Philosophische Schriften [1 ed.] 9783666352133, 9783525352137

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Philosophische Schriften [1 ed.]
 9783666352133, 9783525352137

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Wolfgang Wieland

Philosophische Schriften

Wolfgang Wieland

Philosophische Schriften

Vandenhoeck & Ruprecht

Herausgegeben von Nicolas Braun

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-35213-3

Vorwort

Die vorliegende Auswahl ist von Wolfgang Wieland selbst wenige Jahre vor seinem Tode getroffen worden. Sie umfasst die kleineren philosophischen Arbeiten aus rund fünfzig Jahren; eine Sammlung seiner medizintheoretischen Aufsätze ist bereits 2014 gesondert erschienen (vgl. Nr. 109 des Schriftenverzeichnisses). Nur seine Vita, von ihm 1982 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vorgetragen, ist vom Herausgeber hinzugefügt. Vergleicht man in diesem Band das Inhaltsverzeichnis mit dem Schriftenverzeichnis, so wird man feststellen, dass sämtliche Aufsätze zur aristotelischen Syllogistik (21. 25. 36. 43. 45. 50. 91) weggelassen wurden. Es handelt sich bei ihnen, insbesondere bei den Aufsätzen zur modalen Syllogistik, die seinerzeit Pionierarbeiten auf diesem Gebiet waren, um Untersuchungen, die sich ausschließlich an den Spezialisten wenden. Hinzu kommt, dass bei ihrer Wiederveröffentlichung zumindest in Teilen Aktualisierungen hätten vorgenommen werden müssen. Wohl deshalb erschien Wieland ihre Aufnahme in dieser Sammlung nicht sinnvoll1. Von ihm unberücksichtigt geblieben sind auch solche Aufsätze, bei deren Aufnahme sich thematische Überschneidungen mit den hier versammelten, mit den medizintheoretischen Schriften oder mit den Monographien ergeben hätten. So wurden, was die Monographien betrifft, einige Arbeiten zu Platon und Kant offenbar deshalb fortgelassen, weil diese entweder jene thematisch vorbereiten (46. 72) oder sie begleiten (65. 107). Doch nicht in jedem Fall ist das Fehlen eines Textes gleichbedeutend damit, dass er von Wieland inhaltlich verworfenen worden wäre. Dies zeigen die Verweise auf in dieser Sammlung nicht berücksichtigte Texte2. 1

Man darf jedoch die Bedeutung, die die Beschäftigung mit logischen Fragen für Wieland hatte, nicht übersehen: Seine methodologischen Überlegungen zu Regeln einer sachgerechten philosophischen Interpretation überlieferter Texte – am reifsten entwickelt in dem Aufsatz ‚Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte‘ (u. S. 81 ff.) – entzündeten sich ursprünglich gerade auf dem Feld der aristotelischen Logik, wo relativ einfache und durchsichtige philosophische Voraussetzungen vorliegen. 2 Die Anm. 35 (u. S. 302) lässt vermuten, dass von den beiden Aufsätzen zur aristotelischen Poiêsis der ausführlichere (88) vor dem kürzeren und prägnanteren (100) deshalb zurückstehen musste, weil es galt, den Umfang der Sammlung zu beschränken. Ähnliche Überlegungen werden bei den beiden Aufsätzen zu Johannes Philoponos (13. 26) eine Rolle gespielt haben.

VI

Vorwort

Nicht aufgenommen wurden schließlich auch Rezensionen, kurze Lexikonartikel und kleinere Gelegenheitsarbeiten, deren Inhalt mehr oder weniger an den Zeitpunkt ihres Erscheinens gebunden war. Sieht man also einmal von den oben erwähnten Aufsätzen zur Syllogistik ab, so liegt mit dem hier vorgelegten Band ein durchaus repräsentativer Querschnitt der philosophischen Arbeit Wielands vor. Auf ihn selbst geht auch die Einteilung der Schriften nach ihrem methodischen Ansatz in die Sektionen Systematisches und Historisches zurück. Die chronologisch-historische Reihenfolge innerhalb der Epochen stammt von dem Herausgeber. Eine denkbare rein chronologische Anordnung hätte eine Entwicklung der philosophischen Arbeit von eher historisch zu eher systematischen ausgerichteten Texten nahelegen können. In der von Wieland gewählten Anordnung zeigt sich vielleicht der Versuch, das bis heute oft noch vorherrschende Bild des Nur-Historikers Wieland zu korrigieren und den Vorrang des Systematischen in seinem Philosophieren zu betonen. Für die Herstellung des Textes wurden in der Regel Wielands Handexemplare benutzt, die jedoch keine Eintragungen von seiner Hand enthalten. Alle durch Kursivdruck in eckigen Klammern kenntlich gemachten Zusätze und Anmerkungen stammen daher vom Herausgeber. Gegenüber der unterschiedlichen Gestaltung der äußeren Form in den Originalpublikationen wurde Einheitlichkeit angestrebt, was vor allem in den Anmerkungen zu größeren Umarbeitungen geführt hat. So erscheinen diese jetzt durchweg als Fußnoten; Zitatnachweise, die vormals laufend im Text nachgewiesen wurden, stehen nunmehr, wo es zwanglos möglich war, in Fußnoten, weshalb in diesen Fällen die Fußnoten neu durchnummeriert wurden3. Die Form der Zitatnachweise und der bibliographischen Angaben wurde vereinheitlicht und an heutige Standards angenähert. Unverkennbare Druckfehler und Versehen in Zitaten sind stillschweigend geändert worden. Die Rechtschreibung wurde behutsam der heutigen Übung angeglichen, Wielands Zeichensetzung im Ganzen beibehalten. Die genauen Daten der Erstpublikation der in diesem Band vereinigten Aufsätze finden sich jeweils an deren Ende. Der Herausgeber dankt dem Verlag, durch den diese Texte, die bei Sachkennern schon lange in hohem Ansehen stehen, jetzt einem weiteren Kreis von philosophisch Interessierten vorgelegt werden, besonders aber der Familie Wieland für ihre Unterstützung beim Zustandekommen des Bandes. 

N. B.

3 Das betrifft namentlich und im Wesentlichen die Arbeiten ‚Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur‘ und ‚Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik‘.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Systematische Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie Praxis und Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aporien der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Das Individuum und seine Identifizierung in der Welt der Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte 81 Dialektik und Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz . . . . 115 Was heißt und zu welchem Ende vermeidet man den Gebrauch der Urteilskraft? Strategien zu ihrer Umgehung . . . . . . . . . . . 136 Herausforderungen der Bioethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung. Zur Tragweite des hypothetischen Denkens . . . . . . . . . . . . . 179

Zur Geschichte der Philosophie: Antike und Mittelalter Das sokratische Erbe in Platons Philosophie . . . . . . . . . . . . 221 Staat und Selbstbewusstsein. Eine Notiz zu Platons Politeia

. . . . 242

VIII

Inhalt

Zeitliche Kausalstrukturen in der aristotelischen Logik

. . . . . . 258

Aristoteles und die Seeschlacht. Zur Struktur prognostischer Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . 266 Poiesis. Das aristotelische Konzept einer Philosophie des Herstellens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Die Ewigkeit der Welt. Der Streit zwischen Joannes Philoponus und Simplicius . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Kontinuum und Engelzeit bei Thomas von Aquino . . . . . . . . . 328

Zur Geschichte der Philosophie: Deutscher Idealismus Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . 345 Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit . . . . . . . . . . . . . 403 Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik . . . . . . . . . . . . 414 Heinrich Heine und die Philosophie

. . . . . . . . . . . . . . . . 430

Anhänge Curriculum vitae (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Lebensdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Wieland . . . . . . . . . . 457 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

Systematische Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie

Praxis und Urteilskraft I In der philosophischen Diskussion der letzten Jahre sind verschiedene, zunächst wissenschaftstheoretisch, dann aber auch fundamentalphilosophisch orientierte Entwürfe vorgestellt worden, die vor allem durch Arbeiten von Paul Lorenzen angeregt worden sind. Gemeinsam ist ihnen die Orientierung an den Handlungen, die den Aufbau der Erkenntnis ermöglichen. Die Rechtfertigung von Theorien und ihres jeweiligen Geltungsanspruchs soll dadurch geleistet werden, dass man die Genese des Wissens mittels einer Reflexion auf die zu seinem Zustandekommen erforderlichen Aktionen gleichsam wiederholt. Nur was sich auf diese Weise konstruieren oder wenigstens rekonstruieren lässt, soll Legitimität als vernünftig begründete Erkenntnis beanspruchen dürfen. Dieses Programm enthält einen neuen Lösungsvorschlag für das Problem der Letztbegründung alles Wissens. Der Ansatz scheint in der Tat zunächst geeignet zu sein, Schwierigkeiten zu umgehen, denen sich viele traditionelle Versuche einer Letztbegründung des Wissens immer gegenübersahen. Das Problem der Evidenz vor allem soll hier auf eine überzeugende und neue Weise behandelt werden. Die Aporie dieses Problems besteht ja darin, dass Evidenz prinzipiell unverzichtbar und zugleich unbegründbar ist: Evidenz der jeweilig letzten Prinzipien konnte immer nur behauptet werden. Eine sachbezogene und zwingende Argumentation gegenüber dem, der die Evidenz jener Prinzipien leugnet, war unmöglich. Die Evidenz des als evident Behaupteten bleibt für die Reflexion als das am wenigsten Einsichtige zurück. Die Forderung nach vernünftiger und einsehbarer Begründung alles Wissens stößt am entscheidenden Punkt an eine Schranke, wenn gerade die Prinzipien nicht mehr ausgewiesen werden können und damit ihre Kontingenz erweisen. Das Erlanger Programm unternimmt es nun freilich nicht, lediglich das alte Evidenzpostulat mit neuen Sätzen zu verknüpfen. Es verlangt von niemandem, irgendwelche Sätze vorweg für durch sich selbst einsichtig zu halten. Verlangt wird lediglich Kooperation: nämlich bei dem Unternehmen, mit einem wie auch immer beschaffenen Ausgangsmaterial nach lehrbaren und lernbaren Regeln in konstruktiver Absicht umzugehen. Die Ausgangsbasis ist kontingent; Prinzipienfunktionen werden ihr nicht ab-

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Systematische Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie 

verlangt. Auch wenn die Basis auf vielfältige Weise historisch oder auch sozial vermittelt ist, können alle Konstruktionshandlungen selbst rational begründbar und vor allem nachvollziehbar sein. Gegenüber den konstruktiven Akten ist kein Skeptizismus für den mehr möglich, der sich an ihnen beteiligt hat. Evidenz ergibt und begründet sich hier gleichsam durch die Tat. Diesem praktizistischen Ansatz hat die erkenntnistheoretische Diskussion unserer Tage die verdiente Aufmerksamkeit entgegengebracht. Das Konstruktivitätspostulat gibt in der Tat einen unverächtlichen Orientierungspunkt ab, wenn es darum geht, den Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis zu deduzieren. Dieses Postulat erfordert, dass man die zumeist metaphorisch verwendete Rede vom „Aufbau“ wissenschaftlicher Erkenntnis oder Sprache einmal wörtlich versteht, und dass man sein Interesse auf die Aktionen richtet, die diesen Aufbau realisieren sollen. Dabei braucht der Operierende oder der Kooperierende kein inhaltliches Wissen mitzubringen. Es genügt, dass er weiß, was er tut, wenn er sich an einem konstruktiven Akt beteiligt; eine Verbalisierung dieses Wissens ist hingegen nicht erforderlich. Im Umkreis der fundamentalen, wissensbegründenden Aktionen ist jenes Wissen hinreichend, das sich im verständigen praktischen Umgang mit einer Sache zeigt. Es ist ein Wissen, das sich immer schon durch die Tat, und nur durch sie, erweist. Ihm eignet eine spezifische Evidenz, die von jeder für irgendwelche Sätze postulierten Evidenz verschieden ist. Es gibt keine Skepsis, die die Konstruierbarkeit eines bereits konstruierten Gebildes bezweifeln könnte. Nun beschränkt sich das Erlanger Programm nicht auf eine konstruktivistische Begründung von Theorien und Sprachen. Denn der konstruktivistische Ansatz soll zugleich die Voraussetzungen für eine allgemeine Theorie des Handelns liefern. Damit wird die Wissenschaftstheorie paradigmatisch für die praktische Philosophie: An jenem Handeln und an jenen Normen, die den durchaus wörtlich verstandenen Aufbau einer Wissenschaft regulieren, sollen die Strukturmerkmale und Normen abgelesen werden, die für vernünftiges menschliches Handeln überhaupt maßgebend sind. Diese Wendung hat dem Erlanger Programm in einer durch die Zuwendung zu Problemen der praktischen Philosophie charakterisierten Situation weit über den Bereich rein wissenschaftstheoretischer Interessen hinaus Aufmerksamkeit eingebracht. Scheint es doch, als ließe sich von hier aus der Streit zwischen Vertretern analytischer oder logizistischer Ansätze und den Vertretern der unmittelbar sich auf die soziale Lebenswelt richtenden Reflexion so entscheiden, wie philosophische Kontroversen von jeher auf produktive Weise entschieden worden sind: nämlich durch die Entwicklung eines neuen Ansatzes, der die Positionen beider Kontrahenten als nur noch abstrakte Momente in sich enthält. So scheint es, als könne das Erlanger Programm eine Integration leisten, wie sie von einem philosophischen An-

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satz verlangt wird, der komplementäre Unternehmungen in eine Einheit fügen und den Grund aufzeigen will, im Hinblick auf den auch das noch zusammengehört, was man zunächst nur als bloße Diversität zu sehen gewohnt war. Der Anspruch des Erlanger Programms, den wissenschaftstheoretischen Konstruktivismus praktizistisch ausweiten und ihn als Paradigma für die Grundlegung einer Philosophia practica in Anspruch nehmen zu können, soll in den folgenden Abschnitten geprüft werden. Im Hintergrund steht die Frage, ob man wirklich zu Recht hoffen darf, dass sich Kontroversen der politischen und sozialen Praxis sowie der Lebenspraxis überhaupt einmal nach Art jener Auseinandersetzungen austragen und schlichten lassen, wie sie im Bereich jener speziellen, der Gewinnung und Tradierung von Einsicht gewidmeten Praxis geführt werden. Es ist zugleich die Frage, ob wirklich zwischen der Praktifizierung der Wissenschaft und der Szientifizierung der Lebenspraxis eine über beiläufige Analogien hinausgehende Korrespondenz oder gar eine Konvergenz aufgewiesen werden kann.

II Betrachtet man die Handlungen, an denen sich der Praktizismus orientiert, wenn er den Aufbau einer Wissenschaft oder einer Sprache rekonstruiert, so sollte man eine simple Tatsache nicht übersehen: auch das Erlanger Programm leistet de facto keinen Aufbau eines Wissenssystems. Es liefert keine neuen Forschungsmethoden, sondern es stellt ein Reflexionsmodell vor, das der Beurteilung von Systemen dienen soll. Wie überall, wo Philosophie betrieben wird, die ihren Namen verdient, so geht es auch hier nicht um unmittelbares Handeln, sondern um theoretische Argumentation und Rede, die freilich von Kategorien Gebrauch macht, die Beziehungen zur Welt des Handelns haben. So darf man davon absehen, dass auch diese theoretische Rede wie jede Rede Träger praktischer Intentionen sein kann; man darf ferner davon absehen, dass jede Rede auch unabhängig von derartigen Intentionen Wirkungen zeitigen kann, mit denen sich das Handeln auseinandersetzen muss; man darf schließlich sogar davon absehen, dass sich auch diese theoretische Rede als Weise praktischen Verhaltens betrachten lässt. Die Tatsache bleibt bestehen, dass auch der Praktizismus zunächst einmal eine Theorie aufstellt, und zwar eine Theorie über Theorien und über die zu ihrer Genese erforderlichen Handlungen. Wie überall im Bereich der theoretischen Einstellung, so sollen auch hier Auffassungen über Sachverhalte – beispielsweise über Konstruktionsmöglichkeiten – formuliert und sachgerecht begründet werden; differierende Auffassungen sollen als falsch oder unvollständig aufgewiesen und berichtigt werden. Daher muss auch

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hier schon mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass Theorie auf der Ebene der Reflexion prinzipiell unhintergehbar bleibt. Diese Reflexion orientiert sich vor allem an zwei Typen von Handlungen: einmal sind es Handlungen vom Typus des schematischen Operierens und zum anderen dialogische Handlungen. – Der schematisch Operierende realisiert nach einem gegebenen Plan an gegebenem Material bestimmte Aktionen. Dabei kann der Plan auch die Möglichkeit von Alternativentscheidungen vorsehen. In jedem Fall hat aber die Tätigkeit des Operierens ein von ihr selbst verschiedenes Ergebnis. Das schematische Operieren gibt das Leitbild für herstellende, zielgerichtete und objektbezogene Tätigkeiten ab, die niemals Selbstzweck sind. Ohne Belang ist es, ob diese Tätigkeiten zweckgerichtet oder nur zweckmäßig sind. Auch Tätigkeiten, deren Ergebnis erst nachträglich als Zweck der Einzelakte interpretiert wird, lassen sich im Sinne des schematischen Operierens deuten. Wer schematisch operiert, bedarf nicht notwendig eines Partners. Zwar kann das zugrundeliegende Material eine ihm eigene Gesetzlichkeit ins Spiel bringen und damit den Plan des Operierenden durchkreuzen. Doch jeder Plan lässt sich dann immer so modifizieren, dass er mögliche Störfaktoren berücksichtigt. Auch im Rahmen dialogischer Interaktionen kann gelegentlich einmal schematisches Operieren praktiziert werden, doch es ist dann mit Rücksicht auf die dialogische Rahmenhandlung nicht strukturbestimmend. Dialogisches Handeln ist notwendig auf das korrespondierende Handeln eines Partners bezogen; im Regelfall werden die Dialogpartner zugleich auf eine gemeinsame Sache bezogen sein oder dies zumindest glauben oder vor­ geben. Dialogpartner sind grundsätzlich gleichberechtigt; eine Rollenverteilung ist dadurch keineswegs ausgeschlossen. Im Dialog muss das Handeln des jeweiligen Partners berücksichtigt und im eigenen Handlungskonzept eingeplant werden, und zwar auch dann, wenn es seinem Inhalt nach nicht vorhersehbar ist. Dialogisches Handeln ist ferner zweckbezogen, aber keiner der Partner kann für sich allein über das Ziel bestimmen. – Im Bereich dialogischen Handelns werden wiederum Spielarten paradigmatisch akzentuiert. Am agonalen Dialog orientiert sich besonders ein Versuch zur Begründung der Logik. Hier werden verbale Kampfspiele von der Art entworfen, wie sie auch historisch die Entstehung der Logik provozierten. Solche logisch-eristischen Dialoge haben einen präzise definierten Anfang und ein ebenso präzise definiertes Ende. Sie ermöglichen die Entwicklung von Gewinnstrategien. Eine zweite Spielart dialogischen Handelns ist durch das Paradigma des Lehrens und Lernens, also durch die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, beispielsweise des Gebrauchs einer Sprache, gekennzeichnet. Hier haben die Handlungspartner keine konträren, sondern – im Idealfall – konvergierende Interessen. In Dialogen dieses Typs gibt es im Verhältnis der Partner zueinander weder

