Franz Kafkas Literatursprache: Deutsch im Kontext des Prager Multilingualismus 9783412218768, 9783412224899

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Franz Kafkas Literatursprache: Deutsch im Kontext des Prager Multilingualismus
 9783412218768, 9783412224899

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:: INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar), Alice Stašková (Prag  /Berlin) und Václav Petrbok (Prag)

Band 7

FRANZ KAFKAS LITERATURSPRACHE Deutsch im Kontext des Prager Multilingualismus

Boris Blahak

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds / Česko-německý fond budoucnosti

Boris Blahak lehrt deutsche Sprache und Literatur am Institut für germanische Studien der Karls-Universität Prag. Die Arbeit wurde im Jahr 2012 von der Philosophischen Fakultät III – Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften – der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. D 355

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Franz Kafka, Portraitaufnahme, Herbst 1910 (Atelier Schlosser-Wenisch, Prag) © akgimages / Archiv K. Wagenbach

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22489-9

Inhalt 1 Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Gegenstand und Anlass der Untersuchung: Franz Kafkas Verwendung des Deutschen im Kontext des Prager Multilingualismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Forschungslage zum regionalspezifischen Sprachgebrauch in Franz Kafkas Deutsch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.3 1.4 Eingrenzung des Themas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.5 Untersuchungsgrundlage/-korpus  1.5.1 Kafkas literarische Schriften in der Textgestalt der Kritischen Kafka-Ausgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.5.2 Kafkas literarische Schriften in der Textgestalt der Ausgabe von Max Brod  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.6 Terminologische Bestimmungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Definition: Was sind ,Regionalismen‘?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.6.1 1.6.2 Zur Abgrenzung und terminologischen Benennung von Standard- und Substandard-Varietäten des Deutschen  . . . . . . . . . . 31 1.6.3 Zum Begriff ,sprachliche Interferenz‘/,interferenzieller Transfer‘  . 33 1.6.4 Zu den fehlerlinguistischen Termini ,Direktanzeige‘ und ,Hyperkorrektur‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.7 Aufbau der Arbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.8 Methodischer Ansatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Verwendete methodische Ansätze, zugehörige Referenzquellen 1.8.1 und Kontrollkorpora  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.8.1.1 Sprachsoziologie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Schreibforschung, Textgenetik und Psycholinguistik  . . . . . . . . . . . 38 1.8.1.2 1.8.1.3 (Dialektbezogene) Fehlerlinguistik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.8.1.4 Dialektologie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.8.1.5 Kontaktlinguistik/Sprachkontaktforschung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.8.1.6 Das Modell des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät  . . . . 46 1.8.1.7 Die Theorie des Sprachmanagements  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

6

Inhaltsverzeichnis

1.8.2

Festlegung einer Hierarchie der Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher ­Interferenzquellen in Fällen formaler Übereinstimmung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Richtlinien der Kategorisierung von Regionalismus-Typen  . . . . . 1.9.1 Das zugrunde gelegte Varietätenmodell  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Festlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9.2 1.9.2.1 ,Charakteristische‘ Relationen zwischen Direktanzeige und Hyperkorrektur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9.2.2 Mindest-Quantitäten für eine Standard- oder SubstandardZuordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9.3 Bestimmung regionaler Verbreitungsareale  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9.4 Regionalismus-Siglen  1.10 Zitierweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 54 54 56 56 58 59 60 64

Der sprachsoziologische Kontext  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Allgemeine Phänomene des Deutschen als Stadtsprache in der k. u. k. Monarchie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Die sprachsoziologischen Verhältnisse in Prag um 1900  . . . . . . . . 69 2.2 2.3 Das ,Prager Deutsch‘ in seiner Spätphase  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Ein durch tschechische (und jiddische) Interferenzen geprägtes 2.3.1 Idiom auf ,österreichischer Basis‘?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.3.2 Das ,reinste‘, vorbildlichste (Hoch-)Deutsch der k. u. k. Monarchie?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2.3.3 Ein dialektfreies, stagnierendes, kraftlos-verarmtes Papierdeutsch einer abgeschlossenen Sprachinsel?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.3.4 Relativierung der Vorstellung vom ,Prager Deutsch‘ als Einzelvarietät des Deutschen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.4 Franz Kafkas Sprachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.4.1 Das Spektrum der von Kafka verwendeten Varietäten des Deutschen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.4.2 Zur Beurteilung von Franz Kafkas Tschechisch-Kenntnissen  . . . . 83 2.4.3 Franz Kafkas Verhältnis zum (West-)Jiddischen  . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.5 Prognose  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

2 2.1

Inhaltsverzeichnis

Kafkas individuelle sowie zeit- und raumgebundene Einstellung zu den Komplexen ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Sozialpsychologisch geprägte Repräsentativität vs. Sondersituation als ambivalenter identitätsbildender Hintergrund von Sprachattitüden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kafkas Streben nach normgerechtem Ausdruck gegenüber einer 3.1.1 schriftdeutschen Öffentlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verunsicherungsfaktoren: Kafkas Zweifel an der eigenen 3.1.2 Normkompetenz im Deutschen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sprachkritische Situation um 1900  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 3.1.2.2 Die Normdivergenz im deutschen Sprachraum im frühen 20. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Autostereotyp der unvollkommenen (sprachlichen) 3.1.2.3 Assimilation der ,zweiten jüdischen Generation‘  . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Auswirkungen des Prager Multilingualismus  . . . . 3.1.2.4 3.1.3 Die Sozio-Psychologie eines Abkömmlings der Migration als Hintergrund einer imaginierten mehrfachen muttersprachlichen ,Belastung‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der 3.2 Mündlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kafkas Sensibilität für Erscheinungsformen gesprochener 3.2.1 Sprache  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Erfahrung dialektalen Sprechens als Kommunikationsbarriere in intervarietären Sprechsituationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Das Ostjiddische und die Unvereinbarkeit der Authentizität gesprochener Sprache mit dem Anspruch schriftlich fixierter Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Kafkas Absage an eine ,Dialekt-Literatur‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

3

90

91 91 96 96 99 102 109

116 117 117

122

127 133 137

8

4 4.1 4.2

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.4.7 4.4.8 4.4.9 4.4.10 4.4.11

Inhaltsverzeichnis

Der Einfluss des Schreibprozesses auf die verwendete Sprache und die Textgestalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Zum generellen Stellenwert des Prozessualen im Schreibakt in Kafkas Leben und Werk  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Textsortenabhängig divergierende Befunde bezüglich der Anfälligkeit Kafkas für Normabweichungen und der Häufigkeit von Autokorrekturen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Kafkas Schreibprozess in Abhängigkeit vom Adressatenbezug im Moment der Niederschrift  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Die generelle Verzahnung von Fiktionalem und Nichtfiktionalem in Kafkas Schriften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Textsortenspezifische Strategien des Schreibprozesses  . . . . . . . . . . 144 Latenter Rollencharakter und konkreter Adressatenbezug beim Verfassen von Briefen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Kontrollierte Selbstreflexion und Berichterstattung beim Verfassen von Tagebüchern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Der prinzipielle ,reine Dialog des Schreibenden mit sich selbst‘ bei der Niederschrift literarischer Werke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der Grad des Adressatenbezugs von Texten als maßgeblicher Parameter für den Ablauf von Kafkas Schreibprozess  . . . . . . . . . . . 152 Der Charakter von Kafkas Schreibprozess beim Verfassen literarischer Werke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Entwurfscharakter, Vorläufigkeit und Skizzenhaftigkeit  . . . . . . . . 153 Temporeiches, dynamisches Schreiben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Das nicht unterbrochene Durchschreiben in einem Zug  . . . . . . . . 160 Lineares, einsinniges Schreiben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Konzeptionsloses, intuitives und improvisierendes, von Eigendynamik bestimmtes Schreiben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Paralleles Schreiben an verschiedenen Texten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Einsames, isoliertes, intim-privates Schreiben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Nächtliches Schreiben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Traumartiges und ,erträumtes‘ Schreiben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Ekstatisches, emotionales, traumatisiertes und psychographisches Schreiben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Verbindung von Schreibakt und Geschriebenem  . . . . . . . . . . . . . . . 178

Inhaltsverzeichnis

4.4.12 4.4.13 4.5

9

Einheit von Schreiben und Leben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Profilskizze von Kafkas literarischem Schreibprozess  . . . . . . . . . . . Der Einfluss der Mündlichkeit auf Kafkas literarische Textproduktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Der Zusammenhang von Sprechen, Hören und Schreiben bei der Entstehung von Kafkas Prosa-Werken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kafkas Verschriftlichung eines Codeshiftings als Ergebnis einer 4.5.2 latenten sprachlichen Regression in den Substandard  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zusammenfassung 

179 182

5 Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch  . . . . . . . . 5.1 Regionalismen auf phonetischer Ebene  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Vokalismus  5.1.1.1 Formen des e-Schwundes: e-Synkopierung und -Apokopierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.1 e-Elision im Rahmen von En- und Proklise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.2 e-Elision in den unbetonten Suffixen -en, -er und -es  . . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.3 e-Elision in den unbetonten Silben -el und -eln  . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.4 e-Elision in den unbetonten Präfixen ge- und be-  . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.5 Wechselnde Setzung standardsprachlicher Varianten mit auslautendem und ohne auslautendes -e  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.6 e-Elision im Auslaut flektierter Verbformen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.7 e-Elision im Auslaut von Adjektiven und Adverbien  . . . . . . . . . . . 5.1.1.1.8 e-Elision im Auslaut von Substantiven  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.2 Formen der Entrundung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.3 Formen der Monophthongierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.4 Fehlende Umlautung innerhalb der Verbflexion  . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.5 Graphemisch markierte Schärfung bzw. Dehnung im Bereich der Vokalquantität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Konsonantismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.1 Normverstöße bei der Schreibung der Verschlusslaute im An-, In- und Auslaut  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwechslung von ‹s› und ‹z› im An-, In- und Auslaut  . . . . . . . . 5.1.2.2 5.1.2.3 Anlautende Verwechslung der Grapheme für den stimmhaften und den stimmlosen labiodentalen Reibelaut /v/ und /f/  . . . . . . .

191 191 192

183 183 187 189

192 192 195 202 203 208 211 216 222 226 230 233 239 243 243 256 261

10

5.1.2.4 5.1.2.5 5.1.2.6

Inhaltsverzeichnis

Graphemische Realisierung der Affrikata /pf/ als ‹f› bzw. ‹p›  . . . Graphemische Realisierung von /p/ als ‹pf› im Inlaut  . . . . . . . . . Reflexe der Spirantisierung: graphemische Realisierung von postvokalischem /g/ und /k/ als ‹ch› im In- und Auslaut  . . . . . . 5.1.2.7 Setzung von ‹k› statt ‹ch› im Inlaut, statt ‹h› im Auslaut  . . . . . Setzung von ‹ch› statt ‹h› im Inlaut  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.8 5.1.2.9 Ausfall von ‹ch› im Auslaut  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.10 Ausfall von ‹n› in den Präfixen ein-, an- und in der Präposition von  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.11 Reflexe der Liquidenvokalisierung (Konsonantenschwächung)  . . . 5.1.2.11.1 Indizien für die Vokalisierung des [l]  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.11.2 Indizien für die Vokalisierung des [r]  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Assimilationsformen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Merkmale progressiver und regressiver Assimilation in den 5.1.3.1 ungespannten Silben -ben, -den/-dem und -gen  . . . . . . . . . . . . . . . . ‹s›-Ausfall vor folgendem ‹sch›, ‹st›/‹sp› und ‹z›  . . . . . . . . . . 5.1.3.2 5.2 Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Verb  5.2.1.1 Stammformbildung in Abweichung vom Standarddeutschen  . . . Tempuswechsel vom Präteritum zum Perfekt innerhalb des 5.2.1.2 Satzgefüges  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perfekt- und Plusquamperfektbildung mit sein bei intransitiven, 5.2.1.3 Körperhaltungen bezeichnenden Verben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.4 Ellipse des Hilfsverbs in Passiv-, Perfekt- und unpersönlichen Konstruktionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.5 Fehlende Vokalalternanz beim Partizip Perfekt der hochdeutsch rückumlautenden Verben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.6 Präfigierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.6.1 Ausfall und restriktive Verwendung des Präfixes ge-: brauchen, gebrauchen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.6.2 Restriktive Verwendung der Präfixe be- und ver-  . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.7 Besonderheiten der Kongruenz des Prädikats mit dem Subjekt  . . . 5.2.2 Artikel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Vom Standarddeutschen abweichende Formen definiter und indefiniter Artikel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267 272 273 276 276 277 278 279 279 285 293 293 295 300 301 301 304 308 314 321 326 326 327 333 338 338

Inhaltsverzeichnis

5.2.2.2

11

Apokope der Kasus-Flexive -e, -en und -em bei Indefinitartikeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 5.2.2.3 Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Formen definiter und indefiniter Artikel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 5.2.2.4 Ellipse definiter und indefiniter Artikel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 5.2.2.5 Definitartikel vor Personennamen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.2.3 Substantiv  5.2.3.1 Stammformbildungen mit dem Suffix -n bei schwachen Feminina  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.2.3.2 Besonderheiten in der Genus-Zuordnung der Substantive   . . . . . . 369 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 5.2.3.3 Numerus  5.2.3.3.1 Fehlende bzw. defekte Plural-Suffixe in allen Genera  . . . . . . . . . . . 383 5.2.3.3.2 Plural-Suffigierung auf -e bei Fremdwörtern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 5.2.3.3.3 Formen der Pluralbildung mit und ohne Umlautung des Stammsilbenvokals  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Kasus: fehlendes Genitiv-Suffix bei Maskulina und Neutra im 5.2.3.4 Singular  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 5.2.3.5 Komposition  5.2.3.5.1 Einzelwortabhängig erhöhte Tendenz zum Fugen-s  . . . . . . . . . . . . 399 5.2.3.5.2 Regionalspezifische Besonderheiten bezüglich des Fugenelements -(e)n-  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 5.2.3.6 Erhöhte Frequenz synthetischer und analytischer Diminutive  . . . 406 5.2.4 Pronomen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 5.2.4.1 Personalpronomen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 5.2.4.1.1 Vom Standarddeutschen abweichende Formen der 1. Person Singular und Plural  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 5.2.4.1.2 Ellipse der Personalpronomen der 1., 2. und 3. Person Singular  . . . 413 5.2.4.1.3 Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Formen in der 1. und 3. Person Singular Maskulinum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 5.2.4.2 Possessivpronomen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 5.2.4.2.1 Ausfall der Kasus-Flexive -e, -n und -(e)r bei Feminina sowie -en bei Maskulina  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 5.2.4.2.2 Akkusativ-Flexionssuffixe im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

12

Inhaltsverzeichnis

5.2.4.3

Ellipse des Reflexivpronomens in der 3. Person Singular und Plural  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.4 Indefinitpronomen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.4.1 Null-Flexionsmorphem bei jemand/niemand im Dativ und Akkusativ  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.4.2 Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Flexionssuffixen  . . . . . . 5.2.4.5 Dativ-Flexionssuffix beim Interrogativpronomen wer im Akkusativ  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.6 Akkusativ-Flexionssuffix bei maskulinen Demonstrativpronomen im Dativ Singular  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.7 Relativpronomen  5.2.4.7.1 Ausfall des Flexionsmorphems -en im Dativ Plural  . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.7.2 Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Flexionssuffixen beim Maskulinum Singular  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Adjektiv  5.2.5.1 Stammformbildung mit dem Suffix -lich statt binnendeutsch -ig  . . . Stammformen mit Umlautung des Stammsilbenvokals  . . . . . . . . . 5.2.5.2 5.2.5.3 Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Flexionssuffixen im Singular Maskulinum und Neutrum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausfall von -n in Plural-Flexionssuffixen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5.4 5.2.5.5 Die Konstruktion viel/wenig + Substantive im Plural  . . . . . . . . . . Einzelwortabhängig erhöhte Tendenz zum Fugen-s  . . . . . . . . . . . . 5.2.5.6 5.2.6 Adverb  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6.1 Stammformbildung mit Suffix -s  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6.2 Ausfall des Suffixes -s bei Temporaladverbien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6.3 Einzelwortabhängig erhöhte Tendenz zum Fugen-s   . . . . . . . . . . . . 5.2.6.4 Verwechslung von hin und her als Erstglied in zusammengesetzten Richtungsadverbien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7 Präpositionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.1 Sonderbedeutungen der Präpositionen über und um  . . . . . . . . . . . 5.2.7.2 Erhöhte Frequenz von bei in Präpositionalgruppen in Funktion von Lokalbestimmung der Unterkategorie ,punktuelle Lokalität mit Kontakt‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.3 Besonderheiten im Zusammenhang mit den Präpositionen an und auf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

434 436 436 438 439 441 442 442 443 445 445 446 448 455 456 458 459 459 464 468 469 479 479

481 484

Inhaltsverzeichnis

Verwendung der Verschmelzungsform am in der Bedeutung ,auf dem‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.3.2 Schwankungen im Gebrauch von an und auf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.3.3 Die Konstruktion vergessen an (+ Akk.)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8 Junktionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8.1 Infinitiv-Konjunktion zu  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8.1.1 Ersatzkonstruktion für die schriftsprachliche Fügung (um) zu + Infinitiv  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8.1.2 Ellipse der Infinitiv-Konjunktion zu  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8.2 Subjunktionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8.2.1 Verwendung von bis anstelle von wenn/sobald zum Ausdruck von Vorzeitigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8.2.2 Verwendung von wie statt als/während zum Ausdruck von Gleichzeitigkeit und statt sobald/nachdem zum Ausdruck von Vorzeitigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8.2.3 Verwendung von trotzdem anstelle von obwohl  . . . . . . . . . . . . . . . . Adjunktionen: Verwendung von als nach dem Positiv und von 5.2.8.3 wie nach dem Komparativ  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

5.2.7.3.1

6 Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch  . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 6.1.1 Merkmale diatopischer Substandard-Varietäten des Deutschen: individuelle Interferenzen zwischen Primär- und Hochsprache  . . . 6.1.2 Merkmale des Tschechischen: historisch bedingte Übernahmen als Ergebnis des deutsch-tschechischen Sprachen-Kontaktes  . . . . 6.1.3 Merkmale des (West-)Jiddischen: ethnolektal-gruppenspezifische Relikte eines abgelegten Idioms in deutschjüdischen Kreisen  . . . 6.1.4 Fazit: eine ostmittelbairische Varietät des Deutschen mit Merkmalen westjiddischer Artikulation und syntaktischer Muster des Tschechischen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zur sprachlichen Repräsentativität Franz Kafkas hinsichtlich der Sprecher des Deutschen als Erstsprache im Prag des frühen 20. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

484 487 502 510 510 510 515 522 522

527 530 531 538 539 544 548 550

551

555

14

Inhaltsverzeichnis

6.3

Regionalismen auf Standardebene: Möglichkeiten und Bedingtheiten überregional konzipierten Schreibens in Prag zu Kafkas Lebzeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Der Grad österreichischer bzw. ,süddeutscher‘ Prägung standardsprachlicher Phänomene in Kafkas literarischem Deutsch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise auf einen besonderen böhmischen bzw. Prager 6.3.2 Standard des Deutschen zur Kafka-Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausmaß und Grenzen der Einflussnahme reichsdeutscher 6.3.3 Normautoritäten auf die Literatursprache eines deutschschreibenden Prager Autors  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

557

557 558

559 561

7 Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 8 Abbildungs-, Tafel- und Tabellenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Abbildungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Tafelverzeichnis  8.3 Tabellenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

566 566 567 568

Literatur- und Quellenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 Literarische und autobiographische Schriften  . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 Zeitungen und Zeitschriften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Wörterbücher und Lexika  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Grammatiken und Regelbücher  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 Aufsätze und Monographien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584

10 Tafelteil  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 11 Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

1  Einleitung 1.1  Gegenstand und Anlass der Untersuchung: Franz Kafkas Verwendung des Deutschen im Kontext des Prager Multilingualismus Vor längerer Zeit habe ich „Literatur“ von Kraus gelesen […]. Der Witz ist hauptsächlich das Mauscheln, so mauscheln wie Kraus kann niemand, trotzdem doch in dieser deutsch-jüdischen Welt kaum jemand etwas anderes als mauscheln kann, das Mauscheln im weitesten Sinn genommen, in dem allein es genommen werden muß, nämlich als die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat und der fremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte, denn hier kann ja alles nachgewiesen werden durch den leisesten Aufruf des Gewissens in einer reuigen Stunde. Ich sage damit nichts gegen das Mauscheln, das Mauscheln an sich ist sogar schön, es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache (wie plastisch ist dieses: Worauf herauf hat er Talent? Oder dieses den Oberarm ausrenkende und das Kinn hinaufreißende: Glauben Sie! oder dieses die Knie an einander zerreibende: „er schreibt. Über wem?“) und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt hat, daß im Deutschen nur die Dialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutsch wirklich lebt, während das übrige, der sprachliche Mittelstand, nichts als Asche ist, die zu einem Scheinleben nur dadurch gebracht werden kann, daß überlebendige Judenhände sie durchwühlen (Kafka 1958: 336–337).

Kaum eine andere Passage aus den Briefen Franz Kafkas spricht auf derart engem Raum so viele Aspekte der Sprachverwendung an, die einen deutschschreibenden Prager Schriftsteller jüdischer Herkunft im frühen 20. Jahrhundert bei der Literaturproduktion beschäftigen mussten, wenn er auch außerhalb Prags rezipiert werden wollte. Die Rede ist von der antisemitischen Unterstellung, Juden seien unfähig, das Deutsche authentisch zu verwenden,1 von den eigenen Bedenken der Juden, beim Deutschsprechen latent durch

1

Zu den judenfeindlichen Sprachkonzepten zu Kafkas Lebzeiten s. ausführlich Kremer (2007) und Nekula (2012).

16

Einleitung

,mauscheldeutsche‘ Sprachmerkmale2 aufzufallen, von einem sich in steriler Korrektheit erschöpfenden Schriftdeutsch,3 von dessen krasser Distanz zur Lebendigkeit mundartlichen Sprechens und von der schieren Unmöglichkeit, die deutsche Hochsprache jenseits regionaler Anklänge authentisch zu verwenden. Bezieht man den Text, durch den sich Kafka 1921 zu diesen Zeilen inspirieren ließ, in die Betrachtung mit ein, treten weitere Determinanten des Schriftstellerseins in der Prager Sprachlandschaft hinzu: In seiner Satire Literatur oder Man wird doch da sehn hatte Karl Kraus (1921a) den Konflikt zweier Schriftsteller-Generationen in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. Mit Blick auf deren Exponenten dürften Kafka schon bei der Lektüre der Eingangsszene offenkundige Parallelen zu seinem eigenen Vater-Komplex aufgefallen sein. Denn Kraus stilisierte seine Hauptfigur, den schriftstellerisch ambitionierten Johann Wolfgang, als Sohn eines kaufmännisch tätigen Vaters, dem jedes Verständnis für eine als Faulenzerei abqualifizierte dichterische Berufung fehlt (Kraus 1989: 18) und der allein im Geschäftsleben ein sinnvolles Betätigungsfeld für die Generation der Söhne sieht: „Statt Bücher schreiben, solltet ihr sie führen“ (Kraus 1989: 23). Unklar bleibt, inwieweit Kafka die eigentliche Stoßrichtung der Travestie kannte. 4 Dennoch könnten sich ihm Übereinstimmungen mit seiner eigenen Biographie nicht zuletzt auch angesichts des sprachlichen Verhaltens der Figuren aufgedrängt haben, durch das Kraus den Gegensatz der Generationen explizit machte.5 Dabei wird die formale Distanz zwischen dem puristischen, die deutsche Klassiker-Sprache nachahmenden, dem Alltag allerdings entrückten Standarddeutsch des Sohnes und dem auf allen sprachlichen

2

Mit ,Mauscheldeutsch‘ wurden um 1900 in Deutschland und Österreich Spielarten des Deutschen mit jiddischen Anklängen oder auf jiddischem Substrat bezeichnet (Althaus 2002: 293). Peter Demetz (2006: 19) sprach von einer „Schwundstufe des Jiddischen, die im assimilatorischen Deutsch nachklingt.“ 3 Zum Topos des Prager ,Papierdeutsch‘ s. Krolop (1989). 4 In Literatur machte sich Kraus anspielungsreich über die Expressionisten lustig, in erster Linie über Franz Werfel, mit dem er sich nach einem Zerwürfnis seit 1914 in zahlreichen polemischen Schriften befehdete (Wagenknecht 1989: 351–352). Den kritisierten expressionistischen bzw. ,neujournalistischen‘ Stil der jüngeren Generation um Werfel kontrastierte Kraus mit dem jüdischen Jargon und der Sprechweise der ,alten Schmöcke‘, Journalisten mit besonders gewählter, blumiger, teils abgegriffener, teils ausgefallener Phraseologie (Trost 1981: 384–385; Leubner 1996: 265–266, 273). 5 Zu dieser Opposition zwischen dem in Kraus’ Fiktion ,natürlichen‘ deutschjüdischen Jargon und der ,usurpierten‘, an Goethe orientierten klassischen Literatursprache s. Scheichl (1986: 130–131).

Gegenstand und Anlass der Untersuchung

17

Ebenen vom Jiddischen durchwirkten Mauscheldeutsch des Vaters6 als eine nur scheinbare entlarvt, wenn Letzterer anmerkt: Laß ihn verleugnen! Er ist doch mein Sohn, / glaub mir, er is von mir; er is von mir / bedeutend mehr, als was er schreibt von ihm is. / […] Und daß er schreibt, damit macht er sich selber / nur Schande, weil man jedem Wort gleich anmerkt, / daß er mein Sohn is […] (Kraus 1989: 20).

Auch der ,Spiegelmensch‘ in Kraus’ Satire beurteilt das Deutsch des Sohnes in geschriebener Form als tadellos, in gesprochener Form jedoch als verräterisch in Bezug auf die ethnische Herkunft: „Jawohl, ich habs auf deine Verse abgesehn! / Dein Buch, mein Sohn, hat sieben Siegel. / Jedoch akustisch ist mein Spiegel!“ (Kraus 1989: 65).7 Weitere von Kraus thematisierte Aspekte der Sprachverwendung, über die sich Kafka als Prager Schriftsteller zweifellos Gedanken machte, sprechen die Möglichkeiten und Bedingtheiten überregionaler Rezeption an. Denn der schriftstellerische Erfolg der Generation Johann Wolfgangs wird maßgeblich durch reichsdeutsche Verlage determiniert: Der Abdruck in der Neuen Rundschau (Berlin) und die „Aussicht, Lektor zu wern bei Kurt Wolff “ (Kraus 1989: 17), Kafkas Leipziger Verleger, werden zu entscheidenden Etappen des literarischen Durchbruchs; Ablehnungen durch Georg Müller, S. Fischer, Kiepenheuer und Rowohlt geraten dagegen zum Karriere-Aus (Kraus 1989: 52). Hintergrundstimmen, die entweder böhmakeln (z. B. Kraus 1989: 17, 25, 59) oder wienerisch sprechen (z. B. Kraus 1989: 23, 49, 51, 52, 74),8 runden das Bild eines großstädtischen Multilingualismus ab, das bei Kraus zwar vornehmlich auf Wien bezogen sein dürfte, ebenso gut aber auch, wie in Kafkas Brief, auf die Prager Sprachlandschaft übertragen werden konnte.9 Die in der Synopse von Text und Prätext aufscheinenden Komplexe von Schrift‑, Standard- und Umgangssprache, Dialekt, Ethnolekt und Kontaktsprache stecken ein Spektrum sprachlicher Varietäten ab, in dessen Spannungsfeld sich der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung befindet: das zu Kafkas Lebzeiten in Prag als Mutter‑,

6 7 8 9

Zu den einzelnen jiddischen Phänomenen im Bereich der Lexik, Phraseologie, Phonetik und Morphosyntax s. ausführlich den Stellenkommentar bei Leubner (1996: 267–336). Diese Aussage bezieht sich auf das von Kraus häufig angewandte Verfahren der satirischen Nachahmung verschiedener Tonfälle (Leubner 1996: 270). Zu den einzelnen Austriazismen und Sprachproben des Wienerischen s. ausführlich den Stellenkommentar bei Leubner (1996: 267–336). Zu Kraus’ enger Beziehung zu Prag s. Krolop (1989: 92–93).

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Einleitung

Erst- bzw. Primärsprache10 verwendete Deutsch. Unter dem eine Einzelvarietät suggerierenden Terminus ,Prager Deutsch‘ wurde es in der Sekundärliteratur bisher, versehen mit unterschiedlichen Attributen, jeweils stärker mit dem einen oder dem anderen VarietätenTyp des genannten Spektrums identifiziert. Die stark differierenden Einordnungen in der diastratischen, diatopischen und diaphasischen Dimension blieben allerdings meist wissenschaftlich unbelegt. Innerhalb der Dialektologie wiederum kann man eine regelrechte Weigerung konstatieren, die deutsche Sprachgemeinschaft Prags in die Mundartlandschaft des Deutschen einzuordnen: Die Erstellung eines ,Prager Wörterbuchs‘ ist bisher nicht versucht worden; im Sudetendeutschen Wörterbuch (SDW 1988–2011) wird Prag unter den Verbreitungs- und Ortsangaben der Lemmata nicht verzeichnet;11 und nicht nur auf den dialektographischen Karten von Kranzmayers Historischer Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes (1956) bleibt Prag, anders als etwa Brünn (Brno) oder Iglau ( Jihlava), ein ,weißer Fleck‘.12 Empirisch gesicherte und generalisierbare Aussagen über die formale Gestalt des im frühen 20. Jahrhundert in Prag gesprochenen und geschriebenen Deutsch stellen demnach ein Forschungsdesiderat dar, das zu erfüllen die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist. Dabei rückt das Deutsch Franz Kafkas in den Mittelpunkt des Interesses – gerade vor dem Hintergrund der eingangs zitierten Sprachreflexionen. Wie sich das ,Prager Deutsch‘ bislang als kaum fassbare „Chimäre“ (Binder 1996) erwiesen hat, so hat man auch Kafkas Deutsch lange mit kryptischen Formulierungen belegt und beide ,Varietäten‘ immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt. Nach Heinz Politzer (1950: 280) etwa mache sich in Kafkas Sprache „jenes Prager Deutsch“ in einer tschechischen und jiddischen Tönung geltend. Peter Demetz (1953: 110) hingegen beschrieb das „Prager Deutsch“, in dem Kafka angeblich seine Prosa verfasst habe, als „reine, harte, fast abstrakte Sprache“. Auch Pavel Trost (1964a: 29) führte Sprache und Stil des Werks „auf das Prager Deutsch“

10

11 12

In Anlehnung an Lewandowski (61994: 736) bezeichnen die drei synonymen Termini im Folgenden eine Sprache, die ein Individuum „während seiner primären Sozialisation mit seinen damaligen Hauptbezugspersonen erworben hat“ (Kolde 1981: 5). Bei potentieller Mehrsprachigkeit handelt es sich um „die zuerst gelernte oder in der ,Sprachbiographie‘ eines Menschen bedeutsamste Spr[ache]“ (Andresen 42010: 184). Vgl. das Verzeichnis der Belegorte und die Orientierungskarten im Anhang zu SDW (1988). Als erstes dialektgeographisches Werk hat inzwischen der Atlas der Deutschen Mundarten in Tschechien (Rosenhammer/Dicklberger/Nützel 2014; Halo/Rothenhagen 2014) Prag in seine Sprachkarten aufgenommen. Doch identifiziert der Explorator die für Prag erhobene Varietät als „Variante des Standarddeutschen“; diese werde „heute noch von den letzten verbliebenen Deutschen in Tschechien verwendet, wenn sie nicht Mundart oder mundartlich gefärbtes Deutsch sprechen“ (Bachmann 2013: 12).

Forschungslage

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zurück. Klaus Hermsdorf (21966: 135) wiederum glaubte zu erkennen, der spezifische Stil der Kafka’schen Prosa ergebe sich „nicht zum wenigsten aus der Prager Sprachlandschaft“. Was darunter jeweils konkret zu verstehen war, wurde zwar weder genauer erläutert noch sprachwissenschaftlich belegt; dennoch scheint die hier unterstellte Repräsentativität von Franz Kafkas Sprache für das zu seiner Zeit in Prag verwendete muttersprachliche Deutsch in gewissem Umfang durchaus plausibel: Denn das assimilierte jüdische mittlere und obere Bürgertum, in dem Kafka sprachlich sozialisiert wurde, machte einen erheblichen Anteil der deutschsprachigen Gemeinde Prags aus.13 Nicht zuletzt sprach Kafka (2013: 115) selbst, wenn auch unterminologisch, von seinem Deutsch als „Prager Deutsch“, gerade wenn es ihm um seine artikulatorische Auffälligkeit unter Personen aus anderen Regionen des deutschen Sprachraums ging. Dass sich sein Idiom in gesprochener Form von dem „vorbildliche[n]“ (Tucholsky 1962: 473), „klassische[n] Deutsch“ (Hesse 1987: 487) unterschieden haben muss, das die Nachwelt mit Blick auf die zunächst einzige verfügbare, unkritisch eingerichtete Textausgabe lange konstatierte, liegt auf der Hand. Im Folgenden geht es somit auf textkritischer Basis um die Analyse des in Franz Kafkas literarischen Schriften niedergelegten Deutsch im Hinblick auf sprachliche Regionalismen, die Aussagen über das in Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts mündlich und schriftlich verwendete muttersprachliche Deutsch zulassen.

1.2  Forschungslage zum regionalspezifischen Sprachgebrauch in Franz Kafkas Deutsch Solange Kafkas Schriften nur in Max Brods sprachpuristischer14 Überarbeitung verfügbar waren,15 bot allein die Lexik die Möglichkeit, Kafkas Deutsch auf regionalspezifische Sprachverwendung hin zu untersuchen. Im Bemühen um Klärung „nicht überall verständlicher Ausdrücke“ machte erstmals Thieberger (1979: 183) auf lexikalische Austriazismen in Kafkas Prosa aufmerksam. Bereits auf textkritischer Basis kontrastierte Krolop (1992) am Beispiel des Proceß-Romans Kafkas oberdeutsch bzw. österreichisch geprägten

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S. hierzu Kap. 2.2. Der Terminus ,Sprachpurismus‘ wird im Folgenden nicht nur intersprachlich, als Ablehnung fremdsprachlicher Elemente und als Bemühen, diese aus einer bestimmten Sprache zu entfernen, verstanden, sondern ebenso intrasprachlich, als Ablehnung sozialer und regionaler Varianten einer Sprache, die nicht der phonetischen, morphologischen, syntaktischen oder lexikalischen Norm der als vorbildhaft betrachteten Standardsprache entsprechen (Keipert 1977: 286; Thomas 1991: 11). S. hierzu Kap. 1.5.2.

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Einleitung

(Standard‑)Wortschatz mit binnendeutschen Äquivalenten; dem österreichischen Amtsdeutsch widmete er dabei besondere Aufmerksamkeit. Ebenfalls stichprobenartig, doch auf einer breiteren Basis und anhand anderer kritisch edierter Textsorten (Briefe, Tagebücher, amtliche Schriften) analysierte Bauer (2006; 2008a–b) aus soziolinguistischer Perspektive Kafkas Lexik auf regionalsprachliche Varianten. Auch Binder (1976a; 1993) beschäftigte sich mit lexikalischer und semantischer Variation in Kafkas Werk, wenn auch aus einem eher literaturwissenschaftlichen Blickwinkel. Nach zwei Aufsätzen zu Kafkas Diminutiv-Verwendung im Schloß (Nekula 1998; 2003c) hat erstmals Nekula (2003a–b; 2004) anhand kritisch edierter Texte wissenschaftlich fundierte Aussagen zur Phonetik, Morphologie und Syntax von Kafkas Deutsch gemacht. Dabei wies er u. a. auf Phänomene hin, die Parallelen im Tschechischen oder Jiddischen haben könnten. Auch diese Untersuchungen erfolgten aufgrund von Stichproben, zu welchen Nekula v. a. die Tagebücher heranzog, deren Sprache er als „wahrscheinlich am wenigsten literarisiert bzw. […] ,selbst kontrolliert‘“ (Nekula 2003a: 88–89) betrachtete; somit erlaube sie seiner Ansicht nach Aussagen über Kafkas authentisches Deutsch in informellen Texten. Eine sprachwissenschaftliche Monographie über Franz Kafkas Deutsch bezeichnete indes auch er noch als „echtes Desiderat“ (Nekula 2003a: 83). Aufbauend auf Nekulas Befunden beschäftigte sich schließlich der Verfasser der vorliegenden Abhandlung im Rahmen des Forschungsprojekts Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontext16 in verschiedenen Aufsätzen mit Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildeten allerdings die literarischen Schriften, die aufgrund ihres als ergiebiger eingestuften Variantenapparates als Grundlage einer vornehmlich fehlerlinguistischen Betrachtung gewählt wurden. Dabei entstanden mehrere Typen von Studien, die entweder einzelne Teile des Korpus, einzelne Ebenen der Sprache oder das Einwirken einzelner Kontaktsprachen auf Kafkas Deutsch in den Mittelpunkt stellten: Zunächst wurde anhand der Kritischen Kafka-Ausgabe ein einzelner Text (Der Proceß) vollständig hinsichtlich Lexik, Phonetik und Morphosyntax analysiert (Blahak 2004; 2005; 2007a). Die sich anschließenden Arbeiten konzentrierten sich auf die Ebene der Phonetik, allerdings unter Einbezug des gesamten Korpus literarischer Schriften (Blahak 2007b; 2008a). Auf der gleichen Korpusbasis folgte ein Aufsatz zu Relikten des Jiddischen in Kafkas Deutsch (Blahak 2010). Zuletzt erschienen zwei Untersuchungen zur

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Das von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Projekt, an dem auch Verena Bauer beteiligt war, wurde von 2004 bis 2007 unter der Leitung von Professor Dr. Marek Nekula an der Universität Regensburg durchgeführt.

Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit

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Divergenz zwischen ,reichsdeutscher‘, österreichischer und Prager Normauffassung um 1910 am Beispiel von Kafkas Sprachmanagement bei der Publikation literarischer Texte (Blahak 2011; 2014). Hier wurde der Frage nach der Existenz eines besonderen böhmischen oder Prager Standards des Deutschen nachgegangen.

1.3  Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit Überblickt man die Teilergebnisse der oben genannten linguistischen Untersuchungen, so zeichnen sich zwar bereits Konturen der formalen Gestalt von Franz Kafkas Deutsch ab; das Bild bleibt letztlich aber noch fragmentarisch. Zur Schließung der verbliebenen Forschungslücke soll im Folgenden die Sprache des vollständigen Korpus einer bestimmten Textgruppe in Kafkas Werk (die literarischen Schriften) im Rahmen einer deskriptiven Arbeit nicht nur exemplarisch, sondern so umfassend wie möglich auf Regionalismen standardsprachlicher wie substandardlicher Provenienz hin untersucht werden. Ziel der Analyse ist es, auf Basis exakt quantifizierbarer Befunde konkrete Aussagen über die formale Gestalt des von Kafka im Alltag verwendeten Deutsch und über die in Prag gültige zeitgenössische Standardauffassung machen zu können. Die dabei leitenden Fragestellungen lauten: 1. Inwieweit beeinflusste Kafkas Sprachbewusstsein seine Sprachverwendung? 2. Inwieweit lassen sich in Kafkas Deutsch Reflexe eines besonderen Substandards ausmachen und wie ist dieser varietätenlinguistisch einzuordnen? 3. Inwieweit manifestiert sich in Kafkas Deutsch ein österreichischer Standard? 4. Gibt es Hinweise auf einen besonderen böhmischen bzw. Prager Standard des Deutschen und wie unterscheidet sich dieser gegebenenfalls vom zeitgenössischen österreichischen Standard? 5. In welchem Ausmaß nahmen reichsdeutsche Norminstanzen (Verlage, Sprachexperten) Einfluss auf Kafkas Verwendung des Deutschen? 6. In welchem Umfang kann Kafkas Deutsch als repräsentativ für Sprecher des Deutschen als Erstsprache im Prag des frühen 20. Jahrhunderts gelten?

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Einleitung

1.4  Eingrenzung des Themas Um ein möglichst authentisches Bild von Kafkas Alltagsdeutsch und der zeitgenössischen Normauffassung in Prag zeichnen zu können, liegt es angesichts der betrachteten Gruppe von Texten nahe, nicht alle sprachlichen Ebenen in die Untersuchung einzubeziehen: Der lexikalische und der phraseologische Bereich einer Literatursprache erweisen sich im Hinblick auf die Bestimmung regional markierter Sprachverwendung als höchst problematisch. Die stets gegebene Möglichkeit, es mit künstlerischer Sprachgestaltung zu tun zu haben, belastet eine linguistische Untersuchung; denn im Einzelfall kann u. U. nicht eindeutig zwischen der Verwendung eines durch Sprachen-Kontakt induzierten Phrasems und dem kreativen Umgang des Autors mit der Sprache unterschieden werden. Gerade Kafkas Vorliebe für Wort- und Sprachspiele ist in der Forschung immer wieder bemerkt und untersucht worden (u. a. Borchardt 1960: 163; Weiss 1967: 246; Binder 1993). Richard Thieberger (1979: 185) hat mit Blick auf Kafkas Idiomatik sogar explizit vor vorschnellen Einordnungen in die Rubrik Regionalismus gewarnt. Dieser Umstand führte zu dem Entschluss, sich im Weiteren auf die Betrachtung der Phonetik und der Morphosyntax17 von Kafkas Deutsch zu beschränken. Lexik und Phraseologie werden jedoch durchaus dort berücksichtigt, wo sich Berührungspunkte mit Phonetik und Morphosyntax ergeben: der lexikalische Bereich etwa, wo besondere Substantiv-Komposita oder ‑Genera auffallen, der phraseologische Bereich, wo die Präpositionalverwendung in Kollokationen Schwankungen aufweist. Durch diese Eingrenzung mag zwar vordergründig der Eindruck entstehen, dass varietätenlinguistische Aspekte stärker zum Zuge kommen als solche der Sprachkontaktforschung; doch werden Letztere keinesfalls in unangemessener Weise vernachlässigt.

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Zur Rechtfertigung einer Morphologie und Syntax gemeinsam betrachtenden linguistischen Teildisziplin ,Morphosyntax‘ als Gliederungsabschnitt der Analyse von Kafkas Deutsch s. die Einleitung zu Kap 5.2.

Untersuchungsgrundlage/-korpus

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1.5  Untersuchungsgrundlage/-korpus 1.5.1  Kafkas literarische Schriften in der Textgestalt der Kritischen Kafka-Ausgabe Als Untersuchungsgrundlage dienen die sechs Doppelbände literarischer Werke (Kafka 1983a; 1990a; 1992; 1993a; 1994/1996; 2002) der im S. Fischer Verlag herausgegebenen Kritischen Ausgabe der Schriften, Tagebücher, Briefe Franz Kafkas, im Weiteren abgekürzt als KKA, ein Korpus von insgesamt 2765 Seiten Textedition,18 1600 Seiten Varianten19 und 124 Seiten editorischer Eingriffe.20 Neben der gedruckten wird auch die textidentische digitalisierte Ausgabe der KKA21 herangezogen, die dem Benutzer den Vorzug bietet, nach bestimmten Wörtern suchen sowie präzise Quantifizierungen sprachlicher Phänomene vornehmen zu können. Die auf den in Oxford befindlichen Originalmanuskripten basierende erste vollständige22 textkritische Werkausgabe gibt den Text auf höchstmöglich authentische Weise wieder:23 Jedem einzelnen Band der Textedition, der das von Kafka Geschriebene auf Grundlage der „Handschrift des Autors in ihrem letzten jeweils erkennbaren Zustand“ (Pasley 21983a: 7; 1990c: 7; Schillemeit 2002b: 7) darbietet, ist ein Apparatband zugeordnet. Dieser verzeichnet zum einen sämtliche Textvarianten (Autokorrekturen und Emendationen) von der Hand Kafkas und versucht, in der Darstellung der Revisionsvorgänge „die Textentstehung für jede einzelne Stelle so genau und so anschaulich wie möglich zu 2

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Sie verteilen sich wie folgt: Das Schloß (489 S.), Der Proceß (347 S.), Der Verschollene (406 S.), Nachgelassene Schriften und Fragmente I (430 S.) und II (672 S.), Drucke zu Lebzeiten (421 S.). Bei dieser Zählung werden auch nur teilweise bedruckte Seiten (am Ende eines Kapitels oder einer Erzählung) als volle Seiten gewertet. Ausgenommen hiervon sind Seiten, die nur einen Titel tragen. Schriftgrad und Zeilenzahl pro Seite (27) sind in allen Bänden identisch (vgl. Kap. 4.2). Im jeweiligen Band sind dies: Das Schloß (374 S.), Der Proceß (190 S.), Der Verschollene (150 S.), Nachgelassene Schriften und Fragmente I (212 S.) und II (304 S.), Drucke zu Lebzeiten (370 S.). Zur Zählweise der Seiten vgl. Anm. zuvor. Schriftgrad und Zeilenzahl pro Seite (34) sind in allen Bänden identisch. Sie verteilen sich folgendermaßen: Das Schloß (20 S.), Der Proceß (25 S.), Der Verschollene (27 S.), Nachgelassene Schriften und Fragmente I (24 S.) und II (28 S.). Im Falle der Drucke zu Lebzeiten wurden Varianten und editorische Eingriffe zusammengefasst und insgesamt den Varianten zugerechnet. Schriftgrad und Zeilenzahl pro Seite (34) sind in allen Bänden identisch. Sie liegt als CD-ROM (KW 1999) vor. Die Textedition von Kafkas Briefen der Jahre 1921 bis 1924 ist noch nicht abgeschlossen. Übertroffen wird sie in dieser Hinsicht nur von der Historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte Kafkas, die seit 1995 von Reuß/Staengle (1995–2011) als Faksimile-Ausgabe herausgegeben wird (Steinich 2008: 144–145).

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Einleitung

dokumentieren“ (Pasley 21983a: 8; 1990c: 8; Schillemeit 2002b: 9). Zum anderen listet er die editorischen Eingriffe der Herausgeber auf, deren Ziel es war, bei maximaler Wahrung der Spracheigenheiten Kafkas einen lesbaren Text herzustellen. Sie beschränkten sich daher auf die Berichtigung offensichtlicher Versehen und Anomalien, die sinnstörend wirken oder die Lesbarkeit des Textes erschweren würden, sowie auf die Auflösung von Abkürzungen (Pasley 21983a: 7; 1990c: 7; Schillemeit 2002b: 7–8). Von besonderem Wert für die vorliegende Untersuchung erwies sich die editorische Wiedergabe von Kafkas aussagekräftigen Textvarianten bzw. Autokorrekturen: Während der Großteil der Lesarten in den von Kafka selbst für Drucklegungen eingerichteten Werken Bearbeitungsvarianten darstellt (Dietz 1963: 444), verhält sich dies bei den unediert im Nachlass überlieferten Schriften anders. Hierzu hat Malcolm Pasley in der KKA anhand des Schloß-Manuskripts Aufschlussreiches über Kafkas Arbeitsweise nachgewiesen: Die Mehrzahl der Veränderungen gehört dem Typus der Sofortkorrektur an, d. h. sie sind vor Niederschrift des Folgetextes angebracht worden […]. Wenn ein Einzelwort nachträglich durch ein anderes ersetzt wird, geschieht dies oft durch eine eigentümliche Art der Überschreibung, bei der Bestandteile des verworfenen Wortes in das neue übernommen werden. […] Diese behutsame, das einmal Niedergeschriebene gleichsam mit Ehrfurcht behandelnde Art der Textersetzung ist für die ganze Handschrift charakteristisch; man findet sie auch dort, wo freie verso-Seiten genügend Raum für eine radikalere Ersetzungsmethode gewährten (Pasley 21983b: 73, 76–77).

Analog beschreibt Jost Schillemeit (1987: 93) Kafkas nachgelassene Prosa als „Konzepthandschriften, in denen man den Prozeß der Textentstehung, samt der Arbeit am noch unfertigen Text, sozusagen sinnlich-konkret vor Augen hat.“ Mit Blick auf die Handschrift des Verschollenen konstatiert er exemplarisch, dass der Schreibvorgang oft mitten im Wort oder inmitten einer syntaktischen Einheit, oft auch mitten in der Ausführung eines Buchstabens unterbrochen wurde. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um die sofortige Berichtigung irgendwelcher Schreibversehen […], in denen man das Werk sozusagen in statu nascendi zu sehen bekommt (Schillemeit 2002a: 83).

Auch für nachträgliche Korrekturen vermutet Schillemeit (2002a: 84), Kafka dürfte sie meist schon kurz nach der Niederschrift des ursprünglichen Textes vorgenommen haben, oft noch bevor er den nächsten Satz oder Absatz anging, die nächste Arbeitseinheit begann oder nachdem er eine bestimmte Geschehensphase abgeschlossen hatte.

Untersuchungsgrundlage/-korpus

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Abb. 1:  Die erste Seite des Proceß-Manuskripts mit Kafkas Autokorrekturen

Diese graphische Prozedur der ,Überschreibung‘ ermöglicht es in den meisten Fällen, genau zu rekonstruieren, wie der Autor das verbesserte Wort im ersten Moment – zuweilen

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Einleitung

primärsprachlich geprägt24 – dachte und im zügigen Schreibprozess25 niederschrieb, bevor er sich unmittelbar darauf selbst korrigierte, um nicht gegen die von ihm angestrebte Schriftnorm zu verstoßen.26 Die in der Schicht dieser ,Entstehungskorrekturen‘ vorgefundenen Regionalismen können demnach bei wiederholtem Auftreten zu einem gewissen Grad Indizien dafür liefern, dass Kafka eine gesetzte Form grundsätzlich negativ bewertete – sei es, weil er sie als ,fehlerhaft‘, substandardlich oder regional markiert empfand, sei es, weil sie ihm aus anderen stilistischen Gründen als nicht adäquat für die ihm prinzipiell vorschwebende Gestalt seiner Literatursprache erschien, auch wenn er sie zunächst (unwillkürlich) zu Papier gebracht hatte. 1.5.2  Kafkas literarische Schriften in der Textgestalt der Ausgabe von Max Brod Vor Beginn der Arbeiten an der KKA konnte man Kafkas literarischen Nachlass fast ausschließlich in der Ausgabe seines Freundes und ,Sachwalters‘ Max Brod rezipieren.27 Dieser hatte allerdings, wie er selbst zugab, nicht als Philologe an der Textedition gearbeitet, sondern mit dem Vorsatz, Kafkas Werke ihrer verdienten Anerkennung zuzuführen (Brod 1953: 357). So gaben v. a. die Erfolgsaussichten der Veröffentlichung den Maßstab seiner Texteinrichtung vor. Brod war bestrebt, die Manuskripte von allem Fragmentarischen (Brod 31954b: 344), von „gewissen in Prag üblichen Sprachfehlern“ (Brod 1974: 352), „,Pragismen‘, die eine Beeinflussung des deutschen Stils durch die tschechische Syntax darstellen“ (Brod 31954a: 300), zu säubern, mithin von allem, was die Lesbarkeit für ein deutschsprachiges Publikum außerhalb Prags hätte erschweren können (Dietz 1979: 11). Sein Vorgehen rechtfertigte er mit dem Entwurfscharakter der Manuskripte. So seien „Flüchtigkeitsfehler stehen geblieben, die er [Kafka], wenn er das Buch selber ediert hätte, bei seiner großen Gewissenhaftigkeit gewiß verbessert hätte“ (Brod 1974: 352).28 Als exklusiver Kenner eines hypothetischen Editionsplanes, so Brod (31954a: 300; 1959: 110; 1965a: 320) weiter, verfüge er über ein nahezu umfassendes Einfühlungsvermögen in Kafkas

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Zum Einfluss der Mündlichkeit auf Kafkas Textproduktion s. Kap. 4.5. Zu den besonderen Bedingungen von Kafkas literarischem Schreibprozess s. Kap. 4.4. Zu Kafkas prinzipiellem Bemühen um normgerechten Ausdruck im Schriftdeutschen s. Kap. 3.1.1. Bis dahin waren nur einige textkritische Einzelausgaben von Martini (1958), Wagenbach (Kafka 1961) und Dietz (Dietz 1972; 1973; 1974; Kafka 1966; 1969) erschienen, z. T. durch Brod behindert (Dirksen 1994: 301). S. gleichlautend Brod (31954a: 300; 1969a: 150).

Untersuchungsgrundlage/-korpus

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Arbeitsweise, die er aus „intimster Zusammenarbeit“ und „zwanzigjähriger Vertrautheit“ (Brod 1974: 350, 352) genau kenne. Seine Versicherung, er habe im Text „selbstverständlich nichts geändert“ und nur „einige kleine Versehen berichtigt“ (Brod 1965a: 323; s. a. Brod 1964a: 537), hat sich mit Blick auf seine Textedition allerdings als Unwahrheit bzw. untertreibende Beschönigung erwiesen: Brod griff, letztlich autoritär, auf allen sprachlichen Ebenen in die überlieferten Textkörper ein, strich Textteile oder druckte vom Autor verworfene Passagen ab, stellte um, ersetzte, tilgte einzelne Wörter oder fügte neue hinzu, nahm Änderungen in Satzbau, Absatzeinteilung, Interpunktion und Orthographie vor. Insofern tritt Brod überall in gewisser Weise als ,Koautor‘ auf (Dietz 1963: 452; 1979: 11; Dirksen 1994: 300; Steinich 2008: 140–141). Obwohl man durchaus davon sprechen kann, Kafka habe in Brod einen „Doppelgänger“ (Shahar/Ben-Horin 2008: 88) gefunden und mit diesem in einer Art ritualisierter Symbiose gelebt, ist Brods Diktum, er wisse punktgenau, welche Vorstellung Kafka von der Gestalt seiner Texte gehabt hätte, zu relativieren. Dies legen nicht nur vereinzelte Hinweise Kafkas (1990b: 258, 340) auf durchaus divergierende Auffassungen nahe: Die zahlreichen Widersprüche, auf die man in der Forschung stieß, legten letztendlich die Unzuverlässigkeit der von Brod herausgegebenen Textbasis offen.29 Für Kritik an seiner Editionspraxis30 war Brod (1960: 281; 1969b: 157–158; 1974: 347–350) allerdings zeitlebens nicht zugänglich. Vor diesem Hintergrund bietet die unkritisch eingerichtete Werkausgabe keine verlässliche Grundlage für Aussagen über die mutmaßliche Gestalt von Kafkas Deutsch. In anderer Hinsicht sind Brods editorische Eingriffe allerdings für die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung von besonderer Aussagekraft: In ihrer Funktion, Kafkas Prosa für ein überregionales deutschsprachiges Publikum lesbar zu machen, dürften sie eine Fülle von Informationen über die Normauffassung im deutschen Sprachraum am Beginn des 20. Jahrhunderts enthalten. So können Brods Korrekturen z. B. ein Indiz für die Unüblichkeit bestimmter Formen im Einzugsgebiet des reichsdeutschen, u. U. auch des österreichischen Standards liefern, je nach Lage weiterer Indizien. Gleichzeitig könnte die Beibehaltung von Formen, die durch andere zeitgenössische Quellen objektiv als Regionalismen identifiziert werden, für deren exklusive Standardzugehörigkeit in Prag sprechen. Brods normalisierende Eingriffe lassen sich somit als Indikator dafür betrachten, was einer überregionalen (d. h. reichsdeutschen) Leserschaft aus Prager Sicht zumutbar

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S. hierzu bes. Beißner (1952: 47–51), Marson (1975: 8), Dietz (1979: 11), Robertson (1988: 121), Pasley (1992: 33), Nekula (2003a: 84), Eschweiler (2005) und Albrecht (2007: 101). S. hierzu z. B. Beißner (1952), Uyttersprot (1957), Martini (1958) und Dietz (1963).

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Einleitung

schien und was nicht. Aus diesem Grund wird die Textgestalt der literarischen Werke Franz Kafkas in der Fassung Max Brods (Kafka 1953a; 1953b; 31954; 1964; 1965; 1967b) zum Zweck des Vergleichs mit der Textgestalt in der KKA herangezogen.

1.6  Terminologische Bestimmungen 1.6.1  Definition: Was sind ,Regionalismen‘? Eine Arbeit, die sich die Bestimmung von Regionalismen zum Ziel gesetzt hat, muss notwendigerweise eingangs definieren, was man sich darunter vorzustellen hat. Dies gilt umso mehr, als selbst linguistische Arbeiten neueren Datums (z. B. König 1997; Lameli 2004) den Terminus ,Regionalismus‘ im Titel führen, es aber versäumen, eine Definition vorzulegen, so als handle es sich bereits um terminologisches Allgemeingut. Dies ist jedoch nur bedingt der Fall: In allgemeinen Wörterbüchern31 bezog man den Begriff bisher vorwiegend in politischer Bedeutung auf die Ausprägung landschaftlicher Sonderformen bzw. auf Bestrebungen, regionale Eigenheiten oder landschaftliche Eigeninteressen (innerhalb eines Staates) zu konservieren oder zu fördern. Erst seit Anfang der 1970er Jahre ließ sich ansatzweise auch eine auf gegenwartssprachliche Phänomene bezogene Verwendung im varietätenlinguistischen Sinne feststellen. Allerdings verharrten die spärlichen terminologischen Bestimmungen lange in sehr allgemeinen Formulierungen wie z. B.: 1. „Neuerdings fachspr. in der Sprachwissenschaft für ,regional beschränkte sprachliche Eigenart‘“ (DFW 1972: 242); 2. „charakteristische Eigenheit einer Region, bes. die Sprache betreffend“ (Wahrig/ Krämer/Zimmermann 1983: 329); 3. „(bildungsspr.): starke Ausprägung landschaftlicher Eigenarten in Sprache, Literatur o. ä. in Verbindung mit der Bestrebung, diese Eigenarten zu wahren und zu fördern“ (Duden 21994: 2734; s. a. Duden 21989: 1231); 4. „Sprachw. regionale Spracheigentümlichkeit“ (Duden 242006: 840); 5. „Sprachl. Ausdruck, der für eine best. Sprachlandschaft typisch ist“ (Schmöe 42010: 534).

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Vgl. z. B. Mackensen (51967: 749), SBBW (91984: 640), KGWB (1985: 794), Wahrig (31986: 1286) und Duden (1994: 1171).

Terminologische Bestimmungen

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In den meisten deutschsprachigen sprachwissenschaftlichen Nachschlagewerken findet sich das Stichwort allerdings bis heute nicht.32 Günther Schunk (1997: 232–235) hat ferner aufgezeigt, dass der Begriff ,Regionalismus‘ zwar zunehmend von Linguisten verwendet wird, jedoch ohne einheitliche Definition und methodische Einbettung. In den letzten 15 Jahren hat es immerhin mehrere Anläufe gegeben, den Terminus sprachwissenschaftlich zu definieren. Viele dieser Begriffsbestimmungen erwiesen sich jedoch, wenngleich für ihren eigenen konkreten Forschungsgegenstand sicherlich adäquat, für die vorliegende Untersuchung als ungeeignet – teils weil sie das Verbreitungsareal der ,Region‘ überhaupt nicht, zu weit oder zu eng abstecken, teils weil sie sich nur auf einzelne Ebenen der Sprache beziehen, teils weil sie sich auf das Vorkommen im Mündlichen oder in einer völlig anders gearteten Textsorte beschränken, als sie hier betrachtet werden soll. So verwendet eine sprachwissenschaftliche Teildisziplin, die sich der Erforschung der Internet-Kommunikation widmet, ,Regionalismus‘ bei der Untersuchung von Sprachvariation in der Chat-Kommunikation für „schriftliche Repräsentationen mündlicher Aussprachevarianten“ (Günther/Schmidt 2002: 321) bzw. für „Sonderformen konzeptioneller Mündlichkeit“ (Androutsopoulos/Ziegler 2003: 260). Damit werden explizit Phänomene einer stilisierten Mündlichkeit, d. h. einer intendierten regionalsprachlichen Abweichung von der deutschen Standardsprache aus Gründen sozialer Gruppenidentifikation bezeichnet. Runkehl/Schlobinski/Siever (1998: 103) definieren ,Regionalismen‘ im ähnlichen Sinne als „typische Übernahmen aus der gesprochenen Sprache, durch die das Schreibregister erweitert wird.“ Da man bei Kafka, wie in Kap. 3 gezeigt werden soll, aber eben gerade nicht von einer beabsichtigten regionalspezifischen Sprachverwendung ausgehen sollte und der Internet-Chat keine literarische, sondern eine kommunikativ funktionalisierte Textsorte darstellt, bieten sich solche Definitionen für den Gegenstand der vorliegenden Arbeit nur sehr bedingt an. Werner König (1997: 246) wiederum beschränkt seine Begriffsbestimmung auf phonetisch-phonologische, „geographisch bedingte Varianten in einer Sprachform, die […] in ,öffentlichen Situationen mit der Intention übergruppaler und überregionaler Verständlichkeit sowie mit ausgeprägter sozialer Relevanz für die Öffentlichkeit‘ gesprochen wird“. Auch diese Definition konnte nicht übernommen werden; denn zum einen bezieht sie sich erneut ausschließlich auf intentional verwendete Mündlichkeit im Sprechakt, zum anderen erfasst sie nur die lautliche Ebene der Sprache, ferner steckt sie kein konkretes 32

Vgl. u. a. Bohusch (1972), HBL (1975), Conrad (21981), Abraham (21988), Lewandowski (61994), Homberger (2000), Ulrich (52002) und Bußmann (42008).

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Einleitung

Verbreitungsareal ab, das die betrachteten Phänomene als ,Regionalismen‘ ausweist. Schunk (1997: 247) demgegenüber betrachtet „jedes räumlich gebundene Wort“ als ,Regionalismus‘, „dessen Verbreitung kleiner ist als das gesamte deutsche Sprachgebiet, aber weiter als nur ortssprachlich und lokal begrenzt.“ Obwohl er einräumt, dass es offensichtlich auf allen Sprachebenen Regionalismen gebe, sollte der Terminus seiner Ansicht nach in der Sprachwissenschaft nur bei lexikographischer Arbeit Verwendung finden; denn regionale Markierung sei auf anderen Sprachebenen (Morphologie, Syntax) methodisch nicht einheitlich darstellbar (Schunk 1997: 242). Zwei ansprechende, leicht variierende Definitionen hat schließlich Verena Bauer (2006; 2008a–b) im Zuge ihrer lexikalischen Beobachtungen zu Kafkas Briefen und Tagebüchern vorgenommen. Sie versteht unter ,Regionalismen‘ „sprachliche Varianten (Lexeme und regelhafte sprachliche Strukturen) mit eingeschränkter geographischer Verbreitung in der geschriebenen Sprache […], unabhängig davon, wie groß das Verbreitungsgebiet ist“ (Bauer 2006: 347), bzw. „sprachliche Varianten mit eingeschränkter geographischer Verbreitung in der geschriebenen Sprache (hier: im Deutschen)“ (Bauer 2008a: 61). Die vorliegende Abhandlung schließt sich diesen Arbeitsdefinitionen prinzipiell an, erweitert bzw. präzisiert sie allerdings durch folgende Aspekte: 1. Um nicht einen eklatant größeren Teil eines zu untersuchenden (Sprach‑)Raums gegenüber einem wesentlich kleineren als ,Region‘ zu qualifizieren, soll der Begriff geographisch enger gefasst werden als bei Schunk (1997) und Bauer (2006). Mit anderen Worten: Solange ein Teil nicht mehr als zwei Drittel eines betrachteten Areals ausmacht, kann er als ,Region‘ aufgefasst werden. 2. Die von König (1997) und Günther/Schmidt (2002) ausschließlich erfasste phonetische Ebene der Sprache soll ausdrücklich in die Definition einbezogen werden. 3. Auch wenn die Analyse auf der Grundlage schriftlicher Texte erfolgt, soll der Terminus nicht auf das Vorkommen im Schriftlichen beschränkt werden, zumal es sich bei Regionalismen nicht nur, aber überwiegend um explizit aus dem mündlichen Sprachgebrauch (Substandard) stammende Phänomene handelt. Somit lautet die Definition, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt: Als Regionalismen werden sprachliche Varianten des Deutschen auf allen sprachlichen Ebenen mit charakteristisch regional beschränkter Verbreitung in der geschriebenen und gesprochenen Sprache betrachtet. Als charakteristisch regional gilt dabei, bei flächendeckender

Terminologische Bestimmungen

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Verbreitung, die Beschränkung auf maximal zwei Drittel33 desjenigen Territoriums, das durch den historischen deutschen Sprachraum (Stand 1937)34 und durch die böhmischen Länder als zweisprachig geprägtes Areal abgedeckt wird, unter Toleranz regionaler Verbreitung in nicht angrenzenden Gebieten.35 1.6.2  Zur Abgrenzung und terminologischen Benennung von Standardund Substandard-Varietäten des Deutschen Die im Kontext einer Regionalismus-Betrachtung bedeutenden Termini ,Dialekt‘/ ,Mundart‘, ,Umgangssprache‘ und ,Standardsprache‘ werden wie folgt gegeneinander abgegrenzt: Das durch diatopische (z. T. aber auch diaphasische und diastratische) Faktoren bestimmte Phänomen ,Dialekt‘ hat noch keine allgemeingültige Begriffsbestimmung gefunden. Da die Aspekte der Mündlichkeit und der Kleinräumigkeit aber obligatorisch zu sein scheinen, kann exemplarisch die Definition von Bußmann (42008: 131) übernommen werden, die im Weiteren auch für den synonym verwendeten Terminus ,Mundart‘ gilt: Demnach versteht sich ,Dialekt‘ als [s]prachliche Varietät mit begrenzter räumlicher Geltung im Gegensatz zur überdachenden Standardsprache; Sprachsystem (im Sinne von langue), das (a) zu anderen Systemen ein hohes Maß an Ähnlichkeit aufweist, sodass eine – zumindest partielle – wechselseitige Verstehbarkeit möglich ist, (b) regional gebunden ist in dem Sinne, dass die regionale Verbreitung dieses Systems nicht das Gebrauchsgebiet eines anderen Systems überlappt, und (c) keine Schriftlichkeit bzw. Standardisierung im Sinne offiziell normierter orthographischer und grammatischer Regeln aufweist.

Demgegenüber definiert sich ,Standardsprache‘, das Pendant am anderen Ende des Varietätenspektrums, nach Bußmann (42008: 680) als

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Diese Beschränkung wird mit Blick auf die ober- und mitteldeutschen Dialektareale vorgenommen, die das tschechische Siedlungsgebiet im Süden, Westen und Norden einrahmten; ihre diatopischen Varietäten könnten das Deutsch in den böhmischen Ländern insofern geprägt haben. Dieses Jahr markiert die Ausdehnung des deutschen Sprachraums, bevor es durch die ab 1938 eingeleiteten Bevölkerungsverschiebungen im Vorfeld, im Verlauf und in der Folge des Zweiten Weltkrieges (Okkupationen, Vertreibungen, Umsiedlungen) zu einschneidenden siedlungsräumlichen Veränderungen kam. Zur Erfassung ethnolektaler, auf das Jiddische zurückführbarer Sprachstrukturen durch die Definition s. Kap. 1.9.3.

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Einleitung

historisch legitimierte, überregionale mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittelbzw. Oberschicht […]. Entsprechend ihrer Funktion als öffentliches Verständigungsmittel unterliegt sie (besonders in den Bereichen Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung) weitgehender Normierung, die über öffentliche Medien und Institutionen, vor allem aber durch das Bildungssystem kontrolliert und vermittelt wird.

Entsprechend der Differenzierung von Reitmajer (1979: 27) und Kalau (1984: 29) wird im Folgenden ,Standardsprache‘ als übergeordneter Begriff verwendet. Zur Bezeichnung ihrer geschriebenen Form dient der Terminus ,Schriftsprache‘, zur Bezeichnung ihrer gesprochenen Form ,Hochsprache‘. Als ,reichsdeutsche Standardvarietät‘ wird die in den Grenzen des Deutschen Kaiserreiches (1871–1918) gültige und schulisch vermittelte Schriftnorm des Deutschen aufgefasst, als ,österreichische Standardvarietät‘ entsprechend diejenige auf den Territorien der (ehemaligen) k. u. k. Monarchie, insofern nicht explizit über die Gegenwart gesprochen wird. Der schwer fassbare Begriff ,Umgangssprache‘ wiederum lässt sich, wenn überhaupt, nur in Beziehung auf die Varietäten Dialekt und Standard definitorisch fassen: als Grauzone, als Übergang zwischen den beiden Polen, „als eine Art ,Ausgleichsvarietät‘ zwischen Standardsprache und Dialekt […], die zwar deutlich regionale Färbung, jedoch keine extremen Dialektismen aufweist“ (Bußmann 42008: 759). Für die vorliegende Untersuchung wird ,Umgangssprache‘ dabei v. a. hinsichtlich ihrer horizontalen Dimension berücksichtigt: Horizontal gesehen spricht man von regionalen Umgangssprachen (Regiolekten), deren geographische Reichweite größer als die der Dialekte, aber kleiner als die der Einheitssprache ist. Solche regionalen Umgangssprachen machen durch ihre Anklänge an die von ihnen überdeckten oder verdrängten Mundarten die landschaftliche Herkunft ihrer Sprecher besonders deutlich (Weisgerber 1996: 261).

Sprachliche Strukturen des Tschechischen ordnen eine Varietät dem Sammelbegriff ,Kontaktdeutsch‘ zu. Darunter werden nach Földes (2005a–b) Varietäten des Deutschen unter transkulturellen Bedingungen von Mehrsprachigkeit in engem Kontakt zu anderen Sprachen und Kulturen verstanden. In diese Kategorie fallen aus Sicht der Standardvarietät(en) des Deutschen auch Varietäten, die Relikte des Jiddischen aufweisen. Als Untergruppe gelten sie zudem als ,ethnolektal‘. Der zugehörige Terminus ,Ethnolekt‘ wird in Übernahme der Begriffsbestimmung von Clyne (2000: 86) als Varietät einer Sprache (hier: des Deutschen) definiert, die ihren Sprecher als Angehörigen einer ethnischen Gruppe markiert, die ursprünglich eine andere Sprache oder Varietät verwendete. ,Codeshifting‘

Terminologische Bestimmungen

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schließlich bezeichnet den kontinuierlichen Übergang eines Sprachbenutzers von einer standardnäheren zu einer standardferneren Sprechweise bzw. umgekehrt (Auer 1986: 97).36 1.6.3  Zum Begriff ,sprachliche Interferenz‘/,interferenzieller Transfer‘ Wendet man den linguistischen Terminus ,Interferenz‘ auf Franz Kafkas Deutsch an, so gilt es prinzipiell, zwei unterschiedliche Phänomene zu unterscheiden: Auf der einen Seite geht es beim kognitiven ,Sprach-Kontakt‘ um individuelle, Sprecher- und parolebezogene Kontakt-Erscheinungen. Diese entspringen meist dem psycholinguistischen Prozess des Zweitsprachen-Erwerbs und damit verbundenen Transfererscheinungen, einer individuellen mehrsprachigen Kommunikationsfähigkeit und -praxis oder dem Prozess interlingualer Sprachvermittlung beim Übersetzen bzw. Dolmetschen. Auf der anderen Seite handelt es sich beim systembezogenen ,Sprachen-Kontakt‘ um kollektivsoziale, regionale, langue-bezogene Kontakt-Phänomene, die das Ergebnis territorialer Mehrsprachigkeit, von Diglossie, Sub‑/Super- oder Adstrat sowie sprachsystemorientierter Mischungs- oder Entlehnungsprozesse sind. Der Terminus ,Interferenz‘ kommt in der Linguistik in beiden Bereichen zur Anwendung, obwohl er jeweils unterschiedliche Phänomene beschreibt: Bezogen auf den SprachKontakt bezeichnet er den unangemessenen Gebrauch bzw. Transfer erstsprachlicher Strukturen in einer Zweit‑, Fremd- bzw. Zielsprache. In Bezug auf Sprachen-Kontakte bedeuten Interferenzen dagegen historisch bedingte Übernahmen von Elementen aus einer Sprache, die in das System einer anderen (meist benachbarten) Sprache integriert werden. Hier liegt das Ergebnis von Sprachwandel vor. Diese Entlehnungen mögen im Einzelfall zwar (noch) als fremd empfunden werden, sie stellen aber keine individuellen Fehlleistungen dar (Spillner 1996: 145; Bußmann 42008: 301).37

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Zur Integration der Kategorien Standardsprache, Umgangssprache, Dialekt und Kontaktdeutsch in das Varietätenmodell, das der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt wird, s. Kap. 1.9.1. Da die Methodik der vorliegenden Arbeit größtenteils fehlerlinguistisch bestimmt ist (vgl. Kap. 1.8.1.3), können die in jüngeren kontaktlinguistischen Untersuchungen (z. B. Földes 2005a: 74–75; Nagy 2010: 63) geäußerten Bedenken nicht geteilt werden, nach welchen der Terminus ,Interferenz‘, da er auf die Verletzung einer einsprachigen Norm referiere, durch ,Transferenz‘ ersetzt werden sollte; denn Regionalismen manifestieren sich in Kafkas Deutsch größtenteils gerade in seinen Autokorrekturen und in den Texteingriffen seiner Herausgeber, d. h. an Stellen, die von verschiedenen Instanzen als Normverstoß eingestuft wurden.

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Einleitung

1.6.4  Zu den fehlerlinguistischen Termini ,Direktanzeige‘ und ,Hyperkorrektur‘ Als bedeutsam für die folgende Untersuchung erweist sich die Typologie von Fehlerursachen, die auf sprachlichem Transfer aus der Erst- in die Zweitsprache beruhen. Hier wird die in der Fehlerlinguistik übliche Einteilung in Direktanzeigen substandardlicher Interferenzen und diesbezügliche Hyperkorrekturen übernommen.38 Unter Direktanzeige ist dabei eine Form von Kontrastnivellierung zu verstehen, die durch Ignorieren des Kontrastes zwischen (erstsprachlichem) Substandard und (zweitsprachlicher) Standardsprache entsteht und zur Verwendung der substandardlichen (z. B. mundartlichen) Form im standardsprachlichen Text führt (Kalau 1984: 43). Dialektismen werden dort in die Schriftsprache eingefügt, wo lautliche, lexikalische oder morphosyntaktische Lü­cken bestehen. Das folgende Beispiel kann dies illustrieren: Gemäß der mündlichen Praxis der ostmitteldeutschen Dialekte, die Affrikata /pf/ im Anlaut als einfachen stimmlosen Reibelaut [f ] zu realisieren, wird das Wort Pfeife als ‹Feife› verschriftlicht.39 Auf der anderen Seite stellt die Hyperkorrektur das Resultat einer übertriebenen sprachlichen Anpassung an eine als prestigebesetzt betrachtete und daher nachgeahmte Sprachvarietät dar (Bußmann 42008: 270). Hier werden wiederum zwei Unterkategorien unterschieden: Kontrastübertreibungen entstehen durch die Annahme bzw. die Konstruktion eines Kontrastes zwischen Substandard und Standardsprache, wo tatsächlich keiner vorliegt. Eine bekannte kontrastive Regel wird auf einen Bereich übertragen, für den sie keine Gültigkeit hat (Kalau 1984: 44). Ein ostmitteldeutscher Mundartsprecher gäbe demgemäß z. B. das Wort Fenster schriftlich hyperkorrekt als ‹Pfenster› wieder. Fälle von Kontrastverschiebung sind dagegen auf die mangelnde Kenntnis des tatsächlich bestehenden Kontrastes zurückzuführen, wobei weder die substandardliche noch die standardsprachliche Form verwendet wird (Kalau 1984: 44). Ein ostmitteldeutscher Mundartsprecher würde demnach etwa im Wortanlaut nicht den von ihm im Dialekt verwendeten, sondern hyperkorrekt den anderen Bestandteil der Affrikata /pf/ setzen und Pfeife als ‹Peife› niederschreiben.

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Vgl. Hasselberg/Wegera (1976: 20), Zehetner (1977: 23), Ammon/Loewer (1977: 27), Besch/ Löffler (1977: 25), Niebaum (1977: 23), Klaus/Mattheier/Mickartz (1978: 12), Henn (1980: 24–25), Stellmacher (1981: 14), Kalau (1984: 43–44) und Koller (1991: 5). Durch ‹ › wird im Folgenden ein Graphem bezeichnet, durch / / ein Phonem und durch [ ] ein (Allo-)Phon.

Aufbau der Arbeit

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1.7  Aufbau der Arbeit Der Aufbau der Arbeit und die geplante Vorgehensweise stellen sich wie folgt dar: Zunächst soll in Kap. 2 der sprachsoziologische Kontext beschrieben werden, der den Hintergrund der formalen Gestalt von Kafkas Deutsch bildete. Ausgehend von gemeinsamen Phänomenen aller deutschen Stadtsprachen in der k. u. k. Monarchie werden die demographischen, soziologischen und sprachlichen Verhältnisse der Stadt Prag um 1910 skizziert und der Wissensbestand zu Kafkas Kompetenz in den Sprachen Deutsch, Tschechisch und (West‑)Jiddisch zusammengefasst. Teilziel ist eine Prognose darüber, welche Sprachsys­ teme theoretisch in welchem Ausmaß auf Kafkas Erstsprache eingewirkt haben können und ob entsprechende Interferenzen gegebenenfalls als individuell oder gruppenspezifisch zu interpretieren sind. Die hierbei angewandte Methodik wird in Kap. 1.8.1.1 beschrieben. Da das Untersuchungskorpus ausschließlich literarische Werke umfasst, besteht prinzipiell die Möglichkeit, Formen des Substandards könnten vom Autor absichtlich zur Fingierung von Mündlichkeit eingesetzt worden sein. Kap. 3 versucht daher in einem nächsten Schritt nachzuvollziehen, welchen Domänen Kafka standardnahe und standardferne Varietäten einer Sprache zuwies. Hierdurch soll ein Eindruck davon entstehen, welche formalen Maßstäbe Kafka prinzipiell an sein literarisches Schriftdeutsch legte, um Formen des regionalen Substandards als (unwillkürliche) Reflexe seiner Primärsprache deuten zu können. Zu diesem Zweck wird ebenfalls auf die in Kap. 1.8.1.1 dargelegte Methode zurückgegriffen. Kap. 4 beabsichtigt, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie Formen des regionalen Substandards unwillkürlich in Kafkas Literatursprache eindringen konnten. Ausgehend von textsortenabhängig divergierenden Korrektur-Befunden soll beschrieben werden, warum die Anfälligkeit Kafkas für den Transfer primärsprachlicher Strukturen in die Schriftsprache im Falle seiner literarischen Textproduktion am höchsten gewesen zu sein scheint. Hierzu wird ein differenzierender Blick auf die besonderen mechanischen, atmosphärischen und psychologischen Bedingungen geworfen, unter welchen sich Kafkas Schaffensprozess vollzog. Zugleich wird die starke Bedeutung der Lautlichkeit für die Sprache von Kafkas Prosa-Werken herausgearbeitet. Vorgegangen wird dabei v. a. nach methodischen Grundsätzen, die in Kap. 1.8.1.2 erläutert werden. In Kap. 5 schließt sich die eigentliche Analyse von Kafkas Deutsch im Hinblick auf Regionalismen standardsprachlicher wie substandardlicher Qualität an. Überprüft wird in Kap. 5.1 zunächst die phonetische Ebene, zumal lautliche Erscheinungen (z. B. Synkopen und Apokopen) u. U. auch Hinweise auf die morphologische Gestalt von Wörtern und (z. B. bei assimilationsbedingten Ausfallerscheinungen) auch auf syntaktische

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Einleitung

Zusammenhänge geben können. Beides steht im Zentrum der in Kap. 5.2 durchgeführten Untersuchung der Morphosyntax, die das Korpus dokumentiert. Die für beide Abschnitte grundlegenden Methoden werden in den Teilkapiteln 1.8.1.3 bis 1.8.1.7 dargestellt. Die Ergebnisse der Analyse werden schließlich in Kap. 6 zusammengefasst. Anhand der in Kap. 5 erstellten ,Korrekturgrammatik‘ der Prosa-Schriften Franz Kafkas wird unter Beantwortung der in Kap. 1.3 formulierten Leitfragen die formale Gestalt des von Kafka im Alltag verwendeten Deutsch beschrieben und varietätenlinguistisch eingeordnet. Neben einer Einschätzung, inwieweit Kafkas Sprache als repräsentativ für das in Prag zu seiner Zeit gesprochene erstsprachliche Deutsch gelten kann, werden hier auch die gesicherten Daten zur zeitgenössischen Standardauffassung in Prag resümiert. Abschließend erfolgt in Kap. 7 ein Ausblick auf die Möglichkeiten, die Untersuchungsergebnisse in der künftigen Kafka-Forschung zu verwerten.

1.8  Methodischer Ansatz 1.8.1  Verwendete methodische Ansätze, zugehörige Referenzquellen und Kontrollkorpora 1.8.1.1  Sprachsoziologie Nachdem die vorliegende Untersuchung auf der Grundlage literarischer Texte erfolgt, stellt sich zu Beginn ein grundsätzliches Problem: Wie lässt sich entscheiden, ob in Formen regionaler Substandardvarietäten des Deutschen ungewollte bzw. unbewusste Abweichungen Kafkas von einer angestrebten Norm und damit Reflexe seiner im Alltag verwendeten Primärsprache vorliegen oder ob sie Ausdruck einer vom Autor bewusst fingierten Mündlichkeit sind? Zur Beantwortung dieser Frage müssen im Vorfeld gesicherte Daten darüber gewonnen werden, welche formalen Ansprüche Kafka prinzipiell an seine Literatursprache stellte, welchen Domänen er standardnahe und standardferne Varietäten einer Sprache also tendenziell zuwies. Um im Weiteren davon ausgehen zu können, dass Kafkas sprachliche Zielvorstellungen für seine Prosa grundsätzlich nicht im Bereich fingierter Mündlichkeit (,Dialekt-Literatur‘), sondern im Gegenteil im Bereich überregionaler Schriftsprachlichkeit zu verorten sind, erfolgt der erste Schritt des geplanten Vorgehens nach methodischen Ansätzen der Sprachsoziologie: Diese ,makrostrukturelle‘ Richtung der Soziolinguistik geht von sozialen Strukturen aus und begreift Sprache als wesentlichen Faktor der Organisation einer

Methodischer Ansatz

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Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der auf Fishman (1965) zurückgehenden Leitfrage, wer wann und zu welchem Zweck mit wem welche Sprache bzw. Sprachvarietät spreche, stehen die Normen des Sprachgebrauchs und die Einstellungen (Attitüden) verschiedener sozialer Gruppen zum Phänomen Sprache im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (Bußmann 42008: 634). Die empirischen Erhebungsmethoden soziolinguistischer Daten umfassen zum einen die teilnehmende Beobachtung (Werlen 1996: 755–760; Albert/Koster 2002: 17–22), zum anderen die indirekte Befragung mittels Fragebögen, die Sprachbiographien, Sprachgebrauch in verschiedenen Situationen, Sprachdominanz und Spracheinstellungen berücksichtigen (Nortier 2008: 39; Riehl 22009: 44). Die dritte Methode der Datenerhebung stellt die direkte Befragung von Gewährspersonen (Interviews) dar, die gesteuert/standardisiert (,Abfragen‘ eines Leitfadens zur Gewinnung vergleichbarer Daten) oder ungesteuert/nicht standardisiert (freie Äußerung mit authentischeren Ergebnissen) angelegt sein kann (Albert/Koster 2002: 30–34; Riehl 22009: 46). Mischformen sind dabei prinzipiell möglich. Im Falle Kafkas erweisen sich die ersten beiden Methoden empirischer Datenerhebung als unpraktikabel. Allerdings hat Kafka in seinen Tagebüchern (Kafka 1990b) und seiner Korrespondenz (Kafka 1958; 1974; 21983b; 1999a–b; 2005; 2013) ein beträchtliches Korpus an metasprachlichen Äußerungen hinterlassen. Diese können, falls sie ohne größere Widersprüche bleiben, in ihrer Summe zwar nicht als Daten eines ungesteuerten/nicht standardisierten Interviews interpretiert werden, aber zumindest als Daten eines narrativen Interviews zu seiner Spracheinstellung, wie es in der Sprachbiographie-Forschung Anwendung findet (Tophinke 2002; König 2010). Hier ist gewiss zu berücksichtigen, dass die Textsorten Tagebuch und Brief bei Kafka einer gewissen Stilisierung unterliegen40 und dass man es in sprachbiographischen Interviews immer gleichzeitig mit einer Text-, Subjekt- und Lebensrealität zu tun hat. Allerdings gilt, wie etwa Riehl (22009: 46) bei empirischer Datenerhebung festgestellt hat, dass soziolinguistische Interviews generell als Gespräche aufzufassen sind, in welchen sich der Informant in einem bestimmten Licht darstellt und nur das äußert, was er von sich preisgeben will. Um Kafkas ,Interview-Aussagen‘ zu seinen formalen Ansprüchen an sein ProsaDeutsch als authentisch einstufen zu können, bedarf es daher einer Abgleichung mit anderen, objektiven soziolinguistischen Daten: Zum einen sind Kafkas Äußerungen im Kontext historisch-sprachsoziologischer Untersuchungen zur kultursemiotischen Funktion bürgerlichen Sprachverhaltens im 19. Jahrhundert (Vesper 1989; Linke 1991;

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S. hierzu Kap. 4.3.2.1 und 4.3.2.2.

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Einleitung

1996; 2008; Ziegler 1999) zu betrachten. Zum anderen soll versucht werden, aus der Rekonstruktion der Sprachbiographie (Schule, Lektüre, Fremdsprachen-Kenntnisse, Reisen) Franz Kafkas und seines Publikationsverhaltens (Dietz 1963; Unseld 1982; 2008) Indizien für die Authentizität seiner Selbstaussagen zu gewinnen. Die gleiche objektivierende Funktion können in diesem Zusammenhang Beobachtungen und Urteile zu Kafkas Spracheinstellung aus seinem unmittelbaren sozialen Umfeld erfüllen.41 Dieser methodische Weg scheint im Rahmen des ,integrativen‘ Charakters der Soziolinguistik als spekulative (,introspektive‘) Wissenschaft auf empirischer Grundlage (Löffler 42010: 46) insgesamt gangbar. 1.8.1.2  Schreibforschung, Textgenetik und Psycholinguistik Ausgehend von Kafkas formalem Sprach-Ziel soll der nächste methodische Schritt klären, auf welchem Weg Formen aus Kafkas Primärsprache (Substandard) in Texte geraten konnten, die überregionalen literarischen Ansprüchen genügen sollten. Hierzu werden einige methodische Ansätze der Schreibforschung, der Textgenetik und der Psycholinguistik miteinander kombiniert: Angesetzt wird dabei zunächst bei einem Grundsatz der Psycholinguistik: Sprachproduktion diene der Regulation des kognitiven, motivationalen und affektiven Systems eines Individuums in dem Sinne, dass der in einer Situation kognizierte Zustand der Welt oder des Individuums selbst (der Ist-Zustand) von einem (gewünschten oder auch nur gesollten) Ziel-Zustand abweicht und dass die Produktion sprachlicher Äußerungen für die Behebung oder Verringerung dieser Abweichung als zielführend erachtet wird (Grabowski 2003: 356).

Wie jede Sprachproduktion erfüllte somit auch die Prosa-Niederschrift eine konkrete Funktion für den Schriftsteller Kafka. Diese Funktionalisierung steht im Zusammenhang mit einer gegenüber Tagebuch und Brief stichprobenartig festgestellten textsortenspezifisch erhöhten Anfälligkeit, von der Norm abzuweichen, und einer entsprechend stärker ausgeprägten Neigung, zu korrigieren oder zu emendieren. Beides kann auf den besonderen Ablauf von Kafkas literarischem Schreibprozess zurückgeführt werden.

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S. hierzu v. a. Haas (1952), Brod (31954a; 1960; 1965b; 1969a; 1974), Brod/Kafka (1987; 1989) und Janouch (21968).

Methodischer Ansatz

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Um das Profil dieses ungewöhnlichen Schreibaktes aus produktionsästhetischer Perspektive zu rekonstruieren, werden der Untersuchung Modelle der Schreibforschung zugrunde gelegt, die sich seit den frühen 1970er Jahren immer stärker dem eigentlichen Akt anstatt dem Produkt des Schreibens zuwendeten: So haben Hayes/Flower (1980a–b) in ihr kognitiv orientiertes Schreibmodell die Schreibumgebung bzw. den situativen Problemkontext (task environment) integriert, mithin „everything outside the writer’s skin that influences the performance of the task“ (Hayes/Flower 1980a: 12), also auch die Bedingungen, unter welchen ein Text entsteht. Planen, Formulieren und Überarbeiten wurden dabei als zentrale Teilprozesse aufgefasst, die in keiner festen Abfolge, sondern durch eine Kontroll- und Steuerungsinstanz, den Monitor, nach Bedarf zum Einsatz kämen und nach Beaugrande (1982; 1984) zudem in Interaktivität stünden. In seinem modifizierten Modell sah Hayes (1996) das schreibende Individuum durch motivationale und affektive Faktoren beeinflusst, die sich auch erst beim Schreiben, etwa in Reaktion auf das Geschriebene, entwickeln könnten. Vor diesem Hintergrund wird auf die Methodik der Textgenetik zurückgegriffen, die sich v. a. in Frankreich seit den 1970er Jahren im Umfeld von Louis Hay (1984) als eigenständige Forschungsrichtung auch außerhalb der Editionswissenschaft etablieren konnte. Gegenüber der Semiotik rückte die critique génétique zusätzlich die materielle Dimension von Texten in den Vordergrund: nämlich die handschriftlichen Spuren der Schreibpraxis. Diese speicherten semiotische Informationen über räumliche und graphische Verhältnisse, die für ein Verständnis genetischer Vorgänge notwendig seien. Dabei wurde vom Strukturalismus zwar die Methodik übernommen, Varianten als voneinander differierende Formen mit linguistischen Verfahren kontrastiv zu betrachten. Im Unterschied zu poststrukturalistischen Theorien ging die critique génétique jedoch empirisch vor: Sie wandte die strukturale Textanalyse auf die konkrete Diachronie von Schreibakten an, sammelte, entzifferte und ordnete genetische Dokumente eines Textes chronologisch und interpretierte diese als „avant-texte“ (Bellemin-Noël 1972), d. h. als Vorstufen, deren Genese sie mit sozusagen ,archäologischen Verfahren‘ nachvollzog und darstellte. Dabei wurden einerseits die Produktionsmechanismen mit deskriptiven und analytischen Mitteln untersucht: Unterschiedliche genetische Operationen (Programme, Entwürfe, Ersetzungen) wurden nachgezeichnet und mit der ihnen zugrunde liegenden spezifischen Dynamik in Beziehung gesetzt. Zum anderen wurden die Ergebnisse der Genese mit Blick auf die Form und den Sinngehalt analysiert. Produktion/Vorgang und Produkt/Ergebnis, die beiden Dimensionen der Schrift, wurden im Zuge der Erforschung des Verhältnisses von avant-texte und Text erfasst (Schütterle 2002: 51–59).

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Einleitung

Die vorliegende Arbeit kann sich hierbei teils auf bereits verfügbare Studien, v. a. auf den Editionsbefund der KKA-Herausgeber stützen,42 teils können neue Beobachtungen vorgelegt werden. Das aus textgenetischen, textimmanenten Indizien gewonnene Bild wird dabei mit Kafkas poetologischen Reflexionen über seine literarische Schreibarbeit in Beziehung gesetzt, die sich wiederum als soziolinguistische Daten eines narrativen Interviews betrachten lassen. In ihnen liegen gewissermaßen ,Werkstattgespräche‘ mit dem Autor vor, wie sie seit Ende der 1950er Jahre zur Analyse schöpferischer Produktionsprozesse von verschiedenen Philologien ausgewertet wurden (z. B. Cowley 1958; Bienek 1962; Beumer 1983). Ihre Authentizität soll durch Überprüfung inhaltlicher Übereinstimmung mit Aussagen aus Kafkas engerem sozialem Umfeld43 zusätzlich untermauert werden. Ziel dieses Vorgehens ist es, ein der Realität möglichst nahe kommendes Bild von den mechanischen, atmosphärischen und psychologischen Bedingungen zu entwerfen, unter welchen sich Kafkas literarischer Schreibprozess vollzog. Dabei soll plausibel gemacht werden, dass sich der Schreibende zeitweilig in einem Zustand befand, in dem seine Selbstkontrolle, sein ,Monitor‘, schwach ausgeprägt und seine kognitiven Kontrollmechanismen in ihrer Funktion eingeschränkt waren, so dass man von einer erhöhten Anfälligkeit für Verschreibungen ausgehen kann. Aufgrund textgenetischer und sprachsoziologischer Indizien, die auf einen individuell stark ausgeprägten Konnex zwischen Sprechen, Hören und Schreiben bei Kafka schließen lassen, soll William Labovs (1970) monitoring-Hypothese zur Funktionalität des Codeshiftings beim Sprechen auf den Schreibenden übertragen werden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Kafkas phasenweise eingeschränkte sprachliche Selbstkontrolle eine latente sprachliche Regression in den Substandard begünstigen konnte, die sich als Verschriftlichung eines Codeshiftings in seinen Autokorrekturen niederschlug und Rückschlüsse auf die Gestalt seiner Primärsprache zulässt. 1.8.1.3  (Dialektbezogene) Fehlerlinguistik An diesem Punkt schließt sich die eigentliche Analyse von Kafkas Deutsch an. Hinsichtlich derjenigen Regionalismen, die auf Substandard-Varietäten des Deutschen verweisen, stützt sich die Untersuchung auf die kontrastive Methodik der dialektbezogenen

42 43

S. hierzu v. a. Pasley (1980; 1981; 21983a; 1990b; 1992; 1993), Schillemeit (1984; 1987; 1992; 2002a; 2004) und Kittler/Koch/Neumann (1996). S. hierzu v. a. Haas (1925), Baum (1936), Brod (1948; 31954a–b; 1960; 1964b; 1965a–b; 1969a; 1974) und Janouch (21968).

Methodischer Ansatz

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Fehlerlinguistik, welche die Autoren von Dialekt/Hochsprache kontrastiv. Sprachhefte für den Deutschunterricht in den Jahren 1976 bis 1981 ihren Darstellungen mundartbedingter systematischer Abweichungen von der Schriftsprache in Schüleraufsätzen zugrunde gelegt haben. Das im Kontext der Sprachbarrieren-Diskussion der frühen 1970er Jahre initiierte Projekt stellte den ersten Versuch dar, „den besonderen Sprachschwierigkeiten von Mundartsprechern im Umgang mit der deutschen Standardsprache, insbesondere im schulischen Unterricht, erstmalig mit konkreten therapeutischen Maßnahmen zu begegnen“ (Wegera 1977: 3). Methodisch übernahm man dabei Verfahrensweisen aus dem Bereich der Fremdsprachenvermittlung und der kontrastiven Linguistik (Moser 1970; Nickel 1972a–b; 1973; Juhász 1973). Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildet die Annahme, dass sich Hochsprache und Dialekt zueinander strukturell zumindest in Teilbereichen fremdsprachenähnlich verhielten und es bei mundartgeprägten Deutschsprechern, von der Zielsprache aus gesehen, zu Interferenzfehlern mit negativem Transfer im Schriftdeutschen kommen könne. Häufige Normverstöße von Dialektsprechern in standarddeutscher Schriftlichkeit werden somit als Interferenz zwischen Mundart (Erstsprache) und Standardsprache (Zweit‑/Fremdsprache) gedeutet (Löffler 1974: 112–115; Besch 1975: 157–159). Als erschwerend gegenüber der ,echten‘ Fremdsprachensituation wird hierbei der Umstand gewertet, dass durch die sprachgeschichtlich bedingte Nähe große Überschneidungszonen zwischen Dialekt und Einheitssprache gegeben sind, die häufigen Anlass zum strukturellen Transfer bieten (Löffler 1980: 97).44 Die in diesem Zusammenhang geläufigste Untersuchungsmethode stellt die empirische dar: Fehler werden gesammelt, bewertet, kategorisiert und als Korpus betrachtet, innerhalb dessen die Frequenz einzelner Erscheinungen die weitere Arbeit an Lehrbüchern und Verfahrenstechniken bestimmt ( Juhász 1973: 461; Löffler 1980: 96–97). Dieser methodische Ansatz findet noch in fehlerlinguistischen Studien der Gegenwart zur Interferenz zwischen Mundart und Standardsprache Anwendung (z. B. Noack 2002; Schmidlin 2002; Spiekermann 2002). Die vorliegende Abhandlung folgt dieser Vorgehensweise, indem 44

Hier ist zu unterstreichen, dass es sich bei den in Kafkas Prosa-Handschriften dokumentierten Normverstößen in der Masse nicht um Kompetenzfehler handeln kann, wie sie die Fehlerlinguistik der 1970er Jahre ihrer Defizit-Hypothese zugrunde legte. Bereits Kafkas strenge Schulbildung (vgl. Kap. 3.1.1) schließt dies aus. Stattdessen ist von Performanzfehlern auszugehen, die durch den besonderen Ablauf von Kafkas literarischem Schreibprozess (vgl. Kap. 4.4) begünstigt wurden, so dass die Differenz zwischen seiner Primär- und der Schriftsprache in Form von Interferenzen ihren Reflex im Schriftbild finden konnte. Für die Interpretation des Fehlerbefundes macht diese abweichende Prämisse jedoch keinen Unterschied, so dass die empirische Methode der Fehlerlinguistik und ihre dialektbezogenen Fehler-Kategorisierungen ohne Bedenken in der vorliegenden Untersuchung angewandt werden können.

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Einleitung

Typen von Normabweichungen,45 die in Kafkas Manuskripten wiederholt auftreten, gruppiert und auf Übereinstimmung mit den Fehler-Typologien der dialektbezogenen Fehlerlinguistik überprüft werden, um sie gegebenenfalls einem bestimmten diatopischen Sprachsystem zuzuordnen. Innerhalb und neben der Reihe Dialekt/Hochsprache kontrastiv liegen dabei bereits Darstellungen zu ober‑, mittel- und niederdeutschen Dialektarealen vor.46 Besonders aussagekräftig hinsichtlich des Untersuchungsgebietes Prag ist dabei die Studie von Lehmann (1899), der bereits zu Kafkas Lebzeiten mundartbedingte Normverstöße Wiener Mittelschüler im Schriftdeutschen kategorisierte und aus dem Befund didaktische Konsequenzen für den regionalen Deutschunterricht zog.47 1.8.1.4  Dialektologie Um überprüfen zu können, ob auffällige sprachliche Phänomene auch in fehlerlinguistisch bisher nicht erfassten Dialektarealen verbreitet sind, wird ferner auf drei übliche Formen dialektologischer Datenpräsentation zurückgegriffen, auf welchen die in Kap. 1.8.1.3 genannten fehlerlinguistischen Studien letztlich selbst basieren: Zum einen handelt es sich um die seit dem Pionierwerk von Jost Winteler (1876) gebräuchliche Form der Monographie, die meist als Orts- oder Gebietsgrammatik begegnet. Lauthistorische dialektologische und synchronische Beschreibungen von Ortsmundarten, die den gegenwärtigen Sprachzustand mit historischen Sprachstufen in Beziehung setzen, stellen noch in der Gegenwart eine solide Grundlage und den Ausgangspunkt verschiedenster Fragestellungen geographischer, historischer und soziolinguistischer Art dar, gerade bei einer Flächenbetrachtung, die exaktes Material an möglichst vielen Ortspunkten voraussetzt (Niebaum/Macha 1999: 24; Löffler 2003: 24). Auch neuere strukturelle Arbeiten zum Problem der Dialekteinteilung (z. B. Panzer/Thümmel 1971; Wiesinger 1970; 1983c)

45 46

47

Zur Rekonstruktion der Standard-Norm(en) des Deutschen zu Kafkas Lebzeiten s. Kap. 1.8.1.6. Diese sind zu den (nord- und westmittel‑)bairischen Dialekten Zehetner (1977) und Reitmajer (1979), zu den ostfränkischen Kalau (1984) und Koller (1991), zu den schwäbischen Ammon/ Loewer (1977), zu den niederalemannischen Besch/Löffler (1977), zu den hessischen Hasselberg/ Wegera (1976), Wegera (1977) und Hasselberg (1979), zu den rheinpfälzischen Henn (1980), zu den moselfränkischen und ripuarischen Klaus/Mattheier/Mickartz (1978), zu den westfälischen Niebaum (1977) und zu den niedersächsischen Stellmacher (1981). Ähnliche Studien, die Interferenzen deutscher Mundarten im lokalen Schriftdeutsch verschiedener Regionen der k. u. k. Monarchie beschreiben und sprachpflegerische Hinweise zu deren Vermeidung geben, erschienen an der Wende zum 20. Jahrhundert häufiger, auch in Stadtzentren fernab der Reichshauptstadt Wien wie etwa Czernowitz (Černivci) (Gartner 1901) und Leutschau (Levoča/Löcse) (Szentistványi 1905).

Methodischer Ansatz

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stützen sich fast ausschließlich auf die Daten klassischer Ortsgrammatiken.48 Ergänzt werden diese seit den 1970er Jahren zunehmend durch zusammenfassende synchrone Überblicksdarstellungen zu Gesamtdialekten, deren Verwendung für die vorliegende Untersuchung am praktikabelsten erscheint.49 Die zweite Form dialektologischer Datenpräsentation stellen Wörterbücher dar. Das im 17. Jahrhundert einsetzende Aufzeichnen des räumlich gebundenen Wortschatzes des Deutschen bildet auch in der Gegenwart einen essentiellen Bereich der Dialektologie. Dialekt-Wörterbücher, darunter 20 großlandschaftliche Territorialwörterbücher, decken lexikographisch die gesamte deutsche Dialektlandschaft ab (Friebertshäuser 1983: 1286– 1299; Niebaum/Macha 1999: 37–38; König 162007: 138–139). Sie erfassen (im Unterschied zum Idiotikon) nicht nur den Sonderwortschatz, sondern das vollständige Wortgut einer Region, also auch Lexeme, die Dialekt und Hochsprache gemeinsam haben, wenn auch z. T. in verschiedener Funktion. Da einzelne Wörter innerhalb ihres Eintrags in lautgetreuer Form und oft innerhalb ihres syntaktischen Kontextes dargestellt werden, bieten Wörterbücher auch Hinweise zu Fragen der Phonetik und der Morphosyntax (Löffler 2003: 60), die zum Vergleich mit substandardlichen Phänomenen im Korpus der ProsaSchriften Franz Kafkas herangezogen werden können.50 Schließlich werden in der weiteren Betrachtung auch die Ergebnisse der Dialektgeographie/Areallinguistik berücksichtigt, die in Sprachkarten/-atlanten aufbereitet 48 49

50

Eine Zusammenstellung findet sich bei Wiesinger/Raffin (1982; 1987). Dabei handelt es sich um folgende Orts‑/Gebietsgrammatiken: für das Wienerische Mayr (21930) und Schuster/Schikola (1984), für die bairischen Dialekte Weinhold (1867), Brenner (1890), Schiepek (1899), Kranzmayer (1956), Bannert (1976), Zehetner (1985) und Merkle (61996), für die ostfränkischen Franke (1892/1895), Hörlin (1988) und Wagner (1987), für die schwäbischen Frey (1975), für die alemannischen Weinhold (1863), für die rheinpfälzischen Post (21992), für die thüringischen Frings (1936), Spangenberg (1962) und Rosenkranz (1964), für die obersächsischen Hausenblas (1914), Frings (1936), Seibicke (1967), Becker (1969) und Stellmacher (1973), für die niederdeutschen Stellmacher (22000). Verwendet werden im Weiteren folgende Wörterbücher: für das Wienerische Hügel (1873), Schranka (1905), Jakob (1929), Schuster (1951) und Teuschl (1990), für die nord- und mittelbairischen Dialekte Altbayerns Schmeller (21872/21877), WBB (1995–2009) und Zehetner (42014), für die mittel- und südbairischen Dialekte Österreichs WBÖ (1963–2009), für die ostfränkischen Dialekte WUF (1996) und WMF (2000), für die schwäbischen Dialekte SWB (1904–1936), für die niederalemannischen BWB (1925–2009), WEM (1899/1907) und VBW (1960/1965), für die hoch- und höchstalemannischen WSS (1881–2006), für die rheinpfälzischen PWB (1965–1997), für die hessischen SHW (1965–2010) und FWB (1971–1984), für die moselfränkischen und ripuarischen RWB (1928–1971) und Bücher (1986), für die thüringischen TWB (1965–2006), für die obersächsischen WOM (1994–2003), für die schlesischen Mitzka (1963–1965), für die niederdeutschen SHWB (1927–1935), MBW (1942–1998), LBW (1942–1967), NSW (1965–2011), BBW (1968–2001), WFW (1973–2008) und HWB (1985–2006).

44

Einleitung

vorliegen. Wegbereitend für diese Publikationsform war Georg Wenkers Sprachatlas der Rheinprovinz (1878), der für den Sprachatlas des Deutschen Reiches (publiziert 1927 bis 1956) erstellt wurde. Die mittels schriftlicher (indirekter Enquête) und mündlicher Erhebungen (direkter Enquête) sowie durch Sammlung frei gesprochener Texte erstellten Sprachkarten (Niebaum/Macha 1999: 32–34; Löffler 2003: 25–30, 47–50; Bußmann 4 2008: 132) erfassen die räumliche Ausbreitung differierender Formen und werden mit sprachlichen Phänomenen in Kafkas Prosa verglichen, die nicht zum Standard gerechnet werden können. Neben dem Kartenmaterial in den einschlägigen Mundart-Wörterbüchern stützt sich die Untersuchung auf kartographische Darstellungen zum gesamten deutschen Sprachraum oder zu Teilen von diesem.51 Die drei genannten Arten dialektologischer Datenpräsentation ergänzen zudem die bereits verfügbaren dialektbezogenen Fehler-Typologien;52 denn diachrone Abweichungen und Besonderheiten (z. B. des AltWienerischen) gegenüber dem gegenwärtigen Sprachstand der deutschen Dialekte sind im Einzelfall nicht auszuschließen. In Ermangelung einer Studie zu jiddischen Interferenzen im Schriftdeutschen bilden die Darstellungsformen Gebietsgrammatik, Wörterbuch und Sprachatlas53 auch die Grundlage für eine direkt vorgenommene fehlerlinguistische Überprüfung des Korpus auf ethnolektale Relikte des Jiddischen.54 1.8.1.5  Kontaktlinguistik/Sprachkontaktforschung Erscheinungen in Kafkas Deutsch, die Parallelen zum Tschechischen aufweisen, erfordern den Rückgriff auf methodische Ansätze der Kontaktlinguistik. Die auf Uriel Weinreich (1953) zurückgehende systematische Theorie der Sprachkontaktforschung besagt, dass zwei (oder mehrere) Sprachen in Kontakt stehen, wenn sie von ein und derselben Person abwechselnd verwendet werden. Da Tschechisch für Kafka eine Zweitsprache darstellte,55

51

Herangezogen werden im Folgenden Kranzmayer (1956), Eichhoff (1977–2000), König (1989; 2007), Renn/König (2006) und Drenda (2008). S. hierzu Kap. 1.8.1.3. Verwendet wurden Darstellungen zur Grammatik und Phonetik des West- (Beranek 1949; 21957; 1961; Guggenheim-Grünberg 1958; 1973; Weinberg 1969; Timm 1987) und Ostjiddischen (Wiener 1893; Gerzon 1902; Strack 1916; Hutterer 1965; Birnbaum 1979; 21986; Weissberg 1988; Lockwood 1995; Geller 2001; Jacobs 2005), entsprechende Wörterbücher (Wolf 1962; Lötzsch 1990; Klepsch 2004) sowie der Westjiddische Sprachatlas (Beranek 1965). Das Jiddische, das starke sprachstrukturelle Züge der bairischen und ostmitteldeutschen Dialekte aufweist, kann zumindest aus diachroner Perspektive als Varietät des Deutschen aufgefasst werden (vgl. Kap. 3.2.3). S. hierzu Kap. 2.4.2. 16

52 53

54

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Methodischer Ansatz

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geht es im Folgenden vornehmlich um die Untersuchung des so genannten stabilen Transfers (Riehl 22009: 90–91) vom Tschechischen auf seine Primärsprache Deutsch, d. h. um Phänomene, die bereits Eingang in das Sprachsystem seiner Sprachgemeinschaft gefunden hatten, als Kafka muttersprachlich sozialisiert wurde. Bezüglich dieses Typs von KontaktPhänomenen liegt bereits eine Anzahl jüngerer Studien zu Varietäten des Deutschen in Sprachinseln oder als Erstsprache einer Minderheitengruppe vor.56 Dabei hat sich in der Kontaktforschung eine Hierarchie sprachlicher Ebenen, die besonders häufig von stabilem Transfer betroffen sind, herauskristallisiert: (1) Lexikon, (2) Syntax, (3) Phonologie/Prosodie und (4) Morphologie (Thomason 2001: 70–71; Riehl 2001: 63; 22009: 91). Da die Lexik bereits in Kap. 1.4 von der Untersuchung ausgenommen wurde, lassen sich Interferenzen aus dem Tschechischen am ehesten auf der Ebene der Syntax von Kafkas Deutsch erwarten. Als Orientierungsmodell fungiert im Folgenden das mehrfach modifizierte Matrix Language Frame model von Myers-Scotton (1993; 21997; 2002), das bei bilingualen Sprechern in Situationen eines Codeswitchings von einer dominanten Matrix-Sprache ausgeht. Ursprünglich wurde diese als eine der beiden Sprachen bestimmt, zwischen welchen gewechselt wird. Inzwischen hält man auch eine aus Anteilen beider Sprachen ,gemischte‘ Matrix für möglich. Die Matrix-Sprache gibt eine bestimmte Reihenfolge der Konstituenten vor und bestimmt die syntaktische Struktur für die in sie eingebettete Sprache. Letztere ist der Matrix-Sprache nur syntaktisch untergeordnet. Ansonsten wird sie in eigener Form und Struktur in diese eingefügt. Eine Nominalphrase etwa wird vollständig mit Kasus, Genus etc. übernommen und syntaktisch in die Matrix-Sprache integriert. Dieses Verhältnis wird als asymmetrische Motivation beider Modellelemente bezeichnet. Zur Erhebung möglichst umfassender und objektivierbarer Daten ist in der Sprachkontaktforschung die Verbindung mehrerer empirischer Erhebungsmethoden üblich: zumeist Beobachtung, Interview, spontanes/gesteuertes Gespräch und eventuell auch elizierte (experimentell ermittelte) Daten, die mittels Transkription aufbereitet und als Korpus analysiert werden (Heller 2008: 256; Riehl 22009: 44–50). Da dies im Falle Kafkas nicht möglich ist, kann von den soziolinguistischen Methoden der Datenerhebung57 nur auf die Auswertung schriftlicher Quellen zurückgegriffen werden, auf Daten, die nicht zum Zweck kontaktlinguistischer Forschung erstellt wurden (Nortier 2008: 49–51). Diese erweisen sich gerade 56

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Zu Rumänien, Russland, Tschechien und Ungarn s. Eichinger/Plewnia/Riehl (2008), zu Brasilien Rosenberg (2003), zu Ostbelgien Riehl (2001), zu Ungarn Földes (1996; 2005a), zu Australien Clyne (1994), zu Südafrika Franke (2008), zu Namibia Riehl (22009), zu Italien Zürrer (1999) und Riehl (2001), zu den USA Huffines (1994), Salmons (1994), Louden (1994), Fuller (2001) und Born (2003). S. hierzu Kap. 1.8.1.1.

46

Einleitung

im Bereich des historischen Sprachen-Kontaktes als geeignetes und, wie im Falle Kafkas, oft auch einziges Material, auf dessen Basis festgestellt werden kann, welche KontaktPhänomene sich bereits in einer Sprachgemeinschaft verfestigt haben (Riehl 22009: 50). Schriftliche Quellen (Zeitungen, Briefe, Schüleraufsätze etc.) werden im Übrigen auch in der synchronen Kontaktlinguistik ergänzend zu mündlich erhobenen Daten verwendet.58 Das entsprechende Korpus wird durch Kafkas literarische Schriften gebildet. Hinzu kommen die in Kap. 1.8.1.6 unter Sprachkodizes und Modellsprecher genannten Prager Schriftquellen (Wörterbücher, Grammatiken, Printmedien, Belletristik), die im Einzelfall Aussagen über Gruppenspezifik und auch Standardzugehörigkeit eines Phänomens machen können. Die Befunde werden zusätzlich in Beziehung zu frühen Beobachtungen zum deutsch-tschechischen Sprachen-Kontakt in den böhmischen Ländern (Schleicher 1851; Schuchardt 1884; Teweles 1884; Ritschel 1893) gesetzt. Sprachliche Erscheinungen mit direkten Parallelen im Tschechischen werden anhand der grammatischen Beschreibungen des Tschechischen von Štícha (2003) und Vintr (22005) sowie deutsch-tschechischer Wörterbücher aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Herzer/Prach 1909–1920; Sterzinger 1916–1935; Siebenschein 1936–1948) ermittelt und zusätzlich mit Darstellungen häufiger, systembedingter Fehler von Deutschsprechern mit Primärsprache Tschechisch (Hielscher u. a. 2003; Rinas 2003) und mit anderen sprachkontrastiven Untersuchungen (z. B. Bednarský 1995; 2002) abgeglichen. 1.8.1.6  Das Modell des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät Ob die solchermaßen bestimmten Regionalismen in die Kategorie des Substandards oder aber eines regionalen Standards fallen, muss im Einzelfall mit den Methoden der Standardsprachenforschung bestimmt werden. Der regionale Sprachgebrauch, v. a. wenn es sich nicht um Mundart im engeren Sinne handelt, hat als sprachwissenschaftlicher Forschungsgegenstand allerdings erst lange nach Kafkas Tod Aufmerksamkeit gefunden. Die in jüngerer Vergangenheit erschienenen Hilfsmittel59 müssen mit Textquellen der Kafka-Zeit abgeglichen werden, um eindeutige Aussagen darüber machen zu können, ob heute gültige Zuordnungen auch vor einem Jahrhundert zutrafen (Bauer 2006: 345).

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Vgl. u. a. Riehl (2001), Danet/Herring (2003), Androutsopoulos (2003), Berend/Riehl (2008) und Nortier (2008: 49–50). Diese sind u. a. ÖWB (241951), Rizzo-Baur (1962), Eichhoff (1977–2000), Ebner (21980; 2008), Meyer (1989), Muhr (1995; 2007), Ammon u. a. (2004) und Wiesinger (22008).

Methodischer Ansatz

47

Bei der Frage nach dem Standard des Deutschen um 1910 orientiert sich die folgende Untersuchung daher an dem von Ulrich Ammon (1995; 2003; 2005) seit 1995 entwi­ ckelten Konzept von Standardvarietät, das von einem dynamischen Diskurs ausgeht, in dessen Verlauf sprachliche Normen in einem sozialen Kräftefeld unterschiedlicher (Gruppen‑)Interessen interaktiv aufgestellt, angezweifelt, modifiziert bzw. verteidigt werden.60 Methodologisch liegt dem die Auffassung zugrunde, ein Standard stelle keine auf Dauer unveränderliche Konstante dar. Als für seine Gestaltung entscheidende Akteure, normsetzende Instanzen, werden dabei von Ammon (1995: 73–82; 2003: 1–7; 2005: 32–36) vier einflussreiche Gruppen genannt. Bezogen auf Kafkas Zeit und Umfeld lassen sich ihre Exponenten, deren Texte spezifische Kontrollkorpora zum Untersuchungskorpus bilden, exemplarisch wie folgt festlegen: 1. Sprachkodizes bzw. autoritative Nachschlagewerke stellen zeitgenössische Orientierungshilfen für Sprachbenutzer in Zweifelsfällen des Gebrauchs der Standardsprache dar. Für das von Kafka erlernte Standarddeutsch sind v. a. die Schulgrammatiken von Kummer (31892) und Willomitzer (61894) maßgeblich: Auf ihrer Grundlage wurde im Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag-Altstadt, das Kafka von 1893 bis 1901 besuchte, eine durch das damalige k. k. Unterrichts-Ministerium für den Deutschunterricht in der cisleithanischen Reichshälfte approbierte Norm gelehrt, die auch durch den Leitfaden sowie die Sprach- und Aufsatzlehre von Lehmann (71892; 101899) repräsentiert wird.61 Weitere Auskünfte über die österreichische Normauffassung der Zeit geben Standard-Wörterbücher des Deutschen aus Wien, den böhmischen Ländern und dem slowenischen Raum. Nachschlagewerke aus Ungarn, Serbien und Rumänien ergänzen diese Referenzquellen durch ihre ,Außenperspektive‘, mittels der sich u.  U. eine von Kafka verwendete sprachliche Form als ,gesamtösterreichisch‘ klassifizieren lässt.62 Unterschiede zur zeitgenössischen Normauffassung im Deutschen Reich lassen sich anhand der Grammatiken

60 61

62

Zur methodischen Anwendung dieses Modells in der Soziolinguistik s. z. B. Dovalil (2006; 2011). In ihren Kodizes berücksichtigen die Autoren die jeweilige (regional-)sprachliche Prägung des Deutschen in Wien bzw. Prag, indem sie immer wieder punktuell in Form dialektorientierter sprachdidaktischer Kommentare auf sie Bezug nehmen. Zu Wien s. v. a. Pinloche (21931), zu Prag bzw. Böhmen Kott (1878–1893), Rank (1887/1892), Herzer/Prach (1909–1920), Sterzinger (1916–1935), Siebenschein (1936–1948), Hulík (1936; 2 1944), Macht (21939) und Kumprecht (31940), zum slowenischen Raum Pleteršnik (1894/1895), Janežič (41905), Bradač/Preglja (1930) und Mandrović (21943), zu Ungarn Kelemen (231924), zu Serbien Popović (21886/21895) und Ristić/Kangrga (1928; 1936), zu Rumänien Schroff (1925).

48

Einleitung

von Heyse (251893) (Hannover) und Winter (21896) (Bamberg) sowie einschlägiger in Nord- und Süddeutschland erschienener Nachschlagewerke überprüfen.63 Als ,überregional konzipiert‘ dürfen dabei Duden (71902; 101930), Paul (1916–1920) sowie das von Kafka (2005: 327) selbst als Maßstab für die Norm genannte Deutsche Wörterbuch (Grimm/Grimm 1854–1960) betrachtet werden.64 Hinsichtlich regionaler Umgangssprachen dient Kretschmers Wortatlas der hochdeutschen Umgangssprache (1918) als Referenzquelle für Kafkas Zeit. 2. Sprachexperten werden durch sprachwissenschaftliche Fachleute (Fach- oder Laienlinguisten) vertreten, die in Fällen des Sprachkonflikts auch gegen Kodizes um Fachurteile angerufen werden und als deren Kritiker auftreten können. Diese Rolle nehmen im Zusammenhang mit Kafkas Literaturproduktion Ratgeber aus seinem engsten Umfeld ein, deren Normkompetenz er offenbar höher als die eigene einschätzte: Zu ihnen gehört an erster Stelle Max Brod, dem bezüglich der Normsicherheit ein leichter (zumindest psychologischer) ,Sozialisierungsvorsprung‘65 (Salfellner 42000: 50) gegenüber Kafka zu attestieren ist und der dem Freund zeitlebens in sprachlichen Fragen als Lektor zur Seite stand (u. a. Brod 31954a: 153, 300; 1974: 350). Als weitere Experten bezüglich der reichsdeutschen Schriftnorm dienten Kafka seine aus Berlin stammende Verlobte Felice Bauer sowie sein Prager Freund und Schriftsteller-Kollege Felix Weltsch (Kafka 1990b: 722; 2005: 327–328, 345). Der in Wien und Prag als Sprach-, Kultur- und Presse-Kritiker meinungsbildend einflussreiche Karl Kraus (1921b–c; 1987) und der als Journalist und Reporter in Prag medien- und öffentlichkeitswirksame Egon Erwin Kisch (1917; 1992) können den Sprachexperten im weiteren Umfeld Kafkas zugerechnet werden.

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Zu Norddeutschland s. v. a. Sanders (21891a–b; 81910), Klenz (1904), Heyne (21905–21906a–b), Paul (21908), Weigand (51909/51910) und Saalfeld (31912), zu Süddeutschland Fuchs (1898) und Ammon (1903). 64 Band 10, II. Abt., I. Teil (Sprecher – Stehuhr) (Grimm/Grimm 1919) ist dabei der letzte zu Kafkas Lebzeiten erschienene Band. 65 Während Kafkas Eltern in Judengassen tschechischer Landgemeinden aufgewachsen waren und trotz puristischer Bemühungen ein Deutsch sprachen, das in einem ,Zwischenstadium‘ verharrte, stammte Brods Vater aus einer seit Langem in Prag ansässigen aufgeklärten, gebildeten Familie, die „städtisch, auch im Sinne der Urbanität“ (Brod 1969a: 115) war. Brods Mutter kam zudem aus dem nordböhmischen Morchenstern (Smržovka), d. h. aus einem deutschsprachigen Umfeld (Brod 1969a: 113).

Methodischer Ansatz

49

3. Normautoritäten wiederum sind Instanzen, die durch ihre soziale Funktion dazu berechtigt sind, die Sprachproduktion zu korrigieren. Durch ihren gesellschaftlichen Einfluss sind sie zudem in der Lage, ihre Korrekturen in der Praxis durchzusetzen. Hierzu zählen im Falle Kafkas die Redakteure der österreichischen Tageszeitungen (Prager Tagblatt, Prager Presse, Bohemia, Oesterreichische Morgenzeitung) und Zeitschriften (Der neue Weg, Herder-Blätter, Deutsche Montags-Zeitung, Die Selbstwehr, Die weißen Blätter, Der Jude) sowie die Lektoren der reichsdeutschen Verlage (Ernst Rowohlt und Kurt Wolff, Leipzig; Die Schmiede, Berlin), die seine Prosa zu seinen Lebzeiten veröffentlichten. Ihre Eingriffe in die Textkörper sind innerhalb der KKA im Apparatband der Drucke zu Lebzeiten (Kafka 1996) dokumentiert. Die Redaktion der Zeitschrift Hyperion (München) nimmt hierbei eine Position zwischen der österreichischen und der reichsdeutschen Normauffassung ein.66 Wo Brod als Herausgeber der postumen Schriften Kafkas auftritt (Kafka 1953a–b; 31954; 1964; 1965; 1967b), ist er ebenso als Normautorität zu betrachten.67 4. Modellsprecher bzw. ‑schreiber schließlich produzieren Modelltexte, auf die sich Normautoritäten und Normsubjekte bei Richtigkeitsurteilen mit Aussicht auf Erfolg berufen können. Die standardsetzende Wirkung dieser Texte leitet sich in der Regel aus ihrer Öffentlichkeit, der ihnen zugeschriebenen sprachlichen Meisterschaft und/oder dem sozialen Status ihrer Autoren ab. Anders als die genannten Normautoritäten, die zur Herstellung ihres Normkonzepts unmittelbar in Kafkas Sprachproduktion eingriffen, stellen sie Instanzen dar, die allein durch die Vorbildhaftigkeit ihrer Texte normsetzend wirkten. Hier rückt das Medien-Deutsch der Prager Tageszeitungen und Periodika in den Mittelpunkt, das als repräsentativ für die zeitgenössische Standardauffassung in Kafkas Umfeld betrachtet werden kann. Da Kafka gewisse Prager Printmedien nicht nur regelmäßig las, sondern auch zur Veröffentlichung seiner Kurzprosa nutzte, dürfte die in ihnen verwendete Sprache sein Normempfinden zumindest in seiner zweiten Lebenshälfte in gewissem Umfang mitgeprägt haben. Als Referenzquelle für diese Gruppe von Modelltexten wurde daher ein Kontrollkorpus von insgesamt 92 Seiten ausgewählter Ausgaben des

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Sie erschien zwar in München, Franz Blei, einer der Herausgeber, war allerdings gebürtiger Wiener. S. hierzu Kap. 1.5.2.

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Einleitung

Prager Tagblattes (PT 1921),68 der Prager Presse (PP 1921a–c)69 und der Selbstwehr (SW 1921a–c)70 aus dem Jahre 1921 zum Vergleich mit der KKA erstellt.71 Regional markierte Phänomene in Kafkas Manuskripten, die sich auch in diesen Printme­ dien nachweisen lassen, dürfen zumindest lokal als prinzipiell schriftfähig betrachtet werden. Zu den professionell geschulten Sprachbenutzern, deren Texte gesellschaftlich als vorbildlich gelten, werden außerdem Autoren konzeptioneller Schriftlichkeit gerechnet. Insofern kann das literarische Deutsch zeitgenössischer Prager Autoren, 68

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Kafka (1999a: 261) betrachtete sich selbst als treuen Leser des Prager Tagblattes, das er lebenslang bezog (Kafka 1958: 374; 1990b: 682; 1999a: 63, 91, 162; 1999b: 92, 199; 2005: 36, 38, 383, 719; Brod/Kafka 1989: 333; Wetscherek 2003: 44). Trotz gelegentlicher Hemmungen, Texte zu beenden, die für das Blatt bestimmt waren (Kafka 1990b: 294, 378), konnte er die Erzählungen Ein Traum und Eine kleine Frau in der Tageszeitung zum Abdruck bringen; vgl. hierzu die Auflistung bei Dietz (1963) sowie in http://www.textkritik.de/kafkazs/kafkadrucke.htm (Zugriff am 31.03.2015). Die Mitarbeiter der Zeitung stammten nicht nur aus Prag, sondern auch aus anderen k. u. k. Stadtzentren: Ferenc Molnár z. B. aus Budapest und Walther Rode aus Czernowitz. Ferner tauschten die Herausgeber Artikel mit befreundeten Redaktionen im Deutschen Reich (u. a. Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung Berlin, Weltbühne Berlin, Frankfurter Zeitung) und Österreich (u. a. Neue Freie Presse Wien). Zum Prager Tagblatt und seinen Autoren s. Brod (1968) und Doležal (2004). Die 1920 von T. G. Masaryk gegründete und von 1921 bis 1939 erscheinende linksbürgerliche Tageszeitung der ČSR sollte als Sprachrohr der offiziellen tschechoslowakischen Außenpolitik einem deutschsprachigen Publikum das Regierungsprogramm vermitteln. Mit Max Brod, Otto Pick und Rudolf Fuchs war Kafka selbst am Feuilleton des Blattes beteiligt und gehörte auch zu seinen regelmäßigen Lesern (Kafka 1958: 381; Brod/Kafka 1989: 344, 348; Wetscherek 2003: 25, 27, 34, 46, 285). Zudem wurden folgende Prosa-Texte Kafkas in der Tageszeitung veröffentlicht: Auf der Galerie, Entlarvung eines Bauernfängers, Der Kübelreiter, Ein Hungerkünstler, Erstes Leid, Zerstreutes Hinausschaun und Josefine, die Sängerin; vgl. die Auflistung bei Dietz (1963) sowie in http://www.textkritik.de/kafkazs/kafkadrucke.htm (Zugriff am 31.03.2015). Zu den Autoren und dem Selbstverständnis der Prager Presse s. Köpplová (1986) und Doležal (2004). Kafka las die von Franz Steiner gegründete und von 1919 bis 1938 von Felix Weltsch herausgegebene zionistische jüdische Wochenschrift seit 1911 und hatte sie seit etwa 1917 abonniert (Kafka 1958: 354, 363, 459; 1990b: 918; 2005: 352, 362, 384; 2013: 71, 118; Brod/Kafka 1989: 181, 317, 339, 358, 363; Wetscherek 2003: 18, 22, 28, 60). Seine besondere Wertschätzung äußerte er, als er feststellte, das Blatt könne „nicht nebenbei, muß so aufopfernd gemacht werden wie Felix es tut“ (Brod/Kafka 1989: 402). In der Selbstwehr erschienen Kafkas Erzählungen Vor dem Gesetz, Eine kaiserliche Botschaft, Ein altes Blatt und Ein Traum; vgl. die Auflistung bei Dietz (1963) sowie in http://www.textkritik.de/kafkazs/kafkadrucke.htm (Zugriff am 31.03.2015). Darüber hinaus wurden einige Texte Kafkas in der Selbstwehr rezensiert (Kilcher 2008: 199). Die Autoren des Periodikums waren größtenteils selbst deutschschreibende Prager jüdischer Herkunft, gehörten also derselben gesellschaftlich-sozialen Gruppe wie Kafka und Brod an. Zur Konzeption, zum Selbstverständnis und zu den Autoren der Selbstwehr s. Binder (1967), Wlaschek (1987), Spector (1991/1992) und Jaeger (2005). Berücksichtigt werden dabei alle Rubriken und Textsorten (Berichte, Kommentare, Anzeigen, Inserate, Werbung, literarische Beilagen) der Blätter.

Methodischer Ansatz

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die in ihrer Biographie und sprachlich-gesellschaftlichen Sozialisierung Parallelen zu Kafka aufwiesen, im Folgenden als modellhaft betrachtet werden. Aus Kafkas engerem Umfeld kommen hier in erster Linie Max Brod (geboren 1884), Egon Erwin Kisch (geboren 1884) und Otto Pick (geboren 1887) in Frage: Wie Kafka (geboren 1883) waren sie jüdischer Herkunft, wurden in den 1880er Jahren in Prag geboren, wuchsen dort auf und hatten dort auch ihren langjährigen Lebensmittelpunkt. Sie bedienten sich als Prosa-Schriftsteller des Deutschen als Literatursprache, waren dabei aber auch des Tschechischen mächtig bzw. entstammten einem zweisprachigen Milieu. Kafka, Brod und Kisch waren ferner ein guter Kontakt zu Berlin und ein zumindest zeitweiliger Aufenthalt in der deutschen Reichshauptstadt gemeinsam. Da Brod und Kisch hinsichtlich des Deutschen ausgesprochene Sprachpuristen waren und sich an der reichsdeutschen Norm orientierten,72 dürfen regional markierte Phänomene, die sich in ihrer wie in Kafkas Prosa finden, als in Prag standardfähig betrachtet werden, so sie nicht ausschließlich in wörtlicher Rede vorliegen. Als zweites Kontrollkorpus aus dem Bereich der Modelltexte fungieren somit im Folgenden die Romane Jüdinnen (Brod 1911) und Der Mädchenhirt (Kisch 51922) sowie die Novellensammlung Die Probe (Pick 1913). Um die Zugehörigkeit einzelner sprachlicher Formen zu einer gesamtösterreichischen Norm überprüfen zu können, werden diese ferner mit dem Prosa-Deutsch einiger schriftstellerisch tätiger Zeitgenossen Kafkas abgeglichen, die aus verschiedenen Regionen der k. u. k. Monarchie stammten: so aus Prag wie z. B. Hugo Salus (1906), aus Mähren wie etwa Oskar Rosenfeld und Ernst Weiß (1913), aus Wien wie u.  a. Arthur Schnitzler (1912) und Felix Salten (1911) sowie aus Budapest wie beispielsweise Arthur Holitscher (81919). Laut Dovalil (2011: 35) ist zwar davon auszugehen, dass das soziale Gewicht der vier normsetzenden Instanzen ungleich ist; dennoch wird ein Regionalismus, der sich mittels der in Kap. 1.8.1.3 bis 1.8.1.5 beschriebenen Methoden in der KKA nachweisen lässt, prinzipiell als Teil einer Standardvarietät betrachtet, wenn er sich in einem der hier beschriebenen vier Kontrollkorpora als normkonform erweist.73 Das Verbreitungsgebiet des betreffenden Regionalstandards wird in jedem Fall gesondert bestimmt.

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S. hierzu Kap. 1.5.2 und 3.1.2.4. Zur etwas stärkeren Gewichtung der Kodizes, welchen aufgrund ihres amtlichen Charakters aus diachroner Perspektive eine höhere soziale Bedeutung als den anderen Norminstanzen beizumessen ist, s. Kap. 1.9.2.2.

52

Einleitung

1.8.1.7  Die Theorie des Sprachmanagements Vor dem Hintergrund des hier abgesteckten sozialen Kräftefeldes der Standardvarietät(en) des Deutschen im frühen 20. Jahrhundert kann im Folgenden Franz Kafkas Sprachmanagement bei der Produktion literarischer Prosa beobachtet werden. Die vor etwa zwei Jahrzehnten entwickelte und hier nach Jernudd (2000; 2001), Neustupný/Nekvapil (2003) und Dovalil (2008; 2010) kurz umrissene Theorie des Sprachmanagements bezieht sich auf die Gesamtheit metalinguistischer Aktivitäten, deren Ziel die Produktion oder Rezeption von Sprache ist. Dabei geht sie von praktischen Sprachproblemen der Sprachbenutzer aus, deren Konsequenzen sich in konkreten Interaktionen auf der Mikroebene äußern und von den sprachlich Interagierenden wahrgenommen werden. Zu Problemen kommt es in der Regel, wenn die Kommunikationserwartungen beteiligter Sprachbenutzer in Interaktionssituationen nicht übereinstimmen. Solche Divergenzen werden typischerweise durch Normabweichungen im weiteren Sinne (deviation from the norm) repräsentiert. Von ihnen gehen die Phasen des Sprachmanagement-Prozesses aus: Der Sprachbenutzer bemerkt die Normabweichung (noting) oder nicht. Im ersten Fall wird diese bewertet (evaluation) oder nicht. Erfolgt eine Bewertung, kann diese positiv oder negativ ausfallen. Im zweiten Fall sind Maßnahmen erforderlich, in der Regel Korrekturen, die das zwischen den Kommunikationspartnern bestehende Problem eliminieren (adjustment design). Das Sprachmanagement wird abgeschlossen, wenn es zur Umsetzung der Problembewältigungsstrategie in die Praxis kommt (implementation). Projiziert man dieses Modell in das soziale Kräftefeld der Standardvarietät(en) des Deutschen,74 das in Kap. 1.8.1.6 für Kafkas Zeit entworfen wurde, so lässt sich an vorgenommenen oder unterlassenen Korrekturen Kafkas ablesen, wie er bestimmte sprachliche Formen bewertete. Wurden wiederholt auftretende phonetische oder morphosyntaktische Erscheinungen in der Mehrzahl der Fälle getilgt oder verbessert, so kann man daraus folgern, dass Kafka sie zwar unwillkürlich niedergeschrieben hatte, dann aber negativ (als ,fehlerhaft‘, substandardlich, regional markiert o. ä.) bewertete, d. h. als nicht konform mit den formalen Zielvorstellungen, die er für seine Literatursprache hatte. Zugleich vermitteln die Eingriffe von Kafkas Verlagslektoren in seine zu Lebzeiten veröffentlichte Prosa (Kafka 1996) einen Eindruck vom Ausmaß ihrer Möglichkeiten, Kafkas Normauffassung langfristig zu beeinflussen: Wo reichsdeutsche (z. T. auch österreichische) Norminstanzen (Normautoritäten/Sprachexperten) durch die negative Sanktionierung einer bestimmten

74

Zur Integration beider Ansätze s. Dovalil (2011).

Methodischer Ansatz

53

sprachlichen Form deren Normwidrigkeit und/oder regionale Markierung signalisierten, lässt sich überprüfen, ob in Kafkas Sprachmanagement zeitgleich eine Veränderung in der Bewertung der gleichen Form eintrat, etwa in Gestalt einer plötzlich einsetzenden Vermeidung oder Beseitigung, die dann als Normimplementierung interpretiert werden kann. 1.8.2  Festlegung einer Hierarchie der Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher ­Interferenzquellen in Fällen formaler Übereinstimmung Insgesamt soll sich im Hauptteil der Untersuchung (Kap. 5) durch die kombinierte Anwendung der in Kap. 1.8.1.3 bis 1.8.1.7 skizzierten methodischen Verfahren jeweils ein Indizienprozess ergeben, auf dessen Grundlage auffällige sprachliche Formen als überregional gebräuchlich oder regional begrenzt kategorisiert und im zweiten Fall als Teil eines Standards oder Substandards einem konkreten Verbreitungsareal zugeordnet werden können. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich zwischen den für Kafkas Deutsch bedeutsamen Sprachsystemen stellenweise ,Überlappungen‘ ergeben, welche die eindeutige Zuordnung eines als Regionalismus interpretierbaren Phänomens aufgrund formaler Übereinstimmung in zwei Sprachsystemen erschweren. Dennoch lässt sich hinsichtlich gewisser Konstellationen eine Art von ,Hierarchie der Plausibilität‘ aufstellen: Da die Grundlage von Franz Kafkas Literatursprache letztlich ein Deutsch bildet, das in einem Umfeld österreichischer Sprachverwendung geschrieben wurde, inmitten eines Territoriums, das im Süden und Westen von oberdeutschen, im Norden von mitteldeutschen Dialektarealen eingerahmt war, dürfen Erscheinungen, die als oberdeutsch (z. T. auch mitteldeutsch) interpretiert werden können, auch als solche interpretiert werden, selbst wenn eine Interferenz aus dem Tschechischen oder Jiddischen den gleichen Regionalismus erwarten ließe. Als exemplarisch hierfür könnte z. B. die ober- und teils mitteldeutsche Entrundung angeführt werden, die sowohl die tschechische Artikulation des Deutschen75 als auch die Phonetik des Jiddischen kennzeichnet (Beranek 1965: 224; Bin-Nun 1973: 256). Eine jiddische Interpretation erschiene in solchen Fällen formaler Übereinstimmung schon deshalb als sekundär, da sich das Westjiddische zu einem erheblichen Teil auf der Grundlage bairischer Dialekte herausgebildet hat und auch ostmitteldeutsche Züge in Lautung und Morphosyntax aufweist (Bin-Nun 1973: 78–79, 83; Birnbaum 21986: 48–56; Eggers

75

Vgl. die phonetische Form entsprechender deutscher Entlehnungen im Tschechischen: krejcar (‚Kreuzer‘), cajk (‚Zeug‘), kvelb (‚Gewölbe‘), bichla (‚Buch‘ von ‚Büchlein‘) (Newerkla 2004: 283, 320, 329, 402).

54

Einleitung

1998: 223–292; Krogh 2001: 7). Nach der hier aufgestellten Hierarchie wird die oberund mitteldeutsche Interpretation demnach im Folgenden als die ,sicherere‘ und auch als zulässig betrachtet (Nekula 2003a: 125). Auf Analogien in den anderen möglichen Kontaktsprachen wird jedoch gegebenenfalls verwiesen. Ein weiteres hierarchisches Verhältnis wird bei Regionalismen angenommen, die zum einen auf jiddische Sprachmerkmale hindeuten und zum anderen nur in den diatopischen Varietäten des niederdeutschen Sprachraums Parallelen haben. Da ein direkter Einfluss der niederdeutschen Mundarten auf das Deutsch in Kafkas Umfeld schon aufgrund dialektgeographischer Gegebenheiten kaum vorstellbar ist, darf in solchen Fällen die jiddische Interpretation als plausibler gelten. Wo wiederum Merkmale nur für das Tschechische und das Jiddische zugleich charakteristisch sind, für Varietäten des Deutschen dagegen nicht, kann keine exakte Hierarchie festgelegt werden und muss im Einzelfall aufgrund anderer Indizien entschieden werden.

1.9  Richtlinien der Kategorisierung von Regionalismus-Typen 1.9.1  Das zugrunde gelegte Varietätenmodell Da die Frage nach regionaler Verbreitung und Standard- bzw. Substandardzugehörigkeit die in Kap. 1.3 formulierten Untersuchungsziele bestimmt, wird im Weiteren ein Varietätenmodell zugrunde gelegt, das den Varietätenraum in Deutschland als „sprachliches Kontinuum“ (Martin 1996; Durrell 1998) beschreibt. Nach Baßler/Spiekermann (2001) unterscheidet man (1) geographisch eng begrenzte ,Dialekte‘ von geringer kommunikativer Reichweite, (2) auf Dialekten basierende ,Regionalsprachen‘, die dialektale Besonderheiten zugunsten standardsprachlicher Annäherung abgebaut haben, weiter (3) großräumigere ,Regionalstandards‘, d. h. standardsprachliche Varietäten mit z. T. großer regionaler Variation meist dialektalen Ursprungs, und schließlich (4) die ,nationalen Standards‘ Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Die Grenzen zwischen diesen Varietäten-Teilräumen werden als fließend aufgefasst. Da für Österreich die gleiche mehrstufige Polyglossie ohne scharfe Übergänge zwischen Ortsmundart und höchstmöglicher

Richtlinien der Kategorisierung von Regionalismus-Typen

55

Abb. 2:  Das sprachliche Kontinuum des Varietätenraums in Deutschland und Österreich um 1910 (modifiziertes Modell nach Baßler/Spiekermann) unter Einbezug der Kategorie ,Kontaktvarietät‘

Stillage gilt (Wiesinger 1988; Scheuringer 1997), kann das Modell (diachron) auch die deutsche Varietätenlandschaft Prags erfassen.76 Mit Rücksicht auf den Untersuchungszeitraum sind allerdings zwei Modifizierungen vorzunehmen: Aufgrund der großen Normschwankungen im deutschen Sprachgebiet um 1910 lässt sich nicht von ,nationalen Standards‘ im heutigen Sinne sprechen. Daher wird der im Ausgangsmodell für diese vorgesehene Raum dem der Regionalstandards zugeschlagen, wodurch sich eine Reduktion von vier auf drei Stufen ergibt: Dialekte (D) – regionale Umgangssprachen (rU) – regionale Standards (rS). Da sich das in Prag gesprochene Deutsch unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit entwickelte, wird das Modell zudem um die von Földes (1996: 12) eingeführte Kategorie dialektaler Kontaktvarietäten (K) des Deutschen erweitert. Auch wenn für Prag keine Sprachinsel im

76

Nicht durch das Modell erfasst wird der Varietätenraum der Deutschschweiz, in der eine ,use oriented‘ Diglossie (Studer 2002) vorherrscht. Diese wird von einem gebrauchsorientierten Nebeneinander von Standarddeutsch (schriftliche Kommunikation) und Mundarten (mündliche Kommunikation) bestimmt.

56

Einleitung

linguistischen Sinne anzunehmen ist,77 lässt sich doch von deutschen „Transferenzdialekten“ (Földes 2005a: 72) (analog ,Transferenzumgangssprachen‘/,‑standards‘) mit Anteilen anderer Kontaktsprachen sprechen – in Prag am wahrscheinlichsten des Tschechischen und des Jiddischen. Für den gesamten Varietätenraum des Deutschen um 1910 berücksichtigt das modifizierte Modell zudem, dass Einzelvarietäten des genannten ,Kontaktdeutsch‘ – abhängig von der Region und dem Anteil der Kontaktsprache am Sprachsystem – durchaus im Bereich der Regionalstandards verortet werden können. Im Rahmen der Untersuchung wird dies mit Blick auf mögliche tschechische Interferenzen im Korpus nicht ausgeschlossen. Deutsche Kontaktvarietäten anderen Typs erreichen nach dem Modell die Standardebene hingegen nicht, z. B. weil die sie prägende(n) Kontaktsprache(n) regional ein niedriges Sozialprestige besaß(en). Dies kann etwa für ethnolektale Relikte des Jiddischen als wahrscheinlich gelten, sollten solche im Korpus nachweisbar sein. 1.9.2  Quantitative Festlegungen 1.9.2.1  ,Charakteristische‘ Relationen zwischen Direktanzeige und Hyperkorrektur Für die Untersuchung gelten dabei folgende quantitative Festlegungen: Da sich eine Interferenz aus dem Substandard in den meisten Fällen sowohl in Form von Direktanzeigen als auch in hyperkorrekten Schreibungen78 im Schriftbild manifestiert, weisen die Reflexe eines Regionalismus häufig in zwei einander entgegengesetzte Richtungen. So können sich im Korpus einerseits e-Ausfälle, andererseits Fälle redundanter e-Setzung, sowohl n-Flexionssuffixe im Dativ als auch m-Flexionssuffixe im Akkusativ und gleichermaßen normwidrige Monophthongierungen wie Diphthongierungen finden. Um die sprachliche Interferenz, die beiden Normverstoß-Typen jeweils zugrunde liegt, eindeutig klassifizieren zu können, erscheint es unerlässlich, eine charakteristische quantitative Relation zwischen ihnen festzulegen, aus der sich die jeweilige Direktanzeige erschließen lässt. Innerhalb der dialektbezogenen Fehlerlinguistik hat es in dieser Hinsicht erst einen Vorschlag gegeben: Naumann (1989: 142) setzte aufgrund der statistischen Daten von Kraemer (1978) zu mundartbedingten Fehler-Kategorien und deren Häufigkeit in Schüleraufsätzen für Hyperkorrekturen etwa 20 Prozent weniger an Gesamtmasse voraus als für korrespondierende Direktanzeigen. Dies entspräche einem Verhältnis von 55,56 Prozent 77 78

S. hierzu Kap. 2.3.3. S. hierzu Kap. 1.6.4.

Richtlinien der Kategorisierung von Regionalismus-Typen

57

(Direktanzeige) zu 44,44 Prozent (Hyperkorrektur). Als ,charakteristisch‘ (d. h. repräsentativ) wird im Folgenden somit ein Verhältnis von mindestens 55 Prozent Direktanzeigen zu höchstens 45 Prozent Hyperkorrekturen im jeweiligen Fehlerkorpus bezeichnet. Anders formuliert: Beträgt die quantitative Differenz der Anteile zweier gegensätzlicher Fehler-Typen am Teilkorpus mehr als zehn Prozent-Punkte, dann kann die häufigere Form als Direktanzeige, die seltenere als Hyperkorrektur betrachtet werden. Relationen außerhalb dieser Werte/Anteile werden als ausgewogen und als Indiz dafür gewertet, dass das zugrunde liegende Sprachsystem gegenüber dem Schriftdeutschen hinsichtlich der betrachteten Kategorie unterdifferenzierend ist und daher zur Verwechslung zweier Formen führt, die in beide Richtungen annähernd gleich häufig erfolgt. An einigen Stellen können im Verlauf der Untersuchung begründete Ausnahmen von dieser Festlegung gemacht werden. Wo z. B. zu Kafkas Zeit besondere orthographische Varianten im Rahmen der Norm möglich waren (z. B. die schriftliche Realisierung von [f ] als ‹f› oder ‹ph› in Fremdwörtern), ist die Verzerrung eines charakteristischen Verhältnisses durchaus vorstellbar. In solchen Fällen müssen andere Indizien gefunden werden, um das einem Regionalismus zugrunde liegende sprachliche Phänomen zu identifizieren. In anderen, seltenen Fällen sprechen in der Sekundärliteratur angeführte fehlerlinguistische Argumente für Ausnahmen von der Regel. Bei der Berechnung quantitativer Relationen wird berücksichtigt, dass (besonders bei Verschreibungen im phonetischen Bereich und hier v. a. im Wortanlaut) neben erstoder kontaktsprachlichen Interferenzen gelegentlich auch andere Fehlerquellen gleich lautende Verschreibungen provoziert haben können. Hierzu gehören u. a. die zeitlichen Serialisierungsfehler Antizipation, bei der eine intendierte Einheit unwillkürlich zu früh niedergeschrieben wird, und Analogiebildung bzw. Perseveration, bei der eine schon niedergeschriebene Einheit unbeabsichtigt ein weiteres Mal verschriftlicht wird. Daneben müssen fallweise auch Ansätze zu lexikalischen Varianten eines geschriebenen Wortes in Betracht gezogen werden. Solche zweideutigen Belegstellen werden nach menschlichem Ermessen berücksichtigt: Sie werden zunächst zusammen mit den eindeutigen Belegstellen angeführt und in die Quantifizierung von Direktanzeige und Hyperkorrektur einbezogen. Im Anschluss wird jedoch in einer Fußnote auf sie verwiesen, um die Quantifizierung nach ihrem Abzug vom Fehler-Teilkorpus erneut vorzunehmen.

58

Einleitung

1.9.2.2  Mindest-Quantitäten für eine Standard- oder Substandard-Zuordnung Um zumindest annähernd objektive Aussagen darüber machen zu können, ob Kafka selbst oder andere Instanzen eine im Korpus verwendete, faktisch regional verbreitete Form als Teil des Standards oder des Substandards betrachteten, gelten im Weiteren folgende Grundsätze: Um eine als Regionalismus identifizierte Form irgendeinem regionalen Standard des Deutschen (Süd-Norm, österreichischer/Prager Standard) zuzuordnen, genügt ein Nachweis in einem zeitgenössischen Normkodex (Wörterbuch, Grammatik). Alternativ sind mindestens zwei Nachweise in den Referenzquellen erforderlich, die andere Norminstanzen der Kafka-Zeit repräsentieren (Verlage, Printmedien, Belletristik etc.). Durch diese Festlegung wird dem gesellschaftlich höheren sozialen Gewicht der Kodizes Rechnung getragen.79 Wurde eine sprachliche Form von Kafka selbst noch im Schreibprozess in über 50 Prozent der Fälle, d. h. mehrheitlich getilgt, ersetzt oder korrigiert, so wird angenommen, dass er sie negativ (als ,fehlerhaft‘, substandardlich, regional markiert o. ä.) und damit als unangemessen für seine Literatursprache bzw. tendenziell als normwidrig beurteilte. Liegen geringere Korrekturanteile vor, wird davon ausgegangen, dass Kafka das Phänomen als standardkonform betrachtete und es aus anderen Gründen teilweise korrigierte, es sei denn, es tritt im Gesamtkorpus (bei Addition von Direktanzeigen und Hyperkorrekturen) weniger als 20-mal auf. In diesem Fall wird auch bei mehrheitlicher Nichtkorrektur angenommen, dass Kafka eine unbeabsichtigte Form schlichtweg übersah. Eine gesonderte Bewertung erfährt eine Erscheinung des regionalen Substandards dann, wenn sie prinzipiell bei unterschiedlichen lexikalischen Einheiten auftritt (z. B. normwidrige Verschlusslaut-Doppelung) und von Kafka zwar mehrheitlich korrigiert, bei einem bestimmten Wort (z. B. Slowacke) aber konsequent belassen wurde. Hier ist von einer Lexikalisierung auszugehen, in deren Kontext Kafka das Wort in der jeweiligen Schreibung als normkonform empfand. Beachtung erfährt ferner die Verteilung der Belegstellen auf erzählte oder wörtliche Rede: Wenn regional markierte Erscheinungen des Substandards ausschließlich in wörtlicher, indirekter oder innerer Rede auftauchen, wird explizit darauf hingewiesen. Als möglicherweise bewusst zur Erzeugung fiktiver Mündlichkeit eingesetzte Formen werden sie sodann von der weiteren Kategorisierung ausgeschlossen. Ansonsten darf

79

S. hierzu Kap. 1.8.1.6.

Richtlinien der Kategorisierung von Regionalismus-Typen

59

stillschweigend vorausgesetzt werden, dass Kafka das jeweils betrachtete Phänomen in allen Erzählperspektiven verwendete und dass dieses somit für das System seiner Primärsprache repräsentativ sein kann. 1.9.3  Bestimmung regionaler Verbreitungsareale Jedem im Verlauf der Untersuchung ausgemachten Regionalismus soll zu seiner Klassifizierung ein konkretes Verbreitungsareal zugeordnet werden. Dieses ist dabei nicht unbedingt deckungsgleich mit dem tatsächlichen maximalen Territorium, auf dem das betreffende Phänomen gebräuchlich ist bzw. war; denn ein Regionalismus kann im Einzelfall, als Ergebnis unabhängiger Entwicklungen, inselartig in mehreren, nicht aneinander grenzenden Gebieten nachweisbar sein. Ziel der Darstellung ist es vielmehr, ein zusammenhängendes Areal zu bestimmen, dessen diatopische Varietäten aufgrund ihrer geographischen Verbreitung die formale Gestalt des in Prag verwendeten Deutsch und damit auch Franz Kafkas Muttersprache geprägt haben können. Tritt eine von Kafka benutzte regionalsprachliche Form im deutschen Sprachraum in mehreren territorial nicht verbundenen Arealen auf, wird daher versucht, das für das Deutsche in Prag mit hoher Wahrscheinlichkeit relevantere zu ermitteln, selbst wenn es u. U. nicht das größere ist. Dieses Areal bestimmt folgend die Einordnung des Regionalismus. Ein Beispiel soll diese Vorgehensweise veranschaulichen: Die Apokope des auslautenden ‑e stellt zum einen ein Kennzeichen des ober- und westmitteldeutschen, zum anderen des nördlichen niederdeutschen Raums dar. Da das nördliche Apokopierungsareal durch eine ostmitteldeutsch-südwestniederdeutsche Landbrücke sowohl von den apokopierenden südlichen Dialektarealen als auch von den böhmischen Ländern getrennt ist, ließen sich seine Varietäten als nicht relevant für e-Apokopen betrachten, sollten diese tatsächlich in Kafkas Prosa-Manuskripten belegbar sein. Der Regionalismus würde folglich als ober- und westmitteldeutsch kategorisiert. Die Klassifizierbarkeit möglicher jiddischer Interferenzen in Kafkas Deutsch als Regionalismen bedarf zusätzlicher Anmerkungen: Denn prinzipiell wurde das Westjiddische vor seinem Aussterben im gesamten deutschen Sprachraum, in den böhmischen Ländern (,Sudetenjiddisch‘), Westungarn und Teilen Oberitaliens verwendet, überall dort, wo sich Juden niedergelassen hatten. Das Verbreitungsareal gesamtjiddischer Sprachstrukturen dehnt sich entsprechend auf Ostmittel- und Osteuropa aus, wo ostjiddisch gesprochen wurde.80 Inwiefern ließen sich also west- oder gesamtjiddische Interferenzen in Kafkas 80

Zu den Verbreitungsarealen des West- und Ostjiddischen s. Beranek (21957: 1999), Katz (1983: 1028), Weissberg (1988: 80) und König (162007: 88).

60

Einleitung

Deutsch als ,sprachliche Varianten mit charakteristisch regional beschränkter Verbreitung‘ betrachten? Man darf davon ausgehen, dass Sprecher des Westjiddischen innerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes den Sprachwechsel zum Deutschen relativ reibungslos vollziehen konnten, während sie in tschechischen Landgemeinden u. U. noch länger Relikte aus der abgelegten Sprache in ihrem Deutsch verwendeten. Als ethnolektale Regionalismen wären diese dann gewissermaßen vornehmlich auf das städtische Deutsch außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums beschränkt. Nach der oben formulierten Richtlinie können sie im Falle Franz Kafkas insofern als Regionalismen betrachtet werden, deren Verbreitungsareal sich mit dem Stadtgebiet Prags deckte. Dennoch wird hier im gegebenen Fall auf die maximale Verbreitung des betrachteten Sprachmerkmals (gesamt‑, west‑, sudetenjiddisch) verwiesen. 1.9.4  Regionalismus-Siglen Um nach erfolgter Auswertung des Untersuchungskorpus generelle Aussagen über das von Kafka mündlich verwendete Deutsch und über die zeitgenössische Norm des Deutschen in Prag machen zu können, wird jeder als regionalsprachlich beurteilten Form eine dreigliedrige Sigle zugeordnet, die den jeweiligen Regionalismus hinsichtlich der folgenden Aspekte klassifiziert: Der erste Bestandteil der Sigle gibt den Grad der regionalen Markierung bzw. der Abweichung von der für die Kafka-Zeit annähernd bestimmbaren Schriftnorm des Deutschen nach Einschätzung Kafkas und seiner Herausgeber an. Er erfasst, inwieweit Kafka die bezeichnete sprachliche Form im Moment der Niederschrift negativ oder positiv bewertete und welche Haltung die Verlage, Lektoren und Editoren, die seine Prosa publizierten, ihr gegenüber allem Anschein nach einnahmen. Die hierzu eingeführten Abkürzungen zeigen folgende Konstellationen an: A: von Kafka zwar unwillkürlich gesetzte, dann aber negativ (als ,fehlerhaft‘, substandardlich, regional markiert o. ä.) bewertete und daher in der Mehrzahl der Fälle korrigierte oder getilgte sprachliche Form; A2>1: von Kafka zunächst als normgerecht betrachtete und daher in der Mehrzahl der Fälle nicht korrigierte, in einem späteren Lebensabschnitt dagegen negativ (als ,fehlerhaft‘, substandardlich, regional markiert o. ä.) bewertete und dann getilgte oder vermiedene sprachliche Form; A2: von Kafka in der Mehrzahl der Fälle nicht negativ bewertete, als normgerecht betrachtete und daher nicht korrigierte oder getilgte sprachliche Form, die jedoch von

Richtlinien der Kategorisierung von Regionalismus-Typen

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Max Brod und/oder anderen Herausgeber-Instanzen negativ (als ,fehlerhaft‘, sub­ standardlich, regional markiert o. ä.) beurteilt und korrigiert bzw. getilgt wurde; 1 B : von Kafka und Max Brod in der Mehrzahl der Fälle nicht negativ sanktionierte, d. h. als standardfähig betrachtete sprachliche Form, die von anderen Herausgeber-Instanzen allerdings negativ (als ,fehlerhaft‘, substandardlich, regional markiert o. ä.) bewertet und korrigiert bzw. getilgt wurde; 2 B : von Kafka, Max Brod und anderen Herausgeber-Instanzen in der Mehrzahl der Fälle nicht negativ sanktionierte, d. h. als standardfähig betrachtete sprachliche Form. Der zweite Sigle-Bestandteil legt fest, wo man die bezeichnete sprachliche Form zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift (aus Sicht einer überregionalen Norm) tatsächlich im Varietätenspektrum des Deutschen einordnen kann, und trifft Aussagen über ihre faktische Standard- oder Substandardzugehörigkeit. Ausschlaggebend hierfür ist das Urteil der Fehlerlinguistik und der zeitgenössischen relevanten Gruppen im sozialen Kräftefeld der Standardvarietät(en) des Deutschen.81 Hier stehen drei Abkürzungen für Merkmale von Varietäten des Deutschen auf dem Dialekt/Standard-Kontinuum: dialektale bzw. dialektgerichtete sprachliche Form; Phänomen deutscher Mundarten; Teil des Substandards; rU(d): Phänomen einer regionalen Umgangssprache mit sekundären Dialektmerkmalen; standardnah; als Grenzfall aber kein Teil des Standards; rS(d): Phänomen eines regionalen Standards; regional schriftfähige sprachliche Form.

D:

Zwei Abkürzungen markieren Kennzeichen einer Varietät des Deutschen, die von einer Minderheitengruppe in einer Sprachen-Kontakt-Situation als Erstsprache verwendet wird: rU(kT): durch Sprachen-Kontakt bedingtes Phänomen einer regionalen Umgangssprache; Ergebnis des stabilen Transfers einer sprachlichen Struktur aus dem Tschechischen; standardnah; als Grenzfall aber kein Teil des Standards; rS(kT): durch Sprachen-Kontakt bedingtes Phänomen eines regionalen Standards; Ergebnis des stabilen Transfers einer sprachlichen Struktur aus dem Tschechischen; regional schriftfähige sprachliche Form.

81

Zu diesen s. Kap. 1.8.1.6.

62

Einleitung

Eine weitere Abkürzung bezeichnet Merkmale einer Varietät des Deutschen, die von einer ethnischen Gruppe gesprochen wird, die ursprünglich eine andere Sprache/Varietät verwendete: E: ethnolektal; gruppenspezifisches sprachliches Relikt des Jiddischen im Deutschen als Erstsprache; Teil des Substandards. Die dritte Position der Sigle gibt das Verbreitungsareal der betrachteten sprachlichen Form an. Hier gelten folgende Bezeichnungen: O: oberdeutsch [bei zusätzlicher Erfassung südlicher mitteldeutscher Randgebiete: O+] [bei Nichterfassung maximal einer der vier oberdeutschen Dialektareale:82 O–] onO: ostober- und nordoberdeutsch (bairisch und ostfränkisch) [bei zusätzlicher Erfassung westober- oder ostmitteldeutscher Randgebiete: onO+] [bei Nichterfassung ostober- oder nordoberdeutscher Randgebiete: onO–] wO: westoberdeutsch (schwäbisch und alemannisch) M: mitteldeutsch [bei Nichterfassung von maximal zwei der sieben mitteldeutschen Dialektareale:83 M–] wM: westmitteldeutsch (hessisch, rheinpfälzisch, moselfränkisch und ripuarisch) [bei zusätzlicher Erfassung niederdeutscher Randgebiete: wM+] [bei Nichterfassung maximal einer der vier westmitteldeutschen Dialektareale: wM–] oM: ostmitteldeutsch (thüringisch, obersächsisch und schlesisch) [bei zusätzlicher Erfassung niederdeutscher Randgebiete: oM+] B: bairisch [bei Nichterfassung der südbairischen Dialektareale: B–] mB: mittelbairisch

82 83

Diese sind die Areale der bairischen (ostoberdeutschen), ostfränkischen (nordoberdeutschen), schwäbischen und alemannischen (westoberdeutschen) Dialekte. Diese sind die Areale der hessischen, rheinpfälzischen, moselfränkischen und ripuarischen (westmitteldeutschen) sowie der thüringischen, obersächsischen und schlesischen (ostmitteldeutschen) Dialekte.

Richtlinien der Kategorisierung von Regionalismus-Typen

63

omB: ostmittelbairisch (bairische Dialektareale in Ober- und Niederösterreich) W: verbreitet in Wien [bei zusätzlicher Verbreitung in Niederösterreich: W+] Ö: österreichisch (d. h. im Deutsch der gesamten k. u. k. Monarchie verbreitet) CH: verbreitet auf dem Gebiet der Deutschschweiz soD: verbreitet in Südost-Deutschland (Bayern) BL: verbreitet in den böhmischen Ländern (Böhmen, Mähren und Schlesien) P: verbreitet in Prag J: gesamtjiddisch [bei Nichterfassung des Südwestens des westjiddischen Sprachareals:84 J–] wJ: westjiddisch sJ: ,sudetenjiddisch‘ [bei zusätzlicher Erfassung angrenzender Areale: sJ+]. Die Einteilung in Phonetik und Morphosyntax wird nicht eigens bezeichnet, sondern ergibt sich aus der Gliederung von Kap. 5. Ist eine sprachliche Form einem regionalen Standard zuzurechnen, über dessen Geltungsgebiet hinaus aber auch auf Substandardebene verbreitet, so können sich im Einzelfall ,Formeln‘ ergeben. Das kleinere Verbreitungsareal wird dabei vom jeweils größeren, in welches es eingebettet ist, ,subtrahiert‘. So bezeichnet der Sigle-Bestandteil rU(d)[Ö]-rS(d)[P] z. B. einen Regionalismus, der in Prag dem regionalen Standard, im sonstigen Österreich der regionalen Umgangssprache angehörte. Einige Beispiele für Siglen sollen im Folgenden mögliche Lesarten veranschaulichen: A/D[onO]: Kafka korrigierte hier mehrheitlich eine von ihm selbst negativ (als ,fehlerhaft‘, substandardlich, regional markiert o. ä.) bewertete sprachliche Form, die im nord- und ostoberdeutschen (d.  h. bairisch-ostfränkischen) Raum auf der Ebene des Dialekts verbreitet war. 2 A /rS(kT)[P]+rU(kT)[W]: Im Unterschied zu seinen Herausgebern sah Kafka hier eine normgerechte sprachliche Form vorliegen. Diese gehörte, mittels Sprachen-Kontakt aus dem Tschechischen eingeführt, in Prag dem regionalen Standard und zugleich in Wien der regionalen Umgangssprache an.

84

Dieser deckt sich in etwa mit dem ober- und westmitteldeutschen Sprachraum.

64

Einleitung

B2/rS(d)[Ö]: Kafka und seine Herausgeber gingen hier von einer normgerechten sprachlichen Form aus. Diese war auf den österreichischen Standard des Deutschen beschränkt.

1.10  Zitierweise Zur wörtlichen Wiedergabe von Textstellen aus Kafkas Schriften werden im Folgenden zwei unterschiedliche Zitierweisen verwendet: Zitate, in erster Linie aus Kafkas nicht literarischen Werken, die wegen ihrer metasprachlichen Aussagen angeführt werden (v. a. in Kap. 3 und 4), erfolgen wie Zitate aus der Sekundärliteratur in doppelten Anführungszeichen, gefolgt von einer Kurznennung der Quelle in runden Klammern, z. B.: „In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden“ (Kafka 1990b: 341). Wird zu dem gleichen Zweck auch aus den literarischen Werken zitiert, unterscheiden römische Ziffern zwischen Text- (I) und Apparatband (II), z. B.: „[…] sogar des Italieners Französisch schien nur unverständlicher Gesang“ (Kafka 1990aII: 300).85 Längere Zitate werden nach wissenschaftlicher Gepflogenheit ohne Anführungszeichen, jedoch vom vorhergehenden und folgenden Text abgesetzt und in kleinerem Schriftgrad wiedergegeben. Zitate aus Kafkas Briefen und Tagebüchern folgen (soweit bereits herausgegeben) der Kritischen Kafka-Ausgabe. Textpassagen, die sich etwa durch normwidrige Zeichensetzung (fehlende Kommata) oder elliptische Syntax auszeichnen, entsprechen dem Autograph und werden kommentarlos beibehalten. Wo es um die Gestalt des in Kafkas literarischen Schriften niedergelegten Deutsch geht (Kap. 5), wo also Wortmaterial zur Überprüfung auf bestimmte phonetische oder morphosyntaktische Phänomene aufgelistet wird, kommt aus ökonomischen Gründen dagegen ein anderes Wiedergabeverfahren zur Anwendung: Zitate aus der Textedition erfolgen hier kursiv ohne Anführungszeichen. In runden Klammern verweist eine Abkürzung, gefolgt von Seiten- und Zeilenangabe, auf den jeweiligen Band der KKA, z. B.: Die meisten Balkone waren finster (V.320/11–12). Die Abkürzungen der Doppelbände lauten: P: S: V: 85

Der Proceß (Kafka 1990a) Das Schloß (Kafka 21983a) Der Verschollene (Kafka 2002) Nur im Falle der Drucke zu Lebzeiten wird mittels Jahreszahl zwischen Textband (1994) und Apparatband (1996) unterschieden.

Zitierweise

65

N1: Nachgelassene Schriften und Fragmente I (Kafka 1993a) N2: Nachgelassene Schriften und Fragmente II (Kafka 1992) D: Drucke zu Lebzeiten (Kafka 1994/1996)86 Handelt es sich um Zitate aus den jeweiligen Apparatbänden, so markiert ein ,e‘ vor der Seiten- und Zeilenangabe (z. B. Ve.69/14) einen editorischen Eingriff der Herausgeber. Ein ,v‘ an gleicher Stelle (z. B. Pv.147/1) kennzeichnet Varianten Kafkas. Der Einrichtung der KKA entsprechend werden Kafkas Autokorrekturen und Textveränderungen durch folgende Zeichen nachvollziehbar gemacht (z. B. Pasley 1990c: 10): [gla]: gla im Manuskript gestrichen; z. B.: [gla] geglaubt (Sv./0) {l}: l im Manuskript eingefügt; z. B.: Mah{l}zeit (Dv.135/8) (e>ö): der Buchstabe e durch Überschreibung in ö verwandelt; z. B.: (e>ö)fters (Pv.275/3) PA: Ansatz zum Buchstaben P; z. B.: (PA>B)urgplatz (N2v.610/12) x: unlesbares Zeichen von etwa Buchstabenlänge; z. B.: W(xld>elt) (N2v.473/22) [d]: der Buchstabe d nicht mit Sicherheit entzifferbar; z.  B.: ver([d]>t)rauen (N2v.598/1) Zeilenende im Manuskript; z. B. überein-|{ge}kommen (Vv.23/23–24) |: ||: Seitenende im Manuskript; z.  B. wenn ich wählen könnte || müßte ich (N2e.29/12–13) Auslassungen innerhalb des Zitats werden wie üblich durch drei Punkte in eckigen Klammern gekennzeichnet, z. B. inmitten dieses […] Bedientwerden{s} (Sv.74/19). Zur besseren Lesbarkeit werden fallweise ,fehlende‘ und durch die Editoren der KKA ergänzte Textbestandteile an entsprechender Stelle recte in nach außen gekehrten Winkelklammern (› ‹) gesetzt, z. B. sich niemals überraschen ›zu‹ lassen (Pe.222/14–15). Ist ein und dieselbe Belegstelle in der KKA zweifach abgedruckt (z. B. sowohl im Heizer im Band Drucke zu Lebzeiten als auch im Band des Verschollenen), so wird durch ein Gleichheitszeichen auf diese Übereinstimmung hingewiesen (z. B. N2.626/21=D.324/5) und der Beleg einfach gezählt. Zitate aus den Kontrollkorpora (Tageszeitungen, Belletristik, Wörterbücher etc.) werden, wo sie nicht metasprachlich sind, ebenfalls kursiv ohne Anführungszeichen wiedergegeben.

86

Ein Kontrollblick in Kafkas Tagebücher (Kafka 1990b, abgekürzt als T), d. h. in eine informelle Textsorte, soll fallweise die Frage klären, wie umfassend eine in Kafkas Prosa nachgewiesene Norm­ implementierung nicht nur seine literarische, sondern auch seine private Sprachverwendung prägen konnte.

2  Der sprachsoziologische Kontext 2.1  Allgemeine Phänomene des Deutschen als Stadtsprache in der k. u. k. Monarchie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert In der 1901 in Czernowitz (Černivci) erschienenen Schrift Bukowiner Deutsch bezeichnete Theodor Gartner (1901: VII–VIII) Wien als „Wiege der meisten Austriacismen“ und unerschöpfliche Quelle von „Fehlern“, welche die Bukowina mit den „unter czechischem Einflus [!] stehenden Länder [!] der Monarchie“ teile. Diesem frühen, aus der habsburgischen Provinz stammenden Hinweis auf die Wahrnehmung einer intensiven Ausstrahlungskraft des in Wien gesprochenen Deutsch folgte im Todesjahr Kafkas eine dialektologische Darstellung des Wienerischen, die der Sprache der Reichshauptstadt und ihren regionalen mündlichen Varietäten den gleichen Einfluss auch auf das Deutsch anderer urbaner Zentren der Monarchie nachsagte (Mayr 21930: 10–11). Diese nicht weiter belegte Feststellung erwies sich im Laufe der Zeit als nicht überzogen, denn die historische Stadtsprachenforschung konnte seit den 1970er Jahren ein ausgesprochen einheitliches Bild zum Deutschen in den städtischen Haupt- und Nebenzentren Österreich-Ungarns zeichnen: So lassen sich für das ,Pesthdeutsche‘ und das ,Ofner Deutsch‘ des 19. Jahrhunderts Merkmale der donaubairischen ua-Mundarten sowie speziell der niederösterreichischen mittelbairischen Mundarten aus der Umgebung Wiens belegen (Soós 1999: 313–315; Glauninger 2005: 402). Auch in Pécs (Fünfkirchen) scheint eine wienerisch gefärbte ua- bzw. aa-Stadtmundart verbreitet gewesen zu sein, die sich unter der ständigen Überdachung der Wiener Verkehrssprache herausgebildet hatte (Schuth 1986: 153; Hutterer 1991: 269, 327; Gerner 2002: 182, 188), obwohl in der Umgebung der Stadt andere mittel- und oberdeutsche (hessische und ostfränkische) Dialekte gesprochen wurden (Wild 2002: 315). Für Agram (Zagreb) rekonstruiert Žepič (1995: 360–363) ein durch österreichische Merkmale geprägtes städtisches Umgangsdeutsch. Die in Essek (Osijek) gesprochenen LowVarietäten des Deutschen wiederum hatten eine ostfränkische, süd- und mittelbairische dialektal-,genetische‘ Basis, auf die zusätzlich der Wiener Sprachgebrauch ,von oben‘ in Form der städtischen Umgangssprache und ,von unten‘ in Form des wienerischen Jargons verschiedener Randgruppen eingewirkt haben dürfte (Petrović 1994: 21–22; 2008: 13; Glauninger 2004: 271–272).

Allgemeine Phänomene des Deutschen als k. u. k. Stadtsprache

67

Selbst in den weit von Wien entfernten Provinzstädten Czernowitz und Temeswar (Timişoara) wies das städtische Deutsch um 1900 wienerische bzw. südbairische Merkmale in Lautung, Morphologie und Lexik auf und unterschied sich deutlich von den schwäbischen und rheinfränkischen Mundarten des Umlandes (Hollinger 1958; Schuth 1986: 153; Gadeanu 1998: 74–78, 112–117). Für Czernowitz schließt Rein (2002: 283) aufgrund des von Gartner (1901) vorgelegten Sprachmaterials auf das „in der ganzen Monarchie imitierte Wienerische mit seinen auf dem mittelbairischen Dialekt beruhenden Merkmalen.“ Die Temeswarer Umgangssprache besaß ebenfalls stark altwienerische Züge. Daneben gab es in der Stadt eine vorwiegend von Handwerkern, Händlern, Tagelöhnern und Arbeitern gesprochene mittelbairisch-österreichische Mundart (Gehl 1997: 35; 2002: 157; 2005: 415, 424–428; Gadeanu 1998: 179). Bairisch-österreichisch geprägte Umgangssprachen sind schließlich auch für die mittelgroßen Banater Provinzstädte Reschitz (Reşiţa) (Fisch 1973), Orawitza (Orawiţa) (Koncz 1979) und Lugosch (Lugoj) (Kottre 1979) nachweisbar. Hans Gehl (2005: 436–437) resümiert die gemeinsamen Tendenzen der Herausbildung mittelbairisch-österreichischer Umgangssprachen in den südosteuropäischen Provinzstädten der k. u. k. Monarchie wie folgt: Siedlungs- und kulturhistorische Bedingungen hätten die bairisch-österreichisch sprechenden Kolonisten in stetem Kontakt mit der österreichischen Verwaltungssprache und der von Wien maßgeblich geprägten städtischen Umgangssprache gehalten. Das ursprüngliche Wienerische sei dabei relativ schnell zugunsten sich herausbildender mittelbairisch-österreichischer Folgevarietäten (oft auch suburbaner Slangs) verschwunden. Ferner sei es zu zahlreichen lexikalischen und phraseologischen Entlehnungen aus den jeweiligen Kontaktsprachen gekommen. Noch weiter geht Glauninger (2008: 121), der eine Prognose bezüglich der übereinstimmenden Faktoren einer hypothetischen weiteren Entwicklung der städtischen low varieties des Deutschen wagt, die im 19. Jahrhundert in den urbanen Zentren des ostmittel- und südosteuropäischen Herrschaftsbereiches der Habsburgermonarchie verbreitet waren: Trotz aller feststellbaren Unterschiede, was die jeweilige dialektale Basis, v. a. aber natürlich auch die spezifischen Kontaktsituationen hinsichtlich nichtdeutscher Sprachvarietäten anbelangt, zeichnet sich dabei durchaus eine dem Wiener Einfluss bzw. Druck geschuldete Konvergenz ab. Wagt man sich vor auf das brüchige Terrain linguistischer Prognostik, ist man geneigt anzunehmen, dass diese vereinheitlichende Strömung – bei außersprachlich-historisch ungebremstem Verlauf – in der Tat zur Herausbildung einer Art von ,k. k.‘-Nonstandard-Koiné/,k. k.‘-Slang führen hätte können, gesprochen von Czernowitz (Černivci) über Agram (Zagreb) und Budapest bis nach Pressburg (Bratislava). Dieser in seiner Grundsubstanz deutsche Jargon wäre wohl konstant ,angereichert‘

68

Der sprachsoziologische Kontext

gewesen mit serbischem/kroatischem, ungarischem, jiddischem, slowakischen [!] und anderem sprachlichen [!] ,Mehrwert‘. Und er hätte auf einzelnen systemlinguistisch-strukturellen und typologischen Ebenen unterschiedlich stark zur Hybridisierung tendiert – aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch ohne durchschlagende Wirkung, d. h. ohne Entstehung einer tatsächlich vollwertigen Hybridvarietät. Denn in jedem Fall wäre das Divergenzpotential dieser ,bunten Mischung‘ an Varietäten schlussendlich zumindest neutralisiert worden unter dem schillernden ,Dach‘ des Wiener Sprachgebrauchs in seiner Funktion als prestigeträchtige Zielnorm.

Angesichts dieser unübersehbaren Etablierung bairisch-österreichischer Varietäten als städtische Umgangssprachen selbst in peripheren Gebieten Österreich-Ungarns liegt es nahe anzunehmen, dass sich die in unmittelbarer Nachbarschaft zum geschlossenen bairischen Dialektareal gelegenen Städte innerhalb des tschechischen und slowakischen Sprachgebietes dem Einfluss des Wienerischen noch weniger entziehen konnten und dass vor Ort ein entsprechend eingefärbtes Idiom Verwendung gefunden haben muss. Bestätigen lässt sich diese Annahme u. a. für Budweis (České Budějovice) (Trost 1979: 246), Brünn (Brno) (Beranek 1936: 277–278; Muzikant 2003: 97) und Pressburg (Bratislava/ Poszony) (Schewitz 1932: 79; Beranek 1941: 68–70, 74; Piirainen 2006: 70–71). Dass diese sprachliche Entwicklung an Prag, der drittgrößten Stadt der Monarchie und dem Sitz der k. k. Statthalterei, vorübergegangen sein sollte, muss angesichts der bisherigen Darstellung als unwahrscheinlich gelten. Die jahrhundertelange Koexistenz von Deutschen und Tschechen in Prag inmitten des geschlossenen tschechischen Siedlungsraums lässt zudem im Deutsch der Prager Spuren eines Sprachen-Kontaktes vermuten. Ein analoges Einwirken der regionalen Nachbaroder Mehrheitssprachen auf die in sie eingebetteten städtischen deutschen Sprachgemeinschaften (v. a. in den Bereichen Lexik und Phraseologie) konnte bisher auch für viele der anderen Stadtzentren der Habsburgermonarchie nachgewiesen werden: bezüglich des Tschechischen für Budweis (Trost 1979: 246), des Ukrainischen, Polnischen, Rumänischen und Jiddischen für Czernowitz (Rein 2002: 283–284; Nagy 2010), des Kroatischen, Serbischen und Ungarischen für Essek (Žepič 1995: 369; Petrović 1995; 2008: 13; Glauninger 2004: 273; 2008: 208), des Ungarischen und Kroatischen für Fünfkirchen (Gerner 2002: 186, 188; Wild 2002: 314; Schuth 1986: 166) sowie des Rumänischen und Ungarischen für Temeswar (Gehl 2002: 164). Die Gemeinsamkeiten der k. u. k. städtischen deutschen Umgangssprachen lassen sich demnach wie folgt resümieren: (1) Als Substrat lag ihnen ein zumindest oberdeutsches, meist bairisch-österreichisches, z. T. dezidiert wienerisches Idiom zugrunde. (2) Dieses setzte sich auch dann durch, wenn im Umland der jeweiligen Stadt andere (u. a. mitteldeutsche)

Die sprachsoziologischen Verhältnisse in Prag um 1900

69

Mundarten gesprochen wurden.1 (3) Dieses städtische Deutsch wies ferner Interferenzen aus anderen Kontaktsprachen auf, v. a. in Lexik und Phraseologie. Dass zumindest die Punkte (1) und (3) auch für das Deutsche in Prag zur Kafka-Zeit galten, liegt somit nahe.

2.2  Die sprachsoziologischen Verhältnisse in Prag um 1900 Sinnvoll erscheint an dieser Stelle eine Skizze der sprachsoziologischen Verhältnisse in Prag um 1900, die Grundlage für weitere Aussagen über die Einflussmöglichkeit der im Stadtgebiet präsenten Sprachen auf Franz Kafkas Primärsprache sein kann. Die Vorgeschichte stellt sich wie folgt dar: Das im Zuge der Hussitenkriege (1419–1436) rein tschechischsprachig gewordene Prag wurde nach dem Fall der böhmischen Königskrone an das Haus Habsburg (1526) erneut Ziel eines deutschen Immigrationsstromes. Dieser kam seit dem frühen 17. Jahrhundert verstärkt aus dem katholischen Süden des deutschen Sprachraums, zumal die Habsburger die böhmischen Länder im Zuge der Gegenreformation gegenüber protestantischen Nachbarstaaten (z. B. Sachsen) abschotteten (Fischer 1962: 87–88). Das Deutsche gewann nicht nur als Sprache der Verwaltung, des Handels und der Armee, sondern auch der Wissenschaft, Schule und Bildung an Einfluss. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verlangte der soziale Aufstieg tschechischen Bewohnern ebenfalls die Kenntnis des Deutschen ab. Buchdrucke des 17. und 18. Jahrhunderts machen dabei die oberdeutsche Prägung des damals in Prag verwendeten Deutsch deutlich (Povejšil 1980). Am Beginn des 19. Jahrhunderts setzte ein Prozess ein, an dessen Ende Prag eine überwiegend tschechischsprachige Stadt war: Durch einen hauptsächlich tschechischen Zuzug während der Phase der Industrialisierung, eine beträchtliche Abwanderung von der deutschen zur tschechischen Sprachgemeinschaft und eine höhere natürliche Wachstumsrate der tschechischen Bevölkerung wurde die Minderheitensituation der Deutschen in Prag immer eklatanter (Skála 1967: 122; Heintz 1983: 16; Cohen 1996: 57). Der Wechsel der Mehrheitsverhältnisse um die Jahrhundertmitte fand politischen Ausdruck

1

Dies lässt sich u. U. auf soziale und herkunftsmäßig begründete Kategorien zurückführen, wie sie auch für die Entwicklung des Deutschen in Prag bedeutsam gewesen sein könnten. Die städtische Varietätenlandschaft des Banats etwa lässt sich dadurch erklären, dass die deutschen Stadtbewohner im 18. Jahrhundert v. a. aus österreichischen Ländern und Bayern einwanderten: Verwaltungsbeamte, Angehörige des Militärs, Handwerker und Intellektuelle. Durch sie hätten die südosteuropäischen Stadtsprachen ihre Ausgestaltung erfahren, die sich über die dialektale Differenzierung einzelner Stadtteile hinweggesetzt habe (Gehl 1997: 13).

70

Der sprachsoziologische Kontext

Abb. 3:  Prager Innenstadt-Pfarreien mit dem höchsten Anteil an deutschen Anwohnern im Jahre 1900

in der erstmaligen Übernahme der Stadtverwaltung durch einen tschechischen Stadtrat im Jahre 1861 (Skála 1983: 255). Drei Jahre vor Kafkas Geburt (1880) verzeichnete die Volkszählungsstatistik noch 38.591 Deutsche, die 15,3 Prozent der Stadtbevölkerung Prags (Bezirke I–VIII und vier Vorstädte) ausmachten. In der Folge sank dieser Anteil auf 12,2 Prozent (1890), 7,7 Prozent (1900) und 7,0 Prozent (1910) (Cohen 1981: 92–93). Die erste Volkszählung in der Tschechoslowakischen Republik (1921) ergab schließlich noch 30.429 Einwohner deutscher Nationalität (4,6 Prozent), welchen 624.744 (94,2 Prozent) Einwohner tschechoslowakischer und 5959 (1,2 Prozent) jüdischer Nationalität in einem inzwischen vergrößerten Stadtgebiet gegenüberstanden (SLRČ 1924: 60; Cohen 1996: 57; Binder 1996: 189–190). Die höchste Dichte an Deutschen wiesen dabei die Pfarreien der unteren Neustadt und der angrenzenden Altstadt im Bereich des Altstädter Rings (Staroměstské náměstí), des Grabens (Na příkopě) und des Wenzelsplatzes (Václavské

Die sprachsoziologischen Verhältnisse in Prag um 1900

71

náměstí) auf, wo z. T. noch Anteile von bis zu 29,7 Prozent (Pfarrei St. Heinrich) erreicht wurden (Cohen 1981: 107; 1996: 61–62). In der unmittelbaren Umgebung befanden sich die verschiedenen Wohnhäuser, welche die Familie Kafka im Laufe der Jahre nacheinander bewohnte. Für das sprachliche Milieu, in dem Franz Kafka aufwuchs, scheinen v. a. die ersten zuverlässigen demographischen Angaben zu den jüdischen Bewohnern Prags aussagekräftig: Laut Volkszählung lebten 1869 in den inneren Stadtbezirken (Prag I–VII) 14.918 Juden (7,3 Prozent der Bevölkerung); 1880 waren es bereits 19.609 (7,7 Prozent) (Cohen 1981: 78). Die jüdische Gemeinde Prags war demnach in dem Jahrzehnt vor dem Zuzug Hermann Kafkas (1880) um 4691 Mitglieder bzw. 31,4 Prozent gewachsen. Die neuen Gemeindemitglieder dürften dabei zum großen Teil aus tschechischen Landgemeinden eingewandert sein.2 Sie stammten mithin aus einem mehrsprachigen Milieu, in dem Deutsch, Tschechisch und eventuell auch noch Jiddisch bestimmte Funktionen gehabt hatten, wie Nekula (2003a: 46) dies z. B. für Hermann Kafkas Herkunftsort Ossek/Wossek (Osek) vermutet. Somit ist wahrscheinlich, dass viele jüdische Prager der Generation Hermann Kafkas einen vergleichbaren sprachlichen Hintergrund besaßen, der im Rahmen der familiären Kommunikation auf die Sprachverwendung ihrer Kinder, Kafkas Generation, einwirken konnte. Gerade an der Bevölkerungsstatistik der meist bilingualen jüdischen Prager lässt sich darüber hinaus am deutlichsten ablesen, dass der Schwund der deutschen Gemeinde Prags weniger der Abwanderung als vielmehr einem Wechsel des nationalen Bekenntnisses zugeschrieben werden kann, den v. a. Angehörige der Mittel- und Arbeiterschicht, seltener solche der Oberschicht vollzogen: Noch 1890 gaben 12.588 der 17.046 jüdischen Bewohner von Prag I–VII, also fast drei Viertel (73,8 Prozent), Deutsch als ihre Umgangssprache an. Damit machten sie in den inneren Stadtbezirken fast die Hälfte (46 Prozent) und im gesamten Stadtgebiet 39 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung aus. Im Jahre 1900 bekannten sich jedoch nur noch 8230 (45,4 Prozent) von 18.110 städtischen Juden zur deutschen Umgangssprache. Diese stellten allerdings immer noch den gleichen Anteil an den Deutsch-Pragern wie zehn Jahre zuvor (Cohen 1981: 100–107; 1996: 57–58; Stöhr 2010: 119–121). Dass dieser Wechsel der Loyalität, zumindest zunächst,

2

Nach der Aufhebung restriktiver Niederlassungsgesetze (1848) setzte ein regelrechter jüdischer Exodus ein, der aus den Gemeinden des tschechischen Siedlungsgebietes (Ost‑/Südost-Böhmen) in vorwiegend deutschsprachige Gebiete (Nord‑/Nordwest-Böhmen) führte, so er nicht direkt Prag zum Ziel hatte (Kestenberg-Gladstein 1969).

72

Der sprachsoziologische Kontext

nur als Lippenbekenntnis in Rücksichtnahme auf die nationalen Mehrheitsverhältnisse erfolgt sein könnte,3 lässt sich z. T. daraus schließen, dass immer noch 91 Prozent aller jüdischen Kinder Prags deutschsprachige Volksschulen besuchten (Cohen 2000: 171).4 Umgekehrt hatten etwa 80 bis 90 Prozent der deutschsprachigen Grundschüler das Unterrichtsfach Tschechisch, wobei sich viele die Sprache allerdings nur unzulänglich aneigneten (Cohen 1996: 65). 1890

1900

tschechischspr. Juden

deutschspr. Juden

tschechischspr. Juden

deutschspr. Juden

I Altstadt in %

1622

4902 75,1

3781

2146 36,2

II Neustadt in %

1472

5008 77,3

4135

5239 55,9

III Kleinseite in %

47

61 56,5

146

41 21,9

IV Hradčany in %

23

6 20,7

12

4 25

1118

2549 69,5

1427

634 30,8

VI Vyšehrad in %

12

0

13

6 31,6

VII Holešovice in %

164

62 27,4

366

160 30,4

Prag I–VII in %

4458

12.588 73,8

9880

8230 45,4

Prager Stadtteil

V Josefov in %

46 % aller Deutsch-Prager

46 % aller Deutsch-Prager

Tab. 1:  Alltagssprache jüdischer Bürger in Prag I–VII (1890–1900)

3

4

Die Statistik dokumentiert weniger einen Wechsel nationaler Identifikation als vielmehr veränderte gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtverhältnisse. Diese nötigten die jüdische Bevölkerung Prags zu taktischem Agieren in einem nationalen Spannungsfeld, in dem die Sprachwahl immer stärker zu einem öffentlichen Bekenntnis geriet und sprachliche Ambivalenz zum Vorwand genommen werden konnte, bilinguale Prager von einer monolingual konzipierten Nation auszuschließen (Stöhr 2010: 51, 119). Zu den Anteilen der Schüler mosaischen Glaubensbekenntnisses an ausgewählten Prager Volks‑, Bürger- und Mittelschulen s. Stöhr (2010: 276–279, 306–309).

Das ,Prager Deutsch‘ in seiner Spätphase

73

Trotz der skizzierten demographischen Entwicklung darf die gesellschaftlich-kulturelle wie sprachliche Präsenz der sich deutsch deklarierenden Prager in Kafkas Kindheitsjahren als insgesamt stabil bezeichnet werden. Durch ein eigenes Theater sowie ein funktionierendes Schul‑, Vereins- und Pressewesen hatten sie lange weiterhin einen wahrnehmbaren Anteil am städtischen Leben (Schlesinger 1886: 23). Die Institutionen eines organisierten Gesellschaftslebens teilten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings zunehmend in eine deutsche und eine tschechische Sphäre. Vereine, Schulen und Theater dienten im Bewusstsein der zahlenmäßig zurückgedrängten Deutsch-Prager immer stärker zur Bewahrung und Artikulation von Gruppeninteressen und Identität. Der jüdische Anteil an den wichtigsten Gemeindeorganisationen entsprach dabei demjenigen an der deutschsprachigen Bevölkerung insgesamt. Während das Berufsleben, v. a. in unteren Sektoren, tschechisch-deutsche Kontakte zuließ, diente das Vereinsleben der politisch-gesellschaftlichen Solidaritätsbekundung gegenüber der jeweiligen Nationalgemeinschaft, mithin der Distanzierung von der jeweils anderen Seite. Der weitgehende Ausschluss Angehöriger der deutschen Unterschicht vom deutsch-liberalen Verbandsleben verstärkte allerdings deren Motivation, sich an die Prager Tschechen anzupassen (Cohen 1981: 175–192, 229–232, 260–262, 268–270; 1996: 65–66). Soziale und wirtschaftliche Faktoren der Gruppenidentität trugen dabei wesentlich zur Abgrenzung von der tschechischen Bevölkerung bei: Die Statistik des Jahres 1910 etwa zeigt, dass ca. 70 Prozent der berufstätigen deutschsprachigen, dagegen nur ca. 40 Prozent der tschechischsprachigen Bürger Prags entweder selbstständig oder qualifizierte Angestellte waren. Umgekehrt waren fast 50 Prozent der tschechischsprachigen, dagegen nur ca. 22 Prozent der deutschsprachigen Stadtbewohner Arbeiter oder Tagelöhner. Bis zu zwei Drittel der Deutsch-Prager, darunter die Kafkas, sind somit dem Besitz- und Bildungsbürgertum zuzurechnen. Dabei dürfte sich die ethnische Trennung der Tätigkeitsfelder analog zur zunehmenden Höhe der Position auf der Berufsskala verfestigt haben, da die Sprachwahl und die nationale Identität des Berufstätigen für die Kundschaft entsprechend von zunehmender Bedeutung war (Cohen 1996: 59–61).

2.3  Das ,Prager Deutsch‘ in seiner Spätphase Wie eingangs bereits angesprochen, ist vieles über das formale Erscheinungsbild des ,Prager Deutsch‘ in seiner Spätphase (ca. 1880–1945) geschrieben worden – und: Die Aussagen widersprechen sich eklatant. Die verschiedenen Thesen, die sich in der Forschung

74

Der sprachsoziologische Kontext

herausgebildet haben,5 sind nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Die Haupt­ ursache dafür dürfte allerdings auf dem Umstand beruhen, dass der Terminus ,Prager Deutsch‘ für die in den Diskurs Involvierten jeweils etwas völlig anderes bezeichnete. Mithin kann beim ,Prager Deutsch‘ kaum von einer Einzelvarietät ausgegangen werden. Vielmehr ist es als Idiom sowohl diastratisch als auch diachron differenziert zu betrachten: Diastratisch darf man zum einen von der Existenz sozial bedingten Jargons (,Kleinseitner Deutsch‘, ,Kucheldeutsch‘, ,Kuchelböhmisch‘, ,Mauscheldeutsch‘), d. h. von Soziolekten des Deutschen ausgehen, die in unteren Bevölkerungsschichten verbreitet waren (1a).6 Davon hob sich das in den oberen Gesellschaftsschichten, in der Prager Bildungsschicht gesprochene Deutsch ab, das von prestigeabhängigen sprachpuristischen Tendenzen geprägt war (1b). Diachron ist ferner das ältere Prager Deutsch im 19. Jahrhundert (2a) vom ,späten Prager Deutsch‘ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bzw. von der Sprache der Prager deutschen Schriftsteller (2b) zu unterscheiden. Letztlich überlappen sich diese Bestimmungsfelder. Inwieweit sich die jeweiligen Varietäten des Deutschen, die von bilingualen Tschechen, von den Deutschen der unteren Mittel- und Unterschicht und vom deutschsprachigen Bildungsbürgertum verwendet wurden, voneinander unterschieden, lässt sich kaum ermitteln. 2.3.1  Ein durch tschechische (und jiddische) Interferenzen geprägtes Idiom auf ,österreichischer Basis‘? Im Diskurs um das ,Prager Deutsch‘ fand früh die These von einem Einwirken des Tschechischen auf die Sprache der deutsch deklarierten Prager besondere Aufmerksamkeit. Bereits August Schleicher ging in seinem Aufsatz Ueber die wechselseitige Einwirkung von Böhmisch und Deutsch (1851) auf dieses Phänomen ein, das auf das städtische Deutsch im Sinne von (2a) zu beziehen ist. Er listete eine Anzahl v. a. syntaktischer und phraseologischer Bohemismen auf, die ins ,Prager Deutsch‘ eingedrungen seien und die fortan in der Sekundärliteratur zitiert und ergänzt wurden (u. a. Teweles 1884; Schuchardt 1884; Fischer 1962; Trost 1963). Bereits zu Kafkas Lebzeiten verfasste Augustin Ritschel (1893) eine wissenschaftliche Studie zum ,Prager Deutsch‘.7 Er ordnete es im Sinne von (1a) und (2a) Angehörigen

5 6 7

S. hierzu bes. Povejšil (1962), Trost (1963; 1964a–b; 1966; 1968a), Urzidil (1966), Demetz (1966) und Skála (1966a–b; 1967; 1968; 1974; 1991). Bezděková (1988: 121) spricht von „volkssprachliche[n] Varianten mit Jargonzügen“. S. hierzu Kap. 3.1.2.4.

Das ,Prager Deutsch‘ in seiner Spätphase

75

niedriger sozialer Schichten zu, „deren muttersprache čechisch war, oder […] die von kindesbeinen an neben der čechischen sprache nur ein vom čechischen lautlich beeinflußtes deutsch sprechen hörten“ (Ritschel 1893: 129). Die deutschsprachige Prager Bildungsschicht habe dieses durch Interferenz bedingte Idiom gleichwohl nicht verwendet. Dass ihr Deutsch dennoch jedem Reichsdeutschen auffallen musste, sei u. a. dadurch bedingt gewesen, dass man die Laute der österreichisch-deutschen Sprechart „durch sprechorgan[e], die an čechoslawische artikulation gewöhnt sind“ (Ritschel 1893: 130), nach dem Gehör reproduzierte.8 Charakteristisch für dieses Deutsch sei demnach der Mangel an gerundeten und gemischten Vokalen, die Tendenz zur offenen Aussprache und die Realisierung von b‑/d‑/g- im Anlaut als nicht aspirierte p‑/t‑/k-9 gewesen. Ferner habe man stets ein Zungen-r gesprochen und keine Distinktion zwischen ach- und ich-Laut vorgenommen. Auch die stimmlose Aussprache des anlautenden s10 sei vom norddeutschen Usus abgewichen (Ritschel 1893: 130–133). Diesen Kennzeichen fügte Hauffen (1903: 84) später noch das Merkmal des ,slawisch‘ ausgesprochenen l hinzu. Im Einklang mit Ritschel verstand auch Pavel Eisner das ,Prager Deutsch‘ im Sinne von (1a) und (2a), aber auch von (2b) und setzte es im Großen und Ganzen mit dem Prager „kuchldajč“ (Eisner 1946: 489) gleich, einem von phraseologischen und morphosyntaktischen Bohemismen durchdrungenen Idiom. Sprachproben führte er anhand des von Čelakovský (1946) in den 1830er Jahren verfassten fiktiven Briefs des Prager ,Freuleins‘ Amaria Schediwin an ihren tschechischen Liebhaber an. Als Sprecher-Gruppe nannte Eisner (1946: 487–495) zum einen die Kleinseitner Diener, Hradschiner Kutscher, Köchinnen der Neustadt und ihre Herrinnen, zum anderen aber auch Teile des österreichischen Adels. Mit der Bezeichnung „místní jazykový zmetek, zrozený ze špatného vzdělání a mizernějšího smýšlení“ [örtlicher sprachlicher Bastard, hervorgegangen aus schlechter Bildung und einer noch erbärmlicheren Gesinnung] (Eisner 1946: 490) fass­te er seine Geringschätzung dieses Soziolekts in ein prägnantes Bild. In (meist essayistischen) Retrospektiven wurde dem Deutschen in Prag in der Folge auch eine ethnolektale Färbung

8

9

10

Die These einer latenten rezeptiven wie produktiven Einstellung der Deutschen in Innerböhmen „auf die slawische Aussprache“ wurde später auch von Fritz Mauthner (1918: 51) vertreten und von Johannes Urzidil (1966: 79) kolportiert (s. hierzu Kap. 2.3.3 und 3.1.2.4). Dies behaupteten schon Schleicher (1851) und Teweles (1884). Als zutreffend wurde diese Beschreibung noch von Skála (1989: 33–34; 1991: 139) beurteilt, der für das Kleinseitner Deutsch der Tschechen darüber hinaus die Kürzung des betonten Vokals und die Auslassung des Pronomens als typisch betrachtete. Dies konstatierte zuvor bereits Teweles (1884: 107).

76

Der sprachsoziologische Kontext

durch das Westjiddische bzw. ,Mauscheldeutsch‘ der Prager Juden nachgesagt (Politzer 1950; Fischer 1962; Trost 1981; Sayer 1996; Demetz 2006). Die Identifizierung des ,Prager Deutsch‘ mit dem von tschechischen Interferenzen geprägten Deutsch der unteren Bevölkerungsschichten und unvollkommen bilingualen Tschechen Prags, einem „Vulgärösterreichisch […] mit Merkmalen seiner Deformierung“ (Trost 1968b: 20) im Sinne von (1a) nahmen nicht zuletzt Kafkas Zeitgenossen Egon Erwin Kisch (1917; 1992),11 Max Brod (1960; 1969a)12 und Heinz Politzer (1950) vor. Klaus Wagenbach (1958: 84) übernahm diese Kategorisierung in seiner Kafka-Biographie, und auch Peter Demetz (1966: 59) spottete über die im Deutsch der Prager „willkommenen Slawismen“. Emil Skála (1977; 1991) äußerte dagegen Bedenken gegenüber der Annahme, alle Eigentümlichkeiten des ,Prager Deutsch‘ seien durch eine interferenzielle Einwirkung des Tschechischen zu erklären, und propagierte stattdessen die Ansicht, der deutsch-tschechische Bilingualismus habe sich im ,Prager Deutsch‘ tendenziell eher bescheiden ausgewirkt.13 2.3.2  Das ,reinste‘, vorbildlichste (Hoch-)Deutsch der k. u. k. Monarchie? Laut einer zweiten verbreiteten Ansicht galt das ,Prager Deutsch‘ im 19. Jahrhundert innerhalb der gesamten Habsburgermonarchie als das beste, ,reinste‘ und vorbildlichste Deutsch. Da dieses Bild den eben erfolgten Ausführungen widerspricht, kann es nur die Sprache des deutschsprachigen Prager Bildungsbürgertums (1b) meinen, zu der allerdings kaum objektive Daten überliefert sind. Bezogen auf (2a) führte Ritschel (1893: 130) zu diesem bis in die 1860er Jahre oft bemühten Autostereotyp aus, es sei entweder aus Unkenntnis des eigentlichen deutschen Lautwesens gepflegt worden oder weil man sich „nicht der allgemeinen prager deutschen sprechweise, sondern einer bewusst gewählten, durch die schule und noch mehr durch die bühne vermittelten aussprache“ bedient habe. Als Zeugen für die Dialektfreiheit und besonders ,reine‘ Aussprache des Deutschen in Prag traten auch Kisch (1917: 3), Brod (1960: 219–220; 1969a: 149–150) und Urzidil (1965: 18) auf. Sie wehrten sich aber gerade dagegen vehement, dieses gemäß (1b) aufgefasste 11

12 13

Kisch (1992: 249) verkannte dabei die Bezüge des Kleinseitner Deutsch zur österreichischen Koiné (Trost 1979: 247), indem er pauschal davon ausging, einzelne Übereinstimmungen seien Prager Besonderheiten, die von Tschechen nach Wien ,eingeschleppt‘ worden seien. Der Blick Brods und Kischs auf dieses gruppenspezifische Idiom erweist sich dabei als ebenso geringschätzig wie derjenige Pavel Eisners (vgl. Kap. 3.1.2.4). Die gleiche Ansicht vertraten später Thieberger (1979: 178) und Nekula (2004: 96).

Das ,Prager Deutsch‘ in seiner Spätphase

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Deutsch als ,Prager Deutsch‘ zu bezeichnen, unter dem sie ja die Misch-Jargons der sozialen Unterschicht auf der Kleinseite verstanden. Kranzmayer (1956: 80) wiederum benutzte den Terminus (wie Ritschel) für das ,überlegene‘ Deutsch, das in Prag zu hören gewesen sei. Trost (1962: 38; 1963: 321; 1981: 383) sah es nicht nur über die Sprache der Provinz, sondern auch der Metropole Wien gestellt. Auch wenn es im Ganzen ein österreichisches Deutsch gewesen sei, so sei es doch auch in Österreich aufgefallen. Im Sinne von (2b) nahm Johannes Urzidil (1972: 207–209) für die Prager deutschen Schriftsteller schließlich sogar kollektiv in Anspruch, sie schrieben ihre Prosa in derselben Sprache, die sie tagsüber sprächen, und diese Sprache ist das reine und unversetzte Hochdeutsch. Es ist die deutsche Sprache. Wenn wir uns zum Schreiben niedersetzen, müssen wir nicht erst aus einem tagsüber im Leben und Treiben gebrauchten Dialekt zu einem besonderen andersartigen Deutsch umschalten. Dies vielleicht unterscheidet uns von den meisten anderen deutschen Autoren. […] Wenn wir keine deutschen Autoren mehr sind, dann ist es niemand.

2.3.3  Ein dialektfreies, stagnierendes, kraftlos-verarmtes Papierdeutsch einer abgeschlossenen Sprachinsel? Das Bild der Dialektfreiheit bedingte allerdings auch eine dritte Vorstellung, die den Diskurs verstärkt auf die Sprache der Prager deutschen Schriftsteller (2b) lenkte: Unter der Annahme, in Prag habe keine Diglossie geherrscht, sahen die Vertreter dieser Auffassung im ,Prager Deutsch‘ ein mundartarmes, durch die tschechischsprachige Umgebung isoliertes und zunehmend kraftloses Idiom, dessen sich die deutschschreibenden Autoren in Prag angeblich bedient hätten. Den Anstoß zu dieser Sichtweise hatte Fritz Mauthner (1918: 51) gegeben, der in seinen Jugenderinnerungen konstatiert hatte, umgeben von tschechischer Landbevölkerung sprächen die Deutschen im Inneren Böhmens „keine deutsche Mundart, […] ein papierenes Deutsch, wenn nicht gar Ohr und Mund sich auf die slawische Aussprache eingerichtet haben.“ Dialektale Anklänge klassifizierte Mauthner (1918: 52) als missglückte Versuche der Deutschböhmen, das Wienerische zu imitieren. Das Bild eines kraft-, leb- und blutlosen Papier- bzw. Buchdeutsch in dialektfreiem Umfeld14 wurde zunächst unbesehen von Oskar Wiener (1919: 6, 9) weitergegeben und 14

Es findet sich u. a. bei Kranzmayer (1956: 80), Wagenbach (1964: 55–56), Goldstücker (1967: 27) und Stein (1976: 15).

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Der sprachsoziologische Kontext

von Otto Pick (1927: 10; 1928: 1) und Pavel Eisner (1930; 1937: 44; 1950: 97) um das Attribut der Isolation erweitert. In der Forschungsliteratur etablierten sich folgend die Topoi ,Insel‘ und ,Treibhaus‘.15 Diese implizierten, das ,Prager Deutsch‘ sei die Sprache „einer engen Gesellschaftsschicht inmitten eines Vakuums“, „ein stagnierendes Gruppenidiom“ (Demetz 1953: 57, 110) in einem durch tschechischsprachige Umgebung von natürlicher Weiterentwicklung „abgeschnittenen, sterbenden deutschen ,Ghetto‘“ (Hermsdorf 21966: 139) gewesen (Magris 1980: 26–27). Laut Wagenbach (1958: 94) habe es sich um „eine Art staatlich subventionierte[r] Feiertagssprache“ gehandelt. Zuletzt vertrat Jürgen Born (1991: 19, 25) die Auffassung, die Insel-Metapher, die sich bis zum Zweiten Weltkrieg bei Prager Autoren findet, veranschauliche die psychologische Situation der Deutsch-Prager und die Prägung ihrer Literaturproduktion, die sich in sprachlicher Absonderung und im Wissen um ihre Endzeitlichkeit vollzogen habe. Zweifel an Mauthners Behauptungen wurden allerdings bereits durch Pavel Trost (1966: 107–108) und Emil Skála (1967: 124) laut. Überzeugend machte schließlich Hartmut Binder (1996) evident, dass sich das Insel-Bild erst nach dem Ersten Weltkrieg im Prager Schrifttum etablierte und nicht im Sinne des linguistischen Fachterminus ,Sprachinsel‘,16 sondern als Facette programmatischer Parteinahme im deutsch-tschechischen Nationalitätenkampf verwendet wurde. Die Metapher beschreibe demnach ein Gefühl nationaler Gefährdung und kennzeichne nicht sprachliche, sondern gesellschaftliche Verhältnisse, nämlich die soziale oder kulturelle Sonderstellung der deutschsprachigen Gemeinde Prags. Somit stehe sie „für eine wenig zahlreiche Gemeinschaft […], die von einem übermächtigen, andersartigen Gegner bedroht wird, nicht aber für eine sprachliche Enklave, die von ihrer Umgebung isoliert ist“ (Binder 1996: 185). Binders (1996: 186–193, 201–205; 2000: 68–69) Nachweise zahlreicher Beziehungen zwischen Prag und dem geschlossenen deutschen Sprachraum relativieren die These der angeblichen Abgeschlossenheit oder gar Rückständigkeit des Deutschen in Prag. Ergänzt und systematisiert durch Nekula (2003a: 81–82; 2004: 93), lassen sie folgende Einschränkungen für die Verwendung der Insel-Metapher plausibel erscheinen:

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S. hierzu im Detail Born (1991) und Binder (1996). Dieser meint eine „geschlossene, kleinere Sprach- und Siedlungsgemeinschaft innerhalb eines größeren anderssprachigen Gebiets […]. Wegen der räumlichen Trennung werden in den Sp[rachinsel]n­ neuere Entwicklungen des Binnenlandes nicht mit vollzogen, daher verbleiben die Sp[rachinsel]n auf einem älteren Sprachzustand. Außerdem treten häufig Interferenzerscheinungen infolge des Kontaktes mit der Fremdsprache auf “ (MEL 91978: 355).

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1. Um 1900 überstieg der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung in keinem Prager Stadtteil 30 Prozent, um 1910 bildeten 21 Prozent den Höchststand. Das Fehlen einheitlicher deutscher Siedlungskomplexe macht ein Ghettodasein unwahrscheinlich. Stattdessen lebten die in einem tschechisch dominierten Stadtraum zerstreuten Deutschen in einer „sprachliche[n] Diaspora“ (Binder 1996: 186–187).17 2. Die Prager deutsche Gemeinde war (auch nach 1918) einer permanenten Zuwanderung aus der böhmischen Provinz (zu über 90 Prozent) und sogar dem Deutschen Reich ausgesetzt. Um 1900 stammte mehr als die Hälfte der deutschsprachigen Bewohner der städtischen Kernbezirke von außerhalb Prags. 3. Das eigenständige deutsche Bildungssystem wurde auch von auswärtigen Schülern und Studenten genutzt, welche die städtischen Gymnasien und Hochschulen besuchten, an welchen ebenfalls Lehrer und Professoren aus Böhmen, Wien, den Alpenländern und dem Deutschen Reich unterrichteten. Das von Kafka von 1893 bis 1901 besuchte Altstädter Gymnasium bestätigt diese Verhältnisse exemplarisch. 4. Bis 1918 bildete die k. k. Statthalterei die Verwaltungsspitze in Prag. Ihre Mitglieder kamen hauptsächlich aus Wien. Daneben arbeiteten Beamte, die teilweise aus ganz Böhmen oder von außerhalb stammten, in anderen deutschen bzw. sprachlich geteilten Landesinstitutionen sowie den Militärgarnisonen. Auch die Wehrpflicht führte den Staatsbürger häufig in andere Sprachmilieus. 5. Im Rahmen des (auch nach 1918) lebhaften gesellschaftlichen Lebens der Prager Deutschen ist von guten Kontakten zu anderen städtischen Zentren des deutschsprachigen Raums wie Wien, München, Leipzig und Berlin auszugehen. Hierbei konnte es sich sowohl um abonnierte Zeitschriften, die in Klubs oder Cafés auslagen, als auch um Vorträge, Lesungen oder Theatergastspiele handeln. 6. Gerade die deutsche Bildungsschicht ist zudem als relativ mobil zu betrachten: Ferien- und (Aus‑)Bildungsaufenthalte führten in die böhmische Provinz, nach Österreich oder ins Deutsche Reich – somit in Regionen, in welchen man mit anderen gesprochenen Varietäten des Deutschen in Berührung kam. In diesen Kontext gehören etwa Kafkas Außendienst als Versicherungsangestellter in Nordböhmen und seine Kuraufenthalte.

17

Binder stützt sich hier auf die demographischen Daten von Cohen (1981: 106–107, 134–135, 291, 293).

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Der sprachsoziologische Kontext

2.3.4  Relativierung der Vorstellung vom ,Prager Deutsch‘ als Einzelvarietät des Deutschen Vieles deutet demnach darauf hin, dass man sich das ,Prager Deutsch‘, bedingt durch die unterschiedliche soziale und regionale Herkunft der deutschsprachigen und bilingualen Prager, nicht als monolithisch, sondern im Gegenteil als vielschichtig und vielgestaltig vorzustellen hat.18 Dies gilt auch angesichts der heterogenen Sozialstruktur der deutschsprachigen Stadtbevölkerung, die – entgegen vielfacher Behauptung – um 1910 eine Unterschicht von ca. einem Viertel besaß.19 Hierin offenbaren sich die analytischen Schwierigkeiten, die Stadtsprachen aufgrund komplexer sozialer Lebensstrukturen oft eigen sind: Ihre „systemwidrige Vielfalt“ (Löffler 1993: 702) ist durch das traditionelle diatopische Erklärungskonzept der Dialektologie schwer erfassbar (Hofer 2002: 2, 6). Dieser Umstand führte zur Abwendung eines Teils der Mundartforschung vom Untersuchungsobjekt ,Stadtsprache‘ (Dittmar/Schlieben-Lange 1982: 10) und dürfte z. T. auch für die Nichterfassung Prags durch die deutsche Dialektlexikographie und ‑kartographie20 verantwortlich sein. Eine ausgesprochene Varietäten-Vielfalt findet nicht zuletzt auch in der Prosa Prager deutscher Schriftsteller ihren Reflex, wenn diese im Rückblick auf ihre Jugendjahre Sprecher unterschiedlicher Mundarten aus ihrem Prager Kindheitsmilieu zitieren (Binder 1996: 203).21 Es scheint somit angeraten, ,Prager Deutsch‘ als sprachwissenschaftlichen Terminus nicht zu verwenden. Stattdessen sollte vom ,in Prag gesprochenen Deutsch‘ oder ,Varietätenspektrum des Deutschen in Prag‘, vom ,Deutsch der Prager‘ oder von den ,in Prag verbreiteten Varietäten des Deutschen‘ die Rede sein. Dessen ungeachtet lässt sich angesichts der allen deutschen Stadtsprachen der k. u. k. Monarchie gemeinsamen Phänomene vermuten, dass oberdeutsche/bairisch-österreichische Elemente im sprachlichen Alltag eine besonders hohe Frequenz besaßen. Ebenso ist anzunehmen, dass in den sozial bedingten Jargons der Unterschicht Interferenzerscheinungen aus der Prager Mehrheitssprache Tschechisch ihre Spuren hinterließen, die u. U. auch auf die Sprache der sich deutsch deklarierenden städtischen Mittel- und Oberschicht einwirken konnten.

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Von dieser Annahme gingen bereits Bezděková (1988: 120), Schamschula (1992: 81), Skála (1994: 18–19), Binder (1996: 203–204) und Bauer (2008a: 56–57) aus. S. hierzu Kap. 2.2. S. hierzu Kap. 1.1. Vgl. exemplarisch Beinahe ein Vorzugsschüler von Max Brod (1952: 58), Der Abituriententag von Franz Werfel (1990: 96–97), Von acht bis neun von Emil Faktor (1910: 36), Erinnerungen von Fritz Mauthner (1918: 50) sowie Die Tante Jolesch von Friedrich Torberg (1975: 27–31, 59–61, 121–126).

Franz Kafkas Sprachen

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2.4  Franz Kafkas Sprachen 2.4.1  Das Spektrum der von Kafka verwendeten Varietäten des Deutschen Zur Feststellung, dass das Deutsche für Franz Kafka als Erstsprache figurierte, bedarf es kaum seines expliziten Bekenntnisses: „Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich“ (Kafka 2013: 134). Entgegen vielfacher Spekulationen über eine vollkommene deutsch-tschechische Zweisprachigkeit Kafkas22 kann dieser Umstand angesichts der Indizienlage kaum ernsthaft bezweifelt werden: Nach seiner Grundschulzeit an der Deutschen Volks- und Bürgerschule in Prag-Altstadt (1889–1893) trat Kafka an das StaatsGymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag Altstadt, eine als besonders streng geltende Lehranstalt, über (Wagenbach 1958: 29, 34, 63; Binder 1979a: 170, 183, 254). Hier durchlief er in einer Klasse, in der von Jahr zu Jahr zunehmend mehrheitlich deutsche Muttersprachler lernten (Nekula 2003a: 128–130), einen sprachpuristischen, von der Sprache der deutschen Klassiker ausgehenden Deutschunterricht23 auf der Grundlage eines Grammatik-Lehrwerks (Kummer 31892), das sichtlich reichsdeutsche Normvorstellungen berücksichtigte. Kafkas schulischer Tschechischunterricht war demgegenüber fremdsprachlich konzipiert (Nekula 2003a: 137). Seit Kafkas vierter Volksschulklasse und während seiner gesamten Gymnasialzeit (1893–1901) wurde im Katalog über den Schulbesuch und Fortgang konsequent das Deutsche als seine Muttersprache vermerkt (Nekula 2003a: 137).24 Als sich seine Eltern und Schwestern bei der Volkszählung von 1910, wohl in Rücksicht auf die Öffentlichkeit,25 geschlossen zum Tschechischen als Umgangssprache bekannten, gab Kafka als einziges Familienmitglied das Deutsche an (Stölzl 1975: 50–51, 120; Heintz 1983: 17). Im Widerspruch zu dieser Divergenz lässt Kafkas ausschließlich auf Deutsch geführte Briefkorrespondenz mit seinen Eltern und Schwestern (Kafka 1974) erkennen, dass er hier die eigentliche Sprache des inneren Familienkreises benutzte. Um letzte Zweifel auszuräumen, muss man den Umstand, dass Kafka auch seine Tagebücher und v. a. seine Prosa-Schriften

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S. hierzu Kap. 2.4.2. S. hierzu Kap. 3.1.1. Für sein zweites Schuljahr wurden zwar Deutsch und Tschechisch angegeben; dies könnte sich aber auch nur auf seine rezeptiven Fähigkeiten in beiden Sprachen bezogen haben (Nekula 2003a: 134). S. hierzu Kap. 2.2.

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ausschließlich auf Deutsch verfasste und keine tschechischen Äquivalente hinterließ, kaum mehr als zusätzliches Indiz anführen. Dass Kafka nach der oben skizzierten muttersprachlichen Schulbildung als Mitarbeiter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt der Schriftnorm bzw. dessen, was man um 1910 in Prag dafür ansah, mächtig war und über ein Deutsch von „auffällige[r] Standardnähe“ (Bauer 2008a: 55) verfügte, versteht sich von selbst. Belege hierfür liefern nicht zuletzt seine amtlichen Schriften (Kafka 2004) und seine offiziellere Privatkorrespondenz, z. B. mit seinem Leipziger Verleger Kurt Wolff (1966). Kafkas informellere Briefe an Freunde und seine Familie verraten allerdings, dass er daneben auch ein ungezwungeneres, der Umgangssprache angenähertes Deutsch zu schreiben pflegte, zu dem z. B. enklitische Formen wie in „da kostets rechte Mühe“ oder „Wir wollens hoffen“ (Kafka 1999a: 12) gehörten. Schon diese Tatsache legt nahe, dass Kafka im Gespräch neben der Hochsprache auch über verschiedene substandardliche Register verfügte. In Richtung einer regional gefärbten Umgangssprache weist z. B. Brods Zitat: „Kafka sagt ,Jetzt schnell […]. – Nur das Gesicht bissel waschen‘“ (Brod/Kafka 1987: 107). Dass Kafka in informellen Situationen darüber hinaus offenbar eine mundartnahe Varietät des Deutschen sprach, lässt sich aus den Untersuchungsergebnissen von Blahak (2005; 2007a–b; 2008a) schließen: Der in seinem literarischen Schreibprozess offenbar vom Klang des gesprochenen Ausdrucks beeinflusste Kafka (Pasley 1992: 30, 33; Nekula 2003a: 94–95)26 hinterließ in den Varianten seiner Prosa zahlreiche Verschreibungen, die Rückschlüsse auf die Lautung einer Erstsprache mit primären Dialektmerkmalen27 erlauben.28 Als Sprecher des Deutschen kann Kafka daher keineswegs als Gewährsperson für die Behauptung Johannes Urzidils (1965: 18; 1972: 207–209) dienen, in Prag seien gesprochene und geschriebene Sprache deckungsgleich gewesen, nämlich Standarddeutsch. Vielmehr scheint die Verwendung verschiedener sprachlicher Register auf eine ,user oriented‘ Diglossie (Studer 2002: 2) bzw. eine mehrstufige Polyglossie mit fließenden Übergängen zwischen Mundart, Umgangs- und Standardsprache in Kafkas deutschsprachigem Umfeld zu verweisen, wie sie dem in Kap. 1.9.1 skizzierten Varietätenmodell zugrunde gelegt wurde. Vor diesem Hintergrund lassen sich dialektale oder regional-umgangssprachliche Formen, die sich in Kafkas Prosa-Handschriften finden, fehlerlinguistisch

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S. hierzu bes. Kap. 4.5. Als ,primär‘ werden seit Žirmunskij (1930) strikt kleinräumig gebundene, auffällige von ,sekundären‘, weiträumig verbreiteten, weniger auffälligen Dialektmerkmalen unterschieden. Zur Diskussion des Begriffspaares s. Schwarz/Spiekermann/Streck (2011). S. hierzu v. a. Kap. 5.1.

Franz Kafkas Sprachen

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als Interferenzen eines individuellen Transfers von Strukturen aus der Erst- (Mutter‑, Primär-) in eine Zweitsprache (schulisch erworbener Standard, Schriftsprache) im Zuge eines Sprach-Kontaktes deuten.29 2.4.2  Zur Beurteilung von Franz Kafkas Tschechisch-Kenntnissen Beide Eltern Kafkas stammten aus überwiegend tschechischsprachigen Gebieten Böhmens: Hermann Kafka aus Ossek/Wossek (Osek), Julie (geb. Löwy) aus Podiebrad (Poděbrady) (Binder 1979a: 111, 124). Anhand einiger Indizien lässt sich für die Kindheitsjahre Hermann Kafkas in den 1850er Jahren annehmen, dass die jüdische Gemeinde Osseks als innere Sprache Deutsch verwendete, nach außen im Kontakt mit der tschechischen Mehrheit, von der man räumlich und ,lebensrhythmisch‘ separiert lebte, aber das Tschechische benutzte (Nekula 2002: 380–384; 2003a: 46–51). So entsteht insgesamt der Eindruck, man habe es mit ,böhmischen Marranen‘30 zu tun gehabt. Zum Niveau von Kafkas Tschechisch-Kenntnissen lässt sich aufgrund der Untersuchungen von Čermák (1994) und Nekula (2000a–c; 2002; 2003a–b; 2006) Folgendes zusammenfassen: Zunächst muss das über lange Zeit kolportierte Bild von Kafka als vollkommen bilingualem Sprecher des Deutschen und Tschechischen31 als Mythos relativiert werden. Neben Kafkas privatem (Kafka 2013: 134) wie amtlichem Bekenntnis zum Deutschen als Muttersprache (Stölzl 1975: 120) steht allerdings ein reichhaltiger und steter Kontakt mit dem Tschechischen, das in seinem Elternhaus als selbstverständliche Umgangssprache mit den tschechischen Dienstboten fungierte. Daneben wurde auch mit den Verwandten des weiteren Familienkreises tschechisch kommuniziert, während Deutsch – zumindest bevor Kafkas Schwestern tschechische Partner heirateten – die Sprache des inneren Familienkreises blieb. Die Tschechisch-Kenntnisse, die Kafka im väterlichen Haushalt erworben und im schulischen Wahlunterricht ausgebaut hatte, festigte und vertiefte er später in vielfältigen Kommunikationssituationen am Arbeitsplatz in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, mit Freunden und Bekannten, im kulturellen und

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S. hierzu Kap. 1.6.3 und 1.8.1.3. So bezeichnete Hugo Herrmann (1938: 213–214) die bilingualen, vornehmlich ländlichen Juden Böhmens, die nach außen auf Tschechisch, nach innen auf Deutsch kommunizierten (Kilcher 2007: 78–79). Vertreten wurde es u. a. von Hermsdorf (1957), Loužil (1963), Wagenbach (1964) und Heintz (1983).

