dar. Am deutlichsten kommt dies in einer späteren Notiz im Umfeld einer Besprechung des Daodejing durch Buber in Ascona im August 1924 zum Ausdruck, die mit dem Titel Ueber die Ideen Plato’s und Lao-Tse’s Urbilder versehen ist. Hier macht er auf gravierende Unterschiede aufmerksam, die es zwischen den flüchtig betrachtet ähnlich erscheinenden Vorstellungen beider Philosophen gebe, die paradigmatisch für abendländisches respektive morgenländisches Denken stehen. Platons Ideenlehre zeichne sich nämlich durch eine „Scheidung zwischen der Welt der Wirklichkeit und der Welt des Seins“26 aus, wobei unerklärlicherweise mit der obersten Idee das Allgemeine plötzlich ins Absolute umschlage, das aber seinerseits stets mit dem Konkreten zusammenhänge. Dieses ins Absolute erhobene Allgemeine stelle insofern einen Irrtum dar, als das Allgemeine, dem die menschliche Begriffsbildung zugrunde liege, gar nicht dem „eigentliche[n] Sein“27 angehöre, sondern nur Ausdruck des Verhältnisses des menschlichen Geistes zu den Dingen sei. Dieser Irrtum setze sich bis herauf zum zeitgenössischen Idealismus des Neukantianers Hermann Cohen fort, der behaupte Gott könne an der Wirklichkeit keinen 24

25 26 27

Buber stellt dabei durchaus keinen Einzelfall dar. Vgl. Hans Kohn. „Der Geist des Orients“. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. von Bar Kochba. Verein jüdischer Hochschüler in Prag. 2. Aufl. Leipzig: Kurt Wolff, 1913, S. 9–18; Jakob Wassermann. „Der Jude als Orientale“. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. von Bar Kochba. Verein jüdischer Hochschüler in Prag. 2. Aufl. Leipzig: Kurt Wolff, 1913, S. 5–8. Vgl. die Rede Der Geist des Orients und das Judentum in: Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 3, S. 50. Martin Buber. Martin Buber Werkausgabe. Bd. 2.3: Schriften zur chinesischen Philosophie und Literatur. Hrsg. von Irene Eber. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2013, S. 272. Ebd., S. 272.

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Anteil haben. Bei Lao-Tse28 stehe hingegen nichts zwischen dem Konkreten und dem Absoluten.29 Während das Absolute bei Platon als Transzendenz erscheine, favorisiert Buber quer durch seine Schriften und immer wieder im Anschluss an Lao-Tse die Vorstellung des Absoluten als reine Immanenz, womit sich das im abendländischen Denken klassische Problem des Auseinandertretens und folglich der notwendigen Vermittlung von transzendenter Idealität und immanenter Realität als Scheinproblem herauszustellen scheint. Was bleibt, ist eine Diskrepanz von Sollen und Sein, die in der ‚Lehre‘, welche das Spezifikum morgenländischen Geistes ausmache, aber als Einheit gedacht werde. Im Nachwort präsentiert Buber den frühen Daoismus als großes Vorbild im Streben nach einem Denken dieser Einheit von Sollen und Sein. Die ‚Lehre‘ habe sich im Leben des Lao-Tse am elementarsten verkörpert und sei in den Gleichnissen Tschuang-Tses30 am reinsten in Worte gefasst. Doch auf einen solchen Höhenflug folgt nach Buber unweigerlich der Fall, denn der Versuch solch reine Verkörperung der ‚Lehre‘ als ‚Religion‘ zu institutionalisieren und auf Dauer zu stellen, führe stets zur Erstarrung. Alle „höchsten Erscheinungen morgenländischen Geistes“31 seien stets aus dem Versuch erwachsen, den Fixierungen als ‚Religion‘ mit einer Reformierung oder „Erneuerung der Lehre“ entgegenzutreten. In eben diese Geistesgeschichte möchte sich Buber mit seinem kulturzionistischen Projekt der Erneuerung des Judentums einschreiben.32 Um also eine deutlichere Vorstellung davon zu geben, worauf sich nach Buber das Streben innerhalb des Kulturzionismus richtet, wird im Folgenden zunächst dargelegt, was Buber in seinem Nachwort exakt unter ‚Lehre‘ versteht und welche Rolle er den Gleichnissen im Streben nach dieser ‚Lehre‘ zuschreibt. Dabei soll auch auf entsprechende Resonanzen in den Texten Nietzsches und Kafkas aufmerksam gemacht werden. Zudem lässt sich zeigen, dass auch Brods Heidentum –Christentum – Judentum mit diesen Überlegungen Bubers in Verbindung steht. Buber zufolge stellt die ‚Lehre‘ eine von drei geistigen Grundmächten und eine Besonderheit des orientalischen Geistes dar. Im Westen fasse man ‚Wissenschaft‘ und ‚Gesetz‘ als zwei getrennte Grundmächte auf, wobei die ‚Wis28 29 30 31 32

D. i. in der heute üblichen Umschrift Laozi. Vgl. Buber, Schriften zur chinesischen Philosophie und Literatur, s. Anm. 26, S. 272. D. i. in der heute üblichen Umschrift Zhuangzi. Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, s. Anm. 21, S. 88. Die Erneuerung des Judentums lautet denn auch der Titel seiner dritten Rede über das Judentum.

Metaphysisches Streben

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senschaft‘ alle „Kunde von einem Sein, irdischem und himmlischem“ beinhalte und das ‚Gesetz‘ „alles Gebot eines Sollens, menschlichen und göttlichen“,33 einschließe. Dabei sei die okzidentale Seelengeschichte von einem zunehmenden Auseinandertreten dieser beiden Grundmächte geprägt. Im morgenländischen Geist seien sie hingegen als ‚Lehre‘ zur Einheit verschmolzen. Der Gegenstand der ‚Lehre‘ wäre nur „das Eine das not tut“,34 das „Notwendige“, das „im wahrhaften Leben“ verwirklicht würde. Das „Notwendige“ und das „wahrhafte Leben“ lassen sich dabei aus westlicher Sicht nur in Paradoxien ausdrücken: ersteres als Sein, „das keiner Kunde zugänglich sei“ und letzteres „als Sollen, das keinem Gesetz untertan“35 wäre. Im Historischen, d. h. in der Sphäre des Vergänglichen, bilde sich die ‚Lehre‘ unabhängig von ‚Wissenschaft‘ und ‚Gesetz‘ und finde in einem „zentralen Menschenleben“36 ihre „reinste Erfüllung“: Im Falle des Christentums sei dies Jesus, im Buddhismus Buddha und für den Daoismus Lao-Tse. Schon während dieser Erfüllung, noch zu Lebzeiten des zentralen Menschen, setze allerdings bereits eine Verfallsgeschichte ein, im Zuge derer die Verwirklichung der ‚Lehre‘ in der Einheit eines wahrhaften Menschenlebens in einem Prozess der „Kontamination und Zersetzung“37 zur ‚Religion‘ erstarre, die die zur ‚Lehre‘ strebende ‚Religiosität‘ in Fesseln halte. Dieser Verfall scheint mit unüberwindlichen medialen Problemen zu tun zu haben, denen selbst die „zentralen Menschen“, die „Einsgewordenen“38 oder „Weisen“,39 wie sie in Bubers Text auch genannt werden, nichts entgegenzusetzen haben. Zwar sind sie als einzige immerhin in der Lage, die ‚Lehre‘ in höchster Reinheit eigenständig zu erfassen, doch beim Versuch sie an die „Einfältigen“, an ihre „armen Brüder im Geiste“40 weiterzugeben, – hier klingt bereits die Konstellation von „Weisen“ und „Vielen“ aus Kafkas Erzählung an – müssen sie auf jene „Sprache“ zurückgreifen, die diese „hören können“: auf das „Gleichnis“.41 Ähnlich wie der bereits zitierte, später entstandene Zürauer Zettel Nr. 57 und ähnlich auch wie schon Nietzsche vor ihm,42 weist Buber 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, s. Anm. 21, S. 83. Ebd., S. 84. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 94. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Nietzsche hat in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne die Unterscheidung von Begriff und Metapher eingeebnet, indem er nachzuweisen suchte, dass auch die gemein-

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auf die Gleichnishaftigkeit aller Sprache und damit auf ihre Unzulänglichkeit insbesondere für alles außerhalb der empirisch wahrnehmbaren Welt hin: Auch schon solange die Lehre nur zu den Einsgewordenen spricht, kann sie des Gleichnisses nicht entraten. Denn die nackte Einheit ist stumm. Nur aus den Dingen, Vorgängen und Beziehungen kann sie Sprache gewinnen: es gibt keine Menschensprache jenseits der Dinge, der Vorgänge und der Beziehungen.43

Während aber jene Gleichnisse, durch die der Weise die ‚Lehre‘ selbst empfange, noch von größter Reinheit seien, ruhe schon im Gleichnis des Meisters, mit dem er sich an seine Mitmenschen richte, „keimend aller Riten Rausch und aller Dogmen Wahnsinn.“44 Je weiter sich sodann die ‚Lehre‘ in die irdischen Niederungen senke, desto stärker werde sie nach Buber entstellt: „Und wenn er [der Einsgewordene] stirbt, ist ihnen [den Einfältigen] sein Leben zum Gleichnis geworden. Ein Leben aber, das zum Gleichnis wurde, heißt Mythos.“ [Hervorh. C.D.] Denn während das Gleichnis um die „Einstellung des Absoluten in die Welt der Dinge“ bemüht sei, womit der Versuch der Verkörperung des wahrhaften Lebens auf Erden ebenso gemeint sein kann, wie der Versuch, dieses Absolute in Worten anzudeuten, sei Mythisierung nichts als „die Einstellung der Dinge in die Welt des Absoluten“,45 mithin die Profanisierung des Göttlichen und die Vergötterung des Profanen, wie sie sich etwa in der Vorstellung von Göttern als intensivierte Menschen manifestiert. Wie schon bei Nietzsche, wo Platon selbst Teil der fabelhaften, d. h. angeblich nur in Gleichnissen andeutbaren ‚wahren Welt‘ zu sein behauptet, und wie in Kafkas Text, wo den ‚Vielen‘ empfohlen wird, den Gleichnissen zu folgen, um selbst zu Gleichnissen zu werden und sich so der täglichen Mühen zu entledigen, ist auch bei Buber davon die Rede, dass den ‚Einfältigen‘ das Leben des ‚zentralen Menschen‘ zum Gleichnis wird. Sein Leben als irdische Manifestation einer metaphysischen Ordnung, die Buber ‚Lehre‘ nennt, ist ihnen nicht anders denn im Gleichnis begreiflich. Doch während die Worte des zentralen Menschen gleichsam selbst noch eine geglückte Repräsentation des Absoluten im Empirischen darstellen, äußere sich „der Niederschlag seines

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hin mit Erkenntnis und Wahrheit assoziierten ‚Begriffe‘ letztlich auf ‚Metaphern‘ beruhen, da sie nur durch Fallenlassen der individuellen Unterschiede, durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen zustande kommen. Vgl. Friedrich Nietzsche. „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“. In: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870–1873. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1988, S. 873–890, S. 880. Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, s. Anm. 21, S. 87. Ebd., S. 87. Ebd., S. 87.

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Lebens im Bewusstsein der Zeit“46 nur noch in der entstellten Form von Mythen.47 Bubers zentrales kulturzionistisches und letztlich metaphysisches Anliegen, so wie er es in den zunächst auf Einladung des jüdischen Studentenverbands Bar Kochba gehaltenen Reden über das Judentum entwickelt, besteht nun darin, die jüdische ‚Religiosität‘48 aus dem einengenden Zustand der durch Dogmen, Riten und Normen verkrusteten ‚Religion‘ zu befreien49 und sie wieder an die ‚Lehre‘ anzunähern. Dabei ist die Einführung des Begriffs der ‚Religiosität‘ erkennbar dem Versuch geschuldet, zwischen unerreichbarer ‚Lehre‘ und erstarrter ‚Religion‘ zu vermitteln: Wie in der ‚Lehre‘ sollen alle Gegensätze der Ganzheit in einer Einheit aufgehoben sein, deren Subjekt soll aber nicht länger der „zentrale Mensch“, sondern die Gemeinschaft sein. Erst wenn diese absolute Einheit innerhalb der Gemeinschaft erreicht wäre, werde sich nachträglich auch der Messias einstellen.50 Mit diesem aus seiner Sicht absolut notwendigen, wenn auch völlig aussichtslosen Versuch einer Revitalisierung der ‚Lehre‘ sieht er sich und den Kulturzionismus in einer langen prophetischen Tradition.51 In der ersten seiner Reden über das Judentum mit dem Titel Das Judentum und die Juden macht Buber die Frage nach einer spezifisch jüdischen Religiosität zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen: Gibt es eine in sich wirkliche jüdische Religiosität? Nicht Dogma und Norm, Kult und Regel: gibt es ein heute von Menschen gelebtes eigentümliches Verhältnis zum Unbedingten,

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Ebd., S. 86. Der Daoismus bildet hier allerdings für Buber eine Ausnahme, da dieser nicht schon mit Lao-Tse, sondern erst mit Tschuang-Tse seine Sprache, seine Gleichnisse voll entwickelt habe. Vgl. ebd., S. 97. Jüdische Religiosität heißt auch eine seiner Reden über das Judentum, gehalten zwischen 1912 und 1914, erstveröffentlicht 1916 in Martin Buber. Vom Geist des Judentums. Leipzig: Kurt Wolff, 1916, S. 49–74. Vgl. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 3, S. 64. Vgl. dazu folgende Stelle aus Bubers Rede Der heilige Weg, gehalten im Mai 1918 anlässlich des Todes Gustav Landauers: „sein [des Judentums] Harren auf den Messias ist das Harren auf die wahre Gemeinschaft. […] Darum wird es nie, solange das Reich Gottes nicht erstanden ist, einen Menschen als den gekommenen Messias anerkennen;“ ebd., S. 89. Kafka scheint dies im Übrigen an anderer Stelle vorwegzunehmen, wenn er etwas ironisch festhält: „Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.“ KKAN II, S. 56 f. Vgl. etwa Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 3, S. 32.

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das seinem Wesen nach als jüdisch zu bezeichnen ist und das sich in einer Gemeinschaft der Juden konstituiert?52

Aus kulturzionistischer Sicht darf diese Frage als rhetorische aufgefasst werden, wobei der Nachweis ihrer positiven Beantwortung die kulturzionistische Textproduktion über Buber hinaus entscheidend angetrieben hat. Auch Max Brods Heidentum – Christentum – Judentum ist als Beitrag zu einer Antwort auf die von Buber formulierte Frage zu verstehen. Welche Haltung Kafka selbst zu diesem sozial-radikalistischen, metaphysischen Streben nach Einheit, Reinheit, Wahrheit und Gemeinschaft einnahm, kommt, wie bereits ausführlich dargelegt, in seiner Apologie des Heidentums unmissverständlich zum Ausdruck.53 In Von den Gleichnissen lassen sich zumindest zwei seiner gegenüber Brod vorgebrachten Einwände verfolgen: So macht die Erzählung deutlich, dass die bloße Idee des Strebens nach dem Metaphysischen, wie sie auch im Kulturzionismus als Streben nach ‚wahrer Gemeinschaft‘ vorherrscht, paradoxerweise die Gefahr einer Spaltung der Menschen in zwei Lager birgt: in das Lager jener, die sich berufen fühlen, alle Mitmenschen von diesem metaphysischen Streben zu überzeugen, und in ein Lager mit solchen, die sich diesem Streben verweigern. Blickt man nun mit dieser durch Kafkas Erzählung gewonnenen Erkenntnis zurück auf das in eben dieser Erzählung resonnierende Nachwort Bubers sowie auf die Reden über das Judentum, die mit diesem in enger Verbindung stehen, oder auch auf weitere Texte des kulturzionistischen Diskurses, so lässt 52 53

Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 3, S. 10. Deutlich wird Kafkas ‚heidnische‘ Haltung auch in einem seiner letzten Briefe an Felice Bauer vom 30.09.1917, (vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005 (im Folgenden zit. als KKABr 3), S. 333) den er auszugsweise in sein Tagebuch überträgt (vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1990 (im Folgenden zit. als KKAT), S. 839 f.) und wenige Tage später in einem Brief an Max Brod als „blendende[s] Stück Selbsterkenntnis“ bezeichnet: „Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen, und mich in dieser Richtung möglichst bald dahin zu entwickeln, daß ich durchaus allen wohlgefällig würde, und zwar (hier kommt der Sprung) so wohlgefällig, daß ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich, als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen, ausführen dürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur auf das Menschengericht an und dieses will ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug.“ KKABr 3, S. 342 f.

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sich diese soziale Dissoziierung allerorts auffinden. So spricht Buber hinsichtlich der Entwicklung des Judentums beispielsweise von einem Kampf „der schöpferischen Geister, der Führer und Erlöser, gegen die Richtungslosigkeit der Volkstriebe“ und vom „Auseinanderfallen des Volkes in zwei geistige Klassen, die der Wählenden, der sich Entscheidenden, der zur Unbedingtheit Durchdringenden, der ans Ziel Hingegebenen, und die der Geschehenlassenden, der Entscheidungslosen, der träge in der Bedingtheit Verharrenden, der zweckhaft Selbstsüchtigen und Selbstzufriedenen;“54 und an anderer Stelle lässt er keinen Zweifel daran, wie mit letzteren zu verfahren sei: wie in uns selbst, so müssen wir im Volke entscheiden und den Negativen, den Schauspielern; den Lüsternen, den Würfelspielern, den feigen Sklaven die Gemeinschaft absagen. Denn die Ausstoßung des Negativen ist wie im Einzelnen so auch im Volke der Weg zum Einswerden. Es gilt hier nicht die Sache zwischen Nationalisten und Nichtnationalisten oder dergleichen; das ist alles Oberfläche und unwesentlich; es gilt hier die Sache zwischen Wählenden und Geschehenlassenden, zwischen Zielmenschen und Zweckmenschen, zwischen Schaffenden und Zersetzenden, zwischen Urjuden und Galuthjuden. Urjude aber nenne ich den, der in sich der großen Kräfte des Urjudentums bewußt wird und sich für sie, für ihre Aktivierung, für ihr Werkwerden entscheidet.55

Damit gebart sich Buber als Vertreter der Klasse der geistigen Führer, verglichen mit den missionarischen ‚Weisen‘ Kafkas, deutlich unversöhnlicher gegenüber jenen, die sich nicht einem unbedingten Ziel verschrieben haben. Der zweite Kritikpunkt, der in Kafkas Text deutlich wird, betrifft sodann den problematischen Führungsanspruch, den die Vertreter des ersten Lagers stellen, insofern er nicht demokratisch legitimiert ist. Vielmehr leiten die ‚Weisen‘ diesen von ihrer behaupteten Erfahrung oder gar Teilhabe an einer Sphäre ab, die jenen, die ihren als Weisungen formulierten Gleichnissen folgen sollen, völlig unzugänglich bleibt. Auch diese Beobachtung bestätigt sich beim Blick auf andere Schriften Bubers, wenn er die Klasse der Wählenden als die „zur Unbedingtheit Durchdringenden“ bezeichnet. Damit ist es weniger die bedingungslose Bejahung des Empirischen, die auch eine Bejahung des „Machttrieb[s]“ impliziere und letztlich zur Etablierung einer „Herrenmoral“ führe, zu einer „Gemeinschaft [die] auf Herrschen und Dienen, Über- und Unterordnung gegründet“56 sei, wie Brod mit Blick auf das ‚Heidentum‘ behauptet. Vielmehr ist es die Vorstellung eines anzustrebenden Absoluten, wie sie insbesondere die monotheistischen Haltungen aus54 55 56

Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 3, S. 59. Ebd., S. 25. Max Brod. „Die drei Hauptströmungen der zeitgenössischen Literatur. Erste Rede eines Zyklus, skizziert“. In: Zeit-Echo 2.13 (1916), S. 196–199, S. 197.

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zeichnet, die eine unüberwindlich erscheinende Spaltung des Volkes in Führer und widerstrebende Geführte hervorbringt, das sich am Ende nicht anders denn durch Ausschluss letzterer homogenisieren lässt. 2.3 Literarische Erkundungen Bis hierher wurde deutlich, dass sich auch in unterschiedlichen literarischen Texten Kafkas erstens ein Beharren auf der Unvermittelbarkeit von Idealem und Tatsächlichem ausdrückt und zweitens in unterschiedlichen Varianten vorgeführt wird, wie das Streben nach Verwirklichung eines metaphysischen Gemeinschaftsideals geradezu das Gegenteil dieses Ideals hervorbringt: eine segregierte Gesellschaft bzw. ein Kollektiv, das sich vorranging durch Ausschluss und Homogenitätszwang konstituiert. Vor diesem Hintergrund gilt es nun herauszufinden, inwieweit sich ausgewählte Erzähltexte Kafkas als Ausdruck einer literarischen Suche nach Strategien verstehen lassen, um mit der Aporie einer notwendigen aber unmöglichen Vermittlung von idealer Gemeinschaft und tatsächlicher Gesellschaft umzugehen. In seiner Apologie des ‚Heidentums‘ hat Kafka mit der Formulierung einer theoretisch vollkommenen irdischen Glücksmöglichkeit eine Fluchtlinie für einen möglichen Umgang mit diesen Aporien der Verwirklichung angedeutet.57 Demnach solle man nicht nach dem Göttlichen, sondern nach einem bloßen Ausweg im Irdischen streben, nicht nach dem wahrhaft Seienden, wie es bereits Platon propagierte und zuletzt die sozialen Radikalisten fordern, sondern nach einem „Leben im Schein“ im Sinne des „umgedrehten Platonismus“ Nietzsches. Besonders in der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer scheint diese dezidiert ‚heidnische‘ Fluchtlinie mit den Mitteln der Literatur weiter erkundet und erprobt zu werden.58 Unter diesen Mitteln interessiert im Rahmen dieser Arbeit besonders jenes der Umschrift, das – wie bereits anhand Von den Gleichnissen vorgeführt – erlaubt, Texte und Diskurse aus unterschiedlichen Zeiten und Denktraditionen in einen ‚Polylog‘ zu bringen, sie zu kombinieren und gewisse Wechselwirkungen zwischen ihnen hervorzurufen. Dabei steht in Beim Bau der chinesischen Mauer die „Schwäche der Vorstellungsoder Glaubenskraft“59 mit entsprechenden Resonanzen bei Brod, Nietzsche und Buber im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Schwäche, die der chinesische Erzähler seinem Volk zuschreibt, und die er – das macht sie für die57 58 59

Vgl. KKABr 4, S. 285. Auch die Erzählung Eine Gemeinschaft von Schurken scheint diese Fluchtlinie zu erkunden. KKAN I, S. 355.

Literarische Erkundungen

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se Untersuchung so interessant – zu den stärksten Einigungsmitteln seines Volkes zählt, hängt eng mit der Metaphorizität aller Sprache zusammen.60 Angesichts dieser Schwäche wird deutlich, dass die Konzeptualisierung der Verwirklichung von Gemeinschaft als Vermittlungsproblem zwischen idealer und tatsächlicher Sphäre an der eigentlichen Problematik vorbeigeht, denn aufgrund dieser Schwäche bleiben dem Menschen beide Sphären gleichermaßen unzugänglich. Einzig verfügbar und damit maßgeblich ist das Leben im Schein, im Imaginären, wobei dieses Imaginäre ein eminent politisches Betätigungsfeld darstellt, das sich auch in literarischen Texten erproben lässt. Das zentrale Merkmal, das es erlaubt, die Darstellung der Chinesen in Kafkas Erzählfragment als Darstellung eines ‚heidnischen‘ Volkes zu charakterisieren, ist jene „Schwäche der […] Glaubenskraft“,61 die der chinesische Erzähler den Menschen in seinem Land attestiert. Eben diese Schwäche kennzeichnet schon für Brod das ‚Heidentum‘, wenn man sich in diesem – so seine Unterstellung – die Götter nicht anders denn als vergrößerte Menschen vorstellen könne.62 Verantwortlich hierfür scheint zunächst ein ausschließlich ‚vergleichender Gebrauch‘ der Sprache zu sein bzw. die Unfähigkeit, Sprache für alles außerhalb der sinnlich erfahrbaren Welt bloß andeutend zu verwenden.63 Dabei dürften – analog zu jenen griechischen ‚Heiden‘, deren Glaubenskraft Kafka gegen Brod verteidigt – auch die Chinesen in Beim Bau der chinesischen Mauer durchaus einen „gewissen Dualismus sehr gut“64 kennen. Jedenfalls trägt die Führerschaft für den Erzähler, der sich immerhin selbst als Vertreter dieses Volkes präsentiert, zuweilen geradezu metaphysische Züge, wenn er vermutet, dass sie „wohl seit jeher“65 bestehe bzw. wenn er betont, 60

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Geht man der sogenannten Sapir-Whorf-Hypothese folgend davon aus, dass die Sprache das Denken determiniere, so ist in der Metaphorizität der Sprache, so wie Nietzsche sie herausgestellt hat, zumindest eine der Ursachen dieser ‚Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft‘ zu vermuten. Allerdings lässt sich auch umgekehrt argumentieren, dass die Sprache mit ihrer Metaphorizität ein Werkzeug sei, das sich die Menschen geschaffen haben, um mit dieser ihrer Schwäche, die eine anthropologische Konstante darzustellen scheint, leben zu können. Demnach würde sich die Metaphorizität der Sprache eher als Symptom denn als Voraussetzung einer ‚Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft‘ darstellen. KKAN I, S. 355. Vgl. Brod, Heidentum – Christentum – Judentum, s. Anm. 15, S. 261 f. Vgl. Kafkas Zürauer Zettel Nr. 57 KKAN II, S. 126 bzw. Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, s. Anm. 21, S. 87. KKABr 4, S. 285. KKAN I, S. 348. Brod bemerkt in Heidentum - Christentum – Judentum, dass die unsterblichen Götter der Griechen geboren werden, und daher nicht ewig sind, denn Ewigkeit habe

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dass man sich diese nicht anthropomorphisiert, etwa als Mandarine, vorzustellen habe. Dass er dies selbst zuvor wiederholt getan hat, wenn er von der „Stube der Führerschaft“66 spricht oder von den „Pläne zeichnenden Händen der Führerschaft“, auf die „der Abglanz der göttlichen Welten“ falle, muss nicht notwendig als Widerspruch respektive als Defizit der Glaubenskraft verstanden werden. Vielmehr lassen sich diese mythisierenden Vorstellungen, dieses Einstellen der Dinge in die Welt des Absoluten,67 auch als Mittel begreifen, sich das ‚entscheidend Göttliche‘, als das die überzeitliche, allmächtige und allwissende Führerschaft in der Darstellung des Erzählers erscheint, ‚vom irdischen Leib zu halten‘. Dem Absoluten werden durch diesen ‚vergleichenden Gebrauch der Sprache‘ nur Surrogate dieses Absoluten vorgelagert, die den Blick auf die unerträgliche Allmacht verstellen. Allerdings geht die Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer über eine bloße Illustration der später im Brief an Brod auseinandergesetzten Umdeutung der altgriechischen Götterwelt als Resultat einer (vermeintlich) schwachen ‚Glaubenskraft‘ der ‚Heiden‘ zu einem „nationale[n] Erziehungsmittel“, das den Blick auf das ‚entscheidend Göttliche‘ festhalte, hinaus. Jene Schwäche, die der Erzähler zugleich für eines der wichtigsten Einigungsmittel seines Volkes hält, wird nämlich nicht alleine als ‚Schwäche der Glaubenskraft‘ auf eine inadäquate mythisierende Vorstellung des Transzendenten bezogen, sondern als ‚Schwäche der Vorstellungskraft‘68 gleichermaßen auf grundsätzlich sinnlich Erfahrbares, das aber der Wahrnehmung im konkreten Falle entzogen ist. So heißt es an einer Stelle: […] Peking selbst ist den Leuten im Dorfe viel fremder als das jenseitige Leben. Sollte es wirklich ein Dorf geben, wo Haus an Haus steht, bedeckend Felder, weiter als der Blick von unserem Hügel reicht und zwischen diesen Häusern stünden bei Tag und bei Nacht Menschen Kopf an Kopf? Leichter als solche Stadt sich vorstellen ist es zu glauben, Peking und sein Kaiser wären eines, etwa eine Wolke, ruhig unter der Sonne sich wandelnd im Laufe der Zeiten.69

Die Schwäche der Vorstellungskraft bezeichnet also augenscheinlich den Mangel jenes Vermögens, das für eine größtmögliche Entsprechung von mentaler Repräsentation des Tatsächlichen mit diesem Tatsächlichen sorgen soll.

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weder Anfang noch Ende. Vgl. Brod, Heidentum – Christentum – Judentum, s. Anm. 15, S. 262. KKAN I, S. 345. Vgl. Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, s. Anm. 21, S. 87. Vgl. KKAN I, S. 355. KKAN I, S. 354.

Literarische Erkundungen

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Während die große Schwierigkeit der Vermittlung von idealer und tatsächlicher Sphäre in zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskursen überwiegend im unerfahrbaren, selbst sprachlich nicht fassbaren Wesen des Metaphysischen verortet wird, macht Kafkas Erzählung auf ein weiteres Problem aufmerksam, das aus ‚heidnischer‘ Sicht viel dringlicher erscheint: dass nämlich die empirische Wirklichkeit, das Konkrete, das Singuläre in seiner unendlichen Komplexität ebenso unzugänglich bleibt, wie das Transzendente, ja es erscheint in der Darstellung des homodiegetischen Erzählers sogar noch ferner als die vielleicht durch Mythisierung bedingt vertrautere Vorstellung eines jenseitigen Lebens. Dies hat auch ganz entscheidende Implikationen für den Ausweg aus der Sackgasse einer unmöglichen Vermittlung des transzendenten Idealen mit dem immanenten Realen, den Buber mit der Auffassung des Absoluten als Immanenz andeutet – eine Auffassung, die er dem „orientalischen Denken“ zugeordnet, das er offenbar auch im Kulturzionismus fortwirken sieht bzw. auf die man sich in diesem zurückzubesinnen habe. So wird vor dem Hintergrund der zitierten Passage aus Kafkas Erzählung deutlich, dass mit solch einem „orientalischen“ Verständnis des Absoluten als Immanenz noch nichts gewonnen ist, da das unendlich komplexe Tatsächliche den Menschen ebenso unzugänglich bleibt, wie im westlichen Denken das Transzendente. Besonders virulent wird diese Unverfügbarkeit des Tatsächlichen in Beim Bau der chinesischen Mauer aufgrund der enormen Ausmaße Chinas, das dem Erzähler geradezu unendlich groß erscheint. So ist etwa die tatsächliche Mauer, die dieses ungeheure Gebiet umgrenzen soll, das „kaum der Himmel umspannt“,70 wie es heißt, von solcher Ausdehnung, dass kein Einzelner sie je in Gänze zu überblicken vermag. Dieser Umstand befördert eine rege Legendenbildung rund um den Bau, wobei sich diese Legenden zwar anzweifeln lassen, aber von niemandem endgültig ausgeräumt werden können. Die großen Distanzen bewirken, dass sich Nachrichten nur langsam und in entstellter Form verbreiten, doch dies lässt die kollektive Erinnerung an bestimmte Ereignisse nicht etwa verblassen. Vielmehr scheint der Informationsverlust durch eine rege Einbildungskraft wettgemacht zu werden: „je mehr Zeit schon vergangen ist, desto schrecklicher leuchten alle Farben“.71 Durch all die daraus resultierenden zirkulierenden Deutungen der für den Einzelnen nicht aus eigener Anschauung erfahrbaren Wirklichkeit steigert sich die Komplexität der verfügbaren Information über 70 71

KKAN I, S. 350. KKAN I, S. 353.

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diese Wirklichkeit zu einem Rauschen, das sich schließlich jeder Deutung entzieht: „Man hörte zwar viel, konnte aber dem vielen nichts entnehmen.“72 Entsprechend verlangt die Vielzahl an singulären Erscheinungen, die zudem in unerreichbarer Ferne existieren, und dem Einzelnen mit seiner schwachen oder jedenfalls begrenzten Vorstellungskraft nur in Form einer Polyphonie an Gerüchten zugetragen werden, nach einer Reduktion von Komplexität. Diese Komplexitätsreduktion leistet – das ist entscheidend und wird in Kafkas Text besonders anschaulich – das Prinzip der Metapher, d. h. die Gleichsetzung des Verschiedenen: Einfacher als sich eine Stadt wie Peking mit dem in ihr residierenden Kaiser in all ihrer Komplexität vorzustellen, ohne je dort gewesen zu sein, d. h. nur auf Basis der unzähligen Legenden, die sich um sie ranken, ist es, Peking und seinen Kaiser in Eins fallen zu lassen und sich diese Einheit etwa als Wolke vorzustellen. Auch an anderer Stelle drängen sich in der Vorstellung des chinesischen Erzählers angesichts der gigantischen Ausmaße des Landes die ihrerseits schon unvorstellbar große Hauptstadt mit ihrer unüberschaubaren Zahl an Häusern und den noch zahlreicheren Einwohnern zu einem „Punkt“ und das kaiserliche Schloss darin zu einem „Pünktchen“ zusammen. Mit Blick auf die Institution des Kaisertums, das gewissermaßen nochmals im Zentrum dieses Pünktchens zu verorten wäre, schlägt sodann aber die überbordende Einbildungskraft durch, wenn der „Kaiser als solcher allerdings wiederum groß durch alle Stockwerke der Welt“73 vorgestellt wird. Mit diesen Einsichten in die begrenzten Fähigkeiten des Menschen, seine komplexe Umgebung in ihrer Singularität allererst wahrzunehmen und sie sich sodann in all ihrer Komplexität wirklichkeitsgetreu zu vergegenwärtigen sowie in die entsprechend notwendigen Mechanismen und Strategien, diese Komplexität zu reduzieren, erweist sich Kafkas Erzähler als Metaphorologe74 avant la lettre, wobei entscheidende Impulse von Nietzsches erkenntnistheoretischer Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ausgegangen sein dürften. Jedenfalls hat Susanne Lüdemann in ihrer Studie Metaphern der Gesellschaft darauf aufmerksam gemacht, dass Nietzsche hier bereits zentrale Punkte einer

72 73 74

KKAN I, S. 350. KKAN I, S. 350. Für einen kurzen Abriss des durch Hans Blumenberg begründeten Projekts der Metaphorologie vgl. Ralf Konersmann. „Vorwort: Figuratives Wissen“. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt: WBG, 2007, S. 7–21, S. 11 f.

Literarische Erkundungen

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Metaphorologie vorweggenommen hat,75 wobei viele dieser Punkte auch in Kafkas Text präsent sind. So ebnet Nietzsche die ontologische Unterscheidung von Begriff und Metapher ein,76 indem er vorführt, dass Begriffsbildung bzw. Abstraktion, welche bekanntlich die zentrale Voraussetzung für Platons Ideenlehre darstellt, immer auf „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“77 beruht, also auf jenem Prinzip, das auch der Metapher zugrunde liegt: So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das „Blatt“ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre.78

Nietzsche hält hier eine illegitime Umkehrung von quasi Gegebenem und Konstruktion mit entsprechenden Zuordnungen von Originalität und Nachahmung fest, wie sie durch Platons Ideenlehre wirkmächtig wurde: Während die Abstraktion nur durch Übergehen des Singulären, durch Vergessen des Unterscheidenden gebildet wird, werden die je einzigartigen „Anschauungsmetaphern“,79 aus denen sie sich konstituiert, als defizitäre Nachahmungen der vermeintlich reineren und ursprünglicheren Idee dargestellt.80 Durch Abs75 76

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Vgl. Susanne Lüdemann. Metaphern der Gesellschaft. München: Wilhelm Fink Verlag, 2004, S. 31 ff. Siehe dazu auch die Erläuterung in Fußnote 42. Die Unterscheidung von Begriff und Metapher verliert damit bei Nietzsche ihren ontologischen Wert. Als heuristische Differenzierung ist sie dennoch von großem Nutzen, wie Lüdemann ausführt. Denn sie ist ein Indikator dafür, was Menschen, die sich dieser Unterscheidung bedienen, für „buchstäblich wahr“ halten und was nur als „übertragene Rede“ aufgefasst wird. Abhängig von institutionellen Voraussetzungen und diskursiven Traditionen können diese Zuordnungen diachron variieren. Vgl. ebd., S. 36 f. Unsicherheit „über den buchstäblichen oder metaphorischen Status gesellschaftlich bedeutsamer Zeichen“ deuten demnach auf institutionelle Umbrüche oder diskursive Veränderungen hin. Vgl. ebd., S. 38. Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, s. Anm. 42, S. 880. Ebd., S. 880. Ebd., S. 883. Nietzsche versteht unter „Anschauungsmetaphern“ so etwas wie Sinneswahrnehmungen. Schon die Wahrnehmung unterliege dem Prinzip der Metapher, da sie Singularitäten mit ihren unendlichen Eigenschaften notwendig unvollkommen erfasse. Ebd., S. 879. Dennoch seien diese Anschauungsmetaphern ihrerseits „individuell und ohne ihres Gleichen“, weshalb sie „allem Rubriciren immer zu entfliehen“ wissen. Ebd., S. 882. Vgl. Platon, Timaios, 28. Eine ähnliche Konstellation treibt auch die Narration im Schloss an: K. nimmt die Konturen des Schlosses bereits zu Beginn des Romans als „unsicher, unregelmäßig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet“, folg-

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trahieren versuche man das Singuläre ein- und unterzuordnen, setze das Abstraktum, das Allgemeinere als das Ideal und gebe so den Imperativ zur Homogenität, zur Nivellierung aller Besonderheiten aus. Dabei führt Nietzsche provokanterweise die Fähigkeit zur Abstraktion, zur Begriffsbildung, also ausgerechnet jene Fähigkeit, die man im abendländischen Denken für das Spezifikum des Menschen hält, welches ihn über das Tier erhebt, auf Fehlleistungen zurück: auf „beliebiges Fallenlassen […] individuelle[r] Verschiedenheiten“ bzw. auf „ein Vergessen des Unterscheidenden“ – mit anderen Worten: auf eine Schwäche der Vorstellungskraft, die auch in Beim Bau der chinesischen Mauer einendes Merkmal und wichtiges Einigungsmittel zugleich darstellt. Allerdings ist das, was der chinesische Erzähler gewissermaßen als spezifischen Charakterzug seines Volkes darstellt – sei es aufgrund der Größe Chinas, die diesen Zug besonders hervortreten lässt, sei es um den Status echten Menschentums aus Chauvinismus81 nur dem eigenen Volk vorzubehalten –, nach Nietzsche eine anthropologische Konstante, wenn er von einem „Trieb zur Metapherbildung“ spricht, jenem „Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde.“82 Dies steht durchaus im Einklang mit dem heutigen state of the art der Metaphorologie: Aufgrund der Konstitution des Menschen wird das Übergehen des Einzigartigen als unvermeidlich angesehen. Abstraktion lässt sich als notwenige Reaktion begreifen, um angesichts begrenzter kognitiver Ressourcen mit einer Überfülle an Information umzugehen. Das „Dasein im Provisorium“,83 die Unvollkommenheit des Menschen, der beschränkte, nie unmittelbare sinnliche Zugriff auf die Welt und die begrenzten Ressourcen, um sich

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lich als schlechte Nachahmung wahr, die ein stets unerreichbares Ideal suggeriert. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Das Schloß. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982 (im Folgenden zit. als KKAS), S. 18 Dass auch Chauvinismus im Spiel sein könnte, legt eine weitere Erzählung aus dem sogenannten China-Komplex nahe. So heißt es in Ein altes Blatt über die Nomaden aus dem Norden: „Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen.“ KKAN I, S. 359. Damit wird – ließt man diesen Text vor dem Hintergrund von Beim Bau der chinesischen Mauer, wo die Schwäche der Vorstellungskraft zum Kriterium für Zugehörigkeit zum chinesischen Volk erklärt wird, die aber mit Nietzsche auch als allgemein menschliche Fähigkeit zur Begriffsbildung verstanden werden kann – nicht nur ihre Zugehörigkeit zum chinesischen Volk in Abrede gestellt, sondern gar jene zur gesamten Menschengemeinschaft in Zweifel gezogen. Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, s. Anm. 42, S. 887. Konersmann, „Vorwort: Figuratives Wissen“, s. Anm. 74, S. 12.

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diese zu vergegenwärtigen, motivieren die Metaphernbildung. Die Metapher hat in einer überkomplexen Wirklichkeit der Singularitäten, die die Wahrnehmung und die sie vergegenwärtigende Vorstellungskraft übersteigt, eine ordnende, orientierungsgebende Funktion, da sie Komplexität reduziert und strukturiert. Entsprechend können – und dies ist ein zentraler Gegenstandsbereich von Metaphorologie – diese Metaphern umgekehrt Aufschluss über dieses „Dasein im Provisorium“ geben. In diesem Sinne also lassen sich Nietzsche, aber auch der chinesische Erzähler Kafkas als frühe Metaphorologen betrachten: Ersterer etwa wenn er den Intellekt, den er mit dem erwähnten Fundamentaltrieb des Menschen zur Metaphernbildung in Zusammenhang bringt, als Hilfsmittel betrachtet, das „den unglücklichsten, delikatesten, vergänglichsten Wesen beigegeben ist, um sie eine Minute im Dasein festzuhalten […]“,84 wobei er zugleich „den Menschen als ein gewaltiges Baugenie [bewundert], dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt […]“.85 Und zweiterer ebenso, wenn er offenbar von der Verwendung von Metaphern für komplexe Gegebenheiten auf eine ‚Schwäche der Vorstellungsoder Glaubenskraft‘ schließt. In beiden Fällen wird deutlich, dass die Art und Weise, wie man sich in der Welt orientiert, unhintergehbar an Figurationen gebunden ist. Wenn nun die Schwäche der Vorstellungskraft vom Erzähler in Beim Bau der chinesischen Mauer zu einem „der wichtigsten Einigungsmittel“ erklärt wird, so drückt sich darin die Einsicht aus, dass jene Scheinwelt, die als Produkt dieser schwachen Vorstellungskraft bzw. der diese Schwäche ausgleichenden Einbildungskraft die je eigene Realität jedes Einzelnen bildet, maßgeblich für den Prozess der Kollektivierung ist. Dabei wird durch die übersteigerten „chinesischen“ Verhältnisse, in denen das Tatsächliche nur mittelbar in der entstellten Form von Legenden, veralteten Nachrichten und metaphorischen Vereinfachungen, als Interpretation von Interpretationen verfügbar ist, der Scheincharakter der auf Basis dieser unvollständigen und verzerrten Information imaginierten Welt besonders deutlich. Diese Scheinhaftigkeit bedeutet allerdings keineswegs, dass diese vorgestellte Welt deshalb wirkungslos wäre, sie hält jedoch gemeinsam mit der Pluralität an kursierenden Weltsichten bewusst, dass die Realität nicht notwendig so imaginiert werden muss, wie sie im Einzelnen imaginiert wird, sondern auch ganz anders ersonnen werden könnte.

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Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, s. Anm. 42, S. 876. Ebd., S. 882.

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Damit lässt sich in Kafkas Chinaerzählung ein – etwa gegenüber dem zeitgenössisch dominanten sozial-radikalistischen Gemeinschaftsdiskurs – deutlich anderes Verständnis der Realisierung von Gemeinschaft festhalten. Gemeinschaftsbildung präsentiert sich dem chinesischen Erzähler weniger als Frage der Vermittlung von Idealität und Realität. Vielmehr sind es vorrangig diese mehr oder weniger konventionalisierten imaginierten Weltsichten, die jede Kollektivierung maßgeblich prägen und die daher das zentrale Betätigungsfeld von Politik darstellen. Diese durch Politik geformten gemeinsamen Züge verschiedener Weltsichten können als das politische Imaginäre angesprochen werden, und die entsprechenden Gemeinschaften mit Benedict Anderson als „imagined communities“.86 Damit muss Kafka nicht notwendigerweise die Vorwegnahme dieser Theorien unterstellt werden. Vielmehr lässt sich zeigen, dass der Text zum Zeitpunkt der Niederschrift auf dem aktuellen Stand der soziologischen Forschung ist: Denn nicht erst Anderson, sondern bereits Max Weber hebt in seiner 1921 und 1922 posthum veröffentlichten Schrift Wirtschaft und Gesellschaft besonders mit Blick auf politische Gemeinschaftsbildungen die Bedeutung eines „ethnischen Gemeinsamkeitsglauben[s]“, eines „subjektiven Glauben[s] an eine Abstammungsgemeinsamkeit“,87 hervor, und zwar unabhängig davon, ob dieser Glaube auf tatsächlichen blutsverwandtschaftlichen Verhältnissen beruhe oder nicht. Nach Weber zeige „der gesamte Verlauf der Geschichte“, wie „außerordentlich leicht speziell politisches Gemeinschaftshandeln die Vorstellung der ‚Blutsgemeinschaft‘“88 erzeuge.89 Das werde auch an 86 87 88 89

Benedict Anderson. Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York: Verso, 2006. Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 5. rev. Aufl. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1980, S. 237. Ebd., S. 240. Max Weber hat den Begriff des Gemeinschaftshandelns, der eng mit dem der Vergemeinschaftung zusammenhängt, innerhalb seines Werks nicht einheitlich gebraucht. Mit dem Aufsatz Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie von 1913 legt er eine erste Fassung seiner soziologischen Grundbegriffe vor. Hier bezeichnet er Klaus Lichtblau zufolge Gemeinschaftshandeln sehr generell als „menschliches Handeln, das subjektiv sinnhaft auf das Verhalten anderer Menschen bezogen ist“ (Klaus Lichtblau. „‚Vergemeinschaftung‘ und ‚Vergesellschaftung‘ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs“. In: Zeitschrift f. Soziologie 29.6 (2000), S. 423–443, S. 429), in Abgrenzung zum Massenverhalten, in dem die Menschen ihr Handeln nicht sinnvoll aufeinander bezögen. Entsprechend bezeichnet Gesellschaftshandeln eine spezifische Form von Gemeinschaftshandeln, insofern hier die sinnhafte wechselseitige Orientierung des Handelns zweier oder mehrerer Menschen auf der Präexistenz einer gesatzten rationalen Ordnung beruht. In der in Wirtschaft und Gesellschaft vorgelegten Neufassung seiner soziologischen Grundbe-

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Begriffen wie „Volk“ oder „Nation“ ersichtlich, die mit der meist vagen Vorstellung einhergehen, „daß dem als ‚gemeinsam‘ Empfundenen eine Abstammungsgemeinschaft zugrunde liegen müsse“,90 obwohl diese Begriffe aus soziologischer Perspektive, das wird implizit deutlich, klar nicht-essentialistisch zu fassen seien, da sich Menschen, die sich jeweils als Nationalitäts- oder Volksgenossen begreifen, abstammungsmäßig häufig ferner stehen als solche, die sich verfeindeten Nationen zurechnen würden. „[A]uch in ihren noch so künstlichen Gliederungen“91 würden vornehmlich politische Gemeinschaften in den häufigsten Fällen „ethnischen Gemeinsamkeitsglauben“ wecken, wobei die „‚künstliche‘ Art“ der Entstehung dieses Glaubens ganz dem „Schema der Umdeutung von rationalen Vergesellschaftungen in persönliche Gemeinschaftsbeziehungen“ entspreche: „[F]ast jede, auch eine rein rational geschaffene, Vergesellschaftung [attrahiert] ein übergreifendes Gemeinschaftsbewußtsein in der Form einer persönlichen Verbrüderung auf der Basis ‚ethnischen‘ Gemeinsamkeitsglaubens.“92 Diese Beobachtung trifft auch auf die Verhältnisse in Kafkas China-Erzählung zu, die zeitweilig als in hohem Maße rational geprägt und vergesellschaftet erscheinen. So berichtet der Erzähler, dass zumindest in den Anfangszeiten des Baus sich „viele möglichst auf einen Zweck hin zu sammeln such-

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griffe von 1920 hat Max Weber seine Begrifflichkeit teilweise davon abweichend definiert. Der Begriff der Vergemeinschaftung steht nunmehr jenem der Vergesellschaftung dichotomisch und auf gleicher Ebene gegenüber, nämlich auf jener der sozialen Beziehungen, wobei der Begriff der sozialen Beziehung voraussetzt, dass soziales Handeln (vormals Gemeinschaftshandeln) wechselseitig aufeinander bezogen ist. Dabei bezeichnet Vergemeinschaftung nunmehr jene Formen sozialer Beziehungen, die auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruhen, während Vergesellschaftung soziale Beziehungen bezeichnet, in denen die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessensausgleich oder auf einer ebenso motivierten Interessenverbindung basiert, die auf eine rationale Vereinbarung zurückgehen kann, aber nicht muss. Vgl. hierzu ausführlich ebd. Der Abschnitt über den ethnischen Gemeinsamkeitsglauben scheint am Umschlagspunkt zwischen alter und neuer Terminologie zu stehen. Lichtblau plädiert dafür, dass hier die spätere Terminologie der Sache nach bereits vorweggenommen wird, obwohl Weber noch die ursprünglichen Begrifflichkeiten verwendet. Vgl. ebd., S. 436. Weber, s. Anm. 87, S. 242. Ebd., S. 237. Ebd., S. 237. Weber knüpft diesen Zusammenhang streng genommen an „Bedingungen geringer Verbreitung rational versachlichten Gesellschaftshandelns“, allerdings wird aufgrund der uneinheitlichen Verwendung seiner Terminologie nicht ganz klar, wie man sich eine rein rational geschaffene Vergesellschaftung unter Bedingungen geringer Verbreitung rational versachlichten Gesellschaftshandelns genau vorzustellen habe.

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ten“,93 was augenscheinlich zu einer ausgeprägten funktionalen Differenzierung, zu einer Hierarchisierung und letztlich zu einer sozialen Dissoziierung der Menschen geführt hat, wie im vorherigen Kapitel bereits ausführlich dargelegt wurde. Unter diesen Bedingungen kommen die Menschen vorrangig als Mittel zum Zweck in Betracht, was sich noch im Sprachgebrauch des Erzählers niederschlägt.94 Mit der aus Sicht des Erzählers planmäßig agierenden Führerschaft, die eine von ihr festgelegte Ordnung oktroyiert bzw. von der chinesischen Bevölkerung selbst als ordnendes Prinzip wahrgenommen wird, an dem man sein Handeln ausrichtet, sind weitere Kriterien erfüllt, die es nahelegen, von Vergesellschaftung zu sprechen.95 Und schließlich zeigt sich der ‚künstliche‘ Charakter der Vorstellung einer chinesischen Bevölkerung darin, dass der Staat offenbar ganz im Sinne eines modernen Territorialstaats begriffen und das Volk entsprechend als die dieses Territorium besiedelnde Population gedacht wird. Doch obwohl – oder gerade weil – die Vergesellschaftung in diesem China in hohem Maße rational geprägt ist und weniger den Charakter einer urwüchsigen Gemeinschaft als vielmehr den eines künstlich geschaffenen politischen Konstrukts trägt, scheint es ein grundlegendes Bedürfnis nach „persönliche[r] Verbrüderung“, nach einem „übergreifende[n] Gemeinschaftsbewußtsein“ zu geben, innerhalb dessen man sich auf eine gemeinsame Abstammung, auf Blutsverwandtschaft und Einheit beruft, die keineswegs den Tatsachen entsprechen müssen. Wie um diesen Gegensatz von rationaler Vergesellschaftung und subjektivem Gemeinschaftsbewusstsein96 zu betonen, wird just im Anschluss an die Schilderung einer in hohem Maße arbeitsteiligen, hierarchisch gegliederten, chinesischen Gesellschaft, die massive Eingriffe in die Natur vornimmt,97 eine biologisch-natürliche Zusammengehörigkeit innerhalb der Bevölkerung suggeriert und beschworen. 93 94 95

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KKAN I, S. 344. Vgl. etwa KKAN I, S. 355, wo er den Ausdruck „Menschenmaterial“ verwendet. In der frühen Fassung der Terminologie würde man wohl eher von „Einverständnisvergemeinschaftung“ sprechen, wobei die Übergänge als fließend gedacht sind und Einverständnis bei Weber ein sehr weit gefasster Begriff ist und auch im Falle einer oktroyierten Ordnung angewendet wird. Wie Lichtblau ausführt, unterscheidet Weber in der späteren Fassung seiner Terminologie nicht mehr zwischen gesatzter Ordnung und stillschweigender Übereinkunft bzw. objektiv gegebener und subjektiv vorausgesetzter Ordnung, weil sie in beiden Fällen die gleichen Effekte zeitige. Vgl. Lichtblau, s. Anm. 89, S. 430. In der späteren Terminologie Webers entspricht dies dem Gegensatz von subjektiver Vergemeinschaftung und rationaler Vergesellschaftung. So werden etwa ganze Wälder zum Mauergerüstbau niedergelegt und ganze Berge zu Mauersteinen zerhämmert. Vgl. KKAN I, S. 341.

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Jeder Landsmann war ein Bruder für den man eine Schutzmauer baute und der mit allem was er hatte und war sein Leben lang dafür dankte, Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.98

Durch metaphorische Verdichtung wird zunächst jeder Landsmann als Bruder identifiziert. Die damit implizierte Blutsverwandtschaft leitet sodann über zur Vorstellung eines großen Kreislaufs des Blutes, der gewissermaßen in Opposition zum „kärglichen“ Blutkreislauf des einzelnen Individuums tritt, insofern er diesen transzendiert. Dabei wird offenbar zudem auf die enorme Opferbereitschaft abgehoben, die der Mauerbau erfordert. Durch sie gliedert man sich – so das Versprechen – dem gigantischen Volks- oder Gemeinschaftskörper ein, den die Vorstellung einer gigantischen Blutzirkulation voraussetzt, die am Ende mit dem zu unendlicher Größe angewachsenen China in Eins fällt.99 Dabei mag die rationale Vergesellschaftung des chinesischen Volks zwar verantwortlich für die konkrete naturalisierende Ausprägung dieses ‚Gemeinschaftsbewusstseins‘ als einer Gemeinschaft des Blutes sein, doch der Grund für den Wunsch nach einer Form der Repräsentation des Kollektivs in seiner Totalität scheint grundsätzlicher zu sein und mit der Schwäche der Vorstellungskraft zu tun zu haben. Was für das Territorium und für die Mauer, die dieses Territorium markiert, gilt – das wird im obigen Zitat besonders deutlich –, trifft nämlich auch auf die Bevölkerung zu, die als solche erst durch die Demarkation eines Territoriums definiert und durch die Körpermetapher

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KKAN I, S. 342. Dass auch der große Körper, der evoziert wird, als Kreislauf des Blutes zu verstehen ist, darauf deutet das Wort „wiederkehrend“ hin. Allerdings erzeugt das Verb „rollend“ in Kombination mit dem Hinweis „nicht mehr eigesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers“ das schauerliche Bild eines Meeres aus Blut, das ganz China bedeckt und auf dem Wellen hin und her rollen. Die Körpermetapher mit ihrer langen Tradition – vgl. etwa schon Platons Politeia V, 11,463 c. – ruft unzählige Referenztexte auf. Ausführlicher zur Körpermetapher vgl. u. a. Albrecht Koschorke u. a. Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. 1999. Frankfurt/Main: Fischer, 2007; Susanne Lüdemann. „Körper, Organismus“. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt: WBG, 2007, S. 168–182; Ethel Matala de Mazza. Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag, 1999; und Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, s. Anm. 75, S. 79 f.

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hypostasiert und naturalisiert wird:100 Sie ist als Ganze für den Einzelnen schon aufgrund ihrer Größe und Komplexität nicht erfahrbar. Die kontingente und anomische Struktur des Zusammenlebens innerhalb einer Bevölkerung kommt gar nicht anders als metaphorisch und damit als politisch Imaginäres in den Blick: „[D]ie Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft [ist] nur als imaginäre Einheit, als semantische Imagination zu haben“.101 Metaphern wie jene eines Kollektivs als Summe an Individuen innerhalb eines Territoriums, das wie ein Container gedacht wird, oder gar wie jene, die Gemeinschaft als einen einzigen großen Volkskörper darstellt, erlauben überhaupt erst, sich unüberschaubar große Gruppen als etwas Einheitliches, Abgeschlossenes, Ganzes vorzustellen. Nur indem sie das Sagbare einschränken, ermöglichen sie allererst über ein Kollektiv dieser Größe zu sprechen.102 Innerhalb eines Diskurses der Politik, der stets auf die Erzeugung eines politischen Körpers zielt, scheint der Metapherngebrauch daher unvermeidlich zu sein. Mit der Wahl einer Metapher sind aber auch gewisse Vorentscheidungen getroffen – bestimmte Merkmale vorgegeben und andere ausgeschlossen. Diese komplexitätsreduzierenden und ordnungsgebenden Vorentscheidungen, die der unumgängliche Einsatz von Metaphern mit sich bringt, erzeugen aber notwendigerweise auch blinde Flecken, die vor allem dann nicht mehr in den Blick kommen, wenn die Metaphern selbst nicht mehr als Metaphern wahrgenommen werden.103 Die metapherninduzierten Ordnungsstrukturen versuchen sich permanent zu stabilisieren, indem sie die Kontingenz ihrer Auslassungen verdecken104 100 Susanne Lüdemann hat darauf hingewiesen, dass dieses Containerdenken, das hier zugrunde liegt, u. a. auch durch jene politische Denktradition zu erklären ist, innerhalb derer im 19. Jahrhundert eine begriffliche und juridische Differenzierung von Staat und Gesellschaft vollzogen wurde: „Da der Staat als territoriales Prinzip gedacht wird, muß ‚die Gesellschaft‘ in diesem Rahmen fast zwangsläufig als die das Territorium eines Staates besiedelnde Population, als das ‚Staatsvolk‘ unter dem Aspekt seiner bürgerlichen Freiheit gedacht werden.“ Siehe Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, s. Anm. 75, S. 18. 101 Peter Fuchs. Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1992, S. 13. Vgl. auch Hans Blumenberg. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998, S. 25. 102 Vgl. Konersmann, „Vorwort: Figuratives Wissen“, s. Anm. 74, S. 16. 103 Vgl. dazu ausführlicher Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, s. Anm. 75, S. 43 ff. 104 Nietzsche empört sich über die Diskrepanz zwischen dem ordnenden Anspruch und der Irrationalität dieser Willkür, wenn er schreibt: „Wir teilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Kanon der Gewißheit! Wir reden von einer ‚Schlange‘: die Bezeichnung trifft nichts als das Sichwinden, könnte also auch dem Wurme zukommen. Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugun-

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und die Metaphern, die sie hervorbringen, durch Institutionalisierung verblassen lassen, wobei die Körpermetapher wohl das klassische Beispiel schlechthin einer institutionalisierten verblassten Metapher darstellt. Bereits Nietzsche hat auf diese Einsicht wiederholt aufmerksam gemacht. Für ihn stellt sich das, was die Menschen als Wahrheit erfahren, als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“ dar, als „eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken“.105 Doch „das Hart- und Starr-Werden einer Metapher verbürgt durchaus nichts für die Notwendigkeit und ausschliessliche Berechtigung dieser Metapher.“106 Wahrheiten sind für Nietzsche letztlich „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“107 Entgegen der weit verbreiteten Annahme, wonach nur die „echte“, „lebendige“ Metapher Wirksamkeit entfalte,108 seien es, wie auch Lüdemann überzeugend darlegt, daher gerade die sogenannten „toten“109 oder „trivialen“ Metaphern, die besonders prädestiniert für Ideologisierungen im Sinne Paul de Mans seien – verstanden als „confusion of linguistic with natural reality, of reference with phenomenalism“110 –, und als solche vermögen sie häufig einer hypostasierenden Naturalisierung Vorschub zu leisten.111 In Beim Bau der chinesischen Mauer wird nun in der bereits zitierten, ihrerseits zitathaften112 Textstelle mit der Körpermetapher ein Element des Dis-

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gen bald der, bald jener Eigenschaft eines Dinges!“ Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, s. Anm. 42, S. 878. Ebd., S. 880. Ebd., S. 884. Ebd., S. 881. Vgl. etwa Paul Ricoeur. „Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik“. In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996, S. 361. Nietzsche spricht auch vom „grossen Columbarium der Begriffe“, an dem die Wissenschaft unaufhaltsam arbeite, bzw. von einer „Begräbnisstätte der Anschauung“. Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, s. Anm. 42, S. 886 Paul De Man. The Resistance to Theory. 6. Aufl. Bd. 33. Theory and history of literature. Minneapolis, London: University of Minnesota Press, 2002, S. 11. Vgl. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, s. Anm. 75, S. 43 f. Zitathaft ist diese Passage nicht nur auf der Ebene der Diegese, insofern sie in der Rede des Erzählers beispielhaft für das vorherrschende Gemeinschaftsgefühl zur Zeit des Mauerbaus steht, sondern auch auf intertextueller bzw. interdiskursiver Ebene, insofern

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kurses der Politik in den literarischen Diskurs übertragen. Mit dieser Übertragung scheint ein Mittel gefunden zu sein, diesen „toten“ Metaphern beizukommen, denn wie bereits in der Einleitung ausgeführt, aktiviert diese Debzw. Rekontextualisierung eine veränderte Rezeptionshaltung: Die Rezeptionshaltung innerhalb des literarischen Diskurses verlangt eine permanente Reflexion des Sprachgebrauchs. Jedes verwendete Bild, jede Metapher wird auf ihre Austauschbarkeit hin überprüft. Damit werden diese „toten“ Metaphern, die Kollektive als etwas natürlich Gegebenes erscheinen lassen, wieder einem Aushandlungsprozess darüber zugeführt, welche Figurationen aus welchen Gründen und für wen besser oder schlechter geeignet wären, ein Kollektiv zu formen und zu repräsentieren. Entsprechend gilt es darauf zu achten, in welcher Weise hier die metaphorische Erzeugung eines politischen Körpers ausgestellt wird, wie Kafkas Text das Politische freilegt, sichtbar macht, in Szene setzt, welches in der Fixierung solcher Figuration insistiert, etwa indem er auf verdeckte Kontingenzen aufmerksam macht, die der Konstruktion dieses Kollektivs inhärent sind. Am Beginn jenes Zitats, das den Glauben an eine Blutsgemeinschaft vorführt, der einem starken Zusammengehörigkeitsgefühls während des Mauerbaus Ausdruck verleihen soll,113 wird jeder Landsmann als Bruder bezeichnet, wodurch das rein formale, rationale Kriterium einer Verbundenheit aufgrund der Tatsache mit jemandem das selbe willkürlich festgelegte Territorium zu bewohnen, durch metaphorische Verdichtung ergänzt bzw. überlagert wird. Die Gleichsetzung ausnahmslos jeden Landsmanns mit einem Bruder suggeriert einerseits blutsverwandtschaftliche und somit „natürliche“, andererseits emotionale Beziehungen oder Bindungen, die den künstlich-willkürlichen, rationalen Charakter der bloß territorialen Zusammengehörigkeit anzureichern respektive zu kaschieren vermögen.

etwa die Körpermetapher für politische Kollektive als Leitmetapher eine lange, bis in die Antike belegbare Tradition im Diskurs der Politik hat und damit ungemein anschlussfähig nach vielen Seiten und Zeiten bleibt. Damit ist sie für ein Verknüpfungselement im Rahmen von Kafkas Poetik der Umschrift geradezu prädestiniert. 113 Dabei lässt sich nicht ausschließen, dass dieses starke Zusammengehörigkeitsgefühl während des Mauerbaus erst im Zuge des verklärenden Rückblicks durch den Erzähler zugeschrieben wird.

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Die Vorstellung einer horizontalen, emotionalen, brüderlichen114 Verbundenheit drückt sich dabei in einer reziproken Opferbereitschaft aus, wie sie sich später auch in der Metapher des Bluts verdichtet. Vor dem Hintergrund, dass die tatsächliche Mauer das „Ergebnis der Mühe und des Lebens von Hunderttausenden“115 darstellt, ist mit der Bereitschaft für den Landsmann und Bruder eine Schutzmauer zu bauen impliziert, ihm sein Leben zu opfern, wobei dieser „mit allem was er hatte und war ein Leben lang dafür dankte.“116 Die Mehrdeutigkeit dieser letzten Formulierung kann dabei nahelegen, dass dieser Dank, der mit der ganzen Existenz erfolgt, gleichermaßen auf dessen Beteiligung am Mauerbau verweist, zumal man selbst diesem Landsmann ebenfalls ein solcher Bruder ist. Andererseits lässt sie sich auch dahingehend verstehen, dass die pure Existenz des anderen mit all seinen Eigenschaften und Eigenheiten Dank und damit auch Grund genug ist, sich für ihn aufzuopfern. Entsprechend erscheint die uneingeschränkte, bedingungslose Liebe zu jedem Einzelnen um seiner selbst willen und die daraus erwachsende Opferbereitschaft als soziales Band, das dieses idealisierend dargestellte chinesische Volk zusammenhält, wobei diese Darstellung offensichtlich jene Grenze der Gemeinschaft unterschlägt bzw. über sie hinwegzutäuschen versucht, die Helmut Plessner wenige Jahre nach der Niederschrift der Erzählung herausgestellt hat. Diese Grenze der Gemeinschaft besteht darin, dass sich die Liebe zur Gemeinschaft mit zunehmender Gruppengröße nur auf einen immer geringer werdenden Anteil an Mitgliedern dieser Gemeinschaft richten kann, keinesfalls aber auf jedes einzelne ihrer Mitglieder: 114 Die hier beschworene und rituell hergestellte Brüderlichkeit – darauf weisen die „Einheit! Einheit!“-Rufe sowie die explizite Erwähnung bzw. Andeutung von Formationen mit dem Motiv des Reigens bzw. mit der Formulierung „Brust an Brust“ (KKAN I, S. 342) – scheint eine deutliche historische Signatur zu tragen, die auf die Französische Revolution als Geburtsstunde des modernen Nationalstaats verweist. Dabei war der sogenannte Bürgereid das zentrale politische Ritual zur Formierung eines einheitlichen brüderlichen Körpers der Republik, das in direktem Gegensatz zu jenem der freien Wahl stand, die mit ihrer Vielstimmigkeit den Eindruck eines einheitlichen sozialen Körpers zu zerstreuen drohte. Darüber hinaus scheint in dieser Passage aus Kafkas Erzählung „[d]ie Bruderschaft der Gemeinschaftlich-Gleichen“ bereits „an die Stelle der Sohnschaft jedes Untertanen gegenüber dem Landesvater“ getreten zu sein und „die horizontale Form der Vergesellschaftung durch wechselseitige Solidarverpflichtungen an die Stelle des vertikalen adligen Klientelmodells“, ganz so wie dies im Zuge der Französischen Revolution beabsichtigt wurde. Siehe hierzu ausführlich den Abschnitt Brüderlichkeit als politisches Modell in Koschorke u. a., s. Anm. 99, S. 280–291. 115 KKAN I, S. 344. 116 KKAN I, S. 342.

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Zu einem Ganzen wird die Liebesintention immer gehen können, zu allen Elementen dieses Ganzen dagegen niemals. […] Eine Grenze der Gemeinschaft wird deutlich: Die Chance ihrer Verwirklichung nimmt mit der Wahrscheinlichkeit der Liebe, d. h. mit wachsender Distanz zu individueller Wirklichkeit ab.117

Da das Ganze der Gemeinschaft nicht anders als im Imaginären, als Symbol zu haben ist, richtet sich die Liebe auf dieses Symbol und verfehlt so ihren eigentlichen Gegenstand, nämlich sämtliche Mitglieder der Gemeinschaft in ihrer jeweiligen Singularität, Besonderheit und Eigentümlichkeit. Was innerhalb des überschaubaren Settings einer Familie vielleicht noch weitgehend möglich scheint,118 kann nicht auf große Kollektive extrapoliert werden. Tatsächlich lässt sich auch in der zitierten Textpassage die Suggestion der Liebe zu jedem Einzelnen, wie sie durch die Behauptung jeder Landsmann sei ein Bruder gewesen, hervorgerufen wird, nicht lange aufrecht erhalten, denn bereits das Bild des Reigens verrät eine Zentrierung oder Ausrichtung der Gemeinschaft um eine Mitte, um ein Symbol für die Einheit bzw. das Ganze dieser Gemeinschaft, auf das sich die Liebe richtet. Als solches Symbol dient sich in der zitierten Passage am Ende die evozierte Körpermetapher an. Im übrigen Text ist es aber vor allem das Kaisertum, das in dieser Mitte – Joseph Vogl hat es auch „das Epizentrum der Symbolisierung“119 genannt – verortet wird. So heißt es etwa vom Kaiser, er residiere in der „hochgeschüttet[en]“ „Mitte der Welt“.120 Gemäß der vom Erzähler imaginierten Topologie scheint das unendliche China mit der Welt in Eins zu fallen und im herausgehobenen Zentrum gleichsam als Punkt Peking zu liegen, in dessen Zentrum das kaiserliche Schloss nur als Pünktchen, „[d]er Kaiser als solcher allerdings, wiederum groß durch alle Stockwerke der Welt“ erscheint,121 womit das bereits zuvor eingeführte Motiv des Babelturms als weithin sichtbare Marke, um die sich die biblische Menschheit versammelt, aufgegriffen wird.122 Dabei ist der Erzähler bei aller Vorsicht vor Verallgemeinerungen bemüht, die Veror117 Helmuth Plessner. „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924)“. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker. Bd. V, Macht und menschliche Natur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 7– 133, S. 47. 118 Zweifellos kennen sich die Menschen innerhalb einer überschaubaren Gruppe besser als innerhalb einer unüberschaubar großen. Dennoch bleibt es wohl auch hier ein ideales, unerreichbares Ziel, seine Mitmenschen in all ihrer Singularität wahrzunehmen. 119 Joseph Vogl. „Kafkas Babel“. In: Poetica 26 (1994), S. 374–384, S. 380. 120 KKAN I. 121 KKAN I, S. 350. 122 Die Verknüpfung des sich im Horizontalen scheinbar unendlich hinstreckenden tatsächlichen Landes mit seiner in die Vertikale gehenden Repräsentation ruft auch den Aufsatz Der Geist des Orients von Hans Kohn auf, in dem er den Westen mit der Horizontalen, den

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tung des Kaisers im Zentrum nicht als bloße Privatmeinung erscheinen zu lassen, denn auch innerhalb der kaiserlichen Botschaft, die er zur volksnahen Textsorte der Sagen zählt, wird der Kaiser wiederholt mit dem Zentralgestirn der Sonne gleichgesetzt.123 Doch so wie Peking in der tatsächlichen Topographie keineswegs im Zentrum des Reichs, sondern deutlich weiter im Norden liegt, gibt es auch eine Diskrepanz zwischen turm- bzw. sonnengleichem ewigem Kaiser und „lebendige[m] Kaiser“, der „ein Mensch wie wir“ ist und „ähnlich wie wir auf seinem Ruhebett [liegt], das zwar reichlich bemessen, aber doch vergleichsweise nur schmal und kurz ist.“124 An dieser Bifurkation des kaiserlichen Körpers125 agiert nun Kafkas Text jene verdeckte Grenze der Gemeinschaft aus und legt dabei das insistierende Politische frei: Denn das Bedauern über die Verfehlung der Liebe zu jedem Einzelnen durch die Substitution mit der Liebe zum Symbol für die Gemeinschaft stellt sich in Beim Bau der Chinesischen Mauer in jenem Moment ein, in dem der lebendige Kaiser als gleichwertiges Mitglied der Gemeinschaft, als paradigmatisches Beispiel 126 für den Einzelnen unter den Vielen erscheint, der in seiner Einzigartigkeit mit seinen liebenswerten Zügen und spezifischen Eigenschaften nicht wahrgenommen werden kann: „Wie wir streckt er manchmal die Glieder und ist er sehr müde dann gähnt er mit seinem zart gezeichneten Mund. Wie sollten wir davon erfahren tausende Meilen

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Osten dagegen mit der Vertikalen in Verbindung bringt: „Der Orient ist das Land der einen Richtung, das Reich der Höhendimension: man vergleiche die ägyptischen Pyramiden, den Turmbau zu Babel, ‚dessen Spitze bis an den Himmel reichte‘, die Pagoden des Ostens, man vergleiche all diese Himmelsstürmer mit den weiten, die Breite der bunten Welt verklärenden Tempeln der Griechen, und man wird den hellenischen Geist als den Geist des Nebeneinander dem orientalischen gegenüberstellen.“ Kohn, s. Anm. 24, S. 11. Die Verknüpfung von beiden, Horizontale und Vertikale als Verknüpfung von Mauer und Turm in Kafkas Erzählung, korrespondiert vor diesem Hintergrund mit dem kulturzionistischen Streben Orient und Okzident einst wieder in einer einzigen Lehre zu verschmelzen. Vgl. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 3, S. 63. In dieser Binnenerzählung wird das Verhältnis von Herrscher und Untertan als jenes von „kaiserliche[r] Sonne“ und „in die fernste Ferne geflüchtete[m] Schatten“ gefasst und diese Symbolik scheint weithin bekannt zu sein, wenn der Bote mit der kaiserlichen Botschaft, sobald er auf Widerstand stößt, nur auf seine Brust zu deuten braucht, „wo das Zeichen der Sonne ist.“ KKAN I, S. 351. KKAN I, S. 350. Sie erinnert stark an jene des königlichen Körpers, die Kantorowicz später beschreiben soll. Vgl. Ernst H. Kantorowicz. The King’s Two Bodies. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1997. Vgl. dazu ausführlich Giorgio Agamben. Die kommende Gemeinschaft. Übers. von Andreas Hiepko. Berlin: Merve Verlag, 2003, S. 14–16.

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im Süden […].“127 Beliebig ist diese Beschreibung spezifischer imaginierter Merkmale des lebendigen Kaisers nur in dem Sinne, in dem Giorgio Agamben diesen Begriff verwendet hat: Eine Singularität, die als solche ausgestellt wird, ist beliebig, d. h. liebenswert. Denn die Liebe richtet sich niemals auf diese oder jene Eigenschaft […], noch sieht sie im Namen einer faden Allgemeinheit (der universellen Liebe) davon ab: Sie will die Sache mit all ihren Prädikaten, ihr Sein, so wie es ist. Sie begehrt das Wie nur insofern es so ist – das ist ihr besonderer Fetischismus.128

Beliebig erscheint also nur die notwendig beispielhafte Beschränkung auf eine Auswahl konkreter Merkmale, etwa den schön gezeichneten Mund, denn letztlich beharrt die imaginierte Beschreibung des lebendigen Kaisers auf der Notwendigkeit Singularitäten nicht einer gleichgültigen Allgemeinheit zu opfern, wie dies in der politischen Repräsentation einer Vielheit wie der chinesischen Bevölkerung durch eine Einheit, etwa durch das Symbol des unsterblichen Kaisertums, der Fall ist. Dabei fallen in der Figur des Kaisers Repräsentant (unsterbliches Kaisertum) und Mit-Repräsentierter (der lebendige Kaiser) in Eins, sodass sich in ihm jene Antinomie in besonderer Weise zugespitzt findet, die bereits Rousseau herausgestellt hat und die darin besteht, dass der Repräsentant am Ort des Repräsentierten überflüssig wird und umgekehrt: „wo sich der Vertretene […] befindet“, so hält Rousseau im Gesellschaftsvertrag fest, „gibt es keinen Vertretenden […] mehr.“129 Tatsächlich „ist daher der Kaiser weder Symbol noch Person, er ist beides zugleich und keines von beiden, als Person abwesend im Symbol und umgekehrt“.130 Möglicherweise ist es exakt diese Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz, die die „einzigartig[e] Unklarheit“131 dieser und anderer „volkliche[r] und staatliche[r] Einrichtungen“ begründet, von denen das Kaisertum dem Erzähler zufolge eine der „allerundeutlichsten“ ist. Um nun die Liebe zu einzelnen Mitgliedern des Kollektivs in all ihrer Besonderheit nicht von vornherein durch deren Substitution mit der Liebe zum vereinfachenden Symbol für die Gemeinschaft als Ganze zu verunmöglichen, gilt es entweder dieses Symbol zu solcher Komplexität zu steigern, dass es das Kollektiv in perfekter Weise zu repräsentieren vermag – und das hieße in letz-

127 KKAN I, S. 350. 128 Agamben, s. Anm. 126, S. 10. Hervorhebungen im Original. 129 J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, in: Politische Schriften Bd. 1, München 1977 S. 156. 130 Vogl, „Kafkas Babel“, s. Anm. 119, S. 380. 131 KKAN I, S. 348 f.