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Gewinner noch Verlierer. Ein derartiger Dialog kann sogar sein Ziel in sich selbst tragen. Es sind unterschiedliche Handlungstypen, an denen sich das praktizis­ tische Konzept orientiert. Auf diese Weise kann man zugleich einige der Irrtumsmöglichkeiten ausschalten, die durch unzulässige Verallgemeinerungen von Besonderheiten des Einzelfalles entstehen. Doch die Auswahl der von der praktizistischen Reflexion bevorzugten Modellhandlungen ist nicht zufällig, denn es geht stets um überschaubare Handlungen. Dazu gehört, dass man immer eindeutige Ausgangsbedingungen bestimmen kann. Diese Bedingungen lassen sich, wenn es um Modellhandlungen geht, vollständig aufzählen. Das ist aber bei Handlungen außerhalb der Modellsphäre nicht möglich. Hier kann sich der Praktizismus noch damit helfen, dass er nur solche Bedingungen als für den jeweiligen Handlungszusammenhang relevant heraushebt, die in eben diesem Zusammenhang objektiviert werden und von den Handelnden auch ausdrücklich in Rechnung gestellt werden können. Alle anderen Bedingungen des konkreten Handelns werden dann einstweilen ausgeklammert. Dass das Handeln einen schlechthin voraussetzungslosen Anfang setzen könnte, wird also gar nicht behauptet. Es genügt, dass der Handelnde unter den von ihm vorgefundenen Voraussetzungen eine Auswahl treffen, Akzentuierungen setzen und damit Modellbedingungen schaffen kann. Damit lässt sich immerhin fiktiv ein Anfang setzen. In diese Modelle sind bereits wichtige Merkmale eines Handelns eingegangen, das seine Voraussetzungen nicht nur hinnimmt, sondern über sie auch Rechenschaft zu geben bestrebt ist. Es bleibt aber zweifelhaft, ob man auf der Basis jener Modelle dem vollen menschlichen Handeln wirklich gerecht werden kann. Nun will der Praktizismus menschliches Handeln nicht nur in seiner Faktizität beschreiben. Er will vielmehr Methoden entwickeln, mit deren Hilfe solches Handeln begründbar gemacht und rationalisiert werden kann. Er sagt nicht, wie menschliches Handeln ist, sondern er gibt Normen an, nach denen das Handeln eingerichtet werden soll, und er übernimmt die Beweispflicht für die Realisierbarkeit dieser Normen. Vernünftiges Handeln ist nur eine extreme Spielart von mög­ lichem Handeln überhaupt. Es könnte aber sein, dass die Rationalisierung des Handelns dazu führt, dass bestimmte Faktoren vernachlässigt werden, die ihren Einfluss dann aber trotz aller Rationalisierung zur Geltung zu bringen vermögen. Der Praktizist könnte darauf bestehen, dass dies um der Rationalisierungschance willen in Kauf zu nehmen sei. Doch gerade der Rationalisierungsprozess hängt an Voraussetzungen, die in ihm selbst nicht mehr zur Sprache kommen. Der Wille zur Vernunft bleibt blind, zumal da sich Vernunft nun einmal selbst nicht zu begründen vermag. Wie man innerhalb definierter Randbedingungen vernünftig handeln kann, suchen die praktizistischen Theorien zu zeigen. Der Entschluss zur Rationalisierung

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muss aber auch in diesen Theorien hingenommen werden. Eine vernünftige Ordnung etablieren und innerhalb einer solchen Ordnung handeln, sind zweierlei Dinge. Eine vernünftige Ordnung etablieren kann man nicht, wenn man sich ausschließlich solcher Mittel bedient, die innerhalb dieser Ordnung gerechtfertigt sind. Was nützen die besten Spielregeln, wenn der Partner nicht bereit ist, sich auf einen verlässlichen Konsens über solche Regeln einzulassen? Eine Theorie der Praxis bleibt jedenfalls unvollständig, wenn sie nicht auch solchen Situationen, die nur scheinbar Ausnahmesitua­ tionen sind, gerecht werden kann.

III Der Praktizismus entwickelt seine Deutung des vernünftigen Handelns, indem er sich daran orientiert, dass sich der Handelnde inmitten mannig­ facher, ihn betreffender Verflechtungen, Verursachungen und Motivationen einen Bereich zu schaffen vermag, innerhalb dessen er Herr seines Handelns werden und bleiben kann. Mag der Handelnde auch noch so sehr „in Geschichten verstrickt“ sein, so bleibt ihm doch die Möglichkeit, sich aus manchen Verstrickungen zu lösen, sein Handeln bestimmten Normen zu unterstellen, diese Normen zu rechtfertigen und insoweit sein Tun selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört wesentlich auch die Möglichkeit, das Handeln durch Einführung bestimmter Handlungsschemata in eine durch Regeln bestimmte Ordnung zu fügen. Es bleibt die Frage, ob solchen Ratio­nalisierungsmöglichkeiten essentielle Grenzen gezogen sind. Denn es könnte ja sein, dass selbst das vernünftige Handeln unter Bedingungen steht, die vom Handelnden aus gesehen weder einer Begründung noch einer Rechtfertigung fähig sind. Nun wird alles Handeln, ob vernünftig oder nicht, stets situationsbezogene Strukturmerkmale aufweisen. Dazu gehört zunächst, dass sich jedes Handeln notwendig in immer neuen Kontexten von unterschiedlichen und wechselnden Umständen bewegt, die es vorfindet und die es nicht ändern kann. Geht es dann darum, das Handeln zu normieren, so kann man eine Gewichtung vornehmen, und zwar so, dass man nur solche Bestimmungen als für das vernünftige Handeln wesentlich akzentuiert, die sich als invariant im Verhältnis zu bestimmten wechselnden, situationsbezogenen Gegebenheiten erweisen. Gewichtungen dieser Art werden in der Mehrzahl der herkömmlichen ethischen Theorien vorgenommen oder unausgesprochen vorausgesetzt. Die Normierung des Handelns setzt in der Tat voraus, dass man die Kontingenz des Konkreten bis zu einem gewissen Grade vernachlässigen kann. Bis zu welchem Grade dies möglich ist, ist eine Frage, deren Beantwortung man auf sich beruhen lassen kann. Denn selbst wenn

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es möglich wäre, alle materialen Situationsmerkmale zu vernachlässigen, so blieben immer noch die formalen Situationsmerkmale, von denen man niemals absehen kann. Darunter verstehe ich die Merkmale, die die Situa­ tionsgebundenheit des Handelns an ihm selbst und an seiner Struktur zeigen und die von den kontingenten äußeren Umständen unabhängig sind. Dazu gehören vor allem die generellen Eigenschaften des Handelns, die in der ihm eigentümlichen Zeitstruktur gründen, nämlich seine Unwiederholbarkeit, seine Unwiderruflichkeit und seine Unbedingtheit. Erst auf Grund dieser Merkmale werden dann äußere Umstände für den Handelnden zu seiner „Situation“. Mit ihnen hängt es aber auch zusammen, dass der Handelnde nicht nur äußere Situationen vorfindet, sondern für die Zukunft auch neue Situationen herstellen kann. Doch solche vom Handeln geschaffenen Situationen müssen dann in der Folge ebenso akzep­ tiert werden wie die nur vorgefundenen äußeren Umstände. Situationen können ebenso wenig rückgängig gemacht werden wie die Handlungen selbst. Man kann immer nur versuchen, in den durch eine Handlung ausgelösten Kausalzusammenhang mit einer neuen Handlung einzugreifen. Was immer auch der konkrete Inhalt des Handelns sein mag: was in der Welt des Handelns geschehen ist, ist ein für alle Mal geschehen. In dieser Welt kann es im strengen Sinne keinen Widerruf geben; ebenso wenig kann das Handeln von vorn anfangen; auch seine eigene Vergangenheit gehört zu den formalen Situationsmerkmalen. So sehr es also auch von allen materiellen und äußeren Komponenten seiner jeweiligen Situation absehen mag: seine Zeitstruktur kann es niemals hintergehen. Diese Zeitstruktur gehört zu den Voraussetzungen aller Normierung und ist selbst nicht mehr normierbar. Diese Zeitstruktur zeigt sich auch an einem weiteren formellen Situations­ merkmal: Alles Handeln muss ständig zwischen Alternativen entscheiden. Jede Alternativentscheidung bedarf eines Handlungsspielraums. Dieser Spielraum ist nicht ein für alle Mal festgelegt. Doch bleibt er prinzipiell stets begrenzt; es sind immer nur bestimmte Inhalte, die für eine Entscheidung des Handelnden zur Disposition stehen; stets gibt es Dinge, die dieser Disposition entzogen sind. Das gilt vor allem im Blick auf den Entscheidungszwang und auf den Handlungsspielraum als solchen. Auch das Faktum, dass Alternativentscheidungen getroffen werden müssen, gehört zu jenen formellen Situationskomponenten des Handelns, die selbst kein Gegenstand einer möglichen Entscheidung sind. Kehrseite der Entscheidungs­ freiheit im Inhaltlichen ist, im Formalen, der Entscheidungszwang. So steht es dem Handelnden niemals frei, nicht zu entscheiden und zu handeln. Auch der Entschluss, nichts zu tun, ist ein bestimmtes Handeln. Das Handeln findet daher nicht nur eine äußere Situation vor, sondern gleichsam auch sich selbst. Auch deshalb kann es niemals von vorn anfangen wollen. Ebenso wenig kann es sich selbst begründen.

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Vom Entscheidungszwang her lässt sich am besten die dem Handeln eigentümliche Faktizität verstehen, in der seine Unbedingtheit gründet. Die Rede von der Unbedingtheit des Handelns darf ganz wörtlich verstanden werden: Es gibt kein hypothetisch bedingtes Handeln. Hypothetisch vermittelt sein können ohnehin keine Fakten, sondern nur Geltungen. So kann beispielsweise die Geltung eines Satzes davon abhängen, dass ein anderer Satz gilt, über dessen Geltung nicht entschieden zu sein braucht. Auf diese Weise lassen sich Geltungsfragen suspendieren. Natürlich steht das Handeln unter vielerlei Realbedingungen. Doch diese Realbedingungen stehen, als inhaltliche Situationsmerkmale, für das Handeln selbst nicht mehr zur Disposition. Derartige Realbedingungen weisen, im Gegensatz zu Bedingungen vom Typus der Hypothesen, kein arbiträres Element auf. Hypothesen sind im Bereich theoretischen Argumentierens Inhalt möglicher Alternativentscheidungen. Über seine Realbedingungen kann das Handeln jedoch nicht verfügen. Es kann nur versuchen, Bedingungen künftiger Situationen zu gestalten, in denen sich dann das Handeln entscheiden kann. Daher gibt es zwar Bedingungen des Handelns, aber kein bedingtes Handeln. In seiner Sphäre gibt es keine Vorläufigkeit. Handeln ist das, was es ist, immer ganz und unwiderruflich. Darauf beruht das, was man die Verantwortlichkeit des Handelns nennt. Nun ist es freilich sowohl möglich als auch notwendig, sein Handeln an Plänen und Entwürfen zu orientieren. Es scheint also, als könnten auf dem Weg über die Handlungspläne doch noch Hypothesen ins Handeln selbst Eingang finden. Denn Pläne sind auswechselbar, und sie treten oft ausdrücklich und immer unausdrücklich in Alternativen auf. Auf diese Weise lassen sich auch unterschiedliche Situationsmöglichkeiten vorweg in Rechnung stellen. Doch die Konstruktion alternativer Handlungspläne oder Handlungsschemata ist selbst noch kein Bestandteil jenes Handelns, auf das sich die Pläne beziehen. Pläne bleiben immer vorläufig, weil für das planende Bewusstsein die Totalität aller Bedingungen, unter denen der Plan realisiert werden kann, niemals erfassbar ist. Diese Totalität aller Bedingungen ist jedoch, wenn das Handeln beginnt, immer schon de facto gegeben, natürlich unabhängig davon, welche dieser Bedingungen die Schwelle des planenden Bewusstseins überschreiten. Eben deshalb zeigt sich im Bereich des Handelns niemals jene Vorläufigkeit, wie sie die Mehrzahl der mentalen Gebilde kennzeichnet. Nun lässt sich schwerlich übersehen, dass das Selbstverständnis des Handelnden eine derartige Vorläufigkeit nicht selten in Anspruch zu nehmen sucht. Das ist überall dort der Fall, wo man der Unbedingtheit und der Unwiderruflichkeit seines Handelns zu entgehen sucht und den Glauben kultiviert, provisorisch oder gleichsam experimentell handeln zu können. Der Glaube an die Möglichkeit provisorischen Handelns kann zweifellos

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sinnvolle Funktionen bei der Normierung des Handelns erfüllen. Er beruht jedoch auf einer Selbsttäuschung. In Wahrheit kann sich der Handelnde von seinem Tun niemals distanzieren. Auch Handeln, das als provisorisch oder experimentell gemeint ist, ist in Wirklichkeit volles, uneingeschränktes Handeln. Die Frage bleibt, ob Selbsttäuschungen des Handelnden, die zu der als solcher nicht durchschauten Fiktion eines bedingten oder widerruflichen Handelns führen, für das Handeln selbst nützlich oder sogar notwendig sind. Es ist hier nicht der Ort, die Handlungstypen zu analysieren, mit denen sich in der Selbstdeutung des Handelnden vorzugsweise solche Fiktionen verbinden. Eine solche Analyse könnte die Vermutung stützen, dass die Orientierung an derartigen Fiktionen ein Grundtatbestand unserer Lebenspraxis ist. Die Orientierung an der Unbedingtheit und Unwiederholbarkeit des Handelns ist für das alltägliche Selbstverständnis eher die Ausnahme. Der Handelnde will oft nicht wahrhaben, dass er Tatsachen schafft, die als solche nicht abgeändert, sondern nur durch neue Tatsachen zu späteren Zeitpunkten ergänzt werden können. Er will sein Handeln notfalls korrigieren können. Der irrige Glaube an die Abänderbarkeit von Tatsachen und an die Wiederholbarkeit des Handelns kann eine Entscheidungshilfe sein, und er kann eine steuernde Funktion bei der Planung künftigen Handelns ausüben. Doch keine Planung kann dem künftigen Handeln seine Entscheidungen abnehmen oder gar künftiges Handeln ersetzen. Man kann immer nur äußere Bedingungen für ein künftiges Handeln schaffen, das dann inmitten eben dieser Bedingungen seine Entscheidungen treffen und sich mit der von ihm vorgefundenen Situation auseinandersetzen muss. Trotz aller Möglichkeiten der Planung bleibt das Handeln so eindeutig an seine Zeit gebunden, dass es in seinem Bereich reale Vorwegnahme ebenso wenig geben kann wie Widerrufe oder Wiederholungen. Das Handeln kann also Fiktionen über sich selbst entwickeln, die auf die Gestaltung des Handelns und seine Entscheidungen einwirken können – gleichgültig, ob dem Handelnden seine Fiktionen als solche bewusst sind oder nicht. Ein Handlungstypus, der ganz auf solchen Fiktionen basiert, ist das Spiel. Die im Rahmen eines Spiels vollzogenen Handlungen sind stets ambivalent. Denn jede Spielhandlung ist auf anderer Ebene zugleich eine „echte“ Handlung. Insoweit gelten für Spielhandlungen dieselben Bestimmungen wie für Handlungen eines beliebigen anderen Typus. Ob man ein Spiel beginnt oder nicht, ist eine Alternativentscheidung, die in einem Situationskontext gefällt wird und die vom Handelnden, wie jede andere Entscheidung, verantwortet werden muss. Das gilt im übrigen auch für jede einzelne Spielhandlung. Darüber hinaus bietet das Spiel aber auch einen Innenaspekt. Hier bedeutet jede Handlung etwas, und zwar bedeutet sie regelmäßig etwas anderes, als sie selbst ist. Diese Bedeutungen sind durch die Rahmenbedingungen des Spiels, die sogenannten Spielregeln determi-

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niert. Auf Grund entsprechender bedeutungsverleihender Akte lässt sich ein Bereich konstituieren, zu dessen Eigenart es gehört, dass innerhalb seiner Handlungen anders beurteilt werden müssen als außerhalb. Auf diese Weise lassen sich Reservate ausgrenzen, innerhalb derer – im Gegensatz zum Bereich der echten Handlung – die Situationsmerkmale überschaubar sind, wo Handlungen korrigiert, vorweggenommen oder wiederholt werden können. Auch ist es in derartigen Reservaten möglich, provisorisch zu handeln. Die bedeutungsverleihenden Akte erfüllen bei der Konstitution von Spielhandlungen die Funktion praktischer Hypothesen. Praktische Hypothesen sind im Gegensatz zu den Hypothesen der theoretischen Sphäre weder der Verifikation noch der Falsifikation fähig. Sogar eine Bestätigung ist ausgeschlossen. Denn praktische Hypothesen haben gestaltende Funktionen. Sie kreieren Fiktionen, die gar nicht erst den Anspruch erheben, eine vorfindliche Realität abzubilden. Es wird vielmehr eine Quasirealität konstituiert. Damit hängt es zusammen, dass gegenüber Spielregeln bekanntlich kein Skeptizismus möglich ist. Es ist nicht nötig, alle Fundamentalbestimmungen des vollen Handelns in das Handeln des durch praktische Hypothesen determinierten Spielbereichs zu übernehmen. Im Gegenteil: Man wird sich gerade dann zur Ausgrenzung einer Spielsphäre entschließen, wenn man – aus welchen Gründen auch immer – wenigstens in der Fiktion dem Realitätsdruck, der mit den fundamentalen Handlungsmerkmalen verbunden ist, entgehen will. Spielhandlungen können denn auch für den Innenbereich so definiert werden, dass sie wiederholbar oder korrigierbar sind; ferner kann die Situation des Handelnden durch Angabe einer endlichen Anzahl von Merkmalen vollständig bestimmt werden. So wird es möglich, für die Spielsphäre die Zeitgebundenheit des Handelns zu modifizieren oder gar aufzuheben. Man kann auch Handlungen fingieren, die des historischen oder sozialen Kontextes enthoben sind. Das Spiel leistet auf fiktiver Ebene, was faktisch niemals und nirgends geleistet werden kann, wenn es der Zeitlichkeit und der Situationsgebundenheit des realen Praxiszusammenhangs entgeht. Dass diese Realitätsenthebung nur fiktiv ist, zeigt sich darin, dass man jederzeit mit einem „Einbruch der Zeit in das Spiel“ rechnen muss. Denn Situationsstrukturen der Spielhandlung sind hintergehbar, die der echten Handlung niemals. Es fällt auf, dass der Praktizismus mit Vorliebe Aktivitäten vom Typus der Spielhandlungen heranzieht, wenn es darum geht, die praktischen Fundamente theoretischer Gebilde sichtbar zu machen. Dass gerade Spielhandlungen hier paradigmatische Funktionen erfüllen können, kommt nicht von ungefähr. Zunächst einmal eignet sich das Spiel bereits von Hause aus seiner größeren Übersichtlichkeit wegen gut als Modell, wenn bestimmte allgemeingültige Handlungsstrukturen eruiert werden sollen. Dazu kommt aber nun, dass die theoriebegründenden Handlungen zum vollen mensch-