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öffentlichen Leben sowie im Zuge seiner Lektüre und seiner Freizeitaktivitäten (Nekula 2000a: 251–268; 2000c; 2003a: 183–247). Bereits Čermák (1994: 64–66) erkannte, dass die Sprache von Kafkas tschechisch geschriebenen Briefen v. a. auf Sprachmustern des Deutschen basierte. Er deutete dieses Tschechisch insofern als eine ,angeeignete Sprache‘, die Kafka allerdings emotional privilegiert und nur wenig als Fremdsprache empfunden habe. Die eingehende sprachliche Analyse der auf Tschechisch geführten behördlichen wie privaten Korrespondenz Kafkas sowie verstreuter tschechischer Zitate in seinen Tagebüchern lässt letztlich den Schluss zu, daß Kafkas passive Kenntnis des Tschechischen in ,Wort und Schrift‘ außerordentlich gut, seine aktive Fähigkeit, Tschechisch zu schreiben, beschränkt und wesentlich vom Deutschen beeinflußt war. Es ist außerdem offensichtlich, daß Tschechisch für ihn nur eine Zweitsprache war, für die er höchstwahrscheinlich über keine generative, sondern nur eine translative Kompetenz verfügte und so kein vollkommen zweisprachiger Sprecher des Tschechischen und des Deutschen sein konnte (Nekula 2000a: 284).

Vor diesem Hintergrund fallen alle Produkte von Kafkas sprachlichem Transfer aus dem Deutschen ins Tschechische zunächst in die Kategorie des Sprach-Kontaktes; aus der Sicht des Tschechischen stellen sie somit Normverstöße dar. Wenn sich umgekehrt Indizien finden, die auf Interferenzen des Tschechischen in Kafkas Deutsch hinweisen, so legt die bei Kafka festgestellte Dominanz der Erstsprache Deutsch gegenüber der Zweitsprache Tschechisch nahe, in diesen Kontakt-Erscheinungen ein Ergebnis der langen territorialen Mehrsprachigkeit Prags zu sehen. Es müsste sich dann also um Phänomene handeln, die bereits in das in Prag gesprochene Deutsch integriert waren, als Kafka sie ungesteuert als Teil der Muttersprache in seinen Idiolekt übernahm; sie wären dementsprechend als gruppenspezifisch zu interpretieren. Hier mag man zunächst an Egon Erwin Kischs (1992: 249) (populärwissenschaftliche) Theorie zur Übernahme von ,Tschechismen‘ im Deutsch der Monarchie denken, nach der „dort überall tschechische Kleingewerbler, Dienstboten, Arbeiter leben und die Sprache der Ureinwohner derartig durchdringen, daß man sich leicht ,darauf ‘ gewöhnt, so zu sprechen wie die Eingewanderten.“ Im Sinne einer wissenschaftlichen Präzisierung dieser Vorstellung wäre vielleicht eher zu vermuten, dass die Wurzeln solcher Interferenzerscheinungen im frühen 19. Jahrhundert liegen, als die zahlenmäßig rasch anwachsende Schicht des tschechischen Bildungsbürgertums in Prag gesellschaftlich immer dominanter wurde. In dieser Schicht herrschte zwar einerseits ein stark ausgeprägter Bilingualismus; hier wurden aber auch

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andererseits im Rahmen des individuellen Sprach-Kontaktes zweifellos häufig Strukturen aus der Erstsprache Tschechisch in die Zweitsprache Deutsch übertragen. Im Deutsch der unteren sozialen Schichten Prags, die im Laufe der Industrialisierung zunehmend durch zugezogene Tschechen gebildet wurden, dürften solche Interferenzen noch gängiger gewesen sein. Diese Transfer-Erscheinungen konnten dann aufgrund ihrer hohen Frequenz im öffentlichen Raum wiederum Spuren im Deutsch der zahlenmäßig schwindenden Deutsch-Prager hinterlassen,32 wurden allmählich, zumindest im mündlichen Sprachgebrauch, nicht mehr als Fehler empfunden und verfestigten sich schließlich als Resultat eines Sprachen-Kontaktes.33 2.4.3  Franz Kafkas Verhältnis zum (West-)Jiddischen Um 1910 war das Westjiddische bereits im Aussterben begriffen und wurde nur mehr als ,Jargon‘, nicht mehr als eigenständige Sprache betrachtet (Loewe 1911: 61). Die Ursache dafür bildete zum einen die jüdische Aufklärungsbewegung Haskala, die der Emanzipation der Juden Vorschub leistete; zum anderen hatten die Reformen Kaiser Josefs II. dazu beigetragen, denn dieser hatte die Juden seit 1784 per Reskript dazu verpflichtet, sich der deutschen Sprache zu bedienen (Kraus 1882). Nach der staatlich gewährten rechtlichen Gleichstellung der böhmischen Juden (1848) forcierte die in den folgenden Jahrzehnten zunehmende Notwendigkeit, sich sprachlich-national zum tschechischen oder zum deutschen ,Lager‘ zu bekennen, die Aufgabe des Westjiddischen in jüdischen Kreisen (Wlaschek 1990: 12, 39–40). Dennoch ist ein sprachliches Nachwirken auf Kafkas Deutsch nicht auszuschließen: Denn in Form des Ethnolekts ,Mauscheldeutsch‘ hielt sich das Westjiddische in abgeschwächter Form noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Prag, bevor es aufgrund seines niedrigen Prestiges infolge der völligen Um­orientierung seiner Sprecher auf die deutsche Schriftsprache verschwand (Nekula 2007: 113–114; 2008: 27–28). Auch konnte Franz J. Beranek noch in den Jahren 1930 bis 1945

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Dies könnte v. a. für das Deutsch bilingualer, namentlich der jüdischen Prager gelten, die eben im Begriff waren, das Jiddische aufzugeben, und bei dem dabei vollzogenen Sprachwechsel vermutlich besonders empfänglich für die in Prag verbreiteten mündlichen Varietäten des Deutschen waren. Einen ähnlichen Entlehnungsprozess hatte bereits Schuchardt (1884: 21, 36) für das in Böhmen gesprochene Deutsch vermutet: „Es hat […] das Slawische auf das Deutsche im Munde gebildeter Slawen eingewirkt; wir haben keinen Jargon mehr, sondern ein Deutsch mit vereinzelten Slawismen. Von diesen Slawismen der Slawen sind […] viele auf die unter einer dichten slawischen Bevölkerung wohnenden Deutschen übergegangen. […] Ein auf eigene Hand begangener Sprachfehler befestigt sich, wenn man ihn aus dem Munde Anderer hört; neue werden ebendaher angenommen.“

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sein Material zum Sudetenjiddischen auf dem Gebiet der böhmischen Länder mittels der Befragung aktiver Sprecher zusammentragen (Beranek 1961: 270). Nicht zuletzt scheint das ,Jüdischdeutsche‘34 noch in den 1930er Jahren in Deutschland v. a. auf dem Lande lebendig gewesen zu sein, u. a. in der Berufsgruppe jüdischer Hopfenhändler (Weinberg 1969: 11–15), der etwa Julie Kafkas Vater angehörte. So lässt sich zumindest vermuten, dass in Kafkas Großelterngeneration noch Relikte des Westjiddischen verwendet wurden (Nekula 2007: 113; 2008: 27), die sich in abgestuftem Ausmaß auch noch bei Kafkas Eltern und bei ihm selbst festgesetzt haben könnten. Für das Deutsch Hermann Kafkas, so hat die Analyse seiner Korrespondenz ergeben, scheinen auch tatsächlich gewisse ,hörbare‘ (nicht lexikalische) oder zumindest als solche interpretierbare Spuren des Jiddischen nachweisbar zu sein (Northey 1994: 14–15; Binder 1996: 207). Ähnliches gilt für Julie Kafka (Nekula 2003a: 58; 2007: 114–115; 2008: 28).35 Zudem spricht manches dafür, dass westjiddische Sprachmerkmale nicht nur in Kafkas unmittelbarem Familien- und Verwandtenkreis vorkamen: Kafka (2013: 71) selbst hielt etwa fest, seine spätere Verlobte Julie Wohryzek sei „Besitzerin einer unerschöpflichen und unaufhaltbaren Menge der frechsten Jargonausdrücke“ gewesen. Zu Kafkas eigener Sprachkompetenz im Jiddischen lassen sich folgende Fakten als gesichert betrachten: Fest steht, dass er selbst gelegentlich Lexik oder idiomatische Wendungen jiddischer Herkunft benutzte, z. B. wenn er seinen Vater zitierte; dieser hatte seinem Sohn gedroht: „[I]ch zerreisse dich wie einen Fisch“ (Kafka 1992I: 161),36 seine Tochter Elli wegen ihrer Haltung bei Tisch als „die breite Mad“37 (Kafka 1992I: 163) beschimpft und Max Brod als „meschuggenen ritoch“38 (Kafka 1990b: 214) tituliert. Als Kafka die Beschneidung seines Neffen beschrieb, gebrauchte er mit „Moule“ (Kafka 1990b: 311) die westjiddische Form der hebräischen Amtsbezeichnung ,Mohel‘ (Beranek 1965: 120) für den rituellen Beschneider (Brod 1951: 701). Auch paraphrasierte er andere Sprecher, deren Rechtschreibung – wie in „Schaale“ (Kafka 1958: 440) – in seinen Augen auf einen westjiddischen Hintergrund verwies (Nekula 2007: 115–116; 2008: 29). Es liegt nahe, solche relativ eindeutigen lexikalischen Phänomene bei Kafka tendenziell als „Sedimente des Jiddischen im Deutschen, das in deutschjüdischen Kreisen gesprochen

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Mit diesem Terminus wird das Westjiddische von Wissenschaftlern bezeichnet, die in ihm keine selbstständige Sprache, sondern einen Soziolekt des Deutschen sehen (Aptroot/Gruschka 2010: 58). Allerdings sind in beiden Fällen z. T. auch andere Deutungen (Verschreibungen, Analogien, tschechische oder mundartlich-oberdeutsche Interferenzen) möglich. Vgl. hierzu Nekula (2002: 382; 2007: 115; 2008: 29) und Bauer (2006: 350; 2008a: 68). Vgl. jidd. mad, maud (,Mädchen‘, ,Magd‘, ,Jungfer‘) (Wolf 1962: 141). Brod (1951: 700) selbst gab den Ausdruck als „verrückter Brausekopf “ wieder (Robertson 1988: 11).

Franz Kafkas Sprachen

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wurde“ (Nekula 2007: 116), zu interpretieren. In diesem Fall hätte man es nicht mit individuellen Interferenzen zu tun, sondern mit gruppenspezifischen, kollektiv verwendeten Varianten, Relikten, die im Deutsch der Väter-Generation Kafkas verblieben waren und von Kafka im Verlauf seiner Sozialisation gemeinsam mit dem Deutschen erworben werden konnten (Nekula 2003a: 124; 2007: 116; 2008: 30).39 In ihnen hätte man demnach das letzte Stadium des Sprachwechsels einer ganzen Sprachgemeinschaft vor Augen, in dessen Zug eine ursprüngliche Erstsprache vollständig durch eine andere ersetzt wurde, in der neuen, angenommenen Sprache jedoch Spuren hinterließ (Bechert/Wildgen 1991: 94; Winford 2003: 258), mithin Merkmale eines Ethnolekts. Kafkas eigenhändige Ausmerzung bestimmter sprachlicher Phänomene aus seinem Prosa-Deutsch, bei welchen er eine jiddische Provenienz nicht ausschließen zu können glaubte (Kafka 2013: 359), deutet an, dass er sich einem latenten, gruppenspezifischen Einfluss jiddischer Reliktformen ausgesetzt sah.40 Aufschluss über Kafkas westjiddische Sprachkompetenz gibt ferner ein Blick auf den Grad seiner Vertrautheit mit dem Ostjiddischen. Zur vertieften Beschäftigung mit diesem Idiom kam es durch die Bekanntschaft mit der Lemberger Schauspielertruppe um Jizchak Löwy,41 deren Theatervorstellungen Kafka zwischen Oktober 1911 und Januar 1912 häufig besuchte. Die Folge waren diverse ostjiddische Zitate, vornehmlich in den Tagebüchern (Kafka 1990b: 59, 79–81, 351, 360–367), die sich Kafka allerdings wohl v. a. deswegen notierte, weil er Ostjiddisch eben nicht so einfach verstehen konnte.42 So schätzte schon Wagenbach (1958: 209) Kafkas Jiddisch-Kenntnisse als gering ein, und noch Nekula (2007: 113) spricht von „einer nur sehr begrenzten passiven Kenntnis“, von einer aktiven könne nicht die Rede sein. Indizien dafür sind explizite Übersetzungen einzelner ostjiddischer Wörter, deren Bedeutung Kafka beim ersten Hören offenbar nicht klar war, wie z. B.

39

40 41

42

Allerdings ist nicht auszuschließen, dass entsprechende Wörter und Wendungen jiddischer Provenienz auch von nicht jüdischen Deutsch-Pragern verwendet wurden, zumal jiddisches Wortgut bis heute (regional unterschiedlich ausgeprägt) zur Alltagssprache deutscher Muttersprachler gehört. S. hierzu Kap. 3.1.2.3. In ihm traf Kafka auf einen Sprecher, dessen Sprache „zwischen Jiddisch und Deutsch schwankt und mehr zum Deutschen neigt“ (Kafka 2005: 336). Auch das von der ostjüdischen Schauspielerin Mania Tschissik gesprochene Deutsch empfand Kafka als auffällig – teils wegen einer besonderen Vokalqualität (Kafka 1990b: 232), teils wegen der Einstreuung jiddischer Wörter wie „parnusse“ (Kafka 1990b: 238), ,das zum Lebensunterhalt Notwendige‘ (Brod 1951: 700). Eine ähnliche Redeweise nahm Kafka (1990b: 699) während des Ersten Weltkrieges in Prag bei ostgalizischen Flüchtlingen wahr. Dem ungeachtet behauptete er anderenorts (Kafka 1993aI: 192), jeder der deutschen Sprache Mächtige sei in der Lage, das Ostjiddische problemlos zu verstehen (vgl. Kap. 3.2.3).

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Der sprachsoziologische Kontext

„Belfer“ als „(Hilfslehrer)“43 (Kafka 1990b: 316) oder „Schmatten“ als „(Hadern)“44 (Kafka 1990b: 699). Daneben stehen allzu wörtliche Übertragungen jiddischer Redensarten wie z. B. „toire is die beste schoire“ als „Thora ist die beste Ware“45 (Kafka 1990b: 280). Nicht zuletzt gab Kafka fast ausschließlich isolierte jiddische Wörter wieder, während er andererseits in der Lage war, komplette tschechische Sätze, die er nur gehört hatte, fehlerfrei schriftlich zu reproduzieren (Nekula 2007: 113; 2008: 27). Insofern ist auch für Kafkas lexikalische westjiddische Referenzen ein ,Zitat-Charakter‘46 nicht völlig auszuschließen, so dass sie nicht eindeutig als Ausdruck aktiver Sprachverwendung gewertet werden können. Für jiddische Interferenzen, die sich darüber hinaus auf der Ebene der Phonetik oder Morphosyntax in Kafkas Handschriften finden, darf allerdings eine gewisse Gruppenspezifik in seiner Generation angenommen werden: Denn als Franz Kafka 1889 in die Deutsche Volks- und Bürgerschule in Prag-Altstadt eintrat, betrug der Anteil der Kinder jüdischen Bekenntnisses mit deutscher Muttersprache in der 1. Klasse 67 Prozent.47 Bei seinem Übertritt ans Staats-Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag Altstadt (1893/94) waren 76 Prozent der Primaner deutsch deklarierte Juden, ein Anteil, der in den folgenden Jahren bis auf 83 Prozent (Schuljahr 1898/99) anwuchs (Stöhr 2010: 431– 441). Vom Vorhandensein einer Art von jüdisch-deutschem Milieu mit gleichartigem oder ähnlichem sprachlichem wie sozialem Hintergrund in Kafkas Umfeld darf mithin ausgegangen werden.48

2.5  Prognose Wagt man an dieser Stelle eine Prognose über die Provenienz und Art der zu erwartenden Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch, so gelangt man angesichts der nachgewiesenen Gemeinsamkeiten der deutschen Stadtsprachen in den urbanen Zentren der k. u. k. Monarchie, aufgrund der statistisch gesicherten Daten zu den demographisch-sprachsoziologischen 43 44 45 46

47 48

Vgl. jidd. bahelfer, behelfer, belfer (,Helfer des Schullehrers‘) (Wolf 1962: 94). Vgl. jidd. schmáte (,Fetzen‘, ,Lappen‘) (Lötzsch 1990: 155). Die eigentliche Bedeutung ist: „Wissen ist die beste Investition“. Nekula (2007: 113) sieht Kafkas Übersetzung „zwischen Ironie und Unverständnis der phraseologischen Bedeutung“ schwanken. Einen solchen beschreibt etwa Peter Demetz (2006: 9) anhand der Verwandten seiner Elterngeneration, die, wenn sie das Jiddische gelegentlich fragmentarisch verwendeten, „diese Sprache gleichsam zitierten.“ Dieser Anteil sank zwar in den drei folgenden Jahren, machte in Kafkas viertem Schuljahr aber immerhin noch 57 Prozent aus (Stöhr 2010: 433). S. hierzu Kap. 2.2.

Prognose

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Verhältnissen in Prag und unter Einbezug des Wissensbestandes zur Kompetenz Kafkas in den Sprachen Deutsch, Tschechisch und (West‑)Jiddisch zu folgenden Annahmen: 1. Das von Kafka im Alltag gesprochene Deutsch lässt zum einen Merkmale bairisch-österreichischer Varietäten des Deutschen, u. U. dezidiert des Wienerischen erwarten. Soweit in Kafkas Manuskripten tatsächlich nachweisbar, dürfen diese als Ergebnis eines individuellen Transfers aus einer Erst- (,Dialekt‘) in eine Zweitsprache (,Schriftsprache‘) im Zuge eines Sprach-Kontaktes gedeutet werden. Unter den im Folgenden zu bestimmenden Regionalismen dürften sie die große Mehrheit ausmachen. 2. Weiter kann man mit Parallelen zu tschechischen Sprachstrukturen rechnen, die gegebenenfalls nicht als individuelle, sondern als gruppenspezifische Transfer-Erscheinungen interpretiert werden können. Sie wären auf die demographische Minderheitensituation der Deutschen in Prag und auf das Einwirken tschechischer Interferenzen im Deutsch der tschechischen Mehrheit auf das städtische muttersprachliche Deutsch zurückzuführen. Als Resultat eines Sprachen-Kontaktes ließen sie sich als bereits vorhandener Bestandteil des von Kafka ungesteuert erworbenen (,Kontakt‘‑)Deutsch betrachten. 3. Innerhalb des Erwartungshorizontes liegen ferner Spuren des Westjiddischen. Auch für diese ließe sich eine Deutung als Ergebnis aktiver Sprachkompetenz ausschließen. Stattdessen wären sie als gruppenspezifische Relikte einer kollektiv abgelegten Sprache in Kafkas jüdisch-deutschem Sozialisationsmilieu aufzufassen. Von Kafkas Eltern-Generation, die den Sprachwechsel (unvollständig) vollzog, abgeschwächt an die Generation ihrer Kinder weitergegeben, müssten sie ebenfalls der (,Kontakt‘‑) Varietät des Deutschen angehört haben, die sich Kafka als Primärsprache aneignete. 4. Standardsprachliche Regionalismen schließlich dürften, wo sie im Korpus auftauchen, in erster Linie der österreichischen Schriftnorm zugeordnet werden können. Fragmente des Westjiddischen können aufgrund seines niedrigen Sozialprestiges gegebenenfalls kaum in die Rubrik ,Standard‘ fallen. Dagegen ist nicht auszuschließen, dass sich Parallelerscheinungen zum Tschechischen als regional schriftfähig erweisen.

3  Kafkas individuelle sowie zeit- und raumgebundene Einstellung zu den Komplexen ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘ Unterzieht man Kafkas Prosa-Schriften einer sprachwissenschaftlichen Analyse, so besteht von Anfang an die Schwierigkeit, zwischen der Alltagssprache des Autors und einer in literarischen Texten verwendeten Kunstsprache unterscheiden zu müssen. Wo sich Merkmale eines diatopischen Substandards ausmachen lassen, ist zu entscheiden, ob sie unbewusste Abweichungen des Autors von einer prinzipiell angestrebten (überregionalen) Norm, also Reflexe seiner Primärsprache darstellen oder aber Facetten einer von ihm fingierten Mündlichkeit. Im zweiten Fall ließe sich kaum von Regionalismen im Sinne der vorliegenden Untersuchung sprechen; denn der jeweilige Grad der Fingierung bzw. der Zugehörigkeit zur authentischen sprachlichen Realität des Schreibenden wäre nicht bestimmbar. Ähnliches gilt grundsätzlich auch für Merkmale eines regionalen Standards. Die Lösung dieses methodischen Problems besteht darin, die generelle Haltung Kafkas gegenüber der Sprache, dem zentralen Medium eines Schriftstellers, zu bestimmen. Eine differenzierte Betrachtung seiner Sprachattitüden kann Aufschluss ­darüber geben, in welchen Domänen er standardnahe und standardferne Varietäten einer Sprache für angemessen hielt, im Detail, welche Position er gegenüber den Komplexen ,Standard/Schriftsprache‘ einerseits und ,Substandard/dialektale Mündlichkeit‘ andererseits einnahm. Anhand der Indizienlage lassen sich dann wiederum Schlüsse ziehen, welche formalen Anforderungen Kafka prinzipiell an die bei seiner literarischen Produktion verwendete Sprache stellte. Dabei darf von der Prämisse ausgegangen werden, dass Kafkas Einstellung nicht unerheblich von seiner durch Sozialisation erworbenen gesellschaftlichen Gruppenzugehörigkeit mitbestimmt wurde, die sich in seinem Fall allerdings als ambivalent erweist.

Sozialpsychologisch geprägte Repräsentativität vs. Sondersituation

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3.1  Sozialpsychologisch geprägte Repräsentativität vs. Sondersituation als ambivalenter identitätsbildender Hintergrund von Sprachattitüden 3.1.1  Kafkas Streben nach normgerechtem Ausdruck gegenüber einer schriftdeutschen Öffentlichkeit Hinsichtlich seiner Prosa ist Kafka ein unübersehbares Bemühen zu attestieren, mündlich-regional markierte Sprachmerkmale zu vermeiden und gleichzeitig ein Höchstmaß an normgerechtem Ausdruck zu erreichen,1 zumindest dann, wenn er einen Text zur Herausgabe bestimmt hatte.2 Dabei zeigte sich seine „Akribie“ (Brod 31954a: 300), „groß[e] Gewissenhaftigkeit“ (Brod 1974: 352) und „skrupelhafte Genauigkeit“ (Brod 1960: 280) bei Textüberarbeitungen nicht nur in seinen häufigen Versuchen, sich anhand von Nachschlagewerken der Norm zu vergewissern. Max Brod erinnerte sich, Kafka habe sich bei gemeinschaftlichen Korrekturprozeduren regelrecht als „fanatischer Anhänger solcher ,Pedanterie‘, was Interpunktionszeichen anbelangt“ (Brod 1974: 350), erwiesen und dabei „selbst immer sehr eifrig Jagd“ nach „gewissen in Prag üblichen Sprachfehlern“ (Brod 1974: 352) gemacht. Daneben finden sich auch Beispiele für einen persönlichen Selbsttadel wegen gelegentlicher Nachlässigkeiten in punkto Sprachrichtigkeit. Gegenüber Felice Bauer räumte Kafka z. B. einmal ein, „wie unsicher und voll Schreibfehler“ er schreibe, ehe er sich „an die wirkliche Welt gewöhne“ (Kafka 1999a: 287). Weitere Selbstzeugnisse eines fast schon ängstlichen Bemühens um sprachliche Korrektheit seiner für den Druck vorgesehenen Prosa finden sich in Kafkas Briefverkehr mit Max Brod. Hier teilte er dem Freund etwa mit, daß im Unglücklichsein einige kleine aber häßliche Schreib- und Diktierfehler sind, die ich aus meinem Exemplar entfernt habe, während sie in Deinem geblieben sind. Da sie mir Sorgen machen, schick es mir gleich zurück, Du bekommst es verbessert wieder (Kafka 1999a: 165).

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2

Das grundsätzliche Bemühen Kafkas um ein normkonformes Schriftdeutsch darf inzwischen zum Wissensbestand der Forschung gezählt werden, zuletzt vertreten von Čermák (1994: 60), Schütterle (2002: 33), Timms (2005: 269), Jahraus (2006: 50–51), Blahak (2007b: 191; 2008a: 80) und Bauer (2008a: 58–59). Gelegentlich scheinen solche Bestrebungen auch schon vor einer Veröffentlichungsabsicht nachweisbar zu sein: Pasley (21983: 80) etwa glaubt, eine im Verlauf der Niederschrift des Schlosses leicht zunehmende Tendenz Kafkas zu erkennen, landes- oder fremdsprachliche Formen zu vermeiden.

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

Als er die Erzählungen der Betrachtung ordnete, stellte Kafka (1999a: 166) mit Bestürzung fest: „Es ist auch eine Anzahl kleiner Schreibfehler drin, wie ich jetzt bei dem leider ersten Lesen einer Kopie sehe. Und die Interpunktion!“ Bei dem Versuch, den Band für die anstehende Veröffentlichung sprachlich zu vervollkommnen, gestand er verzweifelt ein: „Es gibt in diesen Stückchen ein paar Stellen, für die ich 10 000 Berater haben wollte“ (Kafka 1999a: 165–166). Kaum geringer war Kafkas Gewissenhaftigkeit, wenn ein Prosa-Text bereits für den Druck eingerichtet war und in der Druckfahne Fehler auftauchten, die wohl z. T. im Verlag beim manuellen Setzen entstanden waren. So bat Kafka einmal um eine zweite Revision des von ihm bereits an den Kurt Wolff Verlag zurückgesandten Korrekturbogens zum Heizer, denn es seien „so viele wenn auch nur kleine Korrekturen notwendig geworden, daß diese Revision unmöglich genügen kann“ (Kafka 1999b: 173). Im Vorfeld der Publikation des Urteils hatte er ferner von Kurt Wolff offenbar einen zweiten Korrekturbogen angefordert und zeigte sich über dessen Erhalt erleichtert, „denn auf Seite 61 steht ein schrecklicher Druckfehler“ (Kafka 1999b: 126). Als Ein Landarzt in Buchform erscheinen sollte, verwahrte sich Kafka gegenüber Wolff dagegen, den vom Verleger offenbar als fehlerlos beurteilten Text nicht nochmals anhand einer Korrekturfahne durchsehen zu können: „Verstehe ich Ihre Bemerkung über den Druck des Buches recht, so soll ich keine Korrekturen bekommen, das wäre schade“ (Kafka 2013: 55). Letztlich setzte Kafka seinen Willen in dieser Angelegenheit auch durch (Wolff 1966: 51). Selbst auf dem Sterbebett war Kafka noch mit der Korrektur von Textfahnen beschäftigt (Richter 1962: 11; Corngold 2008: 162). Ein Blick auf die in Kafkas Drucken zu Lebzeiten feststellbaren Lesarten verrät, dass diese zu ca. zwei Dritteln Änderungen in der Interpunktion betreffen. Dabei wird v. a. anhand des exemplarischen Vergleichs mehrerer Ausgaben eines Textes Kafkas „Zug zum ,Korrekten‘ oder ,Pedantischen‘“ (Dietz 1963: 447) und sein Bemühen, die Zeichensetzung variabler zu gestalten, deutlich: Kafkas Änderungen deuten sämtlich auf eine „Normalisierung“ hin. […] In jeder Erzählung werden bei jeder Überarbeitung mehr Satzzeichen als zuvor verwendet, und nicht mehr Komma und Punkt beherrschen ausschließlich das Feld des Satzes, vielmehr werden nun außer Semikolon auch Frageund Ausrufezeichen eingestreut […]. Ja, diese Tendenz Kafkas, […] die Satzzeichen möglichst ,korrekt‘ und dem ,allgemeinen deutschen Gebrauch‘ entsprechend zu setzen, ist manchmal so stark, daß Kafka den rhythmischen Bogen seiner Sätze unwissentlich selbst zerstört (Dietz 1963: 447–448).

Sozialpsychologisch geprägte Repräsentativität vs. Sondersituation

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Dietz (1963: 451) führt zudem Beispiele für Kafkas „Ausmerzung mundartlicher Reste (Pragismen und Austriacismen), soweit als solche erkannt“, aus der für eine Veröffentlichung überarbeiteten Prosa an. Kafkas Einstellung erweist sich hier im Prinzip als durchaus typisches Ergebnis der bürgerlichen Spracherziehung des 19. Jahrhunderts. Diese zielte auf die völlige Verinnerlichung bestimmter als hochsprachlich empfundener Sprachnormen und ‑werte ab und konnte im äußersten Fall sprachliche Normverstöße geradezu als physisch ekelerregend vermitteln. Die Sprache geriet dabei zum zentralen Formelement bürgerlicher Kultur. Ihr enges Verhältnis zur Bildung erhielt einen regelrechten Toposcharakter. Hochsprachliche Ausbildung nach bestimmten Normen wurde zur ,ersten Bürgerpflicht‘, wobei die Opposition ,richtig vs. falsch‘ nach der Mitte des 19. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung erhielt (Linke 1996: 232–235; 2008: 51).3 Mit Blick auf Franz Kafkas „spätere[n] Purismus in Grammatik und Wortgebrauch“ hat Klaus Wagenbach (1958: 39–40) auf einen möglichen Einfluss des strengen Unterrichts von Kafkas Latein- und Griechischlehrer Emil Gschwind am Altstädter Gymnasium und dessen Forderung nach ,mustergültigem deutschem Ausdruck‘ aufmerksam gemacht. Hier sei Kafka erstmals eindringlich auf ,sprachliche Sauberkeit‘ hingewiesen worden. Kafkas spätere Stilgebung baute zudem teilweise auf der antiken Rhetorik auf, die Gschwind seine Schüler nach einem üblichen, im Lehrplan vorgeschriebenen Verfahren durch das Memorieren grammatischer Mustersätze erlernen ließ (Frey 1970; Binder 1976c: 21–25; 1979a: 204–205). Der bürgerliche Sprachunterricht des 19. Jahrhunderts betonte die Vereinheitlichung der Schriftsprache aber v. a. vor dem Hintergrund einer Nationalliteratur, die als ,gemeinsam‘ empfunden wurde (Vesper 1989: 250). Um das Deutsche „als eine zur Klassizität ausgebildete Sprache und somit prestigebesetzte Ersatzvarietät humanistisch zu konnotieren und damit aufzuwerten“ (Ziegler 1999: 93), wurde die anvisierte Schriftsprache schulisch mit Vorzug anhand des Sprach- und Stilideals der Klassiker vermittelt. Dieser KlassikerMythos vermochte eine kollektive Sprachidentität und ein einheitliches Sprach­ideal im Bewusstsein der Sprecher des Deutschen zu stiften.

3

Das Bürgertum zielte dabei weniger darauf ab, den Geltungsanspruch der Standardsprache durchzusetzen. Die Orientierung an ihr diente vielmehr dazu, den eigenen sozialen Anspruch darauf, der tonangebenden Schicht anzugehören, anzumelden und sich mittels der Ächtung substandardlicher Varietäten des Deutschen gegenüber niedrigeren Gesellschaftsschichten abzugrenzen (Linke 1996: 260; 2008: 55).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

Ausgangspunkt des gymnasialen Aufsatzunterrichts war die Auffassung, daß der Aufsatz ein Gradmesser der Gesamtbildung, ein Dokument der geistigen Reife überhaupt sei. Hauptaugenmerk wurde deshalb auf die Stilbildung gelegt. Diese erwarb man […] durch das gründliche Studium der Sprache der Klassiker […], in erster Linie Goethe[s], aber auch Lessing[s] und Schiller[s] (Ziegler 1999: 92).

Eine prägnante, dem Sprachenkampf in den böhmischen Ländern entsprungene Verdichtung dieser Perspektive findet sich etwa bei Heinrich Teweles (1884: 122), der konstatierte: „Wer […] die Dichtungen Schillers und Goethes nicht versteht […], der kann einfach nicht deutsch.“ Eine solche frühe sprachliche Bildung anhand der Klassiker lässt sich auch für Franz Kafkas schulischen Deutschunterricht nachweisen. Ferdinand Deml, Kafkas Deutschlehrer in den ersten drei Gymnasialjahren, propagierte eine sprachliche Schulung an den „vorzügliche[n] Muster[n]“ der alten Klassiker (Caesar, Xenophon, die Grimm’schen Märchen und Goethe) und zog etwa Lessings Fabeln als „eine rechte Schule knappen gedrängten Ausdrucks“ (Deml 1896: 15) zu formal-stilistischen Übungen heran (Binder 1979a: 197). Kafkas Grammatikunterricht, welcher der Deutschen Schulgrammatik von Karl Ferdinand Kummer (31892) folgte, beanspruchte etwa ein Drittel des Deutschunterrichts und sah in Kafkas drittem Schuljahr u. a. eine vollständige Betrachtung der Syntax des zusammengesetzten Satzes vor. Dabei wurden über bloße Sprachrichtigkeit hinausgehende stilistische Aspekte besonders berücksichtigt (Binder 1979a: 197): Anhand von Beispielen aus den Werken Schillers und Goethes wurde u. a. von Satzgefügen mit mehrfachen Unterordnungen abgeraten und die Ausgewogenheit der Satzglieder als Ideal festgelegt (Kummer 31892: 156). Die Analyse der Syntax von Kafkas Prosa erweist auch tatsächlich, dass sich Kafka Zeit seines Lebens an diesen Prinzipien orientierte.4 Besonders vermittels der Lesebuch-Texte seiner letzten drei Gymnasialjahre kam er mit Lessing, Herder, Kleist, dem Göttinger Hain, den Dichtern der Romantik und dem schwäbischen Dichterkreis, v. a. aber wiederum mit Schiller und Goethe in Berührung, deren Werken der Deutschunterricht in Kafkas vorletztem Schuljahr fast ausschließlich gewidmet war (Wagenbach 1958: 56–57).

4

S. hierzu v. a. die Studien von Binder (1966: 307–330; 1976b: 710–715; 1979a: 197; 1983: 381–383), aber auch Kobs (1970: 116–118).

Sozialpsychologisch geprägte Repräsentativität vs. Sondersituation

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Kafkas lebenslange Wertschätzung der Literatursprache Goethes als vorbildhaft und anregend5 schreibt Binder (1979a: 201) dem Einfluss des Goethe-Verehrers Josef Wihans zu, der Kafka in den beiden letzten Gymnasialklassen in Deutsch unterrichtete. Eine Affinität zur Sprache der deutschen Klassiker offenbarte Kafka u. a. auch, als er sich einmal bemühte, die Tante der Tschechin Milena Jesenská für die Deutschen einzunehmen, und dabei die Schönheit der deutschen Sprache anhand der Lyrik Eichendorffs und Kerners zu veranschaulichen versuchte: [N]ur die Deutschen sollte sie [die Tante] nicht gar so sehr hassen, die Deutschen sind wunderbar und bleiben es. Kennen Sie von Eichendorff das Gedicht „O Täler weit, o Höhen!“ oder von Justinus Kerner das Gedicht von der Säge? Wenn Sie sie nicht kennen, werde ich sie Ihnen einmal abschreiben (Kafka 21983b: 305).

Die Jahresberichte des Altstädter Gymnasiums und die darin angegebenen Lehrbücher lassen die Rekonstruktion eines Aufsatzunterrichts zu, der auch immer eine starke formale Schulung zum Ziel hatte und dessen rhetorische Übungen z. T. von der deutschen (Klassiker‑)Lektüre ausgingen:6 Nach schriftlichen Stilübungen im ersten Schuljahr folgte im Untergymnasium die Form der Beschreibung und der Schilderung. Goethes Prosa wurde dabei – auch nach Empfehlung der benutzten Grammatik – explizit für die Gattung der Erzählung herangezogen (Binder 1979a: 202–203). Letztlich führen die Profilskizze von Kafkas schulischem Deutschunterricht, der syntaktische Befund in seiner zu Lebzeiten erschienenen Prosa, sein wiederholter Selbsttadel wegen nachlässiger Einhaltung standardsprachlicher Grundsätze und seine gleichzeitig an den Tag gelegten Perfektionierungsbemühungen zu folgendem Schluss: Kafka fasste die Beherrschung schriftsprachlicher Normen im Deutschen als Teil seines emotional internalisierten Wertesystems auf und erwies sich mit dieser Einstellung als repräsentativ für seine Zeit und die deutschsprachige bildungsbürgerliche Schicht, der er angehörte. So konnten Normdefizite in seinen Augen sogar zum Charakterisierungsmerkmal anderer Personen geraten, etwa einer „sehr brave[n], aber ohne Orthographie dahinlebende[n] Tante“ (Kafka 2005: 85). 5

6

Vgl. Kafka (1990b: 49, 126–127, 328, 358, 368–369, 374, 376, 1032). Auch Brod (1969a: 149) bestätigte, Goethe habe zu Kafkas literarischen „Lehrmeistern“ gehört. Diese Verehrung hielt Kafka allerdings nicht davon ab, die Vorbildlichkeit Goethes auch zu problematisieren: „Goethe hält durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der deutschen Sprache wahrscheinlich zurück“ (Kafka 1990b: 318). Zu einigen Aufsatzthemen und ihren lektürebezogenen Ausgangspunkten s. Nekula (2003a: 141).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

3.1.2  Verunsicherungsfaktoren: Kafkas Zweifel an der eigenen Normkompetenz im Deutschen Diesen offenbar klaren, im Laufe der Sozialisierung angenommenen Richtlinien standen die ,Unsicherheit‘ Kafkas in schriftsprachlichen Belangen (Brod 31954a: 153, 300) und seine mit ihr verbundenen Bedenken gegenüber. Vier sprachsoziologische Bewusstseinsfelder lassen sich dabei als potentiell ursächlich ausmachen. Die ersten beiden dürfen prinzipiell als zeittypisch und für weite Kreise des deutschsprachigen Bürgertums um 1900 gelten. Die beiden anderen verweisen dagegen auf eine duplizierte Sondersituation, die eng mit den nationalen, sprachlichen und sozialen Verhältnissen der Stadt Prag verknüpft war.7 Alle vier zusammen konnten sich zweifellos potenzieren und standen dem in Kap. 3.1.1 beschriebenen Streben nach einer als Wert an sich verinnerlichten normgerechten Verwendung des Schriftdeutschen zeitweilig hemmend gegenüber. 3.1.2.1  Die sprachkritische Situation um 1900 Kafkas Verhältnis zur Sprache war nicht auf Vertrauen gegründet. Wenn überhaupt etwas in der Deutung seiner Schriften als sicher und verlässlich gelten kann, so ist es immerhin dies. Die tiefgreifende Skepsis gegenüber den Möglichkeiten sprachlicher Verständigung, die bei Kafka stets prekäre Beziehung zwischen Wort und Bedeutung können in Anbetracht der zahllosen sprachkritischen Äußerungen in Korrespondenz und Tagebuch sowie der vielfältigen Formen des Missverstehens und verbalen Scheiterns, von denen das Erzählwerk handelt, kaum ernstlich bezweifelt werden (Schmidt 2007: 31).

Grundsätzlich sind Kafkas Überlegungen zur Sprache als Teil der europäischen Sprachkritik der Zeit aufzufassen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einem Höhepunkt allgemeiner Hinterfragung des Mediums Sprache. Bezogen auf den engeren Kulturkreis, in dem Kafka sich bewegte, ist diese auf theoretisch-wissenschaftlicher Ebene besonders mit Fritz Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache (1901–1902), auf poetischer Ebene vornehmlich mit Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief (1902) verknüpft. Der geistes- und zeitgeschichtlichen Motivation, der diese Kritik entsprang, lag das ,spätzeitliche‘ Bewusstsein zugrunde, sich in der fragwürdigen Rolle des Nachgeborenen, des Epigonen zu befinden.

7

S. hierzu Kap. 2.2.

Sozialpsychologisch geprägte Repräsentativität vs. Sondersituation

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Die Reduktion der Sprache auf ein (lediglich denotierendes) Instrument zur Vermittlung endlicher und abrufbarer Daten bildete Bedingung und Folge zugleich einer inflationierten Kommunikation, die für die Epoche der Mechanisierung signifikant war (und ist) (Heintz 1983: 25).

Die produktionsästhetische Ausgangsbasis von Kafkas Schrifttum, dessen auffälliges Motiv das Problem sprachlicher Verständigung auf schriftlichem wie mündlichem Wege ist, bildete das lebenslange Spannungsverhältnis Kafkas zwischen seiner leidenschaftlichen Bindung an das Schreiben und seinem kategorischen Zweifel an jedem Wort. Insofern kann in seiner Poetik ein Extremfall der zeittypischen Dialektik von Liebe zur Sprache und deren Verleugnung gesehen werden, der „womöglich wichtigsten Aporie im ästhetischen Diskurs seiner Zeit, der Literatur des Fin de Siècle“ (Schmidt 2007: 34). So beschwor Kafka einerseits immer wieder seine völlige, geradezu kompromisslose Hingabe an das Schreiben: In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden (Kafka 1990b: 341). Mein Glück, meine Fähigkeiten und jede Möglichkeit irgendwie zu nützen liegen seit jeher im Litterarischen (Kafka 1990b: 34), meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf (Kafka 1990b: 579). Mein Leben besteht und bestand im Grunde von jeher aus Versuchen zu schreiben (Kafka 1999a: 202), nur der Wellengang des Schreibens bestimmt mich […]. Meine Lebensweise ist nur auf das Schreiben hin eingerichtet (Kafka 1999a: 203), die ergiebigste Richtung meines Wesens (Kafka 1990b: 341), meine einzige innere Daseinsmöglichkeit (Kafka 1999b: 171), mein eigentliches gutes Wesen (Kafka 1999b: 216).

Eindringlich bezeugte er vielerorts eine förmliche – teilweise sogar physische – Identität seines Daseins mit der Tätigkeit des Schreibens.8 In ihr, so Kafka, manifestiere sich „[n]icht ein Hang“ (Kafka 1999b: 269), sondern er selbst, „[s]ein wirkliches Leben“ (Kafka 1990b: 341): Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein (Kafka 1999b: 261). Mein ganzes Wesen ist auf Litteratur gerichtet […]; wenn ich sie einmal verlasse, lebe ich eben nicht mehr (Kafka 1999b: 271). Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich, […] durch mein Schreiben halte ich mich ja am Leben (Kafka 1999b: 15). Schone ich mich also darin, dann schone ich mich, richtig gesehn, eigentlich nicht, sondern bringe mich um (Kafka 1999a: 214).

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S. hierzu Kap. 4.4.12.

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Andererseits bezeichnete Kafka das von ihm Geschriebene häufig als unter-mittel-mäßig (Kafka 1958: 392), schlecht (Kafka 1958: 413, 486; 1990b: 51, 87, 340, 585; 1999a: 229, 284; 1999b: 14, 18, 21; 2013: 132), elend (Kafka 1990b: 731; 1999b: 20), nutzlos (Kafka 1999b: 129), zu verwerfen, gänzlich unbrauchbar (Kafka 1990b: 172, 294; 1999b: 128), minderwertig (Kafka 1990b: 706; 1999a: 161), nichts selbständiges (Kafka 1990b: 681), verkümmert (Kafka 1990b: 713), mißlungen (Kafka 1990b: 675, 678; 1999b: 156; s. a. Kafka 1990b: 414, 419), [u]nlesbar, [u]nvollkommen (Kafka 1990b: 624), roh (Kafka 1999a: 229), trocken (Kafka 1990b: 294), stumpf (Kafka 1999b: 20), schwächlich (Kafka 1990b: 678), unzulänglich (Kafka 1999b: 179), lächerlich (Kafka 1990b: 711), [j]ämmer[lich] (Kafka 1990b: 709), widerlich (Kafka 1999b: 99), Machwerk (Kafka 2005: 312), Flickarbeit (Kafka 1990b: 922), immer nur abreißende Anfänge (Kafka 1990b: 227).

Verglichen mit der Häufigkeit solcher selbstkritischen, z. T. geradezu selbstverdammenden Bemerkungen äußerte Kafka nur selten, er sei mit seiner Schreibproduktion zufrieden oder akzeptiere sie wenigstens. Den hohen künstlerischen Anspruch, den er an seine Prosa stellte, sah er offenbar nahezu niemals erfüllt. In dieser Divergenz manifestiert sich die fundamentale Skepsis der (Post-)Moderne gegenüber der Repräsentationsfähigkeit der Sprache bzw. gegenüber der Verlässlichkeit der Übereinstimmung von Sprache und Realität. Sie ging bereits in Kafkas früheste Prosa-Werke ein (Kafka 1993aI: 8) und blieb lebenslang, von Schaffensphasen weitgehend unabhängig, bestehen. [W]ie die beständig erprobten und revidierten Lektüren und Schriftexegesen, die Kafka immer wieder seinen Protagonisten zumutet, enden zumeist auch deren Dialoge in Missverständnis und Verwirrung. […] Der Zweifel am Wort in Schrift und Rede, am ,Zeichen‘ selbst, in seiner verbalen wie ikonographischen Gestalt, hat damit nicht nur in den poetischen Bildern und Motivkomplexen von Kafkas Werk, sondern auch – inhaltlich – in der von ihm behandelten Thematik unverkennbar Spuren hinterlassen (Schmidt 2007: 34–35).

Kafkas durchaus zeittypisches Zweifeln an den Möglichkeiten literarischer Ausdrucksweise schlug sich darüber hinaus in permanenten Äußerungen des Misstrauens v. a. gegenüber der geschriebenen Sprache nieder. Die „unzureichende oder sogar verfälschende Übertragungsleistung“ (Alt 1985: 456) der Sprache, die er bereits im direkten Gespräch wahrnahm, erfuhr in seinen Augen im Medium der Schrift noch eine Verschärfung (Schmidt 2007: 36): So sah Kafka etwa in brieflicher Kommunikation eine potentielle „Täuschung“ (Kafka 21983b: 303) und klagte: „Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel“

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(Kafka 2005: 98). Seine „krampfhafte Angst vor dem Aussprechen eines Wortes“ übertrug er auch auf seine Literaturproduktion und stellte fest, er „suche nur immerfort etwas Nicht-Mitteilbares mitzuteilen, etwas Unerklärbares zu erklären“ (Kafka 2013: 372): Kein Wort fast das ich schreibe paßt zum andern, ich höre wie sich die Konsonanten blechern an einander reiben und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger. Meine Zweifel stehn um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort, aber was denn! ich sehe das Wort überhaupt nicht, das erfinde ich (Kafka 1990b: 130). Mein ganzer Körper warnt mich vor jedem Wort; jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben lässt, schaut sich zuerst nach allen Seiten um; die Sätze zerbrechen mir förmlich, ich sehe ihr Inneres und muß dann aber rasch aufhören (Kafka 1999a: 131).

Den Höhepunkt seiner Kritik medialer Übertragungsfähigkeit erreichte Kafka, als er geradezu paradox die Fragwürdigkeit eines Mediums in diesem selbst ausdrückte und damit eine geradezu extreme Sprachskepsis, „die selbst vor ihrem eigenen Ausdruck nicht Halt macht“ (Schmidt 2007: 35), an den Tag legte: „Wenn ich also nicht schreibe, so hat das […] ,strategische‘ Gründe, ich vertraue Worten und Briefen nicht […]. Besonders Briefen vertraue ich nicht“ (Kafka 1958: 452).9 Aus geistesgeschichtlicher Sicht weisen Kafkas Sprachzweifel dabei „über den engeren Kreis der Prager deutschen Literatur hinaus, indem sie zugleich den Nerv der literarischen Epoche treffen“ (Schmidt 2007: 39). 3.1.2.2  Die Normdivergenz im deutschen Sprachraum im frühen 20. Jahrhundert Ein zweiter gesellschaftlich wirksamer Faktor sprachlicher Ambivalenz, der den Schriftgebrauch im deutschen Sprachraum noch lange nach Kafkas Schulzeit schwanken ließ, war in den regional divergierenden Normvorstellungen von der deutschen Standardsprache gegeben. Allein die Schaffung einer einheitlichen Rechtschreibung erwies sich als langwieriger Prozess: Die 1876 in Berlin zu diesem Zweck zusammengetretene Konferenz reichsdeutscher Gelehrter (VDRK 1876) verunsicherte die Öffentlichkeit in orthographischen Fragen mehr, als sie Gewissheit schaffte; denn die hier erarbeiteten Empfehlungen

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Im Widerspruch dazu diente Kafka das Medium Brief allerdings häufig als Ersatz für direkte Gesprächssituationen, in welchen er sich nicht immer adäquat ausdrücken zu können glaubte (vgl. Kap. 4.3.2.1).

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wurden allein in Österreich ab 1879 in den Schulen verpflichtend. Im Deutschen Reich galten dagegen weiterhin sechs verschiedene Schulorthographien; in der Schweiz wurde ein weiteres Regelbuch verwendet. Die in Kafkas Abiturjahr (1901) einberufene Zweite Berliner Orthographische Konferenz führte zwar schließlich zur Approbation der preußischen Schulorthographie durch alle deutschen Länder, Österreich und die Schweiz (Bramann 1987: 107–114; Nerius 42007: 342–345, 350);10 der ab 1903 im Schulunterricht und im amtlichen Schriftverkehr verbindliche Rechtschreibe-Duden konnte allerdings nicht mehr per Sprachunterricht Einfluss auf Kafkas Orthographie nehmen. Zudem ist davon auszugehen, dass sich die neue Regelung generell nicht schlagartig in allen Teilen des deutschen Sprachraums gleichermaßen etablierte, sondern erst allmählich flächendeckend von der Bevölkerung angenommen wurde. So können Kafkas zeitweilige „Verzweiflung über die Ungewissheit von Interpunktionsregeln, orthographischen Details“ (Brod 31954a: 153) und seine „etwas veraltete Rechtschreibung (die seltsamerweise auch schon 1920–1923 […] nicht mehr ganz modern war)“11 (Haas 1952: 287) exemplarisch für in Kafkas Generation weit verbreitete Phänomene beim Gebrauch der deutschen Schriftsprache gesehen werden. Als zusätzliches Verunsicherungsmoment kam die um 1910 bestehende Normdivergenz im deutschen Sprachraum hinzu. Namentlich deutschschreibende Autoren, die in der k. u. k. Monarchie sozialisiert waren, sich aber auch außerhalb Österreich-Ungarns auf dem Buchmarkt durchsetzen wollten, mussten durch die Wahrnehmung unterschiedlicher Normvorstellungen in Zweifel hinsichtlich der regionalen Gebundenheit ihrer eigenen Schriftsprache geraten. Dass Kafka den Wunsch nach überregionaler Rezeption mit vielen Prager Schriftstellern teilte, lässt sich u. a. daraus folgern, dass er größere Buchpublikationen möglichst in Leipziger (Ernst Rowohlt, Kurt Wolff ) und Berliner (Die Schmiede) Verlagen zu realisieren versuchte.12 Hierin folgte er der Publikationsstrategie seiner engen Freunde Max Brod und Felix Weltsch13 sowie anderer Prager Autoren-Kollegen, die

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Getrennt- und Zusammenschreibung sowie Interpunktion wurden allerdings nicht geregelt. Erst 1915 erschienen im Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter Interpunktionsvorschriften in einem überregionalen Regelwerk (Schmidt-Wilpert/Lappé 1981: 394). Eine Präferenz veraltender Schreibweisen stellt auch Nekula (2003a: 90–91, 93) im Falle von Kafkas Briefen fest. Er führt diese allerdings auf eine bewusste Selbststilisierung zurück. Kürzere Texte erschienen dagegen v. a. in österreichischen bzw. Prager Periodika und Tageszeitungen (u. a. im Prager Tagblatt, in der Oesterreichischen Morgenzeitung, der Selbstwehr, der Prager Presse und der Bohemia). S. hierzu Kap. 1.8.1.6. Brod veröffentlichte seine Prosa in erster Linie in Leipzig (Seemann, Tal-Verlag, Rowohlt), Berlin ( Juncker, Löwit, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Zsolnay, Rowohlt, Welt-Verlag) und München (Wolff ). Weltschs Werke erschienen u. a. in Leipzig (Wolff, Neuer Geist-Verlag) und München (Wolff ).

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ebenfalls die Veröffentlichung im Deutschen Reich bevorzugten.14 Gerade reichsdeutsche Verlage müssen Kafka allerdings immer wieder vor Augen geführt haben, dass die in Leipzig und Berlin bestehenden Normerwartungen z. T. merklich von der ihm vertrauten Praxis abwichen. Zeugnis hiervon legen die zahlreichen Verlagseingriffe in die zu Kafkas Lebzeiten erschienenen Schriften ab (Kafka 1996). Der private Umgang mit Personen aus dem Deutschen Reich dürfte diese Erfahrungen noch verstärkt haben (z. B. Kafka 1990b: 1050; 1999b: 148). Welches Verunsicherungspotential solchen intervarietären15 Kontakten auf hochsprachlicher Ebene innewohnte, zeigt exemplarisch Kafkas Streit mit der aus Berlin stammenden Felice Bauer über die korrekte Verwendung der temporalen Subjunktion bis. Als Kafka seiner Verlobten in dieser Meinungsverschiedenheit letztendlich Recht geben musste (Kafka 2005: 327–328, 345; 1990b: 327–328, 722), zog dies sein Selbstwertgefühl ernsthaft in Mitleidenschaft (Bauer 2008a: 59). In Wiederholungsfällen mussten solche ,Berichtigungen‘ durch Exponenten des reichsdeutschen Standards Kafka phasenweise an der Angemessenheit seines Sprachgebrauchs zweifeln lassen. So verwundert es nicht, dass er sich in seinen akribischen Bemühungen um Ausmerzung regional markierter sprachlicher Formen16 in Fällen von Ungewissheit über den ,richtigen‘ Gebrauch der Schriftsprache zum einen an überregionalen Sprachkodizes17 orientierte und sich zum anderen an Ratgeber aus seinem Prager Freundeskreis wandte, in welchen er Kenner des reichsdeutschen Standards sah.18 Man ist versucht, Reflexe der „oft langdauernden, mühsamen Debatten über einen Beistrich, eine grammatische Form“, die Brod (1974: 350) mit Kafka führte, wenn sie „gemeinsam die Korrektur seiner Werke erledigten“, auch in Kafkas Prosa ausfindig zu machen. Im Verschollenen findet sich tatsächlich eine motivisch korrespondierende Szene: In ihr diskutieren die drei germanophonen Amerika-Emigrierten Karl Roßmann, die Hauptfigur des Romans, Grete Mitzelbach, die Oberköchin des Hotels Occidental, und Therese Berchtold, ihre Sekretärin, über die sprachliche Korrektheit von Karls

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Egon Erwin Kisch z. B. publizierte vorwiegend in Berliner Verlagen (Reiss, Kaemmerer, Die Schmiede). Als ,intervarietär‘ wird im Folgenden der sprachliche Kontakt von Sprechern unterschiedlicher Varietäten ein und derselben Sprache bezeichnet. S. hierzu Kap. 3.1.1. Besonders das Grimm’sche Wörterbuch stellte für ihn die Entscheidungsinstanz in Fragen der Sprachverwendung dar (Brod 31954: 300; 1969a: 150; 1974: 352; Kafka 2005: 327–328). S. hierzu Kap. 1.8.1.6. Diese Funktion übten Felix Weltsch (Kafka 1990b: 722; 2005: 327–328, 345) und Max Brod (31954a: 153, 300; 1974: 350) für Kafka aus. S. hierzu Kap. 1.8.1.6.

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Schreibübungen im Englischen, das dieser erst kurz zuvor zu lernen begonnen hat. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Textauszug als Parabel auf Kafkas ,Ringen‘ um die Norm. Denn die an der Diskussion Beteiligten wurden zuvor in der Romanhandlung wohl nicht zufällig durch ihre Herkunft aus Prag, Wien und Pommern auch zu Exponenten verschiedener Gebrauchsstandards des Deutschen stilisiert: des Prager, des österreichischen und des ,reichsdeutschen‘: Bei den Zusammenkünften korrigierte nun Therese mit übergroßer Umständlichkeit, es ergaben sich strittige Ansichten, Karl führte als Zeugen seinen großen Newyorker Professor an, aber der galt bei Therese ebenso wenig wie die grammatikalischen Meinungen der Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder aus der Hand und strich die Stelle von deren Fehlerhaftigkeit sie überzeugt war durch, Karl aber strich in solchen Zweifelfällen, trotzdem im Allgemeinen keine höhere Autorität als Therese die Sache zu Gesicht bekommen sollte, aus Genauigkeit die Striche Theresens wieder durch. Manchmal allerdings kam die Oberköchin und entschied dann immer zu Theresens Gunsten, was noch nicht beweisend war, denn Therese war ihre Sekretärin (Kafka 2002I: 204).

Doch ist die durch ein Normdivergenz-Bewusstsein geprägte latente Ungewissheit Kafkas beim Gebrauch der Schriftsprache – ebenso wie sein generelles Zweifeln am Medium Sprache – letztlich als zeittypisch zu werten. Keinesfalls stellt sie einen Beleg dafür dar, dass bei ihm, wie man Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit Prags oft nachsagte, „ein ursprünglich sicheres Sprachgefühl nicht vorhanden war“ (Wagenbach 1958: 90). 3.1.2.3  Das Autostereotyp der unvollkommenen (sprachlichen) Assimilation der ,zweiten jüdischen Generation‘ Ein dritter, nun soziographisch-regionaler, im Falle Kafkas zudem biographisch determinierter Faktor sprachlicher Verunsicherung ist vor dem Hintergrund der besonderen Situation des Prager Judentums denkbar. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Autostereotyp von der unvollkommenen Assimilation der ,zweiten jüdischen Generation‘, deren Eltern als Erste die Judengassen der innerböhmischen Landgemeinden verlassen hatten. Auch wenn Kafka dem chauvinistischen deutsch-tschechischen Konflikt um Sprache und politischen Einfluss in den böhmischen Ländern prinzipiell ablehnend gegenübergestanden sein dürfte,19 scheint er die zeittypische Auffassung geteilt zu haben,

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S. hierzu Kautmann (1996: 45), Nekula (2002b: 111; 2003a: 37–39; 2006: 134) und Koch (2007: 42).

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die Sprachgemeinschaft sei die eine Nation bindende Klammer, die Muttersprache der „tönende Atem der Heimat“ (Kafka, zit. nach Janouch 21968: 156). Ein literarischer Reflex dieses Denkmusters findet sich erneut im Verschollenen: Als der exilierte Prager Roßmann im Hotel Occidental auf die 30 Jahre zuvor aus Wien in die USA eingewanderte Oberköchin trifft, konstituiert sich, spontan und formelhaft dreifach beschworen, eine Landsmannschaft aufgrund der gemeinsamen Muttersprache:20 „Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Karl, „ich bin noch nicht lange in Amerika.“ „Von wo sind sie denn?“ „Aus Prag in Böhmen“, sagte Karl. „Sehn Sie einmal an“, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, „dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. […] Jetzt da es sich herausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun […].“ […] „Dann wünsche ich Ihnen viel Glück“, sagte Karl. „Das kann man immer brauchen“, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war. […] „Aber ich halte Sie hier auf […]. Die Freude einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos […]“ (Kafka 2002I: 171–173).

Angesichts des zeittypischen Sprache-Nation-Begriffs, der Muttersprache und ethnische Herkunft aufs Engste verknüpfte,21 musste Kafka allerdings bei kritischer Betrachtung auffallen, dass beides in seinem Fall nicht widerspruchsfrei zur Deckung gebracht werden konnte. Zwar attestierte er sich ein vom Vater ererbtes „Nichts vom Judentum“ (Kafka 1992I: 186), einen durch „Ablagerungen fremden Lebens“ (Kafka, zit. nach Janouch 2 1968: 85) bedingten „Mangel jedes festen jüdischen Bodens unter den Füßen“ (Kafka 1958: 404) und erachtete diesen Zustand als charakteristisch für einen „großen Teil dieser jüdischen Übergangsgeneration, welche vom verhältnismäßig noch frommen Land

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Zwei Einwohner der cisleithanischen Reichshälfte Österreich-Ungarns waren zwar schon aus staatsrechtlicher Sicht ,Landsleute‘; die Begriffe „Deutscher“, „Deutsch“ und „Deutschsprechen“, die das dreifache „Landsmann“ bzw. „Landsleute“ flankieren, lassen jedoch genauso eine sprachgemeinschaftliche Interpretation zu. Auch Kafka sah dieses sprachnationale Denkmuster offenbar prinzipiell als gültig an: Während er im Alltag durchaus zwischen ,österreichisch‘, ,deutschböhmisch‘ und ,reichsdeutsch‘ unterschied, konnte er unter sprachlichem Gesichtspunkt der Ansicht sein, dass er in Prag auch „in Deutschland“ (Kafka 1990b: 102) sei, worunter er offenbar den deutschen Sprachraum verstand (Koch 2007: 35–37). Auch die Begriffe ,Italien‘, ,Italiener‘ oder ,italienisch‘ verwendete er, ohne zwischen der jeweiligen staatlichen Zugehörigkeit (Italien, Österreich-Ungarn, Schweiz) zu unterscheiden (Blahak 2012: 187). Entsprechend teilte er die Bewohner der Schweiz nach Sprachgebieten in „Deutsche, […] Franzosen und Italiener“ (Kafka 1990b: 983–984) ein.

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in die Städte abwanderte“ (Kafka 1992I: 189). Zugleich stellte er aber fest, es sei nicht zum vollständigen Aufgehen der böhmischen Juden in der von den Vätern anvisierten deutschen bürgerlichen Zielkultur gekommen, was zu einer „schrecklichen inneren Lage dieser Generationen“ (Kafka 1958: 337) führe. Das Paradoxon der Unabstreifbarkeit des väterlichen Judentums, an dem er gleichwohl keinen Anteil mehr hatte, brachte Kafka eindringlich zum Ausdruck, als er die Situation des auf Deutsch schreibenden jüdischen Schriftstellers erläuterte: [A]ber warum lockt es die Juden so unwiderstehlich dorthin [zum Schreiben auf Deutsch]? […] Besser als die Psychoanalyse gefällt mir in diesem Fall die Erkenntnis, daß dieser Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum […] wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden (Kafka 1958: 337).

Als Exponent seiner sozialen Schicht sah sich Kafka somit in einem Assimilationsprozess, der sich psychologisch um den Migrationsweg seiner Vorfahren verlängerte (Kafka 2013: 170; Janouch 21968: 156), irgendwo auf halbem Weg zwischen Herkunfts- und Zielkultur hängen geblieben (Kafka 1990b: 893) – als Wesen ohne (sprachlich-kulturelle) Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft: Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur sich waschen, kämmen u. s. w. müßte – schon das ist ja mühselig genug – sondern auch noch, da ihm vor jedem Spaziergang alles notwendige immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähn, die Stiefel zusammenschustern, den Hut fabricieren, den Stock zurechtschneiden u. s. w. Natürlich kann er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht paar Gassen lang, aber auf dem Graben z. B. fällt plötzlich alles auseinander und er steht nackt da mit Fetzen und Bruchstücken. Diese Qual nun, auf den Altstädter Ring zurückzulaufen! Und am Ende stößt er noch in der Eisengasse auf einen Volkshaufen, welcher auf Juden Jagd macht (Kafka 2013: 369).

Dieses Gefühl eines persönlichen sprachlich-nationalen Dilemmas, das Kafka (1958: 322) „mein ,Außerhalb‘, meine ,Exterritorialität‘“ nannte, wurde durch die zeitgenössischen politisch-soziologischen Verhältnisse in Böhmen zweifellos noch verstärkt: Denn durch

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die Erstarkung des tschechischen staatsrechtlichen Radikalismus seit den 1890er Jahren22 traf die zum größten Teil deutschsprachige jüdische Bevölkerung Prags v. a. in tschechischen Kreisen zunehmend auf einen sprachnational (d. h. antideutsch) bestimmten Antisemitismus (Hilsch 1979: 26; Nekula 2003a: 130).23 Kafka (2013: 56, 366, 370–371) registrierte diese Stimmung mit Besorgnis24 und sah sich auf einem „klassischen Kampffeld des Wettstreits der Nationalitäten“ (Křen 1992: 125) der ,deutschen Seite‘ zugeschlagen. Zugleich artikulierte er aber auch die Erfahrung, die Muttersprache Deutsch reiche eben nicht dazu aus, tatsächlich als Deutscher zu gelten, wenn man jüdischer Herkunft war (Koch 2007: 43): Nun noch einiges über den Direktor. Er ist ein sehr guter, freundlicher Mensch, besonders zu mir war er außerordentlich gut, allerdings haben dabei auch politische Gründe mitgespielt, denn er konnte den Deutschen gegenüber sagen, er habe einen der ihrigen außerordentlich gut behandelt, aber im Grunde war es doch nur ein Jude (Brod/Kafka 1989: 326). Willst Du [Felice] mir übrigens nicht auch sagen, was ich eigentlich bin. In der letzten Neuen Rundschau wird die „Verwandlung“ erwähnt, mit vernünftiger Begründung abgelehnt und dann heißt es etwa: „K’s Erzählungskunst besitzt etwas Urdeutsches[.]“ In Maxens Aufsatz dagegen: „K’s Erzählungen gehören zu den jüdischesten Dokumenten unserer Zeit.“ Ein schwerer Fall. Bin ich ein Circusreiter auf 2 Pferden? Leider bin ich kein Reiter sondern liege am Boden (Kafka 2005: 250).

Spätestens die Begegnung mit den ostjiddischen Schauspielern (Winter 1911/12), in welchen er Juden vor sich zu haben glaubte, die ihre ,eigene‘ Sprache verwendeten,25 nötigte Kafka dazu, „sich Rechenschaft über seine fragwürdige Situation als Nicht-Tscheche,

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Die Badeni-Krise (1897), in deren Zuge eine Sprachordnung, welche die Verwendung von Deutsch und Tschechisch im äußeren und inneren Dienstverkehr der cisleithanischen Behörden regeln sollte, am Widerstand der deutschböhmischen Parteien scheiterte, markierte die endgültige Wende in den Beziehungen der Tschechen zu den Deutschen in Böhmen (Mommsen 2007). Zum Hintergrund antijüdischer Ausschreitungen, Denk- und Handlungsweisen im öffentlichen Leben Prags, bes. in der Gründungsphase der ČSR, s. Braese (2010: 224–232) und Koeltzsch (2012: 151–177). Dabei ließ sich Kafka zu einer wirksamen sprachpsychologischen Erläuterung des Zusammenhangs von tschechischer Prosodie und tschechischem Antisemitismus anhand der Frage „Jste žid?“ [Sind Sie Jude?] (Kafka 2013: 162) inspirieren. S. hierzu Kap. 3.2.3.

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Nicht-Deutscher und nicht-jüdischer Jude26 zu geben“ (Pawel 1994: 42). Schließlich wählte er die Strategie, sich zugleich über seine Muttersprache und seine Herkunft zu definieren. So bezeichnete er es als „Judenart“, „einmal auf dieser deutschen und doch nicht ganz fremden Weide seine Tiere weiden zu lassen“ (Wetscherek 2003: 45), und stellte sich dem Ungarn Robert Klopstock als „Jude und überdies deutsch“ (Kafka 1958: 430) vor.27 Die Alternative zur Hinnahme dieses sprachlich-nationalen Dilemmas hätte vielleicht im Zionismus liegen können, der z. T. den Übergang zu einer ,eigenen‘ jüdischen Sprache, zum Hebräischen propagierte (Kilcher 2007: 79–81). Anders als Max Brod hielt Kafka, trotz seiner Beteiligung an der Debatte über das Judentum, dem Zionismus gegenüber (zumindest lange) eine Beobachtungsdistanz ein (Koch 2007: 44; Kilcher 2008: 196– 202) und ordnete seine Prosa dezidiert der ,deutsch-jüdischen‘ Literatur zu. Diese sah er allerdings als unsicher-heterogen und „mit traurigen Besonderheiten“ auch sprachlicher Natur belastet: Bestimmt werde diese Literatur von den drei Unmöglichkeiten, „nicht zu schreiben“ (dem Drang der Autoren, sich durch Schreiben auf Deutsch vom Judentum der Väter zu lösen), „deutsch zu schreiben“ (dem Bewusstsein, sich dabei einer Sprache zu bedienen, die nicht die eigene, sondern eine ,geliehene‘, fremdkulturelle ist) und „anders zu schreiben“ (der Erkenntnis, nach Aufgabe des Jiddischen und angesichts der Nichtverfügbarkeit des rituellen Hebräischen keine wirkliche sprachliche Alternative zu haben). Dieses so charakterisierte Schrifttum sei „eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß“ (Kafka 1958: 337–338). So müsse man ihr gleichsam den exterritorialen Raum zwischen der deutschen und der jüdischen Literatur zuweisen – „ein unsicheres, aber auch herausforderndes Drittes jenseits der gesicherten Positionen von Assimilation und Zionismus“ (Kilcher 2008: 201). Somit schwingt selbst in Kafkas Bekenntnis zum Deutschen als Muttersprache durch die Einschränkung, er habe „niemals unter deutschem Volk gelebt“ (Kafka 2013: 134), das Bewusstsein eines defizitären Zustandes mit. In diesen Kontext gehört das von Kafka angeführte antisemitische Verdikt, alle deutsch-assimilierten Juden neigten latent zum

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Max Brod definierte sein jüdisches Diasporadasein in einer national geteilten Stadt kaum weniger umständlich: „Ich fühle mich nicht als Angehöriger des deutschen Volkes, doch bin ich ein Freund des Deutschtums und außerdem durch Sprache und Erziehung […] dem Deutschtum kulturverwandt. Ich bin ein Freund des Tschechentums und im wesentlichen […] dem Tschechentum kulturfremd“ (Brod 1920: 15). Auch seine spätere Verlobte Julie Wohryzek sah Kafka in einem nationalen Zwischenstadium verharren – als „[n]icht Jüdin und nicht Nicht-Jüdin, insbesondere nicht Nichtjüdin, nicht Deutsche, nicht Nicht-Deutsche“ (Kafka 2013: 70).

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Mauscheln.28 Wie der eine Generation ältere Zeitgenosse Fritz Mauthner (1918: 33) kolportierte Kafka hier das Bild eines böhmischen Judentums, das dem Anspruch, sich der deutschen Sprache authentisch zu bedienen, nur unzulänglich gerecht werden könne. Ein ,legitimes‘ Schreiben aber war außerhalb einer persönlichen Übereinstimmung von politischer und sprachlicher Heimat, die Kafka in seinem Fall nicht gegeben sah, nicht möglich (Stölzl 1975: 125; Braese 2010: 266).29 Zudem, so Kafka, sei es den Juden beim Ablegen der ursprünglichen, ,eigenen‘ Sprache (Hebräisch bzw. Jiddisch) und Heimat (Ghetto) nicht gelungen, in der angenommenen, neuen, ,fremden‘ Sprache (Deutsch) heimisch zu werden. Da diese von christlicher Begrifflichkeit bestimmt werde, hafte ihr aus jüdischer Sicht ein emotionales wie ästhetisches Defizit an (Torton Beck 1971: 28): Gestern fiel mir ein, daß ich die Mutter nur deshalb nicht immer so geliebt habe, wie sie es verdiente und wie ich es könnte, weil mich die deutsche Sprache daran gehindert hat. Die jüdische Mutter ist keine „Mutter“, […] wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt, „Mutter“ ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch sondern auch fremd […]. Ich glaube, daß nur noch Erinnerungen an das Ghetto die jüdische Familie erhalten, denn auch das Wort Vater meint bei weitem den jüdischen Vater nicht (Kafka 1990b: 102).

Vor diesem psychologischen Hintergrund sind Kafkas Bedenken zu verstehen, seine jüdische Herkunft hemme seine vollständige Aufnahme in die deutsche Sprachgemeinschaft und schmälere u. U. partiell seine Sprachkompetenz im Deutschen (Unseld 2008: 123). So gab es Fälle, in welchen Kafka, sobald er selbst Angehörige seines eigenen Sozialisationsmilieus im Schriftdeutschen korrigieren zu müssen glaubte, der Mut zu verlassen schien, so dass er ein eben geäußertes sprachliches Kompetenzbewusstsein durch einen (ganz oder halb ironischen?) Rückzug wieder einschränkte. Ein Beispiel hierfür stellt die freundschaftliche Kritik an Brods Übersetzung von Janáčeks Jenufa-Libretto ins Deutsche dar, bei der Kafka einige ihn eigenartig anmutende Textstellen rhetorisch in Frage stellte: „Ist das nicht Deutsch, das wir von unsern undeutschen Müttern noch im Ohre haben?“ (Kafka 2005: 343). Sein spontan gezeigtes Selbstbewusstsein, in der Lage zu sein, Brod

28 29

S. hierzu Kap. 1.1. Sogar in der jüdischen Wochenschrift Selbstwehr ließ sich die Frage nicht eindeutig beantworten, ob man als Jude die deutsche Sprache überhaupt berechtigtermaßen verwenden könne (Binder 1967: 290).

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zu korrigieren, unterwarf Kafka im selben Moment der Einsicht, selbst von der gleichen ,sprachlich belastenden ethnischen Herkunft‘ wie der Freund zu sein und damit auch zu den gleichen durch sie bedingten Fehlern zu neigen. Auch stilistische Anmerkungen zu Wendungen im Schriftdeutschen seiner Schwester Ottla, in welchen Kafka „ganz gewiß Übersetzungen aus dem Tschechischen“, „die sich aber das Deutsche aufzunehmen weigert“, erkannte, relativierte er sogleich, indem er einräumte, selbst nur „ein Halbdeutscher“ (Kafka 2013: 72) von beschränkter Urteilskraft in Fragen der Norm zu sein.30 Gewiss ist der Grad der Selbststilisierung, der Ironie, des Spiels mit den sprachsoziologischen Denkmustern des Zeitgeistes in diesen Äußerungen nicht exakt bestimmbar. Doch mindestens einmal sprach Kafka explizit aus, sich selbst beim Schreiben einem latenten Einfluss gruppenspezifischer Relikte des Westjiddischen ausgesetzt zu sehen: Als er Milena Jesenskás tschechische Übersetzung seiner Erzählung Der Kaufmann kommentierte, schrieb er der Abtönungspartikel nur in der Wendung verfolget nur eine spezifisch jüdische adhortative Semantik zu (Binder 31982: 70): „[P]ronásledujte jen ich weiß nicht, ob ,nur‘ hier ,jen‘ ist, dieses ,nur‘ ist nämlich nur ein prager-jüdisches nur, bedeutet eine Aufforderung, etwa ,ihr könnt es ruhig machen‘“ (Kafka 2013: 359).31 Kafkas sprachliche Problematisierungen erreichen sicher nicht den extremen Ausdruck von Fritz Mauthners (1918: 51–53) fatalistischem Bekenntnis, in sich „die Leichen dreier Sprachen“ (Deutsch, Tschechisch, Hebräisch) zu tragen und „keine rechte Muttersprache […] als Jude in einem zweisprachigen Lande“ zu besitzen. Auch mögen sie durchaus bewusst im Ton des Spielerischen gehalten sein und z. T. übertrieben wirken. Die Symptome einer eingebildeten muttersprachlichen Belastung des „westjüdischeste[n]“ (Kafka 2013: 369) aller Westjuden32 können aber auch als individueller Reflex der Sozio-Psychologie einer ethnisch-religiösen Minderheit gedeutet werden: Ihr Verhältnis zu den fremdkulturellen Koordinaten der gewachsenen sozialen Gruppe, an die sie sich zu adaptieren bemüht, bleibt labil, zumal sie ihre vollständige Integration permanent in Zweifel gezogen sieht (Stölzl 1975: 27).

30

31

32

Andererseits pflegte Kafka durchaus die Prosa-Texte seiner Freunde deutschjüdischer Herkunft – etwa Otto Picks (Kafka 1990b: 682–683) und Felix Weltschs (Kafka 2013: 103–106, 112–113) – Korrektur zu lesen. Möglicherweise erfolgte auch die Streichung der Partikel nur in einer Textstelle der Verwandlung (Kafka 1994: 215), weil Kafka nicht ausschließen konnte, dass die entsprechende Verwendung als Besonderheit der Prager Juden auf ein Nachwirken des Jiddischen zurückzuführen war (Binder 1983: 380). Das ,Westjudentum‘ fungierte im zionistischen Diskurs der Zeit als selbstvergessenes gemeinschafts‑, traditions- und zukunftsloses Gegenstück zum ursprünglichen und lebendigen ,Ostjudentum‘. Diese begriffliche Opposition existierte wohl auch bei Kafka als Verdichtung seiner ambivalenten Wahrnehmung der jüdischen Assimilation (Kilcher 1999: 82; 2008: 202).

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3.1.2.4  Psychologische Auswirkungen des Prager Multilingualismus Es versteht sich, dass Franz Kafkas Deutsch im Kontext der zeit- und raumabhängigen Prägung, der Herkunft und der sozialen Umgebung des Schriftstellers zu betrachten ist. Neben Kafkas Judentum dürfte die sprachliche Sondersituation der sich deutsch deklarierenden Minderheit Prags eine weitere zentrale Rolle bei der Herausbildung eines gruppenspezifischen Problembewusstseins gespielt und ein viertes sprachsoziologisches Bewusstseinsfeld eröffnet haben: Denn zu Sprachzweifeln konnte auch die Vorstellung führen, man habe sich im Laufe der Sozialisierung ungesteuert ein Idiom angeeignet, dem nicht nur in Prag nachgesagt wurde, es weise Mängel gegenüber der schulisch propagierten Klassiker-Sprache auf. Mit diesem ,defizitären Deutsch‘ ist nicht die von Binder (1996) entkräftete These von der deutschen ,Sprachinsel‘ Prag konnotiert, die mit Bezug auf Mauthner (1918: 51) dem Deutschen in Prag unterstellte, eine verarmte Buchsprache in dialektfreiem Umfeld zu sein.33 Stattdessen dürfte in Kafkas sozialer Schicht das Bewusstsein vorgeherrscht haben, aufgrund des deutsch-tschechischen SprachenKontaktes werde in Prag ein Deutsch gesprochen, in dem Interferenzerscheinungen aus dem Tschechischen unverkennbar seien. Dies wurde offenbar als Stigma empfunden. Bekannt geworden sind in diesem Kontext die essayistischen Anmerkungen von Egon Erwin Kisch (1992: 248–249) zur Einwirkung des Tschechischen auf das so genannte ,Kleinseitner Deutsch‘, das aber „beileibe nicht bloß auf der Kleinseite“ zu hören sei. Neben Artikulationsmerkmalen hätten die Prager Deutschen vielfach „Formen der Satzbildung und Begriffsbezeichnungen […] von ihren tschechischen Anrainern übernommen.“ Die Radikalität, mit der Kisch (1917: 4) gegen das unter bilingualen Pragern verbreitete „deutsch-tschechische Kauderwelsch […], das keine Sprache, sondern eben Prager Deutsch ist“, polemisierte, gibt zu denken. Sie mündete in ein Plädoyer für eine bereits im Kindesalter unabdingbare sprachpuristische Zurechtweisung angesichts der bedenklichen Situation des Standarddeutschen in Prag: „Die Schule kann nichts ändern, wenn nicht zuhause von Kindheit an die Heiligkeit der Sprache hochgehalten wird.“ Max Brod darf als weiterer Gewährsmann für das kollektive Wissen der deutschjüdischen Prager Bildungsschicht von den Auswirkungen des deutsch-tschechischen Sprachen-Kontaktes auf die eigene Gruppensprache gelten. Um einen in seinen Augen weit

33

S. hierzu Kap. 2.3.3.

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verbreiteten Irrtum richtigzustellen, grenzte er das ,Prager Deutsch‘ als Idiom (unvollkommen) bilingualer Tschechen gegen die in Prag angeblich makellose Hochsprache deutscher Muttersprachler ab, als deren Exponenten er die Schriftsteller seines eigenen Umfeldes stilisierte: Der Verfasser eines neuen Buches über Kafka […] weiß […] nicht, daß das „Prager Deutsch“ von Tschechen, die sich deutsch ausdrücken wollten, gesprochen wurde, kaum aber von Deutschen. […] In den deutschsprechenden Schichten Prags, die deutsche Schulen besucht hatten, wurden jene Anklänge an das Tschechische, die sich etwa in den deutschen Stil der Schularbeiten einschlichen, immer strengstens als grobe Fehler, als „Pragismen“ oder „Tschechismen“ verfolgt und ausgemerzt, ja sogar noch besonders empfindlich verlacht. [S]o muss man wissen, daß es nie einem gebildeten Deutsch-Prager eingefallen wäre, sich eines solchen „Angleichens an die Sprache der Nachbarn“ schuldig zu machen (Brod 1960: 219–220).

Wenn Kisch die ,Reinheit‘ der Muttersprache nahezu ins Sakrale erhob und Brod die Übernahme tschechischer Sprachmuster als ,Sündenfall‘ gegenüber der eigenen Sprachgemeinschaft brandmarkte, betonten sie die in ihrer Schicht verbreitete Geringschätzung des heterogenen ,Prager Deutsch‘, zumal mit Blick auf die Schriftsprache.34 Unter diesem Aspekt lässt sich ihre Einstellung, wie diejenige Franz Kafkas, als Produkt bürgerlichsprachpuristischer Erziehung des 19. Jahrhunderts identifizieren.35 Brod (1960: 219) verwahrte sich zwar dagegen, „das sogenannte ,Prager Deutsch‘ mit dem Schrifttum der Autoren, die in Prag gelebt haben, in einen künstlichen Zusammenhang zu bringen.“ Dennoch räumte er – wenn auch unter dem Anschein der Beiläufigkeit – ein, „,Pragismen‘, die eine Beeinflussung des deutschen Stils durch die tschechische Syntax darstellen“ (Brod 31954a: 300), in den von ihm nach Kafkas Tod redigierten Texten seines Freundes vorgefunden zu haben: Vereinzelte Fehler aus Unachtsamkeit mögen natürlich unter dem Einfluß der tschechischen Umwelt in der deutschen Umgangssprache und im deutschen Schrifttum Prags in ganz seltenen Ausnahmefällen trotzdem vorgekommen sein. Es sind dies beispielsweise jene wenigen Sprachunrichtigkeiten in den Manuskripten Kafkas, die ich bei der Drucklegung richtiggestellt habe (Brod 1969a: 150).

34

35

In ihrer Prosa ahmten auch Franz Werfel (1990: 110) und der zeitweilige Wahl-Prager Gustav Meyrink (21987: 5–9, 32) das Kleinseitner Idiom nach, teils um Lokalkolorit zu erzeugen, teils um es als groteskes Ergebnis verkommener Sprachkompetenz zu verspotten. S. hierzu Kap. 3.1.1.

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Brod konnte dabei kaum verhehlen, dass er solche Eingeständnisse nur notgedrungen machte, um seine mittlerweile kritisierte Editionspraxis der postumen Schriften Kafkas zu rechtfertigen.36 Denn sein Bemühen, Kafkas sprachliche Anomalien in der Rückschau aus einer zeitlichen Distanz von über vier Jahrzehnten zu bagatellisieren, ist unübersehbar. Bereits Trost (1962: 34; 1981: 386) und Skála (1991: 138) erkannten, dass einige der Referenzen Kischs als zweifelhaft oder schlichtweg unzutreffend bezeichnet werden müssen. Denn dieser hatte alle angeblich für das ,Prager Deutsch‘ spezifischen Erscheinungen pauschal dem Einfluss des Tschechischen zugeschrieben, ohne Formen oberdeutscher Dialekte überhaupt in Betracht zu ziehen. Gerade weil Kisch37 und Brod die von ihnen bemerkten ,Pragismen‘ nicht linguistisch, sondern intuitiv einordneten und dabei vorschnell überall Parallelen zum Tschechischen sahen, lassen ihre Aussagen Rückschlüsse auf ein Autostereotyp zu, das im deutschsprachigen Prager Bildungsbürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet gewesen sein muss: die Überzeugung, das Deutsche in Prag sei latent anfällig für zweitsprachliche Interferenzen. Verfestigt haben dürfte sich dieses Bild mit Blick auf die Soziolekte des ,Prager‘, ,Kleinseitner‘ oder ,Kucheldeutsch‘ der städtischen Unterschichten, vor deren schädigender Einwirkung auf das propagierte Standarddeutsch gewarnt wurde. Der Widerspruch zu der gerade in Prager deutschen Schriftstellerkreisen auffälligen Betonung der Mustergültigkeit des in Prag gesprochenen Deutsch38 ist nur scheinbar. Welche Psychologie dieser Stilisierung innewohnte, ließ Johannes Urzidil erkennen, als er die Zeitungsmeldung, er sei ein „deutschschreibender Tscheche“, scharf dementierte und auf eine außerhalb der ehemaligen k. u. k. Monarchie „noch immer verbreitete ethnologische Unkenntnis“ zurückführte. Hierbei versicherte er: Wir Prager deutschen Dichter schrieben (und schreiben noch) unsere Bücher in der gleichen Sprache, die die Sprache unseres lebendigen Tagesgebrauchs war und ist. Zwischen Schrift-Deutsch und Sprech-Deutsch gab und gibt es bei uns keinen Bruch (Urzidil 1965: 18).

36 37

38

S. hierzu Kap. 1.5.2. Als exzellent beobachtender Journalist kann Kisch in jedem Fall zumindest als Gewährsmann für die Form und Verbreitung bestimmter sprachlicher Besonderheiten des Deutschen in Prag als glaubhaft gelten. S. hierzu Kap. 2.3.2.

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Exemplarisch deckt Urzidils emotionales Statement die kollektive Befürchtung auf, als (jüdischer) Schriftsteller, der das Deutsche gewissermaßen als Fremd- oder Zweitsprache benutze, oder als Tscheche zu gelten und sich nachsagen lassen zu müssen, ein Deutsch mit erstsprachlichen Interferenzen zu verwenden. Dem lag wiederum der latente eigene Verdacht zugrunde, sich im Laufe der muttersprachlichen Sozialisierung fernab des geschlossenen deutschen Sprachraums womöglich tatsächlich eine Erstsprache angeeignet zu haben, die erheblich von der schulisch propagierten Norm differiere: durch den alltäglichen Kontakt mit der in der Öffentlichkeit dominierenden Mehrheitssprache Tschechisch und mit dem ,fehlerhaften‘ Deutsch, auf das man in Form sozial bedingter Mischjargons auf der Kleinseite in höchster Intensität traf. Damit schloss sich im Geiste der Kreis zu den aus Sicht der Hochsprache defizitären „Stigma-Soziolekten“ (Steinig 1980: 107) des ,Prager Deutsch‘, deren Verwendung man daher umso hartnäckiger bestritt. Wie bereits Binder (1996: 208–209) vermutete, steht das Autostereotyp der sprachlichen Makellosigkeit mithin nicht im Widerspruch, sondern in ursächlicher Beziehung zu den ausgeprägten Sprachen-Kontakt-Phänomenen im ,Prager‘, ,Kleinseitner‘ bzw. ,Kucheldeutsch‘, indem es dem Bewusstsein ihrer Alltagspräsenz in Prag Ausdruck verleiht. Aus soziolinguistischer Perspektive hat man es demnach mit einer gruppenspezifischen Wunsch-Projektion zu tun, die Sprachattitüden zuzuordnen ist. Eine derartige Absetzungsbewegung gegenüber den Mundarten und den Bevölkerungsschichten, die diese sprachen, ließ sich im 19. Jahrhundert in der bürgerlichen Gesellschaft des ganzen deutschen Sprachraums beobachten: Insgesamt scheint sich in bezug auf die Wahrnehmung und Beurteilung der Lautung im Verlauf des 19. Jh. ein Wandel vom Ideal der „wohlklingenden“ Stimme zur Norm der „korrekten“, dialektfernen und damit überregional orientierten Aussprache abzuzeichnen. Das Kriterium der ästhetischen Befriedigung wird abgelöst durch die Orientierung an der realitätsfernen Vorstellung einer „reinen“ Sprache, als deren „objektives“ Maß sowohl die Schriftsprache als auch – eng damit zusammenhängend – die Bühnensprache betrachtet wird; beides Maßstäbe, die nicht unabhängig vom Bildungsideal der Zeit gesehen werden können (Linke 1991: 266).

In Prag ging mit dieser Absetzungsbewegung die Propagierung einer an der Schrift, Schule und Bühne orientierten Aussprache des Deutschen einher (Ritschel 1893: 130; Trost 1962: 32–35), forciert gerade durch die Deutschsprecher jüdischer Herkunft: Im Bestreben, ihre Emanzipation und Assimilation zu beschleunigen, erwiesen sich diese häufig als ,päpstlicher als der Papst‘, bemühten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders,

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jiddische oder ,kuchelböhmische‘ Anklänge aus ihrem Deutsch zu eliminieren und orientierten sich am Vorbild des reichsdeutschen Standards.39 Wie Fritz Mauthner (1918: 33) berichtete, gelang dies jedoch nicht immer vollständig: Mein Vater, der in seiner Weise sich für einen musterhaften Gebrauch der deutschen Sprache einsetzte, […] verachtete und bekämpfte unerbittlich jeden leisen Anklang an Kuchelböhmisch oder an Mauscheldeutsch und bemühte sich mit unzureichenden Mitteln, uns eine reine, übertrieben puristische hochdeutsche Sprache zu lehren.

Kafka scheint solche Sprachattitüden geteilt zu haben: Brod verwahrte sich zwar vehement gegen jede Assoziation mit dem ,Prager Deutsch‘; er erinnerte sich allerdings schließlich doch daran, Kafka, sei sich bewusst gewesen, beim Schreiben zu „gewissen in Prag üblichen Sprachfehlern“ zu neigen, auf die er bei der Durchsicht seiner zum Druck bestimmten Prosa „selbst immer sehr eifrig Jagd“ (Brod 1974: 352) gemacht habe. Sollte Kafkas Selbsteinschätzung zutreffend gewesen sein, dann ließe sich mit Blick auf den Prager Varietätenraum folgern, dass es sich beim ,Kleinseitner Deutsch‘ der tschechischen und deutschen Unterschichten „nach Aussprache und Idiomatik offensichtlich um eine Stadtmundart handelt[e], deren Übergänge zur Hochsprache, wie sie die Oberschicht sprach, fließend waren“ (Binder 1996: 209). Die von Mauthner (1918: 51) den im Inneren Böhmens lebenden Deutschen nachgesagte Neigung, sich rezeptiv wie produktiv „auf die slawische Aussprache“ einzustellen, kann gemäß Ritschels (1893: 129–133) zeitgenössischer Studie40 zumindest für die Prager Unterschicht angenommen werden. Sogar der auf Abgrenzung bedachte Johannes Urzidil sah die Sprache der aus der ,Provinz‘, d. h. aus überwiegend tschechischen Landgemeinden stammenden Deutsch-Prager „mit einem etwas fühlbareren tschechischen Akzent getönt“ (Urzidil 1966: 79). Dass auch die Artikulation zweisprachiger Juden, die sich deutsch deklarierten, u. U. solche Merkmale aufwies, darf als umso wahrscheinlicher gelten, je niedriger die soziale Position der Sprecher war (Trost 1981: 384–386; Binder 1996: 208). Dass man auch bei Kafka von einer auffälligen Aussprache ausgehen kann, legen Aussagen aus seinem engeren Bekanntenkreis nahe: Max Brod (1965b: 324) etwa attestierte dem Deutsch seines Freundes eine „leichte Durchsetzung mit Prager, ferner mit allgemein österreichischen Elementen der Wortgebung und des Tonfalls.“ Der tschechische Musiker Gustav Janouch (21968: 32) war sich sogar sicher, Kafka habe „einen harten Akzent“ 39 40

S. hierzu bes. Stölzl (1975: 26–27), Trost (1981: 384), Skála (1994: 18–19) und Binder (1996: 208–209). S. hierzu Kap. 2.3.1.

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gehabt, „ähnlich demjenigen, der das Deutsch der Tschechen charakterisiert“, wenngleich diese Ähnlichkeit nur entfernt gewesen sei. Und selbst Johannes Urzidil (1966: 79) glaubte sich daran zu erinnern, „Kafkas Sprechklang“ sei der Sprache der Deutschböhmen aus der Provinz „ähnlicher als dem Deutsch seiner anderen literarischen Prager Freunde“ gewesen. Vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen sprachlich-exklusiven Selbststilisierung Brods und Urzidils scheint der Umstand sprechend, dass solche Zeugnisse, wenngleich sichtlich um Abschwächung ihres Befundes bemüht, überhaupt abgelegt wurden. Tatsächlich ging Kafka selbst davon aus, im Alltag eine von besonderen sprachgeographischen Bedingungen geformte Varietät des Deutschen zu sprechen, die Deutschsprechern aus anderen Gegenden auffiel und eventuell sogar explizit lokalisiert werden konnte. Diese Erfahrung machte er u. a. 1920 während eines Kuraufenthaltes in Meran, als er mit zwei in seiner Unterkunft logierenden österreichischen Offizieren ins Gespräch kam: Nach den ersten Worten kam hervor, daß ich aus Prag bin, beide, der General […] und der Oberst kannten Prag. Ein Tscheche? Nein. Erkläre nun in diese treuen deutschen militärischen Augen, was Du eigentlich bist. Irgendwer sagt: „Deutschböhme“, ein anderer: „Kleinseite“ Dann legt sich das Ganze und man ißt weiter, aber der General mit seinem scharfen, im österreichischen Heer philologisch geschulten Ohr ist nicht zufrieden, nach dem Essen fängt er wieder den Klang meines Deutsch zu bezweifeln an, vielleicht zweifelt übrigens mehr das Auge als das Ohr. Nun kann ich das mit meinem Judentum zu erklären versuchen. Wissenschaftlich ist er jetzt zwar zufriedengestellt, aber menschlich nicht (Kafka 2013: 117).

Die in der Episode geschilderte ,sprachliche Entlarvung‘ dürfte Kafka schon deswegen nicht unberührt gelassen haben, da er sich mit einer solchen binnen Kurzem bereits zum zweiten Mal konfrontiert sah. Schon als er drei Tage zuvor die Pension inspiziert hatte, hatte sein Deutsch Aufmerksamkeit erregt: „[D]ie Wirtin eine fröhliche sehr dick- und rotbackige Frau des Buchhändlers Taussig, erkennt sofort mein Prager Deutsch“ (Kafka 2013: 115). Auch wenn Kafka dem „philologisch geschulten Ohr“ des Generals nicht ohne Ironie Respekt zollte, so bleibt doch objektiv festzuhalten, dass seine Artikulation einem Österreicher aufgefallen war, der als Offizier des k. u. k. Heeres zweifellos permanent mit Untergebenen aus allen Gebieten der Monarchie zu tun gehabt haben musste – und damit mit ebenso vielen Akzenten in mutter- oder zweitsprachlichem Deutsch. Die gruppenspezifischen Zuordnungen, die Kafka nach Nennung seines Herkunftsortes erfuhr, machen in jedem Fall deutlich, dass sich das ,intuitive‘ Autostereotyp von der formalen Gestalt des in Prag gesprochenen Deutsch zumindest teilweise mit dem außerhalb Böhmens verbreiteten Heterostereotyp deckte: Denn die Schlagwörter „Tscheche“, „Kleinseite“, „Prager

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Deutsch“ und „Deutschböhme“ haben neben einer topographischen v. a. eine soziale bzw. soziolektale Komponente gemeinsam: Sie verorten den durch sie Bezeichneten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, welchen man ein Deutsch nachsagte, das in abgestuftem Ausmaß von tschechischen Sprachmustern überlagert sei. Zu hinterfragen ist hier Hartmut Binders (1996: 207–208) Gedankenspiel, Kafka habe mittels der Offenlegung seiner jüdischen Herkunft möglicherweise versucht, sich den ,Prag-Kennern‘ in seiner Pension als Spross einer bilingualen jüdischen Familie auszuweisen, auf den die tschechische Phonetik spürbarer habe einwirken können als auf nichtjüdische Deutsch-Prager,41 die das Tschechische in der Regel als Fremd- oder Zweitsprache benutzten. Denn hätte diese Absicht wirklich vorgelegen, dann hätte Kafka bewusst dem Meraner Publikum gleich zwei stigmatisierende Komplexe stereotyper sprachnationaler Vorurteile – den der ,tschechischen‘ und den der ,jüdischen‘ – angeboten und die damit verbundene zweifach diskriminierende Wirkung in Kauf genommen. Angesichts der unangenehmen Situation, in der er sich geradezu physiologisch kategorisiert sah, kann hiervon kaum die Rede sein. Kafkas notgedrungene Bereitschaft, seine artikulatorische Auffälligkeit lieber mit den Sprachdefiziten ,mauschelnder‘ Juden als mit den tschechischen Interferenzen im Deutsch gewisser sozialer Gruppen Böhmens assoziiert zu sehen, gibt daher zu denken und macht eine weitere psychologische Facette Prager deutscher Sprachattitüden fassbar. In jedem Fall ergeben sich Kafkas (kritische) Selbstreflexionen aus der besonderen Soziobiographie eines deutsch assimilierten Prager Juden der ,zweiten Generation‘. Seine Feststellung, „niemals unter deutschem Volk gelebt“ (Kafka 2013: 134) zu haben, könnte insofern einerseits als Selbstproblematisierung des „westjüdischeste[n]“ (Kafka 2013: 369) der Westjuden gedeutet werden, vor dessen vollständiger Integration sich die etablierte Sprachgemeinschaft grundsätzlich verschließt. Genauso ließe sie sich aber auch als Ausdruck der Verunsicherung eines sich deutsch deklarierenden Pragers interpretieren, dessen muttersprachliche Sozialisierung sich in einer sprachlichen Diaspora inmitten eines slawophonen Stadtraums vollzogen hatte. Hier deutete Kafka an, sich über die besondere sprachsoziologische Situation der deutschen Sprachgemeinschaft Prags im Klaren zu sein.

41

Binder gibt zu bedenken, dass Kafka in den ersten Lebensjahren Bezugspersonen im tschechischen Hauspersonal fand, dessen Deutsch mit tschechischen Aussprachemerkmalen behaftet gewesen sei. Er schließt daher nicht aus, Kafkas Sprechweise hätte durch diesen Einfluss mitbestimmt und durch eine ähnliche Artikulation seiner Eltern konserviert werden können.

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3.1.3  Die Sozio-Psychologie eines Abkömmlings der Migration als Hintergrund einer imaginierten mehrfachen muttersprachlichen ,Belastung‘ Kafkas Verhältnis zur Sprache war also von doppelter Natur: Psychologisch wurde es von der Spannung zwischen Repräsentativität und Sondersituation geprägt. Dabei stand seinem durch Sozialisation erworbenen zeit- und schichttypischen Streben nach normgerechtem Ausdruck im Schriftdeutschen ein Komplex von vier sich teilweise überschneidenden sprachsoziologischen Bewusstseinsfeldern beeinträchtigend gegenüber. Als charakteristisch für weite Kreise des deutschsprachigen Bürgertums um 1900 dürfen die allgemeine Sprachkritik und die Wahrnehmung der Normdivergenz im deutschen Sprachraum betrachtet werden. Soziographisch-regional, im Falle Kafkas zudem biographisch bestimmt war dagegen zum einen das Autostereotyp der unvollkommenen Assimilation der ,zweiten jüdischen Generation‘, zum anderen das Gefühl, aufgrund der mehrsprachig geprägten Sozialstruktur des Prager Stadtraums anfällig für zweitsprachliche Interferenzen zu sein. Die beiden letztgenannten Bewusstseinsfelder verweisen auf eine gruppenspezifische wie individuelle Sondersituation, eine Identität, geprägt von „Exterritorialität und Multilinguismus“ (Heintz 1983: 15). Dieses doppelte Minderheiten-Bewusstsein prägte Teile von Kafkas Generation v. a. emotional: Es war das ständige Gefühl, dass alles erst erworben werden müsse (Kafka 2013: 369), ein in Konfrontation mit einem gesellschaftlich propagierten Sprachpurismus aufgekommener Verdacht, defizitär zu sein, der mehr Einbildung als Wirklichkeit war. Diesen Eindruck hinterlässt der oft überzogene Selbsttadel Kafkas in sprachlichen Belangen. Da gerade die Beherrschung der Standardsprache das Statusund Zugehörigkeitssymbol des Bildungsbürgertums darstellte, konnte das Gefühl, anfällig für ,Fehler‘ zu sein, Zweifel an der Gruppenzugehörigkeit wecken.

Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der Mündlichkeit

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3.2  Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der Mündlichkeit 3.2.1  Kafkas Sensibilität für Erscheinungsformen gesprochener Sprache Auch wenn er in falscher Bescheidenheit für sich in Anspruch nahm, „kein Sprachtalent“ (Kafka 1990b: 508) zu sein, ist dem polyglotten Kafka42 gerade im Bereich der auditiven Wahrnehmung eine ausgeprägte Sensibilität zu bescheinigen.43 Sein „schrecklich aufmerksame[s] Ohr“ (Kafka 1999b: 45) fing vielerorts lautliche Besonderheiten verschiedener muttersprachlich verwendeter Sprachen auf und veranlasste ihn dazu, seine Wahrnehmungen zu protokollieren:44 [Französisch:] Die Mädchen [Prostituierte in einem Mailänder Bordell] sprachen ihr Französisch 45

wie Jungfrauen (Kafka 1990b: 968).

[Französisch:] Das Französisch [des rezitierenden Franzosen Richepin] kurzatmig mit seinen rasch aufeinanderfolgenden Ventilen hielt selbst den einfältigsten Improvisationen stand (Kafka 1990b: 46

247–248).

[Italienisch:] Junger, schlecht rasierter Geistlicher mit dem Ansichtskartenreisenden, der zu Dutzenden gepackte Karten vorzeigt, die der Geistliche bespricht. Ich schaue ihn […] so aufmerksam an, daß ich ihm schließlich mit dem ganzen Stiefelabsatz in die Kutte trete. Niente sagt er und spricht weiter immer mit starkem durch italienische Ah! angezeigtem Athemzusetzen (Kafka 1990b: 989–990).

42

43 44 45 46

Zu Kafkas Kenntnissen moderner Fremdsprachen s. bezüglich des Tschechischen bes. Nekula (2002; 2003a–b), bezüglich des Französischen, Englischen, Spanischen und Hebräischen bes. Nekula (2007; 2008), bezüglich des Italienischen bes. Blahak (2012). Gleiches gilt für Max Brod. Zu den folgenden Beispielen s. z. T. Nekula (2003a: 85–87; 2004: 94) und Müller (2007: 158). Vgl. Brods Anmerkungen zur gleichen Szene: „Keine [der Dirnen] aber schien uns nur halbwegs annehmbar. […] Dennoch: ihr quellenklares Französisch“ (Brod/Kafka 1987: 95–96). Vgl. Brods Reflexionen zum Französischen: „[D]ix: ich sage di – er [der Kellner] bessert aus: dis“ (Brod/Kafka 1987: 29). – „Man spricht hier spitzig, holzig, viel Licht und Schatten, das i in tiefen Tälern, das a ganz oben auf weiten sonnigen Hochflächen – ,un avocat du talent‘ hab ich nicht verstanden – das ö – das j – Nasale“ (Brod/Kafka 1987: 32). Auf der Parisreise von 1911 notierte Brod: „Ein Herr neben uns sagt, mit merkwürdig gedehnter Aussprache: ,Mais il tâtonne – il finira par l’apprendre‘“ (Brod/Kafka 1987: 135).

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[Englisch:] Mehr mit den Zähnen gesprochenes Englisch der alten Dame rechts von Max, für das 47

man den Namen einer Grafschaft sucht (Kafka 1990b: 954–955).

[Slowakisch:] Gut slowakisch glaube ich bisher nur einmal – allerdings fuhr ich ja zweiter Klasse – in der Eisenbahn von zwei jungen Mädchen habe sprechen hören, sie sprachen sehr eifrig und rein, bis dann allerdings die eine auf eine erstaunliche Mitteilung hin, welche ihr die andere machte, ausrief: ŏiŏiŏiōi! (Kafka 2013: 379).

Vergleichbare Reflexionen lösten bei ihm Sprach-Nuancen bei nicht muttersprachlichen Sprechern des Deutschen und anderer Sprachen, die er selbst lernte oder gelernt hatte, aus.48 So verfolgte er den jiddischen Unterton im Deutsch der Lemberger Schauspielerin Tschissik, als diese ihm „mit den großen aber natürlichen Vokalen ihrer Aussprache“ (Kafka 1990b: 232) für einen Blumenstrauß dankte, und registrierte, wie Jizchak Löwys „Sprache zwischen Jiddisch und Deutsch schwankt und mehr zum Deutschen neigt“ (Kafka 2005: 336). In seiner Meraner Pension fiel ihm die Sprechweise einer Mitbewohnerin als „unangenehmes Ungarisch-Deutsch, süßlich aber hart“ (Kafka 2013: 376), auf. Besonders zogen dabei Fälle ,potenzierter Andersklanglichkeit‘ Kafkas Aufmerksamkeit auf sich: Wenn Interferenzen aus einer ersten in einer zweiten Fremdsprache (oder umgekehrt) hörbar wurden und den Sprecher zweifach markierten, drängte dies Kafka förmlich zu philologischen wie poetischen Analysen: [Deutsch(‑Englisch/Jiddisch):] Gefahren mit einem jüdischen Goldarbeiter. Er ist aus Krakau, etwas über 20 Jahre alt, war 2 ½ Jahre in Amerika […]. Sein Deutsch unruhig gemacht von englischen Betonungen und Wendungen, der Jargon kann sich ausruhn so stark ist das Englische (Kafka 1990b: 978–980). [Französisch(‑Deutsch/Griechisch):] Streit der Frauen nachts im Coupee, dessen Lampe sie verhängt haben. Wie die liegende Französin aus dem Dunkel schrie […]. Der griechische Arzt aus meinem Coupee gab ihr in schlechtem klaren scheinbar auf der deutschen Sprache basierten Französisch ausdrücklich Unrecht (Kafka 1990b: 981–982).

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48

Vgl. Brods simultane Bemerkungen zum Englischen: „Viele Engländerinnen. Es wird so viel yes gesagt, mit zwei Tönen auf dem e, daß oft zwei yes in zwei verschiedenen Gesprächen zugleich erklingen. Jede Rede wird mit yes begonnen und beschlossen. Im Deutschen gibt es kein solches Wort. Vielleicht weil wir nur dieses Wort verstehn? – Meine Antipathie gegen England“ (Brod/ Kafka 1987: 83). Zu den folgenden Beispielen s. z. T. Nekula (2003a: 85–86).

Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der Mündlichkeit

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Auch in seiner Prosa, namentlich im Verschollenen, ist das Motiv des ,Fremd-Klingens‘ präsent und belegt Kafkas große Aufgeschlossenheit für Erscheinungsformen gesprochener Sprache: [Deutsch(‑Englisch):] „Sehn Sie einmal an“, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme (Kafka 2002I: 172). [Englisch(‑,Slawisch‘):] Inzwischen waren auch die Gepäckträger […] aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Karl versammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten können und überdies unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander der Stimmen dieser Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich unverständlichen vielleicht mit slavischen Worten untermischten Englisch mehr polterten als redeten (Kafka 2002I: 280–281). [,Fremdländisch‘(-Englisch):] Karl konnte in dem Weilchen, während dessen er bei ihm [einem Unterportier] stehen blieb, sehr wenig von dem Gesagten auffassen, wenn es auch möglicherweise trotz des englischen Beiklanges gerade fremde Sprachen waren, die er gebrauchen mußte (Kafka 2002I: 256). [Italienisch(‑Englisch):] Der Oberkellner nannte ihn nur bei seinem Taufnamen Ciacomo, was Karl erst später erfuhr, denn in der englischen Aussprache war der Name nicht zu erkennen (Kafka 2002I: 185).

Nicht zuletzt schenkte Kafka den phonetischen und lexikalischen Spezifika diatopischer Varietäten des Deutschen Aufmerksamkeit – und dies nicht nur dann, wenn er sich gerade auf Reisen oder während eines Kuraufenthaltes in dem jeweiligen Areal ihrer Verbreitung aufhielt. Spätestens als Kafka im August 1901 nach bestandener Matura49 eine Erholungsreise nach Norderney und Helgoland unternahm (Kafka 1958: 491), dürfte er mit den regionalen Varietäten Norddeutschlands bzw. mit dem reichsdeutschen Sprechusus in Berührung gekommen sein. Welchen Eindruck solche intervarietären Erstkontakte bei einem in Prag sozialisierten Deutschsprecher hinterlassen konnten, schilderte Max Brod in seiner Autobiographie; als er und andere „jung[e] Dichter und Studenten“ mit dem aus Norddeutschland stammenden Dichter Detlev von Liliencron ins Gespräch kamen, stellten sie fest: „Nicht ganz leicht verständlich klang das unseren Ohren, schon die norddeutsche Aussprache machte uns die Worte fremd“ (Brod 1969a: 135); „das verstanden nur einige von uns“ (Brod 1969a: 147).

49

Zur Datierung s. Wagenbach (1958: 99, 212) und Binder (1979a: 254–255).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

Andererseits hatte Kafka lebenslang regelmäßig Umgang mit Personen aus dem Einzugsgebiet des reichsdeutschen Sprachgebrauchs (Nekula 2003a: 83): zwischen 1907 und 1909 etwa mit Hedwig Weiler aus Weimar (Kafka 1999a: 56–99), 1912 mit dem reichsdeutschen Werkmeister der Asbestfabrik seines Schwagers (Kafka 1999a: 177) und zwischen 1912 und 1917 mit Felice Bauer aus Berlin (Kafka 1967a). Nicht zuletzt dokumentieren zahlreiche Selbstzeugnisse Kafkas eine regelrechte Affinität gegenüber Reichsdeutschen, die mit Blick auf die Prager Verhältnisse regelmäßig als ,besser‘, v. a. ,tüchtiger‘ abschnitten (Koch 2007: 37). In Fällen besonderer Zuneigung konnte es geschehen, dass er die Sprache einer Korrespondenzpartnerin aus dem Deutschen Reich schwärmerisch „mindestens […] einem unteren Himmel der deutschen Sprache“ (Kafka 1999a: 159) zuordnete. So ist davon auszugehen, dass Kafka mit den im Deutschen Reich verbreiteten regionalen Varietäten rezeptiv gut zurechtkam. Von seinen Aufenthalten in Deutschland50 sind jedenfalls keine Fälle intervarietärer Verständigungsschwierigkeiten auf hochsprachlicher Ebene überliefert (Blahak 2011: 18; 2014: 28). Auch innerhalb Böhmens traf Kafka zweifellos auf Mundarten, die sich u. U. deutlich von den in Prag verbreiteten regionalen Varietäten des Deutschen unterschieden. Während seiner ersten Jahre in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war er mehrfach im Außendienst in den Bezirken Nordböhmens unterwegs und wurde durch die Besichtigung von Betrieben oder die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen mit der ostmitteldeutsch geprägten Sprache der Region bekannt (Binder 1996: 193). Wie sehr ihn dialektal gefärbtes Sprechen interessierte, lässt sich auch daran ablesen, dass er dieses immer wieder zum Gesprächsgegenstand gegenüber seinem engsten Freund Max Brod machte (Kafka 1999a: 143; 2005: 330; 2013: 28; Brod/Kafka 1989: 389–390), dem ein ähnliches Interesse an dieser Materie zu bescheinigen ist (u. a. Brod/Kafka 1987: 114): [Aus Liboch (Liběchov), Nordböhmen:] Eben habe ich vor meinem Balkon ein landwirtschaftliches Gespräch gehört […]. Ein Bauer gräbt aus einer Grube Rübenschnitte aus. Ein Bekannter, der offenbar nicht sehr gesprächig ist, geht nebenan auf der Landstraße vorüber. Der Bauer grüßt, der Bekannte in der Meinung, ungestört vorbeigehn zu können, antwortet freundlich: „Awua“ Aber der Bauer ruft ihm nach, daß er hier feines Sauerkraut habe, der Bekannte versteht nicht genau, dreht sich um und fragt verdrießlich: „Awua?“ Der Bauer wiederholt die Bemerkung. Jetzt verstehts der Bekannte, „Awua“ sagt er und lächelt verdrießlich. Weiter hat er aber nichts zu sagen, grüßt noch mit „Awua!“ und geht (Kafka 2013: 73).

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Kafka besuchte u. a. München (1903, 1916), Weimar und den Harz (1912) sowie Berlin (1914, 1923–1924).

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[Aus Weimar, Thüringen:] Die Rauferei in der entlegenen Gasse. „Du mußt schon der schönste 51

Dreckorsch sein!“ (Kafka 1990b: 1028).

Traum von Werfel: Er erzählte, er habe in Niederösterreich wo er sich jetzt aufhält, zufällig auf der Gasse einen Mann ein wenig gestoßen, worauf dieser ihn schauerlich ausschimpfte. Die einzelnen Worte habe ich vergessen, ich weiß nur, daß „Barbare“ drin vorkam (vom Weltkrieg her) und daß es endete mit „Sie proletarischer Turch.“ Eine interessante Bildung: Turch Dialektwort für Türke, „Türke“ Schimpfwort offenbar noch aus der Tradition der alten Türken-Kriege und Wien-Belagerung und zu dem das neue Schimpfwort „proletarisch“. Charakterisiert gut die Einfältigkeit und Rückständigkeit des Schimpfers, da heute weder „proletarisch“ noch „Türke“ eigentliche Schimpfwörter sind (Kafka 1990b: 835). Tucholski und Safranski. Das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von „nich“ gebildet werden (Kafka 1990b: 46). [Aus Zürau (Siřem), Westböhmen, über einen Brief Max Brods aus Berlin:] Liebster Max beim ersten Lesen Deines Briefes war ein Berliner Unterton drin, beim zweiten aber hat er schon ausmusiciert und Du warst es (Kafka 2005: 330). [Aus Berlin-Steglitz:] Weiß übrigens Peppa, was man in Berlin sagt, wenn man gefragt wird: „Wie gehts?“ [M]an sagt: „Mies mal Index“ (Kafka 1958: 463). [Zitat aus Theodor Storms Wiedergabe der Unterhaltung Hartlaubs und Mörikes in Stuttgart:] „[…] ,Aber, i bitt Sie, ist das nun zum Aushalte‘“ […] „Er ist ein Dichter ganz und gar“ sagte Mörike „aber nit eine Viertelstund’ könnt’ ich mit ihm leben“ (Brod/Kafka 1989: 389–390).

Mit seiner aufgeschlossenen, z. T. amüsierten Grundhaltung gegenüber überraschenden oder erheiternden Formen dialektalen Sprachgebrauchs verhielt sich Kafka wiederum ganz im Rahmen des soziokulturellen bürgerlichen Zeitgeistes. Dieser wies den Dialekt nicht per se zurück. Man erkannte sogar gewissermaßen seine ,Ursprünglichkeit‘ und 51

Vgl. Brods Anmerkungen zum Sprachgebrauch in Weimar: „Gespräch mit dem Dienstmann […]: ,Machen Sie sich einen Spaß und trinken Sie auf ’m Bahnhof ’n Glas Bier, kost auch nur fünfzehn Pfennige‘“ (Brod/Kafka 1987: 223). – „,Treten Sie näher‘, statt wie bei uns: Kommen Sie weiter“ (Brod/Kafka 1987: 224). – „,Trudl, kuck mal her – die klein Bäume‘“ (Brod/Kafka 1987: 227). – „Man sagt hier statt ,zweimal‘ ,zwemol‘“ (Brod/Kafka 1987: 233). – „Zwei Knaben, die sich 1 Stunde lachend um ihre Badetücher balgen, immer wieder ,Gehscht weg‘“ (Brod/Kafka 1987: 234).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

,Kernigkeit‘ an (Linke 1991: 263–265). Zugleich machte man mundartliche Varietäten durch eine zunehmende (schichtspezifische) emotionale Aufladung und eine latente Eingrenzung auf Situationen familiärer Nähe, emotionaler Engagiertheit und zwischenmenschlicher Direktheit „zu einem Gegenstand geselliger Unterhaltung und Belustigung, von dem man sich gerade durch solche bewusst inszenierten Akte der Zuwendung letztlich wieder distanziert[e]“ (Linke 1996: 254). 3.2.2  Die Erfahrung dialektalen Sprechens als Kommunikationsbarriere in intervarietären Sprechsituationen Allerdings konnte Kafka dialektales Sprechen bei gleichzeitigem Fehlen einer Verkehrssprache auch als Kommunikationsbarriere wahrnehmen. Noch in gemäßigter Form widerfuhr ihm dies etwa, als er 1912 ein Schützenfest in Stapelburg (heute Sachsen-Anhalt) besuchte. Hier war es v. a. das Aufeinandertreffen lexikalischer Besonderheiten des österreichischen und des reichsdeutschen Sprachgebrauchs, das die Verständigung behinderte:52 Ich biete ihnen [einheimischen Mädchen] meine „Brause“ an, sie trinken, die Älteste zuerst. Mangel einer wahren Verkehrssprache. Ich frage, ob sie schon genachtmahlt haben, vollständiges Unverständnis, Dr. Sch. fragt, ob sie schon Abendbrot gegessen haben, beginnende Ahnung, […] erst bis der Friseur fragt, ob sie gefuttert haben, können sie antworten (Kafka 1990b: 1050).

Auch im westböhmischen Zürau (Siřem) kam es 1917 zu einem partiellen Nichtverstehen aufgrund des Dialektgebrauchs der Einheimischen: „Nur sehr selten steigen am Rand meiner Hochebene paar oppositionelle Köpfe auf und rufen: ,Gehn’s vom Bänkel runter!‘ Radikalere Zurufe kann ich wegen des Dialekts nicht verstehen“ (Kafka 2005: 327). Ähnliche Erfahrungen, sich in unvertraute dialektale Mündlichkeit erst hineinhören zu müssen, mögen u. U. einen Reflex in einem Prosa-Fragment aus dem Winter 1916/17 hinterlassen haben: Es war eine ungewöhnliche Aussprache, erst im Nachklang verstand Hans die Worte. „Ich bin Hans“, sagte er, „der Sohn des Advokaten und wer bist Du.“ „So“, sagte der Fremde, „ich bin auch ein Hans, heiße Hans Schlag, bin badischer Jäger und stamme von Koßgarten am Neckar (Kafka 1993aI: 273).

52

Zu dieser Szene s. auch Nekula (2003a: 87), Bauer (2008a: 59) und Blahak (2011: 17; 2014: 28).

Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der Mündlichkeit

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Als wesentlich problematischer beschrieb Kafka dagegen seinen Kontakt mit den dezidiert als ,unverständlich‘ markierten schweizerdeutschen Dialekten, denen er sich 1911 in Zürich rezeptiv kaum gewachsen sah:53 [Männerbad in Zürich, Schweiz:] Schweizerisch. Mit Blei ausgegossenes Deutsch. Zum Teil keine Kabinen, republikanische Freiheit des Sichausziehens vor seinem Kleiderhaken, ebenso Freiheit des Schwimmeisters mit einer Löschspritze das volle Sonnenbad zu leeren. Dieses Leermachen wird übrigens nicht grundloser gewesen sein, als die Sprache unverständlich ist (Kafka 1990b: 950). [Sanatorium in Erlenbach, Schweiz:] Das Publikum besteht hauptsächlich aus ältern Schweizer Frauen des Mittelstandes, also aus Menschen, bei denen sich ethnographische Eigentümlichkeiten am zartesten und verschwindendsten zeigen. Wenn man sie daher an diesen konstatiert, dann sollte man sie doch schon sehr fest halten. Auch meine Unkenntnis ihres Deutsch hilft mir glaube ich 54

bei ihrer Betrachtung, denn sie sind dadurch für mich viel enger gruppiert (Kafka 1999a: 144).

Das physische Erleben verbreiteten dialektalen Sprechens ohne Verfügbarkeit einer überdachenden Standardsprache konnte bei Kafka sogar dem Aufbau einer Aversion gegen eine einmal gelernte Sprache Vorschub leisten. So blieb Kafka das Italienische, das er zwar 1907 und 1908 während seiner Anstellung bei der Assicurazioni Generali (durchaus motiviert) gelernt hatte und später v. a. für seine Italienreisen von 1909, 1911 und 1913 immer wieder auffrischte, zeitlebens fremd, da er es in seinem Verbreitungsareal fast ausschließlich in mundartlicher Ausprägung zu hören bekam.55 Gesprächssituationen mit

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Vgl. Brods Anmerkungen aus Zürich zum Schweizerdeutschen: „Die jungen Leute im Bad sprechen eine fremde und wunderbare Sprache: das Schweizer-Deutsch. Unverständlich mir. […] Dann spritzt der Bademeister mit einer Spritze uns heraus. Zu mir: ,Werden mal allike.‘ Ich: ,Ich verstehe Sie nicht.‘ Er: (plötzlich freundlich, fast verlegen) ,Werden uns mal ankleiden‘ und geht weg“ (Brod/Kafka 1987: 78). Zeitnah zu Kafkas Schweiz-Aufenthalt kam es vor Ort zu Sprachkonflikten, bei welchen Welschschweizer Presseorgane die schweizerdeutschen Dialekte als binnenstaatliche Verständigungsbarriere bezeichneten und kein Verständnis dafür aufbrachten, „dass die Deutschschweizer dieses obendrein von den Welschen mehrheitlich als hässlich empfundene Idiom pflegen und bewusst erhalten wollen, ein Idiom, das zufolge seiner geringen geographischen Ausdehnung in die geistige Enge treibe“ (Weber 1984: 107). Der Umstand lässt sich durch die zeitgenössische Situation der Sprache erklären: Das aus dem Toskanischen hervorgegangene Standarditalienische war aufgrund des in Italien herrschenden niedrigen Bildungsniveaus um 1910 immer noch vorwiegend die Sprache der Elite bzw. des Schrifttums, während die große Bevölkerungsmehrheit im Alltag regionale Varietäten, d. h. Mundarten verwendete (Durante 1993: 205–207).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

Italienern vermittelten Kafka zumeist das frustrierende Gefühl völligen kommunikativen Unvermögens (Blahak 2012: 194–196):56 Besondere Unverständlichkeit der Ausrufe. Bei Sätzen kann das Unverständnis drin herumkriechen (Kafka 1990b: 959). Italiener im Zug Porlezza Mennaggio. Jedes an einen gerichtete italienische Wort dringt in den großen Raum der eigenen Unkenntnis und beschäftigt daher ob verstanden oder unverstanden durch lange Zeit. Das eigene unsichere Italien[isch] kann sich gegenüber der Sicherheit des Italieners nicht halten und wird ob verstanden oder nicht verstanden leicht überhört (Kafka 1990b: 960). Ein Deutscher […] bekommt um ¾ 12 noch eine Eintrittskarte in die Schwimmanstalt, trotzdem sie um 12 gesperrt, worauf ihn […] der Schwimmeister in unverständlichem, daher etwas strengem Italienisch aufmerksam macht. Durch dieses Italienisch auch innerhalb seiner Muttersprache verwirrt fragt der Deutsche staunend warum man ihm dann eine Fahrkarte bei der Kassa verkauft habe (Kafka 1990b: 962). Herr in der Loge öffnet beim Lachen den Mund bis zu einem rückwärtigen Goldzahn, der dann den Mund ein Weilchen so offen hält. Auf andere Weise nicht zu erreichende Einheit zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie es jene ist, die sich für und gegen den Zuschauer bildet, der die Sprache nicht versteht (Kafka 1990b: 965). Der Kastellan zeigte mir die Stelle, wo Goethe gezeichnet hat, aber diese Stelle wollte mit dem Tagebuch nicht stimmen und so konnten wir darin nicht einig werden, ebensowenig wie im Italienischen (Kafka 1999b: 287).

Auch wenn die hier fixierte Kommunikationsbarriere wohl nicht ausschließlich durch mundartliches Sprechen, sondern auch durch generelle Unterschiede zwischen mittelund südeuropäischen Kommunikationsmustern im verbalen wie nonverbalen Bereich bedingt wurde (Blahak 2008b; 2012: 199–207), so führte Kafka sie doch zum großen 56

Vgl. die Anmerkungen Brods zu dem ihm unverständlichen Italienisch (Blahak 2012: 195–196): „Schwieriges Gespräch“ (Brod/Kafka 1987: 89). – „Ausrufe in einer fremden Sprache noch schwerer verständlich als Sätze“ (Brod/Kafka 1987: 89). – „Ich verstehe nicht den Sinn der Worte, nicht das Wort, nicht einmal einen einzelnen Laut“ (Brod/Kafka 1987: 95). – „Italienisches Angstgespräch mit einer Hotelangestellten“ (Brod/Kafka 1987: 100). – „Unverständliche Sprache, man versteht ein Wort, das Publikum lacht, also hat mans doch nicht verstanden“ (Brod/Kafka 1987: 95).

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Teil auf die scheinbare Funktionslosigkeit des erlernten Standarditalienischen zurück. Dies deuten auch Stellen in seiner Prosa an, die italienische Dialekte dezidiert als Quelle von Kommunikationsstörungen beschreiben: Im Proceß etwa verfällt der süditalienische Geschäftsfreund des Bankdirektors „regelmäßig in irgendeinen Dialekt, der für K. nichts Italienisches mehr hatte“ (Kafka 1990aI: 274); so vermag der an sich „überraschend gut“ (Kafka 1990aI: 277) italienisch sprechende K. kaum etwas zu verstehen. In einem ProsaFragment von 1922 wird das Italienische als Sprache wohl nicht von ungefähr geradezu zur Fiktion erklärt: Ich stieg ans Land, es war ein kleiner Hafen, ein kleiner Ort. Einige Leute lungerten auf den Marmorfliesen umher, ich sprach sie an, verstand aber nicht ihre Rede. Es war wohl ein italienischer Dialekt. Ich rief meinen Steuermann herüber, er versteht italienisch, aber die Leute hier verstand auch er nicht, er stellte in Abrede daß es italienisch sei (Kafka 1992I: 524).

Hatten sich Kafka und Brod auf ihrer Reise des Jahres 1911 mit dem Vorsatz, sich „[d]as Wichtigste über den Schweizer Dialekt“ (Brod/Kafka 1987: 192) anzueignen, eine verbale Auseinandersetzung mit den schwer verständlichen Varietäten der Deutschschweiz zumindest noch vorgenommen, so gaben sie ein solches Unterfangen angesichts der Unmöglichkeit, die Mundarten Italiens zu verstehen, schlichtweg auf. Es kam zum völligen Verstummen Kafkas und Brods, die festhielten: „[E]s ist unmöglich, eine Sprache vollständig zu erlernen. Man muß sich daher mit derjenigen Stufe begnügen, welche am wenigsten Mühe macht und doch genügt. […] Zeichensprache in Italien“ (Brod/Kafka 1987: 191–192). Ein solches ,Aufgeben‘ korrespondiert auffällig mit Josef K.s resignativer Konsequenz im Proceß: „Vorläufig gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen“ (Kafka 1990aI: 274). Angesichts dieser Problematisierung intervarietärer Verständigung verdient Kafkas ungleich positivere Bewertung des Französischen Beachtung. Sozusagen im direkten Vergleich zu dem nur in diatopischer Form erfahrbaren Italienisch nahm Kafka die von Jugend an gelernte Fremdsprache57 1911 in Paris durch Franzosen weitgehend hochsprachlich

57

Vgl. Kafkas und Brods Leidenschaft für das Französische und ihre jahrelange gemeinsame Lektüre von Flaubert (Kafka 1999a: 38, 65, 94, 113; Brod 1974: 54, 232) sowie Kafkas generelle Affinitätsbezeugungen gegenüber dem Französischen (Kafka 1990b: 237, 360–364, 1052; 1999a: 65, 264, 298; 1999b: 13, 31, 42–43; 2005: 328, 345). Seine Französisch-Kenntnisse vertiefte Kafka mit Céline Bailly, die kurz nach der Jahrhundertwende im Haus seiner Eltern als Gouvernante tätig war (Wagenbach 1958: 35).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

realisiert wahr.58 Insofern sind auch keine Fälle schwerwiegenden Nichtverstehens aus Paris überliefert. Kafka vermerkte im Gegenteil lobend „Bemühungen aller Franzosen mit denen man in Berührung kommt, schlechtes Französisch wenigstens für den Augenblick zu verbessern“ (Kafka 1990b: 989). Diese dezidierte Pflege hochsprachlichen Ausdrucks äußerte sich sogar gelegentlich in einer überspitzten Fehler-Intoleranz gegenüber unvollkommen frankophonen Ausländern (Blahak 2012: 198–199): „Soweit wir Franzosen beobachtet haben, konnten wir niemals sehn, daß sie sich über unsere Fehler im französischen freuten oder auch nur diese Fehler hörenswert fanden“ (Kafka 1990b: 1000). Letztlich ist Kafka eine beschränkte Perspektive auf die jeweilige Situation der Hochsprache in Italien und Frankreich zu bescheinigen. Die Spracherlebnisse der Reise von 1911 stehen allerdings exemplarisch für Kafkas Attitüden gegenüber regionaler Mündlichkeit einerseits, die er in der Schweiz innerhalb der Muttersprache und in Italien innerhalb einer gelernten Fremdsprache als Kommunikationsbarriere wahrnahm, und gegenüber Hochsprachlichkeit andererseits, die er in Frankreich vorbildlich umgesetzt sah. In der Summe ist davon auszugehen, dass Kafkas Wert- oder Geringschätzung mundartlicher Varietäten stark vom Grad ihrer Verständlichkeit abhing. Auch hierzu findet sich ein Reflex in Kafkas Prosa: In einem 1920 entstandenen Konvolut werden zwei erfolglos intervarietär kommunizierende Gruppen reiner Dialektsprecher ohne gemeinsame Verkehrssprache als jeweils ,unnahbar‘ und die eine aus der Sicht der anderen als ,kaum zu ertragen‘ gezeichnet: Die Soldaten sprechen einen uns ganz unverständlichen Dialekt, können sich an unsern kaum gewöhnen, dadurch ergibt sich bei ihnen eine gewisse Abgeschlossenheit, Unnahbarkeit, die überdies auch ihrem Charakter entspricht, so still, ernst und starr sind sie, sie tun nichts eigentlich Böses und sind doch in einem bösen Sinn fast unerträglich (Kafka 1992I: 265).

Mit seiner Haltung bewegte sich Kafka wiederum ganz im Rahmen des bürgerlichen Sprach­empfindens seiner Zeit; dieses stigmatisierte nicht den Dialekt an sich sozial,

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Die ganz andere zeitgenössische Situation des Französischen war durch die von Paris ausgehenden administrativen Entwicklungen seit der Revolution von 1789 bedingt, welche die Dialekte im Laufe des 19. Jahrhunderts rapide hatten schwinden lassen, besonders seit die allgemeine Schulpflicht galt (1881). 1927 beherrschte die Mehrheit der Franzosen aktiv das Standardfranzösische und das français régional näherte sich immer stärker dem Pariser Französisch an (Rickard 1977: 139–140; Sergijewskij 1979: 28). So hörte Kafka das Französische in Paris vermutlich ausschließlich in der Standard-Form, während er fern der Toskana das Standarditalienische selten angetroffen haben dürfte (Blahak 2012: 197–199).

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sondern die Abhängigkeit von ihm, d. h. das Unvermögen, sich der Hochsprache zu bedienen, und beschränkte den Gebrauch der Mundart auf vorgegebene situative Domänen und Gesprächspartner (Linke 1991: 263–265; 1996: 247). 3.2.3  Das Ostjiddische und die Unvereinbarkeit der Authentizität gesprochener Sprache mit dem Anspruch schriftlich fixierter Literatur Aufschlussreich über Kafkas Attitüden gegenüber den Standard- und Substandard-Varietäten einer Sprache sind ferner seine Äußerungen über das von ihm als „Jargon“ (z. B. Kafka 1990b: 979; 1993aI: 188) bezeichnete Ostjiddische, in deren Kontext sein ,Westjudentum‘ eine ebenso große Rolle spielte wie bei seinen schriftsprachlichen Selbstzweifeln. Die Kategorisierung des Ostjiddischen ist angesichts seiner überaus engen Beziehung zum Deutschen bis heute umstritten: Nach Steffen Krogh (2001: 6) etwa lasse sich das Ostjiddische aus synchronischer Sicht aufgrund seiner originalen literarischen Tradition und seiner mündlichen wie schriftlichen standardsprachlichen Überdachung durchaus als eigenständige germanische Sprache einstufen. Aus einer diachronischen Perspektive sei es hingegen als Varietät des Deutschen zu betrachten, da in allen Teilbereichen der Sprache, einschließlich des Wortschatzes, die deutsche Komponente dominiere. Die strukturelle und lexikalische Distanz zum Deutschen schwinde, je weiter man zeitlich zurückgehe. Bis in die frühe Neuzeit hinein habe sich das Ostjiddische als einer von vielen deutschen Dialekten und neben diesen aus dem Mittelhochdeutschen entwickelt, wobei bairische und ostmitteldeutsche Züge überwiegen.59 Kafkas intensive Befassung mit der Sprache und Literatur der Ostjuden lässt sich auf die Bekanntschaft mit der in Prag gastierenden Lemberger Schauspielertruppe um Jizchak Löwy zurückführen, deren Theatervorstellungen Kafka zwischen Oktober 1911 und Januar 1912 mehrfach besuchte.60 Aus dem Einleitungsvortrag über Jargon, den Kafka 1912 für einen Rezitationsabend jiddischer Lyrik verfasste, geht hervor, dass er das Ostjiddische offenbar in dem oben skizzierten Spannungsfeld der Dualität zwischen Standard/Schriftsprache einerseits und diatopisch-mündlicher Varietät andererseits sah: Aus sprachstruktureller Sicht schrieb Kafka dem Idiom die „Struktur des Oxymorons“ (Baioni 1994: 51) zu; zugleich überlappten sich in seiner Charakterisierung Merkmale

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Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Deutschen und dem Jiddischen s. u. a. Bin-Nun (1973: 78–79), Birnbaum (21986: 48–56), Eggers (1998: 223–292), Krogh (2001: 7), Glück (2002: 45) und Jacobs (2005: 16–17). S. hierzu ausführlich Torton Beck (1971), Massino (2007) und Müller (2007).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

verschiedener sprachlicher Varietäten-Typen, welchen das Jiddische in der Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven zugeordnet wurde: Demnach bestehe das Jiddische zwar „nur aus Dialekt“, andererseits sei es mit Gewissheit eine echte, „die jüngste europäische Sprache“.61 Obwohl eine durchaus kodifizierbare „Schriftsprache“, über deren Orthographie man sich weitgehend geeinigt habe, sei sie bezüglich Syntax und Grammatik nur unvollkommen fixierbar und, da „immerfort gesprochen“, in erster Linie dem mündlichen Sprachgebrauch zuzuordnen; „nur aus Fremdwörtern“ bestehend,62 stehe der Jargon dem Rotwelschen,63 d. h. den Soziolekten fahrender Leute nahe; als fortwährend sich modifizierendes sprachliches Hybrid64 grammatischer Regeln unterschiedlichster Herkunft weise er zudem Züge einer einstmaligen Pidgin- und gegenwärtigen Kreolsprache65 auf. Dennoch verhalte sich der Jargon in der Weiterentwicklung sprachlicher Formen z. T. aber auch konsequenter als das Neuhochdeutsche selbst: Der Jargon ist die jüngste europäische Sprache […]. Er hat noch keine Sprachformen von solcher Deutlichkeit ausgebildet, wie wir sie brauchen. Sein Ausdruck ist kurz und rasch. Er hat keine Grammatiken. Liebhaber versuchen Grammatiken zu schreiben aber der Jargon wird immerfort gesprochen; er kommt nicht zur Ruhe. […] Er besteht nur aus Fremdwörtern. Diese ruhen aber nicht in ihm, sondern behalten die Eile und Lebhaftigkeit, mit der sie genommen wurden. […] Nur die Gaunersprache entnimmt ihm gern, weil sie weniger sprachliche Zusammenhänge braucht als

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Das Jiddische war erst 1908 auf der Konferenz von Czernowitz offiziell als eigenständige Standardsprache und jüdische Nationalsprache anerkannt worden (Eggers 1998: 395). Zum Entstehen von Einzelsprachen durch Sprachlenkung und ‑politik unabhängig von linguistischen Befunden s. Simon (1988: 34). Vgl. den von Kafka aus Feinmanns Vitse-Kenig zitierten jiddischen Witz: „[S]eht Ihr, alle Sprachen kenn ich, aber auf jiddisch“ (Kafka 1990b: 350). Diese verbreitete Gleichsetzung beruht auf einem reinen Entlehnungsprozess von jiddischem Wortgut durch das Gaunermilieu bei häufigen semantischen Neubesetzungen (Landmann 1962: 32–33, 446–450). Die Auffassung des Jiddischen als ,Mischsprache‘ bzw. Hybrid wurde u. a. von Weinreich (1980: 29–34) propagiert, von Jacobs (2005: 17–22) relativiert und von Birnbaum (1979: 3; 21986: 1–2) verworfen. Die Diskussion der Klassifizierbarkeit des Jiddischen als Pidgin- oder Kreolsprache wurde innerhalb der Forschung immer wieder als notwendig empfunden (s. u. a. Hall 1966: 18; Hymes 1971: 18, 77–78, 86–87, 171; Jacobs 1975; Birnbaum 1979: 4; 21986: 2; Wexler 1981; Fishman 1987; Holm 1988: 10; 1989: 610–611; Eggers 1998: 376–396; Krogh 2001: 19–20). Nach Fishman (1991: 198) könne das Jiddische zumindest aus ,phänomenologischer‘ Perspektive aufgrund seines „doppelten Minderwertigkeitskomplex[es]“ als Kreolsprache betrachtet werden. Denn gegenüber dem Hebräischen nehme es nur Handlangerfunktionen ein und gegenüber dem Deutschen scheine es den Makel einer Mischsprache ohne Tradition, Autonomie und Standardisierung aufzuweisen (Eggers 1998: 395).

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einzelne Worte. […] In diesem Treiben der Sprache herrschen aber wieder Bruchstücke bekannter Sprachgesetze. […] Oder der Jargon entwickelte mittelhochdeutsche Formen folgerichtiger als selbst das Neuhochdeutsche […]. Und nun strömen in diese Sprachgebilde von Willkür und Gesetz die Dialekte des Jargon noch ein. Ja, der ganze Jargon besteht nur aus Dialekt, selbst die Schriftsprache, wenn man sich auch über die Schreibweise zum größten Teil geeinigt hat (Kafka 1993aI: 189–190).

Neben den Aspekt der sprachlichen Ambivalenz tritt die Zuschreibung eines erhöhten Maßes an Temperament: Begriffe und Wendungen wie ,kurz‘ und ,rasch‘, ,nicht zur Ruhe kommen‘, ,nicht ruhen‘, ,Eile und Lebhaftigkeit behalten‘, ,Treiben‘ und ,strömen‘ aus Kafkas Einleitungsvortrag belegen dies ebenso wie seine Charakterisierung der Sprache Löwys: Soweit ich aber Löwy kenne glaube ich daß solche ständigen Wendungen, die auch im gewöhnlichen ostjüdischen Gespräch oft vorkommen wie „Weh ist mir!“ oder „S’ist nischt“ oder „S’ist viel zu reden“ nicht Verlegenheit verdecken sollen, sondern als immer neue Quellen den für das ostjüdische Temperament immer noch zu schwer daliegenden Strom der Rede umquirlen sollen (Kafka 1990b: 360–361).

Diesen atmosphärischen, affektiven Vorzügen steht das ,Unliterarische‘ des Jargons gegenüber. In der z. T. philologisch treffenden Darstellung Kafkas überwiegen nämlich Merkmale von Sprachvarietäten, die dem mündlichen Substandard zuzuordnen sind und verstärkt pragmatisch-kommunikative (Pidgin‑/Kreolsprache), affektive (Dialekt) oder gruppensolidarische (Soziolekt/Sondersprache) Funktionen übernehmen. Diese scheinen dem Ostjiddischen die Qualität ,echter‘ Schriftsprachlichkeit zu entziehen, zumal die Kodifizierung dieser ständig im Wandel begriffenen Sprache laut Kafka prinzipiell nicht wirklich möglich scheint. Dieses hier umrissene zwar ,Sowohl-als-auch‘ oder ,Eigentlichschon‘, aber letztlich doch ,Weder-noch‘ oder ,Eher-nicht‘ erinnert an Jechiel Bin-Nuns (1973: 85) Versuch, das Verhältnis des Jiddischen zu den deutschen Mundarten zu klären: Demnach stehe es ziemlich in der Mitte zwischen dem […], was wir im eigentlichen Sinne ,Mundart‘ nennen, und dem, was als ,Schriftsprache‘ oder ,Hochsprache‘ allgemein bekannt ist. Das Jiddische ist weder das eine noch das andere ganz – es ist beides zur Hälfte. Es besitzt weder die feine Glätte einer Hochsprache, noch die derbe Natürlichkeit einer Mundart, aber eben deshalb, weil es sowohl das SinnlichAnschauliche der Mundart als auch das Harmonisch-Ausgeglichene der Hochsprache besitzt. Es ist sozusagen eine gehobene Mundart oder volkstümliche Hochsprache.

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

Für Kafkas Auffassung des Jiddischen als vorwiegend gesprochenes Idiom lässt sich ein weiteres Indiz anführen: Obwohl er als Quelle für seinen Vortrag Pinès’ Histoire de la Littérature judéo-allemande (1911) exzerpiert hatte (Kafka 1990b: 361–367), kam er an keiner Stelle seiner Ausführungen explizit auf eine ,Jargonliteratur‘ und ihre Qualität zu sprechen. Stattdessen konzentrierte er sich allein auf die Darstellung einer gesprochenen, „nomadische[n] und grammatiklose[n] Sprache“ (Kilcher 2008: 203), „die zu ihrer Verschriftlichung und grammatikalischen Fixierung in Spannung steht“ (Müller 2007: 170), sich nicht anhand von Lehrbüchern erlernen lässt, sondern nur empfindend wahrgenommen und verstanden werden kann (Eshel 2002: 100). Ein drittes Indiz für eine Neigung Kafkas, den Jargon dem Substandard zuzurechnen, liefert der Umstand, dass er das jiddische Theater in seinen Aufzeichnungen in erster Linie als ,akustischen Raum‘ abbildete:66 Kafkas ausführliche Beschreibungen der von ihm besuchten Theateraufführungen67 deuten an, dass er sich mit einem ,Theater ohne Text‘ konfrontiert sah. Dies veranlasste ihn etwa dazu, eine wahrgenommene dramaturgische Lücke in der Handlungsmotivierung mit der Vermutung zu entschuldigen, „daß das Stück hauptsächlich mündlich von einer Schauspielertruppe zur andern verbreitet ist“ (Kafka 1990b: 63). Insofern trat bei ihm das Bemühen, die körperliche Gegenwart der Akteure und ihren Aktionsraum in die Schriftsprache zu übertragen (z. B. Kafka 1990b: 89, 361, 370–371), sozusagen die „physiognomische Skizze“ (Müller 2007: 162) gegenüber seinem Interesse an den Autoren in den Vordergrund. Kafkas standarddeutsche Handlungsparaphrasierungen in lateinischen Lettern fanden im ostjiddischen Theater allerdings kein Äquivalent; denn dieses fasste seine eigenen nur im Rahmen der Aufführung erfahrbaren Spieltexte in hebräischen Schriftzeichen ab (Müller 2007: 159). Die Schwierigkeit, das auf der Bühne akustisch-visuell Rezipierte authentisch nachvollziehbar zu verschriftlichen, kann Kafka nicht entgangen sein. Kafka erlebte den Jargon im ostjiddischen Theater demnach nur bedingt als ,Literatursprache‘ und erkannte eine überwiegend mündliche, aus dem Stegreif dargebotene Literatur und in dieser „das unmittelbare, förmlich ein für alle mal improvisierte Judentum“ (Kafka 1990b: 195). Zur sprachlichen Heterogenität trat in Kafkas Wahrnehmung zudem die formale Heterogenität der ostjiddischen Literatur in Gestalt eines Theaters, das nicht nur Schauspiel war, sondern „gespielt gesungen und recitiert“ (Kafka 1999a: 215) wurde,

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Diese Perzeption war durchaus repräsentativ für die zeitgenössische Haltung der urbanen Intelligenz, die im Jiddischen den „Gegenpol aller buchgestützten, literarischen Dramatik“ (Müller 2007: 158–159) sah. S. hierzu bes. Kafka (1990b: 57–64, 79–81, 195–199, 202–203, 227–231, 301, 319–320).

Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der Mündlichkeit

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zu dem zugleich Tanz, (Volks‑)Musik, Chöre und Liedeinlagen bzw. Couplets68 gehörten (Pinès 1913: 242; Torton Beck 1970: 215; Müller 2007: 168). Gerade diese Elemente wurden trotz einer häufig religiösen und lehrhaften Grundhaltung der Bühnenstücke manchmal (z. B. in Schäferszenen) geradezu operettenhaft eingesetzt (Torton Beck 1970: 207). Die oft melodramatische Umsetzung der an sich meist tragischen Themen führte nicht selten zu einer unfreiwilligen Komik (Torton Beck 1970: 208), die auch Kafka (1990b: 81–83, 229–230, 361) registrierte. In seinem (,westjüdischen‘) Wunsch, in dieser extemporierten Literatur „eine Art Teleskop der kulturellen Distanzüberbrückung […] in galizisch-jüdische Lebenswelten“ (Müller 2007: 160) zu finden, musste er seine sonst hohen ästhetischen Ansprüche an Literatur gewaltig zurückschrauben. Denn er übersah keineswegs die dramaturgischen Defizite, die oft groben, monoton-repetitiven Handlungselemente der z. T. dilettantischen Texte, das eingeschränkte Formenrepertoire, das oft unbeholfene oder unbeherrschte Agieren der Statisten und die technischen Schwierigkeiten, die für die anspruchslosen Repertoirestücke signifikant waren (Kafka 1990b: 96, 349).69 Auf der anderen Seite konnte das deutlich höhere literarische Niveau des durch Jakob Gordin reformierten jiddischen Theaters, das westeuropäischen DramaturgieStandards genügte (Pinès 1913: 244), Kafka nur noch einen verwässerten Abglanz des unmittelbaren Ausdrucks ostjüdischen Seins vermitteln (Kafka 1990b: 195). Hier offenbarte sich die Unvereinbarkeit einer anspruchsvollen geschriebenen Literatur mit einer für die Mündlichkeit prädestinierten Sprache. Das Ostjiddische wurde so für Kafka zum lebendigen Widerspruch zwischen den hohen Qualitätsanforderungen von Literatur, welchen man nur in schriftsprachlicher Umsetzung Genüge tun konnte, und der Intensität emotionaler Befindlichkeit, die nur durch das gesprochene Wort, durch jenes „SinnlichAnschauliche“ (Bin-Nun 1973: 85) der Mündlichkeit authentisch reproduzierbar war. Noch aufschlussreicher ist, wie Kafka das Verhältnis des Jargons zur deutschen Hochsprache deutete. Hier hat Lothar Müller (2007: 176) die Forderung aufgestellt, „die Philologie der Einfluss-Nachweise durch eine Philologie der ausgeschlagenen Angebote und verschlossenen Wege zu ergänzen.“ Denn in seinem Vortrag hob Kafka zwar zunächst die leichte Verständlichkeit des Ostjiddischen für alle Deutschsprechenden hervor, mit dem

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Zu Kafkas Wahrnehmung der Bedeutung von Musik und (Volks‑)Lied für Aufzeichnung, Tradition und Vortrag des Ostjiddischen s. u. a. Kafka (1990b: 276–277, 360, 362–363, 366, 370–371, 558). Etwa die Hälfte der von 1880 bis 1907 entstandenen Repertoirestücke stammte von „,Schund‘Produzenten“ (Torton Beck 1970: 207). Schon Pinès (1913: 242) sprach den meisten Stücken Abraham Goldfadens jeden literarischen Anspruch ab. Sie seien allein zur Unterhaltung eines ungebildeten Publikums gedacht gewesen.

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

Verweis auf die privilegierte enge genetische Verwandtschaft zwischen beiden Sprachen (Kafka 1993aI: 192). Dem ließ er allerdings eine Theorie der Unübersetzbarkeit des Ostjiddischen ins Deutsche folgen: Man kann nämlich Jargon nicht in die deutsche Sprache übersetzen. Die Verbindungen zwischen Jargon und Deutsch sind zu zart und bedeutend, als daß sie nicht sofort zerreißen müßten, wenn Jargon ins Deutsche zurückgeführt wird, d. h. es wird kein Jargon mehr zurückgeführt, sondern etwa Wesenloses. Durch Übersetzung ins Französische z. B. kann Jargon den Franzosen vermittelt werden, durch Übersetzung ins Deutsche wird er vernichtet. „Toit“ z. B. ist eben nicht „tot“ und „Blüt“ ist keinesfalls „Blut“ (Kafka 1993aI: 192).

Sachlich betrachtet bedeuten toit und Blüt natürlich durchaus ,tot‘ und ,Blut‘. Doch übten diese Wörter auf den Westjuden Kafka eine andere emotionale und ästhetische Wirkung aus als ihre Übertragungen ins Standarddeutsche (Nekula 2002b: 107; 2003a: 34).70 Wie sich trotz enger Verwandtschaft und sprachlicher Affinität letztlich doch keine Einordnung des Jargons unter das Dach der deutschen Standardsprache ergab, konnte der Jargon auch nicht übersetzt werden, ohne das Atmosphärische in ihm zu zerstören. Nach Kafkas Auffassung bestand somit – trotz einer zweifellos engen Beziehung – ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Deutsch und Jiddisch, zwischen Standard und Substandard, Hochsprache und Mundart: Sprech- und Schriftsprache wurden von Kafka anhand des Jiddischen und seiner ,Nichtrückführbarkeit‘ als zwei nebeneinander existierende enge Verwandte beschrieben, deren Verhältnis sich sowohl durch explizite Nähe als auch durch prinzipielle Unvereinbarkeit auszeichnet. Kafkas Theorie der Unübersetzbarkeit des Jargons, eine programmatische Absage an Martin Bubers Plädoyer, den Jargon durch seine Übertragung ins Deutsche zu veredeln, musste umgekehrt auch für seine eigene Prosa gelten: So ist Kafkas Statement, er sei von allen „Westjuden […] der westjüdischeste“ (Kafka 2013: 369), denn auch im Kontext eines schriftstellerischen Lebensprogramms zu sehen, das die Bindung an die deutsche Literatursprache als zentralen Fixpunkt vorsah (Baioni 1994: 1–11; Müller 2007: 176). Dazu gehörte die letztendliche Absage an eine sentimentale Identifikation mit dem Ostjudentum und der ,kleinen Literatur‘, die es bildete (Müller 2007: 174; Braese 2010: 254–255).

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Vgl. Kafkas (1990b: 102) analoge Feststellung, das jiddische Wort mame finde aufgrund eines emotionalen Mehrwertes in seiner deutschen Übersetzung Mutter keine adäquate Entsprechung (vgl. Kap. 3.1.2.3).

Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der Mündlichkeit

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3.2.4  Kafkas Absage an eine ,Dialekt-Literatur‘ Wie sich gezeigt hat, lässt sich Franz Kafka in mehrfacher Hinsicht als typischer Vertreter kollektiver Sprachattitüden des deutschsprachigen Bildungsbürgertums seiner Zeit betrachten. Diese Repräsentativität gilt v. a. mit Blick auf seine Haltung gegenüber den Registern sprachlicher Möglichkeiten im Varietätenspektrum zwischen Standard/ Schriftsprache und Substandard/Dialekt, ferner gegenüber den gesellschaftlichen Domänen, welchen er diese Register zuwies: Im Kontext dieser Sprachattitüden zeigte sich der auditiv sensible Kafka aufgeschlossen für auffällige Formen deutscher Dialekte und nahm mundartnahes bzw. substandardlich geprägtes Sprechen als ,lebendig‘ und ,authentisch‘ wahr. Angesichts seiner persönlichen Entfremdung vom Judentum wirkte das Ostjiddische, in dem er eine für die Mündlichkeit prädestinierte Sprache erkannte, sogar besonders emotionalisierend und atmosphärisch auf ihn. Die noch von der Romantik geprägte Sprachauffassung eines Fritz Mauthner, die in der Sehnsucht nach einer mundartlichen Fundierung der Dichtersprache gipfelte, teilte Kafka jedoch nicht. Mauthner hatte geklagt, ihm fehle für die Wortkunst das lebendige Wort einer eigenen Mundart. Ich weiß, daß ich mit dieser Klage jedem Gegner meiner Schriften eine Waffe in die Hand gebe. Ich muß es dennoch sagen: ich besitze in meinem innern Sprachleben nicht die Kraft und die Schönheit einer Mundart. Und wenn jemand mir zuriefe: ohne Mundart sei man nicht im Besitze einer eigentlichen Muttersprache – so könnte ich vielleicht heute noch aufheulen, wie in meiner Jugend, aber ich könnte ihn nicht Lügen strafen. Die dicht beieinander wohnenden Deutschen der böhmischen Grenzgebiete, die Deutschen des nordöstlichen, des nordwestlichen und des westlichen Böhmens haben ihre lieben und echten Dialekte. Der Deutsche im Innern von Böhmen, umgeben von einer tschechischen Landbevölkerung, spricht keine deutsche Mundart, spricht ein papierenes Deutsch, wenn nicht gar Ohr und Mund sich auf die slawische Aussprache eingerichtet haben. Es mangelt an Fülle des erdgewachsenen Ausdrucks, es mangelt an Fülle der mundartlichen Formen. Die Sprache ist arm. Und mit der Fülle der Mundart ist auch die Melodie der Mundart verloren gegangen. […] Mir blieb die Sehnsucht, die sich mit Verstehen und Nicht-Sprechen-Können süddeutscher Mundarten begnügen mußte. Die oberbayerische Mundart und einige allemannische [!] Mundarten haben mich beim ersten Anhören bis zu Tränen ergriffen. Sprachkünstlerisch, aus dem Unbewußten heraus, ist meine Sprache niemals lebendig genug gewesen, und darum nicht dichterisch genug (Mauthner 1918: 51–52).

Kafka ist ein solches Verlangen nicht nachzuweisen. Zum einen kann bei ihm von der Vorstellung, die eigene Muttersprache sei nicht mundartlich fundiert, nicht die Rede

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

sein; denn er reflektierte nicht nur über die externe Auffälligkeit seines ,Prager Deutsch‘, sondern überarbeitete auch seine zu veröffentlichenden Texte im Bewusstsein, beim Schreiben dem Einfluss substandardlicher Phänomene der deutschen Sprachlandschaft Prags ausgesetzt zu sein.71 Zum anderen erfuhr Kafka in der Mutter- wie in der Fremdsprache die Problematik dialektalen Sprechens, wenn er in intervarietären Kommunikationssituationen mit Verständnisbarrieren konfrontiert wurde – und dies bereits in den deutschen Dialektarealen der böhmischen Randgebiete. Die Begegnung mit dem ostjiddischen Theater brachte Kafka zudem zu der Überzeugung, dass Sprachvarietäten substandardlicher Prägung, trotz persönlich empfundener affektiver Vorzüge, nicht mit den Anforderungen einer Literatursprache, die überregionale Ansprüche erhebt, vereinbar waren. Dieser Einstellung entsprach das bereits in der schulischen Spracherziehung angelegte offene Bekenntnis Kafkas zur Sprache Goethes,72 die er nicht nur psychisch, sondern auch geradezu physisch als Maßstab für sein eigenes literarisches Schriftdeutsch internalisiert hatte.73 Daneben stehen Äußerungen, die auf Mundart als Sprache von Literatur eingehen. Kafkas ironischer Unterton mag implizieren, dass ,Dialekt-Literatur‘ nicht seine Sache war und ihm regionale Formen der Mündlichkeit wenig geeignet erschienen, als Medium literarischen Ausdrucks zu fungieren – auch wenn die Ironie in den folgenden Briefauszügen sicherlich dadurch mitbestimmt wurde, dass die Dialekt-Literatur, mit der er sich konfrontiert sah, offenbar aus der Feder von Amateuren stammte bzw. von solchen vorgetragen wurde: [Sanatorium in Erlenbach, Schweiz:] Dafür aber werden die Abende […] gesellig verbracht, sei es daß […] ein Berliner Trompetenbläser zu meinem großen Vergnügen bläst oder irgendein unsicher stehender Herr aus den Bergen ein Dialektstück nicht von Rosegger sondern von Achleitner

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vorliest […]. Nun meinst Du, bei diesen Unterhaltungen müßte ich nicht dabei sein. Das ist aber nicht wahr (Kafka 1999a: 143).

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S. hierzu Kap. 3.1.2.4. S. hierzu Kap. 3.1.1. Hierauf verweist ein Tagebuch-Eintrag Kafkas (1990b: 376), in dem er körperliche Regungen wie den Wechsel von Hitze und Kälte beim Lesen von Schriften Goethes protokollierte (vgl. Kap. 4.5.1). Gemeint waren Peter Rosegger (1843–1918), Schriftsteller aus der Steiermark, und Arthur Achleitner (1858–1927), bayerischer Heimatschriftsteller.

Kafkas Beurteilung regionalspezifischer Formen der Mündlichkeit

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[Aus Zürau (Siřem), Westböhmen:] [M]an […] hat über fast jeden Zürauer einen Vers gemacht, meiner ist, bis auf seine Reimschwäche, tröstlich: „Der Doktor ist ein guter Mon / Gott wird sich seiner erborm“ (Kafka 2013: 28).

Sucht man in Kafkas Prosa nach Reflexen einer Einstellung, die der Mundart den Eingang in literarisches Schrifttum verwehrt, so findet sich in einem vom Autor gestrichenen Abschnitt der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer folgende aussagekräftige Passage:75 Und nun wurde einmal ein Flugblatt der Aufständischen durch einen Bettler, der jene Provinz durchreist hatte, in das Haus meines Vaters gebracht. Es war gerade ein Feiertag, Gäste füllten unsere Stube, in der Mitte sass der Priester und studierte das Blatt. Plötzlich fing alles zu lachen an, das Blatt wurde im Gedränge zerissen, der Bettler, der allerdings schon reichlich beschenkt worden war, wurde mit Stössen aus dem Zimmer gejagt, alles zerstreute sich und lief in den schönen Tag. Warum? Der Dialekt der Nachbarprovinz ist von dem unsern wesentlich verschieden und dies drückt sich auch in gewissen Formen der Schriftsprache aus, die für uns einen etwas altertümlichen Charakter haben. Kaum hatte nun der Priester 2 derartige Sätze gelesen, war man schon entschieden. […] Und trotzdem […] aus dem Bettler das grauenhafte Leben unwiderleglich sprach, schüttelte man lachend den Kopf und wollte nichts mehr hören (Kafka 1993aII: 298–299).

Demnach umgibt die Verwendung dialektaler Formen das Geschriebene, mag es an sich auch von ernstem Charakter sein, mit der Aura des Lächerlichen, führt zur Abwertung seines Inhalts. Die öffentliche Nichtbeachtung einer derartigen Literatur durch die sich im originären Besitz der Schriftsprache wähnende Leser- bzw. Hörerschaft ist ein Akt, der parabolisch auf die Aussichten einer regionalsprachlich markierten Literatur zu Kafkas Zeit verweist. So muss die im Fortgang der Untersuchung immer wieder aufgeworfene Frage, ob Kafka beim Schreiben seiner Prosa womöglich bewusst regional-mündliche Formen verwendete, ob er in diesem Sinne eine Art ,Dialekt‑‘ oder ,dialektalisierte‘ Literatur schaffen oder seiner Prosa zumindest einen regionalen Unterton verleihen wollte, eindeutig negativ beantwortet werden. Aussagekräftig ist hier bereits der textimmanente Befund: Im Korpus finden sich zwar durchaus Fälle nachweislich fingierter Mündlichkeit,76 eines

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Kafkas Varianten/Autokorrekturen wurden hier bereits in das Textzitat integriert. Zu dieser „allgemeinsten und grundlegenden“ literarischen Funktion des Dialekts s. Mace (1987: 25–31).

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Kafkas Einstellung zu ,Standard/Schriftsprache‘ und ,Substandard/Dialekt‘

literarischen Einsatzes substandardlicher Formen.77 Diese sind aber zum einen in der Regel einer überregionalen Umgangssprache zuzuordnen, zum anderen liegen sie fast ausschließlich in wörtlicher Rede vor. Häufig markierte Kafka sie zudem als beabsichtigt, etwa durch das Setzen eines Apostrophs für ausgesparte Buchstaben.78 Im Erzähltext wurden ähnliche Kontraktionen zumeist noch im Schreibprozess berichtigt; sie sind somit als unwillkürlich erkennbar. Regional markierte Formen, die unkorrigiert blieben, gehören in der Masse entweder bereits einem regionalen Standard an und wurden von Kafka als normkonform betrachtet, oder sie stellen unbewusst verschriftlichte Interferenzen aus dem Substandard dar, die vom Autor übersehen wurden. Wenn sich in Kafkas literarischem Œuvre also Regionalismen finden, die einem Dialekt bzw. dem Substandard angehören, so ist seine Prosa keineswegs als intentionaler (durch Max Brods normalisierende Textedition allerdings ,verfälschter‘) stiller Prager Beitrag zum Versuch der „Re-Oralisierung“ (Nänny 1988: 216) von Literatur zu werten, der im frühen 20. Jahrhundert von Vertretern der avantgardistischen englischsprachigen Literatur ( James Joyce, Ezra Pound und Ernest Hemingway) ausging.79 Nichtsdestoweniger spricht aus Kafkas Text zweifellos eben gerade ein ,emotionalisierter Autor‘ mit seiner ureigenen Sprache. Die Ansicht, es gäbe „nur individuelles Denken und individuelle Sprachen“, hatte bereits Fritz Mauthner (21906: 195) kurz nach 1900 im Verlauf des Sprach­ skeptiker-Diskurses geäußert und in diesem Zusammenhang die rhetorische Frage gestellt: Wer spricht richtig? Niemand oder jeder. […] Wann sprechen wir richtig? Niemals oder immer. Denn es gibt keine mustergültige Gemeinsprache, sie ist eine Abstraktion, wie die Sprache – außerhalb der Individualsprache – überhaupt eine Abstraktion ist (Mauthner 21912: 165).

Hier manifestiert sich das Dilemma des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in das sich auch Kafka fügen musste: Eine absolut ,reine‘, ungefärbte Hochsprache ohne jede regionale Nuance erweist sich in der Praxis als Fiktion. Zu stark sind die Sprecher (und Schreiber) des Deutschen durch den jeweiligen Sprachgebrauch ihrer Herkunftsregion

77 78 79

Vgl. z. B. das (vom Rowohlt Verlag nicht akzeptierte) Guntag (Dv.34/19) in der Erzählung Unglücklichsein. Vgl. z. B. wer{’}s bezweifelt (Sv.308/6), Bin ich’s nicht wert? (N1.424/7), ’Sist nur ein Arzt (Dv.259/15). Zu den enklitischen Formen in Kafkas Prosa-Handschriften s. Kap. 5.1.1.1.1. Ihr Ziel war die Verjüngung, Revolutionierung oder Re-Primitivisierung literarischer Formen durch den Rückgriff auf orale Ausdrucksweisen, u. a. eine dialektal geprägte Umgangssprache (Schröder 2005: 675): „We would write nothing that we might not say actually in life – under emotion“ (Pound 1963: 362).

Zusammenfassung

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geprägt. Zu stark schrieb auch Kafka in dem Bewusstsein, aufgrund verschiedener zeittypischer, regionaler und individueller Faktoren beim Schreiben Einflüssen des Substandards ( Jiddisch, Kleinseitner Deutsch, Normdivergenz) ausgesetzt zu sein. Diese Gewiss­ heit offenbarte er nicht zuletzt in dem eingangs der Untersuchung zitierten Brief: Hier bezeichnete er das durch „Anmaßung eines fremden Besitzes“ (Kafka 1958: 336) erworbene Deutsch der assimilierten Juden der ,zweiten (seiner eigenen) Generation‘ als „ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt hat, daß im Deutschen nur die Dialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutsch wirklich lebt“ (Kafka 1958: 337). Die geistige Verwandtschaft zu Hugo von Hofmannsthals (1986: 296) Statement, der Dialekt erlaube zwar „keine eigene Sprache, aber eine eigene Stimme“, ist unverkennbar (Herrmann-Winter 1994: 464; Heinz 2009: 299). Dieses „allerpersönlichste Hochdeutsch“ hat Kafka letztlich in den Manuskripten seiner Prosa-Schriften niedergelegt.

3.3  Zusammenfassung Als Resümee zu Kafkas Spracheinstellungen ergibt sich, dass er in seinem durchaus zeitund schichttypischen Sprachpurismus durch vier sprachsoziologische Verunsicherungsfaktoren (Sprachkritik, Normdivergenz, Judentum, Prager Multilingualismus) psychologisch beeinträchtigt wurde und beim Schreiben literarischer Texte wiederholt an seiner normgerechten Ausdrucksfähigkeit zweifelte. Obwohl er persönlich ausgesprochen sensibel und aufgeschlossen gegenüber Erscheinungsformen gesprochener Sprache war, hing Kafkas Wertschätzung regionaler Varietäten des Deutschen und anderer Sprachen allerdings maßgeblich vom Grad ihrer Verständlichkeit ab. Dies kann ebenfalls als repräsentativ für seine Zeit und seine gesellschaftliche Schicht gelten. Kafka, der den höheren authentischen und emotionalen Wert substandardlicher Mündlichkeit durchaus anerkannte, betrachtete diese allerdings als nicht geeignet für die hohen Ansprüche, die er an literarisches Schrifttum stellte. Hinsichtlich seiner eigenen Literatursprache traf er demzufolge eine dezidierte Entscheidung für die ,Sprache Goethes‘ und erteilte einer dialektalisierten Literatur eine Absage.

4  Der Einfluss des Schreibprozesses auf die verwendete Sprache und die Textgestalt Bis hierher wurde deutlich, dass Kafka, wenn er als Schriftsteller an die Öffentlichkeit trat, eine Prosa vorzulegen beabsichtigte, die auf überregionale Rezeption hoffen konnte. Sein prinzipielles Abwenden von Dialekt-Literatur und seine sprachpuristische Akribie im Vorfeld von Druckvorhaben werfen allerdings die Frage auf, wie Formen des Substandards, die Max Brod zur ,Reinigung‘ der postumen Schriften veranlassten, überhaupt in wahrnehmbarer Zahl Eingang in Kafkas Literatursprache finden konnten. Die Antwort darauf ist im Augenblick der Niederschrift zu suchen, im Charakter des literarischen Schreibprozesses.

4.1  Zum generellen Stellenwert des Prozessualen im Schreibakt in Kafkas Leben und Werk Nur sehr selten bezeichnete Kafka (1990b: 53) seine schriftstellerische Tätigkeit als ,Dichtung‘ oder ,Dichten‘. Auch von ,Schaffen‘ oder ,Kunst‘ ist nirgendwo die Rede. Stattdessen verwendete Kafka fast ausschließlich das (substantivierte) Verb ,schreiben‘, wenn er von seiner literarischen Textproduktion sprach (u. a. Demmer 1973: 94; Müller-Seidel 1987: 105; Kautman 1996: 24). Damit gehört er zu jenen Schriftstellern der Moderne, die den Akt gegenüber dem Endprodukt des Schreibens aufgewertet haben (Fiechter 1999: 176– 177; Schütterle 2002: 40–43). Durch die Zurücknahme der Person des Autors zugunsten des Schreibenden stand fortan die dominierende Rolle des Aufschreibvorgangs, „der sein autonomes Recht gegenüber der zu verzeichnenden Faktizität und Befindlichkeit behauptet“ (Korte 1994: 256), im Mittelpunkt des Interesses. Kafka bekannte sich explizit zu diesem persönlichen Primat des Schreibens: Als er es 1917 einmal ablehnte, einige seiner Erzählungen für eine öffentliche Lesung in Frankfurt a. Main zur Verfügung zu stellen (Demmer 1973: 87, 99), begründete er dies damit, er „respektiere nur den Augenblick“, in dem er sie geschrieben habe; als fixierte Ergebnisse des Schreibens bedeuteten ihm die Texte dagegen „wesentlich gar nichts“ (Kafka 2005: 358–359).

Textsortenabhängig divergierende Befunde

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Bedingt wurde diese Aufwertung des Prozessualen teilweise durch die starke Abschirmung der Werke Kafkas gegenüber der ihn umgebenden empirischen Lebenswirklichkeit; häufig ,verstrickten‘ sie sich dadurch förmlich in ihrem eigenen handwerklichen Entstehungsprozess. Das Geschriebene trug somit die unverkennbaren Spuren seines gleichermaßen fassbaren wie unfassbaren Schreibaktes (Pasley 1980: 22–23). Indem Kafka seine Prosa zur Gänze als bloße Versuche deklarierte, wies er ihr auch die Funktion zu, das Schreiben als einen Prozess gegenwärtig zu halten (Kremer 2006: 82). Christian Schärf (2008: 72, 75) spricht sogar von einem implizierten Bekenntnis Kafkas zu einer zwanghaften Haltung gegenüber dem Schreiben, das beim gleichzeitigen Verweis auf das (vielleicht immer) Unfertige des Geschriebenen den prinzipiell prozesshaften Charakter der literarischen Produktivität hervorhebe. Da Kafka dem Schreiben darüber hinaus eine dominierende Stellung gegenüber allen Daseinsaspekten und Lebensfunktionen einräumte, könne man dem Begriff und dem Vorgang des Schreibens einen regelrechten Fetischcharakter zusprechen. Dieser werde etwa in der Korrespondenz mit Felice Bauer (in erotischer Gestalt) greifbar, wo das Schreiben als Haupt- und Leitmotiv immer wieder in den Vordergrund trete und in den Wunschbildern Kafkas alle Formen einer realen Liebesbeziehung verdränge.

4.2  Textsortenabhängig divergierende Befunde bezüglich der Anfälligkeit Kafkas für Normabweichungen und der Häufigkeit von Autokorrekturen Dieser aufgewertete Schreibakt wirkte sich bei Kafka auf signifikant unterschiedliche Art auf die Produktion verschiedener Textsorten aus. Bereits Max Brod unterschied bei der Herausgabe der postumen Schriften Kafkas bei seinen editorischen Eingriffen zwischen den literarischen und den ‚informellen‘ Texten. Im Nachwort zur Ausgabe der Briefe legte er dar: Sprachfehler, Pragismen, orthographische Fehler sowie Interpunktionsversehen Kafkas habe ich nicht in gleichem Ausmaß berichtigt wie bei der Herausgabe seiner dichterischen Werke. Nur in dringendsten Fällen habe ich eingegriffen (Brod 1958: 495).

Brods Richtlinien scheinen zu implizieren, sein Vorgehen sei allein dadurch bestimmt gewesen, dass er den ‚informellen‘ Texten aufgrund ihres geringeren Öffentlichkeitscharakters

140

Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

stärkere und häufigere Abweichungen von der ihm vorschwebenden sprachlichen Idealnorm zugestehen konnte als den literarischen Texten, die er für ein breites Publikum auch außerhalb Prags vorgesehen hatte. Vielleicht versuchte Brod so aber auch zu kaschieren, dass er in Kafkas Prosa weitreichende, nicht nur die Sprache, sondern auch die Form des Textes betreffende Eingriffe vorgenommen hatte, mit der Absicht, dem Fragmentarischen den Anschein der leserfreundlicheren Abgeschlossenheit zu geben.1 Indes finden sich Indizien dafür, dass Kafkas Briefe und Tagebücher auch bei identischen editorischen Grundsätzen faktisch deutlich weniger Eingriffe erfordern würden als seine Prosa-Schriften, unabhängig von einer textsortenspezifisch erhöhten oder verminderten Fehler-Toleranz eines Herausgebers. Zu diesem Ergebnis führt ein quantitativer Vergleich der jeweiligen editorischen Eingriffe in die etwa gleich großen Textkorpora der Roman-Fragmente (Kafka 21983aII; 1990aII; 2002II), der bis Ende 1917 verfassten Briefe (Kafka 1999a–b; 2005) und der Tagebücher (Kafka 1990bII) innerhalb der KKA. Die Editionsrichtlinien der Herausgeber lauten dabei in jedem der drei Fälle weitgehend identisch2 und scheinen keinen textsortenspezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Stellt man die durchschnittlichen Häufigkeiten, mit welchen in den jeweiligen Textkorpora editorische Eingriffe pro Textseite3 vorgenommen wurden, einander gegenüber, so ergibt sich folgendes Bild:

1 2

3

S. hierzu Kap. 1.5.2. Vgl. zu den Romanen: „Eingegriffen wurde nur bei offensichtlichen Versehen (z. B. Verschreibungen) und sonstigen Anomalien in Wortlaut, in Orthographie und Interpunktion, die sinnstörend wirken oder die Lesbarkeit des Textes deutlich erschweren würden, sowie bei in Ziffern geschriebenen Größen- und Zeitangaben“ (Pasley 21983a: 7; 1990c: 7; Schillemeit 2002b: 7–8); vgl. zu den Briefen: „[E]ingegriffen wurde nur bei eindeutig sinnentstellenden oder irreführenden Versehen in Wortlaut, Orthographie und Interpunktion“ (Koch 1999a: 701; 1999b: 657; 2005: 905); vgl. zu den Tagebüchern: „Eingegriffen wurde nur bei eindeutigen Versehen, die sich meistens aus der Flüchtigkeit der Niederschrift erklären […], sowie in einigen wenigen Fällen, in denen die Lesbarkeit des Textes durch unvollständige Interpunktion infolge von Korrekturvorgängen in einer für den Benutzer unzumutbaren Weise erschwert würde“ (Koch/Müller/Pasley 1990: 9). Dabei werden auch nur teilweise bedruckte als volle Seiten gezählt. Schriftgrad und Zeilenzahl pro Seite (27) sind im Falle der Romane und Tagebücher identisch. Bei den Briefen ist der Schriftgrad zwar kleiner und die Zeilenzahl pro Seite (36) entsprechend höher. Die regelmäßig durch Absetzungen zwischen den Briefen bestehenden nicht bedruckten Zwischenräume lassen allerdings eine in etwa vergleichbare Textmenge pro Seite annehmen.

Textsortenabhängig divergierende Befunde

Briefe

TB

Romane

Band der KKA

141

Textseiten (A)

editorische Eingriffe (B)

Durchschnitt B/A

Der Proceß

347

1791

5,16

Der Verschollene

406

1874

4,62

Das Schloß

489

1345

2,75

Romane insgesamt

1242

5010

4,03

Tagebücher

1023

1475

1,44

Tagebücher insgesamt

1023

1475

1,44

Briefe 1900–1912

374

128

0,34

Briefe 1913–März 1914

364

137

0,38

Briefe April 1914–1917

391

178

0,46

Briefe insgesamt

1129

443

0,39

Tab. 2:  Quantitativer Vergleich der durchschnittlichen Anzahl editorischer Eingriffe pro Textseite in der KKA der Romane, Tagebücher und Briefe

Es wird ersichtlich, dass in die Texte der Romane fast dreimal so häufig wie in jene der Tagebücher eingegriffen wurde und sogar mehr als zehnmal so häufig wie in jene der Briefe. Dieser Befund lässt die Annahme zu, dass Kafka beim Schreiben literarischer Texte tendenziell erheblich anfälliger für Flüchtigkeitsfehler bzw. (ungewollte) Abweichungen von der schriftsprachlichen Norm war als bei der Abfassung nicht literarischer Texte. Die gegenüber der Korrespondenz fast viermal häufigeren editorischen Eingriffe in den Tagebüchern scheinen durch den Umstand erklärbar, dass Kafka in seine diaristischen Hefte gelegentlich auch Prosa-Sequenzen notierte, die dann wiederum dem ‚literarischen Schreiben‘ unterlagen. Auch ein quantitativer Vergleich von Kafkas Varianten4 zu den drei betrachteten Korpora lässt deutliche Unterschiede zwischen den literarischen und den nicht literarischen Schriften erkennen: Innerhalb der Romane steht jeder edierten Textseite im Schnitt gut eine halbe Seite (0,57) an Varianten gegenüber und damit doppelt so viel wie im Falle der Tagebücher (0,28). Berücksichtigt man hier erneut literarische ,Einsprengsel‘, so lässt

4

Für die Seitenzählung gelten die gleichen Richtlinien wie im Falle des edierten Textes (vgl. Anm. zuvor). Da die Zeilenlänge hier allerdings stark variiert, können nur Annäherungswerte ermittelt werden.

142

Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

sich annehmen, dass der Abstand zwischen Kafkas Prosa und den ,echten‘ diaristischen Eintragungen noch deutlicher ausfallen würde.

TB

Romane

Band der KKA

Textseiten (A)

Variantenseiten (B)

Verhältnis A:B

Der Proceß

347

190

1:0,55

Der Verschollene

406

150

1:0,37

Das Schloß

489

374

1:0,76

Romane insgesamt

1242

714

1:0,57

Tagebücher

1023

288

1:0,28

Tagebücher insgesamt

1023

288

1:0,28

Tab. 3:  Quantitativer Vergleich des durchschnittlichen Verhältnisses von Text und zugehöriger Variantenmenge in der KKA der Romane und Tagebücher

Im Falle der Briefe ist das quantitative Verhältnis von ediertem Text und zugehörigen Varianten schwer zu bestimmen. Denn die Anmerkungen zur Überlieferung, die editorischen Eingriffe und die Varianten werden hier im Verbund wiedergegeben, so dass kein durchgehender Variantenapparat vorliegt. Als Indiz für eine wesentlich geringere Menge an Autokorrekturen als in den Prosa-Schriften kann jedoch der Umstand gewertet werden, dass die Zahl von Kafkas Eingriffen bei 410 (36,84 Prozent) der 1113 bis Ende 1917 geschriebenen Briefe, d. h. bei gut jedem dritten, maximal zwei beträgt; in 308 Briefen (27,67 Prozent), also in gut jedem vierten, findet sich maximal eine Korrektur. 180 Briefe (16,17 Prozent), mithin immerhin fast jeder sechste, stellen im Prinzip Reinschriften dar. In der Summe lassen diese textsortenabhängig divergierenden Befunde folgende Schlüsse zu: 1. Kafka unterliefen beim literarischen Schreiben mehr Abweichungen von der angestrebten Norm als bei der Abfassung von Tagebüchern oder Briefen. 2. Entsprechend führte Kafka in seiner Prosa wesentlich häufiger als in den diaristischen Schriften und der Korrespondenz eigenhändige Korrekturen bzw. Emendationen durch. 3. Diese Eingriffe erfassten jedoch nicht alle Normverstöße, so dass die Herausgeber der KKA bei der Edition der literarischen Schriften wesentlich häufiger als bei der Herausgabe der Briefe und Tagebücher zugunsten der Lesbarkeit in den Text eingegriffen haben.

Abhängigkeit vom Adressatenbezug

143

Diese variierende Fehleranfälligkeit und schwankende Korrekturmotivation deuten auf markante Unterschiede im Ablauf der jeweiligen Schreibprozesse hin. Um diese fassbar zu machen, scheint es erforderlich, die Funktion zu bestimmen, welche die betrachteten Textsorten für Kafka jeweils erfüllten, und sich über den Grad eines konkreten Adressatenbezugs im Moment ihrer Niederschrift klar zu werden.

4.3  Kafkas Schreibprozess in Abhängigkeit vom Adressatenbezug im Moment der Niederschrift 4.3.1  Die generelle Verzahnung von Fiktionalem und Nichtfiktionalem in Kafkas Schriften Laut Maximilian G. Burkhart (2008: 386) wäre die Frage nach der Öffentlichkeit oder Privatheit von Kafkas Schriften heute überflüssig, hätte man Kafkas Nachlass gemäß seinem Willen vernichtet. Angesichts der Ambivalenz seines Testaments könne man bei Kafka viele traditionelle Fragen an Literatur als obsolet betrachten, so etwa die Unterscheidung zwischen privaten und zur Veröffentlichung bestimmten Texten (Jahraus 2006: 122–126). Dass Kafkas Prosa zahlreiche autobiographische Reflexe aufweist, die vom Vater-Sohn-Konflikt über die Aporie zwischen frei gelebtem Schriftstellertum und den Zwängen bürgerlicher Existenz bis hin zum nicht gelebten Judentum reichen, darf als fester Wissensbestand der Forschung betrachtet werden. Bei Ausklammerung der amtlichen Schriften ist die durchgehende Verzahnung von Fiktionalem und Nichtfiktionalem jedoch auch in Kafkas sonstigem Werk unübersehbar. So erscheint der Terminus „literarische Autobiographik“ (Anz 21992: 22–23) in einem doppelten Sinn treffend: Kafkas ,Autobiographik‘ (Briefe, Tagebücher) unterliegt einer beträchtlichen literarischen Stilisierung, während seine literarischen Gattungen, also Romane und Erzählungen, in hohem Maß autobiographisch gefärbt sind bzw. als ,autobiographische Montagen‘ erscheinen (Hermsdorf 21966: 187). So hat etwa Schärf (2008: 84) anhand der Korrespondenz mit Felice Bauer herausgearbeitet, wie Kafka mit seiner erotischen Fetischisierung des Schreibens, seiner Selbstdarstellung als Paradoxon zwischen Leben und Schreiben und seiner Räsonierung über Beendigung oder Fortsetzung der Korrespondenz das reale Leben in Briefe transformierte, bestimmte Lebensvollzüge wie die Erotik poetisch und medial überformte und somit eine Kultivierung bewirkte. Preece (2002: 118) gesteht den Briefen an Felice insofern „the quality of an epistolary novel rather than a collection of biographical materials“ zu. Im ähnlichen Sinne bezeichnet Kautman (1996: 51) die Briefe an Milena Jesenská als „im wahrsten Sinne des Wortes […] einzigartiges,

144

Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

geschlossenes Kunstwerk.“ Canetti (1995: 106) wiederum sieht Kafkas briefliche Korrespondenz im Zustand eines Fließ-Gleichgewichtes mit seiner literarischen Arbeit. Im Falle der Tagebücher erweist sich sogar eine klare formale Abgrenzung zu Kafkas Prosa, Briefen oder einfachen Notizen als nahezu unmöglich. Seine Tätigkeit als Beamter und häuslich-familiäre Verpflichtungen erschwerten es Kafka, seine unterschiedlichen Arten literarischer Tätigkeit klar voneinander zu separieren. Kafka schrieb Eintragungen diverser Art in Notizbücher und Hefte, in welchen sich demzufolge verschiedenste Textsorten mischten, unter welchen sich alle Facetten der Gattung des europäischen Tagebuches finden: Hilfsmittel für die literarische Arbeit und literarisches Experimentierfeld, Vorbereitung künftiger Werke, Erinnerungsprotokoll, Speicher dichterischer Einfälle und Stimmungslagen, Medium der Reflexion, des geistigen Dialogs, Spiegel der Selbsterkenntnis und ‑beobachtung, Ort bewusster Persönlichkeitsbildung (Boerner 1969: 20–24). Da manche Einträge von Prosa-Stücken (z. B. Das Urteil, Der Heizer, Vor dem Gesetz) mit vorhergehenden oder folgenden diaristischen Notizen durch inhaltliche Bezüge verzahnt sind, fiktionales und diaristisches Schreiben also im Verbund auftreten, sieht Clayton Koelb (1994: 172; 2008: 98) in Kafkas Tagebüchern seine „literarische Werkstätte“. So könne man die Ansicht vertreten, Kafka habe im Prinzip ausschließlich Tagebücher verfasst (Fiechter 1999: 175–177). Diese gefühlsmäßige Verbindung steht auch für die enge Verflechtung von Kafkas Leben und Schreiben.5 4.3.2  Textsortenspezifische Strategien des Schreibprozesses Es ist zu vermuten, dass die Unterschiede im Entstehungsprozess der Briefe und Tagebücher einerseits und der Prosa andererseits in der konkreten Funktionalität zu suchen sind, die ein Text im Verlauf der ersten Niederschrift für Kafka hatte. Diese Funktionalisierung scheint den Schreibprozess und damit die Textgestalt nachhaltig beeinflussen zu können: Denn [a]uch Briefe sind ja in gewissem Sinne geschaffen für die Öffentlichkeit, auch wenn diese „Öffentlichkeit“ nur eine einzige oder einige Adressaten sind, während eine Erzählung oder ein Roman ein Text sein kann, den der Autor nur für sich allein aufschreibt, und der, wenn er diesen, von anderen ungelesenen Text vernichtet, definitiv ungelesen bleibt, geschaffen nur für den Verfasser (Kautman 1996: 51).

5

S. hierzu Kap. 3.1.2.1 und 4.4.12.

Abhängigkeit vom Adressatenbezug

145

4.3.2.1  Latenter Rollencharakter und konkreter Adressatenbezug beim Verfassen von Briefen6 Beim Blick auf Kafkas private Korrespondenz versteht sich, dass der Verfasser im Moment der Niederschrift bereits um eine Öffentlichkeit von einer Person wusste, die das Geschriebene lesen würde. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass Briefe ein durch den Anspruch der Umwelt und den Charakter des Dialogs bestimmtes Medium zwischenmenschlicher Kommunikation darstellen. Angesichts dieses Rollencharakters hat man gewissermaßen von einem implizierten Autor auszugehen, der z. T. den Erwartungshorizont des Briefempfängers einnimmt und die Perspektive des realen Autors nicht übereinstimmend teilt. So lässt sich u. a. aus der variierenden Darstellung ein und desselben Sachverhaltes gegenüber verschiedenen Korrespondenzpartnern folgern, dass Kafkas Neigung, sich „in jeden mit Lust hinein[zudenken]“ (Kafka 1999b: 157), sich also selbst mit den Augen anderer zu sehen, ihn vor dem Hintergrund von Ängstlichkeit und Selbstbehauptungswillen häufig dahingehend beeinflusste, das schriftlich Mitgeteilte auf den Erwartungshorizont des Adressaten abzustimmen – oder es aber als Ergebnis einer Abwehrreaktion in krassen Gegensatz dazu zu bringen (Binder 1969: 555–557; 1979c: 511). Ein solches Vorgehen bringt öfters auch einen ausgesprochenen Rollencharakter der Mitteilungen hervor, insofern diese formal als Rede oder Gedanke des Briefpartners stilisiert sind, der Schreiber über sich in der 3. Person reflektiert. Die Absicht dabei ist meist, gegen Kritik unangreifbar zu werden. Indem Kafka dem Gesprächspartner die aus einem Brief zu ziehenden Folgerungen vorwegnimmt, sie ihm aber dadurch gleichzeitig zuschiebt, ist der andere, psychologisch gesehen, gezwungen, sich von ihnen als Gedanken Kafkas zu distanzieren und sie als grobe, übersteigerte Selbstverurteilungen des Schreibers auch dann zu dementieren, wenn er ihre Tendenz billigt (Binder 1979c: 515).

Bei Kafka fungierte der Briefwechsel zudem auch als Ersatz für eine persönliche Begegnung, v. a. wenn er befürchtete, das Gemeinte im Gespräch unter dem ungünstigen Einfluss von Äußerlichkeiten und situativen Nötigungen nicht adäquat vermitteln zu können. Da er seine Redefähigkeit als gering einschätzte (Kafka 1999b: 209), glaubte er, Sachverhalte schriftlich klarer, vollständiger, freier und unabhängiger ausdrücken zu

6

Zur Klassifikation des Privatbriefs als Schrifttextsorte der privaten, (fremd‑)partnerorientierten Alltagskommunikation s. Heinemann (2000: 610).

146

Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

können als im Gespräch (Binder 1979c: 516; Kautman 1996: 25).7 Im Falle des Briefes an den Vater führte dies sogar zu einem Adressaten-Wechsel: Hermann Kafka, dem der Brief galt, bekam ihn niemals zu lesen. Stattdessen übergab Kafka das Schreiben Milena Jesenská zur Lektüre (Kafka 2013: 192, 202). Auch im Zusammenhang mit seiner Absicht, den Brief durch seine Schwester Ottla beurteilen zu lassen (Kafka 2013: 85), übernahm dieser die Funktion eines Erklärungsmediums, das Kafka das Sprechen ersparte. Eine derartige Schreibhaltung, die den Brief durch einen Rollencharakter konkret funktionalisierte8 oder aber einem Mitteilungsbedürfnis diente, das im Gespräch nicht adäquat befriedigt werden konnte, forderte zweifellos bereits vor der Textproduktion ein erhebliches Maß an Konzeption und im Verlauf des Schreibens erhöhte Konzentration. Zudem musste der Verfasser, der um einen konkreten Adressatenbezug wusste, auch im Sinne des optischen Endergebnisses entweder gänzlich Korrekturen vermeiden (was ihn zu ruhigem, bedachtem und konzentriertem Schreiben motiviert haben dürfte), oder aber es war ein vorausgehender Konzeptentwurf nötig, der dann in die Reinschrift übertragen werden konnte.9 Ein solchermaßen ,gezähmter‘, von der planenden Ratio des Autors weitgehend beherrschter Schreibakt ließe eine geringe Anfälligkeit des Schreibenden für Flüchtigkeitsfehler erwarten, wie sie in Kap. 4.2 den Briefen Kafkas im Gegensatz zu seiner Prosa anhand des Editionsbefundes der KKA attestiert wurde. Dieser tendenziell kontrollierte Charakter des Schreibens hielt den Einfluss substandardlicher Mündlichkeit auf die verwendete Sprache demnach gering, ungeachtet der Tatsache, dass Kafkas Ton bei der Korrespondenz mit engen Bekannten und Freunden durchaus informell werden konnte.

7 8 9

Vgl. hierzu z. B. Kafka (1958: 395–396, 424; 1999a: 239–240; 1999b: 265, 367; 2005: 69, 116, 384–386). Sie konnte, wie etwa gegenüber Milena Jesenská, durchaus spielerisch-ironisch sein (Schärf 2008: 82). Derartige Entwürfe finden sich in Kafkas Prosa (Kafka 1992I: 341–343, 526–530; 1992II: 128– 129, 303; 1993aI: 332, 336–337, 341–343) wie in seinen Tagebüchern (Kafka 1990b: 431–432). Sie wurden vermutlich in Reinschrift übertragen und an die jeweiligen Adressaten (u. a. Felice Bauer, Milena Jesenská und Franz Werfel) geschickt. Auch der Reinschriftcharakter des Briefes an den Vater lässt die Vermutung zu, dass ihm zumindest z. T. Entwürfe vorausgegangen sein müssen (Schillemeit 1992: 57).

Abhängigkeit vom Adressatenbezug

147

4.3.2.2  Kontrollierte Selbstreflexion und Berichterstattung beim Verfassen von Tagebüchern10 Auch wenn das Tagebuch vielfach als die intime, private, primär für den Schreibenden selbst bestimmte Textsorte schlechthin betrachtet wird, ist bei der Abfassung zumal reflexiver Tagebücher die Gegenwart eines imaginären Publikums nicht auszuschließen (Boerner 1969: 25–26). Wie Elias Canetti (1982: 60) feststellt, spreche man im Tagebuch außer zu sich selbst immer auch zu anderen. Hier fänden „[a]lle die Gespräche, die man in der Wirklichkeit nie zu Ende führen kann […], alle die absoluten, schonungslosen, vernichtenden Worte, die man anderen oft zu sagen hätte“, ihren Niederschlag. Kafkas Sonderform des Tagebuches weist zudem unübersehbare gattungsmäßige Überschneidungen mit Textsorten auf, die zur Veröffentlichung bestimmt sind (Boerner 1969: 12–13).11 Am stärksten zeigt die Verwandtschaft zum Brief, der a priori an ein Du gerichtet ist und mit dem sich bereits durch die hohe Subjektivität Berührungen ergeben, dass man auch bei Kafkas diaristischen Aufzeichnungen von der Anwesenheit einer ,bedingten‘ oder ,selektiven Öffentlichkeit‘ im Bewusstsein des Autors zum Zeitpunkt der Niederschrift ausgehen kann. Tatsächlich konnte das Tagebuch für Kafka zum Ersatz schriftlicher Korrespondenz avancieren (Fiechter 1999: 177) und damit mit einem expliziten Adressatenbezug und mit dem Rollencharakter von Briefen12 versehen werden: Wie wäre es, Liebste, wenn ich Dir statt Briefe – Tagebuchblätter schicken würde? Ich entbehre es, daß ich kein Tagebuch führe, so wenig und so nichtiges auch geschieht und so nichtig ich alles auch hinnehme. Aber ein Tagebuch, das Du nicht kennen würdest, wäre keines für mich (Kafka 1999b: 133). [U]nd wärest Du denn Liebste imstande, die Blätter dann nur als Tagebuch und nicht als Brief zu lesen[?] (Kafka 1999b: 139).

Die gleiche Funktionalisierung ist gegenüber Max Brod bezeugt: Kafka las dem Freund nicht nur aus den Tagebüchern vor (Kafka 1990b: 332, 339), sondern er ließ sie ihm auch 10 11

12

Zur Einordnung des Tagebuch-Eintrags als Schrifttextsorte der privaten Alltagskommunikation s. Heinemann (2000: 610). Dies betrifft die Chronik, da Kafka das Tagebuch nicht von Tag zu Tag, sondern von Ereignis zu Ereignis führte, sowie die Autobiographie, für die Kafka Interesse zeigte (Kafka 1990b: 298; 1992I: 373). S. hierzu Kap. 4.3.2.1.

148

Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

zur Lektüre zukommen. Kafkas Äußerungen über den Rollencharakter des eben ,nicht nur für ihn selbst Bestimmten‘ stellten auch hier eine unmittelbare Nähe zum Brief her bzw. zu literarischen Textsorten, die einen Leser implizieren: Mein lieber Max, hier ist mein Tagebuch. Wie Du sehen wirst, habe ich, weil es eben nicht nur für mich bestimmt war, ein wenig geschwindelt, ich kann mir nicht helfen, jedenfalls ist bei einem solchen Schwindel nicht die geringste Absicht, vielmehr kommt es aus meiner innersten Natur (Kafka 1999a: 157).

Wie Kafka selbst zugab, ließ ihn die Öffnung seines Tagebuches für andere „Veränderungen und Auslassungen“ (Kafka 1999b: 133) vornehmen, damit die Selbsterkenntnis nicht zu schonungslos offenbar werde (Kafka 1990b: 143). Das Führen von Tagebüchern dürfte Kafka demnach mittelbar in ein Netz sozialer Beziehungen eingebunden haben, „which will make him say this rather than that […]. An invisible audience will exert some degree of control on his writing, impelling him towards choices along every dimension of language“ (Ludwig 1983: 55). Weitere Fälle, in welchen Kafka seine Tagebücher einer zweiten Instanz öffnete, erweiterten den Adressatenkreis: 1921 etwa übergab er seine sämtlichen TagebuchHefte Milena Jesenská, die sie erst nach seinem Tod Max Brod aushändigen sollte (Kafka 1990b: 863; Brod 31954a: 293). Die Entstehungsgeschichte der von Brod und Kafka parallel geführten Reisetagebücher von 1911 zeigt, dass ihre Produktion als protokollarischer und selbstreflexiver Austausch zwischen den Freunden von vornherein zumindest erwogen wurde (Brod/Kafka 1987: 73; Kafka 1990b: 943). Die Verarbeitung dieser Notizen zum ersten Kapitel eines Romans13 belegt ferner, dass beide die Aufzeichnungen des jeweils anderen auch lasen. Kafkas Einverständnis, seine Reisenotizen von 1909 zu publizieren,14 bestätigt die Existenz eines implizierten Publikums genauso. Solche Akte ,selektiver Veröffentlichung‘ dürften sich, je öfter sie geschahen, immer deutlicher im Bewusstsein des Schreibenden als grundsätzlich mögliche Funktionalisierung und Adressierung ,echter‘, mit Datumsangabe versehener und protokollarisch abgefasster Tagebuch-Einträge verfestigt haben. Nicht zuletzt gilt für diaristische Protokolle, dass der Vorgang des Beschreibens häufig in einer gewissen zeitlichen Distanz – von einigen Stunden bis zu gewöhnlich nicht mehr

13 14

S. hierzu Brod/Kafka (1987: 193–208) und Kafka (1990b: 74). Richard und Samuel wurde 1912 in den Herder-Blättern veröffentlicht. Die Aeroplane in Brescia erschien 1909 in der Tageszeitung Bohemia.

Abhängigkeit vom Adressatenbezug

149

als einem Tag – zum Beschriebenen vollzogen wird (Boerner 1969: 11). Wo Kafka etwas im Laufe eines Tages Beobachtetes, Erlebtes oder Gedachtes reproduzierte, dürfte er das Schreiben demnach resümierend oder reflektierend und nicht unter zeitlichem Druck angegangen haben. Insgesamt lässt sich somit, wie beim Briefeschreiben, auch für Kafkas Führung von Tagebüchern von einem konzipierenden Schreibprozess ausgehen, der durch ein gewisses Maß an Reflexion und Konzentration bestimmt wurde. Die planende Ratio des Schreibenden hatte so spürbaren Anteil am Schreibakt, hielt den Einfluss der Flüchtigkeit und des Substandards auf das Niedergeschriebene gering und ließ, wie in Kap. 4.2 anhand der KKA nachgewiesen, nur verhältnismäßig wenige Normverstöße zu. 4.3.2.3  Der prinzipielle ,reine Dialog des Schreibenden mit sich selbst‘ bei der Niederschrift literarischer Werke15 Ganz anders stellten sich Adressatenbezug und Funktionalität bei Kafkas literarischen Werken im Moment ihrer Niederschrift dar. Aussagekräftig sind in dieser Hinsicht bereits die von Kafka für das Schreiben verwendeten bildhaften Wendungen in Verbform. Sie deuten an, dass er selbst Subjekt und zugleich Objekt seines Schreibens war und zwar nicht nur in Gestalt desjenigen, der schrieb und über den geschrieben wurde, sondern auch desjenigen, an den das Geschriebene gerichtet war, als habe es sich um ein Selbstgespräch oder eine Selbstansprache gehandelt (Demmer 1973: 74–95). So bezeichnete Kafka sein Schreiben als ‚Sich-Ansprechen‘, ‚Sich-Ausbreiten‘, ‚Aus-sich-Herausschreiben‘, ‚SichGespenster-Machen‘, ‚Sich-Treffen‘, ‚Zwiegespräch-mit-sich-Führen‘, ‚Sich-auf-den-Fersen-Sein‘, ‚Für-sich-Klagen‘,16 ‚Aus-sich-Herausschlagen‘, ,Aus-sich-Hinauswerfen‘, ,SichBefreien‘, ,Sich-Herausbringen‘, ,Sich-Eintauchen‘ und ,Sich-Ausgießen‘. Dies alles sind Wendungen, die eine Rückbeziehung des Objekts auf das Subjekt zum Ausdruck bringen. Die lange als wissenschaftliches Allgemeingut geltende Überzeugung von der skrupulösen Zurückhaltung Kafkas gegenüber der Veröffentlichung eigener Texte wurde durch Joachim Unselds (1982; 2008) Studien zu Kafkas Publikationsverhalten insofern relativiert, als Kafka keine a priori programmatische Abneigung gegenüber dem Publizieren

15 16

Die Klassifizierung literarischen Schrifttums als Ganzes als ,literarische‘ Textsorte, der die Genres bzw. Gattungen als Teilmengen untergeordnet sind, folgt Fricke (1983: 268–278). Zu den Belegen bis hierher (Kafka 1990b: 13, 37, 286, 399, 432, 549; 1999a: 131, 163) s. Demmer (1973: 74–95), zu den folgenden vgl. Kafka (1990b: 13; 1999a: 257, 289, 327; 1999b: 245).

150

Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

bescheinigt werden kann.17 Gewiss verdichteten sich Kafkas Bedenken gegenüber der Veröffentlichung eigener Prosa18 immer wieder zu beinahe fatalistischen Aussagen, die das von ihm Geschriebene auf den absolut privaten Raum zu beschränken scheinen: Er habe „nichts mitzuteilen, niemals, niemandem“ (Kafka 1990b: 734), und er wisse, „dass es doch nur da ist zum Geschrieben‑, nicht zum Gelesenwerden (Kafka 1958: 396). [U]nd so kommt es zum Schluß zur Herausgabe von Dingen, die eigentlich nur ganz private Aufzeichnungen oder Spielereien sind. Persönliche Belege meiner menschlichen Schwäche werden gedruckt und sogar verkauft (Kafka, zit. nach Janouch 21968: 40–41).

Solche Äußerungen entspringen allerdings keinem Vorsatz; eher sind sie als resignative Reaktion darauf zu deuten, dass die Gesellschaft in seinem Fall den „Anspruch der Litteratur auf Aufmerksamkeit“ (Kafka 1990b: 314) nicht erfüllte. Forciert wurde Kafkas ,Aufgeben‘ durch seine mangelnde Durchsetzungskraft in der Welt aktiven Handelns, durch gestörte Kommunikation mit den Verlagen, zweifelhafte Erfolge in der literarischen Öffentlichkeit, Erschöpfung, Gesundheitsverschlechterung und Erkrankung aufgrund körperlicher Doppelbelastung (Unseld 2008: 126–132). So ist letztlich von einer zunehmenden Zuflucht Kafkas in die Selbststilisierung als ,nichtveröffentlichender Schriftsteller‘ auszugehen. Denn unter solchen Voraussetzungen schrieb er ja seine Bücher letztlich immer mehr an und für sich selbst; eine Entwicklung, die einen sozusagen schonungslos offenen, privaten Text zur Folge haben musste. Literatur natürlich, aber eine, die im Niederschreiben nie strategisch auf eine spätere Leserschaft abzielte, sondern im Gegenteil in radikaler Konsequenz nicht für die Augen anderer geeignet war. Sein reines Schreiben nannte das Kafka. Seine Aussage […] steht so ganz im Gegensatz zu jener Form der Schriftstellerei, die sich an ein Außen richtet, die einen äußeren Erfolg fordert. Wegen der faktischen Abwesenheit eines Außen, jenem Desinteresse der Öffentlichkeit an seinen Werken, wurde Schreiben für Kafka etwas, das es nur wegen des Geschriebenwerdens, nicht wegen des Gelesenwerdens gab (Unseld 2008: 132).

17

18

Immerhin veröffentlichte Kafka alle selbst vollendeten Erzählungen, viele sogar mehrmals, vereinzelt bis zu viermal, z. B. Ein Traum (Unseld 2008: 124–125) oder Ein Brudermord (Dietz 1963: 454). Vgl. die zahlreichen geringschätzigen Selbstäußerungen Kafkas zur Qualität seiner Literatur in Kap. 3.1.2.1.

Abhängigkeit vom Adressatenbezug

151

Dass ein Autor ohne konkrete Publikationsaussicht nicht unbedingt motiviert ist, dem Geschriebenen den letzten Schliff zu geben, erscheint nahe liegend. Genau dieses Fehlen des letzten (oder überhaupt irgendeines) Schliffes, das durch eine Vielzahl stehen gebliebener Flüchtigkeitsfehler dokumentiert wird, scheint für die Mehrzahl von Kafkas literarischen Handschriften charakteristisch.19 Gegen die Anwesenheit eines imaginären Publikums bei Kafkas Niederschrift von Prosa-Texten spricht auch, dass er seine Erzählungen in der Regel erst anderen zugänglich machte, wenn er sie selbst dezidiert als abgeschlossen betrachtete. Auf den wenigen öffentlichen Lesungen (Prag 1912, München 1916), in der ,selektiven Öffentlichkeit‘ seines Freundes- und Familienkreises kam fast ausschließlich das vom Autor bereits als endgültig Beurteilte (v. a. Der Heizer, Das Urteil, In der Strafkolonie, Vor dem Gesetz) zum Vortrag.20 Beispiele für Weigerungen, unfertige Prosa der öffentlichen Rezeption auszusetzen, lauten demgegenüber: Daß ich Dir das, was ich jetzt schreibe, noch lange nicht zeigen kann, mußt Du Max begreifen […]. Es ist in kleinen Stücken mehr an einander als ineinander gearbeitet, wird lange geradeaus gehn, ehe es sich zum noch so sehr erwünschten Kreise wendet, und dann in jenem Augenblicke, dem ich entgegenarbeite, wird nicht etwa alles leichter werden, es ist vielmehr wahrscheinlich, daß ich, der ich bis dahin unsicher gewesen bin, dann den Kopf verliere. Deshalb wird es erst nach der Beendigung der ersten Fassung etwas sein, wovon man reden kann (Kafka 1999a: 163). Ich will Dir nur sagen, Sonntag les ich bei Baum nicht vor. Vorläufig ist der ganze Roman unsicher. […] Und selbst diese Kräfte würden nicht hinreichen, um sich zu überwinden das Kapitel im gegenwärtigen Zustand Euch vorzulesen (Kafka 1999a: 229).

Während Kafka das bereits auf Papier fixierte Produkt des Schreibens nach (mehrfacher) Überarbeitung eventuell für die Öffentlichkeit bestimmen konnte, maß er der ersten Niederschrift seiner Prosa, dem Prozess der Textgenese, dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit einen höchst privaten, intimen Charakter zu, der ausschließlich dem Schreibenden selbst vorbehalten sein sollte und mit Kafkas ständig geäußertem „Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit“ (Kafka 1990b: 562) beim literarischen Schreiben21 korrespondierte. Einen

19 20 21

S. hierzu Kap. 4.2. S. hierzu u. a. Kafka (1990b: 463, 493, 561, 703, 723; 1996: 87; 1999b: 84) und Brod (1974: 60). Zu Kafka als Vorleser s. auch Kap. 4.5.1. S. hierzu auch Kap. 4.4.7.

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Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

äußeren Adressaten, der eine konkrete Mitteilungsfunktion hätte evozieren können, konnte es, zumindest in diesem Augenblick, (noch) nicht geben. Der Umstand, dass nur etwa zehn Prozent von Kafkas Prosa einen Grad der Abgeschlossenheit erreichten, der sie in den Augen des Verfassers für eine Veröffentlichung qualifizierte, führt Jahraus (2006: 38) zu folgendem Fazit: [D]er Autor befand sich zu seinen Lebzeiten noch im permanenten Schreibprozess, der häufig unterbrochen wurde, bei dem viele Texte immer wieder auf die Seite gelegt wurden, der aber insgesamt gesehen weiter fortlief. Kafka hat dieses Schreiben nie zu Ende geführt, nie bis zu dem Punkt gebracht, an dem man von einem Geschriebenen im Sinne eines fertigen Textes sprechen könnte, der an das Lesepublikum gegeben wird.

So verharren Kafkas literarische Schriften zu großen Teilen im „Spannungsfeld von Intimität des Schreibakts und Öffentlichkeit des Druckwerks“ (Kittler/Neumann 1990: 32), „an der Schwelle zwischen dem Geschriebenen und dem Schreiben“, „zwischen Vollendung und Fertigstellung einerseits und Fragment und Verwerfung andererseits, zwischen Veröffentlichung und Schreibprozess“ ( Jahraus 2006: 38). 4.3.3  Der Grad des Adressatenbezugs von Texten als maßgeblicher Parameter für den Ablauf von Kafkas Schreibprozess Während der nur vage bestimmbaren (Nicht‑)Fiktionalität von Texten kaum Auswirkungen auf Kafkas Schreibprozess zugeschrieben werden können, scheint der Grad des Adressatenbezugs von Schreibprodukten, ihre konkrete Funktionalisierung im Moment ihrer Verfertigung hingegen entscheidend Einfluss darauf genommen zu haben, wie Kafka schrieb: Die a priori erfolgende konkrete Zweckbestimmung des Geschriebenen im Hinblick auf einen Adressaten und dessen Erwartungshorizont, die sich daraus ergebende, z. T. das direkte Gespräch ersetzende beabsichtigte Mitteilungsfunktion, der reflexive oder protokollarische Textcharakter – solche Parameter dürften im Falle der Briefe und Tagebücher einen Schreibakt bedingt haben, der sich größtenteils in Phasen vollzog, in welchen Kafka bereits vor dem Schreiben ein erhebliches Maß an Intention und Konzeption sowie im Verlauf der Textproduktion erhöhte Konzentration aufwenden musste. Er dürfte daher eher rational als emotional, eher planend als konzeptionslos, eher besonnen als unbeherrscht zu Werke gegangen sein. Ein Großteil der literarischen Werke ging dagegen aus einem völlig anders gearteten Schreibprozess hervor: Ein äußerer Adressatenbezug, der eine konkrete Funktionalisierung

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des entstehenden Textes und, damit einhergehend, einen Rollencharakter des Geschriebenen hätte bedingen können, fehlte hier im Moment der Niederschrift scheinbar vollständig. Daraus ergab sich eine fundamentale Andersartigkeit des prozessualen Ablaufs literarischer Textproduktion, die wesentlich häufiger Versehen, Normabweichungen, ,Fehler‘ provozierte. In diesem Kontext gilt für Kafka als Schriftsteller in besonderem Maße: Schreibakte und Schreibprozesse sind nicht ablösbar von der Natur des Menschen: von seiner Handfertigkeit, seiner Phantasietätigkeit oder seiner Gedächtniskraft; sie sind Äußerungen seines bewußten Tuns. Aber zugleich ist das Geschriebene als Resultat solcher Prozesse Ausdruck unbewußten Verhaltens und als solches graphologisch deutbar. Diese psychologische Seite im Akt des Schreibens deutet hin auf gewisse Konstanten in der Natur des Menschen; die andere hat es in stärkerem Maße mit geschichtlichem Wandel zu tun (Müller-Seidel 1987: 104).

Folgerichtig ist die Frage nach der Rekonstruierbarkeit des literarischen Schreibaktes zu stellen, die Frage, welche konkreten mechanischen, atmosphärischen und psychologischen Faktoren Kafka bei der Literaturproduktion phasenweise anfällig für Verschreibungen und womöglich auch für die unwillkürliche Verschriftlichung regionaler Mündlichkeit machen konnten.

4.4  Der Charakter von Kafkas Schreibprozess beim Verfassen literarischer Werke 4.4.1  Entwurfscharakter, Vorläufigkeit und Skizzenhaftigkeit Bereits Max Brod und Heinz Politzer berichteten im Nachwort zu ihrer Erstausgabe der hinterlassenen Prosa-Fragmente Kafkas, diese „zum Teil in einer höchst persönlichen, nur schwer lesbaren Stenographie, teilweise aber auch in sehr flotter Niederschrift, ausnahmsweise sogar in vollendeter oder begonnener Reinschrift“ (Brod 31954b: 343) vorgefunden zu haben. Aus diesem früh wahrgenommenen „Zustand der ersten Skizze“ (Brod 1960: 280) der Manuskripte, die „der Dichter einer definitiven Durchsicht nicht unterworfen hat“ (Brod 1965a: 323), leitete Brod bei seiner Werkausgabe schließlich die Berechtigung ab, die Texte nach Maßgabe ihrer maximalen Erfolgsaussichten von allen Regionalismen und ,Fehlern‘ zu säubern, die ihre überregionale Rezeption hätten behindern können. Dabei setzte er voraus, Kafka selbst hätte bei einer Drucklegung

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Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

„diese Korrekturen unbedingt vorgenommen“ (Brod 1969a: 150).22 Zahlreiche Indizien scheinen Brods Behauptung von der Vorläufigkeit, vom bloßen Entwurfscharakter der Nachlass-Prosa zu erhärten. Deutliche Hinweise auf ein lediglich skizzierendes Produktionsverfahren erkannte etwa Ludwig Dietz (1963: 446–447; 1979: 5): Kafkas Tendenz, das Sprechen innerlich zu verketten, manifestiere sich v. a. in einer flüchtigen bzw. sparsamen Zeichensetzung, die das Komma vernachlässige oder dem Punkt vorziehe und die äußerliche Satzkontur verwische.23 Besonders aussagekräftig ist das Urteil der KKA-Herausgeber: Da Kafkas Textvarianten überwiegend dem Typus der Sofortkorrektur angehören und nur vereinzelt signifikante rückwirkend angebrachte inhaltliche Korrekturen größerer Passagen nachgewiesen werden können,24 entsteht insgesamt der Eindruck von ‚Konzepthandschriften‘. Namentlich den Roman-Fragmenten wird durchweg das Erscheinungsbild einer Reinschrift abgesprochen: Jost Schillemeit (2002a: 85–86) identifiziert in der Handschrift des Verschollenen einen eher punktuellen, begrenzten Korrekturvorgang; dabei fänden sich „keinerlei Spuren einer im Hinblick auf eine künftige Veröffentlichung unternommenen, durchgehenden Überarbeitung des Manuskripts.“ Die zahlreichen nicht bereinigten Inkonsequenzen in Interpunktion, Orthographie und der Schreibung fiktionaler Eigennamen wären bei einer solchen Revision kaum stehen geblieben. Auch Malcolm Pasley (1980: 18–19) betrachtet den „außerordentlichen Mangel an Indizien für nachträgliche Bearbeitung“ als Hauptmerkmal von Kafkas Prosa-Autographen. Im Schloß-Manuskript lasse sich bei wenigen Ausnahmen „keine Korrekturschicht […] erkennen, die auf die systematische Überarbeitung einer längeren Textpartie schließen lässt“ (Pasley 21983b: 77). Interpunktion sei nur soweit erfolgt, dass Kafka selbst seinen Text habe lesen bzw. vortragen können. In rhetorischer Hinsicht redundante Satzzeichen (z. B. das Komma zwischen wörtlicher Rede und Trägersatz) seien durchweg ausgespart; meist trenne nur ein Komma die häufigen parataktisch aneinandergereihten Hauptsätze; dieses werde oft durch und ersetzt; ferner würden bereits gesetzte Endpunkte, die wie Anführungszeichen ohnehin häufig fehlten, durch Kommata substituiert. Dies scheine die Dynamik des Textes höchstmöglich zu wahren. Von einem systematischen Versuch, Sprache und Rechtschreibung zu normalisieren, könne demnach nicht die Rede sein (Pasley 21983b: 79–80).25

22 Vgl. Kap. 1.5.2. 23 S. hierzu auch Kap. 4.4.3. 24 Vgl. hierzu Richter (1962), Binder (1976a: 145), Pasley (21983b: 73), Schillemeit (1987: 93–94) und Fingerhut (1992: 35) sowie Kap. 1.5.1. 25 Zu der hierdurch bedingten erhöhten Zahl editorischer Eingriffe in der KKA s. Kap. 4.2.

Der Charakter von Kafkas literarischem Schreibprozess

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4.4.2  Temporeiches, dynamisches Schreiben Brods und Politzers Feststellung, die in den literarischen Schriften fixierte Handschrift Kafkas habe (zumindest partiell) stenographischen Charakter und vermittle den Eindruck einer außerordentlich flotten Niederschrift (Brod 31954b: 343), spricht eine weitere Facette von Kafkas literarischem Schreibakt an: Tatsächlich lassen zahlreiche Indizien im Korpus auf eine hohe Schreibgeschwindigkeit schließen. Neben dem faktischen wiederholten Einsatz von Stenographie26 handelt es sich dabei zum großen Teil um immer wieder auftretende Flüchtigkeitsfehler oder Formen verkürzender Benennung. Im Detail lassen sich die folgenden Phänomene besonders häufig ausmachen:27 • die Umstellung von Konsonanten in gewissen Verbindungen,28 • die Verwechslung bestimmter phonetisch korrespondierender Buchstaben-Paare bzw. ‑Gruppen,29 • Allegroformen wie z. B. die durch Kontraktion bedingte Auslassung einzelner sich wiederholender Silben30 bzw. einzelner sich am Silbenauslaut und folgenden Silben-

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Vgl. allein in Bd. 1 der Nachgelassenen Schriften und Fragmente: N1v.182/11(2),14; N1v.196/27– 197/2(2); N1v.210/27(1)54*–60*(3); N1v.215/2–5(2); N1v.270/3–6(1)6*,8*,45*– 46*,64*,133*,134*,150*; N1v.272/19; N1v.275/8–9(2); N1v.276/10,12; N1v.277/5– 6(2); N1v.280/13–14(1); N1v.282/3(1)3*–4*,11–12(2); N1v.285/17; N1v.288/9(1)21*– 23*,52*,56*,78*,96*,104*(2)54*,71*; N1v.289/3(2); N1v.310/18; N1v.321/3–6; N1v.326/9–11,8*–9*(2); N1v.336/11–12,20–22; N1v.336/23–337/1; N1v.337/3–4,6–7,9,11; N1v.338/11–12; N1v.344/27; N1v.348/12–13; N1v.349/22,24; N1v.355/18–19,26; N1v.356/6; N1v.361/9–11(2); N1v.367/3–4(1); N1v.370/17,18; N1v.371/3; N1v.372/1–2; N1v.373/15,24; N1v.374/14(1); N1v.375/4,5; N1v.387/22; N1v.390/6,17–18(2); N1v.391/12–13,18–19; N1v.392/5,6,18–19(2)(5)(6); N1v.393/12(2); N1v.394/7,14–15(1),17–18,24; N1v.395/10– 11,24; N1v.397/7–9(1),10–11(2); N1v.397/17; N1v.398/5(1),15–17,23–24(2); N1v.398/26– 399/7(1)(4); N1v.402/7; N1v.406/10–11; N1v.407/5–6(1)(2); N1v.410/1,18,19; N1v.411/17–20; N1v.412/14; N1v.413/2,6,16,17; N1v.415/10,20; N1v.416/2,5–6(2),10,17,19; N1v.417/6–7,14–15,18; N1v.424/1,7,12,12–17; N1v.425/2,6,17. Zu den Zeichen, die zur Wiedergabe von Kafkas Autokorrekturen verwendet werden, s. (auch im Folgenden) Kap. 1.10. Dies betrifft v. a. die Schreibung von ‹fl› statt ‹lf› (Pasley 21983b: 80). So finden sich im Korpus z. B. 79 e/ä-Verwechslungen (Blahak 2007b: 191; 2008a: 80). Zu den ebenfalls häufigen Verwechslungen von b/p, g/k und d/t sowie von s/z und f/v/w s. Kap. 5.1.2.1 bis 5.1.2.3. Vgl. z. B. verspäte(n>t)en (Pv.35/15), Wiederkennung (Vv.47/22), genüber (Ve.52/24), mit einem golden Crayon (Ve.250/9–10), anderseits (V.262/15), Namen der Aufgenommen (Ve.404/16).

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Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

anlaut wiederholender Konsonanten31 innerhalb eines Wortes, ferner einzelner sich am Wortende und am folgenden Wortanfang wiederholender Buchstaben,32 die Verwechslung homophoner bzw. ähnlich lautender, semantisch und orthographisch jedoch nicht identischer Wörter,33 die Antizipation von Lauten, die erst später im Wort vorkommen,34 sowie von Wörtern, die erst später im Satz erscheinen,35 die Auslassung oder doppelte Setzung von Wörtern oder (bei Worttrennung) von Wortsilben nach dem Zeilen- oder Seitenumbruch,36 die Aussparung doppelter Anführungszeichen bei wörtlicher Rede, mit Vorzug am Ende des Zitates, das Fehlen des obligatorischen Fragezeichens am Ende eines Fragesatzes,37

Vgl. z. B.: ab(r>b)rechend (Vv.68/7), Abend(a>d)ämmerung (Dv.142/15), wahl(o>l)os (Vv.198/6), zerissen (Ve.168/22), Voraus{s}e(st>tz)ung (N2.593/8), fortragen (Ve.47/8), Anschaung (N2e.642/25). Vgl. z. B. dacht(er>e) er (Pv.35/2), (esaA>es)(gA>s)agen (Pv.80/14), Wi(er>e) erwähnt (Pv.120/27), duldet(es>e) es (Pv.303/12), Es[cA] schien (Vv.52/3=Dv.109/19), hätte[r] er (Vv.54/16), Siehst[u] Du (Vv.259/3), Hund(a>e) dagegen (N2v.425/17). Vgl. etwa im Verschollenen die Verwechslung der Konjunktion dass/daß mit dem Relativpronomen das (Vv.21/12), der Konjunktion denn mit dem Relativpronomen den (Ve.65/13), des Indefinitpronomens man mit dem Substantiv Mann (Vv.313/8), des Auxiliarverbs war mit dem Adjektiv wahr (Vv.34/13), der Präposition in mit dem Personalpronomen ihn (V.261/24) und der Konjunktion wenn mit dem Interrogativpronomen wem (Vv.306/16). Augenfällig ist dies v. a. an Stellen, wo Umlaute antizipiert werden: Vgl. z. B. {vern(ä>a)chlässigte} (Sv.483/23–24), z(ü>u)rücktretend (N1v.155/27), L(äc>ac)hkrämpfen (N2v.187/23), Käpitäns (Dv.87/25). S. hierzu Pasley (21983: 80). Vgl. im Verschollenen etwa Vv.18/26; Vv.23/23–24; Vv.185/25; Ve.188/6; Ve.193/1; Vv.198/1; Ve.208/11; Vv.225/8–9; Ve.240/9–10; Ve.243/8–9; Ve.265/2; Vv.283/17; Vv.294/26; Ve.319/5; Ve.369/1; Ve.388/22–23; Ve.417/2. Vgl. z. B. in den Romanen folgende nicht autokorrigierte Stellen: Pe.14/9; Pe.17/17; Pe.20/16; Pe.50/22; Pe.75/15; Pe.231/9; Pe.235/18; Pe.250/2; Pe.262/11; Pe.298/25; Pe.305/15; Pe.317/13; Pe.319/10; Pe.366/16; Se.65/26; Se.108/9; Se.122/25; Se.131/6; Se.165/24; Se.178/20; Se.179/1,5; Se.182/21; Se.183/4; Se.192/4; Se.275/6; Se.295/10; Ve.9/11–12; Ve.10/15; Ve.11/15; Ve.101/6,12; Ve.126/2,8,22; Ve.162/2,4–5; Ve.173/5–6; Ve.181/19–20; Ve.213/20; Ve.216/15; Ve.225/3–9; Ve.245/16; Ve.251/13; Ve.259/13; Ve.271/20; Ve.276/1; Ve.314/17; Ve.392/10–11; Ve.393/21; Ve.394/8,18; Ve.395/3,10–11; Ve.396/17; Ve.409/1.