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ter Konsequenz das Kollektiv im Symbol zu verdoppeln – oder umgekehrt, dieses Symbol und damit jegliche Repräsentation des Kollektivs zu beseitigen. Allerdings sind beide Lösungswege aufgrund konstitutiver Mängel des Menschen verstellt, denn einerseits ist die ‚Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft‘ der Grund, weshalb die reine Verdopplung des Kollektivs im Symbol nicht gelingen kann, andererseits bringt die Unfähigkeit des Menschen große Gruppen unmittelbar als Ganze zu erfahren, das Bedürfnis – vielleicht sogar den „anthropologischen Bedarf“ – nach Symbolisierung allererst hervor.132 Dem Erzähler zufolge wünscht man sich im Volke jedenfalls nichts sehnlicher, als „das Kaisertum aus der Pekinger Versunkenheit in aller Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit an seine Untertanenbrust zu ziehn, die doch nichts besseres will, als einmal diese Berührung zu fühlen und an ihr zu vergehn.“133 Alleine die ‚Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft‘ verhindert eine solche unverfälschte Vergegenwärtigung des Kaisertums, dessen Wesen sich seinerseits idealerweise ganz in der Funktion erschöpft, das Volk in seiner Ganzheit und Komplexität zu repräsentieren. Entsprechend installiert das Zusammenwirken aus Wunsch nach perfekter mentaler wie politischer Repräsentation und ‚Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft‘ bei jedem Einzelnen nur eine simplifizierte Vorstellung des Kaisers, wobei das Defizitäre dieser Vorstellung aufgrund des vorausgesetzten unerreichbaren Ideals einer unmittelbaren unverfälschten Vergegenwärtigung des Kaisertums stets bewusst bleibt. Damit scheint aber eben diese misslingende Repräsentation die geradezu anarchistische Perspektive eines „gewissermaßen freie[n ]unbeherrschte[n] 132 Dies legt nicht zuletzt Susanne Lüdemann nahe, wenn sie schreibt: „Ob das politische […] Imaginäre auf Einheitssemantiken, genauer: auf Metaphern für das als Reales unerreichbare „Ganze“ der Gesellschaft verzichten kann (oder auch nur können sollte), ist indes eine Frage, die hier offenbleiben muß. Zwar geht es durchaus darum, die uneingestandenen biologistischen und holistischen Konnotationen kurrenter Gesellschaftsmodelle aufzuzeigen und solche Modelle als obsolet zurückzuweisen. Damit ist jedoch noch nichts über das Bedürfnis (vielleicht sogar: den anthropologischen Bedarf) gesagt, die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft in (anderen) Metaphern und Modellen zu repräsentieren und so die Vorstellung wachzuhalten, daß es schließlich und endlich eine gemeinsame Veranstaltung ist, an der wir teilnehmen – selbst wenn wir von Einheits- auf Differenzsemantiken umstellen und statt vom Gesellschaftsvertrag vom Klassenkampf, vom Antagonismus von Individuum und Gesellschaft oder, zeitgemäßer, mit Lyotard vom „Widerstreit“ sprechen. Modelle für das „Trennende“ zu finden, das doch „zusammenhält“ (Maurice Blanchot), tut in der ,multikulturellen Gesellschaft’ zweifellos not.“ 133 KKAN I, S. 355.

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Leben[s]“134 zu eröffnen, denn mit der Folgerung, dass die Chinesen somit „im Grunde gar keinen Kaiser haben, wäre man von der Wahrheit nicht weit entfernt“,135 wie der Erzähler bestätigt. Zwar gibt es „vielleicht kein kaisertreueres Volk als das unsrige im Süden, aber die Treue kommt dem Kaiser nicht zu gute“,136 denn jener Kaiser, dem die Treue gehalten wird, ist ein erträumter Kaiser, der die Position politischer Repräsentation einnimmt und so verhindert, dass sie wirksam mit einer realen Person besetzt wird, was die Polyphonie der Stimmen des Volkes zu einer einzigen Stimme verflachen und diese Person mit erheblicher Macht ausstatte würde. Allerdings macht die Erzählung auch deutlich, dass der imaginäre Charakter des Kaisers keineswegs für die Unwirksamkeit dieser Imagination spricht. Die Art und Weise wie der Kaiser imaginiert wird, hat durchaus Auswirkungen auf das Zusammenleben jener Menschen, die gewisse Züge dieser Imagination teilen oder eben auch nicht teilen. Dabei scheint diese Art und Weise keineswegs arbiträr zu sein, sondern vielmehr entscheidend von den kursierenden Sagen und Narrativen abzuhängen. Entsprechend hätte ein Streben nach einem noch umfänglicheren unbeherrschten Leben an der Zersetzung konkreter Symbolisierungen des Kollektivs sein Betätigungsfeld und tatsächlich scheint die Textstrategie in Kafkas Erzählung auf solche Desymbolisierung zu zielen. Wenn das Bedürfnis nach Repräsentation – bzw. mit Nietzsche gesprochen: der „Fundamentaltrieb des Menschen“ „zur Metaphernbildung“137 unhintergehbar ist, die Menschen in China sich also ihre Gesamtheit unweigerlich vereinfacht vorstellen müssen, und wenn ihre tradierten Sagen und Narrative dazu führen, sich ihre Einheit als Volk im Symbol eines turmgleichen Kaisers vorzustellen, so arbeitet Kafkas Text permanent daran, die politische Repräsentation der Gemeinschaft durch einen Kaiser misslingen zu lassen. Folglich geht es um den Abbau jener Einheitssemantiken, die als imaginärer Überschuss die Voraussetzung für jeden Gemeinschaftsglauben zu bilden scheinen. Unter der Maßgabe eines ‚freien unbeherrschten Lebens‘ muss also beständig daran erinnert werden, dass dieser Turm, mit dem der Kaiser parallelisiert wird, nur ein babylonischer Turm sein kann, einer, der sich niemals vollenden lässt. Wenn also in der Rede vom turmgleichen Kaiser ebenso wie in der Behauptung des Gelehrten, „erst die große Mauer werde […] ein sicheres Fun134 135 136 137

KKAN I, S. 354. KKAN I, S. 354. KKAN I, S. 354. Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, s. Anm. 42, S. 887.

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dament für einen neuen Babelturm schaffen“,138 das antike China mit dem biblischen Schinar enggeführt wird, so muss die Arbeit an der Mauer als Arbeit an der Unvollendung dieser Mauer erfahrbar werden, in der infolge des Systems des Teilbaus die Lücken größer als die Mauerteile sind, um eben keinen Turm entstehen zu lassen und damit auch keinen turmgleichen Kaiser als Symbol der Einheit des chinesischen Volkes. Zugleich scheint mit dieser Vorstellung einer dekonstruktiven „Entwerkung“ auch ein Einwand gegen Martin Bubers Verdikt gegeben zu sein, wonach „kein Stückwerk […] das Judentum erneuern [könne], sondern nur ein ganzes und geeintes Werk“,139 denn in Kafkas Erzählung ist es gerade der Bau an der Unvollendung, an einem Bauwerk, das infolge seiner Bauweise immer Stückwerk bleiben muss, der die Unmöglichkeit der Repräsentation von Gemeinschaft wach und damit die Möglichkeit von Gemeinschaft grundsätzlich offen hält.

138 KKAN I, S. 343. 139 Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 3, S. 43.

Teil II Einigungsmittel

3. Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen Mythen des Anfangs formen das kollektive Imaginäre und versehen ihm nachträglich ein Fundament.1 Sie können kollektivierend wirken, indem sie Kriterien der Zugehörigkeit bzw. des Ausschlusses legitimieren oder allererst etablieren. Sie schaffen Allianzen, indem man sich in gleicher Weise auf sie berufen oder durch Umschrift und Umdeutung von ihnen absetzen kann. Schließlich sind sie auch durch ihr Vermögen, Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Verbundenheit, Aufgehen in einer anfänglichen Einheit hervorzurufen, gemeinschaftsstiftend. Man könnte diese letztere Wirkung den Ruf des Mythos zur Einheit nennen, der vielleicht, ähnlich wie Kafkas Sirenen, gerade dann seine stärkste Wirkung entfaltet, wenn er schweigt.2 Diese unterschiedlichen gemeinschaftsstiftenden bzw. erhaltenden Funktionen und Effekte von Ursprungsmythen dürften jeweils anders verteilt oder gewichtet sein, je nachdem, ob eine angestrebte respektive aufrechtzuerhaltende Gemeinschaft als eine Gemeinschaft unter Gemeinschaften vorgestellt, oder ob die Realisierung der einen idealen Gemeinschaft angestrebt wird, die dann als realisiertes Ideal die ‚wahre‘ Gemeinschaft wäre. Ob eine imaginierte Gemeinschaft als unvollkommene, jedoch tatsächlich gegebene oder als vollkommene, aber erst im Werden begriffene vorgestellt wird, lässt sich zumeist daran erkennen, wie deutlich markiert ist, wer Teil der Gemeinschaft ist und wer nicht: Während Gemeinschaften im Plural mehr oder weniger klar umgrenzt werden können und durch Regeln der Zugehörigkeit ihre Homogenität im Inneren und den Ab- und Ausschluss nach außen organisieren, ist die ideale bzw. ‚wahre‘ Gemeinschaft im zeitgenössischen Diskurs meist eine, aus der niemand ausgeschlossen werden soll, und somit eine, die notwendig als entgrenzte vorgestellt werden muss. Im folgenden Unterkapitel 3.1 soll mit Wir sind fünf Freunde zunächst ein Text in den Blick genommen werden, in dem ein namenloser Wir-Erzähler jene Gruppe, für die er spricht, in einer Weise darzustellen versucht, die auf diesem Kontinuum zwischen absoluter Entgrenzung und klarer Abgrenzung eindeutig dem Pol rigoroser Abgrenzung zuzurechnen wäre, wie bereits der 1 2

Vgl. Albrecht Koschorke. „Zur Logik kultureller Gründungserzählungen“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte. 1/2 (Anfänger! 2007), S. 5–12, S. 12. Vgl. Joseph Vogl. „Kafkas Babel“. In: Poetica 26 (1994), S. 374–384, S. 374.

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als Titel fungierende Textbeginn verrät. Allerdings steht dabei stets seine Befürchtung im Raum, er dringe mit seiner Darstellung nicht durch. Entsprechend forciert er in seinem prekären Versuch vom Ursprung dieses ‚Wir‘ zu erzählen die ab- und ausgrenzenden Effekte bestimmter Erzählmittel und meidet zugleich alle Elemente, die geeignet wären, eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit hervorzurufen. Indem Kafkas Erzähler diese Gewichtung ins Extrem treibt, zehrt er das Sinnhafte, das durch Konzepte wie Freundschaft in die Konzeption von Gemeinschaft hineingetragen wird, aus, und offenbart so deren genuine Leere und Substanzlosigkeit, ihren fehlenden oder unzureichenden Grund. Im daran anschließenden Unterkapitel 3.2 wird die entsprechend umgekehrte Verteilung im Rahmen der auf Auslegungen und Umdeutungen biblischer Ursprungsmythen basierenden Imagination anzustrebender ‚wahrer‘ Gemeinschaft in zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskursen deutlich: Während ab- und ausgrenzende Funktionen von Ursprungsmythen möglichst in den Hintergrund treten sollen, setzt man hier vornehmlich auf jene Effekte, die eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Sammlung und Einheit hervorrufen. Besonders wirkmächtig sind in diesem Zusammenhang Verlustnarrative. Neben dem Babelmythos wird etwa der Sündenfallmythos häufig Gegenstand von Umschriften und Umdeutungen (siehe Kapitel 3.2.1), zumal es bereits eine in die Zeit der Aufklärung zurückreichende Tradition gibt, vor der Folie dieses Mythos und zuweilen auch in Abgrenzung zu ihm die Idealvorstellungen des je eigenen Projekts zu reflektieren und auszugestalten. Dabei bringt die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt durch Neuauslegungen des Sündenfallmythos gestützte und mit zunehmender Vehemenz vorgebrachte, im Wortsinn ‚radikale‘ Forderung nach einer ‚Rückkehr‘ zu ursprünglichen Gemeinschaftsformen mindestens zwei grundlegende Probleme mit sich, die bereits Kafkas Umschriften des Sündenfallmythos in den Zürauer Zetteln und in Notizen in ihrem Umfeld – ihnen widmet sich Unterkapitel 3.2.2 – zu motivieren scheinen, wenn sie mit unterschiedlichen Mitteln stets versuchen, den im Mythos ausgegebenen Ruf nach einem ‚Rück-Fall‘ in den Urstand zum Schweigen zu bringen: Zum einen ist das Streben nach einem angeblich verlorenen ursprünglichen Ideal mit einer feindlichen Einstellung nicht nur gegen das stets als unvollkommen wahrgenommene bestehende Zusammenleben verbunden, sondern gegen das irdische Leben überhaupt. Zum anderen lässt sich gegen alle Ursprungssuche und das diese Suche meist begleitende Pathos ein genealogischer Einwand im Sinne Nietzsches erheben, insofern die Vorstellung einer Reinheit des Wesens der Dinge an ihrem Ursprung eben-

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so angezweifelt werden muss, wie jene, dass diese Dinge einen einheitlichen Ursprung haben.

3.1 Gründungserzählungen und die Imagination geschlossener Gemeinschaften. Zu Kafkas Wir sind fünf Freunde Gründungserzählungen, die Gruppen als klar abgegrenzte Einheiten präsentieren, behaupten deren tatsächliches Bestehen. Sie versuchen ihre Gewordenheit zu erklären oder zu begründen und sichern ihre hiermit vorausgesetzte Existenz ab, indem sie bestimmte Kriterien für Zugehörigkeit festschreiben. Sie behaupten, diese identitätsstiftenden Merkmale bestünden von Beginn an unverändert und legitimieren sie so als altbewährt und unverzichtbar. Gründungserzählungen im Sinne dieser Gemeinschaften im Plural formen das politische Imaginäre einer Gemeinschaft, sie können eine ätiologische Funktion haben und sie wirken vor allem als Mittel der Ein- und Ausschließung kollektivierend. Sie spielen im zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurs eine bedeutende Rolle und werden auch in Kafkas Erzählungen reflektiert.3 Auf engstem Raum wird der prekäre Versuch, zufällige Ereignisserien in die notwendige Herleitung eines ‚Wir’ umzudeuten, in einem kurzen Erzähltext Kafkas vom September 1920 ausgestellt,4 der meist Wir sind fünf Freunde genannt wird und den Max Brod mit dem Titel Gemeinschaft versehen hat. Er beginnt mit einem „Wir“ und setzt unmittelbar mit der Erzählung des Anfangs oder Beginns dieses „Wir“ fort. Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer 3

4

Dies wurde bereits im ersten Teil dieser Arbeit am Beispiel des preußischen Nationbuilding-Projekts deutlich. Hier wurde versucht, die eigene Identität durch den Babelmythos zu begründen und zu stabilisieren. Archäologische Ausgrabungstätigkeiten am vermeintlichen historischen Babelturm sollten dabei nur mit Blick auf die Bibel entmystifizierend wirken. Das neu zu Tage geförderte Material soll dagegen einer detaillierten Ausgestaltung dieses Mythos dienen und seine aneignende Remythisierung erlauben. Der Nachweis seines deutlich höheren Alters sollte seine größere Ursprungsnähe belegen und so die Berufung auf eine christlich-jüdische Tradition anderer Nationen in den Schatten stellen. Für die genaue Datierung siehe Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II App.), S. 90.

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Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: „Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.“ Seitdem leben wir zusammen […]5

Dieses höchst kondensierte, nur wenige Sätze umfassende Minimalbeispiel6 einer Gründungserzählung ist von einer gewissen Widersprüchlichkeit oder Spannung durchzogen. Auf der einen Seite wird durch die Verwendung des Personalpronomens „wir“, durch den Begriff der Freundschaft und die Behauptung durchgehenden gemeinsamen Zusammenlebens eine intrinsische Nähe oder Verbundenheit zwischen den fünf suggeriert, der auf der anderen Seite die seltsam unpersönliche, objektivierende und alle Eigentümlichkeiten nivellierende Schilderung des völlig kontingent erscheinenden Ereignisses ihrer Formierung als Gruppe entgegensteht – eine Formierung, die letztlich allein extrinsisch, durch die Fremdzuschreibung anderer, motiviert zu sein scheint. Zwischen behaupteter Verbundenheit und augenscheinlicher Kontingenz der Genese als Gruppe klafft eine merkwürdige Kluft, die im weiteren Verlauf dieser kurzen Erzählung, die erst durch das Hinzutreten eines Sechsten ihre eigentliche Dramatik entfaltet, noch weiter vertieft wird. Von diesem Zusammenleben heißt es: „ […] es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde.“7 Im Konjunktiv „wäre“ deutet sich an, dass dieses friedliche Zusammenleben rein hypothetischer Natur ist, dass es zu keinem Zeitpunkt tatsächlich stattgefunden hat.8 Der Sechste dürfte also bereits unmittelbar nach dem Aufmerken der Leute hinzugekommen sein. Die kontingent wirkende Gruppenbildung und die nahezu gleichursprüngliche Verstrickung der Gruppe in den Konflikt mit dem Sechsten lassen keinen Raum für überzeugende Argumente, die die Behauptung, wonach das Zusammenleben ohne ihn ein friedliches wäre, mehr denn als bloße Behauptung erscheinen lassen. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung bleibt völlig im Dunklen, worauf sich diese Behauptung gründen könnte. Was folgt, sind phrasenhafte Scheinargumente, mit denen der Ausschluss des sechsten vorgeblich begründet wird, wobei das Fehlen nachvollziehbarer

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7 8

Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II), S. 313. Als Minimalbeispiel wird beim Programmieren der minimale, voll funktionsfähige Codeschnipsel zur Darstellung eines bestimmten Verhaltens oder Fehlers bezeichnet. Kafkas Gedankenexperimente scheinen mir mit diesem Begriff am besten gefasst zu sein. KKAN II, S. 313. Ansonsten hätte der Erzähler wohl davon gesprochen, dass es ein friedliches Leben gewesen sei, bis sich ein sechster immerfort einzumischen begonnen hätte.

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Begründungen offenkundig mit einem unzureichenden Grund der Gemeinschaft der Fünf zusammenhängt: Er tut uns nichts, aber es ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen.9

Zunehmend muss infrage gestellt werden, mit welchem Recht der Erzähler „wir“ sagt und von Freundschaft oder „Vereinigung“ spricht. Außer der nackten Behauptung einer mit diesen Begriffen implizierten engen Verbindung zwischen ihm und vier weiteren Personen, gibt es innerhalb der Erzählung nichts, was diesen Standpunkt stützen könnte: Der Erzähler gesteht bei seiner vergeblichen Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den bestehenden Gruppenmitgliedern, die ihm als Ausschlusskriterien gegen den Sechsten dienen könnten, offen ein, dass die fünf einander anfangs auch nicht gekannt haben, und einander gewissermaßen immer noch nicht kennen. Die angeblichen gemeinsamen Erfahrungen, auf die er sich beruft, bleiben völlig nebelhaft, ihr „fortwährende[s] Beisammensein“ erklärt er explizit für sinnlos10 und der behauptete gemeinsame Wille beschränkt sich einzig darauf, fünf und nicht sechs sein zu wollen, wobei diese Festlegung der Gruppengröße gänzlich arbiträr erscheint und nicht etwa durch Verweise auf wie auch immer geartete Vorzüge begründet oder mit einer bestimmten Zahlensymbolik unterlegt wird. Ebenso arbiträr wie die Festlegung der Gruppengröße nimmt sich der Zeitpunkt des Anfangs der Gruppe aus. Seine willkürliche Setzung trennt den Sechsten von der Gruppe der anderen fünf ab und erhebt die Meinung der außenstehenden Leute zur maßgeblichen identitätsstiftenden Instanz. Die Wahl des Zeitpunkts scheint allein auf der Koinzidenz zu beruhen, dass die Leute ausgerechnet nach dem Dazustoßen des Fünften auf die Formation aufmerksam wurden – ein Umstand, der ebenso gut früher oder später eintreten hätte können. Dabei deutet sich im Einsetzen der allgemeinen Meinung als entscheidende Instanz für die Konstitution der Gruppe das Unvermögen an, genuine Merkmale der Zugehörigkeit angeben zu können.

9 10

KKAN II, S. 313 f. Der genaue Wortlaut ist: „Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn“ KKAN II, S. 313.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

Dass die Deutung der Situation durch Außenstehende konstitutiv für das eigene Verständnis als Gruppe ist – und dies vor allem deshalb, weil die in Frage stehende Zusammengehörigkeit der fünf auf sehr dünnen Beinen steht – zeigt sich auch in der Befürchtung des Erzählers, „lange Erklärungen [dem Sechsten gegenüber] würden schon fast eine Aufnahme in [ihren] Kreis bedeuten.“11 Die verbale Interaktion mit dem Sechsten könnte bei Außenstehenden den Eindruck erwecken, er gehöre zur Gruppe und käme – eben weil ihre Meinung ausschlaggebend ist – einer Aufnahme gleich. Daher erklären sie „lieber nichts und nehmen ihn nicht auf.“12 Entsprechend sind auch die folgenden Handgreiflichkeiten bei aller Unwirksamkeit gegen den Sechsten selbst in erster Linie ein sichtbares Zeichen nach außen, das nicht missinterpretiert werden kann: „Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.“13 Der Griff zum Mittel körperlicher Aggression verdeutlicht, dass sich Gemeinschaft, selbst in dieser geschlossenen Form, nicht begründen, sondern lediglich behaupten lässt und behauptet wird sie hier im doppelten Wortsinn. Einerseits scheint der Erzähler durch das Fehlen eines Prinzips des zureichenden Grundes in die Verlegenheit fadenscheinigen Argumentierens zu geraten: denn anders als Leibniz dies für die gegebene Welt als ganze voraussetzt, scheint es wenigstens mit Blick auf diese Gruppe ebensowenig einen Grund zu geben, „warum etwas existiert eher als nichts“, wie es auch gerade keinen „Grund geben muß, warum dieses eher als etwas anderes existiert.“14 Andererseits liegt der Verdacht nahe, dass die gesamte Erzählerrede auf eine bestimmte Außenwirkung zielt, wobei sich nicht entscheiden lässt, ob sich die Darstellung der Grund- und Sinnlosigkeit der Verbindung der Fünf vielleicht auch einer bestimmten Wirkungsabsicht verdankt. Mit ihrer Inszenierung des Ursprungs eines „Wir“ scheint ihr machtpolitisches Kalkül jedenfalls darin zu bestehen, die öffentliche Meinung von der Existenz der Gruppe in der von ihr favorisierten Form zu überzeugen. Dabei wird auch die besondere Virulenz von Anfängen deutlich, die in ihrer konstitutiven Nachträglichkeit liegt: Weil jene Grenze, die sie scheinbar nur be11 12 13 14

KKAN II, S. 314. KKAN II, S. 314. KKAN II, S. 314. Gottfried Wilhelm Leibniz. Opuscules et fragments inédits. Hrsg. von Louis Coutrat. Hildesheim: Olms, 1966, S. 533 zitiert nach Jacques Bouveresse. „Nichts geschieht mit Grund: das ‚Prinzip des unzureichenden Grundes’“. In: Hommage à Musil. Genfer Kolloquium zum 50. Todestag von Robert Musil. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Marie-Louise Roth. Bern, Berlin, Frankfurt/Main, New York, Paris, Wien: Lang, 1995, S. 111 f.

Gründungserzählungen und die Imagination geschlossener Gemeinschaften

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zeichnen, stets nur retrospektiv gesetzt werden kann, unterliegen sie Aushandlungsprozessen, die sich nie restlos abschließen lassen. Wie Albrecht Koschorke festhält, sind Gründungsmythen keineswegs „unschuldig – um so weniger, je reiner zu sein sie vorgeben.“15 Stets sind sie in Machtverhältnisse eingebunden und lassen sich strategisch zur Durchsetzung bestimmter Interessen einsetzen.16 Gründungserzählungen formen das kollektive Imaginäre, sie geben vor, was erzählt, symbolisiert und wahrgenommen werden kann.17 Daher handelt es sich bei ihnen häufig um „invented traditions“18 oder es werden bestehende Mythen umgeschrieben oder umgedeutet, auch wenn ihre Autorität gerade auf der Vorstellung ihrer über lange Zeit hindurch unveränderten Form und ihrer Kanonisierung beruht.19 Vor diesem Hintergrund muss der Rede des Erzählers mit gebotener Vorsicht begegnet werden. Tatsächlich scheint sie ganz konkrete Ziele zu verfolgen: Zunächst etwa die Gruppe in der gewünschten Konstellation als gegeben darzustellen, um sodann das Streben des Sechsten nach Zugehörigkeit für Außenstehende unnachvollziehbar bzw. sinnlos erscheinen zu lassen und die potentielle Sehnsucht anderer nach Zugehörigkeit zur Gruppe von vornherein zu unterbinden. Solche Motive würden jedenfalls plausibilisieren, weshalb im ersten Halbsatz zunächst der Eindruck persönlicher Nähe und Verbundenheit im Inneren der Gruppe erweckt wird, um eben diesen Eindruck die gesamte restliche Erzählung hindurch zu unterlaufen. Gestützt wird die These, wonach die Rede des Erzählers auf die für die Gruppe konstitutive allgemeine Meinung einzuwirken versucht, auch durch 15 16

17 18 19

Koschorke, s. Anm. 1, S. 12. Solche Berufungen auf (mythische) Ursprünge sind dabei nicht alleine darauf festgelegt, einen status quo zu legitimieren, wie im Falle dieser Erzählung. Häufig ist der Verweis auf Ursprungsmythen auch dadurch motiviert, die gegenwärtigen Verhältnisse als Irrweg darzustellen und zu bekämpfen, wie in Kapitel 3.2 noch deutlich werden wird. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. Eric Hobsbawm und Terence Ranger, Hrsg. The Invention of Tradition. 21. Aufl. New York: Cambridge University Press, 2013, S. 144–156. Insofern Gründungserzählungen den Anfang dessen, was sie begründen, immer als Bruch mit dem „Davor“ organisieren, dem die Kontinuität dessen, was auf ihn folgt, entgegengesetzt wird,vgl. Koschorke, s. Anm. 1, S. 6, kann etwa die Vor- oder Rückdatierung des Ursprungs etablierte Kontinuitäten kappen, oder die Autorität eines Anfangs zugunsten eines noch ursprünglicheren relativieren. Eben dies ist – wie bereits in Teil 1 ausgeführt – im Babel-Bibel-Streit im Zuge des preußischen Nation-building-Projekts der Fall, wo der Bezug auf Babel als mythischem Ursprung mit dem Lossagen von den christlich-jüdischen Ursprüngen westlicher Kultur einhergeht.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

einige erzähltheoretische Besonderheiten, die einen solch strategischen Einsatz der Gründungserzählung nahelegen: So versucht der Erzähler offenbar vom eigenen Ursprung als Gruppe zu erzählen, ohne dabei die Geschlossenheit seiner kollektiven Wir-Perspektive zugunsten einer Erzählung in der ersten Person singular zu verlassen. Er verstrickt sich dabei in Paradoxien, ähnlich jener, die Koschorke mit Blick auf kulturelle Anfangserzählungen beschrieben hat: Ein kulturelles System, das sich an seine eigene Entstehung „erinnern“ wollte, müßte sich über sich selbst hinaus verlängern. Es müßte erkenntnistheoretisch vor den Zeitpunkt seiner Entstehung gelangen können, und dies aus der einzigen zur Verfügung stehenden Perspektive, nämlich der Innensicht.20

Nun ist eine Gruppe aber kein homogenes erkennendes Subjekt, und ein erzählendes „Wir“ impliziert üblicherweise ein erkennendes „Ich“, das solange „wir“ sagen kann, bis ihm widersprochen wird. Dieses erkennende „Ich“, das sich zunächst im Gewand eines erzählenden „Wir“ präsentiert, könnte also ohne Weiteres vor die Schwelle des Ursprungs des behaupteten „Wir“ zurückgehen. Kafkas Erzähler sieht sich also weniger mit einem Erkenntnis- als mit einem Darstellungsproblem konfrontiert: Würde der Erzähler als „Ich“ von der Genese des „Wir“ berichten, so müsste er den Eindruck eines geschlossenen, einheitlichen und unveränderlichen „Wir“ für die Dauer des Erzählakts preisgegeben – ein Eindruck, der aber offenbar angesichts des in die Gruppe drängenden Sechsten und potentieller weiterer Eindringlinge unbedingt aufrecht erhalten werden soll. Sein Festhalten an der Perspektive des „Wir“, die er nicht zugunsten eines „Ich“ verlässt, scheint also mit einen Willen zum Ausschluss zusammenzuhängen und soll möglicherweise suggerieren, dass dem erzählenden „Wir“ auch ein immanentes und geschlossenes erkennendes „Wir“ zugrunde liege. Jedenfalls setzen die gewählten Mittel, mit denen hier versucht wird, einen Eindruck der Homogenität der Gruppe zu erzeugen, den Erzähler ein Stück weit jenen Paradoxien der Darstellung aus, die aus erkenntnistheoretischen Zwängen auch kennzeichnend für kulturelle Anfangserzählungen sind.21 Koschorke beschreibt die erzähltechnischen Konsequenzen einer solch immanenten Perspektive, die ihre eigenen Anfänge in den Blick nehmen möchte, folgendermaßen: 20 21

Koschorke, s. Anm. 1, S. 9. Da es ein fiktiver Text ist, kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass dem erzählenden Wir in diesem Text tatsächlich ein erkennendes Wir zugrunde liegt, allerdings erscheint die Erklärung des erzählenden Wir aus dem Willen zum Ausschluss wesentlich naheliegender.

Gründungserzählungen und die Imagination geschlossener Gemeinschaften

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Um den Ursprung als vorher/nachher-Schwelle zu überblicken, muß man mehr zu wissen vorgeben, als man innerhalb der durch eben diesen Ursprung hervorgebrachten und begrenzten Welt wissen kann. Diese unmögliche Zeugenschaft ist aber nur um den Preis erzähllogischer Irregularitäten zu haben. Sie führt zu strange loops epistemischer und zeitlicher Art, zu illegitimen Passagen über die eigentlich unpassierbare Ursprungsgrenze, zum Schmuggel von Erzählelementen am Nullpunkt der Gründungsszene vorbei.22

Dieser „Schmuggel“ sei aber nur deshalb möglich, weil solche Kultur stiftenden Narrative „gar nicht an der Nullstelle der Zeitskala, die sie zugrunde legen“23 beginnen. Sie seien „gegenüber ihrer eigenen Zeitrechnung gleichsam um ein kurzes Intervall nach vorne verschoben“,24 weil sie jene Unterscheidungen, deren Entstehung sie als Mythos beglaubigen wollen, bereits voraussetzen. Um Erzählelemente an der Schwelle des behaupteten Anfangs „vorbeischmuggeln“ zu können, muss jener Sprung, durch den aus fünf Einzelnen eine geschlossene Gruppe, ein „Wir“ wird, mit narrativen Mitteln allererst inszeniert werden. Dies gelingt in Kafkas Erzählung zunächst auf der Ebene der Bildlichkeit: Als Schwelle wird jener Punkt inszeniert, an dem die Fünf eine Reihe bilden und diese so auffällige wie zufällige Formation von außen bemerkt und festgehalten wird. Besonders das Bild der Quecksilberkügelchen unterstreicht die Vereinzelung der Fünf und das Merkmal der Kontingenz ihrer Reihenbildung. Dies wird noch evidenter, wenn man dieses Bild als Entwendung aus Jean Pauls Siebenkäs liest. Wie in Kafkas Erzählung ist im Kapitel Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei zunächst von einem Gebäude die Rede: vom atheistischen Lehrgebäude, bei dessem ersten Betreten dem Ich-Erzähler die existenzielle Einsamkeit aller „Gottesleugner“ bewusst wird. Einheitsvorstellungen, wie die einer allumfassenden Verbundenheit im „Weltgeist“, seien im Atheismus negiert: das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammenund auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand.25

Vor dem Hintergrund dieses Bildes erscheinen die Fünf, die einmal aus einem Haus gekommen sind, radikal vereinzelt und ihre Reihenbildung als kontingentes, rein zufälliges Zusammenfliehen der einzelnen Ichs. Und doch ist es 22 23 24 25

Koschorke, s. Anm. 1, S. 9 f. Ebd., S. 8. Ebd., S. 8. Jean Paul. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke; oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1818, S. 217.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

dem Erzähler zufolge diese zufällige Formation, die die Aufmerksamkeit der umstehenden Leute auf sich zieht. Sie bezeugen diese Gruppierung öffentlich und fixieren sie damit. Die Reihenbildung, die als Figur geradezu nach ihrer Fortsetzung verlangt, wird durch diese Fixierung unterbrochen oder abgeschlossen. Bezeichnenderweise beschreibt der Erzähler die Gruppe später eben nicht mehr als „Reihe“, sondern als „Kreis“ – mithin als Figur, die sich von jener der Reihe entscheidend durch das Merkmal der Vollkommenheit und Geschlossenheit unterscheidet. Narratologisch lässt sich der Nullpunkt dieser Vereinigung sodann als jener erzähltheoretische Grenzfall beschreiben, an dem der Wir-Erzähler als zugleich an- und abwesend inszeniert wird. Genettes Kriterium für die Unterscheidung von homodiegetischer und heterodiegetischer Erzählung: die Anbzw. Abwesenheit des Erzählers in der von ihm erzählten Geschichte, bleibt in diesem Fall uneindeutig.26 Die Ambiguität von An- und Abwesenheit ergibt sich durch die Unterscheidung in ein erkennendes respektive erlebendes und ein erzählendes Subjekt. Unterstellt man Kafkas Erzähler ein erkennendes „Ich“, so muss dieses auch in der Ursprungsszene präsent sein. Als erzählendes Subjekt, das „wir“ sagt, zieht er sich hingegen gerade im Moment der Schilderung dieser Szene zurück. Das Herausgleiten aus dem Haus und die Reihenbildung der Fünf wird anders als die übrige Erzählung aus der Perspektive der dritten Person, wie von einem Außenstehenden, beschrieben. Diesem (scheinbaren) Wechsel von einer homodiegetischen Erzählweise zu einer heterodiegetischen und wieder zurück korrespondiert schließlich der Wechsel von interner zu externer Fokalisierung und zurück. Dabei bedient sich der Erzähler der Figur der Paralipse:27 Er gibt weniger preis, als er als Erzähler wissen sollte bzw. als Figur seiner Erzählung sicher weiß, wenn er etwa im Dunklen lässt, an welcher Position in der Reihe das ihm entsprechende erkennende „Ich“ auftritt, um so alle Differenzierungen und Hierarchisierungen im Inneren der Gruppe zu nivellieren. Diese mit einigem rhetorischem Aufwand aufgerichtete Schwelle des Ursprungs hat das eigentlich erst zu begründende „Wir“ immer schon in die Gegenrichtung überschritten, wenn es bereits im ersten Satz und damit noch im Zustand der Vereinzelung, vor der eigentlichen Gründungsszene, heißt: „wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen“.28 26 27 28

Gérard Genette. Die Erzählung. Übers. von Andreas Knop. 3. Aufl. Paderborn: Wilhelm Fink, 2010, S. 233 f. Zum Begriff der Paralipse vgl. ebd., S. 125. KKAN II, S. 313 [Hervorhebung C.D.].

Gründungserzählungen und die Imagination geschlossener Gemeinschaften

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Der kurzzeitige Wechsel zu einer heterodiegetischen Erzählweise mit externer Fokalisierung bietet dabei einen Ausweg aus folgendem Dilemma: Einerseits soll das erzählende „Wir“ und der damit einhergehende Eindruck der Homogenität, ja vielleicht sogar der eines zugrundeliegenden erkennenden „Wir“, aufgrund des in die Gruppe drängenden Sechsten nicht zugunsten eines erzählenden „Ich“ preisgegeben werden, andererseits wäre dieses, im Übrigen unmögliche, erkennende „Wir“ als Zeuge seiner eigenen Entstehung nicht zuletzt aus den von Koschorke dargelegten erkenntnistheoretischen Gründen nicht sonderlich überzeugend. Anders als Koschorke dies für kulturelle Anfangserzählungen beschrieben hat, inszeniert Kafkas Erzähler die Schwelle des Ursprungs samt des an dieser Grenze „vorbeigeschmuggelten“ „Wir“ also nicht, um dieses „Wir“ zum Zeugen seines eigenen Ursprungs zu machen, sondern um andere darauf zeigen lassen zu können. Durch diesen Kniff wird die Meinung der Leute als scheinbar objektive oder intersubjektive, für die Gestalt der Gruppe konstitutive Instanz inauguriert, wobei diese Meinung sodann ihrerseits nur mittelbar durch die potentiell manipulative Darstellung des Erzählers mitgeteilt wird. Der beschriebene kurzzeitige Wechsel von Erzählweise und Fokalisierung bei der Schilderung der Ursprungsszene kündigt jene Außenperspektive bereits an und macht sie erfahrbar, noch bevor in der Erzählung mit „den Leuten“ eine scheinbar unabhängige, allerdings höchst unterbestimmte Zeugenschaft aufgeboten wird. Der unspezifische Ausdruck „die Leute“ lässt an eine heterogene Menge zufällig Vorbeikommender denken. Um so erstaunlicher ist es, dass der Erzähler ihnen ein einziges direktes Zitat zuordnet: „‚Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen‘“. Da das „Wir“ aber bereits vorausgesetzt ist, kommt diese Zeugenschaft des vermeintlichen Ursprungs durch „die Leute“ notwendig zu spät. Unterstrichen wird diese Verspätung noch durch deren hinweisende Gesten – eine Geste, die sich auch sprachlich in der Verwendung des direkten Artikels sowie im Wechsel vom indirekten Artikel zum Demonstrativpronomen manifestiert –, denn auf etwas zeigen kann man nur, wenn es bereits da ist – über diese Nachträglichkeit kann auch das Wörtchen „jetzt“ nicht hinwegtäuschen, das diesen Zeugen in den Mund gelegt scheint. In all diesen kleinen Unstimmigkeiten, die stets den Interessen des Erzählers dienen, in der Perspektivierung, die die Einheit der Gruppe nie in Frage stellen lässt, im wohl kalkulierten Fokalisierungswechsel, im strategischen Einsatz des Bildmaterials, in der verzerrenden Auslassungen oder Verschleierungen von Begebenheiten, die sich, wenn überhaupt, nur implizit erschließen

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

lassen29 sowie in der willkürlichen Setzung eines Anfangs, der den Sechsten vom Rest der Gruppe abtrennt, wird das instrumentalisierende und manipulative Handanlegen des Erzählers an die von ihm in Anschlag gebrachte Gründungserzählung deutlich. Diese kommt gänzlich ohne Darstellungen von Liebe, Fürsorge, Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppenmitgliedern oder Ähnlichem aus. Der einzige Begriff, der etwas Sinnhaftes in die Konzeption des „Wir“, der Gemeinschaft bzw. der „Vereinigung“ einbringen könnte, ist jener der Freundschaft, doch seine Anwendung auf die Fünf scheint jeglicher Grundlage zu entbehren. Das Sinnhafte, das Begriffe wie Freundschaft potentiell mit sich bringen und in die Konzeption von Gemeinschaften hineintragen, wird vom Erzähler ausgezehrt, möglicherweise um jenen Effekt von Ursprungserzählungen zu minimieren, der die Sehnsucht nach Zugehörigkeit hervorrufen oder verstärken könnte. Gleichsam en passant offenbart der Text damit aber auch die genuine Leere und Sinnlosigkeit des Konzepts von Gemeinschaft, ihren unzureichenden Grund, um ihre Bereitschaft zur Ausgrenzung und zur Gewalt jedoch um so eindringlicher hervorzukehren. 3.2 Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft. Zu Kafkas Sündenfallumschriften Für die Imagination ‚wahrer‘30 Gemeinschaft im Singular mögen Ursprungsmythen zunächst nur bedingt geeignet erscheinen, denn sie soll sich gerade 29

30

Ich spiele hier auf meine bereits vorgebrachte begründete Vermutung an, dass unmittelbar nach dem Fünften sich bereits der Sechste angeschickt haben dürfte, in die Reihe zu stoßen. In diesem Sinne spricht etwa Martin Buber häufig von „wahrer“ Gemeinschaft, offenbar um deutlich zu machen, dass diese ideale Gemeinschaft eben nicht in der Sphäre des Idealen verbleiben, sondern gewissermaßen verlustfrei in jene der Realität überführt werden soll. Vgl. etwa Martin Buber. „Reden über das Judentum“. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Bd. 2. Gerlingen: Lambert Schneider, 1993, S. 88. Auf ähnliche Weise ist vielfach auch von ‚wahrer‘ Kultur die Rede. Siehe etwa Walther Rilla. „Kultur und Gesellschaft“. In: Die Erde 1 (1920), S. 1–11, S. 7. Im 35. Kapitel aus dem ersten Teil des Mann ohne Eigenschaften wird der Begriff des ‚Wahren‘ und die Frage der Möglichkeit seiner Verwirklichung zentral verhandelt. Hier sieht sich Direktor Leo Fischel mit der Frage nach seiner Auffassung von ‚wahrer Vaterlandsliebe, ‚wahrem Fortschritt‘ und ‚wahrem Österreich‘ in Verlegenheit gebracht. Ulrich, den er sodann zu Rate zieht, bringt ‚das Wahre‘ unmittelbar mit dem Prinzip des unzureichenden Grundes in Verbindung und versichert, dass sich niemand eine genaue Vorstellung von derlei unergründlichen Dingen machen könne, dennoch bringen sie gleich Katalysatoren oder Enzymen die Dinge in Gang, ohne selbst substanziell beizutragen und stehen eben darum im Begriff „verwirklicht zu werden“. Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Frisé. 26. Aufl. Bd. 1.

Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft

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nicht über das Prinzip von Ein- und Ausschluss konstituieren31 – also genau jenes Prinzip, dem Ursprungsmythen, wie soeben gezeigt, bei der Imagination „bestehender“ Gemeinschaften vorrangig zuarbeiten. Allerdings können Ursprungsmythen auch den Wunsch nach Zugehörigkeit wecken oder intensivieren, wodurch sie nicht zwangsweise auf Ausschluss zielen müssen. Sie erlauben die ahistorische, ideale Gemeinschaft narrativ mit jener temporalen Logik zu verknüpfen, die Anfangserzählungen ja gerade bemüht sind, zu etablieren. Damit wird es allererst möglich, sich eine überzeitliche ideale Gemeinschaft als eine anzustrebende kommende vorzustellen. Wird schon in der Schöpfungsgeschichte der Beginn der Zeitlichkeit durch einen Bruch, der kontingent bzw. paradox32 erscheint, von einem überzeitlichen „Davor“ abgesetzt, so bildet dieser Sprung das Vorbild für den Übergang hin zu einem stets kommenden, anzustrebenden Idealzustand. Wenn ‚wahre‘ Gemeinschaft als Wiederkehr einer verlorenen ursprünglichen Gemeinschaft konzeptualisiert wird, so findet das Nachdenken über dieses anzustrebende Ideal augenscheinlich nicht losgelöst von älteren Traditionen statt. Dies zeigt der Blick auf jene Traditionslinie politischen Denkens, die von Jean-Jacques Rousseau über die romantische Philosophie bis in die Gegenwart reicht.33 In der Auseinandersetzung mit und durch die Arbeit an entsprechenden Mythen können die jeweiligen Idealvorstellungen Gestalt annehmen. Damit werden diese Mythen zu einem wichtigen „Reflexionsmodell“34 all dieser Projekte.

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33 34

Reinbek bei Hamburg: Rohwolt Taschenbuch Verlag, 2011 (im Folgenden zit. als MoE), S. 135. „[I]n kühner Verdrehung“ des Leibniz’schen Prinzips des zureichenden Grundes wird somit gerade das Unergründliche, der grundlose Zufall zum Garant dafür erhoben, dass etwas geschieht, dass sich eine bestimmte Variante aus der Fülle gleichmöglicher Welten realisiert. Vgl. dazu auch Joseph Vogl. Über das Zaudern. 2. Aufl. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008, S. 62 ff. Vgl. etwa Rilla, s. Anm. 30. In Texten wie Bubers Alte und neue Gemeinschaft oder auch Otto Gross’ Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik zeigt sich allerdings, dass gerade die Forderung oder das Streben nach einer idealen, die gesamte Menschheit umfassende Gemeinschaft ihrerseits häufig zum identitätsstiftenden Merkmal erhoben wird und all jene ausgeschlossen werden, die dieser Forderung nicht nachkommen wollen. Paul R. Flohr und Bernard Susser. „‚Alte und neue Gemeinschaft‘. An Unpublished Buber Manuscript“. In: AJS Review 1.1976 (2016), S. 41–56, S. 50–56. Paradox erscheint dieser Bruch in der Schöpfungsgeschichte insofern als sich der Zeitpunkt der Schöpfung selbst eben nicht in eine Chronologie eintragen lässt. Die Erzählung reagiert auf diese Paradoxie, indem sie den Zeitpunkt der Schöpfung völlig kontingent mit „vor 5767 Jahren“ angibt. Vgl. Koschorke, s. Anm. 1, S. 6 f. Vgl. hierzu Joseph Vogl. „Einleitung“. In: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Hrsg. von Joseph Vogl. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994, S. 7–27, S. 7 ff. Vgl. Inka Mülder-Bach. „Am Anfang war ... der Fall. Ursprungsszenen der Moderne“. In: Am Anfang war ... Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. Hrsg. von In-

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

3.2.1 Produktive Ursprungsmythenrezeption im Gemeinschaftsdiskurs um 1900 In Kafkas literarischen Texten35 werden insbesondere zwei miteinander verbundene alttestamentarische Mythen aus dem ersten Buch Mose wiederholt aufgerufen und Gegenstand literarischer Umschriften, die im deutschsprachigen Gemeinschaftsdiskurs um 1900 als wiederkehrende Bezugspunkte besonders relevant sind: der im ersten Kapitel bereits thematisierte Mythos vom Turmbau zu Babel sowie der Sündenfallmythos. Beide versuchen als ätiologische Mythen, Erklärungen für die menschliche Erfahrung der Differenz anzugeben. Dabei kommt die Differenz als solche, die als Differenz zwischen den Menschen im Babelmythos mit dem Turmbau überwunden werden sollte, aber durch das Eingreifen Gottes zu noch weitreichenderer kultureller Verschiedenheit und Zerstreuung führt, im Sündenfallmythos allererst in die Welt. Denn er vermittelt narrativ, was „sich in systematischer Perspektive als Entstehung der Differenz aus der Einheit beschreiben“36 lässt. Im Babelmythos kann die Existenz des Menschen in der Differenz und seine Sehnsucht nach ihrer Überwindung also bereits vorausgesetzt und thematisiert werden, da der Mythos vom Sündenfall jene imaginierte Gründungsszene für das Selbstverständnis des Menschen als ein von Differenz und Trennungen durchsetztes Wesen liefert, die sein Streben nach ihrer Überwindung begründet. Der Sündenfall ist also jene Erzählung, die das Streben nach Sammlung und Einheit, wie sie im Babelmythos thematisiert wird, allererst notwendig erscheinen lässt und herausfordert. Im Folgenden soll daher das Hauptaugenmerk auf dem Mythos vom Sündenfall liegen und zunächst danach gefragt werden, auf welche Weise er zur Rückkehr in die Einheit ruft und weshalb er so anschlussfähig für jenen zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurs ist, den man mit Helmut Plessner sozial-radikalistisch nennen könnte.

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ka Mülder-Bach und Eckhard Schumacher. München: Wilhelm Fink, 2008, S. 107–129, S. 110. Der Sündenfall-Mythos ist v. a. in den sogenannten Zürauer Zetteln sowie in Notizen in deren Umfeld wiederholt Thema. Auch in Forschungen eines Hundes finden sich Resonanzen der Sündenfall-Geschichte. Eine Auflistung jener Stellen, die sich auf den Babel-Mythos beziehen, findet sich in Bertram Rohde. ‚und blätterte ein wenig in der Bibel‘ Studien zu Franz Kafkas Bibellektüre und ihren Auswirkungen auf sein Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 159. Sündenfall und Paradieserzählung werden v. a. auf den Seiten 197–215 thematisiert. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 107.

Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft

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Sündenfallmythos und sein Ruf zur Rückkehr Die Erzählung vom Sündenfall beschreibt die conditio humana als agonalen Zustand der Trennungen und Differenzen: Die Sphäre der sterblichen Menschen ist von jener des unsterblichen Gottes getrennt, Mann und Frau unterscheiden sich und stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, zwischen Schlange und Mensch besteht eine Feindschaft und die Natur, auf die der Mensch zum Überleben angewiesen ist, setzt ihm ebenfalls ihre Widerstände entgegen. Als ätiologischer Mythos antwortet die Erzählung auf die Frage, warum die conditio humana so ist, wie sie ist, indem sie diesen Zustand als Folge eines Übertritts erklärt.37 Dieser Übertritt wird zugleich temporal, topologisch und moralisch entfaltet. D. h. auf den Zustand der Einheit im Paradies vor aller Moral folgt – sei es als Strafe für die Übertretung des Gebots Gottes, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen oder aber als direkte Folge dieser Übertretung – der sündige Zustand der Differenz in der vom Paradies getrennten Welt. Der Ruf dieses Mythos zur Rückkehr in die Einheit, zur Überwindung von Differenz und Zerstreuung ergibt sich also zunächst aus der Tatsache, dass die Erzählung als Verlustgeschichte angelegt ist, wobei der verlorene Urstand mit Einheitssymboliken verknüpft wird. Das Narrativ der Verlustgeschichte impliziert, dass das, was verloren ist, die Gemeinschaft des Menschen mit Gott und die innere Einheit des Menschen selbst, wertvoll war und wiedererlangt werden soll. Der Zustand der Differenz ist dagegen negativ konnotiert, wenn er als leidvolle Erfahrung geschildert, als asymmetrisches Verhältnis zwischen Mann und Frau ausgedeutet, und als vom Menschen selbst verschuldete Folge oder Strafe Gottes für die Übertretung eines Verbots begriffen wird. Zudem verschärft sich das Problem der Fragmentierung des Menschen aufgrund seiner nunmehrigen Sterblichkeit auf der Ebene des Individuums, denn sein Fortbestehen kann der Mensch von nun an nur noch als Gattung durch biologische Vermehrung sicherstellen. Dabei weist die notwendig gewordene Vermehrung bereits auf die zukünftige Differenzierung in verschiedene Sprachen und Kulturen voraus. Die Deutung des Gegebenen als Sünde, als Strafe für ein Vergehen oder als selbstverschuldete Folge einer Verfehlung bei gleichzeitiger Aufwertung des Verlorenen im überzeitlichen „Davor“ erzeugt Gefühle des Bedauerns, der Schuld und des schlechten Gewissens. Sie sind die treibenden Kräfte hinter der hervorgerufenen Sehnsucht, die Verfehlung rückgängig zu machen und zum Ursprungsideal zurückzukehren. 37

Vgl. ebd., S. 107.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

Die zeitgenössische produktive Sündenfallrezeption Mit seiner pauschalen Abwertung der empirischen Welt als einer der leidvollen Differenzen im und zwischen den Menschen und seiner daraus resultierenden Sehnsucht nach einer Rückkehr zur paradiesischen Einheit des Menschen mit sich und Gott, bietet der Sündenfallmythos entscheidende Anknüpfungspunkte für den zeitgenössischen Diskurs der Gemeinschaft.38 Dies wird bereits in Helmut Plessners Buch Grenzen der Gemeinschaft von 1924 deutlich. Plessner sieht darin den Gemeinschaftsdiskurs am Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine Geisteshaltung geprägt, die er „sozialen Radikalismus“ nennt. Diese zeichne sich vornehmlich durch die Überzeugung aus, dass „wahrhaft Großes und Gutes nur aus bewußtem Rückgang auf die Wurzel der Existenz“39 entstehen könne. Da das Bestehende, Konkrete stets das Resultat eines Ausgleichs „zwischen den widerstreitenden Kräften der menschlichen Natur“40 darstelle, das unausweichlich „den Gesetzen der Verwirklichung und dem Zwang des Möglichen“41 unterworfen sei, bzw. sich stets aus einer unreinen Mischung aus Komponenten und Faktoren zusammensetze,42 begreife sich der Radikalismus als „Opposition gegen das Bestehende“.43 Seine Vertre38

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Tatsächlich wird der Sündenfallmythos am Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere in solchen Texten explizit aufgerufen, die ein Streben nach ‚wahrer‘ Gemeinschaft fordern. Einige Beispiele mögen hier genügen: Otto Gross. „Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik“. In: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift 1.2 (1919), S. 12–27; Anton Kuh. Juden und Deutsche. Ein Resumé. Berlin: Erich Reiß Verlag, 1921; Rilla, s. Anm. 30; Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 30, S. 92; Carl Dallago. „Weltbildung und Sündenfall (Der große Unwissende, II. Teil, Kapitel 7)“. In: Der Brenner 6.6 (1920), S. 453–478; Carl Dallago. „Die Gefangennahme der Liebe (Der große Unwissende, II. Teil, Kapitel 9)“. In: Der Brenner 6.8 (1921), S. 600–639; Willy Haas. „Hugo von Hofmannsthal“. In: Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Hrsg. von Gustav Krojanker. Berlin: Welt-Verlag, 1922, S. 139–164; Adolf Kölsch. „Ethik und Biologie“. In: Weiße Blätter 4.3 (1917), S. 4–15; Arno Nadel. „Der Sündenfall“. In: Der Sündenfall. Sieben biblische Szenen. Berlin: Jüdischer Verlag, 1920, S. 9–26; Arthur Ernst Rutra. „Genesis“. In: Die Wende. Eine Dreimonatsschrift für Dichtung und Kunst 1.2 (1918), S. 101–110. Hatte Inka Mülder-Bach bereits 2008 festgestellt, dass „übergreifende literaturwissenschaftliche Untersuchungen zur Arbeit am Sündenfall-Mythos die Ausnahme“ bilden, so trifft diese Feststellung nach wie vor zu. Vgl. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 112, Fußnote 23. Helmuth Plessner. „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924)“. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker. Bd. V, Macht und menschliche Natur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 7– 133, S. 14. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 14.

Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft

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ter trachten danach, am Ursprung, an der Wurzel der Existenz, die einzelnen Komponenten und Faktoren zu isolieren, um einzelne von ihnen gereinigt zu Kräften der Produktion dessen zu erheben, was ihnen als erstrebenswert erscheine.44 Dabei hat die Erfahrung der Fragmentierung des menschlichen Wesens die Unverfügbarkeit eines einheitlichen Ursprungs des Menschen deutlich gemacht und die Sehnsucht nach einem solchen Ursprung zusätzlich befeuert. In Die Ordnung der Dinge beschreibt Foucault diese Unverfügbarkeit des Ursprungs im Wechsel vom ‚klassischen‘ zum ‚modernen‘ Denken zugleich als „Zurückweichen und […] Wiederkehr des Ursprungs“.45 Dem ‚modernen‘ Denken sei demnach der Ursprung in doppelter Weise entzogen: erstens durch ein Zurückweichen des Ursprungs jener Dinge, die die Erfahrung des Menschen und damit auch die Erfahrung seiner selbst als Mensch bilden, begrenzen und determinieren. Zu diesen Dingen zählen etwa das Leben, die Sprache, die Arbeit und – so lässt sich hinzufügen – die Gemeinschaft, da sich der Mensch als lebendiges, sprechendes, arbeitendes und soziales Wesen begreift. Von einem Zurückweichen des Ursprungs dieser Dinge lässt sich insofern sprechen, als die Genesen dieser Dinge jeweils in einer Zeit liegen, in der sich der Mensch als Mensch nicht Wiedererkennen würde. Die Ursprünge der Gemeinschaft, der Sprache, der Arbeit bzw. die Ursprünge des Menschen in seinen Eigenschaften als gemeinschaftliches, sprechendes, arbeitendes Wesen, weisen in je unterschiedliche, nicht genau bestimmbare Punkte in der Vergangenheit zurück, an denen – das ist ihre einzige Gemeinsamkeit – vom Menschen als Menschen noch nicht die Rede sein kann. Die Historizität dieser Dinge, die den Menschen und seine Fähigkeit zur Erkenntnis determinieren, in denen man immer wieder versucht hat, die Essenz des Menschen aufzusuchen, und zu denen spätestens seit Aristoteles auch die Gemeinschaft gezählt wurde, weisen auf je unterschiedliche Ursprünge, die dem menschlichen Erkennen ihrerseits nicht zugänglich sind, da sie bereits vor dem Menschen begonnen haben. Umgekehrt haben aber all diese Dinge selbst ihren jeweiligen Ursprung gewissermaßen im Menschen, nämlich einerseits in seinen historischen Vorläufern, andererseits, weil sie vor dem Hintergrund des Versuchs einer Wesensbestimmung des Menschen als Gegenstände allererst denkbar werden. Um „den Ursprung“ des Menschen festmachen zu können, der bestenfalls in der Form einer Summe der Ursprünge jener Faktoren gege44 45

Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. von Ulrich Köppen. 18. Aufl. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 96. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003, S. 396 ff.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

ben ist, die den Menschen ausmachen, muss allererst bestimmt werden, was diese Faktoren sind, die das Wesen des Menschen ausmachen. Dies macht man sich im 19. Jhdt. zur unabschließbaren Aufgabe. Hierin liegt die zweite Art der Unverfügbarkeit des Ursprungs: sein Zurückweichen in die Zukunft, seine verheißene Wiederholung.46 Die Erfahrung dieser doppelten Unverfügbarkeit des Ursprungs, die Ahnung dessen, dass das Ursprüngliche im Mensch das ist, „was von Anfang an ihn nach etwas anderem gliedert als ihm selbst“,47 der Verdacht, dass das, was den Menschen existieren lässt, ihm nicht zeitgenössisch ist,48 begünstigt die um 1900 weit verbreitete radikalistische Geisteshaltung, im Rahmen derer sich auch die Bezugnahme auf den biblischen Sündenfallmythos entscheidend wandelt. Während dieser Mythos von zentralen Figuren der Aufklärung aufgerufen wurde, um ihn zu depotenzieren, da die Verknüpfung von Erkenntnis und Schuld mit dem eigenen aufklärerischen Projekt kaum vereinbar schien, deutet man ihn am Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach als historisches Zeugnis eines kulturellen Wendepunkts, der jenen desaströsen kulturellen Niedergang einleitet, den man bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt wahrzunehmen vermeint – eine Deutung der Ereignisse, die sich in der Erfahrung des Ersten Weltkriegs vielfach bestätigt sieht. Dabei wurde der Krieg gerade aus sozial-radikalistischer Sicht zunächst noch häufig als kathartischer RückFall in eine präreflexive Ordnung herbeigesehnt, der die Last der Zivilisation beseitige und mit diesem gründenden Opfer den Weg frei mache für einen kulturellen Neubeginn.49 Die „Opposition gegen das Bestehende“, wie sie sich etwa in der zeitgenössischen Ablehnung der „Gesellschaft“ im Sinne Tönnies’ oder auch der „Zivilisation“ zeigt, lässt sich mit der im Sündenfall-Mythos vollzogenen Abwertung der irdischen Welt als sündig in Verbindung bringen. Umgekehrt ist die daraus erwachsende Forderung nach einem Rückgang auf die Wurzel der Existenz wiederum für den Ruf des Mythos zu Einheit und Rückkehr zum Ursprung empfänglich, wobei der Urstand mit dem eigenen Gemeinschaftsideal enggeführt werden kann. Plessner sieht den sozialen Radikalismus im Protestantismus lutherischer Prägung, der sich am Geiste des Urchristentums orientiert, am reinsten verwirklicht. Insofern verwundert es nicht, dass er gerade das „Bewußtsein von 46 47 48 49

Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, s. Anm. 45, S. 402. Ebd., S. 399. Vgl. ebd., S. 403. Vgl. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 119 f., 125.

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der Erbsünde, von dem gefallenen Charakter des Menschen“ „zu den lebendigsten Antrieben des Radikalismus“50 zählt. Doch die Referenz auf den Sündenfall beschränkt sich keineswegs auf den Protestantismus. Vielmehr stellt der Sündenfall-Mythos in sämtlichen Bewegungen, die mit dem sozialen Radikalismus in Verbindung stehen, einen wichtigen Bezugspunkt dar – im Anarchismus und Expressionismus ebenso wie in der Jugendbewegung und dem bei Plessner prominent ignorierten Kulturzionismus, für den der Protestantismus seinerseits einen wichtigen Anknüpfungspunkt darstellt. Im zeitgenössischen Diskurs ‚wahrer‘ Gemeinschaft bzw. im Rahmen einer geforderten kulturellen Erneuerung des Zusammenlebens bildet besonders die Fort- oder Umschreibung der Sündenfallgeschichte von einer plötzlich sich vollziehenden Verlustgeschichte zum geschichtsphilosophischen Metanarrativ einer kontinuierlichen Verfallsgeschichte, wie sie Jean-Jacques Rousseau wirkmächtig vorgenommen hat,51 häufig den Hintergrund, vor dem die gegebenen Verhältnisse als Fehlentwicklung erscheinen, die es zu korrigieren, zu überwinden, umzustürzen gilt, indem man zurück zu den archaischen Anfängen strebt. Exemplarisch lässt sich diese reflexive Art der Bezugnahme auf den Sündenfallmythos im zeitgenössischen Diskurs idealer Gemeinschaft etwa an Otto Gross’ Aufsatz Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik zeigen. Gross bietet sich als Beispiel in besonderer Weise an, da er zum erweiterten Umfeld Kafkas zählen kann52 und – obwohl säkular – der Beschreibung des sozialen Radikalismus durch Plessner, der diesen am deutlichsten im lutherischen Protestantismus verwirklicht sieht, geradezu Punkt für Punkt entspricht. Da man sich auch in anderen zeitgenössischen, emphatisch die Verwirklichung ‚wahrer‘ Gemeinschaft fordernden Texten affirmativ auf diesen

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Plessner, s. Anm. 39, S. 19. Wilhelm Schmidt-Biggemann. „Geschichte der Erbsünde in der Aufklärung. Philosophiegeschichtliche Mutmaßungen“. In: Geschichte der Erbsünde in der Aufklärung. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. 6. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993, S. 88–116, S. 99– 103. Immerhin erschien Kafka Gross’ nie realisiertes Zeitschriftenprojekt Blätter gegen den Machtwillen „längere Zeit hindurch verlockend“ weil sie ihm „wenigstens an jenem Abend, [Kafka war am 23. Juli 1917 in Brods Wohnung mit Gross zusammengetroffen, Anm. C.D.] aus einem Feuer einer gewissen persönlichen Verbundenheit hervorzugehen schien. Zeichen eines persönlich aneinander gebundenen Strebens, mehr kann vielleicht eine Zeitschrift nicht sein.“ vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005 (im Folgenden zit. als KKABr 3), S. 364 und den entsprechenden Kommentar auf S. 699 bzw. S. 678 f.

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Aufsatz bezieht bzw. auf Quellen beruft, die auch seinem Text zugrundeliegen,53 wird hier etwas ausführlicher auf ihn eingegangen. Am Beginn seiner Ausführungen macht Otto Gross sogleich deutlich, dass sich seine Auslegung gegen die etablierten Lesarten des Sündenfallmythos wende. Dieser werde nämlich dafür missbraucht, genau jene gegebenen autoritären Verhältnisse und Institutionen zu legitimieren, die, wie (s)eine unbefangene Lektüre deutlich mache, darin gerade missbilligt würden.54 Dagegen legt Gross eine neue historisierende und psychologisierende Lesart der Sündenfallgeschichte vor, in der diese als Zeugnis bzw. Ur-Kunde eines kulturellen Wandels von einer „mutterrechtlich-kommunistischen Gesellschaftsordnung der Urzeit“55 hin zu jenem patriarchalen autoritativen System erscheint, das noch immer und mit zunehmender Gewalt die Gegenwart beherrsche. Um plausibel zu machen, dass die Sündenfallgeschichte mit ihrem Verlustnarrativ nicht nur eine punktuelle historische Verlusterfahrung wiedergibt, sondern mit dieser Zäsur auch einen real eingetretenen kulturellen Niedergang während der folgenden drei Jahrtausende antizipiert habe, muss Gross weitere Hinweise für diesen Verfall aufbieten. Ohne dies explizit zu machen, überträgt Gross hierfür offenbar die biogenetische Grundregel Haeckels, wonach die Ontogenese die Phylogenese rekapituliere, auf die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten des Menschen, wenn er es als selbstverständlich voraussetzt, von der geistigen Entwicklung von Kindern lasse sich auf entsprechende Zusammenhänge in der Entwicklung der Menschheit als Ganzer schließen.56 Diese Entwicklung vollzieht sich nach Gross nun gerade nicht gemäß der Evolutionstheorie vom Einfachen zum Komplexen, wie man vielleicht erwarten würde, sondern unnatürlicherweise und als Folge des vom Menschen geschaffenen autoritären Umfelds, vom Vollkommenen zum Unvollkommenen. So zeige der Spracherwerb, den Kinder mühelos und mit großer Perfektion durchlaufen und der in späteren Lebensphasen mit ungleich größeren Anstrengungen verbunden ist, dass Qualitäten, die im Säugling angelegt seien, durch die autoritären Einwirkungen der Umgebung zunehmend unterdrückt werden. Analog dazu trenne das vor Jahrtausenden eingesetzte Machtprinzip 53

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Vgl. etwa Kuh, s. Anm. 38, S. 16 ff. und Rilla, s. Anm. 30, S. 7 f. Gemeinsame Quellen betreffen u. a. anthropologische Studien Petr Kropotkins, Überlegungen Nietzsches zum Verhältnis von Kultur und Zivilisation sowie Bachofens Abhandlung zum Mutterrecht. Vgl. Gross, „Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik“, s. Anm. 38, S. 13 Gross belegt diese Aussage nicht. Tatsächlich bestätigt sie sich aber etwa mit Blick auf die Ausführungen in Dallago, „Die Gefangennahme der Liebe (Der große Unwissende, II. Teil, Kapitel 9)“, s. Anm. 38. Gross, „Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik“, s. Anm. 38, S. 13. Vgl. ebd., S. 13.

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die gegenwärtige Menschheit als Ganze von ihrer goldenen Anfangsperiode und ihrer ersten Entfaltung der artgemäß angelegten Möglichkeiten, die zu Errungenschaften wie „der Idee der Kultur“, der Konzeptionen von „Gemeinschaft und Verständigung“ sowie zu „Abstraktion und Sprache“57 geführt haben. Entsprechend scheine „tiefer Sinn in jenen Mythen“ zu sein, „die das Geschlecht der Uebermenschen in die Vergangenheit, an den Beginn der Menschheit zurückverlegen.“58 Am Beginn der damit vorausgesetzten Verfallsgeschichte hätten Gross zufolge Menschen gestanden, die sich durch „tierhaft primitiv[e] Organisation und Materialbeherrschung und übermenschlich groß erschlossen[e] Entfaltungsmöglichkeit des Geistes“59 auszeichneten. Mit zunehmendem zivilisatorischem Fortgang habe sich dieses Verhältnis umgekehrt: Die immer komplexere Organisation der Herrschaft über Natur und Menschen habe immer mehr kognitive Ressourcen gebunden und so die geistigen Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt. Der Geist wurde einem Zugewinn an Macht geopfert.60 Unter all den Mythen, die den Übermenschen an den Beginn der Menschheit stellen, könne die Genesis als „die Hochkunstfassung des Urzeiterbes“61 gelten. In ihr werde als Sündenfall jener „Vorgang der Urzeit“62 festgehalten, durch welchen Gesellschaft und Individuum fortan „entscheidend umgeprägt“63 worden seien. Als diesen Vorgang identifiziert Gross „die Abkehr vom freien Mutterrecht der Urzeit“64 hin „zum Aufbau einer neuen Familie und Gesellschaft auf dem Prinzip der Autorität“,65 „die von der Genesis als die Alles entscheidende Menschheitsverirrung erkannt und als Sünde gegen den göttlichen Geist und Willen gewertet“66 werde. Denn was bisherige Lesarten, die die Herrschaft des Mannes über die Frau als von Gott selbst angeordnet legitimieren, stets vernachlässigten, sei die Tatsache, dass in der Sündenfallgeschichte „Ehe und Abhängigkeit der Frau“67 sowie „das negierende Werturteil über die Sexualität“68 (und nicht entsprechend der verbreiteten 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Ebd., S. 14. Ebd., S. 14 [Hier wie in allen folgenden Zitaten, so nicht anders vermerkt: Hervorh. im Original]. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 17. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

Auffassung die Sexualität selbst) „als Uebel und Konsequenz gottwidrigen Tuns“69 gewertet wird. In dieser Mutterrechtsordnung, die Gross mehrfach mit der kommunistischen Gesellschaft gleichsetzt, erkennt er „die vollkommenste Form der Vergesellschaftung“,70 da hier „die Gesamtheit aller möglichen Rechte und Pflichten, Verantwortung und Gebundenheit“,71 die insbesondere aus der notwendigen Versorgung von Kindern erwachse, auf die Gesellschaft als Ganze übergehe. Die Mutterschaft wertet Gross „als größte der Gesellschaft […] dargebrachte Leistung“72 , die deren Fortbestehen sichert und so zur Gegenleistung der Versorgung der Kinder auffordere. Dadurch werde „die Beziehung zwischen den Geschlechtern rein von Pflicht und Moral und Verantwortlichkeit“73 gehalten, rein „von wirtschaftlichen, rechtlichen, moralischen Verbindlichkeiten, von Macht und Unterwerfung; rein von Vertrag und Autorität, rein von Ehe und Prostitution.“74 Als Grund für die Abkehr von diesem Idealzustand vermutet Gross sozioökonomische Veränderungen, die den sozialen Zusammenhalt schwächten und so eine Situation erzeugten, in der sich die Frau Vorteile von einem Rechtsund Vertragsmoment zwischen den Geschlechtern versprochen habe.75 Hinweise darauf vermeint Gross in der Genesis im Teilen der Frucht durch die Frau zu erkennen – ihm zufolge ein „uralte[s], universelle[s] Symbol des Abschließens von Verträgen“.76 Das Vertragsverhältnis, in dem sich der Mann zur Versorgung von Frau und Kindern verpflichtet, werfe sodann das Problem einer Gegenleistung durch die Frau auf. Diese Gegenleistung sei „die Sexualität“, die von der Frau fortan zu einem „Objekt[] der Scham“77 umgewertet werde, um sie als Übel hinzustellen, für das sie Entschädigung verlangen könne. An die Stelle von Beziehungen um ihrer Selbstwillen, wie sie das Mutterrecht garantiert habe, trete ein Kampf um Macht zwischen den Geschlechtern.78 Was den realhistorischen Entstehungskontext des Sündenfallmythos betrifft so vermutet Gross, dass die Ablösung des Mutterrechts durch die patriarchale Autorität ein längerer konfliktreicher Prozess war und der Mythos 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Gross, „Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik“, s. Anm. 38, S. 15. Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 21. Ebd., S. 19. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 23.

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vom Sündenfall unter dem Eindruck eines Kampfes „zwischen dem autoritärtheokratischen Monotheismus der Propheten und dem Astartekultus“79 entstanden sein könnte. In letzterem hätte sich noch als letztes Refugium alles „konzentriert, was noch an Frauen-Freiheit und Frauenwürde erhalten geblieben war.“80 Im Kampf der älteren Kulte gegen das Prophetentum habe „der Dichter der Genesis das letzte Flackern des erlöschenden Menschheitskampfes, das Ende des großen Ringens um das alte Mutterrechtsideal“81 erkannt und den Beginn einer bis in die Gegenwart andauernden Epoche vorausgesehen, deren Zivilisation durch die völlige Herrschaft vaterrechtlicher Autorität organisiert sei. Die „Erlösungsmission der Zukunft“82 liege im „Wiedergewinn des verlorenen Gutes durch Umsturz des […] autoritativen Systems“,83 im „Rückgängigmachen aller und jeder Wirkung der falschen Entwicklungsrichtung, auf welcher sich die Menschheit seit ihrer Abkehrung von der mutterrechtlichkommunistischen Gesellschaftsordnung der Urzeit und der Begründung von Familie und Gesellschaft auf Autorität und Hierarchie“84 befinde, in der Befreiung von der eigentlichen Erbsünde: „dem Willen zur Macht.“85 Es scheint, als sei Gross am Ende selbst erschrocken über die Regressivität seiner Retrotopie86 , wenn er es tieferschütternd findet, dass das, was wir uns als höchste Erfüllung vorstellen können, nichts anderes als das „Wiederaufheben einer Menschheitsverfehlung, nur Wiedergewinnen eines vor unausdenkbaren Zeiten verlorenen Gutes […] sein kann.“87 Doch für ihn wird wahrer kultureller Fortschritt erst wieder einsetzen, wenn die bestehenden Verhältnisse restlos zugunsten des ursprünglichen Zustandes des Mutterrechts und der reinen Potentialität umgestürzt sein werden, und dafür scheint ihm kein Opfer zu groß zu sein: Was auf dem ganzen langen Weg der Menschheit bisher errungen worden ist – wenn es im großen Kampf zu Grunde geht, wir wollen es verschmerzen. Das Höchste, was der Geist bisher vollbringen konnte, war das Erkennen eines Einzigen vor drei Jahrtausenden, daß Alles, Alles Irrtum, Fehlentwicklung und Versündigung ist, und daß die höchste, die 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Ebd., S. 26. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 26. Zygmunt Bauman führt diesen Begriff in seinem letzten Buch „Retrotopia“ ein. Vgl. Zygmunt Bauman. Retrotopia. Cambridge, Malden: Polity Press, 2017. Gross, „Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik“, s. Anm. 38, S. 26.