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lichen Handeln in einer Distanz stehen, die der Distanz der Spielhandlungen zur Lebenspraxis im Hinblick auf nicht wenige Strukturmerkmale vergleichbar ist. Das Handeln, auf das die praktizistische Reduktion von Theorie zurückgreift, ist nun einmal nicht das volle Handeln der Lebenspraxis. Zur Theoriebegründung taugt das Handeln nur, insofern es für diese Aufgabe gemäß den Bedürfnissen der Theorie zuvor gleichsam entsprechend präpariert worden ist. Sowohl bei Spielhandlungen als auch bei theoriebegründenden Handlungen genügt die Orientierung an bestimmten ausgewählten Handlungsmerkmalen. Sie lassen sich definieren, und zwar so, dass sie im Gegensatz zu den unüberschaubar situationsgebundenen echten Handlungen nur bestimmte, aufzählbare Aktions- und Situationsmerkmale aufweisen. Auf diese Weise isoliert man einzelne Faktoren des realen Handlungszusammenhangs und stellt sie in isolierter Form dar. Man kann die praktizistische Reduktion von echten Handlungen auf solche mit abschließend aufzählbaren Merkmalen ein Gedankenexperiment nennen; sie erfüllt indessen in der praktizistischen Wissenschaftstheorie Aufgaben, die häufig den Aufgaben des Experiments in den Wissenschaften selbst vergleichbar sind: Die nicht zu übersehenden Bedingungen, durch die die konkrete Situation bestimmt ist, werden zugunsten einiger überschaubarer und isolierbarer Bedingungen, auf die sich dann das Interesse ausschließlich konzentriert, ausgeblendet. In beiden Fällen sind es aber grundsätzlich selbstgewählte Bedingungen, die das weitere Vorgehen bestimmen. Mit welchem Recht werden dann aber diese Handlungen als Paradigmen für den Aufbau einer allgemeinen Theorie des Handelns im Sinne einer Philosophia practica in Anspruch genommen? Jedes Modellhandeln kann ja jederzeit vom Handelnden abgebrochen werden. Der Handelnde kann aber den Zusammenhang seiner Lebenspraxis nur um den Preis der Vernichtung auch seiner eigenen Existenz abbrechen. Schon hier zeigt sich, dass es gerade wesentliche Merkmale des vollen Handelns sind, von denen man absieht, wenn man sich an Modellhandlungen orientiert. Hier liegt in der Tat eine Grenze des praktizistischen Ansatzes. Trotzdem hat das Modellhandeln eine legitime Funktion beim Aufbau einer allgemeinen Theorie der Praxis. Denn keine Theorie kann auf Modelle verzichten. Es ist dann freilich die Aufgabe der philosophischen Kritik, das ans Licht zu heben, was im Modell keine Entsprechung mehr findet. Unabhängig davon muss man aber berücksichtigen, dass Bestimmungen von der Art, wie sie die Konstruktion von Spielmodellen regulieren, auch für jede Stabilisierung und jede Rationalisierung des Handelns maßgebend werden. Wenn auch die Unbedingtheit des Handelns im Bereich des Modellhandelns keine Entsprechung findet, so kann doch das Modellhandeln ein Muster für mögliche Normierungen abgeben. Eine Normierung des Handelns bleibt aber so lange wirkungslos, als ihr keine Normierung der Handlungssituation

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entspricht. Normen lassen sich nur dort anwenden, wo das Substrat, auf das sie angewendet werden sollen, im Blick auf eine mögliche Normierung bereits vorbereitend schematisiert worden ist. Zur Charakteristik des Spielhandelns gehört aber gerade jene Korrespondenz zwischen der Normierung des Handelns selbst und der Normierung seiner möglichen Situationen. Man darf nicht verkennen, dass ein Interesse des Handelnden selbst derartige Normierungen und Schematisierungen erheischt. Diesem Interesse stehen Handlungsbestimmungen wie die Situationsgebundenheit und die Unwiederholbarkeit zwar entgegen; gleichwohl ist es durch sie zugleich auch provoziert. Echtes Handeln bleibt freilich auch dann situationsgebunden und unwiederholbar, wenn es durch Normen bestimmt ist. Doch eröffnet die Normierung von Handlungen und Situationen die Möglichkeit, inmitten jener Unwiederholbarkeiten eine verlässliche Orientierung zu finden.

IV Will man sich über die Probleme der Normierung des Handelns und seiner Situationen klar werden, so kann die Orientierung am Modellhandeln in der Spielsituation ein Stück weit durchaus von Nutzen sein. Volle Handlungen werden aber auch dann, wenn sie und ihre Situationen normiert sind, nicht zu Spielhandlungen. Auch normiert bleiben sie echte Handlungen, die noch nicht einmal in der Fiktion ihrer Situation und ihrer Zeit enthoben sind. Normiertes volles Handeln ist zwar schematisiert, doch ist es nicht von bedeutungsverleihenden, eine fiktive Quasirealität konstituierenden Akten abhängig; vor allem aber wird die Zeitstruktur des vollen Handelns bei der Normierung nicht angetastet. Hier liegen Grenzen, jenseits derer das Spielmodell keine Orientierung mehr erlaubt. Jede Normierung des Handelns muss wenigstens zwei Dinge leisten: Sie muss die Fülle unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten durch Klassifi­ zierung und Schematisierung überschaubar machen, und sie muss ferner das Repertoire von Handlungsschemata durch Bewertungen ordnen. In beiden Fällen korrespondiert der Schematisierung und der Bewertung des Handelns jeweils eine Schematisierung und eine Bewertung der Situation. Normiertes Handeln bedarf normierter Situationen. Institutionen sind die wichtigsten Formen normierter Situationen. Mit der Ausarbeitung solcher Schemata und der Legitimation von Normen beschäftigen sich die praktischen Disziplinen. In einer praktizistischen Fundamentalphilosophie von der Art des Erlanger Programmes ist denn auch konsequenterweise die Legitimationsproblematik in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Von dieser Problematik soll hier weiter nicht die Rede sein. Aber selbst wenn alle mit der Konstruktion und Legitimation

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von Schemata und Normen zusammenhängenden Probleme bereits gelöst wären, bliebe eine für jede Theorie der Praxis entscheidende Schwierigkeit bestehen. Es ist die Schwierigkeit, die sich im Problem der „Anwendung“ verbirgt. Worin besteht dieses Problem? Jeder Handelnde will sich und anderen sein Tun verständlich machen und in das Gefüge der Motive und Ziele einordnen. Er muss stets damit rechnen, sein Handeln rechtfertigen zu müssen. Schon deshalb wird das Handeln Normierungen und Schematisierungen unterworfen, die ihm Regelhaftigkeit und Kontinuität verleihen. Der Handelnde bedarf der Vor­ stellung von Regelhaftigkeit und Kontinuität, wenn er als Handelnder seine Identität in der Zeit bewahren und sich ihrer bewusst bleiben will. Nicht obwohl die einzelne Handlung unwiederholbar ist, sondern gerade weil sie es ist, muss der Handelnde stets zu seinen früheren Handlungen Stellung nehmen. So kann er frühere Handlungen anerkennen und bestätigen, er kann sich aber auch von ihnen distanzieren und sie verwerfen. Hier ist das Faktum der Stellungnahme wichtiger als ihr Inhalt. Natürlich führen diese Stellungnahmen oft zu Umdeutungen. In jedem Fall aber lässt die Stellungnahme vergangenes Handeln eindeutiger erscheinen, als es an sich ist. Das Analoge gilt für den Zukunftsaspekt. Was geschieht aber nun, wenn das Handeln einem Schema oder einer Norm unterworfen wird? Was geschieht, wenn ein vorgegebenes Schema in einer konkreten Handlung realisiert wird? In diesen Fällen wird ein Abstrakt-Allgemeines mit einem Konkret-Individuellen vermittelt. Kurz, es handelt sich um ein Subsumptionsproblem. Nur selten vergegenwärtigt man sich die methodischen Schwierigkeiten, die mit der Lösung derartiger Subsumptionsaufgaben verbunden sind. Häufig begegnet man immer noch der Auffassung, die Subsumption sei eine rein logische Leistung von der Art einer einfachen logischen Ableitungsoperation. Doch in Wahrheit verkörpert die Subsumption einen ganz anderen logischen Typus. Es geht in ihr nicht um Ableitung, sondern um Urteilsbildung. Das lässt sich an der Subsumption des richterlichen Urteils, dem namengebenden Musterbeispiel für alle derartigen Operationen deutlich machen. Wenn eine mit einem Handlungsschema verknüpfte Rechtsnorm und eine konkrete Handlung einander zugeordnet werden sollen, können zwar gelegentlich auch einmal kalkülmäßig zu erledigende Hilfsoperationen nötig sein. Im ganzen bleibt jedoch der Anteil der formallogischen Operationen am Prozess der richterlichen Urteilsfindung sehr bescheiden. Dies beruht darauf, dass diese Subsumption kategorial heterogene Gebilde verknüpft. Das gilt für jedes Elementarurteil und damit selbstverständlich auch für jede Zuordnung von Begrifflichem und Konkret-Individuellem. Normen oder Handlungsschemata auf der einen Seite und konkrete Handlungen und Situationen auf der anderen Seite differieren nicht nur inhaltlich, sondern auch kategorial.

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Ideale Gebilde vom Typus der Norm und des Handlungsschemas lassen sich durch die Angabe einer endlichen Anzahl von Merkmalen vollständig bestimmen. Handlungsschemata werden nicht vorgefunden, sondern entworfen; was zum Entwurf gehört und was nicht, lässt sich prinzipiell immer abschließend angeben. Nicht nötig ist es, alle Implikationen des Entwurfs sofort zu überschauen; es genügt, die definitorischen Merkmale des Schemas zu objektivieren, wenn man sicher sein will, dass sich nichts ergibt, was nicht durch angebbare Voraussetzungen gedeckt ist. Ganz anders verhält es sich mit dem realen Gebilde, das mittels Subsumption einem Schema zugeordnet wird. Dieses Gebilde, mag es nun eine individuelle Handlung oder eine Situation sein, ist durch Merkmale bestimmt, die sich nicht abschließend aufzählen lassen. Die Unendlichkeit des Individuellen ist denn auch ein alter ontologischer Gemeinplatz. Freilich muss es sich nicht um unendlich viele Merkmale in einem mathematisch präzisierbaren Sinn handeln. Es genügt, dass die Merkmale einer Situation oder einer konkreten Handlung praktisch unbegrenzt und prinzipiell unüberschaubar sind. Es genügt, dass man niemals sicher sein kann, alle Bestimmungsmerkmale abschließend erfasst zu haben. Wenn es also darum geht, Handlungsschemata und konkrete Handlungen einander zuzuordnen, so darf man nicht vergessen, dass niemals alles, was zur konkreten Handlung und zu ihrer Situation gehört, durch das Schema gedeckt sein kann. Man unterscheidet dann gern zwischen wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen und begnügt sich damit, dass die wesentlichen Merkmale durch das Schema abgedeckt sind. Dieses Verfahren führt in der überwiegenden Mehrzahl der konkreten Fälle zum Erfolg. Ein auf Prinzipien gerichtetes Interesse lässt sich damit freilich noch nicht befriedigen. Denn es bleibt ungeklärt, welche Instanz in concreto über die Qualifikation wesentlicher Handlungsmerkmale zu befinden hat. Ist diese Qualifikation bereits vorgenommen, scheint eine Schwierigkeit bei der Zuordnung von Schema und Konkretum beseitigt zu sein. Doch man hat sie in Wirklichkeit nur verschoben: sie ist nun mit dem Problem verbunden, bestimmte endlich viele Merkmale einer Handlung oder einer Situation als wesentlich zu qualifizieren. Daher kann die Frage der Zuordnung von Schema und konkreter Handlung in besonderem Maße konfliktträchtig werden. Konflikte in der Welt des Handelns werden in der Tat sehr häufig an derartigen Zuordnungsfragen orientiert. Wird eine in ihrer Gültigkeit nicht umstrittene Rechtsregel auf einen konkreten Sachverhalt angewendet, so kann man sich auch dann, wenn die positive Zuordnung aller Merkmale der Regel zum konkreten Fall bereits gelungen ist, immer noch auf die Möglichkeit berufen, dass der Fall noch weitere Merkmale aufweist, die durch die Regel nicht nur nicht gedeckt sind, sondern deren Vorliegen sogar die Anwendung jener Regel

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überhaupt ausschließe. Es ist eine typische forensische Situation: Die Gültigkeit der abstrakt-allgemeinen Regeln ist von den Beteiligten anerkannt und die Tatsachenfragen sind geklärt; strittig bleibt aber, ob die Regel auf den Fall angewendet werden darf oder nicht. Da sich am konkreten Fall stets Merkmale akzentuieren lassen, die durch die Regel nicht gedeckt sind, ergibt sich bei jeder Anwendung einer Regel stets die Alternative zwischen Analogieschluss und Umkehrschluss. Sie lässt sich, wenn überhaupt, nur unter Anwendung von Metaregeln entscheiden, die ihrerseits dann dieselben Probleme stellen. Dies führt bekanntlich nicht dazu, dass in der Praxis derartige Streitigkeiten in jedem möglichen Fall auch ausgefochten würden. Der Grund hierfür liegt aber nicht darin, dass es irgendwelche sicheren Verfahren gäbe, die Eindeutigkeit garantieren könnten. Es ist vielmehr ein unvordenklicher Konsens, der einen in der Mehrzahl der Fälle jener Schwierigkeiten enthebt, weil er es erlaubt, auf die ohnehin niemals ganz zu realisierende Forderung nach formaler Eindeutigkeit zu verzichten. Es ist ein Konsens, der für die Schematisierung von Situationen sorgt, die dem Handelnden dann in Gestalt von Institutionen gegenübertreten. Das hier wirksame dezisionistische Moment mag in vielen Fällen durch Kategorien wie die der Tradition oder der Lebenserfahrung maskiert sein. Doch kein Konsens ist absolut stabil: Jede Tradition lässt sich in Frage stellen und Lebenserfahrung lässt sich durch Änderung des Lebens selbst, dessen Erfahrung sie ist, entwerten. Die Tatsache, dass es bei Subsumptionsfragen kein absolut sicheres Entscheidungsverfahren gibt, lässt sich durch keine Hilfskonstruktion aus der Welt schaffen. Auch die stabilsten Lösungen haben grundsätzlich immer nur vorläufige Geltung. Das in der Theorie des Praktizismus so wichtige exemplarische Lernen stellt analoge Probleme. Gewiss eignet man sich beispielsweise durch exemplarisches Lernen im Gebrauch von Prädikatoren eine Sicherheit an, die zur Bewältigung aller Routinefälle ausreicht. Doch diese Sicherheit hilft wenig, wenn man Grenzfällen konfrontiert wird, zu deren Bewältigung Routine nicht mehr ausreicht. Woran orientiert sich die Entscheidung, wenn die Lernsituation aufgehoben, die Zuordnung des Prädikators kontrovers ist und kein Lehrer mehr zu Hilfe kommen kann? Dies sind Ausnahmefälle, aber erst an ihnen zeigen sich sowohl die Tragweite als vor allem auch die Grenzen der Regeln. Die Entscheidung darüber, ob ein Ausnahmefall vorliegt oder nicht, kann niemals allein auf der Grundlage jener Routine gefällt werden, von der sich die Ausnahme abheben will. Gesetzt den Fall, das Problem der Begründung von Handlungsnormen wäre bereits gelöst, so bliebe selbst dann immer noch das viel schwierigere Problem der Anwendung von Norm auf konkrete Sachverhalte. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um im konkreten Einzelfall gerade solche Merkmale aufzuspüren und zu betonen, die von der notwendigerweise