Der Charakter von Kafkas literarischem Schreibprozess

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• der Umstand, dass Kafka (Bruch‑)Zahlen (auch als Bestandteil von Substantiven) meist nicht ausschrieb, sondern als Ziffern notierte,38 Wörter durch Zeichen39 und sich wiederholende Substantive und v. a. Personennamen häufig durch uneinheitliche Abkürzungen wiedergab,40 in der Mehrzahl der Fälle, ohne dabei Genus- und Kasusendungen zu markieren und oft auch ohne Setzung des Abkürzungspunktes, • Kafkas stark differierende Schreibweisen von (ausländischen) Orts- oder Personennamen,41 • gelegentliche Interferenzen aus den Kodifikationssystemen verschiedener Sprachen im Deutschen42 und aus der deutschen Orthographie in Eigennamen und Substantiven ausländischer Herkunft,43

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Vgl. z. B. vor 1 Stunde und 5 Mi. (Pe.59/17–18), vor etwa 1 Jahr (Pv.172/9), 3 t{t}er [Klasse] (Vv.124/21), vom 4 · 30 Expresszug (Ve.218/24–25), die Uhr schlug […] ½7 (Ve.247/17–18), eine ¼ Minute (Ve.254/9), ein 6 und ein 7jähriges Mädchen (N1e.333/4–5), In meinem 14. Lebensjahr (N1e.433/1), Am 7 Tag (N2e.15/6), vor einer ½ Stunde (N2e.35/20), als 3tte Person (N2e.162/20), 5 Uhrzug (Dv.118/20). Vgl. z. B. die Verwendung von § anstelle von Paragraph (Ve.208/2; Ve.225/15–16,19) oder des Bindestrichs anstelle der Präposition bis zwischen Ziffern (Ve.174/21; N2e.106/20; N2e.333/10,11; N2e.564/7). In der Proceß-Handschrift finden sich z. B. zehn Abkürzungen für Direktor-Stellvertreter: Direkt. St. (Pe.50/26), Direktor St. (Pe.51/7), Dk St. (Pe.51/24–25), Dir. Stell. (Pe.173/16), D. St. (Pe.173/20), Dir. St. (Pe.174/4), Dir St. (Pe.177/2), Dr. St. (Pe.178/6), Dir. Stell (Pe.184/6–7), Dir Stellv. (Pe.339/1). Im Verschollenen verwendete Kafka zwölf Kürzel für Herr Pollunder: H. P. (Ve.71/4), Herr P. (Ve.71/25), Hr. P. (Ve.72/7), Hr. Pol. (Ve.73/12), Hr. Pollunder (Ve.74/1), H. Pol. (Ve.75/5), Hr. Poll. (Ve.75/6), He. P. (Ve.76/20), Herr P. (Ve.80/27–81/1), He. Pollunder (Ve.84/22), H. Pollunder (Ve.85/12), Her P. (Ve.105/4–5). Vgl. z. B. im Verschollenen die Varianten von New York und entsprechender Derivate: Newyork (V.7/7), Newyort (Ve.20/1), ne{y}workich (Vv.69/14), Neywork (Ve.70/1), New York (V.76/2), Nework (Ve.76/6–7), New-York (V.120/12), New-|oryk (Ve.144/9), Newyr{c}ker (Vv.195/15), New(w[r]>or)ker (Vv.196/27), Newor(r>k)er (Vv.204/7). Vgl. z. B. Ansätze zur englischen Schreibweise (bzw. ihre Ausführung) im Bereich des Wortfeldes Streik: Str(i>e)ik (Vv.74/11), str(iA>e)iken (Vv.100/27), Hungerstrike (N2.341/2) sowie zur französischen Schreibweise an den Textstellen Bureaux (Pe.186/21), [der J] Giacomo (Vv.186/3) und Oberportie (Ve.248/5). Vgl. hierzu beispielsweise die Schreibweisen von Delamar(sch>ch)e (Vv.146/24–25), R(u>o)ute (N2v.231/13–17(2)25*) und (S>C)hef (N2v.554/11).

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Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

• Flüchtigkeitsfehler beim Korrekturvorgang, v. a. in Gestalt unvollständiger, nicht zu Ende oder (z. B. im Falle von Streichungen) zu weit geführter Sofortkorrekturen,44 • die versehentliche völlige Neubenennung bereits eingeführter Personen,45 • die punktuelle Verwechslung von Personen in einer Szene46 • sowie inhaltliche Inkonsequenzen und Widersprüche in der Handlung,47 auf die z. T. bereits Max Brod (1969a: 190; 1974: 352) in seinem Bemühen, seine Auffassung von der Vorläufigkeit der unedierten Prosa Kafkas zu untermauern, hingewiesen hat.

Vgl. allein in den Nachgelassenen Schriften und Fragmenten: N1v.24/7–8(2); N1v.36/17–18(2); N1v.47/24–25(2); N1v.170/16; N1v.215/5(3); N1v.216/8; N1v.236/14(2); N1v.267/7(2); N1v.274/11(2); N1v.278/19; N1v.280/20–21; N1v.282/11–12(2); N1v.288/9(2),110*53*(3); N1v.305/18–19(2); N1v.309/18–20; N1v.318/24; N1v.321/3–6; N1v.326/20–22(2); N1v.351/3– 4(2); N1v.397/10–11(2),(3); N1v.398/5(2); N1v.398/26–399/7(4); N2v.38/5–6(3); N2v.42/19– 43/2(2); N2v.83/12–13; N2v.96/14–15(3); N2v.102/6,7*–8*(2); N2v.114/15; N2v.222/6– 9(3); N2v.271/26; N2v.292/1–3(5); N2v.463/12(5); N2v.466/1(3); N2v.520/24–521/2(8); N2v.522/25(4),26(2); N2v.523/5–6(4),19–22(2); N2v.523/27–524/1(2); N2v.601/2–4(4),(5); N2v.602/7(2),15(2); N2v.610/15–18(2); N2v.623/2–625/4,55*. 45 Vgl. etwa im Proceß die Benennung von Block als Beck (Pe.225/1) und im Verschollenen den Ansatz zur deutschen Variante des englischen Namens Green: Gr(un>een) (Vv.104/27). 46 Im Proceß wird K. mit Fräulein Bürstner (Pv.42/17; Pv.43/6), Leni (Pv.260/24) und Block (Pv.263/24) verwechselt, im Verschollenen Karl mit Green (Vv.114/4), Delamarche (Vv.149/27; Vv.297/14), Robinson (Vv.210/4; Vv.211/16,22; Vv.359/13(1)), dem Portier (Vv.227/25), Fanny (Vv.395/11) und Klara (Vv.89/4; Vv.93/3; Vv.95/25). Ferner kommt es im Schloß zur Verwechslung von K. und Klamm (Sv.82/24; Sv.83/24; Sv.183/18(1)54*; Sv.214/12; Sv.243/1; Sv.254/21; Sv.276/10; Sv.291/2), von Olga und Frieda (Sv.292/11(2)135*; Sv.308/8; Sv.316/8), von Pepi und Frieda (Sv.455/1; Sv.470/3; Sv.477/1(2); Sv.479/3–4,69*–73*(2)) sowie von Olga und Amalia (Sv.292/11(2)29*; Sv.302/17). 47 So werden im Proceß z. B. rechts und links (Pe.62/3), Jahres- und Uhrzeiten verwechselt: K. erscheint pünktlich um elf Uhr im Dom (P.279/15–16), während zuvor zehn Uhr verabredet wurde (P.276/12– 13). Da ein Sonntag zum Untersuchungstag bestimmt wurde (P.49/14), kann es nicht verwundern, dass die erwartete Verständigung bis Sonntag Abend wirklich nicht kam (P.73/4–5). Im Schloß wird Amalia zunächst als Blondine (S.52/27–53/1), später als die Schwarze (Sv.227/15; S.370/8) beschrieben. Eine Schuldiener- wird unvermittelt zur Schulmeisterstellung (Se.236/13). Im Verschollenen kommt es zur irrtümlichen Lokalisierung San Franciscos von New York aus im Osten (V.124/23), während eine Brücke fälschlicherweise New York mit Boston (V.144) – gemeint ist vermutlich Brooklyn (Robertson 1988: 65) – verbindet. Schilling (V.117/23), Dollar (V.138/5; V.351/15; V.378/19) und Pfund (V.149/12,13; V.150/14) werden hier als amerikanische (V.150/9) Währungen bezeichnet. Unklar bleibt, ob der siebzehnjährige (V.7/3), nächsten Monat sechzehn (V.175/9) werdende Karl Roßmann fünf Gymnasialklassen (V.172/27–173/1), vier Klassen eines europäischen Gymnasiums (V.106/16–17), eine europäische Mittelschule (V.401/4–5) oder eine Realschule (Vv.401/16–17) besucht hat. Das Hotel Occidental wird ferner sowohl als bescheidener Mittelbetrieb mit fünf Stockwerken (V.160/20) dargestellt als auch als riesenhafter Luxusbau mit dreißig andern Aufzügen (V.187/6–7). 44

Der Charakter von Kafkas literarischem Schreibprozess

Abb. 4:  Blatt 38v des siebten Oxforder Oktavheftes mit Kafkas Stenographie-Schrift

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Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

Wenn Kafka den Vorgang des Schreibens in seiner Prosa gelegentlich als „Jagd“ (auf dem Papier) verbildlichte (Fromm 1998: 41; Fiechter 1999: 179, 181), so scheint diese Metapher mit Blick auf das im Korpus dokumentierte, offenbar über weite Abschnitte durchgehaltene hohe Tempo der Niederschrift stimmig gewählt. Dieses korrespondiert zudem auffällig mit Kafkas „in zuweilen schwindelerregendem Zungentempo“ (Baum 1936: 156) erfolgenden Vorlesen „mit hinreißendem Feuer, mit einem Rhythmus, dessen Lebendigkeit kein Schauspieler je erreichen wird“ (Brod 1965a: 315). 4.4.3  Das nicht unterbrochene Durchschreiben in einem Zug Diesen handschriftlichen, textimmanenten Befund ergänzen nicht zuletzt Selbstaussagen Kafkas über die Wichtigkeit eines möglichst von Pausen nicht unterbrochenen, zügigkontinuierlichen Schreibens für die Qualität des unter seinen Händen entstehenden literarischen Produkts. Zur ‚Entdeckung‘ dieser Arbeitsweise kam es in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912, als Kafka die Erzählung Das Urteil „von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug“ (Kafka 1990b: 460) niederschrieb. Dieses ,Durchbruchserlebnis‘48 eines zusammenhängenden Schreibaktes deklarierte Kafka fortan ausdrücklich als den einzig wahren (wenn auch nicht immer bis zur Beendigung eines Textes durchhaltbaren) Schaffensprozess: „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“ (Kafka 1990b: 461). Das Urteil kann demzufolge wohl auch als das erste Werk Kafkas gelten, das er selbst unmittelbar nach der Niederschrift uneingeschränkt als gelungen betrachtete. Auch für andere Prosa ist ein ähnliches, innerhalb einer Nacht begonnenes und bis zur Vollendung durchgehaltenes ,Durch-Schreiben‘ überliefert: Dora Diamant bezeugte es etwa für die Erzählung Der Bau (Binder 1966: 118). Genauso wurde der am 18. Februar 1912 anlässlich eines Rezitationsabends ostjiddischer Lyrik gehaltene Einleitungsvortrag über Jargon49 von Kafka nach zweiwöchiger Schreibblockade und wachsender Nervosität angesichts des heranrückenden Vortragstermins schließlich am Abend des 17. Februar in einem Zug aufs Blatt geworfen (Kafka 1990b: 376), wobei das Schreibergebnis sowohl die Kritik als auch ihn selbst sichtlich zufrieden stellte (Kafka 1990b: 378; Baioni 1994: 50). Nicht zuletzt bestätigen briefliche Äußerungen Kafkas gegenüber Max Brod und

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Von einem Durchbruch Kafkas zu der ihm gemäßen Schaffensweise sprechen u. a. Wiegler (1912: 12), Brod (31954a: 131), Sokel (1964: 11), Politzer (1965: 81–83) und Born (1988: 18). S. hierzu Kap. 3.2.3.

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Felice Bauer zu positiv bewerteten Arbeitsphasen am Verschollenen den Zusammenhang von zügigem Schreiben und der Qualität des Geschriebenen: [M]it welchem Schwung ich schreibe! Wie die Klexe fliegen! (Kafka 1999b: 20). Nachdem ich in der Nacht von Sonntag auf Montag gut geschrieben hatte – ich hätte die Nacht durchschreiben können und den Tag und die Nacht und den Tag und schließlich wegfliegen – und heute sicher auch gut hätte schreiben können – eine Seite, eigentlich nur ein Ausatmen der gestrigen zehn ist sogar fertig – muss ich aus folgendem Grunde aufhören (Kafka 1999a: 177).

Und auch die Entstehung der Verwandlung begleiteten Referenzen auf die fortan angestrebte, idealisierte Arbeitsweise: Liebste, ich hätte wohl die Nacht im Schreiben durchhalten sollen. Es wäre meine Pflicht, denn ich bin knapp vor dem Ende meiner kleinen Geschichte und Einheitlichkeit und das Feuer zusammenhängender Stunden täte diesem Ende unglaublich wohl (Kafka 1999a: 295–296). Eine solche Geschichte müsste man höchstens mit einer Unterbrechung in zweimal 10 Stunden niederschreiben, dann hätte sie ihren natürlichen Zug und Sturm, den sie vorigen Sonntag in meinem Kopfe hatte (Kafka 1999a: 265).

Dass ihm das zügige Schreiben an der Verwandlung phasenweise gelang, dabei allerdings die Leserlichkeit seiner Schrift leiden konnte, verriet Kafka, als er die schöpferische Produktion einer Nacht als „recht unleserlich geschrieben“ (Kafka 1999a: 255) bezeichnete. Auch räumte er ein, dass ihn dieser Schaffensprozess anfällig für Fehler mache: „[W]ie unsicher und voll Schreibfehler ich schreibe, ehe ich mich an die wirkliche Welt [eines neu begonnenen Textabschnitts] gewöhne“ (Kafka 1999a: 287). Vermochte Kafka dagegen einmal „die Geschichte nicht durch die Nächte [zu] jagen“ (Kafka 1990b: 715), scheiterte sein Vorsatz, „die Nächte mit Schreiben [zu] durchrasen“ (Kafka 1999b: 237), musste er stattdessen ein „[j]ämmerliches Vorwärtskriechen der Arbeit“ (Kafka 1990b: 709) eingestehen, dann waren sein Schreiben und der angegangene Text entsprechend meist zum Misslingen verurteilt. Die daraus entspringende Einsicht lautete, „daß alles bruchstückweise und nicht im Laufe des größten Teiles der Nacht (oder gar in ihrer Gänze) Niedergeschriebene minderwertig ist“ (Kafka 1990b: 706). In solchen Fällen sprach Kafka vom „Unglück, das man ertragen muß, wenn man in einer Arbeit, die immer nur in ganzem Zug gelingen kann, sich unterbricht“ (Kafka 1990b: 398), und

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wurde von dem irrealen Wunsch ergriffen, er hätte „die Nacht frei, um sie ohne die Feder abzusetzen, durchschreiben zu können bis zum Morgen!“ (Kafka 1999a: 242). Solche Selbstaussagen legen nahe, dass sich Kafka wohl auch ausdrücklich ‚bemühte‘, über einen zusammenhängenden Zeitraum von mehreren Stunden hinweg zügig zu schreiben, und alles daransetzte, einen derartigen Schreibprozess herbeizuführen. Die Fülle an sich traditioneller produktionsästhetischer Umschreibungen literarischer Betätigung mittels Metaphern des Fließens, Strömens, Schwimmens und Quellens,50 die besonders das noch Ungeformte, nicht Fixierte meinen (Müller-Seidel 1987: 108), überrascht insofern nicht: Kafka verglich sein Schreiben mit dem Vorwärtskommen in einem Gewässer (Kafka 1990b: 460), mit „Ergießungen“ (Kafka 1990b: 53), „Strömung“ (Kafka 1990b: 251), „Wellengang“ (Kafka 1999a: 203) und „Flußlauf “ (Kafka 1990b: 332); war er produktiv, sprach er von aus sich heraus „fließenden Szenen“ (Kafka 1999a: 338), war er es nicht, stellte er fest, dass „die tiefern Quellen schweigen“ (Kafka 1999b: 40).51 Auch in diesem Punkt lassen sich Übereinstimmungen mit dem Korpusbefund ausmachen: Schon Fritz Martini (1958: 292) erkannte in der Vernachlässigung der Interpunktionsnormen in den zu Kafkas Lebzeiten erschienenen Schriften ein wenigstens im Augenblick der produktiven Konzeption führendes Ineinanderfließen der Sätze und Vorstellungen als Ausdruck einer engen inneren Verkettung der Bedingungen und Wendungen, Folgen und Gegensätze, die dort noch eine fließende Vereinheitlichung des sprachlichen Duktus fordert, wo die üblichen Regeln eine verdeutlichende Gliederung und Aufteilung durch die Logik der Satzzeichen erwarten lassen.

Ludwig Dietz (1963: 445–446) übertrug diesen Befund in der Folge auch auf den Akt der Ausformung: Besonders leicht greifbar ist dies in Sätzen, die aus einem Satzgegenstand und einer mehrteiligen Satzaussage bestehen, wobei zwischen die durch ,und‘ gekoppelten Satzaussagen eine Ergänzung eingeschoben ist. Oft steht dann nur vor, nicht aber auch nach der Ergänzung ein Komma, so daß die Ergänzung von ihrem Bezug getrennt und mit der zweiten Aussage verbunden erscheint.

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Dieser besonderen Metaphorik bei Kafka widmeten sich u. a. Pasley (1980), Sokel (1980), Kurz (1980), Müller-Seidel (1987) und Born (1988). Vgl. hierzu Kafkas Kollektiv-Statement: „Wir Juden […] können die Dinge nicht statisch darstellen. Wir sehen sie immer im Fluß, in der Bewegung, als Wandlung“ (Kafka, zit. nach Janouch 21968: 170).

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Er identifizierte darin „ein Ineinander-Übergehen der Sätze, ein Einebnen und Verwischen des rhythmischen Profils, was auch durch eine später geänderte Interpunktion nicht eigentlich geändert, sondern nur kaschiert werden kann“ (Dietz 1963: 446). Malcolm Pasley (1981: 476–483) schließlich hat herausgearbeitet, dass Kafka mittels einer solchen reduzierten Zeichensetzung und der Aneinanderreihung von Hauptsätzen den Rede- und Leserhythmus so steuerte, dass eine fließende Parataxe entstand. Durch die produktionsästhetische Selbstauslieferung an einen Schreibprozess, der im Verlauf einer Nacht vollzogen werden musste, waren Schwierigkeiten allerdings vorprogrammiert, v. a. bei länger angelegten Werken. Die drei unvollendeten Romane und die vielen abgebrochenen Versuche, die als Fragmente in Kafkas Nachlass zurückblieben, legen davon Zeugnis ab. In Opposition zu den oben zitierten Selbstbeschreibungen durch Bilder des Fließens, Strömens und Quellens bestimmte sich das Schreiben für Kafka außerdem zugleich als Auslieferung an die Gesetze des Sprachsystems. Diese ordnen selbst das individuelle Sprechen Zwängen unter und wirken einer Selbstbefreiung geradezu entgegen, da sie von außen herangetragenen Normen52 unterliegen, die im Sozialisationsprozess internalisiert werden. Als problematisch musste sich die ,Strömung‘ der Sprachproduktion nicht zuletzt in ihrer Bindung an das Material des Schriftträgers erweisen, auf dem sie sich der „Übermacht des Fixierten“ (Kafka 1990b: 143), den Regeln des Sprachsystems zu fügen hatte. Wie zu Beginn des Kapitels erläutert wurde, fasste Kafka das Erzählen vornehmlich als Vorgang, als Bewegung auf, so dass Prosa, die endgültig schriftlich fixiert war, diesem Anspruch im strengen Sinne schon nicht mehr genügen konnte (Kremer 2006: 82). „Das Schreiben selbst“, so Kafka (2005: 32), „verführt oft zu falschen Fixierungen. Es gibt eine Schwerkraft der Sätze, der man sich nicht entziehen kann.“ Sein Schreibfluss unterlag daher bereits im Entstehen Segmentierungs- und Konstruktionsbestrebungen, in deren Zuge die Dynamik der Schrift in die Statik des Drucks umgesetzt wurde (Schütterle 2002: 25–26, 32). In diesem Sinne ist Kafkas Tagebuch-Klage aus dem Jahre 1910 zu deuten: Kaum ein Wort, das er schreibe, passe zum anderen, und er höre die Konsonanten sich „blechern an einander reiben“, während die Vokale dazu „wie Ausstellungsneger“ (Kafka 1990b: 130) sängen.53

52 S. hierzu Kap. 3.1.1. 53 Vgl. Kap. 3.1.2.1.

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4.4.4  Lineares, einsinniges Schreiben Der bisher als skizzenhaft, zügig und temporeich beschriebene Schaffensprozess lässt ein weiteres Merkmal antizipieren, das nach Malcolm Pasley (1980: 18) sogar das auffallendste Charakteristikum der handschriftlichen Prosa-Urtexte Kafkas darstellt: die Linearität ihrer Anordnung. Kafkas ausgesprochene Bewunderung eines linear verlaufenen Schreibaktes ist u. a. von seinem Aufenthalt im Goethe-Schiller-Archiv zu Weimar im Jahre 1912 überliefert, als er das Manuskript von Goethes „Lied der Mignon ohne einen Strich“ (1990b: 1032)54 betrachtete. Schon seit 1909 hatte sich Kafka angewöhnt, für sein Schreiben Hefte anstatt loser Blätter zu verwenden. Sein gesamtes literarisches Werk trägt demnach den Charakter einer Folge streng chronologischer, durch Querstriche voneinander getrennter Eintragungen (meist) in Hefte. Dabei wurde kein Platz für Nachträge oder Versuche, einen Abbruch später weiterzuführen, freigelassen. Ohne Ausweichmöglichkeit sollte sich jeder Schreibversuch konsequent nach vorne entwickeln; und diese erste hatte auch die einzige Niederschrift zu sein, die den Text bereits unverrückbar festlegte (Pasley 1980: 18; 21983b: 73; 1992: 23).55 Dieser Eindruck wird durch den bereits erwähnten Mangel an Indizien für nachträgliche Bearbeitungen56 erhärtet: Änderungen im Manuskript gehörten fast immer zum Prozess der ersten Niederschrift; alle den Gang der Geschichte betreffenden Abwandlungen waren aus der Perspektive des Schreibenden sofort anzubringen. In Kafkas Schreibprozess manifestierte sich somit eine besonders enge Beziehung zwischen Erfindung und Aufzeichnung: Die Geschichte bestimmt sich selbst, sozusagen, von hinten, von der fiktiven Vergangenheit her, indem sie zu Papier kommt und als greifbarer Gegenstand – als Text – besteht; sie kreist sich selbst immer enger ein, wird buchstäblich unter der schreibenden Hand fester, nimmt sich in zunehmendem Maße selbst jede Möglichkeit einer Richtungsänderung oder eines Auswegs und wird schließlich […] von den nicht mehr auszulöschenden oder rückgängig zu machenden Buchstaben auf den unausweichlichen Endpunkt hingetrieben (Pasley 1980: 13–14).

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Hierbei handelte es sich allerdings um eine Reinschrift (Schütterle 2002: 31). Als Ausnahme lässt Pasley (1990b: 122–123) den Proceß gelten, zu dem Kafka auf eine für ihn uncharakteristische Weise zunächst das Anfangs- und das Schlusskapitel als festen Rahmen schuf und dann verschiedene lose miteinander verknüpfte Kapitel abwechselnd vorantrieb (Dirksen 1994: 307). S. hierzu Kap. 1.5.1 und 4.4.1.

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4.4.5  Konzeptionsloses, intuitives und improvisierendes, von Eigendynamik bestimmtes Schreiben Mit der strengen Linearität ist ein weiterer charakteristischer Aspekt von Kafkas literarischer Textproduktion verknüpft, über den in der Forschung mittlerweile Einigkeit besteht: Vor Entstehung des Urteils kann man bei Kafkas Prosa durchaus von einer Art Gesamtkonzeption ausgehen, wie Jost Schillemeit (1984) anhand des Manuskriptbefundes der Beschreibung eines Kampfes deutlich gemacht hat. Bei Kafkas späterer Schreibarbeit handelte es sich dagegen um einen Akt, in dem all das vereinigt ist, was sonst oft auseinanderfällt: Konzeption, Erfindung der einzelnen Handlungsschritte, Ausführung und Niederschrift, und das eigentümlich Improvisierte, Extemporierende, Unvorhersehbare seines Schreibens, das damit zusammenhängt und durch viele eigene Äußerungen Kafkas in seinen Briefen und Tagebüchern bestätigt wird (Schillemeit 2004: 211).

Als weitgehend intuitiv, dem Instinkt folgend und durchaus nicht planend hatte bereits Max Brod (1974: 349) Kafkas Schaffensweise beschrieben, die größtenteils von Inspiration und Erlebnis bestimmt gewesen zu sein scheint (Binder 1966: 118). Sie vollzog sich „nur in der Zeit der Erhebung“ (Kafka 1990b: 251), in welcher der Autor „die Worte wie aus der leeren Luft“ (Kafka 1990b: 292) zog. Anhand der Manuskripte haben Pasley/ Wagenbach (1964: 150) glaubhaft gemacht, dass sich Kafkas Textproduktion stoßweise vollzog. Binder (1976a: 134) ließ zudem plausibel erscheinen, dass Kafka das plötzlich ausgelöste Einsetzen seines Schreibens und dessen Umfang kaum vorhersehen konnte, wenn ihn unvermittelt die Inspiration überkam. Die Vollendung einer Arbeit misslang, wenn deren Gestalt aufgrund sich schnell verändernder, die Produktion steuernder seelischer Gegebenheit […] inspirativ nicht mehr als Ganzes bereitlag, so daß sie dem ins Dunkel tastenden Schreiben nicht mehr Rahmen und Richtung abzugeben vermochte (Binder 1976a: 152).

Ein oftmals spontan-impulsives Erfasst-Werden von Schreib- und Schaffensdrang belegen nicht zuletzt die vielen Prosa-Fragmente in den Tagebuch-Heften. Sie machen deutlich, dass Kafka beim unerwarteten Auftreten einer Inspiration schnell nach dem nächstbesten Schreibmedium in Papierform griff, förmlich greifen musste (Koelb 2008: 97). Kafka selbst erkannte eine von ihm nicht zu kontrollierende Eigendynamik seines Schreibprozesses, innerhalb deren sich die Geschichte wie von selbst vor seinen Augen weiter entfaltete (Kafka 1990b: 460). So wurde er etwa, als er am Verschollenen arbeitete, mit einer

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geradezu eigenmächtigen Entwicklung der erdachten Figuren konfrontiert (Kafka 1999a: 361; 1999b: 15). Die Handlung sah er gleichfalls von eigendynamischen Kräften getrieben weiter voranschreiten: „Der Roman […] will mir noch immer nicht folgen, ich halte ihn, aber er wehrt sich mir unter der Hand und ich muß ihn immer wieder über ganze Stellen hinweg loslassen“ (Kafka 1999a: 329). Am Beispiel des Urteils hat Kafka selbst illustriert, was wohl seit 1912 für die Entstehung der Mehrzahl seiner Texte kennzeichnend war: Als ich mich zum Schreiben niedersetzte, wollte ich nach einem zum Schreien unglücklichen Sonntag […] einen Krieg beschreiben, ein junger Mann sollte aus seinem Fenster eine Menschenmenge über die Brücke herankommen sehn, dann aber drehte sich mir alles unter den Händen (Kafka 1999b: 201–202).

Ein Gefühl des Ausgeliefertseins an dieses seiner eigenen Dynamik folgende „ganz unberechenbar[e]“ (Kafka 1990b: 546) Schreiben räumte Kafka auch gegenüber Grete Bloch ein: Er habe dieses „gar nicht in der Hand“; es komme und gehe „wie ein Gespenst“ (Kafka 2005: 33). Anderenorts bangte er: „Ende des Schreibens. Wann wird es mich wieder aufnehmen?“ (Kafka 1990b: 721). Die unter diesen Umständen für ihn unabdingbare Grundhaltung lautete daher: „[N]icht Wachheit, Selbstvergessenheit ist erste Voraussetzung des Schriftstellertums“ (Kafka 1958: 385). Angesichts solcher Selbstaussagen geht Hartmut Binder (1971: 437) so weit, Kafkas Schaffensprozess „als einen Zustand der Passivität, der er ganz ausgeliefert ist“, zu bezeichnen. Demnach habe der Autor das Entstehen und Wachsen einer Erzählung gleichsam als etwas Fremdes, ihm nicht Zugehöriges erlebt, ohne seine Schreibfähigkeit beeinflussen oder hervorrufen zu können. Peter Richter (1975: 133) sieht demgegenüber zumindest darin einen aktiven Anteil Kafkas an der dichterischen Gestaltung, dass dieser „bei und nach einem Ausbruch, der weder in Zeitpunkt, Stärkegrad noch Eigenart vorauszusehen ist, […] dessen Richtung, Stärke, Art“ bestimmen sowie „die Gußform den Erfordernissen“ anpassen „und tragfähig gestalten“ musste. Ansonsten konnte der Strom plötzlicher intuitiver Schaffenskraft ausbrechen und sich verlieren, und die „Form“ blieb leer. Welcher dieser beiden Ansichten man auch immer folgen will: Die These, dass viele Schreibprodukte Kafkas als Ergebnisse unbewusster Prozesse (Binder 1966: 118; 1976a: 152) oder halbbewusster Verfahren (Hornschuh-Fagard/Fagard 1974: 14–15; Hiebel 1983: 78) und „dem planenden Verstand nur mittelbar unterworfen“ (Born 1988: 63) betrachtet werden können, wird durch Fälle erhärtet, in welchen Kafka bestehende inhaltliche Bezüge innerhalb der Narration offenbar erst nach der Niederschrift klar wurden: So musste er sich z. B. die Beziehungen zwischen den im Urteil agierenden Figuren im Nachhinein

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bei der Korrektur durch Aufschreiben bewusst machen (Kafka 1990b: 491–492). Auch unwillkürlich hergestellte Namensbezüge zwischen einigen Figuren der Erzählung und Personen aus seinem realen Lebensumfeld erkannte Kafka erst später (Kafka 1990b: 492; 1999b: 201). Die Botschaft der Türhüterlegende im Proceß ging ihm erst auf, als er sie Felice Bauer vorlas (Kafka 1990b: 723). Auch die geringe Zahl signifikanter inhaltlicher Veränderungen größerer Passagen, die (als Bearbeitungskorrekturen) rückwirkend angebracht wurden,57 verstärkt den Eindruck einer von Inspiration getriebenen Literaturproduktion. Nach dem ,Durchbruchserlebnis‘ von 1912, vor dem der Bewusstseinsanteil beim Schreiben gewiss größer war, scheinen wesentliche Änderungen der Handlung nach Abschluss des ursprünglichen Schaffensprozesses kaum mehr möglich. Denn sein Ablauf wurde durch ständig wechselnde seelische Spannungszustände gelenkt, deren Erlebnis im Nachhinein kaum in exakt identischer Weise reaktiviert werden konnte (Binder 1976b: 145).58 Erkennt man also Inspiration, Eigendynamik und unbewusste Vorgänge als entscheidende Bestimmungsfaktoren von Kafkas Schreiben an, so lässt sich schlussfolgern, dass das auf den Schreibenden einstürmende Ungeformte zunächst noch äußerst unbestimmt gewesen sein muss und dass nicht von Anfang an feststand, welche Richtung es nehmen würde. Mit anderen Worten: Es lässt sich beim Großteil der literarischen Schriften Kafkas kein ,objektiver Handlungsplan‘ ermitteln.59 Zudem sprach sich Kafka zumindest einmal explizit gegen konstruierende Literaturproduktion aus und plädierte zugleich für das von ihm idealisierte lineare, zügige und temporeiche Schreiben: „Konstruktionen in Weiß’ Roman.60 Die Kraft sie zu beseitigen, die Pflicht, das zu tun. […] Ich will Ruhe, Schritt für Schritt oder Lauf, aber nicht ausgerechnete Sprünge von Heuschrecken“ (Kafka 1990b: 607). Entsprechend verzichtete Kafka etwa bei der Niederschrift des Schlosses fast gänzlich auf Vorarbeiten, um in der „sich gleichsam vortastenden Geschichte einen gültigen – im wesentlichen unveränderbaren und nicht an eine andere Stelle versetzbaren – Text unmittelbar zu Papier zu bringen“ (Pasley 21983b: 73). Auch für Josephine, die Sängerin lässt sich ein Entstehungsprozess rekonstruieren, bei dem Kafka nicht bevor, sondern indem er

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S. hierzu Kap. 1.5.1, 4.4.1 und 4.4.4. Beispiele hierzu liegen u. a. in Kafka (1990b: 712–713, 822–827; 2005: 311–312) vor. Vgl. hierzu Jahn (1965: 5), Binder (1966: 294), Kobs (1970: 34), Müller-Seidel (1987: 111) und Fiechter (1999: 178). Zu einigen wenigen vorausplanenden Notizen Kafkas s. Binder (1976a: 135) sowie Pasleys (1990b: 122–123) Verweis auf den groben Handlungsrahmen zum Proceß (vgl. Kap. 4.4.4). Gemeint war der Roman Die Galeere von Ernst Weiß (1913).

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schrieb, dachte und erst während des Schreibens erkannte, was er, mehr oder weniger dunkel, intendiert hatte (Hillmann 21973: 153). Demnach scheinen Kafkas Erzählungen zumeist planlos, ohne jegliche Vorentscheidung über den Handlungsverlauf […], einfach ambulando entstanden; es würde heißen, daß am Anfang jedes Mal praktisch nichts gestanden habe, nichts vorgegeben gewesen wäre, außer […] irgendeinem prägnanten Bildkomplex (Pasley 1980: 14).

Ein weiteres Indiz, das die Annahme einer prinzipiell konzeptionslosen Textentstehung untermauert, liefert der Umstand, dass Kafka einen Prosa-Text fast nie mit dem Titel begann und relativ konsequent das Prinzip der nachträglichen Namensgebung verfolgte. So erhielt auch keines der Roman-Fragmente einen offiziellen Werktitel (Pasley 1980: 21; Jahraus 2006: 42),61 eben weil bis zum Ende (sofern dieses überhaupt erreicht wurde) scheinbar nicht gewiss war, welche Gestalt das Geschriebene annehmen würde. So glaubte der Autor, es erst rückwirkend überblickend betiteln zu können. Kafkas Prosa bildet also gewissermaßen einen Vorgang des Suchens ab und verkörpert ihn zugleich, wobei zwei in Verbindung stehende Suchprozesse vorzuliegen scheinen: Der tastende Vorwärtsgang des Schreibaktes und die Entwicklung des fiktiven Helden vollziehen sich parallel. Der Held wie sein schreibender Erfinder „graben sich vorwärts“ (Pasley 1980: 21). Pasleys (1980: 14) These von der „allmählichen Verfertigung der Geschichte beim Schreiben“,62 von der „ungewöhnlich eng[en] und mit ungewöhnlicher Ausschließlichkeit an die Entstehung des ursprünglichen Textes gebunden[en]“ Genese von Kafkas erzählerischem Werk, das als regelrecht „erschrieben“ bezeichnet werden könne, ist auf weitgehende Zustimmung in der Forschung gestoßen und folgend unter der Heranziehung ähnlicher Bilder wiederholt worden. So bezeichnet etwa Klaus Schenk (2002: 131–132) Kafkas Schreiben in diesem Sinne als performativ, indem es seinen Inhalt selbst vollziehe und kaum einem vorgefertigten Plan folge. Jost Schillemeit (2004: 212) beurteilt es als „ein Aus-dem-Augenblick-heraus-Produzieren, ein Sich-ins-Dunkle-Vortasten, dem die nächsten Treppenstufen sozusagen jeweils im Weitergehen selbst zuwuchsen.“

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Den Roman-Titel Der Verschollene erwähnte Kafka zwar gegenüber Felice Bauer (Kafka 1999a: 225), im Manuskript findet er sich dagegen nicht, so dass Brod sich schließlich für Amerika entschied. Diese Formulierung spielt auf Heinrich von Kleists Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden an. Zum Einfluss Kleists auf Kafkas Prosa-Werk s. Allemann (1998: 169–188).

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Erhärtet wird diese These nicht zuletzt durch Äußerungen Kafkas aus der Zeit vor dem ,Umbruch‘, als er an seiner bisherigen Schaffensweise noch bemängelte, das vorausgehende Erfinden „frei vom Papier“ und das zeitlich versetzte Niederschreiben klafften auseinander: Sicher ist, daß […] alles, was ich im voraus selbst im guten Gefühl Wort für Wort oder sogar nur beiläufig aber in ausdrücklichen Worten erfunden habe, auf dem Schreibtisch beim Versuch des Niederschreibens, trocken, verkehrt, unbeweglich, der ganzen Umgebung hinderlich, ängstlich, vor allem aber lückenhaft erscheint, trotzdem von der ursprünglichen Erfindung nichts vergessen worden ist. Es liegt natürlich zum großen Teil daran, daß ich frei vom Papier nur in der Zeit der Erhebung […] Gutes erfinde (Kafka 1990b: 251).

Kafka diagnostizierte dabei zugleich die Ursache seines bisherigen literarischen ,Versagens‘: Er hatte sich dem Schreibakt noch nicht völlig anvertraut, Konzeption und Niederschrift noch nicht synchronisiert und miteinander verflochten. Nach dem Durchbruch gelang „die restlose Verkoppelung von Erfindung und Niederschrift, das gleichzeitige Zustandekommen von Werk und Text“ (Pasley 1980: 16). Das Urteil stellt das am besten dokumentierte Beispiel für das Zusammenfallen von Erfindung und Textentstehung dar. Es blieb für Kafka lebenslang vorbildhaft. Dies belegen zahlreiche weitere Aussagen Kafkas63 über ein Schreiben „auf dem im Geheimen sich vollziehenden Weg, auf dem die Worte aus uns hervorgetrieben werden“ (Kafka 1999b: 99).64 In der Summe kann man sich somit guten Gewissens Malcolm Pasleys (1980: 17–18) Resümee anschließen, gemäß dem Spontaneität (maximale Verkürzung des Weges von der Idee zur Niederschrift), Flüssigkeit (die kontinuierliche Bewegungslinie vom Ursprung her) und Offenheit bzw. Unvoreingenommenheit (ein Sich-treiben-Lassen) die drei Hauptdesiderate Kafkas an sein Schreiben gewesen zu sein scheinen. 4.4.6  Paralleles Schreiben an verschiedenen Texten Kafka, dessen erhaltenes Werk zu etwa drei Vierteln aus flüchtig Begonnenem, Fragmentarischem, Unvollendetem besteht, konnte sich nur selten über längere Zeit auf einen Text allein einlassen: Häufig schrieb er parallel bzw. abwechselnd an mehreren Kapiteln

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Zusammengestellt liegen sie bei Binder (1976a) vor. Vgl. Kafkas Feststellung, man müsse „ins Dunkel hineinschreiben wie in einen Tunnel“ (Brod 1974: 349) und das Schreiben gleiche einem Seismographen, der zwar Seelenzustände festhalten, aber nicht vorhersagen könne ( Janouch 21968: 62).

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eines Werks, so etwa im Falle des Proceß (Pasley 1990b: 78, 123), oder aber an mehreren eigenständigen Werken, manchmal an mehr als vier Texten gleichzeitig: Neben dem Verschollenen arbeitete er z. B. an der Verwandlung (Kafka 1999a: 242), der Strafkolonie (Kafka 1990b: 715),65 dem Proceß,66 der Kalda-Geschichte, dem Dorfschullehrer und dem Unterstaatsanwalt (Kafka 1990b: 675, 714–715).67 Die Entstehung des Schloß-Romans wurde wiederum durch die Abfassung des Hungerkünstlers (Schillemeit 1992: 109–110) und mehrerer Geschichten des Elberfeld-Heftes begleitet (Kafka 1990b: 718).68 Diese Praxis schlug sich in den Roman-Handschriften in Verschreibungen nieder, die möglicherweise auf Interferenzen mit anderer Kurzprosa beruhen (Schillemeit 2002a: 78). So kam es etwa zu häufigen und regelmäßigen Verwechslungen von Personennamen aus verschiedenen Texten: Im Verschollenen etwa schrieb Kafka wiederholt unwillkürlich Georg statt Karl;69 im Schloß bezeichnete er irrtümlich Pepi als Frieda und Barnabas als K.;70 im Proceß ließ er mehrfach Karl statt K. auftreten;71 in der Verwandlung erhielt Gregor des Öfteren den Namen Karl oder Georg.72 Nicht zuletzt lässt sich die Herkunft vieler Personennamen auf die Lektüre zurückführen, die Kafka neben seiner Textproduktion gerade beschäftigte: Namen wie Barnabas oder Galater verweisen beispielsweise auf das Neue Testament,73 Bertuch auf die Schriften Goethes (Brod 1969a: 190). 4.4.7  Einsames, isoliertes, intim-privates Schreiben Zu diesen sozusagen ‚mechanischen‘ Bedingungen des Schreibprozesses traten atmosphärische und psychologische Parameter, die ihn mitbestimmten. So gehörten Zurückgezogenheit, Einsamkeit, ja Isoliertheit und absolute Ruhe zu den unverzichtbaren Voraussetzungen

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S. hierzu Kittler/Koch/Neumann (1996: 181, 272). Zu einem weiteren Beleg für Prosa, die parallel neben dem Verschollenen entstand, vgl. Kafka (1999a: 361). 66 Zu den inhaltlichen Bezügen zwischen dem Verschollenen und dem Proceß s. Richter (1962: 211– 213). 67 S. hierzu im Detail Heller/Beug (1969: 76) und Schillemeit (2002a: 75, 77–78). 68 S. hierzu v. a. Pasley (1993: 75). 69 Vgl. Vv.9/23,26; Vv.11/1,20; Vv.12/26; Vv.13/25; Vv.18/21; Vv.19/7; Vv.62/6; Vv.72/17; Vv.252/2; Vv.413/3. 70 Zu Pepi – Frieda vgl. Sv.158/20 und Sv.159/3; zu Barnabas – K. vgl. Sv.188/22. 71 Vgl. Pv.58/12; Pv.144/24(1); Pv.278/9. 72 Zu Gregor – Karl vgl. Dv.127/8(2); Dv.139/6,22; Dv.141/20; Dv.156/10; Dv.183/3; zu Gregor – Georg vgl. Dv.127/18; Dv.137/8; Dv.158/17–18; Dv.160/18; zur Verwechslung Karl/Georg/Gregor im Heizer, Urteil und in der Verwandlung s. Jahn (1965: 549), Dietz (1967: 316), Kobs (1970: 48) und Rajec (1977: 110). 73 Zu den Spuren der Bibel-Lektüre Kafkas in seinem Werk s. ausführlich Rohde (2002).

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von Kafkas Schreibarbeit (Müller-Seidel 1987: 107; Born 1988: 22–24), wenn sie gelingen und ihm den literarischen „Lohn des Alleinseins“ (Kafka 1990b: 543) erbringen sollte. Unzweideutig formulierte Kafka das Postulat, nur sich selbst gegenübergestellt zu sein, und den „Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit“ (Kafka 1990b: 562): Ich muß viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins (Kafka 1990b: 569). Deshalb kann man nicht genug allein sein, wenn man schreibt, deshalb kann es nicht genug still um einen sein, wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht (Kafka 1999b: 40). Und darum halte ich das Schreiben in zitternder Angst vor jeder Störung umfangen und nicht nur das Schreiben, sondern auch das dazugehörige Alleinsein (Kafka 1958: 431). So viel Ruhe wie ich brauche gibt es nicht oberhalb des Erdbodens. Wenigstens für ein Jahr wollte ich mich mit meinem Heft verstecken und mit niemandem sprechen (Kafka 1958: 374). Ich brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit nicht „wie ein Einsiedler“ das wäre nicht genug, sondern wie ein Toter (Kafka 1999b: 221).

Durch einen regelrechten Rückzug aus der Gesellschaft versuchte Kafka im Winter 1916/17 diese Grundlage literarischer Produktivität zu erzwingen, indem er sich mit seinem vorübergehenden Umzug in die Alchimistengasse auf dem Prager Hradschin einen abgelegenen Schreibort fern aller familiären, sozialen und beruflichen Zwänge schuf (Neumann 1982: 100). In seinem Wunsch nach Isolation konnte er beim Schreiben nicht einmal die Gegenwart seiner Verlobten Felice Bauer dulden (Kafka 1999b: 40). Da ihm die reale Welt seines häuslichen und beruflichen Alltags nur selten ungestörte Einsamkeit gönnte,74 malte sich Kafka die aus seiner Sicht ideale Schreibumgebung metaphorisch in der Tiefe eines unzugänglichen Kellergewölbes aus (Müller-Seidel 1987: 109): Oft dachte ich schon daran, daß es die beste Lebensweise für mich wäre, mit Schreibzeug und einer Lampe im innersten Raume eines ausgedehnten abgesperrten Kellers zu sein. Das Essen brächte man mir stellte es immer weit von meinem Raum entfernt hinter der äußersten Tür des Kellers

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Zu Kafkas Klagen über permanente Störungen im Allgemeinen, im Büro und v. a. im Elternhaus vgl. Kafka (1990b: 225–227, 356–358, 732, 734; 1999a: 131, 178, 202, 204, 226; 1999b: 136; 1994: 441–442).

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nieder. Der Weg um das Essen, im Schlafrock, durch alle Kellergewölbe hindurch wäre mein einziger Spaziergang. Dann kehrte ich zu meinem Tisch zurück, würde langsam und mit Bedacht essen und wieder gleich zu schreiben anfangen. Was ich dann schreiben würde! Aus welchen Tiefen ich es hervorreißen würde! Ohne Anstrengung! (Kafka 1999b: 40).

Derartige Wunschvorstellungen umgeben Kafkas literarischen Schreibakt mit der Aura einer geradezu extremen Intimität und Privatheit, in der sich der ,reine Dialog mit sich selbst‘75 optimal abspielen konnte. Kafka sah seine dabei entstandenen Texte insofern auch als „Zeugnisse der Einsamkeit“ (Kafka, zit. nach Janouch 21968: 41) und ermahnte sich beim Schreiben immer wieder selbst: „Ich darf mich aber nicht verlassen, ich bin ganz allein“ (Kafka 1990b: 675). Demgegenüber konnten andere, nicht literarische Schriften von ihm offenbar durchaus in Gesellschaft verfasst werden. Dies gilt etwa für die Reisetagebücher von 1909 und 1911, die parallel zu Max Brods Reiseaufzeichnungen geführt wurden, oder seine Handlungsparaphrasierungen ostjiddischer Theateraufführungen, die Kafka mitten im Zuschauerraum zu Papier brachte.76 4.4.8  Nächtliches Schreiben Diese absolute Privatheit wurde durch die von Kafka zum Schreiben bevorzugte Tageszeit zusätzlich atmosphärisch potenziert: Nach zahlreichen (Selbst-)Zeugnissen77 arbeitete er zumeist in der Nacht (Born 1988: 20–21; Schillemeit 2002a: 55), die er dezidiert als „gewiß die beste Zeit“ (Kafka 1990b: 717), als die produktivste Phase schriftstellerischer Betätigung innerhalb des täglichen 24-Stunden-Turnus erachtete (Kafka 1990b: 675, 734) und sogar gegenüber seiner Verlobten Felice Bauer für sich als Arbeitszeit reklamierte (Kafka 1999a: 258). Denn in ihrer Tiefe, besonders zwischen ein und vier Uhr, steckte in Kafkas Augen „die eigentliche Beute“ (Kafka 2013: 318). „Vielleicht“, so überlegte er, „gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses; in der Nacht, wenn mich die Angst nicht schlafen läßt, kenne ich nur dieses“ (Kafka 1958: 384). Die Entdeckung der nächtlichen Stunden als inspirativ veranlasste Kafka seit dem Urteil sogar zu einer

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S. hierzu Kap. 4.3.2.3. S. hierzu Kap. 3.2.3 und 4.3.2.2. Vgl. hierzu u. a. Kafka (1958: 384; 1990b: 250, 460–461, 678, 710, 733; 1999a: 177, 242, 255, 257, 276, 289, 295, 311, 338, 356, 357; 1999b: 16, 30, 201, 221) sowie Brod (1948: 29; 31954a: 156; 1960: 265; 1974: 113). Ein nächtliches Arbeiten lässt sich zudem aus den brieflichen ‚SchreibwerkstattBerichten‘ an Felice Bauer erschließen, die häufig auf die Nacht zwischen zwei Kalendertagen datiert wurden.

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regelrechten Terminplanung innerhalb seines Tagesablaufs, um alles auf den Einbruch der Dämmerung hin abzustimmen: Seit 1 ½ Monaten ist meine Zeiteinteilung […] die folgende: [U]m ½ 11 (oft wird aber auch sogar ½ 12) Niedersetzen zum Schreiben und dabeibleiben je nach Kraft, Lust und Glück bis 1, 2, 3 Uhr einmal auch schon bis 6 Uhr früh (Kafka 1999a: 204). Was sagst Du aber liebste Felice zu einem Eheleben, wo […] der Mann um ½ 3 oder 3 aus dem Bureau kommt, ißt, sich niederlegt, bis 7 oder 8 schläft, rasch etwas ißt, eine Stunde spazieren geht, dann zu schreiben anfängt und bis 1 oder 2 Uhr schreibt. Könntest Du denn das ertragen? (Kafka 1999b: 217).

Auch das Abendessen im elterlichen Haus ließ Kafka gelegentlich ausfallen, „um die Nacht für die Arbeit ganz auszunützen“ (Kafka 1990b: 710). Die Feststellung, dass zum Gelingen des Schreibens „eine gute Nacht so notwendig wäre“ (Kafka 1990b: 709), der irreale Wunsch, hätte er doch „in den Nächten arbeiten dürfen“ (Kafka 1990b: 734), der Vorsatz, er müsse mit dem Schreiben abends „um 8 oder 9 Uhr anfangen“ (Kafka 1990b: 717), die Überlegung, „welche Nächte […] in der nächsten Zeit dafür bestimm[t]“ (Kafka 1990b: 772) werden könnten, und „fortwährend[e] Versuche durch viel Schlaf am Nachmittag die Fortsetzung der Arbeit bis tief in die Nacht zu ermöglichen“ (Kafka 1990b: 716), dokumentieren ein permanentes Bemühen Kafkas, die nächtlichen Stunden bestmöglich für seine Schreibarbeit zu nutzen. In Verbindung mit dem angestrebten Alleinsein in absoluter Stille, das die Dämmerung tendenziell herbeizuführen geeignet war, stellte sich das nächtliche Arbeiten für ihn als Ideal-Atmosphäre dar. Allein im „Kontinuum der Nacht“ (Schütterle 2002: 32), so scheint es, vermochte Kafka produktiv dem Erzählfaden zu folgen – mit seinen eigenen Worten: „[I]ch kann eben nur auf diese systematische zusammenhängende und strenge Art schreiben“ (Kafka 1999b: 221–222). Nachtarbeit konnte zwar gewiss eine bestimmte emotionale Atmosphäre erzeugen, allerdings auch zu Ermüdung führen, die ihre Spuren im Text hinterließ. Dies gab Kafka (1999a: 204) gegenüber Felice Bauer zu, als er beklagte, „daß jede Ermüdung sich in dem Geschriebenen viel besser und klarer aufzeichnet, als das, was man eigentlich aufschreiben wollte.“ Auch mit Blick auf das nächtliche Schaffen an der Verwandlung räumte er ein, „daß in manchen Stellen der Geschichte deutlich [s]eine Ermüdungszustände […] eingezeichnet“ (Kafka 1999a: 303) seien. Im Verlauf einer schöpferischen Nacht, so berichtete Kafka (1990b: 710), habe er sich am Dorfschullehrer sogar einmal „fast bewußtlos geschrieben“.

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Somit erwies sich die Nacht mit Blick auf den Schreibprozess gleichermaßen als Quelle narrativer Inspiration wie auch schriftsprachlicher ‚Fehlleistungen‘. 4.4.9  Traumartiges und ,erträumtes‘ Schreiben Eine weitere produktionsästhetische Bedingung von Kafkas Literaturproduktion ist von Nacht und Abgeschiedenheit nur einen Schritt entfernt: Der Forschungskonsens in dieser Hinsicht lautet, dass Kafkas Werk „[i]n der Dämmerzone des Bewusstseins […] verwurzelt“ (Fiechter 1999: 184) sei, „daß Traumhaftes in Kafkas Schreiben eindringt und daß es Traumhaftes vor allem ist, das für sein Schreiben prägend wurde“ (Müller-Seidel 1987: 110). In der Tat sah Kafka selbst im Schreiben „die Darstellung [s]eines traumhaften innern Lebens“ (Kafka 1990b: 546) und setzte es mit einem todesähnlichen „tiefere[n] Schlaf “ (Kafka 1999b: 221) gleich. Mehrfach berichtete er von dem Erlebnis, nachts im wachen Zustand geträumt zu haben (Kafka 1990b: 567): Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen. Und von jetzt an bleibt es die ganze Nacht bis gegen 5 so, daß ich zwar schlafe daß aber starke Träume mich gleichzeitig wach halten. Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß. Gegen 5 ist die letzte Spur von Schlaf verbraucht, ich träume nur, was anstrengender ist als Wachen. Kurz ich verbringe die ganze Nacht in dem Zustand, in dem sich ein gesunder Mensch ein Weilchen lang vor dem eigentlichen Einschlafen befindet (Kafka 1990b: 49–50). Wieder war es die Kraft meiner Träume die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen, die mich nicht schlafen ließ. Das Bewußtsein meiner dichterischen Fähigkeiten ist am Abend und am Morgen unüberblickbar (Kafka 1990b: 53). Heute mittag vor dem Einschlafen – ich schlief aber gar nicht ein – lag auf mir der Oberkörper einer Frau aus Wachs. Ihr Gesicht war über dem meinen zurückgebogen, ihr linker Unterarm drückte meine Brust (Kafka 1990b: 251).

Aufgrund von Motiven und ihres Arrangements hat man Kafkas Erzählweise schon früh mit den Gesetzen des Traumhaften in Beziehung gesetzt: Bereits Heinrich Eduard Jacob (1924: 63) sah in Kafkas Erzählungen „kontrollierte Träume auf psychoanalytischem Feld, in denen deren ganzer technischer Apparat erscheine.“ Willy Haas (1925: 462) schloss aus

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dem „Blitzschlag endloser unkontrollierbarer Assoziationen“ im Proceß, dass Kafka seine Prosa in ihrer ganzen Bauform erträumte. Thomas Mann (1974a: 424; 1974b: 772) sprach in diesem Zusammenhang von „alogischer und beklemmender Narretei der Träume“ und von „traumkomischen Gebilden“. Die Deutung von Kafkas Erzählkunst als Produkt des Träumens wurde in der Folge in der Forschung kontinuierlich weitergepflegt und unterschiedlich begründet: mit Verweis auf den hohen Irrealitätsgrad vieler Romanfiguren (Beißner 1983: 140–141), auf die Gestaltung eines Verlustes konventionellen Zeitempfindens (Church 1956: 62–69; Politzer 1965: 355–361; Grundlehner 1977: 382–390), auf erzählerische Kohärenzbildung mittels Traumlogik (Dentan 1961: 57–58, 64) sowie auf assoziationsbedingte Folgen bildhafter Situationen (Beicken 1971: 151). Zudem wurden verschiedene Traumtechniken identifiziert, zu welchen „die schnelle Überwindung des Raumes, abrupte Perspektivenwechsel, […] die empirisch unmögliche Veränderung der optischen Wahrnehmung, die Nachgiebigkeit der Materie und das Ineinanderfließen aller Vorgänge“ (Binder 1979b: 50) gehören. Weitere Indizien für die Annahme, Kafkas entscheidende Schaffensprozesse seien weitgehend dem Einfluss der planenden Ratio entzogen gewesen und jenseits der Bewusstseinsschwelle78 verlaufen, erkennt Binder (1979b: 49–50) in dem belegbaren auffälligen Interesse Kafkas für Träume,79 in seiner Herstellung dezidierter Bezüge zwischen einigen Werken und der Welt des Traumes,80 im Umstand, dass Träume in Kafkas Werk als Teile der Handlungsgestaltung fungieren,81 und in der im Urteil nachweisbaren „Aufspaltung eines intrapsychischen Konflikts auf verschiedene Figuren“ (Binder 1979b: 50). In der Summe scheint Sigmund Freuds (1969: 177) „Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer“ mit Blick auf Kafkas Schaffensprozess insofern zumindest bedingt gerechtfertigt. 4.4.10  Ekstatisches, emotionales, traumatisiertes und psychographisches Schreiben Daneben weist vieles darauf hin, dass sich Kafka beim Schreiben häufig in einen ekstatischen, rauschhaften, höchst emotionalen psychischen Zustand hineinsteigerte bzw. sich regelrecht in einen solchen ‚hineinschrieb‘. Nach Selbst- und Fremdzeugnissen war

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Vgl. Kafkas Bezeichnung der Literatur als „Narkotikum“, welches „das unbewußte Leben erleichtert“ (Kafka, zit. nach Janouch 21968: 62). Er notierte sich z. B. eigene Träume in seine Tagebücher. Eine Sammlung der Traumprotokolle Kafkas (auch aus seinen Briefen) liegt in Kafka (1993b) vor. Dies gilt u. a. für das Urteil, den Heizer und die Verwandlung. Beispiele hierfür finden sich im Proceß (Kafka 1990aI: 292–295), im Schloß (Kafka 21983aI: 382– 384) und in der Erzählung Der Bau (Kafka 1992I: 602–606).

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er während der Textproduktion „vollständig ergriffen“ (Kafka 1990b: 675), „ins Feuer gerathen“ (Kafka 1999a: 289),82 „fortgerissen“ (Kafka 1999a: 357) oder „fast bewußtlos“ (Kafka 1990b: 710). Dieses „Ergriffensein“ (Kafka 1990b: 676), die Wahrnehmung „großer“, ihn „aufreißender Zustände“ (Kafka 1990b: 51) durch die „Entfesselung von Natur aus gebundener Geister“ (Kafka 1958: 384) kennzeichnete eine Literaturproduktion „in unglaublicher Ekstase“ (Brod 31954a: 156), die den Schreibenden fallweise bis „an die Grenzen [s]einer Fähigkeit“ (Kafka 1990b: 714) oder sogar an die „Grenzen des Menschlichen überhaupt“ (Kafka 1990b: 34) führen konnte. In welcher Form Kafka mitten im Schreiben plötzlich von Affekten befallen werden konnte, macht eine Momentaufnahme von der Arbeit am Verschollenen deutlich: Ich habe […] vor zwei, drei Monaten einmal geweint, da hat es mich allerdings in meinem Lehnsessel geschüttelt, zweimal kurz hintereinander, ich fürchtete mit meinem nicht zu bändigendem Schluchzen die Eltern nebenan zu wecken, es war in der Nacht und die Ursache war eine Stelle meines Romans (Kafka 1999a: 278).

In diesem Sinne lässt sich Kafkas Schaffensprozess metaphorisch als „allnächtliches ekstatisches Sterben und Auferstehen“ (Matt 2006: 112) beschreiben. In nahezu rauschhafte Seelenzustände konnte Kafka zudem genauso beim Vorlesen seiner Prosa geraten. Über einen Vortrag der Verwandlung bei Max Brod berichtete er: „Ich las mich an meiner Geschichte in Raserei“ (Kafka 1999b: 115). Auch nachdem er einmal einer seiner Schwestern etwas „aus [s]einer guten Zeit“83 vorgetragen hatte, stellte er fest: „Ich bin ganz heiß vom Lesen geworden“ (Kafka 1999b: 84). Kafkas Reaktion auf das Vorlesen eigener Texte belegt, wie stark ihn dieses – sozusagen als ,rezeptive Wiederholung des Schreibaktes‘84 – emotionalisieren konnte. So endete etwa eine Lesung des Urteils bei Oskar Baum in einem ungehemmten Gefühlsausbruch: „Gegen Schluß fuhr mir meine Hand unregiert und wahrhaftig vor dem Gesicht herum. Ich hatte Tränen in den Augen. Die Zweifellosigkeit der Geschichte bestätigte sich“ (Kafka 1990b: 463).

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Zu Kafkas Metapher des brennenden Schriftstellers s. u. a. Müller-Seidel (1987: 108), Born (1988: 20, 25–27) und Corngold (2008: 150–151). Vermutlich handelte es sich um den Heizer (Heller/Beug 1969: 40). Solche rezeptiven Wiederholungsakte durchlief Kafka offenbar häufiger: „Das Unglück, das man ertragen muß, wenn man in einer Arbeit, die immer nur in ganzem Zug gelingen kann, sich unterbricht und das ist mir bisher immer geschehn, dieses Unglück muß man beim Durchlesen wenn auch nicht in der alten Stärke, so gedrängter durchmachen“ (Kafka 1990b: 398).

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Sprechend sind auch die zahlreichen Metaphern des Kampfes, die Kafka wählte, um sein Verhältnis zu der im Entstehen begriffenen Prosa zu erklären, die sich ihm buchstäblich unter der Hand zu wehren schien (Kafka 1999a: 287, 329): Kafka notierte, was ihn „mit Macht im Bett angefallen hat“ (Kafka 1999b: 12) oder was ihm „in dem Jammer im Bett eingefallen ist“ (Kafka 1999a: 241). Bisweilen erschien ihm der verfertigte Text „unmäßig schwer für [s]eine kläglichen Schultern“ (Kafka 1999b: 20). Der Schreibende wurde von ihm „abgewiesen“ (Kafka 1999a: 361), „abgeworfen“ (Kafka 1999b: 117) oder „zurückgeworfen“ (Kafka 1990b: 675), war vor ihm „sehr stark zurückgewichen“ (Kafka 1990b: 676) oder musste sich „vollständig von ihm besiegt“ (Kafka 1999b: 63) erklären. Trotz allem war der Abgewiesene entschlossen, sich „auf den Roman zurückzuwerfen“ (Kafka 1999a: 303), davon überzeugt, er dürfe „nicht nachgeben“ (Kafka 1990b: 676) und müsse ihn „wieder in Griff bekommen“ (Kafka 1999a: 311). Dazu wollte er sich in den Text „wieder mit dem Kopf einbohren“ (Kafka 1999b: 55) und in ihn „mit aller Kraft hineinreiten“ (Kafka 1999a: 350), selbst wenn es ihm „das Gesicht zerschneiden sollte“ (Kafka 1990b: 126). Die Metapher vom ‚Pferd‘ (für ‚Erzählung‘), das der ‚Reiter‘, ‚Pferdedresseur‘ oder „Cirkusdirektor“ (Kafka 1990b: 718) (der ,Erzähler‘) zähmen müsse,85 zieht sich durch das gesamte Werk Kafkas.86 Andererseits unternahm Kafka, wenn er schrieb, offenbar auch „Fluchtversuche“ (Kafka 1992I: 211), durch die er sich der Wirklichkeit entzog (Thieberger 1979: 180; Pasley 21983b: 65). Beim Literaturproduzieren wohnte er „ganz und gar in jedem Einfall“ (Kafka 1990b: 34). Das Schreiben figurierte nicht nur als sein „süßer wunderbarer Lohn“ (Kafka 1958: 384), sondern auch als seine „einzige innere Daseinsmöglichkeit“ (Kafka 1999b: 171), als eine „Form des Gebetes“ (Kafka 1992I: 354), der „Erlösung“ (Kafka 1990b: 376) oder Reinigung (Kafka 1999a: 257), ferner als „[m]erkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost“ (Kafka 1990b: 892) oder als „Eitelkeit und Genußsucht, die immerfort um die eigene oder auch um eine fremde Gestalt […] schwirrt und sie genießt“ (Kafka 1958: 385). Der Schreibakt bedeutete für ihn den „Kampf um die Selbsterhaltung“ (Kafka 1990b: 543) und sogar „das Wichtigste auf Erden, wie etwa einem Irrsinnigen sein Wahn […] oder wie einer Frau ihre Schwangerschaft“ (Kafka 1958: 431). Eindringlich beschrieb sich Kafka als Schriftsteller, der sich am Geschriebenen festklammert „ganz wie eine Denkmalsfigur […] am Block“ (Kafka 1990b: 421), der „mit

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Zu Beispielen hierfür s. u. a. Kafka (1990b: 518–519, 671; 1993aI: 416–417; 1993aII: 410; 1999a: 350; 2005: 250). Zu diesem Motiv in Kafkas Schriften s. Fingerhut (1969: 130–132), Pasley (21983b: 121; 1993: 74), Kremer (1992: 186–188) und Kübler-Jung (2005: 220–228).

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unsichtbaren Ketten an eine unsichtbare Litteratur gekettet ist und der schreit, wenn man in die Nähe kommt, weil man, wie er behauptet, diese Kette betastet“ (Kafka 1999b: 268). Solche Äußerungen haben die Forschung vielfach dazu angeregt, Kafkas Schaffensprozess psychoanalytisch zu deuten – zumal Kafka auch selbst gelegentlich einen psychotherapeutischen Wert des Schreibens für sein Seelenleben herausstrich: Das Schreiben habe ihm sein „innerster Arzt“ (Kafka 1999b: 179) als Medikament verordnet; so praktiziere er es, um sich vor dem, „was man Nerven nennt, zu retten“ (Kafka 1958: 373–374); lege er die Feder weg, dann müsse sein Leben unweigerlich „mit dem Irrsinn enden“ (Kafka 1958: 384). Vor einem solchen Hintergrund deutet etwa Binder (1976a: 159) Das Urteil als ein „auf Grund infantiler Regression zustandegekommenes“ Werk im Sinne Freuds. Der Akt des Schreibens reflektiere demnach starke aktuelle Erlebnisse, die durch unerfüllte Kindheitswünsche des Schriftstellers erweckt worden seien. Die Lektüre zur Entstehung des Schloß-Romans brachte ihn ferner zu dem Schluss, dass die Niederschrift für Kafka „offenbar so etwas wie eine psychographische Kur, mit deren Hilfe er seine neurotischen Zustände […] bekämpfen wollte“ (Binder 1983: 324), dargestellt habe. Zu analogen Ergebnissen kommen Kaus (1998; 2000), der in der Abfassung des Processes eine „abgewehrte Paranoia“ sieht, und Richter (1975: 64–65, 114, 131–132), der in den Romanen assoziativ auftretende Elementgruppen erkennt, in welchen Einzeleindrücke unverarbeiteter traumatischer Kindheitserfahrungen gespeichert vorlägen, die durch ständiges sprachliches Neuarrangieren zerstört und emotional verarbeitet werden sollten. 4.4.11  Verbindung von Schreibakt und Geschriebenem Auch die für Kafka eigentümliche sehr enge Verbindung von Schreibakt und Geschriebenem wurde in der Forschung immer wieder betont: Als erster nannte Malcolm Pasley (1980: 10–12; 21983b: 80) Beispiele für die Übereinstimmung des im Text beschriebenen und gleichzeitig beim Niederschreiben benutzten Schreibwerkzeugs oder für bewusst gewählte kleine Papier- und Heftformate, die mit der Knappheit der darauf notierten Prosa-Formen korrespondierten. Für Pasley schlug sich diese Bindung auch in der wachsenden Unsicherheit der Niederschrift gegen Ende eines Heftes nieder, wenn der Vorrat an beschreibbarem Papier zur Neige ging und der Schriftträger gewechselt werden muss­te. Tilly Kübler-Jung (2005: 211–212) wiederum hat anhand der Kurzprosa-Sammlung Betrachtung zahlreiche auffällige Textpassagen zusammengestellt, die auf den Prozess des Schreibens und seine Problematik zu verweisen scheinen. Durch Häufungen von Worten wie ,laufen‘, ,Galopp‘, ,Sprung‘, ,Lauf ‘ und ,abwärts‘ evozierten diese z. B. das Bild des Sich-Zusammenfindens von Lettern und damit des Schreibflusses und der Entstehung

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eines Textes (Kinder auf der Landstraße); oder sie ließen durch die Mehrdeutigkeit von Wort(bestandteil)en wie ,Seiten‘, ,Anschläge‘ und ,drücken‘ implizit das nächtliche Schreiben auf einer Maschine anklingen (Entlarvung eines Bauernfängers). Klaus Schenk (2007: 197–198) schließlich hat anhand des Kapitel-Fragments Das Haus (aus dem Proceß) die Entfaltung des Textraums als Schreibraum im inszenierten Schreibprozess als eine der Grundkonstellationen der Entstehung von Kafkas Prosa bestimmt. An beschriebenen Bewegungsabläufen sei die inverse Struktur verschiedener Richtungswechsel (,hierher zurückkehren‘, ,kreuz und quer‘, ,auf und ab‘) besonders deutlich erkennbar, in welchen scheinbar eine metaphorisch-metonymische Schreibbewegung in der literarischen Arbeit umgesetzt werde.87 4.4.12  Einheit von Schreiben und Leben Wie stark sich Kafka, wenn er schrieb, selbst „im innersten“ seiner Prosa „bewegen und darin leben“ (Kafka 1999a: 179) konnte, deuten zum einen zahlreiche autobiographische Referenzen88 in seinen literarischen Schriften an;89 zum anderen spricht seine wiederholte Wahl des Kürzels K. bzw. des Namens Karl für seine Protagonisten90 eine deutliche Sprache. Besonders das „autobiographische Initial K.“ (Brod 1964b: 77), der „Zeiger für Ich überhaupt“ (Schoeps 1985: 163), scheint unverhohlen auf Kafka selbst zu verweisen. Dies gilt umso mehr, als Kafka es auch frequent zur Zeichnung von Briefen und anstelle seines eigenen Namens benutzte, wenn er etwa Aussagen anderer (z. B. Zeitungskritiker) über sich selbst zitierte.91 Ebenso stellen die Namen Raban und Samsa (zweifaches a wie in Kafka), Georg und Josef (gleiche Buchstabenzahl wie in Franz und Kafka) sowie Negro92 und Gracchus93 Bezüge zwischen Autor und Figur her, über die sich Kafka auch 87 88

Zum analogen Verfahren in einem Brief an Felice Bauer vgl. Kafka (1999b: 40). Hierzu gehören v. a. Reflexe des Vater-Sohn-Konflikts (u. a. Binder 1966: 125–126; 1976a: 160– 162; Kaus 1998) und des Anrennens gegen die Unmöglichkeit einer freien Schriftstellerexistenz (z. B. Hillmann 1979: 31–34). 89 Im Proceß ist der Protagonist Josef K. am Vorabend seines 31. Geburtstages (P.305/2) wohl kaum zufällig genauso alt wie Kafka bei der Abfassung des Werks im Jahre 1914/15. 90 Im Proceß, im Schloß und in der Erzählung Ein Traum im Landarzt-Band trägt die Hauptfigur den Namen K., im Verschollenen heißt sie Karl. 91 Vgl. z. B.: „,K’s Erzählungskunst besitzt etwas Urdeutsches‘ […] ,K’s Erzählungen gehören zu den jüdischesten Dokumenten unserer Zeit.‘“ (Kafka 2005: 250). 92 Glišović (1996: 140) spricht hier von der „Decknamenformel Kafkas: Konsonant-Vokal-Doppelkonsonant-Vokal“. 93 Gracchio ist die italienische Entsprechung des tschechischen kavka. Auf Deutsch bedeutet beides Dohle (Emrich 1958: 21; Wagenbach 1958: 19; Binder 1966: 173; Fiechter 1999: 137).

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nachweislich im Klaren war oder im Nachhinein klar wurde (Kafka 1990b: 492; 1999b: 201). Sie sind „keine Indizes, sondern bewußt gewählte semantische Suggestionen zu ihren Trägern“ (Kurz 1979: 122).94 Auch die von Kafka benutzte Erzählperspektive ist Ausdruck seiner sich zumindest immer wieder unmittelbar konstituierenden förmlichen ,Anwesenheit‘ im Text: So löste er sich im Schloß erst im dritten Kapitel endgültig aus der Ich-Erzählsituation und ging zur 3. Person Singular bzw. zu K. über.95 Verbunden mit diesem Perspektivenwechsel musste zudem an einer Stelle sogar ein (intuitiv gesetztes?) Präsens zum epischen Präteritum korrigiert werden (Schillemeit 1987: 96–97, 99).96 Unwillkürlich vorgenommene und sogleich wieder revidierte Wechsel von der 3. zur 1.97 (oder auch zur 2.98) Person Singular lassen sich punktuell auch in anderen Werken nachweisen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Kafkas Entdeckung des zügigen Schreibens zeitlich mit einem Umbruch in seiner Perspektivengestaltung zusammenfiel, der zu einer ,Radikalität der personalen Erzählsituation‘ in seiner Prosa führte. Der Leser sah fortan ausschließlich mit den Augen der im Mittelpunkt des Geschehens stehenden Hauptfigur der Erzählung (Beißner 1952; Walser 1961; Binder 1966). Auch wenn ein auktorialer Erzähler weiterhin punktuell strukturbestimmend sein konnte, scheint es, dass der Erzähler fortan meist mit dem Helden identisch war. Sehen, Erleben und Geschehen fielen demnach weitgehend zusammen; es kam zu fließenden Übergängen zwischen Erzähler und Hauptfigur (Leopold 1963; Kudszus 1964; 1970; Philippi 1966; Sokel 1967; Albrecht 2007).99 So schilderte Kafka Felice Bauer in Briefen, die er in nächtlichen Schreibpausen an sie verfasste, gerade entstehende Szenen des Verschollenen, inmitten welcher er sich selbst sah:

94 95

Zu den Namen von Kafkas Prosa-Gestalten und ihrer Bedeutung s. ausführlich Rajec (1977). Die durchgehende Abänderung von ich zu er/K. reicht von Sv.7/3 bis Sv.67/24. Laut Brod (1964a: 529), Pasley (21983: 77), Schillemeit (1987: 96) und Fiechter (1999: 178) handelt es sich hierbei um einen nachträglichen Eingriff. Von Kafka übersehen wurden folgende Textstellen: Se.14/14; Se.20/24; Se.35/17; Se.40/23; Se.45/8. 96 Vgl. (Ich>Er) w(ei>u)ss{te} (Sv.36/14(2)). Auch an anderer Stelle schien sich der produzierende Kafka innerlich so stark auf die Handlung eingelassen zu haben, dass er in der Erzählhandlung intuitiv das Präsens im Zusammenhang mit der jeweiligen Hauptfigur setzte (vgl. z. B. Pv.176/13; N2e.374/23). 97 Vgl. z. B. Pv.223/19–20(1); Pv.227/27; Pv.307/3; Pv.312/15–17(1); Pv.314/15–17; Vv.120/20; Vv.141/22; Vv.177/12–13; N1v.63/24–25; N2v.104/12–16(2); N2v.411/8,10. 98 Vgl. z. B. Pv.146/12. 99 S. hierzu im Detail Kap. 5.2.6.4.

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Nun stehe ich in der Nacht auf der Gasse einer amerikanischen Stadt und gieße unbekannte Getränke in mich hinein, wie in ein Faß (Kafka 1999b: 17). Schließlich kann es keinen schönern, der vollkommenen Verzweiflung würdigern Ort für das Sterben geben, als einen eigenen Roman. Gerade unterhalten sich zwei seit gestern recht matt gewordene Personen auf zwei benachbarten Balkonen im 8ten Stockwerk um 3 Uhr in der Nacht. Wie wäre es, wenn ich ihnen von der Gasse aus ein „Adieu“ zuriefe und sie gänzlich verließe. Sie würden dort auf ihren Balkonen zusammensinken und mit Leichengesichtern durch die Geländerstangen einander ansehn (Kafka 1999b: 20).

Nicht zuletzt lassen sich Auswirkungen biographisch belegbarer, Kafka aufgenötigter Unterbrechungen seiner literarischen Tätigkeit auf inhaltliche Momente des Verschollenen feststellen (Plachta 2008: 442): Kafka brachte, im Bewusstsein, am Ende einer durchschriebenen Nacht aufgrund familiärer und beruflicher Verpflichtungen100 eine längere Zwangspause im Schaffensprozess einlegen zu müssen, im Augenblick des Abbruchs Motive der Hemmung, des ,An-ein-Hindernis-Stoßens‘ oder des ,Gewaltsam-sich-zurückhaltenMüssens‘ in die Romanhandlung ein (Kafka 2002: 25, 98–99). In diesen Fällen spiegelte sich der Schreibende mit seiner momentanen Situation regelrecht im Schriftbild und sogar im Text des Manuskripts. Schillemeit (2004: 219) sieht hierin eine „merkwürdige Öffnung der Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen aktueller Schreibsituation und erzählter Situation.“ Eine Korrespondenz zwischen den konkreten Schreibbedingungen und dem Geschriebenen, eine enge Verknüpfung von Schreib- und Lebensfrage lässt sich auch anhand der rekonstruierten Entstehung der 1916/17 beschriebenen Oktavhefte erkennen. Hier gewinnen alle Texte eine autobiographische Dimension; es kommt zu einer „Koppelung des Körpers an die Schrift“. Bereits in seiner früheren Beschreibung der Genese des Urteils als Akt des Gebärens101 hatte Kafka „die produktionsästhetische Selbstbeschreibung in den Kontext einer Körpererfahrung“ (Schütterle 2002: 24) gerückt. In Kafkas Darstellung der Niederschrift als Niederkunft, „die eine körperliche Extremsituation auf das Schreiben projiziert“, lässt sich ein „drastisches Bild für die Identifikation von Schreibakt und psychophysischer Existenz“ (Schärf 2008: 76) erkennen.

100 Als er am Verschollenen arbeitete, musste sich Kafka einmal während einer Geschäftsreise seines Schwagers um die Asbest-Fabrik kümmern, deren Miteigentümer er selbst war (Kafka 1999a: 177–180). 101 Vgl. Kafka (1990b: 491). Dieses Bild für den Schöpfungsakt, ein Topos v. a. der Literatur der Romantik, ist bereits aus den Jugendbriefen Kafkas überliefert (Brod 1974: 58).

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4.4.13  Profilskizze von Kafkas literarischem Schreibprozess Auf der Grundlage der Selbstaussagen Kafkas, der Zeugnisse aus seinem engsten Bekanntenkreis und nicht zuletzt angesichts der handschriftlichen Textbefunde lässt sich relativ klar umreißen, unter welchen besonderen Umständen sich die Verfertigung von Kafkas Prosa mit großer Wahrscheinlichkeit vollzogen haben muss. Den mechanischen Ablauf des literarischen Schreibprozesses hat man sich demnach wie folgt vorzustellen: Kafkas Schreiben konstituierte sich (v. a. seit 1912) überwiegend als flüchtig-skizzierender, temporeicher, zügiger und (zumindest intendiert) nicht von Pausen unterbrochener Vorgang. Innerhalb eines angegangenen Werks streng linear ablaufend, konnte er sich allerdings durchaus parallel und mehrsträngig neben anderen linearen literarischen Schreibprozessen abwickeln. Ohne konzipierende Vorgabe und konkrete Vorstellung vom Gang der Handlung folgte Kafkas Schreiben intuitiv und weitgehend der planenden Ratio entzogen der Eigendynamik des im Moment der Niederschrift erfolgenden Einfalls unter mehr oder weniger gleichzeitigem Zustandekommen von Erfindung und schriftlicher Fixierung. Atmosphärisch vollzog sich dieser Prozess in der nächtlichen Isolation des Autors, der seine Werke in intimer, abgeschiedener Privatheit im Dialog mit sich selbst schuf. Der psychische Zustand des Schreibenden lässt sich zumindest über weite Phasen auf unterschiedliche Weise als jenseits der Bewusstseinsschwelle, in einer Art von Trance, Traum oder ekstatischem Rauschzustand, in jedem Fall als erkennbar emotionalisiert beschreiben. Die Funktion des Schreibaktes für den Autor, der sich diesem völlig hingab, war die einer psychographischen Kur, einer Verarbeitung, eines Sich-von-der-Seele-Schreibens verschiedener Traumata bzw. seelischer Konfliktsituationen, die ihn lebenslang latent belasteten. Hierdurch kam es nicht nur zur Verzahnung von Schreibakt und Geschriebenem, sondern auch zu einer Symbiose des Schreibens mit dem Leben des Schreibenden: Dieser war immer wieder geradezu physisch in der Narration gegenwärtig, die sich vor ihm und durch sein geistiges Auge erlebt entfaltete. Sicherlich mögen die einzelnen hier genannten mechanischen, atmosphärischen und psychologischen Bestimmungsfaktoren des Schreibens nicht in jedem Abschnitt der Textproduktion in gleicher Intensität und Vollständigkeit vorgelegen haben. Von der steten gleichzeitigen Wirksamkeit einer Mehrheit von ihnen darf jedoch guten Gewissens ausgegangen werden. Zudem wurde ersichtlich, dass sich das vorläufige Skizzieren, das zügige Schreibtempo und das parallele Arbeiten ebenso wie die nächtliche Ermüdung, Emotionalisierung, ekstatische Befindlichkeit oder das unterbewusste Agieren des Schreibenden sowohl als Quellen der Inspiration als auch als Ursachen von Normabweichungen im Schriftdeutschen erweisen konnten. Zeugnis hiervon legen die

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häufigen von Kafka noch im Schreibprozess durchgeführten Sofortkorrekturen und die hohe Zahl der darüber hinaus erfolgten editorischen Eingriffe innerhalb der Text­ edition der KKA ab.

4.5  Der Einfluss der Mündlichkeit auf Kafkas literarische Textproduktion 4.5.1  Der Zusammenhang von Sprechen, Hören und Schreiben bei der Entstehung von Kafkas Prosa-Werken Einige Indizien deuten darauf hin, dass für Kafka ein ausgeprägter Konnex zwischen Sprechen bzw. Hören einerseits und Schreiben andererseits bezeichnend war, wenn er an literarischen Texten arbeitete. Gezeigt werden konnte in dieser Hinsicht bereits, dass sich Kafkas hohe Sensibilität für Erscheinungsformen gesprochener Sprache immer wieder motivisch in der Handlung seiner Prosa niederschlug.102 Folgt man Clayton Koelb (1994: 185–186; 2008: 106), dann ließe sich dieser Befund darauf zurückführen, dass Kafkas Leben aus einem Erleben der Sprache bestanden habe. Kafka habe sich in einer Welt ,erlebter Rede‘ bewegt, in der die Unterscheidung zwischen erlebtem Leben und erlebter Sprache nur schwer zu treffen gewesen sei. Die starke Bedeutung des Lautlichen für Kafkas „schrecklich aufmerksame[s] Ohr“ (Kafka 1999b: 45) führte darüber hinaus zur expliziten Beschreibung oder zum impliziten Aufscheinen akustischer Phänomene in seinen Schriften: in Form häufiger Reflexe von Geräuschen wie Musik, Gesang, Lärm, Schreien, Rufen, Zischen, Klopfen, Ticken, Läuten oder Piepsen (Kautman 1996: 107–109; Rieck 1999: 56–60, 73–74; Susmann/Susmann 2005). In allen Schaffensphasen setzte Kafka zudem scheinbar gewollt Lautmalerei zur Evokation von Stimmungen ein, die mit dem Inhalt des Geschriebenen korrespondierten (Kautman 1996: 120). Schließlich erwies sich Kafka auch als leidenschaftlicher Vorleser seiner eigenen Prosa, sobald er sie als abgeschlossen beurteilt hatte. Er „lese nämlich höllisch gerne vor“, brachte Kafka (1999a: 298) dies auf den Punkt. Dabei entsteht der Eindruck, die Bereitschaft, den eigenen Text vorzutragen, sei einem intuitiven Bedürfnis entsprungen, den Schreibakt und das in ihm unmittelbar Erfahrene lesend in verbalisierter Form erneut zu durchlaufen.103

102 S. hierzu Kap. 3.2.1 und 3.2.2. 103 S. hierzu Kap. 4.3.2.3 und 4.4.10.

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Ausleben konnte er diesen Drang in seinem literarischen ­Prager Freundeskreis,104 in dem er regelmäßig, meist sonntags, seine Prosa vorstellte. Auch dem engeren Familienkreis105 und Felice Bauer106 trug er aus seinen Texten vor. Darüber hinaus trat Kafka 1912 am Prager Autorenabend der Johann Gottfried Herder-Vereinigung und 1916 an einem der Münchner Abende für Neue Literatur lesend vor die Öffentlichkeit (Born 1979: 110–114, 117–123). Dass Kafkas Vortragsweise hierbei häufig durch hohes Tempo (Baum 1936: 156), Leidenschaftlichkeit (Brod 1948: 27) und sogar Ekstase (Kafka 1990b: 389, 463; 1999b: 115) auffiel und in dieser Hinsicht deutliche Parallelen zu seinem Schreibprozess bestanden, wurde bereits gezeigt.107 Die These von Kafkas ,rezeptiver Wiederholung des Schreibaktes‘ beim Lesen erscheint demnach plausibel; Vergleiche zwischen der mündlichen und der schriftlichen Realisierung eines Textes können gezogen werden. Nicht zuletzt lassen mehrere Tagebuch-Einträge einen geradezu ,physischen‘ Zusammenhang zwischen Sprechen, Hören und Schreiben erkennen, durch den Laute lustvoll oder schmerzhaft als körperliche Realität aufgefasst und mit Buchstaben verbunden wurden, so dass Geredetes praktisch als Geschriebenes in Erscheinung trat. Der Aussagewert solcher synästhetischen Wahrnehmungen wird dadurch erhöht, „daß sie nicht Teil einer reflektierten Poetik sind, sondern aus der Selbstverständigung des Autors sich herleiten“ (Lehmann 2006: 91): Kein Wort fast das ich schreibe paßt zum andern, ich höre wie sich die Konsonanten blechern an einander reiben und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger (Kafka 1990b: 130). Im allgemeinen fängt der gesprochene Satz mit seinem großen Anfangsbuchstaben beim Redner an, biegt sich in seinem Verlaufe so weit er kann zu den Zuhörern hinaus und kehrt mit dem Schlußpunkt zu dem Redner zurück (Kafka 1990b: 159).

Umgekehrt konnte bei Kafka das Geschriebene eine lautliche und damit physische Dimension erhalten (Lehmann 2006: 91):

104 Ihm gehörten u. a. Max Brod, Felix Weltsch, Oskar Baum und Franz Werfel an (Kafka 1990b: 463, 493, 703; 1999a: 229, 262; 1999b: 115; Brod 1953: 356; 1974: 60). 105 Kafka gab die Lesungen im Familienkreis nicht auf, obwohl er um die prinzipielle Geringschätzung seiner schriftstellerischen Tätigkeit (v. a. durch seinen Vater) wusste (u. a. Kafka 1990b: 561; 1992I: 192–193). 106 Vgl. hierzu u. a. Kafka (1990b: 463, 561, 723; 1999a: 255; 1999b: 84). 107 S. hierzu Kap. 4.4.2, 4.4.3 und 4.4.10.

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[E]in Satz klingt hoch, ein Satz klingt tief wie es kommt; ein Satz reibt sich am andern wie die Zunge an einem hohlen oder falschen Zahn (Kafka 1990b: 226–227). Kälte und Hitze wechselt in mir mit dem wechselnden Wort innerhalb des Satzes, ich träume melodischen Aufschwung und Fall, ich lese Sätze Goethes, als liefe ich mit ganzem Körper die Betonungen ab (Kafka 1990b: 376).

Auch die konkrete visuell-gegenständliche Vorstellung, die der Titel des Romans Der Tag der Vergeltung von Anna Katherine Green (1896) bei ihm evozierte, illustriert den ausgeprägten Sinn Kafkas für die Verbindung von lautlicher und graphischer Wortgestalt (Kautman 1996: 121): Der „Tag“ ist eine Fahnenstange, das erste „der“ sind die Pflöcke unten, das zweite „der“ ist die Seilbefestigung oben, die „Vergeltung“ ist ein‚ wenn schon nicht schwarzes, so dunkles Fahnentuch, dessen Sichdurchbiegen vom „e“ zum „u“ durch einen mittelstarken Wind (besonders das „ng“ schwächt ihn) hervorgerufen wird (Kafka 1999a: 135).

Die besondere Bedeutung der Akustik gesprochener Sprache für Kafkas Schreiben wurde bereits von Max Brod (1965b: 324) erkannt. Entsprechend erklärte er in seiner Zweitausgabe des Proceß, „nicht die Grammatik, sondern ein bis zur Evidenz der Richtigkeit wiederholtes, lautes Vorsprechen der betreffenden Sätze und Absätze“ als letzte Instanz für die Textwiedergabe betrachtet zu haben. Und auch die Herausgeber der KKA sahen durch den Manuskriptbefund bestätigt, dass Kafkas mündliche Verwendung des Deutschen im Verlauf des Schreibprozesses auf die formale Sprachgestaltung der literarischen Werke einwirken konnte: In Kafkas exklusivem Verhältnis zum Buchstaben108 identifizierte Jost Schillemeit (1987: 93) eine für die schriftliche Textproduktion des Autors generell charakteristische Eigenheit, die „offenbar damit zusammenhängt, daß er seine Formulierungen nicht nur als gedankliche Einheiten, sondern auch als graphisch-visuelle und zugleich als rhythmisch-akustische Gebilde erlebte.“ Malcolm Pasley (21983b: 79) wiederum stellte mit Blick auf das Schloß-Manuskript fest, die Korrekturen an der Zeichensetzung beschränkten sich insgesamt v. a. auf die Ergänzung fehlender Frage- und Anführungszeichen. Dies erwecke bei ihm den Eindruck, „als ob der Frage- oder Sprechton bei der ursprünglichen Niederschrift so stark ,mitgedacht‘ war, daß Kafka erst rückblickend

108 S. hierzu Kap. 1.5.1.

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auf das Fehlen einer ausdrücklichen Kennzeichnung aufmerksam geworden ist.“109 Der Proceß-Handschrift entnahm Pasley (1992: 33) zudem Hinweise, dass die wechselnde Setzung synkopierter und voller Infinitive keineswegs willkürlich erfolgt sei, sondern dass Kafka dadurch „Rhythmus und Tonfall der Stimme, die hier zu uns spricht“, markierte. Noch expliziter folgert er: Dieser handschriftliche Text scheint sogar in erster Linie für das Ohr, für den mündlichen Vortrag […] bestimmt zu sein, und es ist bekannt, das Kafka zumindest einige, ihn zufrieden stellende Textpartien […] auch zum Vortrag gebracht hat. In diesem eigentlicheren Sinne ‚redet‘ uns also die Proceß-Handschrift mit authentischer Stimme an. […] Offenbar hatte Kafka stets den Klang der eigenen, innerlichen Rede im Ohr, als sich diese unter seiner Hand in Schriftzüge verwandelte; eben darum wollen seine Texte mit Hilfe des Ohrs gelesen sein (Pasley 1992: 30, 33).

Auch Nekula (2003a: 94–95) kommt zu dem Schluss, dass die Orthographie regional geprägter Besonderheiten in Kafkas Manuskripten bei der Niederschrift sprechsprachlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen sei und „wenigstens zum Teil […] als Reflex von Kafkas Aussprache verstanden werden“ dürfe; außerdem nimmt er an, „dass Kafka sich beim Schreiben eingehend an der Akustik des gesprochenen Ausdrucks orientierte.“ Nicht zuletzt konnten die Einzelstudien, die der vorliegenden Untersuchung unmittelbar vorausgehen (Blahak 2005; 2007a–b; 2008a) in Kafkas Prosa zahlreiche phonetisch induzierte Schreibfehler sichten, die sich als Interferenzen allgemein-umgangssprachlicher wie oberdeutsch-dialektaler Mündlichkeit interpretieren lassen.110 Akzeptiert man, dass sich der Klang der persönlichen ,inneren Rede‘ Kafkas (bzw. ihr in seinem Bewusstsein gespeichertes phonetisches Bild) in der Graphik der Schrift niederschlagen konnte, so muss man in dieser Prämisse einen Faktor erkennen, der die Flüchtigkeit, Zügigkeit, Geschwindigkeit von Kafkas Schreibprozess111 und die damit einhergehende Anfälligkeit des Schreibenden für Flüchtigkeitsfehler noch zusätzlich potenzierte. Denn selbst bei natürlichem Sprechtempo hat der Schreibende in jedem Fall Mühe, bei der Niederschrift Schritt zu halten. Als Folge ist zu erwarten, dass sich Korrektur-Unterlassungen häufen. Untersuchungen zu den temporalen Abläufen von

109 Dabei übersah er allerdings zahlreiche Stellen; s. hierzu Kap. 4.4.2. 110 S. hierzu Kap. 1.2 und 5.1. 111 S. hierzu Kap. 4.4.1 bis 4.4.3.

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Schreibprozessen112 stützen diese Annahme: Sie unterstreichen, dass die technischen Produktionsgeschwindigkeiten113 mündlicher und schriftlicher Textproduktion erheblich auseinanderklaffen. Das Schreiben erweist sich textsortenabhängig als ca. sechs- bis zehnmal langsamer als das Sprechen. Daneben darf auch bereits aufgrund des ,motorischen‘ Tempovorsprungs der Artikulationsorgane vor der schreibenden Hand das Sprechtempo in jedem Fall als um ein Mehrfaches höher gelten als die Geschwindigkeit des Schreibprozesses,114 in dessen Verlauf Kafka das (innerlich) Gesprochene (Gehörte) auf dem Papier zu fixieren versuchte. Berücksichtigt man zudem, wie impulsiv das Schreiben bei Kafka häufig einsetzte, wie plötzlich ihn die Inspiration überkommen konnte,115 so lässt sich nachvollziehen, dass sein Bemühen, in einem Zug möglichst schnell all das niederzuschreiben, was auf ihn durch das Sprachrohr der ,inneren Stimme‘ eindrang, ungewollt auf Kosten der Sorgfalt bei der Einhaltung schriftsprachlicher Normen ging. 4.5.2  Kafkas Verschriftlichung eines Codeshiftings als Ergebnis einer latenten sprachlichen Regression in den Substandard Aus einem psycholinguistischen Blickwinkel scheint Kafka im Zuge seines Schreibens offenbar immer wieder unwillkürlich ein Codeshifting unterlaufen zu sein. Geht man davon aus, dass er im literarischen Schaffensprozess im Dialog mit sich selbst den Klang der eigenen ,inneren Stimme‘ im Ohr hatte, und berücksichtigt man, dass er sich dabei häufig in einem emotionalisierten, ekstatischen, tranceartigen Bewusstseinszustand befand, in dem nur noch ein geringes Maß an rationaler Selbstkontrolle bzw. Konzentration wirksam sein konnte und in dem er zudem äußerst spontan und impulsiv agierte,116 dann scheint es begreiflich, dass der Einfluss des Substandards auf den entstehenden Text unter solchen 112 S. u. a. Horowitz/Berkowitz (1964), Tannenbaum/William/Wood (1967), Blass/Siegmann (1975), Water/Monti/Kirchner/O’Connel (1987) und Wrobel (1995). 113 Mit ,technischer Produktionsgeschwindigkeit‘ wird das Maß für die Anzahl der in der reinen Schreibzeit produzierten Wörter pro Minute bezeichnet (Wrobel 1995: 51). 114 Einschränkend muss man die Problematik solcher Vergleiche berücksichtigen. Sie besteht einmal darin, überhaupt vergleichbare, nicht an eine Produktionsform gebundene Textarten zu finden, zum anderen darin, anhand der Untersuchung einzelner, notwendigerweise an eine Textart gebundener Produktionsprozesse generalisierbare Aussagen hinsichtlich der Unterschiede von ,Sprechen‘ und ,Schreiben‘ zu machen (Wrobel 1995: 48), ferner darin, dass zeitliche Parameter bei mündlicher wie schriftlicher Textproduktion von der jeweiligen Textart abhängig sind (Goldman Eisler 1968) und temporale Abläufe belletristischer Textproduktion (zumal in emotionalisiertem Zustand) wissenschaftlich noch kaum untersucht worden sind. 115 S. hierzu Kap. 4.4.5. 116 S. hierzu Kap. 4.4.7 bis 4.4.10.

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Umständen spürbar werden konnte. Zu beobachten wäre bei Kafka demnach ein Sonderbeispiel für die Übertragbarkeit von William Labovs (1970: 46) monitoring-Hypothese zur Funktionalität des Codeshiftings beim Sprechen auch auf den Schreibenden. Denn nach Labovs Hypothese sei der Einsatz eines sprachlichen ,Stilwechsels‘ maßgeblich von der Selbstkontrolle des Sprechers abhängig, dem Maß der Aufmerksamkeit, das dem eigenen Sprechen in Form von Hörkontrolle gewidmet werde. So verwenden z. B. soziolinguistisch Interviewte normalerweise zunächst eine standardnahe Varietät, „können aber im Laufe des Gesprächs in standardfernere Sprechweisen ,geraten‘, wenn sie aufgrund eines besonders aktivierenden Themas oder in einer Gruppendiskussion den Interviewer ,vergessen‘ und so eine für sie ,natürlichere‘ Sprache wählen“ (Auer 1986: 112). Paul Eßer (1983: 45) weist in diesem Zusammenhang auf einen von ihm beobachteten psychischen Bedingungsfaktor der Sprachwahl bei Dialektsprechern hin, den er als „Regression in den Dialekt, die bei emotionalen Erregungszuständen der Sprecher auftritt“, bezeichnet. Er führt weiter aus, diese Erscheinung müsse als vom Sprecher nicht gesteuertes und ihm kaum bewußtes code-shifting gedeutet werden, bei dem das Individuum auf ein früheres Stadium seiner sprachlichen Genese zurückfällt. Die plötzliche Änderung seines Kommunikationsverhaltens im Sinne einer sprachlichen Regression entspricht seinem psychischen Zustand: weitgehende Ausschaltung der rationalen Kontrolle, rein emotionales Reagieren auf einen situativen Stimulus. Ähnliches kann man bei elaborierten Sprechern beobachten, die bei bestimmten Anlässen in einen restringierten Kode, oft eine ,vulgäre‘ Umgangssprache, verfallen, oder bei bilingualen, die dann trotz andersartiger Kommunikationserfordernisse in ihre Primärsprache regredieren. Ein solches code-shifting läßt die tiefe Verankerung und ständig unterschwellige Präsenz der „Mutter‑“, „Haus‑“ oder Primärsprache erkennen, derjenigen Sprachform also, die als erstes und einziges Kommunikationsmittel in einer frühen Phase hoher Emotionsbestimmtheit der sozialisatorischen Vorgänge erlernt wurde.

Bestätigt werden solche Beobachtungen u. a. durch eine explorative Studie von Ruth Leodolter (1976: 149–150), die ergab, dass die Auslösung von Emotionen das Sprachverhalten dialektgeprägter Wiener Angeklagter vor Gericht markant in diese Richtung beeinflusse: Die betroffene Person wechsle demnach im psychischen Zustand seelischer Erregung aus einem zuvor unmarkierten Stil „mitten im Satz oft in einen informelleren Stil über, wenn nicht überhaupt in den reinen Dialekt.“ Zu vergleichbaren Befunden kam Roland Kehrein (2002: 319) in einer Untersuchung zur Eruierung prosodischer Einheiten mit (genuin) emotionaler Bedeutung bei der Sprachproduktion:

Zusammenfassung

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Durch die Gestaltung der Aufnahmesituation und durch die Aufgabenstellung ist eine perfekte Ablenkung der Aufmerksamkeit von der Sprachproduktion gelungen – die Probanden „reden einfach drauflos“. Dadurch sind sowohl eine zwanglose Sprachverwendung (im Labov’schen Sinne) als auch Emotionen – bzw. zumindest sprachliches Verhalten, das von Beobachtern als emotional wahrgenommen wird, – hervorgerufen worden. Indizien für zwanglose Sprachverwendung sind freier Wechsel der Sprecherrollen, Variabilität der kommunikativen Aufgaben, ad hoc-Bildungen, Substandardverwendung und gruppenspezifische sprachliche Merkmale […].

Kafkas Autokorrekturen und Lesarten geben demnach einen guten Eindruck von teilweise substandardlich geprägten Prätexten, die „der zentrale Gegenstand von Revisionsprozessen“ (Wrobel 1995: 105) sind und „mentale Vorstufen von Textäußerungen, die Mittlerfunktionen zwischen abstrakten Zielen, Intentionen und Plänen eines Schreibers und seinen manifest produzierten Textäußerungen einnehmen“ (Wrobel 1995: 104). Hier haben Think-aloud-Protokolle sprachliches Material unterschiedlichen Typs ergeben, das Faigley/Keseling (1988: 219) in verschiedene Grundtypen einteilen. Von diesen ist v. a. für die so genannten ,Reflexionen‘ über den Textteil, der als Nächstes zu schreiben ist oder (seltener) schon geschrieben wurde, charakteristisch, „dass sie weitgehend umgangssprachlich realisiert werden“ (Wrobel 1995: 106–107) und „schreibrelevantes Wissen in einer Form repräsentieren, die Elemente der Umgangssprache und auch der ,inneren Sprache‘ enthält“ (Wrobel 1995: 168).

4.6  Zusammenfassung Es hat sich gezeigt, dass Kafka im Kontext der dominierenden Bedeutung, die er dem Prozess des Schreibens gegenüber dessen Produkt einräumte, bei der Niederschrift literarischer Werke textsortenspezifisch (im Unterschied zu Briefen und Tagebüchern) einer besonders hohen Anfälligkeit für Flüchtigkeitsfehler ausgesetzt war, die entsprechend häufig Sofortkorrekturen bedingte. Dieser Umstand lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die besonderen mechanischen (skizzenhaftes, flüchtiges, temporeiches, zügiges, lineares, paralleles Schreiben), atmosphärischen (nächtliches, isoliertes Schreiben) und psychologischen (spontanes, intuitives, konzeptionsloses, traumartiges, ekstatisches, emotionales, traumatisiertes, psychographisches Schreiben) produktionsästhetischen Bedingungen zurückführen, unter welchen sich sein literarischer Schreibprozess vollzog. Da vieles darauf hindeutet, dass von einer starken Überlagerung bzw. Koppelung von Sprechen, Hören und Schreiben bei der Entstehung seiner literarischen Schriften

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Der Einfluss des Schreibprozesses auf Sprache und Textgestalt

auszugehen ist, erscheint es plausibel, dass Kafka im Schreibakt anfällig für die Verschriftlichung von Formen der Mündlichkeit gewesen sein könnte. Die Zurückdrängung einer bewussten Selbstkontrolle, die weitgehende Ausschaltung kognitiver Kontrollmechanismen im Moment des Schreibens dürften dabei phasenweise einem Gewährenlassen der Primärsprache Kafkas Vorschub geleistet haben. So konnten sonst wohl beanstandete, substandardliche Formen auf das Schreibpapier gelangen. Kafkas Verschriftlichung eines Codeshiftings scheint demnach als Ergebnis einer latenten sprachlichen Regression in den Substandard deutbar.

5  Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch 5.1  Regionalismen auf phonetischer Ebene Franz Kafka interessierte sich erwiesenermaßen für moderne Aufzeichnungsmedien, etwa für das zu seiner Zeit noch junge Kino,1 für Grammophon, Schreibmaschine sowie Diktier- und Kopiergeräte – ein Umstand, der auch in seinem literarischen Werk Niederschlag fand.2 Tondokumente, die Aussagen über das von ihm im Alltag gesprochene Deutsch machen könnten, sind allerdings nicht überliefert. Gerade die lautliche Ebene der Sprache spielt jedoch mit Blick auf das Untersuchungsobjekt ,regionalspezifischer Substandard‘ eine besonders signifikante Rolle; denn der Vokalismus stellt den auffälligsten Differenzbereich zwischen einer diatopischen und der Standardvarietät einer Sprache dar. Dies betrifft neben den unterschiedlichen Vokalinventaren v. a. die Verteilung der einzelnen Vokale im jeweiligen Wortschatz (Wegera 1983: 1478). Insofern kann Dialektalität auch mit ,phonetischer Distanz‘ zur Standardsprache gleichgesetzt werden (Moosmüller 1991: 32; Herrgen u. a. 2001). Als Kafka äußerte, er spreche ein Deutsch „mit sogar interessanter österreichischer Färbung“ (Kafka 1999a: 45), das aber auch in österreichischen Kreisen auffalle (Kafka 2013: 117–118), bzw. ein „Deutsch, das wir von unsern undeutschen Müttern noch im Ohre haben“ (Kafka 2005: 343), blieb er ebenso vage wie Brod (1965b: 324), Urzidil (1966: 79) und Janouch (21968: 32), die andeuteten, ihr Freund habe einen leichten tschechischen Akzent gehabt.3 Mehr als grobe Untersuchungsrichtungen zeichnen sich hierdurch nicht ab. Geht man davon aus, dass Kafka im Alltag eine diatopische Varietät des Deutschen sprach,4 so führen die bisherigen Befunde zum Ablauf seines literarischen Schreibprozesses und zum dabei wirksamen Einfluss der Mündlichkeit auf den Schreibenden5 zu der Annahme, dass die Lautlichkeit von Kafkas Primärsprache Spuren in der Graphematik seiner Prosa-Texte hinterlassen konnte. In diesem Zusammenhang rückt das Korpus der

1

2 3 4 5

Zu Kafkas Kinobesuchen und dem Einfluss der Filmtechnik auf sein Werk s. Jahn (1962; 1965: 63–66), Augustin (1987), Zischler (1996), Fromm/Scherer (2005), Albrecht (2007: 67–70), Jahraus (2008), Plachta (2008: 448–449), Brabandt (2009), Alt (2009) und Duttlinger (2010). Zu diesem Themenkomplex s. u. a. Robertson (1988: 63–65), Bauer-Wabnegg (1990), Kittler (1990), Rieck (1999: 58–60) und Schmidt (2007: 46–57). S. hierzu Kap. 3.1.2.3 und 3.1.2.4. Vgl. die in Kap. 2.5 formulierte Prognose. S. hierzu Kap. 4.4 und 4.5.

192

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Textvarianten Kafkas, die seine Autokorrekturvorgänge dokumentieren, in den Mittelpunkt des Interesses. 5.1.1  Vokalismus 5.1.1.1  Formen des e-Schwundes: e-Synkopierung und -Apokopierung Rudolf Fischers (1962: 89) Feststellung, in Prag, wie im oberdeutschen Sprachraum überhaupt, habe sich das Regional-Mundartliche selbst in der Umgangssprache gebildeter Schichten stärker als im übrigen deutschen Sprachraum behauptet, scheint sich mit Blick auf die häufigen e-Ausfälle in unbetonten Silben, die Kafkas Autograph ausweist, zu bestätigen. Dabei zeigt sich, dass diese Elisionen,6 positions- und wortartabhängig, von Kafka nicht oder nur selten korrigiert wurden und z. T. auch in den Druck seiner zu Lebzeiten erschienenen Werke gelangten. Zugleich fällt die Verwendung synkopierter/apokopierter neben nicht synkopierten/apokopierten Varianten eines Wortes auf. 5.1.1.1.1  e-Elision im Rahmen von En- und Proklise Zu den seltenen Formen fiktiver Mündlichkeit in Kafkas Prosa gehören Fälle der Anlehnung des schwach betonten Personalpronomens es an das vorangehende (Enklise) oder das folgende akzentuierte Wort (Proklise), bei gleichzeitiger Reduktion durch den Ausfall des ‹e› im Schriftbild.7 Im Korpus finden sich hierzu u. a. folgende Beispiele:8 und der Schreiber hörts (S.281/12), wenns hoch geht (S.286/6), ein anderer mags (S.309/10), nicht für jeden taugts (S.408/4), {begreift mans nicht} (Sv.475/19), Also wirds? (V.242/20), man ists wirklich (V.298/14–15), Niemand hats getan (N1.330/25–26), [wers versucht] (N1.352/13=Dv.282/5), als ob wirs nicht merkten (N1.353/27), so sag ichs (N1.380/6), bin ichs nicht wert? (N1.424/7), desto r(ex>a)scher gehts (N2v.56/2), [Gott seis gedankt] (N2v.377/12), wenn ichs bedenke (N2.425/1), Bist Dus oder nicht? (N2.526/12), Gibs auf (N2.530/14).

6 7 8

Der Terminus ,Elision‘ bezeichnet im Folgenden den „Ausfall eines Vokals als Endpunkt eines Abschwächungsprozesses“ (Bußmann 42008: 157). Solche Klitika sind auch für das Deutsch von Kafkas Briefen charakteristisch (Nekula 2003a: 97); s. hierzu Kap. 2.4.1. Zu den Zeichen, die im Folgenden für die Wiedergabe von Kafkas Autokorrekturen verwendet werden, s. Kap. 1.10.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

193

Sofortkorrekturen führte Kafka zum einen dann durch, wenn er das Pronomen zu früh oder an ein auf Vokal endendes Wort enklitisiert hatte, so dass im Zuge der Enklise z. T. weitere Buchstaben ausgefallen waren, z. B.: versteh(ts>t) mans (N2v.448/27), duldet(es>e) es (Pv.303/12), soweit meine Schwäch(es>e) es erlaubt (Pv.137/26–27), ehr(ts>t) es mich? (N2v.37/18), sa[ss] es {auf den ersten Blick} fast genauso aus (Pv.8/27), Sa(ss>h) es nicht aus (Pv.177/26), wa(s>r) es (N1v.271/9–10(1); N1v.372/23), Wa(s>r) 9

e(r>s) (Pv.262/9–10).

Zum anderen berichtigte er sich dort, wo er das Klitikon separat, also nicht mehr als Teil einer Verschmelzungsform notiert hatte: Wie (s>es) dort aussieht (Pv.213/12), Nun war (s>e)s endgiltig beschlossen (Pv.232/13), (S>Es) war das Dienstmädchen (Pv.320/8), kann ich (s>e)s mir {noch} nicht abgewöhnen (Vv.248/25–26).

Der prinzipielle Zitat-Charakter der e-Elision bei klitischen Formen wird durch die gelegentliche (z. T. nachträgliche) Setzung des Apostrophs für das entfallene ‹e› durch Kafkas Hand explizit: wer{’}s bezweifelt (Sv.308/6), wagen wir’s (Sv.404/7,125*), [nicht für jeden taugt’s] (Sv.405/9), Dir sag ich’s (N1.166/9), [Wenn[’] (s>e){s} beliebt] (N1v.268/4(2)), Wie ich’s meine (N1.380/6), Bin ich’s nicht wert? (N1.424/7), Leg’s auf den Nachttisch! (N2.192/14), ich zahl’s (N2.328/24), Sei’s darum! (N2.436/7), wenn ich’s bedenke (N2.486/21).

Auch der Umstand, dass Klitisierungsprodukte dieser Art ausschließlich in wörtlicher Rede vorliegen, lässt den Schluss zu, dass Kafka sie bewusst zur Erzeugung fiktiver Mündlichkeit einsetzte, die seinem grundsätzlichen Streben nach sprachlicher Korrektheit 10 aber nicht widersprach.

9 10

In den letzten drei Belegen wurde zusätzlich eine r-Vokalisierung verschriftlicht; s. hierzu Kap. 5.1.2.11.2. S. hierzu Kap. 3.1.1.

194

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Ein Regionalismus kann hierin nicht erkannt werden. Dass solche Klitika, die heutzutage den überregionalen Allegroformen gesprochener Sprache zugerechnet werden (Fuchs/Schank 1975: 13; Schwitalla 32006: 39), auch zu Kafkas Lebzeiten nicht von der Schriftsprache ausgeschlossen waren, erweist bereits ihre Toleranz durch Kafkas reichsdeutsche Verleger.11 Kummer (31892: 32) formuliert in seiner Grammatik sogar eine explizite Regel zum Vorgang der En- bzw. Proklise mit Beispielen aus der Klassiker-Sprache: Wenn das Pronomen es tonlos ist, so schließt es sich dem vorausgehenden (Enklitis) oder folgenden (Proklitis) Worte eng an und verliert seinen Vokal: Sehn wir’s überglast erscheinen, wird’s zum 12

Gusse zeitig sein. Sch[iller]. ’s ist ja kein Krieg um die Güter der Erde. K[örner].

Auch Belege in den Prager Printmedien13 und im Erzählwerk anderer Prager Schriftsteller der Kafka-Zeit14 sprechen für die Geläufigkeit solcher Formen im Schriftdeutschen, wenn sie auch in der Regel auf wörtliche Rede beschränkt waren. Entsprechend akzeptierte auch Brod sie in seiner Kafka-Ausgabe. Um deutlich zu machen, dass sie als beabsichtigtes Stilmittel zu verstehen seien, trug er allerdings die von Kafka nicht gesetzten Auslassungsapostrophe nach (z. B. Kafka 1953b: 210, 258) – hyperkorrekt, wie sich erweist: Denn in seiner eigenen Prosa hielt Brod derartige Markierungen selbst häufig für unnötig.15

11 12

13 14

15

Vgl. z. B. ’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt (Dv.259/15) im Landarzt- (Kurt Wolff, München) und wie sichs gehört (D.369/22) im Hungerkünstler-Band (Die Schmiede, Berlin). Auch einschlägige Prager Nachschlagewerke (Herzer/Prach 1909b: 1315; Sterzinger 1935: 1; Siebenschein 1936–1938: 873) führen Beispiele für die En- und Proklise von es (mit Auslassungszeichen) an. Vgl. Beispiele wie ihr’s, man’s, ich’s, er’s, Sie’s, sich’s in PT (1921: 2–4, 9) und PP (1921c: 10). Vgl. entsprechende Belege bei Brod (1911: 16, 20, 22, 29–31, 100, 120, 133, 200, 201, 204, 210, 217, 222, 236, 244, 252, 258, 265), Pick (1913: 13, 36, 41, 43, 45, 59, 73) und Kisch (51922: 144, 156, 216). Vgl. Beispiele wie wars, habs, gehts, ichs, wirds, mirs, siehts bei Brod (1911: 102, 119, 136, 197, 209, 211, 213, 219, 220, 251, 262). S. ferner einen analogen Beleg bei Otto Pick (1913: 45).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

195

5.1.1.1.2  e-Elision in den unbetonten Suffixen -en, -er und -es Kafkas Schriftbild lässt darüber hinaus allgemein eine starke Neigung erkennen, ein ‹e› in unbetonten Endsilben auszulassen. Besonders häufig treten Synkopen im Verbal-Suffix ‑en auf, sowohl bei Infinitiven (v. a. gehn, stehn und sehn)16 als auch bei Partizip-PerfektBildungen17 und anderen flektierten Formen,18 ferner bei entsprechenden konvertierten Infinitiven.19 Solche e-Elisionen kommen im Korpus fast ausschließlich dort vor, wo dem Suffix die Verbindung Vokal + ‹h› vorausgeht, an Stellen also, an welchen im gesprochenen Deutsch eine ohnehin bestehende Neigung zur e-Schwächung in unbetonten Silben zusätzlich erhöht wird. Ein häufiger e-Ausfall ist zudem nach der Kombination Vokal + ‹r› zu beobachten, so bei flektierten Substantiven (z. B. im Innern, in seinem Äußern, die Herrn) und Adjektiven (v. a. andern),20 namentlich im Suffix absoluter Komparative.21 Daneben liegen auch andere Wortarten, etwa Possessivpronomen (z. B. unsern/unserm, Euren), in synkopierter Form vor. Allerdings finden sich im Korpus zu den oben genannten Beispielen jeweils (wenn auch deutlich seltener) unsynkopierte Varianten. Nekula (2003a: 96–97) interpretiert die Verwendung beider Formen als stilistisch motiviert und somit gewollt: Da Kafka bei fremden Adressaten und im dienstlichen Briefverkehr zu ‚vollen Infinitiven‘ tendierte, lasse dies den Schluss zu, er sei sich ihrer Korrektheit bewusst gewesen. Eine entsprechende Sicht hätten zu Kafkas Lebzeiten nicht nur Angehörige des deutschsprachigen

16 17 18 19

20 21

Vgl. daneben u. a. drehn (P.178/27), befrein (P.249/11), geschehn (V.49/17), erhöhn (P.115/9), knien (P.86/27), bemühn (V.18/12), ausruhn (P.105/22), schrein (V.406/26), ziehn (P.164/5) etc. Vgl. etwa gediehn (V.201/20), geschehn (V.293/9), geliehn (P.46/16), gesehn (V.85/22), versehn (V.58/23) etc. Vgl. z. B. dann gehn wir (V.11/6–7), Verstehn Sie das? (V.14/7), gestehn (s>S)ie ein (Vv.165/14), ansahn (P.55/12), sehn Sie (V.13/11), Da s(a>e)hn wir (V.164/3) etc. Vgl. z. B. Umdrehn (P.194/7), Fortgehn (V.276/9), Geschehn (P.7/7), Ausruhn (V.296/7), Aussehn (P.299/23), Hinsehn (V.155/1), Aufstehn (V.136/23), Dastehn (P.51/18), Anziehn (V.136/27), Aufund Abziehn (P.87/15) etc. Vgl. daneben u. a. besondern (P.52/3), finstern (V.61/1), geringern (V.136/20), magern (P.227/14), mittlern (V.31/12), schüttern (P.139/18), sichern (V.195/10), teuern (V.300/1) etc. Vgl. beispielsweise die erstern (P.52/13) – letztern (P.156/5), ältern (P.15/17) – jüngern (P.23/2), höhern (P.82/20) – niedrigern (P.214/9)/untern (P.155/11)/tiefern (P.256/6), größern (P.149/9) – kleinern (P.214/10), frühern (P.94/19) – spätern (Pv.152/7), nähern (P.276/24) – fernern (P.157/27), bessern (V.10/17) – schlimmern (V.316/10).

196

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Bildungsbürgertums geteilt,22 sondern auch Sprecher, die das Deutsche weniger gut beherrschten.23 Dass sich Kafka bei anstehenden Publikationen von anderen Normautoritäten überzeugen ließ, dass die Synkopierung von Suffixen im Schriftdeutschen zu vermeiden sei, erweist ein exemplarischer Blick auf die Druckfassung des Heizers. Hier wurden an 42 Stellen ursprünglich e-synkopierte Suffixe wieder zu vollen Formen ergänzt: abzusehn (Dv.94/15), ansehn (Dv.84/21), anzusehn (Dv.79/3), Aussehn (Dv.89/8–9), drehn (Dv.85/5), einsehn (Dv.73/27–74/1), durchzusehn (Dv.84/9), einzusehn (Dv.80/24; Dv.95/1), fortzuziehn (Dv.79/27), vorausgehn (Dv.109/16–17), hinzugehn (Dv.90/25), geschehn (Dv.103/27; Dv.107/4), gehn (Dv.75/13–14,15; Dv.105/1; vgl. Dv.75/2; Dv.85/27), gesehn (Dv.77/11), hinzusehn (Dv.105/15), Sehn (Dv.71/9), stehn (Dv.77/7), vorausgesehn (Dv.90/27), Verstehn (Dv.72/4), Vorübergehn (Dv.65/15; Dv.99/20–21), Weggehn (Dv.65/11), andern (Dv.78/4–5; Dv.78/9; Dv.84/5; Dv.86/18; Dv.88/5), besondern (Dv.81/4; Dv.86/6; Dv.101/16), sichern (Dv.77/22), bessern (Dv.69/17), frühern (Dv.102/15), höhern (Dv.90/11), niedrigern (Dv.73/22), Herrn (Dv.87/27).

Dass Kafka nicht willkürlich, sondern zur rhythmischen Markierung seines Textes zwischen synkopierten und vollen Infinitiven alternierte, vermuteten bereits Pasley (1981; 1992; 1995) und Nekula (2003a: 97). Zur Überprüfung dieser These wird im Folgenden anhand einer Stichprobe die Verteilung der Varianten gehen/gehn, stehen/stehn und sehen/sehn in Kafkas Autograph des Verschollenen untersucht: Hier stehen 48 Belegen des synkopierten gehn elf Fälle von gehen gegenüber. Dabei fällt auf, dass die verkürzte Form 21-mal (zu 43,75 Prozent) direkt vor dem Satzende,24 weitere achtmal (zu 16,67 Prozent) unmittelbar vor einem Komma gesetzt wurde, das Haupt- und Nebensatz trennt,25 zu insgesamt 60,42 Prozent also an Stellen, die beim Vortrag eine rhythmische Zäsur nahelegen. Lediglich sechsmal (zu 12,5 Prozent) folgt im Satz eine betonte Silbe auf ein betontes gehn in nicht finaler Stellung.26 Demgegenüber findet sich gehen nur je einmal unmittelbar am Satzende (V.351/19) oder vor einem Komma (V.330/19). Stattdessen 22 23 24

25 26

So bevorzugte z. B. Max Brod im Briefverkehr die nicht synkopierten Infinitive (Nekula 2003a: 96). Dora Diamant etwa benutzte, obwohl sie ein Fremdheitsgefühl gegenüber dem Deutschen einräumte (Brod/Kafka 1989: 452–453), in Briefen Verben in der ,vollen‘ Form (Nekula 2003a: 96). Dieses wird im Text durch (Strich‑)Punkt, Frage‑, Ausrufezeichen oder ein Komma, nach dem ein neuer Hauptsatz beginnt, markiert (vgl. V.14/16; V.17/18; V.47/15; V.61/20; V.77/16; V.107/21; V.111/14; V.115/14; V.143/12; V.176/9; V.179/5; V.206/18; V.212/23; V.216/4; V.266/22; V.271/15,18; V.293/26; V.303/5; V.388/20; V.391/18). Vgl. Vv.14/19–20,2*; V.79/9; V.94/23,27; V.134/2; V.146/9; V.207/10; V.213/8. Vgl. V.17/17; V.113/19; V.114/21; V.134/2; V.213/8; V.391/14.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

197

folgt in fünf von elf Fällen (45,45 Prozent) dem auf der zweiten Silbe unbetonten Verb unmittelbar eine betonte Silbe.27 Ähnliche, scheinbar der Satzmelodie verpflichtete Grundsätze zeichnen sich beim Blick auf die Variantenpaare stehn/stehen und sehn/sehen ab: Das synkopierte stehn taucht im Verschollenen 31-mal auf, davon neunmal (zu 29,03 Prozent) direkt am Satzende28 und 17-mal (zu 54,84 Prozent) vor einem Komma.29 Lediglich an zwei Stellen schließt sich eine betonte Silbe an.30 Im Gegensatz dazu wurde stehen (14-mal im Text) nie unmittelbar am Satzende und nur einmal (V.359/1) vor einem Komma, elfmal (zu 78,57 Prozent) dagegen vor einer folgenden Silbenbetonung verwendet.31 Das synkopierte sehn (38 Belege) tritt 16-mal direkt am Satzende,32 weitere 16-mal vor einem Komma33 auf, also zu insgesamt 84,22 Prozent unmittelbar vor einem rhythmischen Einschnitt. Nur an zwei Stellen folgt im Satz eine betonte Silbe.34 Demgegenüber findet sich sehen (21 Belege) nur dreimal (zu 14,29 Prozent) am Satzende35 und einmal (zu 4,76 Prozent) vor einem Komma,36 in nur 19,05 Prozent der Fälle also vor einer rhythmischen Zäsur. Viermal folgt zudem unmittelbar eine betonte Silbe.37 Auch ein Blick auf die Partizip-Perfekt-Bildung bestätigt die bisher wahrgenommene Tendenz: Das synkopierte gesehn kommt 20-mal im Verschollenen vor, davon elfmal (zu 55 Prozent) direkt am Satzende38 und dreimal (zu 15 Prozent) vor einem Komma.39 In nur zwei Fällen40 schließt sich eine betonte Silbe

27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. V.100/4; V.103/9; V.283/12; V.378/7; V.412/8. Vgl. V.9/11; V.19/9; V.77/21; V.93/6; V.101/23; V.114/22; V.118/8; V.123/11; V.272/21. Vgl. V.34/8; V.57/1; V.87/5; V.93/10; V.111/12; V.116/24; V.143/14; V.165/13; V.177/15; V.242/5; V.276/26; V.289/2; V.305/15; V.380/5; V.382/21,25; V.404/1. Vgl. V.242/5; V.289/2. Vgl. V.97/6; V.142/17; V.144/6; V.176/4; V.185/18,20; V.186/21; V.187/22; V.256/19; V.284/3; V.359/1. Vgl. V.33/26; V.141/21; V.144/9; V.148/2; V.205/23; V.206/13; V.243/15; V.253/17; V.287/8; V.288/14; V.390/18; V.391/5,21; V.394/8; V.404/4; V.413/19. Vgl. Vv.19/26; V.39/7; V.47/7; V.90/19; V.103/27; V.137/7; V.144/23; V.200/3; V.214/21; V.237/17; V.242/15; V.269/16; V.273/6; V.312/16; V.409/22; V.415/1. Vgl. V.200/3; V.237/17. Vgl. V.327/25; V.328/16,26. Vgl. V.144/18. Vgl. Vv.11/24*; Vv.31/17*; Vv.33/19*; V.327/25. Vgl. V.19/13; V.85/22; V.151/22; V.159/12; V.167/5; V.180/23; V.181/25; V.298/20; V.392/23; V.394/10; V.404/10. Vgl. V.181/12; V.305/16; V.311/5. Vgl. V.34/18; V.305/16.

198

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

an; gesehen findet 22-mal Verwendung, davon lediglich dreimal (zu 13,64 Prozent) am Satzende,41 in 16 Fällen (zu 72,73 Prozent) dagegen unmittelbar vor einer betonten Silbe.42 untersuchtes 43 Verb

44

Setzung unmittelbar vor 45

Im Text folgt

Satzende

Komma, das HS/NS trennt

betonte Silbe

unbetonte Silbe

21 43,75

8 16,67

6 12,5

23 47,92

gehen (11) in %

1 9,09

1 9,09

5 45,45

5 45,45

stehn (31) in %

9 29,03

17 54,84

2 6,45

20 64,52

stehen (14) in %

0

1 7,14

11 78,57

3 21,43

sehn (38) in %

16 42,11

16 42,11

1 2,63

21 55,26

sehen (21) in %

3 14,29

1 4,76

4 19,05

14 66,67

gesehn (20) in %

11 55

3 15

2 10

7 35

gesehen (22) in %

3 13,64

0

16 72,73

3 13,64

gehn (48) in %

46

Tab. 4:  Die Verteilung von Verbvarianten mit synkopierter und nicht synkopierter Endung im 43444546 Text des Verschollenen

41 42 43

44 45 46

Vgl. V.34/4; V.334/2; V.350/23. Vgl. V.67/22; Vv.85/2*; Vv.145/5*; Vv.185/23*; Vv.186/16*; Vv.189/22*; Vv.210/14*; Vv.227/19*; Vv.243/3*; Vv.268/20*; Vv.313/26*; Vv.353/13*; Vv.355/16*; Vv.365/3*; Vv.370/19*; Vv.411/26*. Neben dem Infinitiv wurden die 1. und 3. Person Plural sowie konvertierte Infinitive berücksichtigt, nicht dagegen präfigierte Verbformen, weil sich bei diesen durch das Präfix u. U. die Akzentsilbe verschiebt. Betrachtet wird die folgende Silbe im fortgeführten Satz oder auch nach einem Komma bzw. der Nahtstelle zwischen Haupt- und Nebensatz. Gezählt werden auch Belegstellen, an welchen Kafka ein (obligatorisches) Komma aussparte. Die Quersumme der vier Spalten ergibt nicht zwingend die jeweilige Gesamtzahl der Belegstellen, da z. B. auf ein Haupt- und Nebensatz trennendes Komma eine betonte oder aber unbetonte Silbe folgen kann.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

199

Kafkas rhythmische Motivierung, das Suffix ‑en zu synkopieren oder aber voll zu realisieren, wird demnach evident: Insgesamt kristallisiert sich die Neigung heraus, die einsilbigen, tendenziell akzentuierten synkopierten Formen – sozusagen als ,Schlusspunkt‘ – auch bevorzugt dort zu setzen, wo sich durch das Ende eines Haupt- oder Nebensatzes ein rhythmischer Einschnitt abzeichnet. Dagegen finden die nicht synkopierten Varianten, deren zweite Silbe keinen Akzent trägt, häufiger im Satzinneren vor folgenden betonten Silben Verwendung, also in einer den Satzfluss begünstigenden Position. Selbst die äußerst seltenen Sofortkorrekturen Kafkas im untersuchten Teilkorpus47 erfolgen im Einklang mit der ausgemachten Tendenz und scheinen keinem Fehler-Bewusstsein Rechnung zu tragen: Die ‹e›-Ergänzung im Suffix von geh(n>en) (Vv.412/8) verhinderte das Aufeinandertreffen zweier betonter Silben (im Satz folgt sollte). Demgegenüber wurde das Suffix steh(e>n) (Vv.404/1) wohl deshalb nachträglich synkopiert, weil die folgende Konjunktion in und überblickte tendenziell keinen Akzent trägt. Diese nur spärlichen Berichtigungen in einem nicht für eine Veröffentlichung überarbeiteten Text deuten an, dass Kafka die (quantitativ bevorzugten) verkürzten Formen prinzipiell im Rahmen der orthographischen Norm wähnte, auch wenn er sich darüber im Klaren war, dass die ‚vollen‘ Infinitive einer höheren, formelleren Stilebene angehörten.48 Dass eine solche Haltung dem österreichischen Normempfinden der Zeit nicht widersprach, lässt sich Kummer (31892: 66) und Willomitzer (61894: 57) entnehmen, die sowohl gehen/stehen als auch gehn/stehn als schriftsprachlich anerkennen. Reichsdeutsche Kodizes (z. B. Heyse 251893; Winter 21896; Weigand 51909; 51910) nennen zwar meist nur die vollen Infinitive; doch zumindest in Grimm/Grimm (1897: 2376) wird die Wahl zwischen gehen und gehn freigestellt. Auch Brods weitgehende Toleranz gegenüber den e-Synkopen in seiner Erstausgabe49 von Kafkas Nachlass zeigt, dass sie offenbar nicht nur in Österreich der Schriftsprache zugerechnet wurden. Nicht zuletzt bestätigt die unterschiedliche Praxis der in Kap. 1.8.1.6 genannten Modellschreiber, dass die Verwendung synkopierter Verbinfinitive wohl letztlich stilistischen Vorlieben zuzuordnen

47

48

49

Nicht berücksichtigt wurde hier der zu Kafkas Lebzeiten erschienene Heizer, bei dem andere Korrektur-Instanzen (Brod, der Kurt Wolff Verlag) Veränderungen (un‑)synkopierter Formen veranlasst haben könnten. Ansonsten hob Kafka (als Normverstoß erkannte) e-Elisionen im Suffix ‑en nur im Zusammenhang mit anderen als den hier bisher erwähnten Wortarten bzw. ‑formen auf, so z. B. bei Verben im Konjunktiv I oder Lokaladverbien: als sei(n>en) es irgendwelche Tiere (Vv.138/18–19), neb(n>en) an (Vv.313/5). In der Zweitausgabe normalisierte Brod die Verbinfinitive dagegen rigoros (Pasley 1992: 33; Krolop 2005: 216–217).

200

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

ist: Während sie nur vereinzelt in der Prager Tagespresse auftauchen (z. B. PT 1921: 2), waren sie in den städtischen Schriftstellerkreisen teils üblich (z. B. bei Brod und Pick),50 teils wurden sie vermieden (z. B. von Kisch). Wie Nekula (2003a: 69, 95–96) konstatiert, war die Verschriftlichung von e-Synkopen zu Kafkas Zeit v. a. im oberdeutschen Raum, besonders im Deutsch der österreichischen Monarchie verbreitet. Zu diskutieren bleibt allerdings, ob dies im gleichen Maß für das phonetische Phänomen der Unterdrückung des [ə] in der Ableitungssilbe ‑en bzw. der silbischen Aussprache eines n in Nebensilben gilt, das in Siebs (111915: 43; 151930: 43) von der Hochlautung ausgeschlossen wird. In der Varitätenlinguistik des Deutschen scheint gegenwärtig darüber Konsens zu bestehen, dass die Abschwächung, Reduzierung oder Synkopierung von Endsilbenvokalen im Neuhochdeutschen weit verbreitet sei (Seibicke 1967: 57). Die Synopse fehlerlinguistischer Studien, die Dialekt und Schriftsprache kontrastieren, lässt erkennen, dass die Tendenz zum e-Ausstoß nicht nur in ober‑,51 sondern auch in mittel- und niederdeutschen Mundarten besteht.52 Zudem wird gerade der [ə]-Ausfall in der Folge Vokal + Silbengrenze + [ə], der Kafkas Synkopen zugrunde liegt, nicht nur vielen Dialektlandschaften, sondern auch einer standardnahen, „extrem weiträumig“ (Naumann 1989: 122) verbreiteten Umgangssprache zugeschrieben (Kalau 1984: 47; Müller-Dittloff 2001: 238; Schwitalla 32006: 39). Auch Königs (1989: 326–327, 329–330) Untersuchungen zur regionalen Aussprache des Schriftdeutschen haben zwar synkopenärmere und ‑reichere Areale ermittelt; die heterogene Verteilung synkopierter Silben im unbetonten Auslaut erweist sich jedoch in allen Sprachräumen als relativ flächendeckend. Letztlich müssen Kafkas e-Synkopen somit als allgemein umgangssprachliche Allegroformen des Deutschen mit Silbenverlust (Eichler 1981a–b; 1983; o. J.) gedeutet werden, die nicht in die Kategorie Regionalismus fallen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der e-Ausfall im (Pseudo‑)Suffix53 ‑er, bei dem das ‹r› vom Silbenschluss an den Silbenanfang gerät (Bethge 1973: 23; Koller 1991: 58), als Verschriftlichung einer überregionalen Form des [ə]-Schwundes im gesprochenen 50

51 52 53

Vgl. Brod (1911: 26, 31, 115, 117, 119, 124, 127, 128, 131, 136, 142, 145, 146, 162, 165, 169, 171, 194, 195, 208, 212, 215–217, 220, 224, 225, 229, 236, 238, 246, 248, 254, 259, 263, 266) und Pick (1913: 2, 36, 45, 62, 71, 72, 74, 77, 80, 251). Vgl. u. a. Franke (1892: 265), Reitmajer (1979: 127–129, 136–137), Kalau (1984: 47) und Koller (1991: 58). Zu den niederdeutschen Dialekten vgl. Niebaum (1977: 60–61) und Stellmacher (1981: 64–65), zu den ostmitteldeutschen Dialekten vgl. Seibicke (1967: 57) und Stellmacher (1973: 56). Hierunter wird der Teil eines Lexems verstanden, der formal ein Suffix zu sein scheint, allerdings kein Allomorph eines Morphems darstellt und keine wortbildende Funktion hat (Günther 32005: 564).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

201

Deutsch deuten:54 Annäh(r>e)rung (Sv.470/25), früh(r>e)ren (N2v.455/27), nä(r>h)er­te (N2v.477/14). Bei Adjektiven, absoluten Komparativen und Possessivpronomen mit dem Suffix ‑er fallen die e-Synkopen im Korpus letztlich nicht einmal in die Kategorie der Umgangssprache; denn die österreichischen Grammatiken aus Kafkas Schulzeit schreiben bei der Deklination und der Steigerung der Adjektive auf ‑el, ‑en und ‑er sowie bei der Deklination des Possessivpronomens unser die e-Synkopierung der Ableitungssilbe teils vor, teils stellen sie sie frei (Kummer 31892: 25, 35; Lehmann 71892: 74, 76, 78; 10 1899: 69, 72, 74; Willomitzer 61894: 31). Entsprechend häufig finden sich solche synkopierten Formen in den Prager Printmedien55 und auch in der Prosa örtlicher Schriftsteller.56 Dass es sich hierbei nicht etwa um Formen eines regionalen Gebrauchsstandards handelt, machen die gleich lautenden morphologischen Richtlinien deutlich, die sich in den zeitgenössischen reichsdeutschen Regelbüchern finden (Heyse 251893: 227, 255, 264; Winter 21896: 21, 23, 30). Schließlich dürften auch e-Synkopen in der unbetonten Endsilbe ‑es, die sich im Korpus finden, mündlichen Formen mit überregionaler Verbreitung zuzurechnen sein: des Saal(s>es) (Pv.58/24), ein Gering{e}s (Sv.354/3), [all(s>e)s, was] (N1v.223/25; vgl. Sv.183/18(1)70*), 57

genau(s>e)stem (N1v.277/19(1)), ein besonders Gebiß (N2e.308/4).

Sie werden von dialektologischen Darstellungen zum ober‑, mittel- und niederdeutschen Sprachraum als Erscheinung des jeweiligen regionalen Sprachgebrauchs ausgewiesen.58 Da Kafka in 90 Prozent der Fälle die e-Elisionen nachträglich aufhob, lässt sich folgern, dass sie ihm versehentlich unterlaufen und nicht etwa (wie im Falle der VerbinfinitivSuffixe) aus stilistischen Gründen verschriftlicht worden waren.

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57 58

Vgl. hierzu hyperkorrekte ‹e›-Schreibungen vor oder nach ‹r›: uns(e>r)ige (Sv.284/18), t(er>re)i­be (N2v.379/19), Er(e>z)ählungen (Sv.354/12; vgl. Sv.358/27; Sv.479/3–4,119*), d(er>ra)ussen (N2v.600/13). Vgl. u. a. die Beispiele unsres (SW 1921b: 3), Aeußern (PT 1921: 3, 6, 32; PP 1921a: 1, 3, 4; 1921b: 1; 1921c: 5), Innern (PT 1921: 12, 13; PP 1921c: 3), Verteurung (PP 1921c: 5), andern (PT 1921: 9; PP 1921a: 11), düstres Schicksal (PP 1921c: 9) und des öftern (SW 1921c: 2). Vgl. u. a. die Belege Innern, ungeheuern, besondren, unsern, euern, heitrem und v. a. andern bei Brod (1911: 30, 38, 101, 109, 122, 125, 153, 187, 196, 232, 295), Pick (1913: 45) und Kisch (51922: 11, 44, 68, 95, 131, 179, 233). Vgl. dagegen folgende hyperkorrekte Schreibungen: in den Taschen des Mantel(es>s) (Pv.337/22– 23), besonder(es>s) (N2v.251/9). Vgl. exemplarisch zu den oberdeutschen Dialekten z. B. Hörlin (1988: 270–271) und Mayr (21930: 48), zu den mitteldeutschen Glück (1938: 50) und zu den niederdeutschen Stellmacher (1981: 65).

202

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Auch wenn die hier diskutierten e-synkopierten Suffixe keine Regionalismen im Sinne der vorliegenden Untersuchung darstellen, so lassen sie sich immerhin zu den Indizien zählen, die einen Einfluss des Tschechischen auf Kafkas Aussprache des Deutschen relativieren. Denn bereits Schleicher (1851: 39), später Schuchardt (1884: 39) und Teweles (1884: 107) hatten gerade die hyperkorrekte Artikulation des tonschwachen [ə] in unbetonten Endsilben (v. a. ‑en, ‑em, ‑el und ‑er) zu den Erscheinungen gerechnet, die unter dem Einfluss des Tschechischen im Deutsch der Prager weit verbreitet gewesen seien.59 5.1.1.1.3  e-Elision in den unbetonten Silben -el und -eln Auch bei anderen Silben war sich Kafka bewusst, dass die Auslassung eines ‹e› nicht als normkonform gelten konnte. So berichtigte er Fälle verschriftlichter [ə]-Unterdrückung in der Ableitungssilbe ‑el(n)60 in der Regel sofort durch ‹e›-Nachtrag: läch(l>e)lnd (Pv.29/8–9(1)), Spielkug(l>e){l} (Pv.55/16), Tramp(ln>el)n (Pv.84/17), verdunk(l>e)l­ten (Sv.94/22), Knäu(l>el) (Vv.356/26), Ad{e}liger (N2v.227/25), [unmitt(lA>e)lbar] (N2v.246/21), 61

kitz(l>e)ln (Dv.194/13).

Ein Fehler-Bewusstsein Kafkas dokumentieren auch korrigierte Kontrastübertreibungen, in welchen er, offenbar im Bemühen, einer zu häufigen Synkopierung gegenzusteuern, vor oder nach ‹l› zwischen Wortsilben ein redundantes ‹e› setzte. Koller (1991: 59) spricht hier von „Sprossvokal“ und einer komplementären Hyperkorrektur zur e-Synkope: G(elA>le)ich (Pv.87/8), (G>g)(eli>lei)chgültig (Pv.128/4), Kanz(e>l)eidirektor (Pv.137/18), um was es sich hand(ele>le) (Sv.231/23; vgl. Sv.148/7), eine augenblick(e>l)iche Entscheidung (Sv.261/6), K(e>l)ei­der (Sv.490/25), Ob ich ihn […] verwechs[e]le (Vv.236/5–6).

59 60

61

Vgl. übereinstimmend Trost (1979: 246) zum Deutschen in Budweis (České Budějovice). Siebs (111915: 43; 151930: 43) schloss dieses Phänomen noch von der Hochlautung aus. In der Gegenwart wird die vollständig synkopierte Form [handl] allerdings bereits der ,gemäßigten Hochlautung‘ zugerechnet (Wängler 1963: 22; Siebs 191969: 59). Hier könnte allerdings auch jeweils zur Vertauschung von ‹e› und ‹l› angesetzt worden sein, wie an anderer Stelle im Korpus nachweisbar: Prüg(le>el)n (Pv.115/7), Hamp(leA>el)mann (Pv.124/10), enträts(len>eln) (Pv.327/21), Läch(le>el)n (Sv.39/1; Sv.224/26–27; Dv.49/15), {einz(len>eln)en} (Vv.267/3), [Tramp(le>el)ndes] (Dv.56/27), Möb(le>el)n (Dv.162/13–14).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

203

Die Synkopierung der Silbe ‑el(n) scheint dabei einen charakteristischeren Grad regionaler Verbreitung aufzuweisen als diejenige des Suffixes ‑en: Nach König (1989: 332) wird das e hier auch innerhalb der Standardaussprache im oberdeutschen Sprachraum flächende­ ckend völlig synkopiert, während es nördlich davon in voller oder abgeschwächter Form realisiert auftritt.62 Ein exemplarischer Blick auf die Lautungsgestalt der bei Kafka synkopierten Wörter Kugel und trampeln in den deutschen Mundarten bestätigt dieses Bild auch auf der Ebene des Substandards: Während die Silbe ‑el im oberdeutschen Raum ausnahmslos der Synkope unterliegt,63 erscheint sie in den mitteldeutschen Dialekten auch in voller Form,64 in den niederdeutschen ausschließlich.65 Da keine zeitgenössische Referenzquelle Kafkas synkopierte el(n)-Silben kennt, darf man davon ausgehen, dass im Korpus eine regional-umgangssprachliche Form ihren Reflex fand, die als Regionalismus mit A1/rU(d)[O+] klassifiziert werden kann. 5.1.1.1.4  e-Elision in den unbetonten Präfixen ge- und beEbenfalls als regionalsprachliches Phänomen lässt sich im Weiteren Kafkas Verschriftlichung von e-Synkopen im Verb-Präfix ge- bestimmen.66 Dieses wurde, wie fast im gesamten oberdeutschen67 und teilweise auch im angrenzenden mitteldeutschen Dialektraum68 üblich, bei der Bildung des Partizip Perfekts auf ein bloßes g- reduziert:

62

Dies schlägt sich noch in der Hochlautung nieder: Vgl. österreichisch [ku:gl], [trampln] vs. binnendeutsch [ku:gəl], [trampəln] (Siebs 111915: 139, 184; 151930: 142; 191969: 323; Muhr 2007: 281, 433). 63 Vgl. Zehetner (1977: 76–77), BÖW (2001: 303–304), Hörlin (1988: 122), SWB (1908: 314), BWB (1925–1940: 528; 1975–1997: 311–312) und VBW (1960: 596; 1965: 180–181). 64 Vgl. PWB (1968–1975: 410; 1981–1986: 665), SHW (1965–1968: 1641–1642; 1978–1985: 12–13), TWB (1983–1990: 198) und WOM (1996: 398; 2003: 678). 65 Vgl. MBW (1965: 736; 1992: 225) und HWB (2000: 1322; 2006: 160). 66 Zu diesem Phänomen in Kafkas Varianten s. Blahak (2007a: 175; 2007b: 196–197; 2008a: 85–86). 67 Ausnahmen bilden die südbairischen und Teile der ostfränkischen Mundartareale (Franke 1892: 261–262; Kranzmayer 1956: 85–86; K. 19). Zum sonstigen oberdeutschen Dialektraum vgl. Zehetner (1985: 99), Moosmüller (1991: 60–64), Merkle (61996: 56–57), Hügel (1873: 9), Schuster/ Schikola (1984: 148), Kalau (1984: 82), Wagner (1987: 73), Hörlin (1988: 191–194), Frey (1975: 136–141) und Weinhold (1863: 21–22). 68 Betroffen sind die vogtländischen, erzgebirgischen und rheinpfälzischen Dialekte (Franke 1892: 261– 262; Becker 1969: 245). Im sonstigen mitteldeutschen Dialektraum bleibt ge- dagegen u­ nsynkopiert (Franke 1892: 261–262; Seibicke 1967: 57–62; Becker 1969: 245; Hasselberg/Wegera 1976: 55; Klein/ Mattheier/Mickartz 1978: 104–107). S. hierzu die Übersichtskarte bei Eichhoff (2000: K. 4–73).

204

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 5:  Die Verbreitung der e-Synkope im Verb-Präfix ge- (Bsp. gefallen) im deutschen ­Sprachraum

fertig{ge}stellt (Pv.151/7), fertig(stA>g)estellt (Pv.174/14), ge(bA>g)eben (Pv.251/18), g(luA>el)üftet (Sv.41/9), herg([g]>ej)agt (Sv.145/16), g(l>e)lungen (Sv.332/21–333/1(1)), g(le>el)eistet (Sv.359/1), [g([la]>el)auert] (Sv.392/11), g(x>e)fragt (Sv.392/18), g(x>e)suchte (Sv.403/16–17), wegg(a>e)gangen (Sv.426/24,35*), hierherge(r>h)ören (Vv.38/13–14=Dv.96/9–10), g(liA>el)iebt (N1v.69/15), g(s>e)sehn (N2v.275/14), aus unserer Stadt weg(fa>ge)fahren (N2v.333/13–14(1)), weg(l>g)elaufen (N2v.427/26), g(f>e)führt (N2v.629/23).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

205

Daneben erweist sich die unbetonte Silbe (‑)ge- im Korpus generell als anfällig für den Ausfall eines ‹e› – z. B. bei Verben im Infinitiv, bei Adjektiven und Substantiven: ge(i>e)ignet (Pv.196/27; Sv.343/2; vgl. N2e.303/19), eing(stA>es)tehn (Sv.183/18(2)178*–208*(2)240*), [g([lu]>el)ingen] (Sv.197/26–27), G(r>e)rücht (N1v.195/6), g(l>e)lingen (N2v.199/5), un­g(f>e)fähr­ liche (N2v.579/2).

Gleiches gilt für das Präfix bzw. die unbetonten Silbe (‑)be-: Bankb{e}amte (Pv.41/21), be(i>e)ile Dich (Pv.123/12), bei(el>le) Dich (Pv.123/12), be(ilA>ei)lte (Pv.340/17), un(g>b)egreiflich (Sv.101/9), be(r>i)rren (Sv.288/2–3(4)20*), b(x>e)ruhigte (Sv.437/26), ab(w>b)ewegend (Sv.479/3–4,23*), b(hA>e)handeln (Vv.142/14), unbe(r>h)errschten (Vv.266/8), B(o>e)hörden (Vv.278/13), B(o>eo)bachtungen (N2v.461/18), be(i>e)ilt (Dv.193/4).

Darüber hinaus ließ Kafka das Präfix ge- beim Partizip Perfekt vor Plosiven oft vollständig aus: wo(llt>hl)getan (Pv.105/24), dem Ang(lA>e)klagten (Pv.152/2), ge(bA>g)eben (Pv.251/18), [hinein(z>g)ezogen] (Pv.303/3,4*–5*(1)), (d>g)edämpft (Sv.10/8), g(lA>e)glaubt (Sv.183/18(1)114*), irreg([angen]>egan)­ gen (Sv.183/18(2)176*–177*(1)), entgegen(k>g)ekommen (Sv.188/19), hinein{ge}zogen (Sv.294/5), vorüber(kA>g)ekommen (Sv.383/4–5), [gla] geglaubt (Sv.429/20), überein‑|{ge}kommen (Vv.23/23– 24=Dv.81/21–22), weggangen (Ve.218/12), weg(z>g)ezogen (Vv.299/17), herauf(t>g)etragen (Vv.311/18), wegzogen (Ve.355/2–3), zurecht‑|kommen (Ve.388/22–23), an(kA>g)eklagten (N1v.218/11), durch{ge}­ dacht (N1v.220/17), hin(k>g)ekommen (N2v.456/12), ab(z>g)e-|(s>z)ogene (N2v.457/24), zurück­ (z>g)ezogenes (N2v.526/19), abge(b>g)eben (N2v.570/9), Ich bin […] zurückkehrt (N2e.603/9), [und g(l>e)­(b>g)laubt habe] (N2v.644/8=Dv.331/20), einpackt hatte (De.73/12–13).

Auch hier liegt ein Kennzeichen mundartlicher Lautungspraxis des oberdeutschen,69 teilweise auch des mitteldeutschen Sprachraums70 vor, das auf den e-Schwund zwischen

69

70

Nur in den südbairischen und nördlichen ostfränkischen Mundarten bleibt das e je nach dem folgenden Konsonanten z. T. erhalten (Kranzmayer 1956: 85; K. 19; Eichhoff 2000: K. 4–74). Zu dieser Erscheinung in den einzelnen oberdeutschen Dialektarealen vgl. Weinhold (1867: 29–30), Kranzmayer (1956: 84–86; K. 19), Merkle (61996: 56–57), Jakob (1929: 12), Schuster/Schikola (1984: 69–70), Kalau (1984: 82), Wagner (1987: 73), Hörlin (1988: 190), Frey (1975: 136–141) und Besch/Löffler (1977: 69). Zu den rheinfränkischen Dialekten vgl. Eichhoff (2000: 37; K. 4–74) und Hasselberg/Wegera (1976: 55). Den obersächsischen Dialekten ist diese Erscheinung unbekannt (Seibicke 1967: 59).

206

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 6:  Die Verbreitung des Präfix-Ausfalls vor Plosiven beim Verb im Partizip Perfekt (Bsp. gekauft) im deutschen Sprachraum

zwei Verschlusslauten zurückzuführen ist. Es lässt sich bereits in Prager Drucken des 16. und 17. Jahrhunderts in verschriftlichter Form nachweisen (Povejšil 1980: 48). Auch die folgenden Autokorrekturen im Korpus dokumentieren Ansätze zum kompletten Ausfall des Präfixes, dessen initiales ‹g› bzw. ‹b› zwar noch verschriftlicht wurde, aufgrund der erneuten ‹e›-Elision jedoch lautlich mit dem folgenden Plosiv verschmolz:

Regionalismen auf phonetischer Ebene

207

abg(gri>eg)riffene Bücher (Pv.76/15–16), unb{e}greiflich (Pv.124/1), zusammeng([bi]>eb)issen (Sv.436/11), hervorg(x>e)quollenen (Dv.148/21–22).

Wie stark Kafka offenbar zur Silbenreduktion in unbetonten Präfixen neigte, deuten weitere Belegstellen an, an welchen ge‑/be- (mundartuntypisch) auch vor folgendem ‹ä›, ‹w›, ‹f›, ‹h›, ‹st› und ‹m› im Schriftbild zunächst fehlten, bevor sie im Zuge von Autokorrekturen nachgetragen wurden: zu{ge}hörigen (Pv.344/12), nichts {ge}ändert (Sv.248/13), [das ich mir […] überworfen habe] (Sv.450/5(2)), aufstützten Elbogen (Ve.153/18–19), Gebirgswohner (N2e.108/7–8), hat es gestern zu 71

regnen an(f>g)efangen (N2v.285/20), (f>b)efreite seinen Fuß (Sv.425/2).

Dabei könnten vorausgehende Verschlusslaute solche Präfix-Ausfälle u. U. begünstigt haben: ab([hA]>g)ehackte (Pv.18/7), Hand(w>b)ewegung (Pv.102/19–20),

72

(v>f)ort(s>g)eschritten

(Pv.239/6), Wenn aber ich […] herab(w>g)ewürdigt (Sv.361/21–22), mit dem er [fähA] während der Fahrt flüchtig bekannt worden war (Vv.7/17–18), halb(s>g)eschlossene (N1v.31/5), Ab(s>g)eschlossenheit (N2v.265/23–24), recht {ab}mager{t} (N2v.518/4).

Im Falle von Au(bA>g)enblick (Vv.91/15) scheint der e-Schwund sogar ursächlich für den Verlust der ganzen Silbe ‹-gen-› gewesen zu sein.73 Dass Kafka hier Reflexe einer v. a. oberdeutschen, partiell auch westmitteldeutschen dialektalen Interferenz verschriftlichte, legen nicht zuletzt die Ergebnisse der Fehlerlinguistik nahe, die Verschreibungen, wie sie im Korpus vorliegen, als charakteristische

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72

73

In diesem Fall könnte u. U. das Zusammenwirken des e-Schwundes und der Realisierung der dadurch entstehenden Affrikata [bf ] als stimmlosen Reibelaut (vgl. Kap. 5.1.2.4) den Präfix-Ausfall begünstigt haben. Hier könnte eventuell das Zusammenspiel des e-Schwundes mit der stimmlosen Aussprache des hochdeutsch stimmhaften labiodentalen Reibelauts [v] als [f ] und der Realisierung der dadurch entstehenden Affrikata [bf ] als stimmlosen Reibelaut (vgl. Kap. 5.1.2.3 und 5.1.2.4) zum PräfixAusfall beigetragen haben. Möglicherweise führte hier ein Zusammenwirken von e-Synkope und lautlicher Verkürzung von [-gən] zu [ŋ] im Zuge progressiver Assimilation (vgl. Kap. 5.1.3.1) zum Silbenverlust.

208

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Dialekt-Direktanzeigen wertet.74 Bereits Lehmann (1899: 33) zählte den Präfix-Schwund zu den in Wien verbreiteten Fehlern im Schriftdeutschen. Der niederdeutsche Sprachraum kennt das beschriebene Phänomen zwar auch (König 162007: 158); da er durch die nicht e-synkopierenden mitteldeutschen Dialektareale von den böhmischen Ländern räumlich getrennt ist, können seine Mundarten bei Kafkas Normabweichungen aber keine Rolle gespielt haben. Das Westjiddische, in dem der Vokal in den Präfixen ge- und be- als Resultat ostmitteldeutschen Einflusses erhalten bleibt (Beranek 21957: 1968), scheidet als Hintergrund ebenfalls aus. Da Kafka sich in 77 von 85 Fällen (zu 90,59 Prozent) selbst korrigierte, ist offensichtlich, dass er sich der Norm prinzipiell bewusst war und dass ihm die e-Elisionen bzw. Präfix-Ausfälle unwillkürlich unterlaufen waren.75 In der Summe lassen sich somit sowohl der e-Ausfall in den Präfixen ge-/be- als auch deren völliges Fehlen vor Plosiven den Regionalismen des Typs A1/D[O+/–] zuordnen. 5.1.1.1.5  Wechselnde Setzung standardsprachlicher Varianten mit auslautendem und ohne auslautendes -e Neben den e-Synkopen in unbetonten Infinitiv-Suffixen, deren Setzung offenkundig einer metrisch-rhythmischen Intuition des Autors folgte, ist im Korpus auch eine Tendenz zur Abstoßung des unbetonten e im Wortauslaut erkennbar. Kafkas Hang zur Apokope manifestierte sich z. B. in der quantitativen Bevorzugung76 der verkürzten Adverbien gern, vorn und allein sowie der Substantive Tür und Stirn gegenüber ihren vollen Äquivalenten gerne, vorne, alleine, Türe und Stirne. Da jeweils beide Varianten zu Kafkas Zeit überregional als standardkonform galten,77 können sie nicht als Regionalismen betrachtet werden.

74

75

76 77

Zu den oberdeutschen Dialekten vgl. Zehetner (1977: 116), Reitmajer (1979: 129, 135), Kalau (1984: 88), Koller (1991: 58) und Besch/Löffler (1977: 69), zu den rheinfränkischen Hasselberg/ Wegera (1976: 55–56). Der einzige Beleg einer absichtlichen Präfix-Synkopierung zur Erzeugung fiktiver Mündlichkeit ist durch einen Auslassungsapostroph markiert und liegt in wörtlicher Rede vor: nicht ganz Du G’scheiter (N2.73/11). Vgl. Tab. 5. Vgl. hierzu z. B. Grimm/Grimm (1897: 3719; 1941: 3181; 1951: 1333), Heyne (21905: 1119; 21906b: 1077, 1304) und Sterzinger (1921: 430; 1935: 945, 1272).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

209

Kafkas Entscheidung für die jeweilige ein- oder aber zweisilbige Schreibung folgte dabei einem ähnlichen Prinzip, wie es in Kap. 5.1.1.1.2 anhand der e-Synkopierung des InfinitivSuffixes ‑en skizziert wurde. Eine Stichprobe der Distribution von Tür und Türe anhand des Verschollenen lässt auch hier die Neigung erkennen, die einsilbige Form unmittelbar vor einer Zäsur (Haupt- oder Nebensatzende) zu setzen. Dies trifft für knapp jede vierte (20 bzw. 24,39 Prozent) der insgesamt 82 Belegstellen78 zu. Lediglich 13-mal (zu 15,85 Prozent) folgt innerhalb des Satzes jeweils direkt eine betonte Silbe.79 In sechs von neun Fällen ist dies allerdings nach einem Komma der Fall, also nach einer der erwähnten rhythmischen Zäsuren. Fast drei Viertel der Belege (50 bzw. 73,17 Prozent)80 finden sich dagegen vor unbetonter Folgesilbe. Die zweisilbige Türe wird demgegenüber bevorzugt vor Wörtern mit betonter Erstsilbe verwendet: Dies ist im Roman bei 32 Belegstellen 13-mal (zu 40,63 Prozent) der Fall.81 Nur einmal steht Türe am Satzende, fünfmal vor Komma (zusammen 18,75 Prozent).82 Die Verteilung der Varianten gern/gerne und vorn/vorne83 bestätigt die ausgemachten (intuitiven) Präferenzen: Während die zweisilbige Form gerne in neun von 17 Fällen (52,94 Prozent) vor einer folgenden Betonung gesetzt wird,84 trifft dies beim apokopierten gern nur in zwei von 23 Fällen (8,7 Prozent) zu.85 Stattdessen folgt auf gern 20-mal (zu 86,96 Prozent) unmittelbar ein Wort mit unbetonter Erstsilbe.86 Entsprechend geht vorne in nur sieben

78 Zu Tür unmittebar vor dem Satzende vgl. V.8/24,25; V.42/5; V.115/14,17; V.117/18; V.119/17; V.286/5; V.291/16; Vv.363/22; V.363/23; zur Position an der Nahtstelle zwischen Haupt- und Nebensatz vgl. V.72/4; V.97/12; V.102/4; V.103/14; V.127/4; V.138/3; V.253/14; V.254/15; V.266/11. 79 Vgl. V.72/4; V.94/20; V.127/4; V.138/3; V.200/5; V.253/14; V.254/15; V.266/11; V.290/12; V.309/18; V.322/19; V.337/5; V.341/3. 80 Vgl. V.17/15; V.19/26; V.31/8,10; V.35/3; V.38/26; V.50/14; V.65/9; V.67/8; V.82/7,22(2x); V.85/26; V.86/15; V.89/2; V.93/15,27; V.94/1,18; V.96/19,23,25; V.97/12(2x); V.102/4; V.103/14,16,17; V.111/23; V.114/4,10; V.115/7; V.121/23; V.128/15; V.174/17; V.178/12,16,18,21; V.188/10,15; V.217/7,15; V.250/19; V.291/4,13; V.303/11,23; V.335/10; V.336/11; V.339/25; V.340/2,6; V.345/4; V.346/16; V.363/19; V.364/25; V.368/23; V.382/25. 81 Vgl. V.19/6,9; V.20/16; V.22/10; V.33/10; V.34/8; V.87/24; V.117/21; V.221/19; V.285/24; V.305/7; V.365/2,17. 82 Vgl. V.9/18; V.18/18; V.66/19; V.87/14; V.160/10; V.285/24. 83 Im Falle von vorn/vorne wird aufgrund der insgesamt selteneren Verwendung das Gesamtkorpus betrachtet. 84 Vgl. V.105/16; V.110/23; V.172/25; V.189/15; V.207/15; V.239/2; V.293/26; V.343/1; V.379/11. 85 Vgl. V.181/19; V.413/6. 86 Vgl. V.15/20; V.30/17; V.59/11; V.63/26; V.72/15; V.79/16; V.85/25; V.98/17; V.105/10; V.111/4; V.116/2; V.120/21; V.160/2; V.187/20; Vv.243/7(1); V.297/20; V.324/26; V.353/6; V.381/25; V.384/16.

210

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

von 13 Fällen (53,85 Prozent)87 einer unbetonten Silbe im Satz voraus; für vorn gilt Gleiches dagegen in 25 von 36 Fällen (69,44 Prozent).88 Letztendlich dürfte auch die wechselnde Bildung des Dativs von Maskulina und Neutra der starken oder gemischten Deklination im Singular mit oder ohne e-Suffix (z. B. im Fall/Falle, vom Schiff/Schiffe, im Haus/Hause, auf dem Gang/Gange etc.) den oben aufgezeigten rhythmischen Maßstäben folgen. Nekula (2003a: 102) leitet aus der erhöhten Verwendung des Dativ-e in Kafkas Korrespondenz mit der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt eine vorwiegend stilistische Motivation ab, gemäß der Kafka die Bildung mit ‑e wohl als die ,korrektere‘ betrachtet habe. Dies erscheint plausibel, zumal die österreichischen Lehrwerke seiner Schulzeit – in Übereinstimmung mit ihren reichsdeutschen Pendants89 – das Kasus-Suffix im Schriftdeutschen für obligatorisch erklären.90 Kafka wurde diese Sicht in der Schule daher vermutlich vermittelt. Im literarischen Schreibprozess dürfte dieses Bewusstsein jedoch sekundär gewesen und hinter die Dominanz des Lautlichen bzw. Rhythmisch-Metrischen zurückgetreten sein. Denn analysiert man exemplarisch – wiederum anhand des Verschollenen – Häufigkeit und Position der Varianten Tisch und Tische (jeweils Dativ Singular), so erkennt man erneut die bereits festgestellte erhöhte Neigung, die einsilbige Form vor unbetonten (in 23 von 29 Fällen bzw. zu 79,31 Prozent),91 die zweisilbige dagegen vor betonten Silben (zu 100 Prozent)92 zu verwenden:

87 88

89 90 91

92

Vgl. Vv.296/11–12; N1.39/6; N2.521/5; N2.539/3; N2.656/10; D.164/13; D.354/27. Vgl. P.229/22; P.285/19; S.111/26; S.123/11; Sv.183/18,124*,229*; Sv.210/20; Sv.288/2–3,97*; S.296/13; S.378/13; V.58/12; V.135/18; V.338/15; N1.61/5; N1.351/3; N1v.356/23; N1v.368/18; N2v.112/8; N2.230/16; N2.281/12; N2.345/20; N2.351/12; N2v.390/23–24(1); N2.676/25; D.223/11; D.276/23. Vgl. Kummer (31892: 12, 15), Lehmann (71892: 35; 101899: 28) und Willomitzer (61894: 14–19) sowie Heyse (251893: 208, 211) und Winter (21896: 6, 9). Lehmann (1899: 30) stuft die Bildung des entsprechenden Dativs ohne e-Suffix sogar explizit als Fehler ein. Vgl. V.21/11,27; V.22/4; V.27/24; V.82/12; V.94/21; V.133/21; V.136/19–20; V.147/2; V.157/18; V.225/25; V.257/22; V.313/15; V.335/18; V.341/15; V.342/17; V.351/27; V.356/11,12; Vv.366/1(2x); Vv.370/18. Vgl. V.26/12; V.79/26; V.80/3,11; V.174/2.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

untersuchtes 93 Wort

94

Setzung unmittelbar vor 95

211

Im Text folgt

Satzende

Komma, das HS/NS trennt

betonte Silbe

unbetonte Silbe

11 13,41

9 10,98

13 15,85

60 73,17

Türe (32) in %

1 3,13

5 15,63

13 40,63

18 56,25

gern (23) in %

1 4,35

2 8,7

2 8,7

20 86,96

gerne (17) in %

2 11,76

2 11,76

9 52,94

6 35,29

vorn (36) in %

1 2,78

1 2,78

10 27,78

25 69,44

vorne (13) in %

0

1 7,69

6 46,15

7 53,85

Tür (82) in %

96

Tab. 5:  Die Verteilung apokopierter und nicht apokopierter Varianten der Adverbien gern/e, 93949596 vorn/e und des Substantivs Tür/e im Text des Verschollenen bzw. im Gesamtkorpus

Indizien für einen regional begrenzten Sprachgebrauch sind gleichwohl nicht auszumachen. 5.1.1.1.6  e-Elision im Auslaut flektierter Verbformen Eindeutig als kolloquiale Formen erweisen sich e-Apokopen bei flektierten Verben, die sich auch in Julie Kafkas Korrespondenz finden (Nekula 2003a: 69). Hier entspricht Kafkas häufige Bildung von Imperativen in der 2. Person Singular ohne e-Suffix nur teilweise der

93 94 95 96

Komposita wurden von der Betrachtung ausgeschlossen, weil sich bei diesen u. U. die Akzentsilbe verschiebt. Betrachtet wird die folgende Silbe im fortgeführten Satz oder auch nach einem Komma bzw. der Nahtstelle zwischen Haupt- und Nebensatz. Gezählt werden auch Belege, in welchen Kafka das (obligatorische) Komma aussparte. Die Quersumme der vier Spalten ergibt nicht zwingend die Gesamtzahl der Belegstellen, da z. B. auf ein Komma, das Haupt- und Nebensatz trennt, eine betonte oder aber unbetonte Silbe folgen kann.

212

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

in Österreich schulisch vermittelten Schriftnorm: Bei starken Verben97 stellen die maßgeblichen Grammatiken (Kummer 31892: 57, 69; Lehmann 71892: 59; 101899: 53) den e-Verzicht frei. Folgende Beispiele aus dem Korpus erweisen sich demnach als normkonform: denk nur (S.487/6), schlaf Dich aus (V.94/10–11), lauf hin (V.219/15–16), halt mal (V.235/18), bleib nicht hier (V.236/21), geh hinauf (V.236/21), {zieh} [überkleide] Dich {um} (Vv.253/7(2)), steh […] 98

auf (V.297/18–19), komm [dann] zu mir (Vv.363/19), versteh mich recht (Dv.47/22).

Bei schwachen Verben wurde die Bildung mit Flexions-e allerdings als obligatorisch betrachtet. Diese Regel befolgte Kafka häufig nicht: Leg es aus der Hand (P.288/20), Zeig dem Untersuchungsrichter (P.290/7), [frag nicht] (Pv.326/18), rühr Dich (V.91/5), Auf keinen Fall sag (V.220/6), pack seine Koffer (V.250/14), Leb wohl (V.271/13–14), Schau nicht hin (V.290/19), schick die zwei aus dem Zimmer (V.295/9), Setz Dich doch (V.299/2–3), Stell Dir die Gesichter vor (V.310/3), Mach Dir keine Sorgen (V.318/19), Versuch es doch (V.327/25), Riegel hinter ihnen die Tür zu (V.363/18–19), Merk Dir das! (V.384/3), Wart, heut kommt was (N1v.132/6–7), [Hör einmal] (N1v.285/10), pa{c}k Dich (N1v.288/9(2)17*,40*), Kratz Dir das Fleisch 99

[…] auf (Dv.304/4–5), Drück Dich (Dv.304/6).

Für die Zulässigkeit solcher Formen auch in der schriftsprachlichen Praxis spricht der Umstand, dass sie auch in Kafkas zu Lebzeiten erschienenen Schriften gewissermaßen ,approbiert‘ auftauchen und zwar nicht nur in der in Prag,100 sondern auch in der in Leipzig101 erschienenen Prosa. Auch Brod (1911: 210, 254, 255) und Kisch (51922: 13, 52) erregten

Eine Ausnahme bilden starke Verben, in welchen in der 2./3. Person Singular das ursprüngliche i an die Stelle der Hauptsilbe tritt (,Brechung‘) (Kummer 31892: 57; Lehmann 71892: 59; 101899: 53). 98 Vgl. im Korpus aber auch die Imperativ-Bildung derselben Verben in der 2. Person Singular mit e-Suffix: Denke daran (V.395/15), Schlafe wohl (V.117/6), halte Dich lieber nicht auf (V.219/15), dann bleibe (V.123/6), Stehe mir Rede! (N2.574/1–2), Komme also gleich (Sv.303/18(1)), [verstehe mich recht] (Sv.214/13). 99 Vgl. im Korpus aber auch die Imperativ-Bildung derselben Verben in der 2. Person Singular mit e-Suffix: jetzt lege Dich (Dv.53/9), zeige Dich (S.193/22), Frage die Führerschaft (N1.347/21), rühre mein Klavier nicht an (V.79/14), Sage, wie geht es Dir (N2.525/6), Lebe (N2.422/21), setze alle Kraft an (D.311/19), versuche es (S.293/2), [aber merke Dir] (Sv.16/12), warte noch (P.304/9), Aber nun höre (S.282/15–16). 100 Ein Beispiel hierfür findet sich etwa im Kübelreiter, erschienen in der Prager Presse: nenn ihm aber alle Sorten (D.446/22). 101 Vgl. entsprechende Belege im Urteil und In der Strafkolonie, jeweils erschienen im Kurt Wolff Verlag: schau mich an (D.57/1), Sag (D.58/7), Stell ihn auf (D.216/21). 97

Regionalismen auf phonetischer Ebene

213

durch ähnliche Bildungen offenbar keinen Anstoß bei ihren reichsdeutschen Verlegern. Die Akzeptanz ergab sich wohl auch allgemein dadurch, dass Imperativ-Bildungen zwangsläufig der wörtlichen Rede angehören, die den Spielraum für kolloquiale sprachliche Elemente in geschriebenen Texten vergrößerte. Die dennoch wohl oft schwankende, z. T. scheinbar willkürliche Einstellung gegenüber apokopierten Imperativen bei schwachen Verben illustriert die Drucklegung der Verwandlung durch den Kurt Wolff Verlag: Hier wurde ein von Kafka geschriebenes mach je einmal belassen (D.120/15), durch einen Auslassungsapostroph ergänzt (D.176/13) und nachträglich mit der Endung ‹-e› (D.126/14) versehen. Der von Kafka ebenfalls verwendete volle Imperativ mache geriet dagegen apokopiert in den Druck (Dv.126/14). Ebenso existieren Belege, dass eine Imperativ-Form an ein und derselben Textstelle des Manuskripts in verschiedenen Drucken apokopiert oder aber mit Suffix-‹e› auftauchen konnte (Dv.384/4).102 Selbst der sonst so sprachpuristische Max Brod verhielt sich als Herausgeber Kafkas nicht immer konsequent: In seiner postumen Ausgabe tolerierte er zwar die meisten (z. B. Kafka 1953b: 80, 213, 217, 282, 355), aber doch nicht alle endungslosen Imperative (z. B. Kafka 1953b: 191, 342). Noch deutlicher reflektiert die Aussparung des Flexionssuffixes ‑e bei Verben in der 1. Person Singular Indikativ Präsens eine Form des mündlichen Sprachgebrauchs, die von den zeitgenössischen österreichischen Regelwerken als „nicht nachzuahmen“ (Kummer 3 1892: 69) oder fehlerhaft (Lehmann 71892: 58; 1899: 31; Willomitzer 61894: 47) von der Schriftsprache ausgeschlossen wurde. Beispiele aus Kafkas Manuskripten lauten: ich […] [zieh mich aus] (Pv.193/6–7), Ich bewunder den Mann (Se.102/17), hier taug ich nichts (V.14/4), Gute Nacht wünsch ich (V.176/13), lieber spring ich (V.215/10–11), Dann versteh ich (V.293/7), ich glaub es (V.306/17), Ich wasch mich (V.357/6–7), ich tu es {ja} nicht (Vv.357/12), ich spür nichts (V.358/26), so geh ich (N1e.107/5), Dir sag ich’s (N1.166/9), Wieder seh ich Dich (N2.111/7), ich hab keinen so geruhten Kopf (N2.153/10–11), {näher ich mich} (N2v.602/16).

102 In der Zweitauflage des Urteils (1919) gab der Kurt Wolff Verlag die Imperativ-Formen der Verben sagen und sich einhängen apokopiert wieder; die Arkadia hatte diese (Dv.58/7; Dv.59/7) und darüber hinaus auch die Imperativ-Formen starker Verben (D.58/22; D.59/7) in der Erstausgabe (1913) noch mit Apostrophen versehen.

214

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Den meisten dieser verkürzten Formen stehen immerhin entsprechende nicht apokopierte Varianten im Korpus gegenüber.103 Zwar gilt auch hier, dass Kafkas kolloquiale Verbformen in wörtlicher Rede, für die sie ihr Numerus prädestiniert, in den zu seinen Lebzeiten gedruckten Texten beibehalten wurden – allerdings nur dann, wenn diese in Prag oder Wien erschienen.104 Kafkas Leipziger Verleger Rowohlt und Wolff ergänzten dagegen im Urteil und im Heizer das aus ihrer Sicht fehlende Flexions-e.105 Den Eindruck, aus reichsdeutscher Sicht seien diese verkürzten Formen selbst in wörtlicher Rede im Schriftdeutschen nicht zulässig gewesen, erhärten Brods lückenlose e-Suffix-Nachträge in seiner Kafka-Ausgabe, die auf eine überregionale Leserschaft abzielte.106 Indem Brod dabei korrigierte, was er selbst (wie Pick und Kisch) in seiner Prosa durchaus verwendete,107 bestätigte er die Divergenz zwischen reichsdeutscher und österreichischer Normauffassung in diesem Punkt. Da diese e-Apokopen nur in wörtlicher Rede vorliegen und nur selten von Kafka revidiert wurden,108 ist davon auszugehen, dass er sie, wie die schon beschriebenen Enklitika,109 mit Absicht zur Erzeugung umgangssprachlicher Mündlichkeit einsetzte. Diese Annahme bestätigt sich angesichts von Apostrophen, die Kafka zur Markierung ausgesparter ‹e› setzte: sag’ mir offen (P.124/17), [Misch[’] nichts] (Pv.288/16), Hab’ auch schon etwas Schöneres gesehn (N2.153/9). Einmalig strich er sogar ein Flexions-‹e›

103 Vgl. z. B. Weniger höre ich nicht an (N1.140/1–2), ich schaue unter das Bett (P.193/8), wie ziehe ich sie (D.256/3), bewundere ich (N2.294/8), damit wünsche ich Euch Glück (P.72/7), und dann wieder springe ich auf (Sv.219/13(3)), Ich verstehe (V.351/1), „Das glaube[“] ich. (N1v.154/19), das tue ich immer (S.192/14), jetzt spüre ich ja wieder gar nichts (V.358/16), gehe ich (V.11/6), {ich sage Euch} (Vv.370/10), da sehe ich (V.211/17), den Anfang habe ich versäumt (P.75/20), als (n>ic)h mich nähere (N1v.210/27(1)15*–16*), (“>I)ch brauche mich dessen nicht zu schämen (Pv.253/1), Ich kenne den Paragraphen (V.225/19), während ich dieses schreibe (N1.312/3–4), immer [gehe ich] stehe ich auf (N2v.226/22). 104 Vgl. Beispiele im Kübelreiter (gedruckt in der Prager Presse): Hör ich recht? (D.445/18,20) und im Bericht für eine Akademie (erschienen in der Oesterreichischen Morgenzeitung): ich […] schau aus dem Fenster (Dv.313/3–4). 105 Dies betrifft folgende Belegstellen: jetzt hab ich (Dv.38/15), Wohl kenn ich Deinen Freund (Dv.56/8), ich brauch Dich nicht (Dv.58/22), Ich schreib ihm doch (Dv.59/16), hier steh ich (Dv.72/2). 106 Vgl. Brods Eingriffe in den Text des Verschollenen (Kafka 1953b: 187, 265, 336–338, 464). Unklar ist, warum er einmalig (Kafka 1953b: 153) eine Ausnahme machte. In hier taug ich nichts (Kafka 1953b: 14) übernahm Brod eine der wenigen durch den Kurt Wolff Verlag tolerierten und in der Erstausgabe des Heizers gedruckten e-Apokopen in seine Werkausgabe. 107 Im Gegensatz zu Pick (1913: 36, 38, 39, 41, 42, 45) und Kisch (51922: 28, 55, 61, 68, 78, 79, 100, 190, 218, 230) verzichtete Brod (1911: 27, 29, 31, 33, 127, 175, 177, 210, 211, 219, 224, 261, 266, 268) dabei sogar auf einen die Apokope anzeigenden Apostroph. 108 Beispiele hierfür lauten: es würd{e} dadurch nur ärger werden (Pv.210/16–17), teil{e} ich (N1v.333/1). 109 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.1.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

215

zugunsten eines Auslassungszeichens: hör(e>’) ich sie dann (N1v.284/8). Von Regionalismen im Sinne der vorliegenden Untersuchung kann demnach nicht die Rede sein. Auszuschließen ist eine bewusste e-Tilgung dagegen dort, wo Kontraktionsformen verschriftlicht wurden, in welchen die Apokopierung des Verbs in der 3. Person Singular Indikativ/Konjunktiv Präteritum bzw. Konjunktiv Präsens zusammen mit der Enklise eines folgenden Personalpronomens (er bzw. es) auftritt. Solche Fälle liegen nämlich ausschließlich in der Erzählhandlung vor und wurden von Kafka ohne Ausnahme sofort verbessert: konnt(er>e) er (Pv.11/5), dacht(er>e) er (Pv.35/2; N1v.18/12), wisserA er (Pv.121/9), duldet(es>e) es (Pv.303/12), als [mess(er>e) er] (Pv.350/3(1)), musst([er]>e) er (Sv.164/10), blickt[er] er (Sv.168/12), mocht(er>e) (Vv.28/8=Dv.86/4), hätte[r] er (Vv.54/16; vgl. N1v.257/24), [hatterA] (Vv.149/17), könne[r] er (Vv.174/27), hatt(erA>e) er (Vv.267/12), zeichn(er>e) er (N1v.100/1), fragte[rA] {d}er {Vater} (Dv.55/25).

Die Frage der Klassifizierbarkeit dieses e-Schwund-Typs als Regionalismus bedarf erneut der Diskussion. Ein Blick auf die fehlerlinguistische Erfassung des deutschen Sprachraums erweist den Ausfall des e-Suffixes beim Verb in der 1. Person Singular Präsens im gesamten ober- und westmitteldeutschen Sprachraum, ferner in den nördlich der so genannten ,Hauptapokopierungslinie‘110 gesprochenen niederdeutschen Mundarten als charakteristische Dialekt-Direktanzeige im Schriftdeutschen.111 In den dazwischen liegenden südwestniederdeutschen und ostmitteldeutschen Mundartgebieten wird [ə] im Auslaut des Verbs artikuliert. Hier wären Kafkas verkürzte Verbformen demnach nicht mundarttypisch.112 Da die räumliche Trennung durch die nicht apokopierenden ostmitteldeutschen Dialektareale einen direkten niederdeutschen Einfluss auf das in Prag gesprochene Deutsch ausschließt, darf der untersuchte e-Schwund auf der Ebene

110 Sie verläuft etwa von Ostfriesland über Bremen, Tangermünde und Oranienburg nach Schwedt (Niebaum 1977: 60, 111). 111 Zu den oberdeutschen Dialekten vgl. Zehetner (1977: 75), Reitmajer (1979: 134), Kalau (1984: 53), Hörlin (1988: 72, 177), Koller (1991: 73), Ammon/Loewer (1977: 76) und Besch/Löffler (1977: 66–68), zu den westmitteldeutschen vgl. Hasselberg/Wegera (1976: 46, 57–58), Wegera (1977: 135), Henn (1980: 54–58), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 87) und Müller-Dittloff (2001: 238), zu den niederdeutschen vgl. Stellmacher (1981: 64–65). 112 Zu den ostmitteldeutschen Dialekten vgl. Franke (1892: 265, 271), Rosenkranz (1964: 190), Seibicke (1967: 57–58) und Stellmacher (1973: 26–29), zu den südwestniederdeutschen vgl. Niebaum (1977: 60–62).

216

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

der Mundarten als zwar großräumig verbreitet, aber dennoch charakteristisch regional beschränkt gelten (König 162007: 158–159). Gegen die Qualität eines Regionalismus spricht allerdings, dass die Apokope des [ə] im Bereich der Verbalflexion, besonders vor nachfolgendem Vokal,113 vielfach als Bestandteil der überregionalen (standardnahen) Umgangssprache des Deutschen betrachtet wird.114 Die (literarisch stilisierend verwendeten) apokopierten Imperativ-Formen Kafkas werden heute ebenfalls allgemein zur Umgangssprache (Duden 21966: 121; Merkle 61996: 75) bzw. zur „gesprochenen Alltagssprache“ (Duden 82009: 438) gerechnet. Angesichts des oberdeutschen, z. T. auch mitteldeutschen Präteritalschwundes115 ist auch bei apokopierten Präterita, wie sie bei Kafka vorliegen, nicht an direkte Dialekt-Interferenz zu denken. Vielmehr sollten falsche Analogien gemäß den apokopierten Präsens-Formen als Fehlerquelle in Erwägung gezogen werden (Kalau 1984: 73). Insgesamt liegt es nahe, das phonetische Phänomen der e-Apokope im Auslaut flektierter Verbformen, wo es nicht ohnehin literarisch verwendet auftritt, maximal als ,häufig mundartbedingt‘,116 nicht dagegen als Regionalismus aufzufassen. 5.1.1.1.7  e-Elision im Auslaut von Adjektiven und Adverbien Auch die Bildung von Adjektiv-Endungen im Korpus macht Kafkas Neigung zur e-Apokope evident. Hier sind zum einen Belegstellen zu verzeichnen, an welchen Adjektive aller Genera im Singular ohne Flexions-e vorliegen. Die deutliche Mehrheit bilden dabei schwach deklinierte Adjektive nach bestimmtem Artikel oder nach Demonstrativpronomen, jeweils in attributiver Verwendung. Konkret handelt es sich um zwei Maskulina, drei Feminina und ein Neutrum im Nominativ sowie drei Feminina und ein Neutrum im Akkusativ: durch diese plötzlich Schwäche (Pe.100/2), dieser freundlich Mensch (Ve.71/18), auf das eigentümlich Geräusch (Ve.161/24–25), die ehrlich und schwere Arbeit (Ve.259/23), die uns unbegreiflich | Rechtfertigung (N2e.88/13–14), die eigentlich Strafe (N2e.226/24–25), der eigentlich Ort (N2e.378/3), das

113 Vgl. Kafkas Präteritum-Bildungen mit folgendem, auf ‹e› beginnendem Personalpronomen. 114 Vgl. hierzu u. a. Bethge (1973: 26), Kalau (1984: 53, 81), Naumann (1989: 190), Merkle (61996: 46) und Müller-Dittloff (2001: 238). 115 Zu diesem s. Kap. 5.2.1.2. 116 Kalau (1984: 53–54) wählt diese Bezeichnung, da im oberdeutschen Dialektraum das Verb in der 1. Person Singular Präsens ausschließlich endungslos gebildet wird.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

217

ganz Brett (N2e.402/14), der sogar die ander Seite der engen Straße verhüllte (Dv.123/1–2), um durch ihn die früher Gegend zu retten (Dv.382/11–12).

Adjektive in prädikativer Stellung mit redundantem auslautendem ‹‑e› können eventuell als hyperkorrekte Bildungen betrachtet werden: [war sie daher irgendwie zweifelhaf(te>t), so musste er sie als zweifelhaft hinnehmen.] (Pv.205/13), die [eben] {[…] hereinkam} frisch[e] und gebeizt von der kalten Luft (Sv.266/14–16), zu streng[e] sein (Vv.176/2), ob hinter ihnen die Gasse […] leer[e] ist (N2v.247/27–248/1), ich (li>b)in noch gar nicht so al(te>e) (N2v.604/18).

Das Verhältnis zwischen mutmaßlicher Direktanzeige und Hyperkorrektur erweist sich mit zehn (66,67 Prozent) zu fünf (33,33 Prozent) Belegen als charakteristisch. Dass solche Apokopen nicht als schrifttauglich galten, erweisen entsprechende redaktionelle Eingriffe reichsdeutscher Verleger in zu Kafkas Lebzeiten erschienenen Texten.117 Auch Max Brod trug in seiner Werkausgabe die fehlenden e-Flexive nach (z. B. Kafka 1953b: 62, 140, 224; 1965: 86). Auf den ersten Blick weist dieser Befund in Richtung einer Interferenz aus den bairischen Dialekten; denn hier kann das betrachtete Adjektiv-Flexiv bei Maskulina im Nominativ Singular, bei Feminina und Neutra im Nominativ und Akkusativ Singular nach Definitartikel oder Demonstrativpronomen (schwache Deklination) entfallen (Merkle 61996: 167). Wo Kafka (mundartuntypisch) feminine Adjektive im Akkusativ Singular auch nach Indefinitartikel apokopierte, scheint es sich dagegen um ,gewöhnliche‘ Flüchtigkeitsfehler bzw. Allegroformen überregionaler Mündlichkeit zu handeln; denn an einer Belegstelle könnte das Aufeinandertreffen der Vokale e und i, an einer weiteren der Konsonanten h und ch an der Wortgrenze den e-Ausstoß und eine fehlerhafte Kasusmarkierung begünstigt haben: durch eine […] kräftig{e}, ihrem ([Wesen]>Benehmen) {auch wirklich} entsprechende Behandlung (Sv.197/25–26), (oA>a)ber eine eigentlich Hoffnung […] hatte er nicht mehr (Ve.155/11–12), eine alt{e} Geschichte (N2v.417/22).

117 Die Herausgeber des Kurt Wolff Verlages (Leipzig) griffen in den Text der Verwandlung ein (Dv.123/1–2), diejenigen der Zeitschrift Der neue Weg (Berlin) in Kafkas Rezension Ein Damenbrevier (Dv.382/11–12).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Ein Blick auf den deutschen Sprachraum verrät, dass das Phänomen der e-Apokope beim Adjektiv auf dialektaler Ebene weit verbreitet ist.118 Dennoch kann man aufgrund des Korpusbefundes klare regionale Eingrenzungen vornehmen: So gelten die genannten bairischen Charakteristika innerhalb der schwäbischen Dialekte nur für Adjektive im Femininum, während Maskulina und Neutra, die bei Kafka ebenfalls apokopiert werden, ihr auslautendes ‑e behalten (Frey 1975: 158). Die ostfränkischen (Hörlin 1988: 272; Koller 1991: 106) und hessischen Mundarten (Hasselberg/Wegera 1976: 46; Wegera 1977: 135) wiederum kennen das endungslose Adjektiv-Attribut nur im Nominativ, nicht dagegen wie im Korpus auch im Akkusativ. In den anderen westmitteldeutschen Dialektarealen können ausschließlich Neutra und Feminina entweder nur bei starker Deklination im Nominativ und Akkusativ ihr Flexionssuffix verlieren,119 oder der e-Abfall tritt sowohl in der starken als auch in der schwachen Deklination auf, allerdings beschränkt auf den Nominativ.120 Ausschließlich im niederdeutschen Sprachraum kann die e-Apokope beim Adjektiv in allen Genera bei schwacher Deklination sowohl im Nominativ als auch im Akkusativ Singular vorkommen (Stellmacher 22000: 190–191). Da ein direktes Einwirken des räumlich von Prag entfernten Mundartareals auf Kafkas Deutsch jedoch auszuschließen ist, sprechen die Indizien für ein bairisches Interferenzphänomen. Auch wenn Kafka elf von 18 Normverstößen (61,11 Prozent) und v. a. alle Direktanzeigen unberichtigt ließ, darf man aufgrund der geringen Zahl an Belegen hierin kein Indiz dafür sehen, dass er die apokopierten Formen prinzipiell als normkonform betrachtet habe, zumal attributive Adjektive in den genannten Kasus und Genera im Korpus ansonsten korrekt flektiert wurden. Vor diesem Hintergrund lässt sich das vorgefundene Apokopierungsphänomen als Regionalismus des Typs A1/D[B] deuten. Die von Kafka apokopierten adverbiell verwendeten bzw. prädikativen Adjektive bös, trüb, träg, präcis und marod sowie das Temporaladverb heut bedürfen hinsichtlich ihrer regionalen Verbreitung einer besonderen Erörterung, auch weil sie nicht nur in wörtlicher Rede, sondern auch in der Erzählhandlung vorliegen. Diese verkürzten Formen treten deutlich seltener auf als ihre vollen Varianten:121

118 Im Prinzip kennen nur die ostmitteldeutschen Mundarten die e-Apokope bei schwach deklinierten Adjektiven nicht (Spangenberg 1962: 26; Rosenkranz 1964: 13, 19; Seibicke 1967: 53; Stellmacher 1973: 24). 119 Dies gilt für die nördlichen rheinfränkischen und südlichen moselfränkischen Dialekte (Post 2 1992: 122; Drenda 2008: 120–121). 120 Dies trifft für die ripuarischen und nördlichen moselfränkischen Dialekte zu (Klein/Mattheier/ Mickartz 1978: 98). 121 Hierin besteht ein Gegensatz zu den bereits diskutierten Adverbien gern und vorn (vgl. Kap. 5.1.1.1.5).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

14. trüb schwach ungeduldig (N2.68/13), End-

×

219

macht mich das ganz trübe (S.221/12), meine

lich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Him-

Zuk(xx>un)ftsaus(ss>s)ichten – so trübe sie

mel zu regnen an (D.31/22–23).

auch sein mögen (Sv.313/9–10), [dass auch noch jener allerschönste Tag trübe und regnerisch gewesen ist] (Sv.423/26), so war wohl ihr Blick trübe (N1.36/11), hinter dem [ein trüber] {der} Tag [{langsam}] {trübe} herandämmert (N1v.243/21–22(2)), Seine Augen sind trübe (N2.232/9–10).

Oder es handelt sich bei ihnen um Einzelbelege: Robinson ist ein wenig marod (V.275/11), Wart, heut kommt was (N1.132/6–7), Eine große alte fleischige Katze lag träg ausgebreitet auf dem Tisch (S.205/4–5), Die andere sucht zugegebener||massen sehr präcis nach Verstärkung ihres Fundaments (N1v.288/9(1)67*–68*).

Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht bös dar: Sichtlich bös rief {sie} (Vv.89/25), jedenfalls sah

×

daß er […] den Onkel schon allzu böse gemacht

er […] bös […] nach Karl hin (V.221/24–26),

hat (V.109/2), durch Karls Benehmen böse

Sie sind doch nicht {bös} auf mich (Dv.428/26).

gemacht (V.334/3).

Relativ eindeutig lässt sich das Adjektiv marod in der von Kafka verwendeten Bedeutung (,krank‘/,kränklich‘) als charakteristisch regional begrenzt bestimmen: Gegenwärtig darf das Lexem als Besonderheit der Umgangssprache in Österreich und Südost-Deutschland (Bayern)122 gelten (ÖWB 241951: 124; Ebner 21980: 123; Ammon u. a. 2004: 490; Duden 24 2006: 670). Das im sonstigen deutschen Sprachraum verbreitete marode besitzt mit ,müde‘/,erschöpft‘/,ermattet‘ bzw. ,heruntergekommen‘/,ruiniert‘ eine andere Semantik.123 Obwohl auch die österreichischen Kodizes (Herzer/Prach 1909b: 811; Sterzinger 1931: 78; Siebenschein 1938–1939: 839) und die Prager Tagespresse der Kafka-Zeit (PP 1921a: 11) nur marode kennen,124 entschloss sich Brod, das Wort nicht zu korrigieren

122 Hier ist es auch auf Mundartebene gebräuchlich (Zehetner 42014: 241; WMF 2000: 111). 123 Vgl. hierzu u. a. Grimm/Grimm (1885: 1669), Fuchs (1898: 176), Paul (21908: 347) und Duden (101930: 342). 124 Die übereinstimmende slowenische Außenperspektive bei Mandrović (21943: 112) bestätigt marode als Form des gesamtösterreichischen Standards.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

(Kafka 1953b: 79). Er hielt es demnach für schriftsprachlich akzeptabel, zumindest in wörtlicher Rede. Das Gesamtbild legt somit eine Einordnung als Regionalismus des Typs B2/rU(d)[Ö+soD] nahe. Auch das Verbreitungsareal von heut kann rekonstruiert werden: In Österreich wurde das Wort (neben heute) als Teil der Standardsprache betrachtet (Sterzinger 1921: 820; Duden 101930: 218).125 Brod, der die Kurzform wie Pick (1913: 39) selbst in seiner Prosa verwendete (Brod 1911: 137), übernahm sie entsprechend in seine Kafka-Ausgabe (Kafka 3 1954: 16). Von den reichsdeutschen Wörterbüchern rechnet nur der in München erschienene Ammon (1903: 92) heut (neben heute) zum Standard,126 während die in Leipzig und Halle a. d. Saale erschienenen Pendants nur heute anführen.127 Somit zeichnet sich auch hier eine Standardzugehörigkeit in Österreich und Südost-Deutschland ab. Auf der Substandardebene dürfte heut allerdings noch weiter verbreitet gewesen sein: Eichhoff (2000: 33–34; K. 4–59) hat am Beispiel müde gezeigt, dass (adverbiell verwendete) Adjektive mit unbetontem auslautendem e im gesamten oberdeutschen Sprachraum und in etwa der Südhälfte des westmitteldeutschen Dialektareals, nicht dagegen nördlich davon, in den regionalen Umgangssprachen der Apokope unterliegen.128 Begibt man sich nun noch auf die Ebene der Mundarten, so lässt sich auch das von Eichhoff umrissene Verbreitungsareal noch erweitern: Gemäß der Darstellung von König (162007: 159)129 gehören auch die übrigen westmitteldeutschen und, räumlich davon getrennt, der Großteil der niederdeutschen Dialektareale zu den apokopierenden Mundartgebieten.130 Es zeichnen sich mithin zwei nicht zusammenhängende Großräume ab, in welchen die Realisierung von heute als heut auf Ebene der Mundart (Norden) oder darüber hinaus auch im Rahmen der regionalen Umgangssprache (Süden) erfolgt. Der niederdeutsche Raum kann dabei aufgrund seiner geographischen Lage als Quelle sprachlicher Interferenz unberücksichtigt bleiben. Insofern lässt sich das Temporaladverb heut unter der Sigle B2/D[O+wM]rU(d)[O+]-rS(d)[Ö+soD] als Regionalismus bestimmen.

125 Diese Einordnung gilt auch in der Gegenwart (ÖWB 241951: 89). 126 Allerdings sehen auch andere zeitgenössische Regelbücher aus Süddeutschland (z. B. RRB 1903: 50; Winter 71905: 27; 91907: 210) allein heute als korrekt an. 127 Vgl. hierzu u. a. Duden (71902), Klenz (1904), Heyne (21906a), Paul (21908), Loewe (1910) und Sanders (81910). 128 Dagegen kann die e-Apokope beim Adverb oder prädikativisch gebrauchten Adjektiv nicht zu den phonetischen Erscheinungen der allgemeinen Umgangslautung bzw. der Standardaussprache mit verminderter Artikulationspräzision gerechnet werden (Krech/Kurka u. a. 31971: 66; Duden 8 2009: 56–60; Krech/Stock u. a. 2009: 105–106). 129 S. hierzu die Karte auf Taf. 1. 130 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.6.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

221

Für das adverbiell verwendete Adjektiv träg ergibt sich annähernd das gleiche Verbreitungsareal: Es wird (neben träge) lediglich in dem bereits genannten Münchner Regelwerk (Ammon 1903: 191) sowie in Grimm/Grimm (1935: 1037)131 dem Standard zugerechnet. Die sonstigen reichsdeutschen132 und österreichischen Wörterbücher133 der Kafka-Zeit kennen nur die Form träge. Max Brods Übernahme des Wortes in seine Schloß-Ausgabe (Kafka 1964: 191) signalisiert die Normkonformität zumindest für Österreich, zumal die Belegstelle nicht wörtlicher Rede entstammt. Da das Lexem träge auf der Ebene der Mundarten im oberdeutschen Raum überhaupt nicht, im westmitteldeutschen nur z. T. verwendet wird,134 erweist sich träg als Regionalismus des Typs B2/rU(d)[O+]-rS(d)[Ö+soD], der in Österreich und Südost-Deutschland dem regionalen Standard und auf dem von ­Eichhoff (2000: 33–34; K. 4–59) abgesteckten Areal, auf dem das auslautende e bei Adverbien ­apokopiert wird, der regionalen Umgangssprache angehörte. Dem prädikativ verwendeten Adjektiv trüb und dem auch adverbial verwendeten bös (in der Bedeutung ,zornig‘/,verärgert‘) kann eine charakteristisch eingeschränkte Verbreitung dagegen nicht nachgewiesen werden. Zwar ordnen Grimm/Grimm (1952: 1165) trüb „dialektische[n] formen [!]“ zu, die in der Südhälfte des deutschen Sprachraums gebräuchlich seien. Hier dürfte den verkürzten Formen auf dem von Eichhoff (2000: 33–34; K. 4–59) ermittelten Areal regionalsprachlicher e-Apokopierung auf der Ebene der Umgangssprache der Vorzug gegeben worden sein.135 Dessen ungeachtet erlaubt die

131 Hier wird es auf die oberdeutsche Apokope zurückgeführt. 132 Vgl. Fuchs (1898: 304), Duden (71902: 343; 101930: 560), RRB (1903: 71), Klenz (1904: 241), Winter (71905: 55; 91907: 241), Heyne (21906b: 1000), Paul (21908: 91), Loewe (1910: 154) und Sanders (81910: 711). 133 Vgl. Rank (1892: 854), Herzer/Prach (1909: 713), Sterzinger (1935: 899) und Siebenschein (1944– 1948: 80). Auch bei Mandrović (21943: 172) findet sich nur träge. 134 Allein die rhein- und moselfränkischen Mundarten (PWB 1969–1975: 394) kennen träg in apokopierter Form. Im Bereich der hessischen Dialekte gilt das Wort bereits als umgangssprachlich (SHW 1965–1968: 1624). 135 Zur Apokopierung von böse und trübe in den oberdeutschen Dialekten vgl. BÖW (1983: 653), Kalau (1984: 139), Koller (1991: 58), SWB (1904: 1303; 1908: 408), BWB (1925–1940: 297, 572) und VBW (1960: 419), in den westmitteldeutschen Dialekten vgl. SHW (1965–1968: 1034, 1767), Hasselberg/Wegera (1976: 46), PWB (1965–1968: 1116–1119; 1969–1975: 552) und Henn (1980: 31). Zur Realisierung beider Wörter mit auslautendem [ə] in den ostmitteldeutschen Dialekten vgl. Spangenberg (1962: 14), Rosenkranz (1964: 13), TWB (1983–1990: 277–278; 1991–1999: 904), WOM (1996: 414; 1998: 285–286), Seibicke (1967: 29) und Mitzka (1963: 146), zu derselben in den west- und ostfälischen Dialekten vgl. Niebaum (1977: 60–62) und Stellmacher (1981: 64–65).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

heterogene Verteilung der Akzeptanz entweder nur der langen,136 nur der kurzen Form137 oder aber beider Varianten138 der untersuchten Lexeme in den einschlägigen Regelbüchern aus Nord‑/Süddeutschland und Österreich keine Bestimmung eines Regionalismus. Die überregionale Schriftsprachlichkeit der betrachteten Adjektive erhärten weitere Indizien: Max Brod korrigierte Kafkas bös in einem Fall (Kafka 1953b: 79), beließ es dagegen im anderen (Kafka 1953b: 193). Da er beide Varianten in seiner eigenen Prosa verwendete (Brod 1911: 146, 253), fasste er sie folglich als normkonforme Äquivalente auf. Der dritte Korpusbeleg fand zudem durch die Herder-Blätter Eingang in eine Veröffentlichung zu Kafkas Lebzeiten. Auch in der Prager Presse lässt sich das Wort belegen (PP 1921c: 10). Der Abdruck von trüb durch die Bohemia und Brod (Kafka 1967b: 43)139 sowie entsprechende Nachweise in der Prosa von Brod (1911: 162) und Pick (1913: 49) zeigen, dass zumindest für das Einzugsgebiet des österreichischen Deutsch von einer standardsprachlichen Form auszugehen ist. Hinsichtlich des adverbiell verwendeten Adjektivs präcis deuten die Einträge der Nachschlagewerke sogar eine überregionale Tendenz zu dieser Kurzform an,140 wobei die Bildung mit der Endung ‑e offenbar nur in Österreich zulässig war.141 5.1.1.1.8  e-Elision im Auslaut von Substantiven Nach den bisherigen Befunden können e-Apokopen bei Substantiven im Singular kaum mehr überraschen. Povejšil (1980: 49) wies dieses Phänomen bereits in Prager Drucken des 16. und 17. Jahrhunderts nach. Auszunehmen von der folgenden Regionalismus-Diskussion 136 Nur böse erkennen Rank (1892: 176), Heyne (21905: 472), Winter (71905: 12; 91907: 195), Paul (21908: 91), Loewe (1910: 28), Herzer/Prach (1920: 1876) und Mandrović (21943: 35) an, nur trübe Fuchs (1898: 309), Winter (71905: 55; 91907: 242), Heyne (21906b: 1057–1058), Paul (21908: 556), Herzer/Prach (1909a: 457) und Loewe (1910: 156). 137 Nur trüb verzeichnen RRB (1903: 71), Duden (101930: 567), Mandrović (21943: 174) und Siebenschein (1944–1948: 119). 138 Sowohl bös als auch böse nennen Fuchs (1898: 31), Duden (71902: 52; 101930: 74), Ammon (1903: 55), Klenz (1904: 30), Sanders (81910: 118), Sterzinger (1916: 1001), TDW (1939b: 398) und ÖWB (241951: 30), sowohl trüb als auch trübe Rank (1892: 862), Duden (71902: 348; 101930: 567), Ammon (1903: 193), Klenz (1904: 98), Sanders (81910: 721), Kelemen (231924: 290), Sterzinger (1935: 933) und ÖWB (241951: 218). 139 Brod übernahm auch die Form trübe in seine Kafka-Ausgabe (Kafka 1964: 206, 289). 140 Sanders (21891b: 327), Pinloche (21931: 445), Saalfeld (1912: 720), Herzer/Prach (1916: 402), Kelemen (231924: 232), Mandrović (21943: 133) und Siebenschein (1944: 243) geben nur präzis an. Lediglich Sterzinger (1931: 845) und ÖWB (241951: 152) lassen beide Formen gelten. Gegenwärtig gibt Duden (62006: 804) die lange Variante als gemeindeutsch an; die kurze sei allerdings in Österreich und in der Schweiz die häufigere. 141 Zu präzise in den Prager Printmedien vgl. SW (1921c: 5) und PP (1921c: 7).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

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ist das von Kafka mit Bursche142 alternierend verwendete Bursch (V.272/17; Sv.479/3– 4,125*), da es überregional in zeitgenössischen Wörterbüchern143 zum Wortschatz des Standarddeutschen gezählt wurde.144 Entsprechend beließ auch Brod in seiner Edition diese Form des Substantivs (Kafka 1953b: 235). Daneben liegen im Korpus auch standarddeutsch auf ‑e endende Feminina im Nominativ oder Dativ Singular in apokopierter Gestalt vor:145 das ist aber Nebensach (Pe.127/5), Als die Violin zu spielen begann (Dv.183/17), Die Violin verstummte (Dv.186/25), Da läutet die Türglock(.>e). (N2v.248/25), zu eine(m>r) nahen kleinen [Altar] Seitenkap(pA>e)ll{e} (Pv.280/25–26), aus der Tasch (Ve.41/8=Dv.98/24), die Geschicht erzählt 146

(Pe.300/10).

Auch im Nebensatz soweit meine Schwäch(es>e) es erlaubt (Pv.137/26–27) dürfte die Tendenz zur e-Apokopierung des Substantivs die Enklise des folgenden Personalpronomens begünstigt haben.147 Solche Formen beurteilte Lehmann (1899: 28) als in Wien verbreitete Fehler im Schriftdeutschen. Auch entsprechende Texteingriffe des Kurt Wolff Verlages (Dv.98/24; Dv.183/17; Dv.186/25) und Max Brods (Kafka 1953b: 179; 1965: 119, 262) legen eine Zuordnung zum Substandard nahe. Dies gilt umso mehr, als es sich auch aus heutiger Sicht nicht um eine phonetische Erscheinung der allgemeinen Umgangslautung bzw. der Standardaussprache mit verminderter Artikulationspräzision handelt.148 Obwohl zu zwei Dritteln nicht autokorrigiert, lässt die geringe Zahl der Belege nicht die Annahme zu, Kafka sei hier von schriftsprachlichen Formen ausgegangen.

142 Vgl. P.31/19,25; S.391/1; V.274/11; V.277/5; V.279/18; V.288/18; V.339/22. 143 Vgl. u. a. Fuchs (1898: 37), Duden (71902: 57; 101930: 82), Ammon (1903: 57), Klenz (1904: 34), Paul (21908: 97–98), Sanders (81910: 130), Sterzinger (1916: 1090), Ristić/Kangrga (1936: 292) und Siebenschein (1936–1938: 561). 144 Vgl. die Verwendung bei Kisch (51922: 74, 108, 188, 192, 196, 208, 225). 145 Vgl. auch die apokopierte Form des Namens Theres (Ve.207/6). 146 In einem von sieben Fällen (14,29 Prozent) könnte die Apokope auch durch das e am Beginn des folgenden Wortes begünstigt worden sein. 147 Vgl. hierzu auch den Korpusbeleg dacht{e} er (Sv.336/16). 148 Vgl. z. B. Krech/Kurka u. a. (31971: 66), Duden (82009: 56–60) und Krech/Stock u. a. (2009: 105–106); s. hierzu auch Kap. 5.1.1.1.7.

224

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Ein Blick auf die deutsche Dialektlandschaft ergibt für die standarddeutsch auf ‑e auslautenden Substantive die auch für entsprechende Adjektive gültige Dreiteilung des deutschen Sprachraums, die König (162007: 159) am Beispiel des Adjektivs müde und der Dativ-Flexionsendung in Hause aufgezeigt hat:149 Demnach wird das auslautende ‑e (aller Genera, v. a. aber bei Feminina) in zwei nicht zusammenhängenden Großräumen (einerseits im oberdeutschen150 und fast im gesamten westmitteldeutschen,151 andererseits im nord- und ostniederdeutschen Dialektraum)152 apokopiert. In den dazwischen liegenden west- und ostfälischen153 sowie ostmitteldeutschen Dialekten154 bleibt das auslautende ‑e als [ə] erhalten. Entsprechend werden die bei Kafka apokopierten Feminina Sache und Geschichte auf dem Gebiet der ober- und westmitteldeutschen Dialekte mündlich als Sach und G(e)schicht realisiert. Auch Glocke kommt hier (neben der Form Glocken) flächende­ ckend in apokopierter Form vor.155 Als Fremdwort gehört Violine meistens nicht zur Lexik der Mundarten, unterliegt bei Verwendung allerdings generell der gleichen Verkürzung.156 Im Schriftdeutschen werden vergleichbare Formen von den fehlerlinguistischen Studien zum ober- und westmitteldeutschen Raum übereinstimmend als Kontrastnivellierungen gedeutet.157 Der Eindruck eines Regionalismus vom Typ A1/D[O+wM] wird allerdings durch Eichhoff (1978: 34; K. 118) relativiert, der anhand der phonetischen Realisierung des Wortes Leute die ausgemachte Verbreitung der Apokope beim Substantiv für die 149 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.7. 150 Zu diesem vgl. Zehetner (1985: 55), Merkle (61996: 93–94), Mayr (21930: 46–47), Franke (1892: 265), Hörlin (1988: 202), Ammon/Loewer (1977: 60) und Besch/Löffler (1977: 58). 151 Zu diesem vgl. Wegera (1977: 135, 204), Hasselberg (1979: 131), Post (21992: 115) und Drenda (2008: 40–41, 96–99). 152 Zu diesem vgl. Kettner (1978: 289), Stellmacher (1981: 64–65) und König (162007: 159). 153 Zu diesen vgl. Stellmacher (1981: 64–65); entsprechend gehören normwidrige e-Apokopen beim Substantiv nicht zur dialektbezogenen Fehler-Typologie des westfälischen Dialektareals (Niebaum 1977: 60–62). 154 Zu diesen vgl. Franke (1892: 265), Glück (1938: K. 14), Rosenkranz (1964: 13), Seibicke (1967: 24), Becker (1969: 239) und Stellmacher (1973: 7–8). 155 Zu den apokopierten Formen in den einzelnen oberdeutschen Dialektarealen vgl. Zehetner (1977: 75; 42014: 347), Schmeller (21872: 972; 21877: 209), WBÖ (1998–2009: 1757), WMF (2000: 134), Kalau (1984: 118), SWB (1908: 159; 1911: 463, 699; 1920: 514), BWB (1925–1940: 473; 1942– 1974: 157, 383, 432), VBW (1960: 560, 1145; 1965: 807), zu den westmitteldeutschen Dialekten vgl. SHW (1965–1968: 1498; 1969–1972: 1285, 1391–1392; 1989–1998: 7), PWB (1969–1975: 249; 1976–1980: 244, 349–351; 1987–1993: 682) und Bücher (1986: 205, 453, 572, 652). 156 In den bairischen Dialekten ist die e-Apokope bei Fremdwörtern z. B. die Regel (Zehetner 1977: 75). 157 Vgl. Zehetner (1977: 75), Kalau (1984: 121), Koller (1991: 58–59), Ammon/Loewer (1977: 60), Besch/Löffler (1977: 58), Hasselberg/Wegera (1976: 46), Henn (1980: 31) und Klein/Mattheier/ Mickartz (1978: 87).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

225

Gegenwart bereits auf der Ebene der regionalen Umgangssprachen verortet. Auch Wiesinger (22008: 53, 59) betrachtet Formen wie Aug und Sonn in Österreich als umgangssprachlich. Für eine gemäßigte Standardnähe spricht zudem, dass apokopierte Nomen nicht nur vereinzelt in der Prager Tagespresse (PT 1921: 2; PP 1921c: 10), sondern auch in der Prosa Prager Schriftsteller auftauchen: bei Brod zumindest in wörtlicher Rede,158 bei Kisch sogar in der Erzählhandlung.159 Insofern kann man für das frühe 20. Jahrhundert von einem Grenzfall des Standards ausgehen. Zu diskutieren bleiben in jedem Fall die im Korpus belegten Formen von Kapelle und Tasche: Fest steht, dass beide Substantive in den ober- und westmitteldeutschen Dialekten meist nicht apokopiert, sondern mit dem Flexiv ‑n gebildet werden (Zehetner 1977: 101–102; Merkle 61996: 94; Ebner 21980: 220).160 Kalau (1984: 118) vermutet, es handle sich hierbei um ein erstarrtes Flexionsmorphem aus den mittelhochdeutschen obliquen Kasus (inklusive Plural), „das in den Stamm integriert zu sein scheint, da es in allen Kasus auftritt.“161 Gerade im Dativ ließe eine Kontrastnivellierung hier demnach typischerweise nicht einen e-Abstoß erwarten, sondern die auf ‑(e)n auslautenden Formen Kapell(e)n und Tasch(e)n (Zehetner 1977: 75). Der komplette Endungsausfall kann jedoch, wie Kalau (1984: 121) zeigt, auch bei den Feminina auf ‑en als Kontrastverschiebung auftreten: In diesem Fall empfindet der Dialektsprecher die Endung ‑en als mundartlich und tilgt sie hyperkorrekt.162 Im gegebenen Fall läge dann im betrachteten Fehlerkorpus ein charakteristisches Verhältnis von sechs Direktanzeigen (75 Prozent) zu zwei ,Hyperkorrekturen zweiten Grades‘ (25 Prozent) vor. Allerdings ist auch das Jiddische in die Betrachtung einzubeziehen; denn innerhalb seiner bairischen Züge neigt dieses zur durchgehenden Apokopierung der standarddeutsch auf ‑e auslautenden Substantive (Beranek 21957: 1968; 1965: 224; Krogh 2001: 8) und bildet demzufolge glok und tasch endungslos (Wolf 1962: 118, 183; Lötzsch 1990: 82, 168). Gerade in diesem Punkt könnte es Kafkas e-Ausfälle zusätzlich begünstigt haben, dann sogar in Form von Direktanzeige. Hält man diese Möglichkeit für plausibel, so ergibt sich ein charakteristisches Verhältnis von acht Kontrastnivellierungen (57,14 Prozent) zu

158 Vgl. z. B Ruh, Raß, Hetz, Aug und Anfangsbuchstab (Brod 1911: 102, 152, 197, 210, 240). 159 Vgl. u. a. Hirt, Gekreisch und Hitz (Kisch 51922: 5, 10, 136). 160 Vgl. Schmeller (21872: 627, 1269), WMF (2000: 160), WUF (1996: 94), BWB (1925–1940: 429; 1975–1997: 66), VBW (1960: 535; 1965: 19) und SHW (1965–1968: 1405; 1973–1977: 1093). 161 S. hierzu Kap. 5.2.3.1. 162 Vgl. die gleiche Deutung bei Hasselberg/Wegera (1976: 46, 49), Ammon/Loewer (1977: 60) und Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 88).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

sechs Kontrastübertreibungen (42,86 Prozent), die in Fällen redundanter e-Endungen bei Substantiven aller Genera ausgemacht werden können: Sch(eue>eu) (N1v.287/12), das Gebüsc(he>h) (N2v.411/12–13), für {eine} […] lebensunfähige Ar(te>t) (N2v.451/4–5), einen genauen Überblick[e] (N2v.582/2), ich beobachte […] meinen Schlaf[e], (N2.593/11–12), hatte den Arm[e] um die Mutter gelegt (Dv.165/25).

Wie bei den schwach deklinierten, attributiven Adjektiven163 lässt sich ein interferenzielles Einwirken der apokopierenden niederdeutschen Dialekte auf die Prager Sprachlandschaft aufgrund der geographischen Distanz als unwahrscheinlich betrachten. Kafkas e-Apokope bei Substantiven kann somit als Regionalismus des Typs A1/rU(d)[O+wM] kategorisiert werden. 5.1.1.2  Formen der Entrundung Mit Blick auf die Umlaut- und Diphthong-Realisierung fällt im Korpus im Weiteren die Entrundung von standarddeutsch ö, ü und eu zu e, i und ei (bzw. e) auf.164 Das bereits im 17. und 18. Jahrhundert in Prager Drucken verschriftlichte Lautungsphänomen (Povejšil 1980: 40; Skála 1991: 136) wird durch Zeitzeugen (Torberg 1975: 122, 126, 133; Stein 1976: 13) auch für das frühe 20. Jahrhundert als in Prag allgemein verbreitet bestätigt.165 Als Direktanzeigen darf man die folgenden Belegstellen im Manuskript betrachten: M(e>ö)glich (Pv.131/11), (e>ö)fters (Pv.275/3), hierherge(r>h)ören (Vv.38/13–14=Dv.96/9–10), T(ie>h)ür (Pv.179/26), T(ie>ü)r (Pv.258/24), w(i>ü)rd{e}

167

166

(Sv.162/9(1)3*,4*), T(ier.>ür)

163 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.7. 164 Zu Formen der Entrundung in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2005: 26; 2007a: 168; 2007b: 198; 2008a: 86). 165 In Brods (1911: 11) Prosa sind Einzelfälle von Entrundung in wörtlicher Rede wohl als Element fiktiver Mündlichkeit aufzufassen: wenn ihr wißtet. 166 Auch die Belegstellen N(x>ö)tige (Sv.441/8) und Druckkn(x>ö)pfen (Vv.30/27=Dv.88/23) deuten aufgrund des bereits niedergeschriebenen Wortbestandteils die Korrektur einer normwidrigen ö-Entrundung an. 167 Denkbar wäre hier allerdings auch eine Modifizierung des Hilfsverbs werden vom Bestandteil einer Futur-Konstruktion (wird) zum Bestandteil einer Konjunktiv-II-Bildung (würde).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

168

(Sv.436/12), l(ie>ü)gen (N1v.218/13), w(i>ü)tend (N1v.242/2),

227

T(ixx>ü)r (N2v.344/4(2)),

[einle(i>u)chtender] (Pv.9/22), E(ro>u)ropa (Vv.228/24), tre(i>u) (N1v.229/21).