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erlösende Tat die Wiederaufhebung dieser ganzen Entwicklung und Alles durch sie Bestehenden sein wird. Wir aber, deren ganzes Leben keinen anderen Sinn mehr haben kann, als ein Bekämpfen bis ans Ende von Allem, was zur Zeit besteht, uns ist das Recht gegeben auszusprechen, daß dieser Eine sondergleichen – unser ist. –88

Radikaler lässt sich die „Opposition gegen das Bestehende“, wie sie Plessner als Charakteristikum des sozialen Radikalismus beschreibt, kaum formulieren. Am Ende macht Gross diese Haltung zum klassischen Zugehörigkeitsund somit auch Ausschlusskriterium, für ein „Wir“ und ermöglicht so, den von ihm angenommenen „Denker“ und „Dichter der Genesis“ für das eigene Projekt der Wiederherstellung einer alten Ordnung, so wie er sie aus dem Bibeltext und mit Hilfe anderer Theorien und Methoden rekonstruiert und imaginiert, zu vereinnahmen bzw. das eigene Projekt in eine Traditionslinie zu stellen, die bis in biblische Vorzeit zurückreicht, um es so zu legitimieren. Zugleich fällt er damit allerdings hinter den Anspruch eine ideale, grenzenlose Gemeinschaft aufzubauen, zurück.89 Je nach dem, was an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen kritisiert wird, welchen Theorien, Methoden und Zielen man sich im eigenen Projekt ihrer Überwindung verschrieben hat, variieren die Vorstellungen bzw. „Rekonstruktionen“ einer historischen Urgemeinschaft und des Anlasses für die mit ihm einsetzende Verfallsgeschichte, für die der Sündenfallmythos dann als frühestes historisches Zeugnis, als Ausdruck einer Verlusterfahrung in der Urzeit angeführt werden kann, die sich an den Beginn jener langen Reihe an Verlusterfahrungen stellen lässt, die als seine Umschrift die große Erzählung einer Verfallsgeschichte abgibt. Über den Umweg der Historisierung und der Umschrift also wird jenes Verlust-Narrativ, das die Sündenfallgeschichte entfaltet und kraft derer sie zur Einheit ruft, auf das selbst in Anschlag gebrachte geschichtsphilosophische Metanarrativ einer Verfalls- und Verlusterzählung übertragen. Gerade seine Historisierung und seine psychologisierende Auslegung erlauben es, den Mythos stets als Zeichen/Symptom seiner Entstehungszeit zu lesen und einen Interpretationsspielraum zu öffnen, der es ermöglicht, jenes Streben, das sich in ihm ausdrückt, bereits als das gleiche Streben präsentieren zu können, das mit dem eigenen Projekt verfolgt wird, womit es mit Autorität durch Anciennität ausgestattet wird. Wenn die Neuinterpretationen des Sündenfallmythos neue Imaginationen des Ursprünglichen hervorbringen, die dann wiederum als Blaupause für jenen Idealzustand dienen, der mit dem ei88 89

Gross, „Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik“, s. Anm. 38, S. 26 f. Bzw. werden bereits beim Aufbau jene Prinzipien verraten, die zukünftig gelten sollen.

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genen Projekt wiedererlangt werden soll, so kann der Sündenfallmythos als „Reflexionsmodell der Moderne“90 verstanden werden. Weitere Projekte aus Kafkas Umfeld, die auf kulturelle Erneuerung bzw. Erneuerung der Gemeinschaft zielen und die in ähnlicher Weise den Sündenfallmythos als „Reflexionsmodell“ des eigenen Unternehmens einsetzen, finden sich etwa im sogenannten Kulturzionismus. Auch hier führt der Weg zur ‚wahren‘ Gemeinschaft unter großer Opferbereitschaft zurück an den Ursprung: So versucht beispielsweise Martin Buber in seiner zweiten Rede über das Judentum: Das Judentum und die Menschheit die Juden als jenes Volk zu profilieren, bei dem das Dualitätsbewusstsein seit jeher am ausgeprägtesten sei. Daher erkläre sich ihr unaufhörliches Streben nach Einheit, ihr Bauen an einer die ganze Menschheit umfassenden, kommenden göttlichen Gemeinschaft auf Erden. Den Mythos vom Sündenfall wertet Buber dabei als stärksten Ausdruck der urzeitlichen Entwicklung des extremen Dualitätsbewußtseins im Judentum.91 Dieser Mythus […] setzt die Elemente Gut und Böse; die deutlichsten und wirksamsten aller Inhalte der inneren Dualität, und er tut es mit einer unvergleichlichen Macht und Klarheit. Er stellt das, was dem Menschen aufgegeben ist, als eine Wahl, als eine Entscheidung dar, und er macht die Zukunft von dieser Entscheidung abhängig.92

Diese Aufgabe bestehe nach Buber in der Verwirklichung Gottes qua Entscheidung zum Bau an der idealen Gemeinschaft, an einer „Welt der Einheit“.93 In der Verkündigung dieser kommenden Gemeinschaft liege auch 90 91

92 93

Vgl. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 110. Der Genitiv ist dabei im doppelten Sinn, als subjectivus und als objectivus zu lesen. Dass die kulturzionistischen Rekonstruktionen eines möglichst ursprünglichen und damit wesenhaften Judentums untereinander und mitunter auch innerhalb unterschiedlicher Texte des selben Autors nicht immer kompatibel scheinen, deutet auf eine Suchbewegung in dieser Frage hin. So lässt sich die Profilierung der Juden als Volk mit dem ausgeprägtesten Dualitätsbewusstsein und dadurch auch mit dem seit jeher stärksten Streben nach Einheit nur schwer mit der Behauptung in Einklang bringen, dass die Trennung in eine empirische und eine göttliche Welt den Juden ursprünglich wesensfremd gewesen wäre, wie etwa Brod in Heidentum – Christentum – Judentum suggeriert. Zugleich wird die Übernahme einer Trennung in eine sinnliche und eine geistige Welt vom Christentum im Zuge der Diaspora bei Buber als Schlusspunkt einer langen Geschichte der zunehmenden Trennung von Empirie und Transzendentalem dargestellt, die immerhin bereits mit der Abkehr von der Vorstellung göttlicher Herrschaft unter König Samuel einsetzte: Er führte die Erbfolge ein, wodurch der König nicht mehr (aufgrund seiner gottgegebenen herausragenden Eigenschaften) als von Gott erwählt erscheinen konnte und leitete damit eine Trennung von Staat und Religion ein. Vgl. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 30, S. 93 ff. Ebd., S. 21. Ebd., S. 27.

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die Bedeutung des Judentums für die Menschheit.94 Doch auch hier sind die geforderte Rückkehr zum „Urjudentum“ sowie die Erlösung der gesamten Menschheit durch die Schaffung einer neuen Gemeinschaft paradoxerweise nur durch ein Bekenntnis zu Ausschluss und Opferbereitschaft zu haben. Denn so, wie man in sich Einheit durch Ausschluss des Unreinen, Unfreien, Unfruchtbaren herstellen solle, müsse man auch „im Volke“ den Unwürdigen „die Gemeinschaft absagen.“ Es gelte hier „die Sache […] zwischen Urjuden und Galuthjuden. Urjude aber nenne ich den, der in sich der großen Kräfte des Urjudentums bewußt wird und sich für sie, für ihre Aktivierung, für ihr Werkwerden entscheidet.“95 Bei Gross wie bei Buber96 wird also die Sündenfallerzählung als Zeugnis für einen frühesten Vorläufer des je eigenen Projekts zur Verwirklichung idealer Gemeinschaft (einer mutterrechtlich-kommunistischen bzw. einer göttlichen, die gesamte Menschheit umfassenden irdischen) aufgerufen. Beide versuchen damit ihre Projekte in eine weit zurückreichende Traditionslinie zu stellen und sie so zu autorisieren. Otto Gross’ Artikel und Bubers Reden sind zentrale Referenzpunkte im Gemeinschaftsdiskurs am Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem man vielfach Hoffnungen auf eine kulturelle Neugeburt qua Regression ins Archaische in Kombination mit einem gründenden Opfer setzt. Jedenfalls deckt sich diese Tendenz mit der Einschätzung Inka Mülder-Bachs. Ihr zufolge mündet diese Hoffnung in jene Euphorie, mit der der Erste Weltkrieg von vielen „als Katharsis des dekadenten Sozialkörpers – als Reinigung seiner degenerativen Elemente und Stählung seiner erschlafften und erschöpften Nerven – herbeigesehnt, herbeigeredet und schließlich herbeigeführt“97 wurde. Allerdings gilt es die Heterogenität des damaligen Diskurses, die sich nach dem Krieg noch intensiviert, anzuerkennen. So bezieht sich etwa Anton Kuh zwar affirmativ auf Gross’ Ausführungen zum Sündenfall, positioniert sich mit Blick auf den Zionismus aber explizit gegen den zionistischen Ruf „zurück in die warme Stube“,98 gegen die romantisierende Konstruktion eines Urjuden, den man aus westjüdischer Perspektive im Ostjudentum zu erkennen meine, um resümierend festzustellen: „Urvolk94 95 96

97 98

Vgl. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 30, S. 27. Ebd., S. 25. Hier ließe sich auch Kurt M. Singer, ein enger Freund Bubers mit seinem Aufsatz Von der Sendung des Judentums anführen. Siehe Kurt M. Singer. „Von der Sendung des Judentums. Ideen zur Philosophie Henri Bergsons“. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. von Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt Wolff, 1913, S. 71–100. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 125. Kuh, s. Anm. 38, S. 26.

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Glaube […] bringt uns nicht weiter!“99 Dies hindert Max Brod in seiner in der Selbstwehr abgedruckten Rezension auf Kuhs Buch100 allerdings keineswegs ihm zu unterstellen, das Judentum konstituiere sich ihm zufolge einzig durch die „von Nietzsche und Krapotkin geschaute Urgemeinschaft der Starken.“101 Überdies wirft er Kuh vor, den Zionismus zu pauschalisierend darzustellen, was er auf eine fehlende Rezeption seiner vielfältigen Vertreter zurückführt. Daher versäume er es auch die innerzionistische Kritik angemessen zu würdigen, die insbesondere in den Veröffentlichungen Martin Bubers nachzulesen wären. Mit Buber beruft sich Brod allerdings gerade auf jenen Denker, der – wie dargestellt – wirkmächtig Urjuden von Galuthjuden unterscheidet.102 Geschichtlicher Abriss der produktiven Sündenfallrezeption Auch wenn die Sündenfallgeschichte unter Kafkas Zeitgenossen Gegenstand von Historisierungen, Umdeutungen und Neuauslegungen wird, wobei in der vorgeblichen Rekonstruktion einer historischen Urgemeinschaft und der Umstände ihrer Transformation vor allem die eigenen Idealvorstellungen Gestalt annehmen, so bezieht man sich im Kern überwiegend affirmativ auf diesen Mythos und sein Verlustnarrativ. Eine diachrone Perspektivierung der produktiven Sündenfallrezeption, wie sie Inka Mülder-Bach vornimmt, erlaubt in weiterer Folge einzuschätzen, in welcher Weise sich Kafka mit seinen Sündenfall-Umschriften und seinen Umschriften zweiter Ordnung zu dieser Traditionslinie mit ihren jeweiligen Absetzbewegungen und Brüchen ins Verhältnis setzt. Und sie zeigt auch, dass die Referenzen auf die Sündenfallgeschichte keineswegs immer so affirmativ 99 Ebd., S. 30. 100 Max Brod. „Der Nietzsche-Liberale. (Bemerkungen zu dem Buch von Anton Kuh „Juden und Deutsche“.)“ In: Selbstwehr 15.13 (1921), S. 1–2; Max Brod. „Der Nietzsche-Liberale. (Schluss)“. In: Selbstwehr 15.14 (1921), S. 1–2. Den zweiten Teil hat Kafka nachweislich gelesen, wie aus einem vermutlich Anfang Mai 1921 geschriebenen Brief Kafkas an Max Brod hervorgeht: „Nicht einmal was in der Selbstwehr erscheint, erfahre ich vollständig, von dem Kuh-Aufsatz z. B. (ein wenig wild, ein wenig in hohen Tönen, ein wenig eilig, aber eine solche Freude zu lesen) kenne ich nur den zweiten Teil.“ Max Brod und Franz Kafka. Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Bd. 2. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1989, S. 339. 101 Brod, „Der Nietzsche-Liberale.“, s. Anm. 100, S. 2. 102 Zur Konstellation Kafka – Gross – Kuh sowie zur Rezeption Kuhs durch die Prager Zionisten siehe ausführlicher Andreas B. Kilcher. „Anti-Ödipus im Land der Ur-Väter. Franz Kafka und Anton Kuh“. In: Kafka, Zionism and Beyond. Hrsg. von Mark H Gelber. Tübingen: Niemeyer, 2004, S. 69–88.

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ausfielen, wie dies für die Mehrzahl der entsprechenden Texte am Beginn des 20. Jahrhunderts zutrifft. Besonders zur Zeit der Aufklärung setzt eine intensive Arbeit am Mythos ein, wobei die Debatte um den Ursprung der Kultur eine wichtige Bühne für die Transformation des Sündenfalls in eine Reflexionsfigur der Moderne darstellt.103 Eine entscheidende Rolle nimmt darin Rousseaus Discours sur l’inégalité ein, wenn er die Struktur des biblischen Mythos als Bewegung von paradiesischem Urzustand über Fall, Erbschuld und Korruption implizit aufruft.104 Die Darstellung in der Genesis, derzufolge der Drang nach Erkenntnis der Ursprung allen Übels sei, steht dem Projekt der Aufklärung allerdings ebenso entgegen wie der grand récit vom gefallenen Menschen. Entsprechend wird im deutschsprachigen Raum die Sündenfallerzählung explizit aufgerufen, um sie aktiv zu entkräften, wobei versucht wird, den Sündenfall als felix culpa umzudeuten, als „Mittel zum Zweck des Guten“, als Beginn menschlicher Freiheit.105 Dabei setzen zentrale Vertreter der Aufklärung bei der Depotenzierung jener Mythen gezwungenermaßen weniger auf die Kraft des Aufklärens, als auf das Erzählen anderer, „widerstreitender Anfangsgeschichten“,106 d. h. auf Umschriften. So stellt etwa Kant dem Sündenfallmythos mit seinem Text Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte eine Antifiktion entgegen, die die biblische Erzählung zu einer „Kunde von den ersten Schritten und Fortschritten der menschlichen Vernunft“107 umdeutet. Am Beginn seines Textes unterscheidet Kant Überlieferungslücken, die den „Fortgange einer Geschichte“108 betreffen, von Ursprungslücken, also von Lü103 Vgl. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 110. 104 Vgl. ebd., S. 110 sowie Schmidt-Biggemann, s. Anm. 51, S. 99–103. 105 Vgl. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 108. In dieser Weise wird auch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre der Babelmythos durch Leonardo umgedeutet: „Nun beschaue man den Erdball […] und hefte den Blick auf das feste Land und staune, wie es mit einem sich wimmelnd durchkreuzenden Ameisengeschlecht übergossen ist. Hiezu hat Gott der Herr selbst Anlaß gegeben, indem er, den babylonischen Turmbau verhindernd, das Menschengeschlecht in alle Welt zerstreute. Lasset uns ihn darum preisen, denn dieser Segen ist auf alle Geschlechter übergegangen.“ Erich Trunz, Hrsg. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 8: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hamburg: Christian Wegener, 1960, S. 385. Siehe dazu auch Joseph Vogl. Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München: Wilhelm Fink, 1990, S. 209. 106 Koschorke, s. Anm. 1, S. 12. 107 Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 110. 108 Immanuel Kant. „Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte [1786]“. In: Werkausgabe. Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Bd. 1. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977, S. 85–102, S. 85.

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cken im Wissen, die sich auf den Anfang einer Geschichte beziehen. Während es legitim sei, erstere mittels Schlussfolgerungen zu überbrücken, gelte dies nicht für letzere: „eine Geschichte ganz und gar aus Mutmassungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als den Entwurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen einer mutmasslichen Geschichte, sondern einer blossen Erdichtung führen können.“109 Auf dem Feld fehlender Ursprünge verstrickt sich das Denken unvermeidlich in Erdichtung und Fiktion. Kant versucht sich aus diesem Dilemma folgendermaßen zu befreien: Gerade weil es nicht die Geschichte, sondern die „Natur “ sei, die den „ersten Anfang“ der Menschengeschichte mache, sei es erlaubt, über diesen Anfang zu mutmaßen. Unter der Voraussetzung, dass die Natur im ersten Anfang „nicht besser oder schlechter gewesen“ sein könne als jetzt, müsse dieser Anfang gar nicht „erdichtet“ werden, sondern könne „von der Erfahrung hergenommen“ werden. Genauer versteht Kant seine „Mutmassungen“ „als eine der Einbildungskraft in Begleitung der Vernunft, zur Erholung und Gesundheit des Gemüts, vergönnete Bewegung“.110 Hier stehe die Einbildungskraft also nicht im Widerstreit mit der Vernunft, sondern begleite diese. Dennoch bezeichnet er das Resultat als „blosse Lustreise“ in Abgrenzung zum „ernsthafte[n] Geschäft“ vernunftgeleiteten Denkens. Angesichts der Notwendigkeit, sich auf den unsicheren Boden der Dichtung begeben zu müssen, nimmt Kant mit dieser aufgebotenen Rhetorik eine apotropäische Haltung ein. Um sich auf seiner „Lustreise“ nicht in der romanhaften Erdichtung zu verlieren, orientiert er sich an der „heiligen Urkunde“111 der biblischen Sündenfallerzählung gleich einer „Karte“, der er „Schritt vor Schritt“112 folgt – eine Methode, die in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts durchaus verbreitet ist und etwa auch von Vico, Hamann und Herder verwendet wurde.113 109 110 111 112

Ebd., S. 85. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. In ganzer Länge lautet das Zitat: „Eben darum, und da ich hier eine blosse Lustreise wage, darf ich mir wohl die Gunst versprechen, dass es mir erlaubt sei, mich einer heiligen Urkunde dazu als Karte zu bedienen, und mir zugleich einzubilden, als ob mein Zug, den ich auf den Flügeln der Einbildungskraft, obgleich nicht ohne einen durch Vernunft an Erfahrung geknüpften Leitfaden, tue, gerade dieselbe Linie treffe, die jene historisch vorgezeichnet enthält. Der Leser wird die Blätter jener Urkunde (1.Mose Kap. II bis VI) aufschlagen, und Schritt vor Schritt nachsehen, ob der Weg, den Philosophie nach Begriffen nimmt, mit dem, welchen die Geschichte angibt, zusammentreffe.“ ebd., S. 85 f. 113 Volker Gerhardt. „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. In: Immanuel Kant: Schriften zur Geschichtsphilosophie. Hrsg. von Otfried Höffe. Bd. 46. Klassiker Auslegen. Berlin: Akademie Verlag, 2011, S. 175–196, S. 178.

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Um „die Entwickelung des Sittlichen“114 im „Tun und Lassen“ des Menschen zu denken, setzt Kant bestimmte Naturtatsachen voraus, die nicht aus der Vernunft ableitbar seien.115 Bereits diesen Schritt plausibilisiert er durch Parallelisierungen mit der biblischen Ur-Kunde und fügt seiner Lesart immer wieder die korrespondierenden Bibelstellen ein. Zunächst setzt er den Menschen als ein Lebewesen voraus, das unmittelbar vor seinem Eintritt in die Geschichte bereits selbstständig für sich sorgen kann und sich körperlich nicht erst entwickeln muss. Überdies setzt er voraus, dass der Mensch ein auf Paarung angewiesenes Wesen sei und von „einem einzigen Paare“116 abstamme. Eine dritte Voraussetzung betrifft die günstigen Umweltbedingungen mit ausreichendem Nahrungsangebot und Schutz vor natürlichen Feinden – mithin eine Umgebung, die Kant explizit mit dem biblischen Bild vom „Garten“117 engführt. Viertens sei nach Kant vorauszusetzen, dass der Mensch bereits vor seinem Eintritt in die Geschichte „einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit getan“,118 sich gewisse Techniken angeeignet und seine „Rohigkeit“ abgelegt habe. Als fünfte Naturbedingung nimmt Kant schließlich die menschliche Fähigkeit an, „nach zusammenhängenden Begriffen sprechen (V. 23), mithin denken“119 zu können. Im Anschluss an die Bestimmung dieser Voraussetzungen unterscheidet Kant vier Schritte der Vernunft, die hier nur grob skizziert werden können:120 Zunächst beginnt die „Menschengeschichte“ mit der Ablösung vom Instinkt. Dabei korreliert Kant die biblische Darstellung vom Essen der verbotenen Frucht mit seiner Annahme, wonach der entscheidende erste Schritt aus der Natur heraus in der Wahl bestimmter Nahrungsmittel bestanden habe, die der Mensch im Naturzustand instinktgeleitet für ungenießbar gehalten hatte. Mit der Wahl der Nahrungsmittel, bzw. generell der Lebensweise entspringt die Freiheit, und damit auch die „Angst und Bangigkeit“, die die neue Eigenverantwortung begleitet.121 Den nächsten Schritt korreliert Kant mit dem Feigenblatt und beschreibt eine Bewegung von der „tierischen Begierde“ zur Liebe.122 Der dritte Schritt betrifft „die überlegte Erwartung des Künftigen“ und bezieht sich auf das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und das daraus 114 115 116 117 118 119 120 121 122

Kant, s. Anm. 108, S. 87. Vgl. dazu ausführlich Gerhardt, s. Anm. 113, S. 179–181. Kant, s. Anm. 108, S. 86. Ebd., S. 86. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Vgl. dazu ausführlich Gerhardt, s. Anm. 113, S. 181–184. Vgl. Kant, s. Anm. 108, S. 87–89. Vgl. ebd., S. 89.

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erwachsende Trostbedürfnis.123 Der vierte und letzte Schritt der Vernunft erhebt den Menschen schließlich gänzlich „über die Gesellschaft mit Tieren“124 insofern der Mensch erkennt, selbst „Zweck der Natur “125 zu sein und nicht Mittel. Daraus folgt für Kant zum einen die Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, zum anderen wird dadurch das Recht auch ‚höherer Wesen’ beschränkt, über den Menschen „nach bloßem Belieben zu schalten und zu walten“.126 Damit verbindet Kant das, was er als „Entlassung“ des Menschen „aus dem Mutterschoße der Natur“ bezeichnet, mit der Naturrechtsdebatte. Insgesamt stellt sich die Vertreibung aus dem Paradies in Kants Lesart als Parabel auf einen „Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung durch die Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“127 dar. Dem Narrativ eines anfänglichen Falls korrespondiert auf der Ebene des Individuums eine Verlusterfahrung, denn mit Vernunft und Freiheit verliert der Mensch seine Unwissenheit und damit auch seine Unschuld. Auf der Ebene der Natur aber behauptet Kant das Gegennarrativ eines unaufhörlichen Fortschreitens des Menschen als Gattung.128 Mit vergleichbarer Methodik bietet vier Jahre später auch Schiller mit seiner Schrift Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde 129 eine ähnliche Antifiktion auf. Hier wie dort wird der heilsgeschichtliche Dreischritt von Schöpfung – Fall – Erlösung „in die geschichtsphilosophische Erzählung einer Selbstschöpfung durch den Fall und einer Selbsterlösung durch die Geschichte“130 umgeschrieben. Dabei wird jenes theologische Dogma der Erb-Sünde, das um 1900 wieder vermehrt zum Antrieb eines rückwärtsgewandten Einheits- und Ursprungsstrebens gemacht wird, entkräftet. Vor Probleme sehen sich die aufklärerischen Umschriften mit ihrer Deutung des Paradieses als Naturzustand indes durch das Merkmal der Kontingenz 123 124 125 126 127 128

Vgl. ebd., S. 90. Ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 91. Ebd., S. 91. Ebd., S. 92. Vgl. hierzu neben Mülder-Bach, s. Anm. 34 auch Koschorke, s. Anm. 1. Wichtige Anregungen zur Auseinandersetzung mit Kants einschlägigem Text verdanke ich der Vorlesung Birgit Erdles zum Thema Kulturtheorie und ihre Schreibweisen in Texten jüdischer Autoren 1800/1900 gehalten im Wintersemester 2009/2010 an der Universität Wien. 129 Friedrich Schiller. „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. IV Historische Schriften. München, 1980, S. 767–770. 130 Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 111.

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des Falls gestellt. Möchte man den strafenden Gott nicht als Despoten erscheinen lassen, so mussten Adam und Eva Gottes Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, weder notwendig ignorieren, noch war es ihnen unmöglich es zu befolgen. Die damit eingeräumte Möglichkeit einer freien Wahl noch im Naturzustand bringt die Aufklärer in Verlegenheit.131 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wendet man sich nach Mülder-Bach unter dem Schlagwort der décadence dann vermehrt dem Fall als unaufhaltsamem Niedergang zu, dessen künstlerische Gestaltung weiterhin vom christlichen Bildvorrat zehrt, der mit den aufkommenden biologischen Modellen der Degeneration verknüpft wird. Christliche Vorstellungen des Sündhaften, Bösen werden dabei insofern unterlaufen, als sich die Aufmerksamkeit hin zur ästhetischen Dimension dieser Phänomene verschiebt. Im Fokus stehen vornehmlich Untergänge und Enden.132 Im fin de siècle mehren sich, wie Mülder-Bach herausarbeitet, sodann wieder Sündenfall-Texte, die an die in der Aufklärung hergestellte Verknüpfung von Fall und Erhebung bzw. Neuanfang anschließen. Doch während in den Umschriften der Aufklärung dieser kulturelle Neubeginn in der Vergangenheit liegt, wo mit dem Fall nicht nur der Übergang vom Tier zum Menschen vollzogen wird, sondern auch ein unaufhörliches Fortschreiten des Menschen einsetzt, liegt er in den Umschriften um 1900 als Forderung in der Zukunft. Der in den einschlägigen aufklärerischen Texten behauptete Fortschritt des Menschen stellt sich nunmehr – dies zeigt sich schon in den décadence-Diskursen und bestätigt sich auch mit Blick auf den oben besprochenen Artikel von Otto Gross – als ledigliches Fortschreiten der Zivilisation heraus. Hinsichtlich der menschlichen Kultur scheint sich der Fall dagegen gerade infolge der fortschreitenden Zivilisierung als Geschichte eines kulturellen Verfalls bis in die Gegenwart hinein fortzusetzen,133 sodass der Bruch, der die Verbindung zu allem Früheren kappt und jene Erhebung bzw. jenen Neuanfang begründet, erneut wiederholt werden muss und somit noch aussteht. Allerdings kann dieser kommende Neuanfang nicht länger das Resultat einer „freie[n] oder kontingente[n] Wahl“ sein, „die den Übertritt in eine selbst zu machende Geschichte bezeichnet“,134 denn in dieser Geschichte, die ausschließlich dem zersetzenden Gesetz des Möglichen gehorcht, befindet man sich längst. Entsprechend sehnt man sich – auch dies kommt bei Otto Gross unmissverständlich zum 131 Vgl. Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 111 f. 132 Vgl. ebd., S. 119 f. 133 Eben dieses Narrativ wird im Übrigen auch in Kafkas Forschungen eines Hundes aufgerufen. Vgl. KKAN II, S. 454 ff. 134 Mülder-Bach, s. Anm. 34, S. 120.

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Ausdruck – nach einem „Rück-Fall“ in einen präreflexiven Zustand der reinen Potentialität, der sich im Falle Bubers im Urjudentum als eine Zeit vor allen Trennungen von Körper und Geist, Moral und Politik, Gemeinschaft und Gesellschaft wenigstens andeutet.135 Allerdings beschreitet Buber mitunter auch den umgekehrten Weg und macht trotz aller Aussichtslosigkeit doch wieder gerade die Entscheidung in Kombination mit dem Ausschluss zum Mittel des Neuanfangs, um so aus dem Zustand der Differenz in jenen der Einheit zu gelangen – mit potentiell verheerenden Folgen, wie Bubers oben zitierter rabiater Aufruf, Einheit im Volk mittels Entscheidung und Ausschluss zu schaffen, gezeigt hat. 3.2.2 Kafkas Sündenfall-Umschriften Bereits mit der frühesten Erwähnung des Sündenfallmythos in einem Tagebucheintrag vom 19.06.1916 deutet sich an, in welcher Weise sich Kafkas Sündenfalltexte in diese lange und komplexe Tradition an Umschriften und Umdeutungen mit ihren jeweiligen Absetzbewegungen einschreiben. Kafka hebt in dieser Notiz stichpunktartig bestimmte Elemente der alttestamentarischen Geschichte aus dem dritten Kapitel des ersten Buches Mose hervor: Wüten Gottes gegen die Menschenfamilie die zwei Bäume das unbegründete Verbot die Bestrafung aller (Schlange Frau Mann)136

Auffällig an dieser äußerst verknappten Paraphrase des plots der biblischen Erzählung ist die Aussparung jeglicher positiver Aspekte des paradiesischen Zustandes.137 Drei der vier Zeilen handeln noch im Paradies, doch von diesem ist wenig zu bemerken. Der Akzent liegt vielmehr auf dem tyrannischen Verhalten Gottes, in dem sich der gewalttätige Charakter seiner Rechtsetzung offenbart. Sein Wüten im Anschluss an die Übertretung stattet das Verbot für die Menschen erst nachträglich mit Sinn aus. Zuvor ist es notwendig unbegründet, da die Unterscheidung in Gut und Böse als solche nur latent vorhanden 135 Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 30, S. 92 ff. 136 Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1990 (im Folgenden zit. als KKAT), S. 789. 137 Vgl. Hyuck Zoon Kwon. Der Sündenfallmythos bei Franz Kafka. Der biblische Sündenfallmythos in Kafkas Denken und dessen Gestaltung in seinem Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 39.

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ist138 und gemäß der Erzählung noch gar nicht ins menschliche Bewusstsein getreten sein kann. Das Paradiesische an der ursprünglichen Nähe des Menschen zu Gott, das der biblische Mythos exponiert und kraft dessen er die Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Paradies im doppelten Wortsinn begründet, ist stärkstmöglich zurückgenommen und erscheint zweifelhaft. Eine Rückkehr in dieses Paradies, das seinem Namen kaum gerecht wird, erscheint unter den hervorgehobenen Bedingungen keineswegs attraktiv.139 Damit weist diese Notiz bereits auf die Stoßrichtung späterer SündenfallTexte Kafkas voraus, die nicht nur einen spezifischen Blick auf diesen wirkmächtigen Mythos freigeben. Sie positionieren sich auch auf vergleichbare Weise im Feld der Umschriften, das sich von der Aufklärung bis in Kafkas Gegenwart aufspannt. Zielten schon die Gegennarrative der Aufklärung auf Entmystifizierung und Entdogmatisierung des Mythos, so werden diese Tendenzen, so meine These, in Kafkas Texten noch konsequenter verfolgt. Dies ist bereits in der ersten Notiz zum Sündenfall zu erahnen. Hatte Kant den paradiesischen Urstand zum unmündigen Naturzustand des Menschen umgedeutet und dessen Schuldunfähigkeit erwiesen, so macht Kafkas Notiz auf die ungerechten, despotischen Verhältnisse im Urstand aufmerksam. Bereits im Paradies herrscht an Stelle von Gerechtigkeit nur Recht und dieses Recht scheint sich ausschließlich auf die rechtsetzende Gewalt Gottes zu gründen. Die Menschen sehen sich mit einem Verbot konfrontiert, noch bevor sie Gut und Böse zu unterscheiden gelernt haben. An die Stelle eines Gottes, dem man lange Wohlwollen unterstellte, tritt ein Herrscher der Willkür, der die Menschen nach Regeln beherrscht, die sie nicht kennen können,140 da der Erwerb der Fähigkeit zur Erkenntnis dieser Regeln bereits den ersten Verstoß gegen sie bedeutet, welcher drakonisch mit Vertreibung und Todesdrohung bestraft wird. Doch während Kafkas Umschriften mit jenen der Aufklärung den grundsätzlichen Zug zur Depotenzierung von Mythen und Dogmen teilen, heben 138 Die Unterscheidung in Gut und Böse stellt mit Koschorke gesprochen eines jener „Schmuggelgüter“ dar, die charakteristisch für kulturelle Anfangserzählungen sind. Ihr In-die-Welt-Kommen soll eigentlich erst erklärt werden, dabei wird sie latent bereits vorausgesetzt, etwa mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse oder mit der Schlange als Personifizierung des Bösen. 139 Der letzte Rest an Attraktivität liegt alleine darin, dass man zurück im präreflexiven Zustand des Paradieses von den despotischen Verhältnissen, die dort herrschen, nichts bemerken würde. Dabei kommt es aber mit Blick auf die irdische bzw. paradiesische Sphäre zu einer Umkehrung der Zuschreibungen von Wahrheit und Schein. 140 Vgl. zu diesem Sujet Kafkas Erzählung Zur Frage der Gesetze, KKAN II, S. 270–273.

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sie sich, so die zweite These, zur Positionierung im Feld der Umschriften von den regressiven Utopien zeitgenössischer Sündenfall-Umschriften mit ihren remystifizierenden Tendenzen aus dem sozial-radikalistischen Umfeld entschieden ab. Wie schon in der ersten Notiz Kafkas zum Sündenfall, in der das Paradies alles andere als paradiesisch dargestellt wird, zielen – wie sich zeigen wird – auch die späteren Umschriften stets darauf ab, die Sehnsucht einer Rückkehr zum Ursprung stillzustellen. Während in der Forschungsliteratur bislang zumeist die in der Zeit zwischen erster Tagebuchnotiz und Zürauer Aufenthalt gestellte Diagnose einer Lungentuberkulose, die damals einem Todesurteil gleichkam, als persönliches Motiv für die Auseinandersetzung mit dem Sündenfallmythos und der Frage „nach der Ursache des Bösen in der Welt“141 hervorgehoben wurde, möchte ich im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass sich Kafka mit seiner Fokussierung auf die Thematik der Dualität innerhalb der Geschichte des Sündenfalls etwa von Gut und Böse,142 Mann und Frau,143 Paradies und Vertreibung,144 geistiger und sinnlicher Welt145 in einen zeitgenössischen Diskurs um Verwirklichung idealer Gemeinschaft einschreibt, in dem der Sündenfallmythos mit seiner Begründung der Dualität und seinem Ruf zu ihrer Überwindung einen zentralen Referenzpunkt und ein Mittel der Einigung darstellt. Kafkas Sündenfallumschriften reagieren mithin auf jene zeitgenössische Praxis, die diesen Mythos zum „Reflexionsmodell“ des eigenen Projekts der Verwirklichung idealer Gemeinschaft macht, da es sich mit seinem Verlustnarrativ geradezu anbietet, das eigene Streben nach ‚wahrer‘ Gemeinschaft als radikalen Bruch mit der Gegenwart und gleichsam als Rück-Fall voranzutreiben. Der andere Blick, den Kafkas Umschriften auf die altbekannte Geschichte freigeben, ist einer, der die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu ursprünglicher Einheit und Verbundenheit im Paradies bzw. die Wiedererlangung solcher Einheit auf Erden, das „Werkwerden“146 ‚wahrer‘ Gemeinschaft, so wie sie im zeitgenössischen Anarchismus, in der Jugendbewegung, im Protestantismus, im kulturzionistischen Messianismus – kurz: in all den Bewegungen, die sich 141 142 143 144 145

Kwon, s. Anm. 137, S. 38. Vgl. die Zettel 10, 19, 28, 29, 30, 39, 80, 85, 95, 100, 101, KKAN II, S. 115–136. Vgl. die Zettel 7, 105, KKAN II, S. 114, S. 138. Vgl. die Zettel 3, 64/65, 74, 82, 83, 84, 86, KKAN II, S. 113–133. Vgl. die Zettel 25, 31, 32, 33, 52, 53, 54, 55, 57, 60, 62, 66, 68, 69, 79, (96), 109, KKAN II, S. 118–140. 146 Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 30, S. 25.

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mit Plessner als sozial-radikalistisch begreifen lassen – erhofft wird, fragwürdig erscheinen lässt. Dies wirft die Frage nach den problematischen Aspekten solcher Ursprungssuche und solchen Einheitsstrebens auf, die diese Stoßrichtung offenbar motivieren sowie jene nach möglichen Strategien, um dem Ruf des Mythos zur Einheit entgegenzuwirken. Dabei erweist sich mit Blick auf Nietzsches genealogisches Projekt, dass auch Kafkas Texte an eine bestimmte Tradition anknüpfen können. Kafkas Ent-Scheidungen. Umschriften des Sündenfallmythos im Umkreis der Zürauer Zettel Etwas mehr als ein Jahr nach seiner ersten Notiz zur Sündenfallerzählung greift Kafka die Thematik in den Oxforder Oktavheften 7 und 8 etwa zwischen Mitte Oktober 1917 und Anfang Mai 1918,147 also während seines Aufenthalts in Zürau, erneut auf und stellt sie ins Zentrum seiner aus diesen beiden Heften hervorgegangenen Zürauer Zettel. Wie sogleich deutlich werden wird, richtet sich der Haupteinwand, den Kafkas Texte gegen das Streben nach einer Rückkehr zu einem ursprünglichen, verlorenen Gemeinschaftsideal erheben, gegen die Lebensfeindlichkeit, die diesem Streben nach dem Absoluten inhärent ist, ein Einwand, der uns bereits im ersten Teil dieser Arbeit, etwa in der Auseinandersetzung mit dem Turmbau zu Babel im Stadtwappen, begegnet ist. Die Forderung nach einer Rückkehr zum Ursprung, an dem sich noch das wahre, reine Wesen der Gemeinschaft zeige, vor aller Differenz und vor allen Trennungen, bedeutet nichts Geringeres als die Beseitigung der gegebenen Verhältnisse des Ausgleichs zugunsten einer notwendig unerreichbaren Verwirklichung einer idealen Gemeinschaft. Dies zeigt sich deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass um 1900 die in der Aufklärung etablierte Verknüpfung von Fall und Neuanfang wieder entdeckt und in die Zukunft verlegt wird. Dieser Neuanfang bedeutet wie jeder Anfang gemäß der klassischen Bestimmung in Aristoteles’ Poetik, dass er „selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, [aus ihm aber] natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.“148 Jeder Anfang stellt damit 147 Zur Datierung der Oxforder Oktavhefte 7 und 8, aus denen die Zürauer Zettel hervorgingen vgl. Roland Reuß. Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. eine Edition des Instituts für Textkritik. Oxforder Oktavhefte 7 & 8: Franz KafkaHeft 8. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Historisch-Kritische Franz KafkaAusgabe (FKA). Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld Verlag, 2011 (im Folgenden zit. als FKA-FKH8), S. 3. 148 Aristoteles. Poetik. Griechisch/Deutsch. Hrsg. und übers. von Manfred Fuhrmann. Reclam, 1982, S. 25.

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einen Bruch mit allem vorher Geschehenen dar, während das, was aus diesem Bruch heraus folgt, zu einer Einheit geformt wird. Im Falle eines erhofften oder geforderten Neuanfangs liegt dieser Bruch in der Zukunft, weshalb das, was abgetrennt werden soll, die Gesamtheit der gegenwärtigen Verhältnisse umfasst, während das kommende Neue implizit durch diese dem Anfang inhärente Struktur Kontinuität und Einheit verheißt, die mit den idealen Verhältnissen am Ursprung in eins fallen sollen. Doch wie man in radikalistischen Projekten immer wieder beklagt, stehen der auf das Absolute gerichteten Tat stets die widerstrebenden Kräfte des bloß Möglichen entgegen.149 Entsprechend muss das Festhalten am Streben danach, die gegenwärtigen Verhältnisse radikal zu beseitigen und die auseinandergetretenen Sphären der Idealität und Realität, des Paradieses und der Erde, der sündigen Welt und der Gebote Gottes, der Gemeinschaft und der Gesellschaft wieder zu vereinen, den Menschen notwendig überfordern und zwischen Ideal und Wirklichkeit, Anspruch und Vermögen aufreiben. In einem der Kurztexte aus dem Umkreis der Zürauer Zettel wird diese Sicht der Dinge durch eine Neuauslegung des Mythos komplementiert und ins Positive gewendet. Demnach stellen die ausgleichenden Bedingungen der irdischen Welt, die dem radikalistischen Streben stets entgegenstehen, nur die Kehrseite jener Bedingungen dar, die dem Menschen bei seinem Fall das Leben gerettet haben: Nach Gott sollte die augenblickliche Folge des Essens vom Baume der Erkenntnis der Tod sein, nach der Schlange (wenigstens konnte man sie dahin verstehn) die göttliche Gleichwerdung. Beides war in ähnlicher Weise unrichtig. Die Menschen starben nicht, sondern wurden sterblich, sie wurden nicht Gott gleich, aber erhielten eine unentbehrliche Fähigkeit, um es zu werden. Beides war auch in ähnlicher Weise richtig. Nicht der Mensch starb, aber der paradiesische Mensch, sie wurden nicht Gott, aber das göttliche Erkennen.150

Wenn das Essen vom Baum der Erkenntnis den Menschen in eine unvollkommene Welt geführt hat, so zeichnet sich diese Welt durch eine grundlegende Ambivalenz aus: Alle Extreme scheinen – dieser überraschend apodiktisch vorgetragenen Lesart zufolge – in ihr abgeschwächt zu sein, alle Prophezeiungen suspendiert, ihre Erfüllungen ausgesetzt oder verzögert: Die Welt wirkt wie ein Mittel der Dämpfung: sie federt den von Gott prophezeiten Fall des Menschen ab, zugleich hemmt sie aber auch seine von der Schlange in Aussicht gestellte Vervollkommnung. Auf diesen abschwächenden Effekt im Streben nach dem Absoluten als Folge des Essens vom Baum der Erkenntnis hebt 149 Vgl. etwa Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 30, S. 92. 150 KKAN II, S. 73.

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auch Friedrich Nietzsche ab, wenn er schreibt: „Vom Baum der Erkenntniss. – Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, – diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.“151 Der Mensch ist als irdischer Mensch in einem prekären Zwischenreich gelandet, er befindet sich permanent in einer liminalen Phase mit unbekanntem Ausgang. Da der Mensch aber selbst irdisch und somit unvollkommen geworden ist, steht er seiner eigenen Vervollkommnung im Wege.152 Dies macht eine weitere ähnlich apodiktisch gehaltene Notiz im Umfeld der Zürauer Zettel deutlich, die dafür das ambivalente Bild einer Stufe findet, die sowohl Hilfsmittel als auch Barriere sein kann: “Wenn… mußt Du sterben” bedeutet: Die Erkenntnis ist gleichzeitig beides: Stufe zum ewigen Leben und Hindernis vor ihm. Wirst Du nach gewonnener Erkenntnis zum ewigen Leben gelangen wollen – und Du wirst nicht anders können als es wollen, denn Erkenntnis ist dieser Wille – so wirst Du Dich, das Hindernis, zerstören müssen, um die Stufe, das ist die Zerstörung, zu bauen. Die Vertreibung aus dem Paradies war daher keine Tat sondern ein Geschehen.153

Der Kontext weiterer Überlegungen zum Sündenfall in den Oxforder Oktavheften 7 und 8 legt nahe, dass sich der unvollständige Konditionalsatz in Anführungszeichen auf das erste Buch Moses 2.16–17 bezieht. Die entsprechende Passage handelt von der Warnung oder Drohung Gottes, wonach das Essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zum Tode führe. Die Ambivalenz zwischen Drohen und Warnen liegt dabei im diesbezüglich uneindeutigen Verbalkomplex „sterben müssen“ begründet. Übereinstimmend mit der zuvor zitierten Notiz wird dieses ‚Sterben-Müssen‘ im weiteren Verlauf des Textes offensichtlich nicht als „die augenblickliche Folge des Essens vom Baume der Erkenntnis“154 gedeutet, sondern im Sinne von ‚sterblich sein‘ ausgelegt. Im nächsten Schritt behauptet der Erzähler, dass „die Erkenntnis“ – impliziert ist hier die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit, der eigenen Sterblichkeit, aber auch der Diskrepanz zwischen dem Wissen um Gut und Böse und den Möglichkeiten danach zu handeln – unausweichlich eine Sehnsucht nach Vollkommenheit, nach ewigem Leben hervorrufe, die jedoch im irdischen Leben 151 Friedrich Nietzsche. Menschliches, Allzumenschliches I und II. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 2. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1988 (im Folgenden zit. als KSA 2), S. 540. 152 Als Ausdruck dieser Sicht auf den Menschen im zeitgenössischen Diskurs lässt sich die Rede vom „neuen Menschen“, den es zu schaffen gelte, verstehen. 153 KKAN II, S. 78. 154 KKAN II, S. 73.

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nicht erreicht werden könne. Schon Paulus – darauf weist auch Buber hin155 – hat diese Erfahrung in folgende Worte gefasst: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“156 Damit wird einerseits ein Auseinandertreten von Wollen und Tun festgehalten, das nicht weniger bedeutet, als ein Bruch mit mythischem Denken, das sich nach Nietzsche157 dadurch auszeichne, dass es jedes Geschehen als Tun – noch im Sinne der Einheit von Wollen und Tun – auslege, insofern es jeder Wirkung ein zugrundeliegendes persönliches all zu einfach verstandenes Wollen unterstelle, das nicht allein auf intelligente Wesen beschränkt wird.158 Hinfällig ist damit aber auch die Behauptung einer Schuld des Menschen, denn offenbar ist es ihm nicht gegeben entsprechend seiner Erkenntnis zu handeln. Der Wille ist eben kein freier Wille. Andererseits führt unter diesen Umständen der einzige Weg aus der Unvollkommenheit über die Stufe der Selbstzerstörung, wie der Erzähler explizit festhält. Doch der Zettel Nr. 13 erinnert daran, dass selbst der Tod keine Garantien für eine Rückkehr ins Paradies bietet: Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen, man bittet aus der alten Zelle die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehn und sagen: Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.159

Der Glaube an die hier offenbar thematisierte Gnadenwahl erscheint gleichermaßen ambivalent. Zum einen gibt er einen letzten Funken Hoffnung in einer als ausweglos empfundenen Situation, andererseits verführt dieser „Rest von Glauben“ zur Feindschaft gegen das Leben, insofern als der Tod die notwendige Bedingung für eine Erlösung ist, die vom Erzähler kaum prekärer hätte dargestellt werden können. Durch die unvermittelt aufgerufene metaphorische Szenerie des Gefängnisses wird zunächst jeglicher Pathos ausgeschlossen, was durch die Verwen155 In seiner Rede: Der Geist des Orients und das Judentum. In: Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 30, S. 53. 156 Ebd., S. 53. 157 Darauf, dass Nietzsche die Auslegung eines Geschehens als Tun zum Kennzeichen jeder Mythologie erklärt, hat Blumenberg – allerdings ohne Angabe von Quellen – hingewiesen. Vgl. Hans Blumenberg. Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2006, S. 19. 158 Vgl. §127 Nachwirkung der ältesten Religiosität aus Die fröhliche Wissenschaft Friedrich Nietzsche. Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1999 (im Folgenden zit. als KSA 3), S. 482 f. 159 KKAN II, S. 116.

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dung des ganz in die irdische Gegenwart weisenden fachsprachlich wirkenden Terminus „Transport“ noch verstärkt wird. Im Kontext dieser Szenerie findet sich die Vorstellung der paulinischen Gnadenwahl in eine zeitgenössische Begnadigungsszene verwandelt, in der „man“ „der alten Zelle die man haßt“ mithin der irdischen Welt und der neuen, „die man erst hassen lernen wird“, also dem, was auf die irdische, sündige Welt folgt – sei es die Hölle, das gar nicht so paradiesische Paradies oder etwas Drittes – gleichermaßen zu entkommen hofft. Höchst prekär erscheint die Aussicht auf Erlösung innerhalb dieses evozierten Bildes aber deshalb, weil sie am Ende nicht allein der Laune und Willkür des Herrn unterworfen ist, sie hängt überdies noch vom Zufall ab. Der Einsatz des Lebens für diese höchst ungewisse Aussicht auf Erlösung erscheint unter diesen Umständen zu hoch. Ein weiterer Mikrotext folgt einer vergleichbaren Strategie: Ein profanisierter, in die Gegenwart geholter tragikomischer Adam – so man ihn hinter der Abkürzung A. vermuten darf – nimmt sich bei seinem Versuch, durch Selbstzerstörung ins Paradies zu gelangen, eher kläglich aus. Sein Fall lädt nicht zur Nachahmung ein: „A. konnte weder einig mit sich leben, noch sich lassen, deshalb erschoss er sich, er glaubte auf diese Weise das Unvereinbare vereinigen zu können, nämlich mit sich selbst ‚in die Laube gehn‘.“160 Die Ironisierung der Rückkehr ins Paradies als „in die Laube gehn“ hebt die Vorstellung des Paradieses in seiner Eigenschaft als Vorstellung hervor, die notwendigerweise von den menschlichen Erfahrungen der irdischen Welt geprägt ist. Ob dieser Vorstellung tatsächlich ein Paradies entspricht, bleibt fragwürdig. Darüberhinaus erscheint durch den Zusatz „mit sich selbst“ die Kontinuität eines menschlichen Wesens über den Tod hinaus ungewiss. Im Zürauer Zettel Nr. 86 werden viele der hier aufgeworfenen Problemlagen nochmals gebündelt und am Ende eine Überlebensstrategie aufgezeigt, die 160 KKAN II, S. 78. Editorisch scheint einige Verwirrung um diesen Aphorismus zu herrschen. In der Handschrift ist das „sich“ als stenographisches Kürzel ergänzt und wurde in der ansonsten äußerst zuverlässigen diplomatischen Umschrift der Franz Kafka Ausgabe unterschlagen. Noch größere Probleme dürfte Max Brod bei der Entzifferung gehabt haben. Er gibt den Text in den Hochzeitsvorbereitungen völlig verfälscht folgendermaßen wieder: „A. konnte weder mit G. einträchtig leben, noch sich [scheiden] lassen, deshalb erschoß er sich, er glaubte, auf diese Weise das Unvereinbare vereinigen zu können, nämlich mit sich selbst ‚in die Laube gehn‘“. Vgl. Franz Kafka. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Oxforder Oktavhefte 7 & 8: 7. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Historisch-Kritische Franz Kafka-Ausgabe (FKA). Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld Verlag, 2011 (im Folgenden zit. als 8◦ Ox7), S. 158 f. und Franz Kafka. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986, S. 78.

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sich nicht der Wahrheit und dem Ewigen verpflichtet, sondern einem Willen zum Leben entspringt: Seit dem Sündenfall sind wir in der Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen im Wesentlichen gleich; trotzdem suchen wir gerade hier unsere besonderen Vorzüge. Aber erst jenseits dieser Erkenntnis beginnen die wahren Verschiedenheiten. Der gegenteilige Schein wird durch Folgendes hervorgerufen: Niemand kann sich mit der Erkenntnis allein begnügen, sondern muss sich bestreben, ihr gemäß zu handeln. Dazu aber ist ihm die Kraft nicht mitgegeben, er muss daher sich zerstören, selbst auf die Gefahr hin, sogar dadurch die notwendige Kraft nicht zu erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig als dieser letzte Versuch. (Das ist auch der Sinn der Todesdrohung beim Verbot des Essens vom Baume der Erkenntnis; vielleicht ist das auch der ursprüngliche Sinn des natürlichen Todes) Vor diesem Versuch nun fürchtet er sich; lieber will er die Erkenntnis des Guten und Bösen rückgängig machen; (Die Bezeichnung: „Sündenfall“ geht auf diese Angst zurück) aber das Geschehene kann nicht rückgängig sondern nur getrübt werden. Zu diesem Zweck entstehen die Motivationen. Die ganze Welt ist ihrer voll, ja die ganze sichtbare Welt ist vielleicht nichts anderes, als eine Motivation des einen Augenblick lang ruhenwollenden Menschen. Ein Versuch, die Tatsache der Erkenntnis zu fälschen, die Erkenntnis erst zum Ziel zu machen.161

Der Erzähler stellt zunächst die Behauptung auf, „wir“, d. h. alle Menschen, seien „in der Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen“ wesentlich gleich. Paradoxerweise, so stellt er im Weiteren fest, suchen wir jedoch gerade hier, also im Erkennen von Gut und Böse, unsere besonderen Vorzüge, während „die wahren Verschiedenheiten“ zwischen uns Menschen „jenseits dieser Erkenntnis“ beginnen – vermutlich also dort, wo es darum geht, mit dieser Erkenntnis und der Erfahrung nicht mit der notwendigen Kraft ausgestattet zu sein, um ihr gemäß zu handeln, umzugehen. Den Schein, dem wir Menschen im Allgemeinen also erliegen, wonach die Verschiedenheiten zwischen uns in einer je unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeit Gut und Böse zu erkennen bestünde, führt der Erzähler auf die Angst vor dem Tod zurück, die sich mit Schopenhauer auch als Kehrseite eines Willens zum Leben verstehen lässt.162 Dem aus der Erkenntnis folgenden vernunftmäßigen Schluss, wonach der eigene Tod eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung zum Erreichen des Guten darstelle, stellt der namenlose und allem Anschein 161 KKAN II, S. 132 f. 162 Dazu vgl. Arthur Schopenhauer. „Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich“. In: Züricher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Bd. 4: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band. Zweiter Teilband. der Text folgt der historisch-kritischen Ausgabe von Arthur Hübscher (3. Auflage, Brockhaus, Wiesbaden 1972); die editorischen Materialien besorgte Angelika Hübscher ; Redaktion von Claudia Schmölders, Fritz Senn und Gerd Haffmanns. Diogenes, 2017, S. 542–597. Mit Schopenhauer ließen sich wohl auch viele der Zürauer Zetteln zum Unzerstörbaren ins Verhältnis setzen.

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nach allwissende Erzähler also die Todesangst bzw. den Überlebenswillen entgegen. Und diese Angst bzw. dieser Wille sei stets bestrebt, einen Ausweg aus dem tödlichen Zusammenhang von Erkenntnis und Streben nach dem Guten, das in letzter Konsequenz auf eine Überwindung der irdischen, sündigen Welt hinausläuft, zu finden. Einen solchen Ausweg suche der Wille zum Leben schließlich in der Selbsttäuschung, wonach die Erkenntnis von Gut und Böse nicht bereits eine gegebene „Tatsache“ sei, sondern erst angestrebt werden müsse, ein Unterfangen, bei dem man vermeint je unterschiedlich weit fortgeschritten zu sein. Während der Erzähler das Scheinhafte betont und der Wahrheit verpflichtet zu sein scheint, offenbart er eine wirksame Strategie der Verschleppung163 bzw. der Verzögerung,164 die dem Menschen hilft, einen erträglichen Umgang mit den Bedingungen eines unerreichbaren Anspruchs und unzulänglicher Möglichkeiten zu finden, unter denen sich sein Leben vollzieht.165 Während sich viele Vertreter des sozialen Radikalismus in einem paradoxen Vitalismus ergehen und dabei leichtfertig bereit sind, das gegenwärtige Leben, das mit Stillstand und Erstarrung assoziiert wird, einem künftigen ‚wahren‘ Leben zu opfern, sind Kafkas Texte, denen oft das Etikett des Düsteren und der Todessehnsucht verpasst wird, mit ihrer unentwegten Suche nach Auswegen durchaus lebensbejahend. Der menschlich gewordene Affe Rotpeter – 163 Im Prozeß findet sich eine ähnliche Denkfigur, wenn Titorelli K. drei Möglichkeiten der Befreiung aufzeigt: „die wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung“, wobei Titorelli eingesteht, noch nie von einer wirklichen Freisprechung gehört zu haben. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Der Proceß. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1990 (im Folgenden zit. als KKAP), S. 205. 164 In ähnlicher Weise war dies bereits die Strategie in Beim Bau der chinesischen Mauer, wo der seinerseits nie abschließbare Mauerbau erst die Grundlage, das Fundament für ein anderes utopisches Projekt bilden soll: den Bau eines neuen Babelturms. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I), S. 343. 165 Wenn im Zürauer Zettel Nr. 86 ausgeführt wird, dass wir Menschen aus unserer Todesangst heraus bestrebt sind, die Erkenntnis des Guten und Bösen zu trüben, indem wir sie erst zum Ziel machen und dieser Versuch die Notwendigkeit des Todes zur Überwindung der irdischen Unzulänglichkeit das Handeln des Menschen motiviert, der einen Augenblick ruhen will, so scheint man es geradezu mit einer Umkehrung der bei Kant vorausgesetzten Antropologie zu tun zu haben: Denn Kant empfiehlt, die Erkenntnis von Gut und Böse zur Grundlage vernunftgeleiteten Handelns zu machen, das alleine dem Leben ein Sinn zu geben vermag. Daher würde dem Menschen im Paradies, wo ihm jeder Wunsch von selbst erfüllt würde, jeder Antrieb zum Handeln abhanden kommen – ein Zustand der Ruhe, der ihm aus seiner Sicht nicht zu entsprechen scheint. Vgl. Kant, s. Anm. 108, S. 98–102 sowie Gerhardt, s. Anm. 113, S. 192 f.

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ein ausgewiesener Experte in Ursprungsfragen – macht deutlich, was unter Ausweg zu verstehen sei: Ich habe Angst dass man nicht genau versteht, was ich unter Ausweg verstehe. Ich gebrauche das Wort in seinem gewöhnlichsten und vollsten Sinn. Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses grosse Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Als Affe kannte ich es vielleicht und ich habe Menschen kennen gelernt, die sich danach sehnen. Was mich aber anlangt, verlangte ich Freiheit weder damals [zur Zeit der Gefangenschaft, Anm. C.D.] noch heute. Nebenbei: Mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten.166

Auch bei Rotpeter scheint die Suche nach einem Ausweg nur durch seinen Überlebenswillen motiviert zu sein. Die absolute Freiheit mag es vielleicht im Tierreich geben – darüber kann Rotpeter keine Auskunft mehr geben – und sie ist definitiv Gegenstand menschlicher Sehnsucht, eben weil sie für den Menschen in diesem Leben nicht zu erreichen ist. Der Weg zu ihr scheint notwendigerweise in den Tod zu führen, oder man erliegt bloß einer erhabenen Täuschung. Kafkas Texte verraten vielfach eine dem Leben zugewandte Haltung und ziehen entsprechend die kleinen Auswege und pragmatischen Zwischenlösungen den großen Ansprüchen vor. In einem weiteren Versuch, sich aus der aussichtslosen Lage zu befreien und einen gewissen Trost zu finden, der keine Selbsttäuschung wäre, ist dann auch explizit von einem Ausweg die Rede: Ist es möglich etwas Untröstliches zu denken? Oder vielmehr etwas Untröstliches ohne den Hauch des Trostes? Ein Ausweg läge darin, daß das Erkennen als solches Trost ist. Man könnte also wohl denken: Du mußt Dich beseitigen und könnte sich doch ohne Fälschung dieser Erkenntnis aufrecht erhalten am Bewußtsein, es erkannt zu haben. Das heißt dann wirklich an den eigenen Haaren sich aus dem Sumpf gezogen haben.167

Die Suche nach tröstlichen Auswegen leitet bereits vom Einwand der Lebensfeindlichkeit als Antwort auf die Frage nach der Motivation für die Stoßrichtung von Kafkas Sündenfallumschriften über zur zweiten oben aufgeworfenen Frage nach den Strategien, mit denen der Sehnsucht nach einer Rückkehr zu Einheit und Ursprung beizukommen wäre. Mit den bereits angeklungenen anti-pathetischen Strategien und den Versuchen, Unstimmigkeiten am vermeintlichen Paradieszustand herauszuarbeiten, deutet sich bereits an, dass Kafkas Umschriften durchaus ihrerseits an eine bestehende Tradition anschließen können. Nietzsches Projekt der Genealogie, das sich nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzung mit dem Mythos vom Sündenfall und seiner 166 Vgl. KKAN I, S. 396. 167 KKAN II, S. 31 [Hervorhebung C.D.].

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Rezeption selbst reflektiert und entwirft, steht nämlich, wie Foucault in seinem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie herausgearbeitet hat,168 im direkten Gegensatz zur Suche nach dem „Ursprung“ und richtet sich (1) gegen den Glauben, dass man am Ursprung der Dinge und Einrichtungen ihr wahres, eigentliches, reines Wesen entdecken könne, (2) gegen die Vorstellung, dass diese Dinge und Institutionen überhaupt einen einzigen, klar angebbaren Ursprung haben und (3) gegen das Pathos des Anfangs, wonach dem Ursprung oder den Ursprüngen etwas Erhabenes eigne. Damit begegnet es in dreifacher Weise passgenau jenem Streben, das besonders unter Kafkas Zeitgenossen wieder Konjunktur hat und das Plessner radikalistisch nennt. Im Folgenden soll in aller Kürze auf Nietzsches genealogisches Projekt eingegangen werden, um am Ende jene Strategien hervorzuheben, die bei ihm gegen die Ursprungssuche in Anschlag gebracht werden, wobei im Anschluss Kafkas Texte dazu ins Verhältnis gesetzt werden. Im zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches findet sich in der zweiten Abteilung eine mit fortlaufender Nummer versehene Aphorismensammlung,169 die mit dem bereits zitierten Aphorismus zum Baum der Erkenntnis eröffnet wird. Im Aphorismus Nr. 3 ist der erste der oben angeführten Kritikpunkte an der Ursprungssuche klar und prägnant formuliert: „Am Anfang war“. – Die Entstehung verherrlichen – das ist der metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Werthvollste und Wesentlichste.170

Die metaphysische Suche nach dem Ursprung ist dabei motiviert durch den Wunsch, „das Wesen der Sache zu erfassen, ihre reinste Möglichkeit, ihre in sich gekehrte Identität, ihre unveränderliche, allem Äußerlichen, Zufälligen, Späteren vorausgehende Form.“171 168 Vgl. Michel Foucault. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. 1970-1975. Hrsg. von Daniel Defert, François Ewald und unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Übers. von Reiner Ansén u. a. 2. Aufl. Bd. 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2014, S. 166–191, S. 167. 169 Auffälligerweise sind auch Kafkas Zürauer Zettel mit einem nummerus currens versehen. Die darin vorherrschende und für Kafka ungewohnte Form apodiktischen Sprechens erinnert ebenfalls an Nietzsches Aphorismen. 170 KSA 2, S. 540. 171 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, s. Anm. 168, S. 168. In Das Judentum und die Menschheit folgt Buber im Übrigen exakt dieser Logik: Die Menschheit wird als Mischung verschiedener Komponenten (Völker) mit verschiedenen Eigenschaften verstanden. Als wichtigste Komponente, aus der sich der neue Mensch aufbauen ließe, begreift Buber das Judentum. Und auch das Judentum selbst müsse in seinem Wesen erfasst werden: „Um uns darauf zu besinnen, müssen wir das Problem des Judentums in seiner

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Dieses Streben wird Helmut Plessner auch zum bestimmenden Merkmal des von ihm kritisierten Radikalismus erklären.172 Dahinter steht, wie bereits ausgeführt, die Vorstellung, dass das Konkrete das Produkt eines steten Niedergangs darstelle, der einer zunehmenden Vermischung unterschiedlicher, ursprünglich reiner Faktoren oder Komponenten geschuldet sei.173 Diese Faktoren gelte es wieder zu isolieren, wobei eine dieser Komponenten dann solchermaßen gereinigt zum schöpferischen Prinzip des Konkreten gemacht werden solle.174 Im ersten Paragraphen von Menschliches, Allzumenschliches evoziert Nietzsche dagegen das exakte Gegenbild, wenn er gegen die Metaphysik und ihre Suche nach dem „Wunder-Ursprung“, eine „Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“ fordert, die erweisen könnte, „dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind“.175 In der Chemie zeige sich, dass am Anfang nicht zwangsläufig das Vollendete stehen müsse, vielmehr ließen sich auch aus niederen Komponenten die herrlichsten Farben mischen. Würde man unter diesen Voraussetzungen eine Komponente zum Prinzip der Produktion des Konkreten machen, so wäre das Ergebnis ebenso verachtenswert wie der Ausgangsstoff selbst. In seiner Vorrede zur Genealogie wird deutlich, dass für Nietzsche die Ursprungs-Suche spätestens mit Menschliches Allzumenschliches überholt ist.176 Foucault zufolge setzt er fortan seine Hoffnung in die Herkunfts-Analysen einer historischen Philosophie, denn wenn man „aufmerksam auf die Geschichte

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Tiefe erfassen, müssen auf seinen Grund tauchen, dahin, wo sich aus dem Widerspruch das Ewige gebiert.“ Das Wesen des Judentums meint Buber in dem bei ihm besonders ausgeprägten Dualitätsbewusstsein zu erkennen und in seinem daraus resultierenden unerreichten Streben nach Einheit. Darin – in der Einigung der gesamten Menschheit – liege der Beitrag des Judentums zu Menschheit. Vgl. Martin Buber. „Das Judentum und die Menschheit“. In: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt/Main: Rütten & Loening, 1916, S. 33–56. Vgl. Plessner, s. Anm. 39, S. 14. Der Rassismus mit seinen Reinheitsphantasien speist sich genau aus dieser Vorstellung. Vgl. dazu Friedrich Nietzsche. Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1999 (im Folgenden zit. als KSA 5), S. 120 f. Vgl. Plessner, s. Anm. 39, S. 18. KSA 2, S. 24. Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, s. Anm. 168, S. 167 f. und KSA 5, S. 247–256.

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hört“177 und sich nicht von der Metaphysik täuschen lasse, stelle man fest, dass die Dinge „kein Wesen haben, oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren.“178 Foucault hat herausgestellt, dass Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Ursprung“ und „Herkunft“ zu entwickeln scheint.179 Dabei verknüpfe sich der Begriff des Ursprungs mit Vorstellungen von Einheit, während der Begriff der Herkunft mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Blutsgemeinschaft verbunden sei. Diese Form der Zugehörigkeit könne sich an ihrem Ursprung allerdings gerade nicht auf das Merkmal der Ähnlichkeit berufen. Je weiter man in der Geschichte zurückgehe, desto stärker nehme die Vielheit der Anfänge zu. Die proklamierte Identität oder Kohärenz eines „Ich“ löse sich mit jeder weiteren Generation, die man zurückgehe, in eine Vielzahl an Ursprüngen auf und ließe sich eben nicht aus einer ursprünglichen Einheit oder Reinheit herleiten.180 „Die Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien.“181 Wie Foucault ausführt, stößt man gemäß Nietzsches Genealogie am geschichtlichen Anfang der Dinge „nicht auf die noch unversehrte Identität ihres Ursprungs“, wie uns die Metaphysik glauben machen will, „sondern auf Unstimmigkeit und Unterschiedlichkeit.“182 Schließlich, so zeigt Foucault im Anschluss an Nietzsche, lehre die Geschichte auch, „über die Feierlichkeit des Ursprungs zu lachen.“183 Während klassische Ursprungserzählungen und insbesondere die Schöpfungsgeschichte fast immer mit der Aufwertung des Ursprünglichen einhergehen – an dieser Stelle sei an Otto Gross erinnert, der „tiefen Sinn in jenen Mythen“ sieht, die den Übermenschen „an den Beginn der Menschheit zurückverlegen“184 –, auf die fast zwangsläufig ein Fall oder eine Verfallsgeschichte folgen müssen, so ist der geschichtliche Anfang stets „etwas Niederes. Nicht im Sinne von beschei177 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, s. Anm. 168, S. 168. 178 Ebd., S. 169. 179 Vgl. ebd., S. 167 f. Foucault räumt allerdings ein, dass Nietzsche diese Unterscheidung in weiterer Folge nicht konsequent durchhält. 180 Vgl. ebd., S. 171 f. 181 Ebd., S. 173. 182 Ebd., S. 169. Dieser Befund deckt sich auch mit Koschorkes Ausführungen Zur Logik kultureller Gründungserzählungen. Letztere verstricken sich nämlich notwendig in Paradoxien, insofern sie „nicht ohne den ‚Trick‘“ auskommen, „einen Teil dessen, was sie zu erklären beabsichtigen, schon vorauszusetzen.“ Koschorke, s. Anm. 1, S. 7. 183 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, s. Anm. 168, S. 169. 184 Gross, „Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik“, s. Anm. 38, S. 14.

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den […], sondern lächerlich, ironisch und geeignet, jede Selbstgefälligkeit zu zerstören“.185 So kontrastiert Nietzsche in § 44 seiner Schrift Morgenröte die Annahme früherer Forscher, wonach „von der Einsicht in den Ursprung der Dinge“186 das Heil der Menschen abhänge, mit der Erfahrung seiner Zeitgenossen, der zufolge „[m]it der Einsicht in den Ursprung […] die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs“187 zunehme. § 49 macht sodann deutlich, dass man mit der Evolutionstheorie gewissermaßen am Ende dieses Weges angelangt sei: „Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe“.188 Die Herkunft sei also nie etwas ehrwürdiges, sondern bestimmt von Zufällen und Brüchen. Allerdings könne aus dem niederen Anfang noch keineswegs notwendig auf eine Fortschrittsgeschichte geschlossen werden. Zwar habe man versucht, in der kommenden Entwicklung der Menschheit einen Beweis ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft zu finden, doch „[w]ie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang stehen! – es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung.“189 Solche Vorstellungen seien als Sentimentalitäten abzulehnen. Dennoch habe die Herkunft des Menschen durchaus Auswirkungen auf das gegenwärtige Leben.190 Die Errungenschaften und Fehler der Vorfahren wirken sich nicht zuletzt auf die Leiber und Fähigkeiten späterer Generationen aus.191 Insofern liegen Fortschritt oder Verfall durchaus in den Händen des Menschen, wobei Nietzsche zwischen kulturellem und zivilisatorischem Fortschritt unterscheidet. Während sich der kulturelle Fortschritt durch eine Vollendung und Veredelung der Natur auszeichne, stehe ihm der zivilisatorische Fortschritt direkt entgegen, da sich dieser mit zunehmender Entfernung von der Natur beschleunige.192 Insgesamt äußert Nietzsches Genealogie damit nicht nur Kritik an der metaphysischen Ursprungssuche, sondern gibt auch mächtige Werkzeuge an die Hand, um diese zu bekämpfen, indem man etwa Unstimmigkeiten und Unterschiedlichkeit am Ursprung herausstellt, wo man in der Metaphysik die Reinheit und das wahre Wesen der Dinge vermutet; indem man die Heterogenität 185 186 187 188 189 190

Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, s. Anm. 168, S. 169. KSA 3, S. 51. KSA 3, S. 52. KSA 3, S. 53 f. KSA 3, S. 54. Vgl. etwa § 200 in Jenseits von Gut und Böse: „Der Mensch aus einem Auflösungszeitalter…, der die Erblast einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat“. Vgl. KSA 5, S. 120. 191 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, s. Anm. 168, S. 173. 192 Vgl. dazu: Nietzsches Kulturphilosophie von Yong-Soo Kang S. 27 ff.

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und Vielheit der Ursprünge gegen die Vorstellung eines vermeintlich homogenen einzigen Ursprungs nachweist; und schließlich indem man dem Pathos des ehrwürdigen und erhabenen Beginns mit Ironie und dem Verweis auf die niedere Herkunft begegnet. Immer wieder wird auch in den Zürauer Zetteln versucht, Widersprüche, Unstimmigkeiten, Unterschiedlichkeit und Heterogenität am behaupteten Ursprung aufzuspüren, um so Auswege zu finden, die das Drängen des Mythos zurück zu ursprünglicher Einheit ins Leere laufen lassen. Wenn im Sündenfallmythos der Erwerb der Fähigkeit zu urteilen, moralisch als Verschuldung gefasst wird, der temporal eine Zäsur entspricht, die einen Zustand der Unschuld von einem der Schuld abhebt, dem wiederum topologisch die Unterscheidung in ein Paradies und eine davon geschiedene Welt entspricht, so erscheint eine Rückkehr zu einem früheren schuldlosen Zustand im Paradies nicht nur wünschenswert, sondern allererst denkbar. Folglich suchen die Umschriften der Zürauer Zettel erstens die Unschuld des Menschen nachzuweisen und zweitens die temporale Logik sowie die topologische Struktur, die dieser Mythos etabliert, anzugreifen. Die folgenden beiden Abschnitte widmen sich diesen beiden Strategien. Nachweis der Schuldlosigkeit Die oben aufgeworfene Frage, wodurch der Mythos des Sündenfalls zu Sammlung, Einheit und Rückkehr zum Ursprung aufrufe, ließ sich mit der Abwertung alles Irdischen beantworten, mit seiner Deutung des Weltlichen als Sünde und Strafe für ein Vergehen, das sich der Mensch zuschulden hat kommen lassen. Das entsprechende Schuldbewusstsein bzw. die stets wachgehaltene Vorstellung, dass die Existenz in einer leidvollen Welt vermeidbar gewesen wäre, sind die treibenden Kräfte hinter der Sehnsucht, die Verfehlung rückgängig zu machen und zum Ursprungsideal zurückzukehren. Die Sündenfallgeschichte deutet nun nicht nur die Existenz des Menschen in der Differenz zur Strafe um, sondern liefert auch jenes Vergehen nach, welches diese Strafe nach sich gezogen haben soll. Indem sie die Übertretung benennt, stellt sie dem Menschen die Möglichkeit in Aussicht, seine Schuld wieder gut zu machen. Worin besteht also dem Sündenfallmythos zufolge konkret das Vergehen des Menschen und wozu fordert er auf, wenn er zu dessen Wiedergutmachung ruft? Das Leiden an der vergänglichen, unvollkommenen Welt der Differenzen wird im Mythos zunächst als Strafe für den Ungehorsam des Menschen ge-

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gen Gott dargestellt. Weil sich Schlange, Frau und Mann dem Willen Gottes widersetzten, wonach die Früchte des Baums der Erkenntnis (und des Baums des Lebens) nicht gegessen werden dürfen, wird die Schlange zum Kriechen auf dem Bauche verdammt und in Feindschaft zum Menschen gesetzt,193 die Frau muss fortan unter Schmerzen Kinder gebären und ist dem Mann unterworfen, während dieser sein Brot durch harte Arbeit verdienen muss und an seine Sterblichkeit erinnert wird.194 Bereits die erste Tagebuchnotiz Kafkas zum Sündenfall hatte mit der Bemerkung, wonach dieses Verbot Gottes unbegründet gewesen sei, darauf hingewiesen, dass Gott sein Verbot zu einem Zeitpunkt ausspricht, an dem Gut und Böse noch gar nicht existieren – jedenfalls vom Menschen noch nicht als solche erkannt werden können, denn Vergehen und Erkenntnis des Vergehens als Vergehen sind dem Mythos zufolge gleichursprünglich, sie sind ein und dasselbe. Dies wird in den Zürauer Zetteln nochmals aufgegriffen und explizit gemacht, wenn es heißt: „Im Paradies wie immer: Das was die Sünde verursacht und das was sie erkennt ist eines.“195 Folglich kann mit Blick auf den Ungehorsam gegen Gott auch nicht von Schuld gesprochen werden. Doch die Dualität, die als Trennung die Welt durchläuft, und die im Mythos als Strafe Gottes gegen den Ungehorsam des Menschen gedeutet wird, lässt sich auch als direkte Folge des Essens vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse begreifen. Sie gelangt durch die erworbene Fähigkeit zu urteilen ins 193 Damit ist auch das spätere durchaus humoristisch anmutende Erzählfragment Kafkas mit dem kleinen grünen Drachen als Ansatz zu einer Umschrift der Sündenfallgeschichte lesbar. Der wundgescheuerte Bauch macht den grünen Drachen als gefallene Schlange aus dem Paradies erkennbar. Bemerkenswert ist, dass dieses Tier, das symbolisch für Versuchung steht, sofern man ihm trauen darf, durch die Sehnsucht des namenlosen IchErzählers angezogen wird. Die Sehnsucht – vielleicht nach der Rückkehr zu paradiesischer Einheit – ruft förmlich die Versuchung herbei, die letztlich ins Verderben führt. „Es öffnete sich die Tür und es kam, gut im Saft, an den Seiten üppig gerundet, fußlos mit der ganzen Unterseite sich vorschiebend der grüne Drache ins Zimmer herein. Formelle Begrüßung. Ich bat ihn völlig einzutreten. Er bedauerte dies nicht tun zu können, da er zu lang sei. Die Tür mußte also offen bleiben, was recht peinlich war. Er lächelte halb verlegen, halb tückisch und begann: Durch Deine Sehnsucht herangezogen, schiebe ich mich von weither heran, bin unten schon ganz wundgescheuert. Aber ich tue es gerne. Gerne komme ich, gerne biete ich mich Dir an.“ KKAN II, S. 547 f. 194 Vgl. 1 Mose 3, 14–19. 195 Vgl. KKAN II, S. 66. Der Zettel setzt daraufhin folgendermaßen fort: „Das gute Gewissen ist das Böse, das so siegreich ist, daß es nicht einmal mehr jenen Sprung von links nach rechts für nötig hält.“ Wenn also die Erkenntnis von Gut und Böse selbst bereits Sünde und also böse ist, so ist die Erkenntnis des Guten, das nicht einmal schlechtes Gewissen hervorruft, von geradezu reueloser Boshaftigkeit.