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schematisierenden Norm nicht mehr gedeckt sind. Man braucht sich in solchen Fällen noch nicht einmal auf ein Ausnahmerecht zu berufen. Die Gültigkeit der Norm kann unangetastet bleiben, wenn man geltend macht, dass eine von der Norm nicht vorgesehene und auch gar nicht vorhersehbare Ausnahmesituation vorliege. Dies ist eine der gängigsten Verteidigungs­ figuren in Moraldiskussionen, in denen man bekanntlich die Gültigkeit von Normen in abstracto nur selten in Frage stellt. Man zieht es meistens vor, seine Situation so zu interpretieren, dass sie von der Norm nicht mehr getroffen zu sein scheint. In diesem Fall macht man sich die Tatsache zunutze, dass es eine allgemeingültige, zwingende Zuordnungsmethode in diesem Bereich nicht geben kann. Alle Zuordnungen vom Typus der Subsumption werden nun von einer Funktion bewerkstelligt, die man in der Terminologie unserer philosophischen Tradition mit dem Namen der Urteilskraft zu benennen pflegt. Urteilskraft manifestiert sich ja in der Fähigkeit, Besonderes oder Einzelnes einem Allgemeinen zuzuordnen, ohne dass man eine Regel angeben könnte, deren schematische Befolgung es erlaubte, die Anerkennung der Sub­sumption von jedem, der nur die Ausgangsbedingungen akzeptiert, so zu erzwingen, wie etwa die Anerkennung des Ergebnisses einer korrekten Ableitungsoperation von jedem erzwungen werden kann, der die entsprechenden Regeln anerkannt hat. Nun kann man freilich Metaregeln einführen, deren Gegenstand die Bedingungen sind, unter denen sich die Primärregeln auf Sachverhalte anwenden lassen. Solche Regeln können nützliche Funktionen erfüllen. Prinzipienprobleme kann man mit ihrer Hilfe jedoch nicht lösen, da sich das Subsumptionsproblem niemals endgültig zum Verschwinden bringen lässt. Die Urteilskraft ermöglicht die Normierung und Schematisierung des Handelns, aber sie bezeichnet zugleich auch die Grenze dieser Möglichkeiten. Sie ist ein Vermögen, mit Regeln umzugehen; sie kann aber niemals sich selbst eine unhintergehbare Regel geben. Sie lässt sich anhand von Beispielen einüben und kann auf diesem Wege eine Kompetenz erlangen, die es ihr erlaubt, in einem weiten Mittelbereich der Erfahrung sichere und adäquate Entscheidungen zu treffen. Doch auf diese Weise lässt sich niemals die Allgemeingültigkeit vermitteln, die sie stets erstrebt und doch niemals erreicht. Deshalb bleibt der Gebrauch der Urteilskraft immer konfliktträchtig, auch wenn solche Konflikte in den seltensten Fällen manifest werden. Doch dann stellt sich die Frage nach einer Instanz, die bereit und fähig ist, diese Konflikte beizulegen. Man könnte versucht sein, die Probleme der Urteilskraft als Probleme theoretischer Reflexion zu behandeln. In der Tat erfüllt die Urteilskraft eine für die formale Genese von Theorie unentbehrliche Funktion, die sich niemals auf andere theoretische Funktionen reduzieren lässt. Sie ist jedoch eine Funktion, die die Differenzierung zwischen Theorie und Praxis noch

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übergreift. Dass die Subsumption eines Individuums unter einen Allgemeinbegriff dieselbe Struktur aufweist wie die Zuordnung einer Handlung zu einem normierten Schema, bedeutet nicht, dass das Handeln bei Normierung und Schematisierung nur in theoretischer Absicht beurteilt würde. Zwar ist auch dies möglich und sogar notwendig – weil nämlich die mit theorieartigen Elementen umgehende Selbstreflexion Bestandteil eines jeden Handelns ist, das sich über die Primitivstufen seiner Möglichkeiten erhebt. Doch ein auf diese Weise zustande gekommenes Urteil ist nicht Selbstzweck. Die Subsumption einer konkreten Handlung unter ein Handlungsschema oder unter eine Norm hat kein Urteil über mögliche Handlungen, sondern dieses Handeln selbst zum Ziel. Dies ist gemeint, wenn die oft missverständliche Redeweise, die im Handeln die „Realisierung“ eines Handlungsschemas sieht, verwendet wird. Die Urteilskraft kann also unmittelbar praktische Funktion ausüben. Sie muss bei jedem Handeln in Funktion treten, das sich an allgemeinen Regeln orientiert. Die Notwendigkeit dieser Funktion beweist zugleich, dass sich konkretes Handeln niemals von Norm und Schema allein her verstehen lässt. Wir müssen vorerst offenlassen, ob sich vielleicht sogar alle in einem präzisierbaren Sinn des Wortes „praktischen“ Probleme auf Probleme der Urteilskraft reduzieren lassen. Das wäre beispielsweise dann der Fall, wenn sich in jeder Kontroverse über praktische Fragen Grundsätze von hin­ reichender Allgemeinheit finden ließen, die selbst nicht kontrovers sind, und von denen aus gesehen die jeweilige Kontroverse als ein Anwendungs- oder ein Subsumptionsproblem erscheint. Im Blick auf die realen Konsequenzen mag es keinen wesentlichen Unterschied ausmachen, ob der Streitpunkt in Gestalt kontroverser unmittelbarer Willensinhalte erscheint oder aber auf Differenzen hinsichtlich der richtigen Anwendung hinreichend allgemeiner und allseits anerkannter Grundsätze reduziert wird. Eine derartige Re­ duktion macht es immerhin möglich, allgemeine Grundsätze zu eruieren, die Inhalt jenes Minimalkonsenses sind, der bei jedem Handeln von den beteiligten Partnern implizit oder explizit vorausgesetzt werden muss. Doch man sollte die Tragfähigkeit dieses Konsenses nicht überschätzen. Er kann jedenfalls keine auch das Inhaltliche umgreifende Gemeinsamkeit der Entscheidung garantieren. Insoweit bleibt dieser Konsens also ineffektiv, und eine Theorie der Praxis, die diese Tatsache übersieht, hat den Kontakt zu ihrem Gegenstand an einem wesentlichen Punkt bereits verloren. Immerhin erleichtert das Bewusstsein von der Existenz eines solchen Konsenses gerade dem in der Kontroverse Unterliegenden, das für ihn ungünstige Ergebnis zu akzeptieren. So kann das Verdienst dieses Bewusstseins sein, dass die Bereitschaft zu künftigen Interaktionen nicht verbaut wird.

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V Es war bereits davon die Rede, dass alles Handeln auf Grund seiner Situa­ tionsgebundenheit und seiner Zeitlichkeit Merkmale von Art der Unbedingtheit und der Unwiederholbarkeit zeigt. Normierungen und Schematisierungen, wie sie sich in besonders überschaubarer Gestalt am Exempel der Spielhandlungen studieren lassen, sehen jedoch von jenen Merkmalen bewusst ab. Bei einer normierenden Planung von Handlungen wird die Relativierung und Reduzierung jener Merkmale um der Ordnung und der Berechenbarkeit der Lebenspraxis willen geradezu intendiert. An der aktiven Rolle der Urteilskraft beim normierten Handeln zeigt sich jedoch, dass die durch die Normierung teilweise kaschierte Unbedingtheit an ganz anderer Stelle, nämlich eben in der Tätigkeit der Urteilskraft wieder auftaucht. In ihrer Funktion, Sachverhalt und Norm aufeinander zu beziehen, bleibt sie trotz möglicher Vorbilder letztlich auf sich selbst gestellt. Wo die Urteilskraft ihre Aufgabe wahrnimmt, kann zwar immer noch sinnvoll argumentiert, aber gerade nicht mehr zwingend bewiesen werden. Zwar beansprucht sie stets strenge Allgemeingültigkeit, doch kann sie diesen Anspruch niemals unverkürzt einlösen. So gehört zur Tätigkeit der Urteilskraft auch dann noch ein dezisionistisches Element, wenn die Gültigkeit von Normen als solchen gar nicht mehr kontrovers ist. Bei dieser Feststellung ist Vorsicht geboten – fungiert doch der Dezisionismus in der Philosophia practica heute als jene Häresie, durch deren Verdammung man noch am ehesten Vertreter divergierender Richtungen zu einem Formel­kompromiss bewegen kann. Doch Häresien pflegen aus der einseitigen Verabsolutierung von Wahrheiten zu entstehen, die man nicht ungestraft verdrängt. Man wird den durch das Programm einer Theorie der Praxis gestellten Aufgaben schwerlich gerecht werden, wenn man die dezisionistische Komponente der Urteilskraft und damit auch des normierten Handelns aussparen zu können meint. Erkenntnis und Entscheidung spielen hier immer auf eine schwer zu differenzierende Weise zusammen. Die Anerkennung einer dezisionistischen Komponente zwingt noch nicht zur Annahme eines prinzipiellen Dezisionismus. Denn das Moment der Entscheidung wird dadurch nicht zum leitenden Prinzip überhöht. Dass es sich lediglich um ein Moment handelt, zeigt sich auch an der Tatsache, dass die Urteilskraft schon vor aller theoretischen Reflexion nicht nur entscheidet, sondern zugleich immer diese Entscheidungen zu begründen bestrebt ist. Sie muss eine Entscheidung treffen, aber sie insistiert nicht auf dem factum brutum der Entscheidung, wenn sie sich rechtfertigt. Sie beansprucht allgemeine Zustimmung auch für den Inhalt ihrer Entscheidung, auch wenn sie weiß, dass durch kein Verfahren diese Zustimmung garantiert werden kann. Sie macht

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sogar den Gedanken des Allgemeingültigkeitsanspruchs zum Kriterium der von ihr zu fällenden Urteile – was spätestens seit Kants paradigmatisch am Geschmacksurteil orientierten Untersuchungen bekannt ist. Will man praktische Elemente im Aufbau der theoretischen Erkenntnis aufspüren, wird man in erster Linie nach der Funktion der Urteilskraft in diesem Aufbau fragen müssen. Nur sekundär sind jene realen Betätigungen und Verhaltensweisen von Bedeutung, die notwendige Bedingungen für die faktische Genese einer Erkenntnis bilden. Hier freilich hat der Praktizismus grundlegende und unverzichtbare Einsichten vermittelt, indem er die systematische und genetische Bedeutung dieser realen Betätigungen untersucht hat. Nun werden diese Betätigungen selbst schon in idealtypischer und schematisierter Gestalt vorgestellt. Doch das ist bei einer Theorie, auch wenn es sich um eine Theorie der Praxis handelt, nicht anders zu erwarten. Auf jeden Fall müssen es aber realzeitlich mögliche und real vollziehbare Tätigkeiten sein, die einer solchen Idealtypisierung zugrunde liegen. Somit kann die praktizistische Reflexion Kriterien bereitstellen, die imstande sind, Entscheidungen in der Frage der Begründung von Theorien zu erleichtern. Doch Erkenntnis ist durch eine derartige Reduktion auf reale Tätigkeiten – im Gegensatz zu den Hoffnungen des Praktizisten – noch nicht praktisch begründet, auch dann nicht, wenn dieses Begründungsmodell, wie inzwischen geschehen, präzisiert und differenziert wird. Ebenso wenig ist vernünftiges Handeln als solches bereits dann hinreichend legitimiert, wenn man es als Realisierung bestimmter normierter Handlungsschemata deuten kann. Solange man am Leitbild der Schemata und der Idealtypen orientiert bleibt und dabei die irreduzible Funktion der Urteilskraft ausspart, hat man den Kernbereich des Praktischen noch nicht berührt. Auch in diesem Zusammenhang muss man an jene triviale Reflexion erinnern, die zu der Einsicht führt, dass auch im Praktizismus Erkenntnis nicht unmittelbar durch Handlungen begründet wird. Der Praktizismus entwickelt vielmehr eine Theorie über bestimmte Typen von Handlungen und trägt Argumente für ihre Richtigkeit vor. Es ist eine Theorie, die formal in keiner Weise von anderen gut begründeten Theorien unterschieden ist. In der Erkenntnistheorie beispielsweise wird so der Gegenstand nicht isoliert, sondern stets im Kontext mit bestimmten an ihm orientierten und auf ihn bezogenen Handlungen betrachtet. Doch damit ist nur der Gegenstand der erkenntnistheoretischen Reflexion – zugegebenermaßen auf überzeugende Weise – neu definiert, nicht jedoch ihre Methode. Die Handlungen, an denen sich der Praktizismus bei der Begründung von Erkenntnis orientiert, liegen der Theorie überhaupt nicht voraus; sie sind vielmehr selbst theoriefähige Gegenstände. Insofern erweist sich Theorie als unhintergehbar. – Außerdem muss aber berücksichtigt werden, dass in diesen Handlungen von Hause aus immer schon theoretische Elemente inkorporiert sind. Die

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theoretische Reflexion findet hier kein rohes, naturwüchsiges Material vor, sondern sie trifft in ihrem Substrat auch auf ihresgleichen. Wenn es nämlich um Handlungen geht, die auf ein theoretisches Ziel hin ausgerichtet sind, so können sie schon als Handlungen nicht verständlich gemacht werden, wenn man von diesem ihrem Ziel absieht. Theoretische Momente der Handlungen findet man aber auch noch dann, wenn man von allen theoretischen Intentionen absieht und nur in Rechnung stellt, dass es an Schemata und Normen orientierte Handlungen sind, die ein Ziel intendieren, wie immer dieses Ziel auch bestimmt sein mag. Auch diese Schemata und Normen sind entweder selbst theoretische Elemente oder solche Elemente sind in ihnen präformiert. In seinem Versuch, bei der Begründung von Theorie die einschlägigen Handlungen in seine Betrachtung einzubeziehen, orientiert sich der Praktizismus vorzugsweise an den theoretischen Elementen jener Handlungen. Zu jedem Handeln gehört, dass ein Handlungsziel von antizipierendem Charakter objektiviert werden kann. Ein solcher Plan braucht zwar mit dem Handlungsschema, an dem sich die einzelne Handlung orientiert, nicht identisch zu sein. Aber auch ein Plan hat schematischen Charakter und ist daher von der Handlung selbst nicht nur inhaltlich, sondern auch kategorial unterschieden. Auch ein Plan ist im Gegensatz zur Handlung und ihrer Situation vollständig bestimmbar, gleichgültig, ob der Entwurf von Anfang an Leerstellen vorsieht oder nicht. In jedem Fall ist er an der Determination und der Auswahl der in konkreten Handlungen zu realisierenden Handlungsschemata beteiligt. Es ist im gegenwärtigen Zusammenhang nicht nötig, Überlegungen hinsichtlich der komplexen Struktur interschematischer Relationen an­ zustellen, wie sie jedem zweckorientierten Verhalten zugrunde liegen. Es genügt die Feststellung, dass wir es überhaupt mit solchen Schematismen zu tun haben. Im Aufbau des geplanten vernünftigen Handelns sind sie die immer potentiell und oft auch aktuell theoretischen Elemente. Natürlich brauchen sie im Handlungszusammenhang nicht Ziel einer eigenstän­ digen theoretischen Intention oder gar Reflexion zu werden; das ist sogar normalerweise mit Sicherheit nicht der Fall. Es sind aber die Elemente, an denen sich die ­praktische Reflexion orientiert, wenn sie wenigstens virtuell von dem Gebundensein an die jeweils gegenwärtige Situation Abstand zu gewinnen sucht. Diese Distanzierung ist eine mögliche Basis der theoretischen Einstellung. Handlungsschemata sind potentiell theoretische Elemente auch dann, wenn sie aktuell darin aufgehen, bestimmte Funktionen innerhalb des Handlungszusammenhangs zu erfüllen. Auf der Ausgestaltung und Entwicklung solcher Elemente beruhen indes alle Möglichkeiten der Theorie, in Zusammenhänge der Lebenspraxis einzugreifen. Die Entwicklung solcher Elemente kann dem Interesse des Handelns dienen, weil auf diese

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Weise seine Effektivität gesteigert werden kann. So kann das Handeln Techniken entwickeln, mit deren Hilfe es die Erfolgschance bei der Verfolgung seiner Ziele vergrößert. Jene potentiell theoretischen Gebilde können dann in Bezug auf das Handeln in eine Mittel-Zweck-Relation eintreten. Wo es aber darum geht, wie gegebene Mittel, seien es auch solche theoretischer Herkunft, für die Erreichung von Zielen optimal einzusetzen sind, liegen keine im strengen Sinne des Wortes praktische, sondern technische Probleme vor. Technische Probleme sind jedoch ihrem systematischen Status nach immer theoretischer Natur. Freilich wird sich der Praktizismus nicht gerne auf einen Technizismus reduzieren lassen wollen. Und doch kann man nicht darüber hinwegsehen, dass bei den zum Aufbau der Erkenntnistheorie führenden Überlegungen nicht Praxis, sondern Technik den Orientierungspunkt abgibt. Wäre es anders, so würde sich schon hier nicht nur die Frage nach der Urteilskraft, sondern auch die Frage nach der Freiheit stellen. Diese Frage lässt sich jedoch legitimerweise übergehen, solange es nur um die Realisierung von Schemata und Plänen geht – selbst dann, wenn es sich um Lehr- und Lernpläne handelt, die zur Debatte stehen. Der Praktizist könnte nun aber geltend machen, dass sein Entwurf nicht bei den Problemen der Realisierung vorgegebener Ziele stehen bleiben will, da ja gerade die Zielbestimmung zum Gegenstand eines rationalen Entscheidungsverfahrens gemacht werden soll. Es mag sein, dass gerade dies die Stelle ist, an der die zunächst erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch ausgerichtete Intention in Richtung auf eine allgemeine Philosophia practica ausgeweitet werden soll. Die Frage nach der Legitimierung letzter Handlungsziele bietet hier in der Tat einen unter mehreren möglichen Ansatzpunkten. Wenn sich aber die vermeintlich praktizistische Deutung von Wissen und Erkennen letztlich doch im Problemkreis nicht des Praktischen, sondern des Technischen bewegt, dann kann diese Deutung schwerlich paradigmatische Bedeutung für den Aufbau einer allgemeinen Theorie des Handelns haben, die sich nun einmal nicht auf den technischen Problemkreis einschränken lassen wird. Gewiss darf man Erkennen als eine bestimmte Art von Handeln verstehen. Doch der Praktizismus sieht dabei von den das Handeln als Handeln charakterisierenden Merkmalen ab und das mit Recht. Denn von den Voraussetzungen einer Handlungstheorie her betrachtet sind Erkenntnisprobleme in der Tat nur technische Probleme, für deren Lösung die Struktur des Handelns als Handeln irrelevant ist. Ist dies aber richtig, so erweist sich die Theorie auf ihre Weise als unhintergehbar, und die Erkenntnistheorie muss darauf verzichten, ein Paradigma für den Aufbau einer allgemeinen Philosophia practica abzugeben. Das beim Aufbau der Erkenntnis realisierte Handeln bleibt ein atypischer Sonderfall. Die Orientierung der Erkenntnistheorie an schematisierten realen menschlichen Tätigkeiten hat im Argumentations-

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zusammenhang keine konstitutive Bedeutung; jedoch werden auf diese Weise abstrakte Zusammenhänge in einleuchtender Weise veranschaulicht. Immerhin erreicht diese Veranschaulichung einen hohen Adäquatheitsgrad, der sie dazu befähigen könnte, ein Kriterium zur Beurteilung von Fruchtbarkeit oder Fruchtlosigkeit von theoretischen Ansätzen abzugeben.