Offenbar hyperkorrekt verschriftlichte Kafka einmalig den Diphthong im Adjektiv leicht als ‹eu›: mit le([u]>i)chten Kopfschmerzen (Vv.258/25).169 Willomitzer (61894: 4) und Lehmann (1899: 13, 21, 22–23) betrachteten solche Formen als verbreitete Fehler österreichischer Mittelschüler in der Schriftsprache. Gerade die im Korpus aufgefallenen Wörter treu und leuchten listete Willomitzer unter jenen Beispielen auf, bei welchen seiner Ansicht nach oft gegen die richtige Aussprache der gerundeten Diphthonge verstoßen werde. Lehmann (71892: 5–6) sah in seinem Leitfaden sogar entsprechende Distinktionsübungen mit Minimalpaaren vor. Da Kafka sich durchgehend selbst berichtigte, ist evident, dass auch er einen Normverstoß erkannte. Es handelt sich somit um eine Interferenz aus dem Substandard. Die Entrundung der mittelhochdeutsch gerundeten Umlaute erfasst als sprachliches Phänomen nicht nur beinahe den gesamten oberdeutschen, sondern auch den Großteil des mitteldeutschen Sprachraums170 und ist nicht zuletzt für das Jiddische charakteristisch (Sapir 1915: 244–245; Beranek 21957: 1965; 1965: 224; Bin-Nun 1973: 256). Um den in Kafkas Deutsch interferenziell wirksamen Regionalismus präzise lokalisieren zu können, ist ein differenzierender Blick auf die einzelnen vorgefundenen Entrundungsprodukte zu werfen: Nach König (162007: 148) wird das in den Korpusbelegen betroffene [y:] in den mittel- und südbairischen171 ([i:a]) sowie den meisten schwäbi-

168 Die mehrfache Korrektur von gleichgiltig zu gleichgültig (Dv.70/8; Dv.265/1; Dv.306/3) bzw. end‑/ entgiltig zu endgültig (Sv.134/12; Dv.17/12; Dv.44/5; Dv.124/16; Dv.371/17; Dv.374/4) ist dagegen nicht als Bereinigung einer verschriftlichten Entrundung zu betrachten. Vornehmlich in der zu Kafkas Lebzeiten gedruckten Prosa auftretend, ist sie vielmehr als Beseitigung eines lexikalischen Austriazismus durch Kafkas Leipziger Herausgeber zu interpretieren. Noch in ÖWB (241951: 54, 79) werden gleich‑/endgiltig wie gleich‑/endgültig als hochsprachliche Varianten angegeben. 169 Auch in den folgenden Fällen könnten Ansätze einer Entrundung von äu zu ei vorliegen: des L(e>ä)utens (Sv.441/3; vgl. N1v.153/16; N1v.274/11(1)9*(1); N2v.561/4), F(e>ä)uste (Vv.31/18=Dv.89/14), l(e>ä)utete (Vv.119/15), dunkelh(e>ä)utiger (Vv.133/13–14), gel(e>ä)utet (Vv.301/4), verl(e>ä)ugnet (N1v.248/25), Abendl(e>ä)uten (N1v.316/9=Dv.447/5), unseres Fr(e>ä)uleins (N2v.325/16), l(e>ä)u­tete (Dv.313/6). Genauso gut denkbar ist allerdings die Berichtigung einer orthographischen Verwechslung von ‹eu› und ‹äu›, wie sie etwa durch die Belegstellen Geb(eu>äu)des (N1v.37/27), L(euA>ä)uten (N1v.153/16) und l(eu>äu)te (N2v.296/20) dokumentiert ist. 170 Dagegen bleibt der niederdeutsche Sprachraum davon so gut wie unberührt. 171 In den nordbairischen Dialekten treten hingegen die gestürzten Diphthonge [ęi] oder [äi] an seine Stelle.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

schen und niederalemannischen Dialekten ([i:ə]) als Diphthong realisiert.172 Dagegen entsteht im sonstigen von der Entrundung betroffenen Areal, im Prinzip im ganzen mitteldeutschen Dialektraum,173 entweder der lange Monophthong [i:]174 oder es treten landschaftlich [e:], [ai] oder [oi] an die Stelle von hochdeutsch [y:], Formen, welche die im Korpus verschriftlichten Entrundungsprodukte nicht interferenziell verursacht haben können. Den Eindruck, in der Schreibweise von Tür und lügen mit ‹ie› deute sich der Reflex einer diphthongischen Aussprache an, verstärkt eine Belegstelle, an der Kafka tatsächlich ein hochdeutsch langes ü diphthongierte: getrü(ebA>b)t (Pv.297/11). Ein Blick auf die dialektbezogenen Fehler-Typologien weist in dieselbe Richtung: Die Schreibung des standarddeutschen [y:] bereitet etwa rheinpfälzischen Mundartsprechern keine auffälligen Schwierigkeiten (Henn 1980: 32). Im hessischen und niederalemannischen Sprachraum verursachen mundartbedingte Interferenzen meist die Verschriftlichung eines einfachen ‹i›.175 Im bairischen und schwäbischen Dialektraum führt die phonetische Realisierung von hochdeutsch [y:] als Diphthong dagegen offenbar zu einem besonders häufigen Niederschlag als ‹ie› in der Schrift (Zehetner 1977: 24; Ammon/Loewer 1977: 39). Die Schreibung von Tür als ‹Tier›, die sich im Korpus mehrfach findet, führt Zehetner (1977: 24) sogar explizit als Beispiel für die betrachtete ü-Entrundung in Texten bairischer Mundartsprecher an. Anhand dieser Indizien lässt sich dem Regionalismus, der Kafkas ü-Entrundung zugrunde liegt, die Sigle A1/D[O–] zuordnen. Die phonetische Realisierung von hochdeutsch ö ([ø], [ø:]) als e ([e], [e:]) ist für den Großteil des oberdeutschen Dialektraums,176 flächendeckend aber auch für die angren-

172 S. hierzu die Karte auf Taf. 2. Innerhalb der ostfränkischen (Hörlin 1988: 126) und hochalemannischen Dialekte bleibt hochdeutsch ü dagegen gerundet (Wiesinger 1983a: 1103). 173 Ausnahmen bilden die ripuarischen, nördlichen moselfränkischen, hennebergischen und osthessischen Dialekte (Wiesinger 1983a: 1103; König 162007: 148). 174 Dies gilt in den ostmitteldeutschen und rheinpfälzischen Dialekten (Seibicke 1967: 22; Wiesinger 1983a: 1103; Eichhoff 2000: 33–34; K. 4–59; König 162007: 148). 175 Vgl. hierzu im Detail Hasselberg/Wegera (1976: 24), Wegera (1977: 60), Hasselberg (1979: 38–39) und Besch/Löffler (1977: 29). 176 Vgl. im Einzelnen Weinhold (1867: 26, 45, 67, 77, 82–83), Brenner (1890: 30), Merkle (61996: 15), Hornung/Roitinger (1950: 17), Jakob (1929: 5), Mayr (21930: 80), Schuster/Schikola (1984: 50–51, 57, 64, 193), Ammon/Loewer (1977: 39, 49), Spiekermann (2002: 192) und Besch/Löffler (1977: 29). Ausnahmen bilden die hochalemannischen und ostfränkischen Dialekte (Wagner 1987: 48–49; Hörlin 1988: 126).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

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zenden mitteldeutschen Mundartareale charakteristisch.177 Dass Kafkas Verschriftlichung von hochdeutsch [ø(:)] als ‹e› jedoch nur als oberdeutscher Regionalismus aufzufassen ist, legen erneut die Erkenntnisse der Fehlerlinguistik nahe: Aufgrund des unterschiedlichen Lautstandes der einzelnen Mundarten bereitet der Umlaut ö z. B. den Sprechern rheinpfälzischer und moselfränkischer Dialekte keine nennenswerten Schwierigkeiten in der Schriftsprache (Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 28; Henn 1980: 32). In den hessischen (Hasselberg/Wegera 1976: 24; Wegera 1977: 60; Hasselberg 1979: 38–39) und in den entrundenden oberdeutschen Dialektarealen (Zehetner 1977: 24; Ammon/Loewer 1977: 39; Besch/Löffler 1977: 29) gilt die mundartbedingte Verschriftlichung von hochdeutsch [ø(:)] als ‹e› dagegen aufgrund hoher Frequenz als fester Bestandteil der dialektbezogenen Fehler-Typologie. Demzufolge kann Kafkas ö-Entrundung als Regionalismus des Typs A1/D[O+/–] kategorisiert werden. Mit Blick auf die phonetische Realisierung des hochdeutschen Diphthongs eu ([oi]) gelten ähnliche Verhältnisse: Abgesehen von den entrundungsarmen ostfränkischen Dialekten (Hörlin 1988: 128–129) herrscht im oberdeutschen Sprachraum die bei Kafka durch ‹ei› verschriftlichte Entrundung zu [ai] vor.178 Die gleiche Form gilt für die rheinpfälzischen und moselfränkischen Mundarten (Henn 1980: 33; Post 21992: 85; Drenda 2008: 94). Im sonstigen mitteldeutschen Sprachraum treten bereits andere Entrundungsformen auf179 oder die Rundung wird beibehalten. Auch hier sprechen die Befunde der dialektbezogenen Fehlerlinguistik für die Annahme einer tendenziell oberdeutschen Interferenz für die im Korpus gefundenen Entrundungsbelege: So geben hessische Dialektsprecher hochdeutsch [oi] häufig als ‹ü› wieder, wobei ihnen nur selten Hyperkorrekturen unterlaufen (Hasselberg/Wegera 1976: 30). Sprecher rheinfränkischer Dialekte neigen neben ‹ai› auch zu ‹a› oder ‹e› und schreiben hyperkorrekt typischerweise ‹ä›

177 In den südhessischen (SHW 1978–1985: 725, 1072; Hasselberg/Wegera 1976: 24–25), den rheinund moselfränkischen (PWB 1965–1976: 686; 1991–1999: 233; Henn 1980: 32; Post 21992: 85; Drenda 2008: 114, 150; Wiesinger 1983a: 1102–1104) sowie schlesischen Dialekten (Mitzka 1963: 228) erfolgt diese Entrundung meist wie oberdeutsch von ö zu e, in den obersächsischen Mundarten (Seibicke 1967: 20) daneben auch zu i (WOM 1994: 236, 323; Becker 1969: 251), in den thüringischen auch zu üe (TWB 1965–1976: 686, 952). 178 Dies gilt in den bairischen Mundarten ausschließlich (Zehetner 1977: 24; Merkle 61996: 15; WBÖ 2002: 479), in den schwäbischen neben ui ([ui]) (SWB 1908: 373; 1914: 1204–1205; Ammon/ Loewer 1977: 49), in den niederalemannischen neben ü ([y]), öu ([øu]) und langem i ([i:]) (VBW 1960: 614; 1965: 275; BWB 1925–40: 555; Besch/Löffler 1977: 29). 179 Hier gilt ü ([y]) in den hessischen (Hasselberg/Wegera 1976: 30–31; Wegera 1977: 81), i ([i]) in den thüringischen (TWB 1965–1976: 249; 1983–1990: 240–241) und ä [ε] in den obersächsischen Dialekten (WOM 1994: 83; 1996: 406).

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oder ‹ö› anstelle von ‹ei› (Henn 1980: 33). Eindeutiger passen Kafkas Entrundungsreflexe in die Fehler-Typologien der oberdeutschen Dialektareale, und zwar sowohl in Bezug auf Direktanzeige als auch auf Hyperkorrektur: Denn bairische wie schwäbischalemannische dialektale Interferenzen begünstigen in der Regel die Verschriftlichung von hochdeutsch [oi] als ‹ei›/‹ai›, während hyperkorrekt die Umsetzung von hochdeutsch [ai] als ‹eu›/‹äu› zu erwarten ist (Zehetner 1977: 24; Ammon/Loewer 1977: 49; Besch/ Löffler 1977: 29).180 So lässt sich auch bei Kafkas eu-Entrundung von einem Regionalismus des Typs A1/D[O+/–] sprechen. Das Jiddische, das ö, ü und eu ebenfalls entrundet (Guggenheim-Grünberg 1958: 93; 1973: 72–73, 141), kann allenfalls als Verstärkung einer oberdeutschen Interferenz in Betracht gezogen werden. Denn wie in den ostmitteldeutschen Mundarten und anders als in Kafkas Textbeispielen entspricht dem hochdeutschen [y:] im Jiddischen ein entrundetes [i:] (Sapir 1915: 246; Lötzsch 1990: 91). Da für die tschechische Phonetik Vergleichbares gilt,181 kann man hierin auch ein zusätzliches Indiz gegen Merkmale tschechischer Artikulation in dem von Kafka gesprochenen Deutsch sehen. 5.1.1.3  Formen der Monophthongierung An anderer Stelle lassen sich im Schriftbild Reflexe einer Monophthongierung ausmachen,182 die zum einen den Diphthong au betreffen: Der Ausfall von ‹u› in Riesenma(l>u)lwürfen (N1v.205/12), Anschaungen (N2e.39/16) und Anschaung (N2e.116/1; N2e.642/25=Dv.330/9–10) könnte dabei zunächst auf die in den nord‑/ostoberdeutschen und rheinfränkischen Mundarten geläufige Monophthongierung von au zu a183

180 Der Ausfall von ‹u› in E(ro>u)ropa (Vv.228/24) (s. o.) macht die oberdeutsche Interpretation noch plausibler. Er weist in Richtung der wienerischen Varietät des Bairischen, in der das zu ei ([ai]) entrundete eu ([oi]) zusätzlich der Monophthongierung (vgl. Kap. 5.1.1.3) zu einem langen e bzw. ä ([ε:]) unterliegt (Mayr 21930: 82; Pfalz 1983a: 78; Schuster/Schikola 1984: 193; Moosmüller 1991: 66–69). 181 Vgl. (ober‑)deutsche Entlehnungen im Tschechischen, in welchen hochdeutsch [y:] als [i] bzw. [i:] realisiert wird: mašinfíra (,Lokomotivführer‘), bichle (‚Buch‘ von ‚Büchlein‘), šnuptychl (,Taschentuch‘) (Newerkla 2004: 330, 402, 414). 182 Zu Formen der Monophthongierung in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2005: 26; 2007a: 168; 2007b: 198–199; 2008a: 86). 183 Zu den nord‑/ostoberdeutschen Dialektarealen vgl. Weinhold (1867: 53), Hügel (1873: 10), Hornung/Roitinger (1950: 16), Kranzmayer (1956: 55–67), Pfalz (1983a: 78), Hörlin (1988: 146) und Merkle (61996: 14), zu den rheinfränkischen vgl. Hasselberg (1979: 24) und Post (21992: 77–78).

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hinweisen,184 die auch das Westjiddische kennt (Guggenheim-Grünberg 1973: 34–39; Beranek 1949: 32; 1965: 10–11).185 Entsprechende Normverstöße werden von der Fehlerlinguistik für die bairisch-ostfränkischen sowie hessischen Dialekträume als MundartDirektanzeige im Schriftdeutschen ausgewiesen.186 In Wien und im Nordosten Nieder­ österreichs wird das zu a reduzierte au außerdem offen und verdumpft als „Zwischending, das weder A noch U ist“ (Mayr 21930: 83) artikuliert,187 was sich möglicherweise als ([o]>au)fgenommen (Vv.403/20) in Kafkas Varianten niederschlug. In {(auf>off)enbar} (Dv.153/18(2)) ließe sich entsprechend ein Fall von Kontrastübertreibung sehen. Kontrastverschiebungen in Gestalt hyperkorrekter Reduzierung des Diphthongs auf seinen zweiten Bestandteil scheinen demgegenüber an folgenden Belegstellen dokumentiert: [zwischen] {unter} 4 (U>A)ugen (Pv.119/6), ob [irgendwo] (u>a)us irgendeinem […] Zimmer (Pv.325/8–9), aber (u>a)us alter Freundschaft (Vv.146/21–22), Du musst (u>a)ugenblicklich zum Arzt (Dv.131/13–14).

Auch wenn sich das Verhältnis mutmaßlicher Direktanzeigen und Hyperkorrekturen als ausgewogen und somit nicht charakteristisch erweist, ist die Annahme einer im Kern ostmittelbairischen Interferenz dadurch nicht widerlegt; denn es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Verschriftlichung von au als ‹u› letztlich sogar als Direktanzeige auf den oben beschriebenen, zwischen a, o und u schwankenden Monophthong weist, der im Wienerischen und in den bairischen Dialekten Niederösterreichs anstelle des hochdeutschen Diphthongs au realisiert wird. Gestützt wird diese Annahme durch Stellen im Korpus, die möglicherweise eine Monophthongierung des Diphthongs ei zu a dokumentieren. Typisch für den oberdeutschen

184 Nicht charakteristisch ist diese Monophthongierung dagegen für die westober- (Ammon/Loewer 1977: 49; Besch/Löffler 1977: 37) und ostmitteldeutschen Mundarten (Franke 1892: 284–285). 185 Bei zwei von drei Belegen lässt sich der Ausfall eines ‹u› aber auch durch Kurzschreibung erklären. 186 Vgl. Zehetner (1977: 36), Reitmajer (1979: 127), Koller (1991: 20) und Hasselberg/Wegera (1976: 30–31). Für den rheinpfälzischen Dialektraum verzeichnet Henn (1980: 33) indes keine vergleichbaren Normverstöße. 187 Vgl. die Darstellung bei Hügel (1873: 10), Luick (21923: 39), Kranzmayer (1956: 67–68; K. 11), Seidelmann (1971: 146–150), Pfalz (1983a: 78), Schuster/Schikola (1984: 60–61, 193) und Moosmüller (1991: 66–69). Steinhauser (21978: 12–16) und Wiesinger (22008: 55) sehen hierin das Resultat phonetischer Interferenzen des Tschechischen im Wienerischen des 19. Jahrhunderts (Sprachen-Kontakt).

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und unmittelbar angrenzenden mitteldeutschen Dialektraum188 wären dabei die Verschreibungen bei(an>ein)ander (Pv.244/5; Vv.73/18) und an(an>ein)andergepreßt (N1v.33/9). Einschränken lässt sich das Verbreitungsareal durch Belegstellen, an welchen das gleiche phonetische Phänomen im Anlaut vorliegt, wo es der in Wien und im nordöstlichen Niederösterreich üblichen Realisierung von ei als helles a189 entspricht:190 Kinder liefen (aA>e)in und aus (Pv.56/4), aus dem [Dunkel (a>ei)nes] dunklen Winkel (Vv.380/17),191 daß es keinem anfiel192 (Dv.178/26). Hinzu kommt eine Anzahl von Autokorrekturen, die den Ausfall eines ‹i› nach ‹e› (einmalig die Ersetzung von ‹i› durch ‹e›) bereinigen. Hier hat ein Reflex der im Wienerischen geläufigen Monophthongierung von hochdeutsch ei ([ai]) zu e bzw. ä ([ε:])193 im Schriftbild Niederschlag gefunden (Luick 21923: 39; Schuster/Schikola 1984: 193; Moosmüller 1991: 66–69). Mayr (21930: 82) bezeichnet den bewussten Monophthong als „eine Art Zwitter zwischen E und I mit einem leichten Anklang an den Nasenlaut.“ Pfalz (1983a: 78) spricht von einem „palatovelar gefärbte[n] (etwas getrübte[n], gequetschte[n]), sehr offene[n] ä“, das in Wien und im Nordosten Niederösterreichs „bis weit hinauf in den Schichten des Bürgertums“ (Pfalz 1983c: 210) den Zwielaut ai ersetze:

188 Zu den oberdeutschen Dialekten vgl. Zehetner (42014: 110), Hornung/Roitinger (1950: 17, 24, 38), Hügel (1873: 11), Ebner (21980: 217), Jakob (1929: 22), Hörlin (1988: 144), SWB (1908: 585–587), BWB (1925–1940: 47, 138) und VBW (1960: 681), zu den hessischen, vogtländischen und erzgebirgischen vgl. Franke (1892: 281–282) und Hasselberg/Wegera (1976: 31). Im Obersächsischen fehlt diese Erscheinung. 189 S. hierzu die Karte auf Taf. 3 und vgl. Hügel (1873: 11), Jakob (1929: 6), Schuster (1951: 156), Kranzmayer (1956: 60, 63), Ebner (21980: 217), Pfalz (1983a: 79), Schuster/Schikola (1984: 65, 193) und König (162007: 174). 190 Auch das Westjiddische kennt diese Erscheinung (Beranek 1949: 31; 21957: 1975; 1965: 8–9; Guggenheim- Grünberg 1958: 91, 98; 1973: 30–31). Ihre Verbreitung auch in Teilen der ostfränkischen (Hörlin 1988: 144; Nagl 1983: 72–73), südbairischen und rheinfränkischen Dialekte (Eichhoff 2000: 33; K. 58) kann mit Blick auf das in Prag gesprochene Deutsch aufgrund geographischer Gegebenheiten vernachlässigt werden. 191 Bei den ersten beiden Beispielen könnte Kafka allerdings auch zur Verschriftlichung der hochdeutschen Lautung durch ‹ain› angesetzt haben. 192 Nach dem Kontext ist einfiel gemeint. 193 Steinhauser (21978: 12–16) und Wiesinger (22008: 55) sehen auch hierin das Ergebnis slawischer phonetischer Interferenzen. Demnach hätten die im 19. Jahrhundert nach Wien gezogenen tschechischen Industriearbeiter eine gepresste Artikulation einhergehend mit der Monophthongierung des ei zu e/ä verbreitet.

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begre(e>i)fen (Pv.127/4), [die ganze Bre{i}te] (Pv.140/16; vgl. Vv.160/22), über die Gere{i}ztheit der Beamten (Pv.158/16), [herbe{i}(f>r)ufen] (Pv.171/7), daß er im Namen Klamms arbe{i}tet (Sv.183/7–8), ich rede hier be{i}weitem nicht nur von Frieda (Sv.310/14–15), hatte bestre{i}ten können (Vv.59/12–13), jede Fe(e>i)nheit (Vv.393/7), alle(n>in) (N1v.77/14), ich ble{i}be stehn (N1v.156/16), Be{i}seitesprecher (N1v.184/21), E(lA>i)le (N2v.222/10(2)), e(lA>i)ligst (Dv.193/1), eines großen Stre{i}tes (Dv.196/24), 194

bis sie Dich fast zweitelt

(Dv.304/6–7).

Als mögliche hyperkorrekte Schreibungen Kafkas könnten in diesem Zusammenhang Textstellen in Frage kommen, an welchen nach ‹e› ein redundantes ‹i› eingefügt wurde: seine Angele(i>g)enheit (Pv.231/11), be(i>l)eidigen (Pv.290/22), e(in>n)dlich (Pv.350/20(5)), Verabre(i>d)ungen (Sv.197/24), Amtsw(eixx>ege) (Sv.261/20), Vorb([ei]>e)reitungen (Sv.356/19–20), Die All([ei]>een) (N1v.81/9), gebe(itA>te)n (N1v.184/6), nach menschlicher Re(i>c)hnung (N1v.343/4), 195

sein eigenes We(is>se)n weiter (N1v.346/6(1)), Vorbe(i>r)eitung (N2v.201/13; N2v.464/9–10).

Das Verhältnis normwidriger Monophthongierung (16 Belege bzw. 57,14 Prozent) zu Diphthongierung (zwölf Belege bzw. 42,86 Prozent) spricht für Erstere als Direktanzeige. Analog wäre die Letztere als Hyperkorrektur zu deuten; sie kann daher kaum den Reflex einer direkten Interferenz aus dem Sudetenjiddischen darstellen, wo die Tendenz bestand, ein hochdeutsch langes [e:] als [ai] wiederzugeben (Beranek 1965: 146–147). Zusammenfassend zeichnet sich eine Form des Wienerischen und der im Umland der Stadt Wien verbreiteten ostmittelbairischen Dialekte ab. Die von Kafka zu 90,7 Prozent korrigierten verschriftlichten Monophthongierungen von au zu a, o oder u und von ei zu a oder e lassen sich somit als Regionalismen des Typs A1/D[W+] kategorisieren. 5.1.1.4  Fehlende Umlautung innerhalb der Verbflexion Den Bereich der Verbflexion tangiert eine andere lautliche Erscheinung, die sich schon im Deutsch verschiedener Prager Drucke des 17. Jahrhunderts nachweisen lässt (Povejšil 1980: 29): die umlautlose Flexion der starken Verben mit Stammvokal a, au und o in der

194 Nach dem Textzusammenhang ist zweiteilt gemeint. 195 Bei fünf von zwölf Belegstellen (41,67 Prozent) kommt auch die Antizipation eines im selben oder nächsten Wort folgenden ei als Fehlerquelle in Betracht.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 7:  Die Verbreitung umlautloser Formen starker Verben mit Stammvokal a in der 3. Person Singular (Bsp. schlafen) im deutschen Sprachraum

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2. und 3. Person Singular.196 Dieses fast ausschließlich oberdeutsche Phänomen,197 das auch für das Jiddische charakteristisch ist (Beranek 21957: 1968; 1965: 224; Weissberg 1988: 139), tritt in Kafkas Prosa v. a. beim Verb laufen auf: [lauf(tA>s)t gerderA] (Pv.147/1), Bist ganz offen, laufst zu ihr (P.147/1–2), da lauft jeder vorbei (V.9/21), man [hebt die Füsse wie] lauft [und] {aber} kommt nicht weiter (Vv.197/4–5), es lauft unter dem Wind durch (V.197/6–7), er lauft mit mir (N1.129/6), W lauft [wie vor Gespenstern] hinter das Ruhebett (N1v.288/9(1)9*(3)), er lauft im Zimmer auf und ab (N1.414/9–10), Lauft aber irgendein anderes von den Tieren so sinnlos weg wie ich(,>?) (N2v.382/5–6), und lauft in ihrem Dienst herum (N2.382/9), ein Mann lauft ins Hangar (D.406/6).

Daneben findet sich ein Beispiel für eine analoge Beugung des Verbs raten: Du rathest mir, heute nacht noch hierzubleiben (N1.26/6–7). Dass diese Flexionsform um 1900 in Wien wie in Prag als normwidrig, wenngleich dialektbedingt weit verbreitet galt, dokumentieren die einschlägigen Kodizes: Willomitzer (61894: 47, 231–232) warnt explizit vor ihr, während Lehmann (71892: 66; 1899: 31–32) gerade die von Kafka ohne Umlaut gebeugten Formen von laufen und raten zu den häufigsten Aufsatzfehlern seiner Wiener Schüler bei der Konjugation des Verbs zählt. Nicht zuletzt wertet auch die kontrastive Fehlerlinguistik die im Korpus vorgefundenen Flexionsformen als Dialekt-Direktanzeigen, die häufig in schriftlichen Texten oberdeutscher Mundartsprecher auftreten (Zehetner 1977: 109; Ammon/Loewer 1977: 74; Besch/Löffler 1977: 67). Wie aus Kummer (31892: 56, 71–72) ersichtlich, wurde Kafka die Umlautung der betreffenden Verben im schulischen Deutschunterricht als Norm vermittelt. Auch war er sich offenbar bewusst, dass anderswo (d. h. im Deutschen Reich) ausschließlich die Flexion mit Umlaut als standardkonform galt. Dies lässt sich u. a. aus einer TagebuchNotiz schließen, die zugleich andeutet, dass Kafkas persönliche Sprachpraxis im Alltag davon abwich: „Ich kann es nicht verstehn und nicht einmal glauben. Ich lebe nur hie und da in einem kleinen Wort, in dessen Umlaut (oben ,stößt‘) ich z. B. auf einen

196 Zu diesem Flexionsphänomen in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2005: 27; 2007a: 174; 2007b: 199; 2008a: 87). 197 Bei Ausnahme der ostfränkischen Dialekte (Hörlin 1988: 174; Koller 1991: 80–81) ist die umlautlose Flexion der betreffenden Verben im gesamten oberdeutschen Dialektraum (Brenner 1890: 42; Zehetner 1985: 97; Merkle 61996: 47–48; Beranek 1955: 132; Schuster/Schikola 1984: 143; Frey 1975: 136; BWB 1975–1997: 394; VBW 1965: 236–238), darüber hinaus auch in Teilen der rheinpfälzischen Dialekte verbreitet (Eichhoff 1978: 35; K. 123).

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Augenblick meinen unnützen Kopf verliere“ (Kafka 1990b: 38).198 Auch zeigen Belege aus Kafkas privater Korrespondenz,199 dass ihm die umlautlosen Formen zumindest in informellen schriftlichen Textsorten durchaus angemessen erschienen. Eine zwiespältige Haltung gegenüber der Umlautung starker Verben mit Stammvokal a illustriert ferner sein Schwanken zwischen der im Privaten scheinbar präferierten regional markierten Verbflexion und ihrem schulisch vermittelten überregional standardsprachlichen Pendant. Besonders aussagekräftig sind in dieser Hinsicht Stellen im Manuskript, an welchen Kafka innerhalb eines kürzeren Textabschnitts sowohl lauft als auch läuft verwendete: W lauft [wie vor Gespenstern] hinter das Ruhe- × (Läuft>Eilt) durch die Mitteltür hinaus bett (N1v.288/9(1)9*(3)).

(N1v.288/9(2)70*).

Ein punktuelles Zögern beim Setzen oder Auslassen der Umlautzeichen deuten zudem Fälle offensichtlicher Kontrastübertreibung an. Unter diesen fällt besonders die Beugung des Verbs fragen mit Umlaut auf, eine Form, die Zehetner (1977: 146) als „Hyperurbanismus“ bezeichnet:200 Der Herr frägt ob ein Tischler Lanz hier wohnt (P.56/16), die Leute st(ä>a)nden dort in Reihen (Pv.61/23), daß ihr für alles [ge], was ich Euch auftrage, […] die Verantwortung trägt (Sv.34/2–4), die Gehilfen, die offenbar […] {gar nicht daran d(x>ä)chten} sich anzuziehn (Sv.203/19–20), niemals hätte K. ged(ä>a)cht (Sv.279/10–11), [deshalb fängt Ihr plötzlich […] Euch zu fürchten an] (Sv.327/17), Derjenige […] st(ä>a)mpfte mit den Füßen (Sv.433/4–7), Ihr schläft und inzwischen waren Diebe da (Ve.161/9–10), Jetzt also fängt gefälligst zu suchen an (Ve.362/26–27), Wohin fährt (i>I)hr denn? (Vv.380/24), Ihr bläst ja alle schlecht (Ve.392/27–393/1).

Richard Thieberger (1979: 197) hat in diesem Zusammenhang vermutet, dass sich Kafka am Klang der hochdeutsch umlautfähigen Verben in der 2. und 3. Person Singular regelrecht störte. Eine zumindest ambivalente Haltung deutet ein Tagebuch-Eintrag an:

198 Der vorangehende Tagebuch-Eintrag (Kafka 1990b: 38) legt die Lektüre einer (u. U. im Deutschen Reich erschienenen) Übersetzung eines Romans von Charles Dickens als Kontext der Äußerung nahe. 199 Vgl. u. a.: „Fahrt Frl. Ilonka irgendwohin?“ (Wetscherek 2003: 18); „was lauft mir denn da alles durch den Kopf “ (Kafka 1999a: 379); „der Flieder – sterbend trinkt er, sauft er noch“ (Kafka 1958: 491). 200 Kummer (31892: 61) schließt den Umlaut im Präsens immerhin nicht von der Norm aus, wenn er auch hinzufügt: „[D]och sind die schwachen Formen richtiger.“

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„,Wenn er mich immer frägt‘ das ä losgelöst vom Satz flog dahin wie ein Ball auf der Wiese“ (Kafka 1990b: 9). Dennoch spricht einiges dafür, dass Kafka die schulisch erlernte Norm zumindest im Hinblick auf die Stilebene seiner Literatur prinzipiell als gültig betrachtete und sich über den regionalen Charakter der umlautlosen Form im Klaren war: Zum einen benutzte er in seiner Prosa läufst/läuft (33-mal201) und rätst/rät (dreimal202) deutlich häufiger als die jeweiligen umlautlosen Varianten, nämlich in jeweils 75 Prozent der Fälle. Zum anderen lässt sich zumindest an einem Beispiel aus dem Heizer203 belegen, dass er bei der Vorbereitung seiner Prosa für eine Veröffentlichung offenbar dazu neigte, die fehlende Umlautung zu ergänzen oder zumindest entsprechende editorische Eingriffe zu akzeptieren. Ansonsten kommen laufst und lauft lediglich in Texten vor, die nicht für eine Drucklegung überarbeitet wurden.204 Nicht zuletzt sind alle anderen Verben der sechsten und siebten Ablautreihe mit Stammvokal a in Kafkas Erzähltexten ausnahmslos gemäß den Vorgaben der Grammatiken flektiert.205 Insofern konnte sich auch Max Brod206 dazu berechtigt fühlen, in seiner Kafka-Ausgabe fehlende Umlaute zu ergänzen (z. B. Kafka 1953b: 171; 1965: 136).

201 Vgl. P.90/24; S.117/7; S.389/7; Sv.404/7,92*; Sv.485/8; N1v.233/26; N1.248/6–7; N1.283/26; N1v.288/9(2)70*; N1.303/2; N1.373/4–5; N2.36/15; N2.64/14; N2.128/14; N2.359/7; N2.380/12,13; N2v.406/8; N2v.408/2,14–15; N2.409/9; N2.665/8; D.26/9–10,19; D.67/21; Dv.132/21; D.254/19; D.285/3; D.363/20; Dv.401/1–2,88*; D.403/16–17; Dv.406/6; D.424/1–2. 202 Vgl. S.110/20–23; N2.36/1; N2.626/21=D.324/5. 203 Heißt es im Manuskript noch Da lauft jeder vorbei (V.9/21), lautet das Prädikat in der späteren Druckfassung läuft (Dv.67/21). 204 Die Druckgeschichte der Aeroplane in Brescia dokumentiert zwar, wie ungekehrt ein läuft der Vorlage – ein Mann läuft ins Hangar (D.406/6) – im Druck zu lauft werden konnte (Dv.406/6). Da die umgelautete Form aber in zwei Druckvorlagen (im Typoskript für die Bohemia und in den Umbruchseiten von Brods Buch Über die Schönheit häßlicher Bilder) vorliegt und sich hier keine handschriftlichen Eingriffe finden, handelt es sich wohl um einen Druckfehler, zumal Kafka auch in der nicht veröffentlichten Eingangspassage des Textes laufen mit Umlaut flektierte: [förmlich in die Automobile läuft] (Dv.401/1–2,88*). 205 Überprüft wurden die Verben blasen, fahren, (ge‑)fallen, (an‑)fangen, graben, (ver‑)lassen, schlafen, tragen, wachsen und waschen. 206 Brod benutzte im Briefverkehr mit Kafka konsequent die umgelauteten Verbformen (Nekula 2003a: 107).

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Auch wenn die umlautlose Flexion der betrachteten Verben in Österreich gegenwärtig zur Umgangs- (Wiesinger 22008: 59), nicht aber zur Standardsprache gerechnet wird (ÖWB 24 1951: 116), ist den Formen lauft und ratet aus diachroner Sicht die Schriftsprachlichkeit nicht abzusprechen: Zum einen war lauft der damaligen Prager Pressesprache geläufig (PT 1921: 5; PP 1921b: 2); zum anderen teilen zumindest einige der böhmischen Nachschlagewerke die Zurückweisung der Grammatiken nicht und zählen die umlautlosen neben den umgelauteten Flexionsformen von laufen (Sterzinger 1931: 1479; Kumprecht 31940: 213) und raten (Sterzinger 1931: 966) zum Standard des Deutschen. Dass dies keine rein böhmische oder Prager Perspektive war, erweist die Übereinstimmung bezüglich laufen mit Ristić/Kangrga (1936: 943), die bei raten sogar ausschließlich ratest/ratet fordern (Ristić/Kangrga 1936: 928). Die betrachtete Konjugation beider Verben kann demnach als Regionalismus des Typs A2/rU(d)[O+/–]-rS(d)[Ö] bestimmt werden. Die scheinbar ebenfalls oberdeutsch bedingte Flexionsform ladet in den Beispielen daß er den Mann […] zum Eintritt einladet (P.297/21–22) und durch ihre stumme Anwesenheit ladet sie ein (S.422/10–12) wird von den österreichischen Kodizes hingegen ausnahmslos als normgerechte Variante zu lädt anerkannt (Kummer 31892: 71;207 Lehmann 71892: 66; Willomitzer 61894: 231; Sterzinger 1931: 1479).208 Dass es sich dabei, wie Nekula (2003a: 107) annimmt, dennoch um einen Reflex regionaler Sprachpraxis handelt, verdeutlicht ein Blick in die reichsdeutschen Grammatiken: Während der in Bamberg verlegte Winter (21896: 52) sowohl lädst als auch ladest gelten lässt, verzeichnet der in Hannover erschienene Heyse (251893: 312) die zweite Variante nicht. Wohl mit Rücksicht auf diese norddeutsche Standardauffassung korrigierte Max Brod das an sich normkonforme einladet in seiner Kafka-Edition zu einlädt (Kafka 1964: 389; 1965: 260). Dessen ungeachtet kann die nicht umgelautete Form unter der Sigle B2/rS(d)[O+/–] einem süddeutschen Regionalstandard zugeordnet werden, der nach Eichhoff (1978: 35; K. 123) auf dem bereits eingangs umrissenen, vorwiegend oberdeutschen Areal gültig war.209

207 Kummer (31892: 62) schreibt für die 2. und 3. Person Singular Indikativ Präsens des Verbs laden in der Bedeutung ,berufen‘ die Formen ladest/ladet, in der Bedeutung ,auferlegen‘ die Formen lädst/ lädt vor. 208 Ihre Verwendung ist auch in der Selbstwehr nachweisbar (SW 1921c: 8). 209 Zu weiteren Besonderheiten im Vokalismus der im Korpus verwendeten Verben, die als regionalsprachlich interpretiert werden können, aber deutlicher der Morphologie zuzuordnen sind, s. Kap. 5.2.1.1 und 5.2.1.5.

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5.1.1.5  Graphemisch markierte Schärfung bzw. Dehnung im Bereich der Vokalquantität210 Die Untersuchung des Vokalismus im Korpus fördert im Weiteren insgesamt 477 Verschreibungen zu Tage, die u. U. als Reflexe einer normwidrigen Silbenschärfung bzw. ‑kürzung oder aber Silbendehnung gedeutet werden können. Im ersten Fall handelt es sich um Beispiele von Konsonanten-Doppelung nach Diphthong sowie standarddeutsch langem (aber auch kurzem) Vokal: zweif(f>e)llos (Pv.271/27; Vv.68/16–17; Dv.133/4), auf(f>h)ören (Sv.198/19–20), {Stra([ ff ]>f)e} (Sv.224/6), Of(fA>e)nbank (Sv.288/2–3(2)), Nachbarli(ff>ft) (Vv.218/15), Wol(ff>f) (N2v.27/7), des […] (G>K)äf(f>i)gs (N2v.389/2–3=Dv.338/10–11), Nam(me>ens)nennung (Vv.180/7), i(mmA>hm) (Vv.189/20), bekam[m] (N1v.137/20), entströ(mm>m)te (N1v.319/4=Dv.271/26–27), komprommittiert (N1e.416/6), An([n]>tw)ort (Sv.137/13,29*), an([n]>z)unehmen (Sv.145/5), dan(n>k)te (Sv.365/27), Un(n>a)nnehmlichkeiten (Sv.489/13; vgl. N1v.244/22), an(n>e)inanderreibend (N1v.264/10–11), Gegen([n]>g)ewichte (N2v.147/6), Blu(ss>s)e (Pv.20/3–14(2); vgl. N2e.181/21), aufgebla(ss>s)ene (Pv.86/26), ha(ss>st) (Pv.146/13; vgl. Sv.373/16; N2v.462/3), Au(ss>s) alledem (Pv.299/22), de(ss>s) (Sv.14/14), rie(ss>s)igen (Sv.76/6), ich{:} [wie(ss>s) darauf hin,] (Sv.103/15), gewe(ss>s)en (Sv.108/2), glattra(ss>s)ierter (Sv.157/5), bewei(ss>s)t (Sv.221/8), verhältnis(s>m)ässig (Sv.262/19), aussträgt (Sv.288/2–3(3)), Zuk(xx>un)ftsaus(ss>s)ichten (Sv.313/9), gewe(ss>s)en (Vv.162/19; Sv.386/24–25), la(ss>s) (Vv.229/18), zurückgewie(ss>s)en (Vv.241/27), Fau(ss>s)t (Vv.362/7), blie(ss>s)en (Vv.389/23), Pf(a>l)as(s>t)er (N1v.23/12), Wes(s>e)n (N1v.185/16), (GesiA>Ka)tholici(ss>s)mus (N1v.421/6), bla(ss>s)en (N1v.417/6), Bewei(ss>s) (N2v.162/3), Häu(ss>s)ern (N2v.373/11), die(ss>s)es (N2v.623/2–625/4,41*), fa(ss>s)t (Dv.136/20), ganz(z>e)n (Vv.142/4).

Zum anderen fallen orthographische Dehnungszeichen (‹h› nach Vokal, ‹e› nach ‹i›) im Schriftbild aus:

210 Aufgrund der Labilität der Orthographie um 1900 wird im folgenden Teilkapitel nicht zwischen der Schreibung ‹ß› und ‹ss›, bei Fremdwörtern auch nicht zwischen ‹i› und ‹ie› unterschieden. Die Substantive Litteratur (N2.89/2), [Schoos] (N1v.311/10) und ihre Derivative bleiben unberücksichtigt, ebenso die Variantenpaare hieng/hing, gieng/ging und fieng/fing, die (weitgehend) homophonen Wort-Paare Mann/man, wieder/wider, den/denn und das/dass-daß, außerdem Stellen, an welchen es beim Aufeinandertreffen von ‹ss›/‹ß› und ‹s› zum Ausfall eines ‹s› kam (vgl. Kap. 5.1.3.2).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

ti(fA>e)f (Pv.109/3; vgl. N2v.357/21), Bri(fA>e)ftasche (Pv.233/11), ausge(fxxx>hfer)tig (Sv.296/23), ti(fe>ef) (N2v.357/21), l(i>ie)f (Dv.319/9–13,3*–4*(2)), Früjahr (N1e.377/3), i(mA>h)m (Pv.84/2), Un([anemA]>anneh)mlichkeit (Pv.199/20–21), a(me>hme) (Sv.288/2–3(4)153*), Ne(m>hm)en (Vv.111/15), Berü{h}mtheit (N1v.384/10), versö(n>h)nt (Pv.134/6), eine ausgede(n>h)nte Anlage (Sv.17/10–12(2)), i(n>h)n (Sv.157/20; vgl. Pv.150/5; Vv.261/24; N2v.232/3; N2v.646/7), Kastellansso(x>h)n (Sv.258/17), Ä(n>h)nliche Anhöhen (N2v.369/3–4), ich kann nicht ge(n>h)n (N2v.476/21), zurückgele(ntA>hn)t (N2v.549/8), Versö(n>h)nung (N2v.573/22), bewi(s>e)s (Pv.27/6), Wi(ss>e)so wissen Sie denn (Pv.235/27), wegge(st>h)st (Sv.293/17), frü{h}stücken (Vv.86/19–20), Du […] ge(stA>h)st (Vv.176/9; vgl. N2v.247/1; N2v.347/1), das si(hA>e)hst Du (Vv.315/12–13), Dre(s>h)sessel (Sv.492/7), aussie(s>h)st (N1v.320/16=Dv.273/14), Strosessel (Dv.407/10).

In zwei Fällen treten beide Phänomene gemeinsam auf: Wi(ss>e)so (Pv.235/27), wi([ss]>e)s­ (Sv.470/19). Silbendehnung wird demgegenüber durch die Vereinfachung von Doppel-Konsonanten nach standarddeutsch kurzen Vokalen indiziert: Kaf(e>f)ee (Dv.139/11), gramatikalischen (Ve.204/8), ko(m>mm)en (N1v.161/11), unbestim-|ten (N1e.333/7–8), Freundinen (Se.478/20; Ve.358/23; vgl. Sv.469/4), Kon(t>n)te (Vv.113/9), Portemonaie (N1e.32/27), da(n gA>nn) gefangen (N1v.387/19), Tunel (N2e.33/9), Sontagvormittag (Dv.43/1), Erkenug (Dv.105/5), {[ab] abschlies(e>s)enden} (Pv.208/1), e(s>ss)(x>b)arer (Sv.182/24), abl(eA>a)s-­ {s}en (Sv.183/18(1)79*), gew(us>uss)t (Sv.183/18(1)114*), Misverständnis (Se.187/27), [fas(tA>s)te] (Vv.296/11–12), Bewus{s}tsein (N2v.179/27), fa{s}st (N2v.274/26), weis (Dv.306/24).

In die gleiche Richtung wirken zusätzliche orthographische Dehnungszeichen (‹e› nach ‹i›, ansonsten ‹h›) nach kurzem (aber auch langem) Vokal: si(e>c)h (Sv.61/27; Sv.447/3; N1.238/6; N1v.351/26; N2v.267/1; Dv.165/12; Dv.281/17; vgl. Pv.12/27; Pv.83/7–8(1); Pv.227/1; Pv.274/6; Sv.183/18(2)82*; Sv.460/9; Sv.476/21; Vv.204/5), ni(e>c)ht (N2v.428/19; N2v.486/12), j(ah>a) (Sv.363/8), gede[h]müt(hA>i)gt (Pv.93/20), i(hA>m) (Pv.230/2; Vv.222/7; N2v.519/25), de[h]mütig (Sv.31/11; vgl. N1v.66/3; N2e.20/17; N2e.672/18=Dv.371/5; Dv.197/5), Na(h>m)ensähnlich(h>k)eit (Sv.308/27), zwei Da(h>m)en (N1v.19/26–27), Leich­na(h>m)s (N1v.322/9=Dv.275/7), zu we(hA>m) (N2v.258/5), unange(h>n)ehm (Pv.123/8), Tro(h>n)sessel (Pv.142/20), Si(e>n)d (Pv.200/3; Pv.232/27), Telepho(h>n) (Sv.10/14), geradlienig (Ve.194/19), hi(en>n) (N1v.30/9), gewo(h>n)nen (N1v.398/25=Dv.307/3), trä[h]nenvollen (N2v.41/9), [ah] ansehnlicher (N2v.631/17), sa(h>ss) (Sv.53/18; Sv.76/4; Sv.301/17; N2v.253/16), be(hx>sc)häftigt

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(Sv.261/20), ri(ess>ss) (Vv.50/20=Dv.108/7; Vv.198/10; vgl. Dv.133/18; Dv.156/21), Fri(eA>s)ieren (Vv.319/10), ge(hA>s)ehn (N2v.408/1), sa([hA]>s)sen (Dv.318/10).

Hinzu kommen Fälle normwidriger Vokal-Doppelung bzw. ‑Verdreifachung: Gemeindevorste(e>h)er (Sv.143/4), le(e>h)nte (Sv.171/7), Je(e>d)es (Sv.397/7), des Schneees (Sv.27/13), Schal(ee>e) (Vv.297/26), E(eh>h)emann (N2v.25/5), Rui(enenA>ne)n (N2v.91/17), entge(eA>h)en (N2v.487/6).

Vergleichbare „Fehler gegen die Bezeichnung der Dehnung und der Schärfung“ registrierte schon Lehmann (1899: 11–12) im Schriftdeutschen von Wiener Grund- und Mittelschülern. Er deutete sie als dialektbedingt, und tatsächlich scheinen auch einige von Kafkas Verschreibungen wie z. B. {Stra([ ff ]>f)e} (Sv.224/6), Ne(m>hm)en (Vv.111/15) oder Nam(me>ens)nennung (Vv.180/7) direkt die Silbenquantität bairischer Mundarten abzubilden (Zehetner 1977: 51). Dennoch bedarf es der Diskussion, ob die festgestellte Unsicherheit Kafkas auf Interferenzen einer regional eingrenzbaren Sprachverwendung hinweisen könnte. In der Tat hat die Wissenschaft Indizien dafür gefunden, dass Dialektsprecher aus dem oberdeutschen Sprachraum bei der Unterscheidung kurzer und langer Vokale im Schriftdeutschen offenbar besondere Schwierigkeiten haben. So konnte Eberhard Zwirner (1959: 96–97, 101) mittels einer Stichprobenuntersuchung nachweisen, dass im Südosten des deutschen Sprachraums die geringsten Quantitätsdfifferenzen zwischen den Mittelwerten der Realisierung von Lang- und Kurzvokalen vorliegen und diese Differenz nach Westen und Norden hin deutlich ansteigt.211 Mit diesem Befund korrespondieren die Resultate empirischer Untersuchungen von Röber-Siekmeyer/Spiekermann (2000: 765–767) und Spiekermann (2002: 203–207) zum Niederschlag dialektaler Vokalopposition zwischen Lang- und Kurzvokalen in schriftlichen Texten von Grundschülern. Demnach begingen die oberdeutschen Probanden (Baden) im Vergleich zu den mittel- (Leipzig) und niederdeutschen (Hamburg) die meisten orthographischen

211 Der Quantitätsunterschied zwischen Kurz- und Langvokal war etwa im Raum Bremen durchschnittlich um 46 Prozent höher als im Raum Passau. Georg Heike (1983: 1159–1160) merkt hierzu allerdings an, „daß die Quantitätsopposition […] nicht allein auf Dauerunterschiede zwischen Lang- und Kurzvokal zurückzuführen ist, sondern daß gleichzeitig andere phonetische Parameter wie Tonhöhe und Lautstärke eine ebenso große Rolle spielen. […] Es ist anzunehmen, daß in bestimmten Mundartgebieten, wo geringe Quotienten anzutreffen sind, die Quantitätsopposition weiterhin erhalten bleibt, aber nicht primär durch Dauerunterschiede, sondern durch andere phonetische Merkmale realisiert wird.“

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Fehler bei der normgerechten Markierung der Vokallänge. Trotz dieser auffälligen Resultate lasse sich letztlich „nicht eindeutig […] klären, auf welche Ursachen die Häufungen der nicht-normgerechten Schreibungen bei Kindern aus dem Schwarzwald im Vergleich zu Kindern aus Leipzig zurückgehen“ (Spiekermann 2002: 212). Zudem können Argumente dagegen angeführt werden, falsch markierte Vokalquantität überhaupt der Kategorie Regionalismus zuzuordnen: Überblickt man die Ergebnisse der Studie Rechtschreibfehler und allgemeine Lautgesetze von Wolfgang Eichler (1981a–b; 1982; 1983; o. J.) und die Fehler-Typologien, welche die Darstellungen zum Kontrast Mundart – Hochsprache angeben,212 so zeigt sich, dass Normverstöße bei der Unterscheidung von Vokallänge und ‑kürze für alle Regionen des deutschen Sprachraums charakteristisch sind. Insofern kann man sie durchaus zu den überregional umgangssprachlichen Abweichungen vom Standarddeutschen zählen (Naumann 1989: 134). Auch stellte z. B. Koller (1991: 57) bei der fehleranalytischen Untersuchung unterfränkischer Schüleraufsätze fest, dass die Schwierigkeit der Umsetzung dialektaler Kürzen in schriftsprachliche Längen (und umgekehrt) nicht in nennenswertem Umfang zu falschen (hyperkorrekten) Schreibungen führe. Vielmehr ließen sich die meisten Normverstöße aus dem komplizierten und inkonsequenten orthographischen Regelsystem des Deutschen selbst ableiten. Die Vokal-Grapheme stünden nämlich systematisch zweideutig für kurze wie lange Laute; hieraus ergäben sich bei beiden Quantitäten Zweifel, ob Dehnungszeichen oder Doppelsetzung von Konsonanten nötig oder redundant seien. Insgesamt können Kafkas Normverstöße im Bereich der Silbenquantität somit nicht eindeutig einer regional gebundenen Varietät des Deutschen zugeschrieben werden. Zugleich darf der Umstand, dass die deutliche Mehrheit (292 Belegstellen bzw. 61,22 Prozent) dieser Verschreibungen in Richtung Silbenschärfung deutet, nicht voreilig als Indiz dafür gewertet werden, dass Kafka generell zu einer Kürzung (und womöglich offenen Aussprache) des betonten Vokals geneigt habe, zu einem Artikulationsmerkmal also, das angeblich für das Kleinseitner Deutsch der Tschechen charakteristisch gewesen sei (Ritschel 1893: 130; Skála 1989: 33–34). Indes ist ein anderer quantitativer Befund auffällig: Die normwidrige Vokalkürzung oder ‑dehnung unterlief Kafka nämlich bei fast zwei Dritteln (305 Fälle bzw. 63,94 Prozent) der 477 Belege vor Liquiden (l, r) oder Verschluss­ lauten (b, d, g – p, t, k). Den geringeren Teil (172 Fälle bzw. 36,06 Prozent) machen die

212 Vgl. Zehetner (1977: 51–52, 55–56), Reitmajer (1979: 132), Ammon/Loewer (1977: 47–48), Besch/Löffler (1977: 34–39), Koller (1991: 47–57, 79–80), Hasselberg/Wegera (1976: 32–37), Wegera (1977: 87–95), Hasselberg (1979: 71), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 32–38), Niebaum (1977: 35–42) und Stellmacher (1981: 54–56).

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im vorliegenden Teilkapitel angeführten Verschreibungen aus, die Vokale vor ‹f›, ‹h›, ‹ch›, ‹j›, ‹m›, ‹n›, ‹s›, ‹sch›, ‹st› und ‹z› betreffen. Inwiefern diese Distribution auf Regionalismen in Kafkas Deutsch hinweisen könnte, wird in den folgenden Teilkapiteln 5.1.2.1 und 5.1.2.11 erörtert. 5.1.2  Konsonantismus 5.1.2.1  Normverstöße bei der Schreibung der Verschlusslaute im An-, In- und Auslaut Beim Blick auf den Konsonantismus lassen die Varianten im Korpus erkennen, dass Kafka auffällig oft die stimmlosen Verschlusslaute (p, t, k) mit ihren stimmhaften Gegenstü­ cken (b, d, g) in der Schreibung verwechselte.213 Diese von Egon Erwin Kisch (1992: 249) als „unseren Hang zur Umkehrung von weichen und harten Lauten“ bezeichnete phonetische Erscheinung214 war im frühen 20. Jahrhundert nicht nur in Prag, sondern auch in Wien verbreitet: Lehmann (1899: 13, 16) zählte sie zu den häufigsten Fehler-Typen Wiener Schüler im Schriftdeutschen. Wie Willomitzer (61894: 74) in seiner Grammatik trug Lehmann (71892: 6, 16) diesem Verwechslungsphänomen in seinem Leitfaden durch besondere Fortis-Lenis-Distinktionsübungen im Bereich der Plosive Rechnung. Bereits Malcolm Pasley (21983: 80) nahm diese orthographische Schwäche Kafkas im Schloß-Manuskript wahr; er deutete sie jedoch lediglich als Flüchtigkeitsfehler, der auf das hohe Arbeitstempo des Schreibenden zurückzuführen sei.215 Bei genauerer Betrachtung lässt sich allerdings eine deutliche Parallele zwischen dem Variantenbefund und phonetischen Erscheinungen der bairischen Dialekte ausmachen. Ein interferenzielles Einwirken von dieser Seite erscheint noch plausibler, wenn man in die Fehleranalyse diejenigen Fälle einbezieht, in welchen Kafka eine Doppelung von Fortis-Verschlusslauten entweder normwidrig durchführte oder aber vermied, was eine der Standardnorm zuwiderlaufende

213 Zur Verwechslung der Grapheme für stimmhafte und stimmlose Verschlusslaute in Kafkas ProsaHandschriften s. Blahak (2005: 26; 2007a: 169–170; 2007b: 201–204; 2008a: 90–92). 214 Bereits Teweles (1884: 107) schrieb sie dem Einfluss des Tschechischen zu. Er nannte jedoch nur Beispiele für die Fortisierung der Lenis im Wortanlaut. Povejšil (1980: 67) wies diesen Gedanken mit dem Hinweis auf die im Tschechischen bestehende Stimmtonkorrelation bei diesen Lauten zurück. Zur bereits im 17. Jahrhundert bestehenden Konkurrenz b-p, d-t und g-k in Prager deutschsprachigen Buchdrucken s. Povejšil (1980: 65–77). 215 S. hierzu Kap. 4.4.2.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Silbenschärfung oder ‑dehnung216 impliziert. Im Folgenden ist zwischen der VerschlusslautSchreibung im Anlaut, Inlaut (Silbenschnitt) und Auslaut zu unterscheiden. Aus Sicht der Fehlerlinguistik gehört die anlautende Verwechslung von b/p, d/t und g/k (letztere vor Konsonant) zu den häufigen Normverstößen bairischer Mundartsprecher im Schriftdeutschen (Zehetner 1977: 42–45; Reitmajer 1979: 131). Zurückzuführen ist sie auf den phonologischen Lautstand der mittel- und nordbairischen Dialekte,217 in welchen als Ergebnis der ,mittelbairischen Konsonantenschwächung‘ (Kranzmayer 1956: 93–94; Simmler 1983: 1124–1126) in dieser Position die Distinktion zwischen Fortis und Lenis neutralisiert ist; so kennt man hier nur Halbfortes, also Laute mittlerer Stärke.218 Dies erschwert es den betreffenden Mundartsprechern, in der Schrift das orthographisch korrekte Graphem zu wählen. Im Korpus lässt sich die deutliche Mehrheit entsprechender Verwechslungen (47 von 73 bzw. 64,38 Prozent) als Direktanzeige eben diesem FehlerTypus zuordnen:219 [(P>B)ank] (Pv.171/15), (B>P)ult (Vv.156/17; N1v.253/2), (Bx>Pa)pieren (Sv.183/18(2)13*), er (b>p)lagte sich (Sv.337/13), einzige [Verp] Verbindung (Vv.40/18=Dv.98/9), (p>b)esser (Vv.237/3), (P>B)ild (N2v.244/3), Voraus(pA>b)erechnungen (N2v.582/5), Ehe([pA]>b)ett (Dv.194/22), (pA>b)e­sonders (b>p)ersönlich (Pv.128/12–13(1)), plötzlich (p>b)litzartig (Sv.110/1), Wendet sich plötzlich, (pA>b)eugt sich (N1v.288/9(1)14*), (PA>B)urgplatz (N2v.610/12), (g>k)leinen (Pv.108/5; vgl. N1v.331/16), [Hochzeits(g>k)leid] (Sv.136/7), um([gA]>k)leidete (Vv.68/13), [(kA>g)lücklich] (Sv.479/3–4,69*–73*(1)), (KA>G)locke (Vv.229/25), (K>G)rösse (Vv.418/2), hinauf(g>k)lettern (N2v.264/26–27(2)), ([gA]>k)leines (N2v.320/17), (KA>G)lieder (N2v.322/17), (kA>g)leich (Dv.117/6), (g>k)roc(k>h) (Dv.143/23), be(g>k)lagte (Pv.173/25), [(G>K)raft und Gewan] (Pv.330/3), eine (g>k)leine Gruppe (Sv.377/8), ge(g>k)nickten (N1v.53/2), (g>k)läglich (N2v.20/2), (kA>g)länzendem Kleid (N2v.112/15), Sor(d>t)ini (Sv.301/24), Tag für (d>T)ag (Sv.358/23), aus [([di]>ti)fer Überzeugung] (Sv.423/26), (t>d)ass (Vv.364/6–9(4)), entschei(t>d)end (N2v.444/27), (t>d)raussen (N2v.533/3; vgl. N2v.556/7), ver([d]>t)rauen (N2v.598/1), En(dt>td)eckung (N1v.212/10), damals (d>t)aten

216 Zu dieser s. Kap. 5.1.1.5. 217 In den südbairischen Mundarten hat sich der Unterschied zwischen d/t bzw. g/k im Anlaut dagegen bewahrt (Kranzmayer 1956: 82, 94; K. 21; Freudenberg 21980: 488). 218 Zu dieser Erscheinung in den nord- und mittelbairischen Dialekten vgl. Weinhold (1867: 124, 127, 144, 149, 178), Hügel (1873: 12), Brenner (1890: 35), WBÖ (1963–1970: 6), Ebner (21980: 218–219), Pfalz (1983b: 156), Schuster/Schikola (1984: 71, 73, 78) und Merkle (61996: 27–28). 219 Die Textstelle die ([PA]>b)esten Plätze (Vv.155/9), an der höchstwahrscheinlich der Ansatz zum Wort Plätze korrigiert wurde, wird bei der folgenden Untersuchung nicht berücksichtigt.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

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(N2v.440/27), Kandi(t>d)at (N2v.483/13), auf die ([TA]>D)auer trennen (N2v.602/8), (tr>dr)ingt 220

(N2v.663/22=Dv.362/7).

Das in dieser Fehlergruppe herrschende ausgewogene Verhältnis zwischen der normwidrigen Setzung der Fortis anstelle der Lenis (24 Belege bzw. 51,06 Prozent) und umgekehrt (23 Belege bzw. 48,94 Prozent) unterstreicht den Eindruck, man habe es mit einem Schreiber zu tun, der beim Sprechen im Anlaut zwischen beiden Realisierungsformen der Plosive kaum oder nicht unterschied.221 Während die hier betrachteten b/p- und d/tVerwechslungen Kafkas ausnahmslos auf die bairischen Mundarten verweisen, findet sich die Verwechslung von g und k im Korpus auch vor Vokal: be(kA>g)ann (Pv.53/23; vgl. Pv.283/21; Vv.246/4; N2v.436/12; N2v.518/27), (g>k)urzen (Pv.284/16), (g>k)am (Sv.101/6), (k>g)önnte (Sv.356/24; vgl. Vv.377/17), (kA>g)ehn (Sv.461/13), be(k>g)annen (Vv.140/5), (gA>k)önnen (Vv.229/6), ([kA]>g)ab (Vv.279/19), er(g>k)ennen (N1v.304/18), heran(g>k)ommt (N1v.348/20), Gedangen(k>g)ang (N1v.396/4=Dv.304/12–13), Er(gxx>ken)nt-­ nisse{,} (N2v.66/13), (k>g)önnen (N2v.386/6=Dv.335/17), (gA>k)ommen (N2v.616/19), ([gA]k)ann (N2v.631/5), ge(kA>g)önnt (Dv.165/24), (kA>g)anz klein (Sv.187/13), ganz (g>k)urz (Vv.112/6), Gegenwärtig(e>k)eit (N1v.355/25), des […] umkränzten (G>K)äf(f>i)gs geöffnet (N2v.389/2– 222

3=Dv.338/10–11), (kA>g)ähnte [kräftig] (N2v.522/12).

Solche Normverstöße sind zwar nicht für bairische Dialektsprecher charakteristisch, können aber als einfache Verwechslungen bzw. als Resultat einer generellen Unsicherheit bei der Fortis/Lenis-Unterscheidung gedeutet werden.

220 Bei 16 von 47 Textbelegen (34,04 Prozent) kommen auch das Vertauschen von Fortis und Lenis innerhalb eines Wortes bzw. am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter sowie Verschreibungen aufgrund von Antizipation oder Perseveration als Fehlerquellen in Betracht. Die betreffenden mehrdeutigen Belegstellen werden – auch im weiteren Verlauf der Arbeit – jeweils am Ende der zitierten Textbelege angegeben. 221 Auch bei Nichtberücksichtigung aller Belegstellen, an welchen auch das Vertauschen von Fortis und Lenis innerhalb eines Wortes bzw. am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter sowie Verschreibungen aufgrund von Antizipation oder Perseveration als Fehlerquellen in Betracht kommen, erweist sich das Verhältnis von 15 normwidrigen Fortis- (48,39 Prozent) zu 16 normwidrigen Lenis-Setzungen (51,61 Prozent) als ausgeglichen. 222 Bei fünf von 26 Textbelegen (19,23 Prozent) kommen auch das Vertauschen von Fortis und Lenis innerhalb eines Wortes bzw. am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter sowie Verschreibungen aufgrund von Antizipation bzw. Perseveration als Fehlerquellen in Betracht.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 8:  Die Verbreitung der mittelbairischen Konsonantenschwächung bei der Fortis t in initialer und medialer Position

Auch im Inlaut unterlief Kafka bei der Setzung der stimmlosen und stimmhaften Verschlusslaute eine erhebliche Anzahl von Verschreibungen, die sich überwiegend in die Fehler-Typologien mittel- und nordbairischer Mundartsprecher 223 einordnen lassen. Die dialektimmanenten Ursachen hierfür werden im so genannten Silbenakzent- oder Silbenschnitt-Gesetz von Anton Pfalz beschrieben: Nach kurzem, scharfgeschnittenen Akzent tragendem Vokal oder Diphthongen kennt die M[undart] nur Fortiskonsonanz, nach langem, schwachgeschnittenen Akzent tragendem Vokal oder Diphthongen nur Leniskonsonanz. Sollte also einerseits ein ursprünglich langer Vokal, dem eine Fortis folgte, seine Quantität bewahren, so mußte die Fortis zur Lenis werden, anderseits mußte jede auf bewahrte Kürze folgende Lenis zur Fortis sich steigern (Pfalz 1913: 9). Von Bedeutung wird dieses Abhängigkeitsverhältnis bei der Aufnahme hochsprachlicher Wörter und beim Lesen der Schriftsprache. Soll nämlich die hoch- oder schriftsprachliche Fortis als Fortis gesprochen werden, so muß notwendig die etwa vorausgehende Länge gekürzt werden und scharfen Akzent tragen. […]. Die Folge davon ist, daß Vokalquantität und Akzent der Hochsprache verändert werden. […] Damit ist der alte etymologische Quantitätszusammenhang zerrissen (Pfalz 1983b: 161).

223 Im größten Teil der südbairischen Dialekte bleiben d und t dagegen im Inlaut unterschieden (Kranzmayer 1956: 94; K. 21).

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247

Diese Ansicht der älteren Forschung, die Konsonantenintensität sei maßgeblich für die Opposition von Fortis und Lenis, wurde inzwischen von der Annahme abgelöst, die Opposition von starkem und schwachem Akzentschnitt sei in dieser Hinsicht entscheidend (Steger 1968; Gladiator 1971). Mit anderen Worten: Mittel- und nordbairische Mundartsprecher neigen dazu, die ihnen nicht vertrauten hochdeutschen Verbindungen Langvokal + Fortis-Konsonant bzw. Kurzvokal + Lenis-Konsonant in die als harmonischer wahrgenommenen Kombinationen Langvokal + Lenis-Konsonant bzw. Kurzvokal + Fortis-Konsonant aufzulösen. Dies kann erhebliche Konsequenzen für das Schriftbild haben, die Zehetner (1977: 45–46) anhand einer Übersicht veranschaulicht: Von den vier Kombinationen von Lang‑/Kurzvokal und Fortis‑/Lenis-Konsonant (A–D), die das Standarddeutsche kennt (s. u.), sind den bairischen Mundarten aufgrund ihrer im Pfalz’schen Gesetz beschriebenen Struktur die Typen B und D fremd (Luick 21923: 87–88; Reitmajer 1979: 132; Wiesinger 22008: 52).

Typ A Kurzvokal + Doppel-Konsonant (Fortis)

Typ B Langvokal + Einfach-Konsonant (Fortis)

Typ D Kurzvokal + Doppel-Konsonant (Lenis)

Typ C Langvokal + Einfach-Konsonant (Lenis)

Tab. 6:  Mögliche Kombinationen von Lang‑/Kurzvokal und folgendem einfachem bzw. verdoppeltem Fortis- oder Lenis-Konsonanten im Standarddeutschen

Dies führt zu folgenden, als Direktanzeige zu interpretierenden Fehler-Typen bairischer Mundartsprecher in der Schrift: Zum einen kommt es häufig zur Ersetzung des Typs B durch den Typ A; dies hat die Verdoppelung von Fortis-Verschlusslauten nach hochdeutsch langem Vokal (z. T. bei gleichzeitigem Ausfall eines Dehnungszeichens) zur Folge. Entsprechende Verschreibungen finden sich häufig unter Kafkas Autokorrekturen:

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auf dem Trep(pA>e)z

224

(Dv.318/10), Lu(cke>ke) (Sv.23/5), [Hier hackte sich nun Sordini ein]

(Sv.103/1), Lucke (Ve.11/23=Dv.69/20), einen kleinen Slowacken (V.16/8–9=Dv.74/8–9(2); vgl. V.11/22=Dv.69/19–20; V.16/11=Dv.74/6; V.16/16=Dv.74/13; V.17/12=Dv.75/9), [Hacken] 225

(N2v.364/7),

Cylinderhü(tt>t)e (Pv.310/13), hü(tt>t)en (Vv.133/26), ein Mädchen […] bet(t>e)-

­te dort (N1v.84/21–22=Dv.384/3), angebo(tt>t)en (N2v.231/15), bi(tt>e)ten (N2v.579/5), zut(t>r)effen (Dv.129/2), seinen Mi(tt>et)ern (Dv.188/4), erschrack (N1e.166/20; Dv.146/12), {verrie(h>tt)} 226

(N1v.202/18), er […] tra(tt>t) (Pv.283/13), Bro(tt>t) (Vv.157/6), Athle(ttA>t) (N2v.345/11).

In gewissem Sinne könnte man auch den Ausfall eines Dehnungszeichens nach hochdeutsch langem Vokal vor hartem Verschlusslaut diesem Fehler-Typus zurechnen, zumal dadurch eine ähnliche mundartkonforme Silbenkürzung und damit ‑schärfung ihren Reflex findet: spä{h}te (Sv.162/5), Hosenna[t]h{t} (Vv.29/20=Dv.87/16; vgl. Ve.112/4), Dratseil (Ve.189/1), schibt (N2e.112/7), umgedre(t>h)t (Dv.137/6).

Zum anderen ist als Resultat der Vertauschung des Typs B mit dem Typ C – wenn auch seltener, wie Zehetner (1977: 45) prognostiziert – die Lenisierung des Fortis-Verschluss­ lautes als Fehlleistung zu erwarten. Sie liegt im Textkorpus an folgenden Stellen vor: je(dA>t)zt (Pv.353/14), nö([d]>t)ig (Sv.227/17), endgil(d>t)ig (Vv.321/17), Sei(d>t)e (Vv.410/9), es freu(de>te) mich (N1v.366/25), Schul(d>t)er (N2v.321/4), Wir(g>k)ung (N2v.460/12), {antwor­ 227

(d>t)ende} (Dv.441/12).

Daneben fallen Normverstöße auf, die Zehetner (1977: 46) als typische hyperkorrekte Verschreibungen interpretiert: Um die Silbenstruktur der Mundart zu verbergen, wird entweder nach kurzem Vokal die standardsprachliche Verdoppelung der Grapheme für

224 Gemeint ist Trapez. Die gleiche (nicht zufällige) Schreibung mit ‹e› in der ersten Silbe findet sich in Dv.317/2 und Dv.318/26. Daher kann man ausschließen, dass Kafka hier an Treppe gedacht habe. 225 Gemeint ist Haken, denn das gestrichene Wort wird wie folgt ersetzt: die Männer nehmen ihre Mützen vom [Hacken] {Nagel} (N2v.364/7). 226 Die letzten sechs Belegstellen werden zu diesem Fehlertyp gerechnet, obwohl die Fortis-Doppelung hier im Auslaut auftritt. Denn auch Zehetner (1977: 45–48) ordnet vergleichbare Verschreibungen bei Fabrik, Kritik, Profit, Schrot und rot hier zu. 227 Bei zwei von acht Textbelegen (25 Prozent) kommt auch das Vertauschen von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes als Fehlerquelle in Betracht.

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Fortis-Verschlusslaute vermieden (z. T. unter gleichzeitiger Einfügung eines Dehnungszeichens): durchzugallopieren (Dv.299/9), Ausdru(k>c)k (Sv.18/10), Strohsa(k>c)k (Sv.196/5; vgl. Sv.7/16), pa{c}k 228

Dich sofort (N1v.288/9(2)17*),

auszustre{c}ken (Vv.17/12=Dv.75/9), vertrakten (Ve.41/17), ein

großes Stück […] Speks (Ve.157/19–20), [zerhakt] (Vv.366/1), zerbrökelnd (N1e.144/17), pa(kA>c)k-­ te (N1v.365/14), mukste (N1e.389/20), Naktheit (N2e.77/3–4), und spukt aus (N2e.281/17–18), 229

Haken

(Dv.108/10; Se.50/23), Kasseten (Ve.214/7; Ve.362/15), Atributen (N2e.50/15), Mi(t>tt)eln

(N2v.664/20=Dv.363/5), schme{c}kte (Dv.143/20), Klosete (Dv.83/15–16), ri(et>tt) (N2v.259/10), 230

die an Asthma li(e>t)t (Dv.154/27–155/1).

Oder aber es kommt zur normwidrigen Wiedergabe eines Fortis-Doppel-Konsonanten durch das Graphem für den jeweiligen Schwachlaut: ([übig]>üpp)ige (Sv.158/1), ü([b]xx>pp)ig (N2v.547/11), we(ge>cke)n (N2v.580/6; vgl. N1v.32/9), stre(g>c)kte (Dv.171/15).

Wenn die Verschlusslaute d/t und g/k im Inlaut unmittelbar nach dem Nasal n auftreten, wird bairischen Mundartsprechern die normgerechte Schreibung zusätzlich erschwert (Luick 21923: 86). Nach Zehetner (1977: 53) sei in Silben mit solchen Konsonantengruppen das Fehlerrisiko besonders groß, weil a) einerseits geschriebenem nd dialektales [ndd = nt] entspricht, b) andererseits geschriebenes nk im Dialekt zu [ngg] oder sogar zu einfachem [ng] reduziert erscheint.

Der Direktanzeige des beschriebenen Phänomens dürfen insofern Textbelege zugeordnet werden, in welchen im Silbenschnitt nach Nasal ‹g› statt ‹k› geschrieben wurde:

228 Die fünf vorangegangenen Belegstellen werden zu diesem Fehlertyp gezählt, da auch Zehetner (1977: 48) Wörter vom Typ dick, Rock und Dock mit ck im Auslaut in entsprechende dialektbezogene Distinktionsübungen einbezieht. 229 Gemeint sind nach dem Kontext Hacken. 230 Die beiden letzten Belegstellen werden diesem Fehlertyp zugeordnet, da auch Zehetner (1977: 46) Wörter vom Typ satt und matt mit tt im Auslaut in entsprechenden dialektbezogenen Distinktionsübungen berücksichtigt.

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Gedan(ge>k)en (Sv.90/6), flin(g>k)er (Vv.370/7), lin(g>k)s (N2v.343/10–13(1); Dv.74/6), Gedan­ 231

(g>k)engang (Pv.17/14), Gedangen(k>g)ang (N1v.396/4=Dv.304/12–13).

Wo in dieser Position umgekehrt ‹g› durch ‹k› und ‹t› durch ‹d› ersetzt wurden, handelt es sich gemäß Zehetners (1977: 53) Fehler-Typologie entsprechend um Kontrastübertreibungen: jun(kA>g)er (N1v.176/9), [rin(k>g)s] (N1v.316/27=Dv.447/23–24), un([d]>t)er (Sv.126/11; vgl. Vv.276/16; Sv.236/24; Sv.421/25; N1v.368/20), hin(d>t)er (Vv.416/8; N1v.175/13), kän([k]>g)e­ruhartig (N2v.335/5), [Un(tA>d) unterdessen] (Pv.146/27), nichts (a>A)usserorden(d>t)liches 232

(Sv.337/16–17), endscheidend (N2e.192/1–2), Hin(d>t)erwand (N2v.360/14).

Die generelle Unsicherheit Kafkas im Bereich der korrekten Setzung der Verschluss­ laut-Grapheme im Inlaut wird zum einen durch Belegstellen unterstrichen, an welchen es zur Verdoppelung von ‹p› nach hochdeutsch ohnehin kurzen Vokalen kam: Seitenkap(pA>e)ll{e} (Pv.280/25–26), [Pep(pi>i)] (Sv.479/3–4,162*), kre(pp>p)ierten (N1v.393/8=Dv.301/16). Zum anderen wird sie dort deutlich, wo umgekehrt nach ohnehin langen Vokalen ein zusätzliches Dehnungs-‹h› vor ‹d›/‹t› eingefügt wurde: o(h>d)er (N1v.221/17; vgl. N1v.238/4; Dv.186/21), Gre(hA>t)he (Dv.164/6). Hinzu kommen Korrekturen, die wohl als Bereinigung einfacher Verwechslungen von Fortis und Lenis innerhalb eines Wortes zu verstehen sind: ü(p>b)erprüfen (Pv.151/18), O(p>b)erportier (Vv.233/22), en(t>d)gil(d>t)ig (Sv.213/2), En(dt>td)e­ckung (N1v.212/10).

231 Bei zwei von sechs Textbelegen (33,33 Prozent) kommt auch das Vertauschen von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes als Fehlerquelle in Frage. 232 Bei fünf von 14 Textbelegen (35,71 Prozent) stellen auch die Vertauschung von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes, Antizipation oder Analogiebildung mögliche Fehlerquellen dar.

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Somit spricht mit 86 von insgesamt 99 Belegen auch die deutliche Mehrheit (86,87 Prozent) der Normverstöße bei der Schreibung der Plosive im Inlaut direkt für Reflexe mittel- und nordbairischer Sprachstrukturen in Kafkas Deutsch,233 auch wenn sich innerhalb dieser Mehrheit das Verhältnis mutmaßlicher Direktanzeigen zu Hyperkorrekturen (jeweils 43 Belege bzw. 50 Prozent) nicht als charakteristisch erweist.234 Die Lenes b, d und g bereiten bairischen Dialektsprechern im Schriftdeutschen außerdem im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten (bt, gt) Schwierigkeiten, weil sie in der Mundart aus Sicht der Standardsprache entweder zu hart oder zu weich auftreten (Zehetner 1977: 49–50; Luick 21923: 87; Kranzmayer 1956: 85). Hier herrscht oft eine Diskrepanz zwischen dialektaler Aussprache und Orthographie.235 Als Direktanzeige mundartlicher Interferenz können dabei Stellen im Korpus gewertet werden, an welchen es, der Lautung der bairischen Mundarten entsprechend, zur Lenisierung der Fortis nach hochdeutsch kurzem Vokal kommt: Zuckerwer(g>k) (Pv.55/13–14), übergescheidt (N2e.214/18), Städ(chA>tc)hens (N2v.230/21), Stadflächen (N2e.260/2), Stad{t}viertel (N2v.264/19), Stadteils (N2e.273/25), unseres Bergstädchens (N2e.407/6), W(xld>elt) (N2v.473/22), Rückgrad (Dv.118/22), Weissbrod (Dv.143/12).

Als hyperkorrekte intuitive Versuche, den gespannten Silbenakzent der bairischen Mundart zu verbergen (Zehetner 1977: 49), lassen sich dagegen die Autokorrekturen Rü(g>ck)-

233 Schließt man alle Belegstellen aus, an welchen das Vertauschen von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes sowie Antizipation oder Analogiebildung als Fehlerquellen in Betracht kommen, so spricht weiterhin die deutliche Mehrheit der Belege (77 von 89 bzw. 86,52 Prozent) für eine interferenzielle Einwirkung der mittel- und nordbairischen Dialekte. 234 Auch bei Ausschluss aller Belegstellen, an welchen das Vertauschen von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes sowie Antizipation oder Analogiebildung als Fehlerquellen in Frage kommen, bleibt das Verhältnis von mutmaßlicher Direktanzeige (39 Belege bzw. 50,65 Prozent) zu Hyperkorrektur (38 Belege bzw. 49,35 Prozent) ausgeglichen. 235 Zehetner (1977: 50) und Reitmajer (1979: 131) bemerken zwar einschränkend, dass die ,Auslautverhärtung‘ auch in der Standardsprache zur Neutralisierung des Lenis-Fortis-Kontrastes führe. Die Verschlusslaute würden folglich auch hier zwar gleich gesprochen, aber nicht gleich geschrieben, was auch nicht mundartgeprägten Schülern Schwierigkeiten in der Schriftsprache bereiten könne. Die erheblich höhere Differenz zwischen phonetischer und orthographischer Realisierung im Dialekt gegenüber der Schriftsprache scheint die Annahme eines Fehler-Potentials mundartbedingter Art dennoch zuzulassen: Während in der Hochsprache die ,Einheitsaussprache‘ in Richtung der Laute p, t und k gehe, neigten die bairischen Dialekte der Tendenz nach immer zur lenisierten Form der Plosive.

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gabe (Sv.432/26–27) und [zurü(g>c)kgelegten] (N2v.613/10,4*)236 interpretieren. Kontrast­ übertreibungen liegen ferner in Verschreibungen vor, die mittels einer normwidrigen Fortis oder ihrer Doppelung den im Auslaut harten Klang der Hochsprache gleichsam auf direkte Weise wiedergeben (Zehetner 1977: 49). Hierzu finden sich folgende Belege im Korpus: fü(c>g)te (Pv.41/26), Was ma(c>g) das […] sein (Sv.349/26–27),

237

Di(c>k)tat (Sv.281/7), festge-

hackt (Se.313/8), Wöl[c]kchen (Vv.365/1), Fussbän[c]kchen (Vv.366/25(1)), eingehackt (N2v.253/16; N2e.404/13; vgl. N2e.404/13), wer sei(t>d) ihr? (Sv.22/13), Treibjag(t>d) (N2v.37/1), {Niederjag(t>d)} 238

(N2v.579/9–10), untötlichen (N2e.14/4), tötlich (N2e.192/2; vgl. N2e.601/10; Dv.140/27).

Wenn d/t und g/k im Auslaut unmittelbar nach dem Nasal n auftreten, erschwert dies ihre korrekte Setzung zusätzlich. Das hier mundartbedingt erhöhte Fehlerrisiko (Zehetner 1977: 53; Reitmajer 1979: 131) wurde bereits im Zusammenhang mit den Verschlusslauten im Inlaut beschrieben (s. o.). Entsprechende Textbelege in Kafkas Handschriften dürfen insofern als Direktanzeige in Betracht gezogen werden: [beleidigen(t>d)] (N1v.76/26), herzbeklemmen([t]>d) (N2v.223/17), stan(t>d) (N2v.266/12), Verwan(t>d)schaft (Pv.126/17–18), Tringgeld (Ve.117/22; Ve.150/21; Vv.190/1; Ve.244/8), Trin(g>k)­ 239

gelder (Vv.249/25), entgiltig (Dv.17/12).

Eine latente Unsicherheit Kafkas wird ferner dort evident, wo ‹t› oder ‹g› nach hochdeutsch ohnehin kurzem Vokal normwidrig verdoppelt wurden: hatt (Se.275/14; vgl. Vv.40/4=Dv.97/25), Genug(g>t)uung (N1v.218/10), enttbehren (N2e.615/8). Umgekehrt lässt sich im Korpus auch die Einfügung eines Dehnungs-‹h› vor den genannten Plosiven im Auslaut hochdeutsch langer Silben nachweisen: Landungsste(h>g)[t] (Dv.422/8), gerie(ht>t) (Pv.329/24; vgl. Sv.9/9(2); Sv.357/21; N2e.301/18), {verrie(h>tt)} (N1v.202/18).

236 In beiden Fällen kommen auch Antizipation oder das Vertauschen von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes als Fehlerquellen in Betracht. 237 In den beiden vorausgehenden Korrekturen könnte auch jeweils ein Ansatz zu ‹ch› und damit zur Verschriftlichung einer Spirantisierung vorliegen (s. hierzu Kap. 5.1.2.6). 238 Bei vier von 16 Textbelegen (25 Prozent) könnte auch Analogiebildung innerhalb eines Wortes als Fehlerquelle eine Rolle gespielt haben. 239 Bei sieben von zehn Textbelegen (70 Prozent) kommen auch Antizipation oder das Vertauschen von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes als Fehlerquellen in Frage.

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Somit lassen sich 38 (79,17 Prozent) der 48 Belegstellen,240 an welchen fehlerhafte Schreibungen der Verschlusslaute im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten vorliegen, als Reflex eines mittel‑/nordbairisch geprägten mundartlichen Hintergrundes betrachten.241 Insgesamt verweisen 171 (77,73 Prozent) der 220 von Kafka begangenen Normverstöße im Bereich der Setzung von Verschlusslaut-Graphemen auf Formen, die typischerweise durch Interferenzen der mittel- und nordbairischen Dialekte mit der Standardsprache entstehen.242 Innerhalb dieser Belege ergibt sich ein charakteristisches Verhältnis nachgewiesener Direktanzeigen (110 Belege bzw. 64,33 Prozent) zu hyperkorrekten Formen (61 Belege bzw. 35,67 Prozent).243 Da sich Kafka in immerhin 167 Fällen (zu 75,91 Prozent) selbst berichtigte, ist sein prinzipielles Wissen um die Norm erkennbar. Die Reflexe seiner dennoch häufigen Unsicherheit bei der Plosiv-Schreibung können letztlich als Regionalismus des Typs A1/D[B–] kategorisiert werden. Hiervon auszunehmen ist lediglich das Substantiv Slowacke, das im Manuskript des Verschollenen fünfmal mit ‹ck› geschrieben wurde (s. o.). Da es hier weder Autokorrekturen noch Varianten mit einfachem ‹k› gibt, sah Kafka die Schreibung des Wortes im Moment der Niederschrift offenbar als standardkonform an. Erst im Zuge der Publikation des Heizers erfolgte die durchgehende Korrektur zu Slowake (Dv.69/19–20; Dv.74/6,13; Dv.75/9), die auch Brod in seine KafkaAusgabe übernahm (Kafka 1953b: 12, 16, 17). Bei der vorliegenden ‹k›-Doppelung ist die Regionalismus-Bestimmung demzufolge in Richtung A2/D[B–] zu modifizieren.

240 Schließt man alle Belegstellen aus, an welchen auch das Vertauschen von Fortis/Lenis innerhalb eines Wortes, Antizipation oder Analogiebildung Normverstöße provoziert haben könnten, sowie Verschreibungen, die u. U. Ansätze zur Verschriftlichung einer Spirantisierung darstellen, sind es 25 (71,43 Prozent) von 35 Belegstellen. 241 Innerhalb dieser Fehlergruppe besteht allerdings kein charakteristisches Verhältnis zwischen mutmaßlichen Direktanzeigen (20 Belege bzw. 52,63 Prozent) und Hyperkorrekturen (18 Belege bzw. 47,37 Prozent). Das Gleiche gilt bei Ausschluss aller Belege, bei welchen andere Fehlerquellen Kafkas Verschreibungen verursacht haben könnten. Auch in diesem Falle läge das Verhältnis von 13 Direktanzeigen (52 Prozent) zu zwölf Hyperkorrekturen (48 Prozent) unter einem charakteristischen Wert. 242 Bei Ausschluss aller Normverstöße, zu welchen es auch durch andere Fehlerquellen gekommen sein könnte, lassen sich 133 (75,57 Prozent) von 176 Verschreibungen Kafkas als Interferenzen mittel‑/ nordbairischer Dialekte interpretieren. 243 Bei Ausschluss aller Normverstöße, die auch auf andere Fehlerquellen zurückgeführt werden können, bleibt dieses charakteristische Verhältnis mit 83 (62,41 Prozent) zu 50 Belegen (37,59 Prozent) bestehen.

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Der Eindruck eines mittel‑/nordbairischen Regionalismus wird zudem durch weitere Indizien erhärtet: Zwar kann der jeweilige dialektale Lautstand auch im sonstigen oderdeutschen Raum bei Mundartsprechern Fehlleistungen im Schriftdeutschen provozieren, die sich in der Verwechslung von Plosiv-Graphemen äußern; allerdings ist die zu erwartende Tendenz jeweils eine andere als die bei Kafka konstatierte. Dies verrät bereits der Blick auf die Schreibung der Verschlusslaute im Anlaut: In den ostfränkischen und westoberdeutschen Mundarten werden die stimmlosen Verschlusslaute bei wenigen Ausnahmen in allen Stellungen durch ihre stimmhaften Pendants ersetzt. Nur k bleibt im Anlaut vor Vokal erhalten,244 so dass gerade in diesem Fall, anders als es der Befund im Korpus ausweist, Fortis-Lenis-Verwechslungen relativ untypisch wären. Für den Großteil der mitteldeutschen Dialekte gelten ähnliche Verhältnisse.245 Mundartbedingte Normverstöße bei der sonstigen Plosiv-Schreibung im Anlaut ließen ferner ein charakteristisches Übergewicht normwidriger Lenis- (Direktanzeige) gegenüber (hyperkorrekten) Fortis-Setzungen erwarten. Auch in diesem Punkt ergibt die Fehler-Statistik ein anderes Bild: Wie bereits eingangs gezeigt, herrscht hier ein ausgewogenes Verhältnis, das zu 51,06 Prozent sogar leicht einer normwidrigen Verwendung der Fortis zuneigt.246 Auch das Westjiddische ist als Interferenzquelle auszuschließen: Im Sudetenjiddischen war die binnenhochdeutsche Mitlautschwächung nämlich nicht wirksam, so dass die beiden Reihen der historisch starken und schwachen Verschlusslaute im An- und Inlaut streng getrennt blieben (Beranek 1961: 279; 1965: 64–65; Weissberg 1988: 101–105).247 Die bei Kafka auftretenden Unsicherheiten können somit kaum auf dieses Sprachsystem zurückgeführt werden. Genauso scheint der Befund die Erinnerung Gustav Janouchs (21968: 32) zu relativieren, Kafka habe „einen harten Akzent“ gehabt, wie er für das von

244 Vgl. im Einzelnen Wagner (1987: 58), Hörlin (1988: 93–94), Koller (1991: 27–33), Ammon/ Loewer (1977: 53–56) und Besch/Löffler (1977: 48–49, 51). 245 Auch in den rheinfränkischen Dialekten (Hasselberg/Wegera 1976: 38–40; Henn 1980: 33–37; Post 21992: 99) überwiegt in allen Positionen (außer am Wortanfang vor Vokal) die Lenisierung der Verschlusslaute. In den obersächsischen Dialekten (außer in den meißnischen) wird k ebenfalls in allen Stellungen geschwächt, g dagegen meist spirantisiert (Franke 1895: 78–90). Zur Verbreitung der binnenhochdeutschen Konsonantenschwächung im ehemaligen deutschen Sprachraum s. die Karte auf Taf. 4. 246 Bei Ausschluss mehrdeutiger Belegstellen fällt dieses weiterhin ausgeglichene Verhältnis ebenso uncharakteristisch (zu 51,61 Prozent) leicht zugunsten einer normwidrigen Verwendung der Lenis aus. 247 Im ,Schwächungsgebiet‘ des Westjiddischen, das sich in etwa mit dem sonstigen ober- und westmitteldeutschen Sprachraum deckt, fielen die starken und schwachen Verschlusslaute im An- und Inlaut dagegen in einer Lautreihe zusammen (Beranek 1965: 64–65; Guggenheim-Grünberg 1958: 96, 98, 101).

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255

Tschechen gesprochene Deutsch typisch gewesen sei; denn gemäß den Beobachtungen von Schuchardt (1884: 42–43) und Ritschel (1893: 129–133) sei die Phonetik dieses zweitsprachlich verwendeten Deutsch durch die einseitige Verwendung der stimmlosen, unaspirierten Verschlusslaute (p, t, k) anstelle von b, d und g248 geprägt gewesen.249 Hätte eine solche Artikulation ihren Reflex im Korpus gefunden, dann hätte man eine insgesamt charakteristisch häufigere normwidrige Schreibung der starken anstelle der schwachen Plosive als Direktanzeige zu erwarten. Der Textbefund bestätigt dies jedoch nicht: Eine quantitative Gegenüberstellung aller Fälle normwidriger Fortisierung (103 Belegstellen bzw. 46,82 Prozent) und Lenisierung250 (117 Belegstellen bzw. 53,18 Prozent) im Korpus ergibt ein leichtes, wenn auch nicht charakteristisches Überwiegen der Letzteren.251 Berücksichtigt man nur Stellen, an welchen die Grapheme für Fortis- und Lenis-Plosive miteinander verwechselt wurden, spricht das Verhältnis mit 83 (58,04 Prozent) zu 60 Belegen (41,96 Prozent) sogar für eine erkennbare Neigung Kafkas, fälschlich die Lenis anstelle der Fortis zu setzen.252 Insofern ist nicht davon auszugehen, dass tschechische Artikulationsmerkmale ursächlich für seine Unsicherheit bei der Verschlusslaut-Schreibung gewesen sein könnten.253

248 Die stimmhaften Plosive seien nur dort vorgekommen, wo sie durch die Umgebung geschützt worden seien, also v. a. in intravokalischer Stellung. 249 Zu Janouchs, Schuchardts und Ritschels Ausführungen vgl. Kap. 3.1.2.4. 250 Zur Fortisierung wird auch die normwidrige Verdoppelung von Fortis-Verschlusslauten bzw. die Auslassung eines Dehnungszeichens gerechnet. Als Lenisierung wird entsprechend auch die normwidrige Vereinfachung von Doppel-Konsonanten bzw. die Einfügung eines Dehnungszeichens betrachtet. 251 Bei Ausschluss aller Normverstöße, zu welchen es auch durch andere Fehlerquellen gekommen sein könnte, bleibt die festgestellte ausgeglichene Relation normwidriger Fortisierung (83 Belegstellen bzw. 46,37 Prozent) zu Lenisierung (96 Belegstellen bzw. 53,63 Prozent) nahezu identisch. 252 Auch bei Vernachlässigung aller Normverstöße, die auch durch andere Fehlerquellen verursacht worden sein könnten, bleibt das Überwiegen der normwidrigen Lenisierung (54 Belege bzw. 57,45 Prozent) gegenüber der Fortisierung (40 Belege bzw. 42,55 Prozent) in diesem Fehler-Teilkorpus charakteristisch. 253 Kischs ,tschechische‘ Interpretation der in Prag angeblich geläufigen Plosiv-Verwechslung hatte schon Trost (1962: 34) zurückgewiesen. Er war stattdessen, allerdings ohne einen Nachweis zu erbringen, von einem bairisch-österreichischen Artikulationsmerkmal ausgegangen.

256

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 9:  Die Realisierung von anlautendem urjiddischem ß im ehemaligen westjiddischen Sprachraum

5.1.2.2  Verwechslung von ‹s› und ‹z› im An-, In- und Auslaut Auffällig ist in Kafkas Manuskript eine Gruppe von 65 Autokorrekturen, welche die Verwechslung der Grapheme ‹s› und ‹z› betreffen.254 In 38 Fällen (58,46 Prozent) tritt dieses Phänomen im Anlaut vor Vokal auf und soll zunächst in dieser Position betrachtet werden. Dass man es hierbei möglicherweise mit einem nachweisbaren Reflex westjiddischer Artikulation zu tun hat, zeigt ein Blick in den Westjiddischen Sprachatlas: Franz J. Beranek (1965: 66–67) vermerkt hier eine Tendenz des stimmlosen [s] im Anlaut,255 in

254 Zur Diskussion des folgenden Teilkapitels s. Blahak (2010: 303–306). 255 Nach Povejšil (1980: 80) erweist die Graphie in deutschsprachigen Gerichtsprotokollen schon im Prag des späten 17. Jahrhunderts das Vorherrschen eines stimmlosen [s] im An- und Inlaut. Teweles (1884: 107) schrieb dieses v. a. oberdeutsche Phänomen irrtümlich dem Einfluss tschechischer Artikulation zu.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

257

die Affrikata [ts] überzugehen: „In Niederösterreich ist dies ausnahmslos der Fall, in den Sudetenländern war der Übergang bei der Generation der ganz Alten die Regel, die Jüngeren kannten ihn kaum.“256 Beraneks Datenerhebung zum Sudetenjiddischen erfolgte nach eigenen Angaben vornehmlich in den Jahren zwischen 1930 und 1945 (Beranek 1961: 270). Rechnet man von dieser Zeitspanne aus zurück, so wurden jene „ganz Alten“ ungefähr zwischen 1860 und 1875, d. h. zeitlich zwischen Hermann Kafka (1852) und seinem Sohn Franz (1883) geboren. Mithin dürfte dieses für die Juden Böhmens und Mährens charakteristische Aussprachemerkmal noch in jüdischen Kreisen jener Zwischengeneration, also auch im Sozialisationsmilieu Kafkas hörbar gewesen sein.257 Das von Beranek beschriebene Anlautungsphänomen258 scheint dabei 19-mal in Form von Direktanzeige in Kafkas Schriftbild Niederschlag gefunden zu haben: ([ZA]>S)ache (Pv.10/14), (z>s)agte (Pv.135/11), durch(z>s)etzen (Pv.160/1), (z>s)etzen zu dürfen (Sv.23/21), er(z>s)etzende (Sv.258/25), ([z]>s)ondern (Vv.192/21–22), ab(z>s)uchen (Vv.253/24), (Z>S)essel (N1v.414/10), (z>s)o (N2v.366/18; N2v.389/26; Dv.339/7), zu(zA>s)ammenzustellen (Pv.52/8), zu(z>s)ehn (Pv.65/27), (zA>s)ich zu verbreiten (Pv.241/20), [Naturge(tzA>se)tz] (Pv.350/20), vorausge(tz>s)etzt (Sv.459/20–21), des Spei(z>s)e(s>z)immers (Vv.82/11), (z>s)ie zu 259

(Vv.121/4), zu | (z>s)einer (N2v.215/13).

256 Zwar betont Klepsch (2004: 220), lediglich Hebraismen hätten im Westjiddischen ein stimmloses [s] im Anlaut, das wiederum in der Position des prävokalischen Wortanlauts einem Wandel zur Affrikata [ts] unterliege (entsprechende Beispielen s. z. B. bei Beranek 1958: 66). Bedenkt man allerdings die stimmlose Aussprache des wortanlautenden /s/ im ober- und z. T. im ostmitteldeutschen Sprachraum (Schwitalla 32006: 48; Zehetner 1977: 64–66; Merkle 61996: 25; Koller 1991: 24; Ammon/Loewer 1977: 57–58; Besch/Löffler 1977: 41), so ist auch eine Auswirkung auf den deutschen Bestandteil des Sudetenjiddischen in der von Beranek skizzierten Weise vorstellbar. Dies könnte v. a. bei Sprechern jüdischer Herkunft gegolten haben, deren sprachliche Assimilation an das Deutsche bereits weit fortgeschritten war. 257 S. hierzu Kap. 2.4.3. 258 Dieses ist auch im Zentralostjiddischen nachweisbar (Weissberg 1988: 116). 259 Bei acht von 19 Textbelegen (42,11 Prozent) könnte die Schreibung von ‹z›/‹tz› anstelle von ‹s› auch durch die Antizipation eines ‹z› innerhalb eines Wortes bzw. vom folgenden Wortanlaut oder aufgrund von Perseveration erfolgt sein.

258

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

An 17 Stellen könnte es sich entsprechend um hyperkorrekte Formen handeln: (s>z)um Teil (Sv.315/13), ver(s>z)ichten (Sv.467/14; vgl. Vv.389/1), (s>z)eigt (Vv.29/16=Dv.87/12; vgl. Vv.292/22), durchge(s>z)ogen (Vv.404/9), zur (S>Z)eit (N1v.259/7), hinaus(s>z)ögern (N2v.151/19), ab(z>g)e-|(s>z)ogene (N2v.457/24), (s>z)uständig (Pv.222/17–224/3(1)), als spreche er sich selbst Mut (s>z)u (Pv.263/8), {(s>z)u sehn} (Pv.270/14–18(2)), des Arbeiterseins ([s]>z)eigten[.] (Sv.58/11), des Spei(z>s)e(s>z)immers (Vv.82/11), (s>z)u sehn versteht (N2v.338/5), auf-|(s>z)usehn (N2v.347/12–13), 260

(sA>z)u stocken (Dv.43/16).

Berücksichtigt man diejenigen Belegstellen nicht, an welchen es auch aufgrund von Antizipation innerhalb eines Wortes bzw. des folgenden Wortanlautes oder durch Perseveration zur Verwechslung von ‹z› und ‹s› gekommen sein könnte, ergibt sich ein charakteristisches Verhältnis von elf Fällen mutmaßlicher Direktanzeige (55 Prozent) zu neun Fällen entsprechender Hyperkorrektur (45 Prozent). Dieser Befund könnte auf den Reflex der Aussprache eines Sprechers hindeuten, dessen Deutsch die westjiddische Affrizierung des stimmlosen [s] im Wortanlaut zumindest in abgeschwächter Form aufwies. In Kafkas Autograph findet sich ferner die Verwechslung von ‹z› und ‹s› im Wort­ inlaut: 261

Franzen

(Pe.350/12), {ein(z>s)tige} (N2v.334/14), grin[z]{s}t (Dv.309/20), an(s>z)iehn (Sv.203/4),

an(s>z)iehen (N2v.522/4).

Auch hier zeichnet sich eine Parallele zur Phonetik des Jiddischen ab: Zumindest im zentralen Ostjiddischen (Weissberg 1988: 100, 106, 117) sowie Südwestjiddischen (Hutterer 1965: 138) ergibt das stimmlose s nach dem Nasal n in der Regel die Affrikata [ds] bzw. [ts], die sich im Graphem ‹z› im Schriftbild niedergeschlagen haben könnte.262

260 Bei acht von 17 Textbelegen (47,06 Prozent) wäre die Schreibung von ‹s› anstelle von ‹z› auch aufgrund von Antizipation eines ‹s› innerhalb eines Wortes bzw. vom folgenden Wortanlaut oder aufgrund von Perseveration denkbar. Bei den vier letzten Belegen könnte es sich u. U. auch um Ansätze zur Ellipse der Infinitiv-Konjunktion zu handeln (s. hierzu Kap. 5.2.8.1.2). 261 Nach dem Kontext sind Fransen gemeint. Speziell dieses Wort führt auch Weissberg (1988: 117) in der Schreibung Franze (frendsl) als Beispiel für die jiddische Affrizierung des deutschen s im Inlaut an. 262 Schnitzler (1966: 26) weist die westjiddische Realisierung von [s] nach ‹n› als [ts] in Prag anhand verschriftlichter Belege in Drucken des 17. und 18. Jahrhunderts nach.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

259

Allerdings lässt sich in diesem Fall auch eine Deutung als mundartbedingte Interferenz nicht ausschließen: In den nord- und ostoberdeutschen Dialekten wird die Konsonantenverbindung ns als [nts] ausgesprochen (Weinhold 1867: 155–156), was zu interferenzieller Verwechslung von ‹s› und ‹z› in der Schrift führen kann (Lehmann 1899: 14; Mayr 21930: 186; Zehetner 1977: 57–58; Koller 1991: 42). Insofern oszilliert Kafkas s/z-Verwechslung im Inlaut zwischen der Interpretation als Regionalismus jiddischer oder bairisch-ostfränkischer Provenienz. Aufgrund der engen genetischen Verwandtschaft des Westjiddischen und der bairischen Dialekte (Bin-Nun 1973: 83) kann in diesem Punkt keine klare Entscheidung getroffen werden. Die westjiddische Interpretation erscheint jedoch mit Blick auf das gesamte Korpus der s/z-Verwechslungen insofern nahe liegend, als sich neben der Direktanzeige in der Anlautung auch einige die Auslautung betreffende Belegstellen als phonetisch durch das Jiddische induziert erklären lassen: Nach Weissberg (1988: 107) wird die deutsche Affrikata [ts] im Jiddischen (z. T. beeinflusst durch ein slawischsprachiges Umfeld) im Wortauslaut als stimmloses [s] realisiert.263 Der Reflex einer solchen Lautung lässt sich an Textstellen ausmachen, an welchen Kafka ‹s›, ‹ss› oder ‹ß› statt auslautendem ‹z› bzw. ‹tz› schrieb: Existen(s>z) (N2v.525/17), Existens (N2e.623/8),

264

Weiss, Schmu(ss>tz) (N1v.320/26–27=Dv.273/23),

Fußpi[ß]{tz}en (Dv.297/1), Trape(s>z) (Dv.319/26–320/13,2*).

Auch der ‹t›-Ausfall vor auslautendem ‹s› ließe sich u. U. auf eine lautliche Realisierung von hochdeutsch [ts] als [s] zurückführen: Gerich(s>t)sdiener (Pv.89/9–10), Gerichsdiener (Pv.89/20(1); Pe.139/4,10), je{t}(s>z)t (Sv.98/15), nich(s>t)s (N2v.628/4).

Bin-Nun (1973: 368) wiederum nennt Beispiele für die Verwendung der Affrikata [ts] im Jiddischen, wo im Deutschen auslautend [s] realisiert wird.265 Im Korpus finden sich

263 Er nennt hierzu die Beispiele bilanss (,Bilanze‘), romanss (,Romanze‘), finanss (,Finanz‘). Vgl. analoge Belege aus dem Westjiddischen bei Beranek (1958: 66). 264 Die beiden vorausgegangenen Belegstellen passen zugleich in das bairisch-ostfränkische bzw. jiddische Schema der ns/nz-Verwechslung (s. o.). 265 So z. B. nets (,Nässe‘), tats (,Tasse‘) und šprotsn (,Sprossen‘).

260

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

entsprechende Verschreibungen, die eventuell auch als hyperkorrekte Formen zu dem zuvor beschriebenen phonetischen Phänomen gedeutet werden könnten: lie(tx>ss) (Sv.98/18), al(t>s) etwas (Sv.183/18(1)92*), allerer(z>s)ten (Sv.460/6), mü(tz>ss)en (Vv.34/16=Dv.92/12), wu(z>s){s}te (Vv.86/10), des […] Spei(z>s)ezimmers (Vv.102/6–7), Speize­ 266

(x>z)immer (Vv.102/19).

Das Verhältnis von Direktanzeige zu Hyperkorrektur erwiese sich in diesem Fall mit elf (61,11 Prozent) zu sieben (38,89 Prozent) Belegen als charakteristisch.267 Eine generelle latente Unsicherheit Kafkas bei der Schreibung von ‹s› oder ‹z› ist anhand weiterer Textstellen erkennbar, an welchen ‹st› mit ‹tz› oder ‹zt›, ‹ts› mit ‹tz› sowie ‹z› mit ‹t› verwechselt wurden:268 nicht(z>s) (t>z)u tun (Sv.183/18,15*), nicht(z>s) anderes (Sv.331/8), Voraus{s}e(st>tz)ung (N2v.593/8), selbztverständlichen (Dv.123/8).

In der Summe lassen 56 der genannten Belegstellen (86,15 Prozent) eine Interpretation der Verwechslung von ‹s› und ‹z› im Schriftbild als Reflex westjiddischer Artikulation zu. Weitere fünf Belege (7,69 Prozent) gestatten diese zumindest gleichberechtigt neben einer bairisch-ostfränkischen Auslegung.269 Aufgrund dieser Indizien und der Tatsache, dass sich Kafka in 59 der 65 hier diskutierten Fälle (zu 90,70 Prozent) selbst korrigierte, kann das verschriftlichte Lautungsrelikt als Regionalismus des Typs A1/E[sJ+] bestimmt werden.

266 Bei zwei von sieben Textbelegen (28,57 Prozent) kommt auch die Schreibung von ‹z› anstelle von ‹s› aufgrund von Antizipation eines ‹z› innerhalb eines Wortes als Fehlerquelle in Betracht. 267 Auch bei Ausschluss mehrdeutiger Stellen bliebe das Verhältnis mit elf Direktanzeigen (68,75 Prozent) zu fünf Hyperkorrekturen (31,25 Prozent) charakteristisch. 268 Solche nicht regional-mundartlich oder jiddisch bedingten Verschreibungen werden durch das „orthographische Überangebot“ (Koller 1991: 42) für die Lautfolge [ts] im Deutschen verursacht. 269 Bei Ausschluss aller Normverstöße, zu welchen es auch durch andere Fehlerquellen gekommen sein könnte, sprechen 36 (80 Prozent) von 45 Verschreibungen Kafkas für eine westjiddische, weitere fünf (11,11 Prozent) für eine jiddische oder bairisch-ostfränkische Interferenz.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

261

5.1.2.3  Anlautende Verwechslung der Grapheme für den stimmhaften und den stimmlosen labiodentalen Reibelaut /v/ und /f/ Ein anderer ungewöhnlicher Befund innerhalb der Varianten Kafkas betrifft die Grapheme ‹f›, ‹v› und ‹w›, die in insgesamt 174 Fällen normwidrig miteinander verwechselt werden.270 Da die Verwechslung von ‹v› und ‹f› im gesamten deutschen Sprachraum nicht mundartlich, sondern „ausschließlich durch die Inkonsequenz der Rechtschreibnorm bedingt“ (Koller 1991: 34) ist und da ‹f›/‹v› zudem im Großteil des oberdeutschen Sprachraums271 abweichend von der Hochlautung272 in allen Stellungen stimmlos als [f ] realisiert werden,273 wird die vergleichsweise kleine Gruppe von 18 f/v-274 und zwölf v/f-Verwechslungen275 (17,24 Prozent des Fehlerkorpus) in der folgenden Betrachtung nicht berücksichtigt.

270 Die w/v-Verwechslung war erstmals Pasley (21983b: 80) im Manuskript des Schloß-Romans aufgefallen. Zur Diskussion des folgenden Teilkapitels s. Blahak (2010: 306–310). 271 Nur die schwäbischen Dialekte kennen sowohl den stimmhaften als auch den stimmlosen Reibelaut (Ammon/Loewer 1977: 58–59). 272 Laut Siebs (111915: 64; 151930: 64) wird „[d]ieses labiodentale f […] gesprochen in allen deutschen Wörtern, in denen f (ff) oder v geschrieben wird[;] ein Unterschied zwischen der Aussprache des f und v besteht nicht.“ 273 Zur stimmlosen Realisierung von ‹f› und ‹v› im oberdeutschen Dialektraum vgl. u. a. Mayr (21930: 111), Schuster/Schikola (1984: 77), Besch/Löffler (1977: 41, 44) und Koller (1991: 34). Im mundartlichen Konsonantensystem der bairischen Dialekte fehlt der stimmhafte labiodentale Reibelaut [v] völlig. Ihm entspricht der bilabiale, bilaterale, stimmlose Reibelaut [w] (Weinhold 1867: 135–141; Zehetner 1977: 69; Reitmajer 1979: 130). 274 Vgl. au(f>ch) von dieser Seite (Pv.115/12–13), (fA>v)ielleicht (Pv.139/8; Pv.295/16), [(f>v)iel] (Pv.146/12–13(1); Sv.288/2–3(4)144*), (fA>v)ollständig wertlos (Pv.272/3), in ([ fA]>v)ielen (Pv.305/20), {(fA>v)or} (Pv.314/21), da(f>v)or (Pv.336/4), (f>v)orsetzte (Sv.479/3–4,34*), ver­ (f>v)ielfältigte (Vv.55/18), ([ fA]>v)orteihaft (N1v.394/18=Dv.302/27), (f>v)erlässt (N1v.429/9), (f>v)or (N2v.29/7), [es ver(f>v)ielfachte sie] (N2v.266/27), (fA>v)ierte (N2v.313/10), [ver(f>v)ielfacht] (N2v.555/26), (f>v)ielen (Dv.88/22). Bei vier von 18 Textbelegen (22,22 Prozent) ist auch das Vertauschen von ‹f› und ‹v› am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter als Ursache für Kafkas Verschreibungen denkbar. 275 Vgl. (v>f)ort(s>g)eschritten (Pv.239/6), (vor>auf)forderst (Sv.221/22), ([v]>f)ortstossend (Sv.478/7), Ha(v>f)enviertel (Vv.67/25–26), schon viel ein wenig […] Licht (Ve.77/3–4), (v>f)ortschicken (Vv.123/1–2), von (v>f)ernher (N1v.319/16–17=Dv.272/14), ([v]>f)ür (N2v.439/9), [weit (v>f)ort voA] (N2v.475/5), [(v>fr)eilich] (N2v.592/3(1)), (v>f)ür immer (N2v.675/4=Dv.373/16–17), beugte sich vor, (vi>fi)el aber nicht (Dv.58/19). Bei vier von zwölf Textbelegen (33,33 Prozent) könnte auch eine ‹v›/‹f›-Vertauschung innerhalb eines Wortes bzw. am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter die Verschreibung provoziert haben.

262

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Von weit größerem fehlerlinguistischem Aussagewert ist Kafkas Schreibung von ‹v› bzw. ‹f› statt ‹w› einerseits und von ‹w› statt ‹v› bzw. ‹f› andererseits. Die Verteilung sieht wie folgt aus: ‹w› wird im gesamten Korpus insgesamt 45-mal normwidrig durch ‹v› ersetzt. Dies betrifft 38-mal die Position im Anlaut vor Vokal: (V>W)ä(achA>ch)ter (Pv.13/20), (Ve>W)er sind sie (Pv.31/16), (V>W)orüber (Pv.135/19–20), (VxA>wo)llen (Pv.235/1), [(v>w)ollte er] (Pv.303/3,6*), Es (v>w)ar (Pv.330/13), [(V>W)as] (Sv.214/13; vgl. Vv.137/7), ([v]>w)ährend (Sv.241/25), (V>W)ort (Sv.326/8), (v>w)ofür (Sv.334/4), (v>w)obei (Sv.381/1), irgend(vo>w)ohin (Sv.397/25), (v>w)artet (Sv.400/13), an(v>w)enden (Sv.404/7,32*), abzu(v>w)ehren (Vv.30/14=Dv.88/9–10), an(ve>w)enden (Vv.56/22), (vi>w)irst (Vv.122/15), (V>W)a­gentreppe (Vv.141/17–18), ([vA]>w)ieder (Vv.161/23), (v>w)ohl (Vv.271/1), (V>W)agen (Vv.311/23), Miss(v>w)irtschaft (Vv.360/12), (V>W)ir haben (Vv.365/18), (v>w)ürde (N1v.31/20), (vo>wo)mit (N1v.346/23), (v>wie) (N2v.276/2), eigen(vi>wi)lligste (N2v.326/15), (v>[was w]>wov)on wir andern keine Ahnung hatten (N2v.326/18–19), (vi>wi)rd (N2v.327/24), ge(vi>w)iss (N2v.331/5), (v>w)irk­lich (Dv.185/13), (V>W)oche von Tag zu Tag (Pv.73/4–18(1)), (V>W)ie viel Jahre (Pv.233/2), (voA>w)ovon (Pv.275/6–7(1)), (v>w)arum verfolgst Du mich (Sv.400/19), (v>w)erden verschie276

dene (N1v.389/14), (v>w)o(w>v)on (N2v.384/4).

Siebenmal erfolgt diese Verwechslung im Inlaut nach dem stimmlosen Reibelaut [∫] bzw. der stimmlosen Affrikata [ts]: Sch(v>w)eigenden (Vv.29/8=Dv.87/4), z(v>w)ar (Vv.36/19=Dv.94/14), z(v>w)ei (Vv.138/3), z(v>w)ischen (Vv.364/6–9(4)), z(vis>wi)schen (N2v.70/16), Z(v>w)eifel (N2v.249/8), verz(v>w)eifelt (N2v.578/12).

Ferner tritt ‹f› insgesamt 27-mal im Anlaut vor Vokal oder Diphthong an die Stelle von ‹w›: ([ fA]>w)ar (Pv.147/23; vgl. Vv.140/22), (f>w)arf (Pv.194/13), (f>w)ickelte (Pv.280/2), [f] wurden (Sv.64/2), (f>w)as (Sv.305/20; Dv.133/14), Haus(f>w)irtin (Vv.78/8), (f>w)elche (Vv.192/2), sie [(fA>w)] wird (Vv.230/20), (f>w)issen (Vv.251/5), (fA>w)ie (Vv.399/7), (F>W)är-

276 Bei sechs von 38 Textbelegen (15,79 Prozent) stellt auch eine ‹w›/‹v›-Verwechslung innerhalb eines Wortes oder am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter eine mögliche Fehlerquelle dar. Unberücksichtigt bleibt die Textstelle (v>w)er(s>d)en, verstand (Sv.258/17), an der offenbar zu verstand angesetzt wurde.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

277

me (N1v.317/21=Dv.270/13), (f>w)age (N1v.387/6),

263

be(fa>w)ahren (N2v.101/9), So(f>w)eit

(N2v.201/13), ([ fA]>w)ie (N2v.251/21), ge(f>w)orden (N2v.268/7), [f] warf (N2v.308/2), ge(f>w)ürgt (N2v.331/15), (f>w)eiss (N2v.422/20), [fähA] während der Fahrt (Vv.7/17=Dv.5/14),­ (f>w)ieder fragte (Vv.204/21), (f>w)ie früher (Vv.411/21; vgl. Dv.179/3), weg(fA>w)erfende 278

(N2v.402/26), (f>w)eiss gefleckt (N2v.476/11).

Die umgekehrte Verwechslung tritt mit exakt der gleichen Häufigkeit auf: ‹w› ersetzt ‹v› insgesamt 49-mal, davon 47-mal im Anlaut vor Vokal: {(w>v)ielen} (Pv.30/19(1)), [(w>v)erurteilt] (Pv.77/7), (wi>vi)ere(kc>cki)ger (Pv.114/16), Ein(w>v)ernahme (Pv.151/13), (w>v)or (Pv.151/16; Sv.39/19; Sv.429/8; N2v.330/19), Vor(w>v)erhandlungen (Pv.164/5), ([w]>v)ertritt (Pv.233/9), {(w>v)erlangte} (Pv.242/1), (w>v)ielleicht (Sv.27/12– 13), ([w]>v)ersteht (Sv.32/6), (W>V)ater (Sv.336/3), ([w]>v)iel (Sv.404/7,120*), (we>ve)rgleichbar (Vv.56/4), (w>v)on (Vv.81/11; Vv.158/22; N1v.269/14), (w>v)erlockt (Vv.91/24), (w>v)orh(ä>a)n­den (Vv.137/16), (w>v)ielleicht (N1v.247/20–21), (w>v)oll(.>,) (N2v.74/11–75/13(2)19*), (W>V)olk (N2v.261/1), {(W>V)erand(e>a)} (N2v.263/8), [(w>v)ielfach] (N2v.269/15), (w>v)oll (N2v.489/19), unseres (W>V)olkes (N2v.667/6=Dv.365/17), des (W>V)aters (Dv.160/16), (wo>v)on wo (Pv.38/24,6*–7*(1)), {(W>V)on wem} (Pv.120/4), her(w>v)orgewälzten (Pv.130/10), er wollte ­(w>v)on (Pv.232/4), (W>V)ielleicht wußte (Pv.232/23), an die ganze Welt (w>v)ergass (Pv.265/3), er war [w] von (Sv.161/11), (W>V)erantwortung (Sv.179/2–3), des (W>V)aters Weggang (Sv.233/14), (w>v)er­wandelt (Sv.348/20), (w>v)on wo (Sv.458/4), Wagen-|(w>v)erkehr (Vv.74/12–13), (w>v)ielleicht wütete (Vv.367/109), (w>v)ielleicht würde (Vv.408/18), weiterhin (w>v)erwertbare (N1v.195/16–17), 279

wirklich (w>v)iel (N1v.208/16), (v>w)o(w>v)on (N2v.384/4), der (W>V)ater weit (N2v.549/8).

Zweimal liegt diese Verschreibung im Inlaut nach ‹r› vor: Lar([w]>v)e (Sv.216/6), Entlar(w>v)ung (N2v.254/5). Zudem wird ‹w› 23-mal im Anlaut statt ‹f› geschrieben, davon 20-mal vor Vokal:

277 Da die Textstelle nach Kafkas Autokorrektur wage ich die Frage lautet, ist hier auch ein ursprünglicher Ansatz zu frage ich denkbar. 278 Bei sechs von 27 Textbelegen (22,22 Prozent) kommt auch das Vertauschen von ‹f› und ‹w› am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter als Fehlerquelle in Betracht. 279 Bei 18 von 47 Textbelegen (38,30 Prozent) könnte auch das Vertauschen von ‹w› und ‹v› am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter oder die Setzung von ‹w› aufgrund von Antizipation innerhalb eines Wortes Kafkas Verschreibungen provoziert haben.

264

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Feuerwehr(w>f)achmann (Sv.308/25),

280

(W>F)enster (Pv.82/24), (w>f)ast (Sv.65/1), ([w]>f)ür

(Sv.83/7), aufge([w]>f)asst (Sv.253/17), der {W} Führer (Vv.75/1), (waren>fahre)n (Vv.215/15), (we>fe)r­tig (N1v.410/8), {(wa>fa)st} (N2v.275/5), (We>Fe)rne (N2v.343/10–13(1)), (w>f)ür (N2v.405/13), (W>F)ussboden, Wände (Pv.193/24–25), weg, Rückwärts(w>f)ahren (Sv.168/18), wurde (w>f)ür (Vv.149/4), werden (w>f)ahren (N1v.119/26), ich wurde aufge(w>f)orde(tA>r)t (N1v.363/11), (waA>fa)st wagrecht (N2v.406/21), (wi>fi)nden wir (N2v.437/24(1)), im freien (Wx>Fe)ld (N2v.568/2), weg, 281

(wA>f)ast (N2v.608/17).

Dreimal betrifft diese Verwechslung ‹f› vor ‹l› oder ‹r›: als man weiter (w>fr)agte (Sv.237/2), (W>Fl)eck (N1v.393/9(2)=Dv.301/17–18(2)), (W>F)reiheit (N2v.89/14).282 Da Kafka sich mit einer Ausnahme in allen Fällen selbst berichtigte, ist ersichtlich, dass er die orthographische Norm grundsätzlich kannte. Stellt man die Verwechslung der Grapheme für labiodentale Reibelaute schematisch dar, so ergibt sich ein auffällig harmonisch-ausgeglichenes Verhältnis: normwidrige Setzung von ‹v› für ‹w› (45-mal)

‹w› für ‹v› (49-mal)

72

72

‹f› für ‹w› (27-mal)

‹w› für ‹f› (23-mal)

Tab. 7:  Schematisierte quantitative Gegenüberstellung der Verwechslung der Grapheme für labiodentale Reibelaute in Kafkas Manuskripten

Insgesamt entsteht zunächst der Eindruck, man habe es bei Kafka mit einem Sprecher zu tun, der im Anlaut einen labiodentalen Reibelaut mittlerer Stärke zwischen stimmhaft [v] und stimmlos [f ] benutzte. Ein derartiges Lautungsphänomen wäre allerdings für keine deutsche Mundart charakteristisch, schon gar nicht für die bairisch-österreichischen

280 Hier besteht die Möglichkeit einer lexikalischen Variante (Wachmann statt Fachmann). 281 Bei neun von 20 Textbelegen (45 Prozent) ist auch das Vertauschen von ‹w› und ‹f› am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter als Fehlerquelle denkbar. 282 Bei einem von drei Textbelegen (33,33 Prozent) kommt auch die Schreibung von ‹w› statt ‹f› aufgrund von Perseveration als Fehlerursache in Frage.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

265

Dialekte,283 deren phonetische Merkmale sich bisher wiederholt im Korpus nachweisen ließen. Schließt man aus, dass Kafka einen Sprachfehler hatte, der als idiolektal betrachtet werden müsste, dann liefert der vorliegende Fehlerbefund Indizien für Spuren westjiddischer Artikulation, wie sie in der Forschung beschrieben werden: Bei der Untersuchung westjiddischer Relikte in Westfalen stellte z. B. Weinberg (1969: 21) ein häufiges „Zusammenfallen bzw. Umkehren von Stimmhaftigkeit und ‑losigkeit bei Konsonanten, besonders b-p und w-f “ fest. Aus diachroner Perspektive wies Timm (1987: 292) auf einen bereits in der frühen Neuzeit erfolgten Graphiewechsel in westjiddisch verfassten Dru­ cken hin, bei dem die Graphien für die Lenis der Reibelaute (Waw bzw. raphiertes Beth) im Anlaut zunehmend durch das Graphem für die Fortis (raphiertes Pe) abgelöst wurden. Dieser Vorgang spiegele „nicht nur den Stimmtonverlust, sondern auch eine anschließende allmähliche Fortisierung bis zu einem Grade, der im Bewusstsein des Sprechers eine phonemische Verkoppelung mit der sonstigen Fortis (wie in ›schlafen‹, ›Schlaf‹ usw.) gestattete.“ Diese Fortisierung konnte im Hauptgebiet des Westjiddischen bis zu einem normalen (Fortis‑)[f ] reichen. Erhebungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts haben ferner ergeben, dass auch im Schwächungsgebiet des südlichen Westjiddischen284 im Anlaut zumindest noch eine Halbfortis erreicht wurde, die aber auch demselben Phonem wie demjenigen in ,Schlaf ‘ angehörte: So ist für das Westjiddische in Franken nur eine einzige Reihe stimmloser Reibelaute belegt, bei welchen es sich „um normalerweise halbstarke Laute mit – nach der Lenisseite bis zum Stimmhaftwerden – schwankender Artikulation“ (Beranek 1961: 280) handelte.285 Im Westjiddischen des schweizerischen Surbtals bestand die Tendenz, das Phonem /f/ im Anlaut als Halbfortis zu realisieren, wobei der hörbare Unterschied zur stimmlosen Lenis sehr gering gewesen sei (Guggenheim-Grünberg 1958: 96–97); und

283 Im Bereich der Schreibung von ‹f›, ‹v› und ‹w› wäre nach der entsprechenden Fehler-Typologie als Direktanzeige (meist in Fremdwörtern) die Ersetzung von ‹v› im An- und Inlaut (wo es stimmlos realisiert wird) durch ‹f› zu erwarten. In allen deutschen Wörtern besteht lediglich das (nicht mundartlich bedingte) Problem der ‹v›/‹f›-Verwechslungen (Lehmann 1899: 14; Zehetner 1977: 70), die im hier betrachteten Fehlerkorpus zudem nicht zahlreich sind. Bezeichnenderweise sind es die einzigen zwei echten Fremdwörter im Korpus (Larve, Entlarvung), deren Schreibung mit ‹w› im Inlaut in die Typologie dialektbedingter Fehler bairischer Mundartsprecher im Schriftdeutschen passen würde. 284 Es ist in etwa mit dem oberdeutschen Dialektareal identisch (vgl. Kap. 5.1.2.1). 285 Beranek nimmt das Sudetenjiddische, das sowohl stimmhafte als auch stimmlose Reibelaute kenne, zwar von dieser Erscheinung aus. Dennoch ist denkbar, dass sich die sprachlichen Verhältnisse in der böhmischen Hauptstadt, die im 19. Jahrhundert durch kontinuierliche Immigration aus den verschiedenen Regionen der Monarchie geprägt war, u. U. anders gestalteten.

266

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

auch im Elsass ließ sich die Verhärtung des weichen Reibelautes w zu f als markantes Aussprachemerkmal des regional verbreiteten Westjiddischen feststellen (Fischer 1936: 91). Da die Verwechslung der Grapheme für labiodentale Reibelaute bei Kafka in der überwiegenden Zahl der Fälle286 die Anlautung betrifft, sei das Fehlerkorpus einem weiteren, doppelten Ausschlussverfahren unterzogen: Nicht betrachtet werden im Folgenden die neun Fälle inlautender Verwechslung, ferner diejenigen 42 Belegstellen, bei welchen Verwechslungen von ‹w› und ‹f›/‹v› innerhalb eines Wortes oder am Beginn zweier aufeinander folgender Wörter, ferner Verschreibungen aufgrund von Perseveration oder Antizipation sowie Ansätze zu lexikalischen Varianten als Fehlerquellen für die betrachteten Graphem-Verschreibungen in Betracht kommen.287 Das Ergebnis kann wie folgt schematisiert werden: normwidrige Setzung von ‹v› für ‹w› (32-mal)

‹w› für ‹v› (29-mal)

52

42

‹f› für ‹w› (20-mal)

‹w› für ‹f› (13-mal)

Tab. 8:  Bereinigte schematisierte quantitative Gegenüberstellung der Verwechslung der ­Grapheme für labiodentale Reibelaute in Kafkas Manuskripten

Demnach setzte Kafka im Anlaut häufiger (52-mal bzw. zu 55,32 Prozent) die Grapheme, die den stimmlosen labiodentalen Reibelaut /f/ repräsentieren, normwidrig für das Graphem des stimmhaften labiodentalen Reibelautes /v/, während die umgekehrte Verwechslung seltener (42-mal bzw. zu 44,68 Prozent) auftritt. Dieses aus fehlerlinguistischer Sicht charakteristische Verhältnis mutmaßlicher Direktanzeige zu Hyperkorrektur weist auf eine tendenziell stimmlose Aussprache des im Standarddeutschen stimmhaften labiodentalen Reibelautes im Anlaut hin. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der angeführten Untersuchungen zur Phonetik des Westjiddischen und lässt sich insofern als Regionalismus unter der Sigle A1/E[wJ] kategorisieren.

286 Konkret handelt es sich um 163 (93,68 Prozent) aller 174 Belegstellen bzw. um 135 (93,75 Prozent) der 144 f/v-w-Verwechslungen. 287 Diese stehen jeweils am Ende der Belegstellen-Blöcke und sind insofern kenntlich gemacht, als die für Antizipation oder Perseveration in Frage kommenden Wörter bzw. Wortbestandteile mit zitiert werden.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

267

5.1.2.4  Graphemische Realisierung der Affrikata /pf/ als ‹f› bzw. ‹p› Schließlich lassen Kafkas Varianten auch eine gewisse Unsicherheit bei der Schreibung der Affrikata /pf/ erkennen.288 Dabei kommt es in zehn Fällen im An‑, In- und Auslaut zum Ausfall des ‹p› im Schriftbild, während hochdeutsch [f ] umgekehrt zwölfmal in den gleichen Positionen normwidrig als ‹pf› verschriftlicht wird bzw. durch die Schreibung eines ‹p› ein Ansatz dazu erkennbar ist. Hinzu kommt eine viermalige graphemische Realisierung von an- und auslautendem [pf ] unter ‹f›-Ausfall. Dieser Fehlerbefund bedarf einer differenzierten Betrachtung. Ausgeschlossen von der Untersuchung werden zunächst jene sechs Belege, in welchen Kafka höchstwahrscheinlich die beiden Grapheme für den Laut [f ] – ‹ph› und ‹f› – im Zuge der Niederschrift miteinander vermengte, zumal sie allesamt in Fremdwörtern vorliegen, die um 1910 mit ‹ph› oder ‹f› geschrieben werden konnten:289 P(f>h)antasie (Sv.109/15; Sv.479/16; vgl. N2v.427/1), P(f>h)oto(x>g)raphie (Sv.124/14), Sop(f>h)a 290

(N2v.112/14), {Kinematograp(f>h)enbesitzers} (Dv.47/15–16(1)).

Da 18 der übrigen 23 von Kafka meist korrigierten Belege die Anlautung betreffen, seien diese zunächst betrachtet: Am häufigsten entfällt in dieser Position in der hochdeutschen Affrikata [pf ] das ‹p› im Schriftbild, oder es wird durch die graphemische Wiedergabe als ‹ph› der Reflex einer Aussprache als [f ] angedeutet: 291

Bett(fA>p)fosten (Pv.247/22), (f>b)efreite (Sv.425/2),

(F>P)ferd (Vv.74/23), ge{p}flastert (Vv.287/5),

emp(h>f)ohlen (Vv.318/17–18; vgl. N1v.410/13), [Ein blonder gefA] […] de(s>r) blonde[n] […] gepflegte[n] Vollbarts (Vv.401/17–20(2)), ge(f>p){f}legten (N1v.387/1), Einp(ha>fä)hlen (N2v.32/14– 292

15).

288 Zur Diskussion des folgenden Teilkapitels s. Blahak (2010: 311–313). 289 Vgl. die Schreibweise Sopha noch in Grimm/Grimm (1950: 1750). 290 Nicht berücksichtigt werden ferner Abkürzungen für Photographie wie Potogr. (Pe.41/24) oder Pot. (Ve.178/5), bei welchen das ‹f› der Affrikata im Schriftbild fehlt. 291 Der bei Kafka häufig belegte e-Ausfall im Präfix be- (s. Kap. 5.1.1.1.4) ergäbe bei befreien im Anlaut die stimmhafte Affrikata [bf ], die im vorliegenden Fall als ‹f› verschriftlicht wurde. 292 Es ist wahrscheinlich, dass auch an den folgenden Stellen Verschreibungen dieses Typs vorliegen: ver(x>p)flichten (Sv.56/20), seine [Verbindungen] {Ver(xx>pf)lichtungen} (N1v.274/22). Allerdings sind die im Zuge der Korrektur überschriebenen Wortbestandteile nicht mehr identifizierbar.

268

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Bei diesem Phänomen handelt es sich vermutlich um die Direktanzeige einer Interferenz substandardlicher Provenienz. Bei Ansätzen zur normwidrigen Realisierung eines anlautenden [f ] als ‹pf› darf man demgegenüber von Kontrastübertreibungen ausgehen: ([P]>F)aust (Sv.416/2), (P>F)rühstück (Vv.227/2), anzu([pA]>f)assen (N1v.225/7), ver­ (pfluA>xxxx>flü)chtigen (N2v.427/2).

Dabei kann in den Fällen (P>F)ussgänger (Vv.267/1) und (P>F)amilienpflicht (Dv.172/9) auch zu lexikalischen Varianten293 angesetzt worden sein. Um Kontrastverschiebungen scheint es sich wiederum dort zu handeln, wo ein anlautendes [pf ] als ‹p› verschriftlicht wurde: Propfen (N1e.329/17), P(eif>fei)fe (N2v.20/7), P(e>f)eifen (N2v.656/3=Dv.354/21). Hier wäre denkbar, dass Kafka an sich zur Aussprache Fropfen bzw. [fropfən] und Feife(n) bzw. [faifə(n)] tendierte und hyperkorrekt den anderen Bestandteil der Affrikata setzte. Bezieht man die beiden oben genannten zweideutigen p-Anlautungen nicht mit in die Diskussion ein, so ergibt sich ein charakteristisches Verhältnis von neun Direktanzeigen (56,25 Prozent) zu sieben Hyperkorrekturen (43,75 Prozent). Eine durch ‹f›-Doppelung ,verschärfte‘ ‹pf›-Schreibung zeugt von einem intuitiven Wissen Kafkas, bei der anlautenden Affrikata zu Verschreibungen zu neigen: [Pf(fA>e)ffer] (Sv.479/3–4,206*). Die von der zweiten Lautverschiebung von germanisch p zu pf vollständig erfassten oberdeutschen Mundarten kommen nicht als direkte Interferenzquelle für diese Erscheinung in Betracht.294 Die mittel- und niederdeutschen Dialekträume kennen dagegen keine Affrikaten. Während hochdeutsch [pf ] im Anlaut westmittel- und niederdeutsch als [p] realisiert wird (u. a. Niebaum 1977: 52; Stellmacher 1980: 59–60; Drenda 2008: 17–21), geschieht dies im größten Teil des ostmitteldeutschen Sprachraums unter p-Ausfall als einfacher Reibelaut [f ].295 Fälle, in welchen Kafka auch im In- und Auslaut ‹f› statt ‹pf› schrieb, nämlich o(f>p)fert (Sv.400/4; N2v.663/16=Dv.361/27), Ko{p}f (Vv.131/22) und Atemschö(f>p)fen (N2v.100/8–10(1)), relativieren allerdings eine ostmitteldeutsche Interpretation. In diesen Positionen bleibt das westgermanische pp nämlich unverschoben,

293 Passanten bzw. Pflicht. 294 In den Fehler-Typologien von Lehmann (1899), Zehetner (1977), Reitmajer (1979), Kalau (1984), Koller (1991), Ammon/Loewer (1977) und Besch/Löffler (1977) fehlen ähnliche Normverstöße. 295 Eine solche Aussprache hatte bereits Siebs (31905: 34; 111915: 64; 151930: 64) als „mundartlich“ gerügt und von der Hochlautung ausgeschlossen.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

269

Abb. 10:  Die Realisierung von anlautendem germanischem p im ehemaligen westjiddischen Sprachraum

die hochdeutsche Affrikata wird als [p] realisiert.296 Damit spricht zunächst genauso viel oder wenig für ein Einwirken jiddischer Phonetik, denn diese folgt exakt dem Muster der ostmitteldeutschen Mundarten (Beranek 21957: 1969; 1961: 293; 1965: 60–63; Bin-Nun 1973: 79; Birnbaum 21986: 52–53; Krogh 2001: 7).297

296 Zur ostmitteldeutschen Realisierung der hochdeutschen Affrikata [pf ] im Anlaut als [f ], im Inund Auslaut als [p] vgl. Franke (1895: 89), Frings (1936: 179–180), Seibicke (1967: 40) und Timm (1987: 294). Ausnahmen bilden nur die vogtländischen, erzgebirgischen und teilweise auch die meißnischen Dialekte (Franke 1895: 75; Frings 1936: 178–182; Becker 1969: 241, 245). 297 Vgl. die Belege des bei Kafka gefundenen Beispiels Ko{p}f (Vv.131/22) als kop im Westjiddischen bei Beranek (1965: 60). Sporadisch treten in Prag allerdings auch Formen wie opfer/ofor (,Opfer‘) und koff/kof (,Kopf ‘) in frühneuzeitlichen westjiddischen Drucken auf (Wolf 1962: 152; Timm 1987: 296). Jedoch kann es sich hierbei auch um Fälle von Kontrastverschiebung handeln. Zur Verschriftlichung des anlautenden [pf ] als ‹f› in Prager westjiddischen Drucken des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Schnitzler (1966: 25).

270

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 11:  Die Realisierung von inlautendem westgermanischem pp im ehemaligen westjiddischen Sprachraum

So ist ein Einfluss tschechischer Artikulation zumindest zu diskutieren. Kranzmayer (1956: 110) stellt bei den deutschen Mundarten in Kontaktzonen des bairischen zum tschechischen Sprachraum tatsächlich eine häufige Realisierung des anlautenden [pf ] durch [f ] als „klangnächsten Eigenlaut“ fest.298 Auch die Form deutscher Entlehnungen im Tschechischen, bei welchen die Affrikata [pf ] z. T. auch im In- und Auslaut (Mayer 1927: 40) „häufiger durch f, seltener durch p“ ( Janečková 2003: 64) ersetzt werde,299 könnte in diese Richtung weisen. Das durch Kafka verschriftlichte Lautungsphänomen oszilliert somit zwischen den Deutungsmöglichkeiten als tschechische, ostmitteldeutsche oder jiddische Interferenz. Dennoch lassen sich durchaus Indizien gegen die ersten beiden anführen: Im jeweiligen Fall läge nämlich das einzige originäre Lautungsmerkmal tschechischer oder

298 Vgl. die analogen Befunde für die deutsche Sprachinsel Brünn (Brno) bei Beranek (1936: 277). 299 Man vgl. neben tsch. fara (,Pfarre‘), funt (,Pfund‘), fant (,Pfand‘) und flastr (,Pflaster‘) z. B. ofěra (,Opfergang‘), knoflík (,Knopf ‘), fajfka (,Pfeife‘) und trumf (,Trumpf ‘).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

271

ostmitteldeutscher Provenienz in Kafkas Autograph vor.300 Demgegenüber konnte in den Kap. 5.1.2.2 und 5.1.2.3 bereits auf andere Phänomene hingewiesen werden, deren Interpretation als phonetisch induzierte Interferenzerscheinungen des Jiddischen möglich ist. Will man die wenigen Fälle in- und auslautender Verschriftlichung der Affrikata als ‹f› nicht einfach als Flüchtigkeitsfehler werten, so wäre durchaus auch denkbar, dass in den Beispielen ofern, schöfen und Kof Fälle von Kontrastverschiebung vorliegen. Kafka hätte demnach mündlich zu den Formen op(p)ern, schöp(p)en und Kop(p) geneigt301 und hyperkorrekt den anderen Bestandteil der Affrikata verschriftlicht.302 Unter den Varianten findet sich mit kramp(h>fh)aft (N2v.474/27) immerhin ein Fall, bei dem die Affrikata im Auslaut als ‹p› niedergeschrieben wurde; dieser wäre dann als (einzige) Direktanzeige zu betrachten.303 In der Summe scheint es somit durchaus möglich, die Indizien in Richtung einer Aussprache der anlautenden Affrikata als [f ], der in- und auslautenden als [p] zu deuten und somit einen Regionalismus des Typs A1/E[ J–] zu bestimmen. Dass das ermittelte Verhältnis mutmaßlicher Direktanzeige (zehn Belege bzw. 47,62 Prozent) zu Hyperkorrektur (elf Belege bzw. 52,38 Prozent) innerhalb aller normwidrigen pf-Schreibungen304 dann allerdings unter einem charakteristischen Wert läge, ließe sich dadurch erklären, dass in dem Komplex von Interferenz- und Verschreibungsmöglichkeiten offensichtlich auch die zeittypische Labilität der deutschen Orthographie einen zusätzlich wirksamen Faktor darstellte.305

300 Die Untersuchungen von Nekula (2003a) und Blahak (2005; 2007a–b; 2008a) konnten keine Spuren tschechischer Artikulation in Kafkas Deutsch ausmachen und nur solche Merkmale ostmitteldeutscher Lautung bestimmen, die auch für die oberdeutschen Mundarten charakteristisch sind. Die offensichtliche Dominanz Letzterer als Quelle phonetisch induzierter Interferenzen in Kafkas Autograph geht aus den bis hierher erbrachten Ergebnissen v. a. der Kap. 5.1.1.2, 5.1.1.3 und 5.1.2.1 hervor. 301 Vergleichbare Beispiele für die Realisierung von [pf ] als ‹p› im In- und Auslaut weist Schnitzler (1966: 25) für das im 17. und 18. Jahrhundert in Prag gedruckte Westjiddisch nach. 302 So könnte umgekehrt die Neigung zur Aussprache des anlautenden [pf ] als [f ] durch den Ausfall des ‹f› im Schriftbild wie in Peife(n) und Propfen (s. o.) hyperkompensiert worden sein. 303 Vgl. aber auch vereinzelte Belege für die Verschriftlichung von anlautendem [pf ] als ‹p› in Prager westjiddischen Drucken des 17. und 18. Jahrhunderts bei Schnitzler (1966: 25). 304 Die mehrdeutigen Belege (P>F)ussgänger (Vv.267/1) und (P>F)amilienpflicht (Dv.172/9) (s. o.) werden hierbei nicht berücksichtigt. 305 Vgl. die oben erwähnte, von Kafka variierend genutzte Möglichkeit, [f ] in Fremdwörtern als ‹f› oder ‹ph› wiederzugeben, und weitere Beispiele wie P(o>h)otographien (Pv.41/19), Ze(phyr>fier)­ hemden (N1v.32/6), [ProfA] […] prophezeiten (N2v.323/14–15) und Epheu (N2e.507/22) im Untersuchungskorpus.

272

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

5.1.2.5  Graphemische Realisierung von /p/ als ‹pf› im Inlaut An anderer Stelle findet sich dagegen eine regional äußerst beschränkte (lexikalisch bedingte) Bewahrung des pf, wo sie das Hochdeutsche nicht mehr kennt. In Klempfnerwerkstätte (P.188/17)306 und Hutkrempfe (N2.246/18–19) lassen sich oberdeutsche Nebenformen zu Klempner307 und Krempe308 ausmachen. Hier hält das Wienerische an der mittelhochdeutschen Form fest, während das pf im Neuhochdeutschen inzwischen nach niederdeutschem Vorbild meist zu pp wurde (Mayr 21930: 116; Schuster/Schikola 1984: 163). Diese von Kafka, da nicht korrigiert, offenbar als schrifttauglich betrachteten Einzelbelege zählte Brod allerdings nicht zur Lexik des Standarddeutschen und gab sie in seiner Kafka-Ausgabe als Klempnerwerkstätte (Kafka 1965: 169) und Hutkrempe (Kafka 1953a: 363) wieder. Da zeitgenössische Wörterbücher des Wiener Dialekts beide Substantive in der von Kafka gewählten Form aufführen (Hügel 1873: 90; Schranka 1905: 93; Jakob 1929: 98),309 ist ihr Ausschluss von der Schriftsprache evident. Letztlich können sie Regionalismen des Typs A2/D[W] zugeordnet werden. Das gleiche, allerdings weiträumiger verbreitete Lautungsphänomen liegt im Substantiv (Holz‑)Schupfen (S.195/22; S.200/24; S.206/21; S.207/2,13; S.242/2) vor,310 das im gesamten oberdeutschen311 und im unmittelbar angrenzenden mitteldeutschen Sprachraum312 anstelle von Schuppen gebräuchlich ist. Kafka fasste diese gegenüber der mit ‹pp› geschriebenen Variante (V.154/17; N2.499/23) bevorzugte Form als normgemäß auf, zumal er seine Schreibweise nirgendwo berichtigte. Während Grimm/Grimm (1899: 2005) Schupfen „namentlich dem (ältern und mundartlichen) oberd[eutschen]“ zurechneten, sah Kretschmer (1918: 409) darin eine sich gegenüber dem norddeutschen Schuppen auf

306 Auf das Vorkommen des Wortes im Proceß wies bereits Krolop (2005: 213, 218) hin. 307 Kretschmer (1918: 282–283) spricht von „obd. […] Klampferer, das früher in Österreich gebräuchlich war, jetzt aber nur noch mundartlich vorkommt.“ 308 Krempf stellt eine oberdeutsche Nebenform zu Krampe/Krämpe dar (Grimm/Grimm 1873: 2005– 2010; Fuchs 1898: 147). Im Korpus ist alternierend aber auch Krempe (N2.557/20–21) belegt. 309 Zugleich fehlen sie in den Referenzquellen zur deutschen Standardsprache der Kafka-Zeit. Sterzinger (1921: 1210, 1395–1396) und Siebenschein (1939–1940: 591, 672) z. B. kennen nur Klempner und Krempe. 310 Hinweise darauf finden sich bereits bei Pasley (21983b: 79) und Krolop (2005: 218). 311 Vgl. Jakob (1929: 167), Mayr (21930: 116), Schuster/Schikola (1984: 104), Teuschl (1990: 212), Ebner (21980: 165), Zehetner (42014: 316), WMF (2000: 147), SWB (1920: 1192), BWB (1999– 2009: 249) und VBW (1965: 1065–1066). 312 Vgl. Schopf in den rheinpfälzischen (PWB 1993: 1408–1409) sowie Schubf, Schobfen und Schubfen in den südlichen ostmitteldeutschen Mundarten (WOM 1996: 152; TWB 1982: 1010–1011).

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dem Rückzug befindende Variante der regionalen oberdeutschen Umgangssprache,313 die z. T. aber auch in der Schrift verwendet werde. Aus Brods Sicht war das Wort einer überregionalen Leserschaft jedoch nicht angemessen, so dass er es in seiner Kafka-Edition mit ‹pp› wiedergab (Kafka 1964: 182, 187, 193, 194, 224). Die prinzipielle Zugehörigkeit zur österreichischen Schriftnorm der Kafka-Zeit belegen indes sowohl Nachschlagewerke aus der k. u. k. Monarchie (Herzer/Prach 1909a: 650; Kelemen 231924: 260; Sterzinger 1935: 349) als auch aus dem angrenzenden serbokroatischen Sprachraum (Ristić/Kangrga 1936: 1296). Die gegenwärtige Standardzugehörigkeit in Südost-Deutschland (Ammon u. a. 2004: 698) dürfte dagegen nicht auf das frühe 20. Jahrhundert übertragen werden können.314 So lässt sich Schupfen letztlich die Regionalismus-Sigle A2/rU(d)[O+]-rS(d)[Ö] zuordnen. 5.1.2.6  Reflexe der Spirantisierung: graphemische Realisierung von postvokalischem /g/ und /k/ als ‹ch› im In- und Auslaut In Kafkas Varianten finden sich ferner häufig Reflexe einer Spirantisierung von g bzw. (c)k zu ch.315 Diese von Siebs (31905: 40, 47; 111915: 71–72, 82; 151930: 71–72, 82) nur im Auslaut der Nebensilbe ‑ig und vor Konsonant (‑igt/‑igst) der Hochlautung zugerechnete Erscheinung tritt im Korpus auch in anderer Position auf, besonders häufig im Inlaut. Als Phänomen regionaler Mündlichkeit ist die g-Spirantisierung zwar im gesamten mittel- und niederdeutschen Sprachraum verbreitet (Wegera 1983: 480), in dem für Kafkas Deutsch maßgeblicheren oberdeutschen Sprachraum hingegen nur marginal. Unter mitteldeutschem Einfluss ist sie lediglich in den ostfränkischen und nordbairischen Dialekten üblich.316 Ein Regionalismus mittel- oder niederdeutscher Provenienz ohne markante Parallele im mittelbairischen Dialektraum wäre allerdings innerhalb der vorliegenden Untersuchung von singulärem Charakter. Auf die Phonetik des Sudetenjiddischen können Kafkas Spirantisierungsprodukte ebenfalls nicht zurückgeführt werden;

313 Vgl. die gleiche Einordnung bei Paul (21908: 476). 314 Das Substantiv fehlt in dem entsprechenden Referenz-Nachschlagewerk aus München (Ammon 1903). 315 Zu Reflexen der Spirantisierung in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2005: 26; 2007a: 170). 316 Vgl. hierzu Hörlin (1988: 98–100), Koller (1991: 39–40, 65), Brenner (1890: 78), Franke (1895: 80) und Zehetner (1977: 61–62, 68; 1985: 66, 85). Der westoberdeutsche Dialektraum kennt die Spirantisierung als Phänomen nicht (Löffler 1982: 535).

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denn das Westjiddische kennt die Realisierung des in- und auslautenden g als ch nur „in einem engeren westdeutschen Raum“ (Beranek 1965: 72).317 Bei diachroner Betrachtung zeigt sich indes, dass die Herkunftsquelle des Phänomens in der Mundart der Stadt Wien lokalisiert werden kann. Denn zu Kafkas Lebzeiten bildete das in Österreich-Ungarn prestigeträchtige Wienerische318 eine Insel innerhalb des spirantisierungsarmen mittelbairischen Dialektraums. Zum Lautstand um die Mitte des 20. Jahrhunderts konstatiert Kranzmayer (1956: 84): Den mitteld.-nordbair. Wandel von ‑g- zu ‑x- treffen wir scheinbar auch in Wien und in der Umgebung von Wien an […]. Doch ersetzen die jüngeren Wiener diese ‑x- neuerdings durch ‑g- und lassen ‑x- nur in Wörtern, die sie nicht mehr mit schriftsprachlichen Parallelen vergleichen können […], unverändert stehen. Dafür breiten sich diese Wiener ‑x- in der Umgebung von Wien, z. B. um Stockerau, Zistersdorf, Neunkirchen, Eisenstadt usw. immer mehr aus.

Erklären lässt sich diese Erscheinung laut Kranzmayer durch den Umstand, dass in den Mundarten Wiens und seines Umlandes früher intervokalisches ‑g- ganz verschwunden gewesen sei. Für Kafkas Zeit bestätigen Hügel (1873: 11), Luick (21923: 92) und Jakob (1929: 5, 8) den Ausfall bzw. die Spirantisierung des g auch für den Wortauslaut. Zugleich sei in Wien auch das intervokalische ‑ch- von Elision betroffen gewesen. Als dies später in Wien und Umgebung als ,zu bäurisch‘ empfunden worden sei, habe man die ‑x- künstlich wiederhergestellt und dabei fälschlich ‑ch- hyperkorrekt auch für die unterdrückten ‑geingesetzt. Den Niederschlag solcher Spirantisierungsformen fand Lehmann (1899: 13) in der Tat häufig in den von ihm untersuchten Wiener Schüleraufsätzen vor. Vor diesem regionalsprachlichen Hintergrund können demnach auch die folgenden Belege der Spirantisierung eines nachvokalischen g bzw. (c)k im In- und Auslaut gedeutet werden: mö(ch>glich) (Pv.11/24), ganz nacht

319

(Pe.111/2), sa(chA>g)te K. (Pv.240/6–7), so m(och>ög)e­

er (Sv.147/17), ungünsti(ch>g) (Sv.148/16), zurüc(h>k)gezogen (Sv.295/13), aufgere(ch>g)ten (Vv.47/3=Dv.104/16; vgl. Vv.217/6), gegenteilichen (Ve.185/13), ungeschic(ht>kt) (N1v.62/7),

317 Er ist in etwa mit dem westmitteldeutschen Dialektareal identisch (Beranek 1965: 73, 75; Klepsch 2004: 217). Sporadisch ist diese Erscheinung allerdings auch im Westjiddischen des westoberdeutschen Raums belegt (Guggenheim-Grünberg 1973: 102–105). 318 S. hierzu Kap. 2.1. 319 Nach dem Kontext ist nackt gemeint.

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quergestrechten (N1e.141/27–142/1=Dv.20/11–12), gestrec(h>k)te (N1v.143/1), Augenbl(o>i)­ c(h>k)e (N1v.159/9), fra(ch>g)e ich (N1v.285/19), f(a>l)ac(h>k)erten (N1v.307/20), Geschichlichkeit (N1e.327/2=Dv.251/19–20), erschrec(h>k)en (N2v.266/17), der Musi(ch>k)-Ungewohnte 320

(N2v.434/11), fü(c>g)te K. hinzu (Pv.41/26), Was ma(c>g) das […] sein (Sv.349/26–27).

Da im Wienerischen diachron auch im Inlaut nach l/r die Spirantisierung des hochdeutschen k zu ch üblich war321 (Hügel 1873: 12; Mayr 21930: 139–140), lassen sich die Belegstellen Bal(cheA>ke)n (Pv.190/27), wi(rch>rk)liche (Sv.361/9) und wel(chA>k)en (N2v.373/18) dem gleichen, Kontrastnivellierung anzeigenden Lautungsreflex zuordnen. Entsprechende Kontrastübertreibungen finden sich in Kafkas Handschriften dort, wo umgekehrt im In- und Auslaut ‹g› oder ‹k› anstelle von ‹ch› gesetzt wurden: kroc(k>h) (Pv.219/27), stac(k>h) (Pv.223/19(1)), Küc(k>h)e (Pv.229/2; vgl. Pv.229/8), ma(g>ch)te K.  (Sv.124/16), Guckloc(k>h) (Sv.184/15), Anspruc(k>h) (Sv.292/11(2)22*), Aufbruc(k>h) (Sv.430/14), tüc(k>h)tiger (N1v.219/5), Sa(g>c)he (N1v.202/24), ausgezei(gn>ch)net (N1v.240/2), nic(k>h)t (N1v.359/25=Dv.265/14), Weltgeschic(k>h)te (N1v.374/21), knoc(k>h)iges (N2v.224/18), Bleistiftstric(k>h) (N2v.484/9–10), I(g>c)h sagte (Dv.35/3), (g>k)roc(k>h) (Dv.143/23).

Das Verhältnis von Direktanzeige (23 Belege bzw. 57,5 Prozent) und Hyperkorrektur (17 Belege bzw. 42,5 Prozent) bewegt sich im charakteristischen Bereich.322 Bis auf vier Fälle (zehn Prozent) verbesserte Kafka den jeweiligen Normverstoß noch im Schreibprozess; er war sich über die Norm demnach prinzipiell im Klaren. Dass die im Korpus ausgemachte Interferenz über mitteldeutsche, ostfränkische oder nordbairische Dialektareale, die nicht zur k. u. k. Monarchie gehörten, erfolgen konnte, ist unwahrscheinlich. Wesentlich näher liegend ist es, ihre Herkunft im Sprachgebrauch der Stadt Wien zu suchen und die diskutierten Spirantisierungsformen zu den Regionalismen der Kategorie A1/D[W+] zu zählen.

320 Bei den beiden letzten Belegen könnte es sich auch jeweils um einen Ansatz zur Schreibung von ‹ck› handeln und damit um eine Verwechslung der stimmhaften und stimmlosen Verschlusslaute im Silbenschnitt (vgl. Kap. 5.1.2.1). 321 Dies gilt ebenso für den westmittelbairischen Dialektraum; vgl. hierzu die Beispiele Kalch und March bei Zehetner (1977: 67) und Merkle (61996: 28). 322 Auch bei Ausschluss der beiden Belege, in welchen eventuell auch Ansätze zur Verwechslung der stimmhaften und stimmlosen Verschlusslaute im Silbenschnitt vorliegen könnten (s. o.), bleibt das Verhältnis von Direktanzeige (55,26 Prozent) und Hyperkorrektur (44,74 Prozent) charakteristisch.

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5.1.2.7  Setzung von ‹k› statt ‹ch› im Inlaut, statt ‹h› im Auslaut Eine andere in Wien um 1900 durch Dialekt-Interferenz im Schriftdeutschen verbreitete Normabweichung stellte die Ersetzung von ‹ch› durch ‹k› dar, wenn ‹ch› ein ‹s› nachfolgte (Lehmann 1899: 14). Dieses im Wienerischen gängige Lautungsmerkmal (Hügel 1873: 10; Mayr 21930: 140; Schuster/Schikola 1984: 95) findet sich auch in Kafkas Manuskript verschriftlicht: wec(k>h)seln (Sv.347/26). Letztlich handelt es sich jedoch hierbei um eine gesamtbairische phonetische Erscheinung bei Mehrsilbern mit schriftsprachlichen Vorbildern (Kranzmayer 1956: 93). Kafkas Autokorrekturen in Altklug(kei>hei)t (Sv.317/26) und Klug(k>h)eit (Sv.366/10) dokumentieren eine weitere Interferenz, die sich typischerweise in schriftlichen Texten bairischer Dialektsprecher niederschlägt (Zehetner 1977: 66): Beim Aufeinandertreffen eines silbenauslautenden g und eines folgenden h wird letzteres zu k. Insgesamt dürfen solche Formen als Regionalismen des Typs A1/D[B] betrachtet werden, zumal sie von den sonstigen dialektbezogenen FehlerStudien zum ober- und mitteldeutschen Raum nicht als mundartbedingte Normverstöße aufgelistet werden. 5.1.2.8  Setzung von ‹ch› statt ‹h› im Inlaut Auffällig sind im Korpus ferner Schreibungen, bei welchen das Graphem ‹ch› im Inlaut normwidrig an die Stelle von ‹h› tritt, in erster Linie in den Wörtern nahe und Reihe: und gieng [auf] na(c>h)e an den Aufseher heran (Pv.26/13), wie wichtig man die Sache na(chA>h)m (Sv.145/13), welche ihm na(ch>he)stehn müssen (Sv.168/4(2)62*–63*), man sah sie aus einer na(ch>h)en Tür sich vorbeugen (Vv.115/7), eine {un}unterbrochene Rei(ch>h)e (Vv.266/23–24), eine [lange] fast {un}unterbrochene Rei(chA>h)e (Vv.273/25–26), in den zwei Rei(ch>h)en (N2v.330/20).

Auch hier dürfte Kafka ein gesamtbairisches Lautungsphänomen verschriftlicht haben (Kranzmayer 1956: 90–93), das Merkle (61996: 22) als häufige Verschärfung des stummen hochdeutschen h des Wortstammes zu ch (v. a. im Auslaut und vor t) beschreibt. Zu Kafkas Lebzeiten gehörte diese Erscheinung zu den Charakteristika des Wienerischen (Mayr 21930: 133–135).323 Zehetner (1977: 67) verzeichnet analoge Verschreibungen324 323 Zur Gegenwart vgl. Schuster/Schikola (1984: 95–96). 324 Vgl. z. B. wir sechen, er leicht es mir, die Katze scheucht das Wasser.

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bairischer Mundartsprecher als Dialekt-Direktanzeigen. Da die dialektbezogene Fehlerlinguistik keine auffälligen h/ch-Verwechslungen im Schriftdeutschen in außerbairischen Dialektarealen feststellt, lässt sich dem vorliegenden Phänomen die Regionalismus-Sigle A1/D[B] zuordnen. 5.1.2.9  Ausfall von ‹ch› im Auslaut Das in Kafkas Prosa-Handschriften dokumentierte Fehlen von ‹ch› im Wortauslaut ist unterschiedlich interpretierbar: Zum einen lässt sich der ch-Schwund im Suffix -lich beobachten, wenn auf dieses kein Vokal folgt. Hierbei dürfte das anlautende k des folgenden Suffixes ‑keit den ch-Ausfall begünstigt haben: Möglic(k>h)keit (Pv.320/5), Wirklic(k>h)keit (Sv.221/15; Sv.248/15), Bequemlic(k>h)keit (Sv.259/3), Zudringlic(k>h)keiten (Vv.150/2–3), Annehmlic(k>h)keiten (Vv.318/26), Empfindlic{h}keit (Dv.178/2–3).

Als mutmaßliche Kontrastübertreibung findet sich durchschnittlic(kA>h) (Sv.470/13–14) im Korpus. Insgesamt darf man hier den Reflex eines phonetischen Merkmals vermuten, das im größten Teil des oberdeutschen Dialektraums verbreitet ist325 und den Regionalismen des Typs A1/D[O–] angehört. Zum anderen scheint sich auch in den Belegen glei([ fA]>c)hfalls (Sv.404/7,97*) und glei{ch}falls (N2v.416/21) eine diatopische Lautungspraxis niedergeschlagen zu haben:326 Denn das Temporaladverb gleich gehört zu Wörtern, die in den ober- und mitteldeutschen Mundarten ihr auslautendes ‑ch aufgeben.327 Diese Korpusbelege lassen sich somit als Regionalismen des Typs A1/D[O+M] interpretieren. Dagegen kann der Ausfall eines auslautenden ‑ch bzw. ‑cht, wo es innerhalb

325 Das Verbreitungsgebiet wird durch den gesamten bairischen (Hügel 1873: 10; Jakob 1929: 68, 221; Mayr 21930: 138; Schuster/Schikola 1984: 95; Merkle 61996: 22, 170), den südlichen ostfränkischen (Hörlin 1988: 112–114, 269) sowie den nieder- und hochalemannischen Dialektraum (BWB 1975–1997: 625; VBW 1965: 1743) gebildet. In den schwäbischen Dialekten wird das auslautende ‑ch dagegen realisiert (SWB 1914: 1730; 1924–1936: 874). 326 Zur Verschriftlichung von gleich als ‹glei› in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2007b: 205; 2008a: 92). 327 Dies gilt nur für gleich in der Bedeutung ,sofort‘, ,sogar‘ und ,ebenso‘. Zu den oberdeutschen Mundarten vgl. Jakob (1929: 70), Mayr (21930: 138), Schuster/Schikola (1984: 95), Merkle (61996: 22), Zehetner (42014: 152), WMF (2000: 72), SWB (1911: 685–686), BWB (1972–1974: 429) und VBW (1960: 1197–1198), zu den mitteldeutschen vgl. PWB (1976–1980: 340–341), SHW (1969–1972: 1385), TWB (2000–2004: 650), WOM (2003: 113) und Frings (1936: 200–202).

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eines Kompositums oder Kontraktionsproduktes auf ein anlautendes k- oder g- trifft, als Allegroform der überregionalen Umgangssprache betrachtet werden: Dac(k>h)kammer (Vv.136/4), nic(k>h)t klagen (N1v.359/25=Dv.365/14), Durgemacht (N2e.147/9), 328

die Grenzkämpfe […] [werden] {finden} auf folgende Weise [dur(g>h)] statt

(N2v.273/8–10(1)),

dur(f>ch)fuhr (N2v.478/14).

5.1.2.10  Ausfall von ‹n› in den Präfixen ein-, an- und in der Präposition von Mehrfach unterlief Kafka im Schreibprozess zudem der Ausfall eines ‹n› in den betonten Präfixen an- und ein- sowie in der Präposition von: A(er>n)erbietungen (Sv.183/18(2)178*–208*(1)), A(bA>n)blick (N1v.20/8), {A(deA>n)deutungen} (N2v.480/3–4), ei(ge>nge)stehst (N1v.14/6), v(ol>on) Olga (Sv.364/23).

Auch solche Verschreibungen lassen sich auf die Interferenz einer mundartlichen Erscheinung zurückführen: In betonten Silben, die mit einem ‑n schließen, das unmittelbar auf einen Vokal oder Diphthong folgt, kommt es in den oberdeutschen Dialekten zum Schwund oder gänzlichen Ausfall des ‑n, wobei der vorangegangene Laut nasaliert wird. Hörlin (1988: 111) spricht hier von einem abgrenzenden Merkmal der oberdeutschen gegenüber den mitteldeutschen Mundarten.329 Man hat es demnach mit einem Regionalismus des Typs A1/D[O] zu tun. Während hochdeutsch ein- und von im gesamten oberdeutschen Raum dialektal zu (nasaliertem) ei- (oder i) und vo reduziert werden,330 wird der Vokal des Präfixes an- in den mittelbairischen Dialekten zusätzlich als nasaliertes o (Reitmajer 1979: 129) oder entnasaliertes å (WBÖ 1963: 201) realisiert. Dies kann bei Mundartsprechern zu entsprechenden Kontrastnivellierungen im Schriftdeutschen führen (Reitmajer 1979: 129). Speziell im Wienerischen ist die Diphthongierung des a(n) zu einem nasalierten au (Teuschel 1990: 24–30) verbreitet, die scheinbar auch im Korpus ihren Reflex gefunden hat: 328 Kafkas Korrektur spricht hier für einen Ansatz zum Partizip durchgeführt. 329 Vgl. hierzu Weinhold (1867: 173), Merkle (61996: 18), Hügel (1873: 11), Mayr (21930: 163), Schuster (1951: 21–22, 45), Schuster/Schikola (1984: 89), Teuschel (1990: 24–30, 68–71), Hörlin (1988: 111), SWB (1904: 172–175; 1908: 578–585), Ammon/Loewer (1977: 60), Frey (1975: 30) und VBW (1960: 75). 330 Gleiches gilt im Westjiddischen (Beranek 1965: 84–85; Guggenheim-Grünberg 1973: 132–133).

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Augestellte (N1e.255/3–4), hera(u>n) (N2v.238/8), des stillen Auschauens (N2e.433/9).331 Als Regionalismen lassen sich solche Formen dem Typ A1/D[W] zuordnen. 5.1.2.11  Reflexe der Liquidenvokalisierung (Konsonantenschwächung) 5.1.2.11.1  Indizien für die Vokalisierung des [l] Im Fortgang der Untersuchung fällt eine größere Gruppe von Textstellen auf, an welchen im Schriftbild nach Vokal oder Diphthong der Ausfall eines ‹l› festzustellen ist,332 das von Kafka bei drei Ausnahmen jeweils nachträglich ergänzt wurde:333 des Ge(d>l)daufzählens (Pv.58/9–10), sto(t>l)z (Pv.125/14), E(s>l)sa (Pv.144/11), so{l}che (Pv.153/16; N2v.614/10), [vie{l}fache] (Pv.204/1), das Se(b>lb)stverständlichste (Pv.239/5), behande(n>l)n (Sv.86/19), [Rege{l}fall] (Sv.92/19), {der Verzicht ha(f>l)f nichts} (Sv.203/10; vgl. Sv.319/21), (ein>se){l}bst einseh(n,>n) (Sv.323/8–10(1)), geho{l}fen (Sv.329/24), der Vater und Amalia ha{l}fen (Sv.332/1; vgl. Sv.247/18), de{s}ha{l}b (Sv.362/19), s(x>e)(b>lb)st (Sv.378/9), So(x>l)che (Sv.434/5), we(c>l)cher (Vv.35/27=Dv.93/22), ver(f>v)iefältigte (Vv.55/18), A{l}so (Vv.72/22), Ziege(h>lh)aufen (Vv.202/3), füh{l}ten (Vv.203/26), läche(n>l)nd (N1v.60/26), Wö(bu>lb)ung (N1v.69/20), Ha­(b>l)bmond (N1v.152/11), He{l}fer (N1v.198/9), [im einze(n>l)nen] (N1v.220/21), Achselhöh(e>l)e (N1v.321/2=Dv.273/26), bestrah(t>l)t (N1v.354/20–22(1)), So(chA>l)che (N1v.358/4), Spiege{l}|bild (N1v.382/6(1)), unbehofenes (N2e.108/6), feh(t>l)te (N2v.219/25), seinen großen Macht­mi(ll>t-t)e(n>ln) (N2v.237/18–19=Dv.325/2), Flüge{l}n (N2v.258/21), we(chA>lc)he (N2v.272/22), ein Bündel von soviel Do{l}chen (N2v.320/3–4), rundgewöbter (N2e.380/24), a(s>l)s (N2v.410/18– 411/4(1)), gewö(b>l)bten (N2v.415/1–2), He(d>l)dentum (N2v.592/3(1)), seinen gewöbten […] Bauch (Dv.115/5–6; Dv.124/5), Mah{l}zeit (Dv.135/8), Barge(dA>l)d (Dv.152/11), nachhe{l}fen (Dv.191/27),

331 Nach dem Kontext sind Angestellte, heran und des stillen Anschauens gemeint. 332 Zu den Reflexen der l-Vokalisierung in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2005: 26; 2007a: 169; 2007b: 201; 2008a: 88). 333 Folgende offensichtliche Vertauschungen von ‹l› mit ‹f›, ‹s› oder ‹z› innerhalb eines Wortes werden bei der Untersuchung nicht berücksichtigt: He(flA>lf)er (Pv.216/15), ha(flA>lf) (Sv.37/7; Sv.247/18; Sv.257/24,25; Sv.469/3), Gehi(fl>lf)en (Sv.86/11), Gehi{l}f(l>e)n (Sv.364/24), Hi(flA>lf)e (N1v.264/18), fe(s[l]>ls)iger (N2v.109/17), vie{l}f(lA>a)chen (N2v.531/13–17(3)), Ho{l}z(l>s)cheit (N2v.557/1).

280

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Tei(c>l)­chen (Dv.322/14), wahl(o>l)os (Vv.198/6), viel(ei>le)icht (Pv.279/21; Pv.353/10; Sv.67/27; 334

Vv.265/26; vgl. Sv.465/10), [vieleicht] (N2v.79/4), Gurgel([aA]>l)auten (N2v.297/3).

Kafkas Autokorrekturen deuten auf die Direktanzeige eines Hauptcharakteristikums der mittelbairischen Dialekte335 hin: Im Rahmen der so genannten ,l-Vokalisierung‘ gibt das l nach Vokal oder im Silbenauslaut nach bestimmten Konsonanten seine konsonantische Qualität auf und erfährt eine Palatalisierung, die bis hin zum Ersatz des l durch ein i reicht. Dieses Vokalisierungsprodukt verbindet sich mit einem vorausgehenden Vokal phonetisch zu einem Diphthong (Rein 1974: 22).336 Tatsächlich deutet sich im Korpus auch an zwei Stellen die Substituierung eines ‹l› durch ein ‹i› an: we(i>l)che (N2v.234/20), we([il]>lc){he} (N2v.450/19). Einmalig kommt es ferner zum Ausfall der Buchstabenfolge ‹hil›, offenbar als Reflex der regressiven Assimilation eines l-Vokalisierungsproduktes an einen vorausgehenden Vokal:337 Ge(fA>h)ilfen (Sv.86/20). Die relativ hohe Zahl nachweisbarer ‹l›-Ausfälle im Schriftbild (58) bedarf allerdings zusätzlicher Anmerkungen zur Präzisierung des mutmaßlichen Regionalismus: Dass die l-Vokalisierung bei Sprechern mittelbairischer Dialekte häufig mundartbedingte Normverstöße im Schriftdeutschen provoziert, haben Zehetner (1977: 70–71) und Reitmajer (1979: 132–133) dargestellt. Überraschend stellen sie allerdings zugleich fest, dass sich das Lautungsmerkmal selten direkt, d. h. in Form des ‹l›-Ausfalls im Schriftbild nachweisen lasse.338 Zehetner (1977: 70) führt dies z. T. darauf zurück, dass sich die im Dialekt durch l-Vokalisierung entstehenden Diphthonge mit den herkömmlichen Schriftzeichen kaum wiedergeben ließen; daher werde dieses primäre Dialektmerkmal

334 Bei acht von 56 Textbelegen (14,29 Prozent) könnte auch das Aufeinandertreffen eines aus- und eines anlautenden l an der Morphemgrenze zur lautlichen Verschmelzung und zum Ausfall eines ‹l› im Schriftbild geführt haben. 335 Die nord- und südbairischen Mundarten kennen dieses Phänomen dagegen nicht (Rein 1974: 23; Zehetner 1977: 143; Freudenberg 21980: 490; Eichhoff 2000: 34). Auch im sonstigen ober(Koller 1991; Ammon/Loewer 1977; Besch/Löffler 1977), mittel- und niederdeutschen Raum (Hasselberg/Wegera 1976; Henn 1980; Klein/Mattheier/Mickartz 1978; Niebaum 1977; Stellmacher 1981) gehört die Auslassung von ‹l› nach Vokal oder seine redundante Setzung nicht zu den dialektbedingten Normverstößen im Schriftdeutschen. 336 Zur Verbreitung in den mittelbairischen Dialekten vgl. Weinhold (1867: 164–165), Brenner (1890: 40), Mayr (21930: 84–85), Kranzmayer (1956: 119–121; K. 26), Bannert (1976: 21–22), Freudenberg (21980: 490), Pfalz (1983b: 160), Moosmüller (1991: 55–60) und Merkle (61996: 23). 337 Hier dürfte Kafkas Neigung, im gesprochenen Deutsch das Präfix ge- zu synkopieren (vgl. Kap. 5.1.1.1.4), den Silbenverlust zusätzlich begünstigt haben. 338 Zehetner (1977: 143) nennt immerhin einige Beispiele wie Akohol (,Alkohol‘), Etern (,Eltern‘) und Itis (,Iltis‘).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

281

Abb. 12:  Das Verbreitungsgebiet der mittelbairischen l-Vokalisierung

in der Schriftsprache relativ schnell aufgegeben.339 Hieraus lässt sich folgern, dass dieser Kontrast in Kafkas Fall tendenziell geringer gewesen sein muss als in den zentral- und westmittelbairischen Dialekten von Zehetners und Reitmajers Untersuchungsareal. So liegt es nahe, dass es die in Ober- und Niederösterreich verbreitete ostmittelbairische Form der l-Vokalisierung war, die sich bei Kafkas Normverstößen interferenziell auswirkte und dem völligen ‹l›-Ausfall im Schriftbild Vorschub leistete. Überblickt man die Phonetik der mittelbairischen Dialektlandschaft, so stellt man nämlich fest, dass die l-Vokalisierungsprodukte nach a, o und u zwar flächendeckend identisch Diphthonge bilden, deren zweites Glied i ist,340 dass sie allerdings im Osten, anders als im Westen, nach e, ö, i und ü als Monophthonge, nämlich Umlaute realisiert werden.341

339 Analog nimmt Henn (1980: 32) an, dass auffällige Kontraste zwischen Dialekt und Hochsprache schnell gelernt würden und die Wahrscheinlichkeit des normwidrigen Transfers dialektaler Sprachstrukturen in die Schriftsprache in solchen Fällen sinke. Juhasz (1970: 145) gewinnt mit Blick auf das Verhältnis von Erst- und Zweit- bzw. Fremdsprache den gleichen Eindruck. 340 Vgl. die Beschreibung dieses Phänomens bei Rein (1974: 23), Bannert (1976: 22), Pfalz (1983b: 160) und Merkle (61996: 23). 341 Vgl. hierzu die Darstellungen bei Jakob (1929: 5), Mayr (21930: 84–85), Kranzmayer (1956: 29, 34, 41, 120; K. 4, 7, 26), Rein (1974: 23), WBÖ (1976: 610) und Schuster/Schikola (1984: 97–98, 194–195).

282

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Deutlich wird der Unterschied zwischen ost- und westmittelbairischer Lautung in der folgenden tabellarischen Gegenüberstellung: Standarddeutsch el öl il ül

Ostmittelbairisch

Westmittelbairisch

[ö]

[äi] [öi]

[ü]

[äi] [ui]

al

[åi]

ol

[oi]

ul

[ui]

aul eil

[äu]

[ei]

eul/äul

Tab. 9:  West- und ostmittelbairische l-Vokalisierungsprodukte im Vergleich

So konstatierte schon Pfalz (1983b: 160), die l-Vokalisierung sei „[i]m Ostmittelbairischen […] am stärksten ausgeprägt und bis zum äußersten durchgeführt.“ Das ,phonetische Korrespondieren‘ von e/i (Mundart) mit ö/ü (Hochsprache)342 scheint die Verschriftlichung eines kompletten ‹l›-Ausfalls (Direktanzeige) somit begünstigen zu können. Tatsächlich fehlt ‹l› im Korpus in gut zwei Dritteln (39 von 58 bzw. 67,24 Prozent) der Fälle nach den Graphemen ‹e›/‹eh›, ‹ö›/‹öh›, ‹ie› und ‹üh›, außerdem nach ‹ei›.343 Dabei erweist sich das l nach ‹e› bzw. ‹ei›, wo es speziell im Wienerischen als nasaliertes e, das an ein ö anklingt, realisiert wird (Mayr 21930: 84–85; Jakob 1929: 5; Schuster/ Schikola 1984: 97–98), mit 24 Ausfällen (41,38 Prozent der Belegstellen) als besonders ,vokalisierungsanfällig‘.344

342 Zur nahen lautlichen Verwandtschaft von i und ü, die durch eine nur geringe artikulatorische Bewegung der Lippen getrennt sind, s. z. B. Koekkoek (1955: 36). 343 Der Diphthong ei ([ai]) erfährt im Zuge der ostmittelbairischen l-Vokalisierung, am stärksten im Wienerischen, eine Monophthongierung zu e ([ε:]) (vgl. Kap. 5.1.1.3). 344 Bei sechs von 24 Textbelegen (25 Prozent) könnte auch das Aufeinandertreffen eines aus- und eines anlautenden l an der Morphemgrenze zum Ausfall eines ‹l› im Schriftbild geführt haben.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

283

Die laut Zehetner (1977: 71) und Reitmajer (1979: 133) in Schriftproben mittelbairischer Dialektsprecher wesentlich häufiger auftretenden kompensatorischen Sekundär-Auswirkungen der l-Vokalisierung lassen sich in Kafkas Manuskripten gleichfalls ausmachen. Mit 121 Belegen kommen sie erwartungsgemäß etwa doppelt so oft wie die angeführten Direktanzeigen vor:345 Besonders zahlreich sind jene Beispiele, in welchen offenbar durch ‹l›-Doppelung Kurzsilbigkeit ausgedrückt werden sollte (Zehetner 1977: 71): sel(lbA>b)st (Pv.35/27), ei(ll>l)te (Pv.37/7), [viel{l}fache] (Pv.204/1), mittel(l>g)rosser (Pv.283/24), inappel(lA>a)bel (Sv.173/2), e([llen]>len)dste (Sv.196/12), wiederhol(l>t)e (Sv.303/17), deshal(l>b) (Sv.388/18; Sv.396/10), dil(l>e)ttantisch (Sv.409/5), sol(l>c)hes (Sv.460/22; vgl. Pv.183/16–17(1)), Stehpul(ltA>t) (Sv.479/3–4,281*), Kol[l]onnen (Vv.140/5), die Gäste […] hol(l>t)en (Vv.152/26– 153/1), Brune(ll>l)da (Vv.296/3; vgl. Vv.305/27; Vv.358/8; Vv.364/6–9(1)), [Kartoffel(l>s)uppe] (Vv.366/9), hinter […] sich fal(l>t)endem Samt (Vv.412/25–26), verwechse(ll>l)ten (N1v.205/1), al(l>s)o (N1v.263/24; N1v.339/13; N2v.240/11), schüttel(l>t) (N1v.263/26), wei(ll>l) (N1v.270/3– 6(1)166*), Faullenzerposten (N1e.281/10), [so al(l>t)e Geschichten] (N1v.287/14), {an}genagel(l>t) (N1v.395/21=Dv.304/3), prügel(l>t)e (N1v.425/17), sel(l>t)ener (N2v.87/8; vgl. Pv.277/8; Sv.63/19– 20(1)), wi([ll>ld]) (N2v.109/20), gefessel(l>t) (N2v.112/13), Kä(llx>lte) (N2v.144/19), verwech­sel(l>s)t (N2v.158/19), viel(lxx>er)lei (N2v.425/4), al(l>s) kleinen Fehler (N2v.426/16–17; vgl. Pv.311/24; Vv.401/8; N1v.263/18), Hotel([lA]>g)etriebe (N2v.509/25), hol(l>e)n (Dv.116/27), wieder[kehrte]{hol(lt>te)} (Dv.150/4), Gel(l>d) (Dv.155/4; vgl. Vv.149/18–19(3)), Gal[l]erie (Dv.262/1), Gal[l]eriebesucher (Dv.263/13–14), durchzugallopieren (Dv.299/9), Gallerie (Dv.318/15).

In blossgestell(lA>tt) (Sv.304/4) und angestell(lt>t) (N2v.621/15) verdreifachte Kafka sogar ein ‹l› nach hochdeutsch kurzem Vokal (kaum zufällig wiederum nach ‹e›), was zu einer extremen Silbenschärfung führte. Auch in diesem Teilkorpus treten die Normverstöße bei der ‹l›-Verschriftlichung mit 26 Belegen (48,19 Prozent) vorrangig nach ‹e› (bzw. ‹ä›/‹ei›) auf. Eine ähnliche, silbenschärfende Wirkung wie die normwidrige ‹l›-Doppelung erzielt die Auslassung eines Dehnungs-‹h› nach hochdeutsch langem Vokal bzw. der Ausfall von ‹e› in ‹ie›:

345 Hier liegt somit ein Fall vor, in dem das als ,charakteristisch auf einen Regionalismus hindeutend‘ definierte Quantum von mindestens 55 Prozent Direktanzeige (vgl. Kap. 1.9.2.1) nicht als Maßstab angelegt wird.

284

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

wä(l>h)te (Pv.19/7), villeicht (Pe.90/1), unzä(lbA>hl)bare (Pv.207/14), Wo(l>h)l (Pv.334/17; Vv.171/1; Vv.228/17), {wo(l>h)lerzogener} (Sv.39/24), befie(l>h)lst (Sv.52/10), Rundlehnstu{h}l (Sv.60/25), befie(ltA>hl)t (Sv.309/27), Ma(lzA>h)lzeit (Sv.391/14), Vi(l>e)lleicht (Sv.486/7), erzä(ltA>hl)t (Sv.486/15), gesto(l>h)len (Vv.11/7=Dv.69/8), {Befe(l>h)l} (Vv.48/26–27(1)=Dv.106/13–14(1)), Wo{h}ltaten (Vv.240/4), fe(l>h)lerlos (N1v.263/3–4,44*), [schwe{h}lte] (N1v.395/2), zä(l>h)lte (N2v.243/2), befielt (N2e.342/23), wo(l>h)lbekannte (N2v.392/26–27=Dv.342/7; vgl. Dv.115/14– 15), Vi(lzA>el)zahl (N2v.589/22), Ho(lx>hl)raum (N2v.611/4–8(1); vgl. N2v.611/25), wä(l>h)lte (N2v.611/26), ungebürliche (Dv.336/20).

Auch treten beide Verschreibungstypen in kombinierter Form auf: wo(llt>hl)getan (Pv.105/24), fü(llA>hl)te er sich (Pv.227/14; vgl. N2v.314/12), wo(ll>hl) (Pv.243/16), vill(e>l)eicht (Sv.131/1), wü(ll>hl)te (Sv.183/18(2)162*), hi(ll>el)t (Sv.330/23), Stra(ll>hl)en 346

(Vv.160/25), woll

(N2e.31/15).

Als Ausdruck hyperkorrekter Überkompensation kommt es mancherorts außerdem vor ‹l› zur normwidrigen Markierung einer Dehnung kurzer Vokale: durch die Einfügung eines Dehnungszeichens, durch Vokal-Doppelung oder durch versäumte ‹l›-Doppelung (Zehetner 1977: 71):347 Me(elA>l)dung (Pv.90/4), Fa(hlen>llen) (Pv.275/6–7(1)), [widerhal{l}ten] (Pv.286/11–13(1)), Vol{l}­ bärtige (Sv.24/12), al(s>l)es (Sv.114/12), blossgestel(tA>l)t (Sv.183/18(2)178*–208*(1)), al(s>l)(lA>e)s (Sv.356/17), (x>g)ebal(tA>l)te (Sv.416/2), al(z>l)zuweit (Vv.19/21=Dv.77/19–20), Automobi(el>l) (Vv.73/15), al{l}zusehr (Vv.91/4), Kel(n>ln)erin (Vv.148/9; vgl. Vv.149/25), Brune(e>l)da (Vv.357/4), Koleginnen (Ve.394/11), al(zA>l)zulange (Vv.414/15), wi(e>l)l (N1v.270/3–6(1)159*), Junggese(el>ll)e (N2v.24/8), gestel(tA>l)t (N2v.102/6,1*), al(zu>lz)u (N2v.476/4), al(s>l)es (Dv.19/8).

346 Gemeint ist wohl. 347 In diesen Normverstoß-Typen sieht Zehetner ein Resultat der schlechten Erfahrung, die Dialektsprecher mit ihrer Neigung zur Klangabbildung der Mundart im Schriftdeutschen gemacht haben.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

285

Von einer allgemeinen Unsicherheit Kafkas bei der ‹l›-Schreibung nach Vokal zeugen überflüssige Dehnungszeichen nach hochdeutsch ohnehin langen Vokalen:348 Ma(h>l)er (Pv.216/6), mühse[h]lig (Pv.352/8), se(eA>l)ig (Sv.10/22; Vv.10/22=Dv.68/23), Holzhohlen (Se.206/19), Sieh ma(h>l) (Sv.492/18; N2v.375/6), [schwe{h}lte] (N1v.395/2), mehrma(hl>ls) 349

(Dv.170/8), allmä[h]lich

(Dv.331/19).

Nur 13 (7,18 Prozent) dieser insgesamt 181 Belege einer ausgeprägten nachvokalischen l-Unsicherheit ließ Kafka unberichtigt. Dass er die Norm grundsätzlich kannte, ist somit evident. Eichhoffs (2000: K. 4–60) Zuordnung der l-Vokalisierung zur Ebene der regionalen Umgangssprache dürfte für Kafkas Zeit nicht gelten: Denn noch gegenwärtig spricht Wiesinger (22008: 58) von einem Phänomen des Verkehrsdialekts in Österreich. So lässt sich auch mit Blick auf das Deutsche in Prag um 1910 von einem Regionalismus auf Dialektebene ausgehen, der unter der Sigle A1/D[omB] kategorisiert werden kann. 5.1.2.11.2  Indizien für die Vokalisierung des [r] Zehetners (1977: 71–72) Feststellung, bei Sprechern mittelbairischer Dialekte hinterlasse die Vokalisierung des r unmittelbarere Spuren im Schriftdeutschen als die des l, lässt sich anhand des Korpus quantitativ bestätigen; denn hier tritt der normwidrige ‹r›-Ausfall nach Vokal als Direktanzeige mit 102 Belegen mit einer um 75,86 Prozent höheren ­Frequenz auf:350 V(a>e){r}fahren (Pv.62/13), fü(tA>h)rte (Pv.180/19), e(tA>r)tappte (Pv.275/11), ta{r}tarischen (Pv.293/11=Dv.268/1), anden (Pe.297/6), (ihA>üb)e(l>r)leben (Pv.314/27), ä{r}geres (Sv.12/7), Leher (Se.20/3; vgl. Sv.152/20; Sv.227/15), {Gerstäcke} (Sv.29/9), e(s>r)st (Sv.52/1; Sv.183/18(2)178*– 208*(2); Sv.324/26; vgl. Sv.75/23), Stände{r} (Sv.63/18), meine(s>r)seits (Sv.89/15–16(1)), Ihre{r} Frau (Sv.98/11–12), ve{r}glichen (Sv.104/18), des B(xx>eo)bachte(s>r)s (Sv.156/21), [a(b>r)­-

348 Angesichts der Labilität der deutschen Orthographie auch nach 1900 (vgl. Kap. 3.1.2.2) bleiben Kafkas Schreibungen von Elbogen und Kameel im Folgenden unberücksichtigt, zumal sie im damaligen Österreich gängig waren (Sterzinger 1921: 1055; 1935: 127). Da beide Formen im Korpus an keiner Stelle autokorrigiert wurden, betrachtete Kafka sie offenbar als normgerecht, obwohl sie – anders als von seinen österreichischen (Dv.445/3) – von seinen reichsdeutschen Verlegern nicht toleriert wurden (Dv.43/9; Dv.69/18; Dv.99/10; Dv.108/4; Dv.270/4; Dv.274/26; Dv.275/19). 349 Diese Korrektur stammt vermutlich nicht von Kafkas Hand. 350 Zu den Reflexen der r-Vokalisierung in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2007b: 201; 2008a: 89).

286

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

beitslos] (Sv.183/18(2)170*–208*), Leh{r}erin (Sv.205/19; Sv.227/15), der Leh(e>r)e(s>r) (Sv.227/15), verbo([gA]>r)gen (Sv.251/5), ein Beamte (Se.311/26–27), vo(l>r)läufig (Sv.315/15), aufme(k>r)ksam (Sv.329/9–10), gescheite{r}t (Sv.338/27), wiedere{r}kennen (Sv.347/18–23), Ge(s>r)stäcker (Sv.383/6; Sv.384/1; Sv.479/3–4,206*), übe{r}fallen (Sv.394/12), ihre{r} Leiden (Sv.412/17), Erlange{r}s (Sv.435/16), stö(ss>rs)t (Sv.482/13), hie{r}her (Sv.484/21), Stimmfüh(er>re)r (Vv.24/27=Dv.82/25), Mädchenschü(tze>rze) (Vv.50/20=Dv.108/7), Eise(n>r)nen (Vv.60/16), allere{r}ste (Vv.62/17), Ve{r}bindungen (Vv.66/9–10), Arbeiterfüh(er>re)r (Vv.74/25), Ka(l>r)l (Vv.138/24; vgl. Vv.159/1), verbreitete

351

(Ve.140/9–10), Delama{r}che (Vv.165/1), Obe{r}kellner (Vv.222/1), Obekellner

(Ve.252/22), Tü(s>r)stein (Vv.277/5), andere(s>r)seits (Vv.368/8), zie(lA>r)lich (N1v.71/15), [Übe{r}­ siedeln] (N1v.132/18), des Lehre(s>r)s (N1v.197/15–16; vgl. N1e.200/7; N1e.201/10), Eh(e>r)e (N1v.210/27(1)26*), Farmen 353

(N1e.383/11), ich stützte

352

(N1e.329/24), aufge(w>f)orde(tA>r)t (N1v.363/11), Schwazwald

ab (N1e.383/24–25), Wor{t}f(hA>ü)h(er>re)r (N2v.19/7), wo([tA]>r)tlose

(N2v.20/17(1)), E(k>r)kenntnis (N2v.74/11–75/13(2)23*), übe(hA>r)haupt (N2v.102/6,6*–7*(1)), Über{r}aschungen (N2v.163/3; N2v.657/12=Dv.355/26), do(tA>r)t (N2v.245/21(2)), ve{r}lockende (N2v.272/21), Jahrhunde(tA>r)t (N2v.278/13), ein neue{r} Regen (N2v.286/15), Aussero{r}dentliches (N2v.427/5–6(1)), dera{r}t(r>i)gen (N2v.635/26=Dv.323/10), ver{r}annt (Dv.44/7), vo{r}­ zulesen (Dv.144/2), erwo{r}bene (Dv.163/9), Rückwä(t>r)tslauf (Dv.164/11), Kleide(hA>r)haken (Dv.173/20), Hunge(n>rn) (Dv.189/4), Ne(v>r)vosität (Dv.185/19), e(lA>r)lebte (Dv.193/27), zerissen (Ve.168/22; N1v.354/5–6; vgl. N2e.572/20), ve(r>rr)ennen (N1v.347/18), veraten (N2e.69/20; Dv.57/12), Terasse (N2e.111/9), Konkurenz (N2e.383/19–20), faltenzerissene (N2e.514/6), zer(eiA>r)eissen (N2v.596/13(1)), überennen (N2e.662/25=Dv.360/11), veraten (Dv.57/12), ver{r}ammeln 354

(Dv.161/12), im [Ve(b>r)bro] Verborgenen (Dv.286/20), Über{r}aschungen (Dv.355/26).

In fünf Fällen verbinden sich ‹r›-Apokopen am Wortende mit Enklisen folgender mit ‹s› beginnender Wörter, meist Pronomen:355 als reiße e(s>r) sich (Pv.9/17), Wa(s>r) e(r>s) (Pv.262/9–10), war e(s>r) sehr (Vv.66/25), wa(s>r) es (N1v.271/9–10(1); N1v.372/23).

Nach dem Textzusammenhang ist verbreiterte gemeint. Gemeint ist Farmern. Gemeint ist stürzte. Bei 14 von 97 Textbelegen (14,43 Prozent) könnte auch das Aufeinandertreffen eines aus- und eines anlautenden r an der Morphemgrenze (v. a. bei den Präfixen zer‑, ver- und über-) zum ‹r›-Ausfall im Schriftbild geführt haben. 355 Zur Enklise von es in Kafkas Prosa-Manuskripten s. Kap. 5.1.1.1.1 und 5.2.4.1.2. 351 352 353 354

Regionalismen auf phonetischer Ebene

287

Daneben weist das Korpus eine weitere signifikante Gruppe von Fehlern der Kategorie Direktanzeige auf: Zum einen verschriftlichte Kafka standardsprachliches ‹ir› als ‹ie› oder setzte nach ‹i›/‹ie› ein redundantes ‹r›. Zehetner (1977: 72, 74) erklärt solche Normverstöße durch die irrtümliche schriftliche Umsetzung des durch r-Vokalisierung bedingten mittelbairischen Diphthongs [ia] als ‹ie›: Die standarddeutschen Graphemfolgen ‹ir›, ‹ier›, ‹ihr›, ‹irr›, ‹ür›, ‹ühr› und ‹ürr› werden in den bairischen Dialekten nämlich genauso wie ‹ie› (soweit es auf mittelhochdeutsch ie zurückgeht) phonetisch identisch als Diphthong [ia] realisiert. Entsprechend finden sich auch in Kafkas Handschriften Belege für die Verwechslung von ‹ir› und ‹ie›: wi(e>r)d (Pv.257/6; N2v.431/12), wi(r>e)der (Sv.254/21), Jüngling wi(r>e) Barnabas (Sv.288/18), [nachdem wie es erreicht hatten] (Sv.397/9), Wi(r>e) klar (Sv.481/10), können wi(e>r) eintreten (Vv.291/12–13), Wier war er gelaunt? (N1v.417/21), wi(r>d)ersprechen (N2v.657/8–9=Dv.355/23).

356

Normwidrige Schreibungen von ‹ie› statt ‹i› vor ‹r› und Setzungen redundanter ‹r› nach ‹ie› oder ‹üh› lassen sich im Korpus ebenso nachweisen: ernie(r>d)rigen (Pv.52/24–25), [(d>D)ier] (Sv.249/12), wie(rA>d)er (N1v.152/8), knie(r>e)nden (N1v.308/11), Rinderhi(erA>r)ten (N2v.20/6), des […] Früh(r>j)ahrs (Dv.179/26–27).

Die Vielzahl schriftlicher Umsetzungsmöglichkeiten des mundartlichen [ia] könnte ferner den Ausfall eines Dehnungszeichens oder dessen redundante Setzung bedingt haben und für die normwidrige Vermeidung oder Durchführung von ‹r›-Doppelung nach ‹i›/‹ü› verantwortlich gewesen sein: i(r>h)r (Pv.71/24), ungebü{h}rlich (Sv.127/19), fü(rte>hr)te (Vv.289/13; vgl. N2v.338/14), hirhergekommen (N2e.300/6), i(r>h)re (Dv.181/3), {mit i(r>h)r} (Dv.427/19), i(hr>rg)endeinem (Pv.279/21; vgl. Pv.348/13; Vv.188/19), [i(h>r)gendwelchen] (Sv.28/21), i(hr>rg)end einen Vorgang (Vv.261/10), Tie(h>r)e (N1v.321/15; Dv.274/11–12), Ir(r>l)änder (Vv.143/19), hinverir(tA>r)t (N2.433/26), überstür(r>z)t (Vv.48/26=Dv.106/13).

356 Bei zwei von neun Textbelegen (22,22 Prozent) ist auch die Antizipation eines später im Wort vorkommenden ‹r› als Fehlerquelle in Betracht zu ziehen.

288

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Nach Zehetners (1977: 72, 74) Fehler-Typologie lässt sich zudem die Einfügung eines redundanten ‹r› nach ‹a› als Kontrastübertreibung interpretieren. Diese komme durch die irrtümliche schriftliche Umsetzung eines mundartlichen [a:] als ‹ar›/‹arr› zustande:357 K[arA]

358

ließ sich (Pv.58/12), a(r>l)lerdings (Pv.339/6(1)), Ar([r]>b)eit (Sv.242/22), a(r>b)er 359

(Sv.288/2–3(4)231*), Arbeitsa(rpaA>pp)arat (N1v.370/5), Ga(rA>s)armen (Dv.56/26).

Diesen Belegen lässt sich auch Kafkas hyperkorrekte Substitution eines ‹a› durch ‹r› in d(r>a)zwischen (Sv.215/9) zuordnen. Bei der Vokalisierung des r nach dem Vokal a entstehen in den bairischen Mundarten mit [oa], [a] und [a:] ebenfalls Laute, die in der Schriftsprache unterschiedlich wiedergegeben werden können: zum einen als ‹a›, ‹aa› oder ‹ah›, zum anderen als ‹ar› oder ‹ahr›. Somit sind Belege vermiedener ‹r›- oder ‹a›-Doppelung, ferner Ausfälle oder redundante Setzungen eines Dehnungs-‹h› nach ‹a› als Kontrastverschiebungen interpretierbar (Zehetner 1977: 73). Im Korpus finden sich hierzu folgende Beispiele: star(kA>r)köpfig (N1.215/11), pa(r>a)r (Pv.320/9; Vv.303/15; Sv.7/3,5*), an den Ha{a}ren (N1v.133/25), wa(r>h)rhaftig (Pv.63/23), [wa(r,>hr)] (Sv.160/27), wa(r>h)scheinlich (Sv.282/1; Sv.435/14), wä(h>r)e (Vv.90/6; vgl. N2v.26/21), wa(h>r) (Vv.392/5; Vv.415/21), Wa(h>r)en (N1v.253/7–8), warscheinlich (N1e.362/12), (w>W)a(r>h)rheit (N2v.83/20), [wa(r>h){r}] (N2v.608/7; vgl. N2v.653/21), bewa(rA>h)rt (Dv.135/19), [Fanfa[h]renA] (N2v.429/19), wa(hren>ren) (N2v.456/22; vgl. Vv.195/21; Vv.302/23; N2v.574/3).

Schließlich bereitet die r-Vokalisierung bairischen Mundartsprechern auch nach u häufig Schwierigkeiten im Schriftdeutschen, da das Vokalisierungsprodukt [ua] als ‹u›, ‹uh›

357 Hiervon auszunehmen ist Kafkas Schreibung von darnach (V.87/4; S.182/1; N1v.127/14; Dv.304/21), die nicht nur in Österreich (z. B. Rank 1892: 223; Sterzinger 1916: 1167; PP 1921a: 1, 2; Kelemen 231924: 74; Mandrović 21943: 38; ÖWB 241951: 36–37), sondern auch im Deutschen Reich (z. B. Heyne 21905: 539) der zeitgenössischen Norm entsprach. Demgemäß sollten Verschreibungen wie da(r>v)on (Sv.112/17), da(r>d)urch (Sv.288/2–3(4)229*) oder da(r>h)er (N2v.347/6) als Analogiebildungen betrachtet und nicht als Formen hyperkorrekter Schreibung auf eine mündliche r-Vokalisierung zurückgeführt werden. 358 Gemeint ist K. Denkbar wäre hier allerdings auch der Ansatz zu Karl – ein Beleg für Kafkas häufige Verwechslung von Personennamen aus verschiedenen Texten, an welchen er parallel arbeitete (vgl. Kap. 4.4.6). 359 Bei drei von sechs Textbelegen (50 Prozent) kommt auch die Antizipation eines später im Wort vorkommenden ‹r› als Fehlerquelle in Frage.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

289

oder ‹ur›, ‹uhr› verschriftlicht werden kann. Hierzu lassen sich mutmaßliche Kontrastverschiebungen Kafkas anführen, bei welchen er nach ‹u› entweder ein Dehnungs-‹h› ausließ oder aber ein solches redundant einfügte: erfu(r>h)r (Sv.29/4), Der Wagen fur […] langsam (Ve.141/16–17), fu(r>hr) (N1v.15/11; N2v.254/15; vgl. Vv.174/23), U(rA>h)renschlag (N2v.573/11), U(h>r)kunde (Sv.136/7).

Einem anderen von Zehetner (1977: 72–74) beschriebenen Typ von Kontrastverschiebung entsprechen im Korpus Fälle normwidriger ‹r›-Doppelung: ander(r>e)rseits (Pv.25/19), uninter(r>e)ssant (Pv.41/1), karrikiere (Pe.59/5), Ver(ru>ur)teilung (Pv.79/13), abe(rr>r) (Pv.243/13), ir(rA>g)endwie (Sv.351/25), über(r>a)ll (Sv.426/9), er(r>i)nnerst 360

(N1v.79/22), Oper(ret>et)tenmelodie (Vv.145/13), Newor(r>k)er

(Vv.204/7), vor(ra>a)ussichtlich

(N1v.250/25), For(re>el)lenbach (N1v.304/5–6), Ku(rr>r)iere (N2v.56/9), Kurriere (N2e.56/10), ver(r>i)rre (N2v.330/9), vorraussichtlich (Dv.123/19), Zierraten (Dv.298/21).

Diese spiegeln zumeist genau die oberdeutsch-regionale Aussprache wider: Die Sprechsilben sind [Vea-rein, ea-rinnern, hea-runter] usw. und nicht etwa, wie es die Bühnensprache fordert, Ver-ein, er-innern usw. mit deutlichem Neuansatz der Vokalartikulation (Kehlknacklaut). Mundartlich wird das r der Vorsilbe quasi aufgespalten und steht auch im Anlaut der 361

nächsten Silbe (Zehetner 1977: 74).

Zu dieser Fehler-Kategorie, die schon Lehmann (1899: 14) als in Wien verbreitet wahrnahm, gehören wohl auch ‹r›-Ausfälle in Positionen, in welchen die Hochsprache im Silbenaus- wie im folgenden Silbenanlaut jeweils ein ‹r› vorschreibt: Her(e>r)enhof (Sv.455/17), Zigaren (N1e.30/2), Bariere (Dv.299/13). Ebenso hier einzuordnen sind Fälle von r-Schwächung durch die Vermeidung der standardsprachlichen ‹r›-Doppelung,

360 Gemeint ist New Yorker (vgl. Kap. 4.4.2). 361 Vgl. die analoge Beschreibung bei Merkle (61996: 81).

290

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

durch Vokalverdoppelung oder durch Einfügung eines Dehnungszeichens nach kurzem Vokal, jeweils vor ‹r› (Zehetner 1977: 73):362 Zimmerher(n>r)n (Dv.182/13), Zimmerher{r}n (Dv.196/27), me(e>h)r (Sv.322/3), He(e>r)ren (Vv.20/22=Dv.78/21; vgl. N1v.409/7), le(e>h)rreiches (N2v.181/17), Heerde (N2e.613/18), we(hA>r)t (Pv.40/25), we(hr>rt)los (Pv.79/3), E(h>r) (Pv.107/5–21(1)), Feue(hr>r)wehrvereins (Sv.295/16), 363

Fe(h>r)ne (Vv.160/24).

Zwei weitere im Korpus häufig auftretende Typen von Normabweichungen bei der r-Schreibung nach ‹e›/‹ä›, ‹ö› und ‹o› können nicht unmittelbar Interferenzen aus der Mundart zugeordnet werden: Zum einen setzte Kafka fallweise nach den genannten Vokalen ein redundantes ‹r›: we(r>d)er (Pv.8/22), o(r>d)er (Pv.43/1), nach mühe(rv>vo)ller Arbeit (Pv.83/22), ausge(ra>a)rtet (Pv.84/17), entwe(rder>der) (Pv.123/3), {Ge(r>s)icht} (Pv.314/21), bürgern (Se.57/8), 365

ge(ra>a)rbeitet (Sv.263/2; Vv.312/18; N2v.480/14), e(r>l)ektrisch beleuchtet (Sv.382/1(1)),

364

ähn366

lich jener Bürge(rls>ls) (Sv.426/24,20*; vgl. Sv.435/8), Unte(r>n) vor dem einen Bett (Vv.130/1),

läche(rl>lt)e (Vv.176/10), Übe(r>l)keit (Vv.212/17–18; vgl. Pv.100/4), inne(r>z)uhalten (Vv.222/7– 8), anerke(r>n)nend (Vv.396/6), Mitte(r>l)schüler (Vv.402/9), Tode(r>s)art (N1v.135/25), Tode(r>s)wünschen (N1v.185/4), (au>n)ervö(r>s)en (N1v.221/1(1)), von frühe(r>s)ter Jugend an (N1v.260/22), [wi(r>l)kürlich] (N1v.454/4(1)), er(or>o)bert (N2v.12/26), unüberse(h[r]>h)bare (N2v.16/1), [ero(r>b)erte] (N2v.34/15), verschiede(r>n)er (N2v.75/19), schütte(r>l)t (N2v.249/23), Apothe([r]>k)er (N2v.249/24), eines Schulfreunde(r>s) (N2v.366/9), be(r>i)rrt (N2v.459/13), ge(ra>a)rbeitet (N2v.480/14), ge(ra>ar)teten (N2v.529/2), herbeige(r>b)rachten (N2v.540/17),

362 Nicht zu diesen hyperkorrekten Formen gehört Kafkas Schreibung Scheere (Dv.274/2,5,6,19), zumal noch Sterzinger (1935: 127) das Doppel-‹e› hier als korrekt betrachtet. Dass diese im damaligen Österreich (noch) mögliche Schreibweise im Deutschen Reich zeitgleich bereits als veraltend galt, belegen entsprechende Eingriffe des Kurt Wolff Verlages in der Druckversion von Kafkas Schakale und Araber. 363 Bei einem von zwölf Textbelegen (8,33 Prozent) ist auch die Antizipation eines später im Wort vorkommenden Dehnungs-‹h› als Fehlerquelle in Betracht zu ziehen. 364 Gemeint ist bürgen. 365 Möglicherweise liegt hier ein Ansatz zu erleuchtet vor. 366 Eventuell handelt es sich hier um einen Ansatz zu Unter dem Bett.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

291

Vo(r>g)el (N2v.565/13), die versteckte(r>s)te Opposition (N2v.674/12–13=Dv.373/1), no(r>c)h ärger 367

(Dv.122/18).

Zum anderen markierte er durch die Auslassung eines Dehnungs-‹h›, durch die Vermeidung standardsprachlicher Vokal-Doppelung oder durch die normwidrige Doppelung von ‹r› eine Silbenschärfung: Une(rA>h)renhaftes (Pv.234/14–15), me(r>h)r (Pv.295/11), wä(rA>h)rend (Pv.333/10; vgl. Vv.61/24– 25; Vv.292/25–27; Sv.92/23; N1v.403/21), {se(r>h)r} (Sv.28/18), E(r>hr)geiz (Sv.204/21), e(r>h)rfurchtsvoll (Sv.226/17; Sv.300/21), me(r>h)r (Vv.296/5; N1v.140/3), vielme(r>h)r (N1v.258/22; N2v.104/12–16(1)), E(rfA>hr)furcht (N1v.276/18), Verbo(rA>h)rtheit (N2v.355/4–5), E(re>hr)e (N2v.376/24), es nä(r>h)erte sich (N2v.477/14), durch den […] le(r>e)ren Gang (Sv.404/7,109*– 110*(1); vgl. Sv.101/11; N1v.329/2; N2v.428/8), ausgele(rA>e)rt (Dv.162/11), einen Gläubiger(n>r)n (Pv.241/18(1)), her(r>s)tellen (Vv.88/6), von der Gasse he(rr>r) (Vv.321/18), Ver([r]s>s)tand (Dv.162/9), [er([rA]>l)an] (Dv.163/8).

Solche Beispiele illustrieren die generelle Unsicherheit Kafkas im Zusammenhang mit der normgerechten r-Schreibung. Weitere Indizien für ein intuitives Bewusstsein, zur r-Vokalisierung zu neigen, können in hyperkorrekten r-Verschärfungen durch die Synkopierung von ‹e› (einmalig ‹u›) vor postponiertem ‹r› gesehen werden: üb(r>e)r(bringen>geben) (Sv.45/18–19), üb(r>e)rtreibst (Sv.250/27), Bau(r>e)r (Sv.274/22), [Eu(r>e)r] (Sv.327/17), d(r>u)rchschauen (Sv.331/18), nä(hr>he)rte (Sv.344/3), Annäh(r>e)rung (Sv.470/25), früh([r]>e)r (Sv.478/9), Ob(r>e)rkellner (Vv.235/12), D(r>er) Polizeimann (Vv.381/11), unt(r>e)rdrückendes (Dv.119/17), ab(r>e)r (Dv.171/10).

Insgesamt weist die deutliche Mehrheit der bisher angeführten Normverstöße bei der Schreibung des r (204 von 284 Belegen bzw. 71,83 Prozent) auf die interferenzielle Einwirkung einer mündlichen r-Vokalisierung hin.368 Innerhalb dieser Mehrheit verhalten

367 Bei 20 von 39 Textbelegen (51,28 Prozent) könnte die Verschreibung auch durch die Antizipation eines später im Wort vorkommenden ‹r› verursacht worden sein. 368 Bei Ausschluss aller Textstellen, an welchen auch andere Fehlerquellen Kafkas Normverstöße bei der r-Schreibung verursacht haben könnten, ist diese Mehrheit mit 184 von 242 Belegen (76,03 Prozent) sogar noch deutlicher.

292

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

sich die Anteile mutmaßlicher Direktanzeigen369 (117 Belege bzw. 57,35 Prozent) und Hyperkorrekturen (87 Belege bzw. 42,65 Prozent) zueinander charakteristisch.370 Dass Kafka die orthographische Norm im Grunde kannte, ergibt sich wiederum aus seiner weitgehenden Selbstberichtigung (in 252 Fällen bzw. zu 88,73 Prozent). Obwohl sich Kafkas ,r-Schwäche‘ stimmig durch Zehetners (1977: 72-74) FehlerTypologie interpretieren lässt, sprechen Argumente gegen ihre charakteristisch regionale Beschränkung: Zum einen gehört der auch im Jiddischen nachweisbare r-Schwund in schwachtoniger Stellung (Weissberg 1988: 116; Klepsch 2004: 227) zu den phonetischen Erscheinungen vieler Dialekte des Deutschen (Veith 1986: 202). Entsprechend hinterlässt er als Kontrastnivellierung (Ausfall eines ‹r›) oder ‑übertreibung (redundantes ‹r› nach Vokal) in allen Dialekträumen Spuren im Schriftbild371 von Mundartsprechern.372 Selbst Kafkas ‹ir›/‹ie›-Verwechslung, der eine (oberdeutsche) diphthonghische Aussprache von ie zugrunde zu liegen scheint (Besch/Löffler 1977: 36), findet sich auch im niederdeutschen Raum (Niebaum 1977: 34). Dass die Vokalisierung des „variationsreichste[n] Laut[es] im Deutschen“ (Schwitalla 32006: 49) bereits zu Kafkas Lebzeiten auch umgangssprachlich überregional verbreitet war, legen entsprechende Hinweise in Aussprache-Regelwerken nahe: So trug etwa Siebs (31905: 31; 111915: 60; 151930: 60) durch die Festlegung eines durchgängigen Zungenspitzen-r als hochsprachlich den im Deutschen „schon sehr stark eingebürgerten Mißbräuchen“ Rechnung, „statt des r vor anderen Konsonanten oder statt des auslautenden r einen vokalischen Laut entstehen zu lassen.“ In jüngerer Vergangenheit konstatierten Krech/Stötzer u. a. (1964: 49) eine generell bestehende Tendenz im gesprochenen Deutsch zur Auflösung des r „bei Schreibung r in betonter und in unbetonter Silbe nach langem Vokal, […] in den unbetonten Präfixen er‑, her‑, ver‑, zer‑, […] in der Endsilbe ‑er, auch wenn noch Konsonanten folgen.“ Gegenwärtig gilt der r-Schwund nach Vokal sogar bereits als allgemeine Erscheinung gesprochener (Standard‑) Sprache mit verminderter Artikulationspräzision (Naumann 1989: 217–228; Schwitalla

369 Zu diesen gehören neben dem Ausfall eines ‹r› nach Vokal auch die ‹ir›/‹ie›-Verwechslungen (Zehetner 1977: 72). 370 Bei Ausschluss aller Verschreibungen mit mehrdeutiger Fehlerquelle bleibt das Verhältnis von Direktanzeige (101 Belege bzw. 55,49 Prozent) zu Hyperkorrektur (81 Belege bzw. 44,51 Prozent) im charakteristischen Bereich. 371 Allerdings trifft dies größtenteils nur für die Schreibung des r nach dem Vokal a zu. 372 Vgl. die Fehler-Typologien zu oberdeutschen (Reitmajer 1979: 133; Koller 1991: 61), mitteldeutschen (Hasselberg/Wegera 1976: 44; Henn 1980: 37; Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 83–85) und niederdeutschen Dialekträumen (Niebaum 1977: 33–35; Stellmacher 1981: 50–53).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

293

2006: 40; Krech/Stock u. a. 2009: 108). So kann der Reflex von Kafkas r-Vokalisierung allenfalls als ,häufig mundartbedingt‘, nicht aber als Regionalismus aufgefasst werden. Zu ergänzen bleibt, dass sich die Fälle normwidriger Silbenschärfung und ‑dehnung, die im Korpus ausgemacht werden konnten, schließlich mehrheitlich als hyperkorrekte Sekundärauswirkungen der Unsicherheit Kafkas bei der Setzung harter oder weicher Verschlusslaute sowie der Vokalisierung des l373 und des r im gesprochenen Deutsch erwiesen haben. Damit ist auch hinreichend evident, dass Kafka keinesfalls im Schriftbild Reflexe einer Tendenz zur Silbenverkürzung und womöglich offenen, ,tschechischen‘ Aussprache der Vokale im Deutschen hinterließ. Denn innerhalb der bereits in Kap. 5.1.1.5 aufgelisteten verbleibenden Beispiele normwidrig markierter Vokalquantität vor den Konsonanten ‹f›, ‹h›, ‹ch›, ‹j›, ‹m›, ‹n›, ‹s›, ‹sch›, ‹st› und ‹z› halten sich Schärfung (89 Belege bzw. 51,74 Prozent) und Dehnung (83 Belege bzw. 48,26 Prozent) annähernd die Waage. 3

5.1.3  Assimilationsformen 5.1.3.1  Merkmale progressiver und regressiver Assimilation in den ungespannten Silben -ben, -den/-dem und -gen In Kafkas Varianten übe(m>n) (Pv.185/1), obe(m>n) (Sv.474/5) und a[be]m Abend{s} (Dv.182/5–6) lassen sich Formen progressiver Assimilation erkennen, wie sie für den mündlichen Sprachgebrauch charakteristisch sind:374 Nach dem Pfalz’schen Gesetz (Pfalz 1913: 9) tritt in ungespannten Silben Konsonantenschwächung ein; der Verschlusslaut b geht im angrenzenden Nasal n auf. Auf diese Weise wird der Wortausgang [-bən] über [-bm] zu bloßem [-m] reduziert.375 Analog verschriftlichte Kafka an anderer Stelle die Assimilation von Vokal + -den/-dem zu einem gedehnten Vokal + -n/-m: verschie(n>d)enen (Pv.122/5; N1v.357/24), je(m>de)m (Sv.417/27), re(e>d)en (Sv.462/7), zufrie(n>d)en (Vv.243/16), verschi(en>ed)ensten (Vv.255/16), mit je(n>d)em andern (N2v.457/25–26(2)).

373 S. hierzu Kap. 5.1.2.1 und 5.1.2.11.1. 374 Zu Merkmalen progressiver und regressiver Assimilation in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2005: 26; 2007a: 169; 2007b: 200; 2008a: 87–88). 375 Eventuell könnte auch in e(nxA>be)nso (N1v.322/12=Dv.275/19) die Assimilation eines b an den folgenden Nasal Spuren in der Schrift hinterlassen haben.

294

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Hinzu kommen Autokorrekturen, in deren Zuge Reflexe einer regressiven Assimilation der Silbe [‑gən] (über [‑gn]) zu [ŋ] getilgt wurden:376 in der [ge(x>g)enü] [Hütte auf] [Hütte] (Sv.27/11), ge([n]>g)enüber (Sv.226/18; vgl. Se.52/24), ge(x>g)enüber (Sv.230/22), ei(n>g)entlich (Sv.265/3), genüber (Ve.52/24=Dv.110/12), Geistes-|genwart 377

(Vv.208/11), Unbeha(n>g)en (N2.423/17), nach ei(nem>gen)em Plan

(N2v.10/21).

Bei Au(bA>g)enblick (Vv.91/15) könnte eine entsprechende Interferenz sogar zum Ausfall der gesamten unbetonten Silbe ‑gen- in Kafkas Schriftbild geführt haben. Auf den ersten Blick lässt der Befund ein Lautungsphänomen erkennen, das im nord- und ostober-378 sowie ostmitteldeutschen Raum379 auf Mundartebene verbreitet ist. Es wird „[z]u den auffälligsten Ergebnissen der für das Bairische typischen Assimilation“ (Reitmajer 1979: 128) gezählt, die zu entsprechenden Umsetzungsschwierigkeiten in der Schriftsprache führen könne (Zehetner 1977: 59). Für die nieder‑,380 westmittelund westoberdeutschen Dialekte381 sind Kafkas Formen dagegen nicht kennzeichnend und werden daher fehlerlinguistisch nicht erfasst.382 Dennoch muss der spontane Eindruck, man habe es folglich mit Regionalismen zu tun, relativiert werden: Während die beschriebenen Assimilationsprodukte auf der Ebene dialektaler Mündlichkeit durchaus charakteristisch regional beschränkt auftreten, erweisen sie sich innerhalb der Umgangsoder sogar Hochsprache als überregional im ganzen deutschen Sprachraum verbreitet. Bereits Siebs (31905: 16; 111915: 25, 43; 151930: 25, 43) warnte vor der seiner Meinung nach in Deutschland verbreiteten Aussprache der Silben [‑bən] und [‑gən] als [‑bm] und [ŋ]. Gestützt auf die Ergebnisse der Studie Rechtschreibfehler und allgemeine Lautgesetze (Eichler 1981a–b; 1982; 1983; o. J.) hat sich Naumann (1989: 135) in jüngerer Zeit dafür 376 Zu dieser Assimilationsform in den betreffenden Dialektarealen vgl. Merkle (61996: 34, 40), Hörlin (1988: 106–107), Koller (1991: 36–37) und Frings (1936: 202). 377 Hier war möglicherweise aber auch zunächst die Formulierung nach einem Plan beabsichtigt. 378 Vgl. Kranzmayer (1956: 86–87), Pfalz (1983c: 210–211), Merkle (61996: 34–35, 40), WBÖ (1963: 36), Hörlin (1988: 106) und Koller (1991: 35–36). 379 Vgl. Franke (1895: 75–76), Frings (1936: 202) und WOM (1994: 315, 454; 1996: 426, 680; 2003: 37–38). 380 Vgl. NSW (1994: 930–938; 1998: 204–210; 2004: 111–114; 2006: 261–262). 381 Hier kommt es bei den Silben ‑ben, ‑den und ‑gen zur Abschwächung des auslautenden ‑n (PWB 1976–1980: 112; 1987–1993: 191–192, 438–439; 1993–1997: 833–834, 1666; SWB 1911: 173; 1920: 5, 227; 1924–1936: 6; BWB 1940–1974: 322; VBW 1960: 1083; 1965: 580, 686, 1399; Auer 1990: 52–54). 382 Vgl. das Fehlen bei Niebaum (1977), Hasselberg/Wegera (1976), Klein/Mattheier/Mickartz (1978), Henn (1980), Ammon/Loewer (1977) und Besch/Löffler (1977).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

295

ausgesprochen, Koartikulationserscheinungen dieser Art dem Register überregional umgangssprachlich-phonetisch induzierter Allegroformen zuzurechnen.383 Auch Duden (82009: 58–59) ordnet sie der Umgangslautung zu. Krech/Stötzer u. a. (1964: 31, 63), Krech/Kurka (31971: 65–66) und Krech/Stock u. a. (2009: 50) zählen sie prinzipiell sogar zur Hochlautung384 bzw. zur Standardaussprache des Deutschen mit verminderter Artikulationspräzision. So kann bei den betrachteten Normverstößen maximal von ,häufig mundartbedingten‘ Fehlern, nicht jedoch von Regionalismen gesprochen werden. 5.1.3.2  ‹s›-Ausfall vor folgendem ‹sch›, ‹st›/‹sp› und ‹z› Das Aufeinandertreffen gleicher/ähnlicher Konsonanten an morphologischen Grenzen bedingte bei Kafka häufig eine auf lautliche Assimilation zurückführbare Reduktion,385 die sich, auch über Wortgrenzen hinweg,386 in Graphem-Ausfällen im Schriftbild niederschlug.387 Während solche Kontraktionen allgemein den überregionalen Allegroformen umgangssprachlicher Mündlichkeit zugeordnet werden, bedarf die Assimilation von ‑ssch- zu ‑sch- hinsichtlich ihrer Verbreitung der Diskussion. Im gesprochenen Deutsch manifestiert sich in diesen „sekundären Doppel-Konsonanten“ (Naumann 1989: 212) eine Diskrepanz zwischen Schrift und Aussprache. Den durch progressive Assimilation begünstigten s-Ausfall in der Schrift hatte bereits Lehmann (1899: 14) unter die in Wien verbreiteten Schülerfehler eingereiht. Im Korpus lassen sich dabei drei Gruppen betroffener Wörter ausmachen: Zum einen tritt der Verlust eines ‹s› am Morphemende des Präfixes (hin-/her-)aus- vor folgendem ‹sch› auf. Beispiele hierzu lauten:

383 Analog äußert sich Schwitalla (32006: 39). 384 Diese Zuordnung gilt, solange beim Ausfall des schwachtonigen [ə] die nasale Lösung des Verschluss­ lautes nicht aufgegeben und z. B. leben als [le:bm], nicht aber als [le:m] realisiert wird (Krech/ Stötzer u. a. 1964: 63). 385 Vgl. beispielsweise nicht{s} zu tun (Pv.92/6), mi(z>t)zuteilen (Pv.231/4), Auftrag(e>g)eber (Sv.363/17), ab(r>b)rechend (Vv.68/7), wahl(o>l)os (Vv.198/6), Haupt(oA>t)or (Vv.253/18– 19(2)), Telephomuschel (Ve.261/10–11), Uneigenützigkeit (N1e.160/17), Gegenwärtig(e>k)eit (N1v.355/25), Aufressen (N1e.401/8), Abend(a>d)ämmerung (Dv.142/15). 386 Vgl. z. B. (esaA>es)(gA>s)agen (Pv.80/14), gewiss[e] sehr (Vv.173/24), Siehst[u] Du (Vv.259/3), Fragen, di(ch>e) ich nicht stellte (N1v.76/26), a(m>n) {meinem} (N1v.286/21), Hund(a>e) dagegen (N2v.425/17). 387 Auch das Aufeinandertreffen gleicher/ähnlicher Silben konnte bei Kafka zur Silbenreduktion (vgl. Kap. 5.1.3.1), im Extremfall zu ihrem Ausfall im Schriftbild führen. Vgl. z. B. verspäte(n>t)en (Pv.35/15), im allgemein (Pe.148/12–13), un{un}terbrochen (Pv.286/11–12(1)), E(st>s) ist (Sv.273/7), Geistes-|genwart (Ve.208/11), Ander{er}seits (Vv.229/13), Durcheinder (Ve.281/3), zusammhalten (N2e.312/13), Gefangenaufseher (N2e.417/8).

296

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

auschicken (Pe.14/22–23), Auschnitt (Pe.119/18), auschalten (Pe.153/22), auschliesslich (Pe.166/1; Ve.186/12; Ve.254/26; Ve.259/20; Dv.190/5), auschritt (Pe.352/9), Auschiffung (Ve.8/9=Dv.66/8–9), hinauschauen (Ve.61/2; Pe.153/3; vgl. Pe.38/5), heraus[chälen] (Dv.48/12), herauschauen (De.422/12), Halsauschnitt (Dv.422/13).

Analoge Ausfälle lassen sich auch vor folgendem ‹z› belegen: auzuforschen (Pe.154/14), au{s}ziehn (N1v.393/20=Dv.302/2). Zum anderen fehlt in Substantiv-Komposita, deren Grundwort mit sch beginnt, das ‹s› im Auslaut des Bestimmungswortes. Auch das Fugens zwischen Bestimmungs- und Grundwort wurde hier gelegentlich nicht gesetzt:388 Empfehlungschreiben (Pe.182/26), Glascheibe (Pe.209/8), Hauschlüssel (Pe.146/13), Kriegschiffen (Ve.19/20=Dv.77/18), Seitwärtschauen (Ve.38/5–6=Dv.96/2), Durchschnittschüler (Ve.106/17– 18), Volkschüler (Dv.165/4–5), Willenschwäche (N2e.121/18; N2e.322/10), Volkschule (N1e.213/26).

Beispiele für entsprechende s-Ausfälle vor folgendem mit z beginnendem Grundwort lauten: Arbeitzimmers (Pe.228/5; vgl. Pv.140/7–8; Pe.230/6; N1e.268/9), Empfangzimmer (Pe.273/20–21; vgl. Pv.273/8), Besuchzeiten (Dv.345/5).