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Leben der Menschen, denn diese Urteilsfähigkeit geht offenbar mit einer UrTeilung196 einher, die eine Reihe weiterer Trennungen nach sich zieht: Etwa jene in ein erkennendes Subjekt und ein erkanntes Objekt, in einen mit göttlichem Erkennen befähigten Geist und einen sinnlich-sündigen Körper, in eine geistige und eine sinnliche Welt, in eine Bedeutung und ein Zeichen, in ewige Idealität und vergängliche Realität, in ein Paradies und eine Erde. Ein sich daran anschließendes Erkenntnisproblem, in dem ebenfalls ein Zusammenhang von Erkenntnis und wörtlich verstandenem Ur-Teilen hergestellt und die Einheit ursprünglicher Wahrheit vorausgesetzt wird, hat Kafka im Zürauer Zettel Nr. 80 folgendermaßen formuliert: „Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein.“ Hier wird deutlich, dass die Fähigkeit zur Erkenntnis einer unteilbaren Wahrheit Sünde – verstanden als Existenz des Menschen außer ihr, in einer Sphäre der Differenzen – notwendig voraussetzt. Denkt man die Folgen der Urteilsfähigkeit des Menschen weiter, so bringt diese auch ein Bewusstsein für die Getrenntheit der Menschen untereinander hervor. Die Dualität von Mann und Frau kommt ins Bewusstsein und auf die Feststellung des Unterschieds folgt sogleich die Unterordnung der Frau unter den Mann. Allem voran bewirkt die Fähigkeit zu urteilen aber eine Trennung zwischen Mensch und Gott, denn der Mensch beurteilt von nun an, was gut und was böse ist in Bezug auf sich selbst. Er erlangt damit eine Autonomie von Gott, die ihn ihm gleich macht und die ihn zugleich von ihm trennt. Der Versuch sich Gott gleich zu machen, droht diesen zu verdoppeln und damit eine Trennung durch Gott selbst verlaufen zu lassen, der stets als Totalität aufgefasst werden soll. Umso entschiedener muss die Trennung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre ausfallen. In diesem Sinne lässt sich die Verbannung des Menschen aus dem Paradies als selbstschützender Akt Gottes begreifen. Um seine eigene Spaltung/Verdopplung durch den, infolge der erwachenden Erkenntnis nach Gottgleichheit strebenden, Menschen zu vermeiden, muss der Mensch verbannt werden, auf dass er sich nicht noch am Baum des Lebens vergreifen kann, der ihm Unsterblichkeit verleihen und ihn endgültig gottgleich machen würde. Darauf scheint die Darstellung in einer weiteren Notiz abzuheben, wenn in ihr diese Trennung noch weiter zugespitzt wird: „Wir sind von Gott beiderseitig getrennt: Der Sündenfall trennt uns von ihm, der Baum des Lebens trennt ihn von uns.“197 Mit der Behauptung dieser doppelten Trennung wird 196 Vgl. dazu auch die Überlegungen Friedrich Hölderlins in Urteil und Sein. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 4, Stuttgart 1962, S. 226–228. Entstanden vermutlich 1795. Erstdruck in: Sämtliche Werke, hg. v. F. Beissner, Stuttgart 1962. 197 KKAN II, S. 71.

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entsprechend die Schuld des Menschen an seiner sündhaften Existenz negiert, oder zumindest halbiert, und damit das schlechte Gewissen als zentrales Moment, mit dem der Sündenfallmythos zur Einheit drängt, abgeschwächt. Im Zürauer Zettel Nr. 82 liegt der Grund für die Verbannung des Menschen aus dem Paradies dann bereits gänzlich bei Gott, wobei die auffällige Häufung kausaler und finaler Partikel anzeigt, wie intensiv hier in einem einzigen Satz an der Umkehrung von Kausalzusammenhängen gearbeitet wird. Die Verbannung sei nicht auf das Essen vom Baum der Erkenntnis zurückzuführen, sondern eben Ausdruck der Angst Gottes, der Mensch könne sich auch noch am Baum des Lebens vergreifen: „Warum klagen wir wegen des Sündenfalls? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradiese vertrieben worden, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen.“198 Sünde, also die Existenz in der vergänglichen, unvollkommenen Welt, getrennt von Gott, wird demnach nicht als Folge der Verschuldung des Menschen ausgewiesen, sondern als Vorsichtsmaßnahme Gottes gegen seine Verdopplung und damit Zerstörung als Totalität. Doch die hier bereits anklingende Unverbundenheit von Sünde bzw. Strafe und Schuld, die nebenbei bemerkt auch eines der zentralen Themen in Kafkas Prozess darstellt, zeigt sich noch in einem weiteren Punkt: Hätte der Mensch zusätzliche Schuld auf sich geladen und gegen das Verbot Gottes auch noch vom Baum des Lebens gegessen, so wäre er unsterblich/gottgleich geworden und hätte gar nicht erst in die sündhaft vergängliche Welt verbannt werden können, wie der Zürauer Zettel Nr. 83 in aller Deutlichkeit festhält: „Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld.“199 Die skandalöse Entdeckung, die aus Kafkas literarischer Auseinandersetzung mit der Sündenfallgeschichte spricht, ist also die, dass Schuld und Sünde in keinem ursächlichen Zusammenhang stehen. Der Versuch die Existenz des Menschen in einer unvollkommenen Welt, die als Strafe empfunden wird, durch eine Verschuldung des Menschen zu erklären, läuft somit ins Leere und damit auch das durch diese Vorstellung hervorgerufene Streben nach einer Rückkehr vor jenes Ereignis der Verschuldung. Während der Mythos den Menschen für schuldig erklärt, ist der Mensch in Kafkas Umschriften von seiner Schuld befreit, allerdings zum Preis der 198 KKAN II, S. 131 [Hervorh. C.D.]. 199 KKAN II, S. 131.

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Erkenntnis seiner Existenz in einer ungerechten Welt, in der Schuld und Sünde, Vergehen und Bestrafung, Grund und Entscheidung nicht zusammenhängen – eine Weltlage, die nicht zuletzt aus dem Prozess und dem Schloss einer breiten Leserschaft vertraut geworden ist. Gott – so es einen geben sollte – erscheint, wie bereits in der ersten Tagebuchnotiz zum Sündenfall, als willkürlicher Despot. Weitgehend stillgestellt ist damit aber auch die lebensfeindliche Sehnsucht, die sinnliche Welt der Differenzen und die Fähigkeit der Erkenntnis dem Streben nach ursprünglicher Einheit und Wahrheit zu opfern.

Ent-Scheidung Ein weiterer Versuch, dem Ruf des Mythos zur Rückkehr zum Ursprung zu entkommen, richtet sich auf jene Paradoxien, die sich aus der temporalen Logik ergeben, die der Sündenfallmythos etabliert und die er durch die Verknüpfung mit der topologischen Scheidung von Paradies und Welt zu stabilisieren sucht. Im Herausstellen solcher Paradoxien soll die behauptete Trennung, die eine Rückkehr überhaupt möglich und notwendig erscheinen lässt, in Frage gestellt werden. Bereits Augustinus stellte fest, mit der Schaffung von Himmel und Erde stießen Ewigkeit und Zeit aneinander.200 Wenn aber der Sündenfallmythos den Fall des Menschen als Zäsur exponiert, die die Existenz des Menschen im Paradies von seiner Existenz in der Welt absetzt und als Vorher-NachherVerhältnis organisiert, so widerspricht diese Darstellung der Vorstellung des Paradieses als Ort einer überzeitlichen Sphäre. Diese Einsicht drückt sich in einem Aphorismus im Umfeld der Zürauer Zettel aus, in dem Kafka festhält: „Dem Diesseits kann nicht ein Jenseits folgen, denn das Jenseits ist ewig, kann also mit dem Diesseits nicht in zeitlicher Beziehung stehn.“201 Was hier auf ein dem Diesseits folgendes Jenseits bezogen wird, gilt für das Paradies als Sphäre des Göttlichen vor dem Diesseits gleichermaßen. Damit lässt sich die jeder Verlustgeschichte inhärente temporale Logik angreifen und somit jenes Narrativ, das die Sehnsucht einer Rückkehr zum Ursprung hervorruft. Genau darauf wird im Zürauer Zettel Nr. 64/65 gezielt, wenn es heißt: 200 Aurelius Augustinus. Vom Gottesstaat. Übers. von Wilhelm Thimme. 2. Aufl. Bd. 2. Buch 11 bis 22. Eingel. und kommentiert von Carl Andresen. München: dtv, 1985, 6. Kap., S. 11. 201 KKAN II, S. 62.

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Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ein außerzeitlicher ewiger Vorgang. Es ist also zwar die Vertreibung aus dem Paradies endgiltig, das Leben in der Welt unausweichlich, die Ewigkeit des Vorgangs aber oder zeitlich angesehn die ewige Wiederholung des Vorgangs macht es trotzdem möglich, daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht.202

Wenn der Vorgang der Vertreibung ein ewiger ist und die Möglichkeit besteht, dass wir, ohne es zu wissen, immer noch im Paradies sind, so müsse die Rückkehr dorthin gar nicht ersehnt werden. Auf die Stillstellung dieses Wunsches zielt auch der Zürauer Zettel Nr. 74, der jenes „Trostmittel“,203 das Nietzsche beim großen „Seelen-Beschwichtiger“ Epikur entdeckt hat, auf die Sündenfallgeschichte anzuwenden scheint. Nach Nietzsche brauche man sich – möchte man „Unglückliche, Uebelthäter, Hypochonder, Sterbende“204 trösten – bloß an zwei beruhigende Wendungen des Epikur erinnern: „In der einfachsten Form würden sie etwa lauten: erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns Nichts an; zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders sein.“205 Im Zürauer Zettel 74 heißt es entsprechend: „Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.“206 Was auch immer also im Paradies zerstört worden sein soll: die Einheit des Menschen, sein wahres Wesen oder die Gemeinschaft war, wenn es zerstörbar war, nicht so ideal, wie es schien. Wie bei Nietzsche durch ein Semikolon getrennt, folgt sodann die Relativierung der ersten Hypothese von der Zerstörbarkeit des Ideals zugunsten des Hinweises auf eine alternative Möglichkeit: War es hingegen unzerstörbar, so lebe man in dem falschen Glauben, dass es zerstört wurde und erst wieder angestrebt werden müsse. „[Z]ur Beruhigung des Gemüths [ist] die Lösung der letzten und äussersten theoretischen Fragen“207 also gar nicht zwingend nötig: Diesen Schluss hat Nietzsche mit Blick auf die trostspendende Methode des Epikur gezogen. Übertragen auf den Sündenfall scheint auch er ein prägnant formuliertes Echo im Zettel Nr. 69 zu finden, der uns bereits im ersten Teil dieser Arbeit begegnet ist: „Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben.“208 202 203 204 205 206 207 208

KKAN II, S. 127. KSA 2, S. 543. KSA 2, S. 544. KSA 2, S. 544. KKAN II, S. 129. KSA 2, S. 543. KKAN II, S. 128.

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Und wollte man doch das Paradies, den Ursprung, das Absolute als Aufgabe bzw. als Ziel begreifen, so wäre der Ausweg – hier kommt die topologische Dimension ins Spiel – ein Weg, der Hindernis und Stufe zugleich wäre, eine Stufe, die als Zerstörung zu bauen wäre,209 ein Labyrinth in dem Sinne, wie Joseph Vogl diesen Begriff entwickelt hat,210 eine Aporie, ein unsteter Weg, der alle Wege enthält und damit kein gangbarer Weg mehr wäre, ein Unweg voll Unwegsamkeit, der beständiges Zögern hervorruft: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.“211 Konkurrierende Umschriften Bis hierher sollte deutlich geworden sein, weshalb Ursprungsmythen insbesondere seit der Aufklärung immer wieder Gegenstand von Umschriften geworden sind. Ursprungsmythen konstituieren das kollektive Imaginäre entscheidend mit und unterlegen ihm nachträglich ein Fundament. Damit sind sie an der Bestimmung der Grenzen des Denk-, Erzähl-, Symbolisier- und Wahrnehmbaren innerhalb einer Kultur beteiligt.212 Diese Grenzen zu überschreiten bzw. zu verschieben, neu auszuloten, motiviert die zahlreichen Versuche, den Mythos zu überwinden, ihn hinter sich zu lassen, ihn an sein Ende zu führen. Dabei wird die Frage aufgeworfen, was an seine Stelle treten soll, denn sowohl die autoritäre Neu-Setzung eines Ursprungs als auch sein Offenlassen bringt die Gefahr eines neuerlichen Rückfalls in die unreflektierte Unaufgeklärtheit mit sich: Bereits in der Aufklärung hat man offenbar entdeckt, dass man kulturell wirksamen Fiktionen am effektivsten mit Anti-Fiktionen begegnen kann – eine Praxis, die, wie die lange Geschichte der Sündenfall-Umschriften belegt,213 bis in die Gegenwart hinein immer wieder aufgegriffen und mitunter auf die vorangegangenen Gegennarrative selbst bezogen wurde. Allerdings birgt sie stets die Gefahr, diese Gegenfiktionen ihrerseits wieder zu wirkmächtigen, unhinterfragten Mythen werden zu lassen: So haben die aufklärerischen Umschriften der Sündenfallgeschichte, die mit dem Fall – verstanden als Ausgang 209 210 211 212 213

Vgl. KKAN II, S. 78. Vgl. Vogl, Über das Zaudern, s. Anm. 30, S. 89–93. KKAN II, S. 118. Vgl. Koschorke, s. Anm. 1, S. 12. Neben dem oben wiedergegebenen diachronen Abriss der Sündenfall-Umschriften bei Mülder-Bach, geht auch Blumenberg auf Umschriften des Sündenfallmythos von apogryphen Schriften der Gnostiker über Nietzsche, Feuerbach bis zu Simmel ein. Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, s. Anm. 157, S. 194–235.

Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft

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des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit – die menschengemachte Geschichte als unaufhaltsamen Fortschritt des Menschengeschlechts anheben lassen, gewiss zu der blinden Fortschrittsgläubigkeit und den Vorstellungen der eigenen aufgeklärten Überlegenheit beigetragen, die in Form von Rassismus und Kolonialismus beispiellose Grausamkeiten ermöglicht haben, die bis in unsere unmittelbare Gegenwart fortwirken. Und gleichermaßen schlägt in Kafkas Gegenwart etwa auch Otto Gross’ vielbeachtete Umdeutung des Sündenfalls, wonach das Vergehen im Wechsel vom Matriarchat zum Patriarchat bestanden und einen kulturellen Niedergang eingeleitet habe, um in einen neuen verabsolutierten kulturpessimistischen Mythos. Demnach bringe der Mensch alle Voraussetzungen für ein herrschaftsfreies erfülltes Zusammenleben mit, allein die patriarchalen Strukturen sowie die Last der Zivilisation vereiteln, dass er sein Potenzial ausschöpft und seiner Bestimmung entsprechend lebt – eine Entfremdung, die nur durch ein gründendes Opfer aufgehoben werden könne, das alle zivilisatorischen Errungenschaften annulliert und das viele im heraufziehenden Ersten Weltkrieg zu erkennen meinten, den sie als Verheißung einer neuen Kultur und eines neuen Menschen herbeisehnten und begrüßten. Deshalb ist das verbreitete philosophische und literarische Mißtrauen gegenüber dem Anfang, das Frank Druffner und Marcel Lepper in ihrem Vorwort zu Anfänger! feststellen, gewiss berechtigt.214 Allein ganz auf die Erzählung von Anfängen zu verzichten, scheint auch keine Option zu sein. Bringt doch auch oder gerade das Schweigen des Mythos die Gefahr einer noch radikaleren Remythisierung mit sich.215 Ein Schweigen des Menschen zu seinen Anfängen scheint nicht durchhaltbar zu sein. Entsprechend gilt es nicht nur den Mythos zum Schweigen zu bringen, sondern gewissermaßen noch sein Schweigen zum Schweigen zu bringen. Das Schweigen müsste also in einer Weise gebrochen werden, die den Mythos samt seiner zahlreichen Umschriften, Bearbeitungen, Aktualisierungen nochmals aufruft, entkräftet und dabei die eigenen Gegenfiktionen gleichermaßen zu Fall bringt. Wenn Druffner und Lepper den Grund für das Mißtrauen gegen den Anfang in Literatur und Philosophie einerseits in der „Furcht vor dem Pathos des Neubeginns“,216 und andererseits in der „Furcht vor der Entscheidung“217 214 Vgl. Frank Druffner und Marcel Lepper. „Anfänger!“ In: Zeitschrift für Ideengeschichte. 1/2 (Anfänger! 2007), S. 4. 215 Vgl. Vogl, „Kafkas Babel“, s. Anm. 2, S. 374 und Vogl, Ort der Gewalt, s. Anm. 105, S. 218 f. 216 Druffner und Lepper, s. Anm. 214. 217 Ebd.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

vermuten, da nicht herleitbare Anfänge zu denken, bedeute, sich entscheiden zu müssen, so deuten sich in den literarischen Strategien gegen diese zweifache Furcht Auswege aus der paradoxen Situation an, einen alternativen Ursprung zugleich setzen und annullieren zu müssen. Solche Strategien bestehen also einerseits im Festhalten an einer notorischen Unentschiedenheit, die sich nicht auf einen Anfang festlegen kann und immer neue, konkurrierende, mitunter einander offen widersprechende Varianten von Ursprüngen hervorbringt, die trotz ihrer zur Schau gestellten Apodiktik einander in Schach halten und stets im Status der Vorläufigkeit verharren und andererseits in einer Stilistik, die das Pathos des Neubeginns beständig dadurch unterläuft, es ins Komische, Lächerliche, Ironische zu ziehen und die eigenen Setzungen sowie die Autorität, mit der diese Setzungen vollzogen werden, nicht ernst zu nehmen. Beides zeichnet Kafkas Sündenfall-Umschriften in hohem Maße aus: Zum einen werden in immer neuen Zetteln und Varianten Widersprüche im Sündenfall-Mythos exponiert, wobei die Zettel selbst immer wieder in Widerspruch zueinander geraten. Dabei ist es u. a. der unklare, (scheinbar) vorläufige Status der zu Lebzeiten unpublizierten Sprüche, der ihrem demonstrativ zur Schau gestellten, autoritären Gestus des Bescheidwissens entgegensteht und zuweilen kaum entscheiden lässt, ob sie in einem intendierten Konkurrenzverhältnis zueinander stehen und man es mit einer kalkulierten Vorläufigkeit zu tun hat, oder ob sich Widersprüche zwischen den Kurztexten aus ihrer noch unabgeschlossenen Harmonisierung erklären. Darf eine Kontinuität, eine Kohärenz zwischen den einzelnen Texten überhaupt angenommen werden? Liegt ihnen dasselbe Aussagesubjekt zugrunde? Und ist etwa das Unzerstörbare, von dem in zahlreichen Notizen gesprochen wird, stets dasselbe? Zu diesem Eindruck der Ambivalenz zwischen intendierter und unwillkürlicher Widersprüchlichkeit und Vorläufigkeit, trägt nicht zuletzt auch die Nummerierung der Zürauer Zettel bei, die stellenweise lückenhaft ist und andernorts Doppelnummern aufweist.218 Fest steht jedenfalls, dass sich nicht alle Wiedersprüche durch die Annahme einer unwillkürlichen Vorläufigkeit wegerklären lassen. Die Intaktheit und Selbstgewissheit eines unterstellten Aussagesubjekts lässt sich durch einen solchen Erklärungsversuch nicht retten. Die Autorität und Unversehrtheit des zugrundegelegten Aussagesubjekts der ungewöhnlich apodiktisch219 formulierten Sprüche wird nämlich nicht nur durch die inten218 Zur Nummerierung der Zettel und mögliche Erklärungen für die Lücken und Doppelnummern vgl. FKA-FKH8, S. 4 f. 219 Zu Kafkas experimenteller Zuspitzung des Problems der „Urteilssprache“ in den Texten aus dem Umfeld der Zürauer Zettel hält Reuß fest: „Die Fragwürdigkeit doktrinaler Set-

Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft

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dierten oder nicht intendierten Widersprüchlichkeiten zwischen den einzelnen Mikrotexten unterlaufen und in Frage gestellt220 . Auch Widersprüchlichkeiten und Paradoxien innerhalb einzelner Mikrotexte demontieren die zur Schau gestellte Selbstsicherheit dieses Subjekts und problematisieren generell die Möglichkeit der Repräsentation von Ursprüngen. Gerade die für Kafkas Schreibweise ungewöhnliche Urteilssprache wirft etwa die Frage auf, von welchem Standpunkt aus sich wahre Aussagen über die Unerkennbarkeit des Wahren machen lassen.221 Damit werden nicht nur die jeweiligen (Ursprungs-)Setzungen selbst angegriffen, sondern grundsätzlicher das Subjekt solcher Setzungen desavouiert. Zum anderen sind es sodann die im Abschnitt zum genealogischen Einwand eingeführten Strategien der Komik, Ironie, Lächerlichkeit, Persiflage, Travestie etc., die sich auch als effektive Mittel gegen das Pathos des Neuanfangs erweisen. Auch sie unterlaufen die Autorität der eigenen Setzungen und verhindern, dass die Gegenfiktionen selbst wieder zu wirksamen Mythen werden. Eines der bei Kafka am prominentesten eingesetzten Stilmittel ist in diesem Zusammenhang die Verlagerung mythischer Figuren in die profane Gegenwart etwa durch den Einsatz von Wörtern und Requisiten, die mehr oder weniger deutlich in der Historie verankert sind. Während der Großteil der zeitgenössischen Remythisierungen mit ihrem Pathos des Neuanfangs versuchen, sich „auf die alten ungeheuern Zeiten“222 zu berufen, an die sie anknüpfen möchten, und daher suchen, Signaturen des Gegenwärtigen in ihren Visionen einer zeitlosen Zukunft, die mit einer zeitenthobenen großen Vergangenheit in Eins fallen soll, möglichst zu vermeizungen konnte hier [in der äußeren Nähe zu aphoristischem Schreiben, Anm. C.D.] auf engstem Raum dargestellt und die Prätention, Wahrheit einfach ‚haben‘ und mit Macht aussprechen zu können, subvertiert und – im Wortsinn – enttäuscht werden. Daß gerade der Begriff der Wahrheit und, ontisch, ‚das Wahre‘ immer wieder in den Mikrotexten umkreist wird, hängt damit zusammen, daß mit diesen termini der implizit setzende, quasitranszendentale Charakter jeder Behauptung ins Blickfeld gerät.“ FKA-FKH8, S. 15. Die für Kafkas Schreiben ansonsten untypische Form apodiktischen Sprechens ruft zudem zahlreiche mögliche Kontexte auf. Reuß nennt etwa Pascals „Pensées“, Kierkegaard, das Tao Te King, die Zwölf-Apostel-Lehre (Didache), Buber und Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Vgl. FKA-FKH8, S. 9 f. und S. 14 f. 220 Aus diesem Grund verbietet es sich Roland Reuß zufolge auch, im Falle von Kafkas Mikrotexten von Aphorismen zu sprechen, da dieser Begriff ein solches intaktes, selbstgewisses Aussagesubjekt voraussetzen würde. Vgl. FKA-FKH8, S. 9. 221 So etwa im bereits zitierten Zürauer Zettel Nr. 80 Vgl. KKAN II, S. 130. 222 KKABr 3, S. 223. Kafka bezieht sich in einem Brief vom 12.09.1916 an Felice Bauer mit dieser Formulierung auf den Zionismus.

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Erzählen: Ursprungs- und Gründungsmythen

den, sind Kafkas Texten diese Signaturen immer wieder eingeschrieben und erzeugen einen ebenso komischen wie tragischen Effekt.223 Wenn in einem oben zitierten Text Kafkas offenbar aus Adam „A.“224 wird, so erscheint dieser nicht mehr als gefallener paradiesischer Mensch. Der paradiesische Mensch als solcher ist tot.225 Eine gewisse Kontinuität, die im Sündenfall-Mythos durch den Namen über den Fall hinweg noch suggeriert wird, ist auf ein absolutes Minimum, auf die Schwundstufe eines einzigen Buchstaben reduziert. A. hat kaum noch etwas mit dem Menschen des Paradieses zu tun, sondern ist ein Mensch geworden – irgendein Mensch, ein anonymisierter Einzelner. Und er trägt unverkennbar die Zeichen einer bestimmten Zeit, er ist historisch und dabei lächerlich geworden: Innerhalb eines alten überlieferten Mythos wäre die Abkürzung eines Namens ein anachronistisch wirkender Stilbruch und würde auch eine zentrale Funktion des Mythos verfehlen, nämlich das Unerkennbare und daher Unbenannte zu benennen. Doch nunmehr irdisch geworden, fällt der Mensch nicht mehr in den Bereich des Unbekannten. Die Abkürzung des Namens erinnert vielmehr an allzu Bekanntes: etwa an eine kurze anonymisierende Zeitungsmeldung oder an einen Aktenvermerk. Dass sich A. „erschießt“ und sich das Paradies offenbar nicht anders, denn in seiner metonymischen Verschiebung zur „Laube“ vorstellen kann,226 sind zwei weitere Kniffe, mit denen der gefallene Adam vollends profanisiert und aus einer unvordenklichen Vergangenheit in die schnöde Wirklichkeit und Gegenwart geholt wird. Gerade dadurch wird aber sein Streben, der Immanenz dieser unerträglich mittelmäßigen Wirklichkeit zu entkommen, zugleich nachvollziehbarer und trivialer. Dem zeitgenössischen Pathos, mit dem ein kultureller Neuanfang gefordert wird, wird also dadurch begegnet, den scheinbar zeitlosen Mythen, auf die man sich hierbei beruft, unverkennbar zeitgenössische Elemente einzutragen.227 223 Zum tragikomischen Effekt des Anachronismus vgl. Miriam Lay Brander. „Der Anachronismus als literatur- und kulturwissenschaftliche Kategorie“. In: Anachronismen – Anachronismes – Anacronismi – Anacronismos. Atti del V Dies Romanicus Turicensis. Hrsg. von C Albizu u. a. Pisa: ETS, 2011, S. 13–27, S. 23 f. 224 KKAN II, S. 78. 225 Vgl. KKAN II, S. 73. 226 Er missachtet somit die Einsicht aus dem Zürauer Zettel Nr. 57, wonach die Sprache „für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden“ kann. KKAN II, S. 126. 227 Dieses Stilmittel ist bei Kafka nicht allein auf den A.-Text (vgl. KKAN II, S. 78) beschränkt: Selbiges gilt auch für den Zürauer Zettel Nr. 13, in dem Gott als Gefängnisdirektor imaginiert wird (vgl. KKAN II, S. 116) oder auch für Kafkas Poseidon-Umschriften, in denen Poseidon zunächst als Zirkusartist und gleich anschließend als Verwaltungsbeam-

Ursprungsmythen und die Imagination ‚wahrer‘ Gemeinschaft

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Die mythische Erzählung wird damit einerseits überboten, weil die Sehnsucht des Menschen, der Unzulänglichkeit der Welt zu entkommen, durch die Aktualisierung des Stoffes erfahrbarer geworden ist, andererseits wird alles Heroische und Überzeitliche, das alten Mythen anhaftet, aus dieser Schilderung eines tatsächlichen Versuchs, dieser Unzulänglichkeit zu entkommen, ferngehalten, wodurch sich dieser Versuch, der notwendig in seiner lächerlichen Begrenztheit steckenbleiben muss, jeglicher Instrumentalisierung als Werbung für ein Opfer, das einen heldenhaften Neubeginn ermöglichen würde, widersetzt. A. ist ein tragischer Anti-Held, der bestenfalls Mitleid erregt. Als solcher steht er vermeintlich heroischeren Versuchen, die Endlichkeit zu überwinden, entgegen, die trotz ihres Scheiterns zur Nachahmung herausfordern. Insgesamt wird damit deutlich, dass Mythen in Kafkas Texten wohl in ihrer Wirkmächtigkeit ernstgenommen werden, es kann aber kein ernstes Einverständnis Kafkas mit diesen Mythen unterstellt werden.228 Die Umschriften begegnen ihren Vorgängern durchaus parodistisch und mit Ironie. Eine „Neigung zur Rückkehr zum Mythos“, die Kafkas Texten wohl nicht abgesprochen werden kann,229 ist daher aber gerade nicht dadurch motiviert, dass Kafka die Mythen letztlich wieder in einen „Wahrheitsgrund[][…] zurückführen will“.230 Was Kafkas Texte beständig zum Mythos zurückkehren lässt, ist die Notwendigkeit, diesen in immer neuen Varianten aufzurufen und umzuschreiben, um ihn so zu depotenzieren und zugleich die Remythisierung der eigenen Umschriften zu unterbrechen.

ter dargestellt wird. (Vgl. KKAN II, S. 300 ff.) Kafka ist mit dieser aktualisierenden Form der Mythen-Umschrift im Übrigen nicht alleine. In André Gides Prometheus-Umschrift von 1899 Le Prométhée mal enchaîné, die 1909 in der Übersetzung von Franz Blei unter dem Titel Der schlechtgefesselte Prometheus auch auf Deutsch erschienen ist, muss sich der unversehens ins 19. Jahrhundert versetzte Prometheus als Streichholzfabrikant ausgeben, während Zeus die Gestalt eines Bankiers annimmt. 228 Diesen Standpunkt vertritt dagegen Hyuck Zoon Kwon, wenn er behauptet, Kafka nehme die mythischen Erzählungen ernst, er parodiere sie nicht. Vgl. Kwon, s. Anm. 137, S. 13. 229 Auch über vier Jahre nach der Arbeit an den Zürauer Zetteln bleibt der Sündenfallmythos, ebenso wie zahlreiche seiner zeitgenössischen Umschriften, in Kafkas literarischem Schaffen weiterhin präsent. So ist in der 1922 niedergeschriebene Wir-Erzählung Forschungen eines Hundes davon die Rede, dass bereits die „Urväter abirrten“, wobei das Narrativ eines damit einsetzenden kulturellen Verfalls Versatzstücke der zeitgenössischen produktiven Sündenfallrezeption aufnimmt. KKAN II, S. 456. 230 Kwon, s. Anm. 137, S. 13.

4. Fetischisieren: Das kollektivierende Potential von Undingen. Zu Kafkas Blumfeld ein älterer Junggeselle

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Nachdem Blumfeld, „ein älterer Junggeselle“, auf dem Weg hoch zu seiner Wohnung erwägt, sich als Abhilfe gegen sein „vollständig einsame[s] Leben“2 einen Hund anzuschaffen, nur um diese Überlegung sogleich wieder zu verwerfen, findet er beim Öffnen seiner Wohnungstür „zwei kleine weiße blaugestreifte Celluloidbälle“3 vor. Aus unerfindlichen Gründen – Blumfeld prüft sofort, ob sie nicht an irgendwelchen Fäden hängen und schließt aus, dass es sich um „ein elektrisches Experiment“4 handelt – springen diese Bälle unablässig und offenbar ohne Bindung an den Energieerhaltungssatz der Newtonschen Mechanik wechselseitig auf und ab. Was immer hier hoch und nieder hüpft, erodiert jegliche kategoriale Ordnung: Die Bälle stellen sich nicht nur physisch als schwer zu fassende, ‚unzuhandene‘ Gegenstände heraus, die dadurch ebenso ‚auffällig‘, ‚aufdringlich‘ wie ‚aufsässig‘ werden,5 sie entziehen sich auch – wie viele von Kafkas Zwillings- und Verdopplungsfiguren6 – 1

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Teile dieses Kapitels basieren auf Ergebnissen, die ich in folgendem Aufsatz publiziert habe: Clemens Dirmhirn. „Kafkas Undinge. Gemeinschaftsstiftendes Potenzial und die Frage der Verantwortung in ‚Blumfeld ein älterer Junggeselle‘“. In: Kafkas Dinge. Hrsg. von Agnes Bidmon und Michael Niehaus. Bd. 6. Forschungen der Deutschen KafkaGesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019, S. 83–111. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I), S. 229. KKAN I, S. 232. KKAN I, S. 233. Roland Innerhofer geht davon aus, dass hier von einem Experiment mit einer Influenzmaschine die Rede ist. Vgl. Roland Innerhofer. „Fantastik und Möglichkeitssinn. Zur literarischen Organisation des Wissens bei Kafka und Musil“. In: Kakanien revisited (2007), S. 1–8. URL: http://www.kakanien.ac.at/beitr/emerg/RInnerhofer1.pdf (besucht am 06. 01. 2023), S. 2. Vgl. Martin Heidegger. Sein und Zeit. 11. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 1967, S. 74. Als Erwachsener weiß Blumfeld mit den Bällen nichts anzufangen. Der Erzähler kommentiert dies folgendermaßen: „Schade daß Blumfeld nicht ein kleines Kind ist, zwei solche Bälle wären für ihn eine freudige Überraschung gewesen, während jetzt das Ganze einen mehr unangenehmen Eindruck auf ihn macht.“ KKAN I, S. 233. Vgl. etwa die Gehilfen im Schloss, die aufgrund K.s Unfähigkeit, sie auseinanderzuhalten, als eine einzige Person behandelt werden und auch nur einen gemeinsamen Namen

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Fetischisieren: Das kollektivierende Potential von Undingen

jeglicher begrifflicher Differenzierung.7 Sie „sind weder leblos noch lebend, weder Dinge noch Wesen, weder Eins noch Vieles,8 weder aktiv noch passiv usw.“9 und lassen sich daher allenfalls mit einem Verlegenheitsbegriff als „Unding(e)“10 bezeichnen. Durch ihre begriffliche Unterbestimmtheit oder vielmehr Unbestimmbarkeit fordern die Bälle nicht nur innerhalb der Diegese permanent zur Erklä-

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erhalten. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Das Schloß. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982 (im Folgenden zit. als KKAS), S. 33 f. Siehe dazu auch Malte Kleinwort und Joseph Vogl. „Am Schlossberg“. In: „Schloss“Topographien. Lektüren zu Kafkas Romanfragment. Bielefeld: transcript, 2013, S. 23–32, S. 30 f. Mit diesen Bälle scheint das vorzuliegen, was Gilles Deleuze eine „echte Wiederholung in der Existenz“ genannt hat. Gilles Deleuze. Differenz und Wiederholung. Übers. von Joseph Vogl. München: Wilhelm Fink, 1992, S. 29. Einem vereinfachten Leibnizianismus zufolge lassen sich drei Prinzipien formulieren, die erfüllt sein müssen, um Differenz begrifflich repräsentieren zu können: Erstens ein Differenzprinzip, das besagt, dass jede Bestimmung letztlich eine begriffliche Bestimmung sei, zweitens das Prinzip des zureichenden Grundes, das zutrifft, wenn jedem Ding nur ein Begriff entspricht und drittens die Umkehrung des zweiten Prinzips, das Prinzip des Nichtzuunterscheidenden, das gegeben ist, wenn jedem Begriff genau ein Ding entspricht, d. h. die Extension des Begriffs = 1 (vgl. ebd., S. 28). Dieses letzte Prinzip scheint in der Blumfelderzählung nicht erfüllt zu sein. Hier scheint gewissermaßen „eine Gattung […] in die Existenz“ übergegangen zu sein. D. h. einem beschränkten Begriffsinhalt wird eine Extension 1 zugewiesen, obwohl dieser beschränke Begriffsinhalt eigentlich eine unendliche Extension verlangen würde. Dies nennt Deleuze eine „diskrete Extension“, „d. h. ein Wuchern von Individuen, die hinsichtlich des Begriffs völlig identisch sind und an derselben Singularität in der Existenz partizipieren“ (ebd., S. 29). Diese diskrete Extension impliziere „eine natürliche Blockierung des Begriffs“. Im Unterschied zur „logischen Blockierung“, die eine logische Einschränkung der Intension meint, die darum mit einer Erweiterung der Extension einhergeht und „eine Ähnlichkeitsordnung im Denken“ errichtet, wobei sie die „logische Macht des Begriffs“ offenbart, zeugt die Wiederholung von der „Ohnmacht oder der realen Grenze“ des Begriffs (ebd., S. 29). Die Wiederholung entzieht sich jeder begrifflichen Differenz, sie lässt sich begrifflich nicht fassen. „Sie drückt eine spezifische Macht des Existierenden aus, eine Hartnäckigkeit des Existierenden in der Anschauung, die jeder Spezifikation durch den Begriff widersteht, so weit man diese auch treiben mag“, ebd., S. 30. Da die Bälle stets gemeinsam auftreten, identisch aussehen und ihre Bewegungen genau aufeinander abstimmen, scheinen sie eng zusammenzugehören und doch nicht ganz ein Ding zu sein. Blumfeld vermutet zudem, dass sich im Inneren der beiden Bälle noch kleinere Bälle befinden. Vgl. KKAN I, S. 233. Joseph Vogl. „Kafkas Komik“. In: Klaus R. Scherpe und Elisabeth Wagner. Kontinent Kafka. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin: Vorwerk 8, 2006, S. 72–87, S. 81. Zum Unding vgl. Mona Körte. „Unding“. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Berlin, Boston: De Gruyter, 2018, S. 448–450.

Blumfeld und der Fetischcharakter der Bälle

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rung ihrer unerklärlichen Existenz heraus.11 Wenn Blumfeld die Bälle gleich am Beginn des Erzählfragments zunächst nur akustisch durch die Wohnungstür hindurch wahrnimmt und vermutet, das klappernde Geräusch werde durch Pfoten hervorgerufen, weil er gerade an Hunde gedacht hatte, und der Erzähler sogleich nachsetzt: „Aber Pfoten klappern nicht, es sind nicht Pfoten“,12 so illustriert diese Szene, dass jeder Versuch den Bällen Sinn zuzuschreiben, sie einzuordnen, in hohem Maße kontextabhängig ist und wohl einiges über denjenigen auszusagen vermag, der versucht Sinn zu stiften, dass solche Versuche am Gegenstand selbst aber notwendig abgleiten. Durch die Verwendung bestimmter Bilder, Formulierungen, Thematisierungen etc. werden im Text zahlreiche Fährten gelegt, die unterschiedliche kulturelle Kontextualisierungen nahelegen.13 Wenn im Folgenden einer dieser Fährten genauer nachgegangen wird, so geschieht dies nicht, um die Existenz der Bälle dadurch abschließend zu erklären oder gar zu definieren, sondern um sich auf eines der Gedankenexperimente einzulassen, die dieser Text offenbar inszeniert. 4.1 Blumfeld und der Fetischcharakter der Bälle Einer jener kulturellen Kontexte, die in der Erzählung präsent sind und für Fragen des Zusammenlebens besonders relevant erscheinen, wird durch die Kombination aus der Thematisierung von Undingen und Blumfelds beruflicher Tätigkeit aufgerufen. Dieser Kontext betrifft die neuartige Weise, in der zwischenmenschliche Beziehungen bzw. jene zwischen Menschen und den von ihnen produzierten Dingen im Rahmen der materialistischen Theoretisierung der kapitalistischen Warenproduktion und -zirkulation betrachtet wird. Blumfeld ist Angestellter einer Wäschefabrik, wo er für „den gesammten Waren- und Geldverkehr mit den Heimarbeiterinnen“ zuständig ist, „welche von der Fabrik für die Herstellung gewisser feinerer Waren beschäftigt wer11

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Diesen Zug teilen die Bälle mit einem weiteren Unding Kafkas: mit Odradek. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler. S. Fischer, 1994 (im Folgenden zit. als KKAD), S. 282–284. KKAN I, S. 232. Einen dieser Kontexte bietet etwa das Material der Bälle: Zelluloid wurde 1855 von Alexander Parkes erfunden. James Gibbs brachte 1891 bunte Zelluloid-Bälle von einer Geschäftsreise aus den USA mit und führte den Tischtennisball aus Zelluloid in Europa ein. Die Bälle können damit etwa auf die Geschichte des Tischtennissports bezogen werden, eine Sportart, die lange als jüdischer Sport galt, worauf auch die Farben Blau und Weiß verweisen könnten. Vgl. Iris Bruce. Kafka and Cultural Zionism. Dates in Palestine. Madison: University of Wisconsin Press, 2007, S. 81.

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Fetischisieren: Das kollektivierende Potential von Undingen

den.“14 Blumfelds Zuständigkeitsbereich liegt somit in der Zirkulationssphäre innerhalb des Kreislaufs des Kapitals, den Marx als Spezifikum bürgerlicher Ökonomie beschreibt, wobei Marx die „gesellschaftlich gültigen Gedankenformen“,15 die die Kategorien dieser Ökonomie bilden, als verrückt charakterisiert.16 Verrückt würden sich insbesondere die Waren- und die Geldform präsentieren und mit beiden hat Blumfeld beruflich intensiv zu tun. Gleich am Beginn seines Kapitels „Der Fetischcharakter der Waare und sein Geheimnis“ hält Marx fest, dass die Ware „nur auf den ersten Blick“, unter lediglicher Berücksichtigung des Gebrauchswerts wie ein „selbstverständliches, triviales Ding“ wirke. In Warenform, d. h. unter Berücksichtigung des Tauschwerts, erscheine nämlich ein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand als „sinnlich übersinnliches“ und überdies „sehr vertracktes Ding […], voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“,17 „viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“18 Nach Marx entspringt der „räthselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Waarenform annimmt“19 dieser Warenform selbst. Was ein Arbeitsprodukt zur Ware mache, sei die Festlegung seines Tauschwerts. Dabei trete zu der jedem Produkt eigentümlichen, sinnlich erfahrbaren „Gebrauchsgegenständlichkeit“ eine von dieser „getrennte, gesellschaftlich gleiche Werthgegenständlichkeit.“20 Im Tausch werde nämlich der Warenwert unterschiedlicher Arbeitsprodukte gleichgesetzt, wodurch letztlich die je spezifischen zu ihrer Herstellung verausgabten Arbeiten als abstrakte menschliche Arbeit gleichgesetzt werden.21 Dieser Tauschwert eines Arbeitsprodukts, in dem sich somit immer ein gesellschaftliches Verhältnis ausdrücke, nämlich jenes zwischen der für die Herstellung dieses Produkts verausgabten Arbeit und der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, erscheine den Menschen allerdings sozusagen „als gesellschaftliche Natureigenschaft“22 dieses hergestellten Dinges selbst. Dieser Eindruck, unter dem sich „die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privat14 15

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Bruce, s. Anm. 13, S. 253. Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Hamburg 1890. Hrsg. von Internationale Marx-Engels-Stiftung. Bd. 10. Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA) zweite Abteilung „Das Kapital“ und Vorarbeiten. Berlin: Dietz Verlag, 1991 (im Folgenden zit. als K), S. 75. Vgl. K, S. 75. K, S. 70. K, S. 71. K, S. 71. K, S. 72. Vgl. K, S. 73. K, S. 71.

Blumfeld und der Fetischcharakter der Bälle

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arbeiter“23 sachlich verschleiert präsentieren, werde durch die Geldform als allgemeines Äquivalent noch gefestigt. Der entscheidende Punkt in Marx’ Argumentation ist nun, dass im Rahmen der Warenproduktion das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen, das sich im Tauschwert einer Ware niederschlage, für diese Menschen selbst „die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“24 annehme, das ihrem Zugriff entzogen sei, das außerhalb ihres Einflussbereichs liege. Da sich die Austauschverhältnisse in Abhängigkeit der gesamtgesellschaftlichen Bewegung – etwa infolge veränderter Produktivkraft durch technische Innovation – verändern, unterliegen sie nicht dem „Willen, Vorwissen und Thun der [einzelnen] Austauschenden. Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrole sie stehen, statt sie zu kontroliern.“25 Die „Sachen“ scheinen ein Eigenleben zu haben, während sich die Menschen als deren Spielbälle erleben. Im Erleben des Einzelnen gerät also die klassische Subjekt-Objekt-Dichotomie unter Druck. Menschen und Dinge treten – ganz wie im Falle Blumfelds und der Bälle, wie ich zeigen werde – in ein dialektisches Verhältnis zueinander: „Menschen laden Dinge mit Bedeutung auf, instrumentalisieren, prägen oder ‚machen‘ auf diese Weise Dinge, aber Dinge verleihen dem Menschen Subjektstatus, formen soziale Beziehungen und weisen eigene Handlungsfähigkeit auf.“26 Dass die späte wissenschaftliche Entdeckung des Zusammenhangs von Tauschwert eines Arbeitsprodukts mit der zu seiner Herstellung verausgabten menschlichen Arbeit keineswegs diesen „gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit“27 verscheucht habe, ist ein weiterer zentraler Schluss, den Marx zieht. Um also die ausbeuterischen Produktionsverhältnisse, innerhalb derer die Menschen einander instrumentalisieren und sich entfremden, überhaupt wieder als veränderbar vorstellbar zu machen, versucht Marx einerseits diese Produktionsverhältnisse in diachroner Perspektive als Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft auszuweisen und andererseits die aus diesen Verhältnissen resultierende verblendete Sicht auf die Dinge als primitiv und irrational zu diskreditieren. Die berühmte Analogie, die ihm dies erlauben soll, findet er in der „Nebelregion der religiösen Welt“: 23 24 25 26

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K, S. 75. K, S. 72. K, S. 74. Susanne Scholz und Ulrike Vedder. „Einleitung“. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Berlin, Boston: De Gruyter, 2018, S. 1–17, S. 10. K, S. 73.

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Fetischisieren: Das kollektivierende Potential von Undingen

Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, unter einander und mit den Menschen in Verhältniß stehende selbstständige Gestalten. So in der Waarenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dieß nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waaren producirt werden, und der daher von der Waarenproduktion unzertrennlich ist.28

Die hier beschriebene Weltlage, die Marx von der religiösen Welt auf die Warenwelt überträgt, scheint auch jene der Blumfeld-Erzählung zu sein: Die „Celluloidbälle“ sind offenbar industriell hergestellt und damit „Produkte der menschlichen Hand“, und dennoch scheinen sie „mit eigenem Leben begabt“ zu sein. Halb Industrieprodukt, halb „Zauberei“29 weisen die Bälle genau jenes „semantische Schwanken“30 auf, das den Fetischbegriff bei Marx auszeichnet, der sich etymologisch sowohl aus dem portugiesischen feitiço (Zauber, Zauberei), als auch aus dem lateinischen facere (machen) bzw. factitius (künstlich hergestellt) herleiten lässt.31 Sie stehen „unter einander“ in einem Verhältnis, insofern sie streng abwechselnd auf- und abspringen32 und – so zumindest die Vermutung Blumfelds – nicht lange getrennt voneinander arbeiten können.33 Als es Blumfeld gelingt, einen der beiden Bälle zu fangen, wirkt es jedenfalls so, als sehe der andere „die Not seines Kameraden“34 und versuche diesen aus Blumfelds Gewalt zu befreien. Zugleich stehen sie auch mit Blumfeld in einem Verhältnis, da ihre Position im Raum von seiner eigenen abzuhängen scheint, denn nach einer anfänglichen Phase, in der sie sich wie zur Begrüßung vor ihm aufhalten, versuchen sie sich stets knapp hinter ihm zu halten. Trotz dieser relationalen Gebundenheit an Blumfelds Position im Raum wirken sie mit ihrer eigentümlichen Widerständigkeit oder Eigensinnigkeit wie „selbstständige Gestalten“, die ihrerseits Blumfelds Verhalten determinieren. Hier zeigt sich das erwähnte dialektische Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und Kontrolle, in dem Blumfeld und die Bälle zueinander stehen. 28 29

30 31 32 33 34

K, S. 72. Die Zuschreibung, dass es sich bei den Bällen um Zauberei handle, scheint von Blumfeld selbst zu kommen: Bei der Schilderung des ersten Zusammentreffens Blumfelds mit den Bällen wechselt der Erzähler nicht nur das Tempus, sondern auch in die freie indirekte Rede: „Auf diesen Anblick war er nicht vorbereitet. Das ist ja Zauberei, zwei kleine weiße blaugestreifte Celluloidbälle springen auf dem Parkett nebeneinander auf und ab;“ KKAN I, S. 232. Hartmut Böhme. Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg: Rohwolt Taschenbuch Verlag, 2006, S. 319. Vgl. auch Doerte Bischoff. „Fetisch“. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Berlin, Boston: De Gruyter, 2018, S. 400–402, S. 400. Vgl. KKAN I, S. 232 f. Vgl. KKAN I, S. 239. KKAN I, S. 234.

Blumfeld und der Fetischcharakter der Bälle

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Diese Weltlage wirkt durchaus passend, wenn man bedenkt, dass Blumfeld als äußerster Exponent der bürgerlich-westlichen, vom Gesamtprozess des Kapitals bestimmten Gesellschaftsordnung erscheint. Blumfeld oder der Erzähler, – das lässt sich aufgrund der unvermittelten Wechsel in die freie indirekte Rede nicht immer klar unterscheiden – zeigt nämlich keinerlei Neugierde, wer ihm die Bälle zugespielt haben könnte: „[J]etzt hat irgendjemand, gleichgültig wer […] ihm diese zwei komischen Bälle hereingeschickt“.35 Dieser Umstand unterstreicht zunächst, wie stark Blumfeld durch den Kreislauf des Kapitals und die von ihm hervorgebrachten gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist, in denen man sich – so der verbreitete kulturkritische Einwand – nicht für die Relationen zwischen den Menschen selbst interessiere, sondern die Menschen nur auf ihre Funktion – hier auf jene als Übermittler der Bälle – reduziere. Diese veränderte Beziehung zwischen den Menschen wird bei Marx als Effekt des Tausches beschrieben. So werden diese gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Produzenten erst durch den Austausch von Produkten etabliert. Er macht also nicht nur Gebrauchsgegenstände zu Waren, sondern verbindet auch die sie erzeugenden Privatarbeiten zum Komplex der gesellschaftlichen Gesamtarbeit.36 Durch den Fetischcharakter der Ware, der „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt,“37 erscheinen den Produzenten „daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten […] nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“38 Die Dinge scheinen damit insofern verfremdet, als ihnen gesellschaftliche Eigenschaften zugeschrieben werden, während die Menschen einander insofern entfremdet sind, als ihr Verhältnis zueinander durch rein sachliche Relationen bestimmt ist. Eben diese Beschreibung der geradezu slapstickhaften39 Mensch-Ding-Beziehung und der Beziehung der Menschen untereinander, wie sie nach Marx spezifisch für die bürgerliche Gesellschaft seien, charakterisiert auch die entsprechenden Relationen Blumfelds: Die Bälle erscheinen ihm durch Eigenschaften verfremdet, die üblicherweise den Menschen vorbehalten sind, und setzen ihn in Relation zu jener Person, die sie ihm „hereingeschickt“ hat – 35 36 37 38 39

KKAN I, S. 233. Vgl. K, S. 72. K, S. 71 [Hervorh. C.D.]. Vgl. K, S. 72. Vgl. Vogl, „Kafkas Komik“, s. Anm. 9, S. 77 f.

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eine Person, die eben deshalb unbestimmt bleiben kann, weil die Relation, die sie mit Blumfeld verbindet, als eine rein sachliche begriffen wird. In Analogie zu Marx’ Überlegungen zum Fetischcharakter der Ware scheinen also die springenden Bällen bei Blumfeld als soziale Dinge die Verkennung dieses Sozialen aufzuführen. 4.2 Kollaps zwischen gesellschaftlicher und privater Sphäre Was Blumfeld bei aller anzunehmenden berufsbedingten Vertrautheit mit der seltsamen Warenwelt stärker zu irritieren scheint als er sich eingesteht oder sich zumindest anmerken lässt, ist die Tatsache, dass ihn die rätselhaft-nebulöse Seite der Dinge in Gestalt der Bälle plötzlich im Privaten heimsucht, wo sie üblicherweise als Gebrauchsgegenstände in Betracht kommen. Die Trennung zwischen der gesellschaftlichen, durch den Warentausch bestimmten Sphäre seines Berufs und der privaten Sphäre des Gebrauchs ist augenscheinlich kollabiert. Doch falls dieser Kollaps tatsächlich verantwortlich für die Lebendigkeit bzw. den Eindruck der Lebendigkeit der Bälle sein sollte, so scheinen sie nur den Kulminationspunkt dieses Zusammenbruchs zu markieren, denn einige Textstellen legen nahe, dass dieser Kollaps bereits vor dem Auftauchen der Bälle eingesetzt haben muss und im Bereich des Privaten von Blumfeld selbst vorangetrieben wurde. So interessiert sich Blumfeld auch in dieser Sphäre nicht für andere in einer Weise, die über ein rein sachliches, instrumentelles, funktionales Verhältnis hinausgeht. Dies zeigt sich nicht nur an der erwähnten fehlenden Neugierde dafür, wer ihm die Bälle in der Wohnung hinterlassen haben könnte, es wird bereits am Beginn der Erzählung deutlich, als ihm sein „vollständig einsame[s] Leben recht lästig“ erscheint und ihm wörtlich „[i]rgend ein Begleiter, irgendein Zuschauer“40 für seine einsamen Routinen willkommen wäre. Für die Befriedigung seines Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit würde ihm irgendein Mensch genügen und dies nicht nur, weil er schon so bedürftig nach Zuwendung ist, dass er keinerlei Ansprüche mehr an sein Gegenüber hat, sondern auch und vor allem, weil er sich nicht für dieses als Person interessieren möchte. Er selbst will nämlich kaum Energie für seinen Begleiter aufbringen müssen bzw. sollte der erwartbare Nutzen den notwendigen Aufwand auf jeden Fall übersteigen. Er folgt damit genau jener Logik, die Tönnies mit Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse (im Gegensatz zu gemeinschaftlichen) Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hat: 40

KKAN I, S. 229.

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Keiner wird für den Anderen etwas thun und leisten, Keiner dem Anderen etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet. Es ist sogar nothwendig, dass sie ihm willkommener sei, als was er hätte behalten können, denn nur die Erlangung eines Besser-Scheinenden wird ihn bewegen, ein Gutes von sich zu lösen.41

Da Menschen in der kapitalistisch-gesellschaftlich geprägten Vorstellungswelt Blumfelds niemals uneigennützig handeln würden und für erbrachte Dienstleistungen stets Gegenleistungen erwarten, die Blumfeld aber nicht bereit ist aufzuwenden, kommen sie zum Stillen seines Bedürfnisses nach einseitiger und bedingungsloser Aufmerksamkeit nicht in Frage. Daher erwägt er immer wieder, sich einen Hund anzuschaffen. Doch auch dieser erfordert, sich um ihn zu kümmern, weshalb er auch diesen Gedanken regelmäßig wieder verwirft. Ein (Un-)ding, das Blumfeld begleiten und bei seinen alltäglichen Verrichtungen zusehen könnte, ist also nur die logische Fortsetzung dieser Reihe. Die Reduktion seiner Umwelt auf ein bloßes Mittel zum Zweck macht alles mit allem verrechenbar und führt, wie in seiner Arbeit, so auch im Privaten, zur Nivellierung von Mensch, Tier und Ding. Mit der Vorstellung der Bälle als Blumfelds „Lebensbegleiter“,42 eine Vorstellung, die die Erzählung explizit thematisiert, wird diese Tendenz, die bereits vor dem Auftauchen der Bälle erkennbar ist, also bloß zuspitzend verdeutlicht. Wie stark Blumfeld im Privatleben von den Denkmustern und Prinzipien seines Berufs geprägt ist, belegt auch seine Bewegungsökonomie in der Wohnung. Blumfeld hat sie offenbar infolge seiner Erschöpfung durch die Arbeit zur bestmöglichen Regeneration optimiert. Für seine abendliche Routine sich „die Pfeife anzustecken, in der französischen Zeitschrift, die er schon seit Jahren abonniert“ hat zu lesen und an einem „Kirschenschnaps zu nippen“43 ist „in Griffnähe“44 über dem Tisch an der Wand ein Brett angebracht, auf dem diese rituellen Gegenstände schnell zuhanden sind. Und wenn es vom Bewegungsgesetz der Bälle später heißt, „sie beschränken sich offenbar nur auf das unbedingt Notwendige“,45 so beschreibt dies exakt Blumfelds eigenes Verhalten: Er sitzt erst paar Minuten dort [am Tisch, Anm. C.D.] und denkt schon daran schlafen zu gehen. Einer der Beweggründe dafür ist auch der, daß er hier nicht rauchen kann, denn er hat die Zündhölzchen auf das Nachttischchen gelegt. Er müßte also diese Zündhölzchen 41 42 43 44 45

Ferdinand Tönnies. Gemeinschaft und Gesellschaft. Leipzig: Fues’s Verlag, 1887, S. 47. KKAN I, S. 248. KKAN I, S. 229. KKAN I, S. 236 [Hervorh. C.D.]. KKAN I, S. 238.

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holen, wenn er aber einmal beim Nachttisch ist, ist es wohl besser schon dortzubleiben und sich niederzulegen.46

Dieser Ökonomisierung des Privatlebens steht umgekehrt die gegenläufige Bewegung einer Informalisierung seines beruflichen Umfelds entgegen. Im Privaten kann Blumfeld die Prinzipien gesellschaftlicher Ordnung, ganz so, wie sie etwa bei Tönnies beschrieben werden, nicht zuletzt aufgrund und zum Preis seiner Einsamkeit in größtmöglicher Reinheit ausleben.47 In der Berufswelt dagegen, der er diese Prinzipien zu entlehnen scheint, hat er erzwungenermaßen mit anderen Menschen zu tun, die seine Idealvorstellung eines rein sach- bzw. zweckbezogenen Miteinanders durchkreuzen. Insbesondere die beiden als infantil dargestellten Praktikanten werden als komplementäre Gegenfiguren zu den Bällen präsentiert. Während die Bälle, welche am ehesten Kinderspielzeug zu sein scheinen, offenbar in einem Akt der Anthropomorphisierung bei Blumfeld zu Hause pflichtbewusst „ihren Dienst“48 antreten, wirken die Praktikanten wie „[b]lasse schwache Kinder“,49 die kaum „das schulfreie Alter schon erreicht haben“50 können, da sie eigentlich „noch an die Hand der Mutter“51 gehörten und sich von ausgewählten Näherinnen Bonbons in den Mund stecken lassen.52 Mit ihrer Kindlichkeit verweigern sie sich der instrumentalisierenden, verdinglichenden Logik, die Blumfeld ihnen aufzwingen will. So ist ihre Interaktion mit den Näherinnen nicht durch die Kategorisierung letzterer nach „Warenbedarf und Vertrauenswürdigkeit“53 bestimmt, wie Blumfeld dies von 46 47

48 49 50 51 52 53

KKAN I, S. 238. Nach Tönnies sei die Gesellschaft v. a. durch die auf einen bestimmten Zweck gerichtete Willkür (im Gegensatz zum Wesenwillen, der gemeinschaftliche Verhältnisse hervorbringe) geprägt und die gesamte Umwelt werde nur als potentielles Mittel zum Erreichen dieses Willens aufgefasst. So bemerkt Tönnies etwa: „Die Willkürformen stellen den isolirten Menschen der gesammten Natur als Geber und Empfänger gegenüber. Er versucht die Natur zu beherrschen und mehr als das Gegebene von ihr zu empfangen; also LustElemente aus ihr herauszuziehen, welche ihm keine Mühe und Arbeit oder andere Unlust gekostet haben. Aber innerhalb der Natur tritt ihm auch ein Gleiches erstrebendes, gleiches Willkür-Subject entgegen, der Andere, welcher seine Mittel und Zwecke im Ausschluss und Gegensatz gegen ihn hat, also durch seinen Schaden gewinnt und zu gewinnen trachtet. Sie müssen entweder sich nicht berühren oder sich vertragen, um als Willkür-Subjecte neben einander zu verharren;“ Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, s. Anm. 41, S. 151. KKAN I, S. 235. KKAN I, S. 257. KKAN I, S. 258. KKAN I, S. 258. Vgl. KKAN I, S. 260. KKAN I, S. 259.

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ihnen erwartet, sondern gestaltet sich gemäß ihrer jeweiligen Sympathien bzw. Antipathien: „Zu manchen Näherinnen waren sie nämlich von allem Anfang gar nicht gegangen, weil sie Abneigung oder Angst vor ihnen gehabt hatten, andern dagegen für welche sie Vorliebe hatten, waren sie oft bis zur Tür entgegengelaufen.“54 Selbst innerhalb der Fabrik scheinen die Praktikanten zwischenmenschliche Beziehungen als reinen Selbstzweck zu betrachten und sie keinerlei sachlicher Zwänge unterwerfen zu wollen. Und auch in der Art ihrer Fortbewegung äußert sich die von Blumfeld erlebte Informalisierung des Gesellschaftlichen/Beruflichen als Widerständiges gegen die von ihm betriebene Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Der ökonomischen und gesetzmäßigen Bewegung, die den Bällen bei Blumfeld im Privaten zugeschrieben wird,55 steht die unökonomische, kindlich-anarchische, reinem Selbstzweck verpflichtete Fortbewegung der Praktikanten im Beruflichen gegenüber. Anstatt etwa schnellstmöglich zu seinem Standort zu eilen, wie die Bälle, die sich „[w]ie untergeordnete Begleiter“56 stets hinter Blumfeld halten, „tänzelt“ einer der Praktikanten stattdessen umher, „geht auf den Fußspitzen, setzt Fuß vor Fuß“57 und zwar nicht um Blumfeld zu verlachen, sondern aus Selbstzufriedenheit. Die Bälle scheinen somit für Blumfeld bzw. den Erzähler all das zu verkörpern, was er an den Praktikanten vermisst: Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Unterordnung, etc. und lassen – zumindest in seiner Darstellung – all das vermissen, was die Praktikanten verkörpern: nämlich die Ermöglichung und Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen um ihrer selbst willen. Dabei wäre genau dies in ihrem Gebrauch als Spielzeug angelegt. Ähnlich wie im Schloss, wo mit den Gehilfen eine weitere Version der Praktikanten ihr Unwesen treibt und „Amt und Leben so verflochten [sind,][…] daß es manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt“,58 sind also auch hier berufliche und private Sphäre völlig ineinander verkehrt.

54 55

56 57 58

KKAN I, S. 259 f. KKAN I, S. 238. Die Betonung liegt hier auf dem Aspekt der Zuschreibung, denn hier bestätigt sich erneut, dass solche Zuschreibungen im Falle der Bälle mehr über denjenigen aussagen, der sie trifft, ließe sich das Bewegungsgesetz der Bälle doch ebenso als reine Verausgabung beschreiben. KKAN I, S. 235. KKAN I, S. 261. KKAS, S. 94.

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4.3 Ein Gedankenexperiment Über die Ursache dafür, was den Kollaps zwischen Beruflichem und Privatem so ins Extreme getrieben haben könnte, dass die Bälle wenigstens für Blumfeld tatsächlich ein Eigenleben bekommen, gibt der Text keine eindeutige Auskunft: Ist es schlicht Blumfelds bewusstes Festhalten an den ökonomischen Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft auch im Privaten? Hat der Zusammenbruch etwas mit der Warenförmigkeit menschlicher Arbeit zu tun? Diese bemisst sich in Arbeitszeit – Zeit ist gemäß des Äquivalenzprinzips Geld und Freizeit unterliegt damit als potenzielle Arbeitszeit der gleichen Quantifizierbarkeit. Zudem wird sie als Regenerationszeit selbst wieder in den Dienst der Arbeit gestellt. Sind die springenden Bälle also Symptom einer solchen allgemeinen Ökonomisierung aller Lebensbereiche oder lassen sie sich als Produkte der Einbildungskraft Blumfelds etwa infolge seiner zunehmenden Überarbeitung und Vereinsamung erklären? Hat Blumfeld mit seinem aus der Einsamkeit geborenen Wunsch nach stummen, pflegeleichten Zuschauern oder Begleitern für seine alltäglichen Verrichtung jene Geister selbst gerufen, die er im weiteren Verlauf der Fragment gebliebenen Erzählung nicht mehr los wird oder sind diese Geister Ausdruck jener mythischen Macht der Vormoderne, die die Moderne unter den Bedingungen der Industrialisierung und Rationalität nur mit größerer Macht erneut in ihren Bann geschlagen hat? Letzteres Argument wurde von Hartmut Böhme in seinem Buch Fetischismus und Kultur mit Blick auf Marx in Anschlag gebracht.59 Für all diese möglichen Erklärungen bietet Kafkas Text reichlich Hinweise, ohne sich aber auf eine festlegen zu lassen. Fruchtbarer erscheint es daher das Blumfeld-Fragment als eines der für Kafkas Literatur typischen Gedankenexperimente zu begreifen, als literarische Versuchsanordnung, die sich mit der Relation des Menschen zu seiner Umwelt auseinandersetzt. Dabei scheint die Weltlage, die unter den modernen Bedingungen des Kapitalismus schon bei Marx als slapstickhaft dargestellt wird, bis zum äußersten Extrem größtmöglicher Verfremdung der Dinge sowie Entfremdung und Einsamkeit der Menschen übersteigert zu werden, hin zu jenem Umschlagspunkt, an dem, wie sich zeigen wird, Beziehungen um ihrer selbst willen auch für Blumfeld als Möglichkeit zumindest wieder aufblitzen. Wenn Marx behauptet, ein Ding werde durch den Wert, den wir Menschen ihm beimessen, zur Ware und verhalte sich als solche viel wunderlicher als wenn ein Gebrauchsgegenstand zu tanzen begänne, so scheint in 59

Vgl. Böhme, s. Anm. 30, S. 23, S. 316 und S. 328.

Ein Gedankenexperiment

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der Blumfeld-Geschichte der komplementäre Versuch unternommen zu werden, herauszufinden, was uns die Konfrontation eines ganz und gar kapitalistischen Menschen mit einem solchen Gebrauchsgegenstand mit Eigenleben über das Zusammenleben in solch einer kapitalistischen Gesellschaft verraten kann: Durch eine Paronomasie60 werden aus dem „Bellen“ und „Springen“61 jenes hypothetischen Hundes, dessen Anschaffung Blumfeld aus Einsamkeit erwägt und dann doch wieder verwirft, unvermittelt die springenden Bälle, und das Experiment nimmt seinen Lauf. Doch in welcher Weise geht diese literarische Erkundung eines fetischistisch anmutenden Mensch-Ding-Verhältnisses und der daraus resultierenden zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb einer augenscheinlich vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft über eine etwaige Veranschaulichung der Marx’schen Theorie des Fetischcharakters der Ware hinaus? Als Kafka die Arbeit am Blumfeld-Text beginnt, notiert er im Tagebuch: „Ich schreibe Bouvard und Pecuchet sehr frühzeitig.“62 Attanucci bezieht diese Aussage in überzeugender Weise auf Parallelen im Schreibverfahren Kafkas und Flauberts. Dieses zeichne sich bei letzterem durch „unermüdliches Zitieren und Persiflieren der literarischen bzw. wissenschaftlichen Autoritäten“63 aus. So sei „fast kein Wort im Roman eine Erfindung Flauberts“, vielmehr habe er „diese Schrift aus Zitaten und Umschreibungen aus Tausenden von Büchern zusammengesetzt.“64 Zwar spricht Attanucci von der „große[n] Bedeutung“,65 die Flauberts Schreibverfahren für Kafka habe, doch letztlich behauptet er, Kafka würde dieses Verfahren „revidier[en][…], indem er die Bürokratie an die Stelle der Bibliothek“66 setze. Allerdings scheint diese Einschränkung auf den Kontext der Bürokratie im Fall der Blumfeld-Erzählung nicht zuzutreffen. Wie die Analogien zu Marx – und es ließen sich wohl noch weitere finden – nahelegen, scheint sich auch Kafka für den „brauchbaren 60 61 62

63

64 65 66

Hierzu ausführlicher Clayton Koelb. Kafka’s Rhetoric. The Passion of Reading. Ithaca, London: Cornell University Press, 1989, S. 35f. KKAN I, S. 232. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1990 (im Folgenden zit. als KKAT), S. 726. Timothy J. Attanucci. „Der Junggeselle zwischen Familie und Amt. Kafka liest Stifter“. In: Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hrsg. von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008, S. 149–160, S. 150. Ebd., S. 157. Ebd., S. 150. Ebd., S. 158.

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Abfall der Wissenschaft“67 zu interessieren. Wenn man so will, ersetzt Kafka die Bibliothek also nicht durch die Bürokratie, sondern stellt ihr letztere bestenfalls an die Seite. Eine erste Antwort auf die Frage nach dem literarischen Mehrwert der Thematisierung des merkwürdigen Mensch-Ding-Verhältnisses im Rahmen der Erzählung Kafkas liegt entsprechend in der Polyphonie, die dieses Verfahren der Umschrift erzeugt – die Vielzahl aufgerufener Texte und Diskurse treten in einen ‚Polylog‘, wo sie einander bekräftigen oder relativieren können. Zu diesen aufgerufenen Texten lässt sich heute auch ein anderer, bislang wenig beachteter Text Kafkas rechnen, der eine weitere Antwort auf die aufgeworfene Frage zu geben vermag: der Ende Februar 1918 und damit drei Jahre nach dem Blumfeld-Text entstandene Zürauer Zettel Nr. 92, der sich spekulativ mit der ersten Götzenanbetung und also mit einer Urszene der Mensch-DingBeziehung auseinandersetzt. Den später getilgten Ausgangspunkt, der diese Spekulationen zu motivieren scheint, bildet eine Warnung vor der drückenden Last der Verantwortung: „Durch Auferlegung einer allzu großen oder vielmehr aller Verantwortung erdrückst Du Dich.“68 Vor dem Hintergrund dieser Eingangsbemerkung beschreibt die imaginierte Szene der ersten Götzenanbetung eine effektive Strategie, sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken. In der finalen Version heißt es entsprechend: Die erste Götzenanbetung war gewiß Angst vor den Dingen, aber damit zusammenhängend Angst vor der Notwendigkeit der Dinge und damit zusammenhängend Angst vor der Verantwortung für die Dinge. So ungeheuer erschien diese Verantwortung daß man sie nicht einmal einem einzigen Außermenschlichen aufzuerlegen wagte, […] deshalb gab man jedem Ding die Verantwortung für sich selbst, mehr noch, man gab diesen Dingen auch noch eine verhältnismäßige Verantwortung für den Menschen.69

Die Frage nach den Ursachen, den Funktionen und dem Wesen fetischistischer Mensch-Ding-Beziehungen ist hier also mit jener nach dem Umgang mit einer groß und ungeheuerlich erscheinenden Verantwortung verknüpft, die von den Dingen auszugehen scheint. Auch wenn Mona Körte festhält, dass sich „über die zwischen Zauber und Zerstörung agierenden Undinge […] die Beziehungsgeschichte von Mensch und Ding als eine ebenso variable wie ungeklärte erzählen“ lasse, und dass sie „in den von Franz Kafka behandelten Konvivialitäten zwischen Mensch und Ding, als eine nicht aufzuklärende 67 68

69

Attanucci, s. Anm. 63, S. 158. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II), S. 79. KKAN II, S. 134.

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auf Dauer gestellt“70 werde, so geben doch sowohl der Zürauer Zettel Nr. 92 als auch die Blumfeld-Erzählung mit ihrer Fokussierung auf den Zusammenhang von Fetischisierung und Verantwortung durchaus konkrete Anhaltspunkte für eine solche Geschichte der Beziehungen zwischen Mensch und Ding. Dabei rufen diese Texte durch ihre Aufmerksamkeit für die bedeutende materielle Dimension des Zusammenlebens jenen größeren Diskurszusammenhang auf, innerhalb dessen „die kartesianische Dichotomie von Subjekt und Objekt, philosophisch gefasst als Gegensatz von Geist und Materie, bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch Georg Wilhelm Friedrich Hegels dialektische Philosophie und deren historisch-materialistische Wende durch Karl Marx und Friedrich Engels […] unter Druck geraten war.“71 Den vom Menschen hervorgebrachten Dingen wird nun alle Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben beigemessen. Produktion und Austausch von Produkten bilden nach Engels „die Grundlage aller Gesellschaftsordnung“72 und Marx stellt entsprechend die Analyse der Ware an den Beginn seines Projekts, die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit darzustellen. Der materiellen Welt wird nun auch anthropologisch ein höherer Stellenwert zugesprochen, denn „indem der Mensch seine Umwelt durch Arbeit verändert, produziert er sich selbst als gegenständliches und gesellschaftliches Wesen.“73 Um dieser Aufwertung Rechnung zu tragen, wendet man sich im Materialismus radikal vom ontologischen Denken ab und gesellschaftlicher Praxis zu. Die Prozesse der Produktion, Distribution und Konsumtion sind nun entscheidend nicht nur für die Konstellation, sondern auch für die Konstitution von Subjekt und Objekt. Sie werden in ein dialektisches Verhältnis gesetzt.74 Bei Culkin ist dieses Verhältnis auf folgende griffige Formel gebracht: „We shape our tools and thereafter they shape us“.75 Doch inwiefern unterscheidet sich nun diese Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Fetischismus in Kafkas Texten von jener bei Karl Marx? Während bei Marx der Akzent auf der Kritik eines Verblendungszusammenhangs liegt,76 der durch seine Diskreditierung als primitiv beseitigt werden soll, zielt weder der Zürauer Zettel Nr. 92 noch der Blumfeld-Text darauf ab, aufzude70 71 72 73 74 75 76

Körte, s. Anm. 10, S. 449. Scholz und Vedder, „Einleitung“, s. Anm. 26, S. 4f. Engels, Friedrich. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. MEW Band 20. Berlin 1962: 248f., zitiert nach ebd., S. 5. Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 5. Culkin, John. „A Schoolman’s Guide to Marshall McLuhan“. Saturday Review, 18. März 1967: S. 70, zitiert nach ebd., S. 10. Vgl. Böhme, s. Anm. 30, S. 309 und Bischoff, s. Anm. 31, S. 401.

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cken, dass vermeintlich übersinnliche Eigenschaften der Dinge in Wahrheit nur Zuschreibungen seien. Dass es den hierfür notwendigen objektiven Standpunkt gar nicht geben kann, wird in der Blumfeld-Erzählung bereits durch die Erzählweise des discours indirect libre, aufgrund dessen sich Blumfeld und Erzähler nie eindeutig voneinander abgrenzen lassen, permanent bewusst gehalten. Vielmehr stellen Kafkas Texte die Frage danach, wodurch die Zuschreibungen von Handlungsmacht an die Dinge im Gefüge zwischen Mensch und Ding motiviert sein könnten, auf welches Bedürfnis diese Praxis eigentlich reagiert. Die Antwort, die der Zürauer Zettel Nr. 92 findet, besagt, dass diese Motivation in der Hoffnung des Menschen auf eine Befreiung von jeglicher Verantwortung liege. Dadurch erweist sich das, was bei Marx durch die Bezeichnung Fetischismus rein negativ konnotiert erscheint, in Kafkas Texten deutlich ambivalenter, denn mit dem negativen Aspekt der Fremdbestimmtheit durch die Dinge kann immerhin der positive Aspekt einer Befreiung von einem als erdrückend empfundenen Übermaß an Verantwortung einhergehen. Vor dem Hintergrund einer immer schon gängigen Praxis der Fetischisierung von Objekten, die, wie Marx gezeigt hat, keineswegs nur andere, als „primitiv“ betrachtete Kulturen und frühere Entwicklungsstufen betrifft, sondern gerade in der Moderne ihre stärkste Ausprägung erfährt,77 scheint nicht erst der Zürauer Zettel Nr. 92, sondern bereits Kafkas Blumfeld-Text diese Frage nach einem möglichen Nutzen, nach positiven Effekten, nach der Motivation für die Fetischisierung von Dingen unter modernen Bedingungen zu stellen. Er tut dies, indem er durchspielt, inwiefern nicht gerade innerhalb der Immanenz einer ins Extrem getriebenen Verblendung – möglicherweise infolge der entfesselten kapitalistischen Warenproduktion und -zirkulation – Alternativen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wie sie etwa bei Marx und im Anschluss an diesen bei Tönnies skizziert wird, aufblitzen könnten. Eine Frage, die durch das Wissen um die Unmöglichkeit eines objektiven Standpunkts besonders virulent geworden ist. 4.4 Die Frage der Verantwortung Setzt eine frühere Version des Zürauer Zettels Nr. 92 zur ersten Götzenanbetung mit einer Warnung vor dem Sich-Auflasten „einer allzu großen oder vielmehr aller Verantwortung“ ein, so fällt auf, dass auch in der Blumfeld77

Diese Einschätzung wird auch von Hartmut Böhme bestätigt, der vom 19. Jahrhundert als vom „Saeculum der Dinge“ spricht, da sich eine außerordentliche Zunahme an verfügbaren Dingen gegenüber dem 18. Jahrhundert nachweisen lasse. Vgl. Böhme, s. Anm. 30, S. 17.