VI Der Praktizismus ist dabei, Verfahren zu entwickeln, mit deren Hilfe Entscheidungen über letzte Handlungsziele vernünftig begründet werden können. Hier wird das Interesse, das dazu führt, gerade Erkenntnishandlungen als Paradigmen für eine allgemeine Theorie der Praxis in Anspruch zu nehmen, besonders deutlich: Es zeigt sich in der Hoffnung, Modelle konstruieren zu können, nach denen sich praktische Differenzen, einschließlich der Konflikte über letzte Ziele nach dem Muster wissenschaftlicher Streitfragen beilegen lassen. Dazu gehört ein Entscheidungsverfahren, das endgültig und ein für alle Mal von allen Beteiligten akzeptierte Ergebnisse liefert; Wiederaufnahmeverfahren dürften nur unter genau definierten Bedingungen verlangt werden können. Nun ist Rationalisierung der Auseinandersetzung sowohl über Ziele als auch über Normen des Handelns durchaus möglich. Die Frage bleibt, ob eine Rationalisierung mit allen Konsequenzen möglich ist, die sich der Praktizismus von ihr erhofft. Erstrebt man eine Einigung über die Zielbestimmung gemeinsamen Handelns, so wird man zunächst eine faktische Einigung über Ziele sehr allgemeinen und inhaltsarmen Charakters festzustellen suchen, über Ziele, die als solche nicht kontrovers sind. Sodann wird man versuchen, das konkrete Problem im Ausgang von diesen Zielen durch Subsumption zu lösen. Doch dazu bedarf es der Urteilskraft, für die es in der Praxis kein zwingendes Entscheidungsverfahren gibt. In manchen Fällen wird bereits der Versuch scheitern, gemeinsame Oberziele festzustellen. Das Entsprechende gilt für die Begründung von Normen. Angesichts solcher Schwierigkeiten kann man den Versuch unternehmen, allein aus der Bereitschaft zur Interaktion und aus der Bereitschaft zum Konsens überhaupt Regeln zu gewinnen, über die man sich immer schon geeinigt hat, wenn man in eine Interaktion eintritt und über einen konkreten Konsens berät. Solche Regeln würden dann selbst kein möglicher Inhalt eines bestimmten Konsenses mehr sein können. Doch die Hoffnung, auf diese Weise zu einer Grundlegung einer Philosophia practica gelangen zu können, erfüllt sich nicht. Man gelangt immer nur zu Regeln, die die Existenz eines durch Konsensfähigkeit und Konsensbereitschaft gekennzeichneten Kreises bereits voraussetzen. Die Gründung eines solchen Kreises können sie weder bewirken noch erklären.

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Jener Zustand eines prinzipiellen vernünftigen Konsenses ist immer nur in nach außen abgrenzbaren geschlossenen Systemen verwirklicht. Man mag noch so sehr die Idee einer Praxisbewältigung durch rationalen Konsens verfechten – man muss doch immer berücksichtigen, dass Konsensbereitschaft ein kontingentes Faktum ist, das sich niemals garantieren lässt. Zur Vernunft kann man niemanden überreden oder gar zwingen. Vernunft bleibt immer ein Faktum der Freiheit. Darin liegt ihre Würde und zugleich ihre Grenze. Im Praktizismus zeigen sich Neigungen, die Grundlegung auch der praktischen Philosophie am Modell des herrschaftsfreien Dialoges zu orientieren. Es ist daher verständlich, wie es zu dem Interesse kommen konnte, das Praktizismus und bestimmte Spielarten des Neomarxismus aneinander nehmen. Scheint es doch, als könnte der zunächst primär durch erkenntnistheoretische Interessen motivierte Ansatz des Praktizismus Anschluss an die auf die Begründung einer Sozialtheorie zielenden Reflexionen finden. Umgekehrt könnte die andere Seite dabei eine erkenntnistheoretische Basis einhandeln und mithin Zugang zu einer Disziplin finden, in der ihre Beiträge bislang eher bescheiden waren; sie erhielte ferner die Chance, durch Orientierung an einer klaren Wissenschaftssprache ihre Anliegen auch denen verständlich zu machen, denen die innerhalb marxistischer Konventikel gepflegten Kommunikationsmodi nicht vertraut sind. Und es scheint als könnte die Idee des herrschaftsfreien Dialoges Praktizisten und Neomarxisten eine gemeinsame Basis für die Entwicklung von Aktionsmodellen zur Schaffung von Bedingungen bieten, unter denen die Herrschaft von Menschen über ihresgleichen aufgehoben ist. Der herrschaftsfreie Dialog ist jedoch eine Idee, der keine Wirklichkeit zu entsprechen vermag. Die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens lässt sich zwar von dieser Idee her vielleicht beurteilen, aber eben doch nicht begründen und schon gar nicht garantieren. Jede dialogische Situation findet die Bedingungen ihrer Stabilität nur außerhalb ihrer selbst. Die Bereitschaft, sich auf einen Dialog und seine Spielregeln einzulassen, geht dem Dialog selbst zeitlich wie auch sachlich vorher. Die Bedingungen, von denen die Existenz des Dialogs abhängt, mögen in ihm zwar noch erörtert werden; sie sind andererseits aber zu okkasionell, als dass der Dialog selbst über sie noch verfügen könnte. Diese Okkasionalität kann im günstigsten Fall vom Dialog noch durchschaubar gemacht werden – überwinden kann er sie nicht. In keinem herrschaftsfreien Dialog kann man zu irgendeiner Zeit davor sicher sein, dass ein Partner seine Mitwirkung plötzlich aufkündigt, sich außerhalb des durch den Dialog markierten Kreises stellt, von dort aus agiert und in letzter Konsequenz vielleicht sogar diesen Kreis zerstört. Es gibt keine Strategie innerhalb des Dialogs, die dies verhindern könnte. Der

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herrschaftsfreie Dialog ist daher ein sehr verletzbares Gebilde. Nie vermag er sich aus eigener Kraft zu behaupten und zu erhalten. Seine dauerhafte Existenz muss von einer von ihm unabhängigen realen Autorität garantiert werden, die zwar nicht in ihn eingreift, aber doch hinter ihm steht und gewährleistet, dass Freiheit, Selbständigkeit und in letzter Konsequenz auch die physische Existenz der Teilnehmer nicht ständig der stets wandelbaren kontingenten Willkür ihrer jeweiligen Partner ausgeliefert sind. Er kann sich immer nur unter den Bedingungen eines Reservates entfalten. Auch Freiheit von Autorität ist stabil und dauerhaft nur, solange sie von einer Autorität eingeräumt wird, die die Fähigkeit hat, sich im Konfliktfall durchzusetzen. Man mag wähnen, sich von Autorität zu befreien, wenn man eine Ordnung der menschlichen Dinge unter dem Leitbild des herrschaftsfreien Dialogs anstrebt und zu verwirklichen sucht. Doch dann ist man dabei, sich in eine sehr viel prekärere Abhängigkeit zu begeben – in die Abhängigkeit von dem Wohlwollen seiner Dialogpartner nämlich, die ihr Wohlwollen jederzeit aufkündigen können. Wer den herrschaftsfreien Dialog als Prinzip für die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens anstrebt, optiert für die Anarchie des Naturzustandes, ob er das weiß oder nicht. Man meint, Bedingungen zu entwerfen, unter denen Freiheit mit einer nicht mehr durch Autoritäten legitimierten Ordnung koexistieren kann. Doch eine solche Ordnung befindet sich im günstigsten Fall in einem labilen Gleichgewichtszustand. Man merkt vielleicht zu spät, dass eben jene Bedingungen geeignet sind, Freiheit und Ordnung zugleich auszulöschen. Gewiss ist es ein erstrebenswertes Ziel, unter dem Leitbild des dialogischen Prinzips einen Kreis zu schaffen, innerhalb dessen praktische Vernunft betätigt werden kann. Doch innerhalb eines im Grundsätzlichen konsentierenden Kreises stellen sich die Probleme der praktischen Vernunft noch nicht in ihrer möglichen Härte. Diese Härte zeigt sich erst dort, wo es gilt, auch dort noch praktische Vernunft zu realisieren, wo man nicht mehr damit rechnen kann, dass der Partner Konsensbereitschaft zeigt. Die Hoffnung jedenfalls, dass sich das menschliche Handeln und die Ordnung der menschlichen Dinge eines Tages durch Vernunft, und nur durch sie, bestimmen lassen könnten, ist nicht nur eitel; sie ist auch Ausdruck eines schwärmerischen Aberglaubens, der Vernunft auch dort noch korrumpieren könnte, wo sie sich bislang unangefochten betätigen kann. Zuerst veröffentlicht in: Zeitschrift für philosophische Forschung Bd. 28, H. 1/Jan.–März 1974, S. 17–42.

Aporien der praktischen Vernunft I Die philosophische Diskussion wendet ihre Aufmerksamkeit nach einer Zeit der Abstinenz wieder den Fragen zu, die sich dem Denken deswegen stellen, weil der Mensch ein nach Grundsätzen handelndes Wesen ist, das bestimmter Ordnungen bedarf, um mit seinesgleichen zusammenzuleben. Das alte Konzept der Philosophia practica, lange Zeit fast vergessen, wurde wiederentdeckt. „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ lautete der Titel einer Anfang der siebziger Jahre erschienenen und vielbeachteten Sammelpublikation, der eine Diagnose und zugleich eine Forderung anzeigte. Die Tendenz, die in ihm zum Ausdruck kam, hat seither an Lebenskraft noch gewonnen: Es ist ein wesentlicher Teil der in der gegenwärtigen Philosophie geleisteten Reflexionsarbeit, der den Problemen gewidmet wird, die aus der Lebenspraxis des Menschen entstehen und sie zugleich zum Gegenstand haben. Ein Selbstverständnis der Philosophie, das ihre Aufgaben nur im Bereich theoretischen Erkennens sucht, findet heute nur noch wenige Vertreter. Es ist jedoch die Frage, ob der Versuch gelungen ist, der traditionellen Philosophia practica die Stellung wieder einzuräumen, die sie in früheren Zeiten unangefochten behaupten konnte. Die auf Aristoteles zurückgehende Tradition sah in der theoretischen und in der praktischen Philosophie die beiden im Verhältnis zueinander gleichberechtigten Hemisphären eines auf Prinzipien zielenden Wissens. Es war eine Tradition, die trotz mancher Brechungen und Verwerfungen noch am Beginn des 19. Jahrhunderts lebendig war. Dann aber schien die alte Philosophia practica gleichsam abdanken zu müssen. Man war nicht mehr bereit, ihren Anspruch zu akzeptieren, eine der beiden Hemisphären des philosophischen Denkens zu repräsentieren. Viele ihrer Fragen wurden gewiss im Rahmen der Individualethik auch weiterhin erörtert. Verglichen mit der alten Philosophia practica repräsentiert diese Ethik aber nur noch ein Rudiment. Der größere Teil des Erbes der praktischen Philosophie fiel nicht der Individualethik zu, sondern den Geisteswissenschaften, der Psychologie und den Sozialwissenschaften, Disziplinen also, die sich erst jetzt verselbständigten und zugleich darauf verzichteten, ihre Arbeit an den Fragen zu orientieren, die in der alten Philosophia practica das Zentrum gebildet hatten. Es ist kein Zufall, dass gleichzeitig auch die praktischen

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Fachwissenschaften nicht mehr als Disziplinen anerkannt wurden, die durch eine Grundverfassung sui generis bestimmt sind. So verstanden sich Jurisprudenz und Medizin in der älteren Tradition als Disziplinen, die ihre Aufgabe darin finden, innerhalb der ihnen zugeordneten Lebensbereiche vernünftiges Handeln und Gestalten zu ermöglichen und dieser Aufgabe auch alle Bemühungen unterzuordnen, die auf die Gewinnung und Begründung von Erkenntnis zielen. So konnten bald nur noch die theoretischen Wissenschaften damit rechnen, als Wissenschaften im eigentlichen Sinne des Wortes anerkannt zu werden; die ursprünglich eigenständigen praktischen Disziplinen wurden dann nur noch als „angewandte“ Wissenschaften verstanden. Das Konzept einer angewandten Wissenschaft bleibt eine Notlösung. Es verführt dazu, die Erledigung jener praktischen Fragen auf sich beruhen zu lassen, die durch die so simpel erscheinende Denkfigur der Anwendung verdeckt oder verdrängt werden. Der Anspruch auf methodische Eigenständigkeit wäre der Philosophia practica und den praktischen Disziplinen gewiss nicht so leicht bestritten worden, wenn die neuzeitlichen exakten Wissenschaften in ihrer Arbeit weniger erfolgreich gewesen wären. Gewiss waren in deren Genese auch Hoffnungen virulent, die sich darauf richteten, die Lebensbedingungen des Menschen verbessern zu können. Davon wurde jedoch das alte Ideal einer rein theoretischen Erkenntnis nicht berührt, das diese Wissenschaften auf neuen Wegen zu realisieren suchten. Deren Einfluss auf die Lebensbedingungen des Menschen konnte daher zunächst so gedeutet werden, als handelte es sich um eine im einzelnen nicht vorhersehbare und schon gar nicht intendierte Nebenwirkung. Auch den Bedürfnissen einer vernünftigen Lebenspraxis schien im Hinblick auf die neuzeitlichen Wissenschaften am besten mit Bedingungen gedient zu sein, unter denen ihnen die Möglichkeit unbegrenzten und von außen nicht kontrollierten Fortschreitens eröffnet wird. Die praktischen Disziplinen mitsamt der Philosophia practica schienen dagegen allenfalls ein gebrochenes Verhältnis zur Idee des Fortschritts zu haben. Fortschritte waren in ihrem Bereich anscheinend nur dort möglich, wo sich Resultate der theoretischen Disziplinen anwenden ließen. Der Kernbereich des Praktischen schien unter diesen Umständen weder fortschrittsfähig noch wissenschaftsfähig zu sein. Dann aber konnte man die Grundprobleme des Handelns dem Kompetenzbereich der ohnehin funktionslos werdenden praktischen Vernunft entziehen und ihre Lösung beispielsweise dem Akt einer grundlosen Entscheidung anvertrauen. Der Dezisionismus repräsentiert jedenfalls am konsequentesten die Folgelasten, die sich für den Bereich des Praktischen ergeben, wenn man Wissenschaftlichkeit und Begründungsfähigkeit nur im Umkreis des theoretischen Erkennens finden zu können glaubt. Ein an der Dichotomie von Erkenntnis und Entscheidung orientiertes Begriffsraster erlaubt es indessen nicht mehr,

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die Probleme, mit deren Erörterung einst die Philosophia practica befasst war, ohne Verkürzung zu exponieren. Die Bemühungen der praktischen Philosophie zielten seit ihren Anfängen darauf ab, auf die Frage, wie zu leben sei, eine Antwort zu geben, die nicht darin aufgeht, Ausdruck einer Entscheidung zu sein, sondern einer vernünftigen Begründung fähig ist. Dass diese Aufgabe unlösbar sei, war zwar häufig vermutet, aber eben doch niemals schlüssig bewiesen worden. Der Niedergang der alten Philosophia practica seit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts kam trotzdem nicht von ungefähr. Auf jeden Fall stellt er eine in der Geschichte des Denkens nicht selten auftretende Erscheinung beispielhaft vor Augen: Positionen und Thesen verschwinden nicht nur dann aus der Diskussion, wenn ihre Unhaltbarkeit stringent bewiesen worden ist. Denn öfters noch werden sie dann obsolet, wenn sich, aus welchen Gründen auch immer, niemand mehr bereit findet, sie zu verteidigen. Entsprechend ist auch die Rehabilitierung der praktischen Philosophie in unserer Gegenwart nicht die Frucht geglückter Argumentationen. Zu dieser Rehabilitierung kam es, als die Naivität verloren ging, mit der man den theoretischen Disziplinen ihrer Fortschrittsfähigkeit wegen den Primat zuerkennen zu können glaubte. Es waren immerhin Resultate eben dieser Disziplinen, die zu der bis jetzt radikalsten Veränderung der Bedingungen führten, unter denen Menschen auf der Erde leben. Gerade die Resultate einer am Ideal theoretischen, zweckfreien Erkennens orientierten Wissenschaft haben zu Lebensbedingungen geführt, unter denen Entscheidungen über praktische Fragen fällig werden, bei denen man sich nicht mehr ausschließlich an jenen tradierten Handlungsmustern orientieren kann, die bis dahin selbst noch dem Dezisionisten einen Leitfaden für seine Entscheidungen bieten konnten. So hat die Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation einen Orientierungsmangel im Hinblick auf die Grundnormen der Lebenspraxis zur Folge gehabt. Jedenfalls hätte die bereits totgesagte Philosophia practica schwerlich zu neuem Leben erweckt werden können, wäre dieser Orientierungsmangel nicht unübersehbar geworden. Die Fragen, die herkömmlicherweise zum Kernbereich der praktischen Philosophie gehören, unterscheiden sich nicht nur durch ihren Inhalt, sondern vor allem durch ihre formale Struktur von den Fragen, die im Bereich des theoretischen Erkennens erörtert werden. Hier ist der Grund von Schwierigkeiten zu suchen, denen man nur gerecht werden kann, wenn man die so oft übersehene Differenz nicht vernachlässigt, die zwischen praktischer Philosophie und praktischer Vernunft besteht. Der Name der praktischen Vernunft soll hier jenes Vermögen bezeichnen, das mit dem Anspruch auftritt, das Handeln des Menschen gemäß der Weisung allgemeinverbindlicher Normen ermöglichen, begründen und rechtfertigen zu können. Die praktische Vernunft, so verstanden, ist ihrer Idee nach handlungsleitende