Besonders häufig sind drittens Belege, die an sich den beiden bereits genannten Typen von Normabweichungen angehören, bei welchen [∫] graphemisch jedoch nur durch ‹s› repräsentiert wird, d. h. vor ‹p› oder ‹t›:389 Auspruch (Pe.55/5; N1e.128/16), Ausprache (Pe.140/27; Pe.277/24; Pe.322/17; Ve.87/1; Ve.185/25; Ve.206/11–12; Ve.368/6; N1e.273/22; N2e.205/10; vgl. Vv.185/25), ausprechen (Pe.156/7; Ve.253/2; N2e.153/7; Dv.189/15), unausprechlich (Ve.93/11), ausprach (Ve.405/22), ausprichst (N2e.442/19), austiess (Pe.113/16), begriffstütziger (Pe.308/22; vgl. Pe.354/21; N1e.249/26), Seitwärtstossen (Ve.17/26=Dv.75/24), Bambustöckchen (Ve.27/21–22=Dv.85/17–18; Ve.35/23=Dv.93/18; Ve.39/11=Dv.97/4), Wirtstube (Se.70/15; S.139/20), Verkehrstrasse (Ve.108/6–7), Arbeitstellen

388 Insofern könnten die folgenden Belege auch die hyperkorrekte Vermeidung des als Austriazismus geltenden Fugen-s bei Substantiv-Komposita dokumentieren (Nekula 2003a: 109). S. hierzu auch Kap. 5.2.3.5.1. 389 Unberücksichtigt bleiben Fälle, in welchen ‹s-sp› statt ‹ss-sp›/‹ß-sp› oder ‹s-st› statt ‹ss-st›/‹ß-st› geschrieben wurde, wie z. B. in Fusspitzen (Ve.21/10), Grossprecherische (Ve.388/14) und Fusstellungen (Ve.90/27).

Regionalismen auf phonetischer Ebene

297

(Ve.137/11–12), Lehrlingstelle (Ve.137/15; Ve.138/2), Austattung (Ve.192/25; Ve.393/26; N1e.187/18), Landungstelle (Ve.196/7), Begriffstützigkeit (V.226/15–16; N1e.251/23), Austossen (Ve.283/24), Zufahrtstrassen (Se.342/13–14), Kleidungstücke (Ve.355/7), GrabestimmA|men (N1e.304/4), austreckte (N1e.312/25; N2e.283/18), hinaustrecken (N2e.351/1).

Anders als bei sonstigen Assimilationsphänomenen korrigierte Kafka solche GraphemAusfälle nur selten, etwa dann, wenn ihm versehentlich die Verschriftlichung einer progressiven s- oder z-Assimilation an ein folgendes [∫] über die Wortgrenze hinweg unterlief, wie z. B. in Gan(st>z) stumpf (Vv.296/12) oder Es[cA] schien (Vv.52/3=Dv.109/19).390 Ansonsten finden sich im Korpus vergleichsweise wenige Sofortkorrekturen, die ein ausgefallenes ‹s› ergänzen: der Barnaba{s’}schen Familie (Sv.88/11; Sv.248/9; vgl. Sv.279/8–9), Unterricht{s}stunden (Sv.259/1), Amt{s}stunden (Sv.261/10–11), Geschäfts{s}chluss (Vv.71/6), Au{s}spruch (N1v.128/15), Erkenntnis{s}tufe (N2v.52/17–53/1), Übergang{s}stellungen (N2v.132/3), herau{s}stellte (Dv.120/27–121/1).

Der überwiegende Teil der beschriebenen s-Elisionen (80 von 92 Belegen bzw. 86,96 Prozent) blieb hingegen unkorrigiert. Da die bisherige Untersuchung zeigen konnte, dass Kafka Normverstöße, die ihm aufgrund phonetisch bedingter Interferenzen unterliefen, in der Regel sofort als solche erkannte und noch im Schreibprozess ausmerzte, ist dieser Befund auffällig. Er scheint ein schwach ausgeprägtes Fehler-Bewusstsein des Schreibenden im Moment der Niederschrift zu dokumentieren, eventuell sogar seine explizite Annahme, normkonform zu schreiben. Aufschluss über Kafkas Präferenzen gibt eine quantitative Gegenüberstellung aller unkorrigierten von s-Ausstoß betroffenen Wörter im Korpus mit ihren Varianten, bei welchen das s erhalten blieb. Hier erweist sich die Frequenz der nicht vom s-Ausfall betroffenen Varianten bei 14 von 16 gegebenen Vergleichsfällen als z. T. deutlich höher als diejenige ihrer Konkurrenzformen, im Schnitt um über 100 Prozent.

390 Zur (nord‑/ostoberdeutsch und/oder jiddisch bedingten) ‹s›/‹z›-Verwechslung nach Nasal s. Kap. 5.1.2.2.

298

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Variante mit s-Ausstoß

Frequenz

Auschnitt

1

2

Ausschnitt

auschicken

1

3

ausschicken

auschliesslich

5

20

ausschliess/ßlich

Empfehlungschreiben

1

2

Empfehlungsschreiben

Auspruch

2

4

Ausspruch

Ausprache/ausprach

11

13

Aussprache/aussprach

ausprechen

4

17

aussprechen

Austattung

3

2

Ausstattung

austreckte

2

4

ausstreckte

austiess

1

3

ausstiess/ß

Austossen

1

3

ausstoss/ßen

Wirtstube

2

12

Wirtsstube

Bambustöckchen

3

5

Bambusstöckchen

Lehrlingstelle

2

2

Lehrlingsstelle

×

Frequenz

Variante ohne s-Ausstoß 391 392 393 394

395 396

397 398

399

400 401

402 403

404

391392393394395396397398399400401402403404

391 Vgl. S.452/11; D.134/27. 392 Vgl. P.14/22; S.335/12; V.391/17. 393 Vgl. P.327/8; S.56/8; S.114/11; S.339/5; S.380/1; Sv.401/17; S.445/17; V.256/14; V.362/8; N1.201/25; N1.263/3; N1.348/17; N2.79/18; N2.170/17; N2.187/13; N2.271/1; N2.436/23; N2v.459/20,24; N2.602/23. 394 Vgl. Pv.198/4; D.230/9. 395 Vgl. S.378/16; N1.61/11; N1.175/20; N1.196/14. 396 Vgl. P.84/6; Pv.322/11–12(2x); Pv.324/22; P.385/17; Sv.74/16–18(1); V.45/11; N2.50/12; N2.472/10; N2.518/23; N2.536/21; D.102/24; D.120/11. 397 Vgl. P.42/4; P.383/27; S.227/13; S.230/4; S.414/14; V.28/20; V.46/16; V.104/21; V.229/15; V.241/16; V.246/24; N1.248/10; Dv.27/7; D.86/16; D.104/2; D.228/24; D.230/11. 398 Vgl. S.477/5; D.260/8. 399 Vgl. V.215/22; V.254/4; V.284/7; N2.316/6. 400 Vgl. V.64/23; V.284/10; D.130/13. 401 Vgl. P.108/9; N2v.667/15(1)=Dv.365/26(1); D.134/6. 402 Vgl. S.7/12; S.33/4; S.43/22; S.52/7; S.70/15; S.131/20,23; S.135/15; S.139/20; S.140/4; Sv.166/6– 7(1); S.194/17. 403 Vgl. V.21/2=D.79/1; V.23/14=D.81/13; V.26/6=D.84/3; V.30/5=D.88/1; V.31/5=D.89/1. 404 Vgl. V.138/2; V.163/15.

Regionalismen auf phonetischer Ebene

299

Variante mit s-Ausstoß

Frequenz

Grabestimm |men

1

2

Grabesstimme

Kleidungstücke

1

5

Kleidungsstück(e)

gesamt >

41

A

×

×

Frequenz

86

Variante ohne s-Ausstoß 405 406

ü)ckte mit dem Kopf ein wenig beiseite (Sv.410/18).411 Dem scheint Umlauthinderung zugrunde zu liegen,412 wie sie z. B. in den bairischen Dialekten nach den Konsonantenverbindungen gg, ck, pf und tz auftritt (Merkle 61996: 16–17). Die regionale Verbreitung von rucken ist für fast den gesamten oberdeutschen413 und den unmittelbar angrenzenden mitteldeutschen Sprachraum ausgewiesen.414 In schriftlichen Texten auftretend, wird das Wort von der dialektbezogenen Fehlerlinguistik für das entsprechende Areal als Dialekt-Direktanzeige gewertet;415 innerhalb der Regionalismus-Typologie kann es daher unter A1/D[O+/–] kategorisiert werden. An anderer Stelle realisierte Kafka den Infinitiv von ziehen als ziegen:416 man müsse den Auskunftgeber […] elegant anzie(gen>hn) (Pv.103/1–4). Diese Form lässt sich auf die mittelhochdeutsche Endung des Verbstammes auf h, das mit g im grammatischen Wechsel steht, zurückführen; sie ist bereits für das 17. Jahrhundert in Prag belegt (Povejšil 1980: 92). Das ermittelbare Verbreitungsgebiet

410 Zur Form rucken in der Proceß-Handschrift s. Blahak (2007b: 199; 2008a: 87). 411 Dem stehen im Korpus sechs Beispiele einer normgemäßen Bildung des Verbst rücken in der 3. Person Singular gegenüber: P.254/217–218; N1.184/25; N1.210/7–8; N1.263/3–4,1*(1)18*; N1v.288/9,66*–67*(2); D.294/6. 412 Das von Kafka meist mit Umlaut verwendete Verb schlürfen (N2.453/23–24; N2.539/24–25; Dv.119/26–27) ist dagegen als überregional verbreitete Nebenform von schlurfen (N2.324/22–23) belegt (Grimm/Grimm 1899: 850–851; Heyne 21906b: 403–404). 413 Ausgenommen hiervon sind die nördlichen/westlichen ostfränkischen sowie die nördlichen niederalemannischen Mundartareale; vgl. hierzu Schmeller (21877: 49), Zehetner (1985: 101; 42014: 290), Hörlin (1988: 160), SWB (1920: 459–460), BWB (1999–2009: 356) und VBW (1965: 774). 414 Zur Präsenz in den rheinpfälzischen, vogtländischen, westerzgebirgischen und schlesischen Mundarten vgl. PWB (1987–1993: 626), TWB (1982: 267), Spangenberg (1962: 33), WOM (1994: 492) und Mitzka (1964: 1145). Die sonstigen mitteldeutschen Dialekte kennen die umlautlose Form dagegen nicht (Wegera 1977: 193; SHW 1978–1985: 1497–1498; Spangenberg 1962: 33; Seibicke 1967: 21, 40; Stellmacher 1973: 10). 415 Vgl. Zehetner (1977: 35), Reitmajer (1979: 125), Koller (1991: 14), Ammon/Loewer (1977: 41), Besch/Löffler (1977: 31) und Henn (1980: 32). 416 Zur Form ziegen in der Proceß-Handschrift s. Blahak (2005: 26; 2007a: 170; 2007b: 205; 2008a: 93).

302

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

lässt einen oberdeutschen, zudem rheinpfälzischen Regionalismus auf Mundartebene vom Typ A1/D[O+] konstatieren.417 Die hyperkorrekte Verwechslung von führen mit fahren scheint demgegenüber durch die Verfügbarkeit mehrerer regionalstandardlicher Varianten des transitiv verwendeten Verbs fahren verursacht worden zu sein: was […] auf die Rücksichtslosigkeit der Liftjungen zurückzufahren war (Ve.263/24–25). Als Teil des Standards wird unter dem Kausativum führen in Österreich und der Schweiz nämlich ,(mit einem Fahrzeug) befördern/fahren‘ verstanden (Ebner 21980: 74; Muhr 1995: 220; Ammon u. a. 2004: 267).418 In dieser Bedeutung findet sich das Verb mehrfach in Kafkas Autograph sowie in Texten, die zu seinen Lebzeiten in österreichischen Printmedien veröffentlicht wurden:419 den Mist aus dem Stall zu führen (S.190/10), ein kleines von einem Diener geführtes Wägelchen (S.439/24–25), führte Karl am Ende der Straße den Wagen in einem Kreis herum (V.379/13–14), Er führte dann den Wagen in einen Hofwinkel (V.383/2–3), nur eine Schaufel Kohle, gleich hier in den Kübel, ich führe sie selbst nachhause (N1.316/4–5=D.446/27–447/1), [Denn nur wenn (e>m)an es gefangen und weit fort [geführt] geschafft hätte] (N2v.410/18–411/4,12*–13*(5)), aus dem Wägelchen […], das dann weiter den Zaun entlang geführt wurde (N2.500/14–15), in dem die unschuldige Heldin […] in ein Automobil gedrängt und weggeführt wird (D.428/14–16).

Auch wenn Kretschmer (1918: 20) das ,österreichische führen‘ „zwischen Hochdeutsch und Halbmundart“ ansiedelt, lässt es sich aufgrund seiner Nennung in cisleithanischen Standard-Wörterbüchern420 und angesichts der editorischen Akzeptanz, die ihm Max Brod entgegenbrachte (z. B. Kafka 1953b: 351, 354), als Bestandteil der damaligen Schriftnorm in Österreich betrachten. Zugleich geht aus der oben angeführten hyperkorrekten Verschreibung hervor, dass Kafka sich bewusst war, dass man führen im Deutschen Reich

417 Vgl. Schmeller (21877: 1105), Merkle (61996: 43), Hügel (1873: 24), Jakob (1929: 25), Schuster/ Schikola (1984: 96), Hörlin (1988: 166), SWB (1924–1936: 1179), Frey (1975: 139) und WEM (1907: 897). 418 Auch im Jiddischen hat firn die Bedeutung ,(mit einem Fahrzeug) transportieren‘ (Lötzsch 1990: 75). 419 Die Belege stammen aus Die erste lange Eisenbahnfahrt, erschienen in den Herder-Blättern, und aus Der Kübelreiter, abgedruckt in der Prager Presse. 420 Vgl. Rank (1892: 364), Janežič (41905: 254), Herzer/Prach (1920: 1529), Sterzinger (1921: 243) und Hulík (21944: 696).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

303

nicht im Sinne von ,fahren‘ verwendete.421 In der Summe lässt sich der ausgemachte Regionalismus somit unter der Sigle B2/rS(d)[Ö+CH] klassifizieren. In einer anderen Autokorrektur Kafkas weist die Stammform eines Verbs auf den gesamten oberdeutschen Raum;422 hier kommt es auf der Ebene der Mundarten (bei gleicher Flexion) zur Überschneidung der Kausativa sitzen und setzen:423 sich an seinem Schreibtisch s(i>e)tzen (Pv.270/14–18(1)).424 Folglich kennt auch die Fehlerlinguistik regional die Verwechslung beider Verben, die auf der Opposition transitiv/intransitiv beruht (z. B. Kalau 1984: 65–66; Ammon/Loewer 1977: 92).425 Da sich sitzen gegenwärtig als Grenzfall des regionalen Standards in Österreich, der Schweiz und Südost-Deutschland betrachtet wird (Zehetner 42014: 256; Ammon u. a. 2004: 350), dürfte es sich im frühen 20. Jahrhundert um einen Regionalismus des Typs A1/rU(d)[O] gehandelt haben. Anders als sich sitzen muss hingegen niedersitzen in der Bedeutung ,(sich) niedersetzen‘ auf dem Dialekt/Standard-Kontinuum eingeordnet werden: Das ganze war […] zu schmal zum niedersitzen (N1.394/11–12=D.302/20–21). Für die Zugehörigkeit dieses Verbs zu einem regionalen Standard der Kafka-Zeit sprechen mehrere Indizien: Zum einen wurde es 1917 im Bericht für eine Akademie in der Oesterreichischen Morgenzeitung abgedruckt. Zum anderen lassen auch die Angaben der einschlägigen Kodizes eine solche Interpretation zu: Unter den reichsdeutschen Wörterbüchern betrachtet Heyne (21906b: 629) das nicht reflexive, Anfang/Richtung des Sitzens bezeichnende sitzen mit örtlichem Akkusativ als „jetzt im Norden durch sich setzen fast völlig verdrängt, im Süden noch lebendig.“ Entsprechend führen auch nur österreichische Nachschlagewerke niedersitzen als standardsprachliches Synonym zu sich setzen an ( Janežič 41905: 254; Sterzinger 1931: 518–519; Pinloche 21931: 601; Siebenschein 1944: 64). Die übereinstimmende ,Außenperspektive‘ zeitgenössischer serbokroatischer Wörterbücher des Deutschen (Popović 21886: 301; Ristić/ Kangrga 1936: 277) unterstreicht den Eindruck einer in ganz Österreich-Ungarn gängigen

421 Vgl. z. B. das Fehlen bei Weigand (51909). Sanders (81910: 226) betrachtet das Wort als mundartlich und veraltend. 422 Vgl. Schmeller (21877: 345), Zehetner (42014: 324–325), Kalau (1984: 65–66), SWB (1920: 1375), VBW (1965: 1151) und WEM (1907: 382). 423 Die mitteldeutschen Mundarten trennen beide Verben dagegen gemäß ihrer hochdeutschen Bedeutung (PWB 1993–1997: 82–84, 133–135; SHW 1989–1998: 1003–1006, 1050–1054; Spangenberg 1962: 33; Rosenkranz 1964: 74; TWB 1982: 1212–1216, 1255–1258; WOM 1996: 210, 219; Stellmacher 1973: 67; Mitzka 1965: 1282, 1286). 424 Zur Form sich sitzen in der Proceß-Handschrift s. Blahak (2007a: 174–175). 425 Nur in der Deutschschweiz gilt sitzen (ohne Reflexivpronomen) im Sinne von ,sich setzten‘ als Teil des nationalen Standards (Ammon u. a. 2004: 721), wenn auch als ,mundartnah‘ markiert (Meyer 1989: 171, 269).

304

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Form. Nicht zuletzt findet sich das Verb auch außerhalb Prags in der Prosa österreichischer Schriftsteller, so etwa bei dem gebürtigen Budapester Artur Holitscher.426 Dass Kafkas niedersitzen 1919 auch in Leipzig im Bericht für eine Akademie gedruckt wurde,427 könnte man dadurch erklären, dass es sich hier um die Neuauflage eines bereits veröffentlichten Textes handelte. Zum anderen lässt sich daran aber auch erkennen, dass das Verb zwar als ,süddeutsch‘, nicht aber als spezifisch ,österreichisch‘ empfunden wurde. So konnte auch Brod das Niedersitzen des Wolff ’schen Drucks bedenkenlos in seine Kafka-Ausgabe übernehmen (Kafka 1967b: 187). In der Summe ist das Wort somit als Regionalismus des Typs B2/rS(d)[Ö+soD] zu bestimmen, auch wenn es von ÖWB (241951) nicht mehr und von Ammon u. a. (2004: 529) als veraltend und Grenzfall des Standards in Österreich und Südost-Deutschland verzeichnet wird. 5.2.1.2  Tempuswechsel vom Präteritum zum Perfekt innerhalb des Satzgefüges Als Tempus der Romanhandlung benutzte Kafka, wie im Schriftdeutschen üblich, fast durchgehend Präteritum bzw. Plusquamperfekt. Das Perfekt setzte er in der Regel nur in der wörtlichen Rede handelnder Figuren oder dann ein, wenn er innerhalb der Romanhandlung eine Geschichte im Präsens wiedergab.428 Indizien dafür, dass Kafka im Bemühen um schriftsprachliche Korrektheit in seiner Prosa zwar das Präteritum als Erzählzeit verwendete, im mündlichen Sprachgebrauch die Vergangenheit dagegen im Perfekt formulierte, liefern Manuskriptstellen, an welchen das Perfekt unvermittelt als Tempus in Vorgängen auftaucht, die an sich im Präteritum beschrieben werden:429 der Advokat […] legte [die Zeitung] {ein Schriftstück}, d(ie>a)s er beim Licht einer Kerze gelesen hat, auf das Nachtischchen (Pv.249/10–11), denn nachdem etw(as>a) Mitternacht vorüber war, hat sie {wohl} niemanden mehr angesprochen (Vv.198/25–26), Gerade hat sich Karl durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und machte sich daran (Ve.224/7–8), Nun wußte er aber [gar nicht,] {weder} in welchem Ansehen sie jetzt stand noch was sie über ihn verbreitet hat (N1v.41/24–26), Georg stand

426 Vgl. Miß Kellogg läßt die Kinder niedersitzen (Holitscher 81919: 315) in Amerika heute und morgen. 427 Hier wurde lediglich niedersitzen groß geschrieben, der Vokal der Stammsilbe blieb allerdings unverändert. 428 Beispiele hierfür sind u. a. die Türhüterlegende im Proceß oder die Erzählung Eine kaiserliche Botschaft im Landarzt-Band. 429 Zur unwillkürlichen Perfekt-Verwendung in der Erzählhandlung des Proceß s. Blahak (2007a: 173).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

305

in einem Winkel […]. Vor einer langen Weile hat er sich fest entschlossen, alles ([ru]>vo)llkommen genau zu beobachten (Dv.57/17–19).

Dass solche Tempuswechsel unbeabsichtigt erfolgten, illustrieren Sätze, in welchen ein zunächst ins Perfekt gesetztes Verb noch im Schreibprozess zum Präteritum oder Plusquamperfekt verbessert wurde: 430

fragte K. zögernd, hat{te} aber große Lust mitzugehn (Pv.92/8),

Es war das […] der größte Schre­

cken, den er bisher im Dorf erlebt hat{te}, (Sv.201/13–16), er vermutete [sogar] wahrscheinlich sogar das letztere, wenn er {es} s(ogA>p)äter auch [ge]leugnet{e} [hat] (N1v.198/20–21).

Ähnliche Korrekturvorgänge lassen sich anderenorts vermuten, wo Ansätze zu den Hilfsverben sein oder haben die Bildung der Perfektform eines Prädikats andeuten, die letztlich aber nicht vollzogen wurde: da stürmten ihnen die Mädchen entgegen, die also K. auch nicht erspart geblieben (s>w)aren (Pv.223/9– 10(1)), Sie [ha] besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt (Dv.199/25–26).

Punktuell liegen im Korpus Mischformen zwischen Imperfekt und Partizip vor, die ebenfalls an ein ,latentes Perfekt‘ denken lassen: als er sich ins Zimmer zurückgewendete (Pe.318/2), seitdem K. die Tür geöffnet[eA] hatte (Pv.326/9–10), die Elbogen von den Tischen gestreift[e] hatte (Vv.153/26–27), hatte sie es doch bemerkt[e] (Vv.322/20), um was es sich hier gehandelt[e.] hatte (N1v.196/7–8), war der Unterstaatsanwalt von der Arbeit ermüde(te>t) (N1v.221/15).

Den Hintergrund dieser unterdrückten Neigung zur Perfektsetzung bildet der Umstand, dass im gesamten ober- und westmitteldeutschen Sprachraum431 südlich der so genannten

430 Hier könnte sowohl zum Perfekt (hat aber große Lust mitzugehn gehabt) als auch zum Präsens (hat aber große Lust mitzugehn) angesetzt worden sein. 431 Vgl. Zehetner (1985: 58), Merkle (61996: 53), Hügel (1873: 9), Schuster/Schikola (1984: 145–146), Wagner (1987: 72–73), Hörlin (1988: 181–182), Frey (1975: 135) und Post (21992: 132).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

,Präterital-Linie‘432 die Einwortvergangenheit Präteritum im Mündlichen ungebräuchlich ist433 und vollständig durch das Perfekt (in Erzählungen auch durch das Präsens) verdrängt wurde (Lindgren 1957). Dieses universelle Vergangenheitstempus stellt hier schlechthin alle unmittelbar vor dem Sprecherzeitpunkt liegenden Ereignisse dar, abgeschlossen oder nicht (Ebner 21980: 221; Meyer 1989: 38; Muhr 1995: 227).434 Für das in Prag gesprochene Deutsch ist ein bereits seit dem 18. Jahrhundert zunehmender Präteri­ tal-Schwund nachweisbar (Skála 1991: 137), der sich im frühen 20. Jahrhundert in der „arge[n] Vernachlässigung des Imperfekts“ (Stein 1976: 14) und der fast ausschließlichen Verbreitung zusammengesetzter Zeitformen äußerte.435 Entsprechend veranschaulicht die dialektbezogene Fehlerlinguistik anhand typologischer Normverstöße, dass sich oberdeutsche Mundartsprecher die Formen des Präteritums z. T. wie Strukturen einer Fremdsprache aneignen müssen.436 Solche grundlegenden Schwierigkeiten, Präteritalformen gemäß standarddeutscher Grammatik zu bilden, sind Kafka zwar nicht nachzuweisen; dennoch ist man angesichts seines punktuellen ,Abgleitens‘ ins Perfekt innerhalb des Handlungsberichtes geneigt, Richard Thieberger (1979: 191–192) zuzustimmen, der Kafkas Haltung gegenüber den Tempora des Deutschen im Rahmen schriftlichen Erzählens folgendermaßen kommentiert: Wie schwer Dichter aus dem oberdeutschen Raum zum Präteritum Zugang finden und wie unnatürlich ihnen diese Zeitform erscheint, geht aus einer von P. A. Bloch im Auftrag des Deutschen Seminars der Universität Basel herausgegebenen Dokumentation hervor. […] Es dürfte sich bei Kafka ebenso verhalten. […] Bei der Unterscheidung zwischen Perfekt und Präteritum ist Kafkas Zugehörigkeit zum oberdeutschen Gebiet nicht aus dem Auge zu verlieren.

432 Sie verlief etwa von Trier über Frankfurt a. Main und Plauen bis an die schlesische Südostgrenze (Lindgren 1957: 44; König 162007: 163). Zur Staffelung des Präterital-Schwundes in der Übergangszone, in der das Präteritum bei Hilfs- und Modalverben in unterschiedlichem Ausmaß existiert, s. Žirmunskij (1962: 490). 433 Ausgenommen hiervon ist nur die Vergangenheit von sein und wollen (sowie eingeschränkt von sollen). 434 Diese Praxis ist auch für das Jiddische charakteristisch (Strack 1916: IV; Beranek 21957: 1968; 1965: 224; Weissberg 1988: 135; Jacobs 2005: 217). 435 Im Schriftdeutschen sei das Imperfekt allerdings selbstverständlich gewesen, weswegen man den Tempusgebrauch im gesprochenen und geschriebenen Deutsch ähnlich wie im heutigen oberdeutschen Raum unterschieden haben dürfte. 436 Vgl. Zehetner (1977: 110), Reitmajer (1979: 134), Kalau (1984: 62–70), Koller (1991: 81–83, 87–88), Ammon/Loewer (1977: 77), Besch/Löffler (1977: 68–69), Henn (1980: 59–63) und Hasselberg/Wegera (1976: 59).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Den Eindruck eines latenten Einwirkens der regional-mündlichen Erzählpraxis auf die Tempuswahl verstärken Belegstellen, an welchen Kafka unvermittelt in wörtlicher Rede wie im Handlungsbericht vom Präteritum ins Präsens geriet; dieses kann in seiner Punktualität und angesichts nachweisbarer (wenn auch nicht durchgängiger) Sofortkorrekturen kaum ein beabsichtigtes historisches Präsens darstellen:437 er gelobt{e} sich aber (Pv.116/17), trotzdem ihm die [Dringlichkeit,] eilige und dringliche Art […] Unbehagen verursacht(.>e) (Pv.128/14–16), Der Entschluß […] stellt{e} sich ihm nun als schwerwiegender (alA>d)ar (Pv.176/12–14), es handelt sich doch um einen [grossen] {ganzen} Proceß, dessen Dauer unabsehbar war (Pv.177/17–18), Der Herr hatte schon die Tür erreicht, durch die K. zuerst den Hof betreten hatte, noch einmal blickt er zurück (Se.169/10–12), eine Decke bekamen die Gehilfen, […] sie genügt ihnen vollauf (Se.201/3–4), Es gab […] viel Verwirrung […] weil sich so viele möglichst auf einen Zweck hin zu sammeln such(en.>ten) (N1v.344/9–13), sprachen kaum, sondern gurr(en>te)n einander nur zu(,>;) rauchten (N1v.398/4–5=Dv.306/9–10), In der rechten Hand hielt er eine Feder […], (m>di)e linke Hand spielt [mit] an der Weste (un>mi)t einer glänzenden Urkette (,>u)nd der Kopf war tief {zu ihr} hinabge(xeig>nei)gt (N2v.227/7–11), Ich staunte […]. Ja glaubte er denn […]. Der Bauer hört stumm […] zu (N2e.305/19–306/1), Wir liefen auf glattem Boden, manchmal stolpert[en] einer und fiel hin (N2v.316/15–16), sie dreht{en} sich hervor (N2v.361/3), „Du kennst also Dein Ziel?“ fragte er. „Ja“, antworte ich (N2e.374/22–23), sie klapperten mit den Zähnen, sie taste(n>t)en […] die Wand ab (N2v.493/4–5), wir saßen noch um den Tisch, der (W>V)ater […] raucht die Pfeife, {halbschlafend}, die Mutter flickte eine meiner Hosen (N2v.549/8–11).

Dem könnte das von Lindgren (1957: 42–43, 104–106) beschriebene Erzählmuster zugrunde liegen, nach dem im oberdeutschen Raum Berichte in der Regel im Perfekt beginnen, wodurch die Vergangenheit als Zeitpunkt festgelegt wird. Folgend wird dann jedoch das Präsens als allgemeingültiges, zeitloses Tempus verwendet, bevor man am Ende zusammenfassend wieder zum Perfekt zurückkehrt.438 Den zeitgenössischen norddeutschen Normvorgaben, das Imperfekt sei in der Schriftsprache „das wahre historische Tempus“ und werde „ganz vorzüglich in Erzählungen

437 Thiebergers (1979: 191) These, Kafkas literarisches Präteritum sei kein Ausdrucksmittel eines einfachen Erzählerberichtes, sondern vermittle suggestiv erlebte Rede, wird durch die von Binder (1966: 236) festgestellte Aktualisierung von Vergangenheitsformen durch häufige Modaladverbien (jetzt, vielleicht, wirklich) erhärtet. 438 Mit Absicht folgte Kafka diesem Erzählmuster oberdeutscher Mündlichkeit beispielsweise in Eine kaiserliche Botschaft, wobei am Ende der Erzählung das Futur die Erzählzeit bildet (Thieberger 1979: 191).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

von Begebenheiten gebraucht“ (Heyse 251893: 334), schließen sich die österreichischen Regelwerke der Kafka-Zeit vorbehaltlos an (Kummer 31892: 46; Lehmann 101899: 49). Zugleich stellen sie aber in ihrem Einzugsgebiet eine Diskrepanz zum mundartlichen bzw. umgangssprachlichen Usus fest: „Der Dialect verschmäht diese Zeit [Imperfekt] und gebraucht in Erzählungen die Gegenwart oder Vergangenheit [Perfekt]“ (Lehmann 7 1892: 56).439 Die daraus abgeleitete Kategorisierung der schriftlichen Perfekt-Verwendung als Normverstoß (Willomitzer 61894: 92; Lehmann 1899: 34) gilt noch heute: Koller (1991: 87–88) etwa bezeichnet sie als „deutlich sprechsprachlich-dialekal“, v. a. wenn es um „brüske Tempuswechsel inmitten des Textes […] oder gar des Satzgefüges“ gehe, wie sie im Korpus vorliegen. Die entsprechenden Belege sind somit unterhalb der Ebene des Standards als Regionalismen des Typs A1/rU(d)[O+] einzuordnen. Denn auch wenn sich in ihnen eine im ganzen oberdeutschen Sprachraum gängige umgangssprachliche, in Österreich auch standardsprachliche Praxis niederschlägt, so bleibt diese doch auf die Mündlichkeit beschränkt. Als Tempus des Erzählens und Berichtens ist das Imperfekt auch in der Gegenwart für die Schriftsprache in Österreich festgeschrieben (Ebner 21980: 221; Muhr 1995: 227). 5.2.1.3  Perfekt- und Plusquamperfektbildung mit sein bei intransitiven, Körperhaltungen bezeichnenden Verben Wie Krolop (2005: 213) und Nekula (2003a: 107) bereits angemerkt haben, bildete Kafka in seiner Prosa das Perfekt und Plusquamperfekt der Verben sitzen, stehen und liegen in den meisten Fällen mit Formen des Hilfsverbs sein. Dem zugrunde liegt die Auffassung des Stehens, Sitzens und Liegens als Zustand, nicht als Verhalten (Merkle 61996: 59). Sie gilt im gesamten oberdeutschen Raum prinzipiell für alle intransitiven Verben, die eine Körperhaltung bezeichnen.440 In gedruckten Texten erwies sich diese Tempusbildung bereits im 17. Jahrhundert als in Prag dominant (Povejšil 1980: 97).441 Mit Blick auf die regionale Zulässigkeit dieser Erscheinung in der Schriftsprache ergeben die Regelwerke der Kafka-Zeit ein Spektrum, das zwischen den Extremen der ausschließlichen Akzeptanz des einen oder anderen Hilfsverbs auch Fälle gleichberechtigter 439 Vgl. hierzu gleichlautend Willomitzer (61894: 92). 440 Vgl. Rizzo-Baur (1962: 104), Ebner (21980: 120, 169, 173), Meyer (1989: 199, 269, 279), Muhr (1995: 227), Ammon (1995: 176), Ammon u. a. (2004: LXXII) und Zehetner (42014: 234, 324– 325, 334). 441 Auch das Jiddische bildet (trotz der Dominanz des Hilfsverbs hobn) das Perfekt von stehen und sitzen mit sajn (Weissberg 1988: 146).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Anerkennung aufweist. Dabei erachten die österreichischen Lehrwerke die Bildung mit sein in jedem Fall als normgerecht und bringen dem Perfekt mit haben in unterschiedlichem Grad Toleranz entgegen. Bei den reichsdeutschen Grammatiken verhält es sich umgekehrt: Während Willomitzer (61894: 53) z. B. explizit festlegt, das Perfekt von sitzen, stehen und liegen sei obligatorisch mit sein zu bilden, hält Lehmann (71892: 55; 101899: 48) bei sitzen auch die Variante mit haben für möglich; liegen sei allerdings auch seiner Ansicht nach ausschließlich mit sein ins Perfekt zu setzten. Kummer (31892: 49) wiederum lässt bei allen drei Verben das Perfekt mit sein oder haben gelten, vermerkt jedoch, sie würden „besonders von norddeutschen Schriftstellern gern mit haben verbunden.“ Auf reichsdeutscher Seite betrachtet Heyne (21906a: 656; 21906b: 628, 775) bei allen drei Verben das Perfekt mit beiden Hilfsverben als korrekt, trifft im Falle von sitzen und stehen allerdings die Zuordnung ,sein/oberdeutsch‘ – ,haben/sonst‘ und bezeichnet die Perfektbildung von liegen mit haben als „in der neueren Schriftspr[ache] gewöhnlich“. Heyse (251893: 326), sozusagen der norddeutsche Gegenpol zu Willomitzer, sieht bei stehen und sitzen die Verbindung mit haben als ausschließlich an. Regelwerk 

Verb 

sitzen Perfektbildung mit

stehen Perfektbildung mit

liegen Perfektbildung mit

sein

sein

sein

Willomitzer (61894) Lehmann ( 1892; 1899)

sein/haben



sein

Kummer (31892)

sein/habenN

sein/habenN

sein/habenN

Heyne (21906a–b)

seinS/habenN

seinS/habenN

sein/haben

Grimm/Grimm (1885; 1905; 1919)

sein /haben

sein /haben

sein/haben

haben

haben



7

Heyse (251893)

10

S

N

S

N

Tab. 11:  Zulässige Perfektbildung von sitzen, stehen und liegen mit sein/haben gemäß österreichischen und reichsdeutschen Regelwerken der Kafka-Zeit (S/N: regionale Zuordnung Süd/Nord)

Trotz einer gewissen Heterogenität läuft das Gesamtbild auf eine Zuordnung des Perfekts mit sein zur südlichen, mit haben zur nördlichen Hälfte des deutschen Sprachraums hinaus, die schon von Kretschmer (1918: 6) festgeschrieben wurde und die auch heute auf Standardebene als gültig betrachtet wird (Ammon u. a. 2004: LXXII; Zehetner 42014: 334; Duden 62009: 466). Dabei lässt sich die nach Norden meist nicht klar abgegrenzte regionale Verbreitung der von Kafka bevorzugten Form anhand von Eichhoff (1978: 35; K. 125) exakt auf das Areal der oberdeutschen Dialekte festlegen (Zehetner 42014: 234, 324, 334).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 13:  Die Verbreitung von ich bin bzw. ich habe auf dem Stuhl gesessen im deutschen Sprachraum

Das Ausmaß der Toleranz, die sich in beiden Hälften des deutschen Sprachraums gegenüber der Hauptform der jeweiligen anderen Hälfte abzeichnet, versucht das Deutsche Wörterbuch anhand des Verbs stehen zu beschreiben:

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

311

[S]eit mitte des 18. jahrh. steht die heutige geographische vertheilung fest: norddeutsche autoren bilden das perf. mit haben, süddeutsche mit sein. […] also kurz: nördlich der Mainlinie gilt haben, südlich sein. […] die ausnahmen sind nicht sehr zahlreich (Grimm/Grimm 1919: 1468–1470).

Einem durchaus feststellbaren Gebrauchswechsel süddeutscher Schriftsteller, z. T. durch Aufenthalte in Norddeutschland, stehe der „seltner[e] umgekehrte fall, dasz norddeutsche autoren neben dem ihnen natürlichen haben auch sein verwenden“ (Grimm/Grimm 1919: 1470–1471), gegenüber. Diese Gebrauchsrealität könnte im Untersuchungskorpus ihren Reflex gefunden haben: Das Perfekt/Plusquamperfekt von stehen bildete Kafka zwar insgesamt 19-mal (zu 82,61 Prozent) mit sein: wo sie so lang vereinigt gestanden waren (P.43/12), in dem letzthin nur ein Waschbottich gestanden war (P.74/15–16), früher war er so aufrecht vor ihm gestanden (P.104/26), Wie viele Parteien sind […] vor mir gestanden (P.254/22–23), wenn Erlanger nicht in der offenen Türe gestanden wäre (S.427/3–4), auch Frieda […] war […] bei K. gestanden (S.451/15–16), der sicher schon lange hinter der Tür gestanden war (V.35/3–4), und auch Karl war oft […] davor gestanden (V.57/27–58/1), sind wir nur vor der zweiten Wohnung gestanden (V.303/9–10), wir sind links und rechts von der Tür gestanden (V.303/23), daß sie […] dabei gestanden ist (V.310/8–9), Brunelda ist unten beim Wagen gestanden (V.311/22–23), an der hintern Seite des Podiums […], auf dem früher die Engel gestanden waren (V.410/9–10), nur bin ich nicht so teilnahmslos dagestanden (N1.164/23–24), wenn es in meiner Macht gestanden wäre (N1.412/16–17), Ich war am Steuer gestanden (N2.324/4), sollte nur der Name des Besitzers dort gestanden sein (N2.509/17–18), daß Hotel dort gestanden ist (N2.509/21–22), Aufrecht war sie schon da gestanden (D.193/4).

Immerhin viermal (zu 17,39 Prozent) – dies ist die häufigste Verwendung bei einem Verb des untersuchten Typs – verwendete er jedoch dazu auch haben: das […] beim Fenster gestanden hatte (P.32/11–12), die […] tagelang auf ihrem Balkon gestanden […] hätten (V.56/13–16), Sollten sie nur seinetwegen dagestanden haben? (N2.258/15–16), wo ich gestanden hatte (N2.435/2–3).

Die hier erkennbare relativ konziliante Haltung Kafkas gegenüber gestanden haben dürfte allerdings, zumal bei Publikationsvorhaben, mit der festgestellten geringen norddeutschen Toleranz gegenüber gestanden sein konfrontiert worden sein: Denn als der Heizer für den Druck vorbereitet wurde, veränderten die Herausgeber des Kurt Wolff Verlages im Relativsatz der sicher schon lange hinter der Tür gestanden war (V.35/3–4) das Plusquamperfekt

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zu gestanden hatte (D.92/26–27). Da sie andererseits den Satz Aufrecht war sie schon da gestanden (D.193/4–5) unverändert in ihre Ausgabe der Verwandlung übernahmen, lässt sich vermuten, dass die Temporalangabe lange, die dem Stehen einen durativen Charakter verleiht, in ihren Augen einer norddeutschen Leserschaft ein Perfekt mit sein unzumutbar machte. Brods Editionspraxis scheint punktuell auf ein solches Sprachbewusstsein Rücksicht genommen zu haben: Überprüft man exemplarisch seine Proceß-Ausgabe auf den Umgang mit Kafkas Perfektbildung von sitzen, stehen und liegen, so stellt man fest, dass er die ursprüngliche Wortwahl weitgehend beibehielt (Kafka 1965: 29, 65, 90, 136, 138, 160, 176, 224). Sein einziger Eingriff zugunsten der norddeutschen Norm erfolgte bei einem stehen, das wiederum durch eine Temporalangabe als dauerhaft markiert wurde: wo sie so lang vereinigt gestanden hatten (Kafka 1965: 38). Brods sprachliche Verankerung im oberdeutschen Raum442 rührte sich dennoch, als er sich bei der Herausgabe des Verschollenen offenbar mit dem oben genannten Eingriff des Kurt Wolff Verlages nicht abfinden konnte. Da er andererseits wohl nicht gegen ein reichsdeutsches Urteil in Normfragen opponieren wollte, strich er ,salomonisch‘ das Hilfsverb ersatzlos und gab den Relativsatz elliptisch wieder: der sicher schon lange hinter der Tür gestanden (Kafka 1953b: 32).443 Der Manuskriptbefund korrespondiert im Weiteren auch hinsichtlich des Verbs sitzen mit den Angaben von Grimm/Grimm (1905: 1281). Diese halten fest: Schon ADELUNG hat bemerkt, dasz die umschreibung mit sein süddeutsch, die mit haben norddeutsch ist, doch findet ausgleichung statt, freilich sind die norddeutschen geneigter, neben haben auch sein anzuwenden, als die süddeutschen haben zuzulassen.

Entsprechend erscheint sitzen in Kafkas Prosa zwar genauso häufig wie stehen im Perfekt und Plusquamperfekt mit sein (19-mal bzw. zu 95 Prozent): wir sind minutenlang schweigend dagesessen (P.147/16), wie war er doch dagesessen (P.177/3–4), er ist nie auf einem solchen Tronsessel gesessen (P.196/19), Wäre Herr Klamm völlig beim Tisch gesessen (S.61/5), Ohne Klamm wären Sie nicht […] untätig im Vorgärtchen gesessen (S.134/4–6), Der Lehrer und Frieda waren bei Tisch gesessen (S.141/15–16), Frieda, die lange […] dagesessen war (S.236/22–23), sie war […] in ihrer […] Kammer gesessen (S.453/20–21), [war Pepi nur wenig still

442 In seiner Prosa bildete Brod das Perfekt und Plusquamperfekt von sitzen (Brod 1911: 103, 113, 181, 214, 253), stehen (Brod 1911: 143) und liegen (Brod 1911: 138, 154, 237) in wörtlicher wie erzählter Rede konsequent mit sein. Das Gleiche gilt für Egon Erwin Kisch (51922: 8, 75, 86, 161, 185, 205). 443 S. hierzu Kap. 5.2.1.4.

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gesessen] (Sv.479/3–4,1*–2*), da er doch noch niemals auf einem Pferd gesessen war (V.63/8), wie ich da lange allein gesessen bin (V.183/5), war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen (V.342/17–18), Wir sind dort ganz allein im Zimmer – gesessen (N1.55/27), ich bin bis jetzt […] in einem Nebenzimmer gesessen (N1.121/20–22), wie ich […] auf einer Bank gesessen bin (N1.131/14–15), [ich bin abges(essen>tiegen)] (N1v.316/27=Dv.447/23–24), Er war einige Jahre neben mir in der gleichen Bank gesessen (N2.366/11–12), Männer, die bei dem Tisch gesessen waren (N2.404/24–25), war Georg lange […] an seinem Schreibtisch gesessen (D.49/11–13).

Die Bildung mit haben fällt dagegen mit nur einem Beleg (fünf Prozent) kaum ins Gewicht: Eine Katze, die auf der Schwelle gesessen hatte (N2.575/12–13). Ebenso eindeutig zeigt sich Kafkas Präferenz von sein (15-mal bzw. zu 93,75 Prozent), wo er das Perfekt oder Plusquamperfekt von liegen bildete (Grimm/Grimm 1885: 1000): wo K. mit Leni gelegen war (P.150/16–17), [Ein Bleistift, der (w>o)ffenbar an der Tür gelegen (war>und) durch das Öffnen fortge] (Pv.325/27), war das Schloß […] vor ihm gelegen (S.50/20–21), [auf dem er mit Frieda gelegen war] (Sv.159/24), daß es noch in seiner Macht gelegen sei (S.168/3), sei sie […] im Bett gelegen (S.229/21–22), Sein Kopf, der […] auf dem Bettpfosten gelegen war (S.424/17–18), Vor einem Monat ist ein Küchenmädchen […] vierzehn Tage im Krankenhaus gelegen (V.180/14–16), als ich da abend so allein gelegen bin (V.299/24–25; vgl. V.300/1–2), der Kranke war viel Stunden allein gelegen (N2.219/9), ein Kranker, der im Bett gelegen war (N2.237/24), der […] bäuchlings da gelegen war (N2.310/18–19), der zwei Schlafstellen links von ihm gelegen war (D.74/6–7), Gregor […] war […] im dunkelsten Winkel seines Zimmers gelegen (D.181/26–182/3).

Dem steht lediglich ein Beispiel (6,25 Prozent) von gelegen haben gegenüber: Die Photographie […] hatte ganz oben im Koffer gelegen (V.166/26–27). Drei unbeanstandet abgedruckte Perfektformen von sitzen (D.49/11–13) bzw. liegen (D.74/6–7; D.181/26–182/3) mit sein deuten an, dass diese dem Kurt Wolff Verlag offenbar tolerabler erschienen als im Falle von stehen. Schließlich hinterließ Kafka insgesamt vier Belege einer im oberdeutschen Raum üblichen Perfekt- bzw. Plusquamperfektbildung der Verben knien, treten und übersiedeln mit sein (Zehetner 42014: 234), von welchen wiederum einer durch die Übernahme in den Landarzt-Band auf reichsdeutscher Seite akzeptiert wurde: als sie wieder zur Arbeit bereit niedergekniet war (S.207/22–23), ist darauf herumgetreten (V.306/20), ich bin auch auf den Dachboden übersiedelt (V.159/16–17), da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt (D.283/21–22).

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Bemerkenswerterweise verwendete Kafka für das Perfekt oder Plusquamperfekt weiterer Verben, die eine Körperhaltung bezeichnen, ausschließlich haben: die schlimme Nachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte (V.125/4–5), Vor dem Öffnen der Tür hatte er […] an der Tür gelehnt (S.46/18–20), der offenbar schon die ganze Zeit […] an einem Spritzenhebel gelehnt hatte (S.299/10–11), Deshalb habe ich mich gleich aus Vorsicht an die Tür gelehnt (N1.285/17–18).

Zwar wird gegenwärtig im gesamten oberdeutschen Raum die Bildung des Perfekts von stecken und lehnen (jeweils intransitiv/nicht reflexiv) mit sein als obligatorisch betrachtet (Zehetner 42014: 231, 334). Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert schrieben die Kodizes, die im Süden des deutschen Sprachraums erschienen waren, allerdings die Konstruktion mit haben vor (Winter 21896: 60; Siebenschein 1939–1940: 743)444 oder gestatteten diese neben der Variante mit sein (Siebenschein 1944: 764).445 Somit stimmt Kafkas Praxis, Verben, die eine Körperhaltung beschreiben, ins Perfekt/Plusquamperfekt zu setzen, völlig mit der zu seiner Zeit im oberdeutschen Raum gültigen Schriftnorm überein. Seine Normsicherheit ergibt sich aus dem Fehlen jeglicher Korrekturen. Insgesamt lässt sich ein Regionalismus vom Typ B2/rS(d)[O] identifizieren. 5.2.1.4  Ellipse446 des Hilfsverbs in Passiv-, Perfekt- und unpersönlichen Konstruktionen Auf die für Kafkas Schriftdeutsch charakteristische Ellipse von Auxiliar-Verben wies bereits Nekula (2003a: 114) am Beispiel des Verschollenen und der Reisetagebücher hin. Dieses schon im 17. und 18. Jahrhundert v. a. in der Kanzleisprache, Fach- und Unterhaltungsliteratur in Wien und Prag übliche Phänomen (Povejšil 1980: 99) äußert sich im Untersuchungskorpus besonders häufig im Ausfall von sein und haben in Perfekt- und Plusquamperfekt-Konstruktionen im Nebensatz:

444 Für Transleithanien (Ungarn) vertritt Kelemen (231924: 196, 274) dieselbe Regelung. 445 Im Falle von lehnen könnte es sich im Korpus zudem um eine Analogiebildung gemäß der reflexiven Konstruktion (sich an die Tür lehnen) handeln, die auch im oberdeutschen Sprachgebrauch mit haben ins Perfekt gesetzt wird. 446 Der Terminus ,Ellipse‘ bezeichnet im Folgenden die „Aussparung von sprachlichen Elementen, die aufgrund von syntaktischen Regeln oder lexikalischen Eigenschaften […] notwendig und rekonstruierbar sind“ (Bußmann 42008: 158).

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K. erschrak bei dem Anblick weniger, als er schon vor längerer Zeit bei der Vorstellung vom Kommen des Onkels erschr(exA>oc)ken {war} (Pv.118/6–9), alles was vorhergegangen {war}, sprach dagegen (Pv.135/15– 16), daß es in Pastellfarben gemalt (.“>i)st.“ (Pv.197/1), wie K. noch niemals mit einem Menschen gegangen (.>w){ar.}| (Pv.306/16–17), daß es {noch} in seiner Macht gelegen (zu>sei) sie zurückzuholen (Sv.168/3–4), dass durch ihre Vermittlung eine […] Beziehung zu Klamm entstanden {sei} (Sv.183/18(1)87*–89*), wie wenn […] nur ihm das Fragen erlaubt {sei} (Sv.225/24–25), weil ich an Parteienverkehr so sehr gewöhnt {bin} (Sv.407/13–14), daß er durch die Beweise des Dieners in die Enge getrieben {war} (Sv.434/11–12), daß das Unglück über sie […] gekommen (,>s)ei (Sv.479/3–4,111*–112*), wie er […] herangekommen {war} (Vv.153/23–24), dass der grosse Gelehrte weggegangen {ist} (N1v.210/27,27*–28*), so wie wenn alles gepackt {ist} (N2.14/1–2), das noch durch ein Zimmer vom Schlafzimmer getrennt (.>i)st. (N2v.16/20–21), der bereit gewesen (z>w)äre zu sprechen (N2v.266/22–23), wo […] eine sorgfältig ausgewählte Krankenmahlzeit serviert {war}. (N2v.389/10–12), Und nun sollte die Mischung […] niemals ähnlich der meinen ausgefallen {sein} (N2v.446/13–15), so wie er eben gekommen {war} (N2v.518/5), wenn diese Anschauung in mir gereift (,>i)st, (N2v.585/10), und die Beziehung […] nur von ihr hergestellt (,>i)st (N2v.639/1– 2), unter der Last, die eigentlich nur für einen bestimmt (.>w)ar. (N2v.657/17–18), ein (ein>Mann), den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen (t>h)atte trat {ein} (Pv.7/12–13), In denen er […] sich unvorsichtig benommen {hatte} und dafür […] gestraft worden war (P.12/9–13), daß man ihm die Lage de(r>s) Zimmers nicht näher bezeichnet {hatte}, (Pv.54/26–27), daß man [selbst] ihrem Wesen nach gut verlaufene Processe gerade durch die Mithilfe auf Abwege gebracht {hat}. (Pv.162/6–8), eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr [allerdings] {übrigens} längst verziehen {habe} (a>u)nd (wenn>von) der ich auch nicht reden würde (Pv.250/7–9), oder weil er Unsinn gesprochen {hatte} (Pv.340/11–12), wenn ich (i>B)arnabas genug gedrängt {habe} (Sv.284/2), wie er noch kein(en>e) sonst im Dorfe hier gefunden {hatte} (Sv.288/2–3(4)88*–89*), daß man gewisse Spuren schon gefunden {hatte} (Sv.337/20), Gna(x>d)enzeichen, das unsere Familie bekommen (.>h)at (Sv.361/26–27), weil sie doch […] alles so besorgt {hat} (Sv.386/24–25), den Du […] schon viel zulange allein gelassen {hast} (Sv.394/3), wie man mir erzählt {hat} (Sv.400/24), Anstrengungen, die er […] bisher gemacht(, si>ha)t, sind (Sv.404/7,40*–41*(2)), wie sie K. gestern […] mir erzählt {hat}. (Sv.404/7,115*–116*), was ich von der Hauptzuständigkeit gesagt (,>h)abe (Sv.420/2), der seinen Weg sehr verkürzt (,>h)ätte (Vv.8/7–8), Fahrtgeld, das ich schon bezahlt (.>h)abe. (Vv.275/14–15), de(r>n) […] der Vater zu seinem Testamentsvollstrecker bestimmt {hatte}. (N1v.274/11(1)1*–2*), [ihr Schicksal […], das ihnen ([dA]>n)icht die Fähigkeit gegeben {hat,}] (N2v.595/8), jetzt, [wo] da er die eine Tür geöffnet {hatte} (Dv.144/27–145/1).

In seltenen Fällen fehlt auch werden in Futur-Konstruktionen: d(as>a) dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern {wird} (N2v.35/13–14), daß ich seine wirkliche Geburt nicht überleben {werde} (N2v.422/21).

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Daneben fallen im Korpus elliptische Passiv-Konstruktionen in Nebensätzen auf, die von Kafka ohne sein (Zustandspassiv) oder werden (Vorgangspassiv) gebildet wurden: [Wenn ich (d>n)ur nicht dadurch in meiner Arbeit gestör(t.>t) wäre.] (Pv.193/11), Daß er ihm aber tatsächlich untergeordnet {ist}, soll (Pv.300/2–3), Wenn die Existenz des Maulwurfes nicht vollständig einwandfrei festgestellt {ist} und man ihn jedenfalls nicht vorführen kann (N1v.203/27–204/2), in der riesenhaften Arbeit, die ihm auferleg(t.>t) ist (N1v.253/6), daß die gegenwärtige Aufteilung ganz und gar verfehlt {ist} (N2v.583/7–8), eine unsagbare Freude, die freilich von Aufregungen genug getrübt (.>i)st. (N2v.591/2–3(1)), das Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt {wird}. (Pv.64/18), wie die Tür […] langsam geöffnet {wird} (Sv.16/25–17/1), wenn Streit vermieden {werden} konnte (Vv.276/9–10).

Schließlich fehlen sein und werden auch dort, wo sie im Nebensatz als finite Verben in Verbindung mit Lokaladverbien, Substantiven oder prädikativ gebrauchten Adjektiven bzw. als passivische Modalitätsverben zu erwarten wären; haben entfällt ferner, wo es als finites Verb in der Bedeutung ,besitzen‘/,verfügen (über)‘ ein Akkusativ-Objekt oder eine Fügung mit Infinitiv + zu regieren würde: daß es ein Spaß (.>i)st. (Pv.21/16–17), daß er nicht fähig {sei} zuzuhören (Pv.172/25), Daß die Eingabe noch nicht fertig {ist,}[“] (sa>k)ann verschiedene berechtigte Gründe[“] haben (Pv.240/9–11), mit allem was hier in der Wohnung {war} endgiltig [ab]zubrechen (Pv.259/14–15), Staatsanwalt Hasterer der gewöhnlich K.’s Nachbar {war} [liebte es] (Pv.327/15–16), dass er einmal mehr einmal weniger Beamter {ist} sondern er ist immer in ganzer Fülle Beamter (Sv.138/5–6(1)), weil sie so schwach und müde (,>s)ei (Sv.228/16), wie es so seine liebe Art {war} (Sv.317/12–13), die wenigstens für unsere Verhältnisse hoch genug (.>w)aren. (Sv.336/23–24), daß es unmöglich {sei} daß (Sv.356/14), da […] die Welt […] gar nicht so gross {ist} (Sv.479/3–4,142*–144*), [wenn sie schon einmal weg (,>s)ei] (Sv.479/3–4,264*), die an Größe […] ein Ungeheuer ihrer Art {war} (Vv.104/7–8), daß die Mitternacht für mich noch der letzte Termin[“] (.>s)ein soll. (Vv.126/21–22(2)), was hauptsächlich auf die Rücksichtslosigkeit der Liftjungen zurückzuführen {war} (Vv.263/24–25), gegen die man wehrlos {ist}. (N1v.261/22), wie allgemein verbreitet wird und bekannt {ist} (N1v.338/21), Aber da […] nichts in meinem […] Besitz {war} (N2v.194/22–26), trotzdem […] das Brot nicht zu weich und nicht zu hart {war} (N2v.282/10), wenn ich schnell genug dabei {war} sie an mich zu reißen (N2v.439/17–18), wenn ich will und des Lebens hier müde {bin} (N2v.590/20–21), wenn es in meiner Kraft {ist} (N2v.614/25–26), dass [es] {das Geräusch} überall zu hören {ist} und immer in gleicher Stärke (N2v.623/3–4(2)), wenn wir {sonst} völlig satt (,>s)ind, (N2v.630/26–27), als sei er ihr […] ein wenig fremder (.>g)eworden. (Vv.180/6–8), daß sie in mir […] einen Geschäftsfreund {haben} (Sv.112/10–13), jemande(m>n), der die Augen verbunden {hat} (Sv.291/8–9), (er>wen)n er […] noch ein wenig Zeit zur Arbeit {hat} (Sv.383/23–25), wie sie

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aber […] nichts anderes zu tun {hat} (Sv.424/8–10), ich weiß auch, was ich vo(m>n) dem Oberportier zu halten {habe} (Vv.248/14–15).

Die Darstellungen von Paul (1920: 369–372) und Grimm/Grimm (1877: 75; 1905: 331) machen deutlich, dass die Ellipse der Hilfsverben in Nebensätzen und Infinitiv-Konstruktionen, als bloßes finites Verb oder mit prädikativ gebrauchtem Adjektiv zu Kafkas Zeit weder eine regionale Beschränkung aufwies447 noch zwingend als Normverstoß betrachtet werden musste. Laut Paul (1920: 371) könne das Hilfsverb haben sogar neben dem das Partizip vertretenden Infinitiv fehlen. Grimm/Grimm (1877: 75) wiederum führen Belege für die Auslassung von haben an, „wo es nicht hilfsverbum, sondern verbales vollwort ist, es findet sich diesz […] nicht ganz selten.“ Prinzipiell bewegen sich sogar folgende Auxiliar-Ausfälle im Hauptsatz noch im Bereich der von den Grammatiken umrissenen Norm, auch wenn sie aus der Sicht von Grimm (21898: 202) wohl als stilistisch schwach beurteilt werden müssen:448 daß man, und mag man ein kleine(s>r) [Kind] {Wurm} gewesen {sein}, so blind [war] {sein konnte} (Vv.198/13–14(2)), übrigens wird man es schon selbst bemerkt (.>h)aben (Pv.80/4), sie wollte nicht hier zurückgelassen ›werden‹, zwischen den Leuten (Ve.199/27–200/1), er ist […] einfach niedergeboxt ›worden‹ und (Ve.242/4–5), es war ihm besonders viel Platz gemacht {worden} (N2v.255/4–5), Übrigens [ist auch] können auch diese Schein-Gesetze eigentlich nur vermutet (.>w)erden. (N2v.271/5–6).

Die prinzipielle Zulässigkeit der betrachteten elliptischen Perfekt- und Passivformen im Rahmen des österreichischen Standards um 1910 lässt sich an mehreren Indizien erkennen: Die Grammatiken aus Kafkas Schulzeit behandeln die Hilfsverb-Ellipse zwar nicht explizit, allerdings taucht sie, der vorbildhaften Klassiker-Sprache entnommen, in

447 Grimm/Grimm (1877: 75; 1905: 331), Grimm (21877: 75) und Paul (1920: 369–372) führen Belegstellen bei Schriftstellern aus dem ober- (u. a. F. Grillparzer und A. von Platen), mittel- (u. a. J. W. von Goethe und A. von Arnim) und niederdeutschen Raum (u. a. H. Heine und L. Schü­ cking) an. 448 Demgemäß könne, v. a. in indirekter Rede, das dem Partizip folgende, nicht aber das vorausgehende haben/sein entfallen. „Gleichwohl hat diese ellipse nicht durchdringen können, und wird heute mehr gemieden als gebraucht. [W]egen des erörterten wechsels beider hilfsverba scheint die auslassung bedenklich […]. Mäßig gebraucht, bei unzweifelhaftem auxiliare, mag es hingehn auszulassen.“

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zahlreichen zur Übung bestimmten Mustersätzen auf.449 Zum anderen erweisen entsprechende Belegstellen in Prager Tageszeitungen und Periodika450 sowie in der Prosa von Max Brod, Otto Pick und Egon Erwin Kisch,451 dass sie im regionalen Schriftdeutsch nichts Ungewöhnliches darstellte.452 Die Veröffentlichung der Verwandlung macht allerdings deutlich, dass man im Deutschen Reich den Hilfsverb-Verzicht bereits als unzeitgemäß empfand: Zwei von Franz Blei beim Erstabdruck in den Weißen Blättern noch unbeanstandete elliptische Partizipialkonstruktionen im Nebensatz wurden in der Buch-Erstausgabe der Erzählung durch den Kurt Wolff Verlag um das Hilfsverb ergänzt: den er übrigens noch nicht gesehn ›hatte‹ und von dem er sich auch keine rechte Vorstellung machen 453

konnte (Dv.121/21–22), daß ihnen jede Voraussicht abhanden gekommen ›war‹ (Dv.137/26–27).

Auch im Text des Heizers vervollständigte der Verlag zwei Perfekt-Konstruktionen in Nebensätzen durch den Nachtrag ausgesparter Hilfsverben, um die Lesbarkeit zu erleichtern: Karl, der schon nahe daran gewesen ›war‹, sich im Bett […] auszustrecken (Dv.75/7–9), in den Hosengürtel, der […] zum Vorschein gekommen ›war‹ (Dv.104/15–18).

449 Vgl. bei Kummer (31892: 134, 135): Singe, wem Gesang gegeben (Uhland), daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht (Schiller) sowie bei Lehmann (71892: 116, 125): diesen Fisch hab’ ich gefangen, wie keiner noch ins Netz gegangen (Schiller), Vom Alter blind, fuhr Beda dennoch fort, zu predigen (Rosengarten). 450 Vgl. der Berge aus seinem Wege geräumt (SW 1921c: 4), was er erfahren (PT 1921: 2), in den es geraten (PP 1921a: 1), was er […] gewesen (PP 1921c: 2), wisse sie nicht, was mit dem Ofen anzufangen (PP 1921c: 2), sobald der Laternenanzünder vorbei (PP 1921c: 10), dem du einen Splitter ausgeschlagen (PP 1921c: 10), der dein Abendläuten […] gestiftet, weil es ihm einst den Weg aus der Irre gewiesen (PP 1921c: 10). 451 Vgl. Namen, die allen übrigen fremd (Brod 1911: 182), in der Kleinstadt, die er verlassen (Pick 1913: 59), Mädchen, die er zu der Kupplerin gebracht – daß sich ihr Papa eine Ehre daraus gemacht – der so stolz auf seinen Titel als „Zuhälter“ gewesen – Jarda muß daran denken, wie er mit den Kellnerburschen zum ersten Male ein Freudenhaus betreten (Kisch 51922: 101, 156, 176, 198). 452 Allein Lehmann (1899: 34) spricht in seiner Fehler-Studie von einem Normverstoß. 453 Vgl. in Kap. 5.2.8.1.2 die konkurrierenden Normauffassungen Franz Bleis und des Kurt Wolff Verlages hinsichtlich der Verwendung von modalem brauchen mit folgendem reinem oder präpositionalem Infinitiv.

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Insgesamt zeigt sich, dass Kafka selbst die offenbar unwillkürliche Auslassung der Hilfsverben in der überwiegenden Mehrheit (90 bzw. 83,33 Prozent) der Fälle noch im Schreibprozess registrierte, negativ bewertete und durch sofortige Nachträge behob.454 Neben den bereits angeführten Auxiliar-Ellipsen verblieben zwölf weitere im Manuskript, die Max Brod später in seiner Kafka-Ausgabe ergänzte:455 er kann aber niemals dem Bilde auch nur ähnlich gewesen ›sein‹ (Pe.142/7–8), daß zur Aneignung des Englischen keine Eile groß genug ›sei‹ (Ve.61/20–21), da es ein schwarzer Anzug ›war‹ (Ve.100/15– 16), was allerdings selbst Herr Pollunder geleugnet ›hat‹ (Ve.126/14–15), daß er von Anfang an alles durchschaut ›hatte‹ (Ve.241/24), wie Du es richtig gesagt ›hast‹ (Ve.247/10–11), daß ich hübsch gekleidet ›sei‹ (N1e.163/2), daß durch das Mundabwischen der Kuchen verdient ›wird‹ (N2e.60/6), denen es nicht mehr verwehrt ›war‹, stehen zu bleiben (N2e.396/16), ob nicht jemand anderer gemeint ›war‹ (N2e.416/8), dass ich gleich in völliger Finsternis ›bin‹ (N2e.528/8–9), [was man schon daraus erkennen kann, dass ich selbst gekommen ›bin‹.] (Dv.37/14–15(1)).

Neben diesen eventuell bereits veralteten, jedoch noch standardkonformen und nicht regional markierten elliptischen Nebensätzen kommt es seltener auch in Hauptsätzen zu Auxiliar-Ausfällen. Mehrfach fehlt hier die Kopula sein in unpersönlichen Nominalphrasen vom Typ eines nicht referenziellen es in Verbindung mit ist + Adjektiv/Substantiv: es {ist} ja auch kein langer Weg (Pv.101/20), Aber es {ist} doch [ein grosser Altersunterschied] ein zu grosser Unterschied (Vv.182/4–5(2)), aber es ›ist‹ nicht gut (Ve.219/21), aber es ›ist‹ das noch nicht seine schlechteste Eigenschaft (V.280/5–6), es {ist} doch kalt hier (N1v.69/2–3).

Eine Parallele zum Tschechischen, in dem die Realisierung der Kopula být in den entsprechenden Konstruktionen obligatorisch ist,456 kann in diesem Zusammenhang nicht

454 Einmalig kann eine bewusste Auxiliar-Tilgung (im Hauptsatz) nachgewiesen werden: Als sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung des Delamarche führte, [war] das Automobil bereits weggefahren (V.288/16–18). 455 Vgl. exemplarisch Kafka (1953b: 41, 88, 91, 110, 210, 214; 1965: 132). Zwar tilgte Brod einmal selbst ein Hilfsverb, das in Kafkas Manuskript ursprünglich war, nach der Korrektur durch den Kurt Wolff Verlag hatte gelautet hatte: der sicher schon lange hinter der Tür gestanden (Kafka 1953b: 32). Der Eingriff erfolgte aber vermutlich mit Blick auf die Bildung des Perfekts von stehen mit sein (vgl. Kap. 5.2.1.3). 456 Vgl. z. B. tsch. je zima (,es ist kalt‘), je pozdě (,es ist spät‘), není dobře (,es ist nicht gut‘) etc.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

festgestellt werden.457 Analoges gilt für das Jiddische. Da sein stets in der 3. Person Singular Präsens Indikativ nach dem Personalpronomen es entfällt, liegt die Vermutung nahe, dass phonetische Klitisierungsvorgänge, die sich bei Kafka häufig im Schriftbild niederschlugen,458 die Auslassung des Hilfsverbs verursacht haben: Ein lautlich zu [ıs] verkürztes ist könnte sich demnach an das fast homophone anteponierte es totalassimiliert haben ([es-ıs] > [es-s] > ‹es›) und auf diesem Weg im Schriftbild ausgefallen sein. Ähnliche Koartikulationsprozesse ([zai-zain] > ‹sein›, [glants-ıs] > [glants-s] > ‹Glanz›) sind auch beim Fehlen anderer Kopulae in Hauptsätzen als ursächlich denkbar:459 dies se(in>i) sein einziges Eigentum (Vv.149/14–15), Friedrichs Glanz i(n>st) in den letzten Jahren sehr zurückgegangen (Sv.404/7,4*–5*).

Da sie zu den überregionalen Allegroformen der Mündlichkeit gehören, sind solche verschriftlichten Assimilationsprodukte allerdings nicht als Regionalismen aufzufassen. Das Fehlen sonstiger Hilfsverben, wo sie u. a. die Funktion des finiten Verbs, eines passivischen Modalitätsverbs oder eines Prädikatsteils (Infinitiv + zu) einnehmen sollten, lässt sich einfachem Vergessen bzw. Flüchtigkeitsfehlern Kafkas zuschreiben: wird es gewiß lieb (,>s)ein, wenn (Pv.175/6), schien von ihr genommen zu {sein} (Sv.123/19), es {war} wirklich zu schwer (Sv.183/18(2)99*), Zu diesem Zweck mußte man allerdings allabendlich im Herrenhof {sein} (Sv.348/3–4), Der Versuch [war ni] konnte nicht allzu gefährlich (,>s)ein(.>;) (Sv.403/17–18), Dabei strengt {er} sich an, sehr aufmerksam zu {sein} (Sv.404/7,15*–16*), Sie {sind} auch schon von der Kerze ganz betropft (Vv.100/12–13), dürfte wo(l>h)l die Bestätigung […] nicht nötig (.>s)ein. (Vv.228/17–19), Er will sogar schon einige Gassen weit entfernt {sein}, wenn (N1v.252/4–5), immer nur im Dunkel {sein} wollte (N1v.394/15), er glaubt (xx>im) Guten weit fortgeschritten zu ›sein‹ (N2v.39/7–8), geradezu aufreizend scheint es dem Geistlichen zu ›sein‹, wie weit die Haustür […] offen steht (N2e.258/19–21), konnten hier die [Verha] Voraussetzungen für eine geschäftliche Aussprache nur

457 Im Gegenteil hat im tschechischen Phrasenmuster das Personalpronomen es keine Entsprechung. Wie noch gezeigt werden wird, ist in Kafkas Prosa für derartige Konstruktionen der Ausfall des Personalpronomens wesentlich charakteristischer als jener der Kopula (vgl. Kap. 5.2.4.1.2). 458 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.1. 459 In diesem Zusammenhang wurde bereits gezeigt, dass im Korpus an Textstellen, an welchen zwei homophone oder ähnlich lautende Silben aufeinander folgen, die zweite infolge einer regressiven Totalassimilation an die vorausgehende im Schriftbild ausfallen konnte (vgl. Kap. 5.1.3.2).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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noch immer schlecht{er} (unA>w)erden (N2v.518/22–24), ich {bin} derart mitten darin (N2v.603/25), 460

Gregor allerdings {hatte} ihn auch nicht darum gefragt (Dv.152/1–2).

5.2.1.5  Fehlende Vokalalternanz beim Partizip Perfekt der hochdeutsch rückumlautenden Verben Regionalspezifische Merkmale weist ferner die Flexion einiger rückumlautender Verben im Korpus auf. Zu diesen unregelmäßigen schwachen Zeitwörtern, deren Stammvokal im Präteritum und Partizip Perfekt zu a rückumgelautet wird, zählen brennen, nennen, rennen und kennen. Bei der Flexion von wenden und senden stehen demgegenüber Formen mit Rückumlaut und ohne e-Einschub (wandte/sandte bzw. gewandt/gesandt) gleichberechtigt neben regelmäßig gebildeten Formen (wendete/sendete bzw. gewendet/ gesendet). Diese gegenwärtig gültige schriftsprachliche Praxis (Duden 82009: 448–449) war auch um 1900 im ganzen deutschen Sprachraum verbindlich461 und wurde Kafka dementsprechend wohl auch im Deutschunterricht vermittelt. Wenn Kafka in seiner Prosa das Verb wenden sowohl nach dem unregelmäßigen (93mal) als auch nach dem regelmäßigen Flexionsmuster (104-mal) beugte,462 konnte er sich demnach stets im Rahmen der Norm wähnen. Dennoch lässt die Verteilung beider Varianten Schlüsse auf einen oberdeutschen Hintergrund zu: Mit Blick auf die betrachtete Verbklasse können die deutschen Dialekte zwei nicht rückumlautenden Großräumen im Süden und Norden sowie einem dazwischen liegenden Gürtel zugeordnet werden, in dem der Rückumlaut durchgeführt wird (Frings 1936: 193). Mithin bilden die ober- und

460 Auch der gelegentliche Ausfall anderer Verben (Pv.25/12–13; Pv.37/23; Pv.141/2–3; Pv.186/25– 27; Sv.247/10; Vv.92/13–14; Vv.158/12–13; N1v.393/1–2; N2v.432/19–20; N2v.583/27–584/1), zumal von Modalverben, v. a. können (Pe.22/17–18; Pv.17/21; Pe.87/2–3; Pv.194/8; Pe.308/16; Pv.317/19–21; Sv.103/3–4; Ve.57/16–17; Vv.313/24–26; N2e.73/13; N2e.83/18–19; N2e.89/16; N2e.146/11; N2v.247/27; N2v.474/26–475/3; N2v.650/11–12), dürfte auf Flüchtigkeitsfehler Kafkas (einfaches Vergessen, Perspektivenwechsel im Schreibprozess etc.) zurückführbar sein. 461 Vgl. im Detail Kummer (31892: 60), Lehmann (71892: 69; 101899: 63), Willomitzer (61894: 49), Winter (21896: 53) und Heyse (251893: 321). 462 Berücksichtigt wurden hier auch Formen des Verbs, die mit ab‑, auf‑, ein‑, um‑, zurück‑, zu‑ und hin‑ präfigiert wurden.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

mitteldeutschen Dialekte463 bis zur Südgrenze des so genannten „gesamtmitteldeutschen Korridor[s]“ (Bruch 1953: 117)464 das Partizip Perfekt der hochdeutsch rückumlautenden Verben ausschließlich nach dem regelmäßigen Muster (Rosenkranz 1964: 181).465 Formen des Präteritums sind in diesem Raum mündlich ohnehin nicht üblich.466 Diese regionalsprachliche Praxis hat deutliche Spuren in Kafkas Präferenz bei der Distribution regelmäßig und unregelmäßig flektierter Formen des Verbs wenden hinterlassen: Eine quantitative Auswertung des gesamten Korpus ergibt, dass er bei der Bildung des Partizip Perfekts fast ausschließlich nach dem nicht rückumlautenden Flexionsmuster (gewendet) verfuhr. Insgesamt 62 Belegen (95,38 Prozent)467 stehen nur drei Fälle der rückumgelauteten Form gewandt468 gegenüber. Im Präteritum wurde wenden hingegen überwiegend rückumlautend flektiert (wandte). Mit insgesamt 90 Belegen469 dominiert

463 Vgl. Zehetner (1985: 100–101; 42014: 79, 209, 255, 285, 323), Merkle (61996: 56), Schuster/Schikola (1984: 155), Schiepek (1899: 198), Wiesinger (22008: 59), Kalau (1984: 87), Wagner (1987: 73), Hörlin (1988: 190–191), SWB (1904: 1397–1400; 1914: 331, 1996; 1920: 305–306, 1361; 1924–1936: 676–678), Frey (1975: 131), BWB (1925–1940: 319; 1975–1997: 111; 1999–2009: 52, 265), VBW (1960: 444; 1965: 56, 1586), SHW (1965–1968: 1101; 1973–1977: 1255; 1978–1985: 958, 1366), Henn (1980: 73–74), Post (21992: 130–131) und WOM (1994: 292, 464; 1998: 312; 2002: 452; 2003: 525). 464 Er umfasst die nieder‑/mittelfränkischen, nieder‑/osthessischen und den Großteil der ostmitteldeutschen Dialektareale (Žirmunskij 1962: 502). 465 Das Gros der mitteldeutschen Dialekte führt die Rückumlautung hingegen durch (Spangenberg 1962: 124; Seibicke 1967: 63; Stellmacher 1973: 29). 466 S. hierzu Kap. 5.2.1.2. 467 Vgl. Pv.20/13–14(1); P.21/21; P.48/16; P.61/24; P.133/16; P.164/27; P.185/20; P.186/3; P.202/6; P.242/12; P.276/18; S.13/10–11; S.17/6; S.20/16,26; S.22/14; S.177/20; S.192/7; S.215/13; S.235/10; S.341/14; V.20/16=D.78/15; V.20/26=D.78/25; V.23/8=D.81/6; V.37/9=D.95/4; V.71/2; V.122/9; V.177/20; V.192/7; V.199/17; V.247/2; V.288/5; V.321/27; V.341/14; V.356/8; V.379/11; N1.76/17; N1.84/5; N1.136/19; N1.144/17; N1.174/26; N1.207/6; N1.225/16; N1v.288/9(2)35*; N1.320/1; N1.362/24; N1v.383/6–7; N1.388/12; N1.394/15; N2.207/27; N2.237/23; N2.311/16; N2.343/3; N2.380/15; N2.407/16; N2.600/25; D.137/6; D.153/18; D.221/10; D.241/25; D.272/25; D.302/25. 468 Vgl. P.342/5; S.423/15; N2.658/15=D.357/1. 469 Zur 1. bzw. 3. Person Singular vgl. P.8/5; P.21/20; P.22/2; P.51/13; P.54/21; P.56/15; P.59/11; P.93/23; P.110/2; P.130/4; P.187/9; P.230/12; P.232/25; P.248/13; P.264/18,23; P.327/19; P.331/5; Pv.342/9,37*–38*(4); S.26/10; S.45/7; Sv.53/7,24*; S.57/25; S.62/13; S.70/8; S.78/18; S.82/26; S.86/10; S.89/22; S.97/22; S.129/1; S.142/8; S.161/2; S.165/24; S.166/1; Sv.168/4(2)37*; S.168/13; S.171/26; S.175/13; S.191/3; S.205/15; S.209/1; S.332/7; S.377/15; S.380/12; S.436/20; S.490/12; V.24/15=D.82/13; V.226/6,26; V.233/21; V.235/17; V.242/26; V.267/22; V.283/18; V.347/26; V.364/18; V.402/5; V.407/25; N1.16/12; N1.22/23; N1.44/19; N1.64/11; N1.131/24; N1.163/15; N1v.215/5; N1.308/8; N1.325/22; N1.357/8; N1.376/11; N1.408/2; N1.417/17; N2.18/1; N2.228/15; N2.242/6,20; N2.353/13; N2.476/9; N2.530/14; N2.647/8; D.143/22. Zur 2. Person Singular vgl. S.397/14; N1.13/15; N1.43/10; N1.49/15; N1.52/5. Zur 1. bzw. 3. Person Plural vgl. S.66/6; S.154/18; N2.403/3; N2.652/21.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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hier die unregelmäßige deutlich gegenüber der regelmäßigen Form (wendete), die weniger als halb so oft (42 Belege)470 im Manuskript vorkommt. Mit anderen Worten: Kafka wies die beiden Flexionsparadigmen relativ deutlich Domänen zu, die eine regional geprägte Sprachpraxis erkennen lassen: Das Partizip  II, morphologischer Bestandteil der in den nicht rückumlautenden oberdeutschen Mundartarealen üblichen Einheitsvergangenheit Perfekt, wurde fast durchgängig nach dem regional ebenfalls ausschließlich gebräuchlichen regelmäßigen Flexionsmuster gebildet. Die im oberdeutschen Raum unübliche Rückumlautung setzte Kafka dagegen mit Vorzug bei der Bildung der Präterital-Vergangenheit ein, die regional-mündlich ebenfalls nicht verwendet wird. Kafka ordnete demnach der schulisch, gewissermaßen ,zweitsprachlich‘ erworbenen Tempusform intuitiv das ebenso schulisch erworbene unregelmäßige Flexionsmuster zu. Für das von Kafka selten verwendete Verb senden471 gelten ähnliche Verhältnisse: Die zwei im Korpus gefundenen Belege ohne Rückumlautung (V.255/26; N1.351/10=D.280/2) stellen Partizip-Perfekt-Formen dar. Das einzige Beispiel für rückumgelautete Flexion (N2.266/25) betrifft hingegen ein Präteritum.472 Trotz des oberdeutschen Hintergrundes, den dieser Distributionsbefund zumindest erahnen lässt, kann aufgrund der weitgehenden Freistellung der Rückumlautung durch die Regelbücher und angesichts der überregionalen Akzeptanz beider Formen in der zeitgenössischen Verlagspraxis473 letztlich aber keine Regionalismus-Bestimmung erfolgen. Anders sieht dies bei Textstellen aus, die dokumentieren, dass Kafka im mündlichen Sprachgebrauch auch die Partizip-II-Bildung des Verbs kennen ohne Rückumlaut gewohnt war.474 In den meisten Fällen berichtigte sich Kafka selbst: 470 Zur 1. bzw. 3. Person Singular vgl. P.24/17; P.29/7; P.61/8; P.63/2; P.132/23; P.230/2; P.247/27; P.268/3; P.306/6; P.309/8; P.318/2; S.20/1; S.27/25; S.141/9; Sv.183/18(1)5*; S.335/14–18; V.87/10; V.93/3; V.191/25; V.237/11; V.254/15; V.292/6; V.321/11; V.339/25; V.342/10; V.379/26; V.399/26; N1.26/25; N1.115/26; N2.310/20; D.33/14; D.180/3; D.192/22; D.195/215; D.236/3; D.237/7. Zur 1. bzw. 3. Person Plural vgl. P.77/2; Sv.168/4(2)47*; Sv.263/14–16,16; V.273/24; N1v.395/2. 471 Es gehört kaum zum regionalsprachlichen Wortschatz des oberdeutschen Raums (Zehetner 42014: 323). Kafka benutzte stattdessen meist schicken. 472 In den Prager Printmedien dominieren im Partizip II wie im Imperfekt die unregelmäßigen Formen von wenden/senden (SW 1921a: 3(2x); 1921b: 3(2x), 4; 1921c: 3; PT 1921: 2, 8(2x), 10, 26; PP 1921a: 1, 6, 7; 1921b: 2; 1921c: 2, 9) gegenüber den regelmäßigen (PT 1921: 13(2x), 15, 27; PP 1921c: 2, 7). Brod (1911: 30, 31, 107, 108, 112, 116, 118, 119, 133, 142, 163, 175, 177, 192, 193, 206, 208, 228, 234, 238–240, 245, 246, 256, 263, 266), Pick (1913: 18, 27, 43, 75) und Kisch (51922: 179, 222) benutzten sogar ausschließlich die rückumgelauteten Varianten. 473 Weder Kafkas Leipziger und Berliner Herausgeber noch Max Brod griffen im Bereich der Flexion von wenden/senden in Kafkas Texte ein. 474 Zum fehlenden Rückumlaut beim Partizip II des Verbs kennen in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2005: 27; 2007a: 174; 2007b: 199–200; 2008a: 87).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

vom Gericht anerk(e>a)nnt (Pv.177/27), und da er […] die Flöhe in seinem Pelzkragen [(er>ke)nn] erkannt hat (Pv.294/5–7=Dv.268/22–24), dort, wo ich das, was mich früher als [mir zugehörig erkennt] ein Fremdes erfrischte, befriedigte (N2v.85/9–11), [dass ich bisher nicht einmal als Bett erk(enn>ann)t hatte] (N2v.287/24), dass ich sie allmählich erk(e>a)nnt habe (N2v.644/6–7=Dv.331/20).

Daneben finden sich im Korpus je eine nicht korrigierte und sogar eine in Richtung Normverstoß modifizierte Belegstelle: man hätte […] Euer ehrliches Streben anerkennt (N1e.214/7–8), der […] dies noch nicht erk(a>e)nnt hätte (Sv.479/1). Diese bereits im 17. Jahrhundert in Prag verbreitete Flexionsform (Povejšil 1980: 29; Skála 1991: 136) wies Lehmann (71892: 69; 1899: 32; 101899: 63) zu Kafkas Zeit auch in Wien nach und deutete sie als Normwidrigkeit. Aus fehlerlinguistischer Perspektive liegt hier fehlende Vokalalternanz beim Partizip Perfekt der hochdeutsch unregelmäßigen, rückumlautenden Verben vor. Für sich genommen wird diese im Bereich des oben umrissenen ober- und westmitteldeutschen Mundartareals im Schriftdeutschen als Direktanzeige von Dialekt gewertet.475 Die mehrheitlich (zu 71,43 Prozent) durchgeführten Sofortkorrekturen machen deutlich, dass auch Kafka die nicht rückumgelauteten Formen von der Schriftsprache ausschloss. Trotz der scheinbar eindeutigen oberdeutschen Interpretation solcher Verschreibungen sind an dieser Stelle aber auch Indizien zu diskutieren, die zumindest die Möglichkeit einer Verstärkung durch einen jiddischen Hintergrund plausibel machen:476 Das Westwie das Ostjiddische folgen in der Flexion der hochdeutsch rückumlautenden Verben der beschriebenen süddeutschen Praxis, die Rückumlautung nicht durchzuführen;477 sie bilden das Partizip Perfekt von kenen also als gekent (Beranek 1965: 224; Weissberg 1988: 144). Daneben gilt als Besonderheit jedoch, dass der Infinitiv kenen im Standarddeutschen sowohl kennen als auch können repräsentiert, das Partizip aber in beiden Bedeutungen gemäß den Formen von kennen gebildet wird.478 Angesichts dieses Umstandes fällt Kafkas mehrfache, durch eine oberdeutsch-dialektale Interferenz kaum erklärbare Verwechslung der Verben kennen und können auch in der 1. und 3. Person Singular und der 1. Person Plural Indikativ Präsens auf:

475 Vgl. Zehetner (1977: 114–115), Kalau (1984: 87), Koller (1991: 81), Ammon/Loewer (1977: 74–75), Besch/Löffler (1977: 68–70) und Henn (1980: 73–74). 476 Zur folgenden Diskussion s. Blahak (2010: 313–315). 477 Dabei kennt das Westjiddische das Verb senden, das Ostjiddische auch die Verben nennen und rennen nicht. 478 D. h. jidd. ix ken, hob gekent bedeutet sowohl ,ich kenne, habe gekannt‘ als auch ,ich kann, habe gekonnt‘ (Wolf 1962: 129; Beranek 1965: 224; Weissberg 1988: 144; Jacobs 2005: 216–217).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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479

Ich k(a>e)nne zwar Ihr Gerichtswesen noch nicht sehr genau (Pv.85/6–7), er erkannt

natürlich die

Verdienste an (N1e.253/18–19), [Nein Böhmen k([ann]>enne) {ich} allerdings nicht] (N1v.383/21), 480

Wir k(o>e)nnen in dieser Hinsicht keinen Unterschied (Sv.411/4–5).

Sprechend ist zudem der Befund, dass Kafkas Schwierigkeiten mit der korrekten Rück­ umlautung ausschließlich beim Verb kennen auftraten, während er brennen, nennen und rennen481 stets korrekt flektierte.482 Aufgrund der insgesamt jedoch überschaubaren Zahl an Belegstellen kann man maximal von einem Indiz für eine möglicherweise durch ein jiddisches Lautungsrelikt verstärkte oberdeutsche Interferenz sprechen, die erst im Zusammenspiel mit anderen in dieser Untersuchung diskutierten Verschreibungen Kafkas aussagekräftiger in Richtung (west‑)jiddischer Flexionspraxis weisen könnte.483 Auch wenn nicht rückumgelautete Partizipien des Typs gekennt in Österreich (Wiesin2 ger 2008: 54, 59) und Bayern (Zehetner 42014: 79, 209, 255, 285) gegenwärtig bereits als Teil einer regionalen Umgangssprache betrachtet werden, die sekundäre Dialekteigenschaften in sich aufgenommen hat, muss die Form (an‑)erkennt mit Rücksicht auf die strikten Normvorgaben der österreichischen Regelwerke für Kafkas Zeit deutlich unterhalb der Standardebene eingeordnet und dem Regionalismus-Typ A1/D[O+] zugeordnet werden.

479 Nach dem Textzusammenhang war hier das Präsens intendiert. Entsprechend wurde das Wort in der KKA verbessert. 480 Die Verwendung von kennen statt können lässt sich auch in Kafkas Korrespondenz belegen: Am 21. November 1912 schrieb er an Felice Bauer: „[D]as wirst Du als Kinderfreundin besser beurteilen kennen als ich“ (Kafka 1999a: 253). Bauer (2008a: 49) glaubt (angesichts des obigen Befundes wohl irrtümlich), es handle sich hierbei um eine Entrundung. Vgl. auch in Kap. 3.2.3 den von Kafka in seinem Tagebuch zitierten jiddischen Witz: „[S]eht ihr, alle Sprachen kenn ich, aber auf jiddisch“ (Kafka 1990b: 350). In seinen 1934 erschienenen Geschichten aus sieben Ghettos führte Egon Erwin Kisch ebenfalls das beschriebene jiddische Flexionsphänomen an, als er den im jüdischen Auswanderer-Milieu Amsterdams gehörten Satz „Heimann ist bekennt! Ich bin ja so bekennt!“ (Kisch 21999: 7) zitierte. 481 Diese Verben sind im Jiddischen entweder nicht gebräuchlich oder fallen hinsichtlich ihres Flexionsparadigmas mit keinem anderen Verb zusammen. 482 Lediglich in der Belegstelle die Einführung eines sogenenannten Aufpeitschers (N2e.418/15–16) könnte u. U. ein Ansatz zum nicht rückumgelauteten Partizip genennt vorliegen. 483 Eine tschechische Interferenz ist aufgrund der Unterscheidung zwischen znát (,kennen‘) und umět (,können‘) unwahrscheinlich.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

5.2.1.6  Präfigierung 5.2.1.6.1  Ausfall und restriktive Verwendung des Präfixes ge-: brauchen, gebrauchen Dass die oberdeutsche Neigung zur e-Synkope häufig zum Ausfall des Partizip-PerfektPräfixes ge- in Kafkas Manuskript führte, zumal bei Verben, die mit Verschlusslauten beginnen, wurde bereits in Kap. 5.1.1.1.4 dargestellt. Darüber hinaus kann eine restriktive Verwendung des Präfixes im Zusammenhang mit dem Verb brauchen festgestellt werden, das im oberdeutschen Sprachraum auch in anderer Hinsicht Besonderheiten aufweist.484 Abweichend von der Schriftnorm verstand Kafka das unpräfigierte brauchen nämlich als synonym zu standarddeutsch gebrauchen im Sinne von ,benützen‘/,verwenden‘: die Gehilfen waren dazu nicht zu brauchen (S.202/26–27), ein Bauer oder ein Handwerker könnte ein solches Kleid nicht brauchen (S.274/22–23), dazu kann ich ausschließlich nur vernagelte Köpfe brauchen (V.259/21–22).

In dieser Bedeutung ist das Verb im gesamten ober- und westmitteldeutschen Dialekt­ raum485 gängig. Eine regional beschränkte Verbreitung auf Standardebene lässt sich für Kafkas Zeit aber offenbar nicht nachweisen. Das Bild, das die zeitgenössischen Kodizes hierzu vermitteln, ist heterogen: Die Referenz-Wörterbücher zum österreichischen Standard führen unter dem Lemma brauchen die Bedeutung ,benützen‘/,verwenden‘ an.486 Pinloche (21931: 55) kennt diese zwar auch, vermerkt jedoch, gebrauchen sei in diesem Sinne gewöhnlicher. Unter den reichsdeutschen Nachschlagewerken betrachtet Sanders (81910: 120) gebrauchen ebenfalls als „häufiger und richtiger“. Paul (21908: 92) und TDW (1939a: 411) wiederum sind der Ansicht, beide Varianten stünden gleichbedeutend für ,verwenden‘. Auch Kafkas hyperkorrekte Ersetzung von brauchen, wo es für ,nötig haben‘ bzw. ,für etwas/jemanden Verwendung haben‘ steht, durch gebrauchen lässt sich scheinbar nicht

484 S. hierzu Kap. 5.2.8.1.2. 485 Vgl. Zehetner (42014: 77–78), WBÖ (1976: 778), SWB (1904: 1364), VBW (1960: 436), BWB (1925–1940: 310), PWB (1965–1968: 1167), SHW (1965–1968: 1078) und Bücher (1968: 96). In den thüringischen Mundarten ist diese Verwendung vereinzelt belegbar (TWB 1991–1999: 939), in den obersächsischen hingegen nicht (WOM 1998: 297). 486 Vgl. Janežič (41905: 113), Sterzinger (1916: 1016), Siebenschein (1936–1938: 522) und Ristić/Kangrga (1936: 272).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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ohne Weiteres auf den regionalsprachlichen lautgesetzlichen Zusammenfall des Simplex und seiner präfigierten Variante in der einheitlichen Form brauchen (Zehetner 42014: 77–78) zurückführen: Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie Dinge die man noch gebrauchen wird, wenn auch 487

nicht in allernächster Zeit (P.310/24–27).

Denn die Verwechslung von gebrauchen und brauchen, „die gar nicht selten ist“ (TDW 1939a: 412), wenn ,nötig haben‘ ausgedrückt werden soll, scheint auch außerhalb des oberdeutschen Raums nicht unüblich gewesen zu sein. Max Brod erkannte hierin keinen Normverstoß (Kafka 1965: 270). Immerhin mutete ihn die Verwendung des Simplex zumindest als stilistische Schwäche an, denn in seiner Schloß-Ausgabe ersetzte er das brauchen in den beiden oben angeführten Fällen durch gebrauchen (Kafka 1964: 189, 254).488 Da sich kaum mehr als eine eventuell regional ausgeprägte stilistische Auf- oder Abwertung von brauchen im Sinne von ,verwenden‘ erkennen lässt, reichen die Indizien nicht für die Bestimmung eines Regionalismus aus. 5.2.1.6.2  Restriktive Verwendung der Präfixe be- und verDie weitere Untersuchung von Kafkas Verbpräfigierung vermittelt den Eindruck, dass Verben mit Präfix be- oder ver- in gewissen morphologischen oder semantischen Kontexten gegenüber ihrem jeweiligen grundsätzlich synonymen Simplex restriktiv, d. h. seltener verwendet wurden. Explizit machen lässt sich dies am Beispiel der Verteilung von zahlen und bezahlen: Zwar finden sich beide Varianten mit annähernd gleicher Häufigkeit im Korpus: zahlen 33-mal, bezahlen 35-mal. Es ergeben sich jedoch Tendenzen Kafkas, sie jeweils in bestimmten semantischen Zusammenhängen einzusetzen. Für den bloßen Akt des Geld-Entrichtens ohne Objekt griff Kafka z. B. ausschließlich auf zahlen zurück, was nach Paul (21908: 670) der süddeutschen Praxis entspreche, während in Norddeutschland bezahlen die übliche Form sei:

487 Vgl. dagegen im Korpus Belege für brauchen können in der Bedeutung ,für etwas/jemanden Verwendung haben‘ (P.98/2–3; P.204/10; S.348/6–7; V.280/13–14; V.294/2–3; V.316/4–5; V.387/9; V.396/22; V.398/18; V.400/18; V.407/14–15; V.414/11–13; N1.132/14–15; N1.237/12; N2.394/14– 17=D.343/21–24). 488 Der Einzelbeleg im Verschollenen blieb dagegen unverändert (Kafka 1953b: 259).

328

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

als zahlende Gäste (S.348/5–6), Wer zahlt? (V.148/16), daß er noch nicht gezahlt hatte (V.160/6–7), und bat mich zu zahlen (N1.426/7–8), schienst Du mir ihr „zahlender Feind“ zu sein (N2.173/7–8), daß ich noch nicht gezahlt hatte (N2.415/27–416/1).

Klare Zuordnungen sind ferner dort zu beobachten, wo es um die Entlohnung einer Person (für einen geleisteten Dienst, auf eine Art und Weise o. Ä.) geht. Hier verwendete Kafka bezahlen ausschließlich in Konstruktionen mit Vorgangspassiv, zahlen dagegen in solchen mit Zustandspassiv:489 bezahlt werden

×

gezahlt sein

Wache halten und dafür bezahlt werden

wie schlecht wir gezahlt sind (P.109/15–

(P.14/12–13), als daß sie [dafür bezahlt wer-

16), Schlecht gezahlt, bin ich doch freigiebig

den] (Pv.14/12–13), denn diese Arbeit ist doch

(Dv.257/1–2).

meine Pflicht und für sie wird mein Mann bezahlt (P.82/3–4), Wirst Du in der Schule gut bezahlt? (Sv.479/3–4,233*–234*), eine Stelle, wo Du besser bezahlt würdest (Sv.479/3– 4,234*–235*), Du wirst reichlich bezahlt werden (V.318/26), Du wirst natürlich bezahlt werden (V.319/3), daß ich so elend bezahlt werde (V.347/11), wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden (V.388/2–3), Gut bezahlt bist Du worden (N1.402/13).

Die zwei Belege von gezahlt (sein) stellen die einzigen dar, die im Zuge von Texteditionen mit Rücksicht auf reichsdeutsche Normvorstellungen beanstandet wurden und daher ein Indiz für regionalspezifische Sprachverwendung liefern könnten: 1918 hatte Kurt Wolff die Erzählung Ein Landarzt im Almanach Die neue Dichtung herausgebracht und dabei den Satz Schlecht gezahlt, bin ich doch freigiebig (Dv.257/1–2) zunächst belassen. Als es zwei Jahre darauf um die Herausgabe des Landarzt-Bandes ging, erschien dem Verlag die Formulierung jedoch nicht mehr vertretbar. Noch im Umbruchabzug nachweisbar,

489 Im Falle von seine bezahlten Angestellten (P.67/16) sowie bezahlte Feinde (N2.173/6) tritt bezahlen als adjektivisches Partizip II ohne Hilfsverb auf.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

329

wurde gezahlt für den Druck in bezahlt verbessert.490 Max Brod übernahm diesen Eingriff in seine Kafka-Ausgabe (Kafka 1967b: 149) und modifizierte auch die Stelle wie schlecht wir gezahlt sind (P.109/15–16) in seiner Version des Proceß-Romans entsprechend (Kafka 1965: 104). Ansonsten ließ er die Verwendung des Simplex unangetastet.491 Das einzige sonstige zahlen, das zu Kafkas Lebzeiten in den Druck gelangte, wurde in der Aeroplane in Brescia 1909 in der Prager Bohemia veröffentlicht: 3 Lire müssen gezahlt werden (D.402/9). Für alle anderen Bedeutungen – ,(jemandem/für jemanden/für etwas) auf eine bestimmte Weise/eine bestimmte Summe Geld aushändigen‘ – fanden zahlen492 wie bezahlen493 ohne Unterschied Verwendung. Die eingangs beschriebene Nord-Süd-Verteilung des Gebrauchs von (be‑)zahlen ohne Objekt im deutschen Sprachraum lässt sich auf der Ebene der Mundarten bestätigen.494 Ein Blick in österreichische (Pinloche 21931: 780–781; Sterzinger 1935: 1435; Siebenschein 1944–1948: 611) und reichsdeutsche Nachschlagewerke (Heyne 21906b: 1419; Sanders 8 1910: 856; Grimm/Grimm 1956b: 46–47) ergibt zwar eine überregionale Standardzugehörigkeit von zahlen und bezahlen in allen von Kafka intendierten Bedeutungen.495 Kafkas Fügung (schlecht) gezahlt sein wird allerdings in keinem der Kodizes als Beispielphrase angeführt. Sie lässt sich allein in den oberdeutschen Dialekten nachweisen (z. B. SWB 1924–1936: 1029). Da zumindest jemanden zahlen als überregional hochsprachlich 490 Der Eingriff gehört zu mehreren Nachbesserungen, die der Verlag offenbar in dem Bemühen vornahm, regional markierte, eventuell oberdeutsch wirkende Formen zu entfernen. Dies betraf v. a. e-Synkopen in unbetonten Endsilben, wie sie z. B. in ziehn (Dv.257/7), eins (Dv.259/3), andern (Dv.259/4) und geschehn (Dv.259/7) vorlagen. 491 Vgl. hierzu exemplarisch Brods Schloß-Ausgabe (Kafka 1964: 141, 301, 310, 312, 327). 492 Vgl. S.131/25–26; S.152/2–3; Sv.217/15–16; S.336/22,22–23,25; Sv.338/14; V.147/24–25,25–26; V.160/7–8; V.276/3; V.367/22; N1v.402/17–403/2; N2.53/7=N2.121/10; N2.305/14; N2.321/4– 6; N2.328/24; N2.416/12,14–15,15; N2.556/21–22. 493 Vgl. P.150/19–20; P.248/5–6; S.13/16–18,24–25; Sv.288/2–3(4)130*; S.320/1; Sv.479/3–4,232*; V.148/21–22; V.150/18; V.152/3; V.201/17–18; V.252/13; V.269/24; V.272/6–7; V.275/14–15; Vv.302/23; V.307/4–5; V.367/21; N1v.231/16–17; N1.314/20–21=D.445/17; N1.316/6=Dv.447/2; N1.366/20–21; N2v.363/13; D.188/14–15. 494 Das Simplex zahlen ist in den mitteldeutschen Dialekten überhaupt nicht (WOM 1996: 631; 1998: 233; PWB 1965–1968: 778; RWB 1964–1971: 691–692), kaum (TWB 1983–1990: 1138) oder nicht mit persönlichem Akkusativ (SHW 2002–2010: 725) üblich. Auch im Niederdeutschen wird zahlen durch betahlen repräsentiert (LBW 1965: 383; SHWB 1927: 317–318; 1935: 5). In den oberdeutschen Mundarten wiederum existiert bezahlen nur sehr eingeschränkt und wird meist oder ausschließlich durch das Simplex vertreten (Schmeller 21877: 1111; SWB 1904: 993–994; BWB 1925–1940: 181; VBW 1960: 322). 495 Auch Kisch (51922: 168, 169, 195, 197) verwendete beide Formen: deshalb zahlt man auch die Frauen so schlecht – der geht zur Kupplerin und zahlt – das zahle ich gut × er hat sich befriedigt, bezahlt.

330

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

ausgewiesen ist, dürfte Kafkas Zustandspassiv einen Grenzfall des regionalen Standards darstellen. Angesichts der oberdeutschen Verwendungssphäre des Simplex zahlen können in jedem Fall die beiden Beispiele von (schlecht) gezahlt (sein) als Regionalismen unter A2/rU(d)[O+] eingeordnet werden. Auf der anderen Seite ist eine Bevorzugung des präfigierten Verbs gegenüber dem Simplex für Partizip-II-Konstruktionen erkennbar: Hier stehen 25 Beispielen von bezahlt (67,65 Prozent) weniger als halb so viele (elf ) Belege von gezahlt (32,35 Prozent) gegenüber. Ein vergleichender Blick auf das Variantenpaar strafen496 und bestrafen497 ergibt ein identisches 2:1-Übergewicht der von bestrafen (13 Belege bzw. 65 Prozent) gegenüber den von strafen gebildeten Partizip-II-Formen (sieben Belege bzw. 35 Prozent). Beachtung verdient ferner Kafkas Gebrauch des Verbs hindern498 sowohl als Simplex als auch durch be‑499 und ver‑500 präfigiert. Das quantitativ dominierende Simplex kann dabei das Verb behindern im Sinne von ,(jemanden/etwas, in/bei etwas) stören‘ ersetzen oder anstelle des Verbs verhindern in der Bedeutung von ,etwas abwenden‘/,abwenden, dass etwas passiert‘ stehen. Dies gilt aus synchroner (Duden 31999: 1805) wie diachroner Perspektive501 als gemeindeutsch.502 Wie bei den Variantenpaaren zahlen/bezahlen und strafen/bestrafen zeigt sich auch hier beim Partizip Perfekt die Bevorzugung der präfigierten Verben gegenüber dem Simplex. Eine Übersicht ergibt folgendes Bild:

496 Vgl. P.12/12–13; P.110/11–12; P.260/27–261/1; S.30/19–21; S.190/26–27; S.229/25–26; S.304/25– 26; S.325/22–23; V.38/27–39/1=D.96/23–24; N1.193/27; N2.10/23–11/1; N2.19/20–21; N2.209/24; N2.226/24–25; N2.290/8; N2.505/13; N2.595/13; N2.639/19–20=D.327/2–3; N2v.668/17–18(2)=Dv.367/17–18(2). 497 Vgl. P.23/2–3; P.37/24–25; P.76/2; P.110/5–6; P.112/4–5,9–11; P.116/18–21; P.251/9–10; P.337/10; S.227/27; S.306/19,21–22; Sv.326/18; V.215/8; V.240/26; N2.162/17; N2.403/26–27. 498 Vgl. P.26/10–12; Pv.68/34; Pv.70/23–24; S.247/17–18; V.23/2–3=D.80/27–81/1; V.143/26– 27; V.370/24–26; N1.36/24–25; N1.38/20–21; N1.48/14; N1.98/2–3; N1.207/20–21; N1v.288/9(1)89*; N1.351/15–16=D.281/7–8; N1.376/21–22; N2.232/10–13; N2.246/17–21; N2.326/9–11(1)11*–12*=Dv.251/2–3(1)10*–11*; N2.483/1–2; N2.584/2–4; D.51/13; D.140/2–4. 499 Vgl. P.136/18–19; P.199/19; P.250/25–251/1; Pv.342/9(1)21*–22*; S.224/11; V.48/11– 14=D.105/25–106/1; V.100/1; N1.66/17–18=N1.135/14; N1.245/25–246/1; N2.143/11; N2.251/6–7. 500 Vgl. Pv.68/2–4; Pv.257/18; V.330/25. 501 Die zeitgenössischen österreichischen (Herzer/Prach 1909a: 71; 1920: 1707; Sterzinger 1921: 843; Pinloche 21931: 780–781; Siebenschein 1939–1940: 375; Hulík 21944: 432, 759), reichsdeutschen (Heyne 21905: 327; 21906a: 164; 21906b: 1205; Sanders 81910: 766) und überregionalen Kodizes (Grimm/Grimm 1877: 1408–1410; 1956a: 569–570) betrachten hindern, behindern und verhindern prinzipiell als synonym. 502 Vgl. die Verwendung des Simplex für behindern bei Brod (1911: 158): die ihn schon wieder hinderte, für verhindern bei Kisch (51922: 106): Die Jungen können es nicht hindern – Jaroslaw hätte es kaum hindern können.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

zahlen

Verb

331

strafen

hindern

Präfix

Ø

be-

Ø

be-

Ø

be‑/ver-

Anzahl im Korpus

33

37

20

19

22

15

11

25

7

13

5

8

33,33

67,57

35

68,42

22,73

53,33

22

12

13

6

17

7

66,67

32,43

65

31,58

77,27

46,67

davon Partizip II in % davon sonst. Formen in %

Tab. 12:  Verwendungshäufigkeit präfigierter/nicht präfigierter Varianten der Verben zahlen, strafen und hindern bei Partizip-Perfekt- und sonstigen Flexionsformen im Gesamtkorpus

Wie man sieht, ist die Häufigkeit präfigierter Verben bei der Partizip-II -Bildung im Schnitt doppelt so hoch wie diejenige der entsprechenden Simplexe.503 Für alle sonstigen Flexionsformen gilt annähernd reziprok das Gleiche.504 Eine ergänzende Stichprobenuntersuchung von (be‑)merken bestätigt das bisher gewonnene Bild.505 Man kommt zu dem Schluss, dass die obligatorische Präfigierung bei Partizip-II-Bildungen Kafka dazu tendieren ließ, jeweils zur ohnehin bereits präfigierten Verbform zu greifen, während er ansonsten dem Simplex den Vorzug gab. Ein auch in absoluten Zahlen zurückhaltender Gebrauch des Präfixes ver- lässt sich zudem anhand des Verbs suchen nachweisen, wo Kafka ,versuchen‘/,sich um etwas bemühen‘ meinte, eine Bedeutung, die zu seiner Zeit nicht nur den Kodizes,506 sondern auch

503 Im Detail liegen folgende Verhältnisse vor: bezahlt (69,44 Prozent) – gezahlt (30,56 Prozent), bestraft (65 Prozent) – gestraft (35 Prozent), be‑/verhindert (61,54 Prozent) – gehindert (38,46 Prozent). Insgesamt stehen 46:23 Belege in einem Verhältnis von 2:1. 504 Hier lassen sich folgende Relationen feststellen: bezahlen etc. (31,25 Prozent) – zahlen etc. (68,75 Prozent), bestrafen etc. (31,58 Prozent) – strafen etc. (68,42 Prozent), be‑/verhindern etc. (29,17 Prozent) – hindern etc. (70,83 Prozent). Insgesamt weisen 25:52 Belege ein Verhältnis von 1:2,08 auf. 505 In der Bedeutung ,etwas wahrnehmen‘/,auf etwas aufmerksam werden‘ diente Kafka bemerken elfmal zur Bildung einer Partizip-II-Form (V.9/4; V.100/15; V.272/21; V.287/12; V.295/7; V.300/4; V.311/11; V.315/7; V.322/20; V.341/18,22). Zum Partizip des Simplex setzte er dagegen nur einmal an, bevor er es durch ein synonymes Verb ersetzte: hatte er davon freilich wenig [gemerk] erfahren (Vv.19/2–3). Vgl. auch anderenorts die Korrektur von ge- zu bemerkt: Denn wie führten sie sich auf, vor lauter Musik hatte ich es (ni>bi)sher nicht (ge>be)merkt (N2v.432/2–3). 506 Vgl. u. a. Janežič (41905: 709), Heyne (21906b: 908), Kelemen (231924: 281), Herzer/Prach (1920: 976), Pinloche (21931: 670), Sterzinger (1935: 811–812), Grimm/Grimm (1942: 846) und Siebenschein (1944–1948: 848).

332

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

den Prager Printmedien507 und Schriftstellerkreisen508 geläufig war: Eine Stichprobe anhand des Schloß-Fragments ergibt ein Verhältnis von ca. 2:1 zugunsten von suchen (40 Belege bzw. 65,57 Prozent)509 gegenüber der Variante versuchen (21 Belege bzw. 34,43 Prozent).510 Weitere markante Einzelbelege einer scheinbar restriktiven Verwendung der Präfixe be- und ver- liegen im Korpus an Stellen vor, wo eine handelnde Figur sich selbst nicht besänftigte, sondern sänftigte (N1.391/19), nicht verärgert, sondern mehr bestürzt, als geärgert (P.23/18)511 ist und den Mund nicht verzogen, sondern breit gezogen (P.70/14)512 hat. Insgesamt deutet sich an, dass der im oberdeutschen Raum zurückhaltend ausgeprägte Gebrauch der Verbal-Präfixe be- und ver- (z. B. Merkle 61996: 80; Bekh 1973: 30) hier seinen Niederschlag gefunden haben könnte.513 Dennoch kann keinesfalls von einem Regionalismus gesprochen werden; denn Kafkas Formen entsprechen – bis auf das bewusste gezahlt sein – der überregionalen Normauffassung seiner Zeit. Ein abschließender Blick auf alle nachweisbaren Autokorrekturen, die Kafka im Bereich der Verbal-Präfixe be‑/ver- vornahm, ergibt, dass er sich überwiegend (zu 88,24 Prozent) zu nachträglichen Ergänzungen entschloss:

507 Vgl. und sucht mich zu überzeugen (SW 1921b: 3, 4; 1921c: 3), zu bringen suchen werden (PT 1921: 3), sucht Posten zu ändern (PT 1921: 33), seine Abreise zu verschieben sucht (PT 1921c: 1), es zu fördern suchen (PT 1921c: 2). 508 Vgl. Brod (1911: 99, 117, 123, 146, 167, 176, 177, 187, 246, 248) und Kisch (51922: 57, 59). 509 Vgl. Sv.7/3,26*; S.22/17; S.35/24; S.68/23; S.79/19; S.90/18; S.92/4–5; S.109/12; S.113/6; S.126/1; S.129/11; S.157/14; Sv.168/4(2)67*; S.173/8–9; Sv.183/18(2)119*; S.183/20; S.205/13; S.216/14; Sv.219/9–15(3); S.226/21; S.246/10; S.247/5; S.248/26; Sv.249/14; Sv.255/7; Sv.288/2–3(4)123*; S.298/8; S.300/19,22; Sv.312/12; S.312/13; S.365/24; S.371/15; S.383/26; S.395/3; S.414/2,18; S.425/9; S.438/19; S.482/11. 510 Vgl. S.48/18; S.85/12; S.139/8; S.178/17; S.179/13; S.207/15; S.212/20; S.249/2; S.304/24; Sv.314/7; S.319/18; S.326/2; S.337/17; S.366/18; S.375/1; S.403/1; S.408/21; S.418/10; Sv.426/24,23*; S.447/21; S.452/15. 511 Vgl. dagegen anderenorts: K. aber war | […] durch das Gespräch verärgert (S.20/21), Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert (V.186/3–4). 512 Vgl. im Korpus aber auch: ihr Mund war so verzogen (V.135/8), mit matt verzogenem Munde (N1.117/21). 513 Vgl. etwa das völlige Fehlen von bestrafen und behindern als Lemmata in den Mundart-Wörterbüchern des ober- und ostmitteldeutschen Raums bzw. ihre Markierung als ,selten‘ neben dem Simplex. Für verhindern gilt das Gleiche im ostober- und ostmitteldeutschen Raum (Schmeller 21872: 1137; 21877: 810–811; SWB 1904: 781, 942; 1908: 1174; BWB 1925–1940: 137, 165; 1942–1974: 66; VBW 1960: 273, 312, 826; WEM 1899: 350; 1907: 627). In den westmittel- und niederdeutschen Mundarten sind die präfigierten Verben weit häufiger in Gebrauch (SHW 1965–1968: 727; 1969–1972: 511; PWB 1965–1968: 737; 1969–1975: 1180; RWB 1935: 652; 1958–1964: 774–775; MBW 1942: 725–726; 1992: 834; BBW 2001: 304; HWB 2006: 468; NSW 1985: 56).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

333

wenn Sie (den>bed)enken, daß mir (Pv.79/11–12), anderes das man nicht {be}nennen konnte (Sv.288/2– 3(4)80*–81*), so konnte man doch {vielleicht} von den andern Dienern Nachricht über ihn {be-}kommen (Sv.348/1–3), [ohne daß Karl […] es besonders {be}achtete,] (Vv.224/26), läßt sich von (d>D)einen Lippen {be}nagen (N2v.38/4(3)), vor lauter Musik hatte ich es (ni>bi)sher nicht (ge>be)merkt (N2v.432/2–3), mit dem für die Jugend {be}glück-|enden […] Bewußtsein (N2v.445/17–19), Mag der Fehler dort oben am (Au>Ein)gang ([se]x>un)ausrottbar {be}stehn (N2v.588/13–14), [ich kann {es} (es>er)st {be}urteilen] (N2v.623/2–625/4,1*), um Hilfe {be}stürmten? (Dv.401/1–2,1*–2*), Der {nebelige} Dunst im [Saal] Zimmer […] {ver}hinderte sogar eine genauere Beobachtung (Pv.68/2–4), [Das Amtliche ist ja hier meistens {ver}fehlt] (Sv.136/7), ist Pepi [aus dem Ausschank] nicht mehr zu (be>ver)treiben (S.477/2(2)), um die Wirkung des Rates zu {ver}stärken (Vv.58/27–59/1), Karl {ver}­ suchte manchmal mit einem Fußtritt zu antworten (Vv.418/15–16).

Demgegenüber hob er nur in seltenen Fällen eine bereits verschriftlichte Präfigierung rückwirkend auf: mich wirklich zu [ver]bessern (Dv.323/8), und wenn die Möbel ihn [ver]hinderten, das sinnlose herumkriechen zu betreiben (Dv.162/22–23).

Hierin könnte man u. U ein Indiz dafür erkennen, dass Kafka die Präfixe einer höheren stilistischen Ausdrucksebene zuordnete und punktuell glaubte, durch ihren Nachtrag einer dem mündlichen Sprachgebrauch nahen Ausdrucksweise gegenzusteuern. 5.2.1.7  Besonderheiten der Kongruenz des Prädikats mit dem Subjekt Mit Blick auf die Kongruenz des Prädikats mit dem Subjekt waren bereits Nekula (2003a: 108) in Kafkas Tagebüchern Besonderheiten aufgefallen, die Parallelen zum Tschechischen aufweisen, so „die logische Kongruenz im Falle des Subjekts im Singular, das durch eine mit-Präpositionalphrase ergänzt wird (Plural statt Singular).“ Beispiele hierzu finden sich in Kafkas Prosa allerdings nur selten: was ich heute mit Ihnen [ges] Herr Landvermesser ges(x>p)rochen hab(en>e) (Sv.65/8–9), wie in Green die Beschämung […] mit der Freude […] kämpften (Ve.126/25–27).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Zudem waren solche Konstruktionen im Neuhochdeutschen früher nicht ungewöhnlich. Sie finden sich sogar in den Schriften der von Kafka geschätzten Dichter Goethe und Kleist.514 Auf Resultate eines Sprachen-Kontaktes können unstimmige Numerus-Kongruenzen zwischen Substantiv und zugehörigem Verb eher dort zurückgeführt werden, wo Übereinstimmungen mit dem Tschechischen bei bestimmten Wörtern wiederholt auftreten: So verband Kafka das Pluraletantum Leute wiederholt mit Verben im Singular: wo die Leute nur gebückt stehen konnte (Pe.57/22), so war{en} es Leute (Sv.215/6), höchstwahrscheinlich war die zwei jungen [D] Leute die Hausdiener (Vv.129/21–22), hätte nicht einzelne (ein>ga)nz einfache Leute […] sich der Sache angenommen (N1v.194/21–195/3), einige Leute die mich hinderte (N1e.376/21–22).

Da sich weder in deutschen Mundarten515 noch im Jiddischen516 Analogien finden, ist der Augenmerk auf eine Übereinstimmung mit einem älteren Sprachgebrauch im Tschechischen zu richten: Während tschechisch-deutsche Wörterbücher, die zu Kafkas Lebzeiten oder kurz danach erschienen, zwar nach heutiger Praxis zwischen lidé (Pl., ,Leute‘) und lid (Sg., ,Volk‘) unterscheiden,517 dokumentieren ältere, ein bis zwei Generationen vor Kafkas Geburt gedruckte Nachschlagewerke eine z. T. andere Semantik: Bei Jungmann (1836: 322), Šumavský (1846: 180) und auch noch bei Kott (1878: 916) bedeutet lid (Sg.) neben ,Volk‘ nämlich auch ,Leute‘. Eine entsprechende Kongruenz zwischen Substantiv und Verb im Singular hätte als Interferenz im Deutsch unvollkommen bilingualer Tschechen bei hoher Frequenz im öffentlichen Raum im Laufe des 19. Jahrhunderts möglicherweise auch Spuren in der Muttersprache der sich deutsch deklarierenden Prager hinterlassen können, wie sie im Korpus hier u. U. vorliegen.

514 Paul (1919: 200–201) hält hierzu fest: „Häufig steht nach einem singularischen Subjekt, an das ein Glied durch mit (samt, nebst) angeknüpft ist, der Pl. des Präd[ikats], als ob nicht Subordination, sondern Koordination vorläge, vgl. […] ein Harfner mit seiner Tochter, einem Mädchen von eilf Jahren, gingen vor mir her [Goethe], während Sternbald, mit drei geschäftigen Knechten, alles […] zusammenschleppten [Kleist].“ 515 Paul (1919: 188–189) führt aus dem gesamten deutschen Sprachraum lediglich Belege an, bei welchen das Prädikatsverbum zu einem Kollektivum im Plural steht, womit sich der Plural des rückweisenden Pronomens verbinden kann. Den umgekehrten Fall kennt er dagegen nicht. 516 Jidd. lait bedeutet im Singular ,(tüchtiger) Mensch‘, im Plural ,Leute‘ (Wolf 1962: 137; Lötzsch 1990: 109). Abhängige Verben stimmen im Numerus mit dem jeweiligen Substantiv überein. 517 Vgl. z. B. Herzer/Prach (1909b: 734), Sterzinger (1931: 1647; 1935: 1245) und Hulík (1936: 173).

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Noch deutlicher zeichnen sich bei unbestimmten Mengenangaben, die im Deutschen Pluralia sind, Parallelen zum Tschechischen ab, wenn Kafka sie mit Verben im Singular verband: {sehr} wenige Jungen hatte{n} diese Mauer schon erklettert (Sv.49/14–15), Die meisten war schwarz angezogen (Pe.58/19–20), Alle schien{en} zu wissen (N1v.99/4), alle läge{n} in den Betten (N1v.311/11), Nach Art der Kinder wollte alle Ku(rr>r)iere sein (N2v.56/9–10), all(e[rA]>e) Gesichter war{en} abweisend (N2v.377/14–15), wollte{n} alle zu ihm hereinkommen (Dv.144/26–27), dass sie [sich] alle in die Noten hätte sehen können (Dv.185/8–9).

Im Tschechischen fände die Konstruktion mit wenige ihre Entsprechung in málo + Substantiv (Gen. Pl.) + Verb (Sg.),518 diejenige mit die meisten in většina (z ních) + Verb (Sg.). Im Falle von alle konkurriert všichni + Verb (Pl.) mit veškerý/všechen + Verb (Sg.) und každý + Verb (Sg.).519 Andere Korpusbelege liefern Indizien dafür, dass auch die tschechischen Pluralia dveře (Tür) und housle (Geige/Violine) auf interferenziellem Weg im Deutsch der Prager nichtkongruente Pluralformen induzieren konnten, im ersteren Fall bezüglich des Substantivs, im letzteren hinsichtlich des Verbs: aber die Türen war{en} schon in Bewegung (Sv.430/18), die Violine […] ertönt(en>e) sie von der Küche her (Dv.183/12–13). Kafkas nicht eben umfassende Korrektur (in acht von 15 Fällen bzw. zu 53,33 Prozent), besonders der Beispiele für Leute + Verb (Sg.) (nur zu 20 Prozent) scheint für die Geläufigkeit solcher, gemessen an der Norm in sich inkongruenter Bildungen im Prager Umgangsdeutsch zu sprechen. Dass sie dem Substandard zugerechnet werden müssen, ergibt sich zum einen aus ihrem Fehlen z. B. in den städtischen Medien, zum anderen aus ihrer Berichtigung durch Max Brod, wo sie im Manuskript stehen geblieben waren (Kafka 1953a: 67; 1953b: 113; 31954: 220; 1965: 51). Akzeptiert man tschechische Interferenzen, die auf Sprachen-Kontakt zurückführbar wären, als wahrscheinlichsten Hintergrund, dann ließen sich die hier diskutierten Belegstellen als Regionalismen dem Typ A1/ rU(kT)[P] zuordnen. Allerdings machen die bisher diskutierten Fälle weniger als ein Drittel (17 von 58 bzw. 29,31 Prozent) aller Korpusbelege für Inkongruenzen zwischen dem Numerus des Subjekts und dem seines Prädikats aus. Oft eröffnet die lautliche Umgebung der jeweiligen

518 Analoge Konstruktionen deutete bereits Schuchardt (1884: 125) als Interferenz der Muttersprache im Deutsch bilingualer Tschechen. 519 Bei dem Einzelfall Keiner grüsst(en>e) (Vv.67/12) kann dagegen im Tschechischen kein übereinstimmendes Kongruenzmuster vom Typ keiner + Verb (Pl.) erkannt werden.

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Flexionsendung des Prädikats die Möglichkeit, dass eine ungewollte Verschriftlichung phonetisch induzierter Assimilationsformen im Einzelfall zu ,defekten‘ Plural-Suffixen geführt hat. Besonders die bei Kafka omnipräsente e-Synkope520 könnte bei Verben, deren Stamm auf Nasal endet, die enklitische Totalassimilation [‑i:n-ən] > [‑i:n-n] > [‑i:n] > ‹‑ien› des unbetonten Flexionsmorphems begünstigt und in der Schrift zu scheinbaren Singular-Suffixen geführt haben:521 aber nun (war>sch)ien{en} die Herren ermüdet (Pv.29/11), (sie>die) Herren schien die Aufträge ungeteilt bekommen zu haben (Pv.310/20–21), Alle schien{en} zu wissen (N1v.99/4),

522

schien{en} mir aber

Forschungen über die Nahrung am geeignetsten (N2v.481/8–9).

Solche Vorgänge sind auch proklitisch über die Morphemgrenze hinweg denkbar, z. B. nach dem Muster [var-ən na-] > [var-n-na-] > [var na-] > ‹war na-› oder [‑tən niçt] > [‑tə-n-içt] > ‹‑te nicht›:523 es war{en} natürlich auch noch (a>A)ndere aus dem Schloß {gekommen} (Sv.295/23–296/1), hätte 524

nicht einzelne (ein>ga)nz einfache Leute […] sich der Sache angenommen (N1v.194/21–195/3).

Da sich im Korpus bereits Reflexe einer regressiven Assimilation der Silbe [-gən] zu [ŋ] nachweisen ließen,525 ist auch der folgende Ausfall des Plural-Suffixes beim Verb u. U. als Allegroform des gesprochenen Deutsch interpretierbar: die Arme um einander geschlungen gieng{en} sie schweigend auf und ab (Sv.398/22–23). Ferner kann die Formengleichheit bzw. Homophonie der Personalpronomen der 3. Person Singular Femininum und der 3. Person Plural zu Interferenzen im SubjektBereich geführt haben, die eine Subjekt-Prädikat-Inkongruenz hinsichtlich des Numerus zur Folge hatten:

520 Vgl. hierzu bes. Kap. 5.1.1.1.2. 521 Vgl. den Ausfall des Suffixes ‑en nach Nasal in der Textstelle weil er Frieda möglichst schon›en‹ wollte (Se.204/20–21). 522 Diese Belegstelle verweist auch auf das tschechische Muster veškerý/všechen + Verb (Sg.) bzw. každý + Verb (Sg.) (s. o.) und ist somit doppeldeutig. 523 Vgl. analoge Beispiele in Kap. 5.1.3.2, 5.2.2.4, 5.2.4.1.2 und 5.2.6.2. 524 Diese Belegstelle verweist auch auf das tschechische Muster lid + Verb (Sg.) (s. o.); sie kann daher unterschiedlich gedeutet werden. 525 S. hierzu Kap. 5.1.3.1.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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wollte{n} auch sie keine Rücksicht mehr übe(m>n) (Pv.184/27–185/1), trotzdem sie der Wirt zurückzudrängen sucht(en>e) (Sv.35/24), die Bälle […] könnte […] vorspringen (N1e.238/2–3), Sie wartete schon lange darauf (Pe.184/21–22), drehte auch sie sich (Pe.309/9), jetzt dagegen war{en} sie nur ein 526

Spielzeug (N1v.247/18–19).

Nicht zuletzt besteht häufig die Möglichkeit, dass die Handschrift Ansätze zu anderen Formulierungen bzw. Resultate spontaner Perspektivenwechsel dokumentiert: [ich?] wir könnte diese Dinge nicht besser (Se.191/26), daß er ihm helfen woll(en>e) [würde?] (Sv.228/26), drückt(en>e) [sie?] sich Prometheus […] immer tiefer in den Felsen (N2v.70/4–6), was ich bedeut(et>e) [habe?] (N2v.84/19), auch müsst(en>e) [sie/die Leute/Bewohner?] die Stadt nicht auf einmal [bauen?] gebaut […] werden (N2.302/20–22), daß ich seine wirkliche Geburt nicht überleben {werden} [soll/kann?] (N2v.422/20–21).

Daneben verbleiben weitere 21 Stellen (36,21 Prozent des Fehler-Teilkorpus), die weder Parallelen zum Tschechischen noch zu Allegroformen des gesprochenen Deutsch aufweisen und wohl als einfache Flüchtigkeitsfehler Kafkas zu betrachten sind: einzelne Beamte […], wie sie an Tischen schrieben oder geradezu am Gitter stand{en} (Pv.92/24–26), während er vom Nachthemd […] abließ […] und K. zum Niedersetzen nötigten (Pe.192/15–17), die Möglichkeit […] wurd(en>e) ihm förmlich dargeboten (Pv.195/5–6), Beide Methoden habe das Gemeinsame (Pv.218/23), da […] der Hauptmann nichts verraten hatten (Pe.318/9–10), dessen Absichten unbekannt ist (Se.80/9), Die Gehilfen stand draußen (Se.125/23), Auf eine drohende Bewegung K.’s ließen sie sofort davon {ab}, [einer] {sie} suchte [den] {ein}ander[n] zurückdrängen (Sv.125/27–126/1), wo ihn die Gehilfen von außen nicht sehen konnte{n} (Sv.126/4), was in ihrer Gegenwart gesprochen werd(en>e) (Sv.270/18–19), wenn wir nur {frei} gekommen wäre{n} (Sv.328/24–25), {aber Akten geh(tA>n) freilich doch verloren} (Sv.457/9–10), Da nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch war{en} (Vv.389/27–390/1), wenn ich nicht fahren würd(en>e) (N1v.26/12), weil er die Götter an die Menschen verraten hatt(en>e) (N2v.69/20–70/1), die Häuser des Städ(chA>tc)h ens war{en} (xx>an) seinen Ufern (N2v.230/21–22), Trotzdem kein Luftzug zu spüren war[en] (N2v.251/14–15), Die Augen war wohl von Natur aus so klein (N2e.286/24–25), mit denen keine Verständigung möglich [sind] {ist} (N2v.292/3(1)), die er […] hervorholen konnten (N2e.386/6–8=Dv.335/17–19), die Ballen seiner Beinchen hatte{n} ein wenig Klebstoff (Dv.132/23–24), wollte wir ihn darin nicht stören

526 Nach dem Textzusammenhang ist in den letzten drei Fällen die 3. Person Plural intendiert.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

(Se.337/2–3), die Arme hatte wir voneinander gelöst (N2e.229/1–2), konnte wir ihn nicht überklet527

tern (N2e.316/20–21).

5.2.2  Artikel 5.2.2.1  Vom Standarddeutschen abweichende Formen definiter und indefiniter Artikel Nach Ausweis der Handschriften setzte Kafka bei der Niederschrift indefiniter Artikel gelegentlich zunächst zu einem ‹a› an, bevor er die grammatische Form im Zuge einer Sofortkorrektur normgerecht mit ‹ei› ausführte. Beispiele in Maskulinum (Nominativ/ Akkusativ), Femininum (Dativ/Akkusativ) und Neutrum (Nominativ/Dativ) lauten wie folgt: Si(e>n)nd Sie schon (a>e)in alter Klient (Pv.232/27–233/1), (AA>E)inen Augenblick (Dv.124/20), fuhr im Dunkel ([a]>e)ine Anhöhe langsam hinauf (N2v.47/8–9), [in (a>e)iner […] Weise] (Sv.137/13,4*– 5*), in dieser Stille entstand ([a]>e)in Sausen (Pv.69/3), (a>e)inem {einzigen […]} Wesen aufzuerlegen (N2v.79/8).

Hier deutet sich eine der Schriftnorm zuwiderlaufende morphologische Gestalt an, die für den nord- und ostoberdeutschen Raum charakteristisch ist:528 Denn die in Kafkas Text zunächst mit ‹a› begonnenen Artikel werden nur in den bairischen sowie den oberund mittelfränkischen Dialekten als helles [a] (Maskulinum/Neutrum Nominativ und Femininum Dativ/Akkusativ) bzw. [an] (Maskulinum Dativ/Akkusativ und Neutrum Dativ) realisiert. In den angrenzenden westober- und mitteldeutschen Mundarten529 sind

527 Bei einer phonetischen Realisierung des Personalpronomens der 1. Person Plural als mir (vgl. Kap. 5.2.4.1.1) ließen sich die Singular-Flexive der Verben der letzten drei Belegstellen u. U. auch als verschriftlichte Assimilationsprozesse vom Typ [‑ən-mi:ɐ] > [-ə mi:ɐ] > ‹‑e wir› über Morphemgrenzen hinweg erklären. 528 Vgl. hierzu in Kap. 5.1.1.3 die Reflexe der Monophthongierung von anlautendem ei zu a im Korpus. 529 Vgl. im Detail Zehetner (1977: 85; 1985: 114), Merkle (61996: 88), Schuster/Schikola (1984: 109), Kalau (1984: 107), Hörlin (1988: 211–218), WUF (1996: 57), Frey (1975: 156), BWB (1925–1940: 645), Wegera (1977: 141), Hasselberg (1979: 99), TWB (2000–2004: 35–38), Spangenberg (1962: 29) und Seibicke (1967: 56).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Abb. 14:  Die regionale morphologische Gestalt des Indefinitartikels Femininum Akkusativ (eine) im deutschen Sprachraum

dagegen [ə], [e] bzw. [ε] verbreitet.530 Kafkas ‹a›-Ansätze können daher als Regionalismen des Typs A1/D[onO–] betrachtet werden.

530 Der von Eichhoff (2000: 35–36; K. 4–66) mit den ostoberdeutschen und schwäbischen Dialekt­ arealen umrissene Raum, in dem der Indefinitartikel Femininum Akkusativ umgangssprachlich als a realisiert werde, muss für den vorliegenden Fehlerbefund in seiner Gesamtheit somit als zu weit gesteckt beurteilt werden.

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Wo Kafka im Begriff war, den bestimmten Artikel Femininum Nominativ/Akkusativ als ‹de› (bzw. eventuell ‹dee›) niederzuschreiben, lassen sich ebenfalls Reflexe diatopischer Formenbildung erkennen: sagte d(e>i)e Wirtin (Sv.173/4), öffnete sich dann auch d(e>i)e Tür (Sv.431/2–3), Ein Herr hat eben {von der Gasse aus} […] d([e]>i)e Glocke dadurch in Bewegung gesetzt (N2v.249/6–7).

Denn in den nord- und ostoberdeutschen, ferner in Teilen der angrenzenden hessischen und thüringischen Mundarten wird die betonte, deiktische Form des Artikels531 mithilfe eines silbischen e in der Form [de:] bzw. [dε:] realisiert. Die Artikelform [di], charakte­ ristisch für den sonstigen ober- und mitteldeutschen Dialektraum,532 kann dagegen keinen Einfluss auf Kafkas unwillkürliche ‹de›-Ansätze gehabt haben. Diese können somit zu den Regionalismen des Typs A1/D[onO+] gezählt werden. Interferenzen aus dem regionalen Substandard scheinen ferner die Gestalt der Neutrum-Artikel in Kafkas Handschriften beeinflusst zu haben. Verschmelzungsformen von Präposition und klitisiertem, zu ‹s› reduziertem das533 müssen zwar grundsätzlich als gemeindeutsch und schriftsprachlich betrachtet werden; zumindest einmal wird der zu ‹s› verkürzte Artikel aber separat und ohne Präposition notiert: und damit (s>d)as dritte Jahr (Pv.351/4). Dies entspricht der unbetonten, ,generalisierenden‘ Form des Artikels in allen oberdeutschen Dialekten, mit Ausnahme der ostfränkischen, wo es [es] bzw. [as] heißt. Im mitteldeutschen Raum ist [s] ferner für die rheinpfälzischen und thüringischen Dialekte belegt, nicht dagegen für die hessischen und obersächsischen, wo [əs] bzw. [dos] üblich ist.534 Trotz seines singulären Auftretens dürfte man den Beleg unter der Sigle A1/D[O+/–] den oberdeutschen Regionalismen im Korpus zuordnen können.

531 Dieser ist semantisch eng mit dem Demonstrativpronomen verwandt, das dem Dialekt in anderer Form fehlt. 532 Zur jeweiligen Deklination in den betreffenden Mundartarealen vgl. Zehetner (1977: 85; 1985: 111), Merkle (61996: 85), Kalau (1984: 105–106), Hörlin (1988: 211–216), Koller (1991: 109), Frey (1975: 154–155), BWB (1925–1940: 460–461), Wegera (1977: 140), Hasselberg (1979: 98–99), Henn (1980: 89–91), TWB (1991–1999: 1246), Spangenberg (1962: 29) und Seibicke (1967: 56). 533 Vgl. z. B. aufs Herz (P.45/15), aufs Maul (V.164/179), aufs Meer (Dv.405/22–23,5*), für’s erste (Pe.231/5), an{’s} [das] Fenster (N1v.282/4). 534 Vgl. Zehetner (1977: 85; 1985: 111), Merkle (61996: 85), Hörlin (1988: 214), Frey (1975: 154–155), BWB (1925–1940: 461), Wegera (1977: 140), Hasselberg (1979: 98–99), Henn (1980: 89–91), TWB (1991–1999: 1186), Spangenberg (1962: 29) und Seibicke (1967: 56). Der nördlich dieser Dialektareale verwendete Artikel dat (Drenda 2008: 30–31) kann Kafkas s-Artikel nicht bedingt haben.

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Gerechtfertigt scheint dies u. a. auch, weil der Definitartikel Neutrum Nominativ/Akkusativ an anderer Stelle mehrfach als ‹des› in der Schrift erscheint, meist nur ansatzweise: mit Berufung auf d(e>a)s gerade herrschende regnerische Herbstwetter (Pv.271/17–18), auf d(e>a)s letzte Stockwerk (Pv.312/4), D(e>a)s Aller(g>h)ässlichste (Sv.303/26), d(e>a)s Gesicht gegen d(ie>en) Boden hin (N2v.261/3–4), in d(e>a)s Maul des Kranken (N2v.467/19), {sie haben d(e>a)s Hunde535

leben verschuldet} (N2v.471/27–472/1(2)).

Viermal findet sich die Form jedoch auch in vollem Umfang: [Und] {Aber} auch d(es>a)s Ende (Pv.300/24–25(2)), wirft sich dann [auf des Gesicht und] [wein] weinend (N1v.279/4), ist es gewöhnlich d(es>a)s technische Problem (N2v.608/2), vor d(e[s]>a)s Gericht (N2v.637/14–15).

Offensichtlich brachte Kafka hier unbeabsichtigt die betonte, deiktische Form des bestimmten Artikels zu Papier, welche die oberdeutschen und rheinfränkischen Dialekte als [de:s], [dεs], [des] oder [dəs] kennen.536 Dies unterstreichen zwei Belegstellen, an welchen Kafka den Ansatz ‹de› nicht zum Artikel ‹das›, sondern zum Demonstrativpronomen ‹dieses› berichtigte: und d(e>i)ese Versäumnis werde auch noch weitere Nachteile bringen (Pv.165/1–2), die ist vor Schre­ cken über d(e>i)eses Läuten weggelaufen (Vv.302/1).

Eine Einwirkung jiddisch-ethnolektaler Relikte auf die Morphologie der betrachteten Artikel ist dagegen unwahrscheinlich. Zwar werden die indefiniten Artikel im Jiddischen allesamt durch die Einheitsform a repräsentiert. Bei den Definitartikeln ergeben sich aber entscheidende Unterschiede zu Kafkas Varianten: Im Femininum Nominativ/Akkusativ lauten diese jiddisch nämlich di, im Neutrum Nominativ/Akkusativ, sowohl deiktisch

535 Der gleiche Ansatz zu ‹des› findet sich im Korpus auch beim formal identischen Relativpronomen Neutrum Akkusativ: Gespräch{,} d(eA>a)s der andere Herr mit Karl führte (Vv.405/10–11). 536 Dagegen lautet der Artikel in den unterfränkischen, thüringischen und obersächsischen Dialekten [dos] (Kalau 1984: 105–106; Hörlin 1988: 211–216; TWB 1991–1999: 1186; Spangenberg 1962: 29; Seibicke 1967: 56).

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als auch generalisierend, immer doss.537 Insgesamt lässt sich somit ein Regionalismus der Kategorie A1/D[O+] bestimmen. 5.2.2.2  Apokope der Kasus-Flexive -e, -en und -em bei Indefinitartikeln Dass in Kafkas Schriften bei femininen Indefinitartikeln im Singular vielfach Akkusativund Nominativ-Morpheme fehlen, stellte bereits Nekula (2003a: 99) v. a. im Hinblick auf die Tagebücher fest. Dieser Befund lässt sich auch für Kafkas Prosa-Manuskripte bestätigen.538 Belegstellen für die Artikelform ein im Femininum Nominativ Singular lauten: aus der […] ein […] Flüssigkeit herausschoss (Pe.188/11–13), Weil er ein{e} große Kundschaft des Advokaten ist (Pv.230/23–24), auch war [es nur eine] {die} Eing(eb>a)be […] nur ein{e} unter [vielen] mehreren (Pv.240/27–241/1), es ist doch […] {ein Art} Schloßdienst (Sv.272/7–8), Das ist ein{e} gute B(xx>eo)bachtung (Sv.273/9–10), als hätte sich […] ein ganz neue Welt aufgetan (Se.360/16–17), die Schwarze, ein wahre (w>W)ild[e]{-}Katze, hat sich für Dich eingesetzt (Sv.370/8–9(2)), sie ist […] ein gewesene Geliebte Klamms (Se.374/21–22), schon war auch ein Gesellschaft da (Se.415/16), es ist auch ein gewisse Ehre (Se.467/22), Ein Inspektion […] gab es nur in außerordentlichen Fällen (Ve.217/27–218/1), da griff […] ein Hand nach Karl (Ve.285/18–19), Der hauptsächliche Beweis […] ist ein […] Thatsache (N1e.9/18–20), da ich damals ein Schlafhaube war (N1v.173/23,13*–14*), am nächsten Tag flüstern es sich schon [viele] {ein Menge von Leuten} zu (N1v.209/20–21), Es war ein [so] ungewöhnliche Ausprache (N1v.273/22), wie ein{e} Kaiserin […] ihres Mannes Blut trank (N1v.353/9–10), Ein{e} Tugend ist also diese Auffassung wohl nicht (N1v.356/1), dagegen führte ein offene Glastür zu einem kleinen Gärtchen (N1e.409/10–11), Gleich am Tor angebaut ist ein{e} große Herberge (N1v.415/12–13), (e>E)in stinkend(er>e) H(u>ü)ndin (N2v.37/10), dann wäre […] aber doch ein Art Friede (N2e.145/2–4), Ein junge zigeunerartige Frau macht […] ein weiches Lager zurecht (N2e.282/1), Es war ein kleine Gesellschaft (N2e.353/7), Es ist ein schöne und wirkungsvolle Vorführung (N2e.383/13), Es war ein kleine Hütte (N2e.404/14), darum ist jene Antwort […] ein ständige Redensart (N2e.439/5–7), Es war […] ein wilde Nuß-Aufknackerin (N2e.546/5–6), auf dem ein auseindergepackte Musterkollektion […] ausgebreitet war (Dv.115/15–17), Es vergieng ein{e} (ein>kle)ine Weile (Dv.167/19).

537 Vgl. hierzu im Detail Wiener (1893: 53), Wolf (1962: 102), Lötzsch (1990: 197), Lockwood (1995: 45) und Jacobs (2005: 172). 538 Zu diesem Phänomen in der Proceß-Handschrift s. Blahak (2005: 27; 2007a: 176–177).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Und ein heißt es analog auch im Femininum Akkusativ Singular: sah K. ein{e} ganz geringe Gefahr (Pv.12/6–7), bis elf Uhr lag er ruhig {ein Cigarre rauchend} auf dem Kanapee (Pv.38/9–10), ich habe schon ein{e} Verpflichtung (Pv.51/11–12), ob es nicht gut wäre, ein Verteidigungsschrift auszuarbeiten (Pe.149/16–17), sie dürfte […] dem Advokaten ein Suppe kochen (Pe.229/1–3), (e>E)r hörte (x>d)ort ein längere Erklärung ab (Sv.12/15), schon klopfte er an ein Tür (Se.51/7), noch habe ich ein schriftliche Erledigung in Händen (Se. 373/16–17), wie man ein Katze vor die Tür wirft (Ve.38/25–26=Dv.96/21–22), Ich hätte ein Bitte (Ve.104/11), öffnete ein [{doppelte}] zweifache Tapetentüre (Vv.156/20), einem Hotelgast […] ein […] Kleinigkeit zu holen (Ve.189/17–19), und rauchte ein Pfeife (Ve.287/25–26), der ein [Stück der] {ein grosse} Bonbonmasse [im Munde] {auf der Zunge} wälzte (Vv.304/20–21), und nahm dann ein kleine Handlampe (N1e.123/24), mich für ein kleine Stunde festhämmern zu lassen (N1e.157/20), für den man ein Schutzmauer baute (N1e.342/14), Man hält ein[en] solche Verwahrung wilder Tiere […] für vorteilhaft (N1e.388/14–16), Als wir an ein hohe […] Mauer kamen (N1e.419/3–4), denn er ist an ein Kette gelegt (N2e.63/8–9), [sich] in ein ferne (e>E)cke {sich} zusammensetzen (N2v.386/3–4), welche […] ein länger(es>e) (x>r)uhige Betrachtung unmöglich gemacht hätten (N2v.395/21–24=Dv.345/1–3), Daher kam natürlich ein grosse Befeuerung (N2v.460/12–13(1)), so hat er doch ein gewisse Großartigkeit (N2e.479/7–8), Sein Aussehen weiss ich mir kaum vorzustellen, wohl aber sein{e} Arbeit (N2v.630/14–16(1)), in ein derart{ige} [grA] zornige 539

Aufwallung gebracht (N2v.636/8–9).

Dass abweichende Substantiv-Genera im Tschechischen solche Artikelformen interferenziell bedingt haben könnten, kann ausgeschlossen werden. Denn die Kongruenz zwischen den Kasus-Flexiven attributiv verwendeter Adjektive und dem Genus der zugehörigen Substantive ist in allen 34 hier gegebenen Fällen stimmig. Eine genaue Überprüfung beider Fehler-Teilkorpora ergibt zudem, dass in nur 16 von insgesamt 56 Fällen (28,57 Prozent) theoretisch bezüglich des Genus Parallelen zwischen deutschen Substantiven, die dann im Nominativ Singular durch den Artikel ein als Maskulinum oder Neutrum540 und im

539 Nicht berücksichtigt wurde die Textstelle gab es jetzt ein dritt(es>e) [Ende.] {Möglichkeit} (N1v.139/20), denn hier versäumte Kafka nur die Anpassung eines Artikels an ein folgend ausgetauschtes Substantiv. 540 Übereinstimmungen ergeben sich hier in neun von 30 Fällen (30 Prozent): bei Kundschaft (tsch. zákaznictvo/n), Eingabe (tsch. podáný spis/m), Art (tsch. způsob/m), Beobachtung (tsch. pozorování/n), Welt (tsch. svět/m), Schlafhaube (tsch. lenoch/m, ospalec/m), Menge (tsch. množství/n), Vorführung (tsch. předvedení/n, představení/n) und Redensart (tsch. rčení/n).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Akkusativ Singular als Neutrum541 markiert wären, und ihren tschechischen Äquivalenten gezogen werden könnten. Zudem finden sich im gesamten Untersuchungskorpus, bei zwei Ausnahmen,542 zu jedem dieser Substantive zahlreiche Gegenbeispiele, bei welchen das Genus nach standarddeutscher Norm eindeutig als feminin markiert ist.543 Stattdessen müssen sowohl der durch e-Apokopierung verursachte Silbenschwund (eine > ein) als auch das reduzierte Formeninventar bzw. die Indifferenz des Indefinitartikels in bestimmten deutschen Dialekten als Hintergrund von Kafkas Normverstößen ins Auge gefasst werden (Nekula 2003a: 99–100). Die Synopse einschlägiger fehlerlinguistischer Untersuchungen zeigt, dass Kafkas endungslose Indefinitartikel eben in jenen Dialektarealen als interferenzielle Fehlleistungen im Schriftdeutschen auftreten, in welchen das unbetonte auslautende e apokopiert wird: im gesamten ober- und westmitteldeutschen, ferner, räumlich davon getrennt, im nördlichen west- und im gesamten ostniederdeutschen Sprachraum.544 Für die Formenbildung dieser zwei Großräume ist zudem charakteristisch, dass der Indefinitartikel Femininum Nominativ/Akkusativ Singular entweder als [a], [ə], [e], [ε] oder [ε:] auf einen Vokal reduziert ist545 oder als [en], [ən] oder [n] einsilbig auf ‑n auslautet.546 Umgekehrt gehören Kafkas verkürzte Artikelformen in dem ostmitteldeutsch-südwestniederdeutschen Dialektareal, auf dem das auslautende e erhalten bleibt, nicht zu den Fehlern, die Mundartsprecher typischerweise im Schriftdeutschen begehen.547 Denn hier wird der untersuchte Artikel ein- oder zweisilbig

541 Analogien sind hier bei sieben von 26 Beispielen (26,92 Prozent) feststellbar: bei Gefahr (tsch. nebezpečí/n), Cigarre (tsch. cigáro/n), Erklärung (tsch. vysvětlení/n), Erledigung (tsch. vyřízení/n), Verwahrung (tsch. uschování/n, opatrování/n), Betrachtung (tsch. pozorování/n) und Befeuerung (tsch. nadchnoutí/n). 542 Diese sind Schlafhaube und Verwahrung, die jeweils nur einmal im Korpus vorkommen. 543 Vgl. z. B. hatte die Kundschaft verloren (S.335/4–5), die erste Eingabe werde gewöhnlich verlegt (P.151/19–20), diese Art Leute (V.142/2), eine kleine Beobachtung (N1.64/19), die Welt betrog ihn (D.347/26), Die Menge verstummte (V.325/17–18), ich fürchte die Gefahr (P.77/14), eine schöne […] Vorführung (N2.383/13), Es ist hier die Redensart (S.273/7–8), Der Reisende rauchte schweigend eine Cigarre (N1.34/27–35/1), eine neue Erklärung (S.443/4), auf die Erledigung (P.94/22–23), bei näherer Betrachtung (D.199/27). 544 Vgl. Zehetner (1977: 87), Kalau (1984: 113), Ammon/Loewer (1977: 62), Klein/Mattheier/ Mickartz (1978: 101), Henn (1980: 90–91) und Stellmacher (1981: 75). S. hierzu Kap. 5.1.1.1.6. 545 Dies gilt für die oberdeutschen, rheinpfälzischen und moselfränkischen Dialekte (Zehetner 1977: 85; 1985: 113–114; 42014: 31; Merkle 61996: 88; Kalau 1984: 107; Frey 1975: 156; Besch/Löffler 1977: 53; BWB 1925–1940: 645; Henn 1980: 90–91). 546 Dies betrifft die hessischen, ripuarischen und (räumlich davon getrennt) niedersächsischen Dialekte (Wegera 1977: 141; Hasselberg 1979: 99; Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 101; Stellmacher 2 2000: 192). 547 Vgl. exemplarisch Niebaum (1977: 66) zum Westfälischen.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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mit vokalischem Auslaut als [enə], [nə] oder [ne] realisiert;548 er weist in dieser Hinsicht also keinen Kontrast zum Standarddeutschen auf, der Normverstöße provozieren könnte, wie sie in Kafkas Prosa-Handschriften vorliegen.549 Nach Kalau (1984: 113) kann der ausgemachte Regionalismus aus fehlerlinguistischer Sicht als mundartbedingte Hyperkorrektur gedeutet werden: Demnach komme es hier zu einer Kontrastverschiebung, da der Kontrast [a] – ‹eine› nicht richtig erkannt und fälschlich ein Kontrast [a] – ‹ein› angenommen werde. Allerdings stellt Eichhoff (2000: 35–36; K. 4–66) fest, dass der Indefinitartikel eine bereits auf der Ebene der regionalen Umgangssprache im gesamten oberdeutschen und in der Südhälfte des westmitteldeutschen Dialektraums einvokalisch als [a], [e] oder [ε] realisiert werde, nördlich davon, also auch im niederdeutschen Raum, dagegen jeweils mit erhaltenem e-Auslaut (ne, eine, enne, eene).550 Auch die geringe Zahl von Autokorrekturen, die im Schnitt nicht einmal jedes fünfte fehlende e-Flexiv erfassen,551 deutet an, dass Kafka die Verwendung von ein als Indefinitartikel Femininum Nominativ/Akkusativ Singular kaum als fehlerhaft empfand und die verkürzte neben der häufiger verwendeten, zweifellos stilistisch höher eingestuften vollen Form als Variante gelten ließ.552 Dass es sich hier aus diachroner Sicht um einen Grenzfall des regionalen Standards handeln dürfte, zeigt ferner ein Beleg des endungslosen Indefinitartikels in gedruckter Prosa bei Otto Pick.553 Nicht zuletzt fällt auf, dass Lehmann (1899) in seiner Fehler-Studie für Wien keine auffälligen, an sich aber zu erwartenden Verstöße bei der Bildung des unbestimmten Artikels im Femininum vermerkt. Eine Kategorisierung als Regionalismus des Typs A2/rU(d)[O+] scheint somit vertretbar, auch wenn Kafkas Herausgeber die betrachtete Artikelform in jedem Fall zu

548 Zur Flexion in den obersächsischen, thüringischen und westfälischen Dialekten vgl. Seibicke (1967: 57), Spangenberg (1962: 29) und WFW (1973–2008: 463). 549 Eventuell als hyperkorrekte Reaktion auf den häufigen e-Ausfall im Indefinitartikel Femininum Singular sind unbestimmte Artikel Neutrum Singular deutbar, die mit Endungs-e versehen wurden, so dass der Eindruck entsteht, bei den zugehörigen Substantiven handle es sich um Feminina (vgl. Kap. 5.2.3.2): ei(ne>n) Hindernis für seine Aufnahme (Vv.398/6–7), eine ausgezeichnetes Billard (N2e.101/7–8), ei(ne>n) Bein (N2v.557/20). 550 Wie Eichhoff (1978: 34; K. 118; 2000: 33–34; K. 4–59) feststellt, gilt diese Beschränkung des Eindringens dialektaler Praxis in die regionale Umgangssprache auf den südlichen der beiden oben beschriebenen Großräume geographisch fast deckungsgleich für die Durchführung der e-Apokope. S. hierzu Kap. 5.1.1.1.7 und 5.1.1.1.8. 551 Insgesamt wurden zehn von 56 Fällen (17,86 Prozent) von Kafka berichtigt. 552 Vgl. die gleiche Praxis im Zusammenhang mit der e-Synkope beim Verbinfinitiv (Kap. 5.1.1.1.2). 553 Vgl. umfing die Soldaten ein lastende Stille (Pick 1913: 50). Wohlgemerkt, der Druck erfolgte in Heidelberg.

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eine berichtigten554 und ihr somit, zumindest mit Blick auf die reichsdeutsche Norm, die Schriftfähigkeit absprachen. Im Fortgang der Untersuchung stößt man auch bei Maskulina im Akkusativ Singular auf die Artikelform ein:555 die ein{en} noch viel ältern Greis […] zum Fenster gezerrt hatten (Pv.15/17), mein Mann hat ein{en} solchen Schlaf (Pv.81/8), Es stellte ein{en} Mann […] dar (Pv.141/18–19), ein{en} so viel ältern und erfahrene(n>r){en} Mann […] überzeugen zu wollen (Pv.253/13–15), schließlich deutet auch sein Äußeres auf ein pedantischen Charakter hin (Pe.296/21–22), bekam ein Hustenanfall (Se.29/11), Du wolltest mir nur ein{en} Auftrag geben (Sv.51/6), noch ein{en} Auftrag geben (Sv.52/6), Soll ich mich etwa dessen (R>r)ühmen, […] ein{en} langen Nachmittag vergeblich gewartet zu haben? (Sv.252/15–18), in ein{en} dunklen Winkel (Sv.291/19), konnten wir an ein solchen vollständigen Zusammenbruch nicht glauben (Se.320/27–321/1), und wendete ihn nicht ein{en} Fingerbreit (Vv.93/3), und nahm ein{en} langen Zug (Vv.302/21–22), das […] auf ein kleinen Platz führte (N1e.18/24–25), Ein kleines Mädchen trug […] ein{en} grauen Hund (N1v.51/27–52/2), ich habe nämlich ein Schwager (N1e.107/2– 3=Dv.400/11–12), drängten in ein kühlen großen Raum (N1e.307/14), Tritt man ein, merkt man nur ein{en} unaustreibbaren Modergeruch (N1v.367/23–24), Wir hatten ein kleinen Fischfang (N1e.419/12), da hörte ich ein Vogel (N2e.243/12–13), wir hatten ein wichtigen Auftrag (N2e.259/7–8), hat ein […] roten Rock (N2e.281/20), man gieng durch den ein Bogen (N2e.356/2–3), zeigte […] auf den Hungerkünstler als [auf] ein{en} (B>b)edauernswerten[,] [Unglücklichen] Märtyrer (N2v.390/9,2*– 3*=Dv.339/18,2*–3*(2)), Aufmerksamkeit für ein{en} Hungerkünstler beanspruchen (N2v.397/22– 23=Dv.347/1–2), hat ihn aber doch ein Augenblick lang auf dem Kopf gehabt (N2e.519/17–18).

Hier sind durch tschechische Interferenzen generierte Genusfehler noch unwahrscheinlicher, denn nur bei fünf der vorliegenden 26 Substantive (19,23 Prozent) stellt das jeweilige tschechische Äquivalent ein Neutrum dar.556 Abgesehen von der durchgängigen Korrektheit der Kongruenz zwischen den Kasus-Flexiven der 16 im Fehlerkorpus attributiv verwendeten Adjektive und dem Genus der zugehörigen Substantive belegen auch hier

554 Vgl. die Korrektur des Artikels in ein›e‹ auseindergepackte Musterkollektion (Dv.115/15–16) im Text der Verwandlung durch den Kurt Wolff Verlag sowie Brods Eingriffe in seiner Proceß-Ausgabe (Kafka 1965: 34, 46, 137, 169, 203). 555 Hier erfolgten in 14 von 26 Fällen (zu 53,85 Prozent) Sofortkorrekturen Kafkas. 556 Dies trifft bei den Substantiven Schlaf (tsch. spaní/n), Auftrag (tsch. nařízení/n), Nachmittag (tsch. odpoledne/n), Zusammenbruch (tsch. zhroucení/n, sesutí/n) und Platz (tsch. náměstí/n) zu.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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häufige Gegenbeispiele aus den Handschriften,557 dass Kafka in allen Fällen von Maskulina ausging und nicht etwa von Neutra, die der Artikel ein im Akkusativ Singular allenfalls indizieren könnte. Fälle editorischer Eingriffe durch Franz Blei558 und Max Brod559 schließen die Schreibung von ‹ein› statt ‹einen› zweifellos von einem österreichischen wie überregionalen Standard aus. Kafkas ,defekte‘ Artikelformen erweisen sich allerdings als sehr weiträumig verbreitet: Denn im Schriftdeutschen besteht für Dialektsprecher aus allen Regionen des deutschen Sprachraums die Schwierigkeit, dass der Indefinitartikel Maskulinum Akkusativ Singular in ihrer jeweiligen Mundart die Form [an], [en], [ən] oder [n] besitzt und daher leicht fälschlich mit standarddeutsch ‹ein› identifiziert werden kann.560 So registriert die dialektbezogene Fehlerlinguistik auch überregional561 das häufige Nichterkennen des Kontrastes [an] etc. – ‹einen› und spricht bei der Verschriftlichung von einen als ‹ein› von Dialekt-Direktanzeige. Doch kann der festgestellte Flexiv-Ausfall auch anders gedeutet werden: Denn der [ə]-Schwund im unbetonten Suffix ‑en, der durch Totalassimilation der Art [ain-ən] > [ain-n] > ‹ein› zum Silbenverlust führt, gehört auch zum Bestand der Allegroformen gesprochener Sprache (Meinhold 1973: 59; Naumann 1989: 189; Schwitalla 32006: 39).562 So könnte man statt von einer dialektalen eher von einer umgangssprachlichen Interferenz sprechen. Wie auch immer: Beide Deutungsmöglichkeiten

557 Vgl. scheint einem der Schlaf besonders tief […] zu sein (D.438/3–4), das ist der Auftrag (S.192/15), Ich hatte den ganzen Nachmittag auf der Gasse verspielt (N2.549/14–15), durch den Zusammenbruch (N1.254/8–9), auf den finstern Platz hinausschauen (V.61/1–2). 558 Blei, der als gebürtiger Wiener sonst gegenüber österreichischen Spezifika z. T. tolerant war (vgl. u. a. Kap. 5.2.1.4 und 5.2.3.5.1), verbesserte den Artikel an der Textstelle ich habe nämlich ein Schwager (N1e.107/2–3=Dv.400/11–12) im Gespräch mit dem Betrunkenen vor dem Abdruck in der Münchner Zeitschrift Hyperion ( Juni 1909). 559 Vgl. exemplarisch entsprechende Stellen im Proceß, Schloß, in den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und der Beschreibung eines Kampfes (Kafka 1953a: 12; 31954: 55; 1964: 25, 296; 1965: 259). 560 Dies trifft für ober- (Zehetner 1985: 114; Merkle 61996: 88; Hörlin 1988: 211–219; Frey 1975: 156; BWB 1925–1940: 645; VBW 1960: 679), mittel- (Spangenberg 1962: 29; Seibicke 1967: 56; Wegera 1977: 141; Hasselberg 1979: 99) und niederdeutsche Dialekte (MBW 1957: 700–701; WFW 1973–2008: 462–463) zu. Nur die rheinpfälzischen, moselfränkischen ([ə], [ε]) und ripuarischen Mundarten ([ene]) kennen keine Formen des Indefinitartikels Maskulinum Akkusativ Singular, die auf [n] auslauten (Henn 1980: 90–91; Bücher 1986: 133). 561 Vgl. Zehetner (1977: 87), Reitmajer (1979: 137–138), Kalau (1984: 113), Hörlin (1988: 220–224), Ammon/Loewer (1977: 60–62), Hasselberg/Wegera (1976: 48), Wegera (1977: 143), Klein/ Mattheier/Mickartz (1978: 101), Niebaum (1977: 64) und Stellmacher (1981: 75). 562 Dass die umgangssprachliche Apokope von [‑en] heute bereits in die Schriftsprache eingedrungen ist, wo gelegentlich einen als ‹ein› realisiert wird (Schwitalla 32006: 39), ist aus diachroner Sicht irrelevant.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

schließen die betrachteten Normverstöße Kafkas aufgrund ihrer weiträumigen Verbreitung von einer Klassifizierung als Regionalismus aus. Dass die Verschriftlichung von einen als ‹ein› dennoch zumindest als ,häufig dialektbedingt‘ angesehen werden kann, lässt sich daraus folgern, dass an mehreren Stellen im Korpus auch das Dativ-Singular-Morphem ‑em beim Maskulinum und Neutrum des Indefinitartikels ausfällt: [mit ein{em}male] (Pv.85/15–16), mit ein{em} winzigen Rucksack (Sv.11/5), in ein{em} lebhaftem engen Gäßchen (Sv.441/25–26), in ein{em} dunklem Rahmen (Sv.15/10).

Lägen hier umgangssprachliche Assimilationsformen vor, dann hätte man im Schriftbild die Allegroform ‹eim›,563 nicht aber ‹ein› zu erwarten (Naumann 1989: 189). So darf man zumindest die letztgenannten suffixlosen Artikel als Dialekt-Direktanzeige betrachten. Demnach identifiziert der Mundartsprecher [an] mit ‹ein› und erkennt den Kontrast [an] – ‹einem› nicht (Kalau 1984: 108, 113). Die dafür ursächliche Formengleichheit von Maskulinum Akkusativ/Dativ und Neutrum Dativ Singular ist regional auf die Dialekte des nord‑/ostober- sowie ostmitteldeutschen Raums564 beschränkt. Hier gelten für den Indefinitartikel Maskulinum generell Nominativ-Akkusativ/Dativ-Systeme (König 16 2007: 154; K. 2).565 Entsprechend gibt die Fehlerlinguistik nur für das beschriebene Areal566 Beispiele, wie sie Kafka hinterließ, als typische Fehlleistungen örtlich sozialisierter Mundartsprecher in der Schriftsprache an.567 Die bewusste Artikelform lässt sich somit als Regionalismus unter der Sigle A1/D[onO+oM+] klassifizieren. Dass Kafka die endungslosen Artikel im Femininum (Nominativ/Akkusativ) einerseits und im Maskulinum bzw. Neutrum (Akkusativ/Dativ) andererseits intuitiv unterschiedlichen Ebenen des Dialekt/Standard-Kontinuums zuwies, ergibt die Synopse der

563 Sie resultiert aus einer Totalassimilation der Art [ain-əm] > [ain-m] > [aim] und findet durchaus an anderer Stelle im Korpus ihren Reflex: mit ei(m>ne)m Berg (Vv.26/20=Dv.84/17). 564 Vgl. Zehetner (1985: 114), Merkle (61996: 88), Kalau (1984: 108), Hörlin (1988: 211–219), Spangenberg (1962: 29) und Seibicke (1967: 56). Erfasst wird von der Erscheinung außerdem das südliche ostfälische Dialektareal. 565 S. hierzu die Karte auf Taf. 5. 566 Vgl. Zehetner (1977: 87), Reitmajer (1979: 137–138), Kalau (1984: 113) und Hörlin (1988: 220– 224). 567 Dass der Ausfall von ‑em beim Indefinitartikel Maskulinum Singular vereinzelt auch in schwäbischen und niedersächsischen Schüleraufsätzen auftaucht (Ammon/Loewer 1977: 60–62; Stellmacher 1981: 75), lässt sich dagegen nicht direkt der Mundart zuschreiben, in welcher der entsprechende Artikel [əmə] bzw. [em] lautet.

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Fehler- und Korrekturhäufigkeit: Zum einen unterlief Kafka der Artikel ein bei Maskulina und Neutra wesentlich seltener (30 Belege) als bei Feminina (56 Belege). Zum anderen führte er im ersten Fall relativ gesehen wesentlich häufiger (in 18 von 30 Fällen bzw. zu 60 Prozent) Korrekturen durch als im zweiten (in zehn von 56 Fällen bzw. zu 17,86 Prozent). Berücksichtigt man zusätzlich die Frequenz der jeweiligen Artikelformen im gesamten Untersuchungskorpus, dann liegt der ,Normsicherheitsquotient‘ bei den Maskulina und Neutra um weit mehr als ein Dreifaches höher als bei den Feminina.568 Dies kann als Indiz dafür gelten, dass Kafka den Artikel ein beim Maskulinum und Neutrum wesentlich deutlicher als Normverstoß (,Dialekt‘) wahrnahm als beim Femininum (Grenzfall des Standards bzw. ,Umgangssprache‘). Dieses Ergebnis korrespondiert mit den hier vorgenommenen Regionalismus-Kategorisierungen. Als wenig wahrscheinlich ist dagegen ein Einfluss des Jiddischen auf die vorliegenden Artikelbildungen zu beurteilen (Nekula 2003a: 100). Zwar stimmt dieses in der Indifferenz der Verwendung von ein – eine/einen/einem mit den relevanten Dialekten überein.569 Allerdings sprechen im Korpus vergleichbare apokopierte, synkopierte und assimilierte Formen der Possessivpronomen, die es in den oberdeutschen Mundarten, nicht aber im Jiddischen gibt, gegen ein Einwirken jiddisch-ethnolektaler Reliktformen.570 5.2.2.3  Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Formen definiter und indefiniter Artikel Die schon im 17. Jahrhundert für das in Prag gedruckte Deutsch charakteristische Verwechslung von Akkusativ- und Dativ-Formen des Definitartikels im Maskulinum und Neutrum Singular (Povejšil 1980: 86) lässt sich auch in Kafkas Manuskript in Gestalt der häufigen, normwidrigen Schreibung von den statt dem und umgekehrt ausmachen (Nekula 2003a: 103–104; Blahak 2005: 27; 2007a: 177). Auch die unbestimmten Artikel im Korpus sind von dieser Erscheinung betroffen. Solche vom Standard der Zeit ausgeschlossenen

568 Es gilt A, B: Häufigkeit der jeweiligen Artikelform im Gesamtkorpus (ohne Varianten) – a, b: Anzahl der begangenen Normverstöße – α, β: Anzahl der erfolgten Autokorrekturen; eine: A (2669) – a (56) – α (10); einen/m: B (2916) – b (30) – β (18). Der Normsicherheitsquotient der Schreibung von einen/m im Verhältnis zu eine errechnet sich wie folgt:   β (18)   B (2916)   a (56) ––––––– x ––––––––––– x –––––––– =  3,67   b (30)  A (2669)   α (10) 569 Der unbestimmte Artikel wird im Singular in allen Genera und Kasus durch die Einheitsform a repräsentiert (Wiener 1893: 53; Birnbaum 1979: 254; Lötzsch 1990: 198; Lockwood 1995: 45). 570 S. hierzu Kap. 5.2.4.2.1.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Verwechslungen571 sind laut Koller (1991: 130) „eindeutig dialektbedingt“. Sie werden durch den formalen Zusammenfall von Dativ und Akkusativ verursacht, der sich bei den Artikelformen maskuliner Substantive durch das Fehlen von ‑m als Dativ-Kennzeichen im reduzierten Formeninventar der Mundart ergibt (Wagner 1987: 86; Merkle 61996: 85). Hier herrscht im Bereich der Artikel „hochgradig[e] Homonymie“ (Kalau 1984: 108). Während [m] und [n] im Dialekt nur Morpho-Phoneme darstellen, besitzen ‹em› und ‹en› in der Standardsprache einen morphemisch distinktiven Charakter. Normwidrige Dativ-Singular-Morpheme bei Definit- und Indefinitartikeln im Maskulinum und Neutrum (den statt dem, einen statt einem) sind laut Kalau (1984: 109) auf Kontrastnivellierung zurückzuführen und signalisieren Dialekt-Direktanzeige. In Kafkas Prosa lauten entsprechende Belege unter den definiten Artikeln: und hörten den Worten […] ebenso ruhig (an>zu) wie d(en>em) Lärm (Pv.61/25), sie hatten sich in einer Ecke auf de(n>m) B(et>od)en […] eingerichtet (Sv.73/7–8), (x>a)n de(n>m) Gitter sich festhaltend (Sv.213/16), an de(n>m) [anderen] {Gespräch} teilzunehmen (Sv.236/23–24), aus de(n>m) Schloß (Sv.274/20), von de(n>m) Mann (Sv.314/4), entsprechend de(n>m) Leid (Sv.443/25–26), die Hände hielt er halb in den Hosengürtel (V.47/2=Dv.104/15), Und reichte ih(m>n) de(n>m) Diener 572

(Vv.117/26),

573

Als er aber nun den Reisenden

sagen wollte (N1e.32/27–33/1), hielten leichte Über-

röcke [(auf>über) den] auf dem geknickten Unterarm (N1v.44/2–3(2)), hielten leichte Überröcke auf de(n>m) geknickten Unterarm (N1v.53/1–2), auf den ihm gebührenden Platz festgehalten (N1.182/6– 7), vor de(n>m) Gelächter des Affentums (N1v.396/25=Dv.305/6), mit den Amt (N2e.301/27), als er jetzt den […] Hungerkünstler lächelnd zunickte (N2e.648/16–18), daß er den Überschwung auf den Fußboden vollzog (Dv.124/7–8), statt selbst de(n>m) Prokurist{en} selbst nachzulaufen (Dv.140/2–3), über de(n>m) hohen steifen Kragen des Rockes entwickelte sich sein starkes Doppelkinn (Dv.169/15–17).

Unter den indefiniten Artikeln findet sich: K. bekam den Auftrag, eine(n>m) italienischen Geschäftsfreund […] einige Kunstdenkmäler zu zeigen (Pv.270/2–5), mit ihm als {einen} Privatmann zu sprechen (Sv.137/24–25(2)), von einen kahlen

571 Vgl. die Berichtigung der von Kafkas Autokorrekturen nicht erfassten Stellen im Heizer (Dv.104/15) und in der Verwandlung (Dv.124/7–8; Dv.164/1–2) durch den Kurt Wolff Verlag sowie entsprechende Eingriffe Max Brods in den Roman-Fragmenten (u. a. Kafka 1964: 127; 1965: 88, 117). 572 Hier ist auch die Verwechslung der Flexionsendungen des Personalpronomens und des folgenden Artikels als Fehlerquelle nicht auszuschließen. 573 Nach dem Textzusammenhang war hier der Singular intendiert.

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viereckigen Sockel aus Quadersteinen herab (N2e.223/10–11), In einen Labyrint? (N2e.264/15), von einen Tuchstück nicht abgeschnitten (N2e.366/18–19).

Dagegen sprechen inkorrekte Akkusativ-Singular-Morpheme bei maskulinen Definitund Indefinitartikeln (dem statt den, einem statt einen) für Kontrastübertreibung. Hier besteht tatsächlich kein Kontrast zwischen mundartlichen und standardsprachlichen Formen. Die Unsicherheit beim Dialektsprecher führt jedoch dazu, daß er m-Formen in jedem Fall für standardsprachlich hält, da er wohl bereits die Erfahrung gemacht hat, daß häufig mundartlicher n-Form eine standardsprachliche m-Form entspricht (Kalau 1984: 110).

Bestimmte Artikel weisen solche normwidrigen m-Morpheme an folgenden Stellen im Korpus auf: {nicht de(m>n) geringsten} Vorteil […] aus der Hand zu geben (Pv.12/3–5), an de(m>n) dachte ich (Pv.80/12), schlug aber den [Her] Mann leicht mit dem Fingerspitzen auf den Arm (Pv.102/9–10), wird dann K. de(m>n) Irrtum merken (Sv.454/19–20), als wüßte er nicht von […] de(m>n) leeren Zimmern (Vv.105/2–4), kaum daß er de(m>n) Mann ansah (Vv.209/5), schlug mit der Hand auf de(m>n) Tisch (Vv.415/11–12), de(m>n) Sprecher wie die Gesellschaft fast gleich überraschend (N1v.173/19–20), de(m>n) treibt nur der Lohn (N1v.340/27), kennen Sie de(m>n) Namen (N2v.22/15), Aber nicht nur d(ieses>as) Blut haben wir […], sondern auch de(m>n) Schlüssel zu ihm (N2v.443/18(1)4*–6*), {als hielte {oder schlüge} ihn jemand (xx>im) Nacken} (N2.521/5–6=N2.539/3–4), daß ich nicht aufsetzen kann de(m>n) Fuß auf die brennende Türschwelle (N2v.545/4–6), de(m>n) Vater […] völlig zu verwirren (Dv.139/27–140/2).

Auch unter den unbestimmten Artikeln lassen sie sich ausmachen: wenn ich eine(m>n) großen Platz zu durchqueren habe (N1v.162/1–2), handelt es sich gar nicht um einem Proceß (Pe.124/24–25), die auf einem kleinen viereckigen Pflasteraufbau gestellt war (N1e.19/11–12), Er hätte […] i(n>h)n in eine(m>n) Winkel gedrängt (Vv.30/16–19=Dv.88/12–15).

In der Frage der regionalen Eingrenzbarkeit solcher Verwechslungen ist erneut die Darstellung bei König (162007: 154; K. 1–4) heranzuziehen:574 Demnach gelten für den

574 S. hierzu Kap. 5.2.2.2.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Definitartikel Maskulinum in den nord‑/ostober‑, ostmittel- sowie niederdeutschen Dialekten Nominativ-Akkusativ/Dativ-Systeme, d. h. es besteht Indifferenz bezüglich der Dativ- und Akkusativ-Kasusendungen, die jeweils [‑en], [‑ən] bzw. [‑n] lauten. Für den Indefinitartikel Maskulinum gilt das Gleiche, allerdings nur in den nord‑/ostober- und ostmitteldeutschen Mundarten. Im westober- und westmitteldeutschen Dialektraum herrschen dagegen entweder Systeme, in welchen der Akkusativ mit dem Nominativ, nicht aber mit dem Dativ formal identisch ist575 oder aber alle drei Kasus-Formen unterschieden werden.576 Hier besteht demnach beim maskulinen Artikel im Singular keine Formengleichheit zwischen Dativ- und Akkusativ-Flexionsmorphemen.577 So können die von Kafka hinterlassenen Verwechslungen von dem/den und einem/einen fehlerlingu­ istisch zu den dialektbedingten Normverstößen gezählt werden, die typischerweise nord‑/ ostober- und ostmitteldeutschen Mundartsprechen im Schriftdeutschen unterlaufen.578 In Schülerheften aus dem mittelbairischen Raum handelt es sich dabei laut Zehetner (1977: 83–84) sogar um „den Grammatikfehler schlechthin“. Er sei darauf zurückzuführen, daß beim Maskulinum der Dativ formal mit dem Akkusativ zusammenfallen kann, so daß eine einheitliche „Objektsform“ resultiert: die Endung [‑n] bei den Begleitwörtern des Substantivs: beim bestimmten und unbestimmten Artikel, beim adjektivischen Pronomen […] und beim stark gebeugten attributiven Adjektiv. Das Verschwimmen des Unterschieds der in der hochsprachlichen Grammatik so klar voneinander getrennten Fälle ist an sich eine Erscheinung der Lautlehre: An nicht tontragender Stelle wird das ursprüngliche ‑m zu ‑n reduziert. Damit fallen dem/den, im/in, einem/einen, großem/großen lautlich zusammen.

Ähnliche Schwierigkeiten sind für die westmittel- und westoberdeutschen Dialekträume nicht typisch.579 Zwar kennt man auch im niederdeutschen Raum den bei Kafka vorgefundenen Fehlertyp (Niebaum 1977: 65–66; Stellmacher 1981: 73–74). Hier wiederum sind Nominativ, Dativ und Akkusativ bei unbestimmten Artikeln aller Genera in einer 575 Dies trifft für die alemannischen, rheinpfälzischen und moselfränkischen Dialekten zu (König 16 2007: 154; K. 3). 576 Dies gilt für die schwäbischen Dialekte (König 162007: 154; K. 4). 577 Zur formalen Distinktion und zum Zusammenfall von Nominativ, Akkusativ und Dativ bei bestimmten Elementen in den deutschen Dialekten s. die Karten auf Taf. 6–8. 578 Vgl. Zehetner (1977: 84, 87), Kalau (1984: 109–110), Koller (1991: 130), Spangenberg (1962: 29) und Seibicke (1967: 55). In den moselfränkischen und ripuarischen Dialekten tritt dieser Fehlertyp nur beim unbestimmten Artikel auf (Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 101). 579 Vgl. Ammon/Loewer (1977: 62), Besch/Löffler (1977: 53–55), Hasselberg/Wegera (1976: 48), Wegera (1977: 140–148), Hasselberg (1979: 98–99) und Henn (1980: 89–90).

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meist endungslosen Kasusform zusammengefallen. Gerade deswegen aber ließen dialektale Interferenzen im Schriftdeutschen ein etwa gleich häufiges Setzen der n- statt der m-Form und umgekehrt erwarten. Der im Korpus dokumentierte charakteristische Anteil von 57,14 Prozent (24 von 42 Belegstellen) weist die normwidrigen n-Formen allerdings relativ deutlich als Direktanzeigen gegenüber den dann hyperkorrekten m-Formen aus. Eine dritte Gruppe von Normverstößen im Bereich maskuliner und femininer Definitartikel ergänzt diese Präzisierung. Offenbar war im System von Kafkas Primärsprache keine formale Kasusunterscheidung im Plural gegeben: Die Setzung von die statt den als Definitartikel Maskulinum/Femininum Dativ Plural lässt sich als charakteristische Direktanzeige den ober‑, westmittel- und niederdeutschen Dialekten580 zuordnen:581 582

K. […] hätte (ei>g)ern sogar die 3 bei den Photographien sich zugewendet (Pv.21/19–21),

klatschte

jemand mit [die] erhobenen Händen (Pv.64/21), {mit} d(ie>er>en) Fäuste fuchtelnd (Pv.261/15–16), aber d(ie>en) Arbeitern (x>w)äre sie nicht zu viel gewesen (N2v.26/5–6).

Normwidrige Dativ-Plural-Morpheme wie in de(m>n) Kanzleien (Sv.275/18) und aus de(m>n) Rändern (N1v.83/11) stellen hingegen Kontrastverschiebungen dar, bei welchen der Gegensatz zwischen dem Einheitsartikel der Mundart und dem schriftsprachlichen ‹den› nicht richtig erkannt und, trotz eines grundsätzlichen Kontrast-Bewusstseins, der falsche Artikel gesetzt wurde (Zehetner 1977: 86; Kalau 1984: 110; Koller 1991: 130). Überblickt man das gesamte Korpus der Artikel-Verwechslungen, die als mundartliche Interferenzen interpretierbar sind, so stellt man fest, dass die vier ausgemachten FehlerTypen gleichzeitig nur in Schriftproben bairischer und ostfränkischer Dialektsprecher zu erwarten wären. Da auch die Möglichkeit eines Einwirkens jiddischer Relikte relativiert

580 Hier lautet der Plural-Einheitsartikel [de], [dε], [di], [dei] oder [d] (Zehetner 1977: 86; Kalau 1984: 110–111; Koller 1991: 130; Frey 1977: 154–156; Wegera 1977: 140; Hasselberg 1979: 98–99; Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 101; Niebaum 1977: 65–66). 581 Anders sieht die Artikelbildung im ostmitteldeutschen Raum aus: In den thüringischen Dialekten gilt im Plural der Definitartikel aller Genera die Unterscheidung [de]/[də] (Nominativ) – [dan]/ [dn] (Akkusativ/Dativ), in den obersächsischen [di] – [de] (Spangenberg 1962: 29; Seibicke 1967: 55). 582 Bemerkenswerterweise edierte Brod diese Stelle unverändert (Kafka 1965: 21).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

werden kann,583 lassen sich diese von Kafka zu gut zwei Dritteln selbst verbesserten Artikel584 zu den Regionalismen des Typs A1/D[onO] zählen. Sie umfassen gut drei Viertel (48 von 62 bzw. 77,42 Prozent) aller normwidrigen Artikel im Korpus. Wo Kafka ansonsten den/die/des statt der oder einer/einen statt eine (jeweils auch umgekehrt) schrieb, dürften ihm dagegen gewöhnliche Flüchtigkeitsfehler unterlaufen sein, die z. T. wohl einem plötzlichen Perspektivenwechsel im Schreibprozess zuzuschreiben sind: und {dann} in ein(er>e) Bierstube gieng (Pv.30/7), von denen der eine[r] (Pv.41/22), {dass} er [kennt] das Innere des Gesetzes nicht (,>k)ennt, sondern nur de(r>n) Weg (Pv.298/27–299/1), trotzdem die Wirtin und Pepi der Herrn natürlich gut kannten (Se.174/11–12), er würde ja doch wieder nur der endlosen Aktenweg gehen (Se.193/13–14), wegen [de(s>r)] alten Beleidigung (Vv.378/15), Ein Herr hielt sich an eine Messingstange {des Wagens fest} (N1v.22/18–19(2)), de(m>n) Sprecher wie der Gesellschaft fast gleich überraschend (N1v.173/19–20), in diesem Fall leider einen || nervös(en>e) aufgeregt(en>e) [Mann] Natur (N1v.220/27–221/1), um einer der Pfeifen zu holen (N1e.235/4), des Hausherrn, de(n>r) Apfel nimmt (N2v.39/20), i(m>n) die dunklen (Nachts>Leere) einen Ort zu finden (N2v.76/1), daß ich einen sofortige Auslaufmöglichkeit habe (N2e.577/11–12), der ich gerade eine neuen ganz genauen Plan ausführen will (N2e.583/12–13).

5.2.2.4  Ellipse definiter und indefiniter Artikel Das gelegentliche Fehlen obligatorischer definiter und indefiniter Artikel in Kafkas Prosa legt vordergründig die Annahme einer Interferenz aus dem Tschechischen nahe, das keine Artikel kennt (Vintr 2005: 16; Štícha 2003: 194). Schlüssig erschiene ein solcher Gedanke nicht zuletzt, da schon Schleicher (1851: 40) im böhmischen Deutsch aufgrund des Sprachen-Kontaktes „eine wahre Scheu vor dem Artikel“ festgestellt zu haben glaubte (Skála 1966a: 90). Überprüft man die lautliche Umgebung der Position graphemisch nicht realisierter Artikel genauer, muss man jedoch zumindest für einen Teil dieser Ellipsen morphologisch wie artikulationsphonetisch motivierte Assimilationsvorgänge regionalsprachlicher Provenienz als näher liegende Interferenzquelle in Betracht ziehen.

583 Zwar besteht auch im Jiddischen beim Definit- und Indefinitartikel im Dativ/Akkusativ des Maskulinums Indifferenz (dem/a mit, den/a ohne Adjektiv); auch der Einheitsplural wird in allen Kasus und Genera durch di ausgedrückt. Allerdings lautet der Dativ Singular des Neutrums dem (Wiener 1893: 53; Gerzon 1902: 51; Weissberg 1988: 265; Lötzsch 1990: 197–198; Jacobs 2005: 172). Kafkas den/dem-Verwechslungen bei Neutra können somit nicht unmittelbar auf das Jiddische zurückgeführt werden. 584 Die Autokorrekturen erfassen 33 von 48 Belegen (68,75 Prozent).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

355

Dies gilt besonders vor dem Hintergrund der in Kap. 5.2.2.1 gemachten Beobachtungen zur Form der Artikel im Korpus. Zum einen ist das Fehlen bestimmter Artikel nämlich dort festzustellen, wo sie im Standarddeutschen in Verschmelzung mit einer Präpositon auftreten: es liege […] in›‹ allgemeinen Interesse (Pe.49/7–8), i(m>n) {vollen} Einverständnis (Pv.309/5), mußte nun doch i(n>m) Pelz hinuntersteigen (Sv.167/20–21), zu›‹ [even] möglicherweise notwendigen augen585

blicklichen Gebrauch (Vv.46/5–6=Dv.103/18–19),

ein Kind in›‹ Kinderwagen (Ve.390/19), was

von›‹ Leben […] noch übrig ist (Dv.19/19–20).

Nekula (2003a: 116–117) fand ähnliche Beispiele in Kafkas Tagebüchern und zog einen Einfluss der tschechischen Syntax in Erwägung. Allerdings deutet die Fehlerlinguistik gerade diesen Typ von Normverstoß überzeugend als Fall dialektbedingter Kontrastnivellierung: Demnach werde der bestimmte Artikel Maskulinum Dativ/Akkusativ sowie Neutrum Dativ im nord- und ostoberdeutschen Raum auf Mundartebene durch [n] repräsentiert. In Präpositionalphrasen, zumal nach Präpositionen, die auf Nasal auslauten, verliere er, begünstigt durch den dialektalen Zusammenfall von [m] und [n], nach an, in und von die Silbenwertigkeit, was zum Ausfall im Schriftbild führen könne (Zehetner 1977: 85; Koller 1991: 169–170).586 Die Reduktion des bestimmten Artikels zu [n] könnte auch ursächlich für seine lautliche progressive Assimilation an ein postponiertes [m] bzw. [n] und seinen Totalausfall in der Schrift gewesen sein: lief {dann mit ›dem‹ Mantel} ins Vorzimmer (Pv.231/5(2)), kannte ich […] alle die vielen Sterne bei›m‹ Namen (N1.70/13–14), kennt er denn alle [...] bei›m‹ Namen (Dv.86/14).

An anderen Stellen scheinen dagegen phonetische Kontraktionen zweier gleicher oder ähnlicher Konsonanten/Silben über Morphemgrenzen hinweg, wie sie Kafka häufig unwillkürlich verschriftlichte,587 für den Artikel-Schwund verantwortlich zu sein. Da bereits deutlich wurde, dass die mutmaßliche morphologische Gestalt der von Kafka

585 Die drei vorangehenden Belege sind auch als normwidrige Setzungen von Akkusativ-Suffixen im Dativ Singular Neutrum des Adjektivs nach Nullartikel (starke Flexion) deutbar (vgl. Kap. 5.2.5.3). 586 Auch im (Ost‑)Jiddischen kann die systemhafte Auslassung des Definitartikels in präpositionalen Konstruktionen mit lokalem Charakter beobachtet werden. Vgl. z. B. in štod (,in der Stadt‘) oder fun šul (,von der Schule‘) (Dyhr/Zint 1988: 197; Geller 2001: 143). 587 S. hierzu Kap. 5.1.3.2, 5.2.1.7 und 5.2.4.1.2.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

mündlich verwendeten Artikel (nord- und ost-)oberdeutschen Charakter besitzt,588 lassen sich die folgenden Textbelege darauf aufbauend analysieren: Hier wäre zum einen eine regressive Totalassimilation eines als [dɐ] oder [də] realisierten Definitartikels Maskulinum Nominativ Singular an ein vorausgehendes Verbalflexionssuffix [‑tə] o. ä. vorstellbar. Eine Verschriftlichung gemäß [‑tə-dɐ]/[‑tə-də] etc. > ‹‑te› ließe insofern folgende Artikel-Ausfälle erwarten: antwortete {der} Bursche (Pv.31/19), sagte {der} Maler (Pv.200/23), sagte (KA>d)er Kaufmann (Pv.234/6–7), den aber (D>d)er Direk. nicht nur verstand (Pv.274/15–16), sagte {der} Kutscher (Sv.162/27–163/1).

Wo demgegenüber der Definitartikel Femininum Akkusativ Singular nach auslautendem Dental phonetisch zu [d] verkürzt auftritt, wäre eine Totalassimilation vom Typ [‑t-d] > ‹‑t› möglich: sich weigert (NA>d)ie Nahrung vorzubereiten (N2v.467/15–16). Beide Artikelformen zugleich sind nur für die Morphologie der bairischen Dialekte charakteristisch.589 Vor dem Hintergrund mundartlicher Formenbildung lässt sich u. U. auch der Ausfall unbestimmter Artikel Maskulinum Nominativ Singular, Femininum Akkusativ Singular sowie Neutrum Nominativ/Akkusativ Singular als Niederschlag phonetischer Assimilationsprozesse in der Schrift erklären, zumal bei einer Artikelform [a], wie sie in den nord‑/ostoberdeutschen Mundarten üblich ist.590 Bedenkt man zusätzlich die bei Kafka nachweisbare stark ausgeprägte Tendenz zur r-Vokalisierung, besonders bei schwachtonigen Silben bzw. im Wortauslaut,591 so ist nicht auszuschließen, dass in den folgenden Belegstellen Assimilationsvorgänge vom Typ [e:ɐ-a]592 > ‹er›, [fy:ɐ-a] > ‹für›, [‑tɐ-a] > ‹‑ter›, [a-a-] > ‹a-›, [ka:‑a] > ‹k›, [tsu:ɐ-u:ɐ] > ‹zu Uhr› und [‑tə-a] > ‹-te› zum Ausfall von Artikeln geführt haben:

588 S. hierzu Kap. 5.2.2.1. 589 Vgl. Zehetner (1977: 85; 1985: 111) und Merkle (61996: 85). Zur Flexion der Artikel in den anderen ober- und mitteldeutschen Dialekten vgl. demgegenüber Kalau (1984: 105–106), Hörlin (1988: 211–216), Frey (1975: 154–155), BWB (1925–1940: 462), VBW (1960: 554), Wegera (1977: 140), Hasselberg (1979: 98), Henn (1980: 89–91), TWB (1991–1999: 422, 430) und Seibicke (1967: 56). 590 S. hierzu Kap. 5.2.2.1. 591 S. hierzu Kap. 5.1.2.11.2 und 5.2.4.1.2. 592 Vgl. auch an anderer Stelle die Verschriftlichung des Personalpronomens er als ‹a›: war (a>e)r sehr beschäftigt (Sv.183/18(2)170*–208*).

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blieb er {ein} wenig stehn (Pv.116/11), blickte er ›ein‹ wenig erschreckt {über die Schulter hinweg} (Pv.176/6–7), Sie sammelt aber auch Cigarrenbinden, diese aber ganz bestimmt für (TA>e)in Tablett (Dv.423/20–22), betrachtete den Ritter ›eine‹ längere Zeit (P.281/11–12), Aus der Quergasse kam {ein} alter Herr heran (N2v.564/19–20), zwangen ihn zu {einer} ausführlicheren Erklärung (Pv.253/3–4), auf ›ein‹ {grosses} Automobil zu (Vv.254/1), Nur der [RichtA] U. machte K.

593

›eine‹ unmittelbare

Freude (Pv.63/2–3), blickte er zu›r‹ Uhr auf (Pe.171/8–9), Es regnete ›ein‹ wenig (N1.43/3; N1.51/3).

Da diese mutmaßlich durch lautliche Assimilation nord‑/ostoberdeutscher Artikelformen begünstigten Ellipsen nur zum kleineren Teil (an elf von 26 Belegstellen bzw. zu 42,31 Prozent) von Kafka aufgehoben wurden, war sein Fehler-Bewusstsein beim Schreiben offenbar gering. Insgesamt kann eine Regionalismus-Bestimmung daher am ehesten unter A2/D[onO] vorgenommen werden. Allerdings lassen sich fehlende Artikel in 27 von 53 Fällen (zu 50,94 Prozent) nicht durch die eben gemachten Beobachtungen erklären: die er in ›der‹ Hand hielt (Pe.13/25), {in einen Winkel bei ›der‹ Tür} (Pv.70/12), die [mich] (uA>e)in unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint (Pv.143/25–26), sondern verfolgte nur (u>d)ie unmittelbare für ihn sehr erfreuliche Wirkung (Pv.173/17–18(1)), nur zu{m} Fabrikanten (Pv.175/5–6), [Das] [Verfahren] Urteil kommt nicht mit einemmal (Pv.289/19), daß er […] auf {ein} Zeichen von ihr warten werde (Pv.316/1–3), {die} unglückseligsten Erfahrungen belehrten ihn nicht (Pv.341/26), [Und ich [ging] {setzte mich [allein] auf} [zur] ›die‹ Ofenbank] (Sv.53/7,78*(2)), bis auf {den} Hinauswurf (Sv.118/20), das ist {ein} schönes Tuch (Sv.123/14–15), [Klamm hat einen Teil seiner Macht gewissermassen auf {den} Herrn Se(tx>kre)tär übertragen] (Sv.183/9–10), durch {die} Art ihrer Antworten (Sv.183/18(1)28*–29*), Für›s‹ Frisieren hat [sie] die Wirtin sogar {sie} eine besondere Anlage (Sv.467/16–17), und {ein} zarter gelblicher Spitzensaum des Hemdes erschien (Vv.292/20–21), Seine [Mü] (ku>ha)lbkugelige Mütze reichte bis zu {den} Brauen (N1v.15/24–25), waren sie oft bis zu›r‹ Tür entgegengelaufen (N1e.259/27–260/1), Immer machst Du {den} gleichen Scherz mit mir (N2v.375/21–22), Das ist wohl alles bis […] [über] [den] {auf} ›dem‹ Abhang […] in den Boden eingegrabene Steine (N2v.507/24–27(3)), durch {das} Labyrint (N2v.622/1–2), in [der Schärfe] ›der‹ {Schlagkraft} ihres Urteils (N2v.639/16–17(3)), daß zwar ›die‹ [die Arbeits-]| (a>A)nstrengung {bei der Arbeit} gering sei (N2v.670/25–26), es klang durch›s‹ ganze Treppenhaus (Dv.139/26), auf{s} höchste beleidigt (Dv.178/12).

593 Vgl. auch anderenorts die vokalische Denotation des Namens K.: K(aA>.) dankte eilig (Pv.278/9–10), saß (ka>K). gleichfalls (Pv.305/10), Aber [koA] {K.} wollte nicht ins Krankenzimmer (Pv.100/22–23).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Es erscheint fraglich, ob Flüchtigkeitsfehler, simples ,Vergessen‘, Perspektivenwechsel etc. einen so hohen Anteil der Artikel-Ellipsen bedingt haben können. Zu ihnen gehören Fälle, bei welchen Kafka die handschriftliche Auslassung in einem Typoskript wiederholte (Dv.86/14) oder nach zwei sich gegenseitig aufhebenden Sofortkorrekturen letztlich zu einer bewussten, doch nicht normkonformen Tilgung des Artikels schritt: Sperr [{den}] Kasten und das Zimmer wieder vorsichtig zu (N1v.249/21–22). In der Summe entsteht der Eindruck, Kafka habe fallweise entweder eine normwidrige Nichtsetzung von Artikeln als ,korrekt‘ empfunden oder aber sei über die Notwendigkeit einer Setzung in Zweifel geraten. Daher könnte man eine systembedingte sparsame Artikelverwendung in Kafkas Primärsprache ins Auge fassen. Der Schriftbefund ließe sich dann am ehesten auf eine Interferenz aus dem Tschechischen zurückführen: Die Schwierigkeiten der unvollkommen bilingualen tschechischen Mehrheit mit den Artikeln des Deutschen (Skála 1991: 139) hätten demnach via Sprachen-Kontakt auch in der Muttersprache der zahlenmäßig schwindenden deutschen Minderheit Prags Spuren in Form einer restriktiven Artikelverwendung hinterlassen können. Auf eine zumindest vage Gruppenspezifik des ArtikelSchwundes deuten vereinzelte, mit Kafkas Beispielen vergleichbare Belegstellen in der Prager Tagespresse594 sowie in der Prosa von Otto Pick und Max Brod595 hin. Von einer Standardzugehörigkeit des Phänomens kann jedoch nicht die Rede sein: Gerade Brod war als Herausgeber von Kafkas postumem Werk bemüht, den Leipziger Verlagen Rowohlt und Wolff in ihren Artikel-Nachträgen596 in nichts nachzustehen.597 Die im vorliegenden Teilkorpus immerhin noch überwiegenden Autokorrekturen Kafkas (in 14 von 27 Fällen bzw. zu 51,85 Prozent) sprechen letztlich für eine Einordnung unter A1/rU(kT)[P] innerhalb der Regionalismus-Typologie. Ausgenommen von dieser Kategorisierung ist das indefinite Numerale ein paar (,einige‘), das im Korpus in der Mehrheit der Fälle ohne anteponierten Indefinitartikel in der Form Ø + paar + Substantiv (Pl.) erscheint.598 Eine besondere Erörterung ist hier nicht zuletzt deswegen angebracht, weil die betrachtete Artikel-Ellipse in bereits lexikalisierter

594 Vgl. in Steiermark (PT 1921: 15), stark zum Kampfe gegen verbohrtes Schulsystem (PP 1921a: 6). 595 Vgl. von ersten bis zum letzten Buchstaben (Pick 1913: 31), was Zeug hält (Brod 1911: 107). 596 Diese wurden in den Texten der Betrachtung (Dv.19/19–20), des Heizers (Dv.86/14) und der Verwandlung (Dv.139/26) vorgenommen. 597 Vgl. Kafka (1953b: 26, 219–220, 308; 31954: 167; 1965: 14, 61, 159; 1967b: 33, 91, 249, 284). Nur eine einzige Stelle (P.63/3) übernahm Brod unverändert in seine Ausgabe (Kafka 1965: 55). 598 Zur folgenden Diskussion und varietätenlinguistischen Einordnung s. Blahak (2011: 32–35; 2014: 44–47).

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bzw. idiomatisierter Form vorliegt und die Frage einer Standardzugehörigkeit neu diskutiert werden muss. Die Analogien zum tschechischen Sprachgebrauch – Ø + pár + Substantiv (Gen. Pl.)599 – wurden in der Forschung bereits wahrgenommen (Čermák 1997: 283; Nekula 2003a: 116; Krolop 2005: 218). Brod (31954a: 300) sah in dieser Erscheinung einen der „,Pragismen‘, die eine Beeinflussung des deutschen Stils durch die tschechische Syntax darstellen“. Im Zuge der Verteidigung seiner Editionspraxis versicherte er: In den Manuskripten verwendet Kafka öfters den Pragismus „paar“ im Sinne von „ein paar“ – er sagt etwa: „nach paar Schritten“ statt „nach ein paar Schritten“. Dort aber, wo er selbst seine Manuskripte zum Druck befördert hat, hat er regelmäßig diesen Fehler verbessert; man wird ihn in keinem der von Kafka selbst veröffentlichten Werke finden (Brod 31954a: 300–301).

Dass diese Behauptung nicht der Wahrheit entsprach, hat bereits Nekula (2003a: 84) nachgewiesen. Brods penibles Bemühen, dieses aus seiner Sicht stigmatisierende ,Schibboleth‘ umfassend zu tilgen, wird gleichwohl an den von ihm postum edierten KafkaSchriften evident. Die quantitative Auswertung der insgesamt 169 Belege von (ein) paar in der Bedeutung ,einige‘ im Korpus ergibt eine deutliche Bevorzugung der Konstruktion ohne (133 Belege bzw. 78,7 Prozent)600 gegenüber derjenigen mit Artikel (36 Belege bzw.

599 Fälle von Silbenschärfung durch vermiedene Vokalverdoppelung – pa(r>a)r (Pv.320/9; Sv.7/3,5*; Vv.239/15; Vv.303/15) – erinnern zwar an das tschechische Schriftbild, sind allerdings vermutlich zufällig und gehören in den Bereich hyperkorrekter Schreibungen als Reflex der r-Vokalisierung in Kafkas mündlichem Sprachgebrauch (vgl. Kap. 5.1.2.11.2). 600 Vgl. hierzu P.22/25; P.35/18; P.37/22; P.39/18,26; P.53/18; P.85/25; P.113/5; P.138/11; P.188/26; P.189/11; P.225/17; Pv.249/8; P.280/26; P.304/8; P.320/9; P.323/25; Pv.355/17,18*; S.22/6; S.23/10; S.30/17; S.40/1; S.41/6,8; S.51/6; Sv.53/7,36*; S.68/23; S.84/4,11; S.142/4; S.176/13; S.186/14; S.235/11; S.259/27; S.261/16; S.263/22,25; Sv.288/3–4,128*; S.298/18; S.304/7; S.328/7; S.353/11; S.359/23; Sv.370/12; S.373/26; S.390/21,26; S.391/12; S.407/11; S.437/3; Sv.450/5(2); Sv.453/6–7; S.457/13; S.467/9,12; S.470/3,23; S.472/13,14; S.476/6; Sv.479/3– 4,210*; S.479/5–6; V.52/12,27; V.101/2; V.155/22; V.157/8; V.165/7; V.232/4; V.238/15; V.265/27; V.272/18; V.283/21–22; V.288/8; V.292/18; V.293/24; V.380/5; V.410/15; N1.145/24; N1.155/3– 4; N1.163/7; N1v.170/16; N1.230/2; N1.238/12,13–14; N1v.383/6–7; N1.409/12; N2.204/7; N2.231/8; N2.236/21; N2.258/3; N2.264/13; N2.267/21; N2.268/6–7; N2.297/7,8,22; N2.299/20; N2.345/4; N2.356/18; N2.376/8; N2.389/10; N2.393/10; N2.415/25; N2.450/14; N2.474/12,15; N2.507/18,26–27; N2.523/23; N2v.531/13–17(1)13*; N2.541/19; N2.575/9,15; N2.576/6; N2v.636/10; N2.641/20; N2.643/12,21–22; N2.647/4,9; D.9/16; D.125/4; Dv.126/25; D.154/4; D.197/23; Dv.318/13; Dv.323/21; D.329/4; Dv.330/24; D.331/6; D.338/18; D.342/18.

360

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

21,3 Prozent).601 Die Vermutung, Kafka sei hier von zwei standardfähigen Varianten ausgegangen, wird dadurch erhärtet, dass an nur insgesamt drei Stellen in den Handschriften Änderungen von seiner Hand nachweisbar sind, bei welchen paar durch Hinzufügung des Artikels ergänzt wurde: hätte man {ein} {paar} solche{r} [Feuerzeuge] Lampen gehabt (V.89/17–18), und haben als Gäste des gleichen Hauses {ein} paar Worte gesprochen (N1.122/2–3), [paar] ein paar bestimmte Schritte (Dv.126/3).

Die Druckgeschichte der in Leipzig (Kurt Wolff ) erschienenen Verwandlung und des in Berlin (Die Schmiede) veröffentlichten Hungerkünstler-Bandes zeigt, dass die Verwendung des artikellosen paar im Deutschen Reich als Normverstoß galt: Hier wurden sämtliche Fälle von Ø + paar + Substantiv (Pl.) um den Artikel ergänzt (D.125/4; D.154/4; D.197/23; D.329/4; D.338/18; D.342/18) oder durch einige substituiert (Dv.318/13). Dass Kafka diese Eingriffe zwar hinnahm, sich in seiner Normauffassung jedoch nicht weiter beeinflussen ließ,602 lässt sich daran erkennen, dass er in der zweiten Hälfte seiner Schaffensperiode in seiner Prosa paar fast ausschließlich ohne Artikel verwendete.603 Kafkas Tagebücher bestätigen diesen Befund: Hier stehen 14 Fällen (34,15 Prozent) von ein paar604 knapp doppelt so viele Belege (27 bzw. 65,85 Prozent) des artikellosen paar605 gegenüber, das nach August 1914 (T.550/5) die alleinige Variante darstellt. Dass es sich um einen in Prag üblichen und auch normkonformen Sprachgebrauch handelte, liegt somit auf der Hand.

601 Vgl. hierzu P.15/12; P.24/8–9; P.39/18; P.54/19–20; P.114/1–2; P.140/5; P.183/8; P.225/17–18; Pv.280/21–22; P.322/4–6; Sv.7/3,82*–83*; V.30/19–20; V.89/17–18; V.114/21–22; V.169/13–14; V.195/18–19; V.208/14; Vv.266/10; V.275/18; V.290/9; V.312/2–3; V.338/17–18; N1.55/8–9; N1.122/3; N1.433/22; N2.213/24; D.126/3; D.147/12; D.155/8–9; D.164/19; D.169/6; D.175/23; D.225/4–5; D.234/18; D.406/2; D.430/22. 602 Anders reagierte Kafka auf Berichtigungen, welche die Konstruktion vergessen an (+ Akk.) (vgl. Kap. 5.2.7.3.3), die Verwendung der Subjunktion bis zum Ausdruck von Vorzeitigkeit (vgl. Kap. 5.2.8.2.1) oder die Setzung der Adjunktion als nach dem Positiv zum Ausdruck von Gleichheit/Ähnlichkeit der Beschaffenheit (vgl. Kap. 5.2.8.3) betrafen. 603 Nach dem Abbruch der Arbeit am Proceß (1915) tauchte ein paar + Substantiv (Pl.) nur noch einmal in einem Prosa-Fragment aus dem Spätjahr 1919/Frühjahr 1920 (N2.213/24) auf, einmal im 1922 entstandenen Schloß-Manuskript (Sv.7/3,82*–83*) sowie zweimal in den Texten des Hungerkünstler-Bandes (D.225/4–5; D.234/18). 604 Vgl. T.116/25; T.124/7; Tv.128/23(1); T.140/16; T.303/10; T.320/21–22; T.349/18; T.350/7; T.550/5; T.626/1; T.629/18; T.653/18; Tv.694/9–10; T.1024/23. 605 Vgl. T.33/17; T.236/9; T.239/3; T.327/22–23; T.376/1; T.385/18; T.410/23–24; T.430/24; T.502/6; T.518/14,24; T.548/19; T.649/15; T.668/8; T.681/15; T.712/15; T.734/1; T.744/2; T.751/12; T.925/8; T.936/17–18; T.983/21; T.986/9; T.1027/19; T.1033/8; T.1051/19; T.1057/9.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

361

In der weiteren Diskussion der Standardzugehörigkeit des betrachteten indefiniten Numerales muss zunächst festgehalten werden, dass sowohl die zeitgenössischen österreichischen Regelwerken (Kummer 31892: 29; Lehmann 71892: 81) als auch Grimm/Grimm (1889: 1391) von einer Verwendung mit Artikel ausgehen. Gleiches gilt für das in Wien erschienene Standard-Wörterbuch von Pinloche (21931: 417). Ein heterogeneres Bild vermitteln dagegen die Einträge in den zeitgleich in Böhmen erschienenen Nachschlagewerken: Während etwa Sterzinger (1931: 685) und Hulík (21944: 257, 331) ausdrücklich auf dem Artikel bestehen, geben Herzer/Prach (1909a: 1049), Macht (21939: 352) und Kumprecht (31940: 137) unter dem Lemma několik diplomatisch paar an, ohne das Indefinitum jedoch in eine Beispielphrase einzubinden. Siebenschein (1944: 133) hingegen führt explizit das bekommen Sie schon für p. Kronen neben etwas mit ein p. Worten abtun an. Der Blick auf die Verlagspraxis zeigt, dass das artikellose paar, wo es in Kafkas Frühwerk Betrachtung auftaucht (D.9/16), von der Zeitschrift Hyperion anstandslos in den Druck übernommen wurde; auch in der veröffentlichten Prosa Max Brods, Otto Picks und Egon Erwin Kischs kommt es vor.606 Insgesamt wird somit deutlich, dass es sich um eine Konkurrenzform zu ein paar handelte, die zu Kafkas Zeit als Teil des Prager regionalen Standards galt und mündlich vermutlich sogar häufiger als ihre ,volle‘ Variante verwendet wurde.607 Auch wenn es nahe liegt, hier das Ergebnis der allgemeinen Übernahme eines tschechischen Phrasenmusters im Zuge von Sprachen-Kontakt zu vermuten (Schuchardt 1884: 120), ist in jedem Fall von Brods Terminus ,Pragismus‘ Abstand zu nehmen. Denn die artikellose Verwendung von paar kann auch außerhalb Prags nachgewiesen werden: so z. B. in der zwischen 1941 und 1944 entstandenen Chronik des Ghettos Łódź/Litzmannstadt des aus Koritschan (Koryčaný, Mähren) stammenden deutschjüdischen Autors Oskar Rosenfeld608 (Riecke 2010: 1035). Da es paar in den Dialekten der deutschsprachigen Randareale Böhmens offenbar nur mit Artikel gab (Schiepek 1899: 442, 488; SDW 1996: 1–2), lässt sich folgern, dass die Form mit Nullartikel für das Deutsch im Inneren des 606 Vgl. in so paar Seiten (Brod 1911: 265), wie ich erst paar Tage im Geschäft hier war – immer schön oben paar Zeilen freilassen – wo du […] in Ruh paar Zeitschriften liest – Und paar Menschen – ich hab nur noch paar Zeilen zu schreiben (Pick 1913: 43, 44, 45, 73), für paar Minuten – Für lumpige paar Kronen (Kisch 51922: 217, 222). Es handelt sich hierbei allerdings in jedem Fall um wörtliche Rede. 607 Hierdurch lassen sich auch Krolops (2005: 218) Zweifel darüber ausräumen, ob Kafkas Verwendung von paar einen Primärbezug oder eine Übernahme deutschböhmischer umgangssprachlicher Formen darstelle. 608 Geboren 1884, zog er erst 1902 nach Wien, wo er als Germanist, Schriftsteller und Journalist arbeitete.

362

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

geschlossenen tschechischen Siedlungsgebietes charakteristisch war, wo der SprachenKontakt u. U. verstärkt tschechische Interferenzen in das gesprochene Deutsch induzieren konnte. Zugleich lässt sich aber auch die Verbreitung in Wien nachweisen,609 etwa durch Belege in Werken Arthur Schnitzlers und Felix Saltens.610 Hier taucht paar allerdings ausschließlich in der wörtlichen Rede von Personen auf, die als ,Wiener Originale‘ gekennzeichnet sind.611 Da weder die zeitgenössischen örtlichen Normkodizes (s. o.) noch Dialekt-Wörterbücher des Wienerischen (Hügel 1873: 116; Jakob 1929: 131) diese Form kennen, dürfte es sich um eine umgangssprachliche Wendung gehandelt haben. Diese konnte eventuell im Zuge der intensiven tschechischen Zuwanderung nach Wien im 19. Jahrhundert per Sprachen-Kontakt eingeführt werden und fand in den Belegtexten als Element fingierter Mündlichkeit Verwendung.612 In der Summe gewinnt die artikellose Numerale paar letzten Endes das Profil eines Regionalismus, der unter der Sigle A2/ rS(kT)[P]+rU(kT)[W] eingeordnet werden kann. 5.2.2.5  Definitartikel vor Personennamen Mit Blick auf die Determination verstand Nekula (2003a: 116) bestimmte Artikel vor Eigennamen in Kafkas Prosa613 als stilisierend und bewusst zur Simulation gesprochener Sprache eingesetzt. Die Haltbarkeit dieser These lässt sich mittels einer Stichprobenuntersuchung anhand des Verschollenen überprüfen. Quantifiziert man alle Definitartikel vor Personennamen im Nominativ, Dativ und Akkusativ614 hinsichtlich ihres Vorkommens in wörtlicher,

609 Nicht dagegen ist paar in den sonstigen bairischen Dialekten Österreichs belegt (WBÖ 1976: 307). 610 Beide waren deutschjüdischer Herkunft. Schnitzler, geboren 1862, lebte von Geburt an in Wien, Salten, geboren 1869 in Budapest, seit seinem ersten Lebensmonat. 611 Vgl. so weit, daß man auf einem elenden Klimperkasten für schäbige paar Kreuzer die heisern Ludern begleiten muß (Schnitzler 1912: 144), wäre ich nur damals um paar Jahre älter gewesen – Weil ich schon paarmal zug’schaut hab’ … (JM 1906). Aufgrund der Nichtverfügbarkeit einer gedruckten Originalausgabe erfolgen die Zitate aus Josefine Mutzenbacher (JM 1906) nach der Edition des GutenbergProjekts (http://www.gutenberg.org/files/31284/31284–h/31284–h.htm, Zugriff am 31.03.2015), in der die Orthographie und die Interpunktion des Originaltextes beibehalten wurden. 612 Laut Volkszählung waren 1880 ca. 25.000 von 627.000 Wienern tschechischer Herkunft. In Niederösterreich (2.101.000 Einwohner) lebten zeitgleich 61.500 Tschechen (Schuchardt 1884: 18). 613 Diese sind zudem für die private Korrespondenz Kafkas und seiner Eltern charakteristisch (Nekula 2002a: 394, 404; 2003a: 62, 73). 614 Personennamen im Genitiv wurden hierbei ausgeklammert, da dieser Kasus im Prinzip weder in der überregionalen Umgangssprache noch in den Dialekten des Deutschen gebräuchlich ist (vgl. Kap. 5.2.3.4).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

363

indirekter oder innerer Rede einerseits und in der Erzählhandlung andererseits, kommt man zu folgendem Ergebnis: Tatsächlich wurden die betrachteten Artikel mehrheitlich (in 28 von 48 Fällen bzw. zu 58,33 Prozent) in wörtlicher, indirekter oder innerer Rede gesetzt, in der ihre Funktion als Mittel der Kolloquialisierung durchaus plausibel erscheint. Allerdings finden sich auch in der Erzählhandlung immerhin 20 Definitartikel vor Eigennamen. Dies lässt den Schluss zu, dass auch Kafkas Primärsprache in der untersuchten Artikelverwendung ihre Spuren hinterlassen hat.615616617618619620621622623624 Personennamen mit Definitartikel Brunelda Delamarche

Erzählhandlung 615

1

10

619

Schubal

2

Robinson

3

(Fräulein) Klara

1

(Karl) Roßmann

617

wörtliche, indirekte, innere Rede 616

11

gesamt 14

618

12

620

7

0

5

623

3

624

4

2 5

621

622

2

0

4

615 Vgl. und sah die Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen (V.294/22–23). 616 Vgl. wegen der Brundelda (V.298/17–18), Das macht der Brunelda solchen Spaß (V.299/9–10), die Brunelda (V.300/4–5; V.309/4; V.310/4,7), hat die Brunelda gesagt (V.300/15), Das war der Brunelda unangenehm (V.301/12–13), hat er es der Brunelda geschenkt (V.303/3–4), bei der Brunelda (V.309/13–14), zur Brunelda (V.310/18), der Brunelda sage ich kein Wort (V.312/12–13). 617 Vgl. Robinson […] bat […] {den} Delamarche (Vv.276/26–277/1), fragte der Polizeimann den Delamarche (V.279/25–26), sah den Delamarche (V.322/5), wie Robinson dem Delamarche […] Mitteilungen […] machte (V.327/16–18), hielt nun […] den Delamarche beim Kopf (V.337/10–11), hörte er den Delamarche (V.338/22), der den Delamarche […] haßte (V.350/15–16), den Dela­marche zu verlassen (V.350/18–19), der den Delamarche […] genau kannte (V.352/17–18), und sahen den Delamarche an (V.362/24). 618 Vgl. immerfort hat sie den Delamarche angesehen (V.305/1), dem Delamarche […] sage ich kein Wort (V.312/12–13). 619 Vgl. den Schubal mit Herr titulierte (V.25/13=D.83/9–10), winkte […] dem Schubal ab (V.35/13=D.93/8). 620 Vgl. hier steh ich dem Schubal immer im Wege (V.14/4–5=D.72/1–2), Der Schubal (V.25/6=D.83/3; V.130/15), wenn dem Schubal etwas vorzuwerfen war (V.32/8–9=D.90/4–5), wenn man ihm den Schubal hingehalten hätte (V.32/26–27=D.90/22–23). 621 Vgl. Befehle […] die er dem Robinson erteilte (V.356/2–3), Karl machte schweigend dem Robinson ein Zeichen (V.357/20–21), befahl er […] dem Robinson (V.362/27–363/1). 622 Vgl. Karl wollte vieles über das Fräulein Klara hören (V.73/19–20). 623 Vgl. Sie sind das Fräulein Klara (V.77/2–3), Wie Sie das Fräulein Klara […] gekränkt haben (V.83/23–24). 624 Vgl. lassen Sie doch sofort den Roßmann frei (V.237/14), mit dem Roßmann reden (V.238/15), der Schlafsaal gehöre dem Karl Roßmann (V.240/24–25), auf den Karl Roßmann warten (V.241/1).

364

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Personennamen mit Definitartikel

Erzählhandlung 625

Herr Jakob

2

Therese Krumpal

gesamt

626

2

627

0

1

0

628

1

629

1

630

1

Herr Pollunder

wörtliche, indirekte, innere Rede

0

1

1

1

Butterbaum

0

1

1

gesamt

20

28

48

Tab. 13:  Definitartikel vor Personennamen in der Erzählhandlung bzw. in wörtlicher, indirekter 625626627628629630 oder innerer Rede im Text des Verschollenen

Erhärtet wird diese Vermutung durch Autokorrekturen, in deren Zuge Kafka Definitartikel tilgte, die er zunächst vor Personennamen gesetzt hatte – Eingriffe, die zu 90 Prozent in der Erzählhandlung erfolgten: 631

rief [der] Hr. P.

(Vv.70/27), Sicher war [der J] Giacomo auch deshalb verärgert (Vv.186/3–4), sagte

der Oberkellner zu (dem>Bes)s (Vv.240/16), [Die] Therese war […] zur Oberköchin hinübergelaufen (Vv.242/13–14), sagte ([dA]>T)herese (Vv.251/11), (der>Ro)binson erfaßte Karls Hand (V.269/26–27), befahl er zuerst [de] Karl zu suchen (Vv.362/27), an dem (d>B)runelda […] nicht das geringste hätte aussetzen können (Vv.367/6–8), [nahm Karl dem Robinson] (Vv.368/17–18).

Nur einmal hingegen ist eine solche Artikel-Tilgung in wörtlicher Rede nachweisbar: muß [di] Brunelda es irgendwie erkannt haben (Vv.306/18–19). Schlägt man diese Autokorrekturen der obigen Statistik zu, ergibt sich ein ausgeglichenes Verhältnis von je 29 bestimmten Artikeln vor Personennamen innerhalb der Erzählhandlung einerseits und innerhalb wörtlicher, indirekter oder innerer Rede andererseits. Derartige aufgrund ihrer sofortigen Streichung als unwillkürlich erkennbare Ansätze zur Niederschrift von Artikeln

625 Vgl. wiederholte der Herr Jakob (V.36/12). 626 Vgl. Da ist ja endlich der Herr Jakob (V.76/17). 627 Vgl. diesem Manne den Herrn Pollunder […] zu entlocken (V.79/21–22), dem Herrn Pollunder […] nichts zu sagen (V.95/8–9). 628 Vgl. Und da weckt mich eben die Therese (V.176/24). 629 Vgl. wie der Lateinprofessor Dr. Krumpal gerade diese Haltung gehaßt hatte (V.153/22–23). 630 Vgl. während er […] sich auf […] den Herrn Butterbaum hatte ausreden können (V.130/18–21). 631 Dies ist Kafkas Abkürzung für Herr Pollunder.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

365

in der betrachteten Position finden sich im Korpus relativ oft. Sie treten z. B. in gleicher Häufigkeit in der Erzählhandlung des Proceß-Fragments auf: 632

mit einer tiefen Verbeugung (deA>K). einlud (Pv.191/13–14), [de] T.

kenne den Fabrikanten nicht

(Pv.194/17–18), als wolle er (d>K). Zeit lassen (Pv.198/11–12), als habe [der] K. eine feine Unterscheidung nicht bemerkt (Pv.203/5–6), sagte (d>K). nur wenig belustigt (Pv.211/3), mit der er [den] K. scharf ansah (Pv.249/12), fragte [der] Block (Pv.260/2), an [d] Block wendete (Pv.268/2–3), benützten sie, um (d>K). Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen (Pv.306/18–20), seitdem­ (d>s)ie K. so erzürnt hatte (Pv.316/22).

Gegenwärtig werden Personennamen in der Deutschschweiz, in Österreich und in Süddeutschland allgemein mit dem bestimmten Artikel benutzt, konkret auf dem Areal der ober- und westmitteldeutschen sowie der unmittelbar angrenzenden ostmitteldeutschen Mundarten (u. a. Meyer 1989: 43; Merkle 61996: 91; Zehetner 42014: 93–94). Dabei ordnet sowohl die Fehlerlinguistik633 als auch die Standard-Grammatik634 das Phänomen der Ebene der regionalen Umgangssprache zu (Eichhoff 2000: 37–38; K. 76). Für Kafkas Zeit darf man allerdings von einer deutlicheren Standardnähe ausgehen: Zwar schrieben die Exponenten der in Österreich schulisch vermittelten Norm (Kummer 3 1892: 91; Lehmann 71892: 29; Willomitzer 61894: 9) vor Personennamen den Nullartikel vor und werteten Definitartikel in gleicher Stellung z. T. explizit als Fehler (Lehmann 1899: 30); im Bereich des Presse- und Verlagswesens635 scheint man die betrachteten Artikel allerdings selbst im Deutschen Reich zumindest in beschränktem Umfang als Grenzfall, in Österreich sogar noch als Teil des Standards betrachtet zu haben: Kafkas Leipziger Herausgeber z. B. tolerierten in der Erzählhandlung des Heizers zwei von drei Artikeln vor Eigennamen (V.25/13=D.83/9–10; V.35/13=D.93/8). Brod übernahm in seine AmerikaAusgabe immerhin noch einen davon (Kafka 1953b: 24, 33), ließ Kafkas Artikelsetzung

632 Hier handelt es sich um Kafkas Abkürzung für Titorelli. 633 Diese wertet die betrachteten Definitartikel im Schriftdeutschen zwar z. T. auch als Direktanzeige des jeweiligen Mundart-Systems, zählt sie aber insgesamt bereits zur süddeutschen Umgangssprache (Zehetner 1977: 119–121; Kalau 1984: 111; Koller 1991: 168; Ammon/Loewer 1977: 63; Besch/ Löffler 1977: 54). 634 Duden (41984: 219) z. B. deutet den Definitartikel auch bei Personennamen ohne Adjektiv oder bei vorangestellter Apposition als ,landschaftlich‘. 635 Bei Kisch (51922: 71, 73–75, 154, 180, 186) kommen die bewussten Artikel dagegen fast nur in wörtlicher, indirekter oder innerer Rede seiner Romanfiguren vor; sie sind daher literarisch stilisierend motiviert.