Die Frage der Verantwortung

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Erzählung die Thematisierung (scheinbar) belebter Dinge mit jener einer Überlastung durch Verantwortung koinzidiert. Denn Blumfeld wird von seiner Arbeit, die all sein Vermögen bindet, Verantwortung zu übernehmen, vollkommen eingenommen.78 Bereits „[w]ährend des Weges in die Wäschefabrik, in der Blumfeld angestellt ist, bekommen die Gedanken an die Arbeit allmählich über alles andere die Oberhand“.79 Doch obwohl Blumfeld sein gesamtes Privatleben der Arbeit unterordnet und sich vollständig für sie „verbrauch[t]“,80 wie er dem Fabrikanten versichert, wird ihm wahre Anerkennung für seine aufopfernden Dienste nicht zuteil. Durch das Fehlen eines objektiven Standpunkts lässt sich letztlich nicht beurteilen, ob Blumfeld in der Arbeit durch die Komplexität seiner Aufgaben an die Grenzen seiner Fähigkeiten gebracht wird – wie dies der Erzähler suggeriert, in dessen Stimme sich allerdings in Folge des discours indirect libre immer wieder Blumfelds eigene Stimme mischt – oder ob Blumfelds Fähigkeiten nur durch seine unnötig komplizierte Herangehensweise sehr begrenzt sind – was gerüchtehalber der Einschätzung des Fabrikanten entspricht, die Blumfeld aber nur vom Hörensagen kennt und aufgrund eigener Beobachtungen bei ihm vermutet.81 Die Isolation und das Unverständnis seiner Kollegen ihm und seiner Arbeit gegenüber scheinen zumindest in der (vielleicht nur vorgeblich) für Blumfeld eingenommenen Darstellung des Erzählers einen rasanten ökonomischen Modernisierungsprozess zu bezeugen. Dieser äußert sich in einer lediglich von 78

79 80 81

Blumfelds Verantwortung für den Geld- und Warenverkehr der Wäschefabrik findet eine Entsprechung in Kafkas eigenen Verpflichtungen für die Asbestfabrik seines Vaters und seines Onkels. Im Tagebucheintrag vom 25. November 1914 entwirft Kafka einen Brief an den Schwager, in dem er hervorhebt, dass dieser die Verantwortung alleine für die Arbeit trage, während er selbst die nicht zu unterschätzende Verantwortung für das Geld seines Vaters und Onkels zu tragen habe. Vgl. KKAT, S. 701f. Zudem erwähnt er in diesem Briefentwurf eine „Gummizeitung“, in der er gelegentlich blättere und bei der es sich laut Kommentar der Kritischen Ausgabe möglicherweise um die „Gummi-Zeitung. Fachblatt für die Gummi-, Guttapercha-, Asbest- und Celluloid-Industrie“ handeln könnte, die als Wochenschrift in Berlin erschien. Vgl. KKAT, S. 701f. [Hervorh. C.D.]. Es liegt nahe, in den Ereignissen um diesen Tagebucheintragung einen Schreibanlass für die vermutlich am 8. Februar 1915 begonnene Blumfeld-Geschichte zu vermuten. Zur Datierung vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I App.), S. 74. KKAN I, S. 252. KKAN I, S. 255. Vgl. KKAN I, S. 253 f.

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Spezialisten wie Blumfeld zu durchschauenden „Abstraktion der Geschäftsbeziehungen“ sowie in der „Anonymisierung von Arbeitsabläufen“,82 die von keinem Einzelnen mehr zu überblicken sind. Während es also keinen von Blumfeld unabhängigen Standpunkt geben kann, der ein objektives „Urteil über seine Arbeit“83 zulässt, steht fest, dass Blumfeld eine riesenhafte Verantwortung fühlt. Darf man dem Erzähler Glauben schenken, so ist die Kenntnis der vielfachen Arten der in Blumfelds Abteilung zu bewältigenden Arbeiten unverzichtbar und jedes Abweichen von seinen Methoden hätte den „Zusammenbruch der Abteilung […] notwendig zur Folge“.84 Blumfeld sei aber mittlerweile der einzige, der trotz aller Ausdifferenzierung gerade noch alle Abläufe zu überblicken vermag. Die gesamte Verantwortung lastet seit dem Tod seines unmittelbaren Vorgesetzten auf ihm allein. Und da diese Verantwortung vom Fabrikanten notorisch unterschätzt werde, sei es Blumfeld unmöglich, sie auf mehrere Schultern zu verteilen. Er bekommt nur zwei völlig unfähige Praktikanten zugeteilt, an die er sein Wissen nicht weitergeben kann.85 Ohne diesen Wissenstransfer würde aber sein mittelfristig notwendiger Rückzug aus dem Betrieb – an dieses Szenario gemahnt nicht zuletzt der Tod seines früheren Vorgesetzten – in einem sofortigen „große[n] von niemandem aufzulösende[n] Durcheinander“ resultieren und über Monate hindurch schwerste „Stockungen“86 nach sich ziehen. Das Bild der Stockungen lässt die immerwährende und sich permanent steigernde Geld- und Warenzirkulation als große Maschinerie erscheinen, als das Zweckgetriebe der Gesellschaft, das sich verselbstständigt hat und den immer schneller werdenden Takt für Mensch und Maschine vorgibt, die in absehbarer Zeit kaum noch schritthalten werden können. Dieser Punkt ist bei Blumfeld nahezu erreicht, sodass er, selbst für die ihm noch bleibende Zeit und trotz seines aufopfernden Einsatzes für die Fabrik, die Aufrechterhaltung des Betriebs keineswegs garantieren kann: Die nie enden wollende zirkuläre Struktur des Geld- und Warenverkehrs, in der der Mehrwert dem System immer wieder zugeführt wird, hat zur Konsequenz, dass auch immer mehr Arbeiterinnen eingestellt werden: „Als Blumfeld eintrat […] hatte man dort 82 83 84 85

86

Peter-André Alt. Franz Kafka. Der ewige Sohn. 3. Aufl. München: C.H. Beck, 2018, S. 438. KKAN I, S. 253. KKAN I, S. 254. Für Blumfeld als Junggesellen und Exponent der Gesellschaft ist dies doppelt bitter, da sein Wissen auch nicht in seinen Nachkommen – innerhalb des Paradigmas der Gemeinschaft im Sinne Tönnies’ wäre das etwa im Rahmen eines traditionellen Handwerks vorzugsweise ein Sohn – weiterleben kann. Zum „Problem des erbenlosen Junggesellen“ vgl. Attanucci, s. Anm. 63, insbesondere S. 152 ff. KKAN I, S. 254.

Die Frage der Verantwortung

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mit etwa zehn Näherinnen zu tun, heute schwankt ihre Zahl zwischen fünfzig und sechzig.“87 Durch diese wird wiederum der Mehrwert in größerem Ausmaß gesteigert, wodurch die Arbeit und damit die Verantwortung Blumfelds exponentiell ins Unermessliche weiterwächst.88 Blumfelds gesamte Entschluss- und Verantwortungsfähigkeit wird – so legt es der Erzähler nahe – durch seine Arbeit in diesem System absorbiert. Im Privaten sucht Blumfeld daher jeglicher Verantwortung auszuweichen, um sich für die Arbeit zu schonen. Hier ist auch der Grund für sein Junggesellentum zu vermuten.89 Er ist alleinstehend, hat keine Kinder und noch die Verant87 88

89

KKAN I, S. 255. Der Betrieb folgt damit der gleichen Struktur, die Joseph Vogl mit Blick auf das Geschäft des amerikanischen Onkels im Verschollenen beschrieben hat, denn auch hier „reguliert sich diese Zirkulation nicht nach der Verwertung des Gebrauchs, sondern nach der Zwecksetzung des Tauschwerts“. Joseph Vogl. Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München: Wilhelm Fink, 1990, S. 113 Der Kreislauf der einfachen Warenzirkulation: Ware – Geld – Ware, hat sich verkehrt zu einem Kreislauf des Kapitals in der Form: Geld – Ware – Geld. Das Ende eines Zyklus bedeutet den Anfang eines neuen mit größerer Intensität, „eine Bewegung, die nicht nur prinzipiell unbeschränkt und maßlos ist, sondern die Individuen – Gegenstände und Arbeit – im Sinne des Tauschwerts nivelliert […]; ein ununterbrochener und stets schneller zirkulierender Strom von nivellierten Dingen, Mitteilungen und Menschen, eine Zirkulation, die die Individuen als Funktionselemente in ihren Lauf integriert.“ ebd., S. 113. Der Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, und Junggesellentum treibt Kafka auch in zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen in Bezug auf seine eigenen Lebensumstände um. Hans-Gerd Koch hebt in der Einführung zum dritten Briefband „Verantwortung“ als das zentrale Thema hervor, das Kafka besonders in der Zeit um die erste Lösung seiner Verlobung mit Felice sowohl in den Briefen als auch in seinen literarischen Texten beschäftigt. Vgl. Hans-Gerd Koch. „Einführung“. In: Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005, S. 5–8. Letzteres belegt u. a. ein Brief Kafkas an Martin Buber vom 22.04.1917, aus dem hervorgeht, dass jene Erzählungen, die er später in dem Band Ein Landarzt veröffentlichte, zunächst unter dem Titel „Verantwortung“ erscheinen sollten. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005 (im Folgenden zit. als KKABr 3), S. 297. Zudem hält er in Briefen und Tagebucheinträgen wiederholt fest, dass er Verantwortung im Beruflichen wie im Privaten meide, wo er nur könne, wobei er dies zumeist selbstkritisch bewertet. So schreibt er etwa in einem Brief an Felice vom 20.12.1912 über seine berufliche Tätigkeit: „[…] Verantwortungen weiche ich aus wie eine Schlange, ich habe vielerlei zu unterschreiben, aber jede vermiedene Unterschrift scheint mir ein Gewinn, ich unterschreibe auch alles (trotzdem es eigentlich nicht sein darf) nur mit FK, als könne mich das entlasten, deshalb fühle ich mich auch in allen Bureausachen so zur Schreibmaschine hingezogen, weil ihre Arbeit, gar durch die Hand des Schreibmaschinisten ausgeführt, so anonym ist“. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe.

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wortung für einen Hund erscheint ihm zu groß.90 Damit grenzt sich Blumfeld als Junggeselle nicht nur gegen die traditionelle Familie ab, deren biopolitisch relevanter Beitrag zum Kollektiv evident und daher im Gegensatz zu seinem eigenen nicht weiter erklärungsbedürftig erscheint, sondern auch und vor allem gegen die Figur der „alten Jungfer“.91 Von letzterer versucht er sich eben durch Hervorheben seiner verantwortungsvollen Position im Berufsleben abzuheben, wo er gewissermaßen im Herzen der Vergesellschaftung tätig ist92 und im Gegensatz zu ihr ebenfalls und auf seine Weise seinen Beitrag zu einem Kollektiv leisten kann. Um also sein Junggesellentum zu rechtfertigen, gegen das stets der Vorwurf der Nutzlosigkeit für das Gemeinwesen und des Schmarotzertums im Raum steht, muss Blumfeld seine Verantwortungsunfähigkeit im Privaten als Auswirkung und Ausdruck seiner verantwortungsvollen Position im Beruf permanent zur Schau stellen. Daher teilt er bei aller Einsamkeit gerade nicht die Gelüste einer alten Jungfer, die irgendein untergeordnetes lebendiges Wesen in ihrer Nähe haben will, das sie beschützen darf, mit dem sie zärtlich sein kann, welches sie immerfort bedienen will, so daß ihr also zu diesem Zweck eine Katze, ein Kanarienvogel oder

90 91 92

Briefe 1900–1912. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1999 (im Folgenden zit. als KKABr 1), S. 348. Und in einem Tagebucheintrag vom 27. August 1916 macht Kafka explizit sein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl, das sich bei ihm zu einer Angst vor einer nicht berechenbaren Zukunft gesteigert habe und dazu verführe sich permanent vor Entscheidungen zu schonen, die einem Verantwortung für die Zukunft auflasten würden, für seine beruflichen wie privaten Misserfolge verantwortlich: „Das was Verantwortungsgefühl ist und als solches sehr ehrenwert wäre ist im letzten Grunde Beamtengeist, Knabenhaftigkeit, vom Vater her gebrochener Wille. […] Das heißt also, schone Dich nicht (überdies auf Kosten des doch von Dir geliebten Menschenlebens von F.), denn schonen ist unmöglich […]. Es ist nicht nur das Schonen, was F., Ehe, Kinder, Verantwortung u. s. w. betrifft, es ist auch das Schonen, was das Amt betrifft, in dem Du hockst, die schlechte Wohnung betrifft, aus der Du Dich nicht rührst. Alles. Also damit höre auf. Man kann sich nicht schonen, nicht vorausberechnen.“ KKAT, S. 802. Wenn Kafka Verantwortungsgefühl als Zeichen für Beamtengeist wertet, so ist es bezeichnend, dass Blumfeld vom Erzähler auch der Status eines „alten Beamten“ zugesprochen wird. KKAN I, S. 256. Vgl. KKAN I, S. 230 f. Vgl. KKAN I, S. 231. Blumfeld ist immerhin genau jene Instanz, die den Warenaustausch – dazu zählt auch die Ware Arbeit – mit den Heimarbeiterinnen, also unabhängigen Privatarbeiterinnen, organisiert. Er ist vermutlich mit der Umrechnung der tatsächlich geleisteten Arbeit (er unterscheidet die Arbeiterinnen nach Warenbedarf und Vertrauenswürdigkeit) auf abstrakte menschliche Arbeit konfrontiert und ist so, ganz im Marx’schen Sinne, permanent an der Organisation der Privatarbeiten zum Komplex der gesellschaftlichen Gesamtarbeit beteiligt.

Die Widerständigkeit der Bälle

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selbst Goldfische genügen. Und kann es das nicht sein, so ist sie sogar mit Blumen vor dem Fenster zufrieden.93

Entsprechend strebt er – ganz im Einklang mit der Beschreibung der ersten Götzenanbetung – im Privaten danach, wo immer es ihm möglich ist, jegliche Verantwortung, auch die für sich selbst, abzugeben. Da er mit Menschen ohnehin kaum verkehrt, sind es die Dinge des Alltags, denen er sich mit seiner Ordnungsliebe und mit seinen Routinen überantwortet. Die „lästige“ Nebenwirkung dieser Strategie besteht allerdings darin, dass diese Ordnungen und Routinen auch seine Einsamkeit festigen. Blumfeld bringt sich dadurch in folgendes Dilemma: Ein Privatleben ohne Verantwortung ist nicht ohne Einsamkeit zu haben und jede Befreiung aus der Einsamkeit zieht unweigerlich die Notwendigkeit nach sich, Verantwortung zu übernehmen. Die Bälle scheinen daher zunächst einen Ausweg aus genau diesem Problem zu weisen: Wie ein treuer Hund weichen sie Blumfeld nicht von der Seite, begleiten ihn auf all seinen Wegen durch die Wohnung und werden, anders als ein Hund, weder krank noch alt und erfordern auf den ersten Blick auch sonst keinerlei Zuwendung. So ist es bei aller Zumutung, die die unerklärliche Existenz solcher Bälle bedeutet „doch auch ein Spaß zwei solche Bälle zu besitzen.“94 4.5 Die Widerständigkeit der Bälle Allerdings offenbart sich schnell ihr widerständiges Moment: Zum einen entgehen sie – wie eingangs ausgeführt – als Undinge sämtlichen kategorialen Unterscheidungen und unterlaufen jeden Versuch sie zu systematisieren95 bzw. 93 94 95

KKAN I, S. 231 f. KKAN I, S. 234. Mit ihrem semantischen Schwanken zwischen Industrieprodukt und Zauberei, das sie – wie erwähnt – mit dem Fetischbegriff teilen, entziehen sich die Bälle auch der von Barthes vorgeschlagenen Unterscheidung in Objekte mit technologischen und solchen mit existenziellen Konnotationen. Vgl. Roland Barthes. „Semantik des Objekts“. In: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988, S. 187–198, S. 188. Die Bälle scheinen zwar einen für Blumfeld weitgehend undurchdringlichen Eigensinn zu haben, ein von ihm unabhängiges Eigenleben, wodurch sie den Objekten mit existenziellen Konnotationen zuzuordnen wären. Zugleich sind sie aber mit technischen Konnotationen behaftet: Als solche sind sie industriell hergestellt und dennoch nicht auf ein reines Mittel zum Zweck reduzierbar, sondern sozial und kulturell aufgeladen. Vgl. dazu auch Ulrike Vedder. „Das Rätsel der Objekte. Zur literarischen Epistemologie von Dingen. Eine Einführung.“ In: Zeitschrift für Germanistik 22.1 (2012), S. 7–16, S. 7 f.

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sie widerspruchsfrei in ein Weltbild zu integrieren. „[S]chon ihr Dasein [bedeutet] eine gewisse Macht“,96 insofern sie etablierte Ordnungsmuster verunsichern – oder mit Barthes formuliert: „ein wenig gegen den Menschen existier[en]“97 . Entsprechend stellen sie für den ordnungsliebenden Blumfeld eine potenzielle Bedrohung dar. So werfen sie beispielsweise die Frage auf, ob sie physisch überhaupt zerstörbar seien, oder ob nicht „etwa noch die Reste der Bälle springen könnten“.98 Auch wenn Blumfeld diese Möglichkeit mit der Begründung „ablehnt“, dass „auch das Ungewöhnliche […] Grenzen haben“99 müsse, setzt er sich doch mit dieser Frage auseinander und wird im weiteren Verlauf der Erzählung nach anderen Optionen suchen, sie unschädlich zu machen. Zum anderen widersetzen sie sich als einzige hartnäckig Blumfelds Versuchen, Verantwortung auf die Dinge abzuwälzen, sie im Sinne des Zürauer Zettels 92 zu fetischisieren. Jene Handlungsmacht, die er den Dingen dabei einräumt, scheinen die Bälle in der Wahrnehmung Blumfelds dafür zu nutzen, sich gegen die ihnen auferlegte Verantwortung zur Wehr zu setzen. Während die Praktikanten in der Arbeitswelt Blumfeld die Anerkennung seiner verantwortungsvollen Position verweigern und sich seinen Versuchen, eine rein sachliche Beziehungsebene zu finden, widersetzen, erwecken die Bälle den Eindruck, als wollten sie Blumfeld im Privaten, wo er alle Verantwortung ablegen möchte, um sich für die Arbeit zu schonen, eben in diese Position der Verantwortung drängen. Sie verhalten sich in der Darstellung des Erzählers unterwürfig, machen ihre Bewegungen von denen Blumfelds abhängig und übertragen ihm so die Verantwortung für ihre eigenen Bewegungen.100 So wie sich die Prak96 97 98 99 100

KKAN I, S. 237. Barthes, „Semantik des Objekts“, s. Anm. 95, S. 188. KKAN I, S. 238. KKAN I, S. 238. Dass diese etwas spezielle verantwortungsvolle Position für den, der sie inne hat, nicht unbedingt angenehm ist, belegt Kafkas komische Beschreibung einer Begegnung mit einer Führungsfigur des Chassidismus, dem Belzer Rabbi, in Marienbad, die sich im Brief vom 18.07.1916 an Max Brod findet. Kafka scheint die Szene gleichsam durch die Linse seiner Blumfeld-Erzählung zu betrachten und hebt den Aspekt der Verantwortung explizit hervor: „Der Rabbi kommt. Niemand darf sich vor ihm aufhalten, vor ihm muß immer alles frei sein, es ist nicht leicht, dies immer einzuhalten, da er sich oft überraschend wendet und es nicht leicht ist, im Gedränge schnell genug auszuweichen. (Noch schlimmer soll es im Zimmer sein, da ist das Gedränge so groß, dass es den Rabbi selbst in Gefahr bringt. Letzthin soll er geschrien haben: ‚Ihr seid Chassidim? Ihr seid Mörder.‘) Diese Sitte macht alles sehr feierlich, der Rabbi trägt förmlich (ohne zu führen, denn rechts und links von ihm sind ja Leute) die Verantwortung für die Schritte aller. Und immer wieder ordnet sich die Gruppe neu, um ihm freie Blickrichtung zu geben.“ KKABr 3, S. 179 [Hervorh. C.D.].

Die entautomatisierende Wirkung der Bälle

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tikanten gegen ihre Verdinglichung und Instrumentalisierung wehren und auf halbem Wege als entindividualisierte ununterscheidbare Un-Wesen zurückzubleiben scheinen,101 lässt sich der Eindruck gewinnen, die Bälle widersetzten sich ihrer Fetischisierung und präsentierten sich entsprechend als Un-Dinge. 4.6 Die entautomatisierende Wirkung der Bälle Die den Bällen zugeschriebene Widerständigkeit stellt sich damit als einer von drei wesentlichen Effekten ihrer entautomatisierenden Wirkung auf Blumfeld dar. Diese entautomatisierende Wirkung besteht in der Unterbrechung jener Routinen Blumfelds, die ihn bisher einerseits von fast aller Verantwortung im Privaten entbunden hatten, indem sie erlaubten, die Verantwortung auf die Dinge abzuwälzen, mit der lästigen Nebenwirkung, seine Einsamkeit zu zementieren. Die Unterbrechung dieser Routinen bedeutet daher erstens ein Mehr an Verantwortung für Blumfeld, das ihm als Widerständigkeit gegen seine Versuche erscheint, alle Verantwortung abzutreten, und öffnet zweitens allererst die Möglichkeit zu sozialer Interaktion, nicht allein als Mittel zum Zweck, sondern um ihrer selbst willen – in diesem Sinne lässt sich die Wirkung der Bälle als potenziell gemeinschaftsstiftend bezeichnen. Der dritte Effekt der entautomatisierenden Wirkung der Bälle liegt schließlich darin, die Auswirkungen anderer „Dinge des Alltags“102 auf Blumfelds Sozialleben in den Blick geraten zu lassen. Denn erst in der Unterbrechung jener Ordnungen und Alltagsroutinen, in die diese Dinge eingebunden sind, und mit deren Hilfe sich Blumfeld in seiner buchstäblich verantwortungslosen Einsamkeit eingerichtet hat, werden diese Ordnungen und Routinen allererst sichtbar, bewusst und erzählbar. Wenn die Bälle Blumfeld etwa durch ihre irritierende Präsenz von seinem abendlichen Ritual abhalten, Pfeife zu rauchen, Schnaps zu trinken und in der Zeitschrift zu lesen und er dieses Versäumnis für die Ursache seines unruhigen Schlafes hält, so wird im Umkehrschluss erst deutlich, dass er diesen Gegenständen die Verantwortung für einen erholsamen Schlaf zuschreibt. Oder wenn die Bälle ihn von seiner morgendlichen Routine abweichen lassen, die Zeitung zu lesen, und er deshalb früher außer Haus kommt und daher Zeit findet, mit den anderen Hausbewohnern ins Gespräch zu kommen, ja sogar erwägt, sich zu überwinden und ganz ohne Blick auf einen eigenen Nutzen mit dem Sohn seiner Bedienerin ein Gespräch anzuknüpfen, ihm sogar die 101 Vgl. Innerhofer, s. Anm. 4, S. 3. 102 Ausführlicher dazu: Gisela Ecker. „Alltag“. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Berlin, Boston: De Gruyter, 2018, S. 375–376.

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Wangen zu streicheln, so wird wiederum deutlich, dass seine Zeitungsroutine den Zeitpunkt seines täglichen Aufbruchs in die Arbeit verzögert und damit die Gelegenheiten für soziale Interaktion reduziert.103 4.7 Blumfelds Reaktionen auf die Bälle Entgegen des ersten Eindrucks, wonach die Bälle ideale Lebensbegleiter wären, da man sich – anders als um ein Tier oder um einen Menschen – nicht um sie kümmern müsse, lösen die Bälle Blumfelds Dilemma der untrennbaren Verknüpfung von Einsamkeit einerseits und Freiheit von Verantwortung andererseits also keineswegs. Die Befreiung aus der Einsamkeit durch ihre entautomatisierende, seine Routinen störende Wirkung bürdet ihm erneut Verantwortung auf. Aus Blumfelds Sicht lösen sie nur ein Problem zum Preis der Intensivierung des anderen. Er steht den Bällen daher von Anfang an ambivalent gegenüber: So machen sie zunächst „einen mehr unangenehmen Eindruck auf ihn“104 und doch hat er auch Spaß am Besitz solcher Bälle, aber schon im nächsten Moment schleudert er einen von ihnen „in einer Art Zorn“ zu Boden, dass es ein Wunder ist, „daß hiebei die schwache fast durchsichtige Celluloidhülle nicht zerbricht.“105 Im Verlauf der Erzählung zeigt Blumfeld im Wesentlichen drei Reaktion auf die Bälle, wobei sich der Akzent von anfänglichem Ignorieren über zwischenzeitliche Anstrengungen sie zu verheimlichen, hin zum Versuch verschiebt, sich ihrer zu entledigen. Dabei wird in allen drei Strategien ein permanenter Widerstreit zwischen Blumfeld und den Bällen deutlich: Trotz seiner Verweigerungshaltung, trotz seines Festhaltens am Ideal einer zweckgeleiteten Form der Koexistenz, wird Blumfeld immer wieder momenthaft von den potentiell gemeinschaftsstiftenden Effekten der Bälle affiziert. Umgekehrt werden alle durch die Präsenz der Bälle sich anbahnenden gemeinschaftlichen, keinem Zweck unterworfenen Relationen sogleich von Blumfelds kapitalistischgesellschaftlicher Mittel-zum-Zweck-Logik eingeholt. Dabei ist der Grund für Blumfelds krampfhaftes Festhalten am kapitalistischen Gesellschaftsmodell in der gesellschaftlichen Erwartungshaltung bzw. biopolitischen Vorgabe zu vermuten, wonach jeder und jede seinen bzw. ihren Beitrag zum Gemeinwesen zu leisten habe. Während der Junggeselle etwa im Gemeinschaftsmodell von Tönnies, das sich grundlegend aus Bindungen innerhalb der Familie aufbaut, keinen Platz finden würde, der ihm Anerkennung eintragen könnte und 103 Vgl. KKAN I, S. 247. 104 KKAN I, S. 233. 105 KKAN I, S. 234.

Blumfelds Reaktionen auf die Bälle

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darin auch keine Zukunft hätte, die über seine individuelle Existenz hinausweisen würde, gesteht ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung immerhin eine entscheidende Rolle zu, allerdings eine, die unaufhörlich immer größere Selbstaufopferung für die Aufrechterhaltung eines sinnlos erscheinenden Zweckgetriebes der Gesellschaft erfordert. 4.7.1 Ignorieren Liegt die Kraft der Bälle auch nicht-zweckgeleitete Beziehungen zu ermöglichen und sich allen Versuchen, Verantwortung auf sie abzuwälzen, zu entziehen, im Unterbrechen der Routinen, so ist die naheliegendste Reaktion Blumfelds, die Bälle einfach zu ignorieren und trotz aller Irritationen an seinen Routinen weiter festzuhalten. Dies entspricht auch exakt seiner gewohnten Strategie in Momenten der Überforderung, wie der Erzähler bestätigt: „Bisher hat Blumfeld immer in allen Ausnahmsfällen, wo seine Kraft nicht hinreichte um die Lage zu beherrschen, das Aushilfsmittel gewählt, so zu tun als bemerke er nichts. Es hat oft geholfen und meistens die Lage wenigstens verbessert.“106 Allein Blumfeld hält im Fall der Bälle dieses Verhaltensmuster nicht ganz durch. Seine Versuche sich einzureden, dass alles wie gewohnt sei, werden permanent durch das slapstickhafte Verhalten konterkariert, zu dem ihn die Bälle anstiften. Da ihn die Bälle viel stärker irritieren als er sich offenbar eingesteht, muss er sich und den Bällen die Rückkehr zu Routine und Normalität vorspielen. Dabei entpuppt sich Blumfeld als schlechter Schauspieler, der sich selbst „zu stark nachahmt“,107 etwa wenn er seine Pfeife „besonders gründlich“108 stopft. Dies führt mitunter zu einem Effekt, den man am besten als Rückkopplung beschreiben könnte: Blumfeld fühlt sich nämlich durch den Gleichtakt der klopfenden Bälle mit seinen Schritten selbst nachgeahmt – eine Nachahmung der Nachahmung, die „ihn fast“ „schmerzt“109 und die er seinerseits wieder durch lautes „Fußstampfen“ zu übertönen sucht. Zwangsläufig scheitern so seine Versuche, die anthropomorphisierten Bälle mit dieser Schauspielerei zu täuschen, ihnen Normalität vorzugaukeln, um dann unwillkürlich mit dem Fuß nach hinten auszuschlagen, oder sich samt Sessel unvermittelt umzudrehen, um zu sehen, ob die Bälle es schaffen, sich hinter ihm zu halten. Bei einem späteren erfolgreichen Versuch die Bälle einzusperren – eine 106 KKAN I, S. 235. 107 Im Tagebucheintrag vom 30.12.1911 vermerkt Kafka: „Das Wesen des schlechten Schauspielers besteht nicht darin, dass er schwach nachahmt […] sein wesentlichster Fehler bleibt dass er die Grenze des Spiels nicht wahrt und zu stark nachahmt.“ KKAT, S. 330. 108 KKAN I, S. 235. 109 KKAN I, S. 236.

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Fetischisieren: Das kollektivierende Potential von Undingen

Maßnahme, die ihm zu Beginn noch als entwürdigend erschienen war –, klettert er rücklings in den Kleiderkasten und verlässt diesen „mit einem großen Sprung wie er ihn schon seit Jahren nicht ausgeführt hat“.110 Obwohl er also versucht, an Normalität und Routine festzuhalten, weicht er immer weiter von seinen Gewohnheiten ab und nähert sich – wie sich allmählich herausstellt – mit seinem nunmehr geradezu slapstickhaften Verhalten zunehmend dem seiner Praktikanten bzw. der Bälle an.111 Am erfolgreichsten gelingt es Blumfeld die Bälle zu ignorieren, als er sich „Wattakügelchen“ in die Ohren stopft. Mit ihrer Hilfe schafft er es tatsächlich, die Bälle auszublenden, und hatte er anfangs vergeblich versucht, einen der Bälle durch rasches Umdrehen zu erwischen, so passiert es nun unwillkürlich.112 Von diesem zufälligen Zusammenstoß abgesehen, bleibt das Nebeneinander Blumfelds und der Bälle für die Dauer, während der Blumfeld Watte in den Ohren hat, völlig störungsfrei und wird vom Erzähler auf eine Weise geschildert, die sich wie ein Idealbild gesellschaftlicher Verhältnisse ausnimmt: „Jeder ist für sich, Blumfeld wie die Bälle, sie sind zwar an einander gebunden, aber sie stören einander nicht.“113 So wie hier das Verhältnis zwischen Blumfeld und den Bällen dargestellt wird, als Für-sich-Sein bei gleichzeitigem An-einander-gebunden-Sein und Abwesenheit von Konflikten, hat etwa auch Tönnies vermutlich unter implizitem Rückgriff auf Marx idealtypisch die Beziehungen zwischen den Menschen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft beschrieben. Mit Marx sind die Menschen zwar über die Produktion und den Handel von Waren in ein gesellschaftliches Verhältnis gesetzt und also verbunden, doch den Menschen bleibt ihr gesellschaftliches Verhältnis verborgen, da ihnen dieses – und darin liege gerade das „Geheimnißvolle der Waarenform“,114 ihr Fetischcharakter – verdinglicht als Natureigenschaft der von ihnen getauschten Waren erscheine. Damit würde sich jedenfalls der rein subjektive, aber zumindest bei Tönnies entscheidende Eindruck erklären, wonach der Mensch in Gesellschaft trotz aller tatsächlichen Verbindungen vereinzelt, vereinsamt und für sich bleibt. 110 KKAN I, S. 246. 111 Auf das slapstickhafte einer Szene im Verschollenen, in der Karl Rossmann „wie ein Gummiball eine abschüssige Straße hinunterhüpft“, wobei er „oft zu hohe, zeitraubende und nutzlose Sprünge“ macht, hat Joseph Vogl aufmerksam gemacht. Auch hier wird das unökonomische dieser Bewegungen hervorgehoben. Vogl, „Kafkas Komik“, s. Anm. 9, S. 79 und Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1983 (im Folgenden zit. als KKAV), S. 284. 112 Vgl. KKAN I, S. 244. 113 KKAN I, S. 244. 114 Vgl. K, S. 71.

Blumfelds Reaktionen auf die Bälle

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Im ersten Satz aus Ferdinand Tönnies „Theorie der Gesellschaft“, in dem die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Blumfeld und den Bällen resoniert, scheint dieser subjektive Eindruck zum Wesentlichen erklärt zu werden, während offenbar gerade die manifesten ökonomischen Verflechtungen als unwesentlich, substanzlos und willkürlich abqualifiziert werden: Die Theorie der Gesellschaft construirt einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art neben einander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten.115

Während Blumfeld bzw. der Erzähler in dieser Episode mit der Watte vor allem die Konfliktfreiheit und das reibungslose Funktionieren einer Koexistenz propagiert, die jeden direkten Kontakt auf ein absolutes Minimum reduziert und noch die undurchschaubare bestehende Verbundenheit ignoriert, wobei die damit einhergehende Einsamkeit billigend in Kauf genommen wird,116 liegt bei Tönnies der Akzent auf einer Kritik jenes zum Wesentlichen erklärten Gefühls der Vereinzelung, das dieses Gesellschaftsmodell mit sich zu bringen scheint, dessen Ablösung aber umgekehrt auch eine Zunahme an Konflikten bedeuten müsste.117 Blumfeld erscheint somit ganz im Gegensatz zum Mainstream des zeitgenössischen Gemeinschaftspathos118 nicht nur als Exponent, sondern geradezu als Verfechter des Gesellschaftsmodells und blüht für die kurze Dauer, während der es im friktionsfreien Nebeneinander mit den Bällen versinnbildlicht wird, regelrecht auf. Ermöglicht wird dieser Zustand allerdings nur durch das Verstopfen der Ohren, das wiederum eine Abweichung von seinen üblichen Gewohnheiten darstellt und so seinerseits eine entautomatisierende Wirkung entfaltet. So115 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, s. Anm. 41, S. 46. 116 Die Abwesenheit von direktem Kontakt als Garantie für die Abwesenheit von Konflikt war bereits bei Hobbes das Mittel der Wahl zur Befriedung der Menschen, die für ihn vornehmlich durch das Merkmal der gegenseitigen Tötbarkeit miteinander verbunden sind. Vgl. Roberto Esposito, Sabine Schulz und Francesca Raimondi. Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Übers. von Sabine Schulz und Francesca Raimondi. Berlin: diaphanes, 2004, S. 26. 117 Dass die Gemeinschaft bei Tönnies als konfliktfreie Alternative zur Gesellschaft erscheint, ist nur möglich, weil Tönnies den Konflikt per Definition aus seinem Gemeinschaftsbegriff ausschließt. Vgl. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, s. Anm. 41, S. 3. 118 Eine der wenigen Ausnahmen bildet Helmuth Plessner. „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924)“. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker. Bd. V, Macht und menschliche Natur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 7–133. Plessner ergreift hier Partei für die Gesellschaft und bemerkt selbst, dass es kaum eine zeitgenössische Opposition gegen den „zivilisationsfeindlichen Geist“ des Radikalismus gebe. Ebd., S. 39.

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bald er nämlich beim Verlassen seiner Wohnung die Watte wieder aus seinen Ohren entfernt, nimmt er seine Umwelt viel intensiver wahr als zuvor: „die vielen Geräusche des erwachenden Hauses entzücken ihn.“119 Erst im Beseitigen der Watte und damit des selbstgewählten Zustandes der Ignoranz wird wieder erfahrbar, was man mit dieser Entscheidung für die Beschränkung auf sich selbst aufgegeben hat. Und während er ansonsten den hässlichen Jungen seiner Bedienerin meidet, zieht er plötzlich in Erwägung, sich zu überwinden und offenbar ganz ohne utilitaristische Absichten dessen Wangen zu streicheln. Die entautomatisierende Wirkung lässt also plötzlich wieder soziale Interaktion um ihrer selbst willen und in diesem Sinne gemeinschaftliche Verhältnisse wahrscheinlicher werden. Allerdings geht Blumfeld trotz dieser Überlegungen dann doch einfach an dem Jungen vorüber. So wenig es Blumfeld tagsüber gelingt, die Bälle zu ignorieren und dabei unverändert an seinen Routinen festzuhalten, so wenig eignet sich Schlafen als Strategie, die Bälle auszublenden. Selbst oder gerade im Schlaf scheinen sich die verdrängten Bälle ihr Recht zu verschaffen. Blumfelds Schlaf wird als „traumlos aber sehr unruhig“120 beschrieben, wobei Traumlosigkeit bekanntlich mehr mit der Fähigkeit, sich nach dem Aufwachen an seine Träume zu erinnern, zu tun hat – eine Fähigkeit, die bei Blumfeld offenbar infolge seines Wunsches, die Bälle zu verdrängen, eingeschränkt ist. Während die Bälle – anfangs noch gedämpft durch zwei Teppiche – unter seinem Bett auf- und abhüpfen und dabei ein dumpfes Klopfen verursachen, schreckt Blumfeld in der Nacht unzählige Male auf, weil er der Täuschung erliegt, jemand habe an die Tür geklopft. Er weiß auch bestimmt, daß niemand klopft; wer sollte in der Nacht klopfen und an seine eines einsamen Junggesellen Tür. Trotzdem er es aber bestimmt weiß, fährt er doch immer wieder auf und blickt einen Augenblick lang gespannt zur Türe, den Mund offen, die Augen aufgerissen und die Haarsträhnen schütteln sich auf seiner feuchten Stirn.121

Am nächsten Morgen wird Blumfeld mit seiner Realitätsverweigerung fortfahren und für den schlechten Schlaf „eine kleine Erklärung darin [finden], daß er gestern abend von seinen Gewohnheiten abgewichen ist, nicht geraucht und nicht Schnaps getrunken hat“.122 Die naheliegende „große“ Erklärung, dass diese Täuschung mit dem Klopfen der Bälle zusammenhängen könnte, ignoriert er hingegen. Was in der nächtlichen Episode, genauer an seinen starken körperlichen Reaktionen, ebenfalls deutlich wird, ist der Eindruck, dass 119 120 121 122

KKAN I, S. 246. KKAN I, S. 241. KKAN I, S. 241. KKAN I, S. 244.

Blumfelds Reaktionen auf die Bälle

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Blumfeld an seiner Einsamkeit, die er für ein Minimum an Verantwortung im Privaten in Kauf nimmt, und die er allenfalls als lästig herunterspielt, doch stärker zu leiden scheint, als er sich eingesteht. Dabei öffnen die Bälle auch hier die Möglichkeit zu sozialer Interaktion: Hätte in der Zeit vor ihrem Auftauchen tatsächlich jemand an Blumfelds Tür geklopft, so wäre sie vermutlich geschlossen geblieben, da Blumfeld das Klopfen aufgrund seiner Erwartungshaltung nicht wahrgenommen, ignoriert oder anderweitig wegerklärt hätte. Nun würde dagegen, bei aller Unwahrscheinlichkeit für ein solches Klopfen, dieses von Blumfeld nicht unbemerkt bleiben. Die entautomatisierende Wirkung der Bälle verändert dabei nicht nur seine unbewusste Erwartungshaltung gegenüber seiner Umwelt, sondern auch seine Wahrnehmung und Bewertung dieser seiner Umgebung. So weckt ihn am Morgen das „sanfte Klopfen“ der Bedienerin, das er nun „mit einem Seufzer der Erlösung begrüßt“, obgleich er sich immer „über dessen Unhörbarkeit […] beklagt hat.“123 4.7.2 Verheimlichen Während die Bälle Blumfelds Einstellung der Bedienerin gegenüber also zunächst verbessern, weicht diese positive Gestimmtheit sogleich wieder einer Mischung aus Misstrauen und Entnervtheit, als er sich der Bälle unter seinem Bett erinnert. Denn mit seiner Bedienerin, jener Person, die am häufigsten die Gelegenheit hat, Blumfeld in seinem privaten Bereich zu erleben, kommt erstmals in der Erzählung ganz manifest der Blick von außen ins Spiel. Zwar ist dieser „Blick“ in ihrem Falle bezeichnenderweise – so man dem Erzähler trauen darf – infolge ihrer Schwerhörigkeit und Begriffsstutzigkeit stark eingeschränkt, dennoch motiviert er offenbar Blumfelds zweite Reaktion auf die Bälle: sie zu verheimlichen. Wie bei seiner ersten Reaktion bringen die Bälle Blumfeld auch hier in die paradoxe Situation, den Eindruck von Normalität nur durch Abweichen von seinen Gewohnheiten aufrechterhalten zu können: So ist Blumfeld gezwungen, sich für die Dauer der Anwesenheit seiner Bedienerin nicht von seinem Bett wegzubewegen, um nicht die Bälle, die ihm auf Schritt und Tritt folgen, zum Vorschein zu bringen. Durch diese Immobilisierung muss er erzwungenermaßen von einer Reihe weiterer morgendlicher Routinen abweichen. Aufmerksam beobachtet er daher seine Bedienerin, um festzustellen, ob ihr etwas aufgefallen sein könnte, kommt aber zu dem Schluss, dass sie keine Veränderungen bemerkt habe. Zwar zögert sie nach der Verabschiedung kurz, als wolle sie noch etwas sagen, schließlich geht sie aber doch fort, ohne die Bälle 123 KKAN I, S. 242.

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oder Blumfelds ungewöhnliches Verhalten angesprochen zu haben.124 Unmittelbar darauf entlädt sich in Blumfeld, der sich für den Fall, dass sie etwas bemerkt haben sollte, schon bereit gemacht hatte, sie zur Rede zu stellen, eine scheinbar grundlose Wut: Am liebsten würde Blumfeld die Tür aufreißen und ihr nachschreien was für ein dummes altes stumpfsinniges Weib sie ist. Als er aber darüber nachdenkt, was er gegen sie eigentlich einzuwenden hat, findet er nur den Widersinn, daß sie zweifellos nichts bemerkt hat und sich doch den Anschein geben wollte als hätte sie etwas bemerkt.125

Das Abweichen von seinen Routinen würde erwarten lassen, dass die Bedienerin nachfrage, ob alles in Ordnung sei. Die Bälle hätten also potentiell ein fürsorgliches, anteilnehmendes Verhalten Blumfeld gegenüber hervorrufen können. Und auch wenn Blumfeld diese Reaktion letztlich unterbunden hätte, aus Angst, dann von den Bällen erzählen zu müssen und sich damit dem Urteil der Bedienerin auszusetzen, bzw. all jenen, denen sie wohl von den seltsamen Bällen berichten würde, so scheint die plötzliche Wut doch durch das Ausbleiben dieser Anteilnahme ausgelöst worden zu sein. Seine ambivalente Haltung zu einer möglichen Entdeckung der Bälle scheint dabei Ausdruck seiner ambivalenten Haltung zu zwischenmenschlichem Kontakt insgesamt zu sein, die sich aus der Erfahrung speisen dürfte, dass eine solche Interaktion eben nicht nur positiv und wohlwollend verläuft. Blumfelds Angst vor dem Urteil der Anderen verweist auch auf die gewaltsamen Aspekte gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenseins, die etwa bei Tönnies per definitionem aus beidem ausgeklammert bleiben, insofern er ausdrücklich nur die „bejahende[n]“, „zur Erhaltung […] des anderen Willens und Leibes tendiren[den]“126 Beziehungen in den Blick nimmt. Darüber hinaus ist die, zumindest von Blumfeld so wahrgenommene, Reaktion der Bedienerin – sich den Anschein zu geben etwas bemerkt zu haben, obwohl sie zweifellos nichts bemerkt hat – die genaue Umkehrung seiner eigenen Strategie, sich den Anschein zu geben nichts bemerkt zu haben, obwohl er etwas bemerkt hat.127 Seine Strategie zielt darauf ab, die entautomatisierende Wirkung einer konkreten Irritation (etwa die springenden Bälle, die Praktikanten, etc.) dadurch abzufangen, sich trotz allem nicht von seinen Routinen abbringen zu lassen, in der Hoffnung, dass sich das Problem von selbst löse bzw. irgendwann von ihm abgelassen würde. Letztlich verfolgt er damit eine Strategie der Konfliktvermeidung durch Vermeidung von Kontakt. Die Um124 125 126 127

Vgl. KKAN I, S. 243. KKAN I, S. 243 f. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, s. Anm. 41, S. 3. Vgl. KKAN I, S. 235, 265.

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kehrung dieser Strategie gibt dagegen einen Konflikt vor, um Kontakt herauszufordern: Die vorgebliche Irritation soll bei Blumfeld eine Verunsicherung auslösen und eine Reflexion über mögliche, bei ihm selbst liegende Ursachen für die vermeintliche Irritation seines Gegenübers in Gang setzen. Vor allem aber liegt es dann in seiner Verantwortung zu entscheiden, ob er aus seiner Deckung kommen und sich erklären soll, oder nicht. Dieser internalisierte Blick von außen kommt allerdings nicht erst mit der Bedienerin ins Spiel. Bereits unmittelbar nach dem ersten Auftauchen der Bälle hält Blumfeld es entgegen seiner anfänglichen Klage über die lästige Existenz im Geheimen nunmehr für „doch nicht ganz wertlos als ein unbeachteter Junggeselle nur im Geheimen zu leben“.128 Die Vorhänge zieht er nicht mehr hoch und bleibt aus Vorsicht lieber im Halbdunkel – „für die Bälle braucht er keine fremden Augen.“129 Doch selbst von der Außenwelt abgeschirmt, kann er die Bälle nicht als seine treuen Begleiter genießen. Permanent hinterfragt er die Wirkung, die er zusammen mit den Bällen auf andere haben würde. So kommt er sich, obwohl er sich alleine in der Wohnung befindet, bei seinem ersten Versuch, die Bälle zu fangen, albern vor130 und findet es anfangs noch entwürdigend und überzogen, zwei kleine Bälle einzusperren. Zunehmend befürchtet er aber, dass man die Bälle, da sie ihm unentwegt folgen, „für etwas zu ihm Gehöriges halten [könnte], für etwas, das bei der Beurteilung seiner Person irgendwie mit herangezogen werden mußte“.131 Dass Blumfeld so viel auf das Urteil der anderen gibt, hängt mit der Verantwortung zusammen, die ihm diese Urteile auflasten und die Blumfeld besonders im Privaten um jeden Preis vermeiden möchte. In einer Notiz vom 18.09.1920 thematisiert Kafka eben diesen Zusammenhang, wenn er schreibt: „Ich stand niemals unter dem Druck einer andern Verantwortung, als jener, welche das Dasein, der Blick, das Urteil anderer Menschen mir auferlegten.“132 Tatsächlich ist aber bereits im BlumfeldFragment dieser internalisierte, urteilende Blick von außen für die Auferlegung einer verantwortungsvollen Position entscheidend. Zunächst ist es der internalisierte Blick der Gesellschaft, der ihn dazu bewegt, seine vollständige 128 129 130 131

KKAN I, S. 233. KKAN I, S. 245. Vgl. KKAN I, S. 233. KKAN I, S. 247. Um nochmals auf den dritten Effekt der entautomatisierenden Wirkung der Bälle zurückzukommen, also jenen der die Aufmerksamkeit auf die sozialen Auswirkungen anderer Alltagsdinge lenkt: Die zitierte Aussage würde etwa auch auf Kleidung sehr genau zutreffen. 132 KKAN II, S. 322.

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Aufopferung für die Arbeit als seinen Beitrag zum Kollektiv und gewissermaßen als seine gesellschaftliche Daseinsberechtigung als Junggeselle zu begreifen. Um zu markieren, dass er sich auch wirklich vollständig für seine Arbeit verbraucht,133 muss er außerhalb der Arbeit sein Unvermögen, jegliche weitere Verantwortung zu übernehmen, zur Schau stellen. Er gestattet sich keine Energie für Fürsorge um der Fürsorge willen, da ein solcher Überschuss die Anerkennung seiner verantwortungsvollen Position schmälern würde und ihn in den Augen der anderen in die unwichtige, ja belächelte Position einer alten Jungfer zu bringen drohte. Doch dieser Eindruck, den er von sich geben möchte, wird immer wieder von einem Blick überlagert, der sein eigennütziges Handeln als Akt der Fürsorge interpretiert – oder schlimmer noch – als Ersatzhandlungen für jene Fürsorge, die er als Mann jener Familie angedeihen lassen sollte, die er schon längst hätte gründen müssen. Die Leserschaft hat an diesem Blick ebenso Anteil wie der Erzähler und Blumfeld selbst: Wenn etwa Blumfeld ganz im Einklang mit seiner utilitaristischen Einstellung nur zu seinem eigenen Wohle, um das störende Geräusch der Bälle zu dämpfen, diesen unter dem Bett zwei Teppiche unterschiebt, so wirkt es doch, als hätte er „einen kleinen Hund, den er weich betten will.“134 Und wenn die Bälle diese Teppiche allmählich unter sich wegschieben, so drängt sich der Vergleich mit Kindern auf, „die in der Nacht die lästigen Decken von sich schieben“.135 Damit wird die Frage der Deutungshoheit oder Deutungsmacht aufgeworfen, die Frage danach, wer festlegen kann und darf, ob und in welchem Bereich Blumfeld eine verantwortungsvolle Position inne hat, wobei Blumfelds eigene Souveränität in dieser Frage vom Erzähler immer wieder unterlaufen und in Zweifel gezogen wird. 4.7.3 Entledigen Die Angst vor dem Urteil anderer Menschen und der internalisierte Blick der anderen sind von Anfang an ausschlaggebend für Blumfelds Absicht, oder zumindest für seine Absichtsbekundungen, sich der Bälle zu entledigen. Allerdings fehlt es ihm – ob vorgeblich oder tatsächlich als Folge seiner berufsbedingten Überlastung – zunächst noch an „Entschlusskraft“, um die Bälle sogleich aktiv zu zerstören: „[E]r hat jetzt keine Lust sie zu zerstören […]. Zerstören wird er ja die Bälle gewiß undzwar in allernächster Zeit, aber vor133 Vgl. KKAN I, S. 255. 134 KKAN I, S. 240. 135 KKAN I, S. 242.

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läufig nicht und wahrscheinlich erst am nächsten Tag.“136 Zudem versucht er der Verantwortung für die Vernichtung der Bälle auch durch Delegieren dieser Aufgabe auszuweichen. Dadurch wird die Anschaffung eines Hundes, die Blumfeld zu Beginn der Erzählung noch kategorisch ausgeschlossen hatte – mit drastischen Bildern, die seiner Abneigung gegen Parasiten Ausdruck verliehen hatten137 – nun doch wieder wahrscheinlicher: Jetzt könnte Blumfeld einen Hund gut brauchen, so ein junges wildes Tier würde mit den Bällen bald fertig werden; er stellt sich vor wie dieser Hund mit den Pfoten nach ihnen hascht, wie er sie von ihrem Posten vertreibt, wie er sie kreuz und quer durchs Zimmer jagt und sie schließlich zwischen seine Zähne bekommt. Es ist leicht möglich, daß sich Blumfeld in nächster Zeit einen Hund anschafft.138

Kündigt sich hier also erneut die potentiell gemeinschaftsstiftende Kraft der Bälle an? Der Widerstreit zwischen Blumfeld und den Bällen, zwischen einer Logik der Gesellschaft und einer der Gemeinschaft, zwischen Willkür und Wesenwillen bleibt auch in dieser Passage unentscheidbar und damit in der Schwebe. So stehen einander zwei mögliche Szenarien gleichberechtigt gegenüber: Blumfeld kann sich den Hund – sei es zur bewussten oder unbewussten Täuschung anderer oder seiner selbst – als Mittel zum Zweck der Vernichtung der Bälle anschaffen, insgeheim aber doch eine persönliche Bindung zu dem Tier um der Bindung willen aufbauen. Die Bälle hätten dann gegen seine (vorgeblich) rein utilitaristischen Absichten ein Verhältnis ermöglicht, in dem dieses Verhältnis Selbstzweck wäre. Ebenso denkbar wäre aber auch, dass die durch die Bälle initiierte Anschaffung des Hundes zwar eine Beziehung um der Beziehung willen in Aussicht stellt, von außen vielleicht sogar als solche wahrgenommen würde, Blumfeld aber tatsächlich kalt kalkulierend nur das kleinere Übel wählt und an seiner Mittel-zum-Zweck-Logik festhält, womit die potentielle Kraft der Bälle, Relationen zu stiften, die keiner KostenNutzen-Abwägung unterliegen, durch Blumfelds Kalkül kassiert würde. Entscheidend in dieser Zone der Ununterscheidbarkeit ist also letztlich der interpretierende Blick und diesen sucht Blumfeld im weiteren Verlauf der Erzählung zu kontrollieren, wenn er von seiner Absicht, die Bälle physisch zu zerstören, abrückt und sich zunehmend der imaginären Dimension der Bäl136 KKAN I, S. 237. 137 Vgl. KKAN I, S. 230 f. Ob Blumfelds ausgeprägte Abneigung gegen Parasiten mit dem gegen Junggesellen im Raum stehenden Vorwurf zu tun hat, sie seien „Sozialparasiten“, lässt sich letztlich nicht entscheiden. In der Verwandlung wird die Verknüpfung von Junggesellen und Parasit jedenfalls thematisch. Vgl. Markus Jansen. Das Wissen vom Menschen. Franz Kafka und die Biopolitik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 39–47. 138 KKAN I, S. 237.

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le zuwendet. Er verfolgt nunmehr eine Strategie der Entmachtung der Bälle, die sich den deutenden Blick von außen zunutze macht: Bereits als es ihm gelingt, die Bälle von sich zu trennen, fällt ihm eine veränderte Außenwirkung auf. Die Bälle bereiten ihm nun, da sie sich im Kasten befinden, kaum mehr Sorge. Erschienen sie im Gefolge Blumfelds noch als etwas zu ihm Gehöriges, das in das Urteil über ihn miteinbezogen werden würde, so waren sie jetzt in den Augen der anderen ganz gemäß ihres reinen Gebrauchswerts „nur ein Spielzeug zuhause im Kasten.“139 Sein Kalkül stützt sich schließlich folgerichtig darauf, die Bälle dem Sohn seiner Bedienerin „ausdrücklich [zu] schenken“. Diese Schenkung sei allerdings gleichbedeutend „mit dem Befehl zu ihrer Vernichtung“, denn […] selbst wenn sie heil bleiben sollten, so werden sie doch in den Händen des Jungen noch weniger bedeuten als im Kasten, das ganze Haus wird sehn, wie der Junge mit ihnen spielt, andere Kinder werden sich anschließen, die allgemeine Meinung daß es sich hier um Spielbälle und nicht etwa um Lebensbegleiter Blumfelds handelt wird unerschütterlich und unwiderstehlich werden.140

Während sich Blumfeld unmittelbar vor diesen Überlegungen, wie oben beschrieben, beinahe dazu hinreißen hätte lassen, dem Jungen uneigennützig etwas Zuneigung zu zeigen, bedient er sich im nächsten Moment seiner, um die ihm unangenehmen Bälle loszuwerden. Damit handelt er wieder ganz im Einklang mit seiner gesellschaftlich-kapitalistischen Logik, in der jeder selbst auf seinen Vorteil zu achten hat. Jene andere Form des Zusammenlebens, die mit Blumfelds Impuls, den Jungen zu streicheln, kurz aufblitzt, und die den Mitmenschen nicht auf ein bloßes Mittel zum Zweck, zum Erreichen der eigenen Absichten degradiert, wird schnell wieder von der instrumentalisierenden Logik eingeholt, die wohl dem kapitalistischen Warenverkehr entspringt. Dass diese Logik nicht nur Blumfelds Denken bestimmt und vermutlich auch künftig fortwirken wird, deutet sich mit den beiden schlauen Mädchen des Hausmeisters an, die sofort erkannt haben, „dass sie die Bälle nur durch irgendeine Vermittlung des Jungen erhalten können, daß sie aber auch noch diese Vermittlung selbst bewerkstelligen müssen.“141 Hier zeigt sich, dass auch ihr Sozialverhalten durch die Relation, die sie zu den Bällen einnehmen möchten, determiniert wird. Da die Blumfeld-Erzählung Fragment geblieben ist, bleibt offen, ob und wie Blumfelds Ankämpfen gegen die Macht der Bälle im Rahmen dieses Ge139 KKAN I, S. 247. 140 KKAN I, S. 247 f. 141 KKAN I, S. 251.

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dankenexperiments endet. Jedenfalls präsentiert es sich zunehmend als ein Ringen um die Deutungshoheit über seine Relation zu den Bällen und in letzter Instanz als ein Ringen um gesellschaftliche Anerkennung, genauer um Anerkennung seiner vollwertigen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, das seine endliche, individuelle Existenz überdauert, um ihm eine Form irdischen Fortlebens zu sichern. Dieser Wunsch erscheint um so dringlicher, als ihm die Bälle die Unzerstörbarkeit des Dinglichen und im Gegensatz dazu seine eigene Endlichkeit vor Augen führen.142 Dem Kollektiv scheint aber nur angehören zu können, wer sich aktiv an seinem Erhalt beteiligt. Als alleinstehender kinderloser Junggeselle ist ihm das nur in dem Maße möglich, in dem es als ein Kollektiv imaginiert wird, das nicht allein durch biologische Reproduktion, sondern auch durch das System der kapitalistischen Warenproduktion und -zirkulation bestimmt wird. Entsprechend streicht Blumfeld die Schwächen des konkurrierenden oder komplementären Modells der Reproduktion besonders hervor, die für ihn am Beispiel seiner Bedienerin und ihres Sohns offen zu Tage liegen und in seiner Stagnation zu liegen scheint. So sei der zehnjährige Junge „[e]in Ebenbild seiner Mutter, keine Häßlichkeit der Alten ist in diesem Kindergesicht vergessen worden. Krummbeinig, die Hände in den Hosentaschen steht er dort und faucht, weil er schon jetzt einen Kropf hat und nur schwer Athem holen kann.“143 Und etwas später ist zu lesen: „Blumfeld begreift nicht, warum solche Menschen wie die Bedienerin auf dieser Welt gedeihen und sich fortpflanzen.“144 Hier deutet sich bereits die Perspektive einer biopolitischen Bewirtschaftung des Lebens an, die im folgenden Kapitel Thema sein wird. Doch auch jenes Modell, das Blumfeld favorisiert, weil es ihm grundsätzlich offen steht, erweist sich in hohem Maße als ausschließend, wenn es Zugehörigkeit an Leistungsfähigkeit, Selbstaufgabe und Opferbereitschaft knüpft. Insgesamt führt der Text durch die Thematisierung von Undingen den starken Einfluss von Dingen auf die menschliche Imagination vor. Dinge prägen unsere Imagination nicht nur dort, wo wir versuchen Dinge als Dinge zu imaginieren, wobei sie uns in ihrer Dinglichkeit immer auch unfasslich bleiben, sondern auch da, wo wir uns in der Abgrenzung zu den Dingen als Menschen verstehen wollen. Damit formen sie wesentlich menschliches Sozialverhalten

142 Schon bei den anfänglichen Überlegungen, sich einen Hund zuzulegen, war der antizipierte Anblick des gealterten Tieres und die damit einhergehende Erinnerung an die eigene Endlichkeit ein Argument gegen seine Anschaffung. Vgl. KKAN I, S. 231. 143 KKAN I, S. 246. 144 KKAN I, S. 252.

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und zwar auch dann noch, wenn man den Aspekt ihrer materiellen Produktion und Zirkulation ausklammert.

5. Metaphorisieren: Baumetaphern und der zionistische Palästina-Diskurs. Zu Kafkas Alles fügte sich ihm zum Bau Im Frühjahr 1918, gegen Ende seines Aufenthalts in Zürau, schreibt Kafka unmittelbar im Anschluss an die Programmskizze Die besitzlose Arbeiterschaft folgenden, in der Kafka-Forschung bislang wenig beachteten, kurzen Erzähltext nieder: Alles fügte sich ihm zum Bau. Fremde Arbeiter brachten die Marmorsteine, zubehauen und zueinandergehörig. Nach den abmessenden Bewegungen seiner Finger hoben sich die Steine und verschoben sich. Kein Bau entstand jemals so leicht wie dieser Tempel oder vielmehr dieser Tempel entstand nach wahrer Tempelart. Nur daß auf jedem Stein – aus welchem Bruche stammten sie? – unbeholfenes Gekritzel sinnloser Kinderhände oder vielmehr Eintragungen barbarischer Gebirgsbewohner zum Ärger oder zur Schändung oder zu völliger Zerstörung mit offenbar großartig scharfen Instrumenten für eine den Tempel überdauernde Ewigkeit eingeritzt waren.1

In der ersten Hälfte des Textes wird der Tempelbau, von dem hier erzählt wird, als Vorgang dargestellt, der unvergleichlich leicht vonstatten geht. Was der Grund für diese Leichtigkeit ist, lässt der Erzähler im Dunklen. Durch ein einleitendes „oder vielmehr“ gebraucht er die Wendung „nach wahrer Tempelart“ nahezu synonym zur sinngemäßen vorhergehenden Aussage, wonach der Tempel leichter als alle je errichteten Bauten entstand. Das Surplus gegenüber einer rein synonymen Verwendung lässt sich dabei in einer hinzutretenden Dimension des Religiösen, Transzendenten vermuten. Auch Assoziationen, wonach man es hier mit einem Wunder zu tun habe, liegen nahe. Allerdings steht die Zuverlässigkeit des Erzählers oder aber die Wahrnehmung des fokalisierten Protagonisten – das wird sich im Verlauf dieser Lektüre noch deutlich zeigen – stark in Frage. Vor diesem Hintergrund ließe sich der Eindruck der Leichtigkeit auch als bloßer Effekt der erzählerischen Darstellung bzw. als selektive Wahrnehmung des Protagonisten erklären. So verschleiert 1

Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II), S. 107 f. zur Datierung vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II App.), S. 48.

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bereits die passivische Konstruktion2 des ersten Satzes die Rolle des oder der Handelnden, wodurch die konkrete Arbeit, die für gewöhnlich zur Errichtung eines Bauwerks vonnöten ist, nicht erfahrbar wird. Vielmehr suggeriert die betreffende Formulierung, der Bau formiere sich gleichsam von selbst in einer Weise, die den Vorstellungen des unbenannt bleibenden Protagonisten entspricht, wobei sich nicht entscheiden lässt, ob dies tatsächlich der Fall ist, ob der Erzähler aus einer Parteinahme für den Protagonisten und gegen das übrige Personal der Erzählung heraus diesen Eindruck nur erwecken möchte, oder ob die Formulierung lediglich den selektiven Eindruck des Protagonisten wiedergibt.3 Obwohl im folgenden Satz mit den fremden Arbeitern, die die von ihnen oder von anderen bereits zugerichteten und aufeinander abgestimmten Marmorsteine heranschaffen, die Materialität des Baus unterstrichen und eine gewisse Beteiligung, vielleicht sogar Abhängigkeit von menschlicher Arbeitskraft zugestanden wird, greift der dritte Satz die anfängliche Suggestion der Selbsttätigkeit des Bauprozesses erneut auf, indem er einen kausalen Zusammenhang zwischen den „abmessenden Bewegungen“ der Finger des Protagonisten und den scheinbar antikausativ ‚sich hebenden‘ und ‚verschiebenden‘ Steinen nahelegt. Dadurch entsteht der Eindruck, die Steine ordneten sich ohne fremdes Zutun gemäß einer vom Protagonisten vorgegebenen oder vielleicht auch nur durch ihn ‚abmessend‘ nachvollzogenen Ordnung an, ohne dabei an die Gesetze der Schwerkraft gebunden zu sein. Bis zum vierten, die 2

3

Genauer besehen lässt sich die Formulierung „Alles fügte sich ihm zum Bau“ als PassivParaphrase mit Modalfaktor beschreiben. Diese Kategorisierung impliziert jedoch eine bestimmte Lesart, die das Agens den Bauelementen zuschreibt, während der Text offen lässt, inwieweit der namenlose Protagonist eine aktive Rolle im Tempelbau einnimmt. Dieses Offen-Lassen dessen wer oder was hier eine aktive Rolle im Baugeschehen spielt, zeigt sich auch mit Blick auf die Textgenese. In einer ersten Version war der erste Satz zunächst als Antikausativ formuliert: „Alles fügte sich zum Bau.“ In dieser Formulierung schien entsprechend kein Agensaktant auf. Kafka fügte sodann versuchsweise „dem Künstler“ bzw. „dem Mei“, womit vermutlich ‚dem Meister‘ gemeint ist, ein, um diese Konkretisierungen, die dem Protagonisten eine eindeutig aktivere Rolle im Tempelbau zugewiesen hätte, am Ende zugunsten der in dieser Hinsicht unbestimmteren Variante „ihm“ zu ersetzen. Franz Kafka. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Oxforder Oktavhefte 7 & 8: 8. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Historisch-Kritische Franz Kafka-Ausgabe (FKA). Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld Verlag, 2011 (im Folgenden zit. als 8◦ Ox8), S. 97. Ein Nebeneffekt dieser Balance zwischen Unbestimmtheit und Konkretisierung ist die Erweiterung der Anschlussfähigkeit des Textes an unterschiedliche Kontexte. Durch das klassische Präteritum wird eine gewisse Distanz zwischen Narration und Geschichte aufgebaut, die in Widerspruch zu einer stark (ab-)wertenden Darstellung aller Akteure mit Ausnahme des Protagonisten gerät.

Abgrenzung und Verewigung

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Bauarbeiten resümierenden Satz finden die behauptete Leichtigkeit und die Simplizität, mit der der Bau errichtet wird, ihre Entsprechung im einfachen Satzbau. Allerdings schließt sich an diese vorläufige Bilanz ein einschränkender letzter Satz an, der die zuvor womöglich nur weitgehend ausgeblendeten tatsächlichen Entstehungsbedingungen insofern einbindet, als er die Materialität des Baus nochmals detaillierter aufgreift. Dabei verrät bereits die Komplexität des Satzbaus – der letzte Satz hat in etwa die gleiche Länge wie die Summe der vier vorangegangenen Sätze –, dass die Dinge am Ende weitaus komplizierter liegen, als es zunächst den Anschein hatte. Musste man bislang den Eindruck gewinnen, hier werde ein Bauwerk auf geradezu wundersame Weise verwirklicht, so wird am Ende deutlich, dass das Produkt dieser Verwirklichung, der errichtete Tempel, keineswegs in dem Maße vollkommen erscheint, wie es sein als außergewöhnlich präsentiertes Zustandekommen „nach wahrer Tempelart“ vielleicht erwarten lassen würde. Ewiger Bestand wird nämlich gerade nicht diesem Tempel attestiert, sondern vielmehr den barbarischen, in die Bausubstanz eingeritzten Kritzeleien, die aus Sicht des Erzählers angebracht wurden, um vermutlich den oder die Auftraggeber, Erbauer und Nutzer des Tempels zu ärgern, den Tempel zu schänden, ihn als sakralen Ort zu zerstören. 5.1 Abgrenzung und Verewigung Worauf der Text als ganzer aufmerksam macht, ist ein Zusammenhang von Abgrenzung und Verewigung, wobei sich erst in der dekonstruktiven Wendung am Ende erweist, dass der mit unterschiedlichen Mitteln unternommene Versuch, durch Abgrenzung etwas Bleibendes zu schaffen, von Anfang an unterlaufen wird. Den ersten und zentralen Akt der Abgrenzung stellt in Kafkas Erzählung zunächst die Errichtung des Tempels selbst dar, denn Bauen – sowohl im landwirtschaftlichen als auch im architektonischen Sinne – ist stets eine flächendeckende und raumgreifende Handlung mit hohem Symbolgehalt.4 So wie der Landbau Linien eingräbt und Begrenzungen hervorbringt, bilden auch Bauwerke als Resultat einer Bautätigkeit sichtbare, oder mit Carl Schmitt gesprochen ‚charakteristische‘ Strukturen, in denen sich menschliche „Ordnun4

Vgl. Cornelia Vismann. „Terra nullius. Zum Feindbegriff im Völkerrecht“. In: Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen. Hrsg. von Armin Adam und Martin Stingelin. Berlin: Akademie Verlag, 1995, S. 159–174, S. 169.

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gen und Ortungen“5 manifestieren. Bauen präsentiert sich stets als Eingrabung oder Inskription einer Ordnung ins Territorium und stellt einen Akt der ‚effektiven Okkupation‘ dar, insofern damit „Akte des Fläche-Bedeckens und Raum-Ergreifens“6 gemeint sind, die nicht auf den Symbolgehalt dieser Handlungen verzichten, wobei dieser Symbolgehalt immer auch im Markieren der eigenen Souveränität besteht, mit der über den besetzten Raum verfügt wird.7 Symbolische Ordnung und die Praxis ihrer Durchsetzung, Gesetz und Rechtsetzung ziehen sich in der Tätigkeit des Bauens in einem einzigen Akt zusammen.8 Cornelia Vismann zufolge nimmt das „Ideologem der Grenzziehung“ etwa im 16./17. Jahrhundert seinen Anfang, als man in Europa beginnt, sich völkerrechtlich mit Fragen des Gebietserwerbs bzw. der Landnahme zu beschäftigen. In den Völkerrechtstheorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es zunehmend als „Denken des Feindes wirksam geworden“.9 Hier hat Carl Schmitt prominenterweise in seiner bereits vor 1945 verfassten, aber erst 1950 veröffentlichten Schrift Der Nomos der Erde auf den Doppelcharakter des Bauens als Akt der Landnahme einerseits und als ordnungsbegründenden Akt andererseits aufmerksam gemacht. Für ihn steht die Landnahme am Beginn nicht nur jeder Rechtsordnung, sondern überhaupt jedes Gemeinwesens.10 5 6 7 8

9 10

Carl Schmitt. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 2. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1974, S. 13. Vgl. Vismann, s. Anm. 4, S. 169. Vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 167–170. Kafkas Text scheint auf die Diskrepanz zwischen der Vorstellung eines gottgegebenen Gesetzes, wie es in der jüdisch-christlichen Tradition vorherrscht und dem allzu menschlichen Akt der Rechtsetzung hinzuweisen, der, wie bereits Walter Benjamin in Kritik der Gewalt herausgestellt hat, stets ein gewaltsamer Akt ist. Vismann, s. Anm. 4, S. 160. Vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, s. Anm. 5, S. 16 und S. 19. Nomadischen Lebensweisen spricht Schmitt damit implizit die Fähigkeit ein Gemeinwesen zu bilden oder darzustellen ab. Auch aus anderen Gründen ist Schmitts Nomos-Begriff in hohem Maße problematisch. Zwar muss man ihm neben seiner Anerkennung einer gewaltsamen Dimension jeder Kollektivierung auch einen gewissen Antiuniversalismus zugutehalten, allerdings wird Landnahme als gewaltsame Praxis von Schmitt keineswegs verurteilt oder auch nur in Frage gestellt. Seine Sorge gilt vielmehr der schwindenden europäischen Dominanz im weltpolitischen Geschehen, die im Jus Publicum Europaeum ihren Niederschlag gefunden hatte und durch einen etwa von Amerika ausgehenden imperialistischen Universalismus bedroht werde bzw. bereits abgelöst worden sei. Als 1950 Der Nomos der Erde erscheint, sind zwar alle offen antisemitischen Passagen aus dem Text entfernt worden, gleichwohl konnte nachgewiesen werden, dass gerade die Begrifflichkeit des Nomos untrennbar mit früheren klar antisemitischen Positionen Schmitts verknüpft bleibt. Besonders problematisch ist die antisemitische Stoßrichtung seiner Uni-

Abgrenzung und Verewigung

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An Kafkas Text lässt sich nun Punkt für Punkt jener „Mechanismus von Annullierung, Grenzziehung und Feindbestimmung“11 verfolgen, den Cornelia Vismann als zentrales Merkmal dieses Ideologems herausgearbeitet hat. 5.1.1 Annullierung Wenn der Bau des Tempels in der Darstellung des Erzählers bzw. in der Wahrnehmung des fokalisierten Protagonisten mit den scheinbar schwerelosen, gleichsam telekinetisch wie im luftleeren Raum bewegten Steinen beginnt, und die realen Umstände des Baus womöglich durch rhetorische Manöver weitgehend zum Verschwinden gebracht werden, so scheint hier genau jene Annullierung vorgenommen zu werden, mit der jeder raumgreifende Akt einsetzt. Jede Okkupation beginnt mit dem Durchstreichen, „dem Ignorieren dessen, was ist.“12 So hat Vismann überzeugend dargelegt, dass jeder Kolonisation zunächst die Erklärung des Gebiets zur terra nullius vorausgeht, zu einem Land also, „das nach der Bestimmung des römischen Bodenrechts niemandem gehört […] und noch unbearbeitet ist.“13 Dabei verrät bereits der Name, dass diese terra nullius ausschließlich negativ bestimmt bleibt: sie ist stets durch ihren Mangel gekennzeichnet: sie ist „herrenlos, glaubenslos, rechtlos, staatenlos.“14 Zuschreibungen von Fremdheit, Sinnlosigkeit, Unbeholfenheit, Kindlichkeit, mangelnder Ausdrucksfähigkeit, Barbarentum und Vandalismus weisen allesamt in diese Richtung. Dabei bleibt der Erzähler auffallenderweise genauere Informationen darüber schuldig, wo und wann sich die Handlung zuträgt, welche Besitzverhältnisse hier bestehen, welche Akteure involviert sind, etc. und unterbindet somit jede Möglichkeit zu beurteilen, mit welchem Recht all diese Attribute zugeschrieben werden.

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versalismuskritik. Hatte er doch das, was er in Der Nomos der Erde „leere[n] Normativismus angeblich allgemein anerkannter Regeln“ (S. 200) nennt, vor 1945 systematisch dem schädlichen Einfluss des Judentums auf das deutsche Rechtsdenken angelastet, insofern die Juden als Volk „ohne Boden, ohne Staat, ohne Kirche, nur im ‚Gesetz‘ existierten“, weshalb ihnen „das normativistische Denken als das allein vernünftige Rechtsdenken“ erscheine (Carl Schmitt. Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Unveränderte Ausgabe der 1934 in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg erschienenen ersten Auflage. Berlin: Duncker & Humblot, 2006, S. 9). Daher stellten die Juden für Schmitt zwar keinen politischen Feind, wohl aber und schlimmer noch geradezu den Feind des Politischen dar. Vgl. dazu ausführlicher David Egner. „Zur Stellung des Antisemitismus im Denken Carl Schmitts“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61.3 (2013), S. 345–361. Vismann, s. Anm. 4, S. 160. Ebd., S. 159. Ebd., S. 159. Ebd., S. 159.