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Vernunft. Der Name der praktischen Philosophie soll dagegen auf eine Disziplin verweisen, die auf Prinzipien reflektiert, wenn sie sich mit der praktischen Vernunft inmitten der Welt des Handelns als mit ihrem Gegenstand befasst. Die praktische Vernunft bezweckt richtiges Handeln; die praktische Philosophie zielt dagegen darauf ab, richtige Sätze über dieses Handeln zu gewinnen und zu begründen. Die Beziehungen, die zwischen beiden Größen bestehen, lassen sich dennoch nicht auf ein Verhältnis verschiedener Sprachstufen reduzieren. Denn die praktische Vernunft gehört nicht nur zu den Gegenständen der praktischen Philosophie. Deren Idee wird verkürzt, wenn man sie im Sinne einer theoretischen Disziplin versteht, für die die Welt des Handelns und der praktischen Vernunft nur den Status des ihr korrespondierenden Objektbereichs hat. In der Philosophia practica sahen gerade ihre klassischen Autoren zugleich eine der Gestalten, in denen die praktische Vernunft auch unmittelbar in Erscheinung tritt und wirkt. Sie erwarteten von ihr, dass sie der Welt des Handelns zugleich dient, wenn sie deren Prinzipien und die für sie geltenden Normen erforscht. Die Philosophia practica muss aber immer damit rechnen, in die Aporien der praktischen Vernunft auch selbst verstrickt zu werden, wenn sie sich als eine Gestalt dieser Vernunft versteht. Im Folgenden sollen einige dieser Aporien skizziert werden. Es gibt zu ihnen kein Pendant im Bereich der theoretischen Vernunft; denn sie gründen in jenen Strukturen, die es nicht erlauben, Fragen, die die Bestimmung des Handelns betreffen, als Fragen des Erkennens zu behandeln oder auf solche Fragen zu reduzieren. Niemand hat die Wahl, zu handeln oder nicht zu handeln. Anders als der Erkennende steht der Handelnde deswegen immer unter dem Diktat der Zeit. Im Gegensatz zu jeder Frage, die auf eine Erkenntnis abzielt, duldet es die Frage „Was soll ich tun?“ nicht, dass man ihre Antwort suspendiert; notfalls wird sie unmittelbar durch die Tat beantwortet. Der Erkennende muss es aushalten können, die Antwort auf seine Fragen dahingestellt sein zu lassen. Er muss sich von diesen Fragen wenigstens so weit distanzieren können, dass er zugunsten einer hypothetischen Behandlung auf eine unmittelbare Antwort verzichtet. Ohnehin ist der größte Teil der von Menschen bislang erarbeiteten Erkenntnis in Hypothesensysteme eingefügt. Gerade die Wissenschaft der Neuzeit hätte ihre erstaunlichen Erfolge nicht erzielen können, wenn sie ihre Erkenntnisbemühungen nicht vornehmlich auf das gerichtet hätte, was nur unter Bedingungen und Voraussetzungen gilt, die selbst nicht mehr in Frage gestellt werden müssen, wenn es darum geht, nur das Bedingungsgefüge als solches zu erkennen. Handeln ist dagegen seinem Wesen nach bedingungsfeindlich. So kann man zwar hypothetisch erkennen, aber man kann nicht hypothetisch handeln. Darin zeigt sich die Unwiderruflichkeit und Endgültigkeit, die die Resultate des Handelns im Gegensatz zu denen des Erkennens charakterisieren. Dem

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Erkennenden bleibt immer die Option, sich des Urteils zu enthalten und die Position skeptischer Indifferenz einzunehmen. Keine vergleichbaren Optionen stehen dem Handelnden offen. Er hat niemals die Möglichkeit, sich gleichsam neben den Lebenszusammenhang zu stellen, der in jedem Augenblick zum Handeln zwingt. Auch deshalb droht der praktischen Vernunft in einem weit höheren Maße als der theoretischen Vernunft die Gefahr des Scheiterns. Mit den gegenwärtigen Bemühungen um eine Rehabilitierung der praktischen Philosophie verbindet sich nicht selten die Hoffnung, auf diese Weise zugleich einen Beitrag zur Verwirklichung der praktischen Vernunft in der modernen Welt leisten zu können. Diese Hoffnung weicht jedoch bald einer Ernüchterung, wenn man sich der Schwäche dieser Vernunft bewusst wird. Diese Schwäche erlaubt es der Vernunft nicht, sich aus eigener Kraft durchzusetzen und zur Geltung zu bringen. Der ihr von ihrer eigenen Idee vorgezeichneten Aufgabe, das menschliche Handeln zu normieren und zugleich zu bestimmen, kann sie auch unter günstigen Bedingungen allenfalls stückweise gerecht werden. Auch wo sie in Gestalt der praktischen Philosophie auftritt, kann sie bei weitem nicht alles das leisten, was man zunächst einmal von ihr zu erwarten pflegt. Gerade weil sie das Handeln leiten und bestimmen will, verwickelt sie sich in Aporien, die sie aus eigener Kraft vielleicht durchschauen, aber gewiss nicht auflösen kann. Diese Aporien markieren zugleich Grenzen, die der Reichweite und der Wirksamkeit der praktischen Vernunft durch ihre eigene Struktur gezogen sind.

II Die praktische Vernunft tritt der Welt des Handelns, in der sie präsent sein will, zunächst vermittels allgemeingültiger Normen gegenüber, deren Respektierung sie fordert und denen sie die einzelnen Handlungen zu unterwerfen bestrebt ist. Handeln kann schwerlich den Anspruch einlösen, vernünftiges Handeln zu sein, wenn es nicht durch seine Unterwerfung unter eine Norm an der Sphäre des Allgemeinen teilhat. Die Möglichkeit, mit Hilfe der Norm diese Sphäre ins Spiel zu bringen, erlaubt es dem Handelnden aber auch, Distanz zu gewinnen gegenüber den kontingenten Situationen, in denen er sich vorfindet. Wird ein Handeln auf allgemeingültige Normen bezogen oder sogar durch sie bestimmt, so geht es eben deswegen schon nicht mehr ganz in der individuellen Situation auf, in der es verwirklicht wird. Ein Handeln, das auf allgemeingültige Normen bezogen ist, erschöpft sich nicht darin, lediglich auf Reize zu reagieren, die in der jeweiligen Situation wirksam sind. Nun gibt es gewiss kein Handeln, das nicht in kontingente, situative Randbedingungen eingebunden wäre. Es sind stets solche

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Randbedingungen, die für jeden Einzelfall bestimmen, inwiefern ein Handlungsbedarf besteht. Jene Einbindung wird aber in dem Maße gelockert, in dem das Handeln einer allgemeingültigen Norm unterworfen wird. Es gehört zu den zentralen Aufgaben der praktischen Philosophie, Methoden zu entwickeln, die es erlauben, Handlungsnormen nicht nur ausfindig zu machen und zu formulieren, sondern auch die von diesen Normen beanspruchte Allgemeinverbindlichkeit zu beurteilen und zu legitimieren. Von alters her werden Handlungsanweisungen in der praktischen Philosophie auch auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin untersucht, wenn Grund und Art ihrer Verbindlichkeit geprüft werden sollen. Geht es darum, die Aufgaben der praktischen Philosophie zu definieren, so wird auch heute der Ermittlung und der Legitimierung der zur Bestimmung des Handelns dienenden Normen regelmäßig der Vorrang zugestanden. Die Normentheorie bildet, wie es scheint, rechtmäßigerweise den Kern der praktischen Philosophie. Die philosophische Reflexion wird sich umso bereitwilliger der im Bereich dieser Theorie gestellten Aufgaben annehmen, als sie bei deren Bearbeitung die Ebene des Allgemeinen, wie sie ihr aus ihrem theoretischen Gebrauch vertraut ist, nicht zu verlassen braucht. Innerhalb der Sphäre des theoretischen Vernunftgebrauchs mag es sogar so scheinen, als gelangte alles Erkennen letztlich nur dort an sein Ziel, wo es sich darum bemüht, ein Allgemeines zu erfassen. Die theoretische Vernunft fühlt sich denn auch vor allem dort heimisch, wo sie Singuläres und Individuelles in seiner Kontingenz auf sich beruhen lassen kann, um ihr Interesse ungeteilt Gesetzen und Strukturen zukommen zu lassen. Doch die Dinge liegen dort anders, wo man es mit generellen Normen zu tun hat, die der Vernunft auch dazu dienen sollen, konkretes Handeln im Einzelfall zu regulieren. Wenn sich das Denken mit der Welt des Handelns befasst, sind seine Aufgaben mit der Begründung und mit der Rechtfertigung allgemeingültiger Normen nicht erschöpft. Gewiss bedarf man, wenn man auf die Frage „Was soll ich tun?“ begründete Antworten geben will, eines Rekurses auf derartige Normen. Mit einem solchen Rekurs allein ist in diesem Fall aber noch nicht viel ausgerichtet. Gesetzt den Fall, die Normentheorie hätte ihre Aufgaben bereits endgültig gelöst, so stünde doch immer noch die Frage offen, wie sich jene Normen auf die einzelnen, konkreten und stets wechselnden Situationen anwenden lassen, in denen sich der Handelnde vorfindet. Von einem Normensystem hat man wenig Nutzen, solange man nicht sicher weiß, welche Norm man anwenden muss und auf welche Weise man sie anwenden muss, um den jeweiligen Einzelfall regulieren zu können, auch dann nicht, wenn ihre Verbindlichkeit bereits auf überzeugende Weise dargetan worden ist. Selbst wenn man Einzelhandlungen zu identifizieren und Normen auf sie anzuwenden imstande wäre, bliebe immer noch die Frage, ob es möglich ist, allgemeingültige Regeln

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oder Normen auszumachen, denen dann jene Handlungen zweiter Stufe zu folgen haben, mit denen die Primärnormen auf Einzelfälle angewendet werden. Es ist leicht zu sehen, dass man es hier mit einer iterierbaren Struktur zu tun hat. Der Name der Applikationsaporie soll hier den Inbegriff der Schwierigkeiten bezeichnen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, generelle Normen auf individuelle, konkrete Situationen anzuwenden. In diese Aporie kann sich die praktische Vernunft schon vor jeder philosophischen Prinzipienreflexion und unabhängig von ihr verwickeln. Diese Reflexion bringt Ursprung und Struktur der Aporie auf den Begriff; sie jemals allgemeingültig auflösen zu können, darf die Reflexion dagegen schwerlich hoffen. Anhand der Applikationsaporie lässt sich deutlich machen, inwiefern sich das alte, bislang ohnehin niemals endgültig gelöste Universalienproblem auch im Einzugsbereich des Handelns und seiner Normierung stellt. Es erscheint hier sogar in verschärfter Form. Vom Standpunkt der theoretischen Einstellung aus ist es erlaubt, das Individuelle, den Einzelfall auf sich beruhen zu lassen. Diese Einstellung kann sich auf universal gültige Gesetze und Strukturen ausrichten und daran auch dann ihr Genüge finden, wenn sie es dahingestellt sein lässt, welcher ontologische Status diesen Strukturen zukommt. Dagegen steht es dem Handeln niemals frei, von der Singularität des konkreten Einzelfalls ganz abzusehen. Auch wenn es durch allgemeingültige Normen bestimmt wird, kann es immer nur in der Sphäre des Singulären realisiert werden; kein Handeln kann ausschließlich auf die Sphäre des Allgemeinen bezogen bleiben. Dies gehört zu den ältesten Einsichten der praktischen Philosophie. Gerade dort, wo singuläre Situationen und Handlungen unter generelle Normen subsumiert werden sollen, zeigt sich nun aber die kategoriale Heterogenität beider Bereiche in besonderer Schärfe. Die praktische Vernunft ist immer wieder damit befasst, die Bereiche aufeinander zu beziehen und sie zur Deckung zu bringen. Aber selbst im günstigsten Falle können ihr jener kategorialen Heterogenität wegen höchstens Näherungslösungen gelingen. Trotzdem wird sie immer bestrebt sein, die konkreten Entscheidungen in der Welt des Handelns auf der Grundlage genereller Normen zu rechtfertigen. Dabei wird sie sich jedoch stets bewusst sein, dass alle ihre Versuche, konkretes Handeln mittels allgemeingültiger Normen zu legitimieren, schon aus kategorialen Gründen stets lückenhaft bleiben. Es ist eher die Ausnahme, wenn die Aufgabe, auf einen Einzelfall eine Norm zu applizieren, eine und nur eine Lösung erlaubt. Es hängt mit der kategorialen Heterogenität der hier zu verbindenden Elemente zusammen, wenn es in der Regel mehrere Lösungsmöglichkeiten gibt. Allgemeines lässt sich durch eine endliche Anzahl von Merkmalen charakterisieren, jedenfalls dann, wenn es sich um Gebilde handelt, die einem Abstraktionsprozess

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entstammen, beispielsweise um moralische oder um juridische Normen. Singuläres von der Art sinnenfälliger Einzeldinge, konkreter Situationen oder individueller Handlungen lässt sich jedoch anhand einer endlichen Anzahl von Merkmalen niemals abschließend bestimmen. Dass Singuläres auf der Ebene des Begriffs niemals erschöpfend erfasst werden kann, ist eine Einsicht, die zum Kernbestand der ontologischen Tradition gehört. Es ist eine Einsicht, mit deren Hilfe die Applikationsaporie der praktischen Vernunft ebenso durchschaut werden kann wie die Schwierigkeiten, die sich jedem Versuch entgegenstellen, elementare Prädikationen, die einem Stück sinnenfälliger Wirklichkeit einen Begriff applizieren, allgemeingültig und zwingend zu begründen. Nun kann man freilich darauf verzichten, überhaupt zu prädizieren. Niemand kann aber darauf verzichten, bewusst zu handeln. Dieser unausweichliche Zwang, überhaupt zu handeln, bildet einen der Gründe für die eigentümliche Härte, die der Applikationsaporie eigen ist. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Zuordnung von Allgemeinem und Einzelnem ergeben, lassen sich nur dort vermeiden, wo man Normen oder Begriffe nicht auf eine unmittelbar vorgefundene, sinnenfällige Wirklichkeit, sondern auf ein artifizielles Substrat anwendet, das selbst bereits Resultat von Abstraktionen, Konstruktionen oder Konventionen ist. Solche Verhältnisse liegen in exemplarischer Weise dort vor, wo Regeln in Spielen angewendet werden. Hier treffen die Regeln auf eine nicht vorgefundene, sondern bereits im Hinblick auf sie durch die Vermittlung von Konventionen vorgeformte Wirklichkeit eigener Art. In der Welt der Spiele und der ihr zugeordneten Handlungen lassen sich daher Applikationsschwierigkeiten vermeiden. Spielhandlungen können daher ihrer leichten Normierbarkeit und damit ihrer Überschaubarkeit wegen Modelle liefern, die dort Orientierungshilfe zu geben vermögen, wo schwer überschaubare Realsituationen normiert werden sollen. Wer auf der Grundlage von Normen konkrete Handlungen und Situationen regulieren will, wird zuerst prüfen, ob sich jedem der endlich vielen, von der jeweiligen Norm berücksichtigten Merkmale ein Merkmal des zu regulierenden Sachverhalts zuordnen lässt. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn der Jurist die einzelnen in einer Gesetzesnorm berücksichtigten Tatbestandsmerkmale durchgeht, um sie mit den Merkmalen eines realen, individuellen Lebenssachverhalts in Beziehung zu setzen. Findet jedes Merkmal der Norm im Sachverhalt seine Entsprechung, so scheint damit die Applikation der Norm gerechtfertigt zu sein. Doch wer es dabei bewenden lässt, hat ein Zwischenglied übersprungen, das niemals vernachlässigt werden darf, wo die Anwendbarkeit von Normen geprüft wird. Auch die unübersehbar zahlreichen Merkmale des konkreten Sachverhalts, zu denen die Norm schweigt, sind nämlich nicht in jedem Fall irrelevant, wenn es um die Frage geht, ob man berechtigt ist, die Norm zu applizieren. Denn

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es kann Merkmale des Sachverhalts geben, deren Vorliegen die Anwendung der in Frage stehenden Norm auch dann ausschließt, wenn sie von der Norm weder im positiven noch im negativen Sinn berücksichtigt werden. Die juridische Norm „pacta sunt servanda“ verpflichtet zur Vertragstreue. Sie berechtigt trotzdem niemanden dazu, ausnahmslos in allen Fällen auf der buchstabengetreuen Erfüllung eines einmal abgeschlossenen Vertrages zu bestehen. Denn diese Norm lässt sich nur anwenden, wenn auch die Bedingungen der „clausula rebus sic stantibus“ erfüllt sind. Ein Vertrag lässt sich modifizieren, wenn nicht gar aufheben, wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind. Die Klausel kann einem aber niemals zweifelsfreie Gewissheit darüber verschaffen, welche Änderungen unter den Randbedingungen so gewichtig sind, dass sie den Bestand des Vertrages in Frage stellen können. Von ihren griechischen Anfängen an hat sich die praktische Philosophie darum bemüht, derartig strukturierte Normierungsprobleme zu lösen. Eine Fülle von Beispielen bieten bereits Platons Dialoge. So geht es beispielsweise in dem die „Politeia“ einleitenden Eröffnungsgespräch um die Frage, ob sich die Norm der Gerechtigkeit zu der Verpflichtung konkretisieren lässt, ein Depositum seinem rechtmäßigen Eigentümer in jedem beliebigen Fall auf sein Verlangen hin herauszugeben. Soll die so konkretisierte Norm auch dann gelten, wenn es sich bei dem Depositum um eine Waffe handelt, die der jetzt seiner Sinne nicht mehr mächtige Eigentümer zurückverlangt? Dieser Fall wird von der Norm auch in ihrer konkretisierten Gestalt nicht berücksichtigt. So ergibt sich die Frage, unter welchen Bedingungen man – wenn überhaupt – berechtigt ist, aus dem Vorliegen eines Situationsmerkmals, zu dem die Norm schweigt, auf die Nichtanwendbarkeit dieser Norm zu schließen. Diese Frage führt geradewegs in die Applikationsaporie: Selbst wenn jedem Merkmal, das in der Norm berücksichtigt wird, ein Merkmal der zu regulierenden konkreten Situation entspricht, kann man noch nicht ganz sicher sein, ob es erlaubt ist, die Norm anzuwenden. Es mag sein, dass es eher Grenzfälle sind, in denen die entsprechende Prüfung ein negatives Ergebnis zeitigt: Im Umkreis des normierten Handelns gibt es weite Bereiche, innerhalb deren die Lösung der einschlägigen Applikationsaufgaben trivial ist. Im Prinzip bleibt die Aporie trotzdem bestehen; denn man hat niemals zweifelsfreie Gewissheit, ob dem Fall, der zur Regulierung ansteht, wirklich eine Subsumption von der trivialen Art angemessen ist oder ob es sich um einen Grenzfall handelt, der besondere Überlegungen notwendig macht. Daher kann man unter Realbedingungen keinem singulären Sachverhalt und keiner Situation mit Sicherheit auf den Kopf zusagen, welche Normen es sind, die für ihre Regulierung herangezogen werden müssen. Man kann, um der Entstehung derartiger Schwierigkeiten zuvorzukommen, eine Kasuistik entwickeln. Doch dies bleibt eine Notlösung. Die ihr zugrunde liegende Aporie wird durch sie eher markiert als aufge-