366

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 15:  Die Verwendung des Definitartikels bei Personennamen im deutschen Sprachraum

im Rest des Manuskripts aber unberührt.636 Entsprechende Belege in der Prager Tagespresse637 erhärten den Eindruck, dass es sich bei dem Phänomen, wo es in Kafkas Prosa

636 Vgl. Kafka (1953b: 32, 64, 83, 239, 241, 255, 277, 282, 290, 291, 301, 303, 335, 337, 341). Lediglich beim Genitiv veränderte Brod punktuell des Delamarche zu Delamarches (z. B. Kafka 1953b: 268). 637 Vgl. daß die Bezeichnung […] dem Papst Sylvester I. ihren Namen verdankt (PT 1921: 9), beim Staatssekretär Dr. Mayer (PP 1921a: 1).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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bei Personennamen im Nominativ, Akkusativ und Dativ außerhalb wörtlicher, indirekter oder innerer Rede auftritt, um einen Regionalismus des Typs A1/rS(d)[O+wM+] handelt. 5.2.3  Substantiv 5.2.3.1  Stammformbildungen mit dem Suffix -n bei schwachen Feminina Die Stammformbildung der Substantive im Korpus weist eine regionalsprachliche Besonderheit auf, die bereits im 17. Jahrhundert in Prag verbreitet war (Povejšil 1980: 44) und in der dialektologischen Literatur wie folgt beschrieben wird: Viele Dialekte haben d[en] Unterschied zwischen Singular und Plural in einer mehr oder weniger starken Gruppe von Femininen auf ‑n- und einigen früh mit ihnen vermischten ‑ā-Stämmen beseitigt, indem die Endung ‑en sich von den obliquen Kasus auf den Nominativ des Singulars ausdehnte (Žirmunskij 1962: 430).

Dieses in den Stamm integrierte erstarrte Flexionsmorphem, das in allen Kasus auftritt (Kalau 1984: 118),638 findet sich in Kafkas Handschriften z. B. an folgenden Stellen: und prüfte die Schärfen im Licht (P.311/19–20), an der (x>K)anten der Fahrbahn (N1v.14/11), Wenn man seine Stimmen unter andere mischt (N1e.149/18), in seiner spätern Eingaben (N1e.222/4–5).

Dass die formale Identität von Singular- und Plural-Suffix jener Feminina in der Schriftsprache v. a. im Nominativ und Akkusativ zu Doppeldeutigkeiten führen kann (Zehetner 1977: 75, 101; Merkle 61996: 94), lässt sich anhand der Editionsgeschichte der obigen Belegstellen nachvollziehen: Die Herausgeber der KKA entfernten zwar das Flexions-n bei seine Stimmen, beließen es dagegen in die Schärfen, weil sie hier offenbar von einer Pluralform ausgingen. Brod hatte dagegen hier einen Singular zu erkennen geglaubt und das n-Suffix getilgt (Kafka 1965: 271), so auch in der Kanten (Kafka 1953a: 9). Und auch Kafka selbst scheint im Schreibprozess aufgrund der Formengleichheit gelegentlich ins Schwanken zwischen Singular und Plural geraten zu sein, wie folgende Autokorrektur illustriert: Die Sorgen […] (ist>sin){d} eben die Sorgen (N2v.66/10–12).

638 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.8.

368

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Da solche Stammformen von den österreichischen Grammatiken der Zeit nur in formelhaften Wendungen oder in einer besonderen Dichtersprache als schrifttauglich anerkannt und sonst der ,Volkssprache‘ zugewiesen werden (Kummer 31892: 16; Lehmann 7 1892: 37; Willomitzer 61894: 18), können sie kaum als Teil des Standards betrachtet worden sein. Lehmann (1899: 28, 30) markiert sie als in Wien verbreitete Normverstöße. Aus diachroner Sicht dürften sie daher als dialektal einzustufen sein, zumal sie in Österreich noch in der Gegenwart, obwohl bereits „im Schrifttum verhältnismäßig stark verankert“ (Ebner 21980: 220), auf der Ebene der regionalen Umgangssprache verharren (Wiesinger 2 2008: 59). Dass das bewusste n-Suffix einmalig aus Kafkas Manuskript in einen Druck des Ernst Rowohlt Verlages gelangte, ist vermutlich dem Umstand zuzuschreiben, dass der dialogische Kontext und die Wiederholung innerhalb wörtlicher Rede eine bewusst kolloquialisierende Verwendung durch den Autor suggerierten: „Du kommst halt immer zu spät!“ – „Wieso denn ich?“ – „Gerade Du, bleib zu Hause, wenn Du nicht mitwillst.“ – „Keine Gnaden!“ – „Was? Keine Gnaden? Wie redest Du?“ (D.10/25–26).

So konnten die Leipziger Herausgeber und später folglich auch Max Brod (Kafka 1967b: 26) das Substantiv guten Gewissens unverändert in ihre jeweiligen Ausgaben von Kafkas Betrachtung übernehmen. Dass Kafka selbst das n-Suffix, wo es ihm sonst im Schreibprozess unterlief, prinzipiell als normwidrig auffasste, erweisen entsprechende Verbesserungen. Berücksichtigt man die von Rowohlt gedruckte, offenbar beabsichtigte Form Gnaden nicht, so erfassen diese die Mehrheit (acht von zwölf bzw. 66,67 Prozent) der Belegstellen: zur Trepp(en>e) {hin} (Sv.162/9(2)15*–16*), leicht die Kerze[nA] hätte auslöschen können (Vv.97/4), die {langen} Geländerstangen einer Brück(en>e) (N1v.33/8), (den>neb)en der Begierd(enA>e) (N1v.340/24), die Folg(en>e) solcher Meinungen ist (N1v.354/23), für die sich ja später leicht eine passende Ausrede[n] finden würde (Dv.128/7–8), da diese Sache[n] irgendwie mit dem Wagner-Herren zusammenhängt (Dv.429/9–11).

Das Verbreitungsareal der Feminina auf ‑en erstreckt sich auf den oberdeutschen Raum und angrenzende Teile der hessischen und thüringischen Dialektareale (Gebhardt 1907: 254; Hörlin 1988: 202, 206; Rosenkranz 1964: 254). „Weitgehendes Eindringen des ‑en in den Nominativ Singularis der Feminina ist besonders für die bairisch-österreichischen Dialekte charakteristisch“ (Žirmunskij 1962: 431); im Wienerischen tritt es mit besonderer Intensität auf. Innerhalb der böhmischen Länder waren die n-Formen im frühen 20. Jahrhundert nur in den bairischen Dialektgebieten verbreitet (Schiepek 1908: 230; Beranek

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1936: 35–37). Wie in den obersächsischen Mundarten waren sie auch im deutschsprachigen Nordböhmen unüblich (Hausenblas 1914: 96–97).639 Aus fehlerlinguistischer Sicht können die hessischen und westoberdeutschen Dialekte aufgrund ihrer Lautungspraxis jedoch von der Betrachtung ausgeschlossen werden; denn hier wird die (prinzipiell vorhandene) Endung ‑en unter Abfall des auslautenden ‑n als [ε] bzw. [ә] realisiert (Žirmunskij 1962: 430–431).640 Verschriftlichungen mit n-Suffix, wie sie im Korpus vorliegen, können hierdurch also nicht interferenziell begünstigt worden sein. Das von Eichhoff (2000: 37; K. 4–75) angegebene bairisch-ostfränkische Areal, in dem auf ‑n auslautende Formen zur regionalen Umgangssprache gehören, kann somit als maßgeblich betrachtet werden, zumal die Fehlerlinguistik auch nur in diesen Mundartgebieten Feminina mit n-Suffix als regional typische Kontrastnivellierungen im Schriftdeutschen verzeichnet.641 Da auch das Jiddische als sprachlicher Hintergrund ausscheidet,642 lässt sich das vorgefundene Phänomen unter A1/D[onO+] in die Regionalismus-Typologie einordnen. 5.2.3.2  Besonderheiten in der Genus-Zuordnung der Substantive Unter den Substantiven fällt im Weiteren eine ganze Reihe durch ihr grammatisches Geschlecht auf. Wenn Kafka ein Salzbrezel […], das er sich zum Bier schmecken liess (Sv.183/18(1)15*–17*) schreibt, erweist sich seine Auffassung von Brezel (d. h. ,kleine Breze‘) als Neutrum diachron als exklusiv für das Einzugsgebiet des österreichischen Deutsch:643 Hier galt das konkurrierend neben die Brezel als Teil des Standards;644 insofern ist es den Regionalismen des Typs B2/rS(d)[Ö] zuzuordnen. Dass Kafka mit dem

639 Dass die Form auch im westniederdeutschen Raum nachweisbar ist (Žirmunskij 1962: 430), kann hier aufgrund der großen räumlichen Distanz zu Prag vernachlässigt werden. 640 Die endungslosen Varianten repräsentieren hier die apokopierten hochdeutsch auf ‑e auslautenden Feminina. 641 Vgl. Lehmann (1899: 30), Zehetner (1977: 75), Kalau (1984: 117–118, 121) und Koller (1991: 98). Entsprechend gehört das Phänomen nicht zu den Fehler-Typologien von Hasselberg/Wegera (1976), Ammon/Loewer (1977) und Besch/Löffler (1977). 642 Wie schon in Kap. 5.1.1.1.8 beschrieben, neigt das Jiddische innerhalb seiner bairischen Züge zur durchgehenden Apokopierung der hochdeutsch auf e auslautenden Substantive (Krogh 2001: 8). S. hierzu auch die endungslose Form der bei Kafka mit en-Suffix gebildeten Feminina red, sach und trep bei Wolf (1962: 159, 162, 186) und Lötzsch (1990: 151, 172). 643 Hierauf wies bereits Krolop (2005: 212) hin. 644 Dies gilt noch für die Gegenwart (ÖWB 241951: 32; Ebner 21980: 48; Ammon u. a. 2004: 137; Zehetner 42014: 79). Die reichsdeutschen Wörterbücher der Kafka-Zeit kennen dagegen nur die Brezel (Fuchs 1898: 32; Duden 71902: 54; Klenz 1904: 32; Heyne 21905: 491; Weigand 51909: 287).

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Neutrum die seltenere Variante verwendete, ergibt sich aus ihrer geringeren Frequenz in den zeitgenössischen österreichischen bzw. Prager Nachschlagewerken.645 Als weiterer ,echter‘ Austriazismus kann das Genus des Substantivs Fauteuil646 betrachtet werden, in dem Kafka ebenfalls ein Neutrum sah: sich in das Fauteuil zu setzen (P.119/4–5), [lachend ins Fauteuil zurück] (Pv.274/13), daß K. sein Fauteuil zurückschieben mußte (P.275/17–18).

Auch hier benutzte Kafka das in Österreich gegenüber dem konkurrierenden Maskulinum seltenere Genus. Seine Zugehörigkeit zum gesamtösterreichischen Standard lässt sich allerdings in zumindest je einem Nachschlagewerk böhmischer (Kumprecht 31940: 114) und serbischer Provenienz (Popović 21886: 161) belegen, jeweils sogar als ausschließlich.647 In der Gegenwart ist das (neben der) Fauteuil auf die österreichische Standardvarietät des Deutschen beschränkt (Ammon u. a. 2004: 235).648 In seiner Proceß-Edition gab Max Brod das Substantiv allerdings als Maskulinum wieder (Kafka 1965: 112, 241), offenbar weil er in Kafkas Genuswahl einen in Deutschland nicht akzeptierten Regionalismus vor sich zu haben glaubte, der in der Summe zur Kategorie A2/rS(d)[Ö] gehört. Einem weiträumiger im süddeutschen Sprachraum gültigen Standard gehören die Genera anderer Substantive an, die sich z. T. auch bereits morphologisch von ihren norddeutschen Varianten unterscheiden: An erster Stelle ist hier der Akt649 zu nennen, den Kafka ausschließlich im Sinne von ,Dokument‘/,Urkunde‘ anstelle von reichs‑/binnendeutsch die Akte verwendete.650 Form und grammatisches Geschlecht haben in der

645 Lediglich Siebenschein (1936–1938: 532) gibt das Neutrum als einziges mögliches Genus an. Sterzinger (1916: 1039) lässt es neben Femininum und Maskulinum gelten. Dagegen beschränken sich Rank (1892: 181), Janežič (41905: 115), Herzer/Prach (1916: 402), Kelemen (231924: 69), Pinloche (21931: 62), Hulík (1936: 401), Macht (21939: 551) und Kumprecht (31940: 68) auf die Brezel. Auch Schroff (1925: 113) und Ristić/Kangrga (1936: 277) gehen von einem Femininum aus. 646 Als Lexem war Fauteuil zu Kafkas Zeit dagegen nicht auf Österreich beschränkt. 647 Die meisten anderen österreichischen Wörterbücher (Rank 1892: 328; Janežič 41905: 224; Herzer/ Prach 1909a: 606; Sterzinger 1921: 25; Kelemen 231924: 113; Pinloche 21931: 129; Hulík 1936: 153; Macht 21939: 230; Siebenschein 1939–1940: 23) sehen Fauteuil dagegen als Maskulinum an und stimmen darin mit ihren zeitgenössischen reichsdeutschen Pendants (Fuchs 1898: 69; Duden 7 1902: 109; Ammon 1903: 74; Klenz 1904: 72; Weigand 51909: 508; Saalfeld 31912: 257) überein. 648 In der Schweiz (Meyer 1989: 136) gilt wie in Deutschland (Duden 242006: 397) das Maskulinum. 649 Vgl. P.114/2; S.97/23; S.99/7; S.100/22; S.101/15; S.103/16; S.112/26; S.113/8,10; S.176/15; S.434/8; S.438/13,17. 650 Zu der Akt in Kafkas Prosa s. auch Nekula (2003a: 98) und Krolop (2005: 212). Zur Geläufigkeit der Form im Prager Schrifttum vgl. Belegstellen in SW (1921a: 3) und bei Kisch (51922: 151).

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Forschung bereits zu Fehlinterpretationen geführt,651 indem das Lexem mit dem zwar morphologisch, nicht aber semantisch identischen reichsdeutschen Akt verwechselt wurde (Thieberger 1967: 324; 1979: 184). Allerdings handelt es sich um keinen ,echten‘ Austriazismus: Zwar führen die österreichischen Wörterbücher mehrheitlich der Akt, die reichsdeutschen dagegen die Akte als ausschließliche Variante an.652 Dass man in Südost-Deutschland jedoch beide Formen in der Schriftsprache verwendete, geht aus einem entsprechenden Eintrag bei Ammon (1903: 40) hervor. Die hier festgestellte Zugehörigkeit von der Akt zum Standarddeutschen in Österreich und Bayern gilt auch in der Gegenwart.653 Beim Substantiv Gehalt (in der Bedeutung ,Einkommen‘/,Lohn‘) ist ein Schwanken Kafkas zwischen Maskulinum und Neutrum zu beobachten, das in gleicher Form auch für das Deutsch des Prager Tagblattes belegt ist.654 ein[en] kleine(n>s) sofortigen Gehalt

×

genügender Gehalt (N1.401/3).

(Sv.152/8).

Die heutige Regelung, nach der das Gehalt gemeindeutsch sei, der Gehalt in Österreich daneben auf standardsprachlicher,655 in Bayern auf umgangssprachlicher Ebene (Zehetner 4 2014: 139) verwendet werde, wird durch österreichische656 und reichsdeutsche Kodizes657 weitgehend auch für die Kafka-Zeit bestätigt. Da Ammon (1903: 81) jedoch beide Genera anführt, lässt sich folgern, dass sich der österreichische und südostdeutsche Standard auch in diesem Fall deckten.

651 Vgl. z. B. die Darstellung bei Weinberg (1963: 453–458). 652 Zum Deutschen Reich vgl. Fuchs (1898: 3), Duden (71902: 10) und Klenz (1904: 9), zu Österreich vgl. Rank (1892: 30), Kelemen (231924: 17), Pinloche (21931: 6), Siebenschein (1936–1938: 65) und Kumprecht (31940: 1). Sterzinger (1916: 127–128) und Ristić/Kangrga (1936: 49) folgen mit die Akte allerdings der reichsdeutschen Norm. 653 Vgl. u. a. Rizzo-Baur (1962: 101), Ebner (21980: 24), Muhr (1995: 214), Ammon u. a. (2004: 24), Duden (242006: 196) und Zehetner (42014: 37). 654 Vgl. gegen sehr guten Gehalt (PT 1921: 30) × Gutes Gehalt (PT 1921: 33). 655 Vgl. u. a. ÖWB (241951: 74), Ebner (21980: 79), Ammon u. a. (2004: 280) und Duden (242006: 348). 656 Kelemen (231924: 132), Pinloche (21931: 200), Hulík (1936: 342), Macht (21939: 472) und Siebenschein (1939–1940: 146) geben beide Varianten an. Herzer/Prach (1916: 113) und Kumprecht (31940: 134) kennen nur das Neutrum, Rank (1892: 382), Janežič (41905: 270), Sterzinger (1921: 347) und Mandrović (21943: 67) ausschließlich das Maskulinum (Plural Gehalte). 657 Heyne (21905: 1064), Paul (21908: 195) und Weigand (51909: 652) führen ausschließlich das Gehalt an.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

In der Belegstelle auf den Fensterbord (D.51/16) fasste Kafka das Substantiv Bord (im Sinne von ,Regal‘/,Ablagebrett‘) als Maskulinum auf.658 Während gegenwärtig das Bord gemeindeutsch ist (Ammon u. a. 2004: 130; Duden 242006: 265), galten diachron andere Verhältnisse: Zwar betrachten die meisten Wörterbücher aus dem Einzugsgebiet des reichsdeutschen und des österreichischen Standards659 Bord ausschließlich als Neutrum; das von Kafka gewählte Maskulinum taucht jedoch durchaus neben dem Neutrum (Sterzinger 1916: 996–997) oder sogar ausschließlich (Ammon 1903: 55; Herzer/Prach 1916: 539) in Nachschlagewerken auf, die die Schriftnorm in Österreich und Bayern repräsentierten.660 Da Brod das Genus bzw. die morphologische Gestalt von Akt, Gehalt und Bord in seiner Kafka-Ausgabe unverändert ließ,661 können alle drei Fälle als Regionalismen des Typs B2/rS(d)[Ö+SoD] betrachtet werden. In dem bei Kafka maskulinen Substantiv Strahn liegt in Genus und Form eine österreichische Variante zum binnendeutschen die Strähne vor: zog immer wieder an einem Bartstrahn (P.134/12), zog an einem Bartstrahn (P.150/14), die Haar662

strähne schütteln sich auf seiner feuchten Stirn (N1.241/14–15).

Brod akzeptierte sie nicht nur (Kafka 1965: 125, 138), sondern verwendete sie auch selbst in seiner Prosa (Brod 1911: 171).663 Bereits Weigand (51910: 982) und Pinloche (21931: 660) nahmen die noch heute übliche664 Zuweisung beider Varianten zum jeweiligen nationalen Standard vor. Einträge von der Strahn/Strähn in österreichischen,665 von die 658 Analoges lässt sich im Korpus für die (gemeindeutsche) Bedeutung ,Schiffsrand/‑deck‘ nachweisen; vgl. ehe ich den Bord betrat (N1.313/1–2). 659 Zum Deutschen Reich vgl. Fuchs (1898: 30), Klenz (1904: 30), Heyne (21905: 469) und Weigand (51909: 268), zu Österreich Pinloche (21931: 53) und Siebenschein (1936–1938: 511), zu Serbien Ristić/Kangrga (1936: 266). 660 Vgl. auch der Bord als zeitgenössische Variante des Standarddeutschen in Rumänien (Schroff 1925: 48). 661 Zu Akt vgl. Kafka (1964: 90, 91, 93, 95, 104, 164, 400, 404), zu Gehalt vgl. Kafka (1953a: 131; 1964: 141), zu Bord vgl. Kafka (1967b: 59). Auch der Leipziger Kurt Wolff Verlag tolerierte die Form der Bord bei der Herausgabe von Kafkas Urteil. 662 Da Strähn in Österreich maskulin ist, bildete Kafka den Plural korrekt als Strähne. Die Herausgeber der KKA korrigierten irrtümlich zu Haarsträhnen (Femininum). Brod hatte das Substantiv dagegen richtig als Maskulinum erkannt (Kafka 31954: 152). 663 Bei Kisch (51922: 98) finden sich stattdessen gemäß reichsdeutschem Usus einige Strähnen. 664 Vgl. ÖWB (241951: 203), Rizzo-Baur (1962: 101), Ebner (21980: 176) und Duden (242006: 975). 665 Teilweise wird daneben auch die Strähne angegeben ( Janežič 41905: 700; Sterzinger 1935: 774; Siebenschein 1944: 812). Vgl. übereinstimmend die südslawische Außenperspektive bei Ristić/ Kangrga (1936: 1416) und Mandrović (21943: 165). Rank (1892: 823) nennt der Strähn neben der Strähnen.

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Strähne in reichsdeutschen Nachschlagewerken666 bestätigen diese Zuordnung. Allerdings gibt Ammon (1903: 184) der Strähn(en) neben die Strähne auch für Bayern als Form der Schriftsprache an. Da der Strahn/Strähn zudem im ostmitteldeutschen Raum auf Mundartebene verbreitet ist,667 kann man insgesamt auf einen Regionalismus des Typs B2/D[oM]+rS(d)[Ö+SoD] schließen. Als auf Prag beschränkt und wohl auch dort eher selten darf demgegenüber Kafkas Auffassung des Substantivs Teuerung668 als Maskulinum gelten: auch ver(lx>bo)t […] der Kohlenteuerung die außerordentlich nötige Lüftung (N1v.367/6). Nur das in Prag erschienene Wörterbuch von Herzer/Prach (1909a: 234) gibt der Teuerung an, sogar als ausschließliche Variante. Alle sonstigen herangezogenen Nachschlagewerke glauben dagegen ein Femininum vor sich zu haben.669 Das Neutrum Laib (Brot) erweist sich ebenfalls als Besonderheit des Standarddeutschen in Prag. Im Korpus konkurriert dieses Genus allerdings mit dem Maskulinum:670 Auf dem Tisch (k>l)ag ein großer Laib Brot (N2v.282/7).

×

nahm aus einem Regal ein Laib Brot 670

(V.157/21).

Während Laib selbst in Grimm/Grimm (1885: 590) nur als Maskulinum verzeichnet ist,671 kennt immerhin Sterzinger (1931: 1488) das Laib als Nebenform zu der Laib. Rank (1892: 544) gibt sogar ausschließlich das Neutrum an. Auch wenn (oder gerade weil) Brod hier mit Blick auf eine überregionale Leserschaft korrigierend eingriff (Kafka 1953a: 144; 666 Vgl. die Strähne als einzige Variante bei Fuchs (1898: 289), Duden (71902: 327) und Paul (21908: 532). 667 Vgl. hierzu die Einträge in TWB (1982: 1636), WOM (1996: 313–314) und Mitzka (1965: 1138– 1139). 668 Als Lexem wird es in der Bedeutung von binnendeutsch ,Preisanstieg‘ eher in Österreich und der Schweiz verwendet (ÖWB 241951: 212; Ammon u. a. 2004: 789). 669 Vgl. Fuchs (1898: 300), Duden (71902: 339), Heyne (21906b: 960), Weigand (21910: 1041), Rank (1892: 847), Janežič (41905: 721), Kelemen (231924: 285), Schroff (1925: 471), Pinloche (21931: 683), Sterzinger (1935: 866), Ristić/Kangrga (1936: 1464), Hulík (1936: 72), Macht (21939: 85), Kumprecht (31940: 340), Mandrović (21943: 170) und Siebenschein (1944–1948: 45). 670 Hier ist nicht völlig auszuschließen, dass der bei Kafka häufige Ausfall der Flexionsendung ‑en beim Indefinitartikel Maskulinum Akkusativ Singular (vgl. Kap. 5.2.2.2) den Eindruck eines Neutrums entstehen lassen konnte. 671 Dies gilt auch für alle sonstigen reichsdeutschen (Fuchs 1898: 153; Ammon 1903: 114; Klenz 1904: 136; Heyne 21906a: 8; Weigand 51910: 8), österreichischen (Herzer/Prach 1909a: 61; Pinloche 2 1931: 310; Hulík 1936: 19; Macht 21939: 18; Siebenschein 1939–1940: 709; Kumprecht 31940: 210) und serbischen/slowenischen Wörterbücher (Popović 21886: 259; Ristić/Kangrga 1936: 930; Pleteršnik 1894: 271; Janežič 41905: 428; Bradač/Preglja 1930: 86; Mandrović 21943: 170).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

1953b: 136), lässt sich Kafkas Genuswahl bei Teuerung und Laib aufgrund der punktuell nachgewiesenen Normkonformität als Regionalismus des Typs A2/rS(d)[P] einstufen. Beim Substantiv Verdienst672 (,Lohn‘/,Gewinn‘) ist wiederum ein Schwanken Kafkas zwischen Maskulinum und Neutrum festzustellen. Dabei implizieren Autokorrekturen, dass er Letzteres als regional markiert betrachtete: reichlichen Verdienst (S.272/1), ein feiner Ver-

×

sie hätten bei dem Verkauf {nicht} auch ihr{en}

dienst (V.146/17), Hast Du irgendeinen Ver-

Verdienst gehabt und zwar ein{en} [recht]

dienst{?} (Vv.277/20–21).

{ärgerlich} grosse(s>n) (Vv.138/7–9), ein gutes Nebenverdienst (Ve.307/4).

Kafka merzte hier einen durchaus standardfähigen Regionalismus aus. Zwar kennt die Mehrheit der österreichischen Nachschlagewerke673 nur der Verdienst.674 Doch führen zumindest Sterzinger (1935: 1111) und Siebenschein (1944–1948: 301) beide Genera als zulässig an. Macht (21939: 584) betrachtet das Neutrum sogar als einzige Variante. Die serbische Außenperspektive, nach der ebenfalls Maskulinum wie Neutrum gültig waren (Ristić/Kangrga 1936: 1584), weist eine gesamtösterreichische Form aus. Brod orientierte sich an den reichsdeutschen Vorgaben, folgte Kafkas Eingriffen und behielt das Maskulinum bei (Kafka 1953b: 120, 126, 239; 1964: 251) bzw. berichtigte das einzige stehen gebliebene Neutrum (Kafka 1953b: 265). Insgesamt kann das Verdienst somit als Regionalismus unter A1/rS(d)[Ö] kategorisiert werden.

672 Nach Lehmann (1899: 28) gehört Verdienst zu den Substantiven, gegen deren Geschlecht Wiener Mittelschüler im Schriftdeutschen häufig fehlten. Das aus seiner Sicht ,korrekte‘ Genus nennt er allerdings nicht. 673 Vgl. Rank (1892: 899), Janežič (41905: 778), Herzer/Prach (1920: 1572), Pinloche (21931: 87), Hulík (1936: 705), Kumprecht (31940: 307) und Mandrović (21943: 183). Zur übereinstimmenden Zuordnung in der Gegenwart vgl. ÖWB (241951: 236) und Duden (242006: 1067; 82009: 246). 674 Das Gleiche gilt für die reichsdeutschen Pendants (Duden 71902: 360; Ammon 1903: 204; Klenz 1904: 252; Paul 21908: 594; Weigand 51910: 1143). Einzig Heyne (21906b: 1184) gibt das als seltene Nebenform zu der Verdienst an.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

375

Des Weiteren dokumentiert das Manuskript, dass Kafka bei manchen Substantiven zwischen zwei jeweils im gesamten deutschen Sprachraum gültigen grammatischen Geschlechtern schwankte, bei Pult etwa zwischen Maskulinum und Neutrum:675676 Sprang [K] {er} hinter den Ausschank(tisch>pult)

×

setzten sich aufs Pult (V.155/8), Oft

(Sv.66/18), hinter den Pult (S.67/4), Er trat an

dr(ücken>ängen) sie sich an [ihren] das Pult

den Pult (V.195/2), bleibt dort nun a(m>n d)en

(N1v.253/2).

676

Pult gelehnt stehn (N2v.266/1–2), sich auf den Pult zu setzen (Dv.117/21–22).

Die Druckgeschichte der Verwandlung zeigt immerhin, dass den Lektoren des Kurt Wolff Verlages das Maskulinum, das sie zum Neutrum verbesserten (Dv.117/21–22), nicht zusagte. Max Brod erschien das Neutrum ebenfalls ,korrekter‘ (Kafka 1953b: 169; 1964: 61; 1967b: 73). Demgegenüber akzeptierte er Kafkas Schwanken zwischen Maskulinum und Femininum im Falle von Abscheu:677 Diese alte Witwe […] hatte keinen eigentlichen Abscheu vor Gregor (D.179/6–9).

×

in den Worten [der Widerwille] der Abscheu (Sv.292/11(2)98*–99*).

677

675 Lehmann (1899: 28) rechnet Pult zu den Substantiven, deren Geschlecht Wiener Mittelschüler im Schriftdeutschen häufig fehlerhaft markierten. Das in seinen Augen ,korrekte‘ Genus gibt er allerdings nicht an. 676 Krolops (2005: 214) Einstufung des Neutrums als Austriazismus ist für Kafkas Zeit zu relativieren: Zwar bevorzugen die meisten Prager Nachschlagewerke (Rank 1892: 684; Herzer/Prach 1916: 647; Hulík 1936: 456; Macht 21939: 613; Siebenschein 1944: 272) einseitig das Neutrum; auch für Kelemen (231924: 234) und Schroff (1925: 424) stellt es die einzige Variante dar. Doch führen Willomitzer (61894: 11), Janežič (41905: 561), Sterzinger (1931: 890) und Pinloche (21931: 452) beide Genera an. Für Kumprecht (31940: 269) und Ristić/Kangrga (1936: 1136) gilt sogar ausschließlich das Maskulinum. Die reichsdeutschen Wörterbücher wiederum lassen entweder beide Genera zu (Ammon 1903: 152; Heyne 21906a: 1214; Paul 21908: 408) oder entscheiden sich für das Maskulinum (Klenz 1904: 189; Duden 71902: 272). Im heutigen Sprachgebrauch hat sich das Neutrum durchgesetzt (ÖWB 241951: 155; Duden 242006: 818). 677 Von den Kodizes im österreichischen Einzugsgebiet lassen Rank (1892: 17), Janežič (41905: 561), Sterzinger (1916: 84), Schroff (1925: 464), Kelemen (231924: 12), Pinloche (21931: 528), Ristić/ Kangrga (1936: 26), Siebenschein (1936–1938: 33), Macht (21939: 125) und Mandrović (21943: 8) nur Maskulinum, Hulík (1936: 95) nur Femininum und Kumprecht (31940: 11) beide Genera gelten. Die reichsdeutschen Nachschlagewerke weisen zumeist allein das Maskulinum aus (Ammon 1903: 38; Klenz 1904: 6; Heyne 21905: 32; Weigand 51909: 13; Sanders 81910: 10). Duden (71902: 3) erkennt allerdings zusätzlich das Femininum an. Auch nach heutiger Regelung sind beide Genera überregional in Gebrauch (ÖWB 241951: 2; Duden 242006: 157; 82009: 223; Zehetner 42014: 34).

376

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Beide Formen finden sich unverändert in seiner Werkausgabe (Kafka 1964: 516; 1967b: 124). Inkonsequent ging Brod dagegen mit Kafkas Variation zwischen Femininum und Neutrum bei Versäumnis um:678 die Folgen meiner Versäumnis (S.375/5), dem Vater […] die [Aufgabe] {Versäumnis}

×

D(e>i)eses Versäumnis (Pv.165/1–2), {das war 678

ein Versäumnis} (N1v.128/5–6).

­verschwiegen (N2v.550/14–15), von seiner Versäumnis (D.118/20–21), bei der kleinsten Versäumnis (D.124/27–125/1), für ihre Versäumnis (Dv.128/26).

Denn er korrigierte das Neutrum einmal zum Femininum (Kafka 1965: 150), beließ es aber an anderer Stelle (Kafka 31954: 13). Auch wenn gerade editorische Eingriffe die Bevorzugung des einen oder anderen Genus als ,hochsprachlicher‘ indizieren, lässt sich in keinem der genannten Fälle von einem Regionalismus sprechen. Gleiches gilt für Substantive, die um 1910 überregional grundsätzlich zwei Genera haben konnten, im Korpus aber nur in einer Variante auftreten, nämlich die Maskulina Karren679 und Pacht680 (sonst auch Feminina), das Femininum Muskel (sonst auch

678 Die zeitgenössischen Nachschlagewerke weisen Versäumnis überregional entweder nur als Femininum aus ( Janežič 41905: 792; Herzer/Prach 1916: 572; Mandrović 21943: 187; Siebenschein 1944–1948: 376; Duden 71902: 363; Klenz 1904: 253) oder akzeptieren beide Genera (Rank 1892: 915; Kelemen 231924: 317; Pinloche 21931: 514; Sterzinger 1935: 1177; Hulík 1936: 440; Ristić/Kangrga 1936: 1610; Ammon 1903: 208; Heyne 21906b: 1237; Sanders 81910: 774), wie dies gegenwärtig üblich ist (ÖWB 241951: 242; Duden 242006: 1077; 82009: 247). 679 Das Femininum die Karre weicht allerdings auch in seiner morphologischen Gestalt vom Maskulinum der Karren ab. 680 Krolop (2005: 218) sieht in der Pacht allerdings eine österreichische Besonderheit. Weigand (51910: 353) gibt die Pacht als hochsprachlich, der Pacht als seltener und mundartlich an.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

377

Maskulinum)681 sowie die Neutra Katheder,682 Knäuel,683 Erbteil und Zubehör684 (sonst auch Maskulina):685 mit seinem Karren (P.53/22), einen zweirädrigen Karren (V.287/21), hier in dem Karren (N1.42/2), mit dem Karren (N2.169/3), bot uns kurzer Hand das Wirtshaus zum Pacht an (S.130/22–23), und setzte den P(reis>ac)ht sehr billig an (Sv.130/24–25(1)), daß wir nicht nur den Pacht richtig zahlen konnten (S.131/25–26), zuckte jede Muskel seines Körpers an ihrem Platz (N1.322/13–14=D.275/11–12), sie rief K. auf das Katheder (S.205/16), dann stieg er auf das Katheder (N2.349/16), ein großes Knäuel (S.73/15), hatte sein kleines Erbteil […] verloren (N2.299/10–12), das Zubehör (S.468/9).

Dabei fehlt im Manuskript im Falle von Polster die in Österreich und Südost-Deutschland neben dem gemeindeutschen Genus (Neutrum)686 mögliche Variante (Maskulinum),687 die etwa Brod (1911: 164, 168) in seiner Prosa verwendete: unter das Polster geschoben

681 Für Weigand (51910: 241) ist Muskel in Österreich ausschließlich Maskulinum, sonst auch Femininum. 682 Katheder kann laut Macht (21939: 192) alle drei grammatischen Genera haben. 683 Lehmann (1899: 28) sieht Knäuel unter den Substantiven, gegen deren Genus Wiener Mittelschüler häufig verstießen, versäumt jedoch, das aus seiner Sicht ,korrekte‘ Genus anzugeben. 684 Weigand (51910: 1339) erkennt beide Genera an, vermerkt aber, in Österreich gelte nur das Neutrum. 685 Zur österreichischen Praxis vgl. Rank (1892: 298, 504, 506, 520, 610, 645, 993), Willomitzer (61894: 11), Herzer/Prach (1909a: 63, 471, 501; 1909b: 958; 1916: 524), Sterzinger (1916: 1618; 1921: 1082, 1106, 1233; 1931: 315, 686; 1935: 1495), Kelemen (231924: 102, 175, 176, 180, 213, 225, 347), Pinloche (21931: 111, 230, 231, 255, 258, 276, 387, 417), Hulík (1936: 130, 136, 220, 429), Siebenschein (1936–1938: 836; 1939–1940: 534, 545, 601, 924; 1944: 134; 1944–1948: 664), Macht (21939: 192, 204, 323, 584) und Kumprecht (31940: 188, 189, 195, 239, 255, 417); zur südslawischen Perspektive vgl. Ristić/Kangrga (1936: 467, 842, 846, 873, 1042, 1090), Janežič (41905: 199, 386, 388, 403, 491, 526) und Mandrović (21943: 52, 95, 119, 127), zur rumänischen Sicht Schroff (1925: 3, 25, 70, 318, 321); zum reichsdeutschen Usus vgl. Sanders (21891b: 95; 81910: 349, 364, 461, 497, 874), Fuchs (1898: 131, 133, 140, 201), Duden (71902: 98, 174, 176, 181, 244, 385), Ammon (1903: 69, 102, 103, 105, 139, 221), Klenz (1904: 116, 118, 122, 170, 267), Heyne (21905: 778; 21906a: 294, 396, 890, 1083), Paul (21908: 284, 285, 295, 396), Weigand (51909: 996, 1007, 1072) und Saalfeld (31912: 421); zum heutigen Sprachgebrauch s. ÖWB (241951: 56, 101, 105, 142, 236), Ebner (21980: 105), Ammon u. a. (2004: 390, 896), Duden (242006: 374, 565, 569, 585, 756, 1145; 82009: 227, 232, 248) und Zehetner (42014: 208). 686 Vgl. Fuchs (1898: 17), Duden (71902: 262), Ammon (1903: 147), Klenz (1904: 182), Heyne (21906a: 1180), Paul (21908: 405), Janežič (41905: 547) und Pinloche (21931: 440). 687 Vgl. Rank (1892: 670), Kelemen (231924: 230), Schroff (1925: 381), Hulík (1936: 370), Macht (21939: 511), Mandrović (21943: 131) und Siebenschein (1944: 223). Zur übereinstimmenden Praxis der Gegenwart s. ÖWB (241951: 151), Ammon u. a. (2004: 583), Duden (242006: 795) und Zehetner (42014: 274).

378

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

(S.126/11), versteckte sie unter das Polster (Sv.117/25(1)). Von einer Einordnung als Regionalismus ist auch in jedem dieser acht Fälle abzusehen. Anderenorts fallen Substantive auf, deren grammatisches Geschlecht zwar Neutrum ist, die jedoch dezidiert menschliche Wesen weiblichen Geschlechts (Mädchen, Fräulein und Weib) bezeichnen. Hier neigte Kafka zu einer „constructio ad sensum“ (Nekula 2003a: 99), indem er das Substantiv durch den Artikel zwar korrekt als Neutrum, durch reflexive Personal‑, Relativ- oder Possessivpronomen aber als Femininum markierte: {einem Mädchen namens Elsa}, die (Pv.30/14–15), [auf ein Dienstmädchen wartete, die] (Pv.38/4), Das Mädchen […], sie brachte (P.99/1–3), daß das Mädchen […] mit ihrem Taschentuch (P.100/10– 12), sagte das Mädchen, indem sie ihren zierlichen Kopf […] neigte (P.102/13–15), Das Mädchen stand […] {nahe bei der} Tür, soweit ihr unbestimmter Blick {erkennen ließ} (Pv.131/20–22), Das Mädchen […]. Weder ihre Jugend noch ihr Körperfehler (P.189/16–19), ein kleines Schreibmaschinenfräulein […], die ihm nicht lange Widerstand leisten sollte (Pe.324/25–26), Die Erscheinung des Mädchens rührte den Gast, ihre Worte waren ihm verdächtig (Sv.7/3,38*–39*), [sagte das Mädchen und entzog dem Gast langsam ihre Hand] (Sv.7/3,71*), [Das Mädchen aus dem Schloss? Gewiss kennen wir sie] (Sv.53/7,32*–33*), wenn man von einem Mädchen sagt, […] daß sie sich dem Beamten nur deshalb hingegeben hat (S.310/14–16), wie verhält es sich mit diesen zwei Mädchen? Die eine (S.387/13–15), Dieses Mädchen […] zieht ihn in ihr Zimmerchen (Sv.404/7,95*–97*), Ein Mädchen wie Frieda aber (,>m)uß immerfort um ihre Stelle besorgt sein (Sv.463/23–24), Eines der Mädchen hatte seit langem einen [schönen] {teueren} Stoff liegen, es war ihr Schatz (Sv.467/26–27), Ein Mädchen aus der Küche sagte mir, sie hätte (V.34/2–3=D.91/25–26), für jenes Mädchen […] saß sie in ihrer Küche (V.41/18–20=D.99/7–9), das amerikanische Mädchen gefiel ihm nicht, trotzdem er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner vorgestellt hatte (V.85/15–17), Da wanderte dieses Mädchen herum […] und er hatte sie doch so unaussprechlich satt (V.93/9–11), von einem Mädchen […], das wahrscheinlich (V.95/12–13), der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und drückte mit der Hand ihre Brust (V.308/21–23), sah Raban das Mädchen […] auf ihrer Bank (N1.37/17–18), sein Glück besteht nur in einem Mädchen und es ist nicht einmal sicher, daß sie ein weißes Kleid trägt (N1.72/3–5), ein Mädchen, in das ich mich verliebt hatte […] unterdessen ich sie in Ruhe betrachten konnte (N1.84/21– 23=N1.150/14–16=D.384/3–5), daß das Mädchen nicht mehr neben mir saß. Sie mußte (N1.98/14–15), Wer ist das Mädchen? Haben Sie sie früher schon gesehen? (N1.127/11–12), das Mädchen kam […]. Sie trug ein schwarzes Kleid (N1.152/7–9), Das Mädchen […], sie war groß (N1.275/24–26), Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte (N1.305/16), Ein fremdes Mädchen […], sie ist von auswärts (N2.275/7–9), greift der Geistliche nach […] einem kleinen Mädchen, knöpft ihr vorn oben das Kleidchen ein wenig auf (N2.281/11–12), von einem jungen Mädchen verwaltet. […] Sie hat nicht so viel Arbeit (N2v.556/19–20), ein Mädchen […]. Sie erscheint mir (D.27/15–17), Wenn ich einem

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

379

schönen Mädchen begegne und sie bitte (D.29/9), das Dienstmädchen […], dankte sie (D.150/19–24), alleinstehendes Mädchen […]? Sie hat sogar ihr Zimmer (D.425/12–13), ich will ja noch gar nicht mit dem Fräulein reden, natürlich will ich sie vorher noch weiter beobachten (P.37/8–9), Dein kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig oder sie verstellt sich (P.131/19–20), ein Ladenmädchen, ein älteres Fräulein […], meist hielt sie den Kopf zur Seite geneigt (N2.325/10–11), eine kurze stumme Ansprache an das Fräulein unten und macht ihr große Vorwürfe (N2.326/7–8), Es war ein ältliches schwaches kleines Fräulein […], sie bedauerte ungemein (N2v.531/13–17(2)15*–17*), Wäre ich mit dem Fräulein allein gewesen, [wäre] so hätte ich sie schon überzeugt (Dv.427/2–3), sagte d(ie>as) (FraA>W)eib […]. Sie hatte ein wenig geschlafen (N1.32/7–8), (a>u)nd drückte dann das Weib so fest an sich, daß sie d(iA>a)s Lämpchen [so hoch] heben mußte (N1.136/21–23).

Dabei lassen mehrfache Korrekturen an manchen Stellen ein momentanes Schwanken des Schreibers zwischen Femininum und Neutrum erkennen: [sagte das Mädchen, d(as>ie>a)s einen Einfall bekommen hatte] (Pv.100/5), mein Mädchen kam, [d(ie>as)] {Sie war} in dem schwarzen Kleide (N1v.86/8–9=Dv.385/18–19). Insgesamt wird deutlich, dass Kafka zur Verwendung des natürlichen Geschlechts neigte und darin keinen Normverstoß sah, denn in nur 14,29 Prozent der Belege brachte er Korrekturen in Richtung des grammatischen Geschlechts an: das Dienstmädchen, welche{s} (Pv.320/8), Ein[e] Mädchen (Sv.51/8), ein Mädchen, […] von dem man sagte (sie>es) sei Klamms Geliebte (Sv.81/17–18), Ein […] Mädchen muß, wenn (sie>es) sich einmal im Ausschank eingelebt hat, keine Künste aufwenden(,>;) solange (sie>es) schön ist wird (sie>es) […] Ausschankmädchen sein (Sv.463/19–23), ein altes Weib, d(ie>a)s auch hätte kommen [müssen] {sollen} (Pv.284/23).

Zudem wollte er fallweise durch nachträgliche Eingriffe das Genus des Nomens ganz bewusst als Femininum verstanden haben: das Fräulein weiß ja von gar nichts, {sie} war seit dem frühen Morgen noch nicht zuhause (Pv.35/25–26), ein kleines Mädchen […] weinte, daß [ihm] {ihr} vor Tränen das ganze Gesicht glänzte (Vv.287/10–11).

Dass Kafka mit diesem für Wien und Prag688 bezeugten Sprachgebrauch auch im Rahmen gemeindeutscher Normauffassung lag, ergibt sich zum einen durch Brods Toleranz,689 zum 688 Zu Wien vgl. Lehmann (1899: 28), Jakob (1929: 15) und Mayr (21930: 172), zu Prag Kisch (1917: 4). 689 Vgl. exemplarisch Brods Proceß-Ausgabe (Kafka 1965: 28, 32, 33, 85, 86, 88, 123, 170).

380

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

anderen durch den Abdruck entsprechender Stellen in Texten Kafkas, die zu seinen Lebzeiten in österreichischen690 und reichsdeutschen Verlagen erschienen.691 Auch Paul (1919: 186–188) weist das Phänomen als überregional in der Schriftsprache verbreitet nach.692 Bestehende Analogien zum Tschechischen693 können somit als zufällig betrachtet werden. Übereinstimmung mit dem Tschechischen weisen gelegentlich auch andere, einer überregionalen Norm des Deutschen zuwiderlaufende Substantiv-Genera auf. In dieser Hinsicht behauptete schon Egon Erwin Kisch (1992: 254), im Deutsch der Prager hätten manche Substantive unter tschechischem Einfluss das Genus ihres Pendants angenommen.694 Allerdings führt eine genauere Betrachtung auch hier zu dem Schluss, dass man es mit zufälligen Parallelen zu tun hat: Zum einen liegen einigen der scheinbar tschechisch beeinflussten Genera695 eindeutig nicht zu Ende geführte Korrekturvorgänge zugrunde:696 daß er jetzt in d(ie>as) Wein[stube]{lokal} gieng, in der Elsa bedienstet war (Pv.38/22–23), Von dem 697

(Gespräch>Rede) der Reisenden (N1v.31/18–19).

Zum anderen scheint noch häufiger ein perseveratives Nachwirken der Genera früher im Text verwendeter Substantive auf nachfolgende den Eindruck eines aus dem Tschechischen entlehnten grammatischen Geschlechts zu vermitteln:

690 Vgl. die Belege D.425/12–13 und D.427/2–3 in Richard und Samuel, veröffentlicht in den HerderBlättern. 691 Beispiele finden sich in der Betrachtung (D.27/15–17; D.29/9), erschienen im Ernst Rowohlt Verlag, sowie im Heizer (D.91/25–26; D.99/7–9) und im Urteil (D.150/19–24), gedruckt im Kurt Wolff Verlag. 692 Er nennt Dichter aus dem gesamten deutschen Sprachraum ( J. W. von Goethe, H. Heine, J. von Eichendorff, E. Schikaneder und L. Tieck), in deren Werken sich an Stellen, wo sich natürliches und grammatisches Geschlecht widersprechen, für das rückwirkende Pronomen das natürliche Geschlecht maßgeblich ist. 693 Die Entsprechungen für Mädchen (děvče, dívka, holka), Weib (baba, ženská) und Fräulein (slečna) sind im Tschechischen Feminina. 694 Als Beispiele führte Kisch das Frühe (tsch. ráno/n) und die Frost (tsch. zima/f ) an. 695 Vgl. Rede (tsch. hovor/m, mluvení/n neben řeč/f, rozmluva/f ) und Weinlokal (tsch. vinárna/f ). 696 Auf diese Möglichkeit wies bereits Nekula (2003a: 98–99) hin. 697 Solche unvollständigen Korrekturvorgänge liegen im Korpus auch Fällen scheinbarer normwidriger Genus-Verwendung zugrunde, die keine Parallelen im Tschechischen haben. Vgl. beispielsweise mit Frieda sprach er in einem besonders achtungsvollen (Ton>Art) (Sv.67/10–11), (In>Vor) der [gegenüberliegenden] Waggon[ecke] (N1v.32/4), [kraft] {infolge} meines [reiferen Verstandes] {gr(o>ö)sse(n>r)en Erfahrung} (N2v.471/10(2)).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

vom Standard abweichendes Genus

scheinbares tschechisches Genus

381

vermutlich perseverierendes 698 Substantiv

Zwischen dem Ausruf und de(r>m) Lied (N1v.220/8)

tsch. píseň/f, písnička/f

Vgl. zuvor: Verbindung mit der Liedzeile (N1v.220/5)

d(er>as) Klagegeheul eines Schakals in der Ferne (N1v.317/14=Dv.270/6–7)

tsch. řev/m (neben řvaní/n, vytí/n, brečení/n)

Vgl. zuvor: [das klagende Geheul] den Klageton (Dv.273/5–6)

während das | übrige Raum (,>v)ollständig von dem ­langen Speisetisch eingenommen war (Pv.321/8–9)

tsch. místo/n (neben prostor/m)

Vgl. zuvor: Es war ein sehr langes aber schmales 699 {einfenstriges} Zimmer (Pv.321/5–6)

Sie übertrieb die Bedeutung de(s>r) Beziehung (Pv.324/19–20)

tsch. vztah/m, styk/m

Vgl. zuvor: daß Fräulein Montag ein gutes, allerdings zweischneidiges Mittel gewählt hatte (Pv.324/18–19)

wird d(as>ie) Wärme hier besser festgehalten als durch ein Doppelfenster (Pv.209/19–21)

tsch. teplo/n

Vgl. zuvor: sagte der Maler zur Verteidigung seines Fensters. „Dadurch daß es nicht aufgemacht werden kann […]“ (P.209/17–19)

wie […] liebenswert ihre Land war (N1e.342/12–13)

tsch. země/f

Vgl. zuvor: nahmen sie von der Heimat [wieder] Abschied (N1v.342/7)

Eine Gedränge der verschiedensten Leute (Pe.57/17–18)

tsch. tlačenice/f, tíseň/f

Vgl. zuvor: K. [ka] [trat] glaubte in eine Versammlung einzutreten (P.57/17)

Tab. 14:  Mögliches perseveratives Nachwirken der Genera früher im Text verwendeter Sub698699 stantive auf nachfolgende

Das Gleiche gilt für weitere normwidrige Genera ohne tschechische Parallelen.700

698 Die Unterstreichungen wurden durch den Verfasser zur Verdeutlichung hinzugefügt. 699 Vgl. auch die umgekehrte ,Genus-Verwechslung‘ in der Textstelle füllte ein[en] mittelgroßes zweifenstriges Zimmer (Pv.57/19–20), die vermutlich auf einen zunächst gedachten Raum zurückgeht. 700 Vgl. hierzu folgende Beispiele: versperrte d(as>en) Wandschrank (Pv.18/10) – vgl. zuvor: Wandschränkchen (Pv.17/24–25); der Schiffer mit der Leidenschaftlichkeit der Schiffervolkes (N1e.357/4– 5) – mögliche Referenz auf Schiffer (Plural); während Frieda d(en>as) Podium wusch (Sv.241/25– 26) – vgl. zuvor: Frieda sollte den Fußboden reinigen (S.204/12–13); er vertraute vollständig dem Handvoll Wachs (N2e.40/14) – mögliche Referenz auf Wachs; ihre || Wachsen hatte vielleicht keine Grenzen (N2e.479/17–18) – vgl. zuvor: Immer stärker wurde sie (N2.479/17), mögliche Referenz auf Stärke; um d(ie>en) Freispruch (Pv.214/4), eine{n} scheinbare{n} Freispruch (Pv.215/3–4), Gegenüber de(r>m) scheinbaren Freispruch (Pv.217/6–7(3)) – vgl. zuvor: Freisprechung (P.205/21,22; P.206/19; P.213/24,25).

382

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Andere ,tschechische Genera‘ wiederum können, auch weil sie Einzelfälle im Untersuchungskorpus darstellen, als Ergebnis plötzlich sich ändernder Erzählperspektiven bzw. Formulierungsabsichten im Vorgang des Schreibens gedeutet werden:701702703704705 vom Standard abweichendes Genus

scheinbares tschechisches Genus

möglicherweise zunächst antizipiertes Substantiv

Die Mutter freute sich natürlich über dies(en>e) Erklärung 702 (N2v.175/7–8)

tsch. vyklad/m (neben vysvětlení/n)

Ausweg, Erklärungsversuch, Vorwand

so dass es bedeutende Aufruhr gab, den man noch am Anschlagen des Wassers […] merken konnte 703 (N1e.83/22)

tsch. vzpoura/f (neben vzbouření/n, rozvíření/n)

Wellen, Bewegung, Unruhe

Sollte das ei(ne>n) Hindernis für seine Aufnahme werden 704 (Vv.398/6–7)

tsch. překážka/f

Hürde, Hinderung, Behinderung

reckte heftig seine Kopf 705 (N1e.60/4)

tsch. hlava/f

Glieder, Arme, Schultern

701 Ähnliche Verschreibungsprozesse liegen auch an Stellen vor, wo der Einfluss des Tschechischen auf ein von der Norm abweichendes Genus auszuschließen ist: wo kein[e] Witz erfordert wird (Vv.14/4) – u. U. Antizipation der Pluralform; als er aus dem Automobil auf das Asphalt trat (Ve.271/6–7) – u. U. Antizipation von Trottoir; d(ie>a)s Orchester (N2v.390/9,11*; vgl. N2v.391/20) – u. U. Antizipation von Kapelle; Der jüngere hatte eine Notizbuch aus der hintern Hosentasche […] gezogen (N1e.30/23–24) – u. U. Antizipation von Notiz. 702 Vgl. z. B. die durchweg normgerechte Verwendung von Erklärung als Femininum im Verschollenen (V.24/12; V.73/13; V.132/16; V.138/13; V.176/14; V.199/23; V.243/18; V.275/11; V.336/26; V.407/10). 703 Hierzu gibt es kein Gegenbeispiel im Korpus. 704 Vgl. u. a. die ausschließlich normkonforme Verwendung von Hindernis als Neutrum im Proceß (P.177/19–20; P.294/2; Pv.355/17,12*,13*). Zur möglichen Deutung des Flexionsmorphems ‑e beim Indefinitartikel Maskulinum Nominativ Singular als Kontrastübertreibung s. Kap. 5.2.2.2. 705 Allein in der Verwandlung findet sich Kopf 34-mal normgerecht als Maskulinum (u. a. D.115/5; D.117/2; D.122/5; D.140/11; D.146/17).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

vom Standard abweichendes Genus

scheinbares tschechisches Genus

383

möglicherweise zunächst antizipiertes Substantiv

ei(ne>n) Bein, die vordere Krempe 706 eines Hutes (N2v.557/20)

tsch. noha/f

Hutkrempe

dieses Einladung […] bedeutete einen Versöhnungsversuch 707 (Pe.50/27–51/2)

tsch. pozvání/n (neben pozvánka/f )

Angebot, Entgegenkommen

Tab. 15:  Mögliche Auswirkungen antizipierter Substantive auf die Verwendung vom Standard706707

deutschen abweichender Substantiv-Genera

Einmalig belegt die korrekte Kongruenz von Artikel und Substantiv, dass ein durch Relativpronomen evoziertes Genus mit Parallele im Tschechischen (tsch. živnost/f neben obchod/m) wohl in Wirklichkeit einem einfachen Schreibfehler entsprang (Nekula 2003a: 99):708 Es war daher ein Geschäft, welche [riesi] in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfasste (Vv.66/6–8). Insgesamt ist nicht von einem Einwirken tschechischer Interferenzen auf Kafkas Umgang mit dem grammatischen Geschlecht der Substantive auszugehen. 5.2.3.3  Numerus 5.2.3.3.1  Fehlende bzw. defekte Plural-Suffixe in allen Genera Bei der Untersuchung der Pluralbildung von Substantiven stößt man in Kafkas Varianten auf Maskulina der starken Deklination sowie Neutra, bei welchen die Setzung des PluralSuffixes ‑e im Nominativ, Genitiv und Akkusativ unterblieb.709 Dass hier nicht etwa Singularformen vorliegen, erweisen die jeweils beigeordneten Artikel, Demonstrativ- und Possessivpronomen, Adjektive sowie indefiniten Numeralia, deren Flexionsendungen deutlich machen, dass im Prinzip Pluralformen beabsichtigt waren:

706 Vgl. z. B. Kafkas sonstige Auffassung von Bein als Neutrum in den Roman-Fragmenten (P.153/11,13; P.193/8; S.119/23–24; V.217/19; V.274/7; V.339/27; V.418/13,14). Zur Möglichkeit, das Flexionsmorphem ‑e beim Indefinitartikel Maskulinum Nominativ Singular als Kontrastübertreibung zu deuten, s. Kap. 5.2.2.2. 707 Vgl. u. a. die Belege für die ausnahmslos normgerechte Verwendung von Einladung als Femininum im Schloß (S.20/17; S.267/2–3,8; S.407/19; S.422/14). 708 Geschäft wird ansonsten im gesamten Verschollenen als Femininum behandelt (V.13/1; V.65/24; V.65/27–66/1; V.67/26; V.78/6; V.81/11,22–23; V.87/22; V.348/14). 709 Zu defekten Substantiv-Pluralendungen in der Proceß-Handschrift s. Blahak (2007a: 179).

384

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

so grosse [er] Vorteil er allerdings sonst bietet (Pv.99/17–18), (x>a)n einem der nächsten Abend (Pv.108/2), Er habe schon […] viele ähnliche Process […] gewonnen (Pe.150/23–24), Die […] Unterbrechung dieser Besuch (Pe.165/4), [auf das Gebiet der Staatsgesetz] (Pv.309/25), Momus schlug einen Akt gegen die Tisch (Se.176/15), Während er die Handschuh über die Finger zog (V.187/23–24), die Schakal (v>a)bzuhalten (N1v.318/6–7), mit der ihre Bericht angehört wurden (N1e.342/3), (di>sc)heinbar unbekümmert um die Tier (N2v.20/7–8), einige Tag (N2e.77/19), aus der kleine M(ei>a)schinenbestandteil herausgerollt waren (N2v.287/3–4), trotz der kriegerischen Erfolg seiner Jugend (N2e.322/4–5), Er war einige Jahr neben mir […] gesessen (N2e.366/11–12), in einen {der} Weg zu bringen (N2v.414/18(3)), Wir Hund(a>e) dagegen (N2v.425/17), mache ich häufig diese Versuch | (N2e.612/23–24).

Eine Pluralbildung mit redundantem e-Flexiv lässt sich dagegen als hyperkorrekt einstufen: hie und da lagen Knäuele von Staub (Dv.177/21). Zwar weisen die endungslosen Pluralformen von Tag,710 Jahr, Hund und Schuh Paral­ lelen zum Jiddischen (teg, jor, hint, schich) auf; da dieses die Mehrzahl von Teil, Tisch und Weg aber mit n-Suffix (tejln, tischn, wegn) bildet,711 lässt es sich als Interferenzquelle vernachlässigen. Stattdessen ist aus Königs (162007: 158) Darstellung zum Plural-e bei Substantiven ersichtlich, dass die in den ober- und westmitteldeutschen712 sowie nördlichen niederdeutschen Dialekten durchgeführte e-Apokope713 Pluralbildungen mit der Endung ‑e im Nominativ, Akkusativ und Dativ714 ausschließt.715 Demgemäß verzeichnet die Fehlerlinguistik nur für die entsprechenden Mundartareale die Übernahme des Null-Allomorphs für den Plural in die Schriftsprache als Dialekt-Direktanzeige.716

710 Zu Tag (Plural) in Kafkas Tagebüchern vgl. Nekula (2003a: 103). 711 Zum Westjiddischen vgl. Beranek (21957: 1968), zum Ostjiddischen Wolf (1962: 124, 181) und Lötzsch (1990: 89, 91, 160, 169, 170, 178). 712 Auch in den südwestlichen niederfränkischen Dialekten ist die e-Apokope verbreitet. 713 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.8 und 5.2.2.2. 714 Dass im Korpus Plural-Substantive auch im Genitiv endungslos bleiben, lässt sich durch dessen Substituierung durch Dativ-Ersatzkonstruktionen in den Substandard-Varietäten des Deutschen erklären (vgl. Kap. 5.2.3.4). 715 Vgl. Zehetner (1985: 107), Merkle (61996: 92), Wagner (1987: 77–78), Hörlin (1988: 207), Frey (1975: 151), Wegera (1977: 151–153) und Hasselberg (1979: 104). 716 Vgl. Zehetner (1977: 101–104), Reitmajer (1979: 136–137), Kalau (1984: 131), Koller (1991: 98), Ammon/Loewer (1977: 68), Besch/Löffler (1977: 58), Hasselberg/Wegera (1976: 50–53), Wegera (1977: 161), Hasselberg (1979: 109), Henn (1980: 79–80), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 92–93) und Stellmacher (1981: 87). Für die südwestniederdeutsch-westfälischen und ostmitteldeutschen Dialekträume sind Kafkas endungslose Pluralformen dagegen nicht charakteristisch (Niebaum 1977).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

385

Abb. 16:  Der Ausfall des Plural-e bei Substantiven (Bsp. Leute) im deutschen Sprachraum

Gegenwärtig gilt das Phänomen in dem ober‑/westmitteldeutschen Apokopierungsgebiet allerdings bereits als Bestandteil der regionalen Umgangssprache, die auf phonetischphonologischer Ebene sekundäre Dialektmerkmale aufweist (Eichhoff 1978: 43; K. 118; Wiesinger 22008: 53, 59). Das fast völlige Fehlen nachträglicher Korrekturen im Korpus717

717 Kafka berichtigte sich in nur einem (5,88 Prozent) von 17 Fällen.

386

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

könnte, auch bei einer geringen Zahl von Belegstellen, ein schwach ausgeprägtes FehlerBewusstsein Kafkas implizieren. Daraus wiederum ließe sich u. U. für seine Zeit auf eine gemäßigte Standardnähe der endungslosen Pluralformen schließen, wenn auch nicht auf ihre Standard-Zugehörigkeit. Dies deutet auch ihr vereinzeltes Vorkommen in der Prager Tagespresse718 und in der Prosa Max Brods719 an. In der Summe zeichnet sich somit ein Regionalismus der Kategorie A1/rU(d)[O+wM+] ab.720 Hinzu kommen weitere Typen ,defekter‘ Pluralendungen, wie sie die dialektbezogene Fehlerlinguistik für den oberdeutschen und rheinfränkischen Raum als charakteristisch betrachtet. Besonders fehlerträchtig scheinen nach Zehetner (1977: 103) Dativ-PluralFormen zu sein, die sich nicht vom Nominativ Plural unterscheiden, der seinerseits oft formal mit dem Singular des Substantivs übereinstimmt. Dialektale Interferenz könne in diesem Fall dazu führen, dass ein Plural-Allomorph aufgrund Übereinstimmung in Mundart und Standardsprache zwar korrekt realisiert, jedoch gleichzeitig das Null-Allomorph aus der Mundart für den Kasus übernommen werde. Solche als Kontrastnivellierung721 interpretierbaren Pluralbildungen, die bereits Lehmann (1899: 29) bei Wiener Mittelschülern tadelte, finden sich auch in Kafkas Manuskript: auf den gespreizten Finger{n} (Pv.105/1), Gespräch mit den Diener (Pe.114/10–11), (r>l)ie(fe>f) er zu den Diener{n} (Pv.117/15–16), drängte sich zwischen zwei Diener{n} […] ins Zimmer (Pv.118/4–6), in den Beratungszimmer (Pe.203/9), mit den Diener{n} (Sv.272/12), und folgte […] den Diener{n} (Sv.432/12–13), von de(r>n) Diener{n} (Sv.435/24–25), unter den Diener{n} (Sv.435/27), der von großen Fenster […] umgeben war (Ve.208/21–22), mit zwei Finger (N2e.248/16–17), an zwei großen Schiebefenster (Ve.255/14).

718 Vgl. z. B. Bekannte Scherz wurden auch heuer wieder in den Hauptstraßen ausgeführt (PT 1921: 6). 719 Dies betrifft allerdings nur die wörtliche Rede; vgl. z. B. die Pluralform die Hausschuh (Brod 1911: 206, 209), die Brod in Kafkas Prosa allerdings nicht für die Drucklegung akzeptierte (Kafka 1953b: 163). 720 Vgl. in Kap. 5.1.1.1.8 die analoge Einordnung des normwidrigen e-Ausfalls im Auslaut von Substantiven im Singular als regional-umgangssprachlich. 721 Vgl. Zehetner (1977: 103), Reitmajer (1979: 136), Kalau (1984: 131), Koller (1991: 98), Frey (1975: 150), Besch/Löffler (1977: 58), Wegera (1977: 161), Hasselberg (1979: 109) und Henn (1980: 80). Nicht charakteristisch ist dieser Fehlertyp für die mittelfränkischen (Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 89–94) und niederdeutschen Dialekte (Niebaum 1977: 76; Stellmacher 1981: 86–87).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

387

Beispiele im Nominativ lauten analog: gewiß auch Ihre Bekannte (.>d)arunter (Pv.50/23), alle sind natürlich meine Bekannte{n} (Dv.35/14–15(1)). Hyperkorrekte Formen dürfen entsprechend dort vermutet werden, wo der Plural starker Substantiva mit einem redundanten n-Suffix gebildet wurde:722 während die andern Kindern (Ve.410/17–18), verlassen wir […] die lehrbedürftigen Kinder[n] (N1v.347/19–21), und nun waren es besonders die Kindern (N2e.384/22=Dv.334/10), sahen die Kindern staunend (N2e.385/2=Dv.334/13), und dann die Kinde(rn>r) […] verständnislos blieben (N2v.396/25–27=Dv.346/5–7).

Besonders gilt dies bei Substantiven, deren Plural formal identisch mit dem Singular ist: an [den] {jedem der} zwei großen Fenster{n} (Pv.140/10), Boote [mit [PA]] der Ozeandampfern (Vv.27/3=Dv.84/27). Die mutmaßlichen Direktanzeigen (14 Belege bzw. 66,67 Prozent) und Hyperkorrekturen (sieben Belege bzw. 33,33 Prozent) stehen dabei in einem quantitativ charakteristischen Verhältnis. Auch wenn Wiesinger (22008: 59) Konstruktionen vom Typ mit die Kinder gegenwärtig bereits der österreichischen Umgangssprache zuordnet, gilt Gleiches nicht zwangsläufig für das frühe 20. Jahrhundert. Zum einen zeigt Kafkas mehrheitliche (wenn auch nicht umfassende) Selbstkorrektur der Kontrastnivellierungen (in acht von 14 Fällen bzw. zu 57,14 Prozent), dass er einen Normverstoß wahrnahm. Auch die Stellungnahmen der zeitgenössischen österreichischen Regelwerke723 und die editorischen Eingriffe, die Kafkas Herausgeber im Bereich der Plural-Suffixe vornahmen,724 sprechen dafür, dass man den vorliegenden Regionalismus unter A2/D[O+wM+] mundartlichen Interferenzen zuordnen sollte.

722 Als solche sind sie allerdings überregional verbreitet (Zehetner 1977: 101, 103; Reitmajer 1979: 137; Koller 1991: 98; Ammon/Loewer 1977: 68; Besch/Löffler 1977: 58; Hasselberg/Wegera 1976: 50; Henn 1980: 80; Niebaum 1977: 76; Stellmacher 1981: 86–87). Laut Kalau (1984: 132) lasse sich dieser Fehlertyp dadurch erklären, dass der Mundartsprecher das Dativ-Allomorph ‑en, das er aus Versatzstücken kenne, in den Nominativ übertrage und es dadurch zu einer Kontrastübertreibung komme. 723 Willomitzer (61894: 15) und Lehmann (1899: 28–29) z. B. sehen in der Pluralbildung der starken, auf ‑er endenden Maskulina und Neutra im Dativ ein besonderes Fehler-Potential. 724 Vgl. entsprechende Korrekturen der Leipziger (Dv.84/27) und Berliner (Dv.334/10; Dv.334/13) Verleger Kafkas sowie Brods Eingriffe im Text seiner Amerika-Ausgabe (Kafka 1953b: 25, 181, 221, 325).

388

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Als Fehler-Potential ist ferner die Endung ‑n in den obliquen Kasus bestimmter Maskulina zu betrachten. Der Ausfall der Plural-Suffixe ‑en bzw. ‑n im Korpus darf insofern als Direktanzeige betrachtet werden:725 gegen alle Vorschrift (Pe.10/2), noch ärgere Beleidigung{en} verzeihen (Pv.104/1), dies{e} [alles] {Behandlung der Advokat} (Pv.153/20–21), zu den höhern Gericht weitergeleitet (Pe.214/8), um wenigstens einige Arbeit noch fertigzubringen (P.272/24–25), ein Album der städtischen Sehenswürdigkeit{en} (Pv.273/11), in (wi>de)n wichtigsten Angelegenheit (Sv.101/26), auf den verschiedensten Versteigerung (Ve.57/6–7), an dienstfreien Abend (Ve.187/15), an solchen Abend{en} (Vv.187/20–21), die Namen der Aufgenommen (Ve.404/15–16), von kleinen wenigstens nicht vollständig erwarteten Unregelmäßigkeit{en} (N1v.183/4–5), an den Erinnerung der Jugend (N1e.391/7–8), von einem Mann und zwei Frau (N1e.410/25), Mit Ziffer und mit Statistiken (N1e.424/10), von allen Vetter war er mir der liebste (N1e.425/10–11), Manche Schatten der Abgeschieden (N2e.33/20), in überschwänglichen Augenblick{en} (N2v.426/5–6), im Laufe von 2, 3 Abend (Dv.126/27–127/1), mit einer Schüssel 726

hochgeschichter Kartoffel (Dv.182/11–12).

Diesem Fehler-Typus gehört auch der Ausfall der Pluralendung ‑(e)n im Nominativ an: ob die Verhandlung noch lange dauern werden (Pe.121/4), wie die Angelegenheit{en} des Kaufmanns stünden (Pv.239/7–8), Die andern Herr (Ve.26/7–8), Dadurch verschlossen sich mir aber ihrerseits die Erinnerung{en} (N1v.391/11–12), Die Erfindung leisten alles (N2e.96/15), als ob di(es>e) Wohnung | im ersten Hof […] besetzt seien (N2v.356/20–22), die zwei Frau waren beim Herd (N2e.368/1–2), die Änderung ergaben sich (N2e.640/11–12).

Die Übereinstimmung der Kasus-Formen im Plural kann außerdem im Dativ zu Mehrzahlbildungen führen, die fälschlich die Nominativ-Form annehmen: indem er den Leute mit der Hand abwinkte (Pe.60/17–18), {mit} d(ie>er>en) Fäuste fuchtelnd (Pv.261/15–16), ein {grosses} Dreieck von Kerzenlichter{n} (Pv.280/9–10), d(ie>en) Gäste [aushorchen] {zuhören} (Sv.132/6), wir tun alles Mögliche, den Leute im Zwischendeck die Fahrt möglichst zu erleichtern (Ve.44/17–19=Dv.102/3–4), dann werden wir von Männer […] {abgelöst} (Vv.393/23–24), {auf den Räder} (N1v.44/9), in unseren Dörfer (N1e.352/24), von Ihren Pläne abhalten (N1e.415/7–8),

725 Vgl. entsprechende Angaben bei Zehetner (1977: 103), Hasselberg/Wegera (1976: 50), Wegera (1977: 161), Hasselberg (1979: 109) und Henn (1980: 80). 726 Vgl. einen Beleg dieses Fehler-Typs in SW (1921b: 6): gute Ackerbauer aus ihnen zu machen.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

389

seit 40 Jahre (N2e.327/1), unter den zweifellosen Verdienste (N2e.571/21), in Wälder{n} (N2v.580/11), mit ausgebreiteten Arme (Dv.166/17), die Begierde nach weiten Reise (Dv.422/5–6), von fremden Männer{n} in ein Automobil gedrängt (Dv.428/15–16).

Kalau (1984: 131) spricht hier insofern von Dialekt-Direktanzeige, als bei korrekter Umsetzung des Plural-Allomorphs in der Schriftsprache das standardsprachliche Kasus-Allomorph nicht realisiert werde.727 Dagegen lassen sich Fälle, in welchen Substantiv-Pluralendungen normwidrig von ‑e zu ‑en erweitert werden, als Kontrastübertreibungen auffassen: {womit} natürlich {nur} höhere Beamten […] {gemeint sind} (Pv.155/11–12), dein gutes Mittel, wertvolle Beamten […] an sich zu fesseln (Pe.334/21–22), alle negativen Kräft(en>e) (N2v.199/10–11), reichten einander die Händen (N2e.368/7), d(en>ie) {schon} bestehenden Lufthunden (N2v.450/1), die ersten Worten (Dv.166/20–21).

Kalau (1984: 132) erklärt solche Fehler damit, dass der Mundartsprecher das KasusAllomorph, das er aus Versatzstücken kenne, verallgemeinere und es in den Nominativ übertrage.728 Kafka registrierte im Schnitt nur bei jedem vierten (bei zwölf von 49 bzw. 24,49 Prozent) der genannten Plural-Suffixe einen Normverstoß. Da sowohl der Kurt Wolff Verlag (Dv.126/27–127/1; Dv.166/20–21; Dv.182/11–12) als auch Max Brod729 den im Manuskript verbliebenen Rest an die geltende Norm anpassten, muss man auch hier von einer morphologischen Interferenz auf Mundartebene ausgehen, die als Regionalismus unter A2/D[O+wM+] verzeichnet werden kann. Die Beschränkung der hier untersuchten ,defekten‘ Substantiv-Plural-Suffixe auf das zuvor bereits umrissene ober‑/westmitteldeutsche Dialektareal ergibt sich nicht zuletzt ex negativo: Für den niederdeutschen Dialektraum sind Normverstöße vom Typ ,Null-Allomorph statt ‑n im Dativ Plural‘, ,Null-Allomorph statt ‑en im Genitiv, Dativ und Akkusativ Plural‘ sowie ,Pluralendung -e statt -en im

727 Vgl. Ammon/Loewer (1977: 68), Hasselberg/Wegera (1976: 50), Wegera (1977: 161), Hasselberg (1979: 109), Henn (1980: 80), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 92) und Stellmacher (1981: 86). 728 Vgl. Reitmajer (1979: 137), Ammon/Loewer (1977: 68), Besch/Löffler (1977: 58), Hasselberg (1979: 109) und Henn (1980: 80). Nekula (2003a: 103) schließt daneben auch die Deutung als „Anlehnung an produktive Typen“ nicht aus. 729 Vgl. exemplarisch entsprechende Stellen in Brods Amerika-Ausgabe (Kafka 1953b: 24, 39, 50, 163, 181, 221, 310, 320, 325).

390

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Dativ‘ nämlich nur bedingt charakteristisch;730 die durch ihre geringere Zahl (13 von 70 Belegen bzw. 18,57 Prozent) als Hyperkorrekturen ausgewiesenen Normabweichungen etwa treten im niedersächsischen Sprachraum als Dialekt-Direktanzeige auf (Stellmacher 1981: 86, 89); im westfälischen Raum herrschen überhaupt andere Fehler-Typen731 vor (Niebaum 1977: 76). 5.2.3.3.2  Plural-Suffigierung auf -e bei Fremdwörtern Die Bildung der Mehrzahl von Balkon und Lampion mit dem Suffix ‑e wurde bereits von Krolop (2005: 212) in Kafkas Prosa ausgemacht und als Austriazismus eingestuft. Nekula (2003a: 103) entdeckte diese Formen auch in Kafkas Korrespondenz. Belege für den Plural Balkone finden sich im Korpus an folgenden Stellen: Die vielen Balkone ringsherum (V.307/23–24), Die meisten Balkone waren finster (V.320/11–12), wie sich alle Balkone von neuem belebten (V.321/21–22), auf den Einfassungen der Balkone (V.326/17), Die Leute […] sahen […] die Balkone (N1.13/4–6=N1.44/10–12).

Die von Krolop vorgenommene Einschränkung auf Österreich kann für Kafkas Zeit allerdings nicht als gesichert betrachtet werden, denn die in Cisleithanien vermittelte schulische Norm sah die Pluralbildung mit ‑s vor (z. B. Willomitzer 61894: 236). Dennoch behielt der an der reichsdeutschen Praxis orientierte Brod Kafkas Balkone bei (Kafka 1953a: 7; 1953b: 265, 276, 277, 281). Er konnte sich dabei darauf berufen, dass beide Plural-Suffixe ohne regionale Markierung von zeitgenössischen reichsdeutschen732 und österreichischen733 Nachschlagewerken als normkonform anerkannt wurden.734 Kafka benutzte demnach offenbar eine von zwei Varianten, die bei überregionaler Gültigkeit in Österreich die geläufigere war. Als Regionalismus kann sie gleichwohl nicht betrachtet werden.

730 Das Gleiche gilt, jeweils im Nominativ und Akkusativ, für die hyperkorrekten Erscheinungen ,Pluralendung ‑n statt Null-Allomorph‘ bzw. ,Pluralendung ‑en statt ‑e‘. 731 Hier werden v. a. normwidrige Pluralbildungen mit dem Suffix ‑n nach l sowie generell mit den Suffixen ‑s und ‑er registriert. 732 Vgl. z. B. Sanders (21891a: 127), Duden (71902: 34), Weigand (51909: 143) und Saalfeld (31912: 80). 733 Vgl. u. a. Sterzinger (1916: 650), Pinloche (21931: 25) und Siebenschein (1936–1938: 295). 734 Rank (1892: 119), Ammon (1903: 49), Kelemen (231924: 45), Macht (21939: 7) und Kumprecht (31940: 43) kennen sogar nur den Plural auf ‑e.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

391

Anders stellt sich die Sachlage im Falle von Lampion dar: Hier bildete Kafka die Mehrzahl sowohl mit dem Suffix ‑s, das die einzige Variante in zeitgenössischen reichsdeutschen Wörterbüchern darstellt,735 als auch mit dem offenbar österreichischen ‑e:736 kaum sind die Lampions verlöscht (N1.348/12).

×

{schwenkten} auf hohen Stangen Lampione (Vv.322/1).

Max Brod vereinheitlichte die Pluralendung zugunsten der im Deutschen Reich gängigen Praxis (Kafka 1953b: 277). Trotz der bis heute in Österreich bestehenden Möglichkeit, beide Suffixe im Schriftdeutschen zu benutzen (ÖWB 241951: 115; Ebner 21980: 117), ist die österreichische Markierung von Lampione somit evident. Insofern kann die Pluralform als A1/rS(d)[Ö]737 zu den Regionalismen schriftsprachlicher Qualität gezählt werden. Schließlich findet sich im Korpus noch ein singuläres Beispiel für ein Plural-e beim Substantiv Motor: Schon fangen […] die Motore zu arbeiten an (Dv.410/14–15). Da dieses Suffix nicht nur im Manuskript, sondern auch im Typoskript und im Seitenumbruch der Aeroplane in Brescia vorliegt, handelt es sich zweifellos um kein Versehen Kafkas. Nur drei in Böhmen erschienene Wörterbücher738 führen die vorliegende Form an, alternativ zu die Motoren.739 Da Ristić/Kangrga (1936: 1036) sich aus serbischer Außenperspektive ebenfalls für das Suffix ‑en entscheiden, dürfte es sich bei Motore wohl nicht um eine gesamtösterreichische Form, sondern um eine Besonderheit des Standarddeutschen in Böhmen handeln, mithin um einen Regionalismus des Typs A2/rS(d)[BL]. Dass in Prag u. U. noch andere Plural-Suffixe der Norm zugerechnet wurden, zeigt der Eingriff der Herausgeber der Bohemia in Kafkas Reisebericht, der zum Druck der Pluralform die Motors (Dv.410/14–15) führte.

735 Vgl. z. B. Sanders (21891b: 6), Duden (71902: 200), Ammon (1903: 114) und Saalfeld (31912: 492). 736 Vgl. hierzu z. B. Macht (21939: 251). Sterzinger (1931: 1492) und Siebenschein (1939–1940: 711) lassen daneben auch den Plural auf ‑s gelten. 737 Das Schwanken zwischen zwei überregional zulässigen Plural-Suffixen bei Fremdwörtern lässt sich im Korpus auch beim Substantiv Trottoir (u. a. Sanders 21891b: 575; Saalfeld 31912: 976; Schroff 1925: 540; Pinloche 21931: 703; Kumprecht 21940: 347) feststellen: Unten auf den Trotto(rs>i)­ren (Vv.321/24). 738 Hierbei handelt es sich um Macht (21939: 305), Siebenschein (1939–1940: 912) und Kumprecht (31940: 238). 739 Die reichsdeutschen (Sanders 21891b: 90; Ammon 1903: 129; Weigand 51910: 222; Saalfeld 31912: 570) und sonstigen österreichischen Nachschlagewerke (Rank 1892: 606; Kelemen 231924: 212; Sterzinger 1931: 285; Pinloche 21931: 383) schreiben dagegen die Pluralbildung auf ‑en vor. Diese Praxis gilt gegenwärtig als gemeindeutsch (ÖWB 241951: 131; Duden 242006: 705).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

5.2.3.3.3  Formen der Pluralbildung mit und ohne Umlautung des Stammsilbenvokals Daneben ist bei einigen Substantiven eine Mehrzahlbildung durch Umlautung des Stammsilbenvokals festzustellen, die nicht gemeindeutsch ist. Bereits Malcolm Pasley (21983b: 79) wies darauf hin, dass Kafka Polster (,Kissen‘) als Pölster in den Plural setzte: hoch schienen die Pölster im Bett (P.36/6–7), Manche hatten Pölster mitgebracht (P.59/27–60/1), {tief} in die Betten und Pölster hinein (Pv.199/27–200/1), nur paar Pölster (S.41/6), (a[nA]>du)rch Pölster gestützt (Sv.163/20), sich langsam in die Pölster zurücklehnend (N1.324/21), {und fiel wieder in die Pölster zurück} (N2v.520/24–521/2(6)).

Allerdings findet sich die Variante ohne Umlaut fast ebenso oft im Korpus: stark gepreßte Kleider, Decken, Vorhänge, Polster und Teppiche (V.340/11–12), meine Kleider, Decken und Polster hatte ich über mir aufgehäuft (N1v.360/15–16=Dv.266/4–5), in den Polstern eines Reisewagens (N2.359/19–20), wurde auf (einemA>zwei) von der Frau schnell herbeigebrachten Polstern sein Kopf gebettet (N2v.522/20–21=N2.540/16–17), wie […] die Decken und Polster […] in die Höhe flogen (D.187/25–26(2)).

Die negative Sanktionierung von Pölster im Manuskript des Landarzt-Bandes durch den Kurt Wolff Verlag (Dv.266/4–5) deutet an, dass diese Form im Deutschen Reich als fremd bzw. ,österreichisch‘ wahrgenommen wurde. Dies erklärt auch Brods durchgängige Korrektur zu Polster (Kafka 1964: 37, 152; 1965: 32, 53, 179). Die heutige Auffassung, nach der Pölster als Variante des österreichischen Standards gilt (ÖWB 241951: 151; Ebner 21980: 143; Duden 242006: 795), die auch in Südost-Deutschland mundartnah gebräuchlich ist (Ammon u. a. 2004: 583),740 kann aber nur bedingt auf das frühe 20. Jahrhundert übertragen werden: Trotz allgemeiner Verbreitung wurde die Form nämlich selbst in Österreich von der Schriftsprache ausgeschlossen741 und stattdessen die im Deutschen Reich

740 Nur in Österreich und Bayern kann Polster zudem auch maskulin sein (Zehetner 42014: 274). 741 Vgl. Rank (1892: 670), Kummer (31892: 13), Willomitzer (61894: 15), Kelemen (231924: 230), Sterzinger (1931: 813), Pinloche (21931: 440), Kumprecht (31940: 264) und Siebenschein (1944: 223).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Abb. 17:  Die Verbreitung des Plurals von Kragen mit Umlautung des Stammsilbenvokals im deutschen Sprachraum

übliche742 umlautlose Pluralbildung vorgeschrieben.743 Immerhin kam Pölster gelegentlich im Deutsch der Prager Tageszeitungen vor (PT 1921: 5). So lässt sich diachron zumindest von einem Grenzfall des Standards sprechen, der den Regionalismen des Typs A2/ rU(d)[Ö+soD] angehört. Als noch weiträumiger verbreitet erweist sich die Pluralform Krägen, die sich (ohne umlautlose Variante) einmal im Untersuchungskorpus belegen lässt: umstellt von drei jungen Leuten, die aus hohen, weißen Krägen lachend redeten (N1.98/17–18). Eichhoff (2000: 38–39; K. 4–79) ordnet Krägen gegenwärtig der regionalen Umgangssprache des oberdeutschen Raums zu. Ammon u. a. (2004: 435) und Duden (242006: 608) sprechen bereits von einer Form des regionalen Standards.744 Zu Kafkas Zeit bestanden allerdings auch in Österreich Vorbehalte gegen die Verwendung der umgelauteten Pluralform in

742 Vgl. z. B. Duden (71902: 262), Ammon (1903: 147), Weigand (51910: 448) und Sanders (81910: 516). 743 Diese offizielle österreichische Standardauffassung vertreten auch Ristić/Kangrga (1936: 1121). 744 Vgl. ÖWB (241951: 110), Rizzo-Baur (1962: 100), Ebner (21980: 113) und Zehetner (42014: 218). In der Schweiz ist Krägen gegenwärtig sogar die einzige standardsprachliche Variante (Meyer 1989: 190).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

der Schriftsprache. Denn die einschlägigen Regelbücher745 fordern fast einstimmig die Mehrzahlbildung ohne Umlaut. Sie orientieren sich damit sichtlich an der norddeutschen Normauffassung, die Heyse (251893: 194, 196) und Paul (21908: 305) vertreten, wenn sie empfehlen, das ober‑/süddeutsch markierte Krägen zu meiden. Kretschmer (1918: 5) sieht immerhin einen Grenzfall des Standards vorliegen. Auch lassen zumindest Sterzinger (1921: 1371) und der in München erschienene Ammon (1903: 111) Krägen neben Kragen als standarddeutsch gelten. Da auch der sprachpuristische Brod an der Form mit Umlaut nichts auszusetzen hatte (Kafka 31954: 48),746 spricht vieles letztlich dafür, dass sie dem Regionalstandard zugeordnet und unter der Sigle B1/rS(d)[O] kategorisiert werden kann. Als sozusagen ,noch standardkonformer‘ darf der von Kafka ausnahmslos mit Umlaut gebildete Plural von Kasten beurteilt werden: aus verschiedenen Kästen (V.257/11), drei Kästen (V.291/26), alle Kästen (V.311/27), hinter den Kästen (V.312/1; V.317/15; V.360/6; V.364/13), aus den Kästen (V.340/17–18), durch zwei Kästen (V.355/15), über die Kästen (V.356/26–27), zu den Kästen hin (V.358/12–13).

Zwar wenden sich die österreichischen Grammatiken auch in diesem Fall gegen den Umlaut.747 Brod verbesserte die angeführten Belegstellen ebenfalls zu Kasten (Kafka 1953b: 222, 252, 269, 273, 293, 335–337, 339, 342). Doch verhalten sie sich damit strenger als selbst die Exponenten der reichsdeutschen Norm (Paul 21908: 285; Weigand 51909: 1003; Sanders 81910: 350), die die Umlautung freistellen. Heyne (21906b: 300) bewertet Kästen sogar als „jünger, aber jetzt gewöhnlich.“ Da auch die Mehrheit der österreichischen Nachschlagewerke beide Pluralbildungen akzeptiert,748 ist diachron von einer Standardform auszugehen. Ihre Verbreitung kann auf das von Eichhoff (1978: 34; K. 119; 2000: 38–39; K. 4–79) für den Plural Wägen/Krägen abgesteckte oberdeutsche Areal

745 Vgl. Rank (1892: 528), Kummer (31892: 13), Lehmann (71892: 36; 1899: 29), Willomitzer (61894: 15), Kelemen (231924: 186), Pinloche (21931: 295), Siebenschein (1939–1940: 663) und Kumprecht (31940: 203). Auch in Serbien betrachtete man den umlautlosen Plural als korrekt (Ristić/Kangrga 1936: 901). 746 Kisch (51922: 36, 40) dagegen vermied diese Form: mit […] frisch abgerissenen Rockkragen – dann bringt sie dem Vater […] Stehkragen […] mit. 747 Vgl. Kummer (31892: 13), Lehmann (71892: 36; 1899: 29) und Willomitzer (61894: 15). Womöglich orientierten sie sich dabei an Grimm/Grimm (1873: 264), wo Kästen als Fehlbildung bezeichnet wird. 748 Vgl. Sterzinger (1921: 1101), Pinloche (21931: 257), Siebenschein (1939–1940: 542) und Kumprecht (31940: 189). Gleiches gilt für das serbische Pendant (Ristić/Kangrga 1936: 845). Rank (1892: 505) und Kelemen (231924: 175) kennen dagegen nur die Pluralform Kasten.

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eingegrenzt werden,749 wo Kasten zudem die Bedeutung ,Schrank‘ hat. Als Regionalismus sind die Kästen somit unter A2/rS(d)[O] zu klassifizieren. Kafkas gelegentliches Schwanken zwischen umgelauteten und umlautlosen PluralVarianten (vgl. das Beispiel Polster) schlug sich auch in hyperkorrekten Verschreibungen nieder, die sich u. a. in der versehentlichen Umlautung der Stammvokale von Nadel und Masse im Plural äußerten. Bei anderen Substantiven tritt der Umlaut sogar im Singular auf: über den Strickn(ä>a)deln (N1.v314/26=Dv.445/22), Blätterm(ä>a)ssen (Vv.261/19–20), [er gieng nahe an der Häuserm(ä>a)uer] (Pv.38/4), Ein mittleres Fäß (N2e.26/7), [Wohlt(ä>a)t] (N2v.571/21), Gewöhnheit (Pe.117/6), durch den ersten Türb(ö>o)gen (N2v.356/14), S(ö>o)nne (Dv.318/6), Demüt 750

(Se.261/7), einen derartigen Vorw(ü>u)rf (N2v.216/4), jenes D(ü>u)nkels (Sv.479/24–25).

5.2.3.4  Kasus: fehlendes Genitiv-Suffix bei Maskulina und Neutra im Singular Bei der weiteren Untersuchung der Substantiv-Morphologie stößt man im Manuskript auf einen Typ von Normabweichung, den man als ,Genitiv-Schwäche‘ Kafkas bezeichnen kann.751 Er tritt v. a. bei Maskulina und Neutra im Singular, zudem bei Eigennamen auf. Selbst wenn man diejenigen 30 Belegstellen nicht berücksichtigt, an welchen ein Genitiv-s u. U. durch verkürzte Denotation752 oder begünstigt durch lautliche regressive Assimi-

749 Dies entspricht der gegenwärtigen Einordnung, nach der Kästen innerhalb des österreichischen (ÖWB 241951: 101; Ebner 21980: 106; Ammon u. a. 2004: 395; Zehetner 42014: 207) und schweizerischen Standards (Meyer 1989: 183) die Norm bildet und auch von Duden (242006: 567) als seltene Form toleriert wird. 750 Vgl. ähnliche, durch (fehlende) Umlautung ungewöhnliche Pluralbildungen in der zeitgenössischen Prager Tagespresse: Nachtmähler (PT 1921: 23), Klätschereien (PP 1921c: 12), Klätscher (PP 1921c: 12), preisgegeben Ausbruchen ungezügelter Wildheit (SW 1921a: 1), Rollmopse (PT 1921: 18; PP 1921c: 16). 751 Zu den fehlenden Genitiv-Suffixen bei Substantiven in Kafkas Proceß-Handschrift s. Blahak (2005: 27; 2007a: 178). 752 Vgl. das Kürzel K. sowie die Abkürzungen von Titorelli und Josephine: K.{’s} zerstreute Blicke (Pv.20/3– 14(3)), K.{’s} Ansprache (Pv.63/6), durch K. [hin und {er}] Herumgehn (Pv.84/16), K.{’s} Hand (Pv.142/17; Pv.142/21–22), mit K. Bleistift (Pe.170/1), K.{’s} Augen (Pv.275/19), K.{’s} Beistand (Pv.286/5), die Anwesenheit K.{’s} (Pv.286/5–6), um (d>K). Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen (Pv.306/18–20), die geringste Bedienung [K.{’s}] (Pv.316/22–23), [durch Tit. schamloses Lächeln beirren] (Pv.350/20(5)), K.{’s} Brust (Sv.83/22–23), K.{’s} Gespräch (Sv.139/25), von K{’}(.>s) jeweiligem Verhalten (Sv.183/18(1)38*–39*), K(.>’s) Tiefe (Sv.184/1), K(.>’s) Versprechen (Sv.194/12–13), K.{’s} Schwester (N2v.231/13–17(2)13*), K.{’s} Erscheinen (Sv.263/18), der unmittelbare Eindruck K(.>’s) (Sv.266/7–8), J(.>’s) Ansprüche (N2v.669/21–22), J.{’s} Forderung (N2v.673/5–6).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

lation an ein auslautendes [s] bzw. [∫] der Stammform des Substantivs753 im Schriftbild ausgefallen sein könnte, finden sich immer noch 53 Nomen im Korpus, die im Genitiv normwidrig endungslos bleiben und mehrheitlich (zu 64,15 Prozent) nicht durch den Autor berichtigt wurden.754 Da die Kasusbildung im Tschechischen stets mittels eines Flexivs erfolgt, kommen Interferenzen aus dieser Richtung von vornherein nicht in Frage. Nekula (2003a: 101) schließt eine Deutung als einfachen Schreibfehler nicht aus, zumal das Phänomen bei Kafka nicht die Regel sei. Indes lassen sich Kafkas ,defekte‘ Kasus-Morpheme schlüssig auf ein substandardliches Flexionsparadiga zurückführen: Denn die Aufgabe eines besitzanzeigenden synthetischen Genitivs als besondere grammatische Kategorie stellt generell „einen der wichtigsten Unterschiede der Morphologie und Syntax der modernen deutschen Dialekte gegenüber der grammatischen Norm der Literatursprache dar“ (Žirmunskij 1962: 433–435), sieht man von festen Zusammensetzungen und formelhaften Wendungen ab (Koß 1983: 1242–1246; König 162007: 155). Gleiches lässt sich auch für die Umgangssprache im gesamten deutschen Sprachraum konstatieren (Ebner 21980: 220; Zehetner 1985: 106; Merkle 6 1996: 96). Unterhalb der Standardebene wird die somit im Kasussystem entstandene Lücke durch umschreibende präpositionale oder pronominale Ersatzkonstruktionen geschlossen. Diese substituieren den Genitiv analytisch entweder durch von + Dativ (z. B. das Haus vom Vater) oder (possessiven) Dativ + Possessivpronomen (z. B. dem Vater sein Haus).755 Ein mundartgeprägter Sprecher sieht sich demzufolge im Schriftdeutschen mit der Anforderung konfrontiert, „das dreigliedrige Kasussystem seiner Primärsprache auf das vier Kasus umfassende System der Standardsprache zu übertragen und dabei die richtigen Flexionsmorpheme zu gebrauchen“ (Reitmajer 1979: 137). Eine direkte Verwendung der Ersatzkonstruktionen mit genitivischer Bedeutung ist Kafka allerdings nicht nachzuweisen. Stattdessen entfällt häufig das (e)s-Flexiv im

753 Vgl. die Schubladen des Schreibtisch (Pe.12/19–20), Ausgang des Process (Pe.78/12), Schriften dieses Process{es} (Pv.177/25), [des Process{es}] (Pv.178/19), sah er Delamarche und Robinsons ausgestreckte Zeigefinger (Ve.145/20–21), dieses Lob Delamarche (Ve.273/16), bis zur Ankunft Delamarch | (Ve.274/17–18), die Köpfe Bruneldas oder Delamarche (Ve.358/14–15). 754 Brod ergänzte die fehlenden Genitiv-Morpheme ausnahmslos, wie eine Stichprobe anhand seiner Proceß-Ausgabe zeigt (Kafka 1965: 20, 23, 40, 85, 95, 110, 141, 174). 755 Zu den einzelnen Dialekten vgl. Schuster/Schikola (1984: 106–107), Zehetner (1985: 106), Merkle (61996: 96), Frey (1975: 154), Wagner (1987: 79), Hörlin (1988: 226), Wegera (1977: 145, 147–148), Post (21992: 120–121), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 89), Spangenberg (1962: 24), Seibicke (1967: 50), Stellmacher (1973: 23; 22000: 187–191), Kettner (1978: 290) und Niebaum (1977: 63).

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Schriftbild, wobei die Gestalt zugehöriger Artikel, Possessivpronomen und AdjektivAttribute deutlich macht, dass sich Kafka über den Kasus und seine Bildung prinzipiell im Klaren war: vor dem Tisch des Aufseher{s} (Pv.23/12), die Berechtigung […] Ihres Vorgehn (Pe.25/4–5), Der Sohn des Hausmeister{s?} (Pv.31/21), die Vorfälle des Morgen (Pe.45/18), das Innere dieses Gerichtswesen (Pe.98/11), aus der Tiefe des Gange{s} (Pv.105/27–106/1), an der Tür des Untersuchungszimmer (Pe.154/13), in der Mitte des Zimmer (Pe.194/1), Worte des Oberkellner (Ve.247/17–18), das Lob des zweiten Staatsanwalt (N1e.221/26–27), den Unrat des Vogel{s} (N1v.367/4–5), Geruch eines ge(f>p){f}legten Körper{s} (N1v.387/1), die Reste des Gabelfrühstück || (N1e.401/10), die Hütte des Jäger (N2e.26/1), auf Seiten des zweiten Jemand (N2.69/14=N2.130/3–4), durch die Vermittlung {bloss} eines Wesen (N2v.79/9), einen Teil des Weg (N2e.261/14), zwischen den Rissen des Felsen (N2e.303/15–16), die Hand unseres Fr(e>ä)ulein (N2v.325/15–16), in der Nähe des Teater (N2e.358/10), die Räder des goldenen Wagen{s} (N2v.414/6), in den Zeiten des häuslichen Leben (N2e.586/17), einen Mangel des Bau | (N2e.588/10–11), die Grundlosigkeit des Ärger{s} (N2v.645/11=Dv.332/23–24), die Schuld des Vater (Dv.154/9), den Anblick von Gregor Zimmer (Dv.156/20), die unverhängten großen Fenster des Resstaurant (De.429/20–21).

Vergleichbare Normverstöße beschreibt Zehetner (1977: 83) am Beispiel bairischer Dialektsprecher: Im Bemühen, die mundartliche von-Periphrase grundsätzlich zu vermeiden, werde mechanisch, so als sei von synonym zu der/des, das geläufige von/vom durch die Genitivform des Artikels ersetzt, das Substantiv allerdings endungslos im Dativ der zugrunde liegenden von-Periphrase verschriftlicht. So stellt sich z. B. Kafkas Formulierung die Mitte des Tischchen (Pe.20/26) als Überlagerung der schriftdeutschen Konstruktion die Mitte des Tischchens (Artikel im Genitiv) und ihres substandardlichen Äquivalents die Mitte vom Tischchen (Substantiv im Dativ) dar. Dieser von Kalau (1984: 123) als Kontrastverschiebung gewertete Ausfall des Genitiv-Morphems wird in den fehlerlinguistischen Untersuchungen zu ober‑, mittel- und niederdeutschen Dialekträumen als typischer Normverstoß angeführt und durch das fast völlige Fehlen des Genitivs in der Mundart erklärt.756 Seltener, doch ebenfalls als hyperkorrekte Form deutbar, findet sich im Korpus ein redundant gesetztes Genitiv-s, wo es die Hochsprache nicht kennt: auf dem Balkon des Delamarches (Ve.297/8–9), Erwähungen meines Neffens (Dv.98/3).

756 Vgl. Zehetner (1977: 82–83), Reitmajer (1979: 137), Kalau (1984: 123), Koller (1991: 100), Ammon/ Loewer (1977: 66), Besch/Löffler (1977: 57), Hasselberg/Wegera (1976: 48), Henn (1980: 48), Niebaum (1977: 65) und Stellmacher (1981: 41, 83–84).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Diese schlichte von/des-Ersetzung dürfte auch den Hintergrund von Flexiv-Ausfällen nach Genitiv fordernden Präpositionen bilden. Diese erscheinen Reitmajer (1979: 137) besonders fehlerträchtig, „da die schon fast automatisierte Dativkombination der Mundart den Schüler allzu leicht in die Irre führt.“ Artikel und Possessivpronomen würden korrekt der schriftsprachlichen Genitiv-Form angepasst, das Substantiv hingegen nicht. Bei Verben, die den Genitiv regieren, und bei Phraseologismen mit obligatorischem Genitiv sind analoge Kontrastverschiebungen zu erwarten. In Kafkas Handschriften finden sich hierzu folgende Beispiele: statt des erwarteten Dunkel (Pe.117/7), war heute gegen Leni voll geheimen Ärger(.>s). (Pv.245/18–19), wegen eines fremden Mädchen (Pe.318/12), inmitten dieses […] Bedientwerden{s} (Sv.74/19), sie […] war vorbereitet, dort Jahre und günstigsten Fall ihr ganzes Leben unbeachtet zu verbringen (Se.453/20– 23), Enthielten sich aber eines Urteil{s} (N1v.362/15–16), außerhalb des Gottesdienst (N2e.409/4–5), 757

wegen des (s>t)ausendsten Vergessen{s} (N2v.456/19), längs des Englischen Garten{s} (Dv.430/2–3).

Übertragbar sind die bisherigen Beobachtungen zudem auf fehlende Genitiv-Suffixe bei Eigennamen, wo im Standarddeutschen Artikel oder Possessivpronomen nicht erforderlich sind:758 Analog zum Nullartikel im Standard wird das von der substandardlichen Konstruktion ausgespart, ohne jedoch das damit verbundene Dativ-Morphem an das standardsprachliche Genitiv-Morphem des Eigennamens anzupassen: die Stellung Frieda{s} (Sv.85/17–18), ein Umhängetuch Frieda{s} (Sv.399/9), sie, die Geliebte Klamm (Se.464/12), Während dieser langen Rede Karl (Ve.107/22), das Eigentum Karl (Ve.266/2–3), alle möglichen Sorgen Karl (Ve.318/21), Verwaltungskunst Österreich (N1e.423/5), von der Unterhaltung 759

Doras und Samuel{s,}

(Dv.425/2–3).

Auch bei vorangestellten Genitiv-Attributen wurde das s-Flexiv von Kafka wiederholt nicht realisiert.

757 Redundante s-Flexive bei Substantiven nach Präpositionen, die den Dativ regieren, können auf nicht zu Ende geführte Korrekturvorgänge Kafkas bzw. Perseveration zurückgeführt werden: [im Dunkel des] {seit} Urbeginns (N2v.301/24), aus [der Tiefe] unsere(s>m) Volkes (N2v.665/26), von Gregors Zimmer[s] (Dv.178/4). In eine entsprechende Arbeits zuhause zu finden (Se.119/7) liegt dagegen wohl ein Flüchtigkeitsfehler vor, der Kafka unterlief, indem er den [ts]-Anlaut eines im Satz folgenden Adverbs antizipierte. 758 Solche Normverstöße listet auch Lehmann (1899: 42) in seiner Wiener Fehler-Studie auf. 759 Diese Korrektur stammt möglicherweise nicht von Kafkas Hand (Kafka 1996: 534).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

399

Frieda{’s} Kopf (Sv.76/25), Hansen Familie (Se.131/9), {in} Klamm{’s} Sinn (Sv.183/18(3)), Pepi{’s} Haare (Sv.460/25–26), in Therese{s} Zimmerchen (Vv.195/19), Karl Annahme (Ve.410/11), des Gutsbesitzer Tochter (N2e.571/3–4), Gregor Zimmer reinigen (Dv.178/21).

Die letzte Gruppe von Normverstößen relativiert zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass Kafkas ,defekte‘ Genitiv-Morpheme auf jiddischen Sprachstrukturen beruhen könnten: Im Jiddischen wird der Genitiv zwar wie in den Substandard-Varietäten des Deutschen durch eine periphrastische Form mit der Präposition fun/fin (,von‘) ersetzt. Der daneben existierende Possessiv (Voranstellung des attributiven Genitivs) kennt allerdings die Kasusendung ‑ss (Weissberg 1988: 127; Lötzsch 1990: 197). In der Summe ist in den hier diskutierten Belegen einer ,Genitiv-Schwäche‘ zwar ein interferenzielles Einwirken des Substandards auf Kafkas Schriftdeutsch zu erkennen; ihre flächendeckende Verbreitung im deutschen Sprachraum schließt sie allerdings von der Kategorie Regionalismus aus. 5.2.3.5  Komposition 5.2.3.5.1  Einzelwortabhängig erhöhte Tendenz zum Fugen-s Im Bereich der Substantiv-Komposition dokumentieren Kafkas Handschriften eine häufige Verwendung des Fugenmorphems ‑s-.760 Besonders nach Bestimmungswörtern, die auf ‑g und ‑k enden und/oder Feminina sind, gilt dieses als typisches Wortbildungsmittel der gegenwärtigen österreichischen Standardvarietät des Deutschen.761 Entsprechende Komposita liegen in Kafkas Manuskripten an folgenden Stellen vor: Fabrikskartelle (V.66/5), Ausnahmsfall (N2.467/13), Aufnahmsfähigkeit (S.174/15), Aufnahmsverfahren (S.351/3,20), Aufnahmsprüfungen (S.352/11), Aufnahmskanzleien (V.395/7; V.398/16,24), Aufnahmskanzlei (V.398/27), Aufnahmsprüfung (N2.196/15), Auslagsfenster (D.392/6=N1.92/23=N1.160/27),

762

Hilfslosigkeit (Se.424/6).

760 Hierauf machten bereits Nekula (2003a: 98) und Blahak (2007a: 179–180) aufmerksam. 761 Vgl. u. a. Rizzo-Baur (1962: 93), Ebner (21980: 221), Muhr (1995: 216) und Leerkamp (2003: 16). Im binnendeutschen und schweizerischen Standard dominiert hingegen die bloße Kompositionsfuge (Meyer 1989: 56). 762 Zu Kafkas Komposita mit dem Bestimmungswort Aufnahms‑/Auslags- s. Krolop (2005: 212).

400

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Ihre prinzipielle Standardkonformität wird zum einen durch den Abdruck von Auslagsfenster (D.392/6) und Mittagsessen (Dv.399/6) in der Zeitschrift Hyperion belegt, zum anderen durch das Vorkommen vergleichbarer Komposita in den zeitgenössischen Prager Printmedien763 sowie in der Prosa von Max Brod, Otto Pick und Egon Erwin Kisch.764 Bei Ausnahme des bereits gedruckten Auslagsfenster (Kafka 1967b: 15) tilgte Brod Kafkas Fugen-s allerdings in allen Fällen und ersetzte es gegebenenfalls durch das PseudoSuffix ‑e des Bestimmungswortes (Kafka 31954: 277; 1964: 162, 312, 315, 323, 324, 391; 1967b: 21). Daher dürfte er das Wortbildungsmorphem als Austriazismus aufgefasst haben, der einer reichsdeutschen Leserschaft nicht zugemutet werden sollte.765 Als regionalsprachlich, wenn auch nicht normwidrig, betrachteten auch die Prager Normautoritäten das Phänomen.766 Dass Kafka selbst gewärtig war, dass das Fugen-s in bestimmten Wörtern im Deutschen Reich als österreichisch gelten konnte, machen Autokorrekturen deutlich, die das bereits gesetzte Fugenelement noch im Schreibprozess wieder entfernten. Zum einen handelt es sich um Komposita, bei welchen auch die zeitgenössischen örtlichen Kodizes die bloße Kompositionsfuge vorschreiben:767 Vorzimmer(s>t)ür (Pv.176/7), Zwir(ns>n)faden (Pv.256/27), Rat(s>l)osigkeit (Sv.8/17; Vv.8/17=Dv.66/16–17; Dv.190/17), Nacht(s>e)ssen (Vv.157/2), Ring(spA>p)latz (N1v.274/11(1)5*), Mittel(s>t)ür (N1v.288/9(2)4*), Tier(s>a)ugen (N1v.373/24), Kuchen(s>e){ssens} (N2v.60/15– 16),

768

Markt(s>p)latz (N2v.263/14), Fen(xx>st)e(rs>r)tür (N2v.515/13–14), Haut(s>a)ufschürfung

(N2v.676/8=Dv.374/20).

763 Vgl. Uebernahmspreis (PT 1921: 4), Aufnahmsfähigkeit (PP 1921a: 8), Maschinenfabriks-Gesellschaft (PT 1921: 14), Maschinenfabriksaktien (PT 1921: 14), Gepäckstarife (SW 1921c: 5), Bergwerksprodukte (PP 1921c: 14), Verpflegsbranche (PT 1921: 3), Rangsklasse (PT 1921: 7), D-Zugslokomotive (PT 1921: 9), Minderheitsrechte (SW 1921c: 3), Heimatsspiegel (SW 1921c: 3), Ausfuhrsgebühren (PP 1921a: 9). 764 Vgl. Fabriksvorstadt (Brod 1911: 234), Heimatsdorfe (Pick 1913: 51), Mietsbetrag (Kisch 51922: 132), Fabriksmädel (Kisch 51922: 32) × Fabrikarbeiterin (Kisch 51922: 31, 121), Fabrikarbeiter (Kisch 5 1922: 37). 765 Brod bereinigte darüber hinaus Kafkas Kompositionsfuge auch in Dienstesversäumnissen (Se.256/19) (Pasley 21983b: 79) und Telephons|kastens (Ve.174/2) (Kafka 1953b: 151; 1964: 237, 391). 766 Sterzinger (1916: 460, 558, 567, 1261; 1921: 825) z. B. kennt nur die Komposition mit Aufnahme‑, Auslage‑ und Hilf‑, akzeptiert jedoch Komposita mit Ausnahms‑/Ausnahme- und Dienst‑/Dienstes‑. Rank (1892: 85, 101, 103, 236–237, 459) und Janežič (41905: 52, 62, 63, 146, 345–346) schreiben die Bildung mit Aufnahms‑/Ausnahms‑, Auslage‑, Hilfs‑ und Dienst‑ vor. 767 Vgl. Sterzinger (1921: 85, 727, 1429; 1931: 75, 241, 387, 965, 1146; 1935: 875, 1479, 1542). 768 Hier ist auch eine Erweiterung der ursprünglichen Variante (des) Kuchens zu (des) Kuchenessens denkbar.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

401

In einem guten Drittel der Fälle liegen aber auch Komposita vor, deren Bildung mit Fugen-s ausdrücklich der Norm entsprach:769 [Fabriks](a>A)rbeit (Pv.53/7–8(1)), Auskunft(sg>g)eber (Pv.107/5–21(1); vgl. Pv.104/5,23), (P>F)a770

brik[sdirektor] (Pv.171/23), [Aufzugs](t>T)ür (Vv.188/10), Geld(s>t)asche (Vv.310/5; Vv.310/9).

Analoge Bildungen finden sich z. T. auch in der zeitgenössischen Prager Tagespresse.771 Auf eine intuitiv unterdrückte Neigung Kafkas zum Fugen-s lassen zudem Textstellen schließen, an welchen das s zwischen Bestimmungs- und Grundwort hyperkorrekt772 nicht gesetzt, normwidrig getilgt oder erst nachträglich eingefügt wurde (Nekula 2003a: 109): Gerichdiener (Pe.91/25; Pe.92/9), Sehenwürdigkeiten (Pe.273/11), Segenwünsche (Se.342/22–23), Hinterlassenschaftgeschäfte (N1e.274/20),

773

Geschäftbüchern (N1e.370/3), Schiedrichter (N1e.389/6;

N1e.390/18), [in {in} meinem Schiedrichterhirn] (N1v.390/7(3)), [, dem Schied(r>s)richter] (N1v.390/15), Anfang-|gang (N2e.598/21), Beobachtungplatz (N2e.599/2), Gerechtigkeitgefühl (N2e.635/7–8), [Aufenthalt(s>h)altsort] (N2v.677/16), {ein Schiff{s}officier} (Dv.78/4).

Ähnliche ,defekte‘ Kompositionsfugen wurden durch die Lektoren des Kurt Wolff Verlages im Heizer, im Urteil und im Landarzt-Band sowie in der Verwandlung ergänzt: Schiffuniform (Ve.20/5=Dv.78/4), Himmelrichtungen (Ve.27/16=Dv.85/12), Geschäftleuten (N1e.361/7=Dv.266/25), Peterburger (Dv.56/21–22), Frühstückgeschirr (Dv.135/6).

769 Sterzinger (1921: 3, 387) führt die Lemmata Fabriks- und Gelds- an und verweist jeweils auf die Einträge zu Fabrik- bzw. Geld‑; vgl. die Lemmata Aufzug(s)- und Auskunft(s)- bei Sterzinger (1916: 503, 557). Rank (1892: 101, 319, 386–387), Janežič (41905: 62, 218, 274–275) und Kelemen (231924: 38, 110–111, 133) sehen die Bildung mit Auskunfts-, Fabriks- und Geld- vor. 770 Kafka beseitigte das Fugenmorphem ferner dort, wo es durch Antizipation zu früh im Wort erschien: Zünd(s>h)ölzchenschachtel (Pv.22/6–7), Gerechtig(s>k)eitgefühl (N2v.635/7–8=Dv.322/18), [Aufent(s>h)altsort] (N2v.677/16=Dv.375/27). 771 Vgl. Fabriksgarantie (PT 1921: 28), Fabriksfirmen (PT 1921: 30), Fabrikslager (PT 1921: 34), zu Fabrikspreisen (PT 1921: 34), Fabriksausschüsse (PP 1921c: 2). 772 Vgl. Sterzinger (1916: 251, 432, 789; 1921: 234, 424, 426, 439, 830; 1931: 743; 1935: 160, 174, 446, 451). 773 Vgl. analog das Lemma Freundschafts- bei Sterzinger (1921: 218).

402

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Auch hier gilt, dass gemäß den österreichischen Kodizes in etwa ebenso vielen Fällen der s-Verzicht nicht nötig gewesen wäre:774 Miethäuser (P.53/8), {Miet}Parteien (Pv.88/9), Auskunftgeber (Pe.103/2), Hemdärmel (P.197/4; V.274/16; V.280/22; V.307/21; V.312/20; N1.119/6; vgl. P.53/10; P.211/4; V.221/20; V.267/13; V.271/20; V.279/2; D.403/18),

775

Gesicht-|punkt (Ve.32/23=Dv.90/19), Boot{s}meister (Vv.48/26–

27(2)=Dv.106/13–14(2)), Schicksalgöttin (N2e.41/26), [Gewissenunruhe] (N2v.645/9=Dv.332/22), 776

Wolfhunde (De.399/12).

Die prinzipielle Korrektheit solcher Komposita wird wiederum durch ihren Abdruck, z. B. von Wolfhunde (Dv.399/12) in der Zeitschrift Hyperion, deutlich.777 Bei Komposita, deren Grundwort mit z, s, sch oder sp/st beginnt, könnte der scheinbar hyperkorrekte s-Verzicht fehlerlinguistisch auch als Verschriftlichung phonetisch bedingter Assimilationsprozesse der Art [‑s-ts-]/[‑s-s-] > ‹‑s-›, [‑s-∫-] > ‹‑sch-› oder [‑s-∫p-]/ [‑s-∫t-] > ‹‑sp-›/‹‑st-› interpretiert werden (Nekula 2003a: 109):778 Bestechungsumme (Pe.115/8), Arbeit(zi>szi)mmer (Pv.140/7–8), Gerichtsache (Pe.158/1,23; vgl. Pe.42/16,19; Pe.250/24–25), Geschäftsache (Pe.172/2), Direktionzimmers (Pe.173/14), Empfehlung­ schreiben (Pe.182/26), Arbeitzimmer (Pe.228/5; vgl. Pe.230/6; N1e.268/9), Rechtsachen (Pe.256/7,25,26), {Empfang(zA>s)zimmer} (Pv.273/8), Empfangzimmer (Pe.273/20–21), Unterricht{s}stunden (Sv.259/1), Amt{s}stunden (Sv.261/10–11), Kriegschiffen (Ve.19/20=Dv.77/18), Durchschnittschüler (Ve.106/17– 18), Volkschüler (Dv.165/4–5), Volkschule (N1e.213/26), Besuchzeiten (Dv.345/5), Erkenntnis{s}tufe (N2v.52/17–53/1), Willenschwäche (N2e.121/18; N2e.322/10), Übergang{s}stellungen (N2v.132/3).

Die Druckgeschichte einiger Werke Kafkas illustriert, dass die unterschiedlichen reichsdeutschen und österreichischen Vorgaben für Fugenelemente in Prag offenbar auch

774 Sterzinger (1916: 557, 995; 1921: 458, 492, 764; 1931: 186; 1935: 156, 1413) führt Boot‑/Boots‑, Gewissen‑/Gewissens-, Gesicht‑/Gesichts‑, Wolf‑/Wolfs- sowie Auskunft(s)‑, Hemd(s)‑, Miet(s)- und Schicksal(s)- an. 775 Vgl. in Hemdärmeln auch bei Brod (1911: 109) und Kisch (51922: 140). 776 In Pferderzieher (N1e.228/2) könnte es dagegen beim Aufeinandertreffen zweier gleicher Vokale an der Kompositionsfuge zum Ausfall eines ‹e› gekommen sein. Sterzinger (1931: 758–760) sieht die Komposition mit Pferde- oder Pferds- als korrekt an; Rank (1892: 659–660), Janežič (41905: 536–537) und Kelemen (231924: 228) beschränken sich auf Pferde-. 777 Brod gab das Wort in seiner Kafka-Ausgabe allerdings als Wolfshunde (Kafka 1967b: 21) wieder. 778 Zu diesen Assimilationsformen s. Kap. 5.1.3.2 und 5.2.8.1.2. In den Prager Printmedien finden sich vergleichbare Beispiele wie Antragsteller (SW 1921c: 5) und Gehaltschema (SW 1921c: 6).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

403

Schwankungen bedingen konnten: So fand etwa das an sich normwidrige (Sterzinger 1935: 1167; Siebenschein 1944–1948: 364) Vernunftsgründen (Dv.158/25) im Text der Verwandlung Eingang in den durch Franz Blei besorgten Druck der Weißen Blätter. In der Buchausgabe des Leipziger Kurt Wolff Verlages lautete das Kompositum dagegen Vernunftgründen. Als die Prager Presse die Erzählung Josefine, die Sängerin herausgab, tilgte sie zweimal das überregional obligatorische Fugen-s (Sterzinger 1935: 1247; Siebenschein 1944–1948: 460) in Volksversammlung (Dv.361/12–13,25). Die Selbstwehr wiederum nahm einen nach den lokalen Kodizes (Sterzinger 1935: 1542; Siebenschein 1944–1948: 711) berechtigten Eingriff vor, als sie in Die Sorge des Hausvaters aus Kafkas Zwirnsfaden (Dv.284/14) das Fugenelement entfernte. Der Kurt Wolff Verlag behielt in seiner Ausgabe der Erzählung im Landarzt-Band Kafkas Schreibweise hingegen bei, was gemäß reichsdeutscher Norm auch zulässig war (z. B. Sanders 81910: 886). Solche Schwankungen, die Kafkas Kompositabildung offenbar prägten, können angesichts der Wortbildungsregeln der zeitgenössischen österreichischen Kodizes nicht verwundern und dürfen als zeittypisch betrachtet werden: Denn Willomitzers (61894: 186) Angabe, das s werde „[d]es Wohllautes wegen […] häufig zwischen Bestimmungsund Grundwort […] als Verschmelzungslaut eingeschaltet“, ist ebenso vage wie Kummers (31892: 187) Hinweis, das besagte Fugenmorphem werde „als äußeres Zeichen der Composition auch auf einzelne Feminina […] und dann selbst auf solche Composita übertragen, denen gar kein Genetivverhältnis zugrunde liegt.“ Lehmann (71892: 143; 101899: 135) führt immerhin einige Musterbeispiele wie Einnahmsquelle und Ausgabsposten an. Kafkas sichtbares, z. T. hyperkorrektes Bemühen, das Fugen-s einzelwortabhängig zu unterdrü­ cken, und die (ausgebliebenen) Eingriffe reichsdeutscher und Prager Publikationsorgane in seine Druckvorlagen ordnen die Reflexe einer erhöhten Tendenz zur Verwendung des Wortbildungsmorphems im Korpus letztlich den Regionalismen des Typs A1/rS(d)[Ö] zu. 5.2.3.5.2  Regionalspezifische Besonderheiten bezüglich des Fugenelements -(e)nIm Bereich der Kompositabildung fallen im Korpus ferner Substantive auf, bei welchen das binnendeutsch übliche Fugenelement ‑en- ausfiel.779 Auf Kafkas Verwendung von Visitkarte

779 Im Deutsch der Prager Presselandschaft taucht dieses ‑en- als gängiges Fugenmorphem auf; vgl. Produktenbörse (SW 1921a: 2), Bronzenmaterial (PP 1921a: 3), Staatskohlenwirtschaft (PP 1921c: 8), Kohlenpreise (PP 1921c: 8), Kohlentransporte (PP 1921c: 8).

404

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

anstelle von ,Visitenkarte‘780 wurde in der Forschung bereits hingewiesen (Nekula 2003a: 120; Krolop 2005: 214). Das gegenwärtige Nebeneinander beider Formen im österreichischen Standarddeutsch781 bestand bereits zu Kafkas Zeit.782 Kott (1884: 704) nennt mit Visittekarte sogar eine dritte Variante. Obwohl die reichsdeutsche Norm ausschließlich Visitenkarte vorsah,783 hielt Kafkas Form immerhin dem Lektorat der Leipziger Verleger des Heizers (D.68/8) stand. Max Brod erweiterte sie in seiner Ausgabe des Verschollenen hingegen durchgängig um das Fugenelement (Kafka 1953b: 217, 229, 241, 243). Der von ihm erkannte Austriazismus kann somit mit A2/rS(d)[Ö] klassifiziert werden. Auch das Kompositum Firmaschildchen (N1.13/23) kann dem österreichischen Standard um 1910 zugeordnet werden.784 Dass die Bildung ohne Fugen-en bei Beibehaltung der Stammform des Bestimmungswortes in Prag geläufig war, ergibt sich u. a. daraus, dass sie in der städtischen Tagespresse (PT 1921: 26) und in der Prosa Egon Erwin Kischs785 nachweisbar ist. Auch Brod sah hier mit Blick auf seine Kafka-Ausgabe keinen Anlass für einen editorischen Eingriff (Kafka 1953a: 8), obwohl die reichsdeutsche Norm allein die Wortbildung mit dem Bestimmungswort Firmen- vorsah (z. B. Sanders 21891a: 393). Typologisch dürfte man es somit mit einem Regionalismus der Kategorie B1/rS(d)[Ö] zu tun haben. Die von Brod behobene (Kafka 1965: 61) Auslassung des Fugenmorphems

780 Vgl. V.10/8=D.68/8; V.250/11,24; V.265/22; V.279/2; V.281/15; V.282/7; N1.323/16. Der für den österreichischen Standard charakteristische, bereits lexikalisierte Ausfall des Fugen-en lässt sich auf die französische Aussprache des Lehnwortes und/oder die oberdeutsche e-Apokope zurückführen (Rizzo-Baur 1962: 94). Ähnliches dürfte für die Bildung Reklamkalender (V.265/20) ohne Fugen-e gelten; Sterzinger (1931: 1082) hält sie für korrekt, während Herzer/Prach (1916: 691) und Siebenschein (1944: 371) auf der Komposition mit dem Bestimmungswort Reklame- bestehen. Krolop (2005: 214) vermutet hier einen Austriazismus. 781 Vgl. Ebner (21980: 193) und Ammon u. a. (2004: 845). Die ausschließliche Angabe der Kurzform in ÖWB (241951: 248) dürfte u. U. einen Reflex der österreichischen Abgrenzungstendenzen gegenüber Deutschland unmittelbar nach 1945 darstellen. 782 Im gesamten Einzugsgebiet des österreichischen Standards führen einschlägige Wörterbücher die lange ( Janežič 41905: 806; Kelemen 231924: 324; Pinloche 21931: 720; Sterzinger 1935: 1241; Ristić/Kangrga 1936: 1638), die verkürzte (Rank 1892: 931; Pleteršnik 1895: 774; Popović 21895: 291; Bradač/Preglja 1930: 549) oder beide Formen (Herzer/Prach 1920: 1495) an. 783 Vgl. hierzu z. B. Sanders (21891b: 602), Ammon (1903: 211), Klenz (1904: 255), Weigand (81910: 1177) und Saalfeld (31912: 1007). 784 Rank (1892: 342) und Sterzinger (1921: 126) sehen die Komposition mit Firma‑, Herzer/Prach (1909a: 294) mit Firmen- vor; Siebenschein (1939–1940: 50) lässt beides gelten. Gegenwärtig hat sich in Österreich die Form mit Fugen-en durchgesetzt (ÖWB 241951: 56). 785 Kisch (51922: 62, 226) schwankte zwischen beiden Wortbildungsarten: Firmatafeln × Firmenschilder.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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in Beamtschaft (Pe.69/21) und Krankhäuser (N2e.107/2) ist dagegen als hyperkorrekte Schreibung zu interpretieren.786 Besondere Aufmerksamkeit verdient das Fugen-n, wo Kafka es zur Bildung des Substantivs Einzelnheit verwendete.787 In dieser Form erscheint das Wort insgesamt 36-mal in Singular und Plural im Korpus.788 Weniger als halb so oft (16-mal) und nur im Plural ist demgegenüber die Variante Einzelheiten789 belegt.790 Die Druckgeschichte einiger Werke Kafkas verrät, dass die Form mit Fugen-n im Deutschen Reich nicht (mehr) der Schriftsprache angehörte oder als regional markiert galt: Die Texteinrichtung des Heizers (1913) und des Landarzt-Bandes (1919) durch den Kurt Wolff Verlag führte in je einem Fall (Dv.101/17; Dv.288/14) zur Tilgung des Fugenelements. Insofern ist auch die Korrektur Einzel[n]heiten (Dv.332/2) im Manuskript des Hungerkünstler-Bandes (1924) im Zusammenhang mit den Normerwartungen des Berliner Schmiede Verlages zu sehen.791 Auch findet sich neben Einzel(nA>h)eiten (N2v.478/16–17(2)) keine einzige Autokorrektur Kafkas, die nicht in unmittelbare Verbindung mit einer Publikationsvorbereitung zu bringen ist. Da die meisten reichsdeutschen Wörterbücher Einzelnheiten entweder nicht verzeichnen792 oder als einzige Referenzquelle Goethe anführen,793 der eine zu seiner Zeit übliche Form benutzte (GW 1998: 10),794 spricht vieles dafür, dass es sich um eine Reliktform handelt, die um 1910 auf das österreichische Deutsch beschränkt war.795 Als lebendige Form des Prager Standards ist die Variante mit Fugen-n u. a. bei Kott (1878: 613), Rank (1892: 281), Herzer/Prach (1909a: 433) und Sterzinger (1916: 1532) belegt. Einträge in Wörterbüchern aus dem südslawischen Sprachraum (Popović 21886: 140; 786 Sterzinger (1916: 696; 1921: 1387), Siebenschein (1936–1938: 320; 1939–1940: 666) und ÖWB (241951: 20, 195) kennen nur Beamtenschaft bzw. Krankenhaus. 787 Zur folgenden Diskussion und varietätenlinguistischen Einordnung s. Blahak (2014: 47–48). 788 Vgl. S.15/12; Sv.101/12; S.117/10,25(1); S.122/10; S.143/10; S.216/14; Sv.288/2–3(4)78*,78*–79*; S.330/26; Sv.404/7,37*,38*; V.170/17; N1v.270/3–6(1)153*; N1v.288/9(2)110*; N1.416/5,5–6(2); N2.31/1; N2.143/7; N2.156/13; N2.181/10; N2.190/21; N2.205/23; N2.208/9; N2.219/25; N2.377/22; N2.401/6; N2.437/18,18–19; N2.439/26; N2.527/15,18; N2.551/5; N2.645/17; Dv.101/17; Dv.288/14. 789 Vgl. P.93/9; P.141/15; P.160/9; P.163/24; P.195/19; P.196/25; P.229/11; Pv.240/8; P.350/2,20(5); V.44/1; V.127/19; V.355/13; V.401/18; N1.292/12; N1.334/11. 790 Das jiddische Äquivalent einzigkeit (Wolf 1962: 103) bleibt ohne Einfluss auf diese Wortbildung. 791 Vgl. die Verlagskorrektur des analog gebildeten einzelnweise (D.135/5) im Text der Verwandlung, das bereits Krolop (2005: 213) auffiel. 792 Vgl. z. B. Ammon (1903: 67), Klenz (1904: 61) und Sanders (81910: 174). 793 Vgl. z. B. Grimm/Grimm (1862: 352), Paul (21908: 132), Weigand (51909: 427) und TDW (1940: 168). 794 Dies gilt auch für Österreich, wo z. B. Murko (1833: 282) die Variante Einzelnheit angibt. 795 In der Gegenwart wird das Wort auch in Österreich nicht mehr benutzt (ÖWB 241951: 52).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Mandrović 21943: 49) erhärten den Eindruck einer gesamtösterreichisch normkonformen Bildung,796 die zu den Regionalismen des Typs A2/rS(d)[Ö] gehört. Mit Blick auf den reichsdeutschen Sprachgebrauch entschied sich Max Brod allerdings für eine durchgängige Normalisierung zugunsten der Variante Einzelheit.797 Bemerkenswert ist die chronologische Verteilung der Konkurrenzformen mit und ohne Fugen-n, denn sie erweist Einzelheiten als Variante einer früheren, Einzelnheiten dagegen als solche einer späteren Schaffensperiode Kafkas: Sämtliche Formen ohne Fugen-n wurden im 1912 bis 1914 entstandenen Verschollenen, im 1914 und 1915 verfassten Proceß sowie in sonstigen unveröffentlichten Schriften bis zum Februar 1917 niedergeschrieben. Einzelnheiten erschien zunächst gelegentlich im Verschollenen, dann erst wieder Ende 1916 zweimal parallel neben seiner Konkurrenzform und verdrängte diese dann schließlich vollständig bis zum Lebensende Kafkas, sieht man von der oben genannten einzelnen Autokorrektur ab. Dieser Variantenwechsel lässt sich weitgehend zeitgleich in Kafkas Tagebuch beobachten, wo das zunächst ausschließlich verwendete Einzelheit zum letzten Mal im Oktober 1914 (T.679/24) niedergeschrieben wurde, um danach gänzlich von Einzelnheit (T.810/13; T.886/24) abgelöst zu werden. Ob äußere Einflüsse zu dieser offenbar bewussten Modifizierung geführt haben, kann allerdings weder aus Kafkas Briefen noch aus seinen Tagebüchern erschlossen werden.798 5.2.3.6  Erhöhte Frequenz synthetischer und analytischer 799 Diminutive Das besonders häufige Auftreten von Diminutiven wies bereits Marek Nekula in Kafkas Schloß nach und erklärte es u. a. „aus der regionalen Gebundenheit seiner Sprache […], in der einige Praktiken – vielleicht unter dem Einfluß des Tschechischen (Slavischen) – im Vergleich mit der Hochsprache stärker betont werden“ (Nekula 1998: 248), etwa um der Expressivität willen. Daneben vermutete er einen Einfluss des Jiddischen. Doch auch auf der Ebene der deutschen Mundarten finden Diminutive wesentlich häufiger Verwendung als in der Schriftsprache. Dies gilt nicht nur im für das Tschechische empfänglichen

796 Für Transleithanien und das angrenzende Rumänien nennen Kelemen (231924: 95) und Schroff (1925: 141) dagegen Einzelheit. 797 Vgl. exemplarisch Brods Eingriffe im Schloß-Manuskript (Kafka 1964: 15, 100, 105, 122, 184, 277). 798 Eine besonders intensive Beschäftigung mit dem vorbildhaften Goethe (vgl. Kap. 3.1.1) ist für die hier beschriebene ,Umbruchphase‘ nicht belegt. Entsprechende Selbstäußerungen fallen stattdessen v. a. in die Jahre 1910 bis 1912 (Nagel 1983: 170). 799 Unter dem Terminus ,analytisches Diminutiv‘ wird im Folgenden die Diminution mithilfe eines Attributs verstanden, das die semantische Komponente ,klein‘ enthält (Nekula 2003c: 153).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Wienerischen. Diminutiv-Suffixe fungieren hier z. T. als feste Wortbestandteile, ohne eine Verkleinerung anzudeuten.800 Hinsichtlich einer erhöhten Frequenz könnten demnach alle drei sprachlichen Einflussquellen bei Kafka zusammengewirkt haben. Allerdings räumte Nekula (2003a: 110) bereits ein, dass in erster Linie das Repertoire und die Frequenz der Diminutive in Kafkas Prosa regionalspezifische Besonderheiten aufweisen – nicht aber ihre morphologische Gestalt. Das l- bzw. erl-Suffix, das für die bairischen und Teile der ostmitteldeutschen801 Dialekte (König 162007: 157) sowie das Jiddische802 kennzeichnend ist, lässt sich neben Einzelfällen wie Äuglein (P.71/9) und Tüchelchen803 (S.448/2)804 nur punktuell in Koseformen von Personennamen nachweisen: Annerl (N1.56/1; N1.129/23; N1.130/4), Mizz(iken>erl), Mizz(i>e)rl (Sv.117/25(1)) und Robinsonerl (V.300/7–8).805 Dass Kafka dagegen im Alltag das synthetische Diminutiv bevorzugt mit dem Suffix ‑l bildete, ergibt sich aus entsprechenden Angaben in Max Brods Reisetagebüchern.806 Häufiger finden sich im Korpus Koseformen, gebildet durch das Anfügen eines i- oder y-Suffixes an Eigennamen, die für den regionalen Standard in Österreich und Südost-Deutschland charakteristisch sind:807 Betty (N1.42/21) für Babette, Barbara oder Elisabeth, Fanny (V.392/5) für Franziska, Leni (P.118/2) für Magdalena, Mizzi (S.113/15) für Maria, Pepi (S.315/5) für Josefa/Josefine und Resi (N2v.297/11) für Therese.808 Ansonsten verwendete Kafka konsequent das hochdeutsche Suffix ‑chen. Ein bewusster Einsatz zur Charakterisierung lässt sich u. a. daran erkennen, dass es z. B. im Schloß verstärkt bei der Bezeichnung bestimmter Frauengestalten und bei Gegenständen und Sachverhalten, die mit ihnen zusammenhängen, zum Einsatz kam (Nekula 2003c: 168). 800 Vgl. etwa das bairische Schwammerl (,Pilz‘) (Merkle 61996: 107; Zehetner 42014: 318), das österreichische Stockerl (,Hocker‘, ,Podest‘) (Rizzo-Baur 1962: 95; Ebner 21980: 221–222) oder das alemannischen Tüchle (,Tuch‘) (Besch/Löffler 1977: 75). 801 Konkret ist diese Diminuierung in den südlichen obersächsischen und nördlichen schlesischen Dialekten verbreitet. 802 Vgl. Strack (1916: VI), Beranek (1965: 92–93), Guggenheim-Grünberg (1973: 92–93), Birnbaum (1979: 238), Weissberg (1988: 228), Krogh (2001: 8) und Jacobs (2005: 162–163). 803 Einen Hinweis darauf gab bereits Nekula (2003a: 110). Vgl. ähnliche doppelte Diminutive in der Selbstwehr: Mädelchen, Sächelchen (SW 1921b: 5). 804 Einen Einzelfall stellt ferner der fehlende Umlaut in Kofferchen (Dv.82/3) dar. 805 Kafkas Prager Schriftsteller-Kollegen verwendeten hingegen häufig (e)l-Diminutive in der Rede ihrer Romanfiguren, um Kolloquialität zu erzeugen, u. a. Frauerl, Hunderl, Liedl, Mäderl, Flascherl und Hintertürl (Brod 1911: 28, 99, 104, 108, 165, 259) sowie Nullerl, Büchel, Bürscherl, Kutschierwagerl und Nachtkastel (Kisch 51922: 82, 153, 159, 187, 228). 806 „Kafka sagt ,Jetzt schnell […]. – Nur das Gesicht bissel waschen‘“ (Brod/Kafka 1987: 107) (vgl. Kap. 2.4.1). 807 Vgl. hierzu Rizzo-Baur (1962: 96) und Zehetner (42014: 68, 121, 233, 248, 268, 286). 808 Als überregional in Gebrauch dürfen dagegen die Kosenamen [Kati] (Vv.39/14) für Katharina, Rudi (P.230/12) für Rudolf und Willi (Pv.15/4) für Wilhelm betrachtet werden.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Das Ergebnis von Nekulas (1998) quantitativer Auswertung des Schloß-Fragments lässt sich anhand des Proceß-Manuskripts bestätigen.809 Neben dem häufigen Weilchen810 finden sich hier folgende synthetische Diminutive: Beinchen (P.307/22), Gläschen (P.17/26,27), Händchen (P.306/2), Heftchen (P.63/10,11,27), Honigfäßchen (P.13/16), Nachttischchen (P.19/26; P.20/18; P.44/9; P.132/6; P.135/9; P.249/11,20; P.250/3), Röckchen (P.175/4; P.190/4; P.275/4), Stimmchen (P.193/15), Stückchen (P.97/16), Tischchen,

811

Verbindungshäutchen (P.145/19), Wandschränkchen (P.17/24–25), Zündhölzchen (P.20/18; P.21/18; vgl. P.21/18–19; P.22/6–7).

Zudem setzte Kafka oft Attribute zur Umschreibung einer Diminution ein: Das Adjektiv schmal z. B. wurde mit Bett (P.247/20), Ritzen (P.193/26), Schultern (P.39/4), Treppe (P.87/9–10; P.190/21–22; P.284/7–9) und Weg (P.58/14) verbunden; gering tritt in der Handschrift u. a. zusammen mit Erlös (P.10/23), Gefahr (P.12/6–7), Gefühl (P.12/11) und Vertrauen (P.83/16) auf; kurz erscheint hier in Verknüpfung mit Schritte (P.96/10–11; P.284/16–17), Gespräch (P.119/6), Flügel (P.137/8), Finger (P.45/20) und Seitenblick (P.263/9); niedrig diente zur Diminuierung von Angestellte (P.14/10; P.66/12–13; P.78/7–8), Grade (P.14/20), Organe (P.15/8–9), Beamter (P.80/14; P.166/3), Untersuchungsrichter (P.28/19–20), Raum (P.247/19–20) und Marmorbrüstung (P.280/26–27); an weiteren Stellen ist von schwacher Stimme (P.209/16) und einem zierlichen Kopf (P.102/14) die Rede. Besonders oft erzeugte Kafka mit dem Adjektiv klein analytische Diminutive.812 Ähnliche Attribute verband er auch mit bereits synthetisch diminuierten Substantiven:

809 Vgl. hierzu die Darstellung bei Blahak (2004: 192–194; 2007a: 180–182). 810 Vgl. P.7/7; P.16/9; P.18/24; Pv.20/3–14(1); P.27/16; P.44/16; P.45/16; Pv.48/18,20; P.55/16; P.64/5; P.79/4; P.89/20; P.108/11; P.114/12; P.117/23; Pv.125/6; P.129/14–15; P.132/19; Pv.138/11–12; P.141/13; P.144/6; P.172/16; P.202/18; P.227/1; P.239/12; P.244/12; P.252/9; P.264/16; P.271/6; P.274/1; P.276/19; P.282/18; P.298/16; P.311/12; zur besonderen Verwendung von Weilchen bei Kafka s. Nekula (1998: 246). 811 Vgl. P.9/20; P.13/9; P.20/26; P.32/11; P.44/14,18,25–26; P.137/3; P.172/17; P.186/11; P.192/27; P.195/23. 812 Vgl. P.16/4,6; P.40/9–10; P.49/3; P.53/11,17–18; P.54/25; P.56/5; P.58/11,26; P.58/27–59/1; P.61/4–5; P.70/15; P.80/23; P.86/1,3; P.94/21; P.100/8; P.106/7; P.114/16; P.118/6; P.119/18; P.122/13; P.130/1,14; P.133/23; P.143/25; P.146/10,25; P.153/2; P.158/20; P.160/21; P.161/15–16; P.162/3; P.171/23; P.172/6; P.175/21; P.180/2; P.181/8; P.188/15; P.189/9; P.190/25; P.192/1; P.193/22; P.199/10–11; P.210/1; P.217/26; P.227/2; P.229/12; P.231/15; P.242/25,26; P.243/2; P.244/7–8; P.247/17; P.271/3; P.273/10; P.274/7; P.275/23; P.279/6; P.280/1,25–26; P.281/23–24; P.282/1; P.283/16; P.284/3; P.287/3; P.291/4; P.292/7; P.293/17; P.297/26; P.305/6,22; P.307/25; P.309/7,11; P.310/8.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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ein junges Mädchen (P.54/14–15; P.130/9; P.264/20), kleine […] Äuglein (P.71/9), ein kleines Weilchen (P.79/4), bei einem kleinen Tischchen (P.137/3), kleine Mädchen (P.189/11), an seinem kurzem […] Röckchen (Pv.275/4).

Zählt man zu diesen insgesamt 188 Belegstellen noch die 125 Fälle von Fräulein und Mädchen im Manuskript, so fällt im Schnitt auf fast jede Seite der KKA des Proceß ein Diminutiv. Wie Nekula (2003c: 162) weiter feststellt, trete die analytische Diminution in der tschechischen Schriftsprache weitaus frequenter in Kombination mit der synthetischen Diminution auf. In diesem Zusammenhang sei es auffällig, dass Kafka im Schloß-Manuskript ursprünglich reduplizierte diminutive Formen tilgte. Überprüft man vergleichend die Proceß-Handschrift auf Fälle nachträglicher Durchführung oder Aufhebung von Diminution, so ergibt sich das gleiche Überwiegen der Beispiele für die Tilgung von Attributen, die Diminution umschreiben: Eine [k{l}eineA] Spielkug(l>e){l} (Pv.55/16), hielten [kleine Kin] Säuglinge (Pv.56/6), [mit […] kurzen Schritten] (Pv.96/8), ein [junges] Mädchen (Pv.97/23), [einen leichten Kuss] (Pv.145/27), [mit der kleinen Luke] (Pv.152/27), in K.s [kleiner Schriftenregistratur] {Bücherständer} (Pv.187/7–8(2)), [schmaler (GüA>Le)dergürtel] (Pv.192/12–13), [kleine] {Winkel} Advokaten (Pv.234/21–22; vgl. Pv.234/23; Pv.242/13), [der geachtete kleine Advok.] (Pv.244/3–4), [{zehn kleine Schreibmaschinenmädchen}] (Pv.256/2–3), einen [schmalenA] L(ichA>uft)schacht (Pv.265/21), eine [kleine] Lampe (Pv.284/4), [in der Form eines niedrigen Baumstumpfes] (Pv.311/5–6).

Wesentlich seltener lässt sich ihre spätere Hinzufügung nachweisen: Am Deckbalken der {niedrigen} Tür (Pv.98/26–27), eine {kleine} Luke (Pv.100/8), am andern Ende des {kleinen} Ganges (Pv.129/27–130/1), kurze(r>s) [Rock bes] ihn steif umgebendes Röckchen (Pv.350/6–7).

Daneben finden sich mehrfache Ansätze zu analytischen Diminutiven, die letztlich aber nicht zu Ende geführt, sondern wieder gestrichen wurden: einer [kle] [niedri] Tür (Pv.108/6), Der Domplatz [winzi] [ganz] [klein im Verhält] war ganz leer (Pv.279/5), dieses [kleinen] engen Platzes (Pv.279/7).

Aus alledem geht hervor, dass Kafka einerseits Diminutive bewusst mit Charakterisierungsfunktion einsetzte, z. T. aber auch gewärtig war, dass eine zu häufige Verwendung als

410

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Regionalismus gelten konnte. Da die (regional eingrenzbaren) l- und i-Suffixe weitgehend auf Eigennamen und wörtliche Rede beschränkt bleiben, können sie letztlich nicht als Regionalismen klassifiziert werden. Das Gleiche gilt im Falle der erhöhten Frequenz der nach standarddeutschem Muster gebildeten synthetischen wie analytischen Diminutive, denn ihre sprachliche Quelle ist nicht exakt bestimmbar. 5.2.4  Pronomen 5.2.4.1  Personalpronomen 5.2.4.1.1  Vom Standarddeutschen abweichende Formen der 1. Person Singular und Plural Punktuell treten im Korpus Personalpronomen der 1. Person Singular und Plural in einer morphologischen Gestalt auf, die dem regionalen Substandard zuzuordnen ist. Zunächst fallen verschriftlichte Assimilationsformen auf, in welchen das Personalpronomen der 1. Person Singular unter Ausfall von ‹h› oder ‹ch› mit einem folgenden Verb, das mit einem Verschlusslaut beginnt, verschmilzt: ach ic(k>h) kenne Katzen (Sv.219/7), I(g>c)h gieng (N1v.142/19). Da das Jiddische solche verkürzten Formen nicht kennt,813 lässt sich der Befund als Direktanzeige einer mundartlichen Interferenz deuten: Denn fast im gesamten oberdeutschen Sprachraum814 wird das Personalpronomen der 1. Person Singular auf der Ebene der Dialekte ohne Reibelaut realisiert (König 162007: 155).815 Gegenwärtig sieht Eichhoff (2000: 34; K. 4–62) das Phänomen hier häufig auch in einer der Standardsprache nahen Sprechweise präsent. Wiesinger (22008: 59) betrachtet das Pronomen i ebenfalls bereits als Teil der regionalen Umgangssprache Österreichs, die sekundäre Dialekteigenschaften in sich aufgenommen hat.

813 Hier wird das Pronomen unverkürzt als ich (bzw. ech) realisiert (Wolf 1962: 125; Birnbaum 1979: 248; Weissberg 1988: 144, 267; Lötzsch 1990: 95; Jacobs 2005: 175). 814 Ausnahmen bilden Teile der niederalemannischen Dialekte, wo isch vorherrscht, und die ostfränkischen Dialekte nördlich des Mains, wo bereits ich gilt. Südlich des Mains wird ich ostfränkisch nur in anhängiger Stellung zu i, in unabhängiger Stellung nur im Westen/Süden des Dialektareals (Hörlin 1988: 241). 815 In den nördlich angrenzenden mitteldeutschen Dialekten wird ich dagegen wie im Standarddeutschen, im niederdeutschen Raum als ik/ek realisiert (König 162007: 155).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

411

Abb. 18:  Die Verbreitung von i als Personalpronomen der 1. Person Singular im deutschen Sprachraum

Daneben findet sich in Kafkas Varianten, wenn auch singulär, ein Beispiel für den Ansatz zur Verschriftlichung des Personalpronomens der 1. Person Plural als mir: auch wenn (m>w)ir {einmal} alle[rA] Tagessorgen abzuschütteln versucht haben (N2v.651/7–8=Dv.350/9–10). Nach Eichhoff (1978: 34; K. 120) ist dieses mir, das es auch im Jiddischen gibt,816 in der Gegenwart 816 Zum Westjiddischen vgl. Beranek (1965: 40–41), zum Ostjiddischen vgl. Wolf (1962: 145), Birnbaum (1979: 249), Weissberg (1988: 261), Lötzsch (1990: 120) und Jacobs (2005: 185).

412

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Abb. 19:  Die Verbreitung von mir als Personalpronomen der 1. Person Plural im deutschen Sprachraum

im gesamten ober- und westmitteldeutschen, ferner im thüringischen und obersächsischen Raum regional-umgangssprachlich verbreitet.817 Für Österreich bestätigen Ebner

817 Zur Verbreitung auf Dialektebene vgl. Merkle (61996: 122), Mayr (21930: 154), Hörlin (1988: 243, 245), Frey (1975: 160), Hasselberg (1979: 112), Post (21992: 123–124), Bücher (1986: 690–691), Frings (1936: 208) und Spangenberg (1962: 22).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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(21980: 126) und Wiesinger (22008: 59) die Präsenz in der Umgangssprache. Doch ist hier stärker als im Falle des Pronomens i ein Grenzfall zwischen Dialekt und regionaler Umgangssprache anzunehmen: Zu Kafkas Zeit registrierte Lehmann (1899: 36) das Personalpronomen mir in der 1. Person Plural als in Wien verbreitete mundartbedingte Fehlform im Schriftdeutschen; und noch heute führen es die meisten dialektbezogenen Fehler-Typologien als Direktanzeige von Dialekt auf.818 Kafkas Sofortkorrekturen zeigen in jedem Fall, dass er selbst Normabweichungen erkannte. Obwohl die Anzahl der Belege relativ bescheiden ist, können die schriftlichen Realisierungen von ich als i und von wir als mir unter die Regionalismen des Typs A1/ rU(d)[O–] bzw. A1/D[O+M–] eingeordnet werden819 – besonders angesichts quantitativ aussagekräftigerer Beobachtungen zu Kafkas Personalpronomen, die im folgenden Teilkapitel behandelt werden. 5.2.4.1.2  Ellipse der Personalpronomen der 1., 2. und 3. Person Singular Die Vermutung, dass die im Korpus vorliegende Verschmelzung von ich mit dem folgenden Verb eine mündliche Verwendung des Personalpronomens [i] anzeigt, wird gestützt durch den häufigen völligen Ausfall von ich im Manuskript;820 denn dieser tritt in fast drei Vierteln (34 von 46 bzw. 73,91 Prozent) der Fälle dort auf, wo die vokalische Umgebung die Klitisierung eines zu [i] verkürzten Personalpronomens bis hin zur Totalassimilation begünstigen würde. Besonders häufig fehlt ich vor Präpositionen, Pronomen oder Temporaladverbien, die mit i oder j beginnen, wo demnach proklitische Assimilationsprozesse vom Typ [i-ın] > ‹in›, [i-ım] > ‹im›, [i-i:ɐ] > ‹ihr›, [i-i:n] > ‹ihn›, [i-jεtst] > ‹jetzt› etc. ihren Niederschlag im Schriftbild gefunden haben könnten:

818 Vgl. u. a. Kalau (1984: 164), Hasselberg/Wegera (1976: 67) und Henn (1980: 82). Fälle von hyperkorrektem wir anstelle von mir vermerken zusätzlich Zehetner (1977: 92) und Koller (1991: 109). 819 Geht man von einem Personalpronomen mir in der 1. Person Plural aus, dann ließen sich Fälle scheinbarer Inkongruenz zwischen dem Singular des Prädikats und dem Plural des Subjekts (vgl. Kap. 5.2.1.7) auch als Verschriftlichung phonetischer Assimilationsprozesse über Morphemgrenzen hinweg vom Typ [-ən-mi:ɐ] > [‑ə mi:ɐ] > ‹‑e wir› erklären: wollte›n‹ wir ihn darin nicht stören (Se.337/2–3), die Arme hatte›n‹ wir voneinander gelöst (N2e.229/1–2), konnte›n‹ wir ihn nicht überklettern (N2e.316/20–21). 820 Um stilistische Ausprägungen eines Telegrammstils oder des „modus modestiae“, die Nekula (2003a: 113) als Ursache für ich-Ellipsen in Kafkas Tagebüchern in Erwägung zieht, handelt es sich zweifellos nicht, da ich in den vorliegenden Beispielen nicht in Initialstellung ausfiel.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

{für das was {i}(i>c)h ihnen sagen will} (Pv.39/23), Dann will {ich} ihn lieber beim Warten verfehlen (Sv.167/9–10), Darf ›ich‹ ihn jetzt holen? (Ve.396/17), so geh ›ich‹ jetzt (N1e.107/5=Dv.400/14), Glauben Sie, daß ›ich‹ ihn finden werde? (N1e.107/9=Dv.400/18–19), als {ich} ihr das Geld in die Hand gab (N1v.127/17–18), dass ›ich‹ {in} Riva […] {bleiben soll} (N1v.309/2), wä(r>h)rend {ich} im Wasser schwamm (N1v.403/21), bin ›ich‹ in dem mir bestimmten Zimmer (N2e.343/12–13), bog i(n>c)h in jene Baumgruppe ein (N2v.420/6).

Auch bei folgendem e/ei, besonders vor dem Pronomen es, das selbst zur Enklise neigt,821 scheint eine Verschriftlichung von Proklisen der Art [i-εɐ-] > ‹er-›, [i-ai-] > ‹ei-› und [i-εs] > [i-s] > ‹es› vorstellbar: und {ich} erfuhr nun (Pv.181/16), Als Kind [habe ich] {war} ›ich‹ einmal [mit] dabei (N2v.264/17), daß (es>ic)h es aber […] für vorteilhaft halten würde (Pv.323/11–13).

Enklise begünstigende Positionen liegen wiederum an Textstellen vor, wo der ich-Ausfall nach dem Relativpronomen die ([di:-i] > ‹die›) oder Verben in der 1. Person Singular Indikativ Präsens/Präteritum bzw. Konjunktiv Präteritum ([‑ə-i] > ‹‑e›) zu konstatieren ist:822 Die einzige Buße, die ›ich‹ | auf mich nehmen kann (N1e.207/23–24), Niemals hatte {ich} früher so große Sorgen (Pv.254/6–7(1)), Nur eine Bitte habe (.>i)ch (Sv.137/11–12), das verstehe {ich} (Sv.288/2– 3(4)157*), „Das glaube[“] ich. (N1v.154/19), in das Totenhemd schlüpfte {ich} wie ein Mädchen ins [Tanzkleid.] Hochzeitskleid (N1v.313/4–5), hoch schwebe ›ich‹ vor dem Kellergewölbe (N1e.314/12– 13=Dv.445/9), überall hätte (e>i)ch die Aufmunterung gebraucht (N2v.150/27–151/1), Geld brauche {ich} keines (N2v.307/21–22), es ist [so], als hätte {ich} während des Augenblicks […] einen langen und tiefen Schlaf getan (N2v.603/15–17), denke {ich} (N2v.608/16), {So} könnte {ich} also eigentlich [{ein wenig}] warten (N2v.613/26), sagte {ich} und vergaß (Dv.270/22).

Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang ein Fall von Tilgung eines bereits niedergeschriebenen Pronomens nach der temporalen Subjunktion ehe ([e:ə-i] > ‹ehe›): Aber ehe [ich] die Taschen durchsuche (Vv.167/22–23).

821 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.1. 822 Vgl. die bereits in Kap. 5.1.1.1.6 diskutierten Fälle, in welchen es umgekehrt zur Apokope des auslautenden [ə] bei flektierten Verbformen kommen konnte, v. a. wenn ich folgte bzw. überhaupt vor folgendem Vokal.

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Weitere ich-Ausfälle an En- und Proklise zugleich begünstigenden Textstellen erhärten den Eindruck, die Totalassimilation eines phonetisch als [i] realisierten Personalpronomens habe zu seiner Elision in der Schrift geführt: das gebe {i}(xx>ch) Ihnen (Sv.112/10), so wie ([e]>i)ch es mir gemerkt hatte (Sv.353/13), so würde {ich} es doch vorziehn (Vv.92/17–18), Auf diese Vorwürfe […] hätte {ich} ihm leicht antworten können (N1v.200/16–18), erinnere (miA>ic)h mich (N2v.574/11), denn e(tA>n)tweder müßte ›ich‹ ihn allein hinablassen (N2v.597/17), aufatmend stehe {ich} in einem regelrechten (W>Ga)ng (N2v.604/6–7).

Andere Ursachen wie einfaches Vergessen dürften dagegen die ich-Ellipsen an allen sonstigen Textstellen bedingt haben: Aber auch ›ich‹ bin eitel (Pe.142/11), Freilich unwissend bin {ich}, (Sv.91/11), und {ich} verbrachte am Bettrand die halbe Nacht (Sv.330/6–7), sonst bin ›ich‹ wirklich verloren (Ve.182/20), über einem Abgrund lag {ich}, (N1v.304/1–2), wie dieses (RuhA>Mö)bel in meine Mansarde heraufgekommen ist, weiss ›ich‹ nicht (N1e.414/1–3), mehr als {ich} verschenken kann (N2v.288/22), übe nicht {ich} aus (N2v.292/26), dann bin ›ich‹, gar wenn Du noch hie und da ein kleines Geschenkchen aus Liebe hinzufügst […] treu und ausdauernd (N2e.309/6–9), und auch {ich} lasse hie und da von mir hören (N2v.424/19–20), Zugeben aber will {ich}, daß (N2v.584/17), Und {ich} | habe Lust (N2v.593/23).

Vor dem Hintergrund der in Kap. 5.2.4.1.1 angeführten Beispiele für die Verschriftlichung von ich als ‹i› relativiert die Konzentration des ich-Ausfalls auf Stellen besonderer lautlicher Umgebung die Annahme einer Interferenz aus der Pro-Drop-Sprache Tschechisch, trotz bestehender Parallelen. Das Jiddische kann aufgrund der schon angesprochenen Morphologie seiner Personalpronomen die betrachteten Ausfälle ebenfalls nicht bedingt haben.823 Korrekturen durch die Prager Presse (Dv.445/9), die Zeitschrift Hyperion (Dv.400/14,18–19) und Max Brod (z. B. Kafka 1953b: 145, 159, 313) erweisen die überregionale Nichtzulässigkeit des Phänomens im Schriftdeutschen. Auch wenn ich prinzipiell nur in wörtlicher oder innerer Rede entfallen kann, ist nicht davon auszugehen, Kafka habe bewusst auf das Personalpronomen verzichtet, um fiktive Mündlichkeit zu erzeugen. Indem er sich in immerhin 31 von 46 Fällen (zu 67,39 Prozent) noch im Schreibprozess berichtigte, machte er deutlich, dass er einen Normverstoß erkannte und

823 Allerdings fehlt in vielen jiddischen Mundarten das Personalpronomen auch dort, „wo es phonetisch mit einem anderen Wort nicht total assimilieren und verschmelzen konnte“ (Geller 2001: 146).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

diesen zu vermeiden suchte. Somit kann die ich-Ellipse an den betrachteten Positionen als unwillkürlich und primärsprachlich induziert aufgefasst werden. Mit Blick auf das Areal, in dem ich mündlich ohne Reibelaut realisiert wird,824 ergibt sich ein Regionalismus des Typs A1/rU(d)[O–]. Die noch häufigere Ellipse des Personalpronomens es fiel bereits Kurt Krolop (2005: 218) in Kafkas Prosa auf. Da sie in Hermann und Julie Kafkas Korrespondenz ebenfalls nachweisbar ist, stufte sie Nekula (2003a: 114) als regional gruppenspezifisch ein. Auch Brod ging offenbar von einem Regionalismus aus,825 den er in seiner Werkausgabe beseitigen zu müssen glaubte.826 Kafkas Leipziger Herausgeber sahen sich gleichfalls zur Korrektur genötigt.827 Erneut sind hier Parallelen zur Pro-Drop-Sprache Tschechisch zunächst nicht auszuschließen, denn häufig fehlt im Manuskript ein nicht referenzielles es in unpersönlichen Konstruktionen der Art es ist kalt, spät, fünf Uhr etc. Phraseologisch weisen solche Belege Übereinstimmung mit tschechischen Äquivalenten (je zima, pozdě, pět hodin etc.) auf, die ohne Personalpronomen auskommen. Doch liegt es angesichts der bisherigen Beobachtungen zu Reflexen des e-Schwundes durch Klitisierung näher, den es-Ausfall auf Allegroformen gesprochener Sprache zurückzuführen: Hier gilt die Abschwächung schwachtoniger Pronomen besonders für das ,notorisch unbetonte‘ es, das sich satzphonetisch an das präponierte Wort anlehnt und unter Vokalverlust mit diesem verschmilzt (Koller 1991: 108). In diesem Zusammenhang fielen im Korpus bereits Stellen auf, an welchen Kafka die Verschmelzung von es mit einem vorausgehenden auslautenden ‑e verschriftlichte: duldet(es>e) es (Pv.303/12), soweit meine Schwäch(es>e) es erlaubt (Pv.137/26–27).828 Auch die dialektbezogene Fehlerlinguistik kennt die es-Ellipse und führt sie darauf zurück, „daß es (dialektal) gesprochen oft zu einem enklitischen [‑s] wird […], dessen Status als eigenständiges Wort […] besonders in der Umgebung anderer s-Laute leicht zu verkennen ist“ (Koller 1991: 122). Lägen den es-Ausfällen in Kafkas Prosa die erwähnten Phrasenmuster des Tschechischen zugrunde, dann wäre zu erwarten, dass das Pronomen gleichmäßig in unterschiedlichen syntaktischen Positionen und auch bei verschiedenen Tempora der im jeweiligen Satz verwendeten Kopula ausfiele. Dies trifft jedoch nicht zu: Auffälligerweise fehlt es in fast zwei Dritteln (42 von 64 bzw. 65,63 Prozent) der Fälle dort, wo es bei umgangssprachlicher 824 S. hierzu Kap. 5.2.4.1.1. 825 Brod (1911: 196, 239) legte ihn allerdings selbst, wenn auch wohl zur Erzeugung fiktiver Mündlichkeit, den handelnden Figuren seiner Prosa in den Mund: und gut ist – Hübsch kühl ist da. 826 Vgl. z. B. Brods Amerika-Ausgabe (Kafka 1953b: 14, 99, 101–103, 165, 191, 194, 200, 205, 230). 827 Im Heizer ergänzten sie die Textstelle Na, dann ist gut (V.13/10–11) zu Na, dann ist’s gut (Dv.71/8). 828 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.1 und 5.1.1.1.6.

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oder dialektaler Verkürzung zu [s] zur Totalassimilation an ein vorausgehendes oder folgendes [s] bzw. [∫] neigt. Wohl nicht zufällig entfällt das Pronomen besonders häufig (in 26 Fällen bzw. zu 40,63 Prozent) nach der Kopula ist. Zu [ıs] verkürzt begünstigt diese im gesprochenen Deutsch das enklitische Produkt [ıs-s], in dem das Pronomen völlig aufgehen kann. Nach war, das zwar Enklise, nicht aber Totalassimilation ermöglicht, entfällt es dagegen insgesamt nur dreimal im Korpus. Entsprechend hatte schon Schuchardt (1884: 100) eingeräumt, dass der es-Schwund im muttersprachlichen Deutsch in Böhmen nicht zwingend auf tschechische Interferenzen verweise, sondern auch auf die Klitisierung des verkürzten Personalpronomens zurückgeführt werden könne: „[…] ist gefällig? ist zwar ganz allgemein, da das aber in der Umgangssprache is gefällig? lautet, so dürfte is aus is’s (ist es) entstanden sein.“ Damit lassen sich die folgenden Belegstellen als Verschriftlichung phonetischer Assimilationsvorgänge erklären: dann ist ›es‹ eben nur Geschwätz gewesen (P.22/16–17), desto wichtiger ist (,>e)s daß ich es tue (Pv.33/4), sie ist {es} auf Deiner Seite (Pv.126/24), Ein solcher Aberglaube ist (z.>es) z. B. (Pv.236/27–237/1), ist {es} schwer (Pv.237/9), draußen ist ›es‹ zu kalt (Se.98/25), Vielleicht ist {es} doch Frieda (Sv.128/25–26), Bei mir ist {es} nämlich anders (Sv.372/27), Freilich ist ›es‹ schon fünf Uhr (S.426/5–6), Na, dann ist ›es‹ gut (V.13/10–11=Dv.71/8), Jetzt ist ›es‹ viertel zwölf (V.113/2–3), Ist ›es‹ nicht aber schon zu spät? (V.116/1–2), Ja spät ist {es} | schon (Vv.116/5(2)), schließlich ist ›es‹ ja doch schon Schlafenszeit (V.117/2–3), Dann ist ›es‹ aber höchste Zeit (V.118/11), Da ist ›es‹ schon besser, Du sagst (V.220/7– 8), dreiviertel sechs (b>i)st ›es‹ schon (Vv.230/9), Jetzt ist ›es‹ aber genug (V.266/4), Ist ›es‹ nicht schon spät (N1.23/17), Überdies ist {es} [jetzt] kalt {geworden} (N1v.123/3–4), [Ist ›es‹ hier wärmer, als unten auf der winterlichen Erde?] (N1v.316/27), auf dem Korridor ist ›es‹ finster (N2.633/1–2).

Was außerdem gegen eine Interferenz tschechischer Phrasenmuster spricht, ist zum einen der Umstand, dass das Fehlen von es in unpersönlichen Wendungen im Korpus nicht die Regel ist.829 Zum anderen konnte in Konstruktionen des Typs es ist + Adjektiv in der Folge Pronomen – Hilfsverb im Manuskript auch die Kopula fehlen.830 Dies wäre für das Tschechische, in dem být (,sein‘) obligatorisch ist, vollkommen untypisch. Dass es

829 Vgl. z. B. Dann ist es gut (P.102/13), aber ist es nicht genug (S.62/14–15), freilich ist es besser (S.117/6– 7), [Es ist nur gut] (Vv.14/19–20,1*), Wie spät ist es übrigens? (V.117/18–19), damit soll es genug sein (V.235/4), im Zimmer ist es ganz finster (V.344/22–23), Überdies ist es kalt geworden (N1.123/3–4), daß es nun Zeit sein werde (D.200/16), da es schon gegen 7 Uhr geht (D.411/10). 830 S. hierzu Kap. 5.2.1.4.

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in solchen Wendungen häufiger als ist ausfiel, lässt sich durch die stärkere Tendenz von s, sich an is zu enklitisieren ([ıs-s] > ‹is›), gegenüber dem umgekehrten Fall ([εs-ıs] > ‹es›)831 erklären. Auch bei den folgenden Beispielen sind es-Ellipsen, verursacht durch Assimilationen der Art [‑st-εs] > [‑st-s] > ‹‑st› oder [εs-ıst] > [s-ıst] > ‹ist›, nicht auszuschließen: Du selbst wußtest {es} nicht (Vv.311/3), [{es} ist so schwer ihnen beizukommen] (Pv.355/17,7*–8*). Wo das Pronomen einem auslautenden s folgt, v. a. nach einem den Nebensatz einleitenden daß, könnten entsprechende enklitisch-regressive Assimilationsvorgänge wie [das-εs] > [das-s] > ‹daß› ihre Spur in der Niederschrift hinterlassen haben: als (d>e)s die Armut des Gerichtes gewesen wäre (Pv.88/18–19), K. unterlies(s,>s) {es} | (Pv.198/16), und [niemals] daß {es} […] (fA>v)ollständig [gleichgültig] wertlos w(i>a)r (Pv.272/2–3), daß {es} jetzt um fünf Uhr schon überall […] lebendig wurde (Sv.430/9–11), froh, daß ›es‹ für das Spiel schon zu spät ist (V.116/27), daß {es} ihm im nächsten Augenblick {wieder} (di>sc)hien (Vv.135/11–12), und muß {es} auch sagen (Vv.247/24–25), daß {es} auf dem Papier […] aufgemalt ist (N2v.339/17–18).

Die Position vor s oder sch könnte wiederum es-Proklisen mit vollständiger Assimilation vom Typ [εs-s-] > [s-s-] > ‹s-› bzw. [εs-∫-] > [s-∫-] > ‹sch-› gefördert haben:832 weil {es} so viel{e} waren (Sv.59/13–14), als handle {es} sich um offenkundige Dinge (Sv.479/3–4,55*– 56*), Nach der Buerauuhr war ›es‹ schon viertel sechs vorüber (V.223/9–10), weil ›es‹ schon spät ist 833

(N1.252/2),

{wenn (s>e)s sie gäbe} (N2v.667/12(2)), auch war ›es‹ schon spät abends (N2.550/12).

Besonders anfällig dürfte Kafka für die Auslassung von es gewesen sein, wenn die genannten En- und Proklisen-Positionen kombiniert auftraten: Freilich ist ›es‹ schon fünf Uhr (S.426/5–6),

834

Ja spät ist {es} | schon ist{“} [schon] (Vv.116/5–6(2)),

Dann ist ›es‹ schon gut, dann ist ›es‹ schon gut (V.236/17–18).

831 Dieser ist im Korpus allerdings auch nachweisbar: Vgl. z. B. aber ([est]>es) ist (Sv.138/5–6(1)), E(st>s) ist (Sv.273/7), E(stA>s) ist (N2v.509/18). 832 S. hierzu auch Kap. 5.1.3.2. 833 Vgl. dagegen auch das Beispiel Wie spät ist es […]? (V.117/18–19; V.118/24) im Korpus. 834 Vgl. demgegenüber auch Belegstellen wie Es ist ja schon halb zwölf vorüber (V.115/17–18), Es ist ja schon dreiviertel sechs (V.230/3), es ist halb sieben (V.246/21–22) im Korpus.

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Bloße Flüchtigkeitsfehler bzw. Versehen dürften dagegen dort im Korpus vorliegen, wo keine Möglichkeit zur lautlichen Totalassimilation besteht:835 ob ›es‹ dort wirklich leer war (P.159/22–23), als ob {es} K. sei (Pv.324/23), Wie still und schön ›es‹ hier war! (S.161/4), wie sie {es} ertragen hat (Sv.331/11–12), Bertuch duldete (,>e)s, weil (Sv.343/7), nun war {es} also doch geschehn (Sv.371/2), auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen und {es} war ganz richtig (Vv.54/23–55/1), und ›es‹ wä(l>r)e ihr wohl auch gelungen (Vv.190/15–16), aber {es} kam nicht (Vv.243/24), nicht leicht war {es}, den Unrat […] zu beseitigen (N1v.367/4–5), wie ich {es} getan habe (N1v.391/1–2), dann wird ›es‹ gleich dunkel (N2.358/2), die notwendige Arbeit wäre {es}, (x>u)nd (N2v.620/16–17), wie habe ich {es} angestell(lt>t) (N2v.621/15), Wahr(h>s)cheinlich bohrt {es} mit einem einzigen mächtigen Stoss d(i>e)n Rüssel in die Erde (N2v.623/2–625/4,38*–39*), ich 836

bin (,>e)s, der alte (N2v.648/19).

Hier haben möglicherweise auch spontane Perspektivenwechsel Kafkas gelegentliche Nachträge des Personalpronomens bedingt. Häufig könnte es nämlich auch später im Satz stehen, wäre bei der Wahl eines anderen finiten Verbs obsolet oder ließe sich mittels eines durch dass eingeleiteten Nebensatzes substituieren: als sei {es} nicht er, den der Maler soeben einen armen Mann genannt hatte (Pv.205/1–2), und versuchte {es} gleichzeitig so [darzustellen] {wenden} (Pv.324/22), dann müßte er {es} durch die beiden Gehilfen tun (Sv.396/22–23), wie sie {es} vor fremden gutgestellten Leuten immer machten (Vv.166/5–6), 837

[warum sie e(r>s) erlaubte] (Sv.450/5(1)), ob er {es} auch noch wünschen soll (N2v.244/24–25).

Aus Kafkas mehrheitlichen Sofortkorrekturen (in 39 von 64 Fällen bzw. zu 60,94 Prozent) lässt sich schließen, dass ihm die es-Ellipsen unwillkürlich unterlaufen waren und er sie prinzipiell als normwidrig betrachtete. Ihr Vorkommen in der Erzählhandlung spricht ebenfalls dagegen, dass er sie bewusst als Element konzeptioneller Mündlichkeit einsetzte. Auch wenn das mutmaßlich phonetisch induzierte Phänomen dem Substandard angehört, lässt es sich keiner Regionalismus-Kategorie zuordnen: Wie schon in Kap. 5.1.1.1.1

835 Analog zum ich-Ausfall kann allerdings in vielen jiddischen Mundarten das Personalpronomen es an Positionen fehlen, die keine Totalassimilation begünstigen (Geller 2001: 146). 836 Vgl. dagegen so finster war es (V.128/19) im Korpus. 837 Denkbar wären hier u. a. folgende alternative Formulierungen: als sei nicht er es, den der Maler […] – […] und versuchte gleichzeitig, es so zu wenden – dann müßte er durch die beiden Gehilfen handeln – wie sie vor fremden gutgestellten Leuten immer handelten – warum sie erlaubte, dass […] – ob er auch noch wünschen soll, dass […].

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

erläutert, gehört die zugrunde liegende, reduzierte Form des Personalpronomens es zu den überregionalen Allegroformen des gesprochenen Deutsch (Fuchs/Schank 1975: 13; Schwitalla 32006: 39). Aufgrund der bisherigen Beobachtungen dürfte sich das häufige Fehlen obligatorischer Personalpronomen der 3. Person Singular Maskulinum letztlich ebenso durch den Niederschlag phonetischer Assimilationsprozesse im Schriftbild erklären lassen; denn auch hier weisen fast drei Viertel (43 von 60 bzw. 71,67 Prozent) der Belegstellen eine entsprechende lautliche Umgebung auf: So kann ein mündlich als [e:ɐ] realisiertes er in unbetonter Position an ein vorausgehendes e, das in Nebensilben zu [ә] abgeschwächt wird, totalassimiliert werden. Entsprechend ließ Kafka das Pronomen mit Vorzug (zu 43,1 Prozent) nach Verben in der 3. Person Singular Konjunktiv Präsens bzw. Indikativ/Konjunktiv Präteritum aus: Im Geheimen glaubte {er} [dadurch] eine[n] [Vorteil] {Beschleunigung des Ganzen damit} erreicht zu haben (Pv.19/10–12), vor der Tür […] stockte (,>e)r (Pv.47/26–48/1), verzichtete {er} auf die Verteidigung (Pv.60/4), jedenfalls aber wollte (,>er,) darin konnte er sich selbst beraten, [die nächsten] {alle zukünftigen} Sonntagvormittage besser als diesen verwenden (Pv.107/18–21(1)), und als bitte {er dringend} wieder um die Versetzung (Pv.137/11–12), hätte {er} e(r>i)nlassen müssen (Pv.295/17–18), dachte (iA>e)r im Anblick (Pv.307/3), Dann legte {er} die Sachen sorgfältig zusammen (Pv.310/24–25), wollte {er} doch (Sv.183/18(1)116*–117*), gewöhnte {er} sich an K. (Sv.224/12), würde (es>er) es nicht wagen (Sv.285/20–21), hätte {er} doch (Sv.321/21), würde (x>er) in tiefen Schlaf sinken (Sv.419/8–9), lobte {er} Fräulein Klaras Kunst (V.83/4–5), hätte || ›er‹ nicht noch im letzten Augenblick […] den Zimmerboden berührt (Ve.90/3–5), darin wollte {er} sie nicht noch unterstützen (Vv.154/23), dabei klatschte {er} laut zweimal in die Hände (V.296/2–3), sagte (u>e)r und lief zurück (Vv.383/1), Es sah aus, als sitze ›er‹ bei schönem {Wetter} in einem Felde (N1v.15/14–15), als halte e(s>r) es für vornehmer (N1v.35/23–24), als suche {er} drin etwas (N2v.248/13–14), Schließlich sagte ›er‹ (N2e.285/16), Auch […] Kinder habe {er} (N2v.305/1), noch niemals […] hatte {er} freiwillig den Käfig verlassen (N2v.388/15–17=Dv.337/24–26), als erwarte {er} vielleicht (Dv.123/7), dabei hätte {er} gerade jetzt mehr Grund gehabt (Dv.184/20).

Dass Kafka beim Schreiben in der bewussten lautlichen Umgebung zur Enklise des Personalpronomens er neigte, hat sich bereits in Kap. 5.1.1.1.6 an Autokorrekturen des Typs konnt(er>e) er (Pv.11/5), blickt[er] er (Sv.168/12), hätte[r] er (Vv.54/16) etc. gezeigt. Hat in diesen Beispielen das Zusammenspiel der Apokopierung des Verb-Flexivs und der Enklise des folgenden Personalpronomens noch keine totale Assimilation bewirkt, so ist es denkbar, dass dieser Prozess an anderer Stelle bis zum Ausfall von er im Schriftbild fortgeschritten sein könnte. Ein interferenzielles Einwirken der Pro-Drop-Sprache Tschechisch lässt sich insofern bereits an dieser Stelle als weniger wahrscheinlich betrachten.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Auch alle weiteren Positionen, in welchen das unbetonte Pronomen [ɐ] nach vokalischem Wortauslaut fehlt, scheinen eine regressive Assimilation begünstigen zu können. Besonders ist dies nach ‑a(h) (bzw. [‑a:]) oder (vokalisiertem) ‑r838 (bzw. [‑ɐ]) der Fall:839 da ›er‹ mi(x>t) […] Schlauheit und mit ([mA]>v)iel Liebe […] geschrieben ist (Vv.41/10–12), Jetzt erst sah ›er‹, wie sich der Gang mit Menschen gefüllt hatte (N1e.49/9–10), so sehr war ›er‹ darüber empört (Ve.259/22).

Aber auch nach ‑ei,840 ‑ie und ‑o ist [ɐ] im gesprochenen Deutsch assimilierungsanfällig. Im Korpus lauten entsprechende Belegstellen: Es schien ihm, als sei ›er‹ [ihm] {besonders} ([ fr]>nä)her gekommen (N1v.48/19–20), die {er} persönlich niemals betreten würde (Vv.85/4–5), wo {er} so lange in {seiner} nächsten Nähe stand (Vv.263/8–9).

Wie bereits in Kap. 4.4.2 und 5.1.3.2 gezeigt wurde, konnte in Kafkas flüchtigem Schreibprozess das Aufeinanderfolgen zweier gleicher Silben zu deren Reduktion führen. So lässt sich auch der Verlust von er nach der Konjunktion aber ([a:bɐ-e:ɐ] > [a:bɐ-ɐ] > ‹aber›) oder vor dem Präfix er- ([e:ɐ-e:ɐ-] > [e:ɐ-] > ‹er-›) als phonetisch induziert erklären: aber {er} hatte auch den Kopf wieder zurückziehn können (Pv.176/20), aber {er} wußte keinen Ausweg (Vv.160/4), Aber {er} muß sich die Stiefel ausziehn (Vv.294/7), aber {er} glaubte (Vv.408/22–23), Aber {er} fand nichts (Sv.168/4(2)69*), was {er} erzählt (Sv.288/2–3(4)3*).

Fälle von Proklise können demgegenüber dort vermutet werden, wo er vor geschriebenem ‹e-› oder ‹a-› ausfiel, zumal in Positionen, an welchen das Pronomen sprechsprachlich auf ein schwachtoniges [ɐ] reduziert werden würde:841

838 Zur mutmaßlichen r-Vokalisierung in Kafkas mündlich verwendetem Deutsch, die im Schriftbild Auslassungen provozieren konnte, s. Kap. 5.1.2.11.2. 839 Vgl. Beispiele von kontrahierten Formen, in welchen das Pronomen noch erkennbar blieb, z. B. d(er>a) er (Pv.294/16), war (a>e)r sehr beschäftigt (Sv.183/18(2)170*–208*). 840 Nach den Befunden von Kap. 5.1.1.3 monophthongierte Kafka hochdeutsch [ai] beim Sprechen offenbar gemäß Wienerischer Lautung zu [ε:]. 841 Hier ist Kafkas Tendenz, im Mündlichen anlautendes [ai-] zu [a-] zu monophthongieren (vgl. Kap. 5.1.1.3) und den Indefinitartikel als [a] zu realisieren (vgl. Kap. 5.2.2.1), in die Überlegung einzubeziehen.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Bringt {er} es dann allerdings öffentlich zur Sprache (Pv.109/26), wenn e(i>r) {einmal} die {grosse} Eingabe fertig(stA>g)estellt hätte (Pv.174/13–14), als {er} eine […] Geschäftsreise machen sollte (Pv.271/14– 15), gesprochen aber hat {er} auch mit ihr nicht (Sv.81/4–5).

En- wie proklitische Vorgänge könnten sich ferner dort im Schriftbild ausgewirkt haben, wo ein zunächst gedachtes, lautlich im vorausgehenden [‑ɐ] und/oder folgenden anlautenden [εɐ-] aufgegangenes Pronomen [e:ɐ] durch ein nachgetragenes Karl ersetzt wurde:842 Aber {Karl} erklärte [ganz] offen (Vv.184/9). Für die restlichen er-Ausfälle dürften demgegenüber einfache Flüchtigkeitsfehler verantwortlich gewesen sein:843 wenn {er} nur ein wenig zweckentsprechend ist (Pv.46/18–19), ob {er} sie schon […] früher gesehen hatte (Pv.280/11–12), noch ist ›er‹ mehr wert als die andern (Se.177/26), Dabei strengt {er} sich an (Sv.404/7,15*), hinter seinen Dingen ist ›er‹ her wie ein Jagdhund (Sv.404/7,16*–17*), jetzt drückt {er} mich noch an die Wand (Vv.121/15), während {er} nach dem Auftrag des Photographen den Apparat hatte anschauen müssen (Vv.134/25–26), Zerstören wird {er} ja die Bälle gewiß (N1v.237/25–26), vielleicht hat {er}, obwohl das […] nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt (N2v.41/27–42/2), Und dann soll (mA>e)r müde von der Reise wieder zurücktaumeln (N2v.225/20–21), auch nicht den entferntesten kindlichen Sinn sieht {er}. (N2v.281/5), rief {er} und stieß {einmal} mit den Elbogen herum (Dv.108/4–5).

Plötzliche Perspektivenwechsel Kafkas kommen besonders dort als Grund nachträglicher er-Ergänzungen in Frage, wo das Subjekt einer ursprünglichen Passiv-Konstruktion durch die Einfügung des Pronomens zum Akkusativ-Objekt einer Aktiv-Konstruktion mutieren würde: dass (d>er) den eigentlichen Dom verlassen durfte (Pv.303/3,19*), alles, was {er} benötigt (N1v.236/15), daß {er} sie dort […] zerdrücken wird (N1v.238/21–22), es fällt hiebei Blumfeld ein, daß {er} die Bälle

842 Vgl. die Beispiele fragte[rA] {d}er {Vater} (Dv.55/25) sowie hatte (g>K). gar nicht Zeit (Pv.343/25), in welchen ähnliche Korrekturvorgänge nachweisbar sind (vgl. Kap. 5.1.1.1.6). 843 Wie die Personalpronomen ich und es kann allerdings auch er in vielen jiddischen Mundarten in Positionen fehlen, die keine Totalassimilation begünstigen (Geller 2001: 146).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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(w>v)ielleicht am besten dadurch unschädlich machen könnte (N1v.247/20–21), mit dem Bauche 844

wird {er} die Länge des Weges ausmessen (N2v.73/17–18).

Da das Pronomen gleichermaßen in wörtlicher wie in erzählter Rede entfiel und von Kafka in 51 von 60 Fällen (zu 85 Prozent) sofort nachgetragen wurde, kann man nicht von einem bewussten er-Verzicht ausgehen. Beurteilt man das Phänomen als vorwiegend phonetisch induziert, muss man es zu den überregionalen Allegroformen des gesprochenen Deutsch zählen.845 Hier steht der betrachtete Pronominal-Ausfall offenbar mit der Apokope des [‑ə] im Bereich der Verbalflexion vor folgendem anlautendem Vokal im Wechselspiel.846 Ein Regionalismus liegt in diesem Fall allerdings nicht vor. Seltener, doch ebenso auffällig, fehlen im Korpus auch Personalpronomen der 2. Person Singular, wo sie schriftsprachlich obligatorisch wären. Diese Ellipse lässt sich in zwölf von 13 Fällen (zu 92,31 Prozent) als Form substandardlicher Mündlichkeit erklären. Somit kann auch hier ein Einwirken des Tschechischen, in dem ty (,du‘) nur bei Emphase realisiert wird, relativiert werden. Im Unterschied zum Ausfall von ich, er und es handelt es sich allerdings nicht um einen Reflex phonetischer Assimilation, sondern um ein Phänomen mundartlicher Verbalflexion: In den bairischen und ostfränkischen Dialekten entfällt du regelmäßig, da das enklitische Allomorph der 2. Person Singular, ein Resultat der vollständigen Assimilierung des Pronomens an das Personalmorphem des Verbs, als ausreichend empfunden wird; so scheint das Pronomen im Satz zu fehlen.847 Entsprechende Stellen in Kafkas Handschriften lauten: Jetzt hörst {Du}, daß er nicht einmal gewußt hat (Pv.110/4–5), sondern (kA>D)u kommst in Geschäften (Pv.134/7–8), ›Du‹ Verkriechst Dich mit einem kleinen schmutzigen Ding […] und bleibst stundenlang weg (P.146/24–27), ›Du‹ Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, […] bist ganz offen, laufst zu ihr und bleibst bei ihr (P.146/27–147/2), {auch} könntest [auch] ›Du‹,

844 Vorstellbar wären hier z. B. folgende ursprüngliche Formulierungen: dass der Dom verlassen werden durfte – […] alles, was benötigt wird – daß sie dort […] zerdrückt werden – […] daß die Bälle vielleicht am besten dadurch unschädlich gemacht werden könnten – mit dem Bauche wird die Länge […] ausgemessen. 845 Vgl. hierzu u. a. Bethge (1973: 26), Kalau (1984: 53, 81), Naumann (1989: 190), Merkle (61996: 46) und Müller-Dittloff (2001: 238). 846 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.6. 847 Vgl. Hügel (1873: 9), Mayr (21930: 76), Merkle (61996: 126), Zehetner (42014: 105), Kalau (1984: 164) und Hörlin (1988: 242). Auch in den schwäbischen Dialekten kann das Personalpronomen ausfallen, allerdings nur in unbetonter Stellung nach Konjunktion, Präposition oder dem Verb (Frey 1975: 160).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

wenn es Dir bei uns besser gefällt, hier übernachten (Sv.52/10–11), [›Du‹ Hast wohl ein ganzes Zimmer voll mit solchen Kleidern und glaubst darin einen Schatz zu haben. Und ›Du‹ bist doch jung und schlank und könntest leicht so gut gekleidet sein] (Sv.450/5(1)), Und gesprächig bist {Du} gerade auch nicht besonders (Vv.299/6–7), Was kümmerst ›Du‹ Dich? (Ve.382/6–7), ›Du‹ Musst nicht weinen (N1v.270/3–6(1)75*), ›Du‹ Konntest Gedanken an Italien nicht verhindern, hast P. Schlehmiel vorgelesen (N2.44/10–11), warum machst ›Du‹ den andern ihre Schweigsamkeit zum Vorwurf (N2e.443/6–7).

Lediglich einmal folgt der du-Ausfall nicht dem beschriebenen nord‑/ostoberdeutschen Muster: erinnere Dich, dass ›Du‹ [mir] versprochen hast (Vv.94/7–8). Denn im Nebensatz müsste die enklitische Flexionsendung ‑st an die Konjunktion angefügt werden, so dass das Fehlen des Pronomens hier wohl einem einfachen Flüchtigkeitsfehler Kafkas entspringt. Die Fehlerlinguistik deutet die Auslassung des du im Schriftdeutschen prinzipiell als Dialekt-Direktanzeige (Kalau 1984: 164). Auch Brod glaubte, das Personalpronomen ergänzen zu müssen.848 Damit legte er bei Kafkas Prosa strengere Maßstäbe an als bei seiner eigenen.849 Allerdings spricht einiges dafür, dass Kafka in diesem Fall durch die elliptische Konstruktion fiktive Mündlichkeit erzeugen wollte: Zum einen liegen die angeführten Belege ausschließlich in wörtlicher Rede vor; zum anderen kontrastiert der geringe Anteil von Autokorrekturen (23,08 Prozent) auffällig mit den hohen Werten bei den ich‑, er- und es-Ausfällen (s. o.). Eine Kategorisierung als Regionalismus erübrigt sich somit,850 auch wenn Kafka hier höchstwahrscheinlich seinen mündlichen Sprachgebrauch und den seines Lebensumfeldes imitierte. Im Plural fehlen allein die Personalpronomen der 3. Person gelegentlich. Nur in zwei Fällen könnte dabei eine sprechsprachliche Enklise eines zu s verkürzten sie an ein vorausgehendes ‑s ([das-s] > ‹daß›) als ursächlich betrachtet werden: es genügte[n] daß (dA>s)ie den Griff nicht lockerten (Pv.307/17–18), es erscheint, daß [sie] jeden Morgen mehr werden (N1v.358/20).

848 Vgl. Kafka (1953b: 82, 353; 31954: 256; 1964: 47). Einmalig ergänzte Brod sogar statt des Personalpronomens der 2. Person Singular jenes der 3. Person Singular Neutrum: Aus Was kümmerst Dich? (Ve.382/6–7) wurde so im Druck Was kümmert’s dich? (Kafka 1953b: 353). 849 Denn in wörtlicher Rede benutzte Brod die du-Ellipse in seiner Prosa durchaus: Hast dich tüchtig ausspaziert? (Brod 1911: 27). 850 Weissberg (1988: 159) stellt den Ausfall des Personalpronomens der 2. Person Singular auch im Jiddischen fest, sieht darin allerdings eine Auswirkung des Hebräischen und des Slawischen.

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Ansonsten dürfte man bloße Flüchtigkeitsfehler Kafkas vor sich haben, zu welchen es z. T. wiederum aufgrund plötzlicher Perspektivenwechsel im Schreibprozess gekommen sein könnte. Die hohe Frequenz von Autokorrekturen, die 66,67 Prozent der Ausfälle beheben, legt diese Deutung ebenfalls nahe: wenn {sie} die Pension rei(en>n) erhalten wollen (Pv.37/14–15), woher wissen {Sie} denn etwas über mich (Pv.135/23), sind ›sie‹ oft ratlos (Pe.157/5), Sichtlich bös rief {sie}: (Vv.89/25), Verzeihen {Sie}, ich wurde soeben abberufen (Vv.117/14–15), wobei {sie} 536 als Zimmernummer Karls nannte (Vv.174/14–15), ob [sie] nun gegen oder für ihn [redeten] {waren} (N1v.47/25(3)), so langsam rollen {sie} ein Stückchen weit (N1v.240/11–12), denn {sie} haben nach der Sitte zu tief sich eingebissen (N1v.320/3–4), dringen ›sie‹ an zehn, zwanzig ja hundert verschiedenen Stellen […] vor (N1e.334/14–16), jedenfalls sind {sie} also da (N1v.358/19–20), und schon jagten ›sie‹ am Tischrand hin (N1e.389/7–8).

Eine kleine Gruppe von Ellipsen schließlich betrifft mir, sie/ihr (Sg.), ihn/ihm und wir. Da im Tschechischen die Personalpronomen im Akkusativ und Dativ obligatorisch sind, kann es in elf von 14 Fällen zu keiner Interferenz von dieser Seite gekommen sein. Stattdessen eröffnet erneut die lautliche Umgebung in fast zwei Dritteln (neun von 14 bzw. 64,28 Prozent) der Fälle die Möglichkeit zu Totalassimilationen der Art [s-ıs] > ‹ist›, [ıs-s] > ‹ist›, [n-mi:ɐ] > ‹mir›, [fo:ɐ-i:ɐ] > ‹vor›, [i:n-ıns] > ‹ins›, [i:m-ım] > ‹im›, [i:n-ımɐ] > ‹immer› und [n-nıçt] > ‹nicht›: was für ein dummes […] Weib {sie} ist (N1v.244/2), so ist {sie} an Tagen großen Parteienverkehrs (Pv.99/19), statt dessen verstelltest Du ›ihn‹ mir (N2e.150/5–6), wenn man vor ›ihr‹ sitzt (N2e.655/23=Dv.354/12–13), ehe man i(ns>hn) ins Zimmer hineinnimmt (N1v.230/9–10), sei es um i(mA>h)m im Allgemeinen Mut zuzusprechen (Pv.67/23–24), nach welcher der Advokat {ihn} immer […] zu zerstreuen […] suchte (Pv.251/18–22), leiden kann ich (n>ih)n nicht (Sv.387/27–388/1), daß er (n>i)hn nicht genug süß finde (Sv.452/4).

Daneben scheinen auch wieder Flüchtigkeitsfehler oder abrupte Perspektivenwechsel Kafkas die Notwendigkeit, fehlende Pronomen nachzutragen, bedingt zu haben: wenn ich {ihn} schließlich hinausführe (Pv.104/1–2), Ich will mich von {ihm} malen lassen (Pv.189/26– 27), wenn {wir} ihn aus der Gemeinde ausschließen könnten (Sv.108/25–26), der Vater habe eine Abneigung gegen {ihn} und (Sv.232/8), ins Böse, das hinter {mir} die ganze Zeit […] gewartet hat (N2v.37/7–8).

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Die Gesamtanalyse der hier diskutierten normwidrigen Pronominal-Ellipsen führt zu folgendem Ergebnis: Gegen eine interferenzielle Wirksamkeit tschechischer Phrasenmuster (zumindest als hauptursächlich) spricht, dass sich die Ausfälle bei bestimmten Personalpronomen konzentrieren, nämlich bei denjenigen der 1. Person Singular und der 3. Person Singular Maskulinum/Neutrum. 170 (80,57 Prozent) von 211 Ausfällen betreffen demnach ich, er und es. Im Plural tritt die Erscheinung mit 15 Belegen (7,11 Prozent) nur marginal auf. Die 2. Person Plural bleibt von ihr sogar völlig unberührt. Beim Einwirken einer Pro-Drop-Sprache wäre zu erwarten, dass sich die Fälle elliptischer Konstruktionen wesentlich gleichmäßiger auf die Personalpronomen aller Personen verteilen. Zugleich lässt sich ein hoher Prozentsatz (67,3 Prozent bzw. 142 Belege) der fehlenden Pronomen durch die unwillkürliche Verschriftlichung phonetischer Assimilationsvorgänge regional-dialektalen oder überregional-umgangssprachlichen Charakters erklären. Für diese Interpretation sprich zum einen, dass im Korpus punktuell sowohl Personalpronomen in reduzierter morphologischer Gestalt (i, s) als auch klitische Zwischenstufen zwischen ihrer vollständigen Realisierung und ihrem Totalausfall nachweisbar sind. Zum anderen entfallen die im Fokus stehenden Pronomen (ich, er, es) vornehmlich an syntaktischen Positionen, an welchen die lautliche Umgebung Klitisierungs- bzw. Assimilationsprozesse begünstigt. Nicht zuletzt erfolgten Autokorrekturen Kafkas dort, wo Flüchtigkeitsfehler oder Auswirkungen plötzlicher Perspektivenwechsel vorzuliegen scheinen, relativ gesehen häufiger (in 53 von 69 Fällen bzw. zu 76,81 Prozent) als dort, wo Assimilation und/oder dialektale Interferenzen anzunehmen sind (in 92 von 142 Fällen bzw. zu 64,79 Prozent), wo sich ein primärsprachlicher Einfluss also stärker korrekturhemmend ausgewirkt haben könnte. Als regionalsprachlich kann dabei nur die Mehrheit der ich- und du-Ausfälle gelten, wobei allein die Ersteren tatsächliche Regionalismen, die Letzteren hingegen ein Element fingierter Mündlichkeit darstellen. Alle sonstigen mutmaßlich phonetisch induzierten Ellipsen lassen sich als Allegroformen der überregionalen Umgangssprache erklären. 5.2.4.1.3  Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Formen in der 1. und 3. Person Singular Maskulinum Wie Povejšil (1980: 45, 86) anhand gedruckter Zeugnisse nachwies, war bereits im Prag des 17. und 18. Jahrhunderts beim Personalpronomen der 3. Person Singular Maskulinum die Verwechslung der Formen mit m- und n-Flexiv üblich. Auch in Kafkas Autograph finden sich Beispiele für die Setzung von ihm statt ihn im Akkusativ:

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jetzt mußten ihm zwei stützen (Pe.104/26–27), nahm er ihm unter den Arm (Pe.311/1), um so eher w(i>ü)rd{e} er ih(m>n) anhören (Sv.162/9(1)4*), etwas was ihm dem annähern könnte (Se.359/27), reichte ih(m>n) de(n>m) Diener (Vv.117/26), die ih(m>n) öfters mit kleinen Geschenken überraschte (Vv.206/21–22), wie ihm am Abend im Schnee{fall} […] seine Frau und seine sechs Kinder erwartet hätten (N1v.197/10–11), Alte rote weit ih(m>n) umschlotternde {Fest}Livree (N1v.277/14), werde ich einen solchen Brief schreiben und [ihm vo] ihn vor der geschlossenen (B>T)ür vorlesen (N2v.226/12– 13), stoß ih(m>n) doch schon hinunter (N2v.311/16–17), sie hätten ih(m>n) […] gewiß verschwinden lassen (Dv.418/11).

Genauso lassen sich Fälle von ihn statt ihm im Dativ belegen:851 gemeinsam mit ihn zu kündigen (Pe.37/26), es wird daher [nicht nur] besser und auch {ihn} am liebs­ ten sein (Pv.101/12–13), der ih(n>m) z. B. zeigen würde (Pv.291/13), als ihn einfiel (Se.190/20), ließ kaum die Augen von ih(n>m) (Sv.204/25), da ihn im ([s]>A)ugenblick kein anderer Name einfiel (Vv.402/21–22), er habe ih(n>m) zwar sehr gefallen (N2v.231/6(1)), die vor ihn liegende Aufgabe (N2e.371/21), dass (x>ih)(n>m) | der Impressario […] einflösste (N2v.391/14–16(1)), [und machten einen Baldachin a(xx>us) ih(n>m).] (N2v.493/8), mit ihn ins Bett (Dv.60/3), das größte Bedenken machte ih(n>m) die Rücksicht (Dv.123/21–22), ich sah ih(n>m) immer mit […] Aufmerksamkeit zu (Dv.309/2–3).

Hier lässt sich das Merkmal eines Sprachsystems erkennen, in dessen reduziertem Formeninventar beim Personalpronomen der 3. Person Singular im Dativ und Akkusativ Formengleichheit besteht, die im Schriftdeutschen Verwechslungen provozieren kann. Mit Blick auf die deutschen Mundarten lassen sich zunächst die von König (162007: 154; K. 1–4) angegebenen westober- und westmitteldeutschen Areale ausschließen, auf welchen hinsichtlich der Personalpronomen entweder Nominativ/Akkusativ-DativSysteme vorherrschen oder zwischen allen drei Kasus formal unterschieden wird.852 In der sonstigen deutschen Dialektlandschaft ist die angesprochene Formengleichheit dagegen gegeben: In den ostfränkischen und ostmitteldeutschen Mundarten zeigt das Flexiv ‑n Dativ und Akkusativ an. Die Verwendung von ihn im Dativ wäre hier demnach als

851 Hinweise darauf gaben bereits Nekula (2003a: 103–104) und Blahak (2005: 27; 2007a: 182). 852 S. hierzu Kap. 5.2.2.2, 5.2.2.3 und 5.2.5.3. Entsprechend fehlt die Verwechslung pronominaler m‑/n-Suffixe bei Ammon/Loewer (1977), Besch/Löffler (1977), Klein/Mattheier/Mickartz (1978), Hasselberg (1979) und Henn (1980).

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Kontrastnivellierung, von ihm im Akkusativ als Kontrastübertreibung zu interpretieren.853 In den bairischen Dialekten,854 im niederdeutschen Raum (Niebaum 1977: 64–65, 111) und im Jiddischen855 wird das betreffende Pronomen dagegen im Dativ und Akkusativ mit m-Flexiv realisiert. Hier spräche die normwidrige Setzung von ihm im Akkusativ entsprechend für eine Direktanzeige, von ihn im Dativ für eine Hyperkorrektur. Da keiner der beiden Normverstoß-Typen charakteristisch überwiegt,856 kann ein Blick auf Verwechslungen pronominaler Akkusativ- und Dativ-Flexive in der 1. Person Singular dabei helfen, das im Korpus interferenziell wirksame Sprachsystem zu bestimmen. Hier lässt sich eine viermalige (80 Prozent) Setzung von mir statt mich im Akkusativ feststellen: die ich zu schlagen mi([r]>c)h | nicht überwinden kann (N2v.115/4–5), er hat mi([r]>c)h sehr gefreut (N2v.232/1–2), daß große Dinge um mir vorgehn (N2e.426/24–25), ich habe mi(r>c)h tatsächlich oft gefragt (N2v.640/4).

Dem steht lediglich ein Beleg (20 Prozent) für die umgekehrte Verwechslung gegenüber: das Mißtrauen, das Du mi(ch>r) […] beizubringen suchtest (N2v.184/21–23). Bei bairischen Mundartsprechern kann die Schreibung von mir im Akkusativ zwar keine dialektbedingte Verwechslung von mir und mich indizieren,857 wohl aber eine falsche schriftsprachliche Auflösung der Mundartform [mi], die mich repräsentiert (Zehetner 1977: 93). Demnach hätte man es hier mit einer Kontrastverschiebung zu tun, die nur bei Sprechern einer Mundart zu erwarten wäre, in der das Personalpronomen der 1. Person Singular im Akkusativ endungslos bleibt. Dies trifft nur für die ober- und niederdeutschen Dialekte zu.858 In den mitteldeutschen Mundarten bleibt zudem, wie im ober‑, aber anders als im niederdeutschen Sprachraum, die formale Unterscheidung zum

853 Vgl. hierztu Kalau (1984: 163, 165), Koller (1991: 130), Spangenberg (1962: 28), Seibicke (1967: 54) und Stellmacher (1973: 25). 854 Zu diesen s. Merkle (61996: 97, 122). Ansonsten herrscht hier im Dativ/Akkusativ der Artikel (vgl. Kap. 5.2.2.3), der Possessiv- (vgl. Kap. 5.2.4.2.2), Indefinit- (vgl. Kap. 5.2.4.4.2) und Relativpronomen (vgl. Kap. 5.2.4.7.2) sowie der attributiven Adjektive (vgl. Kap. 5.2.5.3) das Flexions-n vor. 855 Vgl. hierzu Wiener (1893: 53), Gerzon (1902: 51), Birnbaum (1979: 248), Weissberg (1988: 267), Lockwood (1995: 64) und Jacobs (2005: 185). Zum gleichen Phänomen in westjiddischen Prager Buchdrucken des 17. und 18. Jahrhunderts s. Schnitzler (1966: 29). 856 Elf Belegen von ihm im Akkusativ (45,83 Prozent) stehen 13 Belege von ihn im Dativ (54,17 Prozent) gegenüber. 857 Eine solche wäre etwa für Sprecher des Berlinerischen charakteristisch. 858 Vgl. hierzu Merkle (61996: 122), Kalau (1984: 163), Koller (1991: 130), Frey (1975: 160), Niebaum (1977: 64–65, 111) und Stellmacher (1981: 72–73; 22000: 114).

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Dativ des Pronomens (mir) gewahrt;859 Kafkas mir/mich-Verwechslungen sind hier somit untypisch. Letzteres gilt auch für das Jiddische.860 Die Fehler-Synopse ergibt, dass Kafkas ihm/ihn- und mir/mich-Verwechslungen gemeinsam in der Regel nur nord‑/ostober- oder niederdeutschen Mundartsprechern in der Schriftsprache unterlaufen. Aufgrund der räumlichen Distanz des niederdeutschen Raums zu den böhmischen Ländern lässt sich das in Kafkas Verschreibungen identifizierte Sprachsystem auf das bairisch-ostfränkische Dialektareal eingrenzen. Da zum einen Kafka selbst,861 zum anderen der Kurt Wolff Verlag (Dv.60/3)862 und Max Brod (Kafka 1953b: 318; 1964: 177, 331; 1965: 34, 87, 90, 271) die betrachteten Pronominalformen negativ sanktionierten, ist ihre Normwidrigkeit offensichtlich.863 Man kann sie daher unter die Regionalismen des Typs A1/D[onO] einordnen. 5.2.4.2  Possessivpronomen 5.2.4.2.1  Ausfall der Kasus-Flexive -e, -n und -(e)r bei Feminina sowie -en bei Maskulina Unter den Possessivpronomen in Kafkas Prosa stößt man gelegentlich auf Feminina im Nominativ/Akkusativ Singular, deren Null-Flexionsmorphem den Anschein erweckt, zugehörige Substantive seien an sich Neutra bzw. Neutra oder Maskulina:864 sie führte deshalb sein Hand hin (Pe.145/21–22), schwächte er […] sein Widerstandskraft (Pe.178/20– 21), ih(r>re) Erscheinung war es (Sv.159/12), gegen sein Absicht (Se.210/8), bot ihr Brust zum gleichen Abhorchen hin (Ve.42/27–43/1), ohne sein Hand anzunehmen (Ve.117/8–9), ehe er in sein Sänfte

859 Vgl. hierzu Hasselberg (1979: 112–113), Henn (1980: 82–83), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 103) und Spangenberg (1962: 28). Nur in den obersächsischen Dialekten lauten Dativ und Akkusativ des Personalpronomens der 1. Person Singular mich (Seibicke 1967: 54; Stellmacher 1973: 25). Dieser Umstand kann allerdings nicht die im Korpus charakteristisch überwiegenden normwidrigen mir-Setzungen im Akkusativ bedingt haben. 860 Hier lautet die Unterscheidung mix (Akkusativ) – mir (Dativ) (Weissberg 1988: 267; Jacobs 2005: 185). 861 In 18 von 29 Fällen (zu 62,07 Prozent) erfolgten Sofortkorrekturen des Autors. 862 In die ihn damals sagte (PT 1921: 10) unterlief dem Prager Tagblatt vermutlich ein Druckfehler. 863 Die mir/mich-Verwechslung hatte im 19. Jahrhundert den Status eines ,sprachlichen Kapitalfehlers‘. Als besonders auffälliges Dialektmerkmal geriet der ,Akkudativ‘ zum Prototyp des grammatischen Fehlers, zum Schibboleth für dialektale wie ungebildete Sprachverwendung (Linke 1996: 241, 333). 864 Vgl. hierzu die Anmerkungen bei Nekula (2003a: 100) und Blahak (2005: 27; 2007a: 182).

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steigt (N1e.353/18), Unser Rettung ist der Tod (N2e.101/6), Mein Berechtigung (N2e.242/13), aus den Frauen kommt mein Macht (N2e.298/3–4), mein eigentliche Lebensfrage (N2e.443/25).

Wie beim verkürzten Indefinitartikel865 ist eine Interferenz durch abweichende SubstantivGenera im Tschechischen unwahrscheinlich; denn selbst im Falle tatsächlicher Neutra wiese nur ein Viertel der vorliegenden Substantive Übereinstimmung mit dem jeweiligen tschechischen Äquivalent auf.866 Da das Jiddische aufgrund anderer Deklinationsparadigmen als Interferenzquelle gleichfalls ausgeschlossen werden kann,867 spricht einiges dafür, dass wohl eher der durch e-Apokope verursachte Silbenschwund (meine > mein, ihre > ihr, unsere > unser etc.) bzw. das reduzierte Formeninventar und die Indifferenz der Possessivpronomen in gewissen deutschen Dialekten den Hintergrund solcher Normverstöße bilden. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts von Feminina, die auch im Nominativ/Akkusativ Plural ohne Flexionsmorphem auftreten: Ihr Beziehungen zu Fräulein Frieda (Se.151/20–21), hier entscheidet die Organisation und ihr besondern (An>au)genblicklichen Bedürfnisse (Sv.420/18–19), Ihr zwei Kolleginnen (Se.467/21), sein mattblauen Augen blickten ruhig (N2e.234/10–11), für ihr fast weisstrahlenden Augen (N2e.638/5– 6=Dv.325/16–17).

Ein redundantes e-Flexiv lässt sich in diesem Zusammenhang als hyperkorrekt betrachten: so ferne Dinge […] haben meine Interesse (N2e.621/10–11). Die Ellipse des Possessivpronomens in beugte sich über ›ihre‹ Schulter (Pe.229/20) kann ebenfalls schlüssig durch eine im Hintergrund wirksame Form mit Null-Flexionsmorphem erklärt werden, die, wie bei Kafka häufig,868 durch lautliche Totalassimilation der Art [y:bɐ-i:ɐ] > [y:bɐ-ɐ] > ‹über› im Schreibprozess zum Silbenverlust führen konnte. Wie bei den Indefinitartikeln betrachtet die Fehlerlinguistik auch die Verschriftlichung femininer Possessivpronomen mit Null-Flexionsmorphem im Nominativ/Akkusativ

865 S. hierzu Kap. 5.2.2.2. 866 Dies wäre nur bei Brust (tsch. prsa/n, Pl.), Berechtigung (tsch. oprávnění/n, právo/n) und Erscheinung (tsch. jevení/n neben (z)jev/m) der Fall. 867 Die entsprechenden Possessivpronomen lauten hier maany/ma(j)ne, daany/da(j)ne, zaany/za(j)ne, ii(e)ry/ire und jndzery/un(d)zere (Wiener 1893: 65; Birnbaum 1979: 250–253; Lockwood 1995: 53, 64). Hierauf machte bereits Nekula (2003a: 100) anhand des Proceß-Fragments und der Tagebücher Kafkas aufmerksam (vgl. Kap. 5.2.2.2). 868 S. hierzu Kap. 5.2.2.4, 5.2.4.1.2 und 5.2.8.1.2.

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Singular und Plural als typisch für die beiden apokopierenden Großareale des niederdeutschen Dialektraums einerseits und des räumlich davon getrennten westmittel‑/oberdeutschen Dialektraums869 andererseits.870 Nach Kalau (1984: 172) handelt es sich hierbei um eine mundartbedingte Kontrastverschiebung, der die irrtümliche Annahme eines Kontrastes [sai]/[mai] – ‹sein›/‹mein› statt korrekt [sai]/[mai] – ‹seine›/‹meine› zugrunde liege.871 Entsprechend könnte es sich bei den Korpusbelegen von ihre/unsere ohne Flexionsmorphem um Fälle von Direktanzeige handeln, denn sie bilden direkt die Formen [i:ɐ]/[unzɐ] der Mundart ab. Demgegenüber gehören Kafkas verkürzte Possessivpronomen im ostmitteldeutschen und südwestniederdeutschen Dialektraum, wo die e-Apokope nicht durchgeführt wird, weder zum Formenbestand der Mundarten872 noch zu den typischen Fehlern von Dialektsprechern im Schriftdeutschen.873 Kafka sah sich hier noch seltener als im Falle des endungslosen femininen Indefinit­ artikels im Nominativ/Akkusativ Singular zu Korrekturen veranlasst.874 In Anbetracht der nur 18 Belege im Korpus kann dennoch nicht zwingend gefolgert werden, dass er die geschriebenen Possessivpronomen mit Null-Flexionsmorphem (u. U. aufgrund hoher Frequenz im Prager Alltagsdeutsch) als schriftsprachlich auffasste. Angesichts von Brods rigider Korrektur875 dürfte die gegenwärtige fehlerlinguistische Einordnung als mundartlich auch für das Prag des frühen 20. Jahrhunderts gelten. Man hat es somit mit einem Regionalismus des Typs A1/D[O+wM] zu tun. Wo im Flexionsmorphem femininer Possessivpronomen im Genitiv/Dativ Singular ein ‹r› entfiel, könnte sich dagegen die für Kafkas gesprochenes Deutsch charakteristische r-Vokalisierung876 im Schriftbild niedergeschlagen haben:

869 Vgl. hierzu Zehetner (1977: 88), Reitmajer (1979: 138), Kalau (1984: 172), Ammon/Loewer (1977: 62), Wegera (1977: 141), Hasselberg (1979: 114), Henn (1980: 92) und Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 103). 870 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.6, 5.1.1.1.8 und 5.2.3.3.1. 871 Im niederdeutschen Raum lautet das feminine Possessivpronomen im Nominativ/Akkusativ Singular dagegen mien (Kettner 1978: 290; Stellmacher 22000: 195). Kafkas endungslose Formen wären hier folglich als Fälle von Kontrastnivellierung zu betrachten. 872 Vgl. die Realisierung von meine in den thüringischen Mundarten als [minə] und in den obersächsischen als [maenə] (Spangenberg 1962: 28–29; Seibicke 1967: 54–55; Stellmacher 1973: 25). 873 Vgl. exemplarisch das Fehlen bei Niebaum (1977). 874 In nur einem (5,56 Prozent) von 18 Fällen führte er hier eine Autokorrektur durch. 875 Vgl. z. B. Brods editorische Eingriffe in den Roman-Fragmenten (Kafka 1953b: 79, 94, 142; 1964: 140, 387, 432; 1965: 13). 876 S. hierzu Kap. 5.1.2.11.2.

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877

ihre Meinung nach (Pe.56/25–26), sich in ihr(er>e) Ausprache übte (Pv.277/24),

Meine Meinung

nach (N1e.293/10), der Araberführer unsere Karawane (N1e.321/9–10).

Ein weiterer Fall lautlicher Silbenreduktion beim Aufeinanderfolgen zweier gleicher Silben878 scheint an folgender Textstelle zum Ausfall des gesamten Flexivs geführt zu haben ([unzərɐ] > [unzɐ] > ‹unser›): machen Sie unser Werbetruppe Ehre! (Ve.409/8–9). Da sich solche ,defekten‘ Suffixe auf lautliche Assimilationsphänomene überregionaler Mündlichkeit zurückführen lassen, gehören sie keiner Regionalismus-Kategorie an.879 Null-Flexionsmorpheme beim maskulinen Possessivpronomen im Akkusativ Singular weisen dagegen erneut auf die Direktanzeige einer mundartlichen Interferenz hin, wie sie typischerweise im ober- und mitteldeutschen Raum im Schriftdeutschen als Normverstoß in Erscheinung tritt:880 sie nahm sein Kopf an sich (Pe.146/5), man fürchtete für sein Alltagsverstand (Se.324/2–3), besuchen Sie doch einmal mein Onkel (Ve.116/12–13).

Der Dialektsprecher identifiziert demnach [main]/[zain] mit ‹mein›/‹sein› und erkennt den Kontrast [main]/[zain] – ‹meinen›/‹seinen› nicht (Kalau 1984: 172).881 Die Verkürzung der Endung ‑en auf ‑e beim femininen Possessivpronomen im Dativ Plural kann ebenfalls auf dialektbedingte Kontrastnivellierung zurückgeführt werden; denn im oberund mitteldeutschen Dialektraum dominieren die Einheitspluralformen [mainə], [maenə] bzw. [minə]:882 daß ich [die Tr] mit meine Tränen Richards Rock nässte (N2v.383/5–6). Angesichts der geringen Zahl von Belegen lassen die ausgebliebenen Autokorrekturen883

877 Brod veränderte die Stelle zu dann ihre Aussprache übte (Kafka 1965: 243). 878 S. hierzu Kap. 4.4.2, 5.1.3.2 und 5.2.4.1.2. 879 Zu Brods Ergänzung der Pronominal-Flexive vgl. z. B. Kafka (1953b: 324; 1965: 50). Aufgrund seiner Singularität lässt sich der Beleg Lehren unser Bibel (SW 1921a: 4) in der Selbstwehr eventuell auf einen Druckfehler zurückführen. 880 Vgl. Zehetner (1977: 88), Reitmajer (1979: 138), Merkle (61996: 138), Ammon/Loewer (1977: 62), Frey (1975: 159), Wegera (1977: 141), Hasselberg (1979: 114), Henn (1980: 92), Klein/Mattheier/ Mickartz (1978: 103), Spangenberg (1962: 28), Seibicke (1967: 54) und Stellmacher (1973: 25). 881 In der Textstelle mit sein fünf Hunden (N2e.26/14) lässt sich dagegen die Verschriftlichung einer durch Assimilation begünstigten Silbenreduktion vom Typ [zainən] > [zain-n] > [zain] >‹sein› vermuten. 882 Vgl. Zehetner (1977: 88), Merkle (61996: 138), Kalau (1984: 171), Ammon/Loewer (1977: 62), Frey (1975: 159), Wegera (1977: 141), Hasselberg (1979: 114), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 103), Spangenberg (1962: 29), Seibicke (1967: 54) und Stellmacher (1973: 25). 883 Keines der vier defekten Flexionsmorpheme wurde von Kafka berichtigt.

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auch in diesen Fällen nicht zwingend den Schluss zu, Kafka habe sich im Rahmen der Norm gewähnt. Die durch Brod eindeutig als nicht schrifttauglich eingestuften Formen (Kafka 1953b: 102, 114; 1964: 298; 1965: 135) können daher zu den Regionalismen der Kategorie A1/D[O+M] gezählt werden. 5.2.4.2.2  Akkusativ-Flexionssuffixe im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum Bei der weiteren Überprüfung der Possessivpronomen stößt man auf Maskulina und Neutra der 1. und 3. Person Singular, die im Dativ ein normwidriges Flexions-n aufweisen: in seinen Zimmer (Pe.12/19), in seinen Sessel zurückgelehnt (Pe.216/7), in Ihre(n>m) Schlafzimmer (Sv.202/21–22), trug ihn […] mit ihren vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster (Ve.90/9–11), von meinen Onkel (Ve.107/15), haben sich an meinen Rock gehalten (Ve.164/4–5), ich schrak [auf] aus meinen Hindämmern auf (N2v.20/9–10), vor ihren Verstummen (N2e.40/20–21), in allem 884

meinen Denken (N2e.152/23).

Punktuell lässt sich ein Schwanken Kafkas zwischen m- und n-Form beobachten: Nach seine(m>n>m) Befehl (N1v.259/11–12). Solche n-Suffixe im Dativ weisen auf den Zusammenfall von Akkusativ und Dativ in den Einheitsendungen ‑en, ‑ən bzw. ‑n in den nord‑/ostober‑, ostmitteldeutschen und ostfälischen Dialekten hin (König 162007: 154; K. 1–4).885 Diese Indifferenz erschwert Dialektsprechern die korrekte schriftsprachliche Setzung von Dativ- und AkkusativFlexionssuffixen; als Direktanzeige ließe sie die Übertragung des mundartlichen [main] als ‹meinen› (statt ‹meinem›) erwarten. In den westober- und westmitteldeutschen Mundartgebieten, in welchen entweder Nominativ/Akkusativ-Dativ-Systeme herrschen

884 Die letzte Textstelle scheint allerdings u. U. mit den zeitgenössischen österreichischen Normvorstellungen (Kummer 31892: 23; Lehmann 71892: 75) vereinbar. Hier galt, dass bei mehreren, im Verhältnis der Unterordnung stehenden adjektivischen Bestimmungswörtern vor einem Substantiv das erste je nach vorausgehendem Wort stark oder schwach zu flektieren war, die folgenden dagegen schwach (vgl. Kap. 5.2.5.3). 885 Dieser Zusammenfall gilt regional auch für den flexionsparadigmatisch formal übereinstimmenden Indefinitartikel (vgl. Kap. 5.2.2.3).

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oder aber alle drei Kasus formal unterschieden sind, spielt dieser Fehlertyp im Schriftdeutschen entsprechend keine signifikante Rolle.886 In den nördlich dieser beiden Zonen verbreiteten niederdeutschen Dialekten wiederum fallen jeweils Nominativ, Dativ und Akkusativ bei den Possessivpronomen aller Genera in einer meist endungslosen Kasusform zusammen. Auch hier gibt es den in Kafkas Handschriften vorgefundenen Fehler-Typ. Allerdings ließe die indifferente Endungslosigkeit hier typischerweise etwa gleich häufige n-Formen im Dativ und m-Formen im Akkusativ erwarten (Niebaum 1977: 65; Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 103; Stellmacher 1981: 73–74). Einen solchen Befund dokumentiert das Korpus jedoch nicht. Die einzigen normwidrigen m-Flexive setzte Kafka, wohl hyperkorrekt, gerade im Dativ, der im Plural allerdings die Endung ‑n fordert: nicht von seine(m>n) Wunden (Vv.269/9), aus ihre(m>n) kleinen Augen (Pv.106/7). Dies lässt den Schluss zu, dass die Flexionsparadigmen der nord‑/ostober‑, ostmitteldeutschen und ostfälischen Dialekte für die im Korpus vorgefundene Interferenz maßgeblich sind. Die erneut spärlichen Autokorrekturen, die nur ein Drittel (vier von zwölf bzw. 33,33 Prozent) der Normverstöße erfassen, deuten ein schwach ausgeprägtes FehlerBewusstsein des Schreibenden an. Sie dürfen aufgrund der nicht allzu zahlreichen Belege jedoch auch nicht als Indiz dafür gewertet werden, Kafka habe die n-Flexive im Dativ womöglich für korrekt gehalten. Brods umfassende Berichtigung887 ordnet sie eindeutig dem Substandard zu.888 Als Regionalismen repräsentieren sie den Typ A1/D[onO+oM+]. 5.2.4.3  Ellipse des Reflexivpronomens in der 3. Person Singular und Plural Das bereits von Nekula (2003a: 115) in Kafkas Tagebüchern und Briefen bemerkte Fehlen obligatorischer Reflexivpronomen ist stellenweise auch für Kafkas Prosa signifikant. Auffällig ist, dass solche Ellipsen ausschließlich die 3. Person Singular/Plural betreffen,

886 Vgl. hierzu Zehetner (1977: 89), Kalau (1984: 173), Koller (1991: 130), Ammon/Loewer (1977: 62), Besch/Löffler (1977: 53–56), Wegera (1977: 146), Hasselberg (1979: 113–114) und Henn (1980: 82–83) sowie Kap. 5.2.2.3. 887 Vgl. Kafka (1953b: 79, 94, 142; 1964: 189; 1965: 13). Nur an der Textstelle Der Ma(h>l)er hatte sich breit in seinen Sessel zurückgelehnt (Pv.216/6–7), an der die Präposition in sowohl zur Richtungs- als auch zur Ortsangabe dienen kann, übernahm Brod, anders als die Herausgeber der KKA, Kafkas n-Flexiv unverändert (Kafka 1965: 192). 888 Vgl. allerdings den Beleg mit seinen intuitiven politischen Takt (SW 1921c: 2) in der Selbstwehr, bei dem es sich allerdings auch um einen Druckfehler handeln könnte.