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Metaphorisieren: Baumetaphern und der Palästina-Diskurs

5.1.2 Grenzziehung Der Tempelbau selbst lässt sich sodann als Abgrenzung eines Innen von einem Außen verstehen, wobei diese binäre Opposition mit jener symbolischen Ordnung verknüpft wird, die aus der Annullierung des Bestehenden qua Darstellung der Umgebung als leeren, kulturlosen Raum hervorgeht: So wie dieses vermeintlich unkultivierte, unstrukturierte und in diesem Sinne „glatte“ Land dem von der eigenen Kultur durchwirkten, „gekerbten“ Raum entgegengesetzt ist,15 hebt sich der Raum des Tempels als sakraler, göttlicher Ort der Kultur scharf vom umgebenden, nach wie vor profanen, gottlosen, unkultivierten Raum ab; und während das überschaubare Innere als das Eigene proklamiert wird, bleibt der unüberschaubare äußere Rest fremd. Entsprechend präsentiert sich der Akt der Grenzziehung zunächst als Behauptung einer symbolischen Ordnung durch eine Praxis des Flächebedeckens. Umgekehrt kann damit – ist diese binäre Logik einmal etabliert – die Erklärung des Anderen zum Fremden, auch zu einem Mittel der Markierung des Eigenen und d. h. auch der eigenen Besitzansprüche werden. So gesehen bleibt unklar, ob es sich bei den fremden Arbeitern tatsächlich um Ortsfremde handelt. Es wäre durchaus vorstellbar, dass der Protagonist selbst aus der Ferne kommt und mit der Bezeichnung der Arbeiter als Fremde lediglich seine Gebietsansprüche anzeigt. Wird Besitz im Sinne einer effektiven Okkupation als Durchsetzen entsprechender Ansprüche durch Bebauung verstanden und diese Bautätigkeit von fremden Arbeitern geleistet, so könnte das behauptete Anrecht zur Streitfrage zwischen Arbeitern und Auftraggebern werden. Dieser hypothetische Hintergrund würde jedenfalls ein mögliches Verschweigen geleisteter Arbeit plausibilisieren, wie es in der Darstellung des Bauprozesses als nahezu selbsttätiger Vorgang angelegt zu sein scheint. 5.1.3 Feindbestimmung In der etablierten binären Logik ist das Andere, das Fremde jedenfalls durch nichts anderes bestimmt, als durch die Negation des Eigenen und umgekehrt. Dadurch bleiben aber Eigenes und Fremdes stets wechselseitig aufeinander bezogen. Dem Eigenen ist das Fremde immer schon als dessen Negation eingeschrieben und das Fremde erscheint umgekehrt ausschließlich unter dem negativen Vorzeichen, das Gegenteil des Eigenen zu sein, und kann so in seiner Eigenheit gar nicht erfahrbar werden. Wenn sich also das Eigene durch 15

Zur Unterscheidung Glattes und Gekerbtes vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari. Tausend Plateaus. Übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Bd. 2. Berlin: Merve Verlag, 1992, S. 657–693.

Abgrenzung und Verewigung

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eine göttliche Ordnung (der Tempel entstand nach wahrer Tempelart), Genauigkeit und planvolles bzw. plangerechtes Handeln (die abmessenden Bewegungen seiner Finger), aufbauende Tätigkeit, Religiosität, Sinn und Kultur (der Tempel) auszeichnet, so kann dem Fremden offenbar kein eigenständiges Ordnungsprinzip zugestanden werden. Vielmehr stellt es sich aus dieser Perspektive notwendig im Zeichen von Unordnung, Unbeholfenheit, Zerstörung, Barbarentum, Unsinn und Unkultur dar. Entsprechend macht der Erzähler, der dieser Logik in gleicher Weise verpflichtet bleibt, wie der Protagonist,16 nicht dessen Unvermögen, die Eintragungen zu deuten, verantwortlich, sondern lastet es als Mangel an Ausdrucksfähigkeit jenen Unbekannten an, die diese Einritzungen angebracht haben. Die Eintragungen werden kurzerhand als kindliches „Gekritzel“ abgetan, als sinnlose Zeichen ohne Intention und Bedeutung, wobei durch eine Reihe metonymischer Verschiebungen die Urheber der rätselhaften Einritzungen auf durchaus perfide Weise selbst für sinnlos erklärt werden: Denn im Text ist genau genommen nicht von ‚sinnlosem Gekritzel unbeholfener Kinderhände‘ die Rede, sondern von „unbeholfene[m] Gekritzel sinnloser Kinderhände“.17 Dabei wird deutlich, dass das Eigene nur indirekt durch die Abwertung der anderen an Kontur gewinnt, wobei die Aufrechterhaltung dieser zunächst durch Annullierung etablierten und durch territoriale Markierungen fixierten binären Ordnung unablässig danach verlangt, die entstandenen Oppositionen auseinanderzuhalten. Dies zieht eine Reihe weiterer Abgrenzungsgesten nach sich,18 die sich schließlich gegen das gesamte übrige in der Erzählung aufgerufene Personal richten. Die Zuschreibung des Kindlichen – das ist entscheidend für den Zusammenhang zwischen Abgrenzung und Verewigung – verknüpft nun diese Abund Ausgrenzungsgesten mit einer zeitlichen Dimension, setzt die unbekann16

17 18

Ob dies auf eine Parteinahme des Erzählers für die Hauptfigur zurückzuführen ist, oder ob es aus Gründen der Darstellung im Sinne einer freien indirekten Rede geschieht, bleibt offen. KKAN II, S. 108. Ähnlich verhält es sich auch mit dem historischen asymmetrischen Begriffspaar Hellene – Barbare. Koselleck hat auf die Wandlung von einer „ehedem räumlich lesbare[n] Unterscheidung“ hin zu einem „rein horizontal“ verwendeten universalen „Abschichtungskriterium“ aufmerksam gemacht, wobei die Ablösung des territorialen Aspekts durch einen stratischen dazu geführt habe, dass der Gegenbegriff des Barbaren bis heute weitgehend stabil geblieben sei, während die Eigenbezeichnung als Hellene durch wechselnde Ausdrücke ersetzbar wurde. Reinhart Koselleck. „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“. In: Vergangene Zeiten. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 3. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995, S. 211–259, S. 224.

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Metaphorisieren: Baumetaphern und der Palästina-Diskurs

ten Anderen an den Beginn einer Teleologie oder eines Entwicklungsnarrativs, an dessen Ende die eigene, erwachsene, vollkommene Position steht. Die noch nicht voll entwickelte Fähigkeit des Kindes sich auszudrücken, kontrastiert dabei mit der eigenen souveränen Sprecherposition des Erzählers bzw. Protagonisten, so man die Formulierung „unbeholfenes Gekritzel sinnloser Kinderhände“ als discours indirect libre interpretiert. Eben diese unterstellte Unfähigkeit sich auszudrücken, erlaubt in weiterer Folge die Ersetzung einer Semantik des Kindlichen mit jener des Barbarischen, denn schon im antiken Griechenland bezeichnet der pejorativ gebrauchte Ausdruck ‚Barbare‘ all jene, die der griechischen Sprache nicht mächtig sind, wobei deren Art zu Sprechen als Brabbeln, Lallen oder Stammeln abgewertet wird. Damit spricht man ihnen zugleich den vollständigen, aktiven Besitz (hexis) des logos, also von Vernunft und Sprache, ab, der allerdings die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur polis bildet, jener politischen Gemeinschaft, die in der griechischen Antike die höchste unter all den Gemeinschaftsformen darstellt, die das zoon politicon eingehen kann.19 Zudem führt der Begriff des Barbarischen spätestens seit dem 18./19. Jahrhundert selbst vermehrt Konnotationen von Rückständigkeit mit,20 wobei diese in Kafkas Text nicht nur durch die zuvor aufgerufene Semantik des Kindlichen aktiviert werden, sondern zudem durch die Kombination mit der Kategorisierung als Gebirgsbewohner, wird doch auch diesen stereotypisch Rückständigkeit zugeschrieben, da sie, so die verbreitete Annahme, aufgrund der Unzugänglichkeit des von ihnen besiedelten, meist an der Peripherie gelegenen Gebiets, von kulturellen Entwicklungen in den bevölkerungsreicheren Zentren abgeschnitten sind.21 Damit ist das Entwicklungsnarrativ erneut aufgerufen, dem zufolge sich die Unvollkommenheit der anderen erst in Richtung eines Ganzen, Abgeschlossenen, Vollkommenen entwickeln müsse, das implizit selbstverständlich für die eigene Position beansprucht wird. Entscheidend an der neuerlich mit der Wendung „oder vielmehr“ eingeleiteten Ersetzung bzw. Überblendung der ‚sinnlosen Kinderhände‘ mit den ‚barbarischen Gebirgsbewohnern‘ ist nun die Beibehaltung dieser implizierten 19 20

21

Vgl. Michael Cuntz. „Der Undank der Schlange – Agency und Gemeinschaft“. In: Transkriptionen (Sondernummer: Rückblick) 10 (2008), S. 31–36, S. 31. Diese Konnotationen sind allerdings bereits in der Verwendung des Begriffs in der Antike angelegt. So hat Koselleck darauf hingewiesen, dass der Dualismus Barbare – Hellene bereits bei Thukydides, Platon und Aristoteles in eine geschichtliche Perspektive gerät, insofern schon hier die Gleichzeitigkeit beider Gruppen als Ungleichzeitigkeit ihrer Kulturstufen gefasst worden sei. Koselleck, s. Anm. 18, S. 223. Schon bei Aristoteles wird die Naturhaftigkeit der Barbaren außerhalb der polis aus ihrer Prägung durch Natur und Klima erklärt. Vgl. ebd., S. 221.

Abgrenzung und Verewigung

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Entwicklungslogik bei gleichzeitigem Wechsel von der Ebene des Individuums auf jene des Kollektivs. Dadurch wird die Vorstellung von Kollektiven, die als solche durch Strategien (räumlicher) Ab- und Ausgrenzung allererst etabliert werden, als eigenständige Lebensprozesse bzw. Lebensformen konkretisiert, die die durch Geburt und Tod begrenzte Lebenszeit all jener Individuen, die an ihnen teilhaben, potenziell zu transzendieren vermögen. Wenn nun in Kafkas Erzählung die Manifestationen der Unkultur der Barbaren die kulturellen Leistungen des Protagonisten immer schon überschreiben und am Ende noch überdauern sollen, so deutet sich in diesem vom Erzähler beschworenen Bedrohungsszenario bereits der weitaus gravierendere Konflikt zwischen zwei widerstreitenden Über-lebenseinheiten22 an. Sowohl in den barbarischen Eintragungen, die den Tempel überdauern als auch im vorausgesetzten Entwicklungsnarrativ drückt sich die Überzeugung oder Befürchtung aus, dass die Zukunft einer Lebensform der Barbaren gehört, während der Tempel und mit ihm jene kultivierte Lebensform, der sich die Hauptfigur zurechnen dürfte, ihrem Ende entgegen geht.23 Allerdings wird das implizite Versprechen einer zeitlichen Entgrenzung durch (räumliche) Ab- und Ausgrenzung insofern in seinem Scheitern vorgeführt, als der Text deutlich macht, dass die Ausschließung des Anderen stets auch seine Einbindung in die Produktion des Eigenen impliziert, dass also das Fremde dem Eigenen immer schon eingeschrieben ist und umgekehrt, und daher nach immer heftigeren Ausgrenzungsmanövern verlangt.24

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23

24

Hier soll einerseits auf die Vorstellung einer Lebensform angespielt werden, die das individuelle, durch Geburt und Tod begrenzte Leben transzendiert, andererseits auf die Vorstellung eines Überlebenskampfes zwischen solchen Lebensformen. Diese Vorstellung wurde insbesondere durch Oswald Spenglers Schrift Der Untergang des Abendlandes – der erste Band erschien im gleichen Jahr der Niederschrift des hier analysierten Textes – popularisiert. Dass die Ausschließung scheitern muss, hat mit dem logischen Problem des „Re-entry“ zu tun, mit dem „paradoxen Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene.“ David E. Wellbery. „Retrait/Re-entry. Zur poststrukturalistischen Metapherndiskussion“. In: Gerhard Neumann. Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neumann. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 1997, S. 194– 207, S. 203. Giorgio Agamben hat in Homo saccer diese Figur als einschließende Ausschließung ins Zentrum seiner Konzeption von Biopolitik gestellt. Vgl. auch Ethel Matala de Mazza. „Land unter. Über die Zonen des Politischen“. In: Gesetz und Urteil. Beiträge zu einer Theorie des Politischen. Hrsg. von Joseph Vogl. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2003, S. 75–94, S. 89.

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Metaphorisieren: Baumetaphern und der Palästina-Diskurs

5.2 Politische Argumentation und politische Metaphorik Kafkas Text macht aber nicht nur auf die Vorstellung eines Zusammenhangs von Abgrenzung und Verewigung aufmerksam, wie sie politischen Argumentationen zugrunde liegt, sondern weist darüber hinaus auf eine Verknüpfung zwischen politischer Argumentation und politischer Metaphorik hin. Die Herstellung eines auf ewigen Bestand zielenden politischen Körpers durch Gesten der Abgrenzung verdichtet sich in zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskursen tatsächlich bevorzugt in Metaphern des Baus und des Bauens. Wenn also Kafkas Text einen solchen Zusammenhang herstellt und – da es sich um einen literarischen Text handelt – ausstellt, so lässt er sich als programmatische Basis begreifen, um jene zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurse scharfzustellen, die eben diese Charakteristik aufweisen. Dabei deutet Kafkas Text mindestens zwei miteinander verbundene Erklärungsansätze für diesen Zusammenhang an: Zum einen bestimmt die Problematik einer Diskrepanz zwischen ideal-utopischer Konzeption eines auf Verewigung zielenden Baus einerseits und unzulänglicher Mittel zu seiner Verwirklichung andererseits, die Dramaturgie dieser – und nicht nur dieser – Kafka’schen Erzählung, wobei der Bau im Rahmen zeitgenössischer Gemeinschaftsdiskurse immer wieder metaphorisch für ein zu errichtendes, idealer Weise ewig fortdauerndes künftiges Gemeinwesen steht. Vor diesem Hintergrund – das wurde bereits im ersten Teil der vorliegenden Arbeit deutlich – kommen Baumetaphern vornehmlich als rhetorisches Mittel in Betracht, um sprachlich über die Unvermittelbarkeit einer Sphäre des unvergänglichen Idealen mit jener des vergänglichen Tatsächlichen hinwegzutäuschen – oder anders formuliert: um das unvergängliche, wahre Ideal als etwas Herstellbares allererst vorstellbar zu machen. Zum anderen deutet die zur Schau gestellte Vorstellung, sich durch Abgrenzung zu verewigen, eben auf jene politische Technologie, die Foucault später als Biopolitik beschrieben hat. Mit ihr meint man gerade am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich ein Einigungsmittel in Händen zu halten, das verspricht, Verewigung einer überindividuellen Lebenseinheit ganz ins Empirische wenden zu können. Die Etablierung und Aufrechterhaltung dieser Lebenseinheit, in der Geburt und Tod eben nicht mehr als Grenzen des Lebens betrachtet, sondern nur noch als seine statistische Stärkung oder Schwächung begriffen werden,25 erfolgt dabei u. a. durch Techniken der Ab- und Ausgren25

Vgl. Christian Geulen. „‚Enemy Mine‘. Über unpolitische Feinschaft“. In: Vom Sinn der Feindschaft. Hrsg. von Christian Geulen, Anne v. d. Heiden und Burkhard Liebsch. Berlin: Akademie Verlag, 2002, S. 77–108, S. 87 f.

Politische Argumentation und politische Metaphorik

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zung, wobei hierbei, wie bereits ausgeführt, unterschiedliche Tätigkeiten und Semantiken des Bauens eine eminente Rolle spielen. Als Kontext, der durch Kafkas Text an Kontur gewinnt, dient sich der zeitgenössische zionistische Palästinadiskurs in besonderer Weise an. In ihm laufen viele Fäden zusammen, die in Kafkas Tempelbautext ausgelegt zu werden scheinen.26 So handelt es sich bereits oberflächlich besehen hier wie dort stets um ein mehr oder weniger religiös motiviertes Projekt der Landnahme, mit dem etwas Neues, Neuartiges und – insofern wenigstens implizit auf seine Verewigung gezielt wird – etwas Ideales begründet werden soll, für dessen Verwirklichung man auf brauchbare Arbeiter, auf geeignetes „Menschenmaterial“ angewiesen ist. Dabei richtet sich die politische Argumentation innerhalb des zionistischen Palästinadiskurses um 1900 durch eine Doppelstrategie auf die Herstellung eines Gemeinschaftskörpers, der zunächst durch die Rede vom notwendigen Bau oder Aufbau eines neuen Gemeinwesens metaphorisch erzeugt bzw. imaginiert und sodann durch eine politische Technologie der Individuen realisiert werden soll, wobei hier die Verknüpfung dieser Argumentation mit politischer (Bau-)Metaphorik besonders virulent und auffällig ist. Durch eben diese auch in Kafkas Text herausgestellte Verbindung zwischen politischer Argumentation und politischer Metaphorik werden Texte aufgerufen, die ganz unterschiedlichen Richtungen innerhalb der zionistischen Bewegung zugeordnet werden können. Doch trotz dieser Verschiedenheit wird deutlich, dass all diese Texte mit dem exzessiven Einsatz von Baumetaphern zunächst auf den im Raum stehenden Vorwurf mangelnder Verwirklichbarkeit der jeweiligen Idealvorstellungen des neuen Gemeinwesens reagieren. Ex26

Ein weiterer, durchaus mit dem zionistischen Palästinadiskurs verbundener, wenn auch nicht mit ihm kongruenter Bezugsrahmen wäre der des kolonialen Diskurses. Darauf deuten nicht nur die in diesem ebenfalls weit verbreiteten Baumetaphern. Auch die Gleichsetzung der Urheber der erwähnten Eintragungen mit Kindern bzw. ihre Degradierung zu Barbaren, um sie angesichts der Erhebung des Eigenen zur Norm als hilfsbedürftige, nicht voll entwickelte Menschen erscheinen zu lassen, ruft kolonialistische Strategien der Herabsetzungen auf, in denen der erzeugte Eindruck von Rückständigkeit die koloniale Herrschaft legitimieren sollte. Die verkehrenden Zuschreibungen von Fremdheit durch die Kolonisierenden an die ansässige Bevölkerung, wie sie auch für diesen höchst manipulativen Erzähler denkbar sind, markieren den eigenen Besitzanspruch auf das kolonisierte Territorium und lassen sich in einzelnen Fällen auch für den Palästinadiskurs nachweisen. Auch die erwähnten Strategien der Landnahme durch symbolische und effektive Okkupation passt sowohl mit Blick auf den kolonialen wie auf den zionistischen Palästinadiskurs ins Bild.

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emplarisch lässt sich dies anhand von Textauszügen aus Herzls Der Judenstaat, Achad Haams Wahrheit aus Palästina und Martin Bubers Reden über das Judentum belegen. In weiterer Folge kann dann nachgezeichnet werden, wie diese Leitmetaphorik stets auch die Teil-Ganzes-Beziehung strukturiert, das Verhältnis des Individuums zur politisch herzustellenden Gemeinschaft im Sinne einer übergeordneten Lebenseinheit. Doch zunächst scheint die Dramaturgie in Kafkas Erzählung vom Problem einer anfangs übergangenen und zunehmend sich bemerkbar machenden Diskrepanz zwischen idealer Konzeption des Baus und unvollkommener Mittel seiner Realisierung geprägt zu sein. So wie es in Beim Bau der chinesischen Mauer in der Verantwortung der Bauleute liegt, zwischen planender Führerschaft und ausführender Arbeiterschaft zu vermitteln, dürfte auch der namenlose Protagonist dieser Erzählung für die plangemäße Umsetzung des Baus zuständig sein und direkt an der Schnittstelle zwischen einer Sphäre der idealen Konzeption und einer der empirischen Gegebenheiten tätig sein. Wenn sich „[n]ach den abmessenden Bewegungen seiner Finger“ die Bausteine „hoben“ und „verschoben“, so scheinen diese Bewegungen zugleich deskriptiv, wie auch präskriptiv zu sein. Sie scheint sowohl auf die tatsächlichen Gegebenheiten, als auch auf eine erst zu realisierende Ordnung bezogen zu sein, wobei das behauptete Zusammenfallen von Deskription und Präskription in den abmessenden bzw. abschätzenden Bewegungen der Finger mögliche Inkompatibilitäten zwischen Plan und Wirklichkeit kaschiert. Dabei stellt sich nach und nach der Verdacht ein, dass der Protagonist für die Verwirklichung seines Projekts – anders als zunächst suggeriert – auf die Arbeit anderer angewiesen ist, deren Widerständigkeit das gesamte Vorhaben von Beginn an durchkreuzen. Diese Problemlage ist auch zentral für die hier betrachteten zionistischen Texte. Denn obwohl die Positionen der drei Autoren in der Frage, ob das Ziel – der Aufbau eines idealen jüdischen Gemeinwesens in Palästina – durch graduelle Annäherung und mit Hilfe des technischen Fortschritts tatsächlich erreichbar wäre,27 oder ob es als Ideal vielmehr notwendig unerreichbar bleiben müsse,28 auseinander liegen, beharren alle auf der grundsätzlichen Notwendigkeit den Versuch zu wagen, dieses Ziel zu verwirklichen.

27 28

Das ist, wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit deutlich wurde, die Position der Generation Theodor Herzls. So die Position der sozial-radikalistischen Kulturzionisten um Martin Buber.

Politische Argumentation und politische Metaphorik

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Dabei ist etwa Theodor Herzl sehr bemüht, den Vorwurf sein Projekt sei reine Utopie,29 zurückzuweisen, indem er sein Ziel lediglich als Rearrangement der empirischen Wirklichkeit darstellt: Die materiellen Bestandtheile des Baues, den ich entwerfe, sind in der Wirklichkeit vorhanden, sind mit Händen zu greifen; jeder kann sich davon überzeugen. Will man also diesen Versuch einer Lösung der Judenfrage mit einem Worte kennzeichnen, so darf man ihn nicht „Phantasie“, sondern höchstens „Combination“ nennen.30

Die Metapher des Bauens, die Betonung der Materialität der Bestandteile und das Bild der Hände, mit denen all dies zu greifen und zum Greifen nah scheint, sollen hervorheben, dass seine Idealvorstellungen – Herzl möchte explizit einen „Musterstaat“31 errichten – ganz im Empirischen verankert sind und an die tatsächlichen Gegebenheiten bruchlos anschließen.32 Paradoxerweise setzt Herzl aber gerade dort, wo er den bruchlosen Anschluss seiner Vision an die gegebene Realität betonen und dem Vorwurf des bloßen Phantasierens begegnen will, auf eine unverkennbar metaphorische Schreibweise. Denn Herzls Rede vom Bau zielt eindeutig nicht auf die Errichtung eines bestimmten Gebäudes, sondern auf die eines Musterstaats, wenn auch der Bebauung von Flächen im Sinne einer „effektiven Okkupation“ hierbei eine entscheidende Rolle zukommt. Entsprechend sind mit den „materiellen Bestandtheile[n] des Baues“, die „in der Wirklichkeit vorhanden“ seien, 29

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Der Begriff der Utopie war in der Auseinandersetzung zwischen dem sogenannten utopischen Sozialismus und dem wissenschaftlichem Sozialismus in Misskredit geraden. Vgl. dazu Caspar Battegay. „Einleitung. Europäisch-jüdische Utopien“. In: Yearbook for European Jewish Literature Studies 3.1 (2016), S. 1–15. So schreibt Friedrich Engels über die Frühsozialisten Robert Owen und Henri de Saint-Simon „Es handelte sich darum, ein neues, vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.“ Friedrich Engels. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Karl Marx, Friedrich Engels. Werke. 4. unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962. Bd. 19. Berlin: Karl Dietz Verlag, 1973, S. 189–201. Theodor Herzl. Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig, Wien: Breitensteins Verlags-Buchhandlung, 1896, S. 3. Ebd., S. 26. Hannes Böhringer hat in seinem Artikel über die Metapher des Bauens im Wörterbuch der philosophischen Metaphern ebenfalls auf das bereits seit der Antike verbreitete Motiv hingewiesen, wonach der Anschluss des zu Bauenden an das Gegebene stets entscheidend für das Gelingen und die Langlebigkeit eines Baus sei. Vgl. Hannes Böhringer. „Bauen“. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt: WBG, 2007, S. 34–46, S. 35 f.

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neben den notwendigen „sachlichen Mittel[n]“,33 zu denen nicht zuletzt auch tatsächliche Baumaterialien zählen, nicht zuletzt „menschliche“ Ressourcen gemeint, die den Aufbau staatlicher Strukturen und Infrastruktur leisten sollen. Herzl denkt dabei an jüdische Arbeiter insbesondere aus den „östlichen Ländern Europas“,34 deren Zahl von der alle Abläufe lenkenden Society of Jews in einer „wissenschaftlich genaue[n] Statistik unserer Menschenkräfte“ erhoben und nachgewiesen werden soll, wie besonders im Kapitel mit dem Titel „Unser Menschenmaterial“ deutlich wird.35 Spätestens hier zeigt sich der (bio-)politische Charakter des Herzl’schen Projekts. Dabei drückt sich in der Rede vom „Menschenmaterial“ bereits implizit der untergeordnete Status des arbeitenden Individuums im Verhältnis nicht nur zur Society of Jews aus, sondern zum im Aufbau begriffenen künftigen Gemeinwesens insgesamt. Die einzelnen Individuen partizipieren bereits an dieser noch aufzubauenden überindividuellen Lebenseinheit, die ihre begrenzte Lebensspanne überdauern soll, aber nur unter der Maßgabe, dass sie sich ihrer Reduktion auf eine bestimmte Funktion, die sie für den Aufbau und das Fortbestehen der Gesamtheit einnehmen sollen, fügen. Auch Achad Haams36 bereits 1891 und 1893 publizierte Berichte, jeweils mit dem Titel Wahrheit aus Palästina, in denen er die Erfahrungen während seiner beiden Palästinaaufenthalte in diesen Jahren reflektiert, sowie einige seiner ebenfalls veröffentlichten Anmerkungen zu deren Rezeption,37 stehen im Problemfeld der Vermittlung von Idealität und Tatsächlichkeit, Geist und Materie, Theorie und Praxis. In einer dieser Ergänzungen reagiert Achad Haam auf seine Kritiker, die ihm zufolge „behaupten, daß es zwei Arten von ‚Wahrheit‘ gebe: eine theoretische und eine praktische Wahrheit“,38 wobei sie ihm vorwerfen, er betrachte

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Herzl, s. Anm. 30, S. 26. Ebd., S. 63. Herzl versucht hier v. a. das Vorurteil vom bloß Handel treibenden Juden zu entkräften. Vgl. ebd., S. 63. Eigentlich Ascher Hirsch Ginsberg, das hebräische Pseudonym Achad Haam bedeutet ‚Einer aus dem Volk‘. Die beiden Aufsätze sind ursprünglich unter dem Titel Emet me-Erez Yisrael auf Hebräisch in der Zeitschrift Ha-Meliz erschienen. Die Ergänzungen und Anmerkungen zur Rezeption stammen aus den Jahren 1891, 1893 und 1894. Die deutsche Übersetzung dieser Texte erscheint gesammelt 1923 im ersten Band der vierbändigen im Jüdischen Verlag publizierten Gesamtausgabe der Schriften Achad Haams Am Scheidewege. Im Folgenden wird nach dem Vorabdruck in Bubers Zeitschrift Der Jude zitiert. Achad Haam. „Wahrheit aus Palästina“. In: Der Jude 5 (1923), S. 257–268, S. 261.

Politische Argumentation und politische Metaphorik

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die Siedlung „als eine Bewegung zur Belebung der Nation im geistigen, aber nicht im materiellen Sinne“; ich wolle in Palästina „Männer“ ansiedeln, „die seine Frucht nicht zu essen und seinen Ertrag nicht zu genießen brauchen“; mit erstaunlicher Naivität belehren sie mich über den Lauf der Welt, wonach „in der Welt der Praxis“ der Mensch ohne Speise und Trank nicht auskommen kann, weshalb auch die Kolonisten in Palästina das Recht haben, dort eine Antwort auf die Nahrungsfrage zu suchen.39

Anders als man ihm unterstelle, wolle er den potentiellen palästinensischen Siedlern die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse keineswegs untersagen, sondern lediglich jene Ziele, die die Gesamtheit der Juden als solche betreffen, in Palästina an erste Stelle stellen.40 Gegen die vorgebrachte Forderung, jeder solle das Recht haben, sein Glück in Palästina zu suchen, zeichnet Achad Haam das Bild besitzloser Massen, die in der Auswanderung bloß ihr eigenes Heil und eine Antwort auf die Brotfrage suchten. Damit bescherten sie – würde man ihre Einwanderung nach Palästina unkontrolliert geschehen lassen – dem durchaus in einem ‚materiellen Sinne‘ zu verstehenden politischen Projekt der „Belebung der Nation“ nicht nur einen schlechten Start, sondern verdürben mit ihrem Egoismus und ihrer Enttäuschung angesichts überzogener Hoffnungen, die sie in weiterer Folge auch zu unlauteren Mitteln zur Verbesserung ihrer ökonomischen Lage greifen lasse, geradezu das Ansehen, das Wesen und den Fortbestand des künftigen jüdischen Volkes als Ganzem, das in Palästina endlich wieder sein Zentrum finden solle.41 Während mit Blick auf die Auswanderung in andere Länder kein Jude durch die jüdische Allgemeinheit an der Jagd nach persönlichem Glück und Reichtum gehindert werden solle, da er hier durch schlechtes Verhalten schlimmstenfalls die lokale jüdische Gemeinde in Verruf bringen könne, nicht aber die Gesamtheit des jüdischen Volkes, gelte es im Falle Palästinas die Einreise zu beschränken, denn unter den „Zionsfreunden“ sei es common sense, „in der Besiedlung Palästinas eine Antwort ‚auf die Daseinsfrage der Gesamtheit’“42 der Juden zu sehen. Was Achad Haam hier unter Zionisten als selbstverständlich voraussetzt, ist die Vorstellung das jüdische Volk sei in der Diaspora auf lange Sicht durch

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Ebd., S. 260. Kafkas unmittelbar vor Alles fügte sich ihm zum Bau entstandene politische Programmskizze Die besitzlose Arbeiterschaft scheint auch auf diese Diskussion ironisch Bezug zu nehmen, wenn als „Minimallöhnung, die in gewissem Sinn auch Maximallöhnung ist, Brot, Wasser, Datteln[;] Essen der Ärmsten, Lager der Ärmsten“ festgelegt wird. KKAN II, S. 106. Haam, „Wahrheit aus Palästina“, s. Anm. 38, S. 259. Vgl. ebd., S. 259. Ebd., S. 258.

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Metaphorisieren: Baumetaphern und der Palästina-Diskurs

Antisemitismus, kulturelle Assimilierung und „Mischehe“43 in seinem Fortbestand als Volk dem Untergang geweiht. Rettung verspreche einzig die Besiedelung Palästinas, wobei die verfügbare Fläche nur einen Bruchteil des jüdischen Volkes aufnehmen könne. Entsprechend erzwinge schon diese Ausgangslage eine Entscheidung darüber, welche Elemente die „Seele“, das „Zentrum“,44 den wesentlichen Kern des Judentums ausmachen, um dessen Fortbestand oder gar dessen Verbesserung in der Zukunft durch ihre Verpflanzung nach Palästina zu sichern. Deshalb sei der ankommende Einzelne, anders als in anderen Ländern, in Palästina nicht ein Individuum für sich, sondern ein kleinerer oder größerer Stein zum Fundament eines ganzen Baues, von dem wir Folgen für den Bestand des Volksganzen, sein Glück und seine Ehre in der Zukunft erwarten. Und weil von der Beschaffenheit und Gestalt dieses Fundamentes die ganze Zukunft des Gebäudes abhängt und jeder einzelne Stein darin mithin das Glück der ganzen Gesamtheit mit bestimmt, ist es Pflicht der Gesamtheit, wohl darauf zu achten, daß das Material fest, die Anlage gut und dem Zweck des ganzen Gebäudes entsprechend sei; oder, unbildlich gesprochen, wir müssen alles daran setzen, daß die Einwanderer, und besonders die ersten, die den Grund legen, nicht „ein bunter Haufe unbemittelter Auswanderer und Glücksjäger seien, die zu keiner Arbeit taugen, sondern gesunde, wackere und redliche Männer, die die Arbeit, und ein friedlich geordnetes Leben lieben“.45

Achad Haam reagiert auf den Vorwurf, er beschäftige sich bloß mit weltfremder, praxisferner Theorie und trete nur für die Belebung einer rein geistig gedachten Nation ein, mit dem exzessiven Gebrauch von Baumetaphern. Diese eignen sich, Praxisnähe und Aktivität zu suggerieren, allerdings tragen sie auch zur Substanzialisierung seines Nationenbegriffs bei. Zudem wird der Einzelne im Bild des Steins, der sich in den Bau des Ganzen einzufügen hat, zum Objekt degradiert und nur insofern als potentielles Mitglied einer zukünftigen Gemeinschaft des Volks zugelassen, als seine Brauchbarkeit, seine Zweckmäßigkeit für die Gesamtheit erwiesen oder offenkundig ist. Die Metapher des Baus organisiert mithin das Verhältnis des Individuums zum Kollektiv in einer 43

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Für einen Überblick zum zeitgenössischen jüdischen „Mischehediskurs“ und seiner Bedeutung für Kafkas Erzählung, die im Vierten Oxforder Oktavheft mit „Ein(e) Erbstück Kreuzung“ überschrieben ist, vgl. Caspar Battegay. Das andere Blut. Gemeinschaft im deutschjüdischen Schreiben 1830–1930. Reihe Jüdische Moderne. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2011, S. 257–267. Dabei bezieht er sich besonders auf Veronika Lipphardt, die bestätigt, dass die zeitgenössischen Abhandlungen zur „Mischehe“ „mit Metaphern der Auflösung, des Absterbens, des Zugrundegehens und des Selbstmordes des jüdischen Volkes“ angereichert waren. Veronika Lipphardt. Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 154. Haam, „Wahrheit aus Palästina“, s. Anm. 38, S. 257. Ebd., S. 258.

Politische Argumentation und politische Metaphorik

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spezifischen Weise, die eine Auslese all jener Elemente notwendig erscheinen lässt, die dem höheren Zweck der positiven Fortentwicklung einer die einzelnen Mitglieder transzendierenden Überlebenseinheit dienen, während der Rest seinem Schicksal überlassen wird – „[l]eben machen und sterben lassen“46 also, wie es in der berühmten Formel Foucaults für jenen Machttypus heißt, den er „Bio-Macht“ nennt. Entsprechend tritt Achad Haam bereits in den frühen 1890er Jahren sinngemäß für eine Auslese des Menschenmaterials für Palästina ein, wie sie der etwa zeitgleich mit Kafkas Erzählung entstandene Aufsatz Arthur Ruppins, des Gründervaters der Kibbuz-Bewegung, konkretisiert.47 Selbst dort, wo Achad Haam behauptet „unbildlich“ zu sprechen, bleibt er der Semantik des Bauens verhaftet, wenn er von jenen ersten Einwanderern redet, „die den Grund legen“. Dabei wird nicht deutlich, ob er damit den Aufbau von Infrastruktur, den einer Wertegemeinschaft oder die erblichen Anlagen48 meint, die sie mitbringen. Es liegt allerdings nahe, dass durchaus alle drei Optionen adressiert werden sollen. Jedenfalls solle die Auswahl der Mitglieder der künftigen Nation „nach Maßgabe ihrer physischen und sittlichen Kräfte, ihrer Liebe zur Arbeit, Friedlichkeit und Genügsamkeit“49 erfolgen. Generell bemängelt Achad Haam das unkoordinierte Vorgehen der einzelnen Akteure und tritt wenigstens während der Phase des Aufbaus des kommenden zukunftsträchtigen Gemeinwesens für eine Einteilung des Volkes in

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Michel Foucault. „Vorlesung vom 17. März 1976“. In: In Verteidigung der Gesellschaft. 7. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2009, S. 282–311, S. 282. Arthur Ruppin. „Die Auslese des Menschenmaterials für Palästina“. In: Der Jude 8-9 (1918), S. 373–383. Spätestens in dem bereits erwähnten Aufsatz Arthur Ruppins spielt dann die bereits bei Achad Haam angelegte genetische Dimension solcher Auslese explizit eine Rolle. Ruppin kritisiert darin zunächst, dass immer noch Alte, Kranke, Arbeitsunfähige und Antisoziale nach Palästina einreisen dürfen (Vgl. ebd., S. 374) und empfiehlt, auf die Qualität, nicht auf die Quantität zukünftiger Einwanderer nach Palästina zu achten. (Vgl. ebd., S. 376) Die Auswahl solle nach Beruf, Gesundheit und Charakter erfolgen, doch auch Reproduktion und genetische Vererbung sind Faktoren, die Ruppin explizit anführt. (Vgl. ebd., S. 379) An einer Stelle spricht er gar von der „Ausmerzung“ jener Auswanderer mit ansteckenden Krankheiten bzw. all derer, die der zukünftigen Gemeinschaft zur Last fallen würden – eine Aufgabe die „durch die Ärzte der Auswanderungsämter“ besorgt werden solle. (Vgl. ebd., S. 381). Die „Reinhaltung der jüdischen Rasse“ in Palästina befindet er für theoretisch wünschenswert, hält aber „eine direkte Einwirkung auf die Auslese der Einwanderer“ gemäß ihres Grads der „Annäherung an den jüdischen Rassentypus“ für „praktisch undurchführbar“. (Vgl. ebd., S. 381). Haam, „Wahrheit aus Palästina“, s. Anm. 38, S. 259.

238

Metaphorisieren: Baumetaphern und der Palästina-Diskurs

Führer und Geführte ein,50 wobei er die Sinnhaftigkeit dieser Differenzierung ebenfalls durch Baumetaphern zu plausibilisieren versucht: Nicht das Holz und die Steine selbst sorgen für die Zukunft des ganzen Gebäudes, sondern die Bauleute sind bestrebt, gutes und dauerhaftes Material zu wählen, alles auf den richtigen Platz zu stellen, so daß von selbst der ganze Bau stark und schön ersteht. […] [V]on den Männern der Tat, die sich mit dem Bau befassen, [verlange ich,] daß sie nicht einzeln für sich vorgehen und den Gesamtbau durch ihre überstürzten Sonderbemühungen gefährden; […] [Ü]berhaupt richteten meine Worte sich […] an des Volkes Führer und Leiter, seine Schriftsteller und Berater aller Art, die es auf Palästina hinweisen und bemüht sind, dort einen Haufen von Steinen zusammenzutragen, ohne zwischen ganzen und zerbrochenen zu unterscheiden, ohne Ordnung und Einheitlichkeit und ohne festen Plan.51

In dieser Passage wird deutlich, dass die Führer und Leiter des Volkes als solche, d. h. in eben diesen Funktionen, für Achad Haam gar nicht am künftigen palästinensischen Vorzeigekollektiv partizipieren. Ansonsten würden – um im Bild zu bleiben52 – ja doch „das Holz und die Steine selbst […] für die Zukunft des ganzen Gebäudes“ sorgen. Während also die Errichtung eines idealen künftigen Gemeinwesens eine streng hierarchisierte Gesellschaft mit Führern und Geführten voraussetze, scheint das Resultat dieses offenbar als abschließbarer Vorgang gedachten Prozesses für ihn durchaus eine egalitäre Gemeinschaft sein zu können. Interessant dabei ist die wundersame Art und Weise, in der sich der Sprung von der einen zur anderen vollziehen soll: „[V]on selbst“ nämlich erstehe „der ganze Bau stark und schön“, wenn man nur das rechte Material auswähle und dieses in der richtigen Weise anordne. Dabei weckt dieses Bild Assoziatio50

51 52

Als erstere nimmt Ha’am explizit auch die Schriftsteller in die Pflicht: „[D]ie Leiter der ganzen Sache habe ich aufgefordert, diese [die Ansiedlung] dermaßen einzurichten, daß sie die ihrer Würdigen an sich zieht, die Unwürdigen fernhält […]; und von den Schriftstellern und Rednern verlangte ich zweckbewußtes Handeln statt des Sammelns von unbrauchbarem Material zu unserem Bau durch erfundene Schönfärbereien und wacklige Projekte.“ Vgl. Haam, „Wahrheit aus Palästina“, s. Anm. 38, S. 259. Diese Aufforderung an die Schriftsteller des jüdischen Volkes könnte den Schreibanlass für Kafkas Auseinandersetzung mit der Thematik gegeben haben. Ebd., S. 259 f. [Hervorh. im Original]. Dieses Bild scheint im Übrigen dem Buch Hiob entlehnt zu sein: Auf Hiobs Klage, weshalb Gott all das Ungemach über ihn hereinbrechen hat lassen, obgleich er stets fromm gewesen sei, antwortet Gott sinngemäß mit dem Einwand ein Geschöpf könne die Schöpfung ebensowenig verstehen wie ein Baustein den Bauplan: „Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir’s, wenn du so klug bist! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt […]? Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, […] als ich ihm seine Grenze bestimmte mit meinem Damm und setzte ihm Riegel und Tore […]?“, Hiob 38, 4–10. Vgl. auch Böhringer, s. Anm. 32, S. 40.

Politische Argumentation und politische Metaphorik

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nen mit der Legende des Golem. Seit nämlich im kabbalistischen Sefer Jetzira, dem sogenannten Buch der Schöpfung, die zehn Urziffern (Sephiroth) und die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets als elementare Bausteine der gesamten göttlichen Schöpfung identifiziert wurden, verbreitete sich die Überzeugung, die richtige Kombination dieser Buchstaben und Zahlen erlaube es, die göttliche Schöpfung – und das heißt auch die eines neuen Menschen – zu wiederholen.53 Was bei Theodor Herzl und Achad Haam gleichermaßen deutlich wird, ist die Problematik, die der Strategie innewohnt, dem Vorwurf der Utopie und der mangelnden Bodenhaftung mit Baumetaphern zu begegnen, um sich den Anschein von Tatkräftigkeit und Praxisnähe zu geben. So sind beide durch die Metaphern des Baus und des Bauens regelrecht dazu verleitet, das künftige Gemeinwesen als Substanz und Resultat eines abschließbaren Prozesses zu denken, wobei diese Leitmetaphern in weiterer Folge noch die Form der Zugehörigkeit zu dieser Über-lebenseinheit strukturieren: Sie lassen es mit Blick auf das vermeintliche Wohl des durch sie erst imaginierbar gewordenen künftigen „Volksganzen“ sinnvoll erscheinen, Anwärterinnen und Anwärter für die zu bildende Über-lebenseinheit zu kategorisiert bzw. zu klassifiziert, um all jene Menschen auszuschließen, die einen negativen Einfluss auf die künftige Gesamtheit erwarten lassen. Im Gegensatz zu Herzl und Achad Haam ist für Buber das Utopische keineswegs mehr negativ konnotiert.54 Er scheint sich gerade durch die Affirmation des Utopischen allen voran von Herzls Staatsidee abzugrenzen, die sich für Buber all zu sehr an dem mit Vereinzelung und Entfremdung assoziierten europäischen Modell des Nationalstaats orientiert, wenn er schreibt „wer das Unmögliche nicht mehr zu begehren vermag, kann nur noch das All-

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54

Vgl. Peter Schäfer. Der Golem in Berlin. Einleitung zum Katalog zur Ausstellung GOLEM. (2016). URL: www.jmberlin.de/node/4681 (besucht am 09. 01. 2020) Bemerkenswert, wenn auch vermutlich nicht von Achad Haam intendiert, ist dabei zudem, dass in zahlreichen Darstellungen des Golem diesem das hebräische Wort „Emet“, also „Wahrheit“ auf die Stirn geschrieben steht, wobei sich durch die Entfernung des ersten Buchstaben „Met“, das hebräische Wort für „Tod“ ergibt, wodurch der Golem wieder deaktiviert würde. Dieser Hintergrund lässt Achad Haams Titel Emet me-Erez� Yisrael nochmals in neuem Licht erscheinen und stützt so jene Lesart, die die bei entsprechender Auswahl und Kombination sich selbsttätig vollziehende Entstehung eines idealen Gemeinwesens in Palästina mit dem Motiv des Golem als einer menschlichen Wiederholung der göttlichen Schöpfung engführt. Spätestens seit Gustav Landauers Die Revolution von 1907 ist das zuvor durch Friedrich Engels diskreditierte utopische Denken (vgl. Fußnote 29) wieder rehabilitiert.

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Metaphorisieren: Baumetaphern und der Palästina-Diskurs

zumögliche vollbringen“.55 Das Unmögliche zu begehren bedeutet allerdings nicht, dass die Forderung nach seiner Verwirklichung darum aufgegeben würde. Gerade die Aporie der gleichzeitigen Notwendigkeit und Unmöglichkeit einer Vermittlung von idealem Anspruch und unvollkommenen, begrenzten Mitteln führt dazu, dass auch Buber auf rhetorische Figuren wie Baumetaphern angewiesen bleibt, die es ihm erlauben, seine gänzlich utopische „wahre Gemeinschaft“ als etwas tatsächlich Herstellbares allererst vorstellbar zu machen. Dabei deutet sich immer wieder an, dass auch Buber zuweilen auf bio-politische Mittel setzt, um das Auseinanderklaffen von Utopie und Realität, von Gemeinschaft und Gesellschaft zu überwinden. Am innigsten und unmittelbarsten ist uns diese Aufgabe [das Unbedingte im Stoff der Erde auszuformen] zugeteilt im Leben der Menschen, das unserer Einwirkung erschlossen ist wie kein anderes Ding der Welt. Hier wie nirgendwo ist uns eine Vielheit in die Hand gegeben, um sie zur Einheit zu bilden, eine gewaltig formlose Masse, in der wir die göttliche Gestalt ausprägen sollen. Die Gemeinschaft der Menschen ist ein angelegtes Werk, das unser harrt; ein Chaos, das wir zu ordnen, eine Diaspora, die wir zu sammeln, ein Widerstreit, den wir zu versöhnen haben.56

Unmissverständlich weist Buber hier „das Leben der Menschen“ als Betätigungsfeld aus. Dieses wird zu einem „Ding“ objektiviert, wodurch sprachlich bereits vollzogen ist, was als Endpunkt der geplanten Bearbeitung aufscheint: Eine Vielheit des menschlichen Lebens soll zur homogen vorgestellten göttlichen Gemeinschaft umgebildet, geordnet, vereinheitlicht werden. Auch das Bild der Hand dient der Vergegenständlichung der Vielheit des Lebens, an das eben darum Hand angelegt werden darf, weil es uns – mit einer geschickten Passivkonstruktion – an die Hand gegeben ist. Das menschliche Leben im Allgemeinen und das jüdische Volk im Besonderen wird damit zum höchst unzulänglichen Material für den idealen Bau einer göttlichen Gemeinschaft degradiert. Es wird nur unzureichendes Mittel zum Zweck und setzt dem hehren Ziel permanent Widerstände entgegen, die dem „Einsamen und Hingegebenen“ zu schaffen machen, „der sich vermißt, an der wahren Gemeinschaft bauen zu wollen – mit welch einem Material!“57 Das „natürliche Widerstreben des Materials“ bezieht Buber auf jene allgemein menschliche Natur der zähen Masse, die dem Formungswillen der Forderung mit aller wirkenden und latenten Energie widerstrebt und die Tat in ihre zerreibenden Kreise

55 56 57

Martin Buber. „Reden über das Judentum“. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Bd. 2. Gerlingen: Lambert Schneider, 1993, S. 38. Ebd., S. 75. Ebd., S. 92.

Politische Argumentation und politische Metaphorik

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niederzieht; die die Umgestaltung nicht etwa bloß hindert, sondern, weit schlimmer, die angehobene befleckt, verzerrt, zersetzt.58

Der Bau an der Verewigung der Gemeinschaft ist durch das notwendigerweise unzulängliche Material von vornherein zum Scheitern verurteilt. Kafkas Schreibweise ist – so die These dieser Studie – eine der literarischen Umschrift, die mit der unausweichlichen intertextuellen Dimension von Texten kalkuliert. Alles fügte sich ihm zum Bau wurde in der Forschung auch als poetologischer Text gelesen,59 als Text, der nicht zuletzt über die in ihm wirksame Poetologie der Ent-Wendung Auskunft gibt. In solch einer Lesart steht der Tempel allegorisch für den literarischen Text, der sich aus Text-Bausteinen „fremder Arbeiter“, also anderer – nicht zwangsläufig literarischer – Autorinnen und Autoren zusammensetzt, wobei die Frage nach der genauen Herkunft dieser Text-Bausteine und Diskursfragmente, wie sie mit der Frage nach dem „Bruch“, aus dem sie stammen, aufgerufen scheint, unbeantwortet bleibt. Die fremden „Eintragungen“, die hier Auskunft zu geben scheinen, widersetzen sich einer vollständigen Entzifferung, können nie abschließend zugeordnet und in ihrer Herkunft bestimmt werden und transzendieren den literarischen Text, dessen durch das Bild des Baus suggerierte Geschlossenheit sie von allem Anfang an öffnen. Damit lassen sich Erkenntnisse, die aus dem literarischen Text gezogen werden, auf eine nicht eingrenzbare Fülle möglicher aufgerufener Texte und Diskurse beziehen, wobei auch Strukturanalogien zwischen diesen sichtbar werden. Mit Blick auf die hier betrachteten zionistischen Kon-Texte konnte ein allen Texten gemeinsamer Zusammenhang zwischen Abgrenzung und Verewigung sowie zwischen (bio-)politischer Argumentation und politischer (Bau-)Metaphorik herausgestellt werden. Mit der Übersetzung der Problematik eines aporetischen Verhältnisses zwischen idealem Anspruch und begrenzter Möglichkeiten seiner Umsetzung aus dem Kontext des zionistischen Palästinadiskurses ins Medium der Literatur, aktiviert Kafkas Erzählung zudem eine Rezeptionshaltung, die sich von jener innerhalb des Diskurses, den er einbindet, unterscheidet. Beim Lesen eines literarischen Textes wird jedes verwendete Bild, jede Metapher mit einer höheren Aufmerksamkeit auf ihre Ersetzbarkeit hin überprüft und befragt, als im 58 59

Ebd., S. 92. Vgl. etwa Benno Wagner. „‚Ende oder Anfang¿. Kafka und der Judenstaat“. In: Kafka, Zionism and Beyond. Hrsg. von Mark H Gelber. Tübingen: Niemeyer, 2004, S. 219–238, S. 221 ff.

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Metaphorisieren: Baumetaphern und der Palästina-Diskurs

Zusammenhang des eingebundenen Kontextes. Bei der Lektüre zionistischer Texte mit einem durch Kafkas Text geschärften Blick auf die verwendete Metaphorik wurde deutlich, wie Metaphern ein Sprechen allererst ermöglichen, dass dieses Sprechen aber nur zum Preis einer Einschränkung des Sagbaren erkauft ist.60 Die Wahl einer bestimmten Leitmetapher, die ihrerseits ein semantisches Feld aktiviert, zieht gewisse „Redekonsequenzen“61 nach sich und legt somit indirekt fest, was überhaupt gesagt werden kann, bzw. was gar nicht erst in den Blick gerät. An den zionistischen Texten erwies sich, wie Metaphern des Bauens erlauben, sich Kollektive als etwas Einheitliches, Abgeschlossenes, Ganzes, Funktionales und vor allem Herstellbares vorzustellen. Und doch wird man am Ende dieser Ausführungen angesichts der negativen Effekte, die dieser so naheliegende wie weit verbreitete Metapherngebrauch nach sich zieht – man denke an die ausschließenden Praktiken, die sie anstößt, an die Vorstellungen homogener, substanzialistischer Gemeinschaft, die sie evoziert sowie an die Unterordnung des Einzelnen unter den höheren Zweck eines übergeordneten Ganzen, die sie geradezu vorgibt – Elias Canetti beipflichten, wenn er schreibt: Die Mehrdeutigkeit aller sozialen Erscheinungen ist derart, daß man sie deuten kann, wie man mag. Aber am anfechtbarsten ist der Versuch, sie als Funktionen zu bestimmen und zu erschöpfen. Es wäre nämlich denkbar, daß die Gesellschaft kein Organismus ist, daß sie keinen Bau hat, daß sie nur vorläufig oder nur scheinbar funktioniert. Die naheliegendsten Analogien sind nicht die besten.62

Was offen bleiben muss, ist die Frage, auf welche Weise sich eine andere Form von Gemeinschaft sprachlich fassen oder konstruieren ließe, um einer Logik von Ein- und Ausschluss zu entkommen.

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Vgl. Ralf Konersmann. „Vorwort: Figuratives Wissen“. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt: WBG, 2007, S. 7–21, S. 16. Ebd., S. 16. Elias Canetti. „Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942–1972“. In: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942–1972. München: Carl Hanser Verlag, 1973, S. 268.

6. Wuwei: Kafkas China-Erzählungen im Kontext zeitgenössischer China-Diskurse

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Im Frühjahr 19172 schreibt Franz Kafka folgenden bislang wenig beachteten Text nieder: Diese (vielleicht allzusehr europäisierende) Übersetzung einiger alter chinesischer Manuskriptblätter stellt uns ein Freund der Aktion zur Verfügung. Es ist ein Bruchstück. Hoffnung, daß die Fortsetzung gefunden werden könnte besteht nicht. < > Hier folgen noch einige Seiten, die aber allzu beschädigt sind, als daß ihnen etwas bestimmtes entnommen werden könnte.3

Die zitierten Zeilen schließen unmittelbar an die erste Niederschrift von Ein altes Blatt 4 im sogenannten dritten Oxforder Oktavheft an und stellen vermutlich den Versuch dar, eben diese Erzählung5 durch eine Herausgeberfiktion zu 1

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Teile dieses Kapitels basieren auf Ergebnissen, die ich in folgenden Aufsätzen publiziert habe: Clemens Dirmhirn. „Zeitgenössischer China-Diskurs der Zeitschrift ‚Die Aktion‘ und seine Relevanz für Kafkas China-Texte.“ In: Kafkas China. Hrsg. von Kristina Jobst und Harald Neumeyer. Bd. 5. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 17–33 und Clemens Dirmhirn. „Spuren interkultureller Begegnungen in Kafkas vergleichender Völkergeschichte. Zeitgenössischer China-Diskurs in der Zeitschrift ‚Die Aktion‘“. In: Franz Kafka im interkulturellen Kontext. Hrsg. von Steffen Höhne. Bd. 13. Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2019, S. 197–209. Der Text wurde vermutlich Ende März/Anfang April 1917 niedergeschrieben. Zur Datierung vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I App.), S. 86–89 und Roland Reuß. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Oxforder Oktavhefte 3 & 4: Franz Kafka-Heft 6. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Historisch-Kritische Franz Kafka-Ausgabe (FKA). Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld Verlag, 2008 (im Folgenden zit. als FKH6), S. 3–6. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1993 (im Folgenden zit. als KKAN I), S. 361. Ursprünglich betitelt Kafka das Erzählfragment mit Ein altes Blatt aus China, streicht aber die geographische Spezifizierung wieder. Grundsätzlich muss offen bleiben, welcher Text vorgesehen war, um die als Platzhalter dienenden spitzen Klammern zu ersetzen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift bieten sich

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Wuwei: Kafkas China-Erzählungen und zeitgenössische China-Diskurse

rahmen, um das vorläufige Abbrechen des Textes durch diese Meta-Narration schlüssig erscheinen zu lassen.6 Während die mutmaßliche chinesische Binnenerzählung weder örtlich noch zeitlich präzise eingeordnet werden kann – ein Merkmal, das Ein altes Blatt mit den übrigen Erzählungen des „China-Komplexes“ verbindet7 – lässt sich die Ebene der Rahmung unmittelbar in Kafkas Gegenwart verorten. „Freunde der Aktion!“8 ist nämlich jene Formel, mit der sich der Herausgeber Franz Pfem-

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aufgrund der aufgerufenen China-Thematik und der Hervorhebung des bruchstückhaften Charakters sowie der europäisierenden Überformung des Textes sowohl Ein altes Blatt als auch Beim Bau der chinesischen Mauer an. Zwei Gründe sprechen allerdings für Ein altes Blatt als wahrscheinlichere Option. Zum einen legt dies die unmittelbare Nachbarschaft der beiden Texte nahe, zum anderen der etwas unverbundene und zwischenzeitlich bereits wieder gestrichene zweite Satz: „Es ist ein Bruchstück.“ Denn grammatikalisch lässt sich sein Subjekt im Neutrum auf kein Glied des ersten Satzes beziehen – weder auf die „Übersetzung“, noch auf die „Manuskriptblätter“ –, wohl aber auf „Ein altes Blatt“. Denkbar wäre auch, dass weitere angedachte China-Erzählfragmente durch diesen rahmenden Text verklammert werden sollten. Immerhin enthält der kurze Text den Verweis auf einige beschädigte Seiten, die noch folgen sollen. Weitere Texte, die zum sogenannten „ChinaKomplex“ gezählt werden – das betrifft: Die Abweisung, Zur Frage der Gesetze und Die Truppenaushebung – entstehen allerdings erst mit deutlichem zeitlichen Abstand Ende August 1920. Den Begriff „China-Komplex“ hat Manfred Engel in die Kafka-Forschung eingeführt. Vgl. Manfred Engel. „Entwürfe symbolischer Weltordnungen. China und China Revisited. Zum China-Komplex in Kafkas Werk 1917–1920“. In: Kafka, Prag und der Erste Weltkrieg. Kafka, Prague and the First World War. Hrsg. von Manfred Engel und Ritchie Robertson. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 221–236, S. 221 f. Jener Schluss, den Ein altes Blatt in der zu Lebzeiten publizierten Version erhält, findet sich im sog. dritten Oxforder Oktavheft erst 16 Seiten später nachgetragen. Streichungen legen nahe, dass Kafka mit dem vorläufigen Ende nicht restlos zufrieden gewesen sein dürfte. Harald Neumeyer hat herausgestellt, dass das dargestellte China in Kafkas Erzählungen „sowohl das in einem Umbruch befindliche China der Zeitungsartikel, Reiseberichte und Wissenschaftsstudien zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auch der zeitlose Nicht-Ort einer Verhandlung politischer Organisationen und Strukturen, Institutionen und Ideologien ist.“ Harald Neumeyer. „Kaiser – Reich – Volk“. In: Kafkas China. Hrsg. von Kristina Jobst und Harald Neumeyer. Bd. 5. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 161–196, S. 192 f. Dem ist hinzuzufügen, dass sich die heterogenen China-Imaginationen innerhalb des zeitgenössischen westlichen ChinaDiskurses nicht nur auf das zeitgenössische China beziehen, sondern auch Wissens-Elemente aus unterschiedlichen Zeitabschnitten in ihr jeweils konstruiertes Chinabild integrieren, wobei sich Kafkas China als kondensierte Collage dieser heterogenen, oft miteinander inkompatiblen medialen Repräsentationen Chinas präsentiert. Franz Pfemfert. „Freunde der Aktion!“ In: Die Aktion 1 (38 1911), Sp. 1191. In diesem Heft kommt die Formel unmittelbar neben einer kurzen Glosse zur Revolution in China

Wuwei: Kafkas China-Erzählungen und zeitgenössische China-Diskurse

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fert an die Leserschaft seiner 1911 gegründeten Zeitschrift Die Aktion9 wandte, der auch Kafka nachweislich angehörte.10 Diese idiosynkratische Wendung setzt der extradiegetische Erzähler bei jenem Kollektiv, das er offenbar anspricht und als dessen Teil er sich präsentiert, als bekannt voraus. Entsprechend weist die Rahmung unmissverständlich zumindest ins Umfeld dieser Zeitschrift und referenziert damit auf für Kafka ungewöhnlich konkrete Weise Elemente der außersprachlichen Wirklichkeit. Tatsächlich gibt es innerhalb dieses Umfelds, in dem sich auch Kafka überwiegend vermittelt durch Max Brod bewegt,11 ein reges und im Verlauf des Ersten Weltkriegs stark zunehmendes Interesse an China – insbesondere am Daoismus. Durch Autoren wie Ernst Weiß, Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Hermann Hesse, Alfred Henschke alias Klabund und Albert Ehrenstein – allesamt Beiträger der Aktion – nimmt die produktive literarische China- bzw. Daoismus-Rezeption im deutschsprachigen Raum ab den 1910er Jahren Fahrt auf. Die zentrale Grundlage für ihre produktive China-Rezeption bilden dabei neue Übersetzungsprojekte, auf die im zitierten Text Kafkas mit latenter Ironie angespielt zu werden scheint, wenn die chinesische Binnenerzählung entschuldigend als „(vielleicht allzusehr europäisierende) Übersetzung einiger alter chinesischer Manuskriptblätter“ präsentiert wird. Besonders große Nachwirkung entfalten die Übersetzungen des Religionswissenschaftlers Martin Buber12 respektive jene des mit Buber befreundeten Missionars und Sino-

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zu stehen, die entschieden Partei für das revoltierende Volk in China ergreift. Vgl. Otto Corbach. „China“. In: Die Aktion 1 (35 1911), Sp. 1092–1095. Die Aktion war ein wichtiges Organ des Expressionismus und erschien ab der Gründung 1911 bis 1919 wöchentlich, dann 14-tägig und schließlich nur noch unregelmäßig. Sie sah sich ausdrücklich einer links-revolutionären, anarchistischen Politik bzw. einer linken politischen Kunst und Kultur verpflichtet, ohne dabei einer bestimmten politischen Partei nahezustehen. Kafka erwähnt die Zeitschrift sowohl im Tagebuch als auch in mehreren Briefen. Vgl. Jürgen Born. Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1990, S. 193. Über Brod, der bereits wenige Wochen nach Erscheinen des ersten Hefts immer wieder Beiträge für die Aktion schreibt und mit Franz Pfemfert zeitweise in engerem Kontakt steht, versucht Kafka mit Pfempfert zu kommunizieren, wie aus Kafkas Brief an Brod vom 28.01.1918 hervorgeht. Darüberhinaus hat Kafka durch seinen Freund mit Otto Pick und Kurt Pinthus zwei Mitarbeiter der Zeitschrift persönlich kennengelernt. Ersteren hat er wiederholt getroffen. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe 1913–März 1914. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2001 (im Folgenden zit. als KKABr 2), S. 598 ff. Ihm übermittelt Kafka am 22.04.1917 durch die Vermittlung Brods kurze Zeit nach der Niederschrift seiner frühen China-Texte zwölf kurze Prosastücke, darunter höchstwahrscheinlich die aus Beim Bau der chinesischen Mauer herausgelöste Binnenerzählung Eine kai-

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Wuwei: Kafkas China-Erzählungen und zeitgenössische China-Diskurse

logen Richard Wilhelm,13 die bereits kurz nach ihrem Erscheinen begeisterte Rezensionen hervorrufen.14 1910 waren die Reden und Gleichnisse des TschuangTse15 erschienen, die Buber mit einem vielbeachteten Nachwort versehen hatte und nur ein Jahr darauf folgt ein Band mit dem Titel Chinesische Geister- und Liebesgeschichten, der in der Aktion besprochen16 und auch Gegenstand des Briefwechsels Kafkas mit Felice Bauer wird. Kafka, der das Buch zu diesem Zeitpunkt lediglich durch eine ausführliche Rezension kennt, zeigt sich darin skeptisch hinsichtlich der Qualität der Übersetzungen Bubers: „Auch schreibst Du ‚seine‘ Art, es sind doch wohl Übersetzungen? Oder sollten es so eingreifende Bearbeitungen sein, welche mir seine Legendenbücher unerträglich machen.“17 Dabei muss der enorme Erfolg dieser Übersetzungen, die besonders von einem kulturkritischen Publikum rezipiert werden, dem sie die Überwindung der eigenen westlich-imperialistischen, kapitalistischen und vor allem die Gemeinschaft erodierenden Gesellschaftsordnung verheißen, paradoxerweise gerade in ihrem europäisierenden Charakter vermutet werden, folgt man der Argumentation Heinrich Detering, der mit Blick auf Richard Wilhelm festhält: Seine Übersetzungen beziehen ihr enormes Wirkungspotential daraus, daß sie das missionarische Prinzip der Inkulturation umkehren, indem sie nicht mehr die christliche Heilsbotschaft in Sprachbildern der chinesischen Tradition ausdrücken, sondern die chinesische Tradition durch die Verbindung mit christlichen Sprachbildern innerhalb einer christlich

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serliche Botschaft und Ein altes Blatt. Für die Publikation im Juden, die unter dem Titel Zwei Tiergeschichten läuft, entscheidet sich Buber allerdings für Schakale und Araber sowie Ein Bericht für eine Akademie. Vgl. Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005 (im Folgenden zit. als KKABr 3), S. 297, 640. Martin Buber und Richard Wilhelm unterrichteten beide an der Universität in Frankfurt und waren mit Hermann Hesse und C. G. Jung befreundet. Alle verband ein Interesse an China, insbesondere am Daoismus. Vgl. Irene Eber. „Martin Buber and Taoism“. In: Monumenta Serica 42 (1994), S. 445–464, S. 448 f. Dieser Aufsatz bietet auch ausführlichere Information zu den Quellen und Umständen der Übersetzungen Bubers. Vgl. auch Martin Buber. „Einleitung“. In: Martin Buber Werkausgabe. Bd. 2.3: Schriften zur chinesischen Philosophie und Literatur. Hrsg. von Irene Eber. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2013, S. 13–49. Die nachhaltige Wirkung seiner und Wilhelms Übertragungen wird in der Forschungsliteratur zur deutschen Daoismus-Rezeption immer wieder hervorgehoben. Vgl. etwa Karl-Heinz Pohl. „Spielzeug des Zeitgeistes - Kritische Bestandsaufnahme der Daoismus-Rezeption im Westen“. In: Minima Sinica 1 (1998), S. 1–23, S. 2; Knut Walf. „Wege des Dao in den Westen. Stationen und Tendenzen eines Kulturaustausches“. In: Orientierung 64.15/16 (2000), S. 168–173, S. 170. Buber, „Einleitung“, s. Anm. 13, S. 48. Martin Buber. Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse. Leipzig: Insel-Verlag, 1910. N. N. „Chinesische Geister- und Liebesgeschichten“. In: Die Aktion 18 (1912), Sp. 566. KKABr 2, S. 51.

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bestimmten Kultur verstehbar werden lassen. Richard Wilhelms Arbeit gibt damit ein Musterbeispiel ab für die Rückwirkung kolonialer Politik in eine Situation, in der die kolonisierende Kultur in ihren expansiven Prämissen unsicher geworden und bereit ist, sich ihrerseits dem Fremden und Anderen der kolonisierten Kultur zuzuwenden.18

Ob christliche Sprachbilder die chinesische Tradition tatsächlich verstehbar werden lassen oder ob sie diese nicht vielmehr verstellen, sei dahingestellt. Vereinzelt zeigen jedenfalls bereits Zeitgenossen des frühen „Dao-Fiebers“19 eine gewisse Skepsis hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeiten, die Immanenz des eigenen kulturellen Horizontes zu überschreiten. So schreibt etwa Kurt Glaser im Literarischen Echo über den Romanhelden aus Döblins 1915 erschienenen überaus erfolgreichen Erstlingsroman Die drei Sprünge des Wang-lun: „Wang-lun ward nicht in China geboren, sondern in der Phantasie eines Europäers, und er ist darum wieder dem Europäer der wahrhaft glaubhafteste aller Chinesen.“20 Wie die Bestätigung etablierter westlicher China-Bilder bei der europäischen Leserschaft paradoxerweise den Anschein von Authentizität des dargestellten Chinas hervorruft, so vermitteln die vertrauten jüdischchristlichen Sprachbilder zumindest den Eindruck, die chinesische Tradition verstanden zu haben und tragen so zur anhebenden beispiellosen ChinaBegeisterung innerhalb bestimmter intellektueller Kreise im Westen bei.21 Die diesbezüglich wirkmächtigste Publikation Richard Wilhelms ist die zeitgleich mit Bubers Chinesischen Geister- und Liebesgeschichten erschienene Übersetzung des berühmten, Lao-Tse zugeschriebenen, Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben.22 Ebenfalls 1911 erscheint seine Übersetzung von Liä Dsis Das wahre Buch vom quellenden Urgrund, einem weiteren Klassiker daoistischer Literatur, aus dem zwei Jahre später ein Auszug in der Aktion abgedruckt wird.23 Erwähnenswert ist zudem der Band Chinesische Volksmärchen, ebenfalls in der Übersetzung Wilhelms, den Kafka offenbar kurz nach der Niederschrift von

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Heinrich Detering. „Anfänge einer modernen China-Rezeption in deutschen Kulturzeitschriften um 1900“. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2009) (2010), S. 402–418, S. 167. Pohl, s. Anm. 13, S. 4. Kurt Glaser. „Die drei Sprünge des Wang-lun. [Rezension]“. In: Das literarische Echo 18 (1916), Sp. 1347–1348, S. 1347. Gesamtgesellschaftlich betrachtet bleibt die häufig verklärende Sicht auf China gegenüber einer dominanteren, von kolonialistischen und ökonomischen Interessen geleiteten Perspektive auf eine kleine Minderheit beschränkt. Laotse. Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Übers. von Richard Wilhelm. Jena: Diederichs, 1911 (im Folgenden zit. als TTK). Liä Dsi. „Utopia“. In: Die Aktion 3 (50 1913), Sp. 1163–1164.

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Beim Bau der chinesischen Mauer an seine Schwester Ottla verschenkt, wobei die Widmung auf die eigene Erzählung anspielt.24 Wenn also die eingangs zitierten Zeilen einen nicht genannten Text rahmen, von dem mit guten Gründen, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, angenommen werden kann, dass es sich dabei um Ein altes Blatt – möglicherweise auch um eine andere China-Erzählung Kafkas – handeln sollte, und zwar in einer Weise, die diesen Text als „(vielleicht allzusehr europäisierende) Übersetzung einiger alter chinesischer Manuskriptblätter“ ausweist, so ruft dieses Framing die zeitgenössische Konjunktur neuer Übersetzungen älterer chinesischer, insbesondere daoistischer Literatur auf. Bemerkenswert ist, dass in diesem Zusammenhang die Zeitschrift Die Aktion referenziert wird, welche wiederholt eine Plattform für die Popularisierung solcher Übersetzungen bietet und nicht zuletzt auch ein wichtiges Forum für die in Kafkas Umfeld virulente kulturkritische Spielart des zeitgenössischen China-Diskurses darstellt. Damit wird nicht nur ein ungewöhnlich deutlicher Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit hergestellt – entscheidend ist, dass China als vielschichtiger und ambivalenter Gegenstand zeitgenössischer europäischer Interessen und Imaginationen verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Diese Interessen, Imaginationen und Sehnsüchte reichen von kolonialen Expansionsabsichten bis hin zur Hoffnung eine vom hegemonial sich ausdehnenden kapitalistischen Westen noch nicht völlig eingenommene Gegenwelt entdeckt zu haben, die alternative Modelle kollektiven Zusammenlebens bereitzuhalten verspricht. Denn nicht erst seit dem Krieg sehen viele v.a junge Intellektuelle das westliche Modell gesellschaftlicher Kohäsion in der Krise, insofern als die zunehmende ökonomische Verflechtung mit einem unaufhaltsamen Verlust von Gemeinschaft einherzugehen scheint. Die Aktion, deren Beiträger tendenziell zu einer solchermaßen verklärenden Perspektive auf China neigen, erscheint dabei als exponierter Schauplatz einer sich generell intensivierenden China-Rezeption. Entsprechend legt dieser kurze Text nahe, Kafkas Prosastücke mit China-Bezug25 – im Unterschied zum Gros der Forschungslitera-

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Der Text der Widmung lautet: „Für Ottla von dem ‚Schiffer, der polternd in seine Barke sprang‘. Vgl. FKH6, S. 5 f. Etwa in der ersten Hälfte des Jahres 1917 entstehen die ersten drei China-Texte: Beim Bau der chinesischen Mauer, Ein altes Blatt und die Ausgliederung der Binnenerzählung Eine kaiserliche Botschaft aus Beim Bau der chinesischen Mauer. Im Spätsommer 1920 folgen dann weitere drei Texte, die man Manfred Engel folgend dem China-Komplex zurechnen kann: „Die Abweisung“, Zur Frage der Gesetze und „Die Truppenaushebung“ vgl. Engel, „Entwürfe symbolischer Weltordnungen“, s. Anm. 5, S. 221 f.

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tur26 – nicht allegorisch auszudeuten und das in ihnen dargestellte China etwa als Chiffre für das untergehende Kaiserreich Österreich-Ungarn oder einen jüdischen Kulturraum zu vereindeutigen.27 Vielmehr sollen sie hier als Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen deutschsprachigen China-Diskurs gelesen werden, zumal sie sich – selbst ohne Rahmung – unübersehbar als von diesem überformt präsentieren. Besonders deutlich wird dies an den zahlreichen Anachronismen und Versatzstücken chinesischer Kultur, die vornehmlich in Beim Bau der chinesischen Mauer unterschiedliche, einander ausschließende Zeitabschnitte innerhalb der langen Geschichte Chinas anzeigen28 und Kafkas literarisches China als kondensierte Collage heterogener, häufig inkompatibler medialer Repräsentationen Chinas ausweisen. Die hier verfolgte diskursgeschichtliche Herangehensweise, die dem komplexen Wechselverhältnis zwischen Kafkas Chinatexten und dem zeitgenössischen China-Diskurs nachspürt, vermag somit zu berücksichtigen, dass sich diese Rezeption ihrerseits durchaus in hohem Maße von spezifisch europäischen, auch zionistischen Interessen und Problemlagen geprägt zeigt, ohne dabei Kafkas China auf einen bestimmten Kontext festlegen zu müssen. Besonderes Augenmerk soll im Rahmen dieser Arbeit auf solche Kon-Texte gelegt werden, in denen sich dieses neue Interesse an China, insbesondere an daoistischen Utopien herrschaftslosen Zusammenlebens, mit der Hoffnung auf Auswege aus jenen Aporien verbindet, denen man sich im Streben um Verwirklichung idealer Gemeinschaft ausgesetzt sieht. Im Folgenden gilt es nachzuzeichnen, in welcher Weise Kafkas China-Texte diesen zeitgenössi26

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Eine dezidierte Ausnahme stellt hingegen folgender Sammelband dar: Kristina Jobst und Harald Neumeyer, Hrsg. Kafkas China. Bd. 5. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017. Eine Auswahl solcher Deutungen listet Sara Landa auf, um sich kritisch davon abzugrenzen. Vgl. Sara Landa. „‚Vergleichende Völkergeschichte‘. Kafkas China zwischen geschichtsloser Statik und postrevolutionärem Umbruch“. In: Kafkas China. Hrsg. von Kristina Jobst und Harald Neumeyer. Bd. 5. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 105–119, S. 107 So fällt die Zeit, in der die Haare in China als Zopf (KKAN I, S. 356) getragen werden mussten, in die Zeit der Qing-Dynastie, während der Mauerbau in der Qin-Dynastie begonnen wurde und sich über mehr als 1500 Jahre bis in die Ming-Dynastie hinzog, wobei Peking, das bei Kafka explizit als Sitz des Kaisers ausgewiesen wird (KKAN I, S. 343), nur für eine sehr begrenzte Zeit und vor allem nicht zu Beginn des Mauerbaus die Hauptstadt des Reiches darstellte. Auf diese Inkonsistenzen haben u. a. Sara Landa und Yan Zhang hingewiesen. Vgl. Landa, s. Anm. 27, S. 110 und Yan Zhang. „Das Chinabild in Kafkas ‚Beim Bau der chinesischen Mauer‘“. In: China in der deutschen Literatur 1827–1988. Hrsg. von Uwe Japp und Aihong Jiang. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Peter Lang, 2012, S. 93–102, S. 95.