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löst. Deshalb lässt man sich auf eine nichttriviale Aufgabe ein, wenn man für einen konkreten Fall ermittelt, ob für seine Regulierung eine triviale Subsumption ausreicht. In der Moralphilosophie, aber auch in der Moraltheologie und vor allem in der Jurisprudenz hat man sich immer wieder um Techniken bemüht, die eine eindeutige Lösung praktischer Subsumptionsaufgaben ermöglichen und deren Richtigkeit garantieren sollen. Doch solche Techniken ließen sich niemals finden: Wo es um Normierungen in der Welt des Handelns geht, lassen sich stets nur Näherungslösungen finden, nicht dagegen Resultate, für die man unbezweifelbare Sicherheit in Anspruch nehmen könnte. In diesem Sinne kann man sich beispielsweise des Analogieprinzips bedienen, wenn sich bei dem Versuch, einen Einzelfall zu regulieren, die Lückenhaftigkeit des in Anspruch genommenen Normensystems zeigt. Fruchtbar machen lässt sich dieses Prinzip jedoch nur dann, wenn bereits ausgemacht ist, welche Norm der zu bildenden Analogie als Basis dienen soll. Stellt man sehr hohe Anforderungen an die bei der Anwendung von Normen zu beobachtende Genauigkeit, so wird man in jedem Anwendungsakt Analogiestrukturen aufspüren können. Doch auch das Analogieprinzip führt in ein Dilemma. Weist nämlich der zu regulierende Sachverhalt ein Merkmal auf, zu dem die Norm schweigt, die sonst in Anspruch genommen werden müsste, so kann daraus niemand die Berechtigung zu einer Anwendung der Norm per analogiam ableiten. Ein solcher Fall eröffnet nämlich andererseits auch die Möglichkeit, auf der Grundlage eines Umkehrschlusses (argumentum e contrario) die Anwendung der fraglichen Norm, auch die analoge Anwendung, gerade auszuschließen. Ist es kontrovers, wie ein konkreter Sachverhalt zu normieren ist, so kann kein formales Verfahren völlige Sicherheit darüber verschaffen, ob ein Analogieschluss oder ein Umkehrschluss indiziert ist. Man kann diese Kontroverse entschärfen, wenn man auf der Ebene der Normen oder auf der Ebene der Sachverhalte wesentliche und unwesentliche Merkmale voneinander unterscheidet. Damit wird das Problem aber nur verschoben, da nunmehr die randscharfe Abgrenzung wesentlicher und unwesentlicher Merkmale kontrovers werden kann. Hier gerät man in Aporien, deren Spuren sich im Gebrauch einer Sprache zeigen, die das richterliche Urteil als Erkenntnis, zugleich aber auch als Entscheidung bezeichnen kann. Es lässt sich erwägen, ob man derartigen Schwierigkeiten entgeht, wenn man auf den Versuch verzichtet, isolierte Einzelnormen ins Spiel zu bringen und statt dessen der Idee nach in jedem Fall das ganze Normensystem appliziert, innerhalb dessen die Einzelnormen nicht vollkommen randscharf gegeneinander abgegrenzt zu werden brauchen. Unter diesen Voraussetzungen sind Einzelnormen nur das Ergebnis von Abstraktionsprozessen. Nun bieten freilich Einzelnormen den großen Vorteil, dass sie sich in Gestalt von

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Sätzen darstellen und zugleich fungibel machen lassen. Man darf dabei von allen den Verfahren Gebrauch machen, die die Logik für den Umgang mit Sätzen bereithält. Doch Schwierigkeiten, wie sie schon bei der Anwendung einer Einzelnorm auf einen konkreten Einzelfall entstehen, werden höchstens transformiert, aber gewiss nicht umgangen, wenn man statt dessen sofort Normensysteme ins Spiel bringt. Die zur Applikationsaporie führenden, in der kategorialen Heterogenität des Normativen und des Faktischen gründenden Probleme ergeben sich auch hier. Sie werden sogar noch verschärft, weil sich Normensysteme als ganze kaum fungibel machen lassen, wenn es darum geht, Lebenssachverhalte zu regulieren. Gerade wenn man dergleichen versucht, wird man auf die Vorteile gestoßen, die der Umgang mit Einzelnormen bietet. Die mit der Applikation von Normen verbundenen Probleme sucht man häufig auch dadurch zu entschärfen, dass man sich mehrstufiger Systeme bedient, die nicht nur die Primärnormen, sondern außerdem auch Regeln für Interpretation und Applikation dieser Normen enthalten. Man kann sich dann, wenn man konkrete Einzelfälle unter Normen subsumieren will, für diese Tätigkeit an solchen Regeln höherer Stufe orientieren. Auch die Anwendung von Normen lässt sich als eine Tätigkeit ansehen, die selbst wiederum einer Normierung bedarf. Hier ergibt sich eine Hierarchie von Stufen, die in einen unendlichen Regress führt, da sich auf jeder Stufe die Applikationsfrage aufs neue stellen lässt. Die der Auslegung und der Applikation dienenden Metaregeln können beim Umgang mit Normen gewiss von Nutzen sein. Sie können die einschlägigen Schwierigkeiten in vielen Fällen eingrenzen und reduzieren. Aus prinzipiellen Gründen können aber auch sie diese Schwierigkeiten niemals ganz auflösen. Denn auch ein gestuftes Normensystem kann niemals die Instanz in sich begreifen, die mit den Normen umgeht. Diese Instanz verbleibt immer außerhalb des Systems. Die Applikationsaporie lässt sich daher auch auf der Grundlage eines gestuften Normensystems nicht vermeiden. Auch das Schema von Regel und Ausnahme genießt große Beliebtheit, wo die Anwendung genereller Normen auf konkrete Fälle nicht problemlos gelingt. Wer sich auf ein Recht zur Ausnahme beruft, will die Verbindlichkeit der Grundnorm nicht ausdrücklich zur Disposition stellen. Denn ein vermeintliches Ausnahmerecht pflegt man aus dem Vorliegen solcher Merkmale des Sachverhalts herzuleiten, die von der zu umgehenden Norm weder positiv noch negativ berücksichtigt werden. Nur deswegen ist die Ausnahme fähig, einer beliebten Redensart gemäß, die Geltung der Regel zu bestätigen. Dennoch bleibt jede Berufung auf ein vermeintliches Recht zur Ausnahme eine Notlösung, zu der sich nur verstehen kann, wer dem Anspruch auf systematische Konsequenz gegenüber zu Konzessionen bereit ist. Wer sich des Schemas von Regel und Ausnahme bedient, setzt der Sache

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nach nämlich die Geltung eines mehrstufigen Normensystems voraus. Was unter dem Namen eines Ausnahmerechts auftritt, ist in Wahrheit immer schon das Resultat der Anwendung einer Norm höherer Stufe. Es ist ohne Belang, ob der sich auf ein Ausnahmerecht Berufende diesen Zusammenhang durchschaut. Das Recht zur Ausnahme hat im Verhältnis zur Primärnorm daher nicht nur subsidiäre Geltung. Der Sache nach sind es gerade die Primärnormen, die im Verhältnis zu der im Ausnahmerecht präsenten höherrangigen Norm nur in subsidiärer Weise gelten. Hier handelt es sich um Strukturen, deren Relevanz vor allem in der Staatstheorie deutlich wird: Das Wesen einer bestimmten Verfassungsordnung verfehlt man, wenn man es versäumt, der Regelung des Ausnahmezustandes besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht der vermeintliche Normalzustand, sondern der Ausnahmezustand lässt den Kern der Ordnung sichtbar werden, die das Leben innerhalb einer Verfassung reguliert. So eröffnet auch das Schema von Regel und Ausnahme keine Aussichten, der Applikationsaporie entgehen zu können. Man verstrickt sich spätestens dann in sie, wenn man nach den Regeln fragt, denen die Anwendung jener höherrangigen Normen folgen, durch die eine Ausnahme gerechtfertigt werden soll. Auch Exhaustionstechniken gehören zu dem Repertoire von Methoden, deren man sich zu bedienen pflegt, wenn man die Berechtigung, einen konkreten Sachverhalt unter eine Norm zu subsumieren, in kontroversen Fällen zu legitimieren sucht. Es handelt sich dabei um Interpretationsverfahren besonderer Art. Sie setzen nicht bei der sprachlichen Darstellung der Normen an, sondern bei dem zu normierenden Sachverhalt. Es ist der Sachverhalt, dem mit Hilfe einer geeigneten Deutung ein Platz im Einzugsbereich einer bestimmten Norm gesichert oder aber streitig gemacht werden soll. Freilich kann man auch mit der Berufung auf ein vermeintliches Ausnahmerecht den Sachverhalt dem Anspruch einer Norm entziehen. Wer sich indessen der Exhaustionstechniken bedient, erweckt erst gar nicht den Anschein, die strenge Allgemeinverbindlichkeit einer anerkannten Norm im Interesse eines einzelnen Falles einschränken zu wollen. Deswegen kommen diese Techniken in besonderem Maße den Bedürfnissen der Moralkasuistik entgegen. Lehrreiche Beispiele finden sich in den Skizzen kasuistischer Fragen, die Kant in der „Metaphysik der Sitten“ jeweils den einzelnen Abschnitten der Tugendlehre als Korrolarien folgen lässt. So wird die strenge Allgemeinverbindlichkeit der Norm, die den Selbstmord verbietet, nicht in Frage gestellt, wenn mit einer geeigneten Deutung des Sachverhalts eine negative Antwort auf die Frage „Ist es Selbstmord, sich in den gewissen Tod zu stürzen, um das Vaterland zu retten?“ gerechtfertigt werden soll. Ein vergleichbares Bild bietet die Kasuistik zum Verbot der Lüge. Auch dort wird der Geltungsanspruch der Norm nicht durch Ausnahmen eingeschränkt. Es werden vielmehr Lebenssachverhalte im Hinblick darauf interpretiert, ob

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bestimmte Täuschungen auf der Grundlage sozialer Konventionen ein für alle Mal akzeptiert werden und eben damit aufhören, echte Täuschungen zu sein. Es sind gerade solche Exhaustionstechniken, deren Verwendung es Kant erlaubt, in der Moralphilosophie Rigorismus auf der Prinzipienebene und Liberalität in der Behandlung des konkreten Einzelfalls miteinander zu verbinden. Die Applikationsaporie ergibt sich freilich am Ende auch dort, wo mit Hilfe von Exhaustionen Sachverhalte gedeutet werden. Sie wird in diesem Fall lediglich aus dem Bereich des Normativen in den des Deskriptiven verlagert. Wo man konkrete Sachverhalte deutet oder charakterisiert, macht man von Allgemeinbegriffen Gebrauch. Ihre Anwendung auf Sachverhalte mag im Regelfall zu Resultaten führen, denen ein hohes Maß an Plausibilität eigen ist. Aber auch im Bereich des Deskriptiven kann es kein Verfahren geben, das einem die Richtigkeit von Prädikationen zweifelsfrei garantieren könnte. In der alltäglichen Lebenspraxis wird die Anwendung der Normen gewöhnlich durch einen informellen Konsens getragen, der Traditionen begründen und Handlungsentscheidungen einer Routine überantworten kann, die ausdrücklicher Reflexionen nicht bedarf und die höchstens einmal in Grenzfällen Anlass zu Kontroversen gibt. Gerade deshalb sollte man aber die Konsequenzen nicht übersehen, die daraus folgen, dass sich die Richtigkeit der Applikation einer Norm auf einen individuellen Sachverhalt aus prinzipiellen Gründen niemals stringent beweisen lässt. Nun ist es gewiss ein Gebot der praktischen Klugheit, strengen Beweisen dort nicht nachzujagen, wo sie aus Gründen, die im Wesen der Sache liegen, ohnehin niemals erreichbar sind. In jedem Fall bleibt ein Begründungsdefizit bestehen. Es pflegt von denen ausgenutzt zu werden, die fragwürdige Forderungen erheben und ihnen mit Hilfe sophistischer Techniken den Schein der Legitimität zu geben suchen. Aber es gibt schlechterdings keine Norm, die gegenüber der Möglichkeit, missbraucht zu werden, gänzlich immun wäre. Auch dies gehört zu den Konsequenzen, die aus jenem Begründungsdefizit folgen. Vor diesem Hintergrund werden die Versuche verständlich, den Einzugsbereich der Applikationsaporie überhaupt zu verlassen. Das ist möglich, wenn man im Gegenzug dazu bereit ist, auf inhaltlich bestimmte Handlungsnormen gänzlich zu verzichten. Unter dieser Voraussetzung kann man Situationsethiken, dezisionistische Konzepte sowie Modelle entwerfen, auf Grund derer Handlungsentscheidungen durch den Rekurs auf ein moralisches Gefühl gerechtfertigt werden. In solchen Fällen nimmt man freilich zu Prinzipien Zuflucht, die keinen Anteil mehr an der dem Begriff eigenen Allgemeinheit haben. Damit distanziert man sich aber zugleich von der Idee einer Vernunft, die praktisch sein kann. Diese Idee bleibt an der Sphäre des Allgemeinen orientiert, von der aus individuelles Handeln beurteilt

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und normiert werden kann. So eröffnen also auch die erwähnten Ansätze keinen Weg, der zur Auflösung der Applikationsaporie führt. Immerhin respektieren sie die Unauflösbarkeit dieser Aporie, wenn sie die Lösung in einem Bereich jenseits der Sphäre begrifflicher Allgemeinheit suchen, also dort, wo die Voraussetzungen, unter denen die Applikationsaporie entsteht, gar nicht gegeben sind. Will man nicht darauf verzichten, das Handeln durch allgemeingültige Normen bestimmt sein zu lassen, und will man zugleich der Tatsache Rechnung tragen, dass sich keine Methode entwickeln lässt, die die Richtigkeit der jeweiligen Zuordnung von Norm und Einzelfall garantieren könnte, so bleibt eigentlich nur der Ausweg, den Vollzug der Normenanwendung nicht fest mit einem bestimmten Verfahren zu verbinden, sondern statt dessen einer Instanz anzuvertrauen. Im Einzugsbereich des individuellen Handelns kann die Urteilskraft die Funktion einer solchen Instanz übernehmen. Die Urteilskraft pflegt man in Anspruch zu nehmen, wenn die Befolgung von Verfahrensregeln allein nicht ausreicht, um Applikationsaufgaben zu lösen. Die Urteilskraft ist denn auch, wie man spätestens seit Kant weiß, ein Vermögen, das die Erledigung seiner Aufgaben niemals an eine formale Technik delegieren kann. Der Sache nach hat man jedenfalls die Unauflösbarkeit der Applikationsaporie bereits anerkannt, wenn man eine Instanz von der Art der Urteilskraft in Anspruch nimmt. Jenseits der Sphäre des allein vom Individuum zu verantwortenden Handelns sind es dann die Institutionen, die für Leistungen in Anspruch genommen werden, wie sie sich durch die Anwendung formaler Verfahren allein nicht erzielen lassen. Die praktische Vernunft kann nicht darauf verzichten, das Handeln unter allgemeingültige Normen zu stellen, wenn sie sich selbst nicht untreu werden will. Anders als die theoretische Vernunft kann sie im Bereich des Allgemeinen aber niemals ihr Genüge finden, da das Handeln, auf das sie zielt und das sie bestimmen will, der Ebene des Singulären und der Kontingenz zugehört. Die Vernunft kann deswegen das konkrete Handeln niemals in allen seinen Bezügen durch die Norm bestimmen. Sie muss sich mit Teillösungen begnügen, die ihr immer wieder die Grenzen vor Augen stellen, die ihrer Fähigkeit, Handeln zu begründen, gezogen sind. Versucht sie, auch die Anwendung von Normen unter Regeln zu bringen, gerät sie in die Applikationsaporie, die sie dazu zwingt, die Hilfe einer anderen Instanz in Anspruch zu nehmen. Doch auch diese Hilfe ermöglicht keine Lösung der Aporie. Für den Handelnden zeigt sich die eigentümliche Härte, die mit der Erfahrung der Welt der Praxis verbunden ist, nicht zuletzt auch darin, dass er diese Aporie ungelöst stehen lassen und sich damit abfinden muss, dass allgemeine Norm und konkreter Einzelfall niemals exakt zur Deckung gebracht werden können.