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was gegen eine Interferenz aus einem Pro-Drop-Sprachsystem spricht. Eine Einwirkung tschechischer Phrasenmuster scheidet nicht zuletzt deswegen aus, weil die tschechischen Äquivalente der ,defekten‘ Verben im Korpus bei wenigen Ausnahmen889 reflexiv sind: Da erinnerte K. ›sich‹, daß er das Weggehn […] nicht bemerkt hatte (Pe.28/25–27), stellte {sich} dort in Hinterhalt (Pv.159/2), und stellte {sich} seitlich vor den Kaufmann (Pv.228/15–16), K. erhob {sich} (Sv.119/26), mußte er {sich} um den Leib schlagen (Sv.184/17), als sie {sich} anzuziehn anfiengen (Sv.202/13–14), sie konnte {sich} ganz wehren (Sv.466/23), der Mann setzte ›sich‹ auf den Sessel (Ve.10/19–20=Dv.68/19–20), es würde {sich} jemand [h] finden (Vv.263/15), ein{er} [Mann], der {sich} auch anmelden will (Vv.396/16), er verbeugt {sich,} er geht (N1v.18/20), Staub erhob {sich}, verhüllte alles (N1v.362/21–22), Mit den Patronen aber verhält es ›sich‹ (s>f)olgendermassen (N1v.381/5–6), sagte der Graf und erhob ›sich‹ (N2e.111/7), sie vertrage(n.>n) sich (N2v.295/18), während seine allen bekannte Frau um ihn ›sich‹ sorgt (Dv.410/3–4).

Gleichzeitig schließt die an der jeweiligen Ausfall-Position vorgefundene lautliche Umgebung die Möglichkeit der Totalassimilation eines – gegebenenfalls oberdeutsch zu [sı] verkürzten (König 162007: 155) – Reflexivpronomens als Fehlerquelle aus. Dass es sich daher, wie Nekula (2003a: 115) vermutet, nur um Flüchtigkeitsfehler handelt, deutet zum einen schon der hohe Prozentsatz der (in 19 von 24 Fällen bzw. zu 79,17 Prozent) autokorrigierten Belegstellen an.890 Mancherorts ist das gestrichene oder nachgetragene Reflexivpronomen bei veränderter semantischer Intention zudem nicht obligatorisch: und griff [sich] mit der Hand an die Schläfe (Pv.179/22), so sagte (dA>s)ich der Hungerkünstler (N2v.397/3). Wiederholt besteht auch die Möglichkeit, Kafka habe zunächst zu einer Formulierung mit nicht reflexivem Verb angesetzt, sich mitten in der Niederschrift jedoch spontan für einen anderen Wortlaut mit reflexivem Verb entschieden und den Satz dabei lückenhaft vollendet:891 der {sich} für Dich abmüht (Pv.147/3), und wollen {sich} uns [nun] anschliessen (N1v.210/27(1)28*), wie er {sich} absichtlich ganz nahe (z>a)ns Bett stellt (N1v.239/4), die Wächter, welche […] mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales (n>s)ich nicht begnügten (N2v.386/16–18), unschöne Einzelnheiten

889 Vgl. Es verhält sich (tsch. je tomu tak(to)) – sich erheben (tsch. povstat neben zvednout se). 890 Vgl. den ähnlich hohen Anteil (76,47 Prozent) der von Kafka noch im Schreibprozess korrigierten Stellen an den als Flüchtigkeitsfehler eingestuften Ellipsen der Personalpronomen in Kap. 5.2.4.1.2. 891 Denkbar wäre z. B.: der für dich schuftet – und wollen uns folgen – wie er absichtlich ganz nahe ans Bett tritt – welche […] nicht zufrieden waren – verlieren […] ihre Kraft – dadurch vom Bett befreit zu werden.

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verlieren {sich} in der unaufhörlichen Kraftquelle der Jugend (N2v.645/17–18), wenn auch nur die kleinste Hoffnung bestünde, {sich} dadurch vom Bett zu befreien (Dv.122/22–23).

Angesichts der Indizienlage kann in den betrachteten normwidrigen Ausfällen von Reflexivpronomen kein Regionalismus erkannt werden.892 5.2.4.4  Indefinitpronomen 5.2.4.4.1  Null-Flexionsmorphem bei jemand/niemand im Dativ und Akkusativ Unter den Indefinitpronomen verdienen besonders (irgend‑)jemand und niemand Beachtung, wenn sie im Korpus in den obliquen Kasus das Null-Flexionsmorphem aufweisen, also endungslos bleiben.893 Beispiele hierzu im Dativ lauten: wie wenn {man von} jemand […] (x>L)ob und gute Worte hört (Sv.164/11–12), Der Herr O(p>b)erportier verwechselt mich [also] offenbar mit jemand anderm (Vv.233/21–23), ich soll Dich mit jemand andern verwechseln (V.233/27), seine vereinzelten von niemand unterstützten Bemühungen (N1.195/21– 22), mit niemand anderem (N2.369/25–26(1)), in diesem außerordentlichen niemand sonst [gegebenen] [{verliehenen}] {gewährtem} […] Geschenk (N2v.669/23–25).

Im Akkusativ finden sich folgende Belege: ohne Rücksicht auf irgend[etwas,] | jemand (Pv.34/6), mit der Weisung niemand einzulassen (P.119/9– 10), für jemand andern (P.145/6), Ich habe ja nicht im entfernte(t>st)en daran gedacht, Sie oder irgendjemand[,] zu kränken (Pv.317/16–18), Ich hörte jemand weit und schwach schluchzen (N1.77/26), in meiner Wut wollte ich niemand sehn (N1.388/11), unfähig, jemand andern neben sich zu dulden (N2.240/2).

892 Vgl. aber Was findige Köpfe […] ausgedacht haben (PP 1921c: 12), Die anderen Angestellten verbissen das Lachen (Pick 1913: 43), Er hatte das Interesse […] abgewöhnt (Kisch 51922: 129) in den Prager Referenzquellen. 893 Zu dieser Erscheinung im Proceß s. Blahak (2005: 27; 2007a: 183).

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Trotz der morphologischen Übereinstimmung mit unflektierten Formen mancher Dialekte894 kann diese Gestalt der Indefinitpronomen weder als substandardlich noch als regional beschränkt beurteilt werden: Denn nach der Kafka schulisch vermittelten Norm war im Akkusativ sowohl je‑/niemand als auch je‑/niemanden, im Dativ sowohl je‑/niemand als auch je‑/niemandem (außerdem je‑/niemanden) zulässig.895 Die reichsdeutschen Grammatiken des späten 19. Jahrhunderts betrachten Flexionsendungen sogar als noch entbehrlicher: So schreibt z. B. Winter (21896: 36) das Nullmorphem im Akkusativ als obligatorisch vor, während er im Dativ auch die Endungen ‑en und ‑em gelten lässt. Noch weiter geht Heyse (251893: 223), der nur beim Genitiv ein Flexiv für angebracht hält und für die übrigen Kasus empfiehlt, sie blieben „am richtigsten ungebeugt“; im Akkusativ könne man allerdings das en-Suffix, im Dativ daneben auch das em-Suffix verwenden. Weitere Belege der Standardkonformität unflektierter Indefinita finden sich in der Prager Tagespresse.896 Auch Max Brod erkannte hier keinen Normverstoß.897 Dass Kafka selbst sich im Einklang mit der Norm wähnte, belegt das weitgehende Ausbleiben nachträglicher Flexiv-Ergänzungen. Die wenigen Fälle von Autokorrektur können auch stilistisch und müssen nicht durch ein Fehler-Bewusstsein motiviert worden sein:898 [e(rA>s) erkennt niemand{en} an] (N1v.229/21), [erkennt] {schliesst sich} niemand{em} an (N1v.230/1–2). Kafka dürfte somit die endungslosen Formen prinzipiell als standardsprachliche Äquivalente zu ihren ,vollen‘ Varianten betrachtet haben. Eine Stichprobe anhand des Proceß-Fragments ergibt allerdings eine klare Bevorzugung der Letzteren: 34 Fällen (89,47 Prozent) von (irgend‑)jemanden/‑dem bzw. niemanden/‑dem stehen hier nur vier Belege (10,53 Prozent) der betrachteten Indefinitpronomen mit NullFlexionsmorphem im Akkusativ gegenüber.

894 Vgl. z. B. das unflektierte [nεɐmt] (,niemand‘) in den bairischen Dialekten (Merkle 61996: 157). 895 Vgl. Kummer (31892: 41) und Willomitzer (61894: 37) sowie Kap. 5.2.4.4.2. Diese Regel ist bis heute gültig geblieben (u. a. Helbig/Buscha 191999: 260–261; Duden 242006: 546, 730; 82009: 319). 896 Vgl. fällt es niemand ein (PT 1921: 1), Wenn man jemand so furchtbar lieb hat (PT 1921: 9). 897 Vgl. seine Ausgabe von Kafkas Roman-Fragmenten (Kafka 1953b: 203; 1964: 152; 1965: 31, 113, 134). 898 Hinzu kommt die Tilgung eines redundanten, u. U. einem Perspektivenwechsel geschuldeten enSuffixes: und {es} könne aus diesem Grunde niemand[en], nicht einmal der Diener, bei ihm eintreten (Pv.175/26–176/1).

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5.2.4.4.2  Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Flexionssuffixen Im Weiteren kann bei den Indefinitpronomen (irgend‑)jemand, niemand und jeder der gelegentliche Zusammenfall von Akkusativ- und Dativ-Endungen beobachten werden.899 So wurde an sieben Stellen im Korpus im Dativ das Suffix ‑en (statt ‑em) gesetzt: und wandte sich ins Zimmer zu (einer>jem)anden (Pv.56/15), ob wir […] niemanden helfen wollten (Pe.104/20–21), ich habe mehr Vertrauen zu Dir, als zu irgendjemanden von ihnen (P.292/12– 14), {winkte unwillig jemanden ab} (Sv.450/5(1)), als nähme es Abschied von (einem>jeman){den} (N1v.22/13), Jeden Europäer wird sie angeboten (N1e.321/23), von niemanden bemerkt (N2e.588/27– 589/1).

Viermal findet sich im Gegenzug ‑em (statt ‑en) im Akkusativ: 900

wenn er z. B. [von] irgendjemandem […] kennengelernt hat (Sv.102/19–21),

Du kannst jemande(m>n)

[…] noch so sehr aufmuntern (Sv.291/8–9), auf keinem Fall (Ve.129/27), Hätte ich doch irgendjeman901

dem (N2e.596/27).

Die charakteristisch häufigere Setzung der n-Form, wo ein em-Flexiv der Norm entspräche (in 63,64 Prozent der Fälle), legt zunächst ihre Deutung als Direktanzeige nahe. Sie könnte auf dem Zusammenfall von Dativ/Akkusativ im Flexionssuffix ‑en, ‑ən bzw. ‑n bei maskulinen Pronomina, Artikelformen und Adjektiven beruhen (Zehetner 1977: 89; Koller 1991: 130–133),902 der für die nord‑/ostober‑, ostmitteldeutschen und ostfälischen Dialekte charakteristisch ist.903 Die m-Form im Akkusativ wäre dann entsprechend als hyperkorrekte Schreibung zu betrachten (Kalau 1984: 185).

899 Hierauf machten bereits Nekula (2003a: 103–104) und Blahak (2005: 27; 2007a: 183) aufmerksam. 900 Hier könnte auch ein nach einem Perspektivenwechsel nicht zu Ende geführter Korrekturvorgang vorliegen. 901 Andere normwidrige Flexionsendungen bei Indefinitpronomen sind als Einzelfälle wohl auf Flüchtigkeitsfehler Kafkas zurückzuführen: Ein Kontrollieren jede(n>s) Herzschlag(s.>s) (Sv.94/11(2)), irgendeiner Beamter (Se.110/10). 902 Vgl. das nämliche en-Flexiv im Dativ beim Indefinitpronomen alle: er war schon längst mit alle(n>m) fertig (Dv.148/10–11). 903 Vgl. König (162007: 154; K. 1–4) sowie Kap. 5.2.2.3, 5.2.4.1.3, 5.2.4.2.2, 5.2.4.6, 5.2.4.7.2 und 5.2.5.3.

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Allerdings lassen die zeitgenössischen Grammatiken im Dativ wahlweise je‑/niemanden, je‑/niemandem oder Formen mit Null-Flexionsmorphem gelten; das Flexiv ‑em im Akkusativ stufen sie dagegen als normwidrig ein (Kummer 31892: 41; Willomitzer 61894: 37; Heyse 251893: 223). So können zumindest die vier entsprechenden Korpusbelege als mundartbedingte Interferenz (Kontrastübertreibung) beurteilt werden. Diese Annahme wird durch die editorische Vorgehensweise Max Brods erhärtet, der lediglich die em-Suffixe im Akkusativ verbesserte (Kafka 1953b: 113; 1964: 94), während er das Suffix ‑en im Dativ (wohl nach stilistischen Gesichtspunkten) teils korrigierte (Kafka 1965: 90, 255), teils aber auch beließ (Kafka 1965: 50). Dass die offenbar zum überregionalen Standard zählenden n-Formen im Dativ innerhalb der Prager Schriftpraxis im frühen 20. Jahrhundert eventuell sogar bevorzugt wurden, lässt sich an Eingriffen der Prager Presse und des Vorboten in Kafkas Texte ablesen: Diese veränderten, als sie den Hungerkünstler abdruckten, zwei an sich korrekte em-Dativ-Flexive zu ‑en:904 Versuche jemanden die Hungerkunst zu erklären (Dv.347/6–7), niemanden fiel es ein (Dv.347/9–10). Dass Kafka seine n-Formen im Dativ als normkonform ansah, ergibt sich aus dem völligen Ausbleiben von Autokorrekturen im Korpus. Hinzu tritt ein Fall, in dem er sich, offenbar bewusst, im Dativ gegen das bereits niedergeschriebene Flexions-m eines Indefinitartikels entschied, als er diesen durch ein Indefinitpronomen mit en-Flexiv ersetzte: als nähme es Abschied von (einem>jeman){den} (N1v.22/13). Insgesamt können somit lediglich Kafkas em-Suffixe bei Indefinitpronomen im Akkusativ als Regionalismen (Typ A1/D[onO+oM+])905 eingestuft werden. 5.2.4.5  Dativ-Flexionssuffix beim Interrogativpronomen wer im Akkusativ Mit Blick auf die Interrogativpronomen fällt im Korpus ein wiederholtes wem bei Verben auf, die im Standarddeutschen den Akkusativ regieren. Durch die fast ausnahmslose Sofortkorrektur der m-Flexive gab Kafka zu verstehen, dass er in ihnen unwillkürliche Normverstöße erkannte:906

904 Vgl. auch den Abdruck von aller Anfang an (Dv.427/6–7) durch die Herausgeber der Prager Herder-Blätter. 905 Aufgrund der nur vier Belege kann die geringe Korrekturquote Kafkas (25 Prozent) nicht als Hinweis darauf gewertet werden, dass er prinzipiell von normkonformen Bildungen ausgegangen sei. 906 Die einzige übersehene Stelle korrigierte Max Brod in seiner Kafka-Ausgabe (Kafka 31954: 255).

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K. verstand nicht genau we(m>n) er meinte (Pv.273/26–27), we(m>n) begrüßt Ihr(,>?) (Sv.313/24), we(m>n) es betreffe (Sv.318/3–4), We(m>n) suchst Du? (Sv.366/21), An we(m>n) sollen wir denn denken? (Sv.381/19), um we(m>n) es sich handelt (Vv.28/20=Dv.86/16–17), We(m>n) kennst Du? (Vv.319/19), We(n>m) kann man sonst anrufen (N2v.441/13), We(m>n) besuchst Du (N2v.526/21–22), we(m>n) nicht (sein>der) eigene Verstand dazu führt (N2v.553/23–554/1), an we(m>n) er gerichtet ist (N2v.557/14–15).

Parallelen zur Verb-Rektion des Tschechischen können in diesem Zusammenhang nicht festgestellt werden: Lediglich bei zwei der obigen Belegstellen würden die tschechischen Äquivalente der von Kafka verwendeten Verben den Dativ fordern.907 Prüft man die Möglichkeit einer mundartlichen Interferenz, muss man zunächst erneut das westober‑/westmitteldeutsche Dialektareal ausklammern, auf dem bezüglich der Pronomen entweder Nominativ/Akkusativ-Dativ-Systeme vorherrschen oder zwischen allen drei Kasus formal unterschieden wird.908 Denn die Differenzierung zwischen wen und wem ist hier demnach vorhanden (z. B. Frey 1975: 162), und Verschreibungen, wie sie Kafka hinterließ, wären nicht auf dialektales Sprechen zurückführbar.909 In den übrigen deutschen Dialekten herrscht beim Interrogativpronomen wer allerdings im Dativ und Akkusativ Formengleichheit. Dabei werden beide Kasus im Großteil der niederdeutschen Dialekte durch das m-Suffix realisiert (Niebaum 1977: 64). Hier spräche ein normwidrig geschriebenes wem im Akkusativ somit für Kontrastnivellierung. Im nord‑/ostober‑, ostmitteldeutschen und ostfälischen Dialektraum repräsentiert dagegen das n-Suffix zugleich Dativ und Akkusativ.910 Kafkas m-Flexive wären hier folglich als Kontrastübertreibungen zu betrachten, bei welchen der Schreiber trotz fehlenden Kontrastes zwischen Dialekt und Standard annahm, nur eine m-Form könne korrekt sein (Kalau 1984: 183). Dass Kafka ausschließlich hyperkorrekte Verschreibungen und kein einziges Beispiel für eine Direktanzeige hinterlassen haben sollte, ist jedoch kaum anzunehmen. Von einer bairisch-ostfränkisch-ostmitteldeutschen mundartlichen Interferenz kann somit nicht

907 Dies ist der Fall bei anrufen (+ Akk.) (tsch. zatelefonovat + Dat. neben zavolat + Dat./Akk.) und richten an (+ Akk.) (tsch. určit + Dat. neben posílat + Dat.). 908 S. hierzu Kap. 5.2.2.2, 5.2.2.3, 5.2.4.1.3, 5.2.4.4.2 und 5.2.5.3. 909 Entsprechend werden sie von der Fehlerlinguistik nicht unter den regional typischen Normverstößen im Schriftdeutschen geführt (Ammon/Loewer 1977; Besch/Löffler 1977: 53–54; Klein/ Mattheier/Mickartz 1978: 103; Hasselberg 1979: 112–113; Henn 1980: 82–83). 910 Vgl. hierzu Steininger (1994: 116), Kalau (1984: 181), Spangenberg (1962: 29), Seibicke (1967: 55) und Stellmacher (1973: 26).

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die Rede sein.911 Andererseits erscheint es noch unwahrscheinlicher, dass die Dialekte des nicht an die böhmischen Länder grenzenden niederdeutschen Sprachgebietes ein Dialekt direkt anzeigendes wem in Kafkas Schriftbild bedingt haben könnten. Diese Konstellation ermöglicht es, den vorliegenden Fehlertyp auf das Jiddische zurückzuführen, zumal jiddisch vemen (Kurzform vem) im Standarddeutschen sowohl wen als auch wem entspricht.912 Noch plausibler wird diese Interpretation durch Hinweise darauf, dass Kafka die Form wem im Akkusativ selbst als jiddisch auffasste, womöglich, weil er sie als Bestandteil seiner persönlichen Sprachverwendung wahrgenommen hatte: In dem eingangs der Untersuchung zitierten Brief aus Matliary913 stellte Kafka mit kritischem Blick auf die Situation des auf Deutsch schreibenden jüdischen Schriftstellers fest, dass „in dieser deutsch-jüdischen Welt kaum jemand etwas anderes als mauscheln kann“. Unter den folgenden Sprachproben, die das Deutsche mit jiddischer Tönung als „laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes“ (Kafka 1958: 336) illustrieren sollten, führte Kafka ausgerechnet das Beispiel „,er schreibt. Über wem?‘“ (Kafka 1958: 337) an. Angesichts des Manuskriptbefundes kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, hinter dieser als Fremdzitat markierten Frage914 verberge sich eine längst gemachte Selbsterkenntnis Kafkas über Merkmale seines eigenen Deutsch. Da sich ein Einwirken dialektaler Flexionsparadigmen bereits weitgehend ausschließen ließ, sprechen die Indizien dafür, dass Kafkas Interrogativpronomen mit m-Flexiv im Akkusativ auf eine direkte ethnolektale Interferenz zurückgeführt werden können. Als Regionalismen entsprechen sie dem Typ A1/E[ J]. 5.2.4.6  Akkusativ-Flexionssuffix bei maskulinen Demonstrativpronomen im Dativ Singular Eine kleine Gruppe maskuliner Demonstrativpronomen im Korpus weist im Dativ der 3. Person Singular ein normwidriges Flexions-n auf. Dass sich Kafka sowohl über den richtigen Kasus im Klaren war als auch einen Normverstoß erkannte, erweisen zum einen

911 Außer bei Kalau (1984: 183) taucht wem im Akkusativ auch nicht in den Fehler-Typologien zu den bairischen und ostfränkischen Dialekten auf (Zehetner 1977; Reitmajer 1979; Koller 1991). 912 Vgl. hierzu die Angaben bei Wiener (1893: 66), Gerzon (1902: 52), Weissberg (1988: 163, 267), Lockwood (1995: 65), Geller (2001: 136) und Jacobs (2005: 187). 913 Vgl. Kap. 1.1. 914 Die von Kafka hier (ungenau) zitierte Stelle aus Literatur oder Man wird doch da sehn von Karl Kraus lautet: „Ich schreibe etwas. […] Über wem?“ (Kraus 1989: 46).

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die korrekten Dativ-Formen beigeordneter Artikel, zum anderen Sofortkorrekturen von der Hand des Autors, jeweils in zwei von drei Fällen: nach dem und jene(n>m) (Sv.248/25), nach solche(n>m) Streit (N2v.226/25–26), in einem Fall wie diesen (N2e.639/11=Dv.326/21–22).

Auch wenn die Demonstrativpronomen dieser und jener in den bairischen und ostfränkischen Dialekten nicht gebräuchlich sind, darf die schriftliche Übernahme des n-Flexivs bei Pronomen im Dativ als Direktanzeige einer mundartlichen Interferenz betrachtet werden: Denn in den nord‑/ostober- und ostmitteldeutschen sowie ostfälischen Dialekten folgen die Substantiv-Begleiter dem Flexionsparadigma des Indefinitartikels. Im Maskulinum fallen bei diesem Dativ und Akkusativ im n-Suffix zusammen (Kalau 1984: 176). Das Jiddische, in dem die m-Form (deim, jenem) sowohl Dativ als auch Akkusativ repräsentiert (Birnbaum 1979: 253; Weissberg 1988: 268; Jacobs 2005: 186), kann demgegenüber als Quelle sprachlicher Interferenz ausgeschlossen werden. Kafkas n-Formen wären somit, gemäß den Ergebnissen von Kap. 5.2.2.3, als Regionalismen des Typs A1/D[onO] einzustufen.915 Sonstige normwidrige Flexionssuffixe (s-Ausfall, redundantes r) können dagegen als einfache Versehen bzw. Flüchtigkeitsfehler beurteilt werden, die Kafka eventuell aufgrund eines Perspektivenwechsels im Schreibprozess unterliefen: so können Sie doch kein solche{s} Verbrechen begangen haben (Pv.42/10–11), Aber alles diese Schöne (N2e.612/7), messet mir diese[r] Arme (N1v.112/24).

5.2.4.7  Relativpronomen 5.2.4.7.1  Ausfall des Flexionsmorphems -en im Dativ Plural Wo in Kafkas Manuskript das Plural-Flexionsmorphem ‑en bei Relativpronomen aller Genera im Dativ fehlt, lässt sich hingegen kaum von Regionalismen sprechen:916

915 Vergleichbare n-Formen in der Prager Presse stellen u. U. Druckfehler dar: In diesen Berichte (PP 1921c: 7), Nachdem diesen Prager Alkohol-Institut […] die Essig- und Likör-Abteilung angegliedert wurde (PP 1921c: 8). 916 Der einzige Ausfall eines Genitiv-Singular-Morphems stellt wohl einen Flüchtigkeitsfehler dar: eine Dame, der Hut viel beladen war (N1e.12/11–12). Das Fehlen des Genitivs in den SubstandardVarietäten des Deutschen sowie im Jiddischen (vgl. Kap. 5.2.3.4) spricht gegen Interferenzen aus diesen Sprachsystemen.

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Parteien, mit den K. seit Jahren fast befreundet {gewesen} war (Pv.270/18–19), Stunden, in den K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich (Se.68/27–69/1), mit diesen (B>b)eiden Händen, mit den ich d(en>as) [Bri] Papier halte (Vv.122/24–25), Kännchen, in den sich noch ein wenig Kaffee […] vorfinden würde (Ve.367/1–2), Jenen Wilden, von den erzählt wird (N2e.241/4).

Da hier keine Parallelen zur Morphologie deutscher Dialekte oder des Jiddischen vorliegen, dürften dem Befund am ehesten Formen regressiver Assimilation des Typs [de:n-ən] > [de:n-n] > ‹den› zugrunde liegen, die auf den [ə]-Schwund in unbetonten Endsilben zurückzuführen sind und die sich häufig auf Kafkas Schriftbild auswirkten.917 5.2.4.7.2  Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Flexionssuffixen beim Maskulinum Singular Die bereits bei anderen Pronomen918 aufgefallenen Verwechslungen von n- und m-Suffixen im Maskulinum Singular treten im Korpus auch bei Relativpronomen auf. Dabei sind seltenere normwidrige Schreibungen von den/welchen im Dativ (23,08 Prozent der Belegstellen) zu konstatieren: der er{s}te Student […] de(n>m) er gewissermaßen menschlich begegnete (Pv.82/17–19), K., den […] der Kopf schmerzte (Pe.218/18–19), Bitte mich [wegen was] {aus welchen Grunde} Du willst (N2v.476/20).

Ihnen stehen charakteristisch häufigere Fälle von dem im Akkusativ gegenüber (76,92 Prozent), in welchen sich Direktanzeigen einer sprachlichen Interferenz vermuten lassen:919 de(m>n) Sie zu achten vorgeben (Sv.114/24–25), de([m]>n) ich damals kurz nachher heiratete (Sv.129/8), [Wäschevorrat, de(m>n) sie früh gewaschen hatte] (Sv.142/15), de(m>n) er mit beiden Händen immer wieder zudrückte (Vv.9/8–9), de(m>n) sie [leicht] {ein wenig} zurückstieß (Vv.241/19– 20), welcher der verläßlichste Mensch ist, de(m>n) ich überhaupt kenne (V.248/18–19), der Hausherr

917 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.2. Der Ausschluss solcher verkürzten Relativpronomen von der Schriftsprache ergibt sich aus Brods durchgehender Korrektur (Kafka 1953b: 107, 345; 1964: 63; 1965: 237). 918 S. hierzu Kap. 5.2.4.1.3, 5.2.4.2.2 und 5.2.4.4.2. 919 Die Schreibung von die statt denen dürfte dagegen von einem Perspektivenwechsel herrühren: mit etwas tief gehaltenen Köpfen […] über d(ie>en)en sie lose die dunklen Schirme trugen (N1v.15/9–10). Auf die Verschriftlichung einer r-Vokalisierung (vgl. Kap. 5.1.2.11.2) lässt hingegen das ,defekte‘ Flexionsmorphem in folgendem Beispiel schließen: der Oberportier, welche einigemal wiederholte (Ve.243/16).

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de(m>n) ich bisher nicht bemerkt hatte (N1v.101/6), Zum Fürsten Leo, [d(em>en) wir brauchen] (N1v.287/27–288/1), um das Gebrüll des Ochsen (,>n)icht zu hören, de(m>n) von allen Seiten die Nomaden ansprangen (N1v.360/16–18=Dv.266/6–7), ihr [Werkzeug,] Diener, de(m>n) sie […] zum 920

Herrn über sich gemacht haben (N2v.293/2–4).

Kafka berichtigte sich nahezu vollständig (zu 84,62 Prozent) noch im Prozess der Niederschrift, erkannte demnach unmittelbar einen Normverstoß.921 Nachdem die vorliegenden m-Formen nicht auf die Dativ-Rektion entsprechender tschechischer Verben zurückgeführt werden können, führt die Prüfung einer mundartlichen Interferenzquelle zurück zur Darstellung von König (162007: 154; K. 2):922 Der im nord‑/ostober‑, ostmittel- sowie niederdeutschen Dialektraum verbreitete formale Zusammenfall von Dativ und Akkusativ äußert sich nicht nur beim Definitartikel, sondern auch beim formal identischen Relativpronomen Maskulinum Singular im Fehlen von ‑m als Dativ-Kennzeichen (Wagner 1987: 86; Merkle 61996: 85) und im Einheitsflexiv ‑n. Dieses Flexionsphänomen kann die im Korpus überwiegenden m-Formen im Akkusativ kaum bedingt haben, es sei denn, man deutete sie als Kontrastübertreibungen. In diesem Fall nähmen sie aber kaum eine Dreiviertel-Mehrheit innerhalb des Fehlerkorpus ein, wie sie die Handschrift ausweist. Im Jiddischen wiederum erhält das maskuline Relativpronomen welxer im Dativ wie im Akkusativ ebenfalls ‑n als Einheitssuffix, während alternativ in allen Genera und Kasus (das allerdings unflektierte) wos verwendet werden kann. Bedenkt man jedoch, dass der jiddische Definitartikel Maskulinum Singular im Dativ wie im Akkusativ dem lautet, so sind die Parallelen zu Kafkas m-Formen im Akkusativ unübersehbar.923 Diese lassen sich dann, wie ihr Überwiegen im Fehlerkorpus ohnehin nahe legt, als Direktanzeigen betrachten, während die selteneren n-Formen im Dativ als hyperkorrekt interpretiert werden können. Wie schon bei den Interrogativpronomen924 liefert das Korpus somit erneut Indizien für einen Reflex jiddischer Pronominalflexion, der unter der Regionalismus-Sigle A1/E[ J] einzuordnen ist.

920 Daneben belegt das Korpus, dass auch im Dativ Plural ein hyperkorrektes ‑m an die Stelle von ‑n treten konnte: Besprechungen, bei welche(m>n) (Sv.433/21). 921 Die verbliebenen Stellen verbesserte Max Brod im Zuge seiner Kafka-Edition (z. B. Kafka 1965: 194). 922 S. hierzu Kap. 5.2.2.2, 5.2.2.3, 5.2.4.1.3, 5.2.4.2.2, 5.2.4.5 und 5.2.5.3. 923 Vgl. hierzu Wiener (1893: 53), Birnbaum (1979: 255), Weissberg (1988: 163, 265), Lötzsch (1990: 181–182, 198) und Jacobs (2005: 172, 188). 924 S. hierzu Kap. 5.2.4.5.

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5.2.5  Adjektiv 5.2.5.1  Stammformbildung mit dem Suffix -lich statt binnendeutsch -ig Im Bereich der Wortbildung sind im Korpus Adjektive zu beachten, die das Suffix ‑lich aufweisen, wo binnendeutsch ‑ig zu erwarten wäre (Blahak 2007a: 183): Die einfache Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie von sich abschütteln (P.303/9–11), die Bedeutungslosigkeit der Wunden war schon [daran] | [an] an den unförmlichen aus alten Fetzen bestehenden Verbänden zu sehn (Vv.269/14–16), in diesem unförmlichen Kopf sind doch (do>K)indergedanken (N1v.246/27).

Auch wenn Brod kontextabhängig in der Akzeptanz von unförmlich schwankte,925 darf das Wort in der Bedeutung ,missgestaltet‘/,formlos‘ aus diachroner Perspektive zum regionalen Standard gezählt werden.926 Denn anders als einschlägige reichsdeutsche Wörterbücher führen es Nachschlagewerke aus dem Einzugsgebiet des österreichischen Deutsch als Synonym zu unförmig an.927 Folglich ist hier von einem Regionalismus des Typs B2/rS(d)[Ö] auszugehen. Die Produktivität des Suffixes ‑lich in Österreich belegen ähnliche Adjektivbildungen in den Prager Tageszeitungen und in der Prosa Egon Erwin Kischs.928 Wo Kafka umgekehrt unverständig in der Bedeutung ,nicht verständlich‘ verwendete, unterlief ihm dagegen wohl eine hyperkorrekte Verschreibung:929 wo der Hauptkassier allmählich d(en>ie) {Geduld des} Kapitän{s} unverständ(ig>lich) fand (Vv.30/1–2(2)=Dv.87/24–25(2)). 925 In seiner Kafka-Ausgabe beließ er die Form an zwei Stellen (Kafka 1953b: 233; 1965: 264), während er sie einmal zu unförmig korrigierte (Kafka 31954: 157). 926 ÖWB (241951: 265) kennt förmlich in dieser Bedeutung zwar nicht, bezeichnet jedoch z. B. zeitlich (,zeitig‘) als umgangssprachlich. Gegenwärtig werden ähnliche Adjektive bereits vielfach dem österreichischen Standard zugerechnet (Ebner 21980: 200; Ammon u. a. 2004: 888–889). 927 Vgl. Popović (21886: 437), Rank (1892: 879), Pleteršnik (1895: 88), Herzer/Prach (1909b: 1097), Kelemen (231924: 297), Sterzinger (1935: 1026), Ristić/Kangrga (1936: 1550) und Siebenschein (1944–1948: 220). 928 Vgl. siebenmonatlichen Kurs (PP 1921c: 8), ihrer zweimonatlichen klinischen Praxis (Kisch 51922: 136). 929 Im Bereich der Adverbien können auffällige lich-Suffixe meist als Flüchtigkeitsfehler gedeutet werden. In der Textstelle hielten kleine Kinder vorsichtlich und zärtlich (Pe.53/10–11) z. B. antizipierte Kafka wohl das Suffix des zweiten Adverbs. Kott (1880: 381), Herzer/Prach (1909b: 1322), Sterzinger (1935: 1280) und Siebenschein (1944–1948: 494) kennen diese Form nicht. Auch Brod verbesserte sie in seiner Kafka-Ausgabe (Kafka 1965: 47).

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5.2.5.2  Stammformen mit Umlautung des Stammsilbenvokals Daneben weisen die Stammsilben einiger Adjektive eine Umlautung auf, die im Deutschen Reich um 1910 nicht geläufig war.930 In der Forschung wurde bereits auf das Adjektiv begriffstützig (Pe.354/21; vgl. Pe.308/22; N1e.249/26) hingewiesen (Nekula 2003a: 119; Krolop 2005: 212), das sich auch als Derivativ Begriffstützigkeit (N1e.251/23) im Korpus findet. Die heute übliche Bestimmung als standardsprachlicher Austriazismus (Ebner 2 1980: 41; Ammon u. a. 2004: 96; Duden 242006: 236) ist aus diachroner Perspektive auch für Kafkas Zeit anzunehmen; denn die relevanten österreichischen Wörterbücher geben die umgelautete Form entweder ausschließlich (Rank 1892: 133; Janežič 41905: 81; Herzer/Prach 1909b: 1044) oder alternativ neben ihrer nicht umgelauteten Variante an (Sterzinger 1916: 731; Siebenschein 1936–1938: 348).931 Dennoch dokumentieren Kafkas Drucke zu Lebzeiten, dass man in Prag z. T. hyperkorrekt die österreichische Markierung des Umlautes negativ bewertete: Der aus Wien stammende Franz Blei etwa gab das begriffsstützige (Dv.176/23) aus Kafkas Manuskript beim Druck der Verwandlung in den Prager Weißen Blättern ohne Umlaut wieder. Dagegen kehrte der Kurt Wolff Verlag in der reichsdeutschen Buch-Erstausgabe der Erzählung zur Schreibweise des Autographs zurück. Brod, der begriffstützig bzw. Begriffstützigkeit auch sonst in Kafkas Manuskripten beließ (Kafka 31954: 159, 161; 1965: 269), schloss sich der Praxis des Leipziger Verlages an (Kafka 1967b: 122). Dass sich Brod bei der Entscheidung zwischen zwei Varianten innerhalb einer schwankenden Norm an den jeweiligen Medien und ihrem Einzugsgebiet orientierte, illustriert auch sein Umgang mit dem von Kafka ohne Umlaut verwendeten Adjektiv stutzig (Dv.428/24; S.107/22): Bei der Einrichtung des ersten Kapitels von Richard und Samuel für den Druck in den Prager Herder-Blättern (Dv.428/24) veränderte er es zu stützig (Kafka 1996: 528),932 wogegen er es in seiner über-

930 Duden (71902; 101930) mit den für Deutschland, Österreich und die Schweiz gültigen amtlichen Regeln führt keines der Wörter auf. 931 Die serbische Außenperspektive (Popović 21886: 76) bestätigt, dass es sich um eine in ganz Österreich-Ungarn standardsprachliche Form gehandelt haben muss. 932 Dabei handelte es sich bei stützig um eine auf Österreich und Süddeutschland beschränkte Variante, die (in der Bedeutung ,störrisch‘/,widerspenstig‘) heute als veraltend gilt (ÖWB 241951: 21; Ebner 21980: 177; Duden 242006: 982). Popović (21886: 405), Sterzinger (1935: 807) und Ristić/ Kangrga (1936: 1436) führen stützig an, Rank (1892: 831), Herzer/Prach (1920: 1434), Kelemen (231924: 281) und Mandrović (21943: 167) dagegen stutzig. Janežič (41905: 708) nennt beide Formen, so auch Siebenschein (1944: 843), der in stützig allerdings eine familiäre Variante von stutzig sieht.

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regional konzipierten Schloß-Ausgabe beibehielt (Kafka 1964: 99). Das Adjektiv stützig darf daher insgesamt zu den Regionalismen des Typs B2/rS(d)[Ö] gerechnet werden. Auch das umgelautete färbig wurde bereits in Kafkas Prosa bemerkt (Krolop 2005: 213). Als Form der Schriftsprache933 findet es sich (neben seiner Variante farbig) in den einschlägigen österreichischen Wörterbüchern.934 Allerdings fasste man die Umlautung nicht nur im Deutschen Reich als ,unrichtig‘ bzw. Grenzfall des Standards auf (Gartner 1901: 15; Kretschmer 1918: 1, 5). Aus Wiener Perspektive betrachtete z. B. auch Lehmann (1899: 47) färbig im Schriftdeutschen als Normverstoß. Dass sich Kafka selbst einer ,österreichischen‘ Markierung des Wortes bewusst war, lässt sich aus dem singulären Vorkommen im Korpus gegenüber häufigeren Belegen der umlautlosen Variante schließen: seine färbige Unterkleidung (V.274/23).

×

ein [mehrf] vielfarbiger Sonnenuntergang (Pv.220/18), keinen Schluck der goldfarbigen Suppe (V.80/21), in vielfarbigen Buchstaben (N1.21/3–4), sehr verschieden farbige Bäume (N2.547/9).

Entsprechend tilgte Max Brod, der in seiner eigenen Prosa die ,norddeutsche‘ Form farbig verwendete (Brod 1911: 261), den Umlaut, wo er ihn in Kafkas Manuskript vorfand (Kafka 1953b: 237).935 Auf der anderen Seite konnte es offenbar umgekehrt vorkommen, dass österreichischen Medien die umlautlose Variante nicht genügte: Die Textstelle ein Zug färbiger Reiterei (D.404/27–405/1) in der Aeroplane in Brescia z. B. geht auf einen Eingriff der Redakteure der Bohemia zurück,936 denen farbig offenbar nicht korrekt vorkam. Die Summe der Indizien spricht letztlich für die Zugehörigkeit des Adjektivs färbig zur Regionalismus-Kategorie A2/rS(d)[Ö]. Als drittes Beispiel illustriert das von Wand abgeleitete Adjektiv ‑wandig die schwankenden Normvorstellungen der Kafka-Zeit im Einflussgebiet des österreichischen Sprachgebrauchs im Hinblick auf ,latente Austriazismen‘: An der Textstelle kein vier-||[seitiger] wandiger Gitterkäfig (N1v.388/5) findet es sich im Manuskript des Berichtes für eine

933 Zur Gültigkeit innerhalb des gegenwärtigen österreichischen Standards des Deutschen vgl. ÖWB (241951: 62), Rizzo-Baur (1962: 91), Ebner (21980: 68), Ammon (1995: 176), Muhr (1995: 215), Duden (242006: 395) und Ammon u. a. (2004: 232). 934 Vgl. Herzer/Prach (1909a: 27) und Ristić/Kangrga (1936: 516). Rank (1892: 326), Janežič (41905: 223), Sterzinger (1921: 44), Kelemen (231924: 112), Siebenschein (1939–1940: 17) und Mandrović (21943: 58) führen dagegen nur farbig an. 935 Vgl. aber dünklere Hautfarbe bei Brod (1911: 138). 936 In den Umbruchseiten und einer Typoskript-Abschrift Kafkas heißt es farbiger (Dv.405/1).

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Akademie.937 Kafkas umlautlose Form erschien zunächst unverändert in der Zeitschrift Der Jude. Im Zweitdruck der Oesterreichischen Morgenzeitung wurde das Wort dagegen als vierwändiger (Dv.302/18) wiedergegeben. Da die Leipziger Landarzt-Ausgabe des Kurt Wolff Verlages und auch Brods Textedition (Kafka 1967b: 187) wieder die umlautlose Variante des Autographs aufweisen, lässt sich folgern, dass die Form ‑wändig im Deutschen Reich wie teilweise wohl auch in Österreich als regional markiert empfunden wurde, wenngleich sie durchaus im Druck erscheinen konnte.938 5.2.5.3  Verwechslung von Dativ- und Akkusativ-Flexionssuffixen im Singular Maskulinum und Neutrum Bei attributiven Adjektiven tritt in Kafkas Prosa-Handschriften häufig ein Flexionsphänomen auf, das schon Nekula (2003a: 105) in den Tagebüchern vorfand: die Verwechslung der Formen mit ‑m und ‑n im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum.939 Diese bereits in deutschen Prager Drucken des 17. Jahrhunderts nachweisbare Erscheinung (Povejšil 1980: 45, 86) war zu Kafkas Lebzeiten auch in Wien im Schriftdeutschen verbreitet, wurde dort allerdings als Normverstoß betrachtet (Lehmann 1899: 35). In der Frage einer regionalen Eingrenzbarkeit ist zunächst ein Blick auf die Paradigmen der Adjektiv-Flexion im deutschen Dialektraum zu werfen: Hier gelten in den nordund ostober‑, ostmitteldeutschen und ostfälischen Dialekten für das maskuline Adjektiv Singular Nominativ-Akkusativ/Dativ-Systeme, d. h. es besteht Indifferenz bezüglich der Dativ- und Akkusativ-Flexive, die jeweils [‑en], [‑ən] bzw. [‑n] lauten.940 In den westoberund westmitteldeutschen Mundarten herrschen dagegen entweder Nominativ/AkkusativDativ-Systeme vor oder aber alle drei Kasus-Formen unterscheiden sich morphologisch.941 Hier besteht demnach beim maskulinen Adjektiv Singular im Dativ und Akkusativ keine Formengleichheit. Für den Großteil des niederdeutschen Raums wiederum ist bei den

937 Als weiteren Korpusbeleg für die umlautlose Form ‑wandig vgl. die Textstelle durch die engen und schwachwandigen Gänge (N2v.603/19). 938 Die zeitgenössischen Wörterbücher führen das Lemma ‑wändig bzw. ‑wandig nicht. 939 Zu diesem Phänomen in Kafkas Proceß-Handschrift s. Blahak (2005: 28; 2007a: 183). 940 Vgl. hierzu Zehetner (1977: 84), Merkle (61996: 167), Kalau (1984: 139–141), Wagner (1987: 80), Koller (1991: 139), Spangenberg (1962: 26), Seibicke (1967: 53) und Stellmacher (1973: 23–24). 941 In den schwäbischen (Frey 1975: 158–159) und hessischen Dialekten (Wegera 1977: 168–169; Hasselberg 1979: 110–111) gilt die Unterscheidung nur für die starke Deklination maskuliner Adjektive.

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Adjektiven aller Genera der Zusammenfall von Nominativ, Dativ und Akkusativ in einer meist endungslosen Kasusform charakteristisch (König 162007: 154; K. 1–4).942 Angesichts dieser mundartlichen Praxis weist der Korpusbefund zunächst auf eine dialektale Interferenz nord‑/ostober- bzw. ostmitteldeutscher Provenienz hin. Denn nähme man eine Fehler-Prognose vor, so wären aufgrund westober-/westmitteldeutscher Flexionsparadigmen kaum Schwierigkeiten bei der Unterscheidung der Dativ- und Akkusativ-Flexive des maskulinen Adjektivs im Schriftdeutschen zu erwarten. Für den niederdeutschen Raum ließen sich dagegen Suffix-Verwechslungen sowohl im Akkusativ als auch im Dativ (zudem im Nominativ) vorhersagen. In Kafkas Manuskripten tritt die fälschliche Setzung des Flexivs ‑em für ‑en und umgekehrt allerdings fast ausschließlich im Dativ attributiver Adjektive im Maskulinum Singular auf. Die folgende fehlerlinguistische Analyse verfährt daher zunächst nach der Darstellung von Kalau (1984: 139), die für das Übergangsgebiet der bairischen und ostfränkischen Mundarten drei Adjektiv-Deklinationsparadigmen und die ihnen jeweils zugeordneten mundartbedingten Fehler-Typen im Schriftdeutschen unterscheidet: Deklinationstyp A betrifft demnach Adjektive nach Definitartikel (schwache Deklination). Im Dativ Singular Maskulinum/Neutrum wurden diese von Kafka z. T. normwidrig mit dem Flexiv ‑em gebildet, das eigentlich zur starken Deklination gehört: unter dem notdürftigstem Anschein (Pe.270/12), in dem jahrelangem Studium (Pe.294/6), dem gute(m>n) Jungen (Sv.249/23), in dem noch ein wenig[-] | fortlaufendem Genusse (Vv.63/25–26), mit ([dA]>d)em inzwischen beschriebenem Papier (Vv.67/9–10), im gewöhnlichem Dienst (Ve.274/10–11), auf dem großausgebreitetem Himmel (N1e.74/24), und las bei dem durch Schneenebel gedämpftem Licht (N2e.371/17–18), mit {dem} nachschleppendem [Hinter](f>F)uss (N2v.454/4–5), aus diesem kaltem Hochmut (Dv.271/9).

Aus fehlerlinguistischer Sicht liegen hier Fälle von Kontrastübertreibung vor: Obwohl sowohl das mundartliche als auch das standardsprachliche Flexionsparadigma eine n-Form vorsehen, vermutet der Mundartsprecher einen Kontrast und greift hyperkorrekt zur m-Form (Kalau 1984: 142).943

942 Analoge Verhältnisse gelten für maskuline Indefinitartikel (vgl. Kap. 5.2.2.3) sowie Personal- (vgl. Kap. 5.2.4.1.3), Possessiv- (vgl. Kap. 5.2.4.2.2) und Relativpronomen (vgl. Kap. 5.2.4.7.2). 943 Allerdings könnte hier auch der Kontrast im Definitartikel erkannt und auf das Adjektiv ausgedehnt worden sein. Vergleichbare Fälle sprechen zudem u. U. für eine Verwechslung der Deklinationstypen A und B mit Deklinationstyp C (s. u.). „Bereits das Auftreten von zwei kongruierenden Formen beim Substantiv verursacht große Verwirrung, so daß willkürlich und ohne Überlegung einfach zwei Formen, die der Mundartsprecher als standardsprachliche identifiziert, gebraucht werden“ (Kalau 1984: 143).

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Nach Deklinationstyp B werden Adjektive hingegen nach unbestimmtem Artikel oder Possessivpronomen dekliniert (starke Deklination). Auch hier lauten Kafkas Flexionssuffixe im Dativ Singular Maskulinum/Neutrum häufig ‑em statt ‑en: aus irgendeinem unverständlichem Grunde (Pe.335/5–6), in ein{em} dunklem Rahmen (Sv.15/10), zwischen ihren Gesichtern […] und ihrem kindisch-närrischem Benehmen (Se.218/20–23), in ihrem schon krankhaftem Streben (Se.377/27–378/1), aus {seinem} grenzenlos empörtem Inner(n>e)n (Vv.28/13– 14=Dv.86/9–10), in einem stark englisch betontem Deutsch (Ve.172/1–2), mit einem {offenbar} nicht zu dieser Sache gehörigem Lächeln (Vv.243/11–12), in einem plötzlich sie überkommendem Entschluß (Ve.248/1–2), in einem […] ausgebreitetem Himmel (N1e.57/15–16), in einem wohlgeschnittenem Kragen (N1e.86/12–13), in {einem} unerlaubtem Zusammenhang (N1v.262/4–5), Außer den Feldgottheiten und ihrem […] erfüllendem Dienst (N1e.349/19–20), mit einem […] nichts bedeuten|dem Husten (N1e.397/22–23), bis zu einem (x>r)eine(m>n) Plätzchen (N2v.201/7–8), in meinem […] alle Ufer über(steigendem>fliessendem) Blut (N2v.330/7), an einem aus [undurchdringlich] dunkler Höhe kommendem Drat (N2v.337/16–17), In einem […] gänzlich unbegründetem Mißtrauen (Dv.197/16–17), er war nur mit […] einem schlecht zugeknöpftem Hemd bekleidet (Dv.296/19–20).

Hier sprechen die fehlerlinguistischen Darstellungen zum nord- und ostoberdeutschen Dialektraum ebenfalls von Kontrastübertreibungen, die analog wie Fehlertyp A erklärt werden können.944 Fehlertyp C schließlich betrifft das Paradigma, das nach dem Nullartikel (starke Deklination) auftritt. Bereits Willomitzer (61894: 25) und Lehmann (1899: 35) stellten bei Wiener Schülern die Neigung fest, in dieser Position beim Adjektiv Singular Maskulinum/Neutrum im Dativ das Flexiv ‑en zu setzen. Kafka hinterließ in seiner Prosa Belege eines entsprechenden Sprachgebrauchs: es liege […] in allgemeinen Interesse (Pe.49/7–8), i(m>n) {vollen} Einverständnis (Pv.309/5),

945

der

allen ein Ende machen würde (Pe.62/25–26), vor K.’s ungeduldigen Blick (Pe.95/7), mit nervösen Kopfzucken (Se.438/25), mit welligen K(ä>a)mm (Vv.142/22), mit dumpfen Gesang (Ve.200/7), selbst bei offenen Fenster (Ve.418/17), auf dessen mit Stroh gefüllten Kutschersitz (N1e.15/11–12),

944 Vgl. hierzu Zehetner (1977: 94), Reitmajer (1979: 138), Kalau (1984: 147) und Koller (1991: 139). Laut Kalau (1984: 149) sei in diesen Fällen die Schwierigkeit für den Mundartsprecher vermutlich nicht in der Morphologie des Adjektivs begründet, sondern in derjenigen des unbestimmten Artikels. 945 In den beiden vorangegangenen Textbelegen könnte jeweils auch der Artikel in der Verschmelzungsform im entfallen sein (vgl. Kap. 5.2.2.4).

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schon seit langen (N1e.325/9), es fehlt ihm an nichts Wesentlichen (N2e.26/17–18), Vertrauen zu etwas Unzerstörbaren (N2e.124/2), mit offenen Mund (N2e.385/2–3=Dv.334/13–14), unter deren (s>u)naufhörlichen Druck (N2v.637/11), bei beleuchtete(n>m) Tische (Dv.172/23), von gewissermaßem 946

farblosen Blond (N2e.560/6–7).

Nach Konsens der Fehlerlinguistik hat man es hier mit Dialekt-Direktanzeige zu tun. Sie basiert auf dem Kontrast zwischen dem /N/‑Morphem der Mundart, das Dativ und Akkusativ repräsentiert, und der Differenzierung zwischen n- und m-Formen in der Standardsprache (Zehetner 1977: 94; Kalau 1984: 151; Koller 1991: 139). Das einzige normwidrige em-Flexiv nach Nullartikel im Akkusativ lässt sich vor diesem Hintergrund als Kontrastübertreibung betrachten (Reitmajer 1979: 138): man[n] sah (ni>k)aum etwas anderes als Maks erhobenem Arm (Ve.65/1–2). Der Korpusbefund, der die unter Typ A und B festgestellten hyperkorrekten Formen als etwa doppelt so häufig wie die Direktanzeigen (Typ C) ausweist, deckt sich qualitativ mit den Beobachtungen der dialektbezogenen Fehlerlinguistik zum nord- und ostoberdeutschen Raum. Koller (1991: 139) bilanziert hier sogar ein Verhältnis von ca. 3:1. Schließlich weisen auch Syntagmen mit mehr als einem Adjektiv im Dativ Singular Maskulinum/Neutrum in attributiver Verwendung auffällige Abweichungen von der zeitgenössischen Schriftnorm auf (Nekula 2003a: 106): Laut den Grammatiken (Kummer 3 1892: 23; Lehmann 71892: 75) galt bei mehreren einander beigeordneten (durch Komma oder und zu trennenden) adjektivischen Bestimmungswörtern vor einem Substantiv die jeweils gleiche Flexion. Bei einem Verhältnis der Unterordnung war das erste (je nach vorausgehendem Wort) hingegen stark oder schwach, das folgende (nicht durch Komma abzusetzende) schwach zu flektieren. Insofern können Syntagmen, in welchen bei starker Flexion das erste attributive Adjektiv das Flexionsmorphem ‑em, das folgende dagegen ‑en erhielt, durchaus als normkonform betrachtet werden: aus grobem schweren Stoff (P.83/26–27), mit schwarzem buschigen Vollbart (P.195/10–11), mit wahrem [brennenden] Durst (Sv.422/8), in sanftem müden Tonfall (Ve.291/11–12), auf wüstem lehmigen [nicht einmal] {nur flüchtig} geebneten Boden (N2v.286/17–18), in altem längst besessenen Gut (N2e.436/27), [in] {von} altem fast schwarzen Epheu (N2v.507/22).

946 Im letzten Fall wäre auch eine versehentliche Vertauschung von Adverb- und Adjektiv-Suffix als Ursache für das normwidrige Flexiv ‑en denkbar.

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Die Geläufigkeit dieser Praxis in Kafkas Umfeld bestätigt u. a. ein Beleg im Prager Tagblatt.947 Auch die Weißen Blätter druckten die Korpusstelle mit weißem, den Kopf umflatternden Haar (Dv.175/8–9) unverändert ab, obwohl hier durch das Komma der Eindruck entstehen konnte, man habe zwei einander beigeordnete Adjektive vor sich. Der Korrektur Brods hielten die betrachteten Fälle in der Regel trotzdem nicht stand.948 Eindeutig als Normverstöße müssen hingegen Syntagmen betrachtet werden, in welchen bereits das erste, stark zu flektierende Adjektiv im Dativ Singular das Suffix ‑en aufweist: zu [even] möglicherweise notwendigen augenblicklichen Gebrauch (Vv.46/5–6=Dv.103/18–19),

949

mit

[…] [{er}grauen{de(n>m)}] {graublonden} länglichem, über die Ohren gekämmtem Haar (N1v.333/9– 950

12),

aus gelblich-|grauen groben Stoff (N2e.416/2–3).

Analoges gilt für Adjektiv-Reihungen im Dativ, in welchen zwar das erste Adjektiv das Flexiv ‑em und das zweite das Flexiv ‑en trägt, das dritte jedoch wiederum auf ‑em endet: mit magerem roten verschnupftem Gesicht (Se.28/25), in dünnem, schwarzen, seidig glänzendem Kleid (N2e.112/14–15), mit (xA>H)ornbrille, steifem, schüttern grauschwarzem [Bart] Ziegenbart (N1v.324/3–5), unter gleichzeitigem schnellen [völligem] gänzlichen Vergessen (Dv.162/16).

In Syntagmen, welche die schwache Deklination aller gereihten Adjektive erfordern, da diesen Artikel oder Possessivpronomen vorausgehen, kann im Korpus ebenso in allen Positionen das normwidrige Flexiv ‑em auftreten: an seinem kurzen, scharf geschnittenem Röckchen (Pe.275/3–4), mit einem schulmässigem, {ein}geübten, unwiderstehlichem Griff (Pv.306/20–21), mit {dem} hängendem freien Arm (Pv.307/14), mit ihrem ernsten geraden unrührbaren vielleicht auch etwas stumpfem Blick (Se.55/6–7), in ein{em} lebhaftem engen Gäßchen (Sv.441/25–26), i(n>m) sprühende(m>n) elektrischem Licht (Vv.66/17–18), voll

947 Vgl. aus schwarzem, polierten Sandstein (PT 1921: 5). 948 Doch schwankte Brod gelegentlich in seiner Akzeptanz: In den Syntagmen mit verlegenem aber lauten Lachen (Pe.138/20) und mit schwarzem buschigen Vollbart (P.195/10–11) ließ er das jeweils zweite Adjektiv auf ‑em enden (Kafka 1965: 129, 175). Die Textstelle aus grobem schweren Stoff (P.83/26–27) erschien ihm dagegen annehmbar (Kafka 1965: 73). 949 Hier könnte auch ein Artikel-Ausfall in der Verschmelzungsform zum verschriftlicht worden sein (vgl. Kap. 5.2.2.4). 950 Möglicherweise war hier zunächst der Plural Haare intendiert.

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von einem stolzen aber unterdrücktem Lachen (Ve.177/24–25), mit einem das ganze Gesicht umgebendem dunklen Bart (Ve.256/10–11), in einem gänzlich unverständlichen [mit] viel(e>l)eicht mit slavischen Worten untermischtem Englisch (Vv.281/4–5), über dem wahrscheinlich unfrisierten und bloß aufgehäuftem Haar (Ve.322/9–10), mit […] einem geblümten kupferbrau(en>ne)m Überzieher (N1v.101/8–9), im leicht bewölkten und dadurch weiter ausgebreitete(m>n) Himmel (N1v.124/13–14), mit {einem} schönem {weissem} bändergeschmücktem Vorhang (N2v.511/2–3), einem [kleinA] kurzen, […] etwas verwildertem Vollbart (N2v.518/1–2), mit einem kleinen vergittertem Vor([hA]>g)ärtchen (N2v.567/15–16), aus dem letzten von selbst schon sich auflösendem Schlaf (N2e.605/27–606/1), in diesem außerordentlichen, niemand sonst gewährtem, die Gesetze [geradezu] {eigentlich} widerlegendem Geschenk (N2v.669/22–25=Dv.368/10–12), mit einem Georg {schon} ganz unbekanntem Namen (Dv.60/4–5), mit einem gefährlich klingenden aber nichts bedeuten|dem Husten (Dv.305/27–306/1).

Solche Verstöße interpretiert Kalau (1984: 153–154) sämtlich als mundartbedingt, wobei der Mundartsprecher in mangelnder Kenntnis der Regel n- und m-Formen setze und dabei die Positionen verwechsle. Eine abschließende Synopse fehlerlinguistischer Untersuchungen zur Praxis mundartlicher Adjektiv-Flexion im deutschen Sprachraum erhärtet die eingangs angestellte Vermutung zur regionalen Zuordnung der Suffix-Verwechslungen Kafkas bei attributiven Adjektiven: Zum Großteil der westmitteldeutschen und westfälischen Dialekte verzeichnet die Fehlerlinguistik keinen der im Korpus ausgemachten Normverstoß-Typen als regional charakteristisch.951 Schwäbische und niedersächsische Dialektsprecher neigen zwar zu den Fehler-Typen A und B, nicht hingegen zum Fehlertyp C. Bei alemannischen Dialektsprechern verhält sich dies umgekehrt.952 Wesentlich typischer sind in den genannten Mundarträumen Verwechslungen von Nominativ- und Akkusativ/DativFlexiven im Schriftdeutschen – Fehler, die in Kafkas Handschriften kaum vorkommen. Auch jiddische Sprachstrukturen hatten wohl keinen Einfluss auf die betrachtete Adjektiv-Flexion: Im Jiddischen besteht zwar beim starken Adjektiv Maskulinum Singular im Akkusativ und Dativ Formengleichheit (Flexiv ‑en); im Neutrum bleiben Adjektive jedoch in allen Kasus endungslos (Birnbaum 1979: 241; Lötzsch 1990: 198; Jacobs 2005: 173). Auffällig ist die geringe Zahl der Autokorrekturen im Korpus, die kaum jeden zehnten

951 Vgl. Niebaum (1977: 65), Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 98) und Henn (1980: 88). Lediglich hessischen Dialektsprechern scheinen alle im Korpus ausgemachten Fehler-Typen im Schriftdeutschen ebenfalls zu unterlaufen (Hasselberg/Wegera 1976: 66; Wegera 1977: 168–169). 952 Vgl. Ammon/Loewer (1977: 71), Besch/Löffler (1977: 63) und Stellmacher (1981: 96).

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Normverstoß erfassen.953 Kafka hatte demnach tendenziell nicht den Eindruck, Fehler zu begehen. Angesichts dessen fragt man sich, ob die vereinzelten Nachweise ähnlicher en/em-Verwechslungen in den Prager Printmedien954 nur auf Druckfehler zurückgehen oder eventuell eine gewisse lokale Standardnähe indizieren. Doch sprechen die normalisierenden Eingriffe Max Brods,955 die den zeitgenössischen Normvorgaben folgen, letztlich für einen Regionalismus, der dem Substandard angehört (Typ A2/D[onO+oM+]). Alle sonstigen der Standardnorm zuwiderlaufenden Flexionssuffixe im Singular des Adjektivs (29 von 101 bzw. 28,71 Prozent) sind nicht auf dialektale Interferenzen zurückführbar. Zumeist sind sie Resultat nicht zu Ende geführter Korrekturvorgänge: [und jetzt in d(ie>er) lichterfüllte | Türe [trat.] erschien] (Pv.38/4), K. [dessen] {denn seine} seine praktische Erfahrungen (Pv.329/19–20), daß er [in] d(ie>er) allgemeine Unterhaltung gar nicht zuhörte (Pv.331/4–5), selbst [von] {über} sein(er>e) eigenen Arbeit [erzählte oder] sprach (Pv.331/7–8(2)), er hatte grosse [Lust] Verlangen (Sv.26/23), Hier [liegt ja Dein] {hast Du ja Deinen} griechischer Gott (Sv.416/19), in {seiner} nächster Nähe (Vv.263/8–9), machte{,} (den Eindruck>daß man) schwarz getünchter Omnibuswände {ohne Scheiben sah} (N1v.39/4–5(2)), dem [sein] {der} ehrlicher Beruf eines Geschäftsangestellten nicht genügte (N1v.220/21–22), er wird d(en>as) kleinen [Lärm] {Geräusch} […] leicht überwinden (N1v.240/2–3(2)), in d(ie>en) schon sichtbare Mauer[ecke]{winkel} (N2v.37/16), wir unterhalten uns gewöhnlich (von>übe){r} [den] örtlichen [Verhältnissen] {Fragen} (N2v.454/12– 13(2)), de(r>n) prüfende und schon vor der Prüfung das Ergebnis kennende{n} Blick (N2v.641/10–11), von der (ihr>das) schwaches Stimmchen umgeben ist (N2v.656/6–7).

Teils können sie auch als Verschriftlichung lautlicher Assimilationsprozesse des Typs [‑εnən] > [‑εn-n] > [‑εn] > ‹‑en› gedeutet werden: mit einem golden Crayon (Ve.250/9–10), dass es meine {eigen} Hände sind (N1v.390/8); oder sie lassen sich durch Antizipation bzw. Analogiebildung im Schreibprozess erklären: jeder nicht bei Gericht verbrachter Tag (Pe.159/10–11), in dessen ganzen Breite (Pe.179/1), von nichts ander(s>e)m (Pv.207/12), trotz alle(r>s) Kraftverbrauches (Pv.344/15–16), lag in der Mitte des Zimmers ein{er offener} Sarg (N1v.420/17), entspricht unserer alter Lehre (Dv.272/1).

953 Insgesamt wurden nur sechs (8,33 Prozent) von 72 normwidrigen Kasus-Flexiven verbessert. 954 Vgl. Mit einem verhältnismäßig geringem Betrag (SW 1921a: 5), mit einem jungen, fröhlichen, aber ernstdenkendem Mädchen (PT 1921: 32), im geringem Masse (PP 1921a: 8), am eingezogenem Türkenrock (PP 1921c: 12). 955 Vgl. exemplarisch Brods Proceß-Ausgabe (Kafka 1965: 44, 55, 129, 237, 241, 257, 267–269, 288).

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Sonstige ,defekte‘ (fehlendes ‑s, ‑er, ‑n, ‑en) oder redundante (‑n) Flexionsendungen weisen ebenso wenig Parallelen zu mundartlichen Flexionsparadigmen auf. Man kann sie daher als gewöhnliche, dem hohen Schreibtempo Kafkas geschuldete Flüchtigkeitsfehler betrachten: ([zA]>d)ie zum Mauergerüst bestimmten waren (N1v.341/24), das Heraufkommen der royalistisch Partei (N1e.422/2), etwas schurkenmässige (N2e.43/1), im übliche bleiben (N2e.59/4), sein ehrlich Glaube (N2e.105/13–14), hatten […] sein empfindliche Herz in Unruhe gebracht (N2e.238/13–14), um sich (nu>zu) neuer ihr immer unverständlicher werdenden Leistung anzufeuern (N2v.668/1– 2=Dv.366/13–14).

5.2.5.4  Ausfall von -n in Plural-Flexionssuffixen Eine kleine Gruppe von Normverstößen, die Kafka nicht berichtigte, betrifft den n-Ausfall in Plural-Morphemen bei Adjektiven in allen Genera: Es gibt […] gar keine vom Gericht anerkannte Advokaten (Pe.152/18–19), diese viele{n} […] Arme (N1v.141/27–142/1=Dv.20/11–12), mit eingebogene {ewig} zitternden Knien (N1v.394/13), Eine der wichtigsten Don Quichotische || Taten (N2e.38/21), auf lange Stangen, überall verteilt, steigen Diener (Dv.397/15–16).

Einmalig findet sich zudem ein scheinbar hyperkorrektes, redundantes Flexions-n im Korpus: durch selbst selten nur mir zugewendeten Blicke (N1e.174/25–26). Auch hier spricht vieles für die Übertragung einer mundartlichen Flexionsform in die Schriftsprache; denn nach unbestimmtem oder Nullartikel (starke Deklination) ist die Plural-Einheitsendung [‑ε], [‑e] bzw. [‑ə] in allen Kasus/Genera in den deutschen Dialekten weit verbreitet: So wird der bei Kafka ausgemachte n-Ausfall in den FehlerTypologien zum ober- und westmitteldeutschen Raum als Direktanzeige geführt.956 Im Bereich der ostmittel- und südlichen niederdeutschen Dialekte sind Normverstöße, wie sie Kafka unterliefen, aufgrund anderer Flexionsparadigmen mundartbedingt dagegen

956 Vgl. Zehetner (1977: 94), Kalau (1984: 145, 152), Koller (1991: 139), Frey (1975: 157–159), Besch/ Löffler (1977: 63), Wegera (1977: 165, 168), Hasselberg (1979: 110), Henn (1980: 86) und Klein/ Mattheier/Mickartz (1978: 98–99). Auch für das Jiddische ist die Einheitsendung ‑e (bzw. ‑y) in allen Genera und Kasus des Adjektivs charakteristisch (Birnbaum 1979: 241; Lötzsch 1990: 198; Jacobs 2005: 172–173).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

nicht zu erwarten.957 Das niederdeutsche Sprachgebiet wiederum kennt zwar Pluralendungen ohne ‑n (Stellmacher 1973: 24; 1981: 96); angesichts seiner räumlichen Entfernung von den böhmischen Ländern kann es jedoch als Quelle interferenzieller Einflüsse auf das in Prag gesprochene Deutsch vernachlässigt werden. Aufgrund der bescheidenen Zahl von Belegen ist nicht zwingend anzunehmen, Kafka habe diese ,defekten‘ Plural-Suffixe als normkonform aufgefasst. Ihre Berichtigung durch die Herausgeber der Münchner Zeitschrift Hyperion (Dv.397/15–16) und durch Max Brod (Kafka 1965: 140) schließt sie in jedem Fall von der Schriftsprache aus.958 Insgesamt lässt sich ein Regionalismus des Typs A1/D[O+wM] bestimmen. 5.2.5.5  Die Konstruktion viel/wenig + Substantive im Plural Die unbestimmten Numeralien viel und wenig, Grenzfälle zwischen Adjektiv und Pronomen (Duden 82009: 326), fallen im Korpus besonders dort auf, wo sie mit Null-Flexionsmorphem auftreten und mit Substantiven im Plural verbunden sind.959 Zahlreich sind die Belege zu viel, die sich in wörtlicher wie erzählter Rede finden: wieviel Zündhölzchen (P.21/18), soviel Berichte (P.80/17), viel Hindernisse (P.212/23), (V>W)ie viel Jahre (Pv.233/2), soviel Advokaten (P.234/27), mit viel Leuten (S.79/7), soviel Hoffnungen (S.165/23), viel [Dinge] (Sv.251/17), {nach} viel Vorbereitungen (Sv.338/17), ohne viel Erklärungen (V.196/8), An wieviel Stellen (V.242/6–7), nicht viel (vi>A)usweispapiere (Vv.277/12), [besondere] {viel} Umstände (Vv.294/20), wie viel Sachen (V.311/26–27), mit soviel Gegenständen (V.315/16), So viel Äpfel (V.382/9), soviel Plakate (V.387/16), Wie viel Worte (N1.8/1), wieviel unglückliche Träume (N1.61/4; N1.128/10), wieviel glückliche Gedanken (N1.128/8), soviel Reformen (N2.8/16), viel Stunden (N2.219/9), ein Bündel von soviel Do{l}chen (N2v.320/3–4), [genau] soviel Kräfte (N2v.321/15), wie viel Leute (N2.555/19), ohne viel Umstände (N2.531/7), zu viel Arbeitspausen (N2.626/25), soviel Umstände (D.36/10).

957 In den thüringischen Dialekten lautet das Flexionssuffix im Dativ Plural ‑n, in den obersächsischen und westfälischen Mundarten ist das Adjektiv im Dativ/Akkusativ Plural endungslos (Spangenberg 1962: 26; Seibicke 1967: 53; Niebaum 1977: 63). 958 Ein Einzelbeleg in den Prager Printmedien stellt u. U. einen Druckfehler dar: welche ungeheuere Fortschritte die Assimilation […] zu verzeichnen hat (SW 1921c: 3). 959 Zu diesem Phänomen in der Proceß-Handschrift s. Blahak (2008a: 84–85).

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Entsprechende Beispiele zu wenig lauten: wie wenig Geldmittel (P.88/7), wenig Leute (P.93/1; V.394/13), wenig gemeinsame Interessen (P.237/27), so wenig Fremde (Sv.7/3,65*), Wenig Fremde? (Sv.7/3,66*), [keine] {wenig} Sorgen (Sv.92/4), nicht wenig Scherereien (V.125/18–19), entsetzlich wenig Kenntnisse (V.171/11), unerlaubt wenig Haare (N2.296/11), mit sehr wenig Mö(g>b)eln (N2v.347/9–10).

Hyperkorrekt erscheint viel an einigen Stellen im Singular mit redundantem e-Flexiv: viele Mühe (P.94/23), es war gerade viele Arbeit da (Se.190/2), Ich weiß es ist vie(le>l) (N1v.387/14). Eine Stichprobe anhand der Proceß-Handschrift lässt einen quantitativen Vergleich zwischen flektierten und endungslosen Formen zu: Insgesamt enthält das RomanFragment 24 Belege von (so/wie/zu) viele/wenige mit folgendem Plural-Substantiv.960 Mit viel/wenig werden solche Konstruktionen dagegen nur achtmal gebildet. Da Kafka nur äußerst selten Autokorrekturen in diesem Bereich vornahm,961 ist anzunehmen, dass er die endungslosen Numeralien grundsätzlich als normkonform betrachtete, auch wenn er ihren ,vollen‘ Varianten in ca. 75 Prozent der Fälle den Vorzug gab. In der Frage der Standardkonformität des Phänomens weisen die österreichischen Wörterbücher der Kafka-Zeit Schwankungen auf: Sterzinger (1935: 1232, 1367) und Siebenschein (1944–1948: 445, 555) z. B. lassen zwar wahlweise viel/viele + Substantiv (Pl.) gelten; in analogen Konstruktionen mit wenig betrachten sie das Suffix-e dagegen als obligatorisch.962 Herzer/Prach (1909b: 800, 879) wiederum führen variierende Kombinationen wie wenig(e) Personen, aber wenig Freunde, viel(e) Freunde/hundert, aber viele Wochen an, ohne sich auf eine explizite Regel festzulegen. Die Grammatiken sind in ihren Angaben kaum präziser: Während etwa Willomitzer (61894: 39) ausführt, „[w]enig und viel bleiben auch undecliniert“, lässt Lehmann (71892: 81) zumindest viel + Substantiv (Pl.) zu. Kummer (31892: 29) setzt zwar die Flektierung von viel/wenig voraus, „wenn sie eine Zahl von einzelnen Gegenständen bezeichnen“, gibt andererseits aber Musterbeispiele

960 Vgl. P.55/10; P.97/7; P.102/23; P.150/23; P.155/15; P.180/18; P.182/4; P.200/17; P.204/18; P.221/14; P.236/23; P.237/13,27; P.254/22; P.274/24; P.293/15; P.296/6–7,10; P.300/19; P.315/2; P.321/13; P.330/6; P.346/17; P.349/6. 961 Die einzigen beiden Belege lauten: viel[e] Berichte (Pv.81/16) und weil {es} so viel{e} waren (Sv.59/13– 14). Hinzu kommt die Tilgung einiger hyperkorrekter redundanter e-Suffixe: zu vie([le]>l) Klamm (Sv.215/2), der [{aber}] vie(leA>l) grössere Mann (Sv.183/18(2)212*), und wollte vie(le>l) lieber (N2v.606/22). 962 Siebenschein erkennt in wenig Tagen als einzige Ausnahme an.

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wie viel Worte und in wenig Stunden an. Da (wie/so) viel/wenig in den Prager Medien963 und auch in der Prosa Egon Erwin Kischs964 mit Substantiven im Plural nachweisbar sind, lässt sich allerdings davon ausgehen, dass solche Konstruktionen in Österreich prinzipiell dem Standard angehörten. Für eine auch überregionale Schriftsprachlichkeit und damit gegen einen Regionalismus965 sprechen zudem die Angaben bei Heyse (251893: 277), der die Beugung von viel/ wenig nur bei anteponiertem Artikel/Pronomen als zwingend vorschreibt. Max Brods Toleranz gegenüber den endungslosen Formen in seiner Kafka-Ausgabe966 unterstreicht diesen Eindruck.967 Doch fallen auch Kafkas reichsdeutsche Verleger durch einen z. T. inkonsequenten Umgang mit den betrachteten Zahlwörtern auf: Der Kurt Wolff Verlag z. B. ergänzte zwar das Numerale in der Textstelle alle Schakale ringsum, zu denen inzwischen noch viel von (v>f)ernher gekommen waren (Dv.272/13–14) zu viele, tilgte demgegenüber aber das Flexions-e in soviele Fläschchen (Dv.167/7). 5.2.5.6  Einzelwortabhängig erhöhte Tendenz zum Fugen-s Für die Kompositabildung Kafkas innerhalb der Wortart Adjektiv gilt prinzipiell Ähnliches wie beim Substantiv.968 Auch wenn regional markierte Besonderheiten im Bereich der Kompositionsfuge hier seltener auftreten, so dokumentieren sie doch zum einen Formen, die auf den österreichischen Sprachgebrauch beschränkt waren, zum anderen, dass Kafka zwischen Varianten mit oder ohne Fugen-s schwankte: Kafkas aufnahmsfähig (N2.520/3; N2.538/1) z. B. entsprach der zeitgenössischen Norm des österreichischen Deutsch969 und wurde auch von Max Brod nicht beanstandet (Kafka 1969: 127). An

963 Vgl. Wieviel Zionisten (SW 1921a: 1), wie viel positive Möglichkeiten (SW 1921c: 4), soviel politische […] Mittel – viel schöne Kleider – viel fleißige und brave Leute (PT 1921: 3, 9). 964 Vgl. wo er so viel Bekannte hat (Kisch 51922: 188). 965 Auch gegenwärtig bezeichnet Duden (82009: 326) die endungslosen Formen bei Substantiven im Plural zwar als selten, schließt sie aber (bei zusammenfassender Bedeutung) nicht von der Norm aus. 966 Vgl. exemplarisch seine Proceß-Ausgabe (Kafka 1965: 21, 70, 76, 82, 190, 206, 208, 210). 967 Brod (1911: 20, 103, 238) benutzte diese Konstruktion gelegentlich selbst in seiner Prosa: wenig Menschen – wie viel solche mochte es in der Welt geben – wie viel da waren. 968 S. hierzu Kap. 5.2.3.5.1. 969 Vgl. Rank (1892: 85), Pleteršnik (1895: 554), Sterzinger (1916: 460), Herzer/Prach (1916: 489), Bradač/Preglja (1930: 474) und Siebenschein (1936–1938: 208). Zur Zugehörigkeit zum gegenwärtigen österreichischen Standard vgl. ÖWB (241951: 14) und Ebner (21980: 31).

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anderer Stelle verzichtete Kafka in {teilnahm{s}los} (Sv.211/2(2)) zunächst normgerecht970 auf das Fugen-s, entschied sich nachträglich aber doch für seine Einfügung. Auch Brod erschien die Variante letzter Hand adäquater (Kafka 1964: 197). Das Fehlen des Fugen-s in ohnmachtähnlichen (Dv.142/16) in der Zweitausgabe der Verwandlung dürfte dagegen auf die Lektoren des Kurt Wolff Verlages zurückgehen, was wiederum auf eine, hier übertriebene, Markierung des Fugenelements als ,österreichisch‘ schließen lässt;971 denn noch in der Erstausgabe hatte das Wort ohnmachtsähnlichen gelautet, und auch Brod entschied sich für diese Variante, die mit Kafkas Autograph übereinstimmte (Kafka 1967b: 93). Mit den Komposita rücksichtlos (Se.377/22; Se.423/21),972 bewegunglose (Ve.308/19– 20), achtung[s]einflössende (Sv.83/2) und hoffnungloser (Se.53/21–22)973 verstieß Kafka, indem er das Fugen-s hyperkorrekt aussparte oder sogar tilgte, gegen die in Österreich geltende Norm.974 Brods Korrektur zu rücksichtslos, bewegungslose und hoffnungsloser (Kafka 1953b: 266; 1964: 48, 317, 355)975 ergab sich daher von selbst. Wie im Falle der Substantiv-Komposita lassen sich die Reflexe einer erhöhten bzw. hyperkorrekt unterdrückten Tendenz zur Verwendung des Fugenelements letztlich auch bei zusammengesetzten Adjektiven den standardsprachlichen Regionalismen des Typs A1/rS(d)[Ö] zuordnen. 5.2.6  Adverb 5.2.6.1  Stammformbildung mit Suffix -s Das Adverbial-Suffix ‑s, das die Form einiger Adverbien im Korpus prägt, wird gegenwärtig als Besonderheit des Standarddeutschen in Österreich betrachtet (Ammon 1995: 174). Ob die Einordnung als reiner Austriazismus auch für das frühe 20. Jahrhundert

970 Herzer/Prach (1909b: 1097), Sterzinger (1935: 854) und Ristić/Kangrga (1936: 1460) führen ausschließlich teilnahmlos an, Siebenschein (1944–1948: 33) teilnahm(s)los. Gegenwärtig ist teilnahmslos in Österreich die Norm (ÖWB 241951: 210). 971 Rank (1892: 575), Kelemen (231924: 202), Sterzinger (1931: 16) und Siebenschein (1939–1940: 814) geben die Komposition mit macht- an. ÖWB (241951: 139) nennt Ohnmachts- als ausschließliche Wortbildungsvariante. 972 Vgl. die gleiche Bildung bei adverbialer Verwendung (Se.72/2). 973 Bei {dämmer(s>h)aften} (N2v.568/13) handelt es sich wohl um einen Flüchtigkeitsfehler. 974 Zur Komposition mit achtungs-, bewegungs-, hoffnungs- und rücksichts- vgl. Popović (21886: 21), Rank (1892: 30, 160, 467, 723), Janežič (41905: 21, 101, 356, 597), Sterzinger (1916: 143, 889; 1921: 877; 1931: 1214), Kelemen (231924: 16, 61, 164, 246), Ristić/Kangrga (1936: 1460), Siebenschein (1936–1938: 52–53, 454; 1938–1939: 394; 1944: 432) und Mandrović (21943: 85). 975 Dagegen behielt Brod achtungeinflößenden bei (Kafka 1964: 76).

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gerechtfertigt ist, muss mit Blick auf Kafkas Prosa-Schriften allerdings im jeweiligen Einzelfall gesondert entschieden werden. Während das im österreichischen Deutsch an sich zu erwartende kopulative Konjunktionaladverb ferners (Rizzo-Baur 1962: 59; Ebner 21980: 7) im Manuskript nicht nachweisbar ist,976 findet sich an seiner Stelle das weitgehend synonyme s-suffigierte weiters, das bereits Krolop (2005: 214) auffiel: Weiters sage (,>i)ch (Sv.180/15), Sie kamen [weiters] durch eine Abteilung (Vv.18/5=Dv.76/3). Die gegenwärtige Zuordnung zum Standard in Österreich977 kann auf Kafkas Zeit übertragen werden, denn nur Nachschlagewerke aus dem Einzugsgebiet des österreichischen Sprachgebrauchs führen weiters ausschließlich oder neben weiter an.978 Ihre reichsdeutschen Pendants979 kennen dagegen lediglich die nicht suffigierte Variante.980 Auch das häufige Vorkommen von weiters in den Prager Periodika und Tageszeitungen981 rechtfertigt eine Einordnung als Regionalismus des Typs A2/rS(d)[Ö].982 Max Brod, der in seiner eigenen Prosa (Brod 1911) nur weiter benutzte, ging offenbar genauso von einer österreichischen Markierung der Variante mit s-Suffix aus und nahm in seiner Kafka-Ausgabe entsprechende Eingriffe vor (Kafka 1964: 167). Das den Modaladverbien angehörende ohneweiters983 findet sich im Korpus (getrennt geschrieben) deutlich häufiger als seine Variante mit unsynkopierter Endsilbe.984 Indizien bestätigen den heutigen Status eines schriftfähigen Austriazismus (ÖWB 241951: 139; Ebner 21980: 133) auch für das frühe 20. Jahrhundert: Zum einen lässt sich das Adverb nur in Nachschlagewerken aus Prag und, was von einem Pragismus absehen lässt, aus dem

976 Kafka verwendete konsequent ferner (Pv.81/14; P.347/9–10; S.146/10–11; S.151/2–3). 977 Vgl. ÖWB (241951: 256), Rizzo-Baur (1962: 59), Ebner (21980: 197), Ammon u. a. (2004: 870) und Duden (242006: 1112). 978 Vgl. u. a. Bradač/Preglja (1930: 198), Sterzinger (1935: 1361), Kumprecht (31940: 399) und Siebenschein (1944–1948: 550). 979 Vgl. u. a. Klenz (1904: 260), Heyne (1906b: 1358), Paul (21908: 647) und Weigand (51910: 1235). 980 Diese ist z. T. aber auch in Wörterbüchern aus Österreich (Herzer/Prach 1909a: 153; Pinloche 2 1931: 748) und dem südslawischen Raum (Popović 21886: 493; Janežič 41905: 833; Ristić/Kangrga 1936: 1691; Mandrović 21943: 195) als alleinige Variante verzeichnet. 981 Vgl. u. a. SW (1921b: 4), PT (1921: 7, 13, 28, 34) und PP (1921a: 11; 1921b: 2; 1921c: 8, 9). 982 Der von Zehetner (42014: 377) für die Gegenwart erbrachte Nachweis der Verbreitung von weiters auch in Altbayern ließ sich durch Schmeller (21877) und Ammon (1903) für Kafkas Zeit nicht bestätigen. 983 Die binnendeutsche Bedeutung ist ,kurzerhand‘/,einfach‘. 984 Das Untersuchungskorpus enthält nur drei Belege (15,79 Prozent) von ohne weiteres (S.413/26; V.402/11; D.32/5) gegenüber 16 Belegen (84,21 Prozent) von ohne weiters (P.56/2; S.288/8; S.404/13; S.434/10; S.493/14; V.98/1; V.166/20; V.228/4; V.369/14; N1.269/6; N1.291/11; N2.155/4; N2.173/16; N2.392/13–14(1)=D.341/20–22(1); N2.395/3=D.344/10; D.141/17).

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südslawischen Sprachraum nachweisen.985 Einschlägige reichsdeutsche Wörterbücher (Ammon 1903: 216; Klenz 1904: 260; Paul 21908: 647) geben stattdessen ausnahmslos ohne weiteres an.986 Der Druckgeschichte der Verwandlung lässt sich zudem entnehmen, dass ohne weiters in Österreich als standardkonform galt, im Deutschen Reich hingegen nicht: Während das Adverb bei der Erstveröffentlichung der Erzählung in den Prager Weißen Blättern unbeanstandet blieb, gab es der Kurt Wolff Verlag in seiner Buchausgabe als ohne weiteres (D.141/17) wieder. Entsprechende Eingriffe sind dem Berliner Schmiede Verlag an zwei Stellen des Hungerkünstler-Bandes (Dv.341/20–22(1); Dv.344/10) nachzuweisen. Im Bewusstsein, ohne weiters gelte in Deutschland als Austriazismus oder gar als Normverstoß, verwendete auch Max Brod (1911) in seiner Prosa ausschließlich ohne weiteres und passte Kafkas synkopierte Variante, einen Regionalismus des Typs A2/rS(d)[Ö], nachträglich dieser Form an (z. B. Kafka 1964: 266, 372, 400, 456). Das im Korpus singuläre Modaladverb durchwegs987 (P.64/6) wird heute als eine in Österreich, Südost-Deutschland und der Schweiz verbreitete Standardform eingestuft.988 Dagegen gilt die von Kafka nicht verwendete Variante ohne s-Suffigierung als gemeindeutsch. Diese Einordnung galt auch im Untersuchungszeitraum: Nachschlagewerke aus der k. u. k. Monarchie verzeichnen die Form durchwegs ausschließlich989 oder neben durchweg.990 Der in München erschienene Ammon (1903: 65) führt ebenfalls beide Varianten an. Demgegenüber kennen Wörterbücher aus der nördlichen Hälfte des Deutschen Reiches das Adverb nur ohne s-Suffix.991 Die Geläufigkeit von durchweg im Deutsch der Prager Tagespresse (PT 1921: 8; PP 1921a: 2; 1921c: 3, 7, 11) und seine Akzeptanz durch

985 Vgl. Rank (1892: 959), Herzer/Prach (1909a: 39), Sterzinger (1931: 623), Kumprecht (31940: 252) und Siebenschein (1944: 106) sowie Janežič (41905: 521) und Mandrović (21943: 126). 986 Auch Wörterbücher österreichischer (Kelemen 231924: 334; Pinloche 21931: 748; Hulík 1936: 13; 2 1944: 13; Macht 21939: 11) und serbischer Provenienz (Popović 21886: 493; Ristić/Kangrga 1936: 1691) führen nur diese eine Variante an. 987 Die binnendeutsche Bedeutung ist ,ausnahmslos‘/,gänzlich‘. 988 Vgl. ÖWB (241951: 47), Rizzo-Baur (1962: 59), Ebner (21980: 58) und Ammon u. a. (2004: 195). 989 Vgl. Herzer/Prach (1920: 1476), Hulík (1936: 678; 21944: 682) und Macht (21939: 741). Zum slowenischen Sprachraum vgl. Pleteršnik (1895: 201), Janežič (41905: 162), Bradač/Preglja (1930: 355) und Mandrović (21943: 43). 990 Vgl. Sterzinger (1916: 1395), Kelemen (231924: 85), Siebenschein (1936–1938: 723) und Kumprecht (31940: 87). 991 Vgl. Grimm/Grimm (1860: 1710), Heyne (21905: 640), Paul (21908: 119) und Weigand (51909: 396). Auch die am norddeutschen Standard orientierten Willomitzer (61894: 238) und Pinloche (21931: 98) kennen nur durchweg.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Max Brod (Kafka 1965: 56)992 ergänzen die Indizien, die für einen Regionalismus des Typs B2/rS(d)[O–] sprechen. Die von Krolop (2005: 220) vorgeschlagene Einordnung von nächstens993 als Austriazismus kann bei genauerem Hinsehen dagegen nicht bestätigt werden: Denn das Temporaladverb ist (z. T. neben demnächst) in Nachschlagewerken aus dem Einzugsgebiet des österreichischen994 wie des reichsdeutschen995 Sprachgebrauchs belegt. Analoges gilt für das von Kafka gegenüber öfter fast ausschließlich bevorzugte öfters:996 Das gegenwärtig auf Österreich und Bayern beschränkte Temporaladverb (ÖWB 241951: 139; Ebner 21980: 133; Zehetner 42014: 261) war (z. T. neben öfter) zu Kafkas Zeit im gesamten deutschen Sprachraum in Wörterbüchern verzeichnet.997 Für eine überregionale Verwendung beider Temporaladverbien sprechen einerseits zahlreiche Belege von nächstens und öfters

992 In seinen eigenen literarischen Werken vermied Brod (1911) durchwegs allerdings. 993 Vgl. P.55/12; P.120/18; P.130/12–13; P.152/23; P.185/15–16; P.221/9; Pv.249/14(2); P.249/16; P.289/21; P.333/18; S.31/10; S.155/6; S.187/22; S.262/23; Sv.288/2–3(4)210*; Sv.479/3–4,129*; V.78/17,19; V.92/11; V.110/26; V.116/21; V.161/16; V.224/21; V.270/25; V.290/18; V.370/11; N1.366/22; N2.449/25; N2.460/1; N2.471/8; N2v.528/26–27; N2.669/16=D.368/3; N2.675/16=D.374/2; D.49/3; D.411/26. Die binnendeutsche Bedeutung ist ,demnächst‘. 994 Vgl. Janežič (41905: 498), Sterzinger (1916: 1211; 1931: 380), Herzer/Prach (1916: 534), Kelemen (231924: 218), Bradač/Preglja (1930: 393), Pinloche (21931: 391), Hulík (1936: 431), Macht (21939: 350) und Mandrović (21943: 120). Zum serb(okroat)ischen Sprachraum vgl. übereinstimmend Ristić/Kangrga (1936: 1052). 995 Vgl. Fuchs (1898: 191), Ammon (1903: 131), Heyne (21906a: 921), Paul (21908: 375) und Weigand (51910: 259). 996 Vgl. nur drei Belege (2,8 Prozent) von öfter (Sv.288/2–3(4)156*; S.460/15; N1.258/22) gegenüber 104 Belegen (97,2 Prozent) von öfters (P.10/10,17; P.28/1; P.31/9; Pv.39/22; P.96/21; P.139/3; P.142/6; P.149/16; P.174/24; P.199/10; P.236/8; P.245/20; P.260/26; P.275/3; P.277/15; P.291/17; P.293/17=D.268/7; Pv.303/3,22*; P.306/26; P.310/1; P.329/10; Pv.342/9,37*–38*(4); P.347/4,13(2x); P.349/24; Pv.355/17,24*; S.33/8; S.71/25; S.73/9; S.100/26; S.130/6; S.226/3,23; S.228/12; S.229/23; S.243/13; S.258/22; S.266/4; S.267/19; S.282/24; S.300/7; S.301/17; S.332/5; Sv.361/21; S.374/9; S.383/1,16–17(1); S.387/6; S.388/14; S.432/14; S.437/17; S.467/27; Sv.479/3–4,50*; V.47/20=D.105/7; V.65/24; V.83/8; V.86/25; V.97/6; V.107/23; V.147/17; V.166/14; V.190/17; V.206/21; Vv.243/17; V.269/23; V.291/5; V.299/17; V.342/13; V.366/18; V.370/24; V.406/1; N1.42/21; N1.87/3; N1.115/16; N1.199/27; N1.221/3; N1.229/4; N1v.272/16; N1.327/19; N2.151/3; N2v.392/11; N2v.410/18–411/4(2); N2.412/8; N2.431/18; N2.511/13; N2v.531/8; N2.586/12; N2.614/17; N2.632/12; N2.654/27=D.353/20; N2.676/12=D.374/24; D.120/24; D.151/7; D.152/27; D.153/22; D.217/1; D.233/6; D.249/14; D.289/22; Dv.341/19; D.386/14; D.438/5). 997 Zum Deutschen Reich vgl. Grimm/Grimm (1889: 1196), Ammon (1903: 136), Heyne (1906a: 1056), Paul (21908: 393) und Weigand (51910: 333); zu Österreich vgl. Herzer/Prach (1909a: 123), Bradač/Preglja (1930: 540), Sterzinger (1931: 620–621), Pinloche (21931: 411), Hulík (1936: 38), Macht (21939: 42), Kumprecht (31940: 252) und Siebenschein (1944: 105); zu Serbien vgl. Popović (21886: 306) und Ristić/Kangrga (1936: 1082).

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in Texten Kafkas, die zu seinen Lebzeiten im Deutschen Reich und in Österreich veröffentlicht wurden.998 Zum anderen benutzte auch der sprachpuristische Brod in seiner eigenen Prosa beide Adverbien in dieser Form;999 er veränderte sie daher auch in Kafkas postum überlieferten Schriften nicht.1000 So lässt sich kaum von Austriazismen sprechen. Kafka scheint das s-Suffix bei manchen Adverbien allerdings intuitiv als österreichisch markiert aufgefasst zu haben; zumindest war er gewärtig, eine entsprechende Interpretation im Deutschen Reich nicht ausschließen zu können.1001 Darauf verweisen Fälle, in welchen er die Adverbien allerdings, eigens, gerade- und keineswegs, rechts, rings sowie wenigstens hyperkorrekt ohne ihr überregional obligatorisches s-Suffix niederschrieb: Gleichzeitig allerding fragte er sich (Pe.17/13–14), Allerding alles wird dadurch nicht erklärt (N2e.357/9), das wohl eigen hingestellt worden war (Se.170/9), gieng diesmal geradeweg über Treppen und Gänge (Pv.73/11(2)), vielleicht würde er da geradeweg in eine Wachstube hineinlaufen (V.284/22–23), daß der Turm{bau} zu Babel [nicht] {keinesweg} aus den allgemein behaupteten (Gru>Ur)sachen nicht zum Ziele geführt hat (N1v.343/9–10), das Gehör ist doch keinesweg schärfer geworden (N2e.613/8), recht und links [war{en}] [eine] {standen} Bauernhütten (Sv.21/23–24), schon hatte (ich>K.) recht und links einen (MA>d)er Männer (Sv.25/16–17), bald nach recht bald nach links (N1e.389/8), da sah ich recht und lin(g>k)s in der (We>Fe)rne langsam Mauern aufsteigen (N2v.343/10–13(1)), ring(hA>s)herum (Pv.97/22), ring­um (N1v.202/13(1)), [ring{s}um] (Dv.177/2–3), daß er [wenigstenA] wenigstens am Ende auch in seinem Wissen dem Manne untergeordnet ist (Pv.301/16–18), so haben diese Briefe doch wenigsten{s} irgendeinen Bezug (Sv.290/20–21), oder wenigsten{s} vor Deiner Abneigung uns bewahren (Sv.362/12), {wenigsten der Menge der Stücke nach} (Vv.150/10–11), sie solle sich also wenigsten umkleiden (N1e.362/27–363/1).

Umgekehrt unterliefen Kafka an anderer Stelle hyperkorrekte s-Suffixe, wo sie nicht mit der Norm vereinbar waren: zumal[s] (Vv.65/18), am wenigsten[s] (N1v.185/21), am wenigstens (N2e.177/22; N2e.303/21). Brods Korrekturen1002 erweisen den Ausschluss solcher Formen von der Schriftsprache.

998 Zu nächstens vgl. D.49/3; D.368/3; D.374/2; D.411/26; zu öfters vgl. D.105/7; D.120/24; D.151/7; D.152/27; D.153/22; D.217/1; D.233/6; D.249/14; D.268/7; D.289/22; Dv.341/19; D.353/20; D.374/24; D.386/14; D.438/5. 999 Zu nächstens vgl. Brod (1911: 212, 222, 260); zu öfters vgl. Brod (1911: 156, 164). 1000 Zu nächstens vgl. z. B. Kafka (1965: 49, 114, 122, 140, 167, 197, 220, 253, 287); zu öfters vgl. z. B. Kafka (1953b: 42, 57, 73, 76, 85, 94, 128, 144, 165, 179, 233, 251, 259, 294, 321, 344, 348). 1001 Vgl. Kafkas analoge Haltung gegenüber dem Fugen-s bei zusammengesetzten Substantiven (Kap. 5.2.3.5.1) und Adjektiven (Kap. 5.2.5.6). 1002 Vgl. Kafka (1953b: 130, 246; 31954: 71, 190; 1964: 18, 158; 1965: 17).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

5.2.6.2  Ausfall des Suffixes -s bei Temporaladverbien Unter den von Substantiven abgeleiteten Temporaladverbien lassen sich im Weiteren Bildungen ohne s-Suffix ausmachen, die fast ausschließlich das Derivat von Abend betreffen. Während das nicht suffigierte abend in Verbindung mit weiteren anteponierten Zeitangaben wie gestern, heute, morgen,1003 Uhrzeit oder Wochentag1004 der Standardauffassung der Zeit entsprach,1005 muss es an 28 Stellen ohne weiteren Zusatz auch diachron als normwidrig betrachtet werden:1006 Es war spät abend (S.7/3), die Peitsche, die Frieda abend gehabt hatte (S.70/13), da werde er […] abend kommen (S.232/19), daß Sortini […] gleich abend hatte ins Schloß fahren wollen (S.303/6–7), daß er abend im Dunkel die Aufträge abholte (S.338/10–11), abend beim (Z>N)ach(l>h)ausekommen (Sv.357/6), Und morgen wie abend (V.55/12–13), als ich da {abend} so allein gelegen bin (Vv.299/24–25), ich habe ja erst abend einen großen Streit mit ihnen gehabt (V.345/9–10), als wäre es nicht schon spät abend (N1.149/9=D.13/6–7), Noch abend hatte der Herr mit ihr gesprochen (N1.324/25–325/1), als ich abend nachhause kam (N1.365/1), und veranstaltete die Vorstellung gleich abend (N1.406/16–17), ich hatte z. B. abend gelesen (N2.10/1), Einmal abend war er sie besuchen (N2.27/19–20), ich ging einmal abend mit Dir und der Mutter spazieren (N2.202/1–2), abend werde ich es wieder {zer}­schneiden (N2v.283/3–4), daß ich {abend} (an>bei) meinem Tisch saß (N2.352/7), Wenn dieser Mann abend nachhause gieng (N2.402/3), abend versorgte sich zwar jeder (Dv.49/22), das sie nun immer abend besorgte (Dv.177/18–19).

1003 Vgl. im Korpus z. B. vorgestern abend (S.315/6), gestern abend (P.16/22; P.334/1,11; S.221/2; S.276/23; Sv.288/2–3(4)46*; Sv.404/7,13*; Sv.479/3–4,237*,248*–249*; N1v.19/16–17(1); N1.244/9; N2.493/12; N2.517/3–4; N2.535/1; D.129/24,26), heute abend (P.211/21; S.459/1–2; V.71/27– 72/1; V.77/8–9,25; V.79/22; V.87/9; V.123/5; V.300/24,25; N1.26/9; N1.121/1; N1.139/19; N1.167/20), morgen abend (Sv.311/24; Sv.411/24), [morgen mittag oder noch lieber morgen abend] (Sv.411/24), versäumte er zwar heute vormittag seinen Dienst (P.17/1–2), morgen Vormittag (V.317/8), heute nachmittag (S.149/7,17; N2.373/20). 1004 Wochentage treten im Korpus als Temporaladverbien grundsätzlich mit oder ohne s-Suffix auf: Vgl. z. B. er war {gleich} entschlossen Sonntag [hin]zugehen (Pv.50/7–8), Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit (P.51/11), Sonntag um neun Uhr vormittag (P.51/27–52/1), Sonntag war trübes Wetter (P.52/3) × Er begab sich daher Sonntags wieder hin (Pv.73/7(1)), wenn er sie Sonntags zur Kirche führte (P.352/9–10), wenn Du Sonntags abgehetzt zu uns in die Sommerfrische kamst (N2.165/10– 11), bei Tag sehe ich sie [im allgemeinen] längere Zeit nur Sonntags (N2v.296/14). 1005 Dies gilt auch in der Gegenwart (Duden 242006: 59, 60, 152, 318, 694, 715; 82009: 368). 1006 Vgl. Sterzinger (1916: 19, 21; 1931: 231, 278, 280, 367, 384, 393; 1935: 575, 1271) und Pinloche (21931: 2, 376, 382, 391–392, 609). Auch Kummer (21892: 75), Lehmann (71892: 91) und Willomitzer (61894: 59) geben für diese Position abends als obligatorisch an.

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Dem stehen im Korpus 32 Belege mit s-Suffix in analogen Zusammenhängen gegenüber.1007 Ins Auge fallen dabei v. a. Syntagmen, in welchen morgens und abends gemeinsam auftreten, jedoch nur morgens suffigiert wurde: wenn ich abend oder gar morgens […] nachhause komme (N1.331/3–5), stets flüchtig morgens und abend die Tür ein wenig zu öffnen (Dv.179/15–16).

Ein nur schwach ausgeprägtes Fehler-Bewusstsein Kafkas im Moment der Niederschrift lässt sich an der Seltenheit von Autokorrekturen ablesen, die an nur vier Stellen (14,29 Prozent aller Belege) im Korpus vorliegen: der Vater gehe abend{s} in den Herrenhof (Sv.232/18), ich habe {(d>s)ie dort} schon öfters abend{s} […] verschwinden sehn (N1v.327/19–20), [Abend wird sie] {Die wird heute abend} entlassen (Dv.199/9), abend{s} kauf(en>t) (s>e)ine von ihnen (Dv.425/21(2)).

Gelegentlich sind Fälle hyperkorrekter, redundanter s-Suffigierung nachweisbar: jeden Vormittag{s} (N1v.401/9), a[be]m Abend{s} (Dv.182/5–6). Editorische Eingriffe des Kurt Wolff Verlages im Text des Urteils und der Verwandlung (Dv.49/22; Dv.177/18–19; Dv.179/15; Dv.199/9) machen deutlich, dass das ,defekte‘ Temporaladverb abend im Deutschen Reich als fehlerhaft galt. Der singuläre Beleg eines Abdrucks in den Weißen Blättern (Dv.199/9) reicht nicht als Indiz dafür aus, dass Kafkas abend typisch für die Prager Medienlandschaft gewesen sein könnte. Im Gegenteil lässt sich gerade hier eine Tendez feststellen, das Temporaladverb selbst dann zu suffigieren, wenn es aufgrund weiterer anteponierter Zeitangaben1008 auch endungslos stehen konnte.1009 Nicht zuletzt ergänzte auch Max Brod, der sich wie Pick (1913) und Kisch (51922) an die Vorgaben der Grammatiken hielt (Brod 1911), Kafkas abend jeweils zu abends bzw. des Abends.1010

1007 Vgl. P.31/13; P.139/4,7; P.305/3; S.343/16; S.411/26; V.187/16; V.190/8; V.205/1; V.346/15; V.352/3; N1.59/1; N1.115/6; N1.125/25; N1v.270/3–6,113*; N1.433/16; N2.7/10; N2.35/18; N2.171/27; N2.289/20; N2.296/13,17,20; N2.550/12; D.14/9; D.28/17; D.49/22; D.126/22; D.179/15; D.199/9; D.292/11; D.414/16. 1008 Vgl. Beispiele mit Uhrzeit (PT 1921: 9) oder Wochentag (PP 1921b: 1; PT 1921: 3, 9) sowie mit gestern/heute (PP 1921a: 1; 1921b: 1; 1921c: 1). 1009 Dies gilt u. a. auch für nachts und (nach‑)mittags (SW 1921b: 3; PP 1921a: 2; 1921c: 5, 6; PT 1921: 9). Nur bloße Wochentage bleiben als Temporaladverbien gelegentlich auch ohne Suffix (PP 1921a: 2; 1921c: 6). 1010 Vgl. exemplarisch Brods Amerika- und Schloß-Ausgaben (Kafka 1953b: 49, 259, 297; 1964: 5, 64, 216, 280, 311, 329).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Die Diskussion um die Provenienz des Phänomens gestaltet sich diffizil: Um die Übernahme einer mundartlichen Form kann es sich bei abend nicht handeln, denn die ober‑, mittel- und niederdeutschen Dialekte versehen das von Abend abgeleitete Adverb ohne Präposition konsequent mit dem Suffix -s.1011 Einzig Kafkas Gebrauch von (Vor‑/ Nach‑)Mittag als Temporaladverb könnte eventuell als bairische Form gedeutet werden (Merkle 61996: 178): habe ich Ihnen nicht Vormittag angeboten Ihre Bitte an Klamm zu leiten(,>?) (Sv.178/7–8), (s>S)ie waren Mittag noch nicht in der Wirtsstube (Sv.131/22–23), {Ich habe Dir auch nachmittag geschrieben} (N1v.23/5(1)).

Allerdings entstammen diese Belege sämtlich wörtlicher Rede. Da somit nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie Kafka zur Fingierung von Mündlichkeit dienten, können sie nicht als Regionalismen klassifiziert werden. Überprüft man die Einflussmöglichkeit jiddisch-ethnolektaler Relikte, so stellt man fest, dass Substantive, die zeitliche Konzepte anzeigen, im Jiddischen als Adverbien tatsächlich generell unflektiert und ohne s-Suffix erscheinen: Jiddisch frajtik z. B. kann also ,Freitag‘ wie ,am Freitag/freitags‘, far/nokh mitog sowohl ,Vor‑/Nachmittag‘ als auch ,am Vor‑/Nachmittag‘ bzw. ,vor‑/nachmittags‘ bezeichnen.1012 Mit Blick auf das Korpus stellt sich dann aber die Frage, warum hier allein abends (jidd. in ovnt/oyf der nakht) vom s-Ausfall betroffen ist. Denn morgens (jidd. frimórgn), mittags (jidd. mitogtsayt) und vor‑/ nachmittags (jidd. far/nokh mitog) werden im Jiddischen genauso wie andere Temporaladverbien endungslos realisiert, wo im Standarddeutschen überregional das Suffix ‑s vorgeschrieben ist.1013 Bei Ausnahme eines endungslosen morgen (V.55/12) bildete Kafka

1011 Zu den oberdeutschen Dialekten vgl. WBÖ (1963–1970: 36), Merkle (61996: 178), WBB (1995– 2009: 32), SDW (1988: 28), BWB (1925–1940: 5), WMF (2000: 27) und WUF (1996: 27); zu den mitteldeutschen Dialekten vgl. PWB (1965–1968: 22–23), SHW (1965–1968: 19), Rosenkranz (1964: 16) und WOM (1998: 7); zu den niederdeutschen Dialekten vgl. NSW (1965: 138–139). 1012 Vgl. Lockwood (1995: 60) und Jacobs (2005: 193). Das bei gewissen Zeitangaben wie fartogs (,gegen Morgen‘, ,im Morgengrauen‘) oder frajtik-cu-naxts (,am Freitag Abend‘, ,freitagabends‘) dennoch auftretende s-Suffix ist laut Mark (1978: 352) „non-productive“; zudem ist es (bei gleicher Bedeutung) nicht obligatorisch (Wolf 1962: 108; Lötzsch 1990: 73). 1013 Vgl. jidd. bay tog (,tags‘), bay nakht (,nachts‘) und um halbe nakht (,mitternachts‘) (Lockwood 1995: 60).

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jedoch morgens,1014 (nach‑)mittags1015 und nachts1016 konsequent mit ‑s, z. T. auch dort, wo es nicht obligatorisch gewesen wäre. Ein Blick auf die Morphologie der Adverbien im Tschechischen ergibt ein ähnliches Bild: Bis auf das Äquivalent zu Nacht/nachts1017 werden hier die jeweiligen Substantive auch als Temporaladverbien verwendet, entweder unverändert oder mit Präposition,1018 in jedem Fall aber ohne zusätzliche Suffigierung. Deshalb wäre es auch bei Annahme einer tschechischen Interferenz in Kafkas Deutsch weiterhin fraglich, warum im Manuskript abends als einziges Temporaladverb mit Null-Suffix auftritt. Zu diskutieren bliebe somit ein vierter Gedanke: Dass Kafka beim Sprechen offenbar zur Synkopierung des [ə] und zur progressiven Assimilation bei Konsonantenschwächung in ungespannten Silben neigte, wurde bereits anhand entsprechender Belege im Manuskript gezeigt.1019 Vor diesem Hintergrund liegt eine phonetische Realisierung von Abend als [ɔmt] nahe, wie sie z. B. für die bairischen Dialekte charakteristisch ist (Merkle 61996: 178). Zumindest eine Autokorrektur Kafkas könnte eventuell die Niederschrift dieser Form dokumentieren: a[be]m Abend{s} (Dv.182/5–6). Berücksichtigt man zusätzlich, dass das Aufeinandertreffen gleicher/ähnlicher Silben bei Kafka auch über Wortgrenzen hinweg zur Silbenreduktion im Schriftbild führen konnte,1020 ist denkbar, dass ein ursprünglich vom Autor intendiertes am Abend als ,gehörtes‘ [am-ɔmt] im Zuge der progressiven Totalassimilierung der Verschmelzungsform aus Präposition und Artikel als ‹abend› niedergeschrieben wurde. Zudem geht an immerhin fünf Stellen im Korpus (V.299/24–25; V.55/12–13; S.70/13; S.338/10–11; Dv.177/18–19) dem Wort abend ein ‹‑a› (bzw. [‑a]/[‑ɔ]) oder ein ‹‑er›/‹er› (bzw. [‑ɐ]/[ɐ]) voraus, wodurch die Ellipse eines folgenden ‹am› bzw. [am] zusätzlich begünstigt worden sein könnte. Relativiert wird diese Überlegung allerdings dadurch, dass Kafka bei drei von vier nachweisbaren Autokorrekturen nicht

1014 Vgl. die konsequente Realisierung von morgens mit s-Suffix im Korpus, sowohl mit (S.147/25; S.342/7; N2.382/18; D.212/24) als auch ohne zusätzliche Zeitangaben (D.177/13). 1015 Kafka realisierte (nach‑)mittags sowohl mit (V.365/12; N2.285/19) als auch ohne zusätzliche Zeitangaben (S.430/5–6; N1.436/3; N2.165/7–8; Dv.143/27; D.177/13; Dv.180/24) konsequent mit s-Suffix. 1016 Vgl. nachts mit (P.256/1; N2.38/20) oder ohne Zeitangaben (Sv.404/7,55*; S.412/5; N1.427/4; D.313/9; D.429/6). 1017 Vgl. tsch. noc (,Nacht‘) – v noci (,nachts‘/,in der Nacht‘). 1018 Vgl. tsch. ráno (,Morgen‘/,morgens‘), dopoledne (,Vormittag‘/,vormittags‘), poledne (,Mittag‘) – v poledne (,mittags‘), odpoledne (,Nachmittag‘/,nachmittags‘), večer (,Abend‘/,abends‘). 1019 S. hierzu Kap. 5.1.1.1.1 bis 5.1.1.1.4 und 5.1.3.1. 1020 S. hierzu Kap. 5.1.3.1, 5.1.3.2, 5.2.1.7, 5.2.2.4 und 5.2.4.1.2.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Präposition und Artikel, sondern eben das Adverbial-Suffix nachtrug; zudem schrieb er das ,defekte‘ abend, dass ja dann an sich ein Substantiv wäre, immer klein: der Vater gehe abend{s} in den Herrenhof (Sv.232/18), ich habe {(d>s)ie dort} schon öfters abend{s} […] verschwinden sehn (N1v.327/19–20), abend{s} kauf(en>t) (s>e)ine von ihnen (Dv.425/21(2)).

Letztlich ist die Herkunft des Phänomens nicht eindeutig bestimmbar. Es kann daher keinem Regionalismus-Typ zugeordnet werden. 5.2.6.3  Einzelwortabhängig erhöhte Tendenz zum Fugen-s Die Kompositabildung im Korpus weist bei Adverbien im Prinzip die gleichen Besonderheiten auf, die bereits beim Substantiv und Adjektiv festgestellt wurden:1021 Einerseits lassen sich im Korpus Fälle redundanter Fugenelemente ausmachen, die auch der zeitgenössischen österreichischen Norm widersprachen.1022 Sie wurden von Kafka sofort als fehlerhaft erkannt und getilgt: absicht(s>l)ich (Pv.255/23–24), [Ich schlief traum[s]los] (N1v.76/26). Zahlreicher sind allerdings Beispiele für die Komposition ohne Fugen-s. Teilweise, wie in auftraggemäss (N1.263/3–4(1)41*), sind diese Bildungen standardkonform.1023 An anderer Stelle scheint sich jedoch die hyperkorrekte Vermeidung des offenbar als ,österreichisch‘ empfundenen Fugen-s niedergeschlagen zu haben, wobei es zu Normverstößen kam1024 wie z. B. in ander{s}wo (N1v.241/20). Wie im Falle der Substantiv- und Adjektiv-Komposita lassen sich die Reflexe einer erhöhten bzw. hyperkorrekt verminderten Tendenz zur Verwendung des Fugenelements ‑s- bei zusammengesetzten Adverbien unter die Regionalismen des Typs A1/rS(d)[Ö] einordnen.

1021 S. hierzu Kap. 5.2.3.5.1 und 5.2.5.6. 1022 Sterzinger (1916: 100; 1935: 911) und Siebenschein (1936–1938: 30; 1944–1948: 94) nennen explizit die Lexeme absichtlich und traumlos und kennen nur Komposita mit traum-. 1023 Siebenschein (1936–1938: 222) führt auftraggemäß an; Sterzinger (1916: 492) und Ristić/Kangrga (1936: 133) akzeptieren die Bildung mit und ohne Fugen-s als normgerecht. 1024 Janežič (41905: 29), Sterzinger (1916: 240) und Siebenschein (1936–1938: 103) betrachten anderswo als korrekt.

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5.2.6.4  Verwechslung von hin und her als Erstglied in zusammengesetzten Richtungsadverbien Kafkas Handschriften offenbaren im Weiteren eine gewisse Unsicherheit, welche die korrekte Setzung von hin oder her als Erstglied in zusammengesetzten Richtungsadverbien betrifft. Schon Ludwig Dietz (1963: 452) fiel auf, dass Kafka in seinen persönlich für eine Publikation überarbeiteten Prosa-Texten punktuell Korrekturen angebracht hatte, um eine einmal gewählte Perspektive herzustellen. Die heute geläufige Regel zur Verwendung der zeigenden Komponente (Helbig/Buscha 52005: 344–345; Duden 82009: 574) wurde bereits von den reichsdeutschen (z. B. Heyse 251893: 360) und österreichischen Regelbüchern der Kafka-Zeit propagiert: „Unterscheide: herein (Richtung zum Redenden hin) : hinein (Richtung vom Redenden weg)“ (Kummer 31892: 75).1025 Angesichts der klaren Vorgaben der Kodizes und des strengen Deutschunterrichts, den Kafka durchlief,1026 mutet eine Unsicherheit in diesem Bereich ungewöhnlich an, besonders mit Blick auf Zeitzeugnisse, die feststellen, man habe in Prag am Beginn des 20. Jahrhunderts den Unterschied zwischen hin und her „sogar sorgfältiger als heute mancher deutsche Schriftsteller“ (Stein 1976: 14) gewahrt.1027 Um eindeutige Aussagen über Kafkas Abweichungen von der ihm schulisch vermittelten Norm treffen zu können, muss der Standort des Erzählers bestimmt werden. So liegt es nahe, zunächst Textstellen zu untersuchen, die der wörtlichen Rede entnommen sind und auffällig wirken. Hier belegt die Sprecher-Position in einigen Passagen der Roman-Handschriften eindeutige Verstöße gegen die oben skizzierte Regel: Wenn K. etwa im Dom-Kapitel des Proceß-Fragments, am Fuße der Kanzel stehend, (sicA>an) der Treppe hinab‑ (Pv.284/7), nicht etwa herabblickt und den über ihm thronenden Geistlichen auffordert: Willst du nicht hinunter kommen? (P.291/23), Komm zu mir hinunter (P.291/24), so läuft dies der Norm zuwider, da sich der Geistliche zum Sprecher, aus dessen Sicht also zu ihm herab‑ bzw. herunterbegeben müsste. In einem gestrichenen

1025 Vgl. analog: „Das Adverb her bezeichnet die Richtung zu dem Orte, wo sich der Sprechende befindet oder in Gedanken weilt; hin die Richtung von diesem Orte weg“ (Willomitzer 61894: 58); „her […] bez[eichnet] die Bewegung von einem entfernteren Punkte aus auf einen Sprechenden o[der] den mit ihm in nächster Beziehung stehenden Ort, im G[e]g[en]satze zu hin, das von einem näheren Punkte aus auf entferntere Personen o[der] Orte weist“ (Sterzinger 1921: 768). 1026 S. hierzu Kap. 3.1.1. 1027 Vgl. hierzu eine Belegstelle aus dem Prager Tagblatt, an der die (hyper‑)korrekte Anwendung der Regel sogar zur Modifizierung der festen Wendung jemanden hereinlegen führt: daß sich ein Kaufmann von seinem Geschäftsfreund hineinlegen lässt (PT 1921: 4).

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Abschnitt des Schloß-Romans wird aus der Ich-Perspektive1028 über den Dorfbewohner Barnabas berichtet: [und im Zuhören lächelte er zu mir hinüber] (Sv.53/7,21*), anstatt vom Standpunkt des Berichtenden aus zu mir herüber. Noch häufiger liegen Richtungsadverbien, die nicht mit den Grammatiken zu vereinbaren sind, in der Handschrift des Verschollenen vor: Wenn Green etwa Karl Roßmann tadelt: Sie sind tatsächlich kein Mann von Wort. Versprechen um zwölf Uhr hinunterzukommen und {um}schleichen statt dessen [(an>um)] die Tür Fräulein Klaras (Vv.121/21–22), so wurde dieses Versprechen ein Stockwerk tiefer gemacht und bezog sich auf ein Herunterkommen. Wenn Robinson berichtet: als ich also da so allein gelegen bin und durch das Geländer [geA] heruntergeschaut habe (Vv.300/1–2), müsste sein Blick aus seiner Perspektive normgerecht eigentlich hinunter erfolgt sein. Als Karl beinahe von Fräulein Klara aus dem Fenster gestoßen wird, merkt er an: Jetzt wä(h>r)e ich bald herausgefallen (Vv.90/6), statt aus seiner Sicht hinaus. Auch der Oberportier des Hotels Occidental verwendet das Richtungsadverb heraus normwidrig, wenn er dem Liftjungen Karl, innerhalb des Hotelkomplexes befindlich, mitteilt: Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich [auch] {anderseits} [gegenüber] {vor} der Hoteldirektion die Verpflichtung niemanden herauszulassen (Vv.262/15–16), Es ist möglich […] daß Du bei einem andern Ausgang unbemerkt herausgekommen wärest (V.262/20–23).

Denn der Weg hätte in jedem Fall aus dem Hotel hinauszuführen. Wo ferner von einer Kündigung oder einer Entfernung aus einer momentan noch eingenommenen Stellung die Rede ist, wäre ebenfalls sowohl aus Sicht des Sprechers als auch gemäß standarddeutscher Idiomatik eher ein Hinauswerfen1029 als das von Kafka letztlich verwendete Herauswerfen zu erwarten:1030 In diesem Hause allein ist er {schon} aus fünf Wohnungen […] [hinaus] heraus[{geA}]geworfen worden (Pv.90/25–27(2)), bin ein Faulpelz, verdiene herausgeworfen zu werden (V.14/6), Wie oft hat man

1028 Diese wurde von Kafka nachträglich zur 3. Person Singular modifiziert (vgl. Kap. 4.4.12). 1029 Umgangssprachlich wird rauswerfen heute allerdings für hinauswerfen/kündigen verwendet (Duden 24 2006: 834); vgl. hierzu aber auch ebenso viele Beispiele mit hinauswerfen im Manuskript: sei froh, daß man Dich nicht hinauswirft (V.331/7), Hinauswirft? […] Einen entlaufenen Dieb wirft man nicht hinaus (V.331/10–11), er wird […] seine paar Dollars hinausgeworfen haben (V.351/14–15), Man hatte ihn vielleicht aus einer Weinstube hinausgeworfen (N1.106/9–10=D.399/18–19). 1030 Bei einer Ausnahme (Kisch 51922: 156) verwendete auch Egon Erwin Kisch (51922: 170, 174, 178, 182, 205, 206, 227, 231) in seiner Prosa konsequent hinauswerfen in gleicher Bedeutung.

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(S>s)ie schon aus den Auszahlungsräumen herausgeworfen (Vv.24/17–18), wenn er dann schließlich doch herausgeworfen würde (V.234/27–235/1), soll ich dann aus der Welt herausgeworfen werden? (N1.129/9–10).

Wenn Robinson, oberhalb einer Treppe stehend, berichtet: Und wie schon Delamarche immer Glück hat, sind wir nur vor der zweiten Wohnung gestanden […], da kommt die Dame […] die Treppe hinauf. Sie […] konnte die pa(r>a)r Stufen gar nicht heraufkommen. […] Natürlich [sind] ist das Mädchen und der Diener gleich ihr entgegengelaufen und haben Sie fast hinaufgetragen (Vv.303/9–22),

dann müsste Brunelda, wie im dritten Hauptsatz des Zitats, prinzipiell zu ihm heraufgekommen sein, nicht aber, wie zuvor und danach formuliert, hinauf. Weitere Fälle normwidriger Richtungsadverbien liegen in der Feststellung vor, daß es der Diener vor Ekel kaum heraustragen konnte (V.306/21–22),1031 und im Befehl, alles liegen lassen und aus dem Zimmer heraus! (V.363/18).1032 In einem Prosa-Fragment schließlich berichtet der auf einem Baum sitzende Ich-Erzähler: [Ich wollte rasch herunterklettern] (N1v.76/26), obwohl er sich doch aus seiner Sicht eigentlich hinunterbegeben müsste. Brods Kafka-Edition macht deutlich, dass auch er in der Mehrheit der hier angeführten Belegstellen Normverstöße erkannte und die Richtungsadverbien entsprechend der Sprecher-Perspektive korrigieren zu müssen glaubte.1033 Wirft man folgend einen Blick auf sämtliche von Kafka selbst in wörtlicher/innerer Rede bzw. Ich-Erzählung vom hin zum her oder umgekehrt veränderten zusammengesetzten Richtungsadverbien, so erfolgten die Eingriffe in acht von neun Fällen (zu 88,89 Prozent) gemäß den zeitgenössischen Grammatiken, deren Vorgaben sich somit offenbar mit Kafkas innerem Normempfinden prinzipiell deckten:

1031 Hier berichtet Robinson etwas selbst nicht Miterlebtes aus der Perspektive eines erzählenden Dieners. 1032 In der Szene kommandiert Brunelda Delamarche, wobei sich beide gerade im gleichen Raum befinden. 1033 Vgl. Kafka (1953b: 14, 23, 79, 204, 227, 259, 262, 265, 342; 1965: 255). Brod akzeptierte nur drei der angegebenen Richtungsadverbien (Kafka 1953b: 106; 31954: 14; 1965: 248). In einer gestrichenen Passage des Schloß-Manuskripts (s. o.) holte er Kafkas nachträglich durchgeführten Wechsel der Erzählperspektive von der 1. zur 3. Person Singular nach (Kafka 1964: 475), wodurch das vom Autor ursprünglich verwendete normwidrige hinüber normkonform wurde.

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Warum kam der Geistliche nicht h(in>er)unter? (Pv.291/4–5), welche Arbeit es gegeben hat, diese Sache die Treppe h(in>er)aufzutragen (Vv.311/16–17), Wankt er zu(m>r) Thür[chen] meines Zimmers h(eraus>inaus) (N1v.17/25), Jetzt erst {kommt} mein eigentlicher Dienst. H(eraus>inau)s aus der Tür (N1v.286/2–3), Man hätte mich, kaum war der Kopf h(erau>inau)sgestreckt wieder eingefangen (N1v.398/25–27(3)=Dv.307/3–12(3)), Ich komme nicht mehr h(er>in)aus, ich bin verloren (N2v.411/13–14), so steige ich wieder h(er>in)unter (N2v.602/21–22), ich drückte die Bedeutung de(r>s) (S[ac]>Ga)nzen […] noch ein wenig unter die Wahrheit (herab>hinab) (Dv.329/4–7).

Nur in einem Fall (zu 11,11 Prozent) führte die Berichtigung zu einer Abweichung von dieser Norm: [Als er meinen Vater erblickte, steuerte er gleich auf uns zu […] und winkte dem Vater er möge eilig die Böschung h(in>er)unterkommen] (N1v.356/23).

Untersucht man Kafkas Sofortkorrekturen an Richtungsadverbien in der Erzählhandlung, so zeigt sich, dass diese in 21 von 24 Fällen (zu 87,5 Prozent) dazu führten, dass die Perspektive der Hauptfigur (K., Karl, Georg, Gregor, Ich-Erzähler) eingenommen und dadurch eine personale Erzählsituation hergestellt wurde: er sprang rücksichtlos vom Podium (x>h)(er>in)unter (Pv.71/2–3), {wie sie} geradezu trostlos auf die Gasse [heraus] hinaussahen (Pv.157/13–14), hatte […] sich darauf eingeschränkt, den kahlen auf die Papiere h(er>in)abgebeugten Kopf [des F.] anzusehn (Pv.172/20), 1035

h(e>i)nabgebeugt (Pv.197/22),

1034

er war tief zum Bild

neigte sich e(in>n)dlich Tit zu ihm h(in>er)ab (Pv.350/20(5)),

aus der Tasche […] die Flasche h(in>er)ausziehn können (Sv.163/8–10), als K. die Fenstervorhänge h(in>er)unterliess (Sv.213/21), [Erlanger musste die schon eingelegten Akten wieder h(in>er)ausnehmen] (Sv.426/24,21*–22*), Aber als […] das Kissen h(er>in)unterfiel (Sv.451/5–6), Klamm kam nicht h(in>er)unter (Sv.474/7), dann flüstert sie es dem Gast zu, bückt sich h(e>i)nab (Sv.474/16), Der Senator gab Karl gerade eine Ermahnung zu vorsichtigem H[er]{in}untersteigen (Vv.52/17– 1036

18=Dv.110/5–6),

So giengen sie langsam Stufe für Stufe h(era>ina)b (Vv.52/22–23=Dv.110/10–11),

Sie standen damals beide an einem Fenster […], der Onkel sah h(er>in)aus (Vv.62/5–7), Karl […] sah

1034 K. werden hier von einem neben ihm stehenden Fabrikanten Rechnungen und Tabellen erklärt, die vor ihm ausgebreitet sind. 1035 In der Szene betrachtet K. das Bild eines Richters, das der neben ihm stehende Gerichtsmaler Titorelli eben überarbeitet. 1036 Karl und der Senator befinden sich gerade an Bord eines Schiffes und sind im Begriff, von Bord zu gehen.

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auf die Straße h(e>i)nunter (Vv.307/16–17), Unten an der Treppe sah Karl den Kinderwagen und gerade kam auch […] das Ehepaar h(in>er)unter (Vv.403/15–16), das Nein h(er>in)aus-|zu schrein (Vv.406/26), er machte sich nun daran, den [ganzen] Körper […] aus dem Bett h(er>in)auszuschaukeln (Dv.123/14–16), worauf sie alles h(er>in)austrug (Dv.148/27–149/1), den Kasten […] hatten sie ihm schon [heraus]{hinaus}getragen (Dv.164/27–165/2), sie sollte […] das Ohr zu ihm ({hinunter} neigen>herunterneigen) (Dv.186/9–11).

Nur an drei Stellen (12,5 Prozent) ergab sich durch den Eingriff eine andere Perspektive: wollte sich der Diener noch auf den Kutschbock setzen, K. jagte ihn aber (hinunter>herunter) (Pv.222/17– 224/3(2)), die starke h(e>i)nabgekrümmte Nase (Sv.15/19–20), Acht edle sibirische Wolfshunde tänzeln h(er>in)unter (N1v.106/3–4=Dv.399/12).

Dieser linguistische Textbefund bestätigt im Prinzip die Beobachtungen literaturwissenschaftlicher Studien, die sich mit Kafkas Perspektivengestaltung beschäftigt haben:1037 Aufbauend auf Untersuchungen von Jean Pouillon (61946) formulierten Friedrich Beißner (1952) und Martin Walser (1961) ihre These von der Radikalität der personalen Erzählsituation in Kafkas Prosa, wonach der Leser ausschließlich mit den Augen der im Mittelpunkt des Geschehens stehenden Hauptfigur der Erzählung sehe. Diese Deutung wurde weitgehend von Hartmut Binder (1966) übernommen. Auch wenn Keith Leopold (1963), Winfried Kudszus (1964; 1970), Klaus-Peter Philippi (1966) und Walter H. Sokel (1967) diese These insofern einschränkten, als sie aufzeigten, dass ein auktorialer Erzähler in Kafkas Prosa punktuell strukturbestimmend sein könne, so bestätigten sie doch letztlich, dass der Erzähler meist mit dem Helden identisch sei. Wahrnehmung und Geschehen fielen demnach weitgehend zusammen; zwischen Erzähler und Hauptfigur komme es zu fließenden Übergängen.1038 Sokel machte zudem im Verschollenen, im Proceß, im Urteil und in der Verwandlung Werke einer Durchbruch-Periode (1912–1915) aus, für die er Beißners und Walsers These der radikalen personalen Erzählsituation als gültig betrachtete,1039 während sich ab dem Landarzt (1916/17) ein Wechsel zur Ich- und WirForm des Erzählens beobachten lasse.

1037 Zum Folgenden s. auch Kap. 4.4.12. 1038 Zuletzt wurde dies aus medienwissenschaftlicher Perspektive von Nicola Albrecht (2007) bestätigt. 1039 Ausnahmen bilden nur der Schlussabschnitt der Verwandlung sowie die Türhüterlegende im Proceß.

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Führt man nun anhand des Verschollenen, eines Werks der personal geprägten Umbruch-Phase, eine Stichprobe durch und überprüft alle nicht korrigierten zusammengesetzten Richtungsadverbien, bei welchen der Autor zwischen hin und her zu entscheiden hatte,1040 so zeigt sich, dass Kafka tatsächlich in 176 Fällen (zu 86,7 Prozent)1041 die Perspektive der Hauptfigur,1042 mithin die personale Erzählperspektive wählte. Zu Abweichungen von ihr führte die Entscheidung für hin oder her dagegen nur an 27 Stellen (13,3 Prozent).1043 Dieser Befund führt zu folgendem Schluss: Kafkas Selbstberichtigungen zeigen, dass er die Verwendung des Adverbs hin im Sinne der Bewegung zum Sprecher und des Adverbs her vom Sprecher weg durchaus als normgemäß auffasste und prinzipiell auch beabsichtigte. Die beträchtliche Anzahl von Autokorrekturen und nicht

1040 Nicht berücksichtigt wurden feste Wendungen, bei welchen nicht zwischen hin und her entschieden werden musste bzw. sowohl hin als auch her gesetzt werden konnten: etwas (Essen/ein Getränk) in sich hinein‑/hinunterbringen/‑schütten/‑schlingen; etwas (aus seiner Tasche etc.) heraus‑/hervorziehen (V.104/7; V.124/3; V.150/8; V.264/14; V.297/24), in sich hinein schluchzen (V.80/21–22,23–24; V.239/19; V.298/8; V.348/2), hinter jemandem herspringen (V.93/15), hinzufügen (V.111/2; V.117/4– 5; V.124/17; V.210/5–6; V.237/6; V.293/27; V.334/27; V.408/4), hinunterhudeln (V.118/18–19), heraushören (V.311/1), über etwas hinausgehen (V.119/8; V.337/1), in sich hineinlachen (V.129/8), aus den Kleidern heraushelfen/-fahren (V.137/25; V.266/7–8), herumjagen/‑fahren (V.150/8; V.361/1–2), hineinwickeln (V.192/15), zu sich heranwinken (V.212/11), kein Wort herausbringen (V.286/9–10), heruntergekommen sein (V.137/5), aus einer Situation heraus (V.353/2), an etwas herankommen (V.409/2). 1041 Vgl. im Einzelnen V.10/1; V.16/15; V.18/1; V.21/6; V.27/5–6,22; V.28/14; V.30/6–7; V.31/9; V.33/2; V.46/9; V.49/16; V.50/20; V.52/14; V.53/8; V.56/12–16; V.59/26–27; V.62/1,7; V.63/25; V.64/17–18; V.67/9,10; V.77/24; V.79/20; V.80/5; V.81/19; V.86/13–14; V.89/24; V.94/19,23; V.95/22; V.96/22; V.98/10; V.103/20–21; Vv.104/18; V.107/26; V.109/23–24; V.121/5,10; V.122/8; V.125/3; V.127/5,7,8; V.128/11,18,21; V.132/11; V.135/17–19; V.148/25–26; V.152/16; V.153/24; V.156/24; V.157/18,24; V.158/21,25; V.160/12,19; V.162/11; V.164/19; V.165/22–24; V.166/19; V.169/9,14,20; V.174/17; V.184/2; V.188/25; V.189/21; V.192/22; V.194/16; V.200/4,6; V.201/6,12,18–19; V.208/15,21; V.209/10; V.214/11; Vv.215/12; V.217/19–20; V.218/9,15–16; V.221/3–4; V.223/17; V.227/3–4; V.231/2; V.236/12–14; V.238/14; V.239/4; V.242/14; V.246/25; V.251/8; V.253/5; V.254/6,7–8; V.257/21–23; V.261/5,12,21; V.267/3,11,26; Vv.268/25; V.271/9; V.273/1–2; V.276/7,11; V.277/9; V.284/23; V.287/13,18; V.288/20,24; Vv.289/22(1); V.290/2; V.292/2; V.294/13,15; V.296/7–9,19,24; V.297/23; V.300/27; V.307/17; V.308/1,18; V.320/7; V.323/1; V.324/14; V.326/23; V.327/2; V.329/19; V.330/11; V.332/5–7; V.334/10–11; V.335/7; V.336/24–25; V.337/9; V.340/6,18; V.341/18–20; V.342/1–2; V.344/6,8,20; V.347/27–348/1; V.349/9,17; V.356/27; V.361/3; V.366/9–11; V.367/4–5,12; V.368/17–18; V.369/19–21; V.390/10,14; V.392/6,8–10,14; V.393/27; V.394/14; V.395/17; Vv.395/18(1); V.397/2; V.399/23; V.401/9; V.403/26; V.404/17–19,21; V.405/9; V.414/6–8. 1042 In der Regel ist dies Karl Roßmann; nur in V.196/14–202/16 wird die Handlung innerhalb einer Erzählung Theresens mit ihren eigenen Augen wiedergegeben. 1043 Vgl. hierzu V.9/19; V.11/2; V.21/21; V.43/4; V.45/23; V.58/9; V.65/9; V.70/5–6; V.79/1; V.91/4– 5; V.202/16; V.264/27; V.268/13; V.271/12; V.273/23; V.283/23; V.284/13; V.288/5; V.291/19; V.296/13; V.298/7,19; V.308/3; V.320/7; V.344/17; V.390/6; V.413/20.

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berichtigter Normabweichungen zeugt allerdings von einer gewissen Unsicherheit bei der Niederschrift im Schaffensprozess. Besonders deutlich manifestiert sich diese dort, wo Kafka Formen, die sich perspektivisch widersprechen, unmittelbar aufeinander folgend benutzte: schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit ([bA]>d)em inzwischen beschriebenen Papier hinaus (Vv.67/9–10), ließ Herr Pollunder Karl seinen Sessel nahe zu sich hin schieben (V.69/22–23),

1044

sind wir nur vor der zweiten Wohnung gestanden […], da kommt die Dame […] die Treppe hinauf. Sie […] konnte die pa(r>a)r Stufen gar nicht heraufkommen. […] Natürlich [sind] ist das Mädchen und der Diener gleich ihr entgegengelaufen und haben Sie fast hinaufgetragen (Vv.303/9–22), sie steckten wenigstens die Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die [ältern] Männer [la(ss>s)en] {saßen} breitbeinig {da, die Füsse zwischen den Geländerstangen hinausgestreckt und lasen} Zeitungen […] und irgend­(e>j)emand eilte ins Zimmer hinein (Vv.308/1–3,18), ein kleines Gasthaus […], aus dem eine rauschende Musik hervordrang. Der Haupteingang war nur mit einem großen gelben Vorhang verdeckt, der [von] 1045

[hie und da] {manchmal} […] in die Gasse hinaus flatterte (Vv.320/6–10).

Geht man von der tendenziellen Absicht Kafkas, eine personale Erzählsituation herzustellen, aus, dann lässt sich mittels einer Quantifizierung der jeweiligen Normverstöße unter den hin- und her-Setzungen die interferenzielle Quelle dieser Unsicherheit näher bestimmen: Denn sowohl die korrigierten als auch die nicht korrigierten Unstimmigkeiten, die in wörtlicher Rede ausgemacht wurden, ergeben ein deutliches Übergewicht von jeweils 66,67 Prozent (sechs von neun bzw. zwölf von 18 Fällen) der normwidrigen Setzung von her statt hin gegenüber der umgekehrten Verwechslung. Kafkas Autokorrekturen in der Erzählhandlung, die, wie gesagt, auf die Einnahme einer personalen Erzählperspektive abzielten, berichtigen ebenfalls zu zwei Dritteln (in 16 von 24 Fällen) ein normwidriges her zugunsten eines normkonformen hin. Die zahlreichen Eingriffe des Kurt Wolff Verlages in die Texte des Heizers, des Urteils und der Verwandlung verbesserten Richtungsadverbien sogar ausschließlich von her zu hin:

1044 Normgerecht müsste der Sessel entweder aus der Perspektive Pollunders zu sich her oder aber aus der Sicht Karls zu ihm hin geschoben werden. 1045 Vgl. ähnliche Widersprüche im Schloß-Fragment: Es war auch gar nicht {sehr} unangenehm […], die Gehilfen in ihrem Eifer und Ungeschick die Treppen zehnmal hinab- und hinauflaufen zu lassen (Sv.74/10–15).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

rief leise […] und ließ sich (herabfallen>hinabfallen) (Dv.61/9–10), Karl […] lachte dabei laut über den ersten vergeblichen Versuch{,} sich (herüberzuschwingen>hinüberzuschwingen) (Dv.68/1–3), und sah sich um{,} wie er (herauskommen>hinauskommen) könnte (Dv.69/2–3), bin ein Faulpelz{,} verdiene (herausgeworfen>hinausgeworfen) zu werden (Dv.72/3), d(er>ie)ser Slowa[c]ke […] sah traurig zu Karls Koffer (herüber>hinüber) (Dv.74/13–16), Wie oft hat man (s>S)ie schon aus den Auszahlungsräumen (herausgeworfen>hinausgeworfen) (Dv.82/16), Zuerst wollte er mit dem unter{e}n Teil seines Körpers aus dem Bett (herauskommen>hinauskommen) (Dv.121/19–20), sie [fa] hob ihn gleich auf […] und trug ihn (heraus>hinaus) (Dv.147/2–4), schob die Schwester […] irgendeine beliebige Speise i(ns>n) Gregors Zimmer (herein>hinein) (Dv.177/14–15), um sie am Abend […] mit einem Schwenken des Besens (herauszukehren>hinauszukehren) (Dv.177/15–18), die Tür ein wenig zu öffnen und zu Gregor (hereinzuschaun>hineinzuschauen) (Dv.179/16), in dieses Zimmer [zu werfen] (hereinzustellen>hineinzustellen) (Dv.180/20–21), So wie die Speisen hereinkamen, sind sie wieder (herausgekommen>hinausgekommen) (Dv.195/17–18), trat [die Familie] {Herr} Samsa […] auf den 1046

Vorplatz (heraus>hinaus) (Dv.197/17–18).

Auch dies spricht für eine Tendenz Kafkas, her an Stellen zu setzen, wo hin den schriftsprachlichen Erwartungen entsprochen hätte. Dieser quantitative Befund relativiert die Wahrscheinlichkeit, Kafkas hin/her-Verwechslung liefe möglicherweise auf eine Interferenz aus dem Tschechischen hinaus, die sich durch Sprachen-Kontakt im Deutsch der Prager etabliert haben könnte: In der Tat kennt das Tschechische zwar bezüglich der Morphologie der Richtungsadverbien keine Unterscheidung zwischen der Bewegung in Richtung des Sprechers oder von diesem weg;1047 es ist in dieser Hinsicht also gegenüber dem Deutschen unterdifferenzierend. Bei einer entsprechenden Interferenz wäre dann allerdings eine etwa gleich häufige normwidrige Verwechslung von her mit hin einerseits und von hin mit her andererseits zu prognostizieren, die sich im Korpus jedoch nicht abzeichnet. Die dominierende, in 72,73 Prozent der Fälle erfolgte fälschliche Setzung der Adverb-Komponente her anstelle von hin spricht für ihre Deutbarkeit als Direktanzeige einer Interferenz aus einem Sprachsystem, das nur Formen mit her, nicht aber mit hin kennt.

1046 Lediglich eine Korrektur des Berliner Schmiede Verlages im Text der Erzählung Josefine, die Sängerin verbesserte hin zu her: die Arme […] am Körper leblos (hinunterhängend>herunterhängend) (Dv.375/10–11). Die Worte Wir sehen (D.375/3) indizieren allerdings eine schräg nach oben gerichtete Perspektive eines Publikums auf eine erhöht positionierte Sängerin. 1047 Die Richtung wird stattdessen mithilfe des Verbs verdeutlicht: pojď dovnitř (ven, dolů, nahoru/ vzhůru) bedeutet ,komm herein (heraus, herunter, herauf )‘, jdi dovnitř (ven, dolů, nahoru/vzhůru) dagegen ,geh’ hinein (hinaus, hinunter, hinauf )‘ etc.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Innerhalb der deutschen Dialektlandschaft wäre dies allein für den niederdeutschen1048 und den daran angrenzenden nördlichen mitteldeutschen Sprachraum1049 charakteristisch. Hier werden Formen, die ursprünglich die Richtung zum Sprecher hin bezeichnen (her‑, er‑, r‑), verallgemeinert und auch für die entgegengesetzte Richtung benutzt.1050 Der gesamte oberdeutsche1051 und der unmittelbar angrenzende südliche mitteldeutsche Dialektraum1052 unterscheiden dagegen, von gewissen festen Wendungen abgesehen, relativ sorgfältig zwischen dem Gebrauch von hin und her im standardsprachlichen Sinne.1053 Entsprechend wird die normwidrige, von der Sprecherposition unabhängige Ausschließlichkeit von her (bzw. gekürzt r-) von der Fehlerlinguistik nur in den nördlichen Arealen des Einheitstyps als mundartbedingte Interferenz im Schriftdeutschen registriert.1054 In der Gegenwart ist diese mündliche Praxis durch die Ausstrahlungskraft norddeutscher Medien bereits teilweise in die süddeutsche Umgangssprache eingedrungen.1055 Für das frühe 20. Jahrhundert kann dies jedoch nicht angenommen werden – gerade vor dem Hintergrund der zeitgenössischen, Kafka teilweise sogar verunsichernden

1048 Vgl. hierzu Niebaum (1977: 90), Kettner (1978: 296), Stellmacher (1981: 113), HWB (2004: 1032, 1152–1153), SHWB (1933: 106, 211) und LBW (1962: 643, 687). S. hierzu auch die Gesamtdarstellung bei Hinderling (1980: 293; K. 4). 1049 Konkret handelt es sich um die nördlichen obersächsischen, thüringischen, hessischen sowie die gesamten ripuarischen Dialekte (Seibicke 1967: 56; WOM 2003: 307, 345; TWB 2005–2006: 42; Klein/Mattheier/Mickartz 1978: 88; RWB 1935: 532, 561–562). 1050 Niedersächsisch rin z. B. bedeutet ,herein‘ und ,hinein‘, rut bedeutet ,heraus‘ und ,hinaus‘. 1051 Vgl. hierzu Merkle (61996: 179–180), WBB (1995–2009: 781–783), Zehetner (42014: 179), Schuster/Schikola (1984: 96–97, 156–157), Kalau (1984: 190), Hörlin (1988: 273–274), SWB (1911: 1442–1449, 1466–1469, 1611–1620, 1625–1631), BWB (1942–1974: 105–106, 623, 634–635, 709–710) und VBW (1960: 178–180, 692). 1052 Betroffen hiervon sind die südhessischen, rheinpfälzischen und moselfränkischen (SHW 1973– 1977: 273–274, 314–315, 504–505, 521–522; FWB 1974: 1142–1143, 1151, 1193, 1196–1197; PWB 1976–1980: 819, 852, 1008, 1018–1019; RWB 1935: 526–532, 561–562) sowie südlichen ostmitteldeutschen Dialekte (WOM 2003: 302, 306–307, 344–348; TWB 2005–2006: 7–8, 41–42, 142, 147–148; Mitzka 1963: 510, 512, 540–541). 1053 Die bairischen, hoch- und höchstalemannischen Dialekte führen dabei die relationale Komponente der Adverbien als erste Konstituente der Zusammensetzung (z. B. abher/abhin), während sonst die zeigende Komponente an die erste Stelle gesetzt wird (Hinderling 1980: 293; K. 4; Renn/König 2006: 99). 1054 Sie gilt als bereits in die regionale Umgangssprache eingedrungen. Zum niederdeutschen Sprachraum vgl. Niebaum (1977: 88–90) und Stellmacher (1981: 113), zum osthessischen Wegera (1977: 211), zum ripuarischen Klein/Mattheier/Mickartz (1978: 88). 1055 Die Fehlerlinguistik zum oberdeutschen Dialektraum führt normwidrige her-Formen, so in Schüleraufsätzen vorhanden, auf den Einfluss der norddeutschen Umgangssprache zurück (Reitmajer 1979: 129; Kalau 1984: 190; Koller 1991: 196).

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Normdivergenz.1056 Zu Kafkas Lebzeiten beschränkte z. B. Kretschmer (1918: 386) die Aufgabe der standardsprachlichen Richtungsdifferenzierung und die Verallgemeinerung der Formen mit her nach niederdeutschem Muster explizit auf die norddeutsche Umgangssprache. Entsprechend sind im Deutsch der untersuchten Prager Printmedien keine derartigen Auffälligkeiten festzustellen.1057 Auch in der Forschung wurde erst seit den späten 1960er Jahren ein allgemeines Zurücktreten der Sprecherperspektive zugunsten der Verwendung von her für Richtung und Gegenrichtung als Entwicklungstendenz der deutschen Umgangs- und Hochsprache wahrgenommen (z. B. Henzen 1969: 286–288; Eichinger 1980: 24–25). Zugleich konstatierte Duden (21972: 326) noch zu Beginn der 1970er Jahre: „In der süddeutschen Umgangssprache wird an der Unterscheidung auch bei den verkürzten Formen weitgehend festgehalten.“ Gerade dem österreichischen Deutsch wird noch in der Gegenwart attestiert, hier werde weiterhin „deutlich zwischen der Bewegung vom Sprecher weg bzw. zum Sprecher hin unterschieden“ (Muhr 1995: 222). Ein direktes interferenzielles Einwirken norddeutscher Mündlichkeit auf Kafkas Schriftdeutsch kann aufgrund dieser Gegebenheiten daher als unwahrscheinlich betrachtet werden. Nach Lage der Indizien scheint man stattdessen von einem Nachwirken jiddischer Reliktformen aus Kafkas (sprachlichem) Sozialisationsmilieu ausgehen zu können.1058 Das Jiddische verfährt bei der Bildung zusammengesetzter Richtungsadverbien nämlich exakt nach dem Paradigma der niederdeutschen Sprachpraxis und kennt als zeigende Komponente nur das Erstglied (a)r-, ohne semantisch die Richtung zu differenzieren:1059 Gegenüber den deutschen Richtungsadverbien vom Typ ,herein, hinein‘ steht im Jiddischen die einheitliche Form arayn. Ebenso ariber her‑, hinüber, arop (stilistisch neutral) her‑, hinab, abwärts,

1056 S. hierzu Kap. 3.1.2.2. 1057 Im gesamten Referenzkorpus liegt nur eine einzige normwidrige her-Form vor, die sich zudem im literarischen, nicht im Bericht-Teil einer Tageszeitung findet: Daß gerade jemand […] zum Fenster raus schaut (PT 1921: 9). 1058 In Brods (1911: 16, 227, 257) Prosa stellen (seltene) Abweichungen von der Sprecherperspektive (auch in der Erzählhandlung) ebenfalls ausschließlich her-Formen dar: Da herunter geht’s gar nicht – Dann stieg er die Stufen zum Bad herab – er beugte sich heraus. Dass Brod im mündlichen Sprachgebrauch selbst zur Verwendung der her-Formen tendierte, lässt sich aus entsprechenden Tagebuch-Einträgen schließen, z. B.: „Dann spritzt der Bademeister mit einer Spritze uns heraus“ (Brod/Kafka 1989: 78). 1059 Allerdings wird in Prager westjiddischen Drucken des 18. Jahrhunderts (noch) zwischen hin und her unterschieden: alher (,her‘) – ahin (,hin‘), arain (,herein‘) – anein (,hinein‘), aroef (,herauf ‘) – anoef (,hinauf ‘) (Schnitzler 1966: 47, 60–61).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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aroyf her‑, hinauf, aufwärts, […] aroys her-, hinaus, arunter her-, hinunter, abwärts, hierher auch 1060

arum […] herum (Lockwood 1995: 59).

Der vorgefundene Regionalismus lässt sich daher als substandardliches Phänomen ethnolektaler Provenienz unter A1/E[ J]1061 kategorisieren. 5.2.7  Präpositionen 5.2.7.1  Sonderbedeutungen der Präpositionen über und um Untersucht man die Präpositionalverwendung in Kafkas Prosa-Deutsch auf regionalsprachliche Besonderheiten, so stößt man zunächst auf die Verwendung der Präposition über (+ Akk.), die, in der binnendeutschen Bedeutung ,auf (+ Akk.)‘, bei Bitte, Wunsch, Antrag oder Befehl als charakteristisch für die österreichische Amtssprache gilt:1062 ich musste es über Auftrag so malen (P.196/3–4), Über Auftrag der Führer war die Kapelle […] auf die Gasse getreten (V.331/26–332/1), daß sie den Herrenhof nur über Befehl verlassen dürfen (S.348/23–24).

Die Überprüfung von Kollokationen mit den Substantiven Auftrag und Befehl aus obigen Korpusbeispielen ergibt, dass ihre Bildung mit über für Kafka nur eine von mehreren Varianten darstellte; zudem setzte er häufiger synonyme Präpositionen ein, die man im Binnendeutschen erwarten würde. So findet sich im Manuskript vor Auftrag auch nach:1063 Alles übrigens nach dem Auftrag (S.367/18), nach Auftrag des Wirtes (V.130/4), nach dem Auftrag des Photographen (V.134/25).

1060 Vgl. entsprechende Einträge bei Wolf (1962: 91–92) und Lötzsch (1990: 36, 37, 41, 42). In seiner Satire Literatur setzte auch Karl Kraus (1989: 28) die von der Sprecherperspektive abweichende her-Form gezielt zur Fingierung ,mauscheldeutscher‘ Mündlichkeit ein: Werfts ihn heraus, er bricht sich selbst das Herz. 1061 Kafkas Korrekturen erfassen 33 von 66 (50 Prozent) der oben diskutierten Normverstöße. Von seiner prinzipiellen Wahrnehmung, zu den her-Adverbien zu neigen, kann somit ausgegangen werden. 1062 Vgl. Ebner (21980: 186; 2008: 46), Ammon u. a. (2004: 811) und Duden (242006: 1033). Zu dieser Sonderbedeutung von über in Kafkas Proceß-Handschrift s. Blahak (2007a: 185). 1063 Vgl. es werde alles nach Wunsch geschehen (S.241/22), nach dem Gebot des Vaters (S.299/25), es geht eben nicht alles nach Wunsch (V.114/25–26).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Befehl wird alternativ mit nach, auf1064 oder gemäß1065 zu Kollokationen verbunden: nach seinem Befehl hin und her laufen (N1.247/11–12), nach dem Befehl der Kunden (D.176/5), nur auf direkten be(k>h)ördlichen Befehl (Sv.147/19), auf seinen Befehl hin (S.240/14), dem allgemeinen Befehl gemäß (V.263/26–27).

In den raum- und zeitnahen österreichischen Nachschlagewerken wird die Sonderbedeutung von über zwar nicht angeführt; dieser Umstand lässt sich allerdings durch den ,fachsprachlichen‘ Status der Präposition im Rahmen des amtlichen k. u. k. Deutsch erklären, der in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern nicht berücksichtigt wurde.1066 Ihre Standardkonformität ist indes durch entsprechende Belegstellen in zeitgenössischen Prager Printmedien nachweisbar.1067 Da auch Brod als Herausgeber nichts an der betrachteten Verwendung von über auszusetzten hatte (Kafka 1953b: 285; 1964: 292; 1965: 176), kann sie als Regionalismus unter B2/rS(d)[Ö] klassifiziert werden. Im Weiteren ist auf die Präposition um (+ Akk.) hinzuweisen; im Sinne von binnendeutsch ,nach (+ Dat.)‘ findet sie sich im Korpus zur Angabe des Grundes, Zweckes oder Zieles einer Tätigkeit, auch bei Verben der Bewegung:1068 [die in d(ie>a)s gegenüberliegende (W>G)asthaus um Bier gegangen war] (Pv.38/4), Dann kommen sie {zum Advokaten} um Rat (Pv.157/9), [und werde einen Diener um sie schicken] (Pv.221/8), in der Nacht um ihn geläutet (P.247/7), Schauspieler ([wA]>s)chickt man um (siA>m)ich (Pv.306/3–4), und schickte ein Kind ins andere Zimmer um den Rohrstab (S.208/18–19), Nun wollte K. gleich um das Gabelfrühstück eilen (S.240/7–8), daß Amalia […] wieder um Bestellung käme (S.327/22–24), einen Gehilfen um ihn zu schicken (S.365/14–15), [zu der sie jeden Augenblick um Rat läuft] (Sv.485/8), Die beiden haben mich ja um Sie geschickt (V.216/17–18), um mich zu kommen (N1.42/19; vgl. N1.219/18–19), war sofort um einen Polizeimann gelaufen (N1.219/18–19), Dann aber lief ich gleich um Fische (N1.366/20), sie könne auch die Hausmeisterin darum schicken (D.151/10–11).

1064 Vgl. Auf ihre Bitten (P.144/9), auf seinen Rat hin (P.194/11–12), auf mein Zureden (S.372/21), auf seine [Rück] Bitten (Sv.434/18–19), auf Bruneldas Bitte (V.299/20), auf seine Bitte (V.322/17; N1.108/3), auf die Bitte Bruneldas (V.324/4), auf meine Bitte (N1.406/3), [auf ihren Rat hin] (N2v.74/11–75/13(2)13*–16*). 1065 Vgl. Ihrem Rat gemäss (N1v.288/9(1)). 1066 Das Fehlen in ÖWB (241951), das für den Schulgebrauch konzipiert wurde, lässt sich genauso erklären. 1067 Vgl. über Aufforderung (SW 1921a: 2), über Antrag (SW 1921a: 4), Ueber Drängen (SW 1921b: 4), über Verlangen (PP 1921a: 10), über Betreiben (PP 1921c: 5). 1068 Zu dieser Sonderbedeutung von um in Kafkas Proceß-Handschrift s. Blahak (2007a: 185).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

481

Diese Bedeutung gilt gegenwärtig als Eigenart des österreichischen Deutsch.1069 Sie ist auf der Ebene der Mundarten aber auch im bairischen Sprachraum außerhalb Österreichs verbreitet (Zehetner 42014: 355).1070 Auch wenn Lehmann (1899: 39) diesen Gebrauch von um als fehlerhaft einstuft, sprechen die Indizien doch mehrheitlich für seine prinzipielle Standardkonformität in der k. u. k. Monarchie: Schon die Nennung nicht nur in Prager, sondern auch in slowenischen und serbischen Standard-Wörterbüchern des Deutschen1071 lässt auf eine gesamtösterreichische Geltung schließen. Max Brod duldete diese Präpositionalverwendung nicht nur in den postum edierten Schriften Kafkas,1072 sondern er pflegte sie, wie auch Egon Erwin Kisch, selbst in seiner Prosa, wenn auch nur in wörtlicher Rede.1073 Wo das betrachtete um in Kafkas Texten in indirekter Rede vorkam, übernahm es auch der Kurt Wolff Verlag in den Druck (D.151/10–11), obwohl es der reichsdeutschen Schriftnorm an sich zuwiderlief.1074 Insgesamt ergibt sich so das Profil eines Regionalismus der Kategorie B2/D[B]-rS(d)[Ö]. 5.2.7.2  Erhöhte Frequenz von bei in Präpositionalgruppen in Funktion von Lokalbestimmung der Unterkategorie ,punktuelle Lokalität mit Kontakt‘ Markant für Kafkas Präpositionalgebrauch ist außerdem die häufige Setzung von bei anstelle von an in Präpositionalgruppen, die eine Lokalbestimmung der Unterkategorie ,punktuelle Lokalität mit Kontakt‘ (Muhr 1995: 223–224) vornehmen.1075 Diese Praxis gilt gegenwärtig als charakteristisch für das in Österreich, aber auch im Südosten Deutschlands gesprochene Deutsch; hier kann bei überall dort stehen, „wo eine sonst nicht näher bestimmte Beziehung zwischen Satzteilen hergestellt werden soll“ (Ebner

1069 Vgl hierzu Ebner (21980: 187; 2008: 46), Ammon u. a. (2004: 816) und Duden (242006: 1046). 1070 In den Nachbarregionen des bairischen Dialektraums ist sie dagegen nicht nachweisbar (SWB 1924–1936: 80–82; VBW 1965: 1430; WOM 1996: 432–433; TWB 1983–1990: 364–366). 1071 Zu Prag vgl. Rank (1892: 873), Herzer/Prach (1916: 298), Sterzinger (1935: 954), Macht (21939: 523) und Siebenschein (1944: 504); zu Slowenien vgl. Janežič (41905: 746), zu Serbien Ristić/ Kangrga (1936: 1235). 1072 Vgl. exemplarisch Brods Proceß-Ausgabe (Kafka 1965: 143–144, 218, 266). 1073 Vgl. Mit dem Auto fährt man um ein Buch zur Leihbibliothek – Ich muß mir hinauf um die Hausschuh gehen (Brod 1911: 17, 206), wenn […] die Mutter […] sie um Geld schickt (Kisch 51922: 42). 1074 Heyne (21906b: 1116–1118), Paul (21908: 574–576), Weigand (51910: 1106–1107) und Sanders (81910: 737) verzeichnen um in dieser Bedeutung nicht. 1075 Zur erhöhten Frequenz der Präposition bei gegenüber synonymem an in Kafkas Proceß-Handschrift s. Blahak (2007a: 185).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

1980: 41).1076 Die erhöhte Frequenz von bei gegenüber an im Korpus kann exemplarisch mittels einer Stichprobe anhand der Proceß-Handschrift deutlich gemacht werden: Im Folgenden sei hierzu die Setzung von bei in der Bedeutung ,in der Nähe von‘/,nahe‘ nach Verben lokaler Befindlichkeit (sein, stehen, sitzen etc.) der entsprechenden Verwendung von an quantitativ gegenübergestellt. Betrachtet werden dabei vier häufige Bezugsobjekte bzw. ihre semantischen Äquivalente, die in Verbindung mit beiden Präpositionen auftreten. 2

Substantiv 1077

Tür(en)/Wohnungstür/Eingang Fenster/Guckfenster

1078

Tisch(e)/Tischchen/Schreibtisch Bett

1080

insgesamt in %

1079

bei/beim

an/am

20

5

8

6

4

4

3

2

35 67,31

17 32,69

Tab. 16:  Frequenz der Präpositionen bei und an in der Funktion lokaler Bestimmung bei identi1077107810791080 schen Substantiven im Proceß-Manuskript

Kafka griff demnach in über zwei Dritteln der Fälle, in welchen grundsätzlich auch an stehen könnte (und binnendeutsch sogar gebräuchlicher wäre), zur Präposition bei. Zusätzlich erhärten Autokorrekturen den Eindruck, er habe ein lokales bei intuitiv gegenüber an bevorzugt; denn in 71,43 Prozent der Fälle ersetzte er an durch bei:

1076 Vgl. analog Ammon u. a. (2004: 98), Ebner (2008: 46) und Zehetner (42014: 64–65). 1077 Zu bei vgl. P.26/8,18; P.35/13; P.54/11; P.58/8; P.72/13; P.73/13; P.116/10; P.129/9–10; P.131/21–22; P.183/9; P.191/27; Pv.192/11–13(2); P.228/5; P.229/13; P.277/12; P.279/21; P.305/6–7; P.340/25; P.342/11; zu an vgl. Pv.43/14–18(1); P.54/11; P.123/8; P.143/12–13; Pv.325/27. 1078 Zu bei vgl. P.9/8,19–20; P.10/7; P.24/2; P.32/11; P.114/14; P.146/17; Pv.316/20–21; zu an vgl. P.13/9–10; P.83/25; P.84/3; P.147/11; P.226/16; P.273/1–3. 1079 Zu bei vgl. P.13/9; P.137/3; P.192/27; Pv.342/9(3); zu an vgl. P.32/17; Pv.92/25; P.327/11; P.331/25. Ausgenommen wurden hier Belege, welche die lokale Befindlichkeit mit einer bestimmten Tätigkeit (schreiben, studieren, stricken etc.) verbinden (P.32/3–4; P.92/25; P.157/14–15). 1080 Zu bei vgl. P.210/6; P.258/21; P.263/9; zu an vgl. P.132/15; P.133/15.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

483

1081

und setzte sie dann vor der Tür (aA>b)ei den andern Mädchen ab (Pv.191/21–22),

der gleich (a>b)ei

der Türe stand (Vv.361/4), hielt man sich (anA>b)ei den Händen fest (N1v.224/3–4), bleibt (a>b)ei der Tür (N1v.289/3), daß ich {abend} (an>bei) meinem Tisch saß (N2v.352/7).

1082

Umgekehrt substituierte er nur zu 28,57 Prozent bei durch an: und es […] ([bA]>a)n einem mittleren Blatt hochzuheben (Pv.63/15–17), ([bei]>an) einem kleinen Tisch[s]chen (Sv.33/4). Regionalspezifisch gab Kafka der Präposition bei außerdem in sprachlichen Kontexten den Vorzug, in welchen im bairischen Dialektraum auch auf umgangssprachlicher Ebene an ungebräuchlich wäre, nämlich wenn das Berühren/Anfassen einer Person oder Sache an einem (Körper‑)Teil oder Zubehör mithilfe von Verben wie fassen, packen etc. umschrieben wird (Zehetner 42014: 64–65). Analog ordnen auch die österreichischen Kodizes der Kafka-Zeit bei dem Gebrauch „mit Körperteilen und Verben des Greifens, Fassens“ (Sterzinger 1916: 741) zu (Siebenschein 1936–1938: 356). Dagegen drücke an „unmittelbareren Anschluß“ (Sterzinger 1916: 227) als bei aus und werde vorzüglich in Konstruktionen mit dem Verb (fest‑)halten verwendet. Eine weitere Stichprobe anhand der Proceß-Handschrift macht deutlich, dass Kafka diese Präferenzen weitgehend teilte; denn jemanden (er‑)fassen bzw. packen wurde hier siebenmal (zu 70 Prozent) mit bei verbunden: faßte sie bei der Hand und dann beim Handgelenk (P.47/21–22), faßte ihn […] beim Arm (P.95/13–14), faßte ihn bei den Armen (P.146/20–21), (w>p)ackte sie bei den Röcken (Pv.191/20), als ihn Leni […] beim Arm fasste (Pv.249/3–5(1)), indem er sie bei einer Hand erfaßte (P.259/4–5), und fasste K. bei der Hand (Pv.303/3,16*).

Nur dreimal (zu 30 Prozent) fand dagegen an im gleichen Zusammenhang Verwendung: {fasste ihn hinten am Kragen} (Pv.70/26), wenn er sie hinten an den Röcken erfaßt (P.132/10–11), die er vorn an der kantigen Einfassung […] faßte (P.285/19–20).

1081 Hier ist auch der Ansatz zum Verbzusatz ab denkbar. Wertet man diesen Beleg nicht, so erfolgte die Korrektur von an zu bei immer noch doppelt so häufig (in 66,67 Prozent der Fälle) wie diejenige von bei zu an. 1082 Im Falle von der [am m] bei einem bestimmten Gemeindemitglied {schon} eine Schlafstelle hat (Sv.261/12–14) setzte Kafka vermutlich zu einer gänzlich anderen Formulierung an.

484

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Umgekehrt tritt jemanden halten zwar, wie von Sterzinger empfohlen, bevorzugt mit an auf; Kafkas Tendieren zu bei setzte sich jedoch zumindest einmal in einer Sofortkorrektur durch: hielten ihn indessen an den Beinkleidern (P.55/18–19), hielt K. den Kaufmann hinten an den Hosenträgern zurück (P.228/10–11), hielt man sich (anA>b)ei den Händen fest (N1v.224/3–4).

Dass die Bevorzugung der Präposition bei gegenüber an im bairischen Sprachraum das Ergebnis eines langfristigen Sprachen-Kontaktes mit dem benachbarten Tschechischen ist, scheint im Falle der betrachteten Lokalangaben denkbar;1083 im Zusammenhang mit den Verben des Anfassens ist dies dagegen ausgeschlossen.1084 Mit Blick auf Kafkas Deutsch ist eine individuelle Interferenz in jedem Fall unwahrscheinlich. Die insgesamt seltenen Autokorrekturen und der Umstand, dass auch Brod keinen Anlass zum Eingriff gegeben sah,1085 belegen, dass der Schreiber wie sein Herausgeber die erhöhte Frequenz von bei bzw. die verminderte von an in den diskutierten Kontexten als normgerecht auffassten. Aufgrund der Angaben der damaligen und gegenwärtigen Kodizes kann Kafkas Präpositionalverwendung somit als Regionalismus standardsprachlicher Qualität dem Typ B2/rS(d)[Ö+soD] zugeordnet werden. 5.2.7.3  Besonderheiten im Zusammenhang mit den Präpositionen an und auf 5.2.7.3.1  Verwendung der Verschmelzungsform am in der Bedeutung ,auf dem‘ Unter den mit Artikelformen verschmolzenen Präpositionen tritt die Fügung am (+ Dat.) im Korpus gelegentlich regional markiert auf, wenn Kafka sie als Verbindung von auf + dem begriff.1086 Zwar könnte am an manchen Stellen sowohl an dem als auch auf dem repräsentieren: 1083 Auch hier wird in Kollokationen mit den Beispielen aus dem Korpus (Tür, Fenster, Tisch, Bett) das Äquivalent zu bei (tsch. u + Gen.) anstatt jenes zu an (tsch. na + Lok.) benutzt: u dveří, okna, stolu, postele. 1084 Jemanden bei/an etwas fassen, packen, halten wird im Tschechischen mit der Präposition (brát, chytit, držet někoho) za (+ Akk.) gebildet. 1085 Vgl. exemplarisch die Belegstellen zu bei der Tür(e) in Brods Proceß-Ausgabe (Kafka 1965: 24, 25, 32, 63, 64, 109, 121, 123, 165, 172, 202, 203, 243, 245, 266, 297). 1086 Schon in Grimm/Grimm (1854: 275) wird am nur in der Bedeutung ,an dem‘ aufgeführt, als „eine günstige verschmelzung der praep[osition] an mit dem dat. sg. des männlichen und neutralen artikels“.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

485

mit der Hand am (T>R)iegel (Sv.183/18(2)74*), beide Hände am Herzen (S.474/6), die stechenden Schmerzen im Rücken und am Kopf (V.338/19–20), Kameele, niedrig am Boden hinge(duckt>la­ger)t (N1v.314/7–8=Dv.445/3–4), Ein eilig und vielfach am Abhang sich windender Pfad (N2.557/5–6).

Häufig weist der Kontext allerdings deutlich auf die zweite der beiden Möglichkeiten hin: daß er […] entweder in der Schulbank […] saß oder, lieber, am Podium zu Gisas Füßen (S.257/14–16), am gestrigen Fest (S.321/27), am Trottoirrand hockten Kinder (V.271/3), einer lag am andern (V.333/7), das Aufschlagen am Kasten (V.338/20), meine Träger würden über die kleinen Steinchen am Wege stolpern (N1.80/12–13), wenn ich am Balkon gewesen wäre (N1.94/22=D.394/4), Dinge, die elend am Boden liegen bleiben müßten (N2.426/26–27=N2.488/26–27), müßte sie sich doch folgerichtig völlig am Boden vollziehn (N2.462/23–24), sie lagen am Boden (N2.493/3).

Wiederholt finden sich Ansätze zu auf + den/dem/einem Rand, die letztlich bewusst als am Rand verschriftlicht wurden: sich auf das Bett zu setzen […], warum sich K. nur [auf den] {am} Bettrand [setzte] {blieb} (Pv.199/22– 25), sie waren auf | (ei>a)m Rand eines freien […] Platzes (Pv.307/10–12), Der Wirt saß (mir>K) gegenüber [auf] {am Rand} der Fensterbank {bequemer wagte er sich nicht zu setzen} (Sv.14/8–9).

Dass am auch an den folgenden nicht korrigierten Belegstellen auf + dem repräsentieren sollte, lässt sich insofern zumindest vermuten: Damit endete das Blatt. Am Rand war noch eine kindlic(he>h) gestrichelte Zeichnung (Sv.183/18(2)208*– 209*), {ich} verbrachte am Bettrand die halbe Nacht (Sv.330/6), Dann habe ich [allerdings] {nur} noch diesen Platz am (Z>B)ettrand zu vergeben (S.406/24–25), und schon jagten sie am Tischrand hin (N1.389/7–8).

An anderer Stelle kann ein durch in substituiertes am ursprünglich ebenfalls nur auf + dem bedeutet haben: (am>in) Grund des Spiegels (Dv.33/14–15). Da in der Autokorrektur a(m>uf) {dem} Land (N1v.14/22)1087 der einzige Korpusbeleg einer nachträglichen Auflösung der Verschmelzungsform in ihre Bestandteile vorliegt, kann davon ausgegangen werden, dass Kafka die Verwendung von am in der Bedeutung ,auf dem‘ prinzipiell als

1087 Vgl. auf dem Lande (P.125/19; P.127/21; V.104/24; D.22/4).

486

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

normkonform ansah. Dass weite Kreise der deutschsprechenden Prager diese Sicht teilten, lässt sich u. a. daraus folgern, dass Brod sich bei der Herausgabe von Kafkas ProsaSchriften an der bewussten Wortform nicht störte.1088 Dieses von Kisch (1917: 4; 1992: 250–251) als typisch für das Deutsche in Prag1089 verspottete am lief dabei nicht nur der Normauffassung im Deutschen Reich zuwider (Heyse 251893: 455; Winter 21896: 68; Ammon 1903: 41), wo etwa Kretschmer (1918: 8) einen bayerisch-österreichischen „Sprachfehler“ konstatierte. Die in der k. u. k. Monarchie erschienenen Grammatiken verwahren sich genauso dagegen: Lehmann (71892: 97; 1899: 39) z. B. konstatiert eine in Wien verbreitete1090 Normwidrigkeit; auch Willomitzer (61894: 66) glaubt, explizit vor ihr warnen zu müssen:1091 „Am (= an dem) darf nicht mit auf dem verwechselt werden.“ Die böhmischen Wörterbücher des Deutschen (Sterzinger 1916: 214; Siebenschein 1936–1938: 86; Kumprecht 31940: 18) kennen am ebenfalls nur als Äquivalent zu an dem. Die in der Gegenwart festgeschriebene Zugehörigkeit der betrachteten Form zum Standard des Deutschen in Österreich und Südost-Deutschland1092 kann demzufolge nicht einfach auf Kafkas Zeit übertragen werden: Noch im Österreichischen Wörterbuch (ÖWB 241951: 7) wird am Land als umgangssprachlich, auf dem Lande dagegen als „richtig“ angegeben. Auch Rizzo-Baur (1962: 105) schließt die Verschmelzungsform aus auf + dem, trotz ihrer Beliebtheit in Österreich, von der Hochsprache aus.1093 Somit ist für Österreich-Ungarn insgesamt von einem Grenzfall des Standards auszugehen, von einer Form, die sich aufgrund ihrer hohen Frequenz im Alltag in Prag aber offenbar als standardfähiger erwies, als sie es nach der schulisch vermittelten Norm in der sonstigen Monarchie war, und – dies belegt das Deutsch der Prager Medien1094 – hier auch durchaus

1088 Vgl. exemplarisch Brods Amerika-Ausgabe (Kafka 1953b: 234, 287, 291). 1089 Laut Stein (1976: 14) war am in Prag auch für Ortsangaben in Verbindung mit Toponymen (am Hradschin, Laurenziberg etc.) gebräuchlich. Solche Wendungen zählte er allerdings nicht zum ,guten Prager Deutsch‘. 1090 Jakob (1929: 21) beschreibt das betrachtete am als Form der wienerischen Mundart. 1091 Der von Kafka im Schulunterricht benutzte Kummer (31892: 79–80) weist allerdings nicht explizit (warnend) auf sie hin. 1092 Vgl. u. a. Ebner (21980: 25), Ammon u. a. (2004: 33), Duden (242006: 177) und Wiesinger (22008: 59). 1093 Auch sprechen einige jüngere fehlerlinguistische Darstellungen zum ostfränkischen Raum von Dialekt-Direktanzeige (Kalau 1984: 198; Koller 1991: 142–143). 1094 Vgl. den Rucksack am Rücken (SW 1921b: 2), am flachen Lande (PT 1921: 2), am internationalen Markte (PT 1921: 14), am Lande (PT 1921: 15, 32), Am Wollmarkte (PT 1921: 16), am Spartaplatz (PP 1921c: 6), am Slaviaplatz (PP 1921c: 6).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

487

zur Schriftsprache gehörte.1095 Schuchardts (1884: 116) Erwägung, der slawisch-deutsche Sprachen-Kontakt könnte diese „echt österreichisch-deutsch[e]“ Form bedingt haben, kann in Prag zumindest hinsichtlich der lokal erhöhten Standardnähe berücksichtigt werden. Da das betrachtete am auf mundartlicher Ebene im gesamten bairisch-ostfränkischen Raum gebräuchlich ist (Kalau 1984: 198; Koller 1991: 142–143; Zehetner 42014: 39), erweist es sich letztlich als Regionalismus des Typs B1/D[onO]-rU(d)[Ö]-rS(d)[P]. 5.2.7.3.2  Schwankungen im Gebrauch von an und auf Seit August Schleichers Aufsatz Ueber die wechselseitige Einwirkung von Böhmisch und Deutsch (1851) glaubte die Sprachwissenschaft immer wieder, ein interferenzielles Einwirken des Tschechischen auf das in Böhmen gesprochene Deutsch im Bereich der Präpositionalverwendung feststellen zu müssen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei v. a. die tschechische Präposition na, die durch ihre doppelte Übertragbarkeit als an oder auf im Deutsch des zweisprachigen Prag u. U. zu Schwankungen oder semantischen Verschiebungen im Gebrauch der beiden Präpositionen geführt haben könnte. Heinrich Teweles (1884: 104–105) etwa attestierte dem böhmischen Deutsch eine wesentliche Beeinflussung durch die zweite Landessprache, indem „in wörtlicher Uebersetzung des čechischen ,na‘“ Konstruktionen mit auf gebräuchlich geworden seien.1096 Analog äußerte Hugo Schuchardt (1884: 115–116) mit Blick auf das Deutsch der k. u. k. Monarchie, wo es im Kontakt mit slawischen Sprachen stand: Kaum auf irgend einem Gebiete begeht der Fremde zahlreichere Fehltritte als auf dem der Präpositionen […], und hier lässt sich der Einheimische um so leichter anstecken als ja auch für ihn der richtige Gebrauch derselben nicht immer leicht ist, und sie gern in synonymen und auch formell ähnlichen Verbindungen wechseln. Die Lieblingspräposition der deutschredenden Slawen ist auf; sie pflegt na in seinen verschiedensten Verwendungen zu vertreten […]. An für auf ist im Slawo1097

deutschen [!] weit seltener als umgekehrt.

1095 Vgl. auch den Abdruck der Form in Kafkas Gespräch mit dem Beter in der Zeitschrift Hyperion (D.394/4). 1096 Er nannte als Beispiele u. a. Geld auf etwas (tsch. peníze na něco), auf ein Bier gehen (tsch. jít na pivo) und auf etwas vergessen (tsch. zapomínat na něco). 1097 Beispiele hierfür sind für ihn u. a. Scherz auf Seite (na stranu, tsch. allerdings bez žertu), auf die Messe/Altstadt gehen (tsch. jít na mši/Staré Město) und auf Kaffee geladen (tsch. pozván na kafe).

488

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Eine Generation später bestätigte Egon Erwin Kisch als Zeitzeuge diesen Befund, als er essayistisch die ,Verwirrung‘ beschrieb, die das tschechische na gemäß seinen alltäglichen Erfahrungen im Deutsch der Prager stifte, weil es oft „an falscher Stelle richtig […] übersetz[t]“ (Kisch 1917: 3) werde.1098 Migrationsbedingt sei diese Erscheinung zudem in Wien verbreitet worden, wo „überall tschechische Kleingewerbler, Dienstboten, Arbeiter leben und die Sprache der Ureinwohner derartig durchdringen, daß man sich leicht ,darauf ‘ gewöhnt, so zu sprechen wie die Eingewanderten“ (Kisch 1992: 249). Schuchardt und Kisch führten die häufige Verwechslung von an und auf demnach darauf zurück, dass die in Prag (und Wien) verbreiteten tschechischen Interferenzen im nicht muttersprachlichen Deutsch im Verlauf eines längeren Sprachen-Kontaktes auch die Primärsprache vieler Deutsch-Prager (und ‑Wiener) beeinflussen konnten. In der Tat führt die Unterdifferenzierung des Tschechischen gegenüber dem Deutschen bei tschechischen Deutsch-Lernern zu sprachkontrastiv bedingten Schwierigkeiten bei der Übertragung von na als an oder auf. Die aus diesem individuellen Sprach-Kontakt resultierenden charakteristischen Normverstöße gehören auch heute zum Untersuchungsgebiet der deutsch-tschechischen kontrastiven (Fehler‑)Linguistik.1099 Vor diesem Hintergrund fallen in Kafkas Handschriften Stellen auf, an welchen der Autor in Wendungen, deren tschechische Äquivalente mit der Präposition na gebildet werden, in identischen semantischen Zusammenhängen zwischen an und auf schwankte, wobei zumeist jeweils nur eine der beiden Präpositionen der zeitgenössischen Norm entsprach. Zum einen betrifft dies Konstruktionen, in welchen die Präpositionen zur Lage‑ oder Richtungsbezeichnung dienen. Hier handelt es sich um Phrasen, die Tätigkeiten in Richtung oder Lokalangaben bezüglich einer vertikalen Fläche (Tür, Wand, Mauer) ausdrücken. Dem tschechischen bít na dveře (na + Akk.)1100 entspricht dabei in Kafkas Manuskript:

1098 Kischs Beispiele lauten u. a. darauf gewöhnt (tsch. zvyklý něčemu), auf etwas denken (tsch. myslet na něco), an etwas vergessen (tsch. zapomínat na něco), etwas auf etwas brauchen (tsch. potřebovat něco na něco). 1099 S. hierzu bes. Bednarský (1995; 2002) und Štícha (2003: 574–575, 577–578, 581–582). 1100 Vgl. hierzu Herzer/Prach (1909b: 925), Sterzinger (1935: 202, 945) und Siebenschein (1944: 523; 1944–1948: 129).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

an die Türe schlagen

×

489

auf die Türe schlagen

sie […] schlugen dumpf an Klamms Tür

Warum s(hA>c)hlagen Sie so verrückt auf die

(S.68/21–24), fieng er […] an eine[r] […] Türe

Tür{?} (Vv.8/24–25=Dv.66/24–25).

zu schlagen an (Vv.8/21–22=Dv.66/21–22), wenn man an die Türe schlug (V.97/21), das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner (F>T)ür (N1v.351/27–352/1=Dv.281/19).

Auch die im Tschechischen durch na (+ Lok.) ausgedrückte Befindlichkeit an den vertikalen Flächen Mauer und Wand (na zdi, stěně) (Sterzinger 1916: 226) wurde im Korpus sowohl mithilfe von an als auch auf konstruiert: an der Mauer, Wand (befindlich)

×

auf der Mauer, Wand (befindlich)

auf dem Balkon an der Hausmauer

wilde Plakate […] erscheinen auf den Mauern

(N2.243/13–14).

hie und da (Dv.401/1–2,79*–81*).

fiel K. an der Wand ein dunkles Porträt […]

die in einer a(uf>an) der Wand aufgehängten

auf (S.15/9–10), an der Wand paar Heili-

Matte steckten (Pv.20/3–14(2)), eine Dienst-

genbilder und Photographien (S.41/8–9), in

ordnung [für] d(ie>er) Lifts, die auf der Wand

dem an der Rückwand aufgehängten Gold-

aufgenagelt war (Vv.225/12–13), Auf der Wand

rahmenspiegel (N1.59/18–19; vgl. N1.126/20–

mir gegenüber ist ein kleines Bild (N1.312/10–

22), Über dem Tisch ist in Griffnähe an der

11), das Tier […] hält […] sich wenigstens in

Wand ein Brett angebracht (N1.236/11–12),

gleicher Höhe auf der gegenüberliegenden

Mein Telephon ist an der Zimmerwand ange-

Wand auf (N2.407/27–408/4).

bracht (N1.371/16), Immer an diese{r} Kistenwand [gedrückt] (N1v.396/1=Dv.304/9–10), an der Wand das Bild der Alexanderschlacht (N2.76/7–8), an der Wand ein Bild der Alexanderschlacht (N2.133/10–11), da sah er an der […] Wand auffallend das Bild (D.165/15–16), Da kreuzten sich ihre Blicke mit denen Gregors an der Wand (D.165/27–166/1), ein tiefer […] an den Wänden […] verräucherter Raum (D.246/7–9).

490

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Wo tschechisch stát/být (psáno) mit na (+ Lok.) verwendet werden würde (na dveřích) (Sterzinger 1935: 717; Siebenschein 1944: 768), finden sich bei Kafka folgende Varianten: an der Türe (geschrieben) sein

×

Und wäre an der Tür sein Name (S.287/6–7).

auf der Türe (geschrieben) stehen Auf der Tür steht {nur} „Harras, Bureau“ (N1v.370/18–19).

Weiter konnten Objekte, die man laut Grammatik an der Brust bzw. am Anzug trägt (Knopf, Medaille, Orden, Tafel), bei Kafka auch auf denselben getragen werden. Im Tschechischen (Sterzinger 1931: 656; Siebenschein 1939–1940: 853) würden ähnliche Lokalangaben erneut mit na (+ Lok.) ausgedrückt werden (nosit/mít knoflík, vyznamenání, řad, desku na hrudi/prsech, obleku): (etwas) an der Brust, am Anzug (tragen/ haben)

×

(etwas) auf der Brust (tragen/haben)

[an dem Goldknopf, den diese an ihrem Civil­

einen Teil der Ordensreihe auf der Brust des

anzug unter den gewöhnlichen Knöpfen hatten]

andern (V.20/27–21/1=D.78/26–27), die auf

(Pv.223/3–5(1)), [eine kleine an der Brust zu

Brust und Rücken große Tafeln trugen, auf wel-

tragende Medaille] (N1v.215/5(1)).

chen […] Vergnügungen angekündigt waren (N1.21/2–4).

Auffällig sind nicht zuletzt Einzelbelege, in welchen Gegenstände (Lampione, Flaggen, Hüte, Uhren) oder Lebewesen nicht an, sondern auf länglichen, stangenartigen Körpern (Stange, Mast, Stab, Kreuz, Gitter) in vertikaler Ausrichtung angebracht wurden – Lokalangaben, die im Tschechischen sämtlich na (+ Lok.) verlangen (na tyči, stožáru, holi, kříži, mříži) (Sterzinger 1920: 1397; 1935: 658, 678; Siebenschein 1939–1940: 673; 1944: 740, 752): {schwenkten} auf hohen Stangen Lampione (Vv.322/1), Auf ihren Masten trugen sie schmale aber lange Flaggen (V.19/17–18=D.77/15–16), in der auf Stäbchen kleine Herrenhüte […] hiengen (N1.18/9–10), schwere Straßenuhren ([mit]>auf) dünnen Stäben (N1v.21/1–2), Die Märtyrer unterschätzen den Leib nicht, [denn] sie lassen ihn [kreuzigen] auf dem Kreuz erhöh(n>en) (N2v.51/8–9), die besten 1101

Laufmöglichkeiten hat es auf dem Gitter (N2.409/13–14).

1101 Gemeint ist ein Tier; das genannte Gitter ist an der Wand einer Synagoge angebracht.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

491

In einer zweiten Gruppe von Belegen werden, alternativ mit an oder auf, Befindlichkeiten mit Kontakt in der Horizontalen umschrieben, allerdings oberhalb des Betrachters/ Erzählers: an der Decke

×

auf der Decke oben auf der Decke hieng er gern (Dv.159/19).

die [Petro]leumflamme […], die gelb an der Waggondecke brannte (N1v.34/22–23), irgendein Künstlerpaar oben an der Decke an Trapezen hantieren sehen (N1.396/19– 20=D.304/26–305/1), ein […] an der Decke verräucherter Raum (D.246/7–9). an der Brüstung

×

auf der Brüstung

oben an der Wandbrüstung verfolgten […]

und erhob eine Hand auf der Brüstung

Gesichter, die überdies kein Weilchen lang

(P.288/2–3), etwas bewegte sich auf der Brü-

ruhig an ihrer Stelle ([v]>b)lieben, [die] alle

stung (N2.310/15–16).

Vorgänge (Sv.435/4–7). am Himmel

×

auf dem Himmel

{(sa >d)ann sah man} [Die] Lerchen [flo-

so gingen mir auf dem großausgebreiteten Him-

gen] hoch am Himmel {fliegen} (Vv.143/7–

mel die Sterne […] auf (N1.74/23–24), gingen

8(2)), die Sterne standen schon am Himmel

mir auf dem Himmel die Sterne langsam auf

(V.296/27–297/1), Am Himmel lag vor der

(N1.142/23–24), will er (au>in) den Him-

Sonne eine feuchte Wolke (N1.81/10–11), Sterne

mel (N2v.63/15(1)), nach den Sternen […],

am Himmel (N1.191/17).

die sich gleich auf dem Himmel zeigen wer-

A

den (D.412/5–7).

Die jeweiligen Lokalangaben wären im Tschechischen auch in diesen Fällen mit der Präposition na (+ Lok.) zu bilden (na stropu, balustrádě, nebi). In den angeführten Zusammenhängen läuft die Verwendung von auf allerdings der von den zeitgenössischen Kodizes vermittelten Norm zuwider: „An bezeichnet die Berührung an der Seitenfläche; auf bezeichnet die Berührung an der nach oben gewandten Fläche eines

492

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Gegenstandes“ (Willomitzer 61894: 66).1102 Die von Bednarský (2002: 129) durchgeführte vergleichende funktionale Analyse der relationierenden Prozeduren von an und auf hat zwar eine jeweils unterschiedliche Qualität von Kontakt/Berührung ergeben: So könne „der Bezug mit an als loser, aufhebbarer Kontakt mit dem Bezug von auf als fester [!], schwer zu lösende Berührung kontrastiert werden.“ In Kafkas Beispielen befinden sich jedoch Bilder an wie auf der Wand, Sterne an wie auf dem Himmel, ohne dass jeweils eine stärkere1103 oder schwächere Bindung angedeutet wäre. Umgekehrt ist es schwer vorstellbar, dass ein Balkon (N2.243/13–14) oder ein Wandregal (N1.236/11–12) ,lockerer‘ an Mauer oder Wand montiert, eine Lampe (N1v.34/22–23) ,loser‘ an einer Decke ­befestigt sein könnten, als sich ein Tier auf Wand oder Decke befindet (N2.407/27–408/4; Dv.159/19). Der Textbefund lässt den Eindruck entstehen, die Entscheidung für an oder auf habe bei Kafka, besonders hinsichtlich der Berührung einer vertikalen Fläche, nur einen geringen semantischen Unterschied evoziert. Die in den Beispielen zu Mauer/ Wand häufigere Verwendung von an (13 Belege bzw. 72,22 Prozent) und die einmalige Autokorrektur Kafkas von auf zu an (Pv.20/3–14(2)) sprechen dafür, dass in auf die primärsprachlich induzierte Abweichung von einer prinzipiell internalisierten, schulisch vermittelten Norm vermutet werden kann. An anderer Stelle scheint auf der Norm aus idiomatischer Sicht zuwider zu laufen: Das Substantiv Ufer z. B. verlangt im Standarddeutschen bei Lokalbezug die Präposition an.1104 Dem tschechischen na břehu (na + Lok.) entspricht im Korpus aber genauso auf dem Ufer:

1102 Vgl. analog Kummer (31892: 80), Lehmann (71892: 97) und Sterzinger (1916: 429). Weder Grimm/ Grimm (1854: 602–617) noch reichsdeutsche (Paul 21908: 37–39; Weigand 51909: 99–100; Sanders 8 1910: 42) noch österreichische Nachschlagewerke (Sterzinger 1916: 420–423; Pinloche 21931: 19; Siebenschein 1936–1938: 193–194) führen Beispiele an, die mit Kafkas auf-Belegen vergleichbar sind. 1103 Eine Ausnahme bildet hier V.225/12–13. 1104 Vgl. u. a. Lehmann (71892: 97), Heyne (21906b: 1114–1115), Herzer/Prach (1909a: 75), Sterzinger (1935: 986), Siebenschein (1944–1948: 76) und Grimm/Grimm (1956a: 716–718).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

am Ufer

×

493

auf dem Ufer

Die Stadtviertel am andern Ufer (N1.63/6–

Auf beiden Ufern fuhren hin und wieder schie-

7=N1.130/15–16), (A>a)uf einer Bank

bende Züge (N1.64/2–3=N1.131/21–22).

am Ufer eines Flusses (N1v.63/24–25; vgl. N1.117/15–16), Auch am andern Ufer waren Wiesen (N1.77/1), Lieber Herr am Ufer (N1.84/7), Ich […] stand am Ufer und sah es (N1.111/15–16), dann waren am andern Ufer so wolkenhafte Berge (N1.117/19–20), nährt [aber] [auch] kräftiger das Land an seinen langen Ufern (N1v.346/5(3)), [also am Ufer des Geb(ri>ir)gs‑|] (N2v.223/7(2)), die Häuser […] an seinen Ufern (N2.230/21–22), Die Freunde standen am Ufer (N2.558/1), Die Anhöhen am andern Ufer (Dv.43/10–11).

In einem speziellen Kontext mutet an auch in Verbindung mit dem Verb verweisen ungewöhnlich an: Die Kodizes lassen für tschechisch odkázat někoho na něco zwar jemanden auf wie jemanden an etwas/eine Sache verweisen gelten; für tschechisch odkázat někoho na někoho sehen sie dagegen nur jemanden an jemanden/eine Person verweisen als korrekt an.1105 Im Korpus findet im zweiten Fall jedoch auch auf Verwendung: jemanden an jemanden verweisen

×

jemanden auf jemanden verweisen

werden Sie in amtlicher Hinsicht ausschließlich

denn sie verwiesen [mich] {ihn} im Grund

an mich […] verwiesen (S.114/10–12).

nur auf ihn selbst (Sv.53/27–54/1), indem sie Dich auf den Gemeindevorsteher verwiesen (S.363/2–3).

Besonders anschaulich lassen sich Kafkas an/auf-Schwankungen anhand des Variantenpaares an bzw. auf dem Trapez1106 demonstrieren: Das Sitzen oberhalb der Trapez-Stange wurde in der Handschrift korrekt mit der Präposition auf verknüpft, eine arbeitende

1105 Vgl. Herzer/Prach (1909b: 1226), Sterzinger (1935: 1219) und Siebenschein (1944–1948: 429). Somit erweist sich z. B. die Belegstelle Grundsätze […] verwiesen ihn auf die Nacht (N1.226/26– 227/1) als phraseologisch normkonform. 1106 Vgl. tsch. jeweils na visuté hrazdě (Sterzinger 1935: 908).

494

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Tätigkeit (turnen, schweben etc.) in Zusammenhang mit Trapezen ebenso korrekt mit der Präposition an (DFW 1981: 427): an dem Trapez

×

auf dem Trapez

irgendein Künstlerpaar […] an Trape­zen han-

daß er […] Tag und Nacht auf dem Trapeze

tieren sehen (N1.396/19–20=­D.304/26–305/1).

blieb (D.317/7–9), dann sa([hA]>s)sen sie (a>b)eide auf dem Trep(pA>e)z (Dv.318/10).

Durch Perspektivenwechsel motivierte Autokorrekturen unterstreichen, dass sich Kafka dieses Unterschiedes grundsätzlich bewusst war: wenn der Trapezkünstler […] {wieder} oben [auf] {an} seinem Trapeze [sass] [{war}] {hing} (Dv.319/14–17(2)). An anderer Stelle aber widersprechen Fälle, in welchen trapezbezogene Tätigkeiten mittels auf formuliert werden, dieser Zuordnung: ich will nicht mehr nur auf einem (P>T)rapez turnen (Dv.319/26–320/13,6*(2)), daß er nun niemals mehr […] nur auf einem Trapeze turnen werde (Dv.320/6–7), daß er den {Trapez}Künstler solange Zeit nur auf einem Trapez hatte arbeiten lassen (Dv.320/26–27).

Erneut könnte man meinen, Kafka habe bei der Niederschrift der beiden relationierenden Prozeduren kaum einen Unterschied zwischen dem Gebrauch von an und auf empfunden. Besonderheiten ergeben sich im Korpus ferner dort, wo die Wahl zwischen an und auf an sich durch das Verb festgelegt ist, z. B. an Stellen, an welchen das intransitive hängen mit der Präposition auf (tsch. viset na + Lok.) statt mit an verbunden wurde, eine Konstruktion, die nach Ansicht der zeitgenössischen Grammatiken nicht der Norm entsprach:1107 an etwas hängen

×

auf etwas hängen

An der Klinke […] hieng eine weisse Blu(ss>s)e

ein Strick […], auf dem die zum Trocknen

(Pv.20/6–7(2)), die Bluse hieng nicht mehr an

bestimmte Wäsche hieng (P.54/17–19), wo

der Fensterklinke (P.36/5–6), An der Fenster-

meistens sonderbare Dinge, die er nie gese-

klinke hängt […] eine weiße Bluse (P.44/22–

hen hatte, […] auf den Kleiderrechen hiengen

24), Ein{e} gross(es>e) (x>P)latte Weißblech,

(V.189/21–23), alle Kleider auf den Kleider-

die an der Wand hieng (Pv.188/21–22), die

ständern (V.264/3).

1107 Bei Grimm/Grimm (1877: 441–451), Heyne (21906: 46–47), Sterzinger (1920: 687) und Siebenschein (1939–1940: 295) findet sich die Verbindung von hängen (intransitiv) mit auf nicht.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

495

an einem um die Weste gespannten Gürtel hing (P.311/17–18), [an der Wand hieng die Matte] (Pv.325/23), eine neue Photographie hing jetzt an der Wand (Sv.117/25(1)), das Diplom, das an der Wand hing (S.322/11), de(r>n) {er} an einer Halsschnur [hieng] {trug} (Vv.298/26–27), ein an der Wand hängendes Bild (N1.219/27), Ich besitze fünf Kindergewehre, sie hängen in meinem Kasten, [einer neben dem] {an jedem Haken einers} (N1v.329/9–10(3)), wenn es an der […] Wand hieng (N1.371/18–19), Eine ungeschützte Glühbirne [hieng von der Decke an einer Schnur herab] (N2v.286/18), d(er>ie) innen an der Tür hängende {dunkle} Portiere (N2v.556/8– 9), Gerade an der gegenüberliegenden Wand hieng eine Photographie (Dv.135/10–11), während der Schlafrock nutzlos am Kleide(hA>r)­ haken hing (Dv.173/19–20).

Schwankungen zwischen (normkonformem) an und (normwidrigem) auf unterliefen Kafka ebenso beim reflexiv verwendeten Verb stützen:1108 sich an etwas stützen

×

sich auf etwas stützen

stützte mich an eine mondbeschienene Häu-

Die Leute stützten sich mit den Händen auf

sermauer (N1.59/26–27), Die Frauen stütz-

ihre Knie (P.61/13–14), stützte sich […] auf den

ten si(e>c)h gerade im Nebenzimmer an den

Schreibtisch (P.175/13–14), stützte {sich} […]

Schreibtisch (Dv.165/11–12).

auf die Kissen (Pv.252/5–6), Er stützte sich auf sein Schwert (P.281/4), stützte sich […] auf das […] vor ihm eingestemmte Bambusstöckchen (V.39/9–11), auf den Chauffeur gestützt (V.282/10), mit der einen Hand auf den Schirm gestützt (N1.29/15–16), stützte mich

1108 Vgl. Grimm/Grimm (1942: 777–781) und Siebenschein (1944: 442). Nur Sterzinger (1935: 806) hält die Wendung sich an eine Wand stützen für zulässig.

496

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

auf das vorgestreckte rechte Bein (N1.155/22– 23), um sich nur auf die Fußspitzen zu stützen (N1.173/27–174/1), geht der Fürst auf den Krückstock gestützt (N2.418/22–23), hie und da auf den Stock gestützt (N2.419/5), auf die Knie gestützt (D.23/9–10), auf die beiden Frauen gestützt (D.174/23–24), eine Kurbelstange, auf die er sich stützte (D.205/21), stützte sich mit einer Hand auf sein Gewehr (D.206/27–207/1), Ich trat mit dem rechten Beine vor und stützte mich darauf (D.385/7–8).

Umgekehrt hinterließ Kafka auch Beispiele für Konstruktionen mit dem reflexiven/ transitiven Verb lehnen und der Präposition auf (statt normkonformer an),1109 eine Verbindung, die z. B. Bednarský (2002: 131–132) als ungrammatisch betrachtet: sich/etwas an etwas lehnen

×

sich/etwas auf etwas lehnen

eine Hakenstange die an der Wand lehnte

[auf seinen Besen ge(lehnt>stützt)] (Sv.208/23),

(P.100/7–8), K.  lehnte an einem Sessel

Leute, welche [angelehnt] (auf>in) den gepol-

(P.131/24), sie lehnte still den Kopf an seine

sterten Sitzen lehnten (N1v.13/4–5), Einmal

Schulter (P.142/14–15), [Wie] {Als} dann

glitt seine rechte Hand vom Oberschenkel, auf

die zwei sich an den Schreibtisch lehnten

den er sie gelehnt hatte, hinab (N1.41/2–3).

(Pv.174/2–3), lehnte mit den Elbogen an der vordersten Kirchenbank (P.285/23), lehnten ihn an den Stein (P.311/7), an der Tür gelehnt (S.46/19–20; vgl. S.76/14), lehnte sich neben K. an die Wand (S.142/26–27; vgl. S.458/26), angelehnt an die ([L]ax>Mau)er (Sv.162/3– 4), [lehnte sich vorn an den Tisch] (Sv.210/20), [lehnte sich an den Bettpfosten] (Sv.126/15(2); vgl. V.120/2), an einem Spritzenhebel gelehnt (S.299/11), Frieda hatte[n] ihren Kopf an K.’s Schulter gelehnt (Sv.398/21–22), aufs Bett

1109 Vgl. hierzu z. B. Siebenschein (1939–1940: 743). Sterzinger (1931: 1591) und Heyne (21906a: 600) führen allerdings lehnen auf den Wanderstock (Uhland) bzw. auf dieses Rohr an.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

gesetzt und an den Pfosten gelehnt (S.407/2– 3), der mit dem Rücken an der Wand lehnte (V.121/16–17), lehnten sie beide an einer Hausmauer (V.200/16–17), der den Kopf an ihn lehnte (V.270/3–4), lehnte sich an den Motorkasten (V.275/10), lehnte sich […] an die Wand (V.285/27–286/1), lehnte sich ans Geländer (V.307/16), an Bäumchen gelehnt (N1.29/1), Raban lehnte sich (an>zu)rück (N1v.34/4–5(1)), die Wand, an der er lehnte (N1.41/1), lehnte den Schirm an einen Türstein (N1.51/12), den Kopf an den Stamm gelehnt (N1.76/23–24=N1.144/24–25), sie lehnen sich ans Klavier (N1.97/13), lehnte sein dickes Gesicht an die niedrige Lehne der Bank (N1.115/26–27), lehnte sich an mich (N1.120/6), bleibt noch ein wenig an der Wand lehnen (N1.262/17–18), ich […] lehne die Pfeife ans Bett (N1v.270/3–6(1)157*–158*), bleibt dort nun a(m>n d)en Pult gelehnt stehn (N2v.266/1–2), an eine Säule des Tores gelehnt (N2.279/20), lehnt sich dann wohl auch an die Brüstung (N2.328/12–13), Der Bauer stand an die T(ixx>ü)r gelehnt (N2v.344/3–4), sie lehnten an den Möbeln (N2.493/3–4), an der Wand des Verschlages lehnen (N2.557/2), lehnte sein Gesicht […] an ihn (Dv.15/19– 20), lehnt die Wange an die Klinke des Fensters (D.24/19), vielleicht lehnten alle an der Türe (D.132/19–20), lehnte sich {von innen} an den festgeriegelten Türflügel (Dv.134/23), sich ans Fenster zu le(gen>hn)en (Dv.155/20(1)), der Vater lehnte an der Tür (D.184/7), an das Geländer gelehnt (D.197/18–19), lehnten […] an den Haltestricken (D.318/10–11), an einen

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498

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

der zwei Flügel des Apparats gelehnt (D.405/18–19), Sie lehnte ihr Köpfchen an das Birkengeländer (D.415/12–13).

Auch wenn die tschechischen Äquivalente des intransitiven Verbs hängen (opřít/podepřít) und des reflexiven/transitiven Verbs lehnen (opírat/podpírat se/něco) nicht die Präposition na, sondern o (+ Lok.) fordern,1110 zeugt der Befund doch von einer gewissen punktuellen Unsicherheit bzw. Beliebigkeit Kafkas bei der Entscheidung zwischen an und auf.1111 Durch die deutlich seltenere Setzung der jeweils ,ungewöhnlicheren‘ Präposition bei hängen (auf),1112 stützen (an)1113 und lehnen (auf)1114 wird allerdings ersichtlich, dass Kafka die schulisch vermittelte Norm kannte und im Prinzip als gültig betrachtete. Wo Kollokationen, deren tschechische Entsprechungen mit na (+ Akk./Lok.) gebildet werden, ein normwidriges auf statt an (oder umgekehrt) aufweisen, liegen weitere Indizien dafür vor, dass die Unterdifferenzierung der tschechischen Präposition na gegenüber ihren deutschen Äquivalenten eine Rolle bei Kafkas an/auf-Auffälligkeiten gespielt haben könnte. Unter den Phrasemen aus dem Wortfeld Leib z. B. schreiben die Kodizes die Bildung auf den Leib schicken/rücken vor. Die Präposition an sei dagegen bei etwas am Leibe erfahren etc. zu verwenden.1115 Diesen Richtlinien entsprach Kafka stellenweise: dem man gleich eine Untersuchungskommission auf den Leib schickt (P.42/6–8), allerdings gingen diese Bedenken wohl an den Leib (D.418/10–11).

1110 Vgl. Herzer/Prach (1909b: 1337), Sterzinger (1931: 1591; 1935: 806) und Siebenschein (1939–1940: 743; 1944: 442). 1111 Vgl. auch andere Belege für Wendungen aus dem in Prag verwendeten Deutsch, in welchen auf an die Stelle von an (oder anderer Präpositionen) tritt, obwohl die entsprechende tschechische Konstruktion ohne na auskommt: Scherz auf (,bei‘) Seite (tsch. bez žertu) (Schuchardt 1884: 115), auf (,an‘) bestimmte Stunden gebunden (tsch. být vázan určitými hodinami) (PP 1921c: 15), darauf (,daran‘) gewöhnt (tsch. zvyklý něčemu) (Kisch 1992: 249). 1112 In drei von 19 Fällen (zu 15,79 Prozent) wurde auf verwendet. 1113 In zwei von 18 Fällen (zu 11,11 Prozent) fand an Verwendung. 1114 Kafka setzte in drei von 52 Fällen (zu 5,77 Prozent) auf und berichtigte zudem zwei von drei Stellen mittels einer anderen Präposition bzw. eines anderen Verbs (s. o.). 1115 Vgl. tsch. doražet/dotírat na někoho (,jemandem auf den Leib rücken‘), pocítit na sobě/těle (,am eigenen Leibe verspüren‘) und na sebe/tělo (,an den Leib‘) bei Sterzinger (1920: 653; 1931: 1599) und Siebenschein (1939–1940: 280, 745).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Häufiger jedoch verstieß er durch die Wahl der Präposition dagegen: {wenn mir jetzt der Proceß} […] immer näher an den Leib rückt (Pv.254/16–18(2)), Volk[, das ihm immer näher an den Leib rückt] (N1v.288/9,66*–67*(3)), Lebensgefahr auf dem Leibe (D.30/7), Er erfährt es ja auf seinem Leib (D.211/12–13).

Normabweichungen sind ferner zu konstatieren, wo die Wendung jemanden auf etwas aufmerksam machen1116 mit an und die Wendung etwas ist hier nicht am Platze1117 mit auf gebildet wurden: daß er endlich dar(an>auf) aufmerksam gemacht hatte (Dv.321/1–2(1)), Wenn nur der Heizer besser 1118

auf dem Platze gewesen wäre (V.32/24–25=D.90/20–21).

An weiteren Stellen im Korpus erweist sich der Gebrauch von an und auf ebenfalls jeweils als genau konträr zu den idiomatischen Vorgaben zeitgenössischer Wörterbücher: 1119

Männer […], die [mit] Besen an der Schulter trugen (Vv.18/27–19/1=Dv.76/25–26),

während ich

den Mißerfolg anziehe[, ohne ihn von] {und auf} Euch [abwehren zu können. Ihr selbst] weiterleite 1120

(N1v.207/21–22),

Feldarbeiter fanden […] {unten} auf de(m>r) Straßen[rand]{böschung} einen 1121

alten ganz zusammengesunkenen Mann (N2v.289/20–22),

Die hohen Fenster des Korridors führ1122

ten (in >a)uf einen unübersehbaren [vielfach] blühenden [rauschenden] Garten (N2v.574/4–5). A

1116 Vgl. tsch. upozornit někoho na něco bei Sterzinger (1916: 458), Herzer/Prach (1920: 1381) und Siebenschein (1936–1938: 207). 1117 Vgl. tsch. není to zde na místě bei Sterzinger (1931: 800) und Siebenschein (1944: 213). 1118 Angesichts der festgestellten Neigung Kafkas, am als Verschmelzungsform von auf dem zu verwenden (vgl. Kap. 5.2.7.3.1), könnte auch den folgenden Textstellen u. U. ein auf dem zugrunde liegen: was auch gar nicht am Platze war (P.35/7), der Diener […] glaubte, er sei […] nicht mehr am Platze (V.22/7–9=D.80/5–7). 1119 Vgl. etwas auf der Schulter tragen (tsch. vést/nosit něco na plecech/zádech) bei Sterzinger (1935: 348) und Siebenschein (1944: 588). 1120 Vgl. etwas an jemanden weiterleiten (tsch. postoupit/pod(áv)at něco něčemu) bei Sterzinger (1931: 1627) und Siebenschein (1944–1948: 550). 1121 Vgl. am Straßenrand (tsch. na (o)kraj silnice) bei Sterzinger (1935: 777) und Siebenschein (1944: 815). 1122 Vgl. in den Garten führen (tsch. vést do zahrady) bei Sterzinger (1920: 242) und Siebenschein (1939–1940: 104).

500

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Weitere Sofortkorrekturen ergänzen den Eindruck punktuellen Schwankens bei der Setzung von an und auf, auch wenn in den folgenden Beispielen jeweils auch plötzliche Perspektivenwechsel des Schreibenden die Auswechslung der Präposition veranlasst haben könnten:1123 wo ringsherum au[f] den Tischen warme Fleischspeisen mit schönen gelben Kartoffeln gegessen wurden (Vv.155/18–20), er wollte sich […] [auf] {an} diese weithin übersichtliche Straße halten (Vv.284/23–25), sie […] erhob sich mühselig, die Hand a(n>uf) der Kohlenkiste (Vv.365/9–10), lehnte sich halb liegend (auf>an) (das>ihr) Bündel (N1v.34/9), das Eiter- und Wurmfleisch (seiner>ihre){r} Zunge (auf>an) 1124

meiner Hand (N2v.37/18–19; vgl. N2.115/11–12).

Beim Blick auf die zu Kafkas Lebzeiten erschienene Prosa und auf Brods Werkausgabe überrascht die geringe Zahl editorischer Eingriffe. Max Brod glaubte nur im Manuskript des Verschollenen zweimal auf zu an korrigieren zu müssen (Kafka 1953b: 165, 196):1125 wo meistens sonderbare Dinge, […] auf den Kleiderrechen hiengen (V.189/21–23), eine Dienstordnung [für] d(ie>er) Lifts, die auf der Wand aufgenagelt war (Vv.225/12–13).

Ansonsten lassen sich nur zwei Verlagseingriffe nachweisen: Der Kurt Wolff Verlag verbesserte in der Zweitausgabe der Verwandlung an der Stelle oben auf der Decke hieng er gern (Dv.159/19) die Präposition zu an. Die Prager Presse wiederum hob beim Zweitabdruck von Erstes Leid Kafkas Berichtigung der Textstelle wenn der Trapezkünstler […] {wieder} oben [auf] {an} seinem Trapeze [sass] [{war}] {hing} (Dv.319/14–17(2)) auf und stellte das vom Autor gestrichene auf wieder her. Max Brod ignorierte diese Korrekturen allerdings und kehrte in beiden Fällen zu Kafkas Fassung letzter Hand zurück (Kafka 1967b: 108, 246).

1123 Denkbar wäre z. B.: auf den Tischen [gedacht: … standen/lagen] > an den Tischen [realisiert: … gegessen wurden]; er wollte sich […] auf [gedacht: … den Beinen halten] > an [realisiert: diese … Straße halten] etc. 1124 Vgl. die Autokorrekturen unter den Belegen zu Wand, Himmel, Trapez sowie lehnen, führen und aufmerksam machen (s. o.). 1125 An allen sonstigen Stellen folgte Brod der Handschrift (Kafka 1953a: 14, 31, 311, 400; 1953b: 10, 18, 30, 32, 228; 31954: 16, 25, 131; 1964: 48, 334, 401; 1965: 48, 224, 252; 1967b: 117, 205, 243, 244).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

501

Auch wenn sich in Brods Prosa nichts Vergleichbares findet,1126 könnte seine weitgehende Autograph-Treue dafür sprechen, dass die auffällige Präpositionalverwendung im Prag des frühen 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer starken Präsenz im täglich hör- und lesbaren Deutsch nichts Ungewöhnliches darstellte. Diese Vermutung stützen Belegstellen in der Prosa von Kisch, an welchen an und auf ebenfalls scheinbar verwechselt oder wahlweise in identischen Phrasemen verwendet werden.1127 Dass Prager Tageszeitungen (etwa die Bohemia) die für heutige Leser z. T. ungewöhnlich eingesetzten Präpositionen anstandslos im Druck wiedergaben (z. B. D.412/5–7), ist nicht verwunderlich: Denn auch im Deutsch der örtlichen Medien können Besonderheiten festgestellt werden, die den hier betrachteten an/auf-Schwankungen Kafkas gleichen.1128 Eine quantitative Auswertung aller hier diskutierten Textstellen, an welchen Verstöße gegen die in der k. u. k. Monarchie gelehrte Schriftnorm1129 vorliegen, ergibt ein deutlich häufigeres normwidriges auf anstelle von normkonformem an (34 Belege bzw. 87,18 Prozent) im Vergleich zum umgekehrten Fall (fünf Belege bzw. 12,82 Prozent). Analoge Verhältnisse dokumentieren Kafkas Autokorrekturen: Sie führten in elf von 13 Fällen (zu 84,62 Prozent) zur Berichtigung eines bereits niedergeschriebenen auf zugunsten von an (bzw. in)1130 oder substituierten eine an sich korrekte, jedoch als falsch beurteilte Präposition durch auf. Und auch die wenigen editorischen Eingriffe von fremder Hand ersetzten in drei von vier Fällen (zu 75 Prozent) ein als unzulässig empfundenes auf durch an.1131 Dieser Befund korrespondiert in auffälliger Weise mit den eingangs angeführten Beobachtungen von Schuchardt (1884: 115–116) und Teweles (1884: 104–105), dass tschechische (bzw. slawische) Interferenzen im Deutschen in der Mehrheit der Fälle zur Wiedergabe eines muttersprachlichen na als auf führten, während an statt auf seltener

1126 In sein Reisetagebuch von 1911 schrieb er allerdings: „Man geht die unvermeidliche Treppe empor, Spiegel auf der Decke und zur Seite“ (Brod/Kafka 1987: 96). 1127 Vgl. Sie hat solche rötliche Flecken an [,auf ‘] der Haut (Kisch 51922: 129), einen teueren alten Ring auf [,an‘] dem Finger (Kisch 51922: 14–15), Brillianten? Ja, so etwas funkelte auf [,an‘] der linken Hand (Kisch 51922: 196), von klein an (Kisch 51922: 93) × von klein auf (Kisch 51922: 140). 1128 Vgl. z. B. auf [,an‘] bestimmte Stunden gebunden (PP 1921c: 15) – vgl. tsch. být vázáný něčím (,an etwas gebunden sein‘), auf [,für‘] eine Stunde unterbrochen (PP 1921a: 4) – vgl. tsch. přerušit na hodinu (,für eine Stunde unterbrechen‘), die Halbzucker- […] und Futterrübe auf [,zu‘] Alkohol verarbeitet (PP 1921c: 8) – vgl. tsch. zpracovat něco na něco (,etwas zu etwas verarbeiten‘). 1129 Nicht berücksichtigt werden das diachron in Österreich u. U. zulässige sich stützen an (Sterzinger 1935: 806) und das offenbar gemeindeutsche sich lehnen auf (Sterzinger 1931: 1591; Heyne 21906: 600). 1130 Im Einzelfall wurde auch ein anderes Verb gewählt, das grammatisch/phraseologisch zu auf passte. 1131 Der einzige umgekehrte Fall geht wohl nicht von ungefähr gerade auf ein Prager Publikationsorgan zurück.

502

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

vorkomme.1132 Die Summe der Indizien lässt somit den Schluss zu, dass Kafkas Schwankungen zwischen an und auf als charakteristisch für das Deutsch der böhmischen Länder betrachtet und vermutlich auf den deutsch-tschechischen Sprachen-Kontakt zurückgeführt werden können. Als Regionalismen standardsprachlicher Qualität lassen sie sich unter B1/rS(kT)[BL] kategorisieren.1133 5.2.7.3.3  Die Konstruktion vergessen an (+ Akk.) Als eine der am häufigsten genannten syntaktischen Besonderheiten in Kafkas Handschriften hat sich die ,berüchtigte‘ Konstruktion vergessen an (+ Akk.) in der Sekundärliteratur etabliert.1134 Ihre Herkunft wurde dabei unterschiedlich lokalisiert; sie oszilliert zwischen den Deutungen als bairisch-österreichische oder tschechische Interferenz: Klaus Wagenbach (1958: 84), Emil Skála (1966a: 91) und Gertrude Durusoy-Vermeersch (1969: 194) sahen in ihr ein Merkmal des Prager, besonders des Kleinseitner Deutsch und führten sie auf die tschechische Präposition na (zapomenout na + Akk.) zurück, die im Deutschen als an wiedergegeben werden kann.1135 Hierin übernahmen sie eine Ansicht, die Egon Erwin Kisch (1992: 249) in Umlauf gebracht hatte. Gegenstimmen, wie z. B. Kraus (1921b: 7) und Thieberger (1979: 178), sahen die Wendung dagegen auch außerhalb Prags verbreitet und sprachen von einer bloßen Analogiebildung zu erinnern/denken an. Schon Schuchardt (1884: 119) hatte sie als „vermeintliche Correctur, analog der richtigen von sich auf Etwas erinnern in sich an Etwas erinnern“, gedeutet. Selbst ein jüdischer (d. h. jiddisch-ethnolektaler) Hintergrund wurde früh ins Spiel gebracht, so von Halatschka (1883: 32), Schuchardt (1884: 118) und Kretschmer (1918: 7). Einiges spricht jedoch dafür, dass in dieser Diskussion das Hauptaugenmerk dem Verhältnis der betrachteten Konstruktion zu ihrer Konkurrenzform vergessen auf (+ Akk.) gelten sollte, auf die auch bereits hingewiesen wurde (u. a. Grimm/Grimm 1956a: 420; Rizzo-Baur 1962: 105). Diese von Kafka nicht benutzte Variante war nicht nur in den

1132 Auch Kisch (1992: 249) nannte in seinem Essay überwiegend Beispiele mit normwidrigem auf. 1133 Nicht völlig auszuschließen ist ein interferenzielles Einwirken jiddisch-ethnolektaler Relikte, zumal auch der jiddischen Präposition af/ojf im Deutschen auf wie an entsprechen. Kafkas auf der Wand (Pv.20/3–14(2); V.225/12–13; N1.312/10–11; N2.407/27–408/4) würde jiddisch demnach af der want lauten. Doch kennt das Jiddische auch die Präposition on (,an‘) (Wolf 1962: 151; Lötzsch 1990: 128, 131, 132; Jacobs 2005: 200). 1134 Zur folgenden Diskussion und varietätenlinguistischen Einordnung s. Blahak (2011: 25–32; 2014: 36–41). 1135 S. hierzu Kap. 5.2.7.3.2.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

503

Abb. 20:  Die Verbreitung der Konstruktion vergessen auf (+ Akk.) im deutschen Sprachraum

deutschsprachigen Gebieten der gesamten k. u. k. Monarchie verbreitet,1136 sondern ist darüber hinaus bis heute auch in Altbayern (Eichhoff 1993: 35; K. 3–59; Zehetner 42014: 362) sowie verstreut im obersächsischen Sprachraum (WOM 1996: 461)1137 gebräuchlich.1138 Dagegen ergibt sich für die von Kafka präferierte Form ein geringfügig engeres Verbreitungsareal, dessen Ausdehnung jedoch von der Vorstellung eines ,Pragismus‘ Abstand nehmen lässt: Außer in Wien (Schuchardt 1884: 118; Kraus 1921b: 7) und Prag (Kisch 1992: 249) lässt sich vergessen an auch in der Prosa von Schriftstellern nachweisen, die aus anderen Teilen der Habsburgermonarchie stammten bzw. (was signifikanter ist) dort sozialisiert wurden. Unter ihnen befinden sich Autoren jüdischer Herkunft – etwa Felix

1136 Zu ihrer Verbreitung im gesamten deutsch-österreichischen Sprachraum s. Jungmann (1839: 525), Schiepek (1899: 48), Hausenblas (1914: 95), Paul (1919: 361), Povejšil (1980: 111) und SDW (2003: 138). 1137 Die Einordnung als gesamt-oberdeutsch, die u. a. Schiepek (1899: 481), Grimm/Grimm (1956a: 420), SD (1964a: 107–108), Ebner (21980: 191) und Duden (31999: 4214) vornehmen, scheint angesichts der Belege zu weit gesteckt zu sein. Vgl. die Zurückweisung von Kretschmers (1918: 7) Ausdehnung des Verbreitungsareals auf den alemannischen Sprachraum in SD (1964b: 160) und BWB (1942–1974: 60). 1138 Belege aus dem niederdeutschen Sprachraum (Stellmacher 1994: 257) sind aufgrund der räumlichen Entfernung von den böhmischen Ländern als Ergebnis einer unabhängigen Entwicklung zu betrachten und können hier unberücksichtigt bleiben.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Salten (1911: 38)1139 und Ernst Weiß (1913: 247);1140 zu ihnen gehören aber ebenso nicht jüdische Autoren – z. B. Adalbert Stifter1141 und Hugo Salus (1906: 180–181).1142 Eine zeitgleiche Verwendung ist zudem für Kärnten belegt.1143 Laut Otto Behaghel (1927: 305) stellte vergessen an (neben auf) letztlich eine gesamtösterreichische Form dar.1144 Die konkreten Fälle, in welchen das Verb vergessen im Korpus mit der Präposition an auftritt, bewegen sich ohne Ausnahme innerhalb der semantischen Dimension, in der in Österreich und Altbayern vergessen mit der (grundsätzlich nicht obligatorischen) Präposition auf verbunden werden kann:1145 Diese umfasst (1) ,nicht (rechtzeitig) an etwas (eine Erledigung u. Ä.) denken‘, d. h. ,etwas verschwitzen‘. Entsprechend heißt es bei Kafka:

1139 Er wurde 1869 in Budapest geboren, lebte aber seit seinem ersten Lebensjahr in Wien. Im Jahre 1945 starb er in Zürich. 1140 Er stammte aus Brünn (Brno, Mähren), wo er 1882 geboren wurde. Erst 1902 begann er ein Studium in Prag und Wien. Von 1918 bis 1920 lebte er in Prag, ab 1921 in Berlin. 1933 kehrte er nach Prag zurück. Er starb 1940 in Paris. 1141 Geboren 1805 in Oberplan (Horní Planá, Böhmerwald), verbrachte er seine Schulzeit bis 1826 in Kremsmünster, studierte dann Jura in Wien und lebte von 1848 bis zu seinem Tode 1868 in Linz. Der Hinweis auf das Vorkommen von vergessen an bei Stifter geht auf Thieberger (1979: 178) zurück, der allerdings keine konkreten Belegstellen nannte. Durch Stichproben an einigen Werken Stifters konnte nur die Verwendung von vergessen auf (+ Akk.) nachgewiesen werden (z. B. Stifter 1963: 443; 1964: 223). 1142 Seine Herkunft belegt die Verbreitung der Konstruktion vergessen an (+ Akk.) auch für die ostmitteldeutschen Sprachareale Nordböhmens: Geboren 1866 in Böhmisch Leipa (Česká Lípa), kam Salus erst zum Studium nach Prag, wo er ab 1895 als Gynäkologe arbeitete und 1929 starb. 1143 Vgl. etwa Belege in der 1929 bis 1931 in Klagenfurt erschienenen Alpenländischen Rundschau (Rizzo-Baur 1962: 105). 1144 Ihre diachron nachweisbare inselartige Verbreitung im ostrheinpfälzisch-südhessischen Raum um Mainz, Frankfurt a. Main und Darmstadt (Halatschka 1883: 32; Askenasy 1904: 217; Kretschmer 1918: 7; FWB 1984: 3355) auf stadtmundartlicher Ebene kann für die vorliegende Untersuchung vernachlässigt werden, da es sich hierbei vermutlich um einen ,importierten‘ Austriazismus handelte: SHW (1969–1972: 492) bezeichnet die Form explizit als ,südostdeutsch‘ und zieht im Falle von Mainz eine lokale Verbreitung durch die 4500 Soldaten der 1814 bis 1866 in der örtlichen Bundesfestung stationierten österreichischen Garnison (u. a. Neumann 1986) in Erwägung. Da auch in Frankfurt infolge des ,Wachensturms‘ (1833) bis 1866 per Bundesexekution 2500 österreichische Soldaten stationiert waren (u. a. Leininger/Haupt 1920: 133–148), scheint diese Erklärung durchaus plausibel. Eine folgende Verbreitung auf das nahe gelegene Darmstadt ist zumindest nicht auszuschließen. 1145 Vgl. zu Österreich Ebner (21980: 191), zu Altbayern Zehetner (42014: 362), zum gesamten Verbreitungsgebiet Paul (1919: 361) und Ammon u. a. (2004: 829).