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schen China-Diskurs nicht nur bündeln und aufgreifen, sondern ihn auch umund fortschreiben. Die Herausforderung für Kafka scheint dabei zum einen darin zu bestehen, jene Utopien nicht nur im Rahmen kleiner überschaubarer, weltabgewandter Settings und somit nur zum Preis des Ausschlusses anderer funktionieren zu lassen, sondern gerade auch unter den Bedingungen großer unüberschaubarer Gebiete, die zeitweilig gar dem Zugriff staatlicher Autorität ausgesetzt sind, schreibend auszutesten. Während sich also Kafkas Zeitgenossen vielfach verklärend daoistischen Idealvorstellungen zuwenden und dazu neigen, deren inhärente Ambivalenzen und Aporien zu übergehen,29 werden sie – so meine These – in Kafkas Texten einer literarischen Überprüfung unterzogen. Dies gelingt durch Kafkas Poetik der Umschrift, die im Aufgreifen bestimmter Topoi oder Gemeinplätze unterschiedliche Perspektiven auf China versammelt und so eine Vielstimmigkeit erzeugt, in der einzelne Stimmen einander widersprechen oder ergänzen und „funktional differenzierte oder gar durch Zensur gegeneinander abgeschottete Wissensfelder“30 und Diskurse aufeinander bezogen werden können. Kafkas eigentümliche Schreibweise ruft dabei auch Settings daoistischer Utopien auf, lässt sie aber von diesen in gewissen Punkten abweichen und dabei immer wieder auch in dystopische Szenarien umschlagen, wodurch gewisse inhärente Aporien bzw. Ambivalenzen erfahrbar gemacht werden. Zunächst soll allerdings noch ausführlicher darauf eingegangen werden, wie sich dieser China-Diskurs in der Aktion darstellt, worauf er seinerseits reagiert und in welchem Maße er repräsentativ für die breitere Rezeption Chinas im deutschsprachigen Raum ist. 6.1 Die Aktion und die China-Diskurse um 1900 Kafkas Auseinandersetzung mit China fällt in eine Zeit, in der man sich im deutschsprachigen Raum – nicht zuletzt aufgrund der unter Kaiser Wilhelm II. 29

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So ist Buber in seinem Nachwort zu Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse stets bemüht, daoistische Utopien als positive Gegenentwürfe zur westlichen Lebensart darzustellen, während problematische Aspekte dieser Utopien nie Gegenstand seiner Auseinandersetzung werden. Vgl. Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, s. Anm. 15, S. 82–117. Selbiges gilt beispielsweise auch für Lowes Goldsworthy Dickinson. „Aus Briefen eines Chinesen“. In: Die Aktion 2 (41 1912), Sp. 1287–1293. Benno Wagner. „Kafkas ‚vergleichende Völkergeschichte‘. Eine Skizze zum Verhältnis von Literatur und kulturellem Wissen“. In: Aussiger Beiträge (2 2008), S. 89–99, S. 95.

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forcierten kolonialpolitischen Vorstöße31 – zunehmend für China zu interessieren beginnt. Eine Reihe politischer Ereignisse,32 in denen sich das Ende der seit Jahrtausenden bestehenden politischen Ordnung Chinas abzeichnet, steigert dieses Interesse und bringt zugleich eklatante Defizite im westlichen China-Wissen zu Bewusstsein:33 Das nicht zuletzt unter Berufung auf Herder nachhaltig verbreitete Bild Chinas als eines erstarrten, seit Jahrhunderten stagnierenden Reiches,34 dem die überlegene fortschrittliche abendländische Kultur gegenübergestellt werden konnte und mit dem sich die Kolonisierung chinesischer Gebiete legitimieren ließ, scheint sich plötzlich gewandelt zu haben und niemand vermag vorherzusagen, in welche Richtung sich das riesige Land im Osten fortan entwickeln würde35 – eine Ungewissheit, die in unterschiedlichen politischen Lagern sowohl Hoffnungen weckt, als auch Unsicherheiten und Ängste hervorruft. Entsprechend mehren sich jene Stimmen, die die Notwendigkeit betonen, sich mit China auseinanderzusetzen.36 31

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Bismarcks Verdikt, seine Weltkarte beinhalte nur Europa, hatte bis 1890 alle kolonialen Bestrebungen zurückgehalten. Unter Wilhelm II. versuchte man entsprechend die „verlorene“ Zeit rasch aufzuholen um mit den übrigen Kolonialmächten gleichzuziehen. Nur vordergründig diente daher die Ermordung zweier Missionare als Anlass zur Besetzung der Kiautschou-Bucht durch die preußische Marine 1897. Yixu Lü. „German colonial fiction on China. The Boxer Uprising of 1900“. In: German Life and Letters 59.1 (2006), S. 78– 100, S. 82 f. Neben der genannten Besetzung der Kiautschou-Bucht 1897 ist hier die gescheiterte ‚Hundert-Tage-Reform‘ von 1898 ebenso zu nennen wie der Boxeraufstand und seine Niederschlagung im Jahre 1900, die revolutionäre Erhebung von Wuhan im Oktober 1911, die Ausrufung der Republik am 1. Januar 1912 und die Abdankung des Kaisers am 12. Februar des selben Jahres. Vgl. u. a. Detering, s. Anm. 18, S. 155; Neumeyer, s. Anm. 7, S. 164. Dabei stützt man sich in äußerst selektiver Weise auf ältere zumeist ebenfalls von Vorurteilen geprägten europäischen China-Diskurse (vgl. Lü, s. Anm. 31, S. 99) und greift etwa Herders Bild von China als einer „balsamierte[n] Mumie“ auf. Johann Gottfried Herder. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. von Heinz Stolpe. Bd. 2. Berlin, Weimar: Aufbau, 1965, S. 16. Zu Herders negativem Chinabild und seiner Nachwirkung siehe auch: Andreas Steen. Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927. Hrsg. von Mechthild Leutner. Berlin: Akademie Verlag, 2006, S. 496; Wolfgang Bauer. „Die Rezeption der chinesischen Literatur in Deutschland und Europa“. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Ostasiatische Literaturen. Hrsg. von Günther Debon und Klaus von See. Bd. 23. Wiesbaden: Aula-Verlag, 1985, S. 159–192, S. 160 und Weidong Ren. „Das konstruierte China. Zur Darstellung des Paradoxen am Beispiel von Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer“. In: China in der deutschen Literatur 1827–1988. Hrsg. von Uwe Japp und Aihong Jiang. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Peter Lang, 2012, S. 79–85, S. 85. Vgl. Steen, s. Anm. 34, S. 496 f. Vgl. etwa Detering, s. Anm. 18, S. 165.

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In der Aktion ist es der deutsche Journalist und Publizist Otto Corbach, der dieser Argumentation folgt. Dabei zeigt sich an diesem Beiträger der Aktion der ersten Stunde, der sich zwischen 1900–1902 selbst in Tsingtau aufgehalten hatte,37 dass die Forderung nach einer fundierteren Auseinandersetzung mit China zwar Kritik an der kolonialen Praxis beinhaltet, aber nicht notwendig mit der Forderung nach einer grundsätzlichen Abkehr von imperialistischkolonialistischen Bestrebungen bzw. von der Verfolgung kultureller, politischer und ökonomischer Eigeninteressen einhergehen muss. In seinem Beitrag „Kulturpolitik“ in China kritisiert Corbach die deutsche Kolonialpolitik in Tsingtau, insbesondere die beschönigende und realitätsverweigernde Art ihrer Darstellung durch die staatlichen Behörden. Dabei lässt sich aber nicht immer klar entscheiden, ob bzw. inwieweit seine Kritik im Dienste einer ‚verbesserten‘ Kolonial- oder Außenpolitik steht, die sich tatsächlich um den von ihm konstatierten schwindenden europäischen Einfluss auf China und die mangelnde ökonomische Effizienz kolonialer Unternehmungen sorgt, oder ob er diese Perspektive nur vorgeblich einnimmt, um trotz staatlicher Zensur Kritik an dieser Politik üben zu können, die sich so gewissermaßen mit ihren eigenen Argumenten bekämpfen lässt. So bemängelt er etwa, dass westliche Regierungen große Summen dafür ausgegeben haben, die Chinesen „zur westländischen Lebensart zu bekehren“,38 während man das Geld besser darauf verwendet hätte, sich mit den Chinesen auseinanderzusetzen. Sein Plädoyer für die Beschäftigung mit China enthält dabei keinerlei Bekenntnis zu einem genuinen Interesse an der anderen Kultur, sondern stellt diese Beschäftigung vielmehr als Mittel zum Zweck dar, um im Wettstreit zwischen chinesischer und europäischer Kultur am Ende nicht gar zu unterliegen. Implizit wird damit die Überzeugung von der Überlegenheit westlicher Kultur in Frage gestellt. Seine Sprache zeugt deshalb aber keineswegs von einer Hoffnung auf einen wohlwollenden wechselseitigen kulturellen Austausch, der sich für beide Seiten lohnt, als vielmehr von einem Klima des Konflikts, der Rivalität und auch einer latenten Bedrohung, die von diesem aus Kulturdünkel notorisch unterschätzten, im Grunde unbekannt gebliebenen und intellektuell wie militärisch undurchdringlichen China ausgehe. Damit bleibt Corbachs Text auch für jenen Diskurs anschlussfähig,

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Vom 1. April 1901 bis 4. Oktober 1902 war er dort Herausgeber der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift Deutsch-Asiatische Warte – eine Stellung die er aufgrund seiner als zu kritisch erachteten Berichterstattung gegenüber der Administration Qingdaos wieder verlor. Otto Corbach. „‚Kulturpolitik‘ in China“. In: Die Aktion 1 (2 1911), Sp. 37–38, Sp. 38.

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der China als ‚gelbe Gefahr‘ bzw. als ‚erwachenden Koloss‘ darstellt.39 Etwa wenn er behauptet, dass „es für einen Europäer geradezu eine Lebensaufgabe bedeute, in den Geist der chinesischen Sprache und des chinesischen Volkes einzudringen“,40 wohingegen es für Chinesen ein Leichtes wäre, europäische Sprachen zu erlernen und sich so „Zugang zu den Quellen westländischer Bildung zu verschaffen“41 – eine Behauptung, die ihn zunächst noch zu dem Schluss führt, dass es gewissermaßen vor dem Hintergrund eines Wettbewerbs der Ideen effizienter wäre, den Chinesen selbst die Aneignung der ihnen überlegenen westlichen Kultur zu überlassen, denn „[d]ie Chinesen werden sich schon von selbst unsere geistigen Waffen zu eigen zu machen wissen, und sie sind die letzten, die nicht das Beste, was für sie geeignet ist, dort suchen würden, wo es zu finden ist.“42 Indem er die „Quellen westländischer Bildung“ als geistige Waffen darstellt, die sich potentiell gegen den Westen selbst richten lassen, stellt er allerdings zugleich die Sinnhaftigkeit solcher Vermittlung insgesamt in Frage. Zunehmend erscheint Kulturkontakt als unerwünschtes Eindringen gegen den Willen des jeweils anderen, wodurch vorerst nur implizit die Metapher einer Vergewaltigung eingeführt wird. In einem sieben Monate später ebenfalls in der Aktion erschienenen Beitrag, der die Ereignisse um den zu diesem Zeitpunkt elf Jahre zurückliegenden Boxeraufstand sowie seine Niederschlagung Revue passieren lässt, verwendet Corbach dieses Bild explizit im Hinblick auf die territoriale Souveränität Chinas, wenn er schreibt: „Das chinesische Reich ist zu riesig an Ausdehnung, das chinesische Volk zu ungeheuer an Zahl, um mit militärischen Mitteln vergewaltigt werden zu können.“43 Dies sei im Zuge des mit großen Ausgaben verbundenen und am Ende kaum lohnenden Boxerkrieges deutlich geworden, der „die Illusionen derer zerstört [habe], die sich China als großen Kuchen vorstellten, über dessen Verteilung man sich nur zu einigen brauchte, um sich seiner zu bemächtigen.“44 Aufgrund kolonialistischen Überlegenheitsdenkens und mangelnder Kenntnis, so lassen sich Corbachs Analysen zusammenfassen, habe man die aus den topographischen Gegebenheiten, den demographischen Verhältnissen und kulturellen Eigenheiten herrührende Abgeschlossenheit Chinas45 unterschätzt, 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. dazu ausführlicher Steen, s. Anm. 34, S. 496 ff. Corbach, „‚Kulturpolitik‘ in China“, s. Anm. 38, Sp. 38. Ebd., Sp. 38. Ebd., Sp. 38. Corbach, „China“, s. Anm. 8, Sp. 1095. Ebd., Sp. 1095. Die Abgeschlossenheit Chinas nach außen ist ein verbreiteter Topos der westlichen Chinarezeption und bezieht sich häufig auch auf die ökonomische Abschottungspolitik, de-

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die die intellektuelle wie militärische Durchdringung ebenso durchkreuzt, wie sie das Nach-außen-Dringen zuverlässiger Information verhindert. Mit dieser Argumentationsfigur, die gegen alle Widerstände „im Nachholen grundlegender Kulturkenntnisse die wesentliche Voraussetzung einer notwendig neuen Chinapolitik sieht“,46 ist Corbach jedenfalls Teil eines breiteren Diskurses, der bereits um 1900 einsetzt47 und in weiterer Folge tatsächlich zahlreiche Bemühungen nach sich zieht, ein auf Daten und Fakten gestütztes Wissen über Chinas Topographie, Kultur- und Zeitgeschichte sowie seine sozialen und politischen Verhältnisse zu generieren: Harald Neumeyer, der seine Rekonstruktion dieses China-Wissens auf eine breite Basis unterschiedlicher Quellen wie Zeitschriftenartikel, Reiseberichte und Wissenschaftsstudien stellt, charakterisiert dieses Wissen folgendermaßen: In der Auseinandersetzung mit China zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildet sich eine vielschichtige Gemengelage an politischen Themen und Fragestellungen aus. Dieses Konglomerat kreist inhaltlich um die Konstitution von Souveränität, um die Ritualisierung von Macht, um die Relation von Herrscher und Untertan, um die Verwaltung und Sicherung eines Territoriums, um die administrative Verschaltung und kommunikative Vernetzung von Zentrum und Peripherie und um ein technischen Neuerungen und politischen Reformen widerstrebendes Volk, dem sich Rechtmäßigkeit durch Überlieferung herstellt. Es berührt die politikgeschichtlichen und kulturphilosophischen Grundfragen nach den Differenzen von Reich, Staat und Nation und nach der Unterscheidung von Natur- und Kulturzustand. Es verbindet sich mit Krisendiagnosen und Zukunftsprognosen, die den Zustand eines etablierten Ordnungssystems und dessen Entwicklungspotentiale ausloten. Und es speist sich aus der Analyse von Architekturen und Mentalitäten ebenso wie aus der Beobachtung politischer Prozeduren, behördlicher Techniken und kultureller Zeremonien.48

Zum überwiegenden Teil bleibt dieses Wissen – selbst da, wo es sich auf chinesische Kulturgeschichte bezieht – tatsächlich ganz im Dienste einer „verbesserten Kolonialpolitik“,49 eines Aufholens von Versäumnissen um die eigene Ausgangslage im Kampf der Kulturen zu verbessern oder allgemeiner: um den kulturellen, politischen und vor allem ökonomischen Einfluss auf diese Weltregion mit ihrem gigantischen Reservoire an Arbeitskräften, die zugleich einen enormen potentiellen Absatzmarkt darstellt, zu vergrößern. Zudem wird dieses Wissen auch strategisch in der deutschen Unterhaltungs- insbesonde-

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ren Ende mit den Opiumkriegen und den sogenannten Ungleichen Verträgen erzwungen worden war. Detering, s. Anm. 18, S. 165. Vgl. dazu auch Neumeyer, s. Anm. 7, S. 164 f. Ebd., S. 179 f. Detering, s. Anm. 18, S. 164.

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re Kriegs- und Abenteuerliteratur eingesetzt, die sich um 1900 zunehmend China zuwendet und als Instrument der Aneignung fungiert. Durch den Einbezug dieses Wissens konnte innerhalb kürzester Zeit einer breiten deutschen Leserschaft das Gefühl vermittelt werden, jene neuen exotischen Settings für die altbekannten plots wirklich zu besitzen, obgleich sie noch vor wenigen Jahren kaum mehr waren, als mit Klischees besetzte Namen.50 Mitunter richtet sich das neuartige Interesse aber auch gegen diese kolonialistisch-imperialistische Politik und ihre ideologischen Prämissen selbst, ja gegen eine westlich-kapitalistische Gesellschaft insgesamt, die als eine in die Krise geratene, wenn nicht gar an ihr Ende kommende Kultur wahrgenommen wird – eine kulturkritisch bis kulturpessimistische Haltung, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg verbreitet war und durch den Fortgang des Kriegs vermehrt Anhänger findet. Dabei überwiegen in der Aktion solche Beiträge, die sich dieser pazifistisch orientierten, antiimperialistischen Gegenbewegung zuordnen lassen, wobei festzuhalten ist, dass dieser gemeinsamen Stoßrichtung keine Homogenität der politischen Motive bzw. Haltungen zugrunde liegt. Diese reichen von kulturpessimistisch-konservativ, rückwärtsgewandt, verklärend über anarchistisch bis progressiv-revolutionär und stellen nicht selten eine Kombination all dieser Tendenzen dar. Während also im Mainstream der deutschen Unterhaltungsliteratur mit Chinabezug das den Kolonialismus legitimierende, rassistische White-SupremacyNarrativ massenwirksam verbreitet wird, erinnert man in der Aktion etwa an eine im 18. Jahrhundert aufkommende Tradition innerhalb der westlichen China-Rezeption, die von der Überzeugung einer geistigen und moralischen Überlegenheit der Chinesen geprägt war.51 So stellt der in der Aktion abgedruckte Text Aus Briefen eines Chinesen52 des britischen Politikwissenschaftlers und Philosophen Goldsworthy Lowes Dickinson eine Reminiszenz an das durch Montesquieus Lettres persanes (1721) berühmt gewordene Subgenre des Briefromans dar, bei dem sich stets der vorgebliche Blick des Fremden kritisch auf die europäischen Gesellschaften richtet.

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Vgl. Lü, s. Anm. 31, S. 86. Ausführlicher zu dieser Tradition vgl. Bauer, s. Anm. 34, S. 168. Dabei handelt es sich um Übersetzungen einer Passage aus Brief II aus Goldsworthy Lowes Dickinson. Letters from John Chinaman. [anonym erschienen]. London: R. Brimley Johnson, 1901, S. 10–16 bzw. Lowes Goldsworthy Dickinson. Letters from a Chinese official, being an Eastern view of Western civilization. New York: McClure, Phillips & Co., 1903, S. 11–18.

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Bereits 1739 wird diese Gattung vom Marquis d’Argens auf China gemünzt.53 In den folgenden Jahrzehnten bleibt diese chinaaffine Spielart, in der die chinesischen Verhältnisse meist als utopische Gegenentwürfe zum Westen erscheinen, für deren Konstruktion man sich in erster Linie auf die weitgehend wohlwollend-positive Rezeption chinesischer Philosophie durch jesuitische Missionare stützt, äußerst populär.54 Nachhaltigere Bekanntheit erlangt etwa Oliver Goldsmiths The Citizen of the World (1760/61), der noch über hundert Jahre später den expliziten Bezugspunkt für Mark Twains Adaption des Genres darstellt.55 Mit Dikinsons 1901 anonym unter dem Titel Letters from John Chinaman publizierten Text,56 der ab 1903 auch in Amerika als Letters from a Chinese official, being an Eastern view of Western civilization erscheint, erhält das Genre eine neuerliche Aktualisierung. In jenem in der Aktion abgedruckten Ausschnitt wendet sich der anonym bleibende chinesische Erzähler als Vertreter der Chinesischen Bevölkerung und Lebensart – Pfemfert führt ihn in einem kurzen, vorangestellten Einleitungstext als chinesischen Sozialisten ein57 – an die Menschen im Westen, unter denen er seit längerem lebt und reagiert auf die westliche Anmaßung, China zivilisieren zu wollen. Der gemeinhin universalistisch und rassistisch begründeten Überlegenheit des Westens begegnet er mit der Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen chinesischen Kultur, beschränkt die Geltung dieses Urteils allerdings nur auf den chinesischen Kulturraum. Dabei suggeriert dieses performativ zur Schau gestellte Wissen um die Beschränktheit der eigenen Perspektive zugleich eine gewisse Superiorität im direkten Kulturvergleich:

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Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens: Lettres chinoises, ou Correspondance philosophique, historique & critique, entre un chinois voyageur & ses correspondans à la Chine, en Moscovie, en Perse & au Japon. (A La Haye, chez Pierre Paupie 1739–1740) Bauer, s. Anm. 34, S. 169. Zwischen September 1870 und Januar 1871 veröffentlicht Mark Twain in der Zeitschrift Galaxy eine Serie „Chinesischer Briefe“ unter Titeln wie John Chinaman in New York und Goldsmith’s friend abroad again (Letters I–VII). Die ersten vier Briefe erschienen vorab in der Saturday Review of Politics, Literature, Science and Art unter dem Titel “From the Chinese Point of View” in den Ausgaben vom 12. Januar 1901, S. 47–48; 19. Januar 1901, S. 78–79; 26. Januar 1901, S. 109–110 und 2. Februar 1901, S. 140. Als Autor wurde John Chinaman angegeben – vermutlich eine Anspielung auf die erwähnte Veröffentlichung Mark Twains. Vgl. Dickinson, „Aus Briefen eines Chinesen“, s. Anm. 29, Sp. 1287.

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Allerdings sind wir überzeugt, dass unsere Religion vernunftsgemässer ist als eure, unsere Moralität höher, unsere Einrichtungen vollkommener; aber wir anerkennen, dass, was für uns entsprechend ist, anderen schlecht angepasst sein mag.58

Was China dem Westen voraus hat, ist demnach die Tatsache, dass die eigene Kultur eben nicht verabsolutiert und zum Maßstab für alle anderen erhoben wird, so die Argumentation von Dickinsons fiktivem Briefschreiber, die durchaus im Widerspruch zu zeitgenössischen westlichen Darstellungen chinesischer Mentalität stehen, die überwiegend Kulturdünkel und die Selbstwahrnehmung als Reich der Mitte, d. h. als politisches und kulturelles Zentrum der Welt hervorheben.59 In weiterer Folge erwägt er die negativen Folgen, die der unter dem Deckmantel der Zivilisierung geforderte Umbau der chinesischen Gesellschaft von autarker Subsistenzwirtschaft hin zu kapitalistischer Marktwirtschaft für das „nationale Wohlergehen“ seines Volkes bedeuten würde und hält diesen, am Westen bereits ablesbaren Folgen, die idyllisch-utopisch anmutenden chinesischen Verhältnisse entgegen, die er noch aus seinen Jugendtagen erinnert. Trotz vorgeblich chinesischer Perspektive bleibt die stark idealisiert dargestellte chinesische Kultur aufgrund ihrer antagonistischen Entgegensetzung zur westlichen nahezu Punkt für Punkt auf diese bezogen: Wenn im kapitalistischen Wirtschaftssystem Europas der Grund für dessen Imperialismus erkannt wird, insofern dieses auf Wachstum angewiesene System die Erschließung immer neuer Märkte erfordere, so basieren die idyllischen Verhältnisse seiner Jugend vor allem auf der Tugend der Selbstgenügsamkeit. Und während die Zerstörung der Natur, allgegenwärtiger Lärm, Luftverschmutzung, Kriegstreiberei, eine ausufernde Gesetzgebung, die Degradierung arbeitender Menschen zu einem bloßen Mittel zum Zweck sowie der Verlust gemeinschaftlicher, naturwüchsiger Bindungen letztlich als negative Begleiterscheinungen jener Handelsbeziehungen identifiziert werden, die im Westen gemeinhin als friedenssichernd gelten, tatsächlich aber den europäischen Kontinent mitsamt seiner Handelspartner „in absehbare Nähe eines allgemeinen Vernichtungs-

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Ebd., Sp. 1287. Vgl. etwa Julius Dittmar. Im neuen China. Reiseeindrücke von J. Dittmar. Hrsg. von Nicolaus Henningsen. Bd. 24. Schaffsteins Grüne Bändchen. Cöln am Rhein: Hermann & Friedrich Schaffstein, 1912, S. 36. Für weitere Quellen siehe auch Neumeyer, s. Anm. 7, S. 164, Fußnote 18 und S. 169 f. Ähnlich fällt die Bewertung diesbezüglich etwa auch bei Wolfgang Bauer aus. Ihm zufolge empfanden sich sowohl China als auch Europa „als einzige Zentren der Kultur, die sonnengleich ihre Strahlen in den Raum des sie umgebenden Barbarentums aussandten.“ Bauer, s. Anm. 34, S. 159.

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krieges gebracht haben“,60 zeichnet sich die chinesische Gegenwelt durch maßvolles Kultivieren der Natur, Ruhe und Harmonie, reichlich Sonnenlicht, Friedfertigkeit, Ausschließlichkeit von Gewohnheitsrecht, Abwesenheit institutionalisierter Herrschaft und gegenseitige Wertschätzung sowie durch eine Verbundenheit der Generationen mittels einer noch nicht von der Natur entfremdeten Arbeit aus: […] in diesem lieblichen Tal leben tausende von Menschen ohne irgend welche Gesetze, ausser jenen der Gewohnheit, ohne jede Herrschaft, ausser jener ihres eigenen Herzens. Arbeitsam sind sie von einem Arbeitsfleiss, wie ihr ihn im Westen kaum kennt, aber es ist die Arbeit freier Menschen […] Und wenn es in jeder Generation einige gibt, die in die Welt hinaus müssen, so tun sie dies mit der […] Hoffnung, zu ihrem Geburtsort zurückzukehren […].61

Obwohl sich Dickinson bei der Ausgestaltung seiner chinesischen Gegenwelt offenbar auch von Büchern über daoistische und insbesondere konfunzianistische Philosophie inspirieren ließ,62 bestätigt er in jenem Aufsatz, in dem er sich als Autor der Briefe zu erkennen gibt, rückblickend selbst, dass die höchst selektive, idealisierende Darstellung der chinesischen Verhältnisse und Institutionen in Letters from a Chinese Official für ihn lediglich eine untergeordnete Rolle eingenommen habe, dass ihm die vorgeblich chinesische Perspektive letztlich als bloßes Gestaltungsmittel gedient habe „to expose what appeared to me to be the weak points of Western civilisation.“63 Entsprechend detailarm und ahistorisch erscheint diese chinesische Gegenwelt, die sich – blickt man etwa auf den Topos der weitgehenden Abgeschlossenheit Chinas – keineswegs befreit zeigt von den gängigen China-Stereotypen.64 Zudem wird 60

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Dickinson, „Aus Briefen eines Chinesen“, s. Anm. 29, Sp. 1290. U. a. aufgrund dieser Prophezeiung, die sich rückblickend als richtig herausgestellt hat, druckt Pfemfert den Text 1917 erneut ab. Roger Pfemfert, Hrsg. Das Aktionsbuch. Berlin-Wilmersdorf: Verlag Die Aktion, 1917, S. 77–84. Dickinson, „Aus Briefen eines Chinesen“, s. Anm. 29, Sp. 1292. Vgl. Yaqing Xie. „G. L. Dickinson and China. Behind the mask of John Chinaman“. In: English Literature in Transition, 1880-1920 61.4 (2018), S. 496–519, S. 500 f. Xie verweist unter Rückgriff auf Edward M. Foster: Goldsworthy Lowes Dickinson. London: Edward Arnold & Co., 1934, S. 142 auf Herbert Giles’ Gems of Chinese Literature (1884) and Eugene Simons La Cité Chinoise (1885). Vor allem letzteres konstruiere „China as a peaceable, harmonious and agrarian Arcadia.“ ebd., S. 500 Darüber hinaus fänden sich in Dickinsons Privatbibliothek weitere China-Bücher, die weiteres Material für Dickinsons China-Imaginationen geliefert haben sollen. Vgl. ebd., S. 500. Lowes Goldsworthy Dickinson. „Eastern and Western Ideals. Being a Rejoinder to William Jennings Bryan“. In: The Century Magazine 12 (1906), S. 313–315, S. 313. Dieser Umstand konnte allerdings nicht verhindern, dass die chinesische Perspektive vielfach für authentisch gehalten wurde. So auch von William Jennings Bryan, einem ameri-

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deutlich, wie eng progressive Kapitalismuskritik, Antikolonialismus und Antiimperialismus mit nostalgisch-verklärten, rückwärtsgewandten, konservativreaktionären Positionen mitunter verzahnt sein konnten. Wenn soeben etwas detaillierter auf diesen im Kontext der politischen Ereignisse in China überaus populär gewordenen Text65 eingegangen wurde, so nicht, um ihn als Prätext für Kafkas Chinaerzählung zu präsentieren – auch wenn gewisse Übereinstimmungen in diese Richtung zu deuten scheinen66 –, sondern weil er innerhalb der kulturkritisch-antiimperialistischen Gegenbewegung zum kolonialistischen Mainstream exemplarisch eine Verschiebung des Fokus der Aufmerksamkeit vom Westen hin zum Osten markiert, die sich in einer erkennbaren Diskrepanz zwischen Autorintention und Rezeption niederschlägt. Denn obwohl Dickinson ausdrücklich und wiederholt betont, der Westen stelle den zentralen Gegenstand seines Interesses dar67 und ihm China wohl

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kanischen Politiker, der gar ein Buch schrieb, um die westliche Zivilisation zu verteidigen und zu kritisieren, dass der vermeintlich chinesische Autor das Christentum gänzlich außen vor gelassen hatte. Auf ihn bezieht sich Dickinsons Replik in The Century Magazine. Bereits 1911 werden die ersten beiden Briefe auch ins Chinesische übersetzt. Vgl. Xie, s. Anm. 62, S. 498. Sowohl durch die fingierte chinesische Erzählperspektive Dickinsons als auch durch die überhebliche Haltung seines Erzählers, die am Ende doch partiell wieder zurückgenommen wird, indem der Erzähler die Beschränktheit seiner Perspektive anerkennt, gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zu Beim Bau der Chinesischen Mauer und Ein altes Blatt. Auch dort nehmen beide Erzähler eine chinesische Perspektive von fraglicher Authentizität ein und werten die eigene Kultur stark auf, während etwa jene der Nomaden permanent abgewertet wird. So betont der Erzähler in Beim Bau der chinesischen Mauer in einer gestrichenen Stelle gerade in jenem Moment, als er sich als vergleichender Völkergeschichtler zu erkennen gibt, und also – wie Dickinson dies versucht – die Immanenz der eigenen Perspektive für durchbrochen erklärt, die Überlegenheit seiner Kultur: „Ich habe mich, schon teilweise während des Mauerbaues und nachher bis heute fast ausschließlich mit vergleichender Völkergeschichte beschäftigt – es gibt bestimmte Fragen denen man nur mit diesem Mittel gewissermaßen an den Nerv herankommt – und ich habe dabei gefunden, dass wir Chinesen, denen ich übrigens gerade auf Grund meiner Wissenschaft den Vorzug vor allen Völkern der Erde gebe, soweit sie mir bekannt sind gewisse volkliche und staatliche Einrichtungen in einzigartiger Klarheit, andere wieder in einzigartiger Unklarheit besitzen.“ KKAN I, S. 348; KKAN I App., S. 294. Wie Dickinsons Chinese die erst zur Schau gestellte Überlegenheit durch die Beschränkung der Gültigkeit seines Urteils auf den Bereich der eigenen Kultur wieder etwas relativiert, so wird auch in Kafkas Text die eigene Überlegenheit – zumindest an dieser Stelle – getilgt und der Gegenstand auf das Feld des Eigenen eingeschränkt. „I do not […] propose to defend my representation of China against Mr. Bryan’s. For my purpose I selected all the good, as he, for his, has selected all the evil; […] Like Mr. Bryan, I am a Westerner; it is Western civilization with which we are both most nearly concerned;

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Wuwei: Kafkas China-Erzählungen und zeitgenössische China-Diskurse

aufgrund der aktuellen Konjunktur im öffentlichen Diskurs als Folie für eine utopische Gegenwelt zum Westen gedient haben dürfte, fällt die Suggestion, die chinesische Kultur könne eine Alternative zur in die Krise geratenen westlichen Zivilisation bieten, bzw. Wege aus der Krise weisen oder auch die westlich-rationalistische Kultur als ihr Gegenstück komplettieren, vielfach auf fruchtbaren Boden.68 Zwar bleibt damit das Interesse an China weiterhin von spezifisch europäischen Motiven, Projektionen und Erwartungshaltungen geprägt, dennoch wird die chinesische Kultur, insbesondere die chinesische Philosophie, als Quelle für eine potentielle Überwindung der vielfach diagnostizierten kulturellen Krise ernst genommen. So bieten der Konfuzianismus, insbesondere aber der Daoismus, zahlreiche Anknüpfungspunkte für unterschiedliche zunächst noch überwiegend in den Alternativkulturen vorherrschende Bewegungen wie den Anarchismus, den Pazifismus, die sozialradikalistische Lebensreformbewegung und nicht zuletzt für den Kulturzionismus um Martin Buber, der auf die Verwirklichung eines idealen, jüdischen, in letzter Konsequenz potentiell die gesamte Menschheit umfassendes Gemeinwesens zielt und die genannten, nicht immer scharf voneinander abzugrenzenden, Denkrichtungen ebenso mitprägt wie amalgamiert. Im Zentrum des Interesses all dieser Strömungen stehen dabei utopische Szenarien der klassischen daoistischen Literatur, die vom Leben und Zusammenleben im Einklang mit Dao geprägt sind. Dao bezeichnet dabei den Ursprung und die Einheit alles Seienden bzw. jenes Wirkprinzip, das die Ordnung und Wandlung der Dinge bestimmt. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Begriff wuwei, was sich mit ‚Nicht-Handeln‘ oder besser noch mit ‚Handeln durch Nicht-Handeln‘ übersetzen lässt.69 Gemeint ist damit ein intuitives, müheloses Handeln im Einklang mit diesem waltenden Prinzip bzw. mit dieser ‚natürlichen’ Ordnung. Wuwei ist also nicht mit Untätigkeit im gängigen Sinne gleichzusetzen, vielmehr bezieht sich dieses Nicht-Handeln auf ein Unterlassen jeglichen Eingreifens in den unterstellten ‚natürlichen‘ Lauf der Dinge. In mehreren daoistischen Texten, allen voran

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[…] I have made it, I hope, sufficiently clear that it is as a Westerner, in sympathy with Western ideals, that I have attacked the Western achievement. […] Essentially, I think, we do not disagree; for while asserting, what I am not concerned to dispute, the superiority of Western to Eastern civilization, he admits, nevertheless, the vices with which I charge our society.“ Dickinson, „Eastern and Western Ideals. Being a Rejoinder to William Jennings Bryan“, s. Anm. 63, S. 313 f., S. 316. Dabei ist festzuhalten, dass die China-Begeisterung Teil einer breiteren Asienbegeisterung darstellt. Richard Wilhelm übersetzt wuwei auch als „Wirken[] ohne Handeln“ Vgl. TTK, S. 90.

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im Daodejing 70 wird diese (Nicht-)Handlungsmaxime insbesondere den Herrschern angeraten,71 wobei der ideale Fluchtpunkt dieses Denkens die gänzliche Herrscherlosigkeit (wujun72 oder wujunlun73 ) darstellt. Mit dem Abdruck von Utopia, einem Kapitel aus Liezis Das wahre Buch vom quellenden Urgrund in der Übersetzung Richard Wilhelms, macht die Aktion einen Text zugänglich, der diese im Daodejing und bei Zhuangzi (d. i. TschuangTse) etablierten Konzepte74 zugleich voraussetzt und veranschaulicht. Dabei lässt bereits der Titel erkennen, wie stark schon die Übersetzung von der westlichen Sehnsucht und Suche nach östlichen Alternativen bestimmt ist und die Rezeption in entsprechende Bahnen zu lenken versucht.75 Die kurze Parabel handelt vom sogenannten Herrn der gelben Erde, der sich zunächst daran erfreut, dass die Welt ihm dient. Nach einer Zeit, in der er seine privilegierte Position auskostet, bemerkt er, dass die Welt in Unordnung geraten war und versucht unter Einbezug seiner Weisheit am Volke zu arbeiten. Alle Anstrengung endet allerdings in der Erkenntnis, dass sowohl „[a]llein sein Selbst zu pflegen“,76 als auch alle Welt ordnen zu wollen, nur Leid und weitere Unordnung brächten.77 Nach drei Monaten des Rückzugs aus den Regierungsgeschäften hat der Herrscher einen Traum, in dem er sich im Reich der Hua Sü wähnt, einem utopischen Reich ohne Herrscher (wujun) und Begierden, in dem die Menschen selbstständig und gleichmütig, d. h. ohne Liebe, aber auch ohne Hass zusammenleben, was von der bereits im Daodejing dargelegten Einsicht zeugt, dass im Rahmen dualistischen Denkens mit 70 71 72

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Gemäß älterer Transkriptionen Tao Te King geschrieben. Vgl. etwa TTK, S. 5, 19. Dieser Ausdruck der Wei-Jin-Daoisten bedeutet wörtlich „ohne Prinz/ohne Herrscher“. Vgl. John A Rapp. Daoism and Anarchism. London: Continuum, 2012. URL: http://www. bloomsburycollections.com/book/daoism-and-anarchism-critiques-of-state-autonomyin-ancient-and-modern-china/main-thesis-of-this-book (besucht am 06. 01. 2023), S. 5. Gotelind Müller. China, Kropotkin und der Anarchismus. Hrsg. von Peter Greiner. Freiburger Fernöstliche Forschungen Band 5. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2001, S. 111 übersetzt diesen Begriff mit „Fürstenlosigkeit“ und weist mit Rückgriff auf Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen in der Geistesgeschichte Chinas. München 1974, S. 237, darauf hin, dass mit dem Terminus wujun auch eine explizite Ablehnung des konfuzianischen Idealmenschen (junzi) ausgedrückt wurde. Während wuwei bereits im Daodejing neben Dao den zentralen Begriff darstellt, taucht der Begriff wujun und damit die Vorstellung einer Gesellschaft gänzlich ohne Herrscher erst bei Zhuangzi auf. Vgl. ebd., S. 110 f. Dies zeigt sich auch in anderen Übersetzungen Wilhelms, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Liä Dsi, s. Anm. 23, Sp. 1163. Diese Erkenntnis korrespondiert mit zahlreichen Stellen im Daodejing, etwa mit Kapitel 3, 19, 29, 32, 37 oder auch 57. Vgl. TTK, S. 5, 21, 31, 34, 39, 62.

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der Liebe auch der Hass und mit dem Nutzen der Schaden mitgesetzt seien.78 Nachdem er erwacht, erkennt er, dass der letzte Sinn, den er unwillkürlich im Traum erfahren hat, nicht durch leidenschaftliches Suchen gefunden werden könne und sich auch nicht mitteilen lässt. Bis zu seinem Tode bleibt er im Amt, wobei der Text über keine weiteren Aktivitäten seiner Regentschaft Auskunft gibt. Dies ist nur konsequent, denn damit wird implizit suggeriert, der Herrscher habe fortan ganz im Sinne des wuwei regiert79 – erkennt man doch gemäß Kapitel 17 des Daodejing den in dieser Hinsicht ganz großen Herrscher daran, dass „das Volk nur eben [weiß], daß er da ist“ und denkt „‚Wir sind selbständig.‘“ Entsprechend ist auch am Ende der Erdkreis in guter Ordnung, „fast wie das Reich der Hua Sü“.80 Mit dem anfänglichen wohlmeinenden Ordnen des Reichs kraft der eigenen Weisheit wird das konfuzianistische Ideal des benevolent rule aufgerufen. Diesem Konzept begegnet Utopia in Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Texten des daoistischen Kanons, allen voran dem Daodejing, mit Ablehnung.81 Die Einsicht in das Wesen und die Zusammenhänge der Dinge erweist sich stets als unzureichend und das eingreifende Handeln der Weisen endet trotz guter Absichten immer in der Katastrophe.82 Diesem konfuzianischen Ideal wohlmeinender Herrschaft wird zunächst das in daoistischen Schriften immer wieder propagierte Ideal herrschaftslo78 79

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Diese Einsicht drückt sich etwa auch in Kapitel 2 des Daodejing aus. Kapitel 58 leitet daraus Maximen zum Regieren ab. Vgl. TTK, S. 4, 63. Auch darin stimmt Utopia mit dem Daodejing überein. In Kapitel 17 heißt es entsprechend: „Herrscht ein ganz Großer, so weiß das Volk nur eben, daß er da ist. /Mindere werden geliebt und gelobt, /noch Mindere werden gefürchtet, /noch Mindere werden mißachtet. /Wie überlegt waren jene [ganz Großen] im Werten ihrer Worte! /Die Werke wurden vollbracht, die Arbeit wurde getan, /und die Leute im Volk dachten alle: /‚Wir sind selbständig.‘“ TTK, S. 19. Liä Dsi, s. Anm. 23, Sp. 1164. Auch Kapitel 3 des Daodejing stellt explizit diesen Zusammenhang zwischen wuwei und einer sich einstellenden Ordnung her. Dort heißt es am Ende: „Das Nicht-Handeln üben: so kommt alles in Ordnung.“ TTK, S. 5. Zur Skepsis in daoistischen Texten gegen das konfuzianische Ideal des benevolent rule vgl. John A Rapp: Daoism and Anarchism. Critiques of State Autonomy in Ancient and Modern China. London 2012, S. 52. Ein weiteres Beispiel wäre etwa Zhuangzis Erzählung Sinne: „Der Herrscher des Südmeeres hieß Schu [Plötzlich]. /Der Herrscher des Nordmeeres hieß Hu [Achtlos]. /Der Herrscher der Mittelzone hieß Hun-Tun [Das ungeschiedene Urwesen]. /Schu und Hu begegneten einander oft auf Hun-Tuns Gebiet. /Da er ihnen stets Freundliches erwies, beschlossen sie, sein Wohlwollen zu vergelten. /Sie sagten: ‚Alle Menschen haben sieben Bohrlöcher, / – für Sehen, Hören, Essen und Atmen. Hun-Tun allein hat keins. Wir wollen ihm welche bohren.‘ /So bohrten sie jeden Tag ein Loch. /Am siebenten Tage starb Hun-Tun.“ Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, s. Anm. 15, S. 39.

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sen, antihierarchischen Zusammenlebens entgegengestellt,83 das sich in der Parabel im erträumten Reich der Hua Sü ausdrückt. Unmittelbar nachdem es in den Text eingeführt wird, folgt eine längere Beschreibung des Reichs und seiner Bewohner. Gleich an erster Stelle und damit besonders hervorgehoben, stellt der Erzähler fest: „Dieses Reich hatte keine Herrscher: es geht alles von selber“84 . D. h. ohne dass Zwang ausgeübt würde, werden alle notwendigen Arbeiten erledigt. In Utopia scheint sich die Skepsis gegenüber einer Verwirklichung von Idealvorstellungen, sofern diese Produkte der eigenen begrenzten Weisheit und durch Worte vermittelt sind, nicht nur auf die Ideale der Konfuzianisten zu beschränken, sondern auch die eigenen Idealvorstellungen miteinzubegreifen, denn trotz seines folgenreichen Traums bleibt der Herr der gelben Erde fortan dennoch im Amt. Und obwohl seine nunmehrige Herrschaft durch wuwei geprägt zu sein scheint, ist das utopische Ideal, das dieser Traum vermittelt, die tatsächliche ‚Herrscherlosigkeit‘ (wujun), wie sie das Reich der Hua Sü auszeichnet, somit nur fast erreicht.85 Anstatt also das Ideal kompromisslos zu verwirklichen und die Machtposition tatsächlich unbesetzt zu lassen, wird sie mit einem Platzhalter belegt – mit einem „untätigen“ Herrscher, der lediglich dafür sorgt, dass die Dinge ihren durch Dao bestimmten Lauf nehmen können und der entsprechend verhindert, dass sich früher oder später wieder

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Ein weiteres berühmtes Beispiel wäre etwa Zhuangzis Parabel Der Totenschädel, die in Martin Bubers Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse enthalten ist. Darin findet Tschuang-Tse einen Totenkopf, den er als Kissen benutzt, um im Traum mit ihm in ein Gespräch über das Wesen des Todes zu kommen und erhält folgende Antwort: „Im Tode ist kein Oberherr und kein Untertan. […] Die Seligkeit eines Fürsten unter den Menschen ist nichts vor unsrer Seligkeit.“ ebd., S. 64. Auffällig ist, dass dieses Ideal stets nur im Traum erfahrbar ist. Liä Dsi, s. Anm. 23, Sp. 1164. Zur hier vertretenen These, dass das nicht vollumfängliche Anstreben des eigenen Ideals Ausdruck einer Skepsis gegenüber einer kompromisslosen Verwirklichung auch der eigenen Ideale darstelle, ist einschränkend zu bemerken, dass es zumindest denkbar wäre, dass das eigene durch Träumen vermittelte Ideal eines Zusammenlebens ohne Hierarchien womöglich gar nicht als Gegenstand der eigenen Weisheit, sondern als unwillkürlich und unmittelbar gewonnene Einsicht in den natürlichen Lauf der Dinge begriffen wurde. Womöglich hatte die Beschränkung des Ideals auf den Bereich des Traums aber auch mit der Textsorte zu tun, denn Müller, s. Anm. 73, S. 110 legt nahe, dass daoistische Texte nicht rein philosophisch-religiöse Texte waren, sondern möglicherweise Anleitungen zum guten Regieren darstellten und an die Herrscher selbst adressiert waren. Die offene Forderung Hierarchien gänzlich abzuschaffen, hätte womöglich schwere Konsequenzen für die Gelehrten gehabt.

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ein wohlmeinender, seine persönlichen Vorstellungen von Ordnung durchsetzender Herrscher festzusetzen vermag.86 Vor allem die utopische Szenerie, die sich durch Herrschaftslosigkeit (wujun) ebenso auszeichnet wie dadurch, dass in ihr dichotome Entgegensetzungen überwunden sind, die Thematisierung des Konzepts wuwei als (Nicht-)Handlungsmaxime, insbesondere für Menschen in Machtpositionen, das eine Annäherung an diese Utopie verspricht und die mit diesem Konzept implizierte Voraussetzung eines harmonischen, friedvollen Naturzustandes verbinden Utopia mit zahlreichen weiteren Texten des daoistischen Kanons, insbesondere mit dem Daodejing und stellen zugleich entscheidende Anknüpfungspunkte für chinaaffine Anarchisten, Pazifisten, Lebensreformer und Kulturzionisten am Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Der im Umkreis der Aktion besonders geschätzte Anarchist und Naturforscher Petr Kropotkin87 weist in seinem Lexikonartikel zum Lemma „Anarchism“ in der Encyclopaedia Britannica selbst explizit auf die daoistischen Schriften um Laozi als früheste überlieferte Zeugnisse für jene anarchistische Haltung hin, die er als anthropologische Konstante begreift.88 Überschneidungen gibt es dabei nicht nur im Hinblick auf ein Ideal herrschaftslosen Zusammenlebens, sondern auch hinsichtlich der Vorstellung einer natürlichen, friedlichen Ordnung, die auch im anarchistischen Denken eine wichtige Rolle spielt. Dies wird etwa in dem von Gustav Landauer89 ins 86

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In Kapitel 3 des Daodejing heißt es entsprechend über den Berufenen: „Er sorgt stets, daß die Leute ohne Erkennen und ohne Begehren sind, und daß jene ‚Erkennenden‘ nicht zu handeln wagen. Das Nicht-Handeln üben: so kommt alles in Ordnung.“ (TTK, S. 5) In Kapitel 11 finden sich einige Bilder, die die Machtposition gewissermaßen als Leerstelle figurieren und dennoch auf ihrem Vorhandensein beharren: „11. Die Wirksamkeit des Negativen /Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe: /Auf dem Nichts daran (dem leeren Raum) beruht des Wagens Brauchbarkeit. /Man bildet Ton und macht daraus Gefäße: /Auf dem Nichts daran beruht des Gefäßes Brauchbarkeit. /Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein Haus entstehe: /Auf dem Nichts daran beruht des Hauses Brauchbarkeit. /Darum: Das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit.“ TTK, S. 13. Dass der Herrscher mit der Leerstelle der Nabe zu identifizieren wäre, suggeriert eine Passage aus Kapitel 39, die sich auf Kapitel 11 zu beziehen scheint. Vgl. TTK, S. 44. Darüber hinaus drückt sich ein Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Vermögen, Ideal und Wirklichkeit auch im 19. Kapitel aus. Vgl. TTK, S. 21. In der Aktion selbst sind viele seiner Aufsätze abgedruckt. Vgl. Petr Kropotkin. „Anarchism“. In: Encyclopaedia Britannica. 11. Aufl. Bd. 1. New York: The Encyclopaedia Britannica Company, 1910, S. 914–919, S. 914; siehe dazu auch Müller, s. Anm. 73, S. 93. Landauer war nicht nur einer der zentralen Akteure der auch von Kafka mit Interesse verfolgten Ereignisse um die Münchner Räterepublik, sondern auch mit Martin Buber befreundet. Kennengelernt haben sich die beiden bereits 1899 im Zuge einer Veranstal-

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Deutsche übertragenen Buch Mutual Aid deutlich, in dem Kropotkin entgegen der vulgär-darwinistischen Vorstellung eines „Kampfs ums Dasein“, die auf einer problematischen Übersetzung des „Struggle for Existence“ beruht90 und vielfach mit Hobbes „bellum omnium contra omnes“ kurzgeschlossen wurde, das Prinzip gegenseitiger Hilfe und Kooperation als Faktor der Evolution betont.91 Mit Blick auf die pazifistische Bewegung der 10er- und 20er-Jahre weist Ulrich Linse in seinem Aufsatz Asien als Alternative? Die Alternativkulturen der Weimarer Zeit: Reform des Lebens durch Rückwendung zu asiatischer Religiosität darauf hin, dass im Verlauf des Ersten Weltkriegs das nicht zuletzt durch Alfred Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun popularisierte Konzept des wuwei als „Lob der Schwäche und Gewaltlosigkeit“ zur „Widerstandsformel“92 gegen Krieg und

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tung der „Neuen Gemeinschaft“, eines im selben Jahr gegründeten „neo-romantischen“ Zirkels um die Gebrüder Heinrich und Julius Hart. Vgl. Michael Löwy. „Romantic Prophets of Utopia: Gustav Landauer and Martin Buber“. In: Gustav Landauer. Anarchist and Jew. Hrsg. von Paul Mendes-Flohr und Anya Mali. Berlin, München, Boston: De Gruyter, 2015, S. 64–81, S. 64. Charles Darwin selbst hat hinsichtlich der Übersetzung des Begriffs „Struggle for Existenz“ ins Deutsche mit „Kampf ums Dasein“ Zweifel angemeldet, wie aus einem Brief von 1869 an den Physiologen William Preyer, der an der Universität Jena lehrte, hervorgeht: „Unfortunately I am a very poor German Scholar […] About the term ‚Struggle for Existence‘ I have always felt some doubts but was unable to draw any distinct line between the two ideas therein included, I suspect that the German term Kampf &c. does not give quite the same idea.— The words ‚Struggle for Existence‘ express I think exactly what concurrency does— It is correct to say in English that two men struggle for existence who may be hunting for the same food during a famine, and likewise when a single man is hunting for food; or again it may be said that a man struggles for existence against the waves of the sea when shipwrecked.“ In Charles Darwin – Das Lesebuch übersetzt Julia Voss „Struggle for Existence“ entsprechend mit „Ringen ums Überleben“. Charles Darwin. Das Lesebuch. Hrsg. von Julia Voss. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2008, S. 18. In der Aktion ist es sodann der Mediziner Georg Friedrich Nicolai, der sich in seinem mit naturwissenschaftlichen Argumenten vertretenen pazifistischen Engagement gegen den Krieg in einer Serie an Artikeln auf Kropotkin beruft: Georg Friedrich Nicolai. „Der Kampf ums Dasein“. In: Die Aktion 6.35/36 (1916), Sp. 477–483; Georg Friedrich Nicolai. „Über Intelligenz und Friedfertigkeit der Tiere“. In: Die Aktion 6.45/46 (1916), Sp. 615– 617; Georg Friedrich Nicolai. „Über Instinkte“. In: Die Aktion 6.33/34 (1916), Sp. 457– 463; Georg Friedrich Nicolai. „Der Kampf der Menschheit“. In: Die Aktion 6.39/40 (1916), Sp. 529–536; Georg Friedrich Nicolai. „Der Familiensinn“. In: Die Aktion 7.5/6 (1917), Sp. 55–58; Georg Friedrich Nicolai. „Die Internationalität der Kultur“. In: Die Aktion 7.18/19 (1917), Sp. 239–243. Vgl. dazu auch Thomas Anz. Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2002, S. 74. Nicolais Aufsätze gingen kurz darauf in sein Buch Die Biologie des Krieges ein. Vgl. Ulrich Linse. „Asien als Alternative? Die Alternativkulturen der Weimarer Zeit: Reform des Lebens durch Rückwendung zu asiatischer Religiosität“. In: Religionswissenschaft

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Imperialismus wird. Insbesondere die deutschen Emigranten in der Schweiz – Hugo Ball, Klabund, Plivier und Hesse – haben den Krieg mit der Lehre des Daodejing zu bekämpfen versucht.93 Mit der Aufwertung des ‚Natürlichen‘, ‚Ursprünglichen‘ und der damit meist einhergehenden Abwertung zivilisatorischer bzw. technischer Hilfsmittel und Gerätschaften, wie sie sich etwa im Kapitel 80 des Daodejing in markanter Weise ausdrückt,94 erweist sich der Daoismus auch äußerst anschlussfähig für die in Mode kommende sozialradikalistische Lebensreformbewegung. Dabei zeigen sich besonders im Falle Richard Wilhelms bereits die Übersetzungen selbst häufig stark sowohl von einer pazifistischen Haltung als auch von dieser auf die Wurzel der Existenz, auf die Rückkehr zum reinen, einen Ursprung zielenden radikalistischen Denkbewegung überformt. Dies wird etwa besonders an den Überschriften deutlich, mit denen Richard Wilhelm die einzelnen Kapitel des Daodejing versieht. Diese tragen in seiner Ausgabe Titel wie Friede auf Erden, Rückkehr zur Wurzel, Verfall der Sitte, Rückkehr zur Echtheit, Rückkehr zur Einheit, Warnung vor dem Krieg, Die Waffen nieder, Die Aufgabe der Vollendung, Ausübung der Herrschaft, Die Wurzel des Gesetzes, Rückkehr zum Ursprung oder auch Verwirklichung des Sinns. Mit zeitweiliger Ausnahme vielleicht des Pazifismus finden sich u. a. diese Strömungen, die Buber nicht zuletzt mit seiner Zhuangzi-Übersetzung und dem darin enthaltenen Nachwort maßgeblich mitgeprägt hat,95 umgekehrt im Projekt des Kulturzionismus um Buber in angeeigneter Form wieder. Denn wenn das kulturzionistische Projekt auf den Aufbau einer idealen, aber doch künftig zu verwirklichenden, nicht staatsförmig-institutionalisierten, vielmehr

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und Kulturkritik. Beiträge zur Konferenz The History of Religions and Critique of Culture in the Days of Gerardus van der Leeuw (1890–1950). Hrsg. von Hans G. Kippenberg und Brigitte Luchesi. Marburg: Diagonal-Verlag, 1991, S. 325–364, S. 357. Vgl. Linse, s. Anm. 92, S. 357 f. Dort heißt es: „Mag das Land klein sein und wenig Leute haben. Laß es zehnerlei oder hunderterlei Geräte haben, ohne sie zu gebrauchen. […] Ob auch Schiffe und Wagen vorhanden wären, sei niemand, der darin fahre. Ob auch Wehr und Waffen da wären, sei niemand, der sie entfalte. Laß die Leute wieder Knoten aus Stricken knüpfen und sie gebrauchen statt der Schrift. […] Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, ohne hin und her gereist zu sein.“ Walter Benjamin und Johannes Urzidil, die die China-Begeisterung selbst miterlebt haben, haben dieses Kapitel mit Kafkas Erzählung Das nächste Dorf assoziiert. Vgl. Walter Benjamin. Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hrsg. von Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 23 f. Johannes Urzidil. Da geht Kafka. Zürich, München: Artemis-Verlag, 1965, S. 20 f. Vgl. Ernst Robert Curtius. „Les Influences asiatiques dans la Vie intellectuelle de l’Allemagne d’aujourd’hui“. In: La Revue de Genève 6 (1920), S. 890–895, S. 891.

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herrschaftsfreien, „reinen“, „wahrhaften“, „auf Liebe, auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Hilfe aufgebauten“96 Gemeinschaft zielt, so sind die im Anarchismus als proto-anarchistisch wahrgenommenen daoistischen Sozialutopien ebenso von Belang wie das sozialradikalistisch interpretierte daoistische Streben nach einem Leben im Einklang mit Dao, d. h. im Sinne eines Strebens nach Einheit und Natürlichkeit in dessen Fluchtpunkt die Überwindung all jener dichotomer Gegensätze steht, die in der modernen Welt einem kulturkritischen Narrativ zufolge immer stärker auseinanderzutreten drohen. Die Notwendigkeit dieser Überwindung wird um so stärker empfunden, als auch die eigene Bewegung stark von diesen Gegensätzen und Widersprüchen durchzogen ist. So führt das Streben nach einem Leben im Einklang mit einer natürlichen Ordnung – etwa die Vorstellung das jüdische Volk könne sich nur durch die Rückkehr auf sein angestammtes Territorium seiner genuinen, von dieser ursprünglichen Umgebung geformten Natur gemäß entwickeln97 – paradoxerweise zu biopolitischen Maßnahmen, die mit unterschiedlichen Instrumenten, wie einem Verbot von sogenannten „Mischehen“ etc., aktiv gestaltend in die „Natur“ des eigenen Volkes eingreifen, um seine Einheit, „Reinheit“ und Integrität in der Diaspora zu wahren. So sehr nun in kulturzionistischen Texten die Überwindung antithetischer Gegensätze gefordert wird, so sehr zeigen sie sich von einem Denken in solchen Dichotomien geprägt. So werden etwa in Bubers Reden Die Erneuerung des Judentums und Der Geist des Orients und das Judentum ebenso wie in Hans Kohns Aufsatz Der Geist des Orients 98 zunächst ausführlich orientaler und okzidentaler Geist bzw. Menschentypus antithetischen einander gegenübergestellt und mit Gegensatzpaaren wie motorisch-sensorisch, dynamisch-statisch, relational-absolut, synthetisch-analytisch, Körper-Geist, Idealität-Realität, Höhe-Breite, Zeit-Raum, musikalisch-visuell, Tat-Denken, GemeinschaftGesellschaft etc. parallelisiert und die Juden in ihren Ursprüngen sowohl zeit96 97

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Martin Buber. „Reden über das Judentum“. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Bd. 2. Gerlingen: Lambert Schneider, 1993, S. 41. Buber vertritt diese Idee bereits in der ersten seiner Reden über das Judentum: Dort spricht er von der „natürlichen objektiven Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke“, die gegeben sein müsse um in Harmonie leben zu können. Und diese sei nur dann gegeben, wenn das individuelle Erleben der umgebenden Kultur mit jener Kultur in Einklang steht, die – lamarckistisch gedacht – dem Körper bzw. dem Blut im Laufe der Jahrtausende eingeschrieben wurde. Vgl. ebd., S. 11–16. Kohns Text ist in dem vom Verein Bar Kochba herausgegebenen Sammelband Vom Judentum erschienen. Auf Einladung dieses Vereins jüdischer Hochschüler in Prag hat Martin Buber seine berühmten Reden über das Judentum gehalten.

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lich99 als auch örtlich zwar gerade noch auf Seiten des Orients, aber gewissermaßen schon an der Schwelle zum Okzident verortet.100 Hinsichtlich der geforderten Überwindung dieser Gegensätze schwanken die jungen Kulturzionisten allerdings beständig zwischen einer Auflösung, bei der rückhaltlos einer Seite der Vorzug über die andere gegeben wird101 und einer dialektischen Aufhebung in einer übergeordneten Synthese: Während Kohn am Ende seines Aufsatzes dazu aufruft, sich als Jude seiner orientalischen Herkunft zu besinnen und Bauer in Palästina zu werden, um tatkräftig am Aufbau, an der Verwirklichung eines neuen jüdischen Gemeinwesens mitzuhelfen,102 plädiert Buber dafür, sich als Jude, d. h. als Mitglied des „Mittlervolk[es]“103 zwischen Orient und Okzident, sich der Aufgabe anzunehmen, beide auseinanderstrebenden Geisteshaltungen wieder in einer künftigen Lehre zusammenzuführen, zumal auch Asien durch den hegemonial sich ausbreitenden Westen bedroht und in die Krise geraten sei.104 Während das hier umrissene, nicht kolonialistische, Interesse an chinesischer Kultur bis zu den ersten Kriegsjahren auf eine kleine Minderheit alternativkultureller Zirkel beschränkt bleibt, gewinnt es mit zunehmender Dauer des Krieges fortwährend an Popularität.105 Dies um so mehr, als die anfängliche Begeisterung für den Krieg, der zunächst seinerseits häufig noch als kulturerneuerndes Gemeinschaftserlebnis gedeutet und gerechtfertigt worden war,106 spätestens mit Kriegsende einer allgemeinen Ernüchterung weicht. 99

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Buber zufolge seien die Juden ein „Spätling des Orients“, da sie zu einer Zeit auftauchen, als die alten asiatischen Kulturen schon ihren Zenit überschritten hätten, das Abendland aber seine Blüte noch vor sich hatte. Vgl. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 96, S. 50. Vgl. auch Hans Kohn. „Der Geist des Orients“. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. von Bar Kochba. Verein jüdischer Hochschüler in Prag. 2. Aufl. Leipzig: Kurt Wolff, 1913, S. 9–18, S. 10. Für Buber steht der „Perser des Avesta“ paradigmatisch für diese Form des typisch orientalischen Einheitsstrebens. Vgl. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 96, S. 49. Vgl. auch Kohn, s. Anm. 100, S. 18. Buber, „Reden über das Judentum“, s. Anm. 96, S. 63. Mit dieser Krisendiagnose stimmen Buber und Kohn wiederum überein: Vgl. ebd., S. 62 bzw. Kohn, s. Anm. 100, S. 10. Linse, s. Anm. 92, S. 335 f. Auch im kulturzionistischen Diskurs um Martin Buber folgt man dieser Argumentation. Vgl. etwa Martin Buber. „Die Losung“. In: Der Jude 1.1 (1916), S. 1–3 und Hugo Bergmann. „Der jüdische Nationalismus nach dem Krieg“. In: Der Jude 1 (1916), S. 7–13. Siehe dazu ausführlich: Andreas B. Kilcher. „Zionistischer Kriegsdiskurs im Ersten Weltkrieg“. In: Kafka, Prag und der Erste Weltkrieg. Kafka, Prague and the First World War. Hrsg. von Manfred Engel und Ritchie Robertson. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 49–71, 56 ff. Selbst der pazifistisch gesinnte Max Brod kann in seinem Aufsatz Unsere Literaten und

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Der Krieg und die Zerstörung, die er mit sich brachte, deren volles Ausmaß jetzt erst deutlich wird, werden nunmehr als sichtbarste Symptome des kulturellen Niedergangs wahrgenommen. Nach dieser Desillusionierung ist das zuvor weithin verbreitete Selbstverständnis westlicher Überlegenheit grundlegend erschüttert und vor allem revolutionär gesinnte junge Intellektuelle, aber auch breite Teile der bürgerlichen Jugendbewegung, treten vehement gegen den im Wilhelminismus martialisch zur Schau gestellten Führungsanspruch der westlichen Welt in intellektuellen, politischen und moralischen Fragen auf – so jedenfalls die Beobachtung Ernst Robert Curtius’ in seinem 1920 erschienenen Aufsatz Les Influences asiatiques dans la Vie intellectuelle de l’Allemagne d’aujourd’hui.107 Auch Siegfried Kracauer sucht das Phänomen der Neu-Orientierung nach Osten, das zunehmend breitere Bevölkerungsschichten, insbesondere „Gelehrt[e], Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Studenten und Intellektuell[e] aller Art“,108 betrifft, aus einer Krisenerfahrung zu erklären. Für ihn ist es allerdings vor allem eine Krise, die sich im Gefühl des Verlusts von Gemeinschaft und des „Vertriebensein[s] aus der religiösen Sphäre“109 äußert. Besonders innerhalb des Mittelstandes, wo man seine Tage „zumeist in der Einsamkeit der großen Städte“110 im Büro sitzend verbringt, bricht in Momenten des Innehaltens vom hektischen Großstadtleben das „metaphysisch[e] Leiden an dem Mangel eines hohen Sinns in der Welt“111 hervor. Dabei ist die Hinwendung zu fernöstlicher Philosophie für Kracauer Ausdruck der Intensität dieser Krise: Der Größe echter (vielleicht mitunter auch eingeredeter) Verzweiflung entspricht die Ausgedehntheit der Streifzüge, auf die sich die nach Erfüllung fahndende religiöse Bedürftigkeit begibt, und so darf es nicht wundernehmen, daß sie schließlich bei den Lehren des Ostens anlangt.112

107 108 109 110 111 112

die Gemeinschaft dem „Krieg, der die tiefe, bis auf den Grund reichende Mangelhaftigkeit des heutigen europäischen Geistes und die Unzulänglichkeit der kapitalistisch orientierten Gemeinschaftsballungen schonungslos enthüllt hat,“ immerhin den positiven Aspekt abgewinnen, dass zumindest ein kleiner „Teil unserer Schriftsteller und Dichter“ durch ihn „zu einer neuen Gemeinschaft hingeführt“ werde. Max Brod. „Unsere Literaten und die Gemeinschaft“. In: Der Jude 7 (1916), S. 457–464, S. 460. Vgl. Curtius, s. Anm. 95, S. 893. Siegfried Kracauer. „Die Wartenden“. In: Das Ornament der Masse. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977, S. 106–119, S. 106. Ebd., S. 107. Ebd., S. 106. Ebd., S. 106. Ebd., S. 112.

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Das unstete, unverbindliche Hinwenden zu dieser oder jener östlichen Philosophie oder Religion sei Anzeichen einer Orientierungslosigkeit und dafür, dass diese Suchenden „in weitestem Abstand vom Absoluten leben“.113 Historisch ließe sich diese Bedürftigkeit, die sich tatsächlich in einem Boom an Veröffentlichungen im Bereich „Neue Religiosität“ niederschlägt,114 als Resultat eines „Jahrhunderte währenden Prozeß“ verstehen, in dessen Verlauf sich das Ich zunehmend aus traditionellen, gemeinschaftlichen Bindungen ebenso herausgelöst habe wie aus der religiösen Sphäre.115 Die Befreiung aus Zwang, Dogma, religiöser und familiärer Autorität habe man mit dem Verlust des Gefühls des Aufgehobenseins in einer auch fürsorglichen Gemeinschaft und eines höheren Sinns in der Welt bezahlt. Und obwohl oder gerade weil diesen jungen Intellektuellen nicht nur Glaube und Gemeinschaft, sondern geradezu die Fähigkeit beides zu erfahren, abhanden gekommen sei, dränge „alles in ihnen und um sie […] auf erneutes Sein in der religiösen Sphäre und zugleich auf die Erlösung aus ungehemmter Freizügigkeit durch das Eingehen in die formgebundene Gemeinschaft hin.“116 Der eingangs zitierte Text Kafkas bleibt also trotz des ungewöhnlich konkreten Verweises auf die Aktion und damit auf die außersprachliche Wirklichkeit überaus anknüpfungsfähig. Der Text scheint einen oder mehrere von Kafkas Chinatexten mit dem zeitgenössischen China-Diskurs im Umfeld der Zeitschrift die Aktion zu verbinden, wobei weder auf Seiten der Kafka-Texte noch auf Seiten des China-Diskurses zwingend und ausschließlich bestimmte Texte in Frage kommen. Die so erstaunlich konkrete Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit bindet vielmehr in disseminierender Weise ihrerseits wieder große Diskursmassen ein. Kafkas China-Texte entstehen zu einer Zeit, in der China in aller Munde ist, wobei sich ganz unterschiedliche Diskurse bzw. Diskursstränge überlagern, was sie für Kafkas Umschrift besonders prädestiniert. Während der Mainstream von kolonialistischen Interessen bestimmt ist und insbesondere durch die kolonialen Aktivitäten Deutschlands in China befeuert wird, gibt es etwa im Umkreis der Aktion auch ein antiimperialistisches, kulturkritisches, anarchistisches Interesse an China, insbesondere am Daoismus, mit seinen utopisch anmutenden Konzepten des wuwei und wujun, die man vor dem Hintergrund einer Suche nach wahrer Gemeinschaft begeistert aufgreift. 113 Kracauer, s. Anm. 108, S. 108. 114 Vgl. Eugene Diederichs. Der deutsche Buchhandel der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hrsg. von Gerhard Menz. Bd. 2. 1. Leipzig: Meiner, 1927, S. 62; Siehe auch Linse, s. Anm. 92, S. 331. 115 Vgl. Kracauer, s. Anm. 108, S. 106. 116 Vgl. ebd., S. 109.

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Als Kafka 1917 seine ersten China-Texte schreibt, ist dieser anti-imperialistische China-Diskurs bereits im Begriff den noch relativ überschaubaren Kreis einiger Intellektueller und Aktivisten zu verlassen und innerhalb der Jugend omnipräsent zu werden. Während man zunächst im Anarchismus, innerhalb der Friedensbewegung, in Zirkeln der Lebensreform und im Kulturzionismus den Daoismus für sich entdeckt, wird fernöstliches Denken insgesamt gegen Ende des Ersten Weltkriegs besonders durch die deutsche Jugendbewegung von einer breiten Schicht rezipiert und ist 1920, als Kafka seine übrigen Chinatexte niederschreibt, zu einer allgegenwärtigen Modeerscheinung geworden. Im Folgenden soll der eingangs zitierte Text zum Anlass genommen werden, Kafkas Chinatexte in einem historischen und diskursiven Bezugsfeld zu lesen. Insbesondere anhand von Beim Bau der chinesischen Mauer soll gezeigt werden, wie die soeben skizzierten China-Diskurse eingebunden und umgeschrieben werden, wie Kafkas Text dabei unzählige andere (China-)Texte aufruft, kombiniert, in einen Dia- bzw. Polylog bringt. 6.2 Kafkas China-Umschriften In Beim Bau der chinesischen Mauer reflektiert ein chinesischer Erzähler wie er und seine Landsleute ihr Land mit seinem Territorium, seiner Bevölkerung und seinen diese Bevölkerung organisierenden und ihre Einheit repräsentierenden politischen Institutionen (Führerschaft und Kaisertum) imaginieren. Wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit bereits ausführlich dargelegt, erkennt der Erzähler die Notwendigkeit zur Imagination in der enormen, unüberschaubaren Ausdehnung und Bevölkerungszahl des Reiches, die in ihrer Totalität der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung des Einzelnen entzogen bleiben. Territorium und Bevölkerung übersteigen dabei nicht nur die Möglichkeiten der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung jedes Einzelnen, sondern auch deren begrenztes Vorstellungsvermögen. Entsprechend erfolgt diese Imagination aus individueller Sicht betrachtet in einer komplexitätsreduzierenden Art und Weise und bildet die Grundlage symbolischer Repräsentation, für die die Institution des Kaisertums paradigmatisch ist. Da das chinesische Volk vom Einzelnen nicht als Gemeinschaft erlebt werden kann, in der jeder jeden kennt, in seiner Singularität wahrnimmt, wertschätzt und wie einen Bruder liebt, wird die ersehnte Liebe zu jedem Einzelnen durch die Liebe zum Kaiser ersetzt, dem Symbol bzw. Repräsentanten des Volkes in seiner Gesamtheit. Der bedeutungstragende Teil dieses Symbols, der body natural des Kaisers, ist allerdings seinerseits unverfügbar und muss imaginiert werden. Dabei hat

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die Unverfügbarkeit des body natural jedoch eine andere Qualität als die Unverfügbarkeit des Territoriums bzw. der Bevölkerung in ihrer Ganzheit: Während Territorium und Bevölkerung strukturell zwar ausschnittsweise durchaus erfahrbar sind, sich in ihrer Totalität aber der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung entziehen, wäre der lebendige Kaiser theoretisch sinnlich erfahrbar, ist es aber im konkreten Fall für den chinesischen Erzähler an der südlichen Peripherie des Reiches de facto nicht. Zu groß ist die Distanz, die zwischen beiden liegt und nicht zuletzt mit jener „Sage“, die als kaiserliche Botschaft aus der Erzählung ausgegliedert wurde, suggeriert der Erzähler, dass es kein geeignetes Medium gäbe, um diese Distanz zu überbrücken. Nachrichten kämen – wenn überhaupt – nur entstellt, verspätet und veraltet an. Der Erzähler generalisiert dieses durch die Entzogenheit des Repräsentanten geprägte und – insofern es nur auf die Distanz bezogen wird – eigentlich peripheriespezifische Verhältnis zum Kaiser und weist es – durchaus in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen europäischen China-Diskurs, in dem diese Entzogenheit allerdings auch auf die inszenierte Unnahbarkeit und Enthobenheit des Kaisers zurückgeführt wird – als Merkmal der chinesischen Kultur insgesamt aus. Dabei scheint das als typisch chinesisch dargestellte Bedauern darüber, diesen body natural nicht unmittelbar sinnlich erfahren zu können, wiederum exemplarisch für das allgemeine Bedauern darüber zu stehen, nicht alle Volksgenossen in ihrer Singularität wahrnehmen und würdigen zu können. Unabhängig davon, ob die Unverfügbarkeit von Territorium, Bevölkerung und Kaiser für die sinnliche Wahrnehmung struktureller Natur ist oder nur durch bestimmte, vielleicht sogar kalkulierte, Voraussetzungen bedingt ist, reicht die Vorstellungskraft in keinem dieser Fälle aus, um sich Kaiser, Volksgenossen und Territorium bzw. die dieses Territorium markierende Mauer in ihrer ganzen Lebendigkeit bzw. Komplexität zu vergegenwärtigen. Doch diese Unverfügbarkeit und die Schwäche der Vorstellungskraft werden durch eine überschießende Einbildungskraft kompensiert: Jeder erträumt bzw. imaginiert sich die entfernte, nicht unmittelbar erfahrbare Realität und zwar auf Basis jener Information, die darüber verfügbar ist. Verfügbar sind aber nur kursierende Gerüchte, Halbwahrheiten und veraltete Nachrichten. Längst verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Tron gesetzt und der nur noch im Liede lebt, hat vor Kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der Priester vor dem Altare verliest. Schlachten unserer ältesten Geschichte werden jetzt erst geschlagen und mit glühendem Gesicht fällt der Nachbar mit der Nachricht Dir ins Haus. Die kaiserlichen Frauen, überfüttert in den seidenen Kissen, von schlauen Höflingen der edlen Sitte entfremdet, anschwellend in Herrschsucht, auffahrend in Gier, ausgebreitet in Wol-

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lust, verüben ihre Untaten immer wieder von Neuem; je mehr Zeit schon vergangen ist, desto schrecklicher leuchten alle Farben und mit lautem Wehgeschrei erfährt einmal das Dorf, wie eine Kaiserin vor Jahrtausenden in langen Zügen ihres Mannes Blut trank. So verfährt also das Volk mit den vergangenen, die Gegenwärtigen aber mischt es unter die Toten.117

Solche Gerüchte, die in besonderer Weise den Kaiser und sein Umfeld sowie die Mauer und die Umstände ihres Baus betreffen, schwellen zu einem heterogenen Stimmengewirr an, das der unüberschaubaren Realität an Komplexität in nichts nachsteht und dem letztlich nichts Bestimmtes mehr zu entnehmen ist, sodass die Notwendigkeit zur Komplexitätsreduktion, zur Vereinfachung, zur symbolischen Repräsentation um so stärker hervortritt. Zugespitzt formuliert, imaginieren die Chinesen ihr Land und ihren Kaiser also exakt in der Weise, in der man es dem Sinologen Wolfgang Bauer zufolge im weit entfernten Westen immer schon getan hat: Am bedeutungsvollsten ist natürlich von jeher die große Entfernung gewesen, die China und Europa, an den beiden Endpunkten Eurasiens gelegen, geographisch von einander trennte. Sie sorgte dafür, daß alle Nachrichten nicht nur geraume Zeit benötigten, bis sie von der einen Hemisphäre zur anderen gelangten, sondern daß sie sich auch allesamt durch die vielen Münder, die sie weitersagten, bis zur Unkenntlichkeit veränderten und immer mehr mit phantastischem Beiwerk anreicherten. Je spärlicher die eigentlichen Informationen waren, desto mehr Raum ließen sie der Vorstellungskraft, um das Gemälde zu ergänzen und es nicht selten völlig in ein Werk der Einbildung zu verwandeln – sei es auf verschönende, idealisierende Weise, sei es mit der Tendenz, die Farben schwarz in schwarz zu malen.118

Tatsächlich korrespondiert Kafkas Darstellung dieser dörflichen, von überbordender Einbildungskraft geprägten Imaginationen der Vorgänge am weit entfernten Hof des Kaisers im Zentrum mit unterschiedlichen Elementen des westlichen China-Diskurses, die hier in nur wenig überspitzender, karikierender Weise eingebunden und überblendet scheinen: Diese Elemente betreffen u. a. die westliche China-Berichterstattung, insbesondere jene zu den Geschehnissen am chinesischen kaiserlichen Hof, aber auch die Darstellung der Wahrnehmung bzw. eben Nicht-Wahrnehmung des Zentrums an der Peripherie im Rahmen einer in der daoistischen Tradition stehenden Utopie, die Richard Wilhelm in einer Endnote zu Kapitel 80 des

117 KKAN I, S. 352 f. 118 Bauer, s. Anm. 34.

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Daodejing wiedergibt. Dabei handelt es sich um Tao Yüan-mings119 Pfirsichblütenquell.120 Mit Blick auf die westliche China-Berichterstattung vermeint man etwa im obigen Zitat, in dem zum Ausdruck kommt, dass die Untertanen ihren Kaiser stets in einer Weise imaginierten, die ihn durch Intrigen seines engsten Umfelds bedroht sieht, Echos der zeitgenössischen Berichte um Tse-Si121 zu vernehmen. Die sogenannte Kaiserin-Witwe, später Kaiserin-Mutter und schließlich Kaiserin-Tante war von 1861 bis zu ihrem Tod 1908, abgesehen von zwei Unterbrechungen in den Jahren 1872–1875 und 1889–1898, die effektive Machthaberin Chinas und wurde bereits im Zuge ihrer neuerlichen Machtergreifung 1898 „in Europa überwiegend zur unheimlich-exotischen Herrscherin dämonisier[t]“.122 Der Aufstieg Cixis von einer unbedeutenden Nebenfrau zur einflussreichsten Persönlichkeit der späten Qing-Dynastie regte die Phantasie insbesondere ihrer westlichen Zeitgenossen an, die den Grund für ihre steile Karriere in einer Reihe an Morden, sexuellen Perversionen und Intrigen vermuteten.123

119 Tao Yüan-ming, auch Tao Qian genannt, lebte im 4. Jahrhundert nach Christus und damit deutlich später als etwa Laozi bzw. Zhuangzi. 120 In der besagten Endnote zu Kapitel 80 des Daodejing, das eine große Wirkung auf nachfolgende daoistische Utopievorstellungen hatte, und worauf auch im Pfirsichblütenquell angespielt wird, wird der Text in Richard Wilhelms Übersetzung unter dem Titel Die Quelle im Pfirsichblütenwald wiedergegeben. Die chinesische Bezeichnung für Pfirsichblütenquell lautet Taohuayuan ji und ist bis heute im Chinesischen ein geläufiger idiomatischer Ausdruck für Utopie. 121 In der heute üblichen Transkription wird sie Cixi geschrieben. Von 1861 bis 1872 übernahm sie die Regentschaft für ihren Sohn, den minderjährigen Kaiser Tongzhi und von 1875 bis 1889 für ihren Neffen, den ebenfalls minderjährigen Guangxu. 1898 zog sie erneut die Regierungsgeschäfte an sich, nachdem sie Guangxu, der einen Kurs der Reform einleiten wollte und damit traditionelle Eliten gefährdete, unter einem Vorwand hatte inhaftieren lassen, und behielt fortan die Macht bis zu ihrem Tode 1908. Wenige Tage vor ihr starb auch Guangxu – an einer Arsenvergiftung, wie sich später herausstellte – und Cixi setzte erneut einen minderjährigen Kindkaiser, den zweijährigen Puyi ein, der der letzte chinesische Kaiser sein sollte. 122 Detering, s. Anm. 18, S. 155. 123 Unterstützt wurde dieses Zerrbild nicht zuletzt durch die 1910 erschienene Biographie des Orientalisten Edmund Backhouse, die bereits 1912 ins Deutsche übertragen und unter dem Titel China unter der Kaiserin Witwe: die Lebens- und Zeit-Geschichte der Kaiserin Tzu Hsi veröffentlicht wurde. Der amerikanische Historiker Hugh Trevor-Roper konnte später nachweisen, dass sich Backhouse auf gefälschte chinesische Quellen gestützt hatte. Vgl. Hugh Trevor-Roper: Hermit of Peking. The Hidden Life of Sir Edmund Backhouse, Knopf, New York NY 1977.

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Bereits im Jahr 1900 reagierte Maximilian Harden, Herausgeber der ebenso konservativen wie antiwilhelminischen Zeitschrift Die Zukunft mit spöttelnder Ironie auf diese Exotismus und Sensationslust bedienenden Meldungen, die er aber aufgrund der u. a. von ihm beklagten Quellenlage selbst wieder reproduziert: Von Zeit zu Zeit spukt jetzt ein orientalisches Gespenst durch die Spalten unserer geliebten Zeitungen. […][D]ann taucht irgend eine abenteuerlich klingende Kunde von blutigen Gräuelthaten der das Reich der Erdmitte regirenden Dame auf. Neulich hieß es, sie habe den Kaiser von China ermorden lassen, dann wieder, seine Majestät geruhten, noch lebendig zu sein, und schließlich, über Tod und Leben des hohen Herren sei Sicheres nicht festzustellen.124

Die Thematisierung der „innerchinesischen“ China-Imaginationen und ihrer Bedingungen bei Kafka scheint also implizit stets auch die westlichen Imaginationen Chinas respektive ihre Bedingungen aufzurufen und zu kommentieren. Umgekehrt stützt die um-schreibende Einbindung des zeitgenössischen europäischen China-Diskurses die Behauptung eines Zusammenhangs zwischen der Unverfügbarkeit entfernter Realitäten infolge großer Distanz, mangelnder Möglichkeiten diese Distanz medial zu überbrücken, begrenztem Vorstellungsvermögen und überschießender Einbildungskraft, insofern als dieser Zusammenhang durch die eigenen Erfahrungen der Leserschaft mit der ChinaBerichterstattung bestätigt wird. Darüber hinaus begünstigt die Einbindung des westlichen China-Diskurses, dass sich die Leserschaft mit der chinesischen Identität, so wie sie vom Erzähler dargestellt wird, identifizieren kann. Für das Bedürfnis den natürlichen Körper des Kaisers bzw. jeden Volksgenossen in seiner Singularität wahrzunehmen und wertzuschätzen, stellen diese – mittels Einflechtung gewisser Versatzstücke westlicher China-Berichterstattung plausibilisierten – medialen Bedingungen ein unlösbares Problem dar. Bezogen auf den Kaiser nicht als Repräsentant des Volkes, sondern als Repräsentant der Macht, erweisen sie sich hingegen als Glücksfall und geradezu als Möglichkeitsbedingung eines „gewissermaßen freie[n] unbeherrschte[n] Leben[s]“:125 Wie im obigen Zitat deutlich wird, behauptet der Erzähler, die Menschen im Dorf wüssten unter diesen Bedingungen nicht einmal, welcher Kaiser aktuell an der Spitze ihres Reiches stehe. Entsprechend erreiche sie auch keine Anordnungen von oben. Sie befänden sich außerhalb der Einflusssphäre der zentralistisch organisierten Macht.

124 Maximilian Harden. „Tse-Si“. In: Die Zukunft 30 (1900), S. 321–325, S. 321. 125 KKAN I, S. 354.

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Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint in Kafkas Text das utopische Setting aus Tao Yüan Mings Pfirsichblütenquell aufgerufen und mit Blick auf Implikationen für die imaginäre Dimension politischer Herrschaft weitergedacht zu werden. In der kurzen Parabel fährt ein Fischer flussaufwärts und stößt auf einen berauschend schönen Pfirsichblütenwald. Er entdeckt einen verborgenen Durchgang und findet auf der anderen Seite eine idyllische Szenerie vor: „Von jedem Dorfe zu dem andern klang die Antwort von den Hunden und den Hühnern. Männer und Frauen – wie unsere Leute heraußen – säten die Felder; friedlich und froh des eigenen Tuns waren so Kinder als Greise“.126 Dabei hebt die Anspielungen auf Kapitel 80 des Daodejing nochmals die Isoliertheit und Selbstgenügsamkeit dieser Gemeinschaft am Pfirsichblütenquell hervor. Dennoch wird der Fischer nicht etwa ignoriert, sondern freundlich empfangen, sodass er im Gespräch mit ihnen erfährt, daß ihre Eltern einst zur unruhigen Zeit von Tsin Sche Huang mit Frau und Kind und allen Leuten fort- und hergezogen seien, daß von damals her nicht einer mehr herausgekommen sei, und daß sie auch daher nichts wüßten von den Menschen draußen. Wer wohl König sei, das fragten sie; sie kannten nicht die Dynastie der Han, geschweige die der We und Tsin. Der Fischer aber gab ihnen von allem Kunde, was er wußte, daß sie nur so lauschten.127

Zwar bricht der Fischer anschließend sein Versprechen, ihr Versteck nicht zu verraten und gibt in der Hauptstadt des Bezirks „dem Beamten hübsch Bericht“,128 doch die ausgesandten Boten verirren sich und können die Leute am Pfirsichblütenquell nicht mehr ausfindig machen. Wenn nun in der kaiserlichen Botschaft vom „jämmerlichen Untertanen“ die Rede ist, vom „vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten“129 und sich im weiteren Verlauf der Erzählung herausstellt, dass diese Entfernung zwischen Herrscher und Untertan bedeutet, dass nicht nur der natürliche Körper des Kaisers der Wahrnehmung der fernen Untertanen entzogen ist, sondern umgekehrt auch der Kaiser und seine Beamten keinen disziplinierenden Zugriff auf die Körper ihrer Untertanen haben, und wenn diese Entfernung darüber hinaus den Effekt hat, dass Unwissenheit hinsichtlich der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse besteht, so wird gleich in mehrfacher Hinsicht das Setting aus dem Pfirsichblütenquell aufgerufen.130 126 127 128 129 130

TTK, S. 113. TTK, S. 113. TTK, S. 113. KKAN I, S. 351. Dabei ist es wichtig zu bemerken, dass der Topos der Distanz als Schutz, der in Beim Bau der chinesischen Mauer nicht nur vor Repressionen von innen, sondern auch gegen Ag-

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Bei aller motivischen Nähe zeigen sich allerdings auch einige Unterschiede. Diese betreffen etwa die Selbstverortung der beiden Wir-Erzähler im Bezug auf eine jeweils implizierte Topologie: An einer Stelle im Pfirsichblütenquell stellt der Erzähler fest: „Männer und Frauen – wie unsere Leute heraußen – säten die Felder“. In dieser Feststellung, die die daoistische Überzeugung bestätigt, wonach schweißtreibende Arbeiten nicht nur im Rahmen hierarchisch gegliederter Gesellschaften erbracht, sondern auch in egalitären Gemeinschaften erledigt werden,131 wird deutlich, dass sich der Wir-Erzähler an ein mehrheitsgesellschaftliches Außen wendet, dem er sich selbst zurechnet und vergleichend auf die isolierte Gemeinschaft blickt. Dagegen präsentiert sich Kafkas Wir-Erzähler als Teil einer kleinen Dorfgemeinschaft an der südlichen Peripherie des Reiches und erlebt sich gerade dadurch als beispielhafter Vertreter des chinesischen Volkes insgesamt. Folglich spielt die Unterscheidung InnenAußen für ihn keine Rolle.132 Seine Beobachterposition ist eine immanente und entsprechend vermag er Einblick in die für die imaginäre Dimension von Herrschaft bedeutsame Vorstellungswelt kleiner isolierter Dorfgemeinschaften zu geben. Innerhalb dieser Vorstellungswelt ist die Topologie des Reichs durch die Opposition von Zentrum und Peripherie bestimmt, wobei das stets entzogene Zentrum dazu führt, dass diese Peripherie in Kafkas China bis an die Grenzen des kaiserlichen Palastes heranzureichen scheint.133 gression von außen schützen soll, im zeitgenössischen China-Diskurs über die Erzählung vom Pfirsichblütenquell hinaus verbreitet ist und etwa mit dem kolonialistischen China-Diskurs einen weiteren, aktuellen Kontext einbindet, wobei hier meist die Herrschaftsperspektive eingenommen wird. Die Bedingungen der Nachrichtenübermittlung als Problem innenpolitischer „Durchmachtung“ – etwa der Zustand des Telegraphennetzes – interessiert gerade vor dem Hintergrund kolonialer Machtausübung. Zu diesem zeitgenössischen nachrichtentechnischen Interesse vgl. ausführlicher Neumeyer, s. Anm. 7, S. 171 f. Otto Corbachs Argument, wonach die territoriale Ausdehnung Chinas jede Vergewaltigung des Landes mit militärischen Mitteln vereitle, ist ebenfalls von der Außenperspektive potentieller Invasoren aus formuliert. Vgl. Corbach, „China“, s. Anm. 8, Sp. 1095. 131 Vgl. TTK, S. 19 siehe auch Dickinson, der hervorhebt: „Arbeitsam sind sie von einem Arbeitsfleiss, wie ihr ihn im Westen kaum kennt, aber es ist die Arbeit freier Menschen.“ Dickinson, „Aus Briefen eines Chinesen“, s. Anm. 29, Sp. 1292. 132 Das unterscheidet ihn im Übrigen auch von Dickinsons Erzähler, der ebenfalls von Innen und Außen spricht: „Und wenn es in jeder Generation einige gibt, die in die Welt hinaus müssen, so tun sie dies mit der […] Hoffnung, zu ihrem Geburtsort zurückzukehren […].“ ebd., Sp. 1292. 133 Zur Topologie in Beim Bau der chinesischen Mauer und Ein altes Blatt vgl. Michael Niehaus. „Chinesische Topologie“. In: Kafkas China. Hrsg. von Kristina Jobst und Harald Neumeyer. Bd. 5. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 197–216.

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Dieser Einblick in die Vorstellungswelt erlaubt sodann auch das Aufeinandertreffen von Idylle und Autorität zumindest hypothetisch durchzuspielen, wo man ihm im Pfirsichblütenquell ausweicht, wenn sich die Beamten – genauer ihre Boten – am Ende beim Versuch, die kleine Gemeinschaft erneut aufzuspüren, verlaufen. Damit wird versuchsweise über eine partielle – nämlich die physische Dimension betreffende – Öffnung jener Abgeschnittenheit nachgedacht, die ein gewissermaßen freies unbeherrschtes Leben ermöglicht, zugleich aber auch den Preis darstellt, den man für diese Freiheit zu zahlen hat. Im Gegenzug übersteigert der Erzähler die imaginäre Dimension der Abgeschnittenheit und potenziert die Unkenntnis der Dorfbewohner hinsichtlich der herrschenden politischen Verhältnisse dahingehend, dass sich die Bewohner – mit Ausnahme des Erzählers – dieser ihrer Unkenntnis nicht bewusst zu sein scheinen. Im Gegenteil sind sie von der Richtigkeit des eigenen Kenntnisstandes so überzeugt, dass ein wider alle Erwartungen eintreffender kaiserlicher Beamter mit seiner Berufung auf den aktuellen Kaiser in Legitimationsschwierigkeiten geraten müsste, hielte man diesen doch für bereits vor langer Zeit verblichen. Entsprechend nähme man den Beamten gar nicht erst ernst. Die wichtige Erkenntnis, auf die Kafkas Text nicht zuletzt durch die Einbindung des zeitgenössischen China-Diskurses aufmerksam macht, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wirksam ist nicht die eine, objektive Realität; handlungsleitend bzw. politisch entscheidend sind vielmehr – so simplifizierend wie abstrus sie sich infolge schwachen Vorstellungsvermögens und überschießender Einbildungskraft mitunter auch ausnehmen mögen – die Fiktionen und Vorstellungen, die man sich bildet, um diese unendlich komplexe Realität zu bewältigen. Dabei entgeht dem chinesischen Erzähler nicht die Ambivalenz, die dem Triumph der Imagination über die Wirklichkeit anhaftet. Dies zeigt sich etwa in einer gestrichenen Passage, in der der Erzähler von einem Vorfall aus seiner Jugend berichtet, bei dem ein Bettler aus einer weit entfernten Nachbarprovinz, in der es zu Aufständen gekommen war, ein Flugblatt der Aufständischen mitgebracht hatte. Aufgrund der Verschiedenheit der jeweiligen Dialekte, die sich auch in der Schriftsprache niederschlägt, hielten die Menschen im Dorf die Ereignisse für „[a]lte Dinge, längst gehört, längst verschmerzt.“134 Und obwohl rückblickend dem Bettler die grauenhaften Erlebnisse unverkennbar anzusehen waren, überspielte man damals lachend diesen Eindruck und jagte den Bettler davon. Für den Erzähler belegt dieser Vor-

134 KKAN I App., S. 298.

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fall, wie „bereit […] man bei uns [ist,] die Gegenwart auszulöschen.“135 Eine der Ambivalenzen dieser Realitätsverweigerung liegt folglich darin, dass sie nicht nur die Befehlskette bei Anweisungen von oben durchbricht, sondern auch zu einer Entsolidarisierung im Falle revolutionärer Erhebungen von unten führen kann.136 Doch noch die flüchtig betrachtet positiven Effekte, die die Ersetzung der Realität durch Imaginationen dieser Realität begleiten, stehen in Frage. Darauf deuten jene Formulierungen, mit denen der Erzähler die Behauptung einer daraus ableitbaren Herrschaftslosigkeit einschränkt, relativiert und teilweise zurücknimmt. So sei die Folge der beschriebenen Realitätsersetzung lediglich ein „gewissermaßen freies unbeherrschtes Leben“ und mit der Folgerung „daß wir im Grunde gar keinen Kaiser haben, wäre man von der Wahrheit nicht weit entfernt.“137 Wie weit man damit nun entfernt wäre, ist aber der entscheidende Punkt. Diese vorsichtigen Formulierungen werfen also die Frage auf, ob und in welchem Umfang solche die Gegenwart auslöschende Weltsicht tatsächlich ein gemeinschaftliches Zusammenleben in Freiheit und ohne Herrschaft ermöglicht. Mit der Präzisierung dessen, was mit der Formulierung „gewissermaßen freies unbeherrschtes Leben“ gemeint sei, nämlich ein überaus sittliches Leben, „das unter keinem gegenwärtigen Gesetze steht und nur der Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreicht“,138 sucht der Erzähler dem Vorwurf vorzugreifen, ein freies unbeherrschtes Leben müsse zu einem Verfall der Sitten führen, und streicht damit die herrschende „Sit-

135 KKAN I App., S. 299. 136 In den Resonanzen zum zeitgenössischen China-Diskurs zeigt sich die Aktualität dieser Episode aus der Jugend des Erzählers. So verfolgt man etwa u. a. im Umfeld der Aktion die von Wuhan ausgehende revolutionäre Erhebung von 1911 mit Interesse (vgl. etwa N. N. „Die chinesische Revolution“. In: Die Aktion 2.42 (1912), Sp. 1319–1321) und diskutiert die Frage, ob und inwieweit von diesen Ereignissen echte Veränderungen zu erwarten seien, oder ob China vielmehr sein Image als „balsamierte Mumie“ bestätigen würde. Auch zur Zeit der Niederschrift der Erzählung schien diese Frage keineswegs entschieden zu sein. Ließ sich doch der Präsident der eben erst gegründeten Republik 1915 kurzzeitig erneut zum Kaiser ernennen – eine Episode, die allerdings nur kurze Zeit währte, ebenso wie ein wenige Tage dauernder Restaurationsversuch im Juli 1917. Womöglich ist die Streichung der Passage der „Zurückhaltung gegenüber allen ungesicherten Mutmaßungen zur gegenwärtigen und zukünftigen Situation Chinas“ geschuldet, die Harald Neumeyer hinter dem „Verzicht der Kafkaschen Texte auf die Ausgestaltung politischer und kultureller Umbruchsprozesse“ vermutet. Neumeyer, s. Anm. 7, S. 189. 137 KKAN I, S. 354 [Hervorhebung C.D.]. 138 KKAN I, S. 354 f.

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tenreinheit“139 , die ihm nirgends größer zu sein scheint als hier, implizit als positiven Zug dieses gewissermaßen freien unbeherrschten Lebens hervor. Mit dieser Hervorhebung der eingehaltenen Sitte bei gleichzeitiger Unwirksamkeit formalisierter Gesetze charakterisiert er das Leben im Dorf als Gemeinschaftsleben ganz im Sinne der zeitgenössischen Soziologie,140 wie es auch im zeitgenössischen antiimperialistischen China-Diskurs, etwa bei Dickinson, utopisch verklärt wird, wenn es heißt: „in diesem lieblichen Tal leben tausende von Menschen ohne irgend welche Gesetze, ausser jenen der Gewohnheit, ohne jede Herrschaft, ausser jener ihres eigenen Herzens.“141 Nun sind es aber gerade die geltenden „Sitten“, das Recht der Gewohnheit, die es notwendig machen, die Behauptung, es handle sich um ein „freies unbeherrschtes Leben“, zu relativieren und lediglich von einem gewissermaßen freien unbeherrschten Leben zu sprechen. Folgt man §9 zum Thema Begriff der Sittlichkeit der Sitte aus Nietzsches Morgenröte, der in den zeitgenössischen rechtsphilosophischen und soziologischen Abhandlungen zur Sitte einen entscheidenden Referenzpunkt darstellt,142 so muss man gar den Eindruck gewinnen, das Vorherrschen der Sitte schließe Freiheit und Unbeherrschtheit aus, macht man Herrschaft nicht allein an der effektiven Präsenz einer Herrscherfigur und Unfreiheit nicht ausschließlich an der Geltung gesatzten Rechts fest: 139 KKAN I, S. 354. 140 So hängen etwa bei Tönnies Gemeinschaft, Wesenwille und Sitte eng zusammen und werden dem Zusammenhang von Gesellschaft, Kürwille und Gesetz im Sinne eines gesatzten Rechts entgegengesetzt. Vgl. Ferdinand Tönnies. „Die Sitte“. In: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft. Hrsg. von Klaus Lichtblau. Klassiker der Sozialwissenschaften. Wiesbaden: Springer, 2012, S. 131–184, S. 137, 184. Auch bei Weber spielt die Unterscheidung in Gewohnheitsrecht und gesatztes Recht eine wichtige Rolle, wobei hier eine „entwicklungsgeschichtliche Stufenfolge sozialer Ordnungen, die mit der Sitte beginnt und über die Konvention zum Recht führt“, zugrundegelegt wird. Siehe dazu ausführlicher Klaus Lichtblau. „‚Vergemeinschaftung‘ und ‚Vergesellschaftung‘ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs“. In: Zeitschrift f. Soziologie 29.6 (2000), S. 423–443, S. 427, 433 f., 439 bzw. Stephen P. Turner und Regis A. Factor. „Max Weber und das Ende der Sitte“. In: Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Hrsg. von Gerhard Wagner und Heinz Zipprian. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994, S. 563–601. 141 Dickinson, „Aus Briefen eines Chinesen“, s. Anm. 29, Sp. 1292 [Hervorh. C. D.]. Auch andernorts verklärt man insbesondere im kulturkritischen China-Diskurs die starken traditionellen Bindungen im fernen Osten, etwa das Kastenwesen und den hohen Stellenwert der Familie im Konfuzianismus. Andere heben eben dies wiederum als rückständig hervor und prangern etwa die Sippenhaftung an. Vgl. Otto Corbach. „Hemmungen des Fortschritts in China“. In: Die Grenzboten 66.2 (1907), S. 1–11, S. 3. 142 Siehe dazu ausführlicher Turner und Factor, s. Anm. 140.

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Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich nicht mehr !), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es keine Sittlichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet „böse“ so viel wie „individuell“, „frei“, „willkürlich“, „ungewohnt“, „unvorhergesehen“, „unberechenbar“. […] Was ist das Herkommen? Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt. — Wodurch unterscheidet sich diess Gefühl vor dem Herkommen von dem Gefühl der Furcht überhaupt? Es ist die Furcht vor einem höheren Intellect, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem, — es ist Aberglaube in dieser Furcht.143

Wenn Nietzsche Freiheit als Unabhängigkeit vom Herkommen bestimmt, so ist ein Gemeinschaftsleben, sofern es sich auf Sitte, Gewohnheitsrecht, Tradition beruft, mit einem wirklich freien unbeherrschten Leben unvereinbar. Eben solches Gemeinschaftsleben zeichnet aber laut Erzähler sein Dorf aus, denn das Leben hier ist ausschließlich vom Herkommen bestimmt, wenn es „nur der Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreichen“.144 Dass die Warnungen und Weisungen aus alten Zeiten in der Tat keineswegs eine unbedeutende Einschränkung der Freiheit darstellen, weshalb man diese Freiheit eben nicht weitgehend mit der Unabhängigkeit von formalisierten Gesetzen in Eins setzen kann, wird besonders anschaulich, wenn der Erzähler davon spricht, dass hinter der davoneilenden Sänfte des nicht ernst genommenen kaiserlichen Beamten „irgendein willkürlich aus schon zerfallener Urne Gehobener aufstampfend als Herr des Dorfes“145 aufsteige. Mit dieser Figur scheint der Erzähler die an Stelle des kaiserlichen Beamten effektiv herrschende Autorität der dörflichen Sitten zu anthropomorphisieren, die tatsächlich dadurch ihre Wirksamkeit erhalten mögen, dass man sich bei der Erklärung ihres Ursprungs oder der Konsequenzen im Falle ihrer Verletzung auf einen imaginierten Dorfahnen beruft. Das Merkmal des Aufstampfens, das despotisch und befehlend wirkt, weil es das einzige Attribut ist, das diesem Herrn des Dorfes zugeschrieben wird, bestätigt Nietzsches Behauptung, wonach die etwa durch (vermeintliches) Alter legitimierte Autorität des Her-

143 Friedrich Nietzsche. Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3. Kritische Studienausgabe. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, 1999 (im Folgenden zit. als KSA 3), S. 21 f. 144 KKAN I, S. 355 [Hervorh. C.D.] 145 KKAN I, S. 354.

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kommens alleine dadurch zum Gehorchen auffordere, weil sie eben befehle, ohne dass dieses Befehlen durch bestimmte Zwecke legitimiert sein müsste. Willkürlich erscheint die Wahl146 dieses Dorfdespoten, wenn man in Rechnung stellt, dass die Tradition, die Vergangenheit, das Herkommen, die ausschlaggebend dafür sind, wer hier aus zerfallener Urne gehoben wird, ihrerseits Gegenstand der Imagination sind.147 Aufgrund der wild durcheinander gehenden Zeiten ist dies von außen betrachtet leicht zu erkennen. Demjenigen, der diesen Despoten imaginiert, stellt sich hingegen gar nicht erst die Frage, wen er hier imaginiert. Es ergibt sich für ihn zwingend oder gleichsam natürlich aus der Tradition, die ihm als etwas Gegebenes, historisch Gewachsenes, Organisches erscheint. Die grundsätzliche Einsicht, dass Tradition etwas Imaginiertes ist, bedeutet also noch nicht notwendig, dass jene, die diese Tradition imaginieren, sich ihres Imaginierens bewusst sind, geschweige denn, dass sie Herr im Haus ihrer Imagination wären und willentlich über sie verfügen können. Dabei wird folgende Aporie deutlich: Nur wenn die imaginierte Tradition, die Sitte, das Herkommen als Tradition mit all ihrer Autorität ernst genommen d. h. als gegeben hingenommen wird, vermag sie von den Einschränkungen der Freiheit durch Kaiser und Gesetz zu befreien, doch nur insofern man sich ihrer als einer Imagination bewusst wird und willentlich über sie verfügt, entkommt man den Zwängen, die von der Sitte ausgehen. Was der Erzähler auf Dorfebene beschreibt und zu durchschauen scheint, holt ihn offenbar auf der durch den Mauerbau in den Blick geratenden nationalen Ebene selbst ein – nicht zuletzt deshalb, weil er bei aller Vorsicht vor Verallgemeinerungen am Ende doch verallgemeinert und von den Bedingungen in seinem Dorf zumindest in groben Zügen auf die Bedingungen im restlichen Reich schließt.148 Dabei scheint dem kaiserlichen Beamten auf nationaler Ebene der Kaiser und dem imaginierten Dorfherren die Führerschaft zu entsprechen. Denn auch wenn der Kaiser glaubt, den Mauerbau angeordnet zu haben, wie der Erzähler in einer gestrichenen Passage behauptet, so kommt er für ihn als bestimmende Macht auch und gerade beim Mauerbau nicht in Frage.149 Stattdessen repräsentiert für den Erzähler die Führerschaft jene Macht, die für ihn zweifellos im Spiel ist, angesichts der gewaltigen Ar146 Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch das ambivalente Bild der Urne, das sowohl auf eine freie Wahl, als auch auf die Macht der Tradition verweist. 147 Damit scheint sich die bei Tönnies vorgenommene Assoziation von Sitte und Wesenwille einerseits und Gesetz und Kürwille bzw. Willkür andererseits genau umgekehrt zu haben. 148 Vgl. KKAN I, S. 355. 149 KKAN I App., S. 293.

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beiten, die unter erheblichen Opfern150 erbracht werden. Dabei scheint auch diese schwer greifbare Macht – wenigstens teilweise – mit jener außerordentlichen Sittenreinheit zu tun zu haben, die der Erzähler für sein Volk in Anspruch nimmt. Jedenfalls verfügt die Führerschaft über sämtliche Eigenschaften, mit denen Nietzsche das Herkommen charakterisiert, und auch das Gefühl des Erzählers gegenüber der Führerschaft entspricht Punkt für Punkt dem, wie Nietzsche es bezogen auf das Herkommen beschreibt.151 So stellt die Führerschaft für den Erzähler zweifellos eine „höhere Autorität“ dar, der „man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt.“152 Man gehorcht ihr, weil sie anordnet und nicht, weil der Mauerbau, den sie anordnet, nützlich wäre. Der Erzähler stellt dezidiert fest, dass die Mauer nicht gegen die Nordvölker zu schützen vermag und die Führerschaft offenbar „etwas Unzweckmäßiges wollte“.153 Und auch die Furcht des Erzählers vor der Führerschaft ist unverkennbar „die Furcht vor einem höheren Intellect, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem“.154 Der höhere Intellekt zeigt sich schon daran, dass sich der im Namen vieler sprechende Erzähler eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft […] selbst kennengelernt und gefunden [hat], daß ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand auch nur für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte.155

Diese imaginierte Asymmetrie des Wissens setzt sich in allen Bereichen fort: Während die Führerschaft für den Erzähler stets „unbegreiflich und unbestimmt“156 bleibt, wenn er sie etwa nur in einer Stube vermuten kann, von der niemand „weiß und wusste“, „wo sie war und wer dort saß“,157 scheint 150 Der Erzähler hebt an einer Stelle hervor, dass die Mauer das „Ergebnis der Mühe und des Lebens von Hunderttausenden“ sei. KKAN I, S. 344. 151 Dabei korrespondiert die Charakterisierung der Chinesen als überaus sittliches Volk im zeitgenössischen China-Diskurs nicht nur mit dem verklärenden Blick auf China im Rahmen der antiimperialistischen Ausrichtung, sondern – negativ gewendet im Sinne eines extrem ausgeprägten Konservativismus und Mangel an Flexibilität – auch mit einem überheblich-kolonialistischen Blick auf China. Vgl. Bauer, s. Anm. 34, S. 174. 152 KSA 3, S. 22. 153 KKAN I, S. 345. 154 KSA 3, S. 22. 155 KKAN I, S. 344 f. 156 KSA 3, S. 22. 157 KKAN I, S. 345.

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diese unergründliche Führerschaft über jeden im Volk genau Bescheid zu wissen, wobei wiederum im Dunklen bleibt, wie sie im Einzelnen darüber denkt und urteilt und was die Konsequenzen wären, würde ihr Urteil negativ ausfallen: „Sie kennt uns. Sie, die ungeheuere Sorgen wälzt weiß von uns, kennt unser kleines Gewerbe, sieht uns alle zusammensitzen in der niedrigen Hütte, und das Gebet das der Hausvater am Abend im Kreise der Seinigen sagt ist ihr wohlgefällig oder mißfällt ihr.“158 Die Furcht vor der Führerschaft betrifft vornehmlich die Anmaßung, über die Führerschaft und die Beweggründe hinter ihren Anordnungen Bescheid zu wissen und diese Anordnungen am Ende gar in Frage zu stellen. Daher lautet der „geheim[e] Grundsatz vieler“: „Suche mit allen Deinen Kräften die Anordnungen der Führerschaft zu verstehn, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze, dann höre mit dem Nachdenken auf.“159 Selbst die negativen Konsequenzen, die man beim Überschreiten dieser Grenze erwartet, bleiben ungewiss. Man wagt nicht einmal, sie offen als negativ zu bezeichnen und spricht lieber in andeutenden Gleichnissen darüber.160 Und noch bei der Vermutung, dass die Führerschaft etwas „mehr als Persönliche[s]“161 darstellen müsse und nicht etwa zusammenkäme wie „hohe Mandarinen“,162 hinterfragt der Erzähler, ob er sich „einen solchen Gedanken über die Führerschaft erlauben darf“.163 Mit Blick auf den – sofern man den Gerüchten glauben darf – in der Vergangenheit liegenden Mauerbau scheinen nun die befürchteten, von der Führerschaft ausgehenden Konsequenzen, die der Erzähler ins Bild drohender Gewitterwolken fasst, keine Bedrohung mehr darzustellen.164 Entsprechend kann er es wagen, nach einer Erklärung des Teilbaus zu suchen, die über das hinausgeht, womit man sich zur Zeit des Mauerbaus begnügte. In dieser Untersuchung kommt er zu dem Schluss, dass die Methode des Teilbaus eine Mauer hervorbringt, deren Lücken dem Vernehmen nach größer sind, als die Mauerteile selbst, wodurch sie sich als Schutz gegen äußere Gefahren als nutzlos erweist. Überdies scheint sie auch angesichts der großen Distanzen im Reich – dieser Topos ist aus dem zeitgenössischen China-Diskurs

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KKAN I, S. 347 f. KKAN I, S. 345. Vgl. KKAN I, S. 345 f. KSA 3, S. 22. KKAN I, S. 348. KKAN I, S. 348. Vgl. KKAN I, S. 346.

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bekannt165 – überflüssig zu sein. Die Führerschaft hat also offenbar etwas Unzweckmäßiges angeordnet, wobei die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Mauerbaus durchaus drängt, angesichts der unermesslichen Opfer, die dabei erbracht werden mussten. Da hier der eigene bedingungslose Gehorsam zu hinterfragen wäre, scheint dann doch jener Punkt erreicht zu sein, an dem der Erzähler seine Reflexionen zur Führerschaft vorsichtshalber nicht weiter fortführt und stattdessen das Thema hin zum Kaisertum verlagert. Ob jene Macht, die der Erzähler wohl auf sich wirken fühlt, und die er behelfsmäßig nur als „Führerschaft“ bezeichnen kann, tatsächlich ausschließlich von den Sitten ausgeht, ist nicht eindeutig beurteilbar. Jedenfalls lässt sich die Führerschaft als Sammelbegriff für jene Macht begreifen, die nicht vom Kaiser ausgeht, sondern ähnlich unüberschaubar, unpersönlich und verstreut zu sein scheint wie die Bevölkerung, die er als Person nur unzureichend zu repräsentieren vermag. Wenn der Erzähler dieser Führerschaft zumindest ein Stück weit auf die Spur zu kommen sucht, so unternimmt er – mit Foucault gesprochen – immerhin in Ansätzen den Versuch, „im politischen Denken“ und in der „politischen Analyse“ den „Kopf des Königs“166 bzw. in diesem Falle des Kaisers rollen zu lassen und fordert mit seiner unvermittelten Themenflucht zum Kaisertum regelrecht dazu heraus, eine solche Analyse fortzusetzen – und zwar auch und gerade in jenen Kontexten, die in Beim Bau der chinesischen Mauer aufgerufen werden. Anhaltspunkte für eine solche Analyse der Sitten bzw. allgemeiner: jener Macht, die sich nicht einer herrschenden Person verrechnen lässt, liefert die chinesische Erzählstimme selbst, die sich allerdings stark vom europäischen Diskurs überformt präsentiert und entsprechend, zumindest in zwei entgegengesetzte Richtungen weist: in Richtung eines westlichen ebenso wie in die eines fernöstlichen Kontextes. Mit Blick auf den westlichen Kontext führt der Text vor, wie sich eine Ordnung überholt, welche auf einem Recht aufbaut, dessen Einhaltung staatlich überwacht und im Falle der Nichteinhaltung sanktioniert wird,167 angesichts einer konkurrierenden Ordnung, in der man eine Instanz fürchtet, die ganz 165 Vgl. etwa den Hinweis Otto Corbachs, wonach China „zu riesig an Ausdehnung“ sei, „um mit militärischen Mitteln vergewaltigt werden zu können.“ Corbach, „China“, s. Anm. 8, Sp. 1095. 166 Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter. 12. - 13. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1986, S. 110. 167 Dies zeigt sich nicht nur daran, dass der kaiserliche Beamte, der die Einhaltung des Rechts überwacht und sanktioniert, nicht ernst genommen wird, sondern auch daran, dass der

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genau sowohl über jeden Einzelnen als auch über die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit Bescheid weiß. Und während man sich noch fragen kann, ob der Führerschaft intradiegetisch eine Realität entspricht oder ob sie mit Nietzsche bloß einen Effekt der Wirkmacht der Sitten darstellt, muss man feststellen, dass sie in westlichen Gesellschaften etwa als Verwaltungsapparat und als Effekt der Furcht vor einem Verwaltungsapparat, ähnlich wie er in Kafkas Schloss zum Ausdruck kommt, Realität geworden ist. Dabei schärft Beim Bau der chinesischen Mauer den Blick für die im Westen, zuletzt aufgrund der sich beständig erweiternden technischen und statistischen Möglichkeiten, kontinuierlich an Bedeutung gewinnenden neuen Machtverfahren, die sich nach Michel Foucault seit dem 18. Jahrhundert zunehmend auf das Leben der Menschen richten und „die nicht mit dem Recht sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe sondern mit der Kontrolle“,168 wobei bereits Kafkas Erzählfragment auf eben diese Charakteristik aufmerksam macht. So wird deutlich, dass die vom Erzähler unterstellte Asymmetrie des Wissens zwischen Führerschaft und Einzelnem in Europa und Amerika – ersetzt man ‚Führerschaft‘ etwa durch ‚Verwaltungsbehörde‘ und hierzu scheint die Rede von der „Stube der Führerschaft“169 durchaus zu berechtigen, die man als Anspielung auf die Amtsstube lesen kann170 – durch den Einsatz moderner Technik, wie der beim österreichischen Zensus 1890 erstmals eingesetzten Hollerith-Maschine, bereits manifest geworden ist.171 Solche Maschinen erlau-

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Erzähler den Kaiser nicht für den Veranlasser des Mauerbaus hält und der Kaiser stets als bedroht oder sterbend imaginiert wird. Vgl. KKAN I, S. 350 ff. Foucault, Der Wille zum Wissen, s. Anm. 166, S. 110 f. KKAN I, S. 345. Ebenso lässt sie sich aber auf den ‚Stubengelehrten‘ beziehen: In einem Brief an Felice Bauer vom 4.–5. Dezember 1912 schreibt Kafka „immer findet man in der chinesischen Literatur diesen Spott und Respekt vor dem ‚Stubengelehrten‘“ Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Briefe 1900–1912. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1999 (im Folgenden zit. als KKABr 1), S. 301. Organisiert wurde diese Volkszählung, bei der diese auf Lochkarten basierende Zähl- und Sortiermaschine erstmals in Österreich eingesetzt wurde, von Heinrich Rauchberg, bei dem Kafka 1905 ein Seminar zu „Allgemeiner und österreichischer Statistik“ belegte. Siehe dazu ausführlicher Burkhardt Wolf. „Zwischen Tabelle und Augenschein. Abstraktion und Evidenz bei Franz Kafka“. In: »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen. Hrsg. von Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer. Bielefeld: transcript, 2006, S. 239–257 und Bernhard J. Dotzler. „‚Nur so kann geschrieben werden‘ Kafka und die Archäologie der Bio-Informatik“. In: Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hrsg. von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008, S. 55–78, S. 58 f.

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ben immer mehr Daten über jeden einzelnen Staatsbürger und jede Staatsbürgerin – etwa über das „klein[e] Gewerbe“,172 dem er bzw. sie nachgeht – zu sammeln und zu verarbeiten und somit auf immer mehr Lebensbereiche steuernd einzuwirken. Auf diese von Einzelnen abstrahierenden und sie entsprechend objektivierenden statistischen Verfahren und Betrachtungsweisen, mit denen Franz Kafka als Versicherungsangestellter bestens vertraut war, deuten etwa Ausdrücke im Text wie jener des „Menschenmaterial[s]“.173 Auch die für die Sittlichkeit so bestimmende Orientierung am Herkömmlichen, Gewöhnlichen, lässt sich mit solchen statistischen Verfahren – etwa als Orientierung an Quételets homme moyen, am Durchschnittsmenschen174 – objektivieren, quantifizieren, professionalisieren. Nicht das gesatzte Recht, nicht das Gesetz ist entscheidend, sondern die Norm und der Grad der Abweichung. Damit wird auf Kosten des Gesetzes jenen Sitten wieder mehr Gewicht gegeben, die zumindest im Anschluss an das oben zitierte NietzscheZitat die Furcht vor einer opaken, unpersönlichen intellektuell überlegenen, befehlenden, absoluten Gehorsam fordernden Macht hervorrufen. Und noch diesen Effekt scheint man sich im Rahmen der neuen Machtverfahren zunutze zu machen. Anstatt gesatztes Recht zu kontrollieren und im Falle von Verstößen zu tadeln oder zu strafen, wie es in Kafkas Erzählung am kaiserlichen Beamten veranschaulichend durchgespielt wird,175 setzt man im Westen zunehmend darauf, dem potentiellen Abweichler von der Norm das unbestimmte Gefühl zu vermitteln, beobachtet bzw. kontrolliert zu werden und somit die Selbstkontrolle und vorauseilenden Gehorsam zu aktivieren. Paradigmatisch für diese Logik kann Jeremy Benthams Idee des Panopticon stehen, wie Michel Foucault in Überwachen und Strafen gezeigt hat.176 Hier wird sodann besonders deutlich, dass sich diese Machtverfahren „auf Ebenen und in Formen vollziehen, die über den Staat und seine Apparate hinausgehen“,177 denn die Art und Weise, in der der Erzähler diese wirkmächtige Fiktion der Führerschaft imaginiert, macht bereits einen Teil jener Machteffekte aus, die auf ihn einwirken und die er nicht dem Kaiser als alleinigem Repräsentanten der Macht zuschreiben kann. Damit stellt Kafkas Text erneut 172 KKAN I, S. 347. 173 KKAN I, S. 355. 174 Diese ist Thema in der kurzen Erzählung, der Max Brod den Titel Eine Gemeinschaft von Schurken gegeben hat. 175 KKAN I, S. 353. 176 Michel Foucault. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. von Walter Seitter. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 184. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977, S. 251– 292. 177 Foucault, Der Wille zum Wissen, s. Anm. 166, S. 111.

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die politische Wirksamkeit des Imaginären heraus, die noch in den fortgesetzten Machtanalysen der späteren Chinatexte von 1920 zentral ist.178 Die Konstellation, in der man sich als Untertan angesichts eines nicht wirksam in Erscheinung tretenden Herrschers die Frage stellt, ob man einen solchen überhaupt hat, und in der dennoch alle Arbeit erbracht wird, wobei ein seit jeher bestehendes, kaum durchschaubares Prinzip den Lauf der Dinge zu bestimmen scheint, weist auch in Richtung des erwähnten fernöstlichen Kontexts. Genauer ruft sie das eingangs bereits vorgestellte, vor allem von anarchistisch gesinnten Zeitgenossen Kafkas enthusiastisch aufgegriffene daoistische Konzept wuwei auf, insbesondere so, wie es etwa in Kapitel 17 des Daodejing präsentiert wird: Herrscht ein ganz Großer, so weiß das Volk nur eben, daß er da ist. Mindere werden geliebt und gelobt, noch Mindere werden gefürchtet, noch Mindere werden mißachtet. Wie überlegt waren jene [ganz Großen] im Werten ihrer Worte! Die Werke wurden vollbracht, die Arbeit wurde getan, und die Leute im Volk dachten alle: ‚Wir sind selbständig.‘179

Hier wird die Tatsache, dass das Volk vom Walten des Herrschers keine Notiz nimmt, als Zeichen für sein Regieren im Einklang mit Dao gewertet, dem die Wandlung aller natürlichen Erscheinungen bestimmenden Prinzip. Entsprechend nehmen sie den Lauf der Dinge als natürlich und nicht etwa als gelenkt wahr und wähnen sich selbstbestimmt und frei. Dabei wird in Kapitel 3 deutlich, dass der im Sinne des Nicht-Handelns (wuwei) regierende Herrscher die Menschen durchaus lenkt, wenn er sie arbeitsam macht und hinsichtlich seines eigenen im Einklang mit Dao stehenden bzw. Dao ermöglichenden Wirkens gezielt im Ungewissen belässt: Er [der Berufene] macht ihr Herz leer und ihren Leib tüchtig. Er macht ihr Begehren schwach und ihre Knochen stark. Er sorgt stets, daß die Leute ohne Erkennen und ohne Begehren sind, und daß jene ‚Erkennenden‘ nicht zu handeln wagen. Das Nicht-Handeln üben: so kommt alles in Ordnung.180

178 Man denke an den beherrschenden Blick des Oberst in Unser Städtchen liegt, an Zur Frage der Gesetze, wo die Menschen nach Gesetzen beherrscht werden, die sie nicht kennen, oder auch an Die Abweisung, wo die Rituale der Macht genauer in den Blick genommen werden. 179 TTK, S. 19. 180 TTK, S. 5.

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Nun würde dieser daoistische Kontext neben Nietzsches Überlegungen zu den Sitten eine weitere Erklärung dafür bieten, weshalb das Verhältnis zwischen Kaiser und Führerschaft von Kafkas chinesischem Erzähler nicht thematisiert wird und entsprechend dunkel und rätselhaft bleibt. Solche Erklärungen müssen aber notwendigerweise hypothetisch bleiben. Und ebensowenig wie es vorhin darum gehen sollte, die Führerschaft darauf festzulegen, eine Chiffre für einen modernen Verwaltungsapparat darzustellen, der den Kaiser obsolet macht, wird mit der herausgestellten analogen Konstellation auf die Unterstellung gezielt, die Führerschaft wäre mit Dao gleichzusetzen. Vielmehr soll mit dem Hinweis auf gewisse Parallelen zu daoistischen Texten um das Konzept wuwei, aber auch zu den politischen Verhältnissen im Westen exemplarisch verdeutlicht werden, dass Kafkas Erzählfragment ganz unterschiedliche Kontexte einzubinden vermag und somit strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen all diesen Kontexten herausstellt, die im zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurs mitunter gar nicht erst als Gemeinsamkeiten in den Blick kommen, weil die Kontexte als einander diametral entgegengesetzt wahrgenommen werden. Damit eröffnet Kafkas Text – und dies ist ein entscheidender Effekt dessen, was ich Umschrift nennen möchte – neue Perspektiven auf diese aufgerufenen Kontexte. So lädt Beim Bau der chinesischen Mauer etwa dazu ein, westliche Übersetzungen daoistischer Texte, die wuwei als herrschaftslose Herrschaftsform präsentieren, nicht wie gewöhnlich vor der Folie eines Gegenentwurfs zu westlichen Gesellschaften zu lesen, welche vom Verlust gemeinschaftlicher Formen des Zusammenlebens geprägt seien, von einer ausufernden Gesetzgebung und von einer immer stärkeren staatlichen Durchmachtung aller Lebensbereiche, sondern auch nach Gemeinsamkeiten zu fragen – nach Gemeinsamkeiten zwischen diesen westlichen Gesellschaften, denen so viele entkommen wollen und jener zeitlich und örtlich fernen imaginierten Gemeinschaftsutopie, zu der mit Fortgang des Weltkriegs immer mehr überwiegend junge Intellektuelle Zuflucht nehmen möchten. Diese Gemeinsamkeiten werden deutlich, weil Kafkas Text die unterschiedlichen Kon-Texte in einen Dialog bringt. Als Bindeglied kann dabei der ebenfalls aufgerufene Nietzsche-Text dienen, denn sowohl der resonierende westliche Kontext als auch der entsprechende östliche lassen sich vor der Folie von Nietzsches Paragraphen über die Sittlichkeit lesen: Dabei erscheinen die neuen westlichen Machtverfahren, insbesondere die Orientierung an einer Norm, an einem Durchschnittsmenschen, als modernisierte und rationalisierte Neuauflage einer Herrschaft der Sitten, des Herkommens, des Gewöhnlichen, die sämtliche Lebensbereiche betreffen. Im Falle

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der daoistischen Texte lässt sich mit Nietzsche kritisch fragen, ob Dao nicht auch einen Effekt der Furcht vor der Autorität der Sitten und des Herkommens darstellen könnte. Entsprechend ließe sich behaupten, dass Sitte und Herkommen, welche als Dao die daoistische Gemeinschaft bis in alle Lebensbereiche hinein zu organisieren scheinen, das Leben in ähnlicher Weise einschränken, wie die neuen Machtverfahren im Westen, die sich umgekehrt wie rationalistische Wiedergänger einer Herrschaft der Sitten ausnehmen. Damit wird in doppelter Weise aufgezeigt, dass ein Zurück-zur-Gemeinschaft und ein Weg-mit-den-Herrschern-und-Gesetzen, wie es in der immer populärer werdenden anarchistisch-kulturkritischen Daoismus-Rezeption gefordert wird, keine hinreichende Lösung des westlichen Problems der Vereinzelung in Gesellschaft und der empfundenen Unfreiheit darstellen kann: Denn einerseits erweisen sich daoistische Gemeinschaftsutopien nüchtern und u. a. mit Nietzsche betrachtet keineswegs als herrschafts- oder machtfreie Räume. Dieser Befund bestätigt sich auch insofern, als Kafkas Text nicht zuletzt auch daoistische Texte mit anderen Elementen des zeitgenössischen China-Diskurses in einen Dialog treten lässt. So korrespondiert das Nicht-in-ErscheinungTreten des daoistischen, im Sinne des wuwei herrschenden (Nicht-)Herrschers mit der im westlichen China-Diskurs immer wieder hervorgehobenen spezifischen Eigenart, in der im realen China die Enthobenheit und Unnahbarkeit des Kaisers – man denke an die Verbotene Stadt – inszeniert wird.181 Während die in Kapitel 17 des Daodejing beschriebene Tatsache, dass das Volk vom großen Herrscher nur eben weiß, dass er da ist, von den westlichen wuweiBegeisterten als Zeichen seiner Zurückhaltung gedeutet wird, macht die Art und Weise, wie sich die historischen chinesischen Kaiser bewusst (nicht) präsentieren, deutlich, dass davon unvermeidlich eine gewisse Machtwirkung ausgeht, die in letzterem Falle durch Machtrituale intentional herbeigeführt wird. Andererseits stellen sich am Beginn des 20. Jahrhunderts jene westlichen Gesellschaften, von denen man loskommen möchte, aufgrund neuer Machtverfahren zunehmend als rationalisierte, modernisierte Versionen gemeinschaftlicher, von Sitte und Herkommen geprägter Machtverhältnisse heraus, die noch viel umfassender ins Leben des Einzelnen, wie in die Bevölkerung als Ganze eingreifen, als es gesatztes Recht und souveräne Repräsentanten der Macht je vermocht hatten. Dennoch hält man offizielle Machthaber und Gesetz vielfach weiterhin für den Grund, weshalb man sich im Westen unfrei fühle und 181 Entsprechende historische Quellen führt Harald Neumeyer auf: Siehe Neumeyer, s. Anm. 7, S. 166 f.

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zu fernöstlichen Alternativen Zuflucht suchen müsse, obwohl diese im Zuge der Etablierung jener neuen Machtverfahren längst an Bedeutung eingebüßt haben.

Schlussbemerkungen In der vorliegenden Studie wurde vorgeschlagen, die untersuchten Kurztexte und Erzählfragmente Kafkas als Teil eines literarischen Diskurses zweiter Ordnung zu begreifen, dessen Außenbezüge weniger in konkreten Zitationen und Fremdanleihen zu suchen wären, sondern sich vornehmlich in unabschließbaren, sich verzweigenden Verweisstrukturen manifestieren. Entsprechend ging es nicht darum, das Zeichenspiel dieser Texte durch Monosemierungen, durch Allegorese, durch die Bestimmung parabolischer Sinngehalte oder durch die Festlegung eindeutiger Referenzquellen stillzustellen. Vielmehr sollte eine mittels Polyvalenz und Ambiguierung erzielte Vervielfältigung von Anspielungshorizonten nachgewiesen werden, die fest gefügte kulturelle Topiken innerhalb unterschiedlicher zeitgenössischer Gemeinschaftsdiskurse, d. h. deren Bestand an Motiven, Themen, Denk- und Argumentationsmuster, Gemeinplätzen, Klischees, Stereotypen, etc. angreifen oder auflösen. In diesem Zusammenhang wurde die Frage nach der immanenten Strukturierung dieser als Resonanzraum angelegten Literatur aufgeworfen. Dabei konnten ‚dialogische‘, ‚polylogische‘ und ‚babellogische‘ Verfahrensweisen herausgearbeitet werden. Neigen ‚dialogische‘ Referenzen mit ihrem mehr oder weniger ausgewiesenen zitathaften Charakter dazu, den literarischen Text zu vereindeutigen – entsprechend selten treten sie in Kafkas Texten auf –, so bleibt das ‚babellogische‘ Hintergrundrauschen, das bewusst macht, dass jede Rede andere Reden als Voraussetzung bedingt, stets präsent, doch unverständlich. Thematisch wird dieses Stimmengewirr zuweilen durch die Beschreibung der speziellen kommunikativen Bedingungen innerhalb der erzählten Welt. Wo man es mit homodiegetischen Erzählern zu tun hat oder Personen innerhalb der Diegese fokalisiert werden, wirken sich diese Bedingungen konsequenterweise auch auf die Erzählweise aus. Dabei finden sich diese Bedingungen häufig in einer Weise ausgestaltet, die ‚polylogische‘ intertextuelle Strukturierungen hervorbringt. So können sich die Ich-Erzähler bzw. fokalisierten Figuren hinsichtlich des Wahrheitsgehalts ihrer Aussagen und Gedanken häufig nur auf kursierende Gerüchte, auf das, was sie vom Hörensagen aufgeschnappt haben, berufen. Solche und ähnliche Relativierungen von Aussagegehalten zählen zu den ‚polylogischen‘ Operationen, die hinsicht-

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Schlussbemerkungen

lich der genannten anderen beiden Verfahrensweisen eine Zwischenstellung einnehmen. Sie rufen durchaus konkrete Diskurs-Konstellationen und Kontext-Ensemles auf, die keineswegs beliebig, aber dennoch nicht abschließend eingrenzbar sind. Am treffendsten wären sie vielleicht als einander überlappende, doch an den Rändern ausfransende Kontext-Felder zu visualisieren. Aufgrund ihrer Fähigkeit, den Text auf bestimmte dieser zeitgenössischen Kontext-Ensembles hin zu öffnen, ohne diese Referenzen so zu verengen, dass sie ihn in seiner Assoziationsfähigkeit einschränken, sie aber auch nicht so auszuweiten, dass ihnen alles und somit nichts Bestimmtes mehr zu entnehmen ist, galt ihnen der größte Teil der Aufmerksamkeit. Dabei wurde deutlich, dass es sich nicht etwa um besonders originelle oder innovative Sujets oder Sprachbilder handelt, die jene schillernde Vieldeutigkeit und große Anschlussfähigkeit erzeugen, welche Kafkas Literatur auszeichnet. Vielmehr werden ihr diese durch Ent-Wendungen von loci communes verliehen, von Binsenweisheiten, von stereotypischen Narrativen und Erklärmustern, von Konzepten, die bewusst oder unbewusst in aller Munde sind, von verbreiteten topologischen Relationen oder auch von Metaphern, die Kafkas Texte mit zeitgenössisch besonders virulenten Diskursen verbinden, wobei auch hier die sogenannten „toten“, abgenutzten Leitmetaphern vorherrschend sind, da sie die größten Diskursmassen einzubinden vermögen. Solch ‚disseminierende‘ Verknüpfungselemente präsentieren sich in Kafkas Texten in einer Weise, die eindeutige Zuordnungen zu konkreten Prätexten im Sinne eines philologischen, nach Einflüssen fragenden Zugangs unterläuft, da stets „eine unklar[e] Fülle alter Erzählungen“1 als Resonanzraum in Frage kommt, wobei diese alten Erzählungen durchaus auch neueren Datums sein können. Konkret wurde beispielsweise nachgezeichnet, wie das Narrativ vom technisch-zivilisatorischen Fortschritt Kafkas Stadtwappen mit dem kulturkritischen Diskurs um 1900, in welchem dieses Narrativ ubiquitär auftritt (Kapitel 1.2) verknüpft. Weitere Elemente, die große Textmassen einbinden, sind die geradezu inflationäre Thematisierung von Undingen in den Entfremdungsdiskursen, die im Zuge der industrialisierten massenhaften Herstellung von Gebrauchsgegenständen Konjunktur haben (Kapitel 4); oder auch gewisse Exotismen im Rahmen des Booms, den die europäische Daoismusrezeption um die Jahrhundertwende erfährt, befeuert von der utopischen Hoffnung auf Überwindung hierarchischer Herrschaftsverhältnisse und binärer Logik (Kapitel 6). Darüber hinaus beruft man sich vor dem Hintergrund der durch ar1

Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1992 (im Folgenden zit. als KKAN II), S. 139.

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chäologische Ausgrabungen ausgelösten Babelbegeisterung um 1900 in unterschiedlichen Kollektivierungsprojekten auf alte Mythen (Kapitel 1.1), die sich zur ‚disseminierenden‘ Kontexteinbindung ebenso eignen wie markante, vieldeutige, polyvalente Bildsemantiken und Leitmetaphern. So wurde gezeigt, wie Metaphern des Baus und des Bauens in besonderer Weise die zeitgenössischen Diskurse um Landnahme, Kolonisierung und um den Aufbau eines neuen Gemeinwesens prägen (Kapitel 5). Damit finden sich höchst relevante Gemeinschaftsdiskurse um und nach 1900 in Kafkas Texte eingebunden und verhandelt. Hinsichtlich der Erzählweisen der einzelnen literarischen Texte lässt sich als gemeinsamer Zug festhalten, dass sich Kafkas Poetik der Umschrift als Tendenz zur Reduktion auktorialer Gesten äußert, die mit einer Intensivierung kollektiver Stimmenvielfalt einhergeht. Dies wird beispielsweise durch Darstellungsoptionen wie den discours indirect libre, durch unterschiedliche Formen unzuverlässigen Erzählens, durch die Suggestion von Erzählerbefangenheiten, durch explizite oder implizit mittels Anachronismen angedeutete Herausgeber- und Übersetzungsfiktionen erreicht. Dabei wird die Ambiguität häufig noch gesteigert, indem sich nicht immer entscheiden lässt, welche bzw. wie viele dieser Modi, Vermittlungsinstanzen und Rahmungen im konkreten Fall vorliegen und einander überlagern. Im Hinblick auf die textstrategischen Funktionen dieses Schreibverfahrens konnte erstens gezeigt werden, dass Kafkas Erzählungen durch die beschriebene disseminierende Kontexteinbindung eine abstrahierende Funktion bzw. einen analytischen Charakter erhalten. Erkenntnisse, die sich aus dem literarischen Text gewinnen lassen – etwa zu den Auswirkungen bestimmter Figurationen oder kultureller Praktiken auf die Art und Weise, wie Kollektive imaginiert werden – lassen sich nicht nur auf einen oder wenige bestimmte Prä- oder Echotexte beziehen, sondern auf sämtliche Texte und Diskurse, die aufgrund ihres Gebrauchs solcher Figurationen oder Praktiken potenziell aufgerufen sind. Entsprechend konnten mit der Babel-Begeisterung um 1900, mit den etwa zeitgleichen Sündenfall-Umschriften, mit all den zionistischen Texten, die Baumetaphern in geradezu exzessiver Weise gebrauchen, mit der zeitgenössisch ebenfalls gehäuften Thematisierung von Undingen sowie mit der boomenden China-, insbesondere Daoismusrezeption neue Kontexte erschlossen werden – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass Kafkas Texte vor der Folie dieser Kontexte neu lesbar wurden, sondern auch und gerade weil sich Kafkas Texte mit diesem ihrem analytischen Charakter als programmatische Basis verstehen lassen, um die in ihnen aufgerufenen Diskurse, Kontexte, Wissensformationen und kulturelle Praktiken neu in den Blick zu nehmen.

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Dies leitet über zu einer zweiten textstrategischen Funktion der intertextuellen Schreibweise Kafkas. Durch ihre spezifische Form der ‚polyphonen‘ Einbindung unterschiedlicher Kon-Texte mit ihren jeweiligen, teilweise einander ausschließenden Implikationen und Voraussetzungen gewinnt ein literarisches Wissen um Gemeinschaft an Kontur. Je mehr Perspektiven auf die Paradoxien, Antinomien und Aporien gemeinschaftlichen Zusammenlebens versammelt werden, je vielfältiger die Art und Ordnung der verknüpften Äußerungsweisen ausfallen, je heterogener sich das eingebundene Material präsentiert, desto markanter nimmt sich die ‚Überschneidungsdichte‘ aus, in der ‚Gemeinschaft‘ als Wissensobjekt diskursiv gerade in ihrer Widersprüchlichkeit greifbar wird. Dabei verhindert die palimpsestartige Überlagerung unterschiedlicher KonTexte im literarischen Text, die zudem eine Überlagerung der jeweils mitgeführten, einander auch ausschließenden politischen Figurationen impliziert, dass eine bestimmte Art und Weise, Gemeinschaft zu imaginieren, naturalisiert oder auf andere Weise verabsolutiert wird. Hier wird zugleich die politische Dimension dieses Verfahrens deutlich, die sich schließlich als dritte textstrategische Funktion anführen lässt. Schon indem bestimmte Figurationen der Gemeinschaft durch das Verfahren der Umschrift oder der Ent-Wendung aus ihren jeweiligen Zusammenhängen herausgelöst und in den Diskurs der Literatur übertragen werden, begegnet man ihnen mit einer anderen Rezeptionshaltung, durch die der rhetorische Charakter dieser Figurationen wieder in den Blick gerät. Dadurch kann die Frage möglicher Ersetzungen aufgeworfen werden, wobei stets die Auswirkungen alternativer Figurationen auf gesellschaftliche Praktiken und die daraus hervorgehenden Verhältnisse zu bedenken wären. Insbesondere sind es aber die eingesetzten entortenden, delokalisierenden Textstrategien, die es erlauben, den Texten Kafkas eine eminent politische Wirkung zuzusprechen, da sie jene Raum- und Redeordnungen, die kollektive Identitäten stabilisieren, unterbrechen oder verunsichern. Entsprechend lag ein besonderes Interesse auf solchen literarischen Verfahren, mit denen zeitgenössische politische Gemeinschaftsprojekte gleichsam dekonstruiert werden: Dazu zählen die bereits erwähnten Erzählweisen der freien indirekten Rede, der ‚Erzählstimme‘, des unzuverlässigen Erzählens, der Suggestion von Erzählerbefangenheiten, die Perspektivierung und permanente Relativierung respektive Zurücknahme von Aussagegehalten, die Erzeugung textueller Polyphonien sowie die erzählerische Verhandlung von antithetischen oder binären Oppositionen, etwa zwischen Ideal und Wirklichkeit, Einheit und Zerstreu-

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ung, Gemeinschaft und Gesellschaft, Kollektiv und Individuum, Mythos und Moderne. Letztere vollzieht sich etwa in einer Suche nach Auswegen aus aporetischen Situationen in Form pragmatischer Zwischenlösungen, beispielsweise mittels Verzögerungstaktik, nach tröstlichen Vorstellungen, nach Widersprüchlichkeiten und Ununterscheidbarkeitszonen. Dabei konnte Kafkas Verfahren der Umschrift als Verfahren profiliert werden, das durch bestimmte Transformationsprozesse wie Ironisierung, Übertreibung, Bildumkehr, Wörtlich-Nehmen von Metaphern, Veränderungen der Erzählperspektive oder auch Genrewechsel und durch Strategien, die man im Anschluss an Nietzsche genealogisch nennen könnte, auf potentielle Resonanz-Texte ‚antwortet‘. Die Stoßrichtung zielt dabei vorwiegend auf die Denaturalisierung politischer Figurationen und Symbole sowie auf den Abbau jenes imaginären Überschusses, der für Gemeinschaftsbildungen nötig sein dürfte. Zwar scheinen solche Figurationen letztlich unausweichlich zu sein und sich nicht dauerhaft desymbolisieren zu lassen, doch wie in der vorliegenden Arbeit dargestellt werden konnte, zeigt Kafkas Poetik der Umschrift Möglichkeiten auf, diese wieder einem Nachdenkprozess und in weiterer Folge vielleicht einem Aushandlungsprozess darüber zuzuführen, welche Figurationen für wen und warum geeigneter sein könnten als andere.

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Personenregister Achad Haam s. a. Ginsberg, Ascher Hirsch 52, 54, 232, 234–239 Agamben, Giorgio 8, 118, 229 Anderson, Benedict 108 Anz, Thomas 3 Aristoteles 141, 160, 228 Attanucci, Timothy 197 Bachofen, Johann Jakob 144 Bachtin, Michail Michailowitsch 15 Backhouse, Edmund 274 Balke, Friedrich 15 Ball, Hugo 266 Barthes, Roland 12, 205, 206 Baßler, Moritz 13 Battegay, Caspar 9 Bauer, Felice 13, 73, 98, 181, 246, 286 Bauer, Wolfgang 257, 261, 273 Beneš, Jan 36 Benjamin, Walter 19, 224, 266 Bentham, Jeremy 287 Bismarck, Otto von 251 Blanchot, Maurice 8, 119 Blei, Franz 183 Blumenberg, Hans 104, 163, 178 Böhme, Hartmut 196, 200 Böhringer, Hannes 233 Brecht, Bertolt 19, 245 Brod, Max 10, 24, 31, 33, 72, 73, 75–80, 83,

84, 86, 88–90, 94, 98–102, 127, 143, 149, 151, 164, 206, 245, 268, 287 Bruegel, Pieter 44 Bryan, William Jennings 258 Buber, Martin 49, 50, 53, 55, 56, 72, 74, 76, 85, 92–100, 103, 121, 136, 137, 149–151, 157, 163, 168, 169, 181, 203, 232, 234, 239, 240, 245–247, 250, 260, 263, 264, 266–268 Canetti, Elias 242 Cassirer, Ernst 84 Ching-t’ao, Wang 92 Cixi s. a. Tse-Si und Tzu Hsi 274 Cohen, Hermann 84, 93 Corbach, Otto 252–254, 277, 285 Culkin, John 199 Curtius, Ernst Robert 269 Darwin, Charles 265 Deleuze, Gilles 5, 15, 186 Delitzsch, Friedrich 49 De Man, Paul 113 Derrida, Jacques 17 Detering, Heinrich 246 Dickinson, Goldsworthy Lowes 255–259, 277, 280 Döblin, Alfred 245, 247, 265

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 13 Druffner, Frank 179 Ehrenstein, Albert 245 Engel, Manfred 18, 244, 248 Engels, Friedrich 199, 233, 239 Epikur 177 Erdle, Birgit 155 Esposito, Roberto 8 Feuerbach, Ludwig 178 Flaubert, Gustave 13, 197 Foster, Edward M. 258 Foucault, Michel 35, 141, 168–170, 230, 237, 285–287 Genette, Gérard 17, 20, 134 Gibbs, James 187 Gides, André 183 Ginsberg, Ascher Hirsch s. a. Achad Haam 52, 54, 232, 234–239 Glaser, Kurt 247 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 152 Goldsmith, Oliver 256 Greiner, Bernhard 47, 84 Grillparzer, Franz 13 Gross, Otto 38, 39, 62, 72, 137, 143–148, 150, 151, 156, 170, 179 Guangxu 274 Guattari, Félix 5 Gunkel, Hermann 40

320 Haeckel, Ernst 144 Hamann, Johann Georg 153 Hammurabi 41, 42 Harden, Maximilian 275 Hart, Heinrich 265 Hart, Julius 265 Hauser, Kaspar 6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 84, 199 Henschke, Alfred s. a. Klabund 245, 266 Herder, Johann Gottfried 153, 251 Herzl, Theodor 52–56, 58–61, 63–70, 72, 232–234, 239 Hesse, Hermann 245, 246, 266 Hobbes, Thomas 211, 265 Hoffmann, Heinrich 13 Hölderlin, Friedrich 174 Homer 77 Innerhofer, Roland 185 Janouch, Gustav 6 Jung, Carl Gustav 246 Kafka, Ottilie (verh. David) 248 Kant, Immanuel 84, 152–155, 158, 166 Kantorowicz, Ernst Hartwig 117 Kayser, Rudolf 72 Kierkegaard, Søren Aabye 181 Kircher, Athanasius 46, 47, 51 Klabund s. a. Henschke, Alfred 245, 266 Kleist, Heinrich von 13 Koch, Hans-Gerd 203 Kohn, Hans 116, 267, 268 Koldewey, Richard 35, 36, 44, 49

Personenregister

Körte, Mona 198 Koschorke, Albrecht 131, 132, 135, 158, 170 Koselleck, Reinhart 227, 228 Kracauer, Siegfried 269 Krapotkin, Peter s. a. Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 144, 151, 264, 265 Kristeva, Julia 12, 15, 17, 20, 58 Krochmal, Nachman 84 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch s. a. Krapotkin, Peter 144, 151, 264, 265 Kuh, Anton 150, 151 Kwon, Hyuck Zoon 183

Landa, Sara 249 Landauer, Gustav 97, 239, 264 Lao-Tse s. a. Laozi 94, 95, 97, 247, 264, 274 Laozi s. a. Lao-Tse 94, 95, 97, 247, 264, 274 Lefort, Claude 21 Leibniz, Gottfried Wilhelm 130 Lepper, Marcel 179 Liä Dsi s. a. Liezi 247, 261 Lichtblau, Klaus 108–110 Liebrand, Claudia 12 Liezi s. a. Liä Dsi 247, 261 Linse, Ulrich 265 Lipphardt, Veronika 236 Liska, Vivian 6, 9 Löwy, Michael 86 Löwy, Siegfried 10 Lüdemann, Susanne 104, 105, 112, 113, 119 Lyotard, Jean-François 119

Marx, Karl 188–192, 196, 197, 199, 200, 204, 210 Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 255 Mülder-Bach, Inka 140, 150, 151, 156, 178 Nägele, Rainer 3 Nancy, Jean-Luc 6, 8 Nebukadnezar II. 37 Neumeyer, Harald 244, 254, 279, 290 Nicolai, Georg Friedrich 265 Nietzsche, Friedrich 16, 31, 78, 89–92, 94–96, 100, 101, 104–107, 112, 113, 120, 126, 144, 151, 160, 162, 163, 167–171, 177, 178, 181, 280, 281, 283, 286, 287, 289, 290, 297 Owen, Robert 233 Parkes, Alexander 187 Pasley, Malcolm 75 Paul, Jean s. a. Richter, Johann Paul Friedrich 133 Paulus von Tarsus 163 Pick, Otto 245 Pinthus, Kurt 245 Platon 31, 32, 74, 90, 91, 93, 94, 96, 100, 105, 228 Plessner, Helmuth 70, 71, 80, 91, 92, 115, 138, 140, 142, 143, 148, 160, 168, 169, 211 Plivier, Theodor Otto Richard 266 Polaschegg, Andrea 33, 35, 41, 44, 49, 57, 70, 73

321

Personenregister

Pollak, Milena 75 Preyer, William 265 Puyi 274 Quételet, Adolphe 287 Quinet, Edgar 35 Rauchberg, Heinrich 286 Reuß, Roland 181 Reuß, Roland 180, 181 Richter, Johann Paul Friedrich s. a. Paul, Jean 133 Robert, Marthe 6 Robertson, Ritchie 6 Roger des Genettes, Edma 13 Rokeach, Yissachar Dov I. 206 Rokem, Na’ama 66 Rosenzweig, Franz 84 Rousseau, Jean-Jacques 118, 137, 143, 152 Rubiner, Ludwig 62, 72 Ruppin, Arthur 237 Saint-Simon, Henri de 233 Saussure, Ferdinand de 15 Schiller, Friedrich 155

Schmitt, Carl 4, 223–225 Schmitz-Emans, Monika 5 Schopenhauer, Arthur 165 Schößler, Franziska 12 Simmel, Georg 178 Singer, Kurt M. 150 Spengler, Oswald 229

Vico, Giambattista 153 Vismann, Cornelia 224, 225 Vogl, Joseph 8, 14, 15, 79, 116, 178, 203, 210 Voss, Julia 265

Tao Qian s. a. Tao Yüanming 274, 276 Tao Yüan-ming s. a. Tao Qian 274, 276 Thukydides 228 Tongzhi 274 Tönnies, Ferdinand 4, 62, 63, 142, 192, 194, 200, 202, 208, 210, 211, 214, 280, 282 Trautmann, Felix 24 Tschuang-Tse s. a. Zhuangzi 74, 92, 94, 97, 246, 250, 261–263, 274 Tse-Si s. a. Cixi und Tzu Hsi 274 Twain, Mark 256 Tzu Hsi s. a. Cixi und Tse-Si 274

Wagenbach, Klaus 5, 11 Wagner, Benno 10, 15 Weber, Max 108–110, 280 Weichenhan, Michael 33, 35, 44, 49, 57, 70, 73 Weiß, Ernst 245 Wilhelm, Richard 246, 247, 260, 261, 266, 274 Wilhelm II. 33, 37, 41, 42, 49, 250, 251 Winckler, Hugo 43

Urzidil, Johannes 266

Xie, Yaqing 258 Zangwill, Israel 54 Zhang, Yan 249 Zhuangzi s. a. TschuangTse 74, 92, 94, 97, 246, 250, 261–263, 274