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hatte (F>T)ränen in der Stimme und vergaß natürlich auch an den Handschlag (Pv.35/9–10), {Es ist gerade kein anderes Zimmer frei}. Auch ich habe daran vergessen (Pv.45/26–27), er hatte […] vollständig an Erna vergessen, sogar an ihren Geburtstag hatte er vergessen (P.122/4–7), ich war schon zweimal in der letzten {Zeit} bei (i>I)hnen und habe jedesmal daran vergessen (Pv.180/3–5), Die Frau mußte offenbar gänzlich daran vergessen haben, daß Karl nicht von allem Anfang an zu den Schlossern gehört hatte (V.138/27–139/1), es tat ihm leid, daß er daran vergessen hatte, er hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit […] als schuldlos bezeichnet (V.244/4–6), {fast} völlig daran vergessend, daß der Oberportier sein großer Feind war (Vv.259/5–7), völlig daran vergessend, daß der Oberportier durchaus nicht der Mann war (V.265/3–5), daß ich […] daran vergaß, den Mond aufgehn zu lassen (N1.75/10–13=N1.143/10–13), Er zwinkerte mit den Augen wegen irgendeines Einverständnisses, an das ich offenbar vergessen hatte (N1.127/5–7), Denk Dir, ich hätte an die Gesellschaft ganz vergessen! (N1.167/21–22), die drei Zimmerherrn […] sahen sich erstaunt nach dem Frühstück um, man hatte an sie vergessen (Dv.196/3–5), Wie könnte man aber hier an ein wichtiges Detail vergessen 1146

(D.382/26–27).

Die andere mögliche Bedeutung der Konstruktion lautet (2) ,sich nicht mehr um etwas/ jemanden kümmern‘. Analog findet sich in Kafkas Manuskripten: kurz wir vergaßen an den Untersuchungsrichter und giengen schlafen (P.81/2–3), der {durch} den Brief {an (EA>alle) Eile und Aufregung vergessen hatte} (Pv.122/15–16(2)), Dann aber vergaß er daran und hatte nur noch Augen für die Pflegerin (P.140/18–19), rief K. ganz hingenommen und ganz an die frühere Lächerlichkeit des Kaufmanns vergessend (P.236/2–4), Sie dachten damals also nicht an die großen Advokaten? […] vollständig vergessen kann man leider an sie nicht (P.243/25–244/1), Sie […] haben an Ihr Versprechen vergessen […] Sie wollten mir doch ein Geheimnis sagen (Pv.248/14–15), wenn man mich nicht gewissermaßen gewaltsam an ihn erinnerte, vergaß ich vollständig an ihn (P.253/25–27), Von da an vergaß K. allmählich an das Gericht und die Gedanken an die Bank begannen ihn wieder […] ganz zu erfüllen (P.338/9–10), und fügte in Gedanken Beobachtung an Beobachtung […], er vergaß dann an die große [Organisation und] Arbeit des Gerichtes (Pv.348/24–25), ich habe ja ganz an meinen Koffer vergessen (V.10/4=Dv.68/4), Aber vor dem freundlichen Anblick […] vergaß Karl bald an die Bemerkung des Dieners (V.410/27–411/3), Ich war ja gestern gebeugt von eigenem Glück, aber

1146 Vgl. hierzu auch entsprechende Konstruktionen mit reinem Akkusativ im Proceß: daß die Wächter vergessen hatten, ihn zum [Waschen] Bad zu zwingen (Pv.19/12–13), man hat vergessen, mir zu sagen zu welcher Stunde (P.51/20–21), Ich hatte vergessen, es Euch damals zu schreiben (P.120/20–21), und ver([ fA]>g)aß, daß er den Maler nur hatte ausforschen wollen (P.201/13–14), Ich habe vergessen Sie zunächst zu fragen (P.205/18–19).

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fast vergaß ich an Dich (N1.62/18–19), Und da das Mädchen kam, vergaß ich an den jungen Mann (N1.86/13–14=Dv.385/23–24), wenn ich einen großen Platz zu durchqueren habe, vergesse ich an alles (N1.93/22–23=N1.162/1–2=D.393/5–6), Einige vergaßen geradezu an ihre Kleider […] pressten den Rock in Falten mit großer Kraft an die Brust (N1.173/26–174/2), [Gerade ist ein neues Heft gekommen und Bl. holt es herunter. An den Schnaps vergisst er ganz] (N1v.236/14(1)), vergaß in der Aufregung an alles andere (Dv.129/17), und um so leichter an die Zwischenzeit vergessen kann (Dv.162/4), zwei Frauen […] an deren Existenz er übrigens fast verg(a>e)ssen hatte[n] (Dv.165/7–8(2)), Und während 1147

Curtiss allein dort über den Wäldern arbeitet […], hat die Menge fast an ihn vergessen (D.410/2–4).

Bei der Grundbedeutung ,etwas (Namen, Telefonnummern u. Ä.) aus dem Gedächtnis verlieren‘1148 oder ,etwas versehentlich nicht mitnehmen/stehen lassen‘1149 steht auch im Verbreitungsgebiet der Konstruktion vergessen auf der bloße Akkusativ.1150 Verstöße gegen diese Praxis lassen sich im Korpus nicht nachweisen. Aufgrund dieser weitgehenden semantischen Übereinstimmung liegt es nahe, Kafkas vergessen an als gleichwertige Konkurrenzform zu vergessen auf zu betrachten, die jedoch auf das Deutsch der k. u. k. Monarchie beschränkt war. Die allgemeine Verbreitung in Österreich-Ungarn und die Zugehörigkeit zur hier gültigen Norm des Deutschen wird nicht nur durch den Abdruck in den deutschsprachigen Printmedien Prags evident:1151 Tschechisch-deutsche Wörterbücher führen noch zwei Jahrzehnte nach Kafkas Tod unter dem Lemma zapomínati na koho/co neben vergessen ohne Präposition und vergessen auf1152

1147 Im Proceß lauten entsprechende Stellen mit reinem Akkusativ u. a.: Ja, ich vergesse mich, die wichtigste Person (P.44/24–25), die erste sachliche Frage, die K. (–>a)lles andere vergessen ließ (Pv.200/2–3), [K wollte den Ärger vergessen] (Pv.232/13), Ich lasse mich sonst zu leicht beeinflussen und vergesse meinen Dienst (P.292/1–2), als ob der Gegner vergessen würde, daß er in Gesellschaft […] (v>w)ar (Pv.330/11–13). 1148 Vgl. z. B. daß er niemals den Anblick vergessen werde, wie er mich schlafend gefunden habe (P.81/13– 14), Er hatte die Ausdrücke schon wieder vergessen (P.211/6–7), um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete nicht zu vergessen (P.308/12–13). 1149 Vgl. z. B. Immer war noch […] {ein} Buch vergessen, (der>a)s besonders geholt […] werden mußte (Pv.316/17–20), Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen (V.10/11–12). 1150 Vgl. hierzu Kretschmer (1918: 7), Mally (1976: 107–108), Ammon u. a. (2004: 829) und Zehetner (42014: 362). Heute wird diese Unterscheidung in Österreich jedoch nicht mehr exakt durchgeführt (Ebner 21980: 91). 1151 Vgl. z. B. sie dort an ihre furchtbare Kindheit vergessen zu machen (SW 1921b: 6). 1152 Vgl. z. B. Herzer/Prach (1920: 1768) und Kumprecht (31940: 370). Gelegentlich wird die Konstruktion als ,familiär‘ bezeichnet, so etwa bei Hulík (21944: 780).

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auch vergessen an als Äquivalent auf.1153 Die Zugehörigkeit zum gesamtösterreichischen Standard erweist auch ein Blick in den serbokroatischen Sprachraum, wo vergessen an in zeitgenössischen Nachschlagewerken verzeichnet ist.1154 Die Druckgeschichte einiger zu Kafkas Lebzeiten erschienener Werke macht ebenfalls deutlich, dass man vergessen an in Prag zur Schriftsprache zählte. Sie zeigt allerdings gleichzeitig, dass die Konstruktion im Deutschen Reich offenbar ungebräuchlich war, als regional markiert galt oder sogar als ,Fehler‘ eingestuft werden konnte:1155 Während sie im Jahre 1909 in zwei Texten Kafkas auftauchte, die in Prager Periodika erschienen,1156 tilgten die Herausgeber des Kurt Wolff Verlages im Zuge der Erstveröffentlichung des Heizers (1913) und der Verwandlung (1915) die Präposition an ausnahmslos an allen Stellen, wo Kafka sie in Verbindung mit vergessen verwendet hatte.1157 Es ist zu vermuten, dass diese mehrfache Berichtigung durch den Leipziger Verlag Kafka zu der Überzeugung führte, er habe bisher permanent einen Normverstoß begangen und es sei besser, künftig ,ohne Präposition zu vergessen‘. Man bedenke: Bei der Niederschrift des Proceß-Fragments zwischen Juli 1914 und Januar 1915 erreichte die Frequenz der Konstruktion mit 15 Belegen (40,54 Prozent aller Belege im Korpus) ihren Höhepunkt. Das letzte nicht vom Autor selbst berichtigte vergessen an (N1v.236/14(1)) wurde in einem Fragment des Blumfeld-Konvoluts vermutlich Ende März/Anfang April 1915 niedergeschrieben.1158 Zeitgleich setzte Kafkas Versuch ein, dem Kurt Wolff Verlag die Verwandlung als selbstständige Publikation anzubieten. Nachdem die Erzählung Ende 1915 in Buchform erschienen war,1159 verwendete Kafka vergessen strikt ohne Präposition. Nur noch zweimal, im Jahre 1922, wurde die Konstruktion

1153 Vgl. etwa Hulík (1936: 775), der die Konstruktion als ,familiäre‘ Variante zu vergessen auf markiert, und Siebenschein (1944–1948: 318). Sterzinger (1935: 1129) verzeichnet vergessen an hingegen nicht. 1154 Vgl. Ristić/Kangrga (1928: 215; 1936: 1592). Hier wird die Konstruktion mit an bereits als selten bzw. wenig gebräuchlich eingestuft. 1155 Dies galt allerdings nicht überall zwingend: So wurden z. B. Texte von Salus (1906) und Weiß (1913), in welchen die Konstruktion vergessen an vorkommt, in Berlin veröffentlicht. 1156 Hier handelt es sich um Belege in Ein Damenbrevier, erschienen in Der neue Weg (D.382/26–27), und in Die Aeroplane in Brescia, abgedruckt in der Bohemia (D.410/2–4). 1157 Vgl. D.68/4; Dv.129/17; Dv.162/4; Dv.165/7–8; Dv.196/4–5. Im Gespräch mit dem Beter gaben die Herausgeber der Zeitschrift Hyperion zwar vergessen einmal in Abweichung vom Manuskript ohne die Präposition an wieder (Dv.385/23–24). Der Abdruck der Konstruktion an anderer Stelle (D.393/5–6) legt jedoch stilistische Gründe für diesen Eingriff nahe. 1158 Zur Datierung s. Pasley (1990b: 73–76; 1993: 76). 1159 Zur Datierung s. Kafka (1996: 187–190).

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im Sinne der oben beschriebenen zulässigen Bedeutungsfelder (1) und (2) mit (einem offenbar unwillkürlich gesetzten und sofort wieder getilgten) an gebildet: [über diesem höchsten Ziel [an] den heutigen Tag zu vergessen] (Sv.253/22), als ob es sich {[an] den Boden vergessend} für immer empor schwingen wollte (N2v.463/13–14(2)).

Die einzigen sonstigen Verbesserungen Kafkas sind in der Proceß-Handschrift dokumentiert; eine Streichung liegt in der schon zwischen Oktober und Dezember 1914 entstandenen Erzählung Vor dem Gesetz vor:1160 Er vergisst [an] die andern Türhüter (Pv.294/1). Doch dürfte auch dieser Eingriff als nachträglich und in zeitlicher Nähe zu den sprachlichen Berichtigungen des Kurt Wolff Verlages und Kafkas Entschluss, vergessen ab sofort ohne Präposition zu verwenden, zu sehen sein: Denn die Türhüterlegende erschien, herausgelöst aus dem Proceß-Fragment, am 7. September 1915 in der Selbstwehr. Zu diesem Zeitpunkt war in den Weißen Blättern bereits das Erscheinen der Verwandlung angekündigt worden,1161 deren endgültige, durch den Verlag bereits überarbeitete Textform demnach bereits feststand. Eine zweite Tilgung, überliefert im StaatsanwaltFragment, das nach Mitte Dezember 1914 entstand,1162 könnte daher u. U. ebenfalls eine nachträgliche Bearbeitungskorrektur darstellen: hier aber schien er [nur] {gerade} [an] K.’s Stellung vergessen zu haben (Pv.335/2–3). Die negative Sanktionierung einer sprachlichen Form durch eine von Kafka anerkannte Normautorität führte bei ihm somit nachweislich zu einer Korrektur-Implementierung gemäß der Sprachmanagement-Theorie.1163 Auch Kafkas Tagebuch-Einträge, in welchen vergessen an nach dem 29. Mai 1914 (T.527/5–6) ebenfalls nicht mehr auftaucht, bestätigen, dass die Verlagseingriffe sein Normempfinden fundamental modifiziert hatten. Was in den älteren Manuskripten verblieben war, gab

1160 1161 1162 1163

Zur Datierung s. Kafka (1996: 328–329). Zur Datierung s. Kafka (1996: 187–188, 329). Zur Datierung s. Pasley (1990b: 118). Vgl. analoge Fälle von Korrektur-Implementierung im Zusammenhang mit der Stigmatisierung der Subjunktion bis in der Bedeutung ,wenn‘/,sobald‘ durch Felice Bauer (Kap. 5.2.8.2.1) und der negativen Sanktionierung der Adjunktion als zum Ausdruck von Gleichheit/Ähnlichkeit durch österreichische und reichsdeutsche Verlage (Kap. 5.2.8.3).

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Max Brod mit Rücksicht auf reichsdeutsche Normvorstellungen1164 in seiner postumen Kafka-Ausgabe später als bloßes vergessen wieder.1165 Ob die betrachtete Präpositionalergänzung zu vergessen auf die interferenzielle Einwirkung des tschechischen zapomenout na (+ Akk.) zurückzuführen ist,1166 ist heute nicht mehr zu entscheiden. Auffällig ist allerdings, dass ihre Verbreitung die Grenzen Böhmens im Westen und Norden nicht überschritt; damit blieb die Form auf ein Areal beschränkt, auf dem sich das gesamtbairische vergessen auf durch die doppelte Übertragungsmöglichkeit des tschechischen na (als auf oder an) durch eine hohe Frequenz interferenzieller Fehler tschechischer Deutschsprecher im Laufe eines langfristigen Sprachen-Kontaktes als Konkurrenzform vergessen an etabliert haben könnte. Als sicher darf immerhin gelten, dass es sich um keine ausschließlich für Prag charakteristische Form handelte.1167 Kretschmers (1918: 7) Einordnung als „jüdisch“ ist kaum haltbar, da sie offenbar rein auf der unwissenschaftlichen Darstellung von Halatschka (1883: 32)1168 sowie der Herkunft der von ihm angeführten deutschjüdischen Autoren Salten und Weiß basiert.1169 Zusammenfassend lässt sich Kafkas Verwendung des Verbs vergessen mit der Präposition an als Regionalismus des Typs A2>1/rS(d)[Ö] bestimmen.

1164 Krolop (2005: 217) vermutet, eine sprachkritische Glosse über die Konstruktion vergessen an von Karl Kraus (1921b: 7) in der Zeitschrift Die Fackel habe Brod zu diesem Schritt animiert (vgl. Kap. 5.2.8.2.1). 1165 Dabei verwendete Brod die Konstruktion in seiner eigenen Prosa durchaus – auch in der Erzählhandlung: Sie hatte daran vergessen – An alles andere vergaß er (Brod 1911: 237, 257). 1166 Vgl. hierzu Kisch (1992: 249), Wagenbach (1958: 84), Skála (1966a: 91) und Durusoy-Vermeersch (1969: 194). Ähnliches wurde vielfach auch für die Schwesterform vergessen auf vermutet (Teweles 1884: 105; Muhr 1995: 226). 1167 Die Positionierung von vergessen auf/an innerhalb des Dialekt/Standard-Kontinuums verlief aus diachroner Perspektive danach wie folgt: War die Konstruktion mit beiden Präpositionen, wie gezeigt werden konnte, zur Kafka-Zeit in Österreich normkonform, galt sie Mitte des 20. Jahrhunderts (wohl nach zwischenzeitlich verstärkter Orientierung am Binnendeutschen) nur mehr als umgangssprachlich (ÖWB 241951: 237). Danach scheint vergessen auf die Konkurrenzform völlig verdrängt zu haben und stieg im Zuge der österreichischen Bemühungen um die Kodifizierung einer nationalen Standardvarietät wieder in die Schriftnorm auf (Seibicke 1972: 115; Ebner 2 1980: 191; Muhr 1995: 226; Ammon u. a. 2004: 829); in der Gegenwart gehört sie in Altbayern zudem der regionalen Umgangssprache an (Eichhoff 1993: 35; K. 3–59; Zehetner 42014: 362), im obersächsischen Sprachraum dem Dialekt (WOM 1996: 461). 1168 Halatschkas sprachwissenschaftlich zweifelhafte Ansichten wurden bereits in den zeitgenössischen Medien (z. B. Schuchardt 1883; JBGP 1884) mehrfach als nicht haltbar bzw. irrig rezensiert. 1169 Die jiddische Präposition af kann zwar sowohl ,auf ‘ als auch ,an‘ (allerdings auch ,um‘, ,für‘, ,nach‘ und ,in‘) bedeuten. Fargeßn steht jedoch in der Regel mit direktem Objekt (Lötzsch 1990: 31–32, 68; Wolf 1962: 106).

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5.2.8  Junktionen 5.2.8.1  Infinitiv-Konjunktion zu 5.2.8.1.1  Ersatzkonstruktion für die schriftsprachliche Fügung (um) zu + Infinitiv Wie kontrovers bis heute die Präsenz ,nebensatzwertiger Infinitiv-Konstruktionen‘ in den oberdeutschen Dialekten innerhalb der Forschung diskutiert wird, lässt sich am Beispiel der bairischen Dialektologie veranschaulichen: Während hier einerseits von einem (fast) völligen Fehlen im Dialekt ausgegangen wird (z. B. Wessely 1981: 17; Zehetner 1985: 148), hält man andererseits die Konstruktion zu + Infinitiv für grundsätzlich möglich (z. B. Schiepek 1899: 191–194; Merkle 61996: 43–44). Donhauser (1989: 300, 304) fasst zusammen, dass das Sprachsystem der bairischen Mundarten Infinitiv-Konstruktionen auf den Bereich der semantisch spezifizierten Angaben konzentriere, zu + Infinitiv aber nicht wie das Hochdeutsche im Sinne einer speziellen, semantisch leeren Infinitiv-Einleitung verwende. Einigkeit bestünde in der Wissenschaft zumindest darüber, dass sich bairische Mundartsprecher gegenüber den mit zu konstruierten Infinitiv-Verbindungen deutlicher zurückhielten, als dies in der Standardsprache üblich sei (Donhauser 1989: 292–293). Angesichts dieser Feststellung ist auffällig, dass Kafka sowohl in der wörtlichen Rede als auch in der Erzählhandlung seiner Prosa die schriftsprachliche Konstruktion zu + Infinitiv häufig durch die Fügung zum + Infinitiv-Substantivierung ersetzte;1170 dies entspricht der mündlichen Praxis des oberdeutschen Sprachraums.1171 Belegstellen lauten z. B.: keine Lust zum Schlafen (P.37/18–19), Lust zum Kommandieren (S.240/12), Lust zum Lesen (N2.9/3– 4,6–7), {Grund} zum Lachen (Sv.62/2), kein Grund zum Weinen (N1.166/4–5), die Erlaubnis [haben?“] zum Übernachten (Sv.8/17), die Erlaubnis zum Abschiednehmen (V.108/13), die Erlaubnis zum Weggehn (V.111/1–2), die Kraft zum Ertragen (N2.177/4), keine Kraft zum Schreien mehr (D.219/10), ein{e} {Gelegenheit zum} Atemschö(f>p)fen (N2v.100/8–9(2)), Anlaß zum Losbrechen (N2.163/22), Platz zum Kriechen (D.181/19), kein Platz zum Ausweichen (D.279/7), viel Raum zum Kriechen (D.163/11), Befehl zum Warten (V.201/3), Wasser zum Trinken (P.266/16), Holz zum

1170 Zu dieser Konstruktion im Proceß s. Blahak (2005: 27; 2007a: 172–173). 1171 Zu den einzelnen Dialektarealen vgl. Merkle (61996: 43–44), Zehetner (42014: 394), Jakob (1929: 14), Kalau (1984: 46), Frey (1975: 127) und Besch/Löffler (1977: 67).

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Heizen (S.242/1), Ich habe sie Dir […] zum Lesen gegeben (N2.190/14), keine Zeit zum Studieren (N2.350/7), keine Zeit zum Essen (N2.499/7).

Alternativ finden sich jedoch genauso entsprechende Wendungen mit schriftsprachlichem zu + Infinitiv.1172 Da Kafka keine der beiden Konstruktionen im Korpus Korrekturen unterzog, sah er in ihnen offenbar gleichberechtigte normkonforme Varianten. Die Ersatzkonstruktion lief allerdings der norddeutschen Standardauffassung der Zeit zuwider: Bei Heyse (251893: 346) z. B. findet sich die Richtlinie formuliert, der Infinitiv mit zu stehe obligatorisch u. a. nach den Substantiven Lust,1173 Zeit und Gelegenheit, die sich unter den oben angeführten Textproben Kafkas finden. Nach Heyses (251893: 345) Vorstellung stehe zu + Infinitiv außerdem immer „als Objekt oder überhaupt als der Gegenstand, auf welchen ein Thun, ein Begehren oder eine Empfindung gerichtet ist oder sich bezieht“, explizit u. a. nach zwingen und nötigen.1174 Gerade bei diesen Verben griff Kafka allerdings oft zu der Ersatzkonstruktion: als wolle er ihn zum Glauben

1175

zwingen (P.95/15), mit der er sich zum Zuhören gezwungen hatte

(P.218/19–20), zum Reden gezwungen (S.152/20), Gewiß würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen (V.322/15–16), zum Aufstehn gezwungen wurden (V.414/21), nur [zum weiteren Leben] zum weiteren Hinabsteigen zwinge ich mich nicht (N2v.331/11–12), weder zum Hierbleiben zwingen, noch zum Weggehn (D.36/6), während er […] K. zum Niedersetzen nötigte (P.192/17), nötigte mich 1176

zum Sitzen (N1.384/25).

1172 Vgl. z. B. keine Lust zu trinken (V.139/17–18), dann hatte auch er keinen Grund sich aufzuregen (D.130/23–24), die Erlaubnis zu passieren (N2.343/6–7), eine gute Gelegenheit das Kleid los zu werden (V.137/21–22), die Möglichkeit zu stehlen (V.214/4), der Befehl zum Advokaten zu kommen (P.259/10–11), den Auftrag, einzugreifen (V.326/26), höchste Zeit, wegzugehn (S.155/8), als er dann heißen guten Kaffee zu trinken bekommen hatte (S.224/12–13), ein wirkliches Bedürfnis zu lesen (N1v.236/14(1)). 1173 Auch zeitgenössische österreichische Wörterbücher geben unter dem Lemma Lust nur Beispiele mit zu + Infinitiv an; vgl. z. B. Herzer/Prach (1909a: 404), Sterzinger (1931: 1755) und Siebenschein (1936–1938: 875). 1174 Dies gelte analog auch nach bitten, befehlen und erlauben. 1175 Nach dem Kontext ist nicht Glaube im religiösen Sinne, sondern das Jemandem-Glauben-Schenken gemeint. 1176 Vgl. demgegenüber Varianten mit zu + Infinitiv: und ihn so zwingen wollte, (sie>au)fzublicken (Pv.333/17), den Lehrer zwingen werde, (es>ei)nzugreifen (Sv.212/14), den Löwen zwingen Stroh zu fressen (Sv.135/13,42*).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Die zum-Fügung widersprach den Kategorien der reichsdeutschen Grammatik zudem auch dort, wo Kafka sie in Abhängigkeit von übergeordneten, infinitivregierenden Verben des Drängens, Bewegens, Forderns, Aufmunterns und Einladens verwendet hatte: zum Anziehen drängen (S.204/7), um K. zum Mitgehn zu bewegen (S.495/3), um ihn nur wieder zum Kehren zu bewegen (N1.263/13–14), an Josefine fordert manches zum Lachen auf (N2.660/2– 3=D.358/16–17), zum Eintreten aufmuntern (P.259/12), trotzdem er […] Karl auch zum Essen hätte aufmuntern sollen (V.83/11–12), suchte er ihn […] zum Aufstehn aufzumuntern (V.355/9), lud die 1177

drei Wanderer zum Einsteigen ein (V.141/18–19).

Das Gleiche gilt für verbale Konstruktionen, in welchen Bereitschaft, Entschließung, Verpflichtung, Bestimmung oder Eignung zum Ausdruck gebracht werden: Erlanger war zum Weggehn schon völlig bereit (S.427/5–6), als er jetzt zum Weggehn bereit ist (N1.245/7–8), zum Wegziehn bereitmacht (N2.314/14), zum Aussteigen bereit (D.27/16), man […] lag, zum Weinen aufgelegt, wie krank auf dem Rücken (N1.148/8–9=D.12/5–6), zum Heiraten entschlossen (D.56/20), entschloß sich […] zum Weiterschreiben (D.298/1–2), hielt ich mich zum Hierbleiben verpflichtet (N2.238/21–22), nur zum Lärmmachen bestimmt (V.393/5–6), {mehr zum Stolpern als zum Begehen bestimmt} (N2v.30/12–13(2)), ob ich zum Teaterspielen geeignet bin (V.407/23–24).

1178

Ferner sah sich Kafka auch bei „Verben, die eine Zeit oder Modusbestimmung des Thuns bezeichnen, als: beginnen, anfangen, fortfahren, aufhören“ (Heyse 251893: 346), nicht unbedingt zur empfohlenen Verwendung der schriftsprachlichen Fügung veranlasst: setzte der Mann wieder zum Weiterschreiben an (D.297/11).1179

1177 Gegenbeispiele mit zu + Infinitiv lauten im Korpus dagegen: drängte sie Karl wiederholt, schlafen zu gehen (V.107/9–10), hätten ihn {nicht} dazu bewegen können, fortzugehn (Sv.426/13–14), (a>i)hn […] leise aufforderte zu kommen (Pv.40/5–6), und lud den Direktor-Stellvertreter ein sich zu setzen (P.342/17–18). 1178 Vgl. aber auch Varianten mit zu + Infinitiv: war sofort bereit zu folgen (S.239/15), konnte sich K. lange nicht entschließen aufzustehn (S.426/11), zu warten war er längst nicht mehr verpflichtet (P.285/5–6), Vielleicht war er dazu bestimmt, Wache zu stehn (P.281/9–10). 1179 Sonst überwiegt im Korpus die Bildung mit zu + Infinitiv: müssen wir zu ordnen anfangen (V.364/1– 3), Er begann nun selbst zu suchen (V.381/9–10), Karl fieng zu blasen an (V.393/4), Frauen hörten zu blasen auf (V.393/15–16).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Darüber hinaus vertritt die betrachtete Ersatzkonstruktion im Korpus häufig die Infinitiv-Gruppe um (bzw. ohne) zu + Infinitiv, die laut Heyse (251893: 345) dazu diene, „die Absicht oder den Zweck eines Thuns oder Seins auszudrücken“:1180 bis er sich zum Weggehn genügend gekräftigt hatte (P.100/14), Ich bin zum Prügeln angestellt (P.112/23), verwendete {der fleissige} K. [die beste Geschäftszeit] [zum Träumen] (Pv.171/17–20), K. mußte den {grossen} Brief{bogen} zum Lesen (kA>g)anz klein zusammenfalten (Sv.187/12–13), das auch [für das Turnz] zum Turnen verwendet wurde (Sv.195/16), um mich zum Essen ein wenig zu setzen (S.391/22), die Nacht lieber zum Schlafen verwenden (S.410/26–27), kein Geld zum (Ex>St)udieren (Vv.12/27=Dv.70/25), Wie man sich […] zum Schlafen […] strecken würde (N1.148/6–7=D.12/3–4), sich irgendwo zum Weiterspielen stärken (N1.174/15–16), Wenn er [spricht] den Mund zum Reden öffnet (N1v.270/3–6(1)153*–154*; vgl. N1.282/23–24; N1.301/17–18), Vorbereitungen zum Kaffeekochen (N1.400/7), zum Weiter-überliefert-werden (N2.188/26), ich habe die Zeit […] zum Studieren benützt (N2.350/4–5), Nur zum Ausruhn, zum Selbstbesinnen mache ich häufig diese Versuche (N2.612/22–23), wie zum Versteckenspielen (D.16/2), den heutigen Tag zum Ausruhen und Spazierengehn zu verwenden (Dv.198/3–4).

Selbst nach unbestimmten Mengenangaben wie etwas, nichts, viel, wenig, nach welchen auch die oberdeutschen Dialekte das sonst seltene zu vor Infinitiv benutzen (Frey 1975: 127; Merkle 61996: 44), setzte Kafka wiederholt zum und substantivierte den folgenden Infinitiv:1181 er fand an der Bemerkung des Fabrikanten nichts zum Lachen (P.179/19), etwas zum Essen (S.391/8; V.161/20; V.297/20), [irgendetwas zum Essen] (Sv.479/3–4,8*), etwas Passendes zum Essen und Trinken (V.154/12–13), etwas zum Fressen (N2.27/4–5), irgendetwas Gutes zum Essen (D.146/26).

Dass Kafka das schriftsprachliche zu dabei einfach durch das regionalsprachliche zum substituierte, d. h. die jeweils folgenden Substantivierungen tendenziell weiter als Verb­ infinitive auffasste, lässt sich aus ihrer gelegentlichen Kleinschreibung schließen, die

1180 Vgl. Schiepek (1899: 194), Merkle (61996: 44), Kalau (1984: 46), Frey (1975: 127) und Besch/ Löffler (1977: 67). Die im Dialekt alternativ verwendeten finalen Konstruktionen, die z. B. um einzukaufen durch dass er einkauft ersetzen, treten im Korpus hingegen nicht auf. 1181 Dabei bildete Kafka analoge Textstellen wechselweise auch mit zu + Infinitiv, z. B. etwas zu essen gegeben (P.266/19), {nichts zu sehn} (Pv.280/21–22), etwas zu erledigen (S.78/8), nichts zu verbergen (S.136/18), viel zu schaffen (S.153/14–15), wenig zu befürchten (S.414/21), viel zu bauen (V.100/25), genügend zu heizen (N1v.326/9–11(1)7*=Dv.251/2–3(1)7*), [nicht{s} zu fressen] (Dv.265/23–24).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Kafka auch zweimal, offensichtlich mit Absicht, in ein Typoskript übertrug, das für eine Publikation bestimmt war: zu niedrig zum aufrecht stehn (N1.394/11–12=Dv.302/20), zu (niA>sc)hmal zum niedersitzen(,>.) (N1v.394/12(1)=Dv.302/21(1)), hätte er es auch noch der Wirtin zum lesen gegeben (Sv.183/18(2)274*– 275*).

Nicht zuletzt zählt die Fehlerlinguistik solche Formulierungen zu den mundartbedingten Normverstößen, die oberdeutsche Dialektsprecher typischerweise im Schriftdeutschen begehen (z. B. Besch/Löffler 1977: 67). Auch wenn die Grenze zwischen standarddeutscher Normvorgabe und regionalsprachlicher Praxis bei der betrachteten zum-Fügung eine Grauzone bildet, deuten die Korpusbelege in jedem Fall darauf hin, dass Kafka im Alltag zu der Ersatzkonstruktion gegriffen hat. In der Gegenwart wird die zu-Substitution innerhalb des Dialekt/StandardKontinuums zu den Grenzfällen des Standards gerechnet, die für den mündlichen Sprachgebrauch in Österreich und Süddeutschland1182 charakteristisch sind.1183 Dass die Wendung, trotz der Vorschriften Heyses, zu Kafkas Lebzeiten regional dennoch als standardkonform galt, deuten mehrere Indizien an: So findet sie etwa in Lehmanns (1899) Fehler-Studie keine Erwähnung, obwohl sie nach den Befunden der Fehlerlinguistik zum oberdeutschen Dialektraum (s. o.) zweifellos auch in Wiener Aufsatzheften zu prognostizieren gewesen wäre. Legt schon dies eine Zuordnung zum österreichischen Standard nahe, so wird dieser Eindruck vollends durch entsprechende Beispielphrasen in zeitgenössischen Prager Nachschlagewerken (z. B. Siebenschein 1944–1948: 664)1184 bestätigt. Zu guter Letzt hielten sich auch die Einwände reichsdeutscher Verleger gegenüber der Konstruktion zum + InfinitivSubstantivierung in Kafkas zu Lebzeiten erschienenen Texten in Grenzen.1185 Obwohl die Form in Leipzig und Berlin, wie ihr Fehlen in den reichsdeutschen Kodizes zeigt,1186

1182 Die Beschränkung auf den oberdeutschen Raum ergibt sich aus dem Fehlen der Konstruktion in den Fehler-Typologien von Hasselberg/Wegera (1976), Klein/Mattheier/Mickartz (1978) und Henn (1980). 1183 Vgl. Ebner (21980: 202; 2008: 46), Ammon u. a. (2004: 901) und Zehetner (42014: 394). Allerdings wertet die Fehlerlinguistik das Phänomen im Schriftdeutschen z. T. auch als Dialekt-Direktanzeige (z. B. Koller 1991: 91–92; Kalau 1984: 48; Besch/Löffler 1977: 67). 1184 Vgl. Fleisch ist heute nicht zum Genießen; es ist mit ihm nicht zum Aushalten. 1185 Nur die Kleinschreibung der substantivierten Infinitive in zum niedersitzen (N1v.394/12=Dv.302/21) und zum aufrecht stehn (N1.394/11–12=Dv.302/20) wurde hier berichtigt, nicht dagegen die Substituierung von um zu durch zum. 1186 Vgl. z. B. Heyne (21906b: 1448–1450), Weigand (51910: 1338–1339) und Sanders (81910: 873).

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vermutlich als ,süddeutsch‘ betrachtet wurde, fasste man sie offenbar nicht als dezidiert ,österreichisch‘ auf. Dass auch Max Brod die Ersatzform nicht beanstandete,1187 stützt diese Annahme. Mit Blick auf das frühe 20. Jahrhundert hat man es demnach mit einem standardsprachlichen Regionalismus vom Typ B2/rS(d)[O] zu tun. 5.2.8.1.2  Ellipse der Infinitiv-Konjunktion zu Nicht nur in Kafkas Tagebüchern und Briefen (Nekula 2003a: 114–115), sondern auch in seinen Prosa-Schriften stößt man immer wieder auf ,defekte‘ Infinitiv-Konstruktionen, in welchen die Infinitiv-Konjunktion fehlt.1188 Bei der folgenden Kategorisierung ist dabei zwischen drei Gruppen von zu-Ellipsen zu differenzieren. Zunächst lässt sich der Verzicht auf zu nach dem modal verwendeten Verb brauchen (in der Bedeutung ,nötig haben‘/,müssen‘) bei folgendem reinem Infinitiv wie folgt einordnen: Laut Duden (82009: 426) gilt hier die Rektion zwischen dem zu-Infinitiv und dem reinen Infinitiv noch heute als schwankend, die Verwendung des Letzteren in geschriebenen Texten als selten. In diesem Zusammenhang finden sich im Korpus Belegstellen, an welchen mehrheitlich eine so genannte ,äußere‘ Negation vorliegt, die nicht den angesprochenen Sachverhalt, sondern den Bedeutungsbeitrag des Modalverbs brauchen (d. h. die Notwendigkeit) negiert: Ich brauche nicht {einmal} selbst aufs Land fahren (N1v.17/21–22), denn man braucht nur das Mädchen in die Wohnung der andern [zu] schicken (N1v.27/26–27), man braucht sich mit seinen Worten nicht so anstrengen (N1.95/23–24), Nun braucht […] er es nicht verstehn (N2.103/8–9), sie hätten ihre Arme nur unter seinen gewöbten Rücken schieben brauchen (Dv.124/4–6), Gregor hätte doch nicht vernachlässigt werden [müssen] {brauchen} (D.179/4–5).

In dieser Verwendung kann brauchen den ,detonischen‘ Modalverben zugerechnet werden, die jeweils das Verhältnis zwischen Subjekt und der Verbalhandlung im Infinitiv in Hinblick auf modale Bedeutungsaspekte näher beschreiben. Im Fall von nicht brauchen mit seiner Bedeutung, die eine Nicht-Notwendigkeit bezeichnet, ist die semantische Zugehörigkeit zur Gruppe der Modalverben durchaus gegeben (Maiwald 2004: 104).

1187 Vgl. exemplarisch entsprechende Stellen in Brods Ausgabe des Verschollenen (Kafka 1953b: 13, 73, 95, 97, 123, 133, 174, 278, 310, 323, 329, 335). 1188 Zum Ausfall der Infinitiv-Konjunktion in derProceß-Handschrift s. Blahak (2005: 27; 2007a: 173).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Da Kafka die reinen Infinitive nach (nicht) brauchen nirgendwo nachträglich um die Konjunktion zu ergänzte, andererseits auch Gegenbeispiele vom Typ (nicht) brauchen + zu + Infinitiv hinterließ,1189 lässt sich folgern, dass er prinzipiell von zwei normkonformen Varianten ausging. Die Druckgeschichte der Verwandlung macht allerdings deutlich, dass die Akzeptanz des bloßen Infinitivs nach brauchen in der Schriftsprache zu Kafkas Zeit nicht weniger schwankend war, als sie laut Duden (82009: 426) noch in der Gegenwart ist: Als Franz Blei die Erzählung 1915 erstmals in den Weißen Blättern veröffentlichte, wurden zwei dem Verb brauchen untergeordnete reine Infinitive im Druck wie folgt modifiziert: Wo es im Autograph hieß: sie hätten ihre Arme nur unter seinen gewöbten Rücken schieben brauchen (Dv.124/4–6), tilgte der Herausgeber das Modalverb, so dass ein später im Satz folgendes müssen (D.124/7) dessen Funktion übernahm und das fehlende zu kaschierte. In einem weiteren Satz ergänzte er dagegen die Infinitiv-Konjunktion: Gregor hätte doch nicht vernachlässigt ›zu‹ werden brauchen (Dv.179/4–5). In der Buch-Erstausgabe der Verwandlung durch Kurt Wolff (1915) wurde der zweite der beiden Eingriffe zwar zurückgenommen, in der Neuauflage von 1917 allerdings erneut durchgeführt. Auch in Österreich war man sich über die Standardzugehörigkeit der elliptischen Konstruktion offenbar uneins, zählte brauchen entweder zu den Verben, die den reinen Infinitiv regieren können (z. B. Lehmann 71892: 47), oder aber schloss es von diesen aus (z. B. Willomitzer 61894: 51). Der an den Normerwartungen reichsdeutscher Leser orientierte Max Brod wiederum nahm in seiner Kafka-Edition an den durch brauchen regierten reinen Infinitiven keinen Anstoß.1190 Letzten Endes lässt die widersprüchliche Indizienlage im Falle der Fügung brauchen + Infinitiv eine Regionalismus-Bestimmung nicht zu.1191 Bei einer zweiten Gruppe ,defekter‘ präpositionaler Infinitiv-Konstruktionen im Korpus handelt es sich dagegen eindeutig um Normverstöße. Nekula (2003a: 114–115) erwog in dieser Hinsicht bereits ein mögliches Einwirken des Tschechischen, das kein Äquivalent zur Infinitiv-Konjunktion zu besitzt, auf das in Böhmen gesprochene Deutsch. 1189 Vgl. z. B. ich brauche mich dessen nicht zu schämen (P.253/1), wie jemand nur die Tür zu öffnen brauche (S.431/15–16), und brauche {eigentlich} keine Sorgen zu haben (Vv.176/16–17), ich […] brauche Dich niemals mehr zu fragen (N1.11/3–4), ich brauchte nur abzupfen (N1.100/27–101/1), [nur] eine Hand brauchte er [leicht] auf dem Pult aufzustützen (N2v.325/7), er brauchte sich nur ein wenig aufzublasen (D.121/6–7). 1190 Vgl. z. B. Kafka (1953a: 11, 20; 31954: 46; 1967b: 124). 1191 Dies gilt, obwohl sie in der Literatur mehrfach als für den oberdeutschen Dialektraum charakteristische dialektale oder regional-umgangssprachliche Konstruktion, z. T. sogar als Grenzfall des regionalen Standards beurteilt wird (u. a. SWB 1904: 1356; Merkle 61996: 43–45; Zehetner 42014: 77–78).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Allerdings ließe sich ein beträchtlicher Teil dieser zu-Ausfälle schlüssig als Verschriftlichung mündlicher Assimilationsprodukte erklären. Dies gilt besonders angesichts der Beobachtungen zu anderen phonetisch erklärbaren Ellipsen in Kafkas Prosa-Deutsch, die Artikel und Personalpronomen betreffen.1192 Bedenkt man, dass im gesamten oberdeutschen Raum1193 zu auf Mundartebene zu z bzw. [ts], [ds] verkürzt wird,1194 so sind Ausfälle im Schriftbild in bestimmten, lautliche Assimilation begünstigenden Positionen durchaus vorstellbar.1195 Wo zu im Manuskript etwa nach ‹tz› oder vor/nach ‹t› zu stehen hätte, sind regressive Assimilationsvorgänge wie tz-z (bzw. [‑ts-ts]) > ‹‑tz› und t-z (bzw. [‑t-ts]) > ‹‑t› oder progressive wie z-t (bzw. [ts-t-]) > ‹t-› nicht ausgeschlossen: daß sie es gewagt haben bis an den Burgplatz (ge>he)ranzugehen (N2v.610/10), dessen erste Schwäche nur dazu gedient | {zu} haben schien (Pv.138/25–26(1)), um Ihre Wünsche zu erfahren und mir mit([tei]>zu)teilen (Sv.40/13–14), den er sofort {zu} machen habe (Sv.142/9–10), unmöglich sich dort zurecht-|›zu‹finden (N2e.355/16), nichts kann uns hindern, diesem Drängen genug{zu}tun 1196

(N2v.425/22–23).

Bei postponiertem ‹sch› zeigt sich eine lautlich zu [ts] reduzierte Infinitiv-Konjunktion ferner als anfällig für eine progressive Totalassimilation des Typs z-sch (bzw. [ts-∫-]) > ‹sch-›,1197 wie sie an folgenden Korpusstellen von Kafka möglicherweise verschriftlicht wurde: an das jemand so {zu} schreiben gewagt hatte (Sv.302/27), er [ube] suchte also nur […] fest{zu}stellen, ob (Vv.413/10–11), So wagte es Hans einen alten durchlöcherten Ofensch(r>i)rm […] weg(sc>z)uschieben (N1v.273/16–18), beide fangen noch stärker [noch] {zu} schnaufen an (N2v.296/23), es wäre auch

1192 S. hierzu Kap. 5.2.2.4 und 5.2.4.1.2. 1193 Vgl. hierzu Merkle (61996: 37, 187), Zehetner (42014: 386, 392), Frey (1975: 127) und VBW (1965: 1736). In den ostfränkischen Dialekten überwiegen allerdings neben z unverkürzte Formen wie zu, ze oder zo (Hörlin 1988: 70). 1194 In den mitteldeutschen Dialekten wird die Infinitiv-Konjunktion dagegen unverkürzt als [sə] bzw. [dsə] realisiert (Henn 1980: 38, 53; Wegera 1977: 170; Spangenberg 1962: 31). 1195 Da das Jiddische diese Verkürzung nicht durchführt (Geller 2001: 227, 229; Weissberg 1988: 259; Wolf 1962: 195), ist es im betrachteten Fall als Interferenzquelle auszuschließen. 1196 Bei zwei von sechs Textbelegen (33,33 Prozent) könnte auch ein einfaches Vergessen der InfinitivKonjunktion durch den Zeilenumbruch begünstigt worden sein. 1197 Vgl. in Kap. 5.1.3.2 die verschriftlichte progressive Assimilation von [ts] an ein folgendes [∫] über die Wortgrenze hinweg: Gan(st>z) stumpf (Vv.296/12).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

{schwer} vor{zu}stellen gewesen (N2v.357/3–4), [und] {statt} ihn [nicht] mit Weinen und Zureden {zu} stören (Dv.128/10–11(2)), das Gebot der Familienpflicht […], den Widerwillen hinunter›zu‹schlucken und zu dulden (Dv.172/9–10).

Angesichts der in Kap. 5.1.2.2 genannten Indizien für eine (jiddische) Affrizierung des im oberdeutschen Raum stimmlosen anlautenden [s] ist die Totalassimilation von z/[ts] aufgrund von Koartikulation ebenso vorstellbar, wenn das im Satz folgende Wort mit ‹s› beginnt. Im gegebenen Fall wären Assimilationsvorgänge der Art z-s (bzw. [ts-s-] oder entsprechend [ts-ts-]) > ‹s-› denkbar, deren Produkt das Korpus tatsächlich ausweist:1198 ohne hin{zu}sehn (Pv.174/9), begann die Reste ihrer Bluse zusammen{zu}suchen (Sv.69/17). Nicht zuletzt könnte auch ein ‹s› in finaler Stellung, wo es, wie gezeigt wurde, im Jiddischen ebenfalls affriziert wird, Formen regressiver Assimilation wie s-z (bzw. [‑s-ts], gegebenenfalls [‑ts-ts]) > ‹-s› oder s-z-st (bzw. [‑s-ts-∫t-], gegebenenfalls [‑ts-ts-∫t-]) > ‹‑s st-› im Schriftbild begünstigt haben. Auch solche finden sich in Kafkas Handschriften: als sich hier wegen seines Processes {zu} erkundigen (Pv.194/24–25), so kommt er doch nicht uns {zu} 1199

besuchen (Sv.7/3,69*(3)), um sie (er>zu) erobern (Sv.479/3–4,148*(1)),

um nicht […] diese gering-

fügige Zänkerei […] zu einem Ereignis {zu} machen (Vv.48/15–18=Dv.106/2–5), um die Zeit aus|›zu‹nützen (Ve.274/2–3), alle Anträge aus{zu}führen[“] suchen.“ (Vv.407/25), wer sie aus›zu‹nützen verstünde (N2e.585/25–26), die Beute nämlich durch die engen und schwachwandigen Gänge des Labyrinthes {zu} bringen (N2v.603/18–20), den Fehler die künftigen Leiden so sehr vor sich aus{zu}breiten, dass (Dv.21/10–11), [und tat nichts als den Frieden des Ortes ›zu‹ stören] (Sv.183/18(2)178*–208*), 1200

begann […] die Hand […] aus{zu}strecken (Vv.382/13–15).

Der Eindruck, man habe es hier mit Reflexen progressiver wie regressiver Assimilation einer gemäß oberdeutscher Lautung verkürzten Infinitiv-Konjunktion an ihr lautlich korrespondierendes Umfeld zu tun, wird erhärtet durch den hohen Anteil der noch im Schreibprozess verbesserten Stellen (21 von 26 bzw. 80,77 Prozent) am betreffenden

1198 Vgl. auch die Belege für den gegenteiligen, durch Assimilation begünstigten Ausfall eines ‹s› vor folgendem ‹z› in Kap. 5.1.3.2. 1199 Diese Textstelle ist insofern relevant, als Kafka das Personalpronomen sie (3. Person Singular Femininum und 3. Person Plural) in unbetonter Stellung verkürzt als [s] realisiert haben dürfte; vgl. hierzu in Kap. 5.2.4.1.2 die Belege Pv.99/19 und N1v.244/2 bzw. Pv.307/17–18 und N1v.358/20, in welchen diese Form vermutlich zum Ausfall des Pronomens im Schriftbild führte. 1200 Bei einem von elf Textbelegen (9,09 Prozent) könnte auch ein einfaches Vergessen der InfinitivKonjunktion durch den Zeilenumbruch begünstigt worden sein.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Fehler-Teilkorpus; denn im Bereich phonetisch induzierter Anomalien konnten bisher ähnlich hohe Prozentsätze unmittelbarer Selbstberichtigung ermittelt werden.1201 Festzuhalten bleibt allerdings, dass die sonstigen, die Mehrheit bildenden zu-Ausfälle (33 von 59 bzw. 55,93 Prozent) nicht durch ihre lautliche Umgebung provoziert worden sein können: Grundregel […], sich niemals überraschen ›zu‹ lassen (Pe.222/13–15), ob es (s>r)ichtig war, so {zu} handeln (Pv.225/4–5), versuchte {es} gleichzeitig so [darzustellen] ›zu‹ {wenden}, als ob {es} K. sei (Pv.324/22–23), Auf eine drohende Bewegung K.’s ließen sie sofort davon {ab}, [einer] [{sie}] suchte [den] {ein}ander[n] zurück›zu‹drängen (Sv.125/27–126/1), was sollte uns zwingen Sie auf(nA>z)unehmen (Sv.153/7–8), daß sie doch immer danach gestrebt hatten, […] nicht bei Frieda zurück›zu‹(x>b)leiben (Sv.217/2–4), um Dein Mitleid hervor(lo>zu)locken (Sv.250/16–17), daß es dazu diene, die Schuld von der Familie ab(x>z)uwälzen(,>.) (Sv.346/6), sie beschließt zurück- | [k]zukehren (Sv.476/23), Unbehagen, in einem Eisenhause [wohn] zu wohnen (Vv.60/13–14), um […] dann wieder zurück auf das Kanapee sich {zu} werfen (Vv.93/14–16), Jetzt handelte es sich nur darum den Weg zum Saal zurück›zu‹finden (Ve.96/1–2), da ich so da(rum>nach) verlangte, zurück›zu‹kehren (Vv.126/19–20), ihn nicht ins Hotel zurück{zu}führen (Vv.281/22–23), solche Maßnahmen gegen zwei kleine Bälle {zu} ergreifen (N1v.234/14–15), um […] si(e>ch) für die Dämpfung durch den Teppich {zu} entschädigen (N1v.238/5–7), Es ist mein Recht, solche Formalitäten {zu} erfinden (N1v.270/3–6(1)19*–20*), er [führt nicht einmal] {weigert sich sogar}, das Ganze auf einen Fehler […] zurück(.>-)|›zu‹führen. (N2v.63/17–18), sich zu fügen, d(en>ie) {schon} bestehenden Lufthunde nicht in ihrer Lebensberechtigung an›zu‹erkennen (N2v.449/27–250/2), Die Strafe ihn lange (en>zu) entbehren (N2v.586/13–14), Eine Nuß auf›zu‹knacken ist wahrhaftig keine Kunst (N2.654/10–11=D.353/3–4), er scheint ihn gar nicht gelesen {zu} haben (Dv.430/23–24).

Nur selten kann der Nachtrag eines fehlenden zu u. U. auch auf den Seitenumbruch oder plötzliche Perspektivenwechsel Kafkas im Schreibprozess zurückgeführt werden: wenn Du sie nach etwas derartigem [wirst] {zu} fragen versuchen wirst (Sv.314/6–7), was jederzeit 1202

nach-||(p>zu)prüfen ist (N2v.104/19–20).

1201 S. hierzu v. a. Kap. 5.1.1.2 bis 5.1.3.2. 1202 Denkbar wären hier z. B. folgende ursprünglich geplante Konstruktionen: wenn Du sie nach etwas derartigem wirst fragen (müssen, sollen etc.) – was jederzeit nachprüfbar ist.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Dass diese zu-Ellipsen nicht zwingend bloße Flüchtigkeitsfehler darstellen, dass Kafka sie fallweise womöglich als ,korrekt‘ empfand und, anders als bei den oben diskutierten mutmaßlich phonetisch bedingten Assimilationsformen, bewusst auf eine Setzung verzichtete, deuten mehrere Indizien an: Zum einen ließ Kafka einmal in einem Text (Das Unglück des Junggesellen), den er dem Rowohlt Verlag zur Veröffentlichung anbot, auf engstem Raum sechsmal eine obligatorische Infinitiv-Konjunktion aus. Dass er sich dabei im Rahmen der Schriftnorm wähnte, scheint somit evident; denn wie in Kap. 3.1.1 gezeigt wurde, neigte Kafka bei Publikationsvorhaben, zumal in reichsdeutschen Verlagen, zu penibler Überprüfung seiner Texte auf Sprachrichtigkeit. Kafkas Leipziger Verleger hielten allerdings an vier Stellen in Infinitiv-Phrasen, die über ein Korrelat an den Hauptsatz angeschlossen waren, eine zu-Ergänzung für angebracht: Es scheint so arg, […] immer vor dem Haustor (a>A)bschied ›zu‹ nehmen (Dv.20/19–21/2–3), (xA>S)ei­tentüren ›zu‹ haben (Dv.21/5), fremde Kinder anstaunen ›zu‹ müssen (Dv.21/7), immerfort wiederholen ›zu‹ dürfen (Dv.21/8).

Zwei weitere ,defekte‘ Infinitiv-Anschlüsse strichen sie sogar komplett: nur den Trost der Aussicht aus seinem Fenster ›zu‹ haben (Dv.21/4), ein unveränderliches Altersgefühl ›zu‹ haben (Dv.21/8). Dass auch Brod solche elliptischen Konstruktionen, wo er sie in Kafkas Nachlass vorfand, durchgehend vervollständigte,1203 unterstreicht ihren Ausschluss zumindest von der reichsdeutschen Norm des Deutschen. Darüber hinaus lassen Fälle, in welchen Kafka bewusst obligatorische Infinitiv-Konjunktionen tilgte, die Vermutung zu, dass sich in diesen Ellipsen eine Interferenz aus der Morphosyntax seiner Primärsprache manifestiert: daß der Unterportier niemals bat, [die] {eine} Frage (zu>wie)derholen (Vv.256/27–257/1), es Karawanen [zu] öffnen, die [heraA] kamen oder giengen, war immer eine geradezu feierliche Handlung (N2v.357/11–12), muß Josefine meist nichts anderes tun, als […] jene Stellung ein[zu]nehmen (N2v.658/12–15=Dv.356/27–357/2).

In diese Richtung weist auch der relativ hohe Anteil, den die von Kafka nicht korrigierten Belege am Teilkorpus der nicht phonetisch erklärbaren zu-Ausfälle ausmachen (18 von 33 bzw. 54,55 Prozent). Parallelen zum Tschechischen, wie sie von der Kontaktlinguistik

1203 Vgl. z. B. Kafka (1953b: 84, 110, 222; 1964: 116, 202; 1965: 198).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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beschrieben werden, drängen sich an dieser Stelle somit geradezu auf: Das Fehlen eines Äquivalents zur Infinitiv-Konjunktion im tschechischen Sprachsystem führt bei tschechischen Sprechern/Schreibern des Deutschen als Zweitsprache in Fällen von Kontrastnivellierung zu Interferenzen aus der Muttersprache, die sich als zu-Ellipsen im Deutschen äußern (Rinas 2003: 162–163; Štícha 2003: 395–396, 673–674). Hyperkorrekte Reflexe einer intuitiven Wahrnehmung Kafkas, zu einer sparsameren zu-Verwendung zu neigen, als sie die schulisch vermittelte Norm vorsah, liegen im Korpus in gelegentlichen redundanten zu-Setzungen nach Infinitiv bzw. im Ansatz dazu vor: daß Klamm […] niemals ihn vor sein Angesicht kommen ([z]>lassen) wird (Sv.173/16–17), Wir wollten uns auszuzeichnen (N2e.282/23).

Ferner liefert die deutschsprachige Presse vereinzelte Hinweise darauf, dass in Prag ein häufigerer Verzicht auf Infinitiv-Konjunktionen üblich gewesen sein könnte, auch wenn die Belege für eine Zuordnung zum regionalen Standard wohl letztlich nicht ausreichen dürften: Zum einen entfernte die Deutsche Montags-Zeitung aus Kafkas Erzählung Zum Nachdenken für Herrenreiter ein an sich normkonformes zu, obwohl dieses in der Leipziger Ausgabe der Betrachtung bereits in gedruckter Form vorlag: und doch nicht weiß, was anfangen (Dv.31/17). Zum anderen findet sich der Einzelbeleg einer zu-Ellipse auch im Bericht-Teil des Prager Tagblattes.1204 Eventuell zeichnet sich auch hierdurch eine gewisse Gruppenspezifik des Phänomens ab. Auch wenn Flüchtigkeitsfehler bzw. einfaches Vergessen nie völlig als ursächlich ausgeschlossen werden können, legen die Indizien nahe, dass man den Ausfall der Infinitiv-Konjunktion zu in Positionen, welche die Möglichkeit lautlicher Assimilation eröffnen, dem Regionalismus-Typ A1/D[O–], in den sonstigen Fällen dem Typ A2/rU(kT)[P] zuordnen kann. Dabei scheinen im ersten Fall auch Überlappungen beider Interferenzquellen möglich. An dieser Stelle bietet sich ein vergleichender Blick auf die beiden anderen Wortarten an, die sich im Korpus bisher als ausfallanfällig erwiesen haben.1205 Trotz unterschiedlicher absoluter Zahlenwerte ergeben sich relationale Übereinstimmungen zwischen den beiden Wortarten ohne Äquivalent im Tschechischen (Artikel/Infinitiv-Konjunktion zu) und entsprechende Unterschiede zwischen diesen und derjenigen Wortart, die eine

1204 Vgl. nichts weiteres hinzufügen habe (PT 1921: 2). Nicht ganz klar ist hier allerdings, ob hinzufügen nicht als lexikalische Variante zu hinzuzufügen (Infinitiv: hinfügen vs. hinzufügen) zu betrachten ist und hier somit gar keine zu-Ellipse vorliegt. 1205 S. hierzu Kap. 5.2.2.4 und 5.2.4.1.2.

522

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

tschechische Entsprechung besitzt (Personalpronomen): Im Falle der Artikel und der Infinitiv-Konjunktion erweist sich nämlich der Anteil phonetisch-morphologisch erklärbarer Ausfälle am jeweiligen Fehler-Teilkorpus (jeweils knapp die Hälfte) als deutlich geringer als im Falle der Personalpronomen (über zwei Drittel). Auch Kafkas deutlich seltenere Wahrnehmung der zu- und Artikel-Ellipsen als normwidrig1206 spricht dafür, dass man die interferenzielle Wirksamkeit eines Sprachsystems, das beide Wortarten nicht kennt (d. h. das Tschechische), zumindest bei den phonetisch-morphologisch nicht erklärbaren Fällen berücksichtigen sollte. Personalpronomen

Artikel

Infinitiv-­ Konjunktion zu

ja

nein

nein

normwidrige Ausfälle insgesamt

211

53

59

davon durch Kafka autokorrigiert in %

145

25

36

68,72

47,17

61,02

142

26

26

67,3

49,06

44,07

69

27

33

32,7

50,94

55,93

ausgefallene Wortart Äquivalent im Tschechischen

phonetisch-morphologisch erklärbar in % phonetisch-morphologisch nicht erklärbar in %

Tab. 17:  Quantitativer Vergleich normwidriger Ausfälle von Personalpronomen, Artikeln und Infinitiv-Konjunktionen im Korpus

5.2.8.2  Subjunktionen 5.2.8.2.1  Verwendung von bis anstelle von wenn/sobald zum Ausdruck von Vorzeitigkeit Bei der Suche nach regionalspezifischem Sprachgebrauch innerhalb der Möglichkeiten temporaler Unterordnung im Satz stößt man unweigerlich auf Kafkas besondere

1206 Vgl. deren erkennbar seltenere Autokorrektur im Vergleich zu den Pronominal-Ellipsen.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

523

Verwendung der Subjunktion bis.1207 Wie bereits in der Forschung erkannt,1208 benutzte Kafka sie nicht nur, um Nachzeitigkeit, sondern auch, um Vorzeitigkeit auszudrücken: Bis er es wünscht; nicht früher (P.15/20), daß man (w>v)or der Entscheidung bis alles Material gesammelt (sein>ist), im Zusammenhang {natürlich} alle Akten […] [lesen wir] ü(p>b)erprüfen wird (Pv.151/16–18), Bis er die Suppe gegessen hat, melde ich Dich gleich an (P.232/8–9), Der Türhüter hat die erlösende Mitteilung erst dann gemacht, [bis es [der] zwe] als sie dem Manne nichts me(r>h)r helfen konnte (Pv.295/9–11), Später bis er in einem {an und für sich} geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm […] erlauben (Vv.72/13–16), (EA>K)arl wollte erst antworten, bis sie höflicher war (Vv.89/26–27), Zahlen Sie das erst, bis Sie mir den Strohkorb zurückbringen (V.160/7–8), bis es nicht mehr gehn wird, we(n>r)de ich mich hinlegen (Vv.312/14–15), Erst bis ich ihr einigemal auf den Knien abgebeten habe, hat sie aufgehört (V.358/5–6), Bis er hier [eine] {auch nur die kleinste} Stelle erhalten […] {würde} [und Hoffnung], dann mochte man seinen Namen erfahren (Vv.402/17–19), Bis Du diese kleine dicke Nase gesehen hast, wirst Du mir recht geben (N1v.25/26–26/2(1)), Aber weggegangen war er immer erst dann, bis es ihm beliebte (N1.215/23–24), bis ihr mit den Bällen zurückkommt, müßt ihr beide Schlüssel der Frau geben (N1.251/19–21), Bis ich (hi>m)it dem Arzt gesprochen habe, komme ich {hinüber} (N1v.288/9(2)98*–99*), Bis die Verhandlung beendet [ist] sein wird, […] werde ich Ihnen telephonieren (N1v.324/14–16), möge er mich also bis {er ausgewachsen und} von meinen Fischen gemästet ist, mit in die südlichen Länder nehmen (N1v.366/5–7), bis alles (we>fe)rtig ist, bekommt (ihA>I)hre die neuen Lampen (N1v.410/8–9), Daß ich dann, bis ich erwachsen bin, auch jeden Purim mich maskieren und singen und tanzen werde (N1.431/10–12).

Der Eindruck, Kafka habe diese (wahlweise neben wenn und sobald verwendete)1209 subjunktionale Nebensatzeinleitung bei ihrer Niederschrift prinzipiell als normkonform empfunden, wird durch das weitgehende Fehlen von Autokorrekturen erhärtet. Allerdings lässt sich belegen, dass Kafka zu einem gewissen Zeitpunkt in Zweifel geriet, ob sich dieses bis wirklich mit dem von ihm angestrebten normgerechten Ausdruck 1207 Zur folgenden Diskussion und varietätenlinguistischen Einordnung s. Blahak (2011: 22–25; 2014: 33–36). 1208 S. hierzu u. a. Trost (1964a: 29), Thieberger (1979: 184), Čermák (1997: 283), Nekula (2003a: 117–118), Krolop (2005: 212) und Bauer (2008a: 58–59). 1209 Vgl. z. B. er hätte wahrscheinlich, sobald er vom Proceß erfahren hätte […], manche Erleichterung für K. schaffen wollen (P.187/11–13), Sobald Brunelda dies merkte, verstand sie (V.384/24), Sobald der Mann festgeschnallt ist, wird das Bett in Bewegung gesetzt (D.209/13–14), Wenn Sie zum zweiten oder drittenmal herkommen, werden Sie das Drückende hier kaum mehr spüren (P.99/26–27), sie werden sich alle gleich entfernen, wenn Du es befie(l>h)lst (Sv.52/9–10), Manchmal schloß sie die Küchentüre, wenn Karl eingetreten war (V.42/8–9).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

vereinbaren ließ. Dabei dürfte der Meinungsaustausch mit der aus Berlin stammenden Felice Bauer ausschlaggebend gewesen sein. Die Chronologie legt nahe anzunehmen, dass sich Kafka, konfrontiert mit ihrer als höher (da reichsdeutsch) eingeschätzten Normkompetenz, letztlich dazu durchrang, bis zum Ausdruck von Vorzeitigkeit nicht mehr schriftlich zu verwenden: Auf den 24. Januar 1915 datieren Kafkas früheste überlieferte Zweifel, Felice Bauer könnte im Recht sein, „wenn sie mich zurechtweist als ich dem Kellner sage: Bringen Sie die Zeitung, bis sie ausgelesen ist“ (Kafka 1990b: 722). Allerdings dauerten die Meinungsverschiedenheiten in dieser Angelegenheit offenbar weiter an. Noch am 23. September 1917 bat Kafka von Zürau (Siřem) aus Felix Weltsch per Brief, das Bedeutungsspektrum der Subjunktion für ihn im Grimm’schen Wörterbuch oder in anderen Regelbüchern nachzuschlagen, um den „alten ,bis‘-Streit“ mit seiner Verlobten zu entscheiden; diese meine nämlich, „,bis‘ könne zwar als Konjunktion verwendet werden, aber nur in der Bedeutung ,solange bis‘. Man könne deshalb z. B. nicht sagen: ,Bis Du herkommst, werde ich Dir 500 kg Mehl geben‘“ (Kafka 2005: 327). Weltschs knapp zwei Wochen später erfolgende Antwort zeigte jedoch, dass er – da er wie Kafka selbst Prager war – gleichfalls Schwierigkeiten hatte, das Problem von seinem Sprachgefühl her adäquat zu erfassen. So erwies sich das nach Zürau geschickte Belegmaterial als zweideutig (Thieberger 1979: 184): „Es ist mir auch zu schwer. Ich kann also nichts anderes tun, als Dir in Beilage die Beispiele aus Grimm, die hier etwa in Betracht kämen, herauszuschreiben“ (Kafka 2005: 756). Kafkas Reaktion vom 11. Oktober vermittelte entsprechend das unbefriedigende Gefühl, auch nicht klüger als zuvor zu sein: Dank für die „bis“-Erklärung. Brauchbar ist für mich nur das Beispiel: „Borge mir, bis wir wieder zusammenkommen“ vorausgesetzt, daß es bedeutet: Du sollst mir erst dann borgen, bis wir zusammenkommen und nicht etwa: „Du sollst mir für so lange Zeit borgen, bis wir …“ das ist aus der 1210

bloßen Anführung nicht ersichtlich (Kafka 2005: 345).

Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass die Verwendung von bis im betrachteten Sinne zeitgleich in Kafkas Prosa aussetzte: Der letzte Beleg (N1.410/8–9) liegt im Oktavheft E (August/September 1917) vor. Danach, u. a. im gesamten 1922/23 entstandenen SchloßFragment, gebrauchte Kafka konsequent sobald oder wenn als temporale Subjunktionen,

1210 Das Beispiel in Grimm/Grimm (1860: 44) illustriert jedoch tatsächlich die letztere der beiden Bedeutungen von bis, die Kafka Felice Bauer bereits als möglich genannt hatte (Kafka 2005: 327–328). Für die Kafka geläufige subjunktionale Verwendung nennt das Deutsche Wörterbuch im Weiteren keine Belege.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

525

um Vorzeitigkeit auszudrücken. Nur in einem Konvolut ,unterlief ‘ Kafka das Wort im August 19201211 noch einmal unwillkürlich und wurde sofort ersetzt: der Laden le(h>e)rt sich und erst (bis>wen)n er ganz leer ist, geht auch der Soldat (N2v.266/8–9). Textbefund und biographische Zeugnisse dokumentieren somit einen klaren Fall von KorrekturImplementierung im Sinne der Sprachmanagement-Theorie,1212 um so mehr, als das umstrittene bis genau zum selben Zeitpunkt auch aus Kafkas Tagebuch-Aufzeichnungen verschwand: Hier lässt es sich in einem Eintrag vom 21. September 1917 (T.836/14) zum letzten Mal nachweisen. Neben dem Urteil der in Norddeutschland sozialisierten Felice Bauer und Kafkas eigenem Sinneswandel spricht auch das Fehlen in den österreichischen Kodizes der Kafka-Zeit1213 der betrachteten Subjunktion die Schriftsprachlichkeit ab.1214 Lediglich bei Sterzinger (1916: 927) findet sich ein Eintrag, der allerdings von einem veraltenden Provinzialismus spricht und vermerkt, die Verwendung von wenn an gleicher Stelle sei stilistisch besser. Nicht zuletzt legt auch Brods rigide Ersetzung der Subjunktion durch wenn, sobald oder sogar als1215 nahe, dass sie tendenziell als Phänomen des Substandards galt. Doch verwenden weder die ober- noch die ostmitteldeutschen Dialekte bis in der hier beschriebenen unterordnenden Bedeutung.1216 Vieles spricht demnach dafür, dass man es mit einer Besonderheit der österreichischen Umgangssprache zu tun hat (Ebner

1211 Zur Datierung s. Schillemeit (1992: 77). 1212 Vgl. ähnliche Fälle von Korrektur-Implementierung infolge der negativen Sanktionierung der Konstruktion vergessen an (+ Akk.) (Kap. 5.2.7.3.3) sowie der Vergleichsadjunktion als zum Ausdruck von Gleichheit/Ähnlichkeit (Kap. 5.2.8.3) durch Kafkas Leipziger und Prager Verleger. 1213 Vgl. hierzu Kummer (31892: 144), Lehmann (71892: 121), Willomitzer (61894: 140), Herzer/Prach (1909a: 421), Siebenschein (1936–1938: 477) und Kumprecht (31940: 62); zu den serbischen Referenzquellen vgl. Popović (21886: 95) und Ristić/Kangrga (1936: 250). Lehmann (1899) vermerkt in seiner am Sprachgebrauch Wiens orientierten Fehler-Studie allerdings keine normwidrige Verwendung von bis in der Schriftsprache. 1214 Dies gilt auch für den gegenwärtigen Sprachgebrauch in Österreich (ÖWB 241951: 28; Ammon u. a. 2004: 122). 1215 Vgl. Kafka (1953b: 63, 79, 139, 269, 337, 318). Wie im Falle der Konstruktion vergessen an (+ Akk.) (vgl. Kap. 5.2.7.3.3) nimmt Krolop (2005: 217) an, Brod sei durch einen sprachkritischen Artikel von Karl Kraus in der Fackel dazu animiert worden. Kraus sprach hier dem Österreicher jedes Gefühl für die Subjunktion bis ab: „Daß ,bis‘ nicht das Ziel, sondern den Weg markiert, sieht er nicht“ (Kraus 1921c: 11). 1216 Vgl. Schmeller (21872: 292), WBB (1995–2009: 920), Zehetner (42014: 71), WBÖ (1983: 217), SWB (1904: 1135–1136), BWB (1925–1940: 237), VBW (1960: 362), TWB (1991–1999: 789–790), WOM (1998: 246) und Mitzka (1963: 131).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

1980: 46; Duden 31999: 607),1217 die im frühen 20. Jahrhundert nicht nur auf dem Gebiet des heutigen Österreich (Kraus 1921c: 11), sondern nachweislich auch in den mitteldeutschen Randgebieten der böhmischen Länder verbreitet war (SDW 1996: 392).1218 Die Druckgeschichte einiger zu Kafkas Lebzeiten erschienener Werke zeigt allerdings, dass die Form, wenn sie in wörtlicher Rede vorlag,1219 eine gewisse Toleranz nicht nur durch die Prager Medien,1220 sondern auch durch österreichische1221 und reichsdeutsche Verlage1222 erfahren konnte; aus diachroner Sicht lässt sie sich somit als Grenzfall des Standards einstufen. Doch sind hier auch Schwankungen zu beobachten: So wurde die Textstelle Sie werden ihn gleich sehen, bis Gregor aufmacht (D.127/3–4) in der Erstauflage der Verwandlung von den Herausgebern des Kurt Wolff Verlages zwar belassen; in der Zweitauflage wurde bis aber durch wenn ersetzt (Dv.127/3). Max Brod wiederum folgte bei seiner Edition der Erzählung der Erstausgabe (Kafka 1967b: 85). Dagegen blieb die Subjunktion an folgender Stelle in beiden Leipziger Auflagen stehen: Erst bis ihn die Frauen unter den Achseln faßten, schlug er die Augen auf (D.174/20–21). Brod korrigierte sie indessen zu als (Kafka 1967b: 120). Letzten Endes lässt sich das betrachtete subjunktionale bis als Regionalismus des Typs A2>1/rU(d)[Ö] noch unterhalb der Standardebene einordnen. 2

1217 Brod und Kisch benutzten die Form in ihrer Prosa durchaus, allerdings nur in wörtlicher Rede: Ich werde sie gleich ins Wasser stellen lassen, bis die Mama kommt (Brod 1911: 172), erst bis du größer bist – Bis ich gesund bin, muß ich wieder auf die Polizei – Bis sie mich von hier hinauslassen werden, dann kann ich wenigstens nichts mehr erwischen – Geh’ nur hin zu ihm, bis du hier entlassen wirst – du kommst zu mir, bis ich dir schreibe (Kisch 51922: 164, 183–184, 186, 244). 1218 Nach Schuchardt (1884: 114) handle es sich um ein Beispiel „für den slawisirenden [!] Gebrauch deutscher Conjunctionen […]. Bis für sobald als (tschech. až, poln. aź), das […] unter den Deutschen Östreichs [!] vorkommt.“ 1219 So konnte sie u. U. als Form fingierter Mündlichkeit betrachtet werden. 1220 Vgl. entsprechende Belege im Prager Tagblatt: die Partei wird erst dann aus ihrer passiven Haltung heraustreten, bis die Regierung selbst etwas Positives ausspricht (PT 1921: 2), bis sie wie ich dreißig Jahre mit der meinigen gelebt haben wird, dann wird sie sagen können (PT 1921: 5). 1221 Vgl. Bis ich kann, bezahl ichs (D.445/17) in Der Kübelreiter, veröffentlicht in der Prager Presse. 1222 Der Ernst Rowohlt Verlag z. B. beließ das subjunktional verwendete bis in der Textstelle erst bis sie durch den Gang […] in ihr eigenes Zimmer kommen, sind sie allein (D.23/6–8). Der Kurt Wolff Verlag akzeptierte den Satz dann werden wir ihn bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden (V.11/12–13=D.69/9–11). Brod übernahm die zweite Textstelle, da sie bereits im Druck und zugleich in wörtlicher Rede vorlag, ausnahmsweise unverändert in seine Amerika-Ausgabe (Kafka 1953b: 12).

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5.2.8.2.2  Verwendung von wie statt als/während zum Ausdruck von Gleichzeitigkeit und statt sobald/nachdem zum Ausdruck von Vorzeitigkeit Unter Kafkas Subjunktionen ist im Weiteren ein temporal verwendetes wie auszumachen, das anstelle von als oder während zum Ausdruck von Gleichzeitigkeit Nebensätze einleitet, die mit den ihnen übergeordneten Hauptsätzen im Tempus übereinstimmen:1223 [Ich erinnere mich an einen Winterabend […], wie wir beide […] durch die Strassen liefen] (Vv.196/13– 14,1*–5*), Sie sah mich aus dem Fenster, wie ich Bier holen kam (S.315/8–9; Sv.288/2–3(4)47*–48*), und wie er aus dem offenen Fenster zum Himmel aufsah, war sein Gesicht so jung (S.317/15–16), Da sah K., wie er ziellos umherblickte, […] Frieda (S.385/2–3), Erst wie ich da [so] lange allein gesessen bin, während Sie unten im Bureau waren, habe ich mir die Sache so zurechtgelegt (Vv.183/5–7), ich habe es ja schon versucht wie Sie wegwaren (V.215/14), wie Du noch in der Uniform warst, da hast Du […] beachtenswert ausgesehn (V.263/18–19), ich war schon müde, wie ich zu laufen anfieng (V.286/24–25), Wir wa(hA>r)en ja damals, wie Du uns so gemein hast sitzen lassen, sehr schlecht daran (Vv.302/22–23), selbst ich habe gestaunt, wie mir das der Diener damals [das] erzählt hat (Vv.306/10–11), Ich habe wie ich im Bett liege die Gestalt eines großen Käfers (N1.18/6–7), Raban war still und streckte, wie er so aufrecht stand, die Hände in die etwas zu hohen Taschen seines Überziehers (N1.49/3–5), Wie ich die Schrift […] lese, erschrecke ich (N1.108/3–5), wie er {sich} absichtlich ganz nahe (z>a)ns Bett stellt, springt sofort ein Ball auf das Bett hinauf (N1v.239/4–5), Wie Blumfeld vor dem Bett kniet […], [denkt] {glaubt} er manchmal, daß die Bälle […] liegen bleiben werden (N1v.240/8–11), Wie nun der Fürst langsam dahin geht, […] bemerkt er auf der Schwelle einer {halb} verfallenen Hütte einen Burschen (N2v.419/4–19).

Da Kafkas Leipziger (Kurt Wolff ) und Berliner Verlage (Die Schmiede) nichts gegen die Übernahme solcher Unterordnungen in ihre Ausgaben des Urteils, des Heizers und des Hungerkünstlers einzuwenden hatten, lässt sich von einer allgemein akzeptierten schriftsprachlichen Praxis ausgehen: und zog ihm, wie er nun doch recht schwach dastand, den Schlafrock aus (D.53/27–54/1), Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt […], da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen (D.56/16–20), und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, […] bis an das Bordgeländer

1223 Zu wie als temporale Subjunktion in Kafkas Proceß-Handschrift s. Blahak (2005: 28; 2007a: 186).

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

geschoben (D.65/10–13), wie er über seinen Bekannten hinsah […] merkte er, daß er seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte (D.65/19–66/2), aber wie sie mit offenbar letztem Willen zu singen anfangen will, […] wie sie so anstimmen will, nun, da geht es doch wieder nicht (D.375/8–13).

Auch Max Brod nahm als Herausgeber der postumen Schriften Kafkas keinen Anstoß an dem temporalen wie.1224 Eine einmalige Substitution durch während (Kafka 1953b: 187) an der Textstelle ich habe es ja schon versucht wie Sie wegwaren (V.215/14) dürfte eher aus stilistischen als aus grammatischen Gründen erfolgt sein; denn wie Otto Pick und Egon Erwin Kisch verwendete Brod die betrachtete Subjunktion selbst, v. a. in wörtlicher, aber auch in der erzählten Rede seiner Prosa.1225 Allerdings benutzte Kafka (seltener) wie auch dann temporal unterordnend, wenn es, sobald oder nachdem ersetzend, zum Ausdruck von Vorzeitigkeit diente: aber wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst Du auf mich rechnen (V.319/7–8), gleich wie wir mit dem Frühstück zurückkommen, müssen wir zu ordnen anfangen (V.364/1–3).

Die vorzeitige Bedeutung, zumal in der Erzählhandlung, fällt besonders dort ins Auge, wo im Nebensatz das Plusquamperfekt das Tempus bildet: daß der {U.}Richter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff (Pv.63/27–64/1). Nach heutiger Normauffassung leitet wie gewöhnlich nur bei Gleichzeitigkeit und in Verbindung mit dem historischen Präsens einen temporalen Nebensatz ein. Die Verwendung im Präteritum zum Ausdruck von Vor- und Nachzeitigkeit gilt dagegen als regional-umgangssprachlich (Duden 31999: 4511). Dass die Substituierbarkeit von als durch wie auf das Präsens beschränkt sei, wurde zur Kafka-Zeit auch durch die Exponenten der reichsdeutschen Norm propagiert (Heyse 251893: 375). Im Einzugsgebiet des österreichischen Deutsch bestätigen die Kodizes diese Bedingung zwar nicht explizit,1226 jedoch zählen auch sie wie (neben und synonym zu als, während und sobald) nur zu den Subjunktionen der

1224 Vgl. exemplarisch Brods Ausgabe von Kafkas Roman-Fragmenten (Kafka 1953b: 9, 159, 228, 248, 261, 264; 1964: 291, 293, 355; 1965: 56). 1225 Vgl. z. B. Jetzt aber, wie sie sah – wie ich noch klein war – Wie ich dann wütend in der Elektrischen gesessen bin – wie ich aus dem Haus geh (Brod 1911: 126, 214, 233, 253), früher noch, wie die Ausstellung war – wie ich erst paar Tage im Geschäft hier war (Pick 1913: 40, 43), Wie mich dann der Mann gesehen hat – daran denken, wie er mit den Kellnerburschen zum ersten Male ein Freudenhaus betreten (Kisch 51922: 190, 198). 1226 Vgl. z. B. Kummer (31892: 143), Lehmann (71892: 12), Willomitzer (61894: 138), Sterzinger (1935: 138), Ristić/Kangrga (1936: 1706) und Siebenschein (1944–1948: 568).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

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Temporalsätze der Gleichzeitigkeit, nicht aber der Vorzeitigkeit. Somit liefen zumindest die drei zuletzt genannten Korpusbelege der überregionalen Schriftnorm der Zeit zuwider. Da sich das temporale wie, wenn es in Vertretung von als, während oder sobald/ wenn Gleichzeitigkeit ausdrückt, überregional in ober‑, mittel- und niederdeutschen Mundarten und regionalen Umgangssprachen nachweisen lässt (Grimm/Grimm 1960a: 1491), kann es nicht als Regionalismus aufgefasst werden. Vorzeitigkeit wird hingegen zum einen durch wo angezeigt, so in den nieder‑, ostmittel- und westoberdeutschen Mundarten;1227 in den nord- und ostoberdeutschen sowie rheinfränkischen Dialektgebieten1228 ist hierfür stattdessen die Subjunktion wie gebräuchlich.1229 Kafkas wie weist somit auf eine Interferenz hin, die der regionalen Umgangssprache des nord‑/ostoberund z. T. westmitteldeutschen Raums zugeordnet werden kann (Zehetner 42014: 379) und von der Fehlerlinguistik auch regional im Schriftdeutschen registriert wird.1230 Die Toleranz durch Brod lässt zumindest auf einen Grenzfall des Standards schließen, der mit B1/rU(d)[onO+wM–] klassifiziert werden kann.1231 Auch wenn sich die Mehrheit der 26 angeführten wie-Belege in wörtlicher Rede oder im Bericht eines Ich‑/Wir-Erzählers findet, so entfällt doch immerhin deutlich über ein Drittel (zehn Belege bzw. 38,46 Prozent) auf die Erzählhandlung.1232 Zumindest in diesen Fällen kann nicht ausschließlich von einem bewussten Einsatz fiktiver Mündlichkeit durch Kafka ausgegangen werden, auch wenn im Korpus nur eine Autokorrektur von wie zu als belegt ist, durch die Kafka u. U. eine unwillkürliche Verwendung primärsprachlicher Strukturen zu unterdrücken versucht haben könnte:

1227 Vgl. hierzu MBW (1992: 1481), WOM (1996: 612), TWB (1983–1990: 1055), WEM (1907: 778) und VBW (1965: 1641). Entsprechend deutet die Fehlerlinguistik die regionale Verwendung von vorzeitigem wo im Schriftdeutschen als Dialekt-Direktanzeige (Niebaum 1977: 92; Stellmacher 1981: 102–103; Ammon/Loewer 1977: 94; Besch/Löffler 1977: 87). 1228 Für die moselfränkischen und ripuarischen Dialekte, die sogar nachdem als Subjunktion kennen (Bücher 1986: 369), ist das Vorzeitigkeit angebende wie untypisch (Klein/Mattheier/Mickartz 1978). 1229 Vgl. hierzu Merkle (61996: 193), Zehetner (42014: 379), Schiepek (1899: 57), Mayr (21930: 61), Kalau (1984: 203), Koller (1991: 146), SHW (2002–2010: 523) und Henn (1980: 115). 1230 Vgl. hierzu Zehetner (1977: 124), Kalau (1984: 203), Koller (1991: 146) und Henn (1980: 125). In den hessischen Dialekten sind wie und wo als Kontrastnivellierungen belegt (Wegera 1977: 218; Hasselberg 1979: 142). 1231 Da das Westjiddische als temporale Subjunktion nur aß/as kennt (Beranek 1965: 224), kann es im betrachteten Fall keinen Einfluss auf Kafkas Deutsch ausgeübt haben. 1232 Vgl. P.63/27–64/1; Pv.174/2–3; S.385/2–3; V.7/12–16=D.65/10–13; V.7/22–8/1=D.65/19–21; N1.49/3–5; N1.239/4–5; N1.240/8–11; N2.419/4–18; D.53/27–54/1.

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Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

[Wie] {Als} dann die zwei sich an den Schreibtisch lehnten […], war es K. als werde über seinem Kopf […] über ihn selbst verhandelt (Pv.174/2–7).

5.2.8.2.3  Verwendung von trotzdem anstelle von obwohl Das von Kafka als konzessive Subjunktion gebrauchte trotzdem galt bereits Beißner (1952: 45) und Thieberger (1979: 188–189) als Austriazismus. Dem widersprach Krolop (2005: 218), der anhand der Belege in Grimm/Grimm (1952: 1115) auf die konjunktionale Verwendung von trotzdem bei süd- und norddeutschen Autoren1233 verwies. Auch wenn Nachschlagewerke gegenwärtig z. T. von einem besonderen bzw. seltenen und v. a. süddeutsch-umgangssprachlichen Phänomen sprechen (Duden 82006: 584; 82009: 633; Zehetner 42014: 351), kann ihm diachron keine charakteristisch regional beschränkte Verbreitung nachgewiesen werden. Zur Frage seiner Normkonformität geben die Regelbücher der Kafka-Zeit allerdings widersprüchliche Auskünfte: Willomitzer (61894: 7) und Lehmann (71892: 114) halten trotzdem als Nebensatzeinleitung für unzulässig. Lehmann (1899: 41) spricht sogar explizit von einem in Wien geläufigen Normverstoß. Sterzinger (1935: 932) und der für Kafkas Schulunterricht maßgebliche Kummer (31892: 83) gehen hingegen von einem standardkonformen Äquivalent zu obwohl aus. Selbst reichsdeutsche Grammatiken (Heyse 251893: 371; Winter 21896: 117) führen trotzdem unter den konzessiven Subjunktionen des Deutschen. Ungeachtet der unter den Kodizes umstrittenen Standardzugehörigkeit erweist die Praxis der Prager Tagespresse1234 sowie der österreichischen1235 und reichsdeutschen Verlage,1236 die Kafkas Prosa publizierten, die prinzipiell überregional uneingeschränkte Zulässigkeit des subjunktionalen trotzdem in der Schriftsprache. So konnte auch Brod bei der Herausgabe von Kafkas postumem Werk nichts an der Form beanstanden, wenngleich er sie selbst in seiner eigenen Prosa vermied.1237

1233 Das Grimm’sche Wörterbuch belegt die Form z. B. bei H. von Barth, W. H. Riehl und H. Grimm einerseits sowie bei F. von Gaudy, P. Ernst und Th. Fontane andererseits. 1234 Vgl. Nachweise von subjunktionalem trotzdem in PT (1921: 3, 5, 8) und PP (1921a: 3; 1921c: 6). 1235 Vgl. entsprechende Belegstellen in der Bohemia (D.411/22) und den Herder-Blättern (D.426/14; D.432/6). 1236 Vgl. Belege im Urteil (D.46/8; D.54/5–6), im Heizer (D.73/1–3; D.74/19), in der Verwandlung (D.127/7; D.132/1; D.144/6; D.145/17,18; D.146/23; D.148/14; D.152/15; D.164/17; D.174/10; D.177/6; D.179/12; D.187/2; D.195/7), In der Strafkolonie (D.228/1; D.235/5; D.246/10) und im Landarzt-Band (D.259/18; D.271/24; D.286/18; D.310/1), erschienen im Kurt Wolff Verlag (Leipzig), sowie in der Prosa-Sammlung Ein Hungerkünstler (D.317/17; D.321/22; D.326/23; D.355/5; D.361/26; D.362/2; D.374/15), herausgegeben im Schmiede Verlag (Berlin). 1237 Vgl. dagegen die gängige Verwendung bei Kisch (51922: 41, 108, 155, 159, 212, 222–224, 236–238).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

531

Doch weist die auffällige Seltenheit von obwohl1238 gegenüber der Konkurrenzform1239 im Korpus zumindest indirekt auf eine regionale Gebundenheit von Kafkas trotzdemPräferenz hin: Denn obwohl existiert auf Mundartebene zwar im westober- und westmitteldeutschen Raum;1240 ungebräuchlich ist die Subjunktion dagegen in den bairischen, ostfränkischen und ostmitteldeutschen Mundarten. Hier werden konzessive Nebensätze stattdessen durch trotzdem (dass) eingeleitet,1241 eine Form, die nicht von ungefähr gerade bei Kummer (31892: 83) und Winter (21896: 117)1242 sogar als schriftfähig verzeichnet wird.1243 5.2.8.3  Adjunktionen: Verwendung von als nach dem Positiv und von wie nach dem Komparativ Merkmale regionalen Sprachgebrauchs offenbart letztlich auch der Blick auf die Vergleichsadjunktionen wie und als in Kafkas Handschriften. Zur zeitgenössischen Regelung ihres normgerechten Gebrauchs resümierte Oskar Weise (1918: 169), dass wie (sowie, gleichwie) die Gleichheit oder Ähnlichkeit hinsichtlich der Beschaffenheit, als aber die Gleichheit und Ungleichheit hinsichtlich der Menge und Stärke zum Ausdruck bringt […]. Daher steht jetzt bei Positiven meist wie, nach Komparativen und Verneinungen aber als […].

1238 Es ist nur neunmal im Korpus nachweisbar (P.25/27; P.351/11; S.250/5; N2.40/13; N2.41/27; Dv.401/1–2,1*–2*; D.419/20,22; D.430/5). In Dv.181/20 liegt ein Eingriff des Kurt Wolff Verlages vor. 1239 Vgl. exemplarisch 18 Belege (P.51/23; P.52/10,26; P.56/18; P.63/23; P.93/6; P.116/3; P.169/23; P.199/6; P.211/4; P.219/5; P.258/2; P.275/7; P.281/12; P.291/20,20–21; P.303/13,25) von subjunktionalem trotzdem (90 Prozent) gegenüber zwei Belegen (P.25/27; P.351/11) von obwohl in der Proceß-Handschrift. 1240 Vgl. SWB (1920: 4), BWB (1999–2009: 113), Hasselberg/Wegera (1976: 62), FWB (1980: 2202) und SHW (1978–1985: 1054). 1241 Vgl. Zehetner (1977: 124; 1985: 142; 42014: 351), Merkle (61996: 191), Wagner (1987: 99), WOM (1996: 413) und TWB (1983–1990: 275). Gleiches gilt in den rheinpfälzischen Mundarten (Henn 1980: 117). Im niederdeutschen Raum wird obwohl dagegen durch wann/wenn auch repräsentiert (Niebaum 1977: 92; Stellmacher 1981: 103). 1242 Ihre Grammatiken wurden in Österreich (Wien/Prag) bzw. Bayern (Bamberg) verlegt und reflektieren durch die Aufnahme von trotzdem (dass) unter die konzessiven Subjunktionen offenbar den jeweiligen regionalen Sprachgebrauch. 1243 Sterzinger (1935: 932) schließt sie dagegen ausdrücklich von der Schriftsprache aus.

532

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Da die einschlägigen Regelwerke beim Komparativ die Adjunktion als als obligatorisch betrachten,1244 fallen im Korpus Stellen auf, an welchen die syntaktische Einbindung des Komparativs zunächst durch wie erfolgte, bevor sich Kafka rückwirkend für als entschied:1245 ein wenig mehr Raum (w>a)ls sonst (Pv.9/4), [mehr unnötige (w>a)ls nötige] (Sv.479/15), früher (wie>als) ich (N2v.640/14=Dv.327/26).

Weise (1918: 170–174) und Lipold (1983: 1237–1238) haben dargestellt, dass der deutsche Sprachraum bezüglich der betrachteten Adjunktionen nach dem Komparativ bei Ungleichheit der verglichenen Sachverhalte im Wesentlichen zwei Raumtypen kennt: einen nord‑, west- und südwestdeutschen,1246 in dem die Hauptform als vorherrscht, und einen ost- und südostdeutschen,1247 wo wie als Hauptform belegt ist, dem die angeführten Varianten Kafkas demnach zuzuordnen wären. Konstruktionen vom Typ früher wie registrierte bereits Lehmann (1899: 36) in Wien als verbreitete Fehler im Schriftdeutschen, die auf die Mundart zurückzuführen seien. Für das oben beschriebene Areal deutet auch die Fehlerlinguistik die Bildung des Komparativs mit wie in schriftlichen Texten als Dialekt-Direktanzeige1248 und erklärt sie dadurch, dass der Kontrast zur Standardform als nicht erkannt und das mundartliche wie in die Schriftsprache übertragen werde (Kalau 1984: 203).1249 Diesem Typ von Kontrastnivellierung dürfte auch der Vergleich mit wie nach anders angehören (Zehetner 42014: 379), zumal hierdurch ebenfalls die Ungleichheit zweier verglichener Sachverhalte zum Ausdruck kommt: nicht anders wie Du (S.288/25), an einer ganz anderen Stelle wie am Abend (V.340/7–8), [so] {nicht anders} (wie>als) ich (N2v.593/15–16), ganz anders wie früher (Dv.172/25).

1244 Vgl. Kummer (31892: 27, 83), Lehmann (71892: 76), Willomitzer (61894: 28), Heyse (251893: 256) und Winter (21896: 24). Auch ÖWB (241951: 191) schreibt als vor. 1245 Zur folgenden Diskussion und varietätenlinguistischen Einordnung s. Blahak (2014: 41–44). 1246 Er umfasst, grob gesprochen, den westober‑, westmittel- und niederdeutschen Raum. 1247 Er deckt sich im Wesentlichen mit den ostmittel‑, nord‑/ostoberdeutschen und hessischen Dialektarealen (Merkle 61996: 171; Zehetner 42014: 379; Jakob 1929: 15; Kalau 1984: 203; Spangenberg 1962: 27; Seibicke 1967: 53; Wegera 1977: 219; Hasselberg 1979: 142). 1248 Vgl. hierzu Zehetner (1977: 124), Kalau (1984: 203), Wegera (1977: 219) und Hasselberg (1979: 142). 1249 Die Fehler-Typologien zu den Dialektarealen des als-Typs (Ammon/Loewer 1977; Besch/Löffler 1977; Klein/Mattheier/Mickartz 1978; Niebaum 1977; Stellmacher 1981) kennen diese Form normwidriger Komparation mit wie entsprechend nicht.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

533

Abb. 21:  Möglichkeiten der Komparation in den deutschen Dialekten: syntaktische Einbindung des Komparativs besser

Dass Kafka selbst die Adjunktion in den angeführten Fällen nicht als normkonform auffasste, lässt sich zum einen aus der relativ geringen Zahl der Belege,1250 zum anderen aus den mehrheitlichen Sofortkorrekturen (in vier von sieben Fällen bzw. zu 57,14 Prozent) schließen.

1250 Eine Stichprobe ergab im Verschollenen 37 Belege des Typs früher als (V.73/22; V.74/20–21; V.110/14,19–20; V.125/5–7; V.143/20; V.145/5; V.146/4–5; V.149/8–9; V.155/3–4; V.160/23–24; V.164/15; V.176/23–24; V.180/26; V.221/5; V.227/12; V.228/19–20; V.242/22–23; V.266/10–11; V.267/20–21; V.268/7–8; V.278/19; V.363/4; V.367/22; Vv.368/15–17; V.379/20; V.380/1–2; V.381/21; V.384/6–7; Vv.387/27–388/1; V.389/16–17; V.401/8,24–25; V.404/7; V.415/21–22; V.416/16–17,20–21); ihnen steht nur ein Beispiel des Typs früher wie gegenüber.

534

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

Trotz der klaren Vorgaben der zeitnahen Kodizes ist eine substandardliche Einordnung des Befundes, zumindest auf Prag bezogen, zu relativieren: Für die Prager Monatsschrift Die Weißen Blätter z. B. sprach nichts dagegen, Kafkas Formulierung ganz anders wie früher (Dv.172/25) in den Erstdruck der Verwandlung zu übernehmen. Auch vermerkt Sterzinger (1935: 1384) in seinem Wörterbuch, bisweilen stünde nach dem Komparativ anstelle von als auch wie. Da auch Egon Erwin Kisch vergleichbare Konstruktionen in seiner Prosa verwendete,1251 wird deutlich, dass die Vergleichsadjunktion wie zum Ausdruck der Ungleichheit zweier verglichener Sachverhalte in Prag durchaus schrifttauglicher war, als es in Österreich in den Schulen offiziell gelehrt wurde. Dass dies für das Deutsche Reich allerdings keineswegs galt,1252 erweist die weitere Druckgeschichte der Verwandlung, in deren Verlauf der Kurt Wolff Verlag das betrachtete wie zu als veränderte. Auch Brod glaubte, mit Blick auf eine überregionale Leserschaft editorisch eingreifen zu müssen.1253 Aus diachroner Sicht darf man Kafkas wie-Adjunktionen somit den Regionalismen des Typs A1/D[onO+oM+]-rS(d)[P] zuordnen. Geradezu kontrapunktisch wirken demgegenüber Stellen im Korpus, an welchen Kafka, um Gleichheit oder Ähnlichkeit bezüglich der Beschaffenheit auszudrücken, nach dem Positiv die Vergleichsadjunktion als setzte:1254 ebenso gerecht als unvermeidlich (P.110/8), so laut als er es nur in der Nähe des Advokaten wagte (P.261/16–17), ebenso vernünftig als unhöflich (P.280/20), soviel Zeit als Du brauchst (P.292/6), solange […], als es dem Mann beliebte (P.300/23–24), Hasterer war ebenso angesehen als gefürchtet (P.330/3), und gaben […] nur soweit nach als es ihre Schwere erlaubte (V.19/14–15=D.77/12–13), Der Heizer antwortete so leise als (x>)er gefragt wurde (Vv.21/7–8=Dv.79/6), so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann (V.351/13–14), Der Student sah ihnen solange nach, als sie noch zu sehen waren (V.379/8–9), [so hoch] heben musste, [als sie konnte,] (N1v.136/23), daß er es sich so behaglich machen könne, als er wolle (Dv.147/21–22), ebenso unaufhörlich (als>wi)e vergeblich (N2v.39/3), Verstecke (g>s)ind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung {wieder} soviele [als] {wie}

1251 Vgl. mit keiner anderen […] wie mit ihr (Kisch 51922: 137). 1252 Heyse (251893: 256) konstatiert hierzu: „[E]ntschieden fehlerhaft aber wäre wie nach einem Komparativ.“ 1253 Vgl. Kafka (1953b: 292; 1964: 267; 1967b: 119). 1254 Die Verwendung von als in Vergleichskonstruktionen in Verbindungen mit möglich (Sanders 81910: 20) ist laut Duden (82009: 371) noch in der Gegenwart zulässig. Entsprechende Belegstellen im Korpus (Sv.137/13,4*; V.72/27; V.250/6; V.266/26) wurden daher im Weiteren nicht berücksichtigt.

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

535

Verstecke (N2v.47/4–5), So (a>w)ie wir aber sind (N2v.210/7), nicht so genau erkennen [als] {wie} er wollte (N2v.367/4–5), so tief ins Volk dringen konnte (als>wi){e} die zweite (N2v.480/19–20).

1255

Das aus den Autokorrekturen rekonstruierbare Sprachmanagement Kafkas führt erneut einen Fall von Korrektur-Implementierung vor Augen:1256 Als die Verwandlung erscheinen sollte, substituierten die Herausgeber der Weißen Blätter und folgend auch diejenigen des Kurt Wolff Verlages an der Textstelle daß er es sich so behaglich machen könne, als er wolle (Dv.147/21–22) die Adjunktion als durch wie. Diese Berichtigung musste Kafka überrascht haben; denn als Der Heizer zwei Jahre zuvor bei Kurt Wolff erschienen war, war die nämliche Konstruktion zweimal (D.77/12–13; D.79/6) unbeanstandet geblieben, offenbar bei ,nachlässigeren‘ Verlagslektoren. Nun fällt auf, dass bis zum Abbruch der Arbeit am Proceß ( Januar 1915) keinerlei Autokorrekturen Kafkas in Wendungen der betrachteten Art überliefert sind – eben bis zu jenem Verlagseingriff in der Verwandlung. Alle jüngeren, aus den Jahren 1917 bis 1922 stammenden Belege, in welchen als zum Ausdruck von Gleichheit oder Ähnlichkeit dient, weisen dagegen Sofortkorrekturen des Autors auf,1257 der offenbar bemüht war, die von den Verlagen negativ sanktionierte Adjunktion zu unterdrücken. Allein im 1922/23 entstandenen Schloß-Fragment lässt sich noch ein letztes nicht durch wie ersetztes als nachweisen, allerdings in einer insgesamt gestrichenen Textpassage (Sv.137/13,3*–4*). Wieder dokumentieren Kafkas Tagebuch-Einträge, dass diese Übernahme reichsdeutscher Normvorgaben ab sofort auch für seine informelle Verwendung der Schriftsprache galt: Denn bis zum Frühjahr 1915, dem Zeitraum, in dem die Veröffentlichung der Verwandlung vorbereitet wurde, fand die Adjunktion als insgesamt 15-mal in der betrachteten Weise Verwendung,1258 zuletzt am 5. Mai (T.744/9). Ab diesem Zeitpunkt taucht sie nur noch zweimal in diaristischen Einträgen auf (T.808/9–10; T.817/11–12), ab August 1917 überhaupt nicht mehr. Nach Lage der Indizien dürfte man jedoch weder einen Regionalismus noch eine Form des Substandards vor sich haben: Theoretisch bestünde zwar die Möglichkeit, Kafka

1255 Eine Stichprobe ergab im Schloß siebenmal den Typ ebenso … wie (S.182/12–13; S.244/21; S.412/9–10; S.415/6; S.480/14; S.485/4–5; S.488/12), dagegen nur einmal den Typ sobald … als (Sv.137/13,4*). 1256 Vgl. Kafkas Aufgabe der Konstruktion vergessen an (+ Akk.) (Kap. 5.2.7.3.3) und der Subjunktion bis zum Ausdruck von Vorzeitigkeit (Kap. 5.2.8.2.1) nach negativer Sanktionierung durch reichsdeutsche Norminstanzen. 1257 Vgl. N2v.39/3; N2v.47/4–5; N2v.210/7; N2v.367/4–5; N2v.480/19–20. 1258 Vgl. T.111/8–9; T.118/5–6,14,15; T.119/4; T.133/7; T.196/24–26; T.223/9–10; T.369/5; T.627/5–6; T.663/12; T.700/4; T.701/27; T.744/9; T.967/18–19.

536

Regionalismen in Franz Kafkas literarischem Deutsch

hätte an den fünf autokorrigierten Stellen an sich zur doppelten Vergleichsadjunktion als wie angesetzt, die auf dem oben genannten ostmittel‑, nordober- und ostoberdeutschen Dialektareal in gleichsetzenden Konstruktionen alternativ zu bloßem wie gebräuchlich ist (Weise 1918: 173–174). Angesichts einer solchen hypothetischen Dialekt-Direktanzeige (Zehetner 1977: 124) wären die übrigen bloßen als-Setzungen dann als Kontrastübertreibungen zu deuten, wie sie etwa von Kalau (1984: 203) beschrieben werden.1259 Der dann mit mindestens zwölf von 17 Belegen (70,59 Prozent) aus fehlerlinguistischer Sicht uncharakteristisch hohe Anteil hyperkorrekter Schreibungen scheint eine solche Deutung jedoch auszuschließen. Wesentlich näher liegt es, das Phänomen im Kontext zwar überregionaler, doch im Veralten begriffener Schriftsprachlichkeit zu betrachten: Dass Kafkas gleichsetzendes als in Prag durchaus der Norm entsprach, belegt zum einen die städtische Pressesprache,1260 zum anderen die Prosa Egon Erwin Kischs.1261 Zudem lassen zumindest zwei der Prager Standard-Wörterbücher (Sterzinger 1916: 205; Siebenschein 1936–1938: 81; 1944: 682) Gleichsetzungen vom Typ so schnell wie wahlweise auch mit als gelten. Daneben signalisiert Brods editorische Toleranz gegenüber dem bewussten als,1262 dass dieses auch in seinen Augen mit der reichsdeutschen Norm vereinbar war. Bestätigung findet diese Annahme in einschlägigen Regelwerken: Paul (21908: 15) z. B. hält explizit fest, „[r]elativ hatte als zunächst die Funktion des heutigen wie, welche es bis an den Anfang unseres Jahr[hunderts] behauptet.“ Trotz der Bevorzugung von wie akzeptiert auch Winter (21896: 24) durchaus den Gleichsetzungstyp ebenso gerecht als gütig, und selbst Heyse (251893: 256) vermerkt: „Zuweilen steht wohl auch bei Vergleichungen im Positiv: als.“ Wenn österreichische Kodizes dagegen alternativlos wie vorschreiben (u. a. Kummer 3 1892: 25; Lehmann 71892: 76) und die Verwendung von als z. T. ausdrücklich als Fehler brandmarken (Lehmann 1899: 36), verhalten sie sich angesichts der Praxis der Zeit rigider als nötig. Diesen Eindruck hatte u. a. auch der Sprachkritiker Karl Kraus (1987: 222–223) noch 1927. Doch vermitteln auch die Formulierungen der reichsdeutschen Regelbücher den Eindruck, dass sich die Konstruktion mit als gegenüber derjenigen mit wie im frühen

1259 Demnach greift der Mundartsprecher, obwohl kein wirklicher Kontrast zwischen Mundart und Hochsprache vorliegt, zu der Form, die in der Mundart unbekannt ist, weil er diese in jedem Fall für standardsprachlich korrekt hält. 1260 Vgl. z. B. SW (1921a: 4) und PP (1921a: 3; 1921c: 7). 1261 Vgl. ist sie […] doppelt so zärtlich zu ihm, als sonst (Kisch 51922: 70–71). 1262 Brod übernahm zwar die Verlagskorrektur in der Verwandlung (Kafka 1967b: 98), behielt das gleichsetzende als jedoch ansonsten in seiner Kafka-Ausgabe bei (z. B. Kafka 1965: 104, 230, 243, 262).

Regionalismen auf morphosyntaktischer Ebene

537

20. Jahrhundert auf dem Rückzug befand. Ein Prager Wörterbuch dokumentiert diesen Sprachwandel in Einträgen, die in großem zeitlichem Abstand zueinander verfasst wurden: Während hier unter dem Lemma als (Sterzinger 1916: 205) Gleichsetzungen des Typs so schön, gut, schnell noch wahlweise mit wie oder als zugelassen werden, nennt der zwei Jahrzehnte später erschienene Eintrag zu wie (Sterzinger 1935: 1384) die Alternative mit als nicht mehr. In der bewussten Korrektur im Text der Verwandlung dürfte somit kaum mehr als der persönliche stilistische Geschmack von Kafkas Leipziger Verlagslektor zum Ausdruck gekommen sein. Kafkas folgende Korrektur-Implementierung zeigt allerdings, wie stark sich ein deutschschreibender Prager Autor im Einzelfall durch Direktiven einer reichsdeutschen Normautorität in seiner persönlichen (literarischen) Sprachverwendung beeinflussen lassen konnte, wenn er die Rezeption seiner Werke auch außerhalb Prags, Böhmens und der k. u. k. Monarchie anstrebte.

6  Zusammenfassung „Kafkas Sätze schweben zunächst von Mund zu Ohr und finden erst dann ihren Nieder‑ schlag auf dem Papier.“ Für dieses Diktum scheint Richard Thieberger (1979: 197) angesichts der bisher gemachten fehler‑, varietäten- und kontaktlinguistischen Befunde durchaus Zustimmung beanspruchen zu können. Sein Postulat, Kafkas Sprache „möglichst wieder den Klang zu verleihen, in dem sie konzipiert worden ist“ (Thieberger 1979: 198), lässt sich zwar nicht erfüllen; doch kann an dieser Stelle zumindest eine Profilskizze der lautlichen und morphosyntaktischen Gestalt von Kafkas Deutsch vorgelegt werden: Insgesamt ließen sich im Untersuchungskorpus 103 Regionalismen unterschiedlicher Qualität und Quantität bestimmen: 30 auf der Ebene der Phonetik, 73 im Bereich der Morphosyntax – oder anders unterteilt: 39 auf Standard- und 64 auf Substandardebene. Das Spektrum ihrer jeweiligen Position im Varietätenraum des Deutschen reicht, diachron betrachtet, vom kleinräumi‑ gen Basisdialekt bis zur Süd-Norm des Deutschen, vom Ethnolekt bis zur Kontaktvarietät einer Stadtsprache außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums. Die Frequenz des Einzeltyps variiert zwischen einem und mehreren Hundert Belegen im Korpus. Anhand der zugeordneten Regionalismus-Siglen soll eine abschließende Zusammenfassung nun • überprüfen, ob sich die in Kap. . formulierte Prognose bestätigt hat, • Merkmale der phonetischen und morphosyntaktischen Gestalt des von Kafka im Alltag gesprochenen Deutsch beschreiben und eine varietätenlinguistische Einord‑ nung vornehmen, • Vermutungen über die Repräsentativität dieser Varietät für das in Prag verbreitete muttersprachliche Deutsch anstellen, • entscheiden, ob von einem besonderen Prager Standard des Deutschen zur Kaf‑ ka-Zeit ausgegangen werden kann, • Aussagen über das Sprachmanagement eines Prager deutschen Autors bei der Lite‑ raturproduktion im Spannungsfeld zwischen Prager und reichsdeutscher Normauf‑ fassung treffen. In den folgend angeführten Zahlen und Anteilen werden Direktanzeigen und hyperkor‑ rekte Formen der jeweiligen Regionalismen addiert. Diese Werte beziehen sich zudem auf alle in dieser Arbeit genannten Belegstellen, die einem regional verbreiteten Sprachsys­ tem zugeordnet werden konnten; mögliche nicht interferenziell bedingte Fehlerquellen bleiben bei dieser Darstellung unberücksichtigt (zu diesen s. das jeweilige Teilkapitel). Vollständige Quantifizierungen können dabei nur für die Phonetik vorgenommen werden,

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

539

zu der alle Korpusbelege in der Untersuchung erfasst wurden, während in den Kapiteln zur Morphosyntax z. T. exemplarisch gearbeitet werden musste.

6.1  Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch Der varietätenlinguistischen Profilskizze von Franz Kafkas Deutsch sei zunächst eine Übersicht über die im Korpus ausfindig gemachten Regionalismen vorangestellt. Hierbei wird (bei Aussparung der Korrekturzeichen der KKA) zu jedem Phänomen ein aussage‑ kräftiges Beispiel (Direktanzeige) angegeben.1 Kapitel

sprachliches Phänomen

Regionalismus-Typ

5.1.1.1.3

e-Elision in den unbetonten Silben ‑el und ‑eln (z. B. Trampln)

A1/rU(d)[O+]

5.1.1.1.4

e-Elision in den unbetonten Präfixen ge- und be(z. B. glungen, bhandeln)

A1/D[O+/–]

5.1.1.1.7

e-Elision im Auslaut flektierter Adjektive (z. B. das ganz Bett) e-Elision im Auslaut prädikativer/adverbiell ­verwendeter Adjektive - marod - träg e-Elision im Auslaut von Temporaladverbien - heut

A1/D[B] B2/rU(d)[Ö+soD] B2/rU(d)[O+]-rS(d)[Ö+soD] B2/D[O+wM]-rU(d)[O+] rS(d)[Ö+soD]

5.1.1.1.8

e-Elision im Auslaut von Substantiven (z. B. Nebensach)

A1/rU(d)[O+wM]

5.1.1.2

Formen der Entrundung - ü > i(e) (z. B. Thier) - ö > e (z. B. meglich) - eu > ei (z. B. trei)

A1/D[O–] A1/D[O+/–] A1/D[O+/–]

5.1.1.3

Formen der Monophthongierung - au > a/o/u (z. B. Malwurf, ofgenommen, Uge) - ei > a (z. B. beianander) - ei > e (z. B. Brete)

A1/D[W+] A1/D[W+] A1/D[W+]

5.1.1.4

fehlende Umlautung innerhalb der Verbflexion - laufen > laufst, raten > ratest - laden > ladest

A2/rU(d)[O+/–]-rS(d)[Ö] B2/rS(d)[O+/–]

1

Handelt es sich um einen Einzelbeleg, wird das jeweilige Wort/die jeweilige Konstruktion ohne ,z. B.‘ angeführt.

540

Zusammenfassung

Kapitel

sprachliches Phänomen

5.1.2.1

Normverstöße bei der Schreibung der Verschluss­laute im An‑, In- und Auslaut - Slowacke - sonst (z. B. Pank/Bult, Lucke/Schulder, Werg/Jagt, schibt, Cylinderhütte)

5.1.2.2

Regionalismus-Typ

A2/D[B–] A1/D[B–]

Verwechslung von ‹s› und ‹z› im An‑, In- und Auslaut (z. B. Zessel, Franzen, Schmuss)

A1/E[sJ+]

anlautende Verwechslung der Grapheme für den stimmhaften und stimmlosen labiodentalen Reibelaut (z. B. Färme, Vagen)

A1/E[wJ]

graphemische Realisierung der Affrikata /pf/ als ‹f›/‹p› (z. B. Ferd, kramphaft)

A1/E[ J–]

5.1.2.5

graphemische Realisierung von /p/ als ‹pf› im Inlaut - Klempfner, Krempfe - Schupfen

A2/D[W] A2/rU(d)[O+]-rS(d)[Ö]

5.1.2.6

Spirantisierung: graphemische Realisierung von postvokalischem /g/ und /k/ als ‹ch› im In- und Auslaut (z. B. möchlich, Musich)

A1/D[W+]

Setzung von ‹k› statt ‹ch› im In‑, statt ‹h› im Auslaut (z. B. wekseln, Klugkeit)

A1/D[B]

5.1.2.8

Setzung von ‹ch› statt ‹h› im Inlaut (z. B. nache)

A1/D[B]

5.1.2.9

Ausfall von ‹ch› im Auslaut - des Suffixes ‑lich (z. B. Wirklickeit) - von gleich (z. B. gleifalls)

A1/D[O–] A1/D[O+M]

5.1.2.10

Ausfall von ‹n› - in den Präfixen ein‑, an‑, in der Präposition von (z. B. eigestehst, Ablick, vo) - an- > au- (z. B. Augestellte)

A1/D[O] A1/D[W]

Indizien für die Vokalisierung des l (z. B. sebst, Wöbung)

A1/D[omB]

5.1.2.3

5.1.2.4

5.1.2.7

5.1.2.11.1

Tab. 18:  Übersicht über Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf phonetischer Ebene

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

541

Kapitel

sprachliches Phänomen

Regionalismus-Typ

5.2.1.1

Besonderheiten in der Stammformbildung des Verbs - rucken - ziegen - führen - sich sitzen - niedersitzen

A1/D[O+/–] A1/D[O+] B2/rS(d)[Ö+CH] A1/rU(d)[O] B2/rS(d)[Ö+soD]

5.2.1.2

Tempuswechsel vom Präteritum zum Perfekt innerhalb des Satzgefüges (z. B. Es war […] der größte Schrecken, den er bisher im Dorf erlebt hat.)

A1/rU(d)[O+]

Perfekt- und Plusquamperfektbildung mit sein bei ­intransitiven, Körperhaltungen bezeichnenden Verben (z. B. wo K. mit Leni gelegen war)

B2/rS(d)[O]

fehlende Vokalalternanz beim Partizip Perfekt der ­rück­umlautenden Verben (z. B. dass ich sie allmählich erkennt habe)

A1/D[O+]

5.2.1.6.2

restriktive Verwendung des Präfixes be- gezahlt sein

A2/rU(d)[O+]

5.2.1.7

Besonderheiten der Kongruenz des Prädikats mit dem Subjekt - Leute, Türen, viele/wenige/alle + Verb (Sg.) - Violine + Verb (Pl.)

5.2.1.3

5.2.1.5

A1/rU(kT)[P]

5.2.2.1

besondere Stammformen definiter/indefiniter Artikel - Indefinitartikel a (m/f/n) (z. B. a alter Klient) - Definitartikel dee (f ) (z. B. de Wirtin) - Definitartikel s (n) (z. B. s dritte Jahr) - Definitartikel dees (n) (z. B. auf des Gesicht)

5.2.2.2

Apokope des Kasus-Flexivs ‑e beim Indefinitartikel (f ) im Nominativ/Akkusativ Singular (z. B. ein Flüssigkeit) Apokope des Kasus-Flexivs ‑em beim Indefinitartikel (m/n) im Dativ Singular (z. B. mit ein winzigen Rucksack)

A1/D[onO+oM+]

Verwechslung von Dativ‑/Akkusativ-Formen definiter und indefiniter Artikel (m/n) (z. B. von den Mann, in einen Labyrint)

A1/D[onO]

5.2.2.3

5.2.2.4

5.2.2.5

Ellipse definiter und indefiniter Artikel - durch Assimilation der Artikelformen n, da, d, a (z. B. bei Namen, in Kinderwagen, auf Automobil zu) - sonstige Artikelausfälle (z. B. die er in Hand hielt) - Ø + paar + Substantiv (Pl.) (z. B. mit paar Schritten) Definitartikel vor Personennamen (z. B. mit dem Roßmann reden)

A1/D[onO–] A1/D[onO+] A1/D[O+/–] A1/D[O+]

A2/rU(d)[O+]

A2/D[onO] A1/rU(kT)[P] A2/rS(kT)[P]+  rU(kT)[W] A1/rS(d)[O+wM+]

542

Zusammenfassung

Kapitel

sprachliches Phänomen

Regionalismus-Typ

5.2.3.1

Stammformbildung schwacher Feminina mit n-Suffix (z. B. an der Kanten)

A1/D[onO+]

5.2.3.2

Besonderheiten in der Genus-Zuordnung der Substantive - das Brezel - das Fauteuil - der Akt, der Gehalt, der Bord - der Strahn - der Teuerung, das Laib - das Verdienst

B2/rS(d)[Ö] A2/rS(d)[Ö] B2/rS(d)[Ö+SoD] B2/D[oM]+  rS(d)[Ö+SoD] A2/rS(d)[P] A1/rS(d)[Ö]

5.2.3.3.1

fehlende Plural-Suffixe bei Substantiven - Suffix ‑e (z. B. die Handschuh) - Suffix ‑n (z. B. mit den Diener) - Suffix ‑en (z. B. gegen alle Vorschrift)

A1/rU(d)[O+wM+] A2/D[O+wM+] A2/D[O+wM+]

5.2.3.3.2

Plural-Suffix ‑e bei Fremdwörtern - Lampione - Motore

A1/rS(d)[Ö] A2/rS(d)[BL]

5.2.3.3.3

Pluralbildung mit Umlautung des Stammsilbenvokals - Pölster - Krägen - Kästen

A2/rU(d)[Ö+soD] B1/rS(d)[O] A2/rS(d)[O]

5.2.3.5.1

Tendenz zum Fugen-s bei Substantiv-Komposita (z. B. Ausnahmsfall)

A1/rS(d)[Ö]

5.2.3.5.2

(fehlendes) Fugenmorphem ‑(e)n- bei Substantiv-­ Komposita - Visitkarte - Firmaschildchen - Einzelnheiten

A2/rS(d)[Ö] B1/rS(d)[Ö] A2/rS(d)[Ö]

vom Standarddeutschen abweichende Formen der 1. Person Singular/Plural der Personalpronomen - ich > i - wir > mir

A1/rU(d)[O–] A1/D[O+M–]

5.2.4.1.2

Ellipse des Personalpronomens der 1. Person Singular (z. B. Darf ihn jetzt holen?)

A1/rU(d)[O–]

5.2.4.1.3

Verwechslung von Dativ-/Akkusativ-Formen der ­Personalpronomen in der 1. und 3. Person Singular Maskulinum (z. B. nahm er ihm unter den Arm, es hat mir gefreut)

A1/D[onO]

5.2.4.1.1

5.2.4.2.1

Ausfall - des Kasus-Flexivs ‑e bei Possessivpronomen (f ) (z. B. sein Hand, ihr Brust, mein Berechtigung) - des Kasus-Flexivs ‑en bei Possessivpronomen (m) (z. B. sie nahm sein Kopf an sich)

A1/D[O+wM] A1/D[O+M]

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

543

Kapitel

sprachliches Phänomen

Regionalismus-Typ

5.2.4.2.2

Akkusativ-Flexionssuffix bei Possessivpronomen (m/n) im Dativ Singular (z. B. in seinen Zimmer, von meinen Onkel)

A1/D[onO+oM+]

Dativ-Flexionssuffix bei Indefinitpronomen (m) im Akkusativ Singular (z. B. auf keinem Fall)

A1/D[onO+oM+]

Dativ-Flexionssuffix beim Interrogativpronomen wer im Akkusativ (z. B. Wem suchst Du?)

A1/E[ J]

Akkusativ-Flexionssuffix bei Demonstrativpronomen (m) im Dativ Singular (z. B. nach solchen Streit)

A1/D[onO]

Dativ-Flexionssuffix bei Relativpronomen (m) im ­Akkusativ Singular (z. B. dem sie ein wenig zurückstieß)

A1/E[ J]

5.2.5.1

Adjektiv-Stammform mit dem Suffix ‑lich statt ‑ig - unförmlich

B2/rS(d)[Ö]

5.2.5.2

Umlautung des Stammsilbenvokals bei Adjektiven - stützig - färbig

B2/rS(d)[Ö] A2/rS(d)[Ö]

5.2.5.3

Verwechslung von Dativ‑/Akkusativ-Flexionssuffixen des Adjektivs im Singular Maskulinum/Neutrum (z. B. in einem dunklem Rahmen, mit dumpfen Gesang)

A2/D[onO+oM+]

5.2.5.4

Ausfall von ‑n in Plural-Flexionssuffixen des Adjektivs (z. B. diese viele Arme)

A1/D[O+wM]

5.2.5.6

Tendenz zum Fugen-s bei Adjektiv-Komposita (z. B. aufnahmsfähig)

A1/rS(d)[Ö]

5.2.6.1

Stammformbildung beim Adverb mit Suffix ‑s - (ohne) weiters - durchwegs

A2/rS(d)[Ö] B2/rS(d)[O–]

5.2.6.3

Tendenz zum Fugen-s bei Adverb-Komposita (z. B. traumslos)

A1/rS(d)[Ö]

5.2.6.4

Verwechslung von hin und her als Erstglied in zusammengesetzten Richtungsadverbien (z. B. ich wollte rasch herunterklettern)

A1/E[ J]

5.2.7.1

Sonderbedeutungen der Präpositionen - über (+ Akk.) (z. B. über Auftrag) - um (+ Akk.) (z. B. einen Diener um sie schicken)

B2/rS(d)[Ö] B2/D[B]-rS(d)[Ö]

5.2.7.2

erhöhte Frequenz von bei in Präpositionalgruppen in Funktion von Lokalbestimmung der Unterkategorie ,punktuelle Lokalität mit Kontakt‘ (z. B. bei der Tür, beim Fenster, faßte ihn beim Arm)

B2/rS(d)[Ö+soD]

5.2.4.4.2

5.2.4.5

5.2.4.6

5.2.4.7.2

544

Zusammenfassung

Kapitel

sprachliches Phänomen

5.2.7.3.1

Verschmelzungsform am in der Bedeutung ,auf dem‘ (z. B. am Land)

5.2.7.3.2

Schwankungen im Gebrauch von an und auf (z. B. oben auf der Decke hing er)

B1/rS(kT)[BL]

5.2.7.3.3

vergessen an (+ Akk.) (z. B. ich habe daran vergessen)

A2>1/rS(d)[Ö]

5.2.8.1.1

Ersatzkonstruktion für die Fügung (um) zu + Infinitiv (z. B. etwas zum Essen)

B2/rS(d)[O]

5.2.8.1.2

Ausfall der Infinitiv-Konjunktion zu - in Assimilation begünstigenden Positionen (z. B. statt ihn stören) - in sonstigen Fällen (z. B. was sollte uns zwingen Sie aufnehmen)

A2/rU(kT)[P]

temporale Subjunktion bis anstelle von wenn/sobald zum Ausdruck von Vorzeitigkeit (z. B. Bis er es wünscht; nicht früher)

A2>1/rU(d)[Ö]

5.2.8.2.1

5.2.8.2.2

5.2.8.3

temporale Subjunktion wie anstelle von sobald/nachdem zum Ausdruck von Vorzeitigkeit (z. B. daß der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff) Vergleichsadjunktion wie nach dem Komparativ zum Ausdruck der Ungleichheit (z. B. früher wie ich)

Regionalismus-Typ B1/D[onO]-rU(d)[Ö] rS(d)[P]

A1/D[O–]

B1/rU(d)[onO+wM–]

A1/D[onO+oM+] rS(d)[P]

Tab. 19:  Übersicht über Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf morphosyntaktischer Ebene

6.1.1  Merkmale diatopischer Substandard-Varietäten des Deutschen: individuelle Interferenzen zwischen Primär- und Hochsprache Die Mehrheit der in Kap. 5 aus Kafkas Varianten herausgefilterten Regionalismen (55 von 103) lässt sich einem individuellen Transfer primärsprachlicher Strukturen in die Schriftsprache zuordnen, die für den Schreibenden gewissermaßen eine Zweitsprache darstellte. Die hierbei verschriftlichten Interferenzen sind somit prinzipiell als Resultat eines Sprach-Kontaktes zu betrachten.2 In dem Gesamtbild, das sich von Kafkas All‑ tagsdeutsch vor diesem Hintergrund ergibt, ist eine markant oberdeutsch-mundartnahe

2

S. hierzu Kap. 2.4.1 und 2.5.

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

545

Einfärbung letztlich nicht zu übersehen. Die exakte Bestimmung des zugrunde liegenden Sprach­systems lässt sich anhand einer Synopse derjenigen Regionalismen vornehmen, die diatopischen Substandard-Varietäten des Deutschen auf dem Dialekt/StandardKontinuum angehören. Auf phonetischer Ebene können insgesamt 22 Regionalismen solchen Varietäten zugeordnet werden: Unterhalb einer Ebene zwar häufig mundartbedingter, jedoch auch überregional umgangssprachlich belegbarer Erscheinungen3 lassen sich Phänomene von charakteristisch eingeschränkter Verbreitung mittels fünf ineinander eingebetteter kon‑ zentrischer Kreise schematisieren. Ausgehend von einer spezifisch süddeutschen Sprach‑ verwendung, verengen sich diese bis hin zum Wienerischen (Blahak 2008a: 93–94). Dem äußersten Kreis wären demnach zwei Regionalismen zuzuordnen, die für die ,größere Süd‑ hälfte‘ des deutschen Sprachraums (Sigle-Bestandteile [O+M], [O+wM]) kennzeichnend sind.4 Weiter innen dürfen acht Typen als weitgehend oberdeutsch ([O+], [O], [O+/–], [O–], [Ö+soD]) betrachtet werden.5 Fünf Regionalismen verweisen explizit auf die bairi‑ schen ([B], [B–]),6 ein weiterer speziell auf die (ost‑)mittelbairischen Dialekte ([omB]).7 Im innersten der konzentrischen Kreise befinden sich sechs Regionalismen, die Reflexe der Phonetik des (Alt‑)Wienerischen ([W+], [W]) in Franz Kafkas Deutsch belegen.8 In der Morphosyntax lassen sich insgesamt 33 Phänomene substandardlicher Qua‑ lität durch ihre charakteristisch räumliche Beschränkung von anderen, zwar häufig

3

4 5

6

7 8

Hierzu gehören verschriftlichte e-Synkopen (bei En‑/Proklise, in den Suffixen ‑en/‑er/‑es) und e-Apokopen (im Auslaut von Adverbien, flektierten Verbformen und prädikativen Adjektiven), Fälle normwidriger Silbenschärfung und ‑dehnung, Reflexe der r-Vokalisierung sowie bestimmte Assimilationsformen (progressive/regressive Assimilation in ungespannten Silben, s-sch-Assimi‑ lation). Konkret handelt es sich um den Ausfall des auslautenden ‑e bei Substantiven und des auslautenden ‑ch in gleich. Zu diesen Typen zählen die e-Synkope in den Suffixen ‑el/‑eln, die e-Apokope in den Präfixen ge‑/ be- und im Auslaut des Adjektivs marod, außerdem Formen der Entrundung (ü > i, ö > e, eu > ei), der Schwund des auslautenden ‑ch im Suffix ‑lich sowie des auslautenden ‑n in den Präfixen ein‑/ an- und in der Präposition von. Dies sind die e-Apokope bei flektierten Adjektiven der schwachen Deklination, die Substitution von ‹ch›/‹h› durch ‹k› und von ‹h› durch ‹ch› sowie die Normverstöße bei der Schreibung der Verschlusslaute. Hier handelt es sich um die Reflexe der l-Vokalisierung. Gemeint sind Formen der Monophthongierung (au > a/o/u, ei > a, ei > e) und der Spirantisierung (g/k > ch) sowie die graphemische Realisierung des inlautenden /p/ als ‹pf› und des Präfixes anals ‹au-›.

546

Zusammenfassung

Abb. 22:  Verbreitungsareale der Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf der Ebene der ­Phonetik (Substandard)

mundartbedingten, aber auch umgangssprachlich flächendeckend verbreiteten Formen9 abgrenzen. Schematisiert man auch hier die jeweiligen Verbreitungsareale, so ergibt sich ein anderes Bild: Überwiegend gehören diese Regionalismen Raumtypen an, die nicht vollständig ineinander eingebettet sind, sondern sich (als süd‑/westliche und süd‑/östliche Typen) z. T. überschneiden, dabei jedoch eine allen gemeinsame Schnittmenge aufweisen: Als ober- und mitteldeutsch ([O+M], [O+M–]) können demnach zwei Regionalismen eingestuft werden.10 Räumlich enger sind fünf ober- und westmitteldeutsche Phänomene ([O+wM+], [O+wM]) verbreitet,11 neben zwölf Erscheinungen, die sich nur im ober‑

9 10 11

Hierzu gehören u. a. der Ausfall des Kasus-Flexivs ‑en bei maskulinen Indefinitartikeln im Akku‑ sativ sowie fehlende Genitiv-Suffixe bei Maskulina/Neutra in Singular und Plural. Hier geht es um das Personalpronomen mir in der 3. Person Plural und um den Ausfall des KasusFlexivs ‑en bei maskulinen Possessivpronomen. Im Detail handelt es sich um fehlende/defekte Plural-Suffixe bei Substantiven aller Genera, den Ausfall des Kasus-Flexivs ‑e bei femininen Possessivpronomen sowie von ‑n in Plural-Flexionssuf‑ fixen des Adjektivs.

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

547

deutschen Raum finden ([O+], [O+/–], [O], [O–]).12 Als ,östliche‘ Typen erweisen sich vier dezidiert nord‑/ostober- und ostmitteldeutsche ([onO+oM+])13 sowie neun auf den nord- und ostoberdeutschen (bairisch-ostfränkischen) Raum beschränkte Regionalismen ([onO+wM–], [onO+], [onO], [Ö+soD], [onO–]).14 Ein Phänomen konnte als spezifisch für die österreichische Umgangssprache ([Ö]) identifiziert werden.15 Projiziert man nun die jeweiligen Verbreitungsareale aller phonetischen und morpho‑ syntaktischen Regionalismus-Typen übereinander, so ergibt sich ein Schema ineinander eingebetteter oder sich überschneidender Flächen, deren gemeinsame Kernmenge das Areal der ostmittelbairischen bzw. noch enger der wienerischen Regionalismen bildet. Dies führt zu dem Schluss, dass allein für den ostmittelbairischen bzw. wienerischen Dialektraum die Merkmale aller im Korpus vorgefundenen Substandard-Regionalismen zugleich charakte‑ ristisch sind. Der in der Forschung für Kafkas Phonetik bereits erwogene Terminus „aus‑ trophon“ (Blahak 2008a: 93) erweist sich somit im Hinblick auf Kennzeichen diatopischer Substandard-Varietäten als plausibel.16 Die sprachliche Ausstrahlungskraft Wiens, welche die historische Stadtsprachenforschung bereits im Deutsch anderer ostmittel- und südost‑ europäischer k. u. k. Stadtzentren nachweisen konnte,17 lässt sich am Beispiel Franz Kaf‑ kas somit auch für das in Prag verbreitete Deutsch der Alltagskommunikation bestätigen.

12

13

14

15 16 17

Sie betreffen die Form z der Infinitiv-Konjunktion zu und damit einhergehende phonetisch bedingte Ellipsen, die Verb-Stammformen rucken, ziegen und sich sitzen, den Tempuswechsel vom Präter‑ itum zum Perfekt innerhalb des Satzgefüges, die fehlende Vokalalternanz beim Partizip Perfekt der rückumlautenden Verben, einen Sonderfall restriktiver Verwendung des Präfixes be‑, die Formen s/dees des Definitartikels Neutrum, den Ausfall des Kasus-Flexivs ‑e bei femininen Indefinitarti‑ keln und schließlich die Form i des Personalpronomens der 1. Person Singular, die zu phonetisch bedingten Ausfall-Erscheinungen führte. Zu ihnen gehören der Ausfall des Kasus-Flexivs ‑em bei Indefinitartikeln Maskulinum/Neutrum, n-Flexive im Dativ Singular Maskulinum/Neutrum der Possessivpronomen und m-Flexive im Akkusativ Singular Maskulinum der Indefinitpronomen, außerdem die Verwechslung von Dativ‑/ Akkusativ-Flexionssuffixen im Singular Maskulinum/Neutrum des Adjektivs. Dies sind die Formen a/an für die Indefinitartikel aller Genera, die Form dee für den femininen Definitartikel, die Verwechslung von Dativ‑/Akkusativ-Formen definiter/indefiniter Artikel, die auf lautlicher Assimilation beruhende Ellipse der Artikelformen n, da, d und a, Substantiv-Stamm‑ formen schwacher Feminina mit dem Suffix ‑n, die Pluralform Pölster, Akkusativ-Flexionssuffixe bei maskulinen Demonstrativpronomen im Dativ Singular, die Verwechslung von Dativ‑/Akku‑ sativ-Formen der Personalpronomen in der 1./3. Person Singular Maskulinum und die temporale Subjunktion wie anstelle von sobald/nachdem zum Ausdruck von Vorzeitigkeit. Hierbei handelt es sich um die Verwendung von bis statt wenn/sobald als temporale Subjunktion zum Ausdruck von Vorzeitigkeit. Von einer ,Austro-Morphosyntax‘ kann hingegen nicht gesprochen werden, da das Verbreitungs‑ gebiet der entsprechenden Regionalismen (bei einer Ausnahme) stets über Österreich hinausgeht. S. hierzu Kap. 2.1.

548

Zusammenfassung

Abb. 23:  Verbreitungsareale der Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf morphosyntakti‑ scher Ebene (Substandard)

6.1.2  Merkmale des Tschechischen: historisch bedingte Übernahmen als Ergebnis des deutsch-tschechischen Sprachen-Kontaktes Regionalismen, die eine Interferenz aus dem Tschechischen belegen, lassen sich in ins‑ gesamt fünf Bereichen der Morphosyntax von Kafkas Deutsch identifizieren. Zwei von ihnen stellen Ausfall-Phänomene dar und betreffen Wortarten, die das Tschechische nicht kennt: zum einen die Infinitiv-Konjunktion zu, zum anderen die Artikel des Deutschen, deren sparsame Verwendung bereits Schleicher (1851) in Prag auffiel. Mit insgesamt 60 Belegen übertreffen diese Ellipsen die Anzahl entsprechender Ausfälle, die auch als Ver‑ schriftlichung phonetischer Totalassimilation oberdeutscher Formen der betrachteten Wortarten gedeutet werden können. Da sie punktuell auch in anderen Prager Refe‑ renzquellen nachweisbar sind, lässt sich von einer gewissen Gruppenspezifik sprechen, allerdings im Rahmen der städtischen Umgangssprache (Sigle-Bestanteile rU(kT)[P]).

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

549

Dem regionalen Prager Standard des Deutschen (rS(kT)[P]) ist hingegen ein dritter Regionalismus zuzuordnen, der zwar eine Unterkategorie des Artikel-Ausfalls bildet, jedoch durch seine hohe Frequenz im Korpus (133 Belege), durch weitgehend ausgeblie‑ bene Autokorrekturen und durch die lokale Verbreitung im Schriftdeutschen als bereits lexikalisiert ausgewiesen ist: der Nullartikel bei der indefiniten Numerale paar, der sich diachron auch für die Umgangssprache Wiens (rU(kT)[W]) nachweisen lässt. Zwei weitere morphosyntaktische Regionalismen liegen im Bereich der Kollokation vor: Hier weisen unstimmige Numerus-Kongruenzen zwischen Substantiv und zuge‑ hörigem Verb wiederholt markante Parallelen zum Tschechischen auf. Da sie z. T. bei bestimmten Wörtern (Leute, wenige/alle + Verb (Sg.)) mehrfach auftreten, andererseits nicht als schriftsprachlich belegt werden können, dürften sie zu den in Prag üblichen umgangssprachlichen Formen gehört haben. Zum anderen schwankt Kafkas Deutsch in identischen Konstruktionen wiederholt zwischen den Präpositionen an und auf. Hier deckt sich Kafkas Tendenz, auf an Stellen zu setzen, wo auch österreichische Regel‑ werke an vorschreiben, mit der Beobachtung von Teweles (1884) und Schuchardt (1884), dass die doppelte Übertragbarkeit der tschechischen Präposition na bei Interferenz im Deutschen meist zur Wiedergabe als auf führe. Die z. T. auch in phraseologischen Wen‑ dungen auftretende Erscheinung ist indes dem regionalen Standard des Deutschen in den böhmischen Ländern (rS(kT)[BL]) zuzurechnen, zumal sie sich in entsprechenden Referenzquellen findet und nur selten von Kafkas oder fremder Hand korrigiert wurde. Diese mit tschechischen Sprachmustern übereinstimmenden Regionalismen lassen sich u. U. auf Interferenzen im Deutsch unvollkommen bilingualer Tschechen zurückführen, die im Laufe der Zeit durch ihre hohe Frequenz im Alltag via Sprachen-Kontakt auch auf die Muttersprache der deutschen Minderheit Prags bzw. Innerböhmens einwirkten. Sie sind im Falle Franz Kafkas, für den das Tschechische eine Zweitsprache darstellte, daher nicht als individuelle Transfer-Erscheinungen zu beurteilen. Er dürfte sie stattdessen ungesteuert im Verlauf seiner muttersprachlichen Sozialisation mit dem in Prag gespro‑ chenen Deutsch, dessen Teil sie bereits waren, übernommen haben.18 In Relation zu der Vielzahl an oberdeutschen Sprachmerkmalen sind die Spuren des Tschechischen in Kafkas Primärsprache zwar wahrnehmbar; letztlich muss man sie aber als bescheiden beurteilen. Dies wurde in der Forschung bereits für das Deutsche in Prag allgemein angenommen (Skála 1977: 274; Thieberger 1979: 178; Nekula 2004: 96), wenn auch nicht nachgewiesen.

18

S. hierzu Kap. 2.4.2 und 2.5.

550

Zusammenfassung

Zudem fanden sich im Bereich der Phonetik keine Indizien für spezifisch tschechische Artikulationsmerkmale. Gerade die gemäß älteren Darstellungen zum (Kleinseitner) Deutsch der bilingualen Tschechen (Schleicher 1851; Schuchardt 1884; Teweles 1884; Ritschel 1893) gegebenenfalls zu erwartenden Hinweise auf eine generelle Neigung zur hyperkorrekten Artikulation des tonschwachen [ə], zur Kürzung und offenen Aussprache betonter Vokale und zur einseitigen Verwendung der stimmlosen, unaspirierten Verschlusslaute anstelle von b, d und g konnten im Korpus nicht gesichtet werden. Die von Kafka (2013: 115, 117) über‑ lieferte Wahrnehmung, er falle auch in deutschösterreichischen Kreisen artikulatorisch auf, und die Erinnerung Gustav Janouchs (21968: 32), Kafka habe einen harten, der tschechischen Aussprache des Deutschen entfernt ähnelnden Akzent gehabt,19 dürften somit eher auf die dritte in Prag ehemals präsente Sprache verweisen, die als Quelle interferenziellen Transfers Spuren in Franz Kafkas Alltagsdeutsch hinterlassen konnte: das Jiddische. 6.1.3  Merkmale des (West-)Jiddischen: ethnolektal-gruppenspezifische Relikte eines abgelegten Idioms in deutschjüdischen Kreisen Sechs der 103 ermittelten Regionalismus-Typen lassen sich als Reflexe jiddischer Sprach‑ verwendung (Sigle-Bestandteile [ J], [ J–]) deuten. In zwei Fällen dürfen sie sogar als dezidiert west- ([wJ]) bzw. sudetenjiddisch ([sJ+]) gelten. Auf diese vergleichsweise bescheidene Zahl von Phänomenen verteilt sich allerdings ein erhebliches Quantum an Belegstellen: In erster Linie manifestiert sich das Jiddische auf phonetischer Ebene und hier im konsonantischen Bereich. Kafkas Verwechslungen von ‹s› und ‹z›, von ‹w› und ‹f›/‹v› sowie seine Schreibung der Affrikata /pf/ als ‹f›/‹p› in aussagekräftigen Positionen liegen im Korpus an insgesamt 226 Stellen vor. Sie machen damit über ein Viertel (26,37 Prozent) aller regionalsprachlich interpretierbaren Belegstellen im Bereich der Lautung aus. Im Detail sprechen die fehlerlinguistischen Indizien dafür, Kafka habe, wenn er deutsch sprach, tendenziell • das stimmlose [s] im Anlaut affriziert, die Affrikata [ts] im Auslaut dagegen als stimmloses [s], • labiodentale Reibelaute im Anlaut immer stimmlos als [f ], • die Affrikata [pf ] im Anlaut als stimmlosen labiodentalen Reibelaut [f ], im In- und Auslaut dagegen als Fortis-Plosiv [p] realisiert.

19

S. hierzu Kap. 3.1.2.4 und 5.1.2.1.

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

551

Doch bleiben Merkmale des Jiddischen nicht auf die Lautung beschränkt; sie sind auch in den Flexionsparadigmen einiger Pronomen auszumachen: Hinweise auf Dativ-Flexive bei maskulinen Interrogativ- und Relativpronomen im Akkusativ Singular liegen im Korpus zwar nur an 24 Stellen vor; doch sind sie inmitten eines Areals, dessen diatopi‑ sche Varietäten des Deutschen im Gegenteil zu n-Suffixen im Dativ wie im Akkusativ der Substantiv-Begleiter neigen, umso auffälliger. Analoges gilt für Kafkas Tendenz, in zusammengesetzten Richtungsadverbien ohne semantische Richtungsdifferenzierung her als zeigende Komponente zu verwenden. Diese drei morphosyntaktischen Erscheinungen, die an sich nur im weit von Prag entfernten niederdeutschen Raum auf Substandardebene zu erwarten wären, können aufgrund formaler Übereinstimmung im Jiddischen kaum anders als jiddischen Ursprungs gedeutet werden. Solche u. U. ,hörbaren‘,20 mutmaßlich ethnolektalen Sprachmerkmale sind gegebenenfalls nicht als aktive Interferenzen, d. h. Resultate eines Sprach-Kontaktes zu betrachten. Sie lassen sich stattdessen den gruppen‑ spezifischen Relikten zuordnen, die in den Prager deutschjüdischen Kreisen des späten 19. Jahrhunderts offenbar noch lebendig waren und von Kafka in seiner Kindheit unge‑ steuert mit dem Deutsch, das in seinem Sozialisationsmilieu gesprochen wurde, übernom‑ men werden konnten.21 Man ist daher versucht, die bereits festgestellte ,Austrophonie‘ Kafkas durch den Zusatz „mit westjiddischem Akzent“ (Blahak 2010: 315) zu ergänzen. 6.1.4  Fazit: eine ostmittelbairische Varietät des Deutschen mit Merkmalen westjiddischer Artikulation und syntaktischer Muster des Tschechischen Damit hat das Profil von Kafkas Alltagsdeutsch relativ klare Konturen gewonnen: Im Großen und Ganzen dürfte es sich um eine ostmittelbairische, dem Wienerischen nahe stehende Varietät des Deutschen gehandelt haben, die zusätzlich einige Merkmale west‑ jiddischer Artikulation und Einflüsse syntaktischer Muster des Tschechischen aufwies. Die jeweiligen Anteile der drei beteiligten Sprachsysteme an den Regionalismus-Typen des Substandards erweisen die Dominanz oberdeutscher Sprachstrukturen. Den jiddi‑ schen Merkmalen kann, wenn auch mit Abstand, die zweite Position zugewiesen werden:

20 21

Es handelt sich dabei zu 82,74 Prozent (bei 187 Belegen) um Anlautungsphänomene. In 36,28 Pro‑ zent der Fälle (an 82 Belegstellen) sind Affrikaten davon betroffen. S. hierzu bes. Kap. 2.4.3 und 2.5.

552

Zusammenfassung

3 12%

3 8%

3 8%

33 84%

22 88%

(west-)jiddisch

(west-)jiddisch

ober-/mitteldeutsch

tschechisch ober-/mitteldeutsch

Abb. 24:  Regionalismus-Typen auf phone­ tischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch ­(Substandard)

Abb. 25:  Regionalismus-Typen auf morpho‑ syntaktischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch (Substandard)

Da die Anzahl der Belegstellen pro Regionalismus-Typ erheblich schwankt, kann diese Darstellung nur einen qualitativen Eindruck vermitteln. Will man auch quantitativ aussa‑ gekräftige Vergleiche, zumindest zwischen dem oberdeutschen und dem jiddischen Anteil an Kafkas Primärsprache anstellen, so rückt erneut die Phonetik in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; denn hier konnten im Gegensatz zur Morphosyntax alle Varianten, die auf regionalsprachliche Interferenzen schließen lassen, von der Untersuchung erfasst wer‑ den. Hier zeigt die Statistik, dass Reflexe jiddischer Artikulation immerhin mehr als ein Viertel (26,97 Prozent) aller Verschreibungen ausmachen, die dem regionalen Substan‑ dard zugeschrieben werden können. Über drei Viertel (465 von 612 bzw. 75,98 Prozent) der Belege des deutschen Anteils lassen sich als lautliche Erscheinungen der bairischen Dialekte interpretieren. Betrachtet man lediglich die drei am häufigsten auftretenden Phänomene, so stellt man fest, dass sie relativ kleinräumig gebundene Aussprachemerk‑ male betreffen: Die Reflexe der l-Vokalisierung – der häufigste phonetisch induzierte Fehlertyp überhaupt (181 Belege) – weisen unzweideutig auf ein primäres mittelbairisches Dialektmerkmal hin.22 Auch die zweithäufigste Kategorie von Normverstößen, Kafkas Schwierigkeiten bei der Schreibung der Verschlusslaute (171 Belege), ist für einen ,engeren

22

S. hierzu Kap. 5.1.2.11.1.

Profilskizze: Kafkas primärsprachliches Deutsch

553 17 3%

226 27%

130 21%

88 14%

25 4%

612 73%

181 30% 171 28%

(west-)jiddisch

wienerisch (:=a)

ober-/mitteldeutsch

(a) und auch sonst mittelbairisch (:=b) (a) und (b) und auch nordbairisch (:=c) (a) bis (c) und auch südbairisch (:=d) (a) bis (d) und auch nord-/westoberdeutsch (:=e) (a) bis (e) und auch mitteldeutsch

Abb. 26:  Regionalismus-Belege auf phone­ tischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch ­(Substandard)

Abb. 27:  Deutscher Bestandteil der Regiona‑ lismus-Belege auf phonetischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch (Substandard)

bairischen Sprachraum‘, d. h. die mittel- und nordbairischen Mundarten charakteristisch.23 Die dritthäufigste Erscheinung, Indizien für eine stimmlose Aussprache des hochdeutsch stimmhaften labiodentalen Reibelautes im Anlaut (144 Belege), lässt sich dagegen als westjiddisch identifizieren24 und dem großstädtischen Raum außerhalb des geschlosse‑ nen deutschen Sprachgebietes zuordnen. Zusammen fallen auf diese drei Lautungsphä‑ nomene allein 496 aller 838 Regionalismus-Belege im Bereich des Substandards, mithin weit über ihre Hälfte (59,19 Prozent). Diese quantitativen Verhältnisse erhärten die bereits getroffene varietätenlinguistische Einordnung von Kafkas mutmaßlicher Primärsprache. Betrachtet man abschließend noch die Frequenz von Autokorrekturen im Bereich phonetisch induzierter Normabweichungen, so zeigt sich, dass sich Kafka an 739 Stel‑ len, mithin zu 88,19 Prozent, noch im Schreibprozess selbst berichtigte, d. h. in fast neun von zehn Fällen. 22 von 30 Regionalismus-Typen führen hier entsprechend den SigleBestandteil A1. Ähnlich hohe Korrekturwerte sind bei den lautlichen Normverstößen 23 24

S. hierzu Kap. 5.1.2.1. S. hierzu Kap. 5.1.2.3.

554

Zusammenfassung

allgemein-umgangssprachlicher Provenienz zu beobachten, die keine Regionalismen darstellen.25 Im Bereich der Phonetik wird Kafkas prinzipielle Kenntnis der Norm somit deutlich. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die Korrekturhäufigkeit von Textstellen überprüft, an welchen lautliche Assimilation und morphologische Gestalt zusammengewirkt haben, z. B. wo die Totalassimilation einer mundartlichen Form ihren Ausfall im Schriftbild bedingt haben kann: So berichtigte Kafka z. B. 80,77 Prozent der phonetisch erklärbaren zu-26 und immerhin noch 70,59 Prozent der entsprechenden ich-Ellipsen.27 Innerhalb der Morphosyntax ergibt der Blick auf die Korrekturhäufigkeit ein anderes Bild: Hier lässt sich eine wesentlich schwächer ausgeprägte Wahrnehmung von Norm‑ abweichungen beim Schreiben erkennen. Immerhin zwölf von 39 regionalspezifischen Substandard-Phänomenen konnte hier nicht der Sigle-Bestandteil A1 zugeordnet wer‑ den. Ein exemplarischer Blick auf die Regionalismen im Bereich der Flexionssuffixe, die 16 von 39 Substandard-Typen ausmachen, zeigt, dass Kafka nur an 123 von 371 Stellen (zu 33,15 Prozent),28 d. h. gerade einmal in jedem dritten Fall, einen begangenen Norm‑ verstoß bemerkte.29 Auffällig ist, dass innerhalb dieses Fehler-Teilkorpus nur bei den­ jenigen Fällen, die auf jiddische Flexionsparadigmen verweisen, die Korrekturhäufigkeit der phonetisch bedingten Verschreibungen erreicht wird.30 Die eingangs von Kap. 5.1 angeführte Feststellung, Dialektalität stelle in erster Linie eine phonetische Distanz zur Hochsprache dar, gilt somit auch für den Korpusbefund: Denn selbst in seinem teils unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufenden literarischen Schreibprozess registrierte Kafka die offenbar auffälligeren phonetischen Kontraste zur Hochsprache mehrheitlich,

25

26 27 28

29

30

So wurden z. B. 88,89 Prozent der durch progressive/regressive Assimilation in ungespannten Sil‑ ben (vgl. Kap. 5.1.3.1) und 88,42 Prozent der durch r-Vokalisierung verursachten Normverstöße (vgl. Kap. 5.1.2.11.2) von Kafka selbst berichtigt. S. hierzu Kap. 5.2.8.1.2. S. hierzu Kap. 5.2.4.1.2; vgl. hier auch die Korrekturen der (überregional-umgangssprachlichen) er-Ellipsen, die 36 von 43 Fällen (83,72 Prozent) erfassen. Korrigiert wurden im Detail 81 (41,87 Prozent) von 193 Normverstößen im Bereich der Verwechs‑ lung von Akkusativ‑/Dativ-Suffixen (n‑/m-Formen) der Substantiv-Begleiter Artikel, Pronomen und Adjektiv (acht Regionalismus-Typen), ferner 17 (18,89 Prozent) von 90 Fällen normwidriger Endungsreduktion (‑e, ‑(e)n, ‑em) bei denselben (fünf Regionalismus-Typen) sowie 25 (28,41 Pro‑ zent) von 88 fehlenden/defekten Plural-Suffixen bei Substantiven aller Genera (drei RegionalismusTypen). Normverstöße bei den Flexionssuffixen des Substantivs und seiner Begleiter wurden kaum häufiger korrigiert (an 34 von 96 Belegstellen bzw. zu 35,42 Prozent), wenn sie aus dem überregionalen Substandard herrührten. Hier bereinigte Kafka 22 von 24 Verstößen (91,67 Prozent) durch Sofortkorrekturen.

Zur sprachlichen Repräsentativität Franz Kafkas

555

wogegen ihm seine sprachliche Regression in den Substandard im morphosyntaktischen Bereich häufig entging.

6.2  Zur sprachlichen Repräsentativität Franz Kafkas hinsichtlich der Sprecher des Deutschen als Erstsprache im Prag des frühen 20. Jahrhunderts Die in Kap. 2.5 angestellte Prognose hat sich somit bestätigt: Die in Kafkas Varianten gesichteten primärsprachlichen Interferenzen lassen neben einer bairisch-österreichischen Grundstruktur auch Spuren einer Einwirkung der innerböhmischen und Prager Mehr‑ heitssprache Tschechisch auf das von ihm gesprochene Deutsch erkennen. Wie bereits vermutet, stellte das in Prag verbreitete Umgangsdeutsch somit keine Ausnahme unter den Varietäten in den urbanen Zentren Österreich-Ungarns außerhalb des geschlosse‑ nen deutschen Sprachraums dar. Darüber hinaus konnten Relikte des Jiddischen im Korpus nachgewiesen werden, die aus Kafkas engerem Sozialisationsmilieu herrühren dürften. Da Kafkas Muttersprache zwangsläufig dem räumlichen und sozialen Umfeld entsprang, in dem er aufwuchs und den größten Teil seines Lebens verbrachte, lassen sich über den Grad seiner Repräsentativität für das in Prag um 1910 verbreitete Deutsch folgende Punkte konstatieren: 1. Diejenigen Regionalismen, die auf dem Transfer mundartlicher/regional-umgangs‑ sprachlicher Phänomene aus der Erst- in die Zweitsprache (Schriftsprache) beruhen, müssen in gewissem Umfang und variierendem Ausmaß in weiten Kreisen derjeni‑ gen Prager verbreitet gewesen sein, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit deutscher Muttersprache vor Ort sozialisiert wurden. Die ostmittelbairische Ausprägung dieser Varianten belegt die Ausstrahlungskraft der Metropole Wien, welche die Sprachverwendung einer in der Vergangenheit v. a. aus dem oberdeut‑ schen Raum eingewanderten Bevölkerung entsprechend markant prägen konnte. 2. Regionalismen mit Parallelen zu tschechischen Sprachstrukturen können ebenfalls als Bestandteil des muttersprachlichen Deutsch der nach der Mitte des 19. Jahrhun‑ derts in Prag ansässigen Bevölkerung betrachtet werden. Als Resultat eines Spra‑ chen-Kontaktes dürften sie bereits ein integrierter Bestandteil des im Stadtgebiet gesprochenen (und z. T. geschriebenen) Deutsch gewesen sein, das sich Kafka, wie viele andere Deutsch-Prager, im Zuge seiner Sozialisation ungesteuert aneignete.

556

Zusammenfassung

Dass es sich hierbei nicht um ausschließlich von den bilingualen Juden Prags ver‑ wendete Bohemismen handelte, lässt sich daran erkennen, dass sie auch in anderen Milieus (z. B. in den Prager Medien) gängig waren. Bei bilingualen Tschechen kann man von einer entsprechend höheren Frequenz ausgehen, die in ihrem Fall aller‑ dings auf dem individuellen Transfer erstsprachlicher Strukturen in ihre Zweitspra‑ che Deutsch beruhte. 3. Die vorwiegend phonetischen Reflexe des Westjiddischen im Korpus lassen sich zu den ethnolektal-gruppenspezifischen Relikten zählen, die in der Erstsprache deutsch­jüdischer Kreise als Nachhall der aufgegebenen Sprache offenbar verblieben waren. Sie ergänzen die lexikalischen und idiomatischen Belege von Jargon-Resten aus Kafkas Familien- und Bekanntenkreis, die bereits in Kap. 2.4.3 genannt wurden. Es ist zu vermuten, dass diese Erscheinungen in der Generation vor Kafka stärker, in derjenigen nach ihm schwächer, falls überhaupt noch ausgeprägt waren. Gemes‑ sen an der Lebensdauer von Hermann und Julie Kafka (gestorben 1931 bzw. 1934) könnten sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Prag allerdings noch durchaus präsent gewesen sein. Dabei dürften sich folgende individuelle Unterschiede in ihrer Intensität ergeben haben: Nicht oder kaum sind sie bei deutschjüdischen Sprechern der Generation Kafkas zu erwarten, deren Eltern in Prag alteingesessen oder aus deutschsprachigen Gebieten zugezogen waren.31 Häufiger hörbar müssen sie dage‑ gen bei Abkömmlingen von Zuzüglern aus böhmischen Landgemeinden gewesen sein, von Eltern, die, wie etwa Kafkas Vater, zuvor in einem tschechischsprachigen Umfeld z. T. noch in Judengassen gelebt und das Deutsche vor Ort in der Schule er‑ lernt hatten. Dass sich entsprechende ethnolektale Interferenzen aus der abgelegten in der angenommenen Erstsprache festsetzen und durch die innerfamiliäre Kommu‑ nikation in abgeschwächter Form auch in das muttersprachliche Deutsch der ,zwei‑ ten jüdischen (also Kafkas) Generation‘ fortpflanzen konnten, ist nicht nur mög‑ lich, sondern darf mit Blick auf das Korpus sogar als erwiesen betrachtet werden.

31

Exemplarisch hierfür stehen z. B. die Eltern Max Brods (Brod 1969a: 113, 115). S. hierzu Kap. 1.8.1.6.

Regionalismen auf Standardebene

557

6.3  Regionalismen auf Standardebene: Möglichkeiten und Bedingtheiten überregional konzipierten Schreibens in Prag zu Kafkas Lebzeiten 6.3.1  Der Grad österreichischer bzw. ,süddeutscher‘ Prägung standardsprachlicher Phänomene in Kafkas literarischem Deutsch Insgesamt 39 von 103 Regionalismen konnten der Ebene des Standards zugeordnet werden. In fünf Fällen handelt es sich um phonetische, in 34 um morphosyntaktische Erschei‑ nungen. Sie treten im Prinzip innerhalb aller betrachteten Wortarten auf. Überwiegend ging auch Kafka selbst bei ihrer Verwendung davon aus, sie seien normkonform: Denn nur bei sieben Phänomenen sprechen mehrheitliche Autokorrekturen dafür, dass er die jeweilige Form tendenziell als regional markiert bzw. als unangemessen für eine Litera‑ tursprache mit überregionalem Anspruch auffasste (Sigle-Bestandteil A1).32 Sprachliche Teilbereiche, in welchen standardsprachliche Regionalismus-Typen vermehrt auftreten, sind die Genera der Substantive (sechs Typen), Formen durchgeführter oder unterlasse‑ ner Umlautung bei Substantiv, Adjektiv und Verb (sechs), Fugenelemente bei Substantiv, Adjektiv und Adverb (fünf ) sowie die Präpositionalverwendung (vier). Die Verbreitungs‑ areale dieser Standard-Regionalismen machen die österreichische Prägung von Kafkas literarisch verwendetem Deutsch deutlich: Fast zur Hälfte (19 Typen) repräsentieren sie nämlich Erscheinungen, die auf das Deutsch der k. u. k. Monarchie beschränkt waren. Unter ihnen befinden sich zudem 16 ,Austriazismen im engeren Sinne‘ (Sigle-Bestandteile rS(d)[Ö]), d. h. Formen, die auch auf mundartlicher oder umgangssprachlicher Ebene nicht außerhalb der Territorien Österreich-Ungarns gebräuchlich und somit für das öster‑ reichische Deutsch exklusiv waren. Weitere 14 Regionalismen erweisen sich als in Öster‑ reich und Südost-Deutschland (rS(d)[Ö+soD]: sechs), in Österreich und der Schweiz (rS(d)[Ö+CH]: einer), im gesamten oberdeutschen (rS(d)[O+/–], rS(d)[O], rS(d)[ O–]: sechs) oder darüber hinaus auch im westmitteldeutschen Raum (rS[O+wM+]: einer) verbreitet.

32

Hier handelt es sich um zusätzliche Definitartikel vor Personennamen, die Auffassung von Verdienst als Neutrum, die Pluralform Lampione, das Fugen-s bei Substantiv‑, Adjektiv- und Adverb-Kom‑ posita und die Vergleichsadjunktion wie nach dem Komparativ zum Ausdruck der Ungleichheit zweier verglichener Sachverhalte.

558

Zusammenfassung

6.3.2  Hinweise auf einen besonderen böhmischen bzw. Prager Standard des Deutschen zur Kafka-Zeit Im Verlauf der Untersuchung wurde ferner an sechs Beispielen deutlich, dass sprachli‑ che Sonderformen, die nicht „[m]it hohem k. k. Ministerialerlaß […] allgemein zuläs‑ sig erklärt“ (Kummer 31892) worden waren, in Prag oder im Inneren der böhmischen Länder Bestandteil der regionalen Schriftsprache sein konnten – vermittels einer hohen alltagssprachlichen Frequenz, aufgrund der Praxis der örtlichen Printmedien und durch die Berücksichtigung in einzelnen Kodizes. Insofern lässt sich von einem besonderen Prager bzw. böhmischen Standard des Deutschen sprechen:33 Zum einen konnten in der Verschmelzungsform am in der Bedeutung ,auf dem‘34 und in der Vergleichsadjunktion wie nach dem Komparativ35 Regionalismen identifiziert werden, die zwar auf mundartlicher oder umgangssprachlicher Ebene in der Südhälfte des deutschen Sprachraums verbreitet, in Prag allerdings auch im Rahmen des Schrifttums zulässig waren (Sigle-Bestandteile rS(d)[P]). Zum anderen ließen sich am Beispiel des Maskulinums Teuerung und des Neutrums Laib Substantiv-Genera nachweisen, die nur in Prag als normkonform galten, und anhand von Motore Pluralbildungen bei Fremdwörtern belegen, deren Standardzugehörigkeit für die böhmischen Länder exklusiv war (rS(d)[BL]).36 Mindestens zwei Phänomene dürfen dabei auf den deutsch-tschechischen Sprachen-Kontakt zurückgeführt werden: Zu den Beson‑ derheiten des Standarddeutschen innerhalb des tschechischen Sprachgebietes (rS(kT)[BL]) können die Schwankungen zwischen den Präpositionen an und auf in semantisch iden‑ tischen Kollokationen mit ,Tendenz zu auf‘ gezählt werden. Als Standardform auf Prag beschränkt (rS(kT)[P]), umgangssprachlich daneben auch in Wien verbreitet, ließ sich die indefinite Numerale paar mit Nullartikel, Brods ,Parade-Pragismus‘, bestimmen.37 Bei Ausnahme der erwähnten Vergleichsadjunktion wie setzte auch Kafka die genann‑ ten Regionalismen in der Annahme ein, sie entsprächen der Norm. Dennoch lässt sich vermuten, dass das Wissen um die städtische Verbreitung schriftsprachlicher Sonderfor‑ men einen zusätzlichen Verunsicherungsfaktor für einen deutschschreibenden Autor dargestellt haben muss, der eine überregionale Rezeption seiner Werke anstrebte. Denn

33

34 35 36 37

Zu überprüfen wäre jedoch auch die zeitgenössische Normauffassung in anderen urbanen Zentren Ostmittel- und Südosteuropas, in welchen ein muttersprachliches Deutsch in einem slawophonen Umfeld verwendet wurde. S. hierzu Kap. 5.2.7.3.1. S. hierzu Kap. 5.2.8.3. S. hierzu Kap. 5.2.3.2 und 5.2.3.3.2. S. hierzu Kap. 5.2.7.3.2 und 5.2.2.4.

Regionalismen auf Standardebene

559

angesichts der ohnehin zwischen dem Deutschen Reich und der k. u. k. Monarchie bestehenden Normdivergenz hatte er gewärtig zu sein, u. U. unwissentlich eine in Prag schriftsprachlich gängige Form zu verwenden, die bereits in Wien als mundartnah oder ,falsch‘ gelten konnte und im Deutschen Reich erst recht auf Ablehnung stoßen musste. 6.3.3  Ausmaß und Grenzen der Einflussnahme reichsdeutscher Normautoritäten auf die Literatursprache eines deutschschreibenden Prager Autors Regionalismen mit den Sigle-Bestandteilen A2, A2>1 und B1 geben Auskunft über das Ausmaß an negativer Sanktionierung, das sprachliche Formen, die Kafka bei ihrer Nie‑ derschrift als standardkonform auffasste, durch Exponenten der reichsdeutschen Norm erfahren konnten. Hier zeigt die Statistik, dass beinahe zwei Drittel, genauer 2838 der 45 Regionalismus-Typen, die Kafka selbst (zumindest lange) als schrifttauglich beurteilte, irgendwann von Herausgebern oder anderen Norminstanzen als regional markiert, sti‑ listisch unangemessen, substandardlich oder gar ,Fehler‘ eingestuft und demzufolge ver‑ bessert, ersetzt oder getilgt wurden. Angesichts seines Bestrebens, Prosa-Texte vor ihrer Veröffentlichung von regionalen Sprachmerkmalen zu säubern, seiner Affinität gegen‑ über dem Reichsdeutschen und seines Wunsches, auch außerhalb Österreichs als Autor wahrgenommen zu werden,39 dürften solche ,Zurechtweisungen‘, zumal von reichsdeut‑ scher Seite, immer wieder zur sprachlichen Verunsicherung Kafkas40 beigetragen haben. Die Untersuchung konnte ferner einen Eindruck davon vermitteln, inwieweit Ver‑ treter des reichsdeutschen Standards bleibenden Einfluss auf die Sprachverwendung eines Sprechers/Schreibers des österreichischen Deutsch nehmen konnten und wo die Grenzen einer solchen Einflussnahme lagen. Hier zeigt Kafkas Sprachmanagement bei der Produktion und Publikation literarischer Werke exemplarisch, dass man unter den deutschschreibenden Prager Autoren mit überregionalen Ambitionen den reichsdeutschen Normerwartungen weit entgegenkam und z. T. nacheiferte; denn mehrfach ließen sich im Korpus Korrektur-Implementierungen nachweisen. Diese konnten zum einen durch befreundete Sprachexperten ausgelöst werden, in welchen Kafka Kenner der reichsdeut‑ schen Schriftnorm sah. So rang sich Kafka nach einer jahrelangen Meinungsverschieden‑ heit mit seiner Berliner Verlobten Felice Bauer dazu durch, Vorzeitigkeit ab sofort nicht

38 39 40

Im Detail handelt es sich um 21 Regionalismen des Typs A2, um zwei des Typs A2>1 und um fünf des Typs B1. S. hierzu bes. Kap. 3.1.1, 3.1.2.2, 3.1.2.4 und 3.2.1. S. hierzu Kap. 3.1.2.

560

Zusammenfassung

mehr mit der Subjunktion bis auszudrücken, was sich durch das Aussetzen der Form im Korpus belegen ließ. Nach dem vergeblichen Versuch, durch andere Sprach­experten (Felix Weltsch) oder autoritative Nachschlagewerke (das Grimm’sche Wörterbuch) vielleicht doch Bestätigung zu finden, beugte sich Kafka letztlich der Einsicht, dass das umstrittene bis auch in Österreich nur umgangssprachlich war.41 Häufiger führte jedoch das Urteil von Normautoritäten, besonders der reichsdeutschen Verleger Kafkas in Leipzig und Berlin, zu bleibenden Korrektur-Implementierungen. Hier ließ sich ein Zusammenhang zwischen der negativen Sanktionierung der in Österreich standardsprachlichen Konstruktion vergessen an (+ Akk.) durch den Kurt Wolff Verlag und dem zeitgleich einsetzenden Entschluss Kafkas, die Wendung künftig ohne Präpo‑ sition zu bilden, rekonstruieren.42 Auch das plötzliche Ablassen Kafkas, die Vergleichs‑ adjunktion als nach dem Positiv zum Ausdruck der Gleichheit zu verwenden, steht in Verbindung mit einer Korrektur durch den Leipziger Verlag, deren Wirkung durch einen analogen editorischen Eingriff der Redaktion der Weißen Blätter vermutlich noch ver‑ schärft wurde. In diesem zweiten Fall implementierte Kafka die erfolgte Korrektur sogar, obwohl die beanstandete Form nach objektiven Kriterien (noch) dem überregionalen, mithin auch dem reichsdeutschen Standard angehörte.43 Kafkas Umgang mit der (bezeichnenderweise für Prag und Wien spezifischen) Kon‑ struktion Ø + paar + Substantiv (Pl.) zeigt allerdings die Grenzen der Möglichkeiten reichsdeutscher Verlage auf, deutschschreibende Prager Autoren in der Ausformung ihrer Literatursprache zu beeinflussen. Denn auch wenn Kafka entsprechende Berichtigungen durch Kurt Wolff und die Schmiede für die jeweils anstehende Publikation akzeptierte, so verweigerte er sich im Weiteren nicht nur der Implementierung der Korrektur, sondern erhöhte die Verwendungshäufigkeit der regional markierten Form zuungunsten ihrer gemeindeutschen Variante in der Folge sogar noch. Ein analoges Sich-Verwahren konnte im Zusammenhang mit dem Substantiv Einzelnheiten beobachtet werden: Obwohl Kaf‑ kas reichsdeutsche Verleger mehrfach das Fugenelement des Kompositums tilgten, nahm die Frequenz des Wortes ab 1917 gegenüber Einzelheiten bis zur Ausschließlichkeit zu.44 Beide Präzedenzfälle illustrieren, dass die Kodizes, Normautoritäten und Sprachexper‑ ten, welche die reichsdeutsche Schriftnorm repräsentierten, in Prag nicht in jedem Fall als sakrosankt galten.

41 42 43 44

S. hierzu Kap. 5.2.8.2.1. S. hierzu Kap. 5.2.7.3.3. S. hierzu Kap. 5.2.8.3. S. hierzu Kap. 5.2.2.4 und 5.2.3.5.2.

Resümee

561

6.4  Resümee Die fehler‑, varietäten- und kontaktlinguistische Analyse der in Franz Kafkas ProsaSchriften dokumentierten Varianten liefert aussagekräftige Indizien dafür, dass Kafka in Kommunikationssituationen des Alltags eine ostmittelbairische Varietät des Deutschen sprach, die v. a. auf phonetischer Ebene auch Merkmale westjiddischer Artikulation auf‑ wies, weshalb sich von einer ,Austrophonie mit westjiddischem Akzent‘ sprechen lässt; hinzu treten in manchen Bereichen der Morphosyntax Reflexe tschechischer Sprachstruk‑ turen. Mit Blick auf die ethnisch-soziale und sprachlich-nationale Bevölkerungsentwick‑ lung Prags, die zunächst durch eine oberdeutsche Einwanderung bestimmt wurde, gefolgt von einer tschechischen, die zeitlich versetzt durch eine jüdische flankiert wurde, lässt sich Folgendes über die Repräsentativität von Kafkas Primärsprache annehmen: Die in ihr dominierenden ostmittelbairischen und die bescheideneren tschechischen Sprach‑ merkmale dürften in variierendem Ausmaß in weiten Kreisen zumindest derjenigen Bewohner Prags gängig gewesen sein, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit deutscher Muttersprache vor Ort sozialisiert wurden. Die westjiddischen Sprachrelikte lassen sich innerhalb der deutschjüdischen Kreise im Stadtgebiet zumindest bei vielen Angehörigen der ,zweiten Generation‘ vermuten, die als Abkömmlinge aus tschechi‑ schen Landgemeinden zugezogener Juden von Kindheit an in Prag mit dem Deutschen als Erstsprache aufwuchsen. Aufgrund einer multiplen Sondersituation unterschied sich das zu Beginn des 20. Jahr‑ hunderts in Prag verwendete Standarddeutsch nicht nur von der damaligen im Deutschen Reich gültigen Norm; es wich darüber hinaus punktuell auch von der zeitgenössischen österreichischen Schriftpraxis ab. Dies konnte Prager deutsche Autoren mit überregio‑ nalen Ambitionen hinsichtlich der angemessenen Ausformung ihrer Literatursprache in Zweifel geraten lassen. Der Einfluss reichsdeutscher Normautoritäten war daher beträcht‑ lich; ihre negativen Sanktionierungen konnten zur Aufgabe bisher als korrekt betrachte‑ ter sprachlicher Formen im Schriftdeutschen führen. Doch waren diesem Einfluss auch Grenzen gesetzt, jenseits deren Prager Schriftsteller nicht bereit waren, Besonderheiten ihrer Muttersprache zu verleugnen. In diesen Fällen behielt das von Kafka den deutsch‑ schreibenden Juden Prags nachgesagte Bewusstsein die Oberhand, „daß im Deutschen nur die Dialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutsch wirklich lebt“ (Kafka 1958: 337).

7  Ausblick Was die vorliegende Arbeit aufgrund der in Kap. 1.4 vorgenommenen thematischen Eingrenzung nicht leisten konnte, war die Untersuchung des Korpus auf Regionalismen im Bereich der Idiomatik und der Phraseologie. Dass hier der deutsch-tschechische Sprachen-Kontakt deutlichere Spuren hinterlassen haben könnte, als der oberflächliche Blick auf seine zwar wahrnehmbaren, vergleichsweise aber bescheidenen Auswirkungen in der Morphosyntax vielleicht suggeriert, deuten die Regionalismen innerhalb der Präpositionalverwendung an. Die Interferenzen, die sich zwischen tschechisch na und deutsch an/auf ergaben, lassen die Vermutung zu, dass sich v. a. in Bereichen, in welchen das Tschechische gegenüber dem Deutschen unterdifferenzierend ist, semantische bzw. phraseologische Verschiebungen in Kafkas Deutsch (und damit in den Prager Varietäten des Deutschen überhaupt) etablieren konnten. Dieser Eindruck kann an einigen Beispielen aus dem Korpus schlaglichtartig erhärtet werden: Wenn Kafka einen Umstand als zu kleinlich (P.43/3–4; V.142/19), um eine folgende Handlung vorzunehmen, bezeichnete, meinte er gemessen am Kontext, sie sei ,zu unbedeutend‘. Nun kann das tschechische Adjektiv malicherný sowohl (bezogen auf eine Person) für ,kleinlich‘ als auch (hinsichtlich eines Gegenstandes) für ,geringfügig‘ oder ,unbedeutend‘ stehen (Kott 1878: 969; Herzer/Prach 1909b: 800). Mit dem Inte­ resse, welches die ganze Straße an der Angelegenheit nahm (V.325/26–27), war zweifellos der ,Anteil‘ gemeint, der genommen wurde. Hier mag man an den tschechischen zájem denken, der als ,Interesse‘ wie ,Anteil‘ ins Deutsche übertragen werden kann (Kott 1887: 89; Herzer/Prach 1920: 1729). Wenn von Anstrengung, die sie sich gaben (P.311/8–9), die Rede ist, wollte Kafka prinzipiell zum Ausdruck bringen, dass sich jemand ,Mühe‘ gab. Auch wenn dem im Tschechischen kein Funktionsverbgefüge entspricht,1 so verweist das ungewöhnliche Substantiv doch auf die Synonyme námaha und úsilí, welchen im Deutschen jeweils sowohl ,Anstrengung‘ als auch ,Mühe‘ entsprechen (Kott 1884: 4; Herzer/Prach 1909b: 973; 1920: 1395). Zudem illustrieren einige für Kafkas Deutsch typische Wendungen durchaus die von Egon Erwin Kisch (1992: 251–252) im ,Kleinseitner Deutsch‘ ausgemachte, für das Tschechische charakteristische Substituierung verschiedener Verben durch dát (,geben‘): Im Verschollenen etwa ,geben sich‘ die Romanfiguren nicht nur Anstrengung, sondern auch

1

,Sich Mühe geben‘ hieße tschechisch snažit se, přičinit se bzw. dát si záležet (Siebenschein 1939– 1940: 915).



563

das Rendezvous (V.262/27–263/1),2 anstatt es zu ,verabreden‘; ebenso stellen sie fest, welche Arbeit es gegeben hat,3 diese Sachen die Treppe h(in>er)aufzutragen (Vv.311/16–17). Kafkas Präpositionalverwendung, die im Bereich der Kollokation empfänglich für syntaktische Muster des Tschechischen war,4 ,schmiegte‘ sich in Phrasemen gelegentlich womöglich noch enger an tschechische Äquivalente an; dies veranschaulichen folgende Textproben:5 6

7

Sie haben […] Schwindel (P.99/7), soweit es in seinen Kräften (zu>w)ar (Pv.116/20), Mir ist es nicht 8

9

traurig (P.131/26–27), zwischen vier Augen (P.156/14–15), wenn es einem […] gegen den Sinn geht 10

11

12

(P.160/15), ich muss Wärme haben (P.199/14–15), daraus eine Lehre […] nehmen (P.258/8), der 13

Diener […] glaubte, er sei dort […] nicht mehr am Platze (V.22/7–9), in einem solchen Zeitpunkt 14

15

16

(V.29/14), im Tag (V.67/26), in der Hälfte des Weges (V.121/8–9).

Eine entsprechende Untersuchung müsste zweifellos stärker literaturwissenschaftliche Perspektiven und Methoden berücksichtigen, als dies in der vorliegenden Abhandlung der Fall war; denn die Freiheit, neue Idiome zu schaffen und Phraseme durch mehr oder minder starke Abwandlungen zu modifizieren, gehört sicher zu den Vorzügen einer Literatursprache, die Kafka in Wort- und Sprachspielen ausgiebig genutzt hat. Dieser Umstand wurde bereits eingangs als Grund dafür angeführt, die Bereiche Idiomatik und Phraseologie bei der Rekonstruktion von Kafkas Primärsprache auszuklammern. Künftig

2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. tsch. dát si rande (,ein Rendezvous verabreden/ausmachen‘) (Sterzinger 1931: 1092). Die Wendung sich ein Rendezvous geben findet sich u. a. auch bei Max Brod (Brod/Kafka 1987: 119). Vgl. tsch. něco dá mnoho práce. Standarddeutsch wäre ,etwas macht/verursacht viel Arbeit‘ normgerecht (Sterzinger 1916: 376; Siebenschein 1936–1938: 173). S. hierzu Kap. 5.2.7.3.2. Dass solche Sonderformen in Prag gängig waren, erweist das Publikationsverhalten Max Brods: Indem er sie in seiner postumen Kafka-Ausgabe unverändert abdruckte, machte er deutlich, dass sie auch seinem (Prager) Sprachgefühl nach ,richtig‘ waren (Kafka 1953b: 21, 27, 59, 106; 1965: 85, 110, 123, 143, 146, 178, 227). Vgl. tsch. máte závrat (,Ihnen ist schwindelig/schwindelt‘). Vgl. tsch. co bylo v jeho moci (,was in seinen Kräften stand‘). Vgl. tsch. není mi smutno (,ich bin nicht traurig‘). Vgl. tsch. mezi čtyřma očima (,unter vier Augen‘). Vgl. tsch. když je mu to proti mysli (,wenn es einem gegen den Strich geht‘). Vgl. tsch. potřebuju (mít) teplo (,ich muss es warm haben‘). Vgl. tsch. vzít si z toho poučení (,daraus eine Lehre ziehen‘). Vgl. tsch. není tam na místě (,er ist dort fehl am Platze‘). Vgl. tsch. v takovém okamžiku (,zu einem solchen Zeitpunkt‘). Vgl. tsch. ve dne (,am/bei Tag‘). Vgl. tsch. v půli cesty/na poloviční cestě (,in der Mitte des Weges‘).

564

Ausblick

könnte eine, hier ausdrücklich empfohlene, enge Kooperation von Sprach- und Literaturwissenschaftlern allerdings erfolgreich Grenzverläufe zwischen tschechisch induzierten Sprachen-Kontakt-Phänomenen und individuellen poetischen Neuschöpfungen ausloten. Das Postulat, bei der Untersuchung von Kafkas Prosa-Werk künftig häufiger unter Anwendung interdisziplinärer Ansätze zu verfahren, gilt nicht zuletzt auch für eine weitere Anregung: Im Fortgang der Arbeit häuften sich anhand textimmanenter Belege Indizien, die dafür sprechen, dass das von Kafka im Alltag verwendete Deutsch hörbare Merkmale des Westjiddischen aufwies. Diese sind bei Juden der zweiten Assimilationsgeneration, deren Eltern erst den Schritt aus dem Ghetto taten, trotz strenger deutscher Schulbildung zumindest in abgeschwächter Form durchaus vorstellbar; denn die Mitglieder der zur städtischen Minderheit gewordenen Prager deutschen Gemeinde waren um 1900 in beträchtlicher Zahl jüdischer Herkunft. Trotz eines oft rigorosen Strebens nach Adaption an die z. T. idealisierte Lebensform des deutschen Bürgertums ist daher vom weiteren Bestehen einer Art deutschjüdischen Milieus auszugehen, in dem Relikte des Westjiddischen (Aussprache, Lexik, idiomatische Wendungen) in zunehmend schwächer werdendem Ausmaß weitergegeben werden konnten.17 Der fehlerlinguistische Befund lässt die überlieferten Selbstzweifel Kafkas, aufgrund eines westjüdischen (d. h. westjiddischen) Hintergrundes womöglich nicht zu einer normgerechten und authentischen Verwendung des Deutschen fähig zu sein,18 partiell in einem neuen Licht erscheinen. Man sollte mithin nicht a priori von einem rein imaginären Spiel vor dem Hintergrund des Sprache-Nation-Begriffs des 19. Jahrhunderts ausgehen, der Muttersprache und Herkunft synchronisierte und Angehörigen einer ethnischen Gruppe, die einen Sprachwechsel vollzogen hatte, die volle Akzeptanz in bereits etablierten sozialen Strukturen erschwerte. Kafkas Selbstproblematisierungen scheinen vielmehr tatsächlich auf einer alltagssprachlichen Realität zu basieren, die durch die besondere Soziobiographie eines deutsch assimilierten Juden der ,zweiten Generation‘ in Prag bestimmt war – eben durch jenes „Deutsch, das wir von unsern undeutschen Müttern noch im Ohre haben“ (Kafka 2005: 343). So lassen sich hinter Kafkas überspitzter Feststellung, er falle in deutschösterreichischen Kreisen artikulatorisch auf, und seiner zwischen Fatalismus und Ironie schwankenden Anmerkung, als „Halbdeutscher“ (Kafka 2013: 72) sei er aufgrund jüdischer Abstammung muttersprachlich ,belastet‘ und im Deutschen nicht uneingeschränkt

17 18

S. hierzu Kap. 2.2 und 2.4.3. S. hierzu Kap. 3.1.2.3.



565

kompetent,19 mehr als nur literarische Inszenierungen vermuten: nämlich Versuche, das selbst und durch andere akustisch Wahrgenommene durch Übertreibung zu überspielen oder seine Korrespondenzpartner durch übersteigerte Selbstverurteilungen psychologisch dazu zu nötigen, sich, selbst bei prinzipieller Zustimmung, von seinen Äußerungen zu distanzieren.20 Eine solche Strategie könnte dann wieder als Teil einer Selbststilisierung und mittelbar auch einer Literarisierung betrachtet werden. Kafkas in Kap. 1.1 zitierte briefliche Persiflage jiddischer bzw. ,mauscheldeutscher‘ Pronominalflexion (Kafka 1958: 337), deren Reflex sich unter seinen eigenen Schreibfehlern findet,21 spricht hier Bände. Dass Kafka im Zuge seiner Selbstdarstellung einen als defizitär empfundenen primärsprachlichen Ist-Zustand im Sinne seiner Stilisierung tatsächlich kolossal übertrieb, ist durch den fehlerlinguistischen Befund genauso belegt: Denn in der Frage einer eingeschränkten Kompetenz im Schriftdeutschen aufgrund eines jüdischen Hintergrundes ,entlastet‘ ihn bereits der Umstand, dass er Normverstöße westjiddischer Provenienz zu 98 Prozent noch im Schreibprozess berichtigte,22 während mundartlich-oberdeutsche Regionalismen oft mehrheitlich unkorrigiert blieben.23 Wie dem auch sei: Die sprachwissenschaftliche Deutung des Textbefundes in K ­ afkas Prosa-Handschriften könnte Impulse zu einer veränderten Sicht auf die literarisch verarbeiteten Sprachzweifel Kafkas geben. Sie lädt ausdrücklich zu einer zumindest partiellen Neuinterpretation des facettenreichen und omnipräsenten Motivs gescheiterter Kommunikation, des Missverstehens und verbalen Fehlschlagens in Kafkas Werk ein. Die vorliegende Untersuchung versteht sich in diesem Sinne auch als Plädoyer, Schnittstellen und Berührungspunkte zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft stärker als bisher zu berücksichtigen und sie im Rahmen interdisziplinärer germanistischer Forschung zur Entwicklung neuer Perspektiven zu nutzen.

19 20 21 22 23

S. hierzu Kap. 3.1.2.3 und 3.1.2.4. Vgl. die entsprechenden Ausführungen Hartmut Binders (1979c: 515) zum Rollencharakter brieflicher Äußerungen bei Kafka (Kap. 4.3.2.1). S. hierzu auch Kap. 5.2.4.5. Dies sind 246 von 251 Belegen im Bereich der Phonetik und Pronominal-Flexion. Vgl. z. B. die Werte der Korrekturhäufigkeit bei oberdeutschen Interferenzen im Bereich der Flexionssuffixe (Kap. 6.1.4).

8  Abbildungs-, Tafel- und Tabellenverzeichnis

1

8.1  Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Die erste Seite des Proceß-Manuskripts mit Kafkas Autokorrekturen (Kafka 1997: 3) Abb. 2: Das sprachliche Kontinuum des Varietätenraums in Deutschland und Österreich um 1910 (modifiziertes Modell nach Baßler/Spiekermann) unter Einbezug der Kategorie ,Kontaktvarietät‘ Abb. 3: Prager Innenstadt-Pfarreien mit dem höchsten Anteil an deutschen Anwohnern im Jahre 1900 (Cohen 1981: 107) Abb. 4: Blatt 38v des siebten Oxforder Oktavheftes mit Kafkas Stenographie-Schrift (Kafka 2011: 154) Abb. 5: Die Verbreitung der e-Synkope im Verb-Präfix ge- (Bsp. gefallen) im deutschen Sprachraum (Eichhoff 2000: K. 4–73) Abb. 6: Die Verbreitung des Präfix-Ausfalls vor Plosiven beim Verb im Partizip Perfekt (Bsp. gekauft) im deutschen Sprachraum (Eichhoff 2000: K. 4–74) Abb. 7: Die Verbreitung umlautloser Formen starker Verben mit Stammvokal a in der 3. Person Singular (Bsp. schlafen) im deutschen Sprachraum (Eichhoff 1978: K. 123) Abb. 8: Die Verbreitung der mittelbairischen Konsonantenschwächung bei der Fortis t in initialer und medialer Position (Simmler 1983: 1125) Abb. 9: Die Realisierung von anlautendem urjiddischem ß im ehemaligen westjiddischen Sprachraum (Beranek 1965: 67) Abb. 10: Die Realisierung von anlautendem germanischem p im ehemaligen westjiddischen Sprachraum (Beranek 1965: 63) Abb. 11: Die Realisierung von inlautendem westgermanischem pp im ehemaligen westjiddischen Sprachraum (Beranek 1965: 61) Abb. 12: Das Verbreitungsgebiet der mittelbairischen l-Vokalisierung (Rein 1974: 25) Abb. 13: Die Verbreitung von ich bin bzw. ich habe auf dem Stuhl gesessen im deutschen Sprachraum (Eichhoff 1978: K. 125)

1

Der jeweilige Quellennachweis erfolgt im Anschluss an den Abbildungs‑, Tafel- und Tabellentitel. Abbildungen und Tabellen ohne Quellennachweis stammen vom Verfasser der vorliegenden Untersuchung.

Tafelverzeichnis

567

Abb. 14: Die regionale morphologische Gestalt des Indefinitartikels Femininum Akkusativ (eine) im deutschen Sprachraum (Eichhoff 2000: K. 4–66) Abb. 15: Die Verwendung des Definitartikels bei Personennamen im deutschen Sprachraum (Eichhoff 2000: K. 4–76) Abb. 16: Der Ausfall des Plural-e bei Substantiven (Bsp. Leute) im deutschen Sprachraum (Eichhoff 1978: K. 118) Abb. 17: Die Verbreitung des Plurals von Kragen mit Umlautung des Stammsilbenvokals im deutschen Sprachraum (Eichhoff 2000: K. 4–79) Abb. 18: Die Verbreitung von i als Personalpronomen der 1. Person Singular im deutschen Sprachraum (Eichhoff 2000: K. 4–62) Abb. 19: Die Verbreitung von mir als Personalpronomen der 1. Person Plural im deutschen Sprachraum (Eichhoff 1978: K. 120) Abb. 20: Die Verbreitung der Konstruktion vergessen auf (+ Akk.) im deutschen Sprachraum (Eichhoff 1993: K. 3–59) Abb. 21: Möglichkeiten der Komparation in den deutschen Dialekten: syntaktische Einbindung des Komparativs besser (Lipold 1983: 1237) Abb. 22: Verbreitungsareale der Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf der Ebene der Phonetik (Substandard) Abb. 23: Verbreitungsareale der Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf morphosyntaktischer Ebene (Substandard) Abb. 24: Regionalismus-Typen auf phonetischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch (Substandard) Abb. 25: Regionalismus-Typen auf morphosyntaktischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch (Substandard) Abb. 26: Regionalismus-Belege auf phonetischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch (Substandard) Abb. 27: Deutscher Bestandteil der Regionalismus-Belege auf phonetischer Ebene in Franz Kafkas Deutsch (Substandard)

8.2  Tafelverzeichnis Taf. 1: Taf. 2:

Die Verbreitung der e-Apokope (Bsp. müde) im ehemaligen deutschen Sprachraum (König 162007: 159) Die Verbreitung der Entrundung von ü (Bsp. müde) im ehemaligen deutschen Sprachraum (König 162007: 148; K. 1)

568

Taf. 3: Taf. 4: Taf. 5: Taf. 6: Taf. 7: Taf. 8:

Abbildungs-, Tafel- und Tabellenverzeichnis

Der Vokalismus von klein in den deutschen Dialekten (König 162007: 174; K. 2) Die Verbreitung der binnenhochdeutschen Konsonantenschwächung im ehemaligen deutschen Sprachraum (König 162007: 148; K. 2) Die formale Distinktion von Nominativ, Akkusativ und Dativ bei bestimmten Elementen in den deutschen Dialekten (König 162007: 154; K. 4) Die Verbreitung von Nominativ-Akkusativ/Dativ-Systemen in den deutschen Dialekten (König 162007: 154; K. 2) Das Zusammenfallen von Nominativ, Akkusativ und Dativ in einer Kasusform in den deutschen Dialekten (König 162007: 154; K. 1) Die Verbreitung von Nominativ/Akkusativ-Dativ-Systemen in den deutschen Dialekten (König 162007: 154; K. 3)

8.3  Tabellenverzeichnis Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5:

Tab. 6:

Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9:

Alltagssprache jüdischer Bürger in Prag I–VII (1890–1900) (Cohen 1981: 102) Quantitativer Vergleich der durchschnittlichen Anzahl editorischer Eingriffe pro Textseite in der KKA der Romane, Tagebücher und Briefe Quantitativer Vergleich des durchschnittlichen Verhältnisses von Text und zugehöriger Variantenmenge in der KKA der Romane und Tagebücher Die Verteilung von Verbvarianten mit synkopierter und nicht synkopierter Endung im Text des Verschollenen Die Verteilung apokopierter und nicht apokopierter Varianten der Adverbien gern/e, vorn/e und des Substantivs Tür/e im Text des Verschollenen bzw. im Gesamtkorpus Mögliche Kombinationen von Lang-/Kurzvokal und folgendem einfachem bzw. verdoppeltem Fortis- oder Lenis-Konsonanten im Standarddeutschen (Zehetner 1977: 45) Schematisierte quantitative Gegenüberstellung der Verwechslung der Grapheme für labiodentale Reibelaute in Kafkas Manuskripten Bereinigte schematisierte quantitative Gegenüberstellung der Verwechslung der Grapheme für labiodentale Reibelaute in Kafkas Manuskripten West- und ostmittelbairische l-Vokalisierungsprodukte im Vergleich (Rein 1974: 23)

Tabellenverzeichnis

Tab. 10: Tab. 11:

Tab. 12:

Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16: Tab. 17: Tab. 18: Tab. 19:

569

Quantitativer Vergleich von Variantenpaaren mit und ohne s-Ausstoß vor sch, st oder sp im Gesamtkorpus Zulässige Perfektbildung von sitzen, stehen und liegen mit sein/haben gemäß österreichischen und reichsdeutschen Regelwerken der Kafka-Zeit (S/N: regionale Zuordnung Süd/Nord) Verwendungshäufigkeit präfigierter/nicht präfigierter Varianten der Verben zahlen, strafen und hindern bei Partizip-Perfekt- und sonstigen Flexionsformen im Gesamtkorpus Definitartikel vor Personennamen in der Erzählhandlung bzw. in wörtlicher, indirekter oder innerer Rede im Text des Verschollenen Mögliches perseveratives Nachwirken der Genera früher im Text verwendeter Substantive auf nachfolgende Mögliche Auswirkungen antizipierter Substantive auf die Verwendung vom Standarddeutschen abweichender Substantiv-Genera Frequenz der Präpositionen bei und an in der Funktion lokaler Bestimmung bei identischen Substantiven im Proceß-Manuskript Quantitativer Vergleich normwidriger Ausfälle von Personalpronomen, Artikeln und Infinitiv-Konjunktionen im Korpus Übersicht über Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf phonetischer Ebene Übersicht über Regionalismen in Franz Kafkas Deutsch auf morphosyntaktischer Ebene

9  Literatur- und Quellenverzeichnis 9.1  Literarische und autobiographische Schriften Brod, Max (1911): Jüdinnen. Berlin: Axel Juncker. Brod, Max (1920): Im Kampf um das Judentum. Politische Essays. Wien, Berlin: R. Löwit. Brod, Max (1952): Beinahe ein Vorzugsschüler oder Piece touchée. Roman eines unauffälligen Menschen. Zürich: Manesse. Brod, Max (1960): Streitbares Leben. Autobiographie. München: Kindler. Brod, Max (1964b): Das Schloß. Nach Franz Kafkas gleichnamigem Roman. Frankfurt/M.: Fischer. Brod, Max (1968): Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion. Frankfurt/M.: Fischer. Brod, Max (1969a): Streitbares Leben. 1884–1968. München, Berlin, Wien: F. A. Herbig. Brod, Max/Kafka, Franz (1987): Eine Freundschaft I. Reiseaufzeichnungen. Hrsg. von Malcolm Pasley und Hannelore Rodlauer. Frankfurt/M.: Fischer. Brod, Max/Kafka, Franz (1989): Eine Freundschaft II. Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer. Canetti, Elias (1982): Dialog mit dem grausamen Partner. – In: Schultz, Uwe (Hg.), Das Tagebuch und der moderne Autor. Texte von Günther Anders, Heinrich Böll, Elias Canetti, Marie Luise Kaschnitz, Wolfgang Koeppen, Hans Werner Richter, Arno Schmidt, Ulrich Sonnemann. Frankfurt/M.: Ullstein, 49–70. Čelakovský, František Ladislav (1946): Scharamantener Herr Jurist! – In: Eisner, Pavel, Chrám i tvrz. Kniha o češtině [Tempel und Festung. Das Buch über das Tschechische]. Praha: Jaroslav Podroužek, 48. Eisner, Pavel (1930): Milenky (Německý básník a česká žena) [Die Geliebten (Der deutsche Dichter und die tschechische Frau)]. Praha: Helios. Faktor, Emil (1910): Von acht bis neun. Aus einem ungeschriebenen Gymnasialroman. – In: Deutsche Zeitung Bohemia 83/355 (25.12.), 36–37. Green, Anna Katherine (1896): Der Tag der Vergeltung (= Ausgewählte Kriminal-Romane 6). Stuttgart: R. Lutz. Herrmann, Hugo (1938): In jenen Tagen. Jerusalem: Verlag des Verfassers. Hesse, Hermann (1987): Schriften zur Literatur 2 (= Hermann Hesse. Gesammelte Werke, Bd. 12). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hofmannsthal, Hugo von (1986): Reden und Aufsätze III. 1925–1929. Buch der Freunde, Aufzeichnungen 1889–1929 (= Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke, Bd. 10. Hrsg. von Bernd Schoeller). Frankfurt/M.: Fischer.

Literarische und autobiographische Schriften

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Holitscher, Arthur (81919): Amerika heute und morgen. Reiseerlebnisse von Arthur Holitscher. Berlin: Fischer. Janouch, Gustav (21968): Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt/M.: Fischer. JM (1906): Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt. Wien: Fritz Freund. Kafka, Franz (1953a): Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1953b): Amerika. Roman. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (31954): Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlass. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1958): Briefe 1902–1924. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1961): Die Erzählungen. Hrsg. von Klaus Wagenbach. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1964): Das Schloß. Roman. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1965): Der Prozess. Roman. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1966): Der Heizer; In der Strafkolonie; Der Bau. Hrsg. von Malcolm Pasley. Cambridge: University Press. Kafka, Franz (1967a): Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. von Erich Heller u. a. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1967b): Erzählungen. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1969): Beschreibung eines Kampfes. Die zwei Fassungen. Parallelausgabe nach den Handschriften. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1974): Briefe an Ottla und die Familie. Hrsg. von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (21983a): Das Schloß. Hrsg. von Malcolm Pasley. 2 Bde. [Textband/Apparatband] (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (21983b): Briefe an Milena. Hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1990a): Der Proceß. Hrsg. von Malcolm Pasley. 2 Bde. [Textband/Apparatband] (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1990b): Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. 3 Bde. [Textband/Apparatband/Kommentarband] (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1992): Nachgelassene Schriften und Fragmente  II. Hrsg. von Jost Schillemeit. 2 Bde. [Textband/Apparatband] (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer.

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Literatur- und Quellenverzeichnis

Kafka, Franz (1993a): Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. 2 Bde. [Textband/Apparatband] (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1993b): Träume. „Ringkämpfe jede Nacht“. Hrsg. von Gaspare Giudice und Michael Müller. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Kafka, Franz (1994/1996): Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. 2 Bde. [Textband/Apparatband] (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1997): Der Process. Jemand musste Josef K. verläumdet haben … Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle (= Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte). Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld/Roter Stern. Kafka, Franz (1999a): Briefe 1900–1912. Hrsg. von Hans-Gerd Koch (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1999b): Briefe 1913–März 1914. Hrsg. von Hans-Gerd Koch (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (2002): Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. 2 Bde. [Textband/ Apparatband] (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Kafka, Franz (2004): Amtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (2005): Briefe April 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (2011): Oxforder Oktavheft 7. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle (= Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte). Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld/Roter Stern. Kafka, Franz (2013): Briefe 1918–1920. Hrsg. von Hans-Gerd Koch (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt/M.: Fischer. Kisch, Egon Erwin (51922): Der Mädchenhirt. Berlin: Erich Reiß. Kisch, Egon Erwin (1992): Die Abenteuer in Prag, Bd. 1. Berlin: Aufbau Taschenbuch. Kisch, Egon Erwin (21999): Geschichten aus sieben Ghettos. Berlin: Aufbau Taschenbuch. Kraus, Karl (1921a): Literatur oder Man wird doch da sehn. Magische Operette in zwei Teilen. Wien, Leipzig: Verlag „Die Fackel“. Kraus, Karl (1989): Literatur oder Man wird doch da sehn. Magische Operette in zwei Teilen. – In: Kraus, Karl, Dramen (= Karl Kraus. Schriften, Bd. 11. Hrsg. von Christian Wagenknecht). Frankfurt/M.: Suhrkamp, 7–83.

Literarische und autobiographische Schriften

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KW (1999): Kafkas Werke. Kritische Kafka-Ausgabe des S. Fischer-Verlages bei Chadwyck-

Healy [CD-ROM]. Cambridge: Chadwyck-Healy. Mann, Thomas (1974a): Nachträge (= Thomas Mann. Gesammelte Werke, Bd. 13). Frankfurt/M.: Fischer. Mauthner, Fritz (1918): Erinnerungen. I. Prager Jugendjahre. München: Georg Müller. Meyrink, Gustav (21987): Walpurgisnacht. Berlin: Verlag der Nation. Pick, Otto (1913): Die Probe. Novellen. Heidelberg: Meister. Pound, Ezra (1963): Literary Essays of Ezra Pound. Hrsg. von Thomas Stearns Eliot. London: Faber & Faber. Reuß, Roland/Staengle, Peter (Hgg.) (1995–2011): Franz Kafka. Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld/Roter Stern. Salten, Felix (1911): Die Wege des Herrn. Novellen. Wien: Deutsch-österreichischer Verlag. Salus, Hugo (1906): Das blaue Fenster. Novellen. Berlin: Egon Fleischel & Co. Schnitzler, Arthur (1912): Die griechische Tänzerin und andere Novellen. Berlin: Fischer. Stifter, Adalbert (1963): Studien II (= Adalbert Stifter. Gesammelte Werke, Bd. 2. Hrsg. von Konrad Steffen). Basel, Stuttgart: Birkhäuser. Stifter, Adalbert (1964): Erzählungen aus dem Nachlaß (= Adalbert Stifter. Gesammelte Werke, Bd. 5. Hrsg. von Konrad Steffen). Basel, Stuttgart: Birkhäuser. Torberg, Friedrich (1975): Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München: Langen Müller. Tucholsky, Kurt (1962): Ausgewählte Briefe 1913–1935. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek/H.: Rowohlt. Urzidil, Johannes (1965): Prag als geistiger Ausgangspunkt. Ansprache zum 80sten Geburtstag Erich von Kahlers. Gehalten im Leo Baeck Institut, New York, am 21. Oktober 1965. Privatdruck. Urzidil, Johannes (1966): Da geht Kafka. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Urzidil, Johannes (1972): Bekenntnisse eines Pedanten. Erzählungen und Essays aus dem autobiographischen Nachlaß. Zürich, München: Artemis. Weiß, Ernst (1913): Die Galeere. Berlin: Fischer. Werfel, Franz (1990): Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld. Frankfurt/M.: Fischer.

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Literatur- und Quellenverzeichnis

9.2  Zeitungen und Zeitschriften PP (1921a): Prager Presse 1/5 (01.04., Morgen-Ausgabe). PP (1921b): Prager Presse 1/6 (02.04., Abend-Ausgabe). PP (1921c): Prager Presse 1/7 (03.04., Morgen-Ausgabe). PT (1921): Prager Tagblatt 46/1 (01.01.). SW (1921a): Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift 15/1 (05.01.). SW (1921b): Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift 15/2 (14.01.). SW (1921c): Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift 15/3 (21.01.).

9.3  Wörterbücher und Lexika Ammon, Günter (1903): Wörterverzeichnis der deutschen Rechtschreibung mit Beigabe des amtlichen Regelbuchs. München: Oldenbourg. Ammon, Ulrich/Bickel, Hans/Ebner, Jakob/Esterhammer, Ruth/Gasser, Markus/Hofer, Lorenz/Kellermeier-Rehbein, Birte/Löffler, Heinrich/Mangott, Doris/Moser, Hans/ Schläpfer, Robert/Schloßmacher, Michael/Schmidlin, Regula/Vallaster, Günter (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin, New York: de Gruyter. BBW (1968–2001): Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch. Begründet und angelegt von Anneliese Bretschneider. Bearbeitet unter der Leitung von Gerhard Ising. 4 Bde. [Bd. 1: 1975; Bd. 2: 1985; Bd. 3: 1994; Bd. 4: 2001]. Berlin: Akademie-Verlag. Bohusch, Otmar (1972): Lexikon der grammatischen Terminologie. Donauwörth: Ludwig Auer. Bradač, Fran/Preglja, Ivan (1930): Slovensko-nemški slovar. Slovenisch-deutsches Wörterbuch. Ljubljana: Jugoslovenska knjigarna. Bücher, Johannes (1986): Bonn-Beueler Sprachschatz (= Rheinische Mundarten 3). Köln: Rheinland-Verlag. Bußmann, Hadumod (Hg.) (42008): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Alfred Kröner. BWB (1925–2009): Badisches Wörterbuch. Hrsg. von Ernst Ochs, Gerhard W. Baur und Karl Friedrich Müller. 4 Bde. [Bd. 1: 1925–1940; Bd. 2: 1942–1974; Bd. 3: 1975–1997; Bd. 4: 1999–2009]. Lahr/S.: Schauenburg.

Wörterbücher und Lexika

575

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576

Literatur- und Quellenverzeichnis

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Wörterbücher und Lexika

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Wörterbücher und Lexika

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Wörterbücher und Lexika

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Grammatiken und Regelbücher

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Aufsätze und Monographien

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Aufsätze und Monographien

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Aufsätze und Monographien

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Aufsätze und Monographien

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Aufsätze und Monographien

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Aufsätze und Monographien

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10  Tafelteil

Taf. 1:  Die Verbreitung der e-Apokope (Bsp. müde) im ehemaligen deutschen Sprachraum

634

Tafelteil

Taf. 2:  Die Verbreitung der Entrundung von ü (Bsp. müde) im ehemaligen deutschen Sprachraum

Tafelteil

Taf. 3:  Der Vokalismus von klein in den deutschen Dialekten

635

636

Tafelteil

Taf. 4:  Die Verbreitung der binnenhochdeutschen Konsonantenschwächung im ehemaligen deutschen Sprachraum

Tafelteil

637

Taf. 5:  Die formale Distinktion von Nominativ, Akkusativ und Dativ bei bestimmten Elementen in den deutschen Dialekten

638

Tafelteil

Taf. 6:  Die Verbreitung von Nominativ-Akkusativ/Dativ-Systemen in den deutschen Dialekten

Tafelteil

639

Taf. 7:  Das Zusammenfallen von Nominativ, Akkusativ und Dativ in einer Kasusform in den deutschen Dialekten

640

Tafelteil

Taf. 8:  Die Verbreitung von Nominativ/Akkusativ-Dativ-Systemen in den deutschen Dialekten

11  Danksagung Die vorliegende Monographie stellt eine geringfügig überarbeitete Version meiner Dissertation dar, die ich im Februar 2012 an der Philosophischen Fakultät III der Universität Regensburg einreichte. Nach dem Abschluss einer fast zehnjährigen Beschäftigung mit der Stimme eines Menschen aus einem Raum und einer Zeit, die fern und vergangen sind, gilt es, denjenigen meinen Dank auszusprechen, ohne deren Unterstützung das Zustandekommen des vorgelegten Bandes kaum denkbar gewesen wäre. An erster Stelle danke ich meinen Betreuern, Professor Dr. Marek Nekula, der mir den Zugang zu Franz Kafkas Sprache eröffnet und mir das hier bearbeitete Thema überlassen hat, und Professor Dr. Albrecht Greule, der es mir ermöglicht hat, mich im Rahmen seiner Doktoranden-Kolloquien regelmäßig einer akademischen Öffentlichkeit zu stellen und mir hier im fachlichen Diskurs methodische Anregungen für den jeweils nächsten Schritt meines Vorgehens zu holen. Ihre kompetenten Anmerkungen waren stets von außerordentlichem Wert für die im Entstehen begriffene Untersuchung. Gedankt sei ferner jenen Institutionen, welche die Veröffentlichung meiner Ergebnisse unterstützt haben: dem Adalbert Stifter Verein für ein Förderstipendium, das mir v. a. in der intensiven, von Archivaufenthalten, Bibliotheksrecherchen und redaktionellen Arbeiten geprägten Abschlussphase der Dissertation eine große Hilfe war, der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds für ihre großzügigen Druckkostenbeihilfen, die Voraussetzung für das Erscheinen der Monographie im Druck waren. Großer Dank gebührt zudem denjenigen, die sich über Jahre hinweg persönlich und zeitaufwändig mit meinem Forschungsgegenstand auseinandergesetzt und in zahllosen privaten Gesprächen, Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten wichtige, meist kritische, aber stets konstruktive Beiträge zu formalen, stilistischen und terminologischen Verbesserungen des ausgearbeiteten Textes geleistet, Korrektur gelesen und mich auch immer wieder in dem einmal eingeschlagenen Weg bestärkt haben. Diese Menschen sind meine Freunde Dr. Astrid Winter (Prag/Dresden), Dr. Roland Wagner (Brno) und Professor Dr. Ludwig Zehetner (Regensburg).

642

Danksagung

Nicht zuletzt fühle ich mich meiner Familie, die mir stets den Rücken frei gehalten hat, zu tiefem Dank verpflichtet, besonders meinen Eltern Gerlinde und Dieter. Ihre grenzenlose Geduld und Bereitschaft, mich in Phasen intensiver Recherche- und Schreibarbeit bei sich aufzunehmen, zeitweilig die Lasten des Alltags für mich zu tragen und noch zu später Stunde die Tagesergebnisse eines Mitteilungsbedürftigen anzuhören, konnten einen Raum frei von ,weltlichen‘ Verpflichtungen schaffen, in dem eine Abhandlung über Franz Kafkas Deutsch in aller Ruhe zu der Form gedeihen konnte, in der sie dem Leser nun vorliegt. Regensburg/Prag, im März 2015 Boris Blahak

Personenregister Achleitner, Arthur 134 Bailly, Céline 125 Bauer, Felice 48, 91, 101, 105, 120, 139, 143, 146, 147, 161, 167, 168, 171–173, 179, 180, 184, 325, 508, 524, 525, 559 Baum, Oskar 40, 151, 160, 176, 184 Beißner, Friedrich 27, 175, 180, 473, 530 Binder, Hartmut 18, 20, 22, 50, 70, 78-81, 83, 86, 93-95, 107–109, 112, 113, 115, 119, 120, 145, 146, 154, 160, 165–167, 169, 175, 178–180, 307, 473, 565 Blei, Franz 49, 299, 318, 347, 403, 446, 516 Bloch, Grete 166 Brod, Adolf 48, 556 Brod, Fanny (geb. Rosenfeld) 48, 556 Brod, Max 19, 26–28, 38, 40, 48–51, 61, 76, 80, 82, 86, 87, 91, 95, 96, 100, 101, 105–107, 109–111, 113, 114, 117–121, 123–125, 136, 138–140, 147, 148, 151, 153-155, 158, 160, 165, 168–170, 172, 176, 179–181, 184, 185, 191, 194, 196, 199–201, 212–214, 217, 219–223, 225, 226, 237, 238, 253, 272, 273, 299, 302, 304, 312, 318, 319, 323, 327, 329, 330, 332, 335, 346, 347, 350, 353, 358, 359, 361, 365–368, 370, 372–377, 379, 386, 387, 389–392, 394, 396, 400, 402, 404, 406, 407, 415, 416, 424, 429, 431–434, 437, 439, 443–448, 452, 454, 456, 458–463, 465, 471, 478, 480, 481, 484, 486, 500, 501, 509, 515, 516, 520, 525, 526, 528–530, 534, 536, 556, 558, 563 Buber, Martin 132

Canetti, Elias 144, 147 Čelakovský, František Ladislav 75 Demetz, Peter 16, 18, 74, 76, 78, 88 Deml, Ferdinand 94 Diamant, Dora 160, 196 Dickens, Charles 236 Dietz, Ludwig 24, 26, 27, 38, 50, 92, 93, 150, 154, 162, 163, 170, 469 Eichendorff, Josef von 95 Eisner, Pavel (Paul) 75, 76, 78 Faktor, Emil 80 Feinmann, Sigmund (Zygmunt) 128 Fishman, Joshua A. 37, 128 Flaubert, Gustave 125 Freud, Sigmund 175, 178 Fuchs, Rudolf 50 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 94, 95, 124, 134, 137, 164, 170, 185, 334, 405, 406 Goldfaden, Abraham 131 77 Goldstücker, Eduard Gordin, Jakob 131 Green, Anna Katherine 185 Gschwind, Emil 93 Haas, Willy 38, 40, 100, 174 Hartlaub, Wilhelm 121 136 Hemingway, Ernest 94 Herder, Johann Gottfried Hermsdorf, Klaus 19, 78, 83, 143 83 Herrmann, Hugo Hesse, Hermann 19 Hofmannsthal, Hugo von 96, 137 Holitscher, Arthur 51, 304 Janáček, Leoš 107

644

Personenregister

Janouch, Gustav 38, 40, 103, 104, 113, 150, 162, 169, 172, 175, 191, 254, 255, 550 Jesenská, Milena 95, 108, 143, 146, 148 Josef II., römisch-deutscher Kaiser 85 Joyce, James 136 Kafka, Gabriele (Elli) 81, 83, 86 Kafka, Hermann 48, 71, 81, 83, 86, 103, 115, 125, 146, 176, 184, 257, 362, 416, 556 Kafka, Julie (geb. Löwy) 48, 81, 83, 86, 107, 115, 125, 176, 211, 362, 416, 556 Kafka, Ottilie (Ottla) 81, 83, 108, 146 Kafka, Valerie (Valli) 81, 83 Kerner, Justinus 95 Kisch, Egon Erwin 48, 51, 76, 84, 101, 109–111, 194, 200, 201, 212, 214, 223, 225, 243, 255, 312, 318, 323, 325, 329, 330, 332, 361, 365, 370, 372, 379, 380, 394, 400, 402, 404, 407, 436, 445, 458, 465, 470, 481, 486, 488, 498, 501–503, 509, 526, 528, 530, 534, 536, 562 Kleist, Heinrich von 94, 168, 334 Kraus, Karl 15–17, 48, 441, 479, 502, 503, 509, 525, 526, 536 Krolop, Kurt 16, 17, 19, 199, 272, 308, 359, 361, 369, 370, 375, 376, 390, 399, 404, 405, 416, 446, 447, 460, 462, 509, 523, 525, 530 Labov, William 40, 188, 189 Lessing, Gotthold Ephraim 94 Liliencron, Detlev von 119 Löwy, Jakob 86 Löwy, Jizchak 87, 118, 127, 129 Mann, Thomas 175 Martini, Fritz 26, 27, 162 Masaryk, Tomáš Garrigue 50

Mauthner, Emmanuel 113 Mauthner, Fritz 75, 77, 78, 80, 96, 107–109, 113, 133, 136 Meyrink, Gustav 110 Molnár, Ferenc 50 Mörike, Eduard 121 Pasley, Malcolm 23, 24, 27, 40, 65, 82, 91, 139, 140, 154–156, 162, 163–165, 167–170, 177, 178, 180, 185, 186, 196, 199, 243, 261, 272, 392, 400, 507, 508 Pick, Otto 50, 51, 78, 108, 194, 200, 201, 214, 220, 222, 318, 323, 345, 358, 361, 400, 436, 465, 528 Pinès, Meyer Isser 130, 131 Politzer, Heinz 18, 76, 153, 155, 160, 175 Pollak, Josef (Pepa) 121 Pouillon, Jean 473 Pound, Ezra 136 Richepin, Jean 117 Ritschel, Augustin 46, 74–77, 112, 113, 242, 255, 550 Rode, Walther 50 134 Rosegger, Peter 51, 361 Rosenfeld, Oskar Salten, Felix 51, 362, 504, 509 Salus, Hugo 51, 504, 507 Schillemeit, Jost 23, 24, 40, 140, 146, 154, 165, 168, 170, 172, 180, 181, 185, 525 Schiller, Friedrich von 94 Schleicher, August 46, 74, 75, 202, 354, 487, 548, 550 Schnitzler, Arthur 51, 362 Schuchardt, Hugo 46, 74, 85, 202, 255, 335, 361, 362, 417, 487, 488, 498, 501– 503, 509, 526, 549, 550

Personenregister

Skála, Emil 69, 70, 74–76, 78, 80, 111, 113, 226, 242, 306, 324, 354, 358, 502, 509, 549 Stein, Heribert von 77, 226, 306, 469, 486 Steiner, Franz 50 Stifter, Adalbert 504 Storm, Theodor 121 Szafranski, Kurt 121 Teweles, Heinrich 46, 74, 75, 94, 202, 243, 256, 487, 501, 509, 549, 550 Thieberger, Richard 19, 22, 76, 177, 236, 306, 307, 371, 502, 504, 523, 524, 530, 538, 549 Torberg, Friedrich 80, 226 Trost, Pavel 16, 18, 68, 74, 76–78, 111–113, 135, 202, 255, 523 Tschissik, Mania 87, 118 Tucholsky, Kurt 19, 121

645

Urzidil, Johannes 74–77, 82, 111–114, 191 Uyttersprot, Herman 27 Wagenbach, Klaus 26, 76, 77, 78, 81, 83, 87, 93, 94, 102, 119, 125, 165, 179, 502, 509 Walser, Martin 180, 473 Weiler, Hedwig 120 Weinreich, Uriel 44, 128, Weiß, Ernst 51, 167, 504, 507, 509 Weltsch, Felix 48, 50, 100, 101, 108, 184, 524, 560 Wenker, Georg 44 16, 80, 110, 121, 146, 184 Werfel, Franz Wiener, Oskar 77 Wihans, Josef 95 42 Winteler, Jost Wohryzek, Julie 86, 106 Wolff, Kurt 17, 82, 92, 214, 328, 516, 535, 560

intellektuelles Pr ag im 19. und 20. Jahrhundert Herausgegeben von steffen HöHne, alice staŠková, václav petrbok bd. 1 | steffen HöHne (Hg.)

bd. 5 | andreas ströHl

august sauer (1855–1926)

Vilém Flusser (1920–1991)

Ein intEllEktuEllEr in Prag

PhänomEnologiE dEr

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kommunikation

schaftsPolitik

2013. 254 s. gb.

2011. 405 s. gb.

isbn 978-3-412-21033-5

isbn 978-3-412-20622-2 bd. 6 | steffen HöHne, bd. 2 | steffen HöHne,

ludger udolpH (Hg.)

ludger udolpH (Hg.)

Franz kaFka

Franz sPina (1868–1938)

wirkung und wirkungs-

Ein PragEr slavist zwischEn

vErhindErung

univErsität und PolitischEr

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ÖffEntlichkEit

isbn 978-3-412-22336-6

2012. 331 s. 28 s/w-abb. gb. isbn 978-3-412-20747-2

bd. 7 | boris blaHak

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dEutsch im kontExt dEs PragEr

steffen HöHne, Marek nekula (Hg.)

multilingualismus

Franz kaFkas literatursPrache

kaFka und Prag

2015. 645 s. 26 s/w- und

litEratur-, kultur-, sozial- und

8 farb. abb. gb.

sPrachhistorischE kontExtE

isbn 978-3-412-22489-9

2012. 364 s. 1 s/w-abb. gb. isbn 978-3-412-20777-9

bd. 8 | bedŘicH utitz kaleidoskoP meines Jahrhunderts

bd. 4 | steffen HöHne,

dEutsch-tschEchischE

klaus JoHann, Mirek něMec (Hg.)

lEBEns ErinnErungEn

Johannes urzidil (1896–1970)

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Ein »hintErnationalEr« schrift-

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(Hg.) max Brod (1884–1968) diE Erfindung dEs PragEr krEisEs 2015. 336 s. gb.

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isbn 978-3-412-50192-1

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