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III Die praktische Vernunft würde ihrer Idee nicht gerecht, begnügte sie sich damit, allgemeingültige Normen zu begründen und Einzelhandlungen unter sie zu subsumieren. Will sie als Vernunft praktisch sein, so muss sie überdies den Anspruch erheben, Handlungen nicht nur beurteilen, sondern auch motivieren zu können und die Kraft zu haben, Bedingungen für die Ausführung dieser Handlungen zu setzen. Gesetzt den Fall, die Arbeit der Normenbegründung wäre geleistet; gesetzt außerdem den Fall, die mit der Anwendung von Normen auf individuelle Handlungen verbundenen Probleme wären gelöst; gesetzt also den Fall, es ließe sich auf bündige Weise auf der Grundlage der Norm für jede Situation ausmachen, was zu tun gefordert ist, so wäre damit immer noch nicht die Frage beantwortet, was den Handelnden eigentlich veranlassen kann, die eigenen Entscheidungen an der Norm auszurichten und damit ihre Geltung auch durch die Tat anzuerkennen. Hier ergeben sich Schwierigkeiten, die zur Motivationsaporie führen. In die Applikationsaporie verstrickt sich, wer zu einer auch den Einzelfall umgreifenden begründeten Erkenntnis davon gelangen will, wie Normen anzuwenden sind. In die Motivationsaporie dagegen gerät, wer wissen will, warum er sie überhaupt anwenden soll. Auch hier handelt es sich um eine Frage, die sich nicht erst auf jener Ebene stellt, auf der die praktische Philosophie ihre Reflexionen entwickelt. Auch diese Frage ergibt sich bereits auf der Ebene der praktischen Vernunft, einer Vernunft also, die die Welt des Handelns, in die sie gleichwohl eingebunden bleibt, gestalten und die sich in dieser Welt selbst verwirklichen will. Motive treten gewöhnlich nicht isoliert voneinander in Erscheinung, sondern als Elemente kettenartiger oder netzartiger Strukturen. Gewiss darf man versuchen, innerhalb derartiger Verbände einzelne Elemente zu identifizieren und gegeneinander abzugrenzen. Doch die Einzelmotive, zu denen man auf diese Weise gelangt, bleiben Abstraktionsprodukte. Nun pflegt freilich jeder Handelnde, der sich über sein Tun Rechenschaft gibt, in seinem Selbstbewusstsein jeweils ein bestimmtes Einzelmotiv auszuzeichnen, wenn er eine seiner Handlungen erklären und rechtfertigen will. Doch es bedarf nur einer einfachen Reflexion, um sich über das Netzwerk klar zu werden, innerhalb dessen ein jedes Einzelmotiv nur den Status eines unselbständigen Moments beanspruchen kann. Hinter jedem Motiv, das man identifiziert zu haben meint, befindet sich stets eine Kette von anderen Motiven, eine Kette allerdings, die sich bald im Dunkeln verliert. Hier stellt sich die Frage danach, in welchen Beziehungen die praktische Vernunft zu jenen komplexen Motivationsstrukturen stehen kann, die die einzelnen Handlungen eines Menschen in die Einheit eines Lebenszusammenhangs fügen. Ist am Ende

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die praktische Vernunft selbst nur eines der Elemente, allenfalls ein ausge­ zeichnetes Element innerhalb jenes Netzes von Motiven? Angenommen, die praktische Vernunft hätte weder mit der Begründung noch mit der Anwendung von Normen irgendwelche Schwierigkeiten und sie hätte überdies die Kraft, Handlungen zu motivieren und zu verwirklichen, so bliebe immer noch die Frage, was sie dazu bewegen kann, von dieser Kraft auch Gebrauch zu machen. Denn wenn man Motive aufzuspüren unternimmt, darf man nicht damit rechnen, an ein natürliches Ende zu gelangen. Lässt sich jedoch die praktische Vernunft als Element unter anderen Elementen in das Geflecht der Motive einfügen, so läuft sie Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Die praktische Vernunft stünde indes in einem Gegensatz zu ihrer Idee, wenn ihr Wirken von Bedingungen abhängig wäre, die ihr vorgeordnet sind und auf die sie keinen Zugriff hat. Es widerspricht dieser Idee, wenn sich die praktische Vernunft von einer ihr fremden Instanz in Dienst nehmen lässt. Die praktische Philosophie der Gegenwart zeigt eine besondere Vorliebe für jenes Lehrstück der aristotelischen Ethik, das sich der Form des Syllo­ gismus als eines Modells bedient, um das von Normen geleitete Handeln zu deuten. Dort wird dem Obersatz des Schlusses die Norm, dem Untersatz dagegen die konkrete Situation zugeordnet; der Konklusion entspricht in diesem Schema nicht etwa die auf eine individuelle Situation hin konkretisierte Aufforderung zu einer bestimmten Handlung, sondern diese Handlung selbst. Dies ist der „praktische“ Syllogismus. Er will die Struktur einer Vernunft nachzeichnen, durch die Handlungen nicht nur beurteilt, sondern auch bewirkt werden. Aber auch wenn man normiertes Handeln anhand eines syllogistischen Modells deutet, bleibt immer noch die Frage offen, wodurch die praktische Vernunft nun eigentlich veranlasst wird, die Prämissen nicht einfach als solche stehen zu lassen, sondern aus ihnen eine Konklusion abzuleiten. Denn diese Ableitung weist selbst bereits die Merkmale einer Handlung auf. Auch wenn die Prämissen gegeben sind, kommt ein Syllogismus noch lange nicht von allein zustande. Dazu bedarf es immer noch einer operierenden, also einer handelnden Instanz. So kann der praktische Syllogismus gewiss eine Teilstruktur der praktischen Vernunft nachbilden. Aber auch er erklärt nicht, wie die Vernunft veranlasst wird, ihre Fähigkeit zu erproben, nicht nur beurteilend, sondern auch bestimmend in die Welt des Handelns und in die sie durchziehenden Motivationsgeflechte einzugreifen. Falls aber die praktische Vernunft selbst wiederum einer Motivation bedarf, um wirksam zu werden, so bildet sie in Wirklichkeit entgegen ihrer Idee und entgegen ihrem an dieser Idee orientierten Selbstverständnis nur ein unselbständiges Teilmoment eines umfassenderen Motivationsgeflechts. Sie ist in diesem Fall nicht vollständig Herr über die Handlungen, an deren Zustandekommen sie nur mitwirkt; die in ihrem Rücken wirkenden Motive muss sie dann hinnehmen, ohne sie normieren zu können.

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Wo immer Normensysteme Geltung beanspruchen, findet man in ihrem Umkreis subsidiäre Systeme, deren Funktion darin besteht, die Respektierung der Normen durch ihre Adressaten zu gewährleisten. Solche Sanktionssysteme zielen darauf ab, unmittelbar auf den Willen des Handelnden motivierend einzuwirken. Wo derartige Sanktionen wirksam sind, manifestieren sie bereits durch ihre bloße Existenz einen Zweifel an der Fähigkeit der praktischen Vernunft, das Handeln aus eigener Kraft zu motivieren. Eine Vernunft, die auf eine Sanktionsordnung angewiesen ist, wenn sie ihren Normen Respekt verschaffen will, ist ihrem Wesen nach allenfalls beurteilende, nicht aber im engeren Sinne praktische Vernunft. Denn praktische Vernunft kann nicht auf den Anspruch verzichten, ohne Ausnahme auch alle Motivationen zu normieren, die am Aufbau der Welt des Handelns beteiligt sind. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Bedingungen ausfindig zu machen und zu präzisieren, unter denen Normensysteme mit Motivationssystemen harmonieren können, die das Handeln auf unmittelbare Weise zu leiten vermögen. Dazu gehören auch alle Versuche, die darauf zielen, den Geltungsanspruch von Normen teleologisch zu begründen. In diesen Fällen werden Normen durch den Nachweis legitimiert, dass ihre Beachtung geeignet oder sogar notwendig ist, um ein vorgegebenes Endziel zu erreichen. Befolgt der Handelnde die so legitimierte Norm, so verwirklicht er nur das, was er im Grunde ohnehin schon will, und zwar auch dann, wenn er sich über die Richtung seines „eigentlichen“ Wollens zunächst täuscht. Hier wird eine von der Natur oder von einer anderen Instanz, jedenfalls aber nicht von der Norm gegebene Bestimmung aller Dinge, vor allem aber des Menschen vorausgesetzt, die zu erreichen der eigentliche Zweck der Norm und ihrer Befolgung ist. Das Motivationsproblem verliert freilich die ihm ursprünglich eigene Schärfe, wenn es, um die Geltung einer Norm zu legitimieren, nur noch darauf ankommt, hinter allen Selbsttäuschungen das Wesen des eigenen „wahren“ Wollens mitsamt den teleologischen Zusammenhängen zu erkennen, in die es eingebettet ist. Nur von diesem eigentlichen, seinem Träger oft verborgenen Wollen her bestimmt sich in diesem Fall, ob der Geltungsanspruch einer Norm einer Rechtfertigung fähig ist. Die teleologische Ordnung, aus der die Normen hier gerechtfertigt werden, kann nur noch hingenommen werden. Sie scheint selbst einer Normierung weder bedürftig noch fähig zu sein. Den auf diese Weise begründeten Normen werden nur noch instrumentelle Funktionen abverlangt. In diesem Falle bleibt die Aufgabe der praktischen Vernunft darauf beschränkt, Optimierungsprobleme zu lösen. Sie ist aber in Wahrheit lediglich technische Vernunft, wenn sie dem Handelnden nur noch helfen kann, das Ziel seines wahren Wollens deutlicher zu erkennen, auf eine rationellere Weise zu verfolgen und damit zugleich seine Chancen zu vergrößern, dieses Ziel auch zu erreichen.

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Handlungsleitend ist die Vernunft in diesem Falle vor allem insofern, als sie die Selbsttäuschungen auflöst, in denen sich der Handelnde über sein wahres Wollen und über seine wahren Ziele befindet, gleichgültig, welcher Art diese Selbsttäuschungen sind und auf welche Weise sie entstanden sein mögen. Die Frage, wie er motiviert werden kann, zu tun, was die Norm von ihm zu tun fordert, ist nur noch von untergeordneter Bedeutung, wenn das Gesollte dem Handelnden nur den besten Weg anzeigt, um zu erreichen, was er im Grund ohnehin immer schon erreichen will. Vor allem Kant kommt das Verdienst zu, nachgewiesen zu haben, dass kein Versuch, die Geltung sittlicher Normen auf teleologischer Basis zu legitimieren, dem Anspruch gerecht werden kann, den die praktische Vernunft an jeden Handelnden richtet. Denn die Geltung der Normen wird auf Faktisches zurückgeführt, wenn es ein vorgegebener Zweckzusammenhang ist, der sie legitimieren soll. Nun wird zwar jede Handlung, deren Normierung in Frage steht, in der Welt des Faktischen realisiert. Diese Welt ist es, die durch Handlungen verändert und gestaltet werden soll. Auch wenn in diesem Sinne alle Normen auf die Welt des Faktischen bezogen bleiben, so lässt sich ihre Verbindlichkeit dennoch nicht auf diese Welt oder auf Sachverhalte innerhalb ihrer gründen. Wo Wege zu faktisch vorgegebenen Zielen optimiert werden sollen, bedarf es lediglich einer instrumentellen Vernunft. Wenn dagegen die praktische Vernunft ihren universellen Anspruch nicht verkürzen lassen will, kann sie nicht darauf verzichten, ihren Normierungsanspruch auch auf die letzten Ziele alles Handelns und Wollens zu erstrecken. Niemand zweifelt an der Unentbehrlichkeit einer instrumentellen, technischen Vernunft für jede Planung zielgerichteten Handelns. Wo aber menschliches Handeln im ganzen gerechtfertigt werden soll, lassen sich mit ihrer Hilfe auch im günstigsten Fall immer nur vorletzte Fragen beantworten. Eine Vernunft, die das Handeln im ganzen bestimmen will, kann nicht darauf verzichten, die Legitimationsfrage auch im Blick auf die letzten Ziele alles Handelns zu stellen, wenn sie nicht in den Fehler verfallen will, das Sollen ausschließlich auf Faktisches zurückzuführen. Es sind gerade die letzten Zwecke und Ziele alles Handelns, an denen klar wird, wie weit der Anspruch der praktischen Vernunft reicht. Sie kann sich nicht damit zufriedengeben, bedingte Forderungen zu normieren, wenn es ihr zugleich verwehrt bleibt, auch über die Bedingungen zu befinden. Das würde auch dann gelten, wenn dem Menschen letzte Ziele des Handelns von der Natur unter Ausschluss realer Alternativen vorgegeben sein sollten. In der Welt des Handelns stehen Motive und Ziele in einem Entsprechungsverhältnis: Ein Ziel, das als solches vorgestellt wird, kann unmittelbar als Motiv wirken; umgekehrt lässt sich auch wieder jedem wirkenden Motiv ein Ziel zuordnen. Die praktische Vernunft kann indessen, ohne in einen Gegensatz zu ihrer Idee zu geraten, weder die Motive noch die Ziele

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aus dem Bereich ihrer Normierungskompetenz entlassen. Für die alltägliche Praxis menschlichen Zusammenlebens kann man niemals darauf verzichten, die Respektierung vernünftiger Normen von der Wirksamkeit geeigneter Motive zu erhoffen, die selbst nicht vermittels der Vernunft wirken. Doch praktische Vernunft ist schon für den nicht mehr auf unmittelbare Weise wirksam, der der Wirksamkeit andersartiger Motive bedarf, um ihre Forderungen zu erfüllen. Was kann einen aber veranlassen, sein Handeln durch die praktische Vernunft bestimmen zu lassen? Eine endgültige Erledigung dieser Frage kann es nicht geben. Denn jeder Versuch einer Antwort würde sogleich von einer Vernunft eingeholt werden, die auch jede Motivation ihrem normativen Anspruch unterwirft und in Bezug auf sie die Rechtfertigungsfrage stellt. Damit ist der Weg in die Motivationsaporie vorgezeichnet: Sie ergibt sich, weil sich die Fragen nach der Motivation zur Vernünftigkeit und nach der Vernünftigkeit der Motivation gegenseitig fordern, ohne jemals zur Ruhe zu kommen. Der Motivationsaporie entginge man nur dann, wenn der praktischen Vernunft schon von Hause aus eine hinreichend starke motivierende Kraft eigen wäre. Das ist jedoch unter den Bedingungen der realen Welt des Handelns offensichtlich nicht der Fall. Hier kann die praktische Vernunft der Motivationsaporie nicht entgehen, weil sie immer in Rechnung stellen muss, dass es unter Realbedingungen stets der Wirkung zusätzlicher Motive bedarf, wenn Handlungen den Normen dieser Vernunft entsprechen sollen. Das Dilemma der praktischen Vernunft besteht also darin, dass sie sich selbst inmitten eines Netzes von Motiven vorfindet, aber ihrer eigenen Idee nicht gerecht werden kann, weil ihr die Kraft fehlt, auch diese Motive ihrem normativen Anspruch zu unterwerfen. Wäre die praktische Vernunft aus eigener Kraft und autonom fähig, Handlungen zu motivieren und deren Realisierung notfalls auch gegen Widerstand zu garantieren, so wäre ihre Tätigkeit nur nach einer Seite hin, nämlich als Ursache, nicht aber als Wirkung mit der Welt des Handelns verbunden. Für die Motivationsaporie, die man in diesem Fall vermeidet, hat man sich dann aber die Paradoxien des Freiheitsbegriffs eingehandelt. Der Freiheitsbegriff markiert jedoch einen Fragenkreis, dem man in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion, sieht man einmal vom Problem der politischen Freiheit ab, die zentrale Bedeutung, die ihm in früheren Zeiten zukam, nicht mehr zuzugestehen bereit ist. Eine in Freiheit wirkende, selbst nicht mehr von Motiven abhängige Vernunft wäre indessen, wie man spätestens seit Kant weiß, gewiss widerspruchsfrei denkbar, aber eben doch unerkennbar. Es gäbe jedenfalls keine Möglichkeit, ihr von Motiven und Ursachen selbst nicht mehr abhängiges Wirken in der realen Welt des Handelns auf bündige Weise zu identifizieren. In dieser Welt kommt die Suche nach Motiven und Ursachen niemals an ein natürliches Ende. Für

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den ganzen der Erfahrung zugänglichen Bereich muss man sich unter diesen Umständen mit der Unhintergehbarkeit der Motivationsaporie abfinden. Die in der realen Welt des Handelns und auf diese Welt wirkende, selbst aber keiner Motivierung bedürftige und ihrer noch nicht einmal fähige praktische Vernunft bildet den Sachgehalt einer Idee. Der Einzelne kann sich darum bemühen, sein Handeln an dieser Idee zu orientieren. Niemals darf er sie jedoch mit einer gegebenen und erfahrbaren Realität verwechseln. Denn er kann niemals in eine Realsituation geraten, die ihm zweifelsfreie Gewissheit darüber verschaffen könnte, dass sein Handeln durch praktische Vernunft und nur durch sie motiviert ist. Ohnehin pflegen sich die unterschiedlichsten Motive hinter der praktischen Vernunft wie hinter einer Maske zu verbergen. Nirgends sind Selbsttäuschungen beim Menschen auf eine so hartnäckige Weise wirksam wie dort, wo es um die das Handeln, zumal das normgemäße Handeln bewirkenden Motive geht. Schon deswegen bleibt es für jedermann ein Gebot der Klugheit, die Verführbarkeit jener Vernunft nicht zu unterschätzen, die mit dem Anspruch auftritt, das Handeln nicht nur beurteilen, sondern auch motivieren zu können. Unter Realbedingungen ist die Vernunft allemal zu schwach, um das Handeln durch Normen und durch das Bewusstsein ihrer Verbindlichkeit bestimmen zu können. Unter den Bedingungen der Welt des Handelns kann sie versuchen, diese Welt ihrem normativen Anspruch gemäß zu gestalten; dennoch kann sie das Kraftfeld der in dieser Welt auch auf sie wirkenden Motive nicht hinter sich lassen. Der Motivationsaporie, in der sie sich verfängt, kann sie niemals auf Dauer entgehen, da sie, unter Realbedingungen wirkend, bei jedem ihrer Versuche, nicht nur in die Handlungen selbst, sondern auch in deren Motive normierend einzugreifen, immer der Tatsache eingedenk sein muss, dass sie über alle das Handeln bedingenden Motive, zumal dann, wenn sie hinter ihrem Rücken wirken, niemals ganz Herr werden kann. Gerade deswegen ist es für die praktische Vernunft von Belang, ob sie in ihrer Welt Institutionen und Traditionen vorfindet, die unter Bedingungen, die sie aus eigener Kraft niemals hervorbringen könnte, ein Stück normierter Wirklichkeit sowohl zu schaffen als auch zu erhalten fähig sind.

IV Die praktische Vernunft erhebt den Anspruch, das menschliche Handeln nicht nur zu beurteilen, sondern auch zu determinieren. Die Legitimität dieses Anspruchs lässt sich nicht schon deswegen anfechten, weil sich die Vernunft bei dem Versuch, ihn durchzusetzen, notwendigerweise in Aporien verstrickt. Nun findet sich jeder Handelnde aber immer schon in einem

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Kraftfeld vor, in dem ihm Instanzen begegnen, die auf sein Handeln Einfluss zu nehmen bestrebt sind und die deswegen, zumeist sogar mit Erfolg, mit dem Anspruch der praktischen Vernunft konkurrieren. Jeder Handelnde sieht sich innerhalb seiner Welt zunächst einmal mit seinesgleichen konfrontiert. Denn seine eigenen Handlungen sind stets auf vielfältige Weise mit den Handlungen anderer und mit deren Resultaten verflochten. So kann das eigene Handeln beispielsweise dadurch beeinflusst werden, dass es mit Forderungen konfrontiert wird, die von anderen erhoben werden, die sich zugleich um Mittel bemühen, mit deren Hilfe sich die Beachtung dieser Forderungen notfalls auch gegen Widerstreben durchsetzen lässt. Der Handelnde hat in solchen Fällen aber zumindest der Idee nach immer noch die Möglichkeit, solchen Forderungen die Anerkennung zu versagen. Ungleich wirkungsvoller lässt sich daher das Handeln eines anderen auf indirekte Weise beeinflussen. Das geschieht vor allem dann, wenn man Fakten schafft, durch die der Spielraum eingegrenzt wird, innerhalb dessen ein anderer seine Handlungsentscheidungen treffen muss. Unter Realbedingungen kann nun einmal der Handelnde niemals von einem Nullpunkt ausgehen. Er findet sich immer in einer Situation vor, die er nicht geschaffen hat und über die er nicht Herr ist, weil sie teils durch die Natur, teils durch die Resultate des Handelns anderer bestimmt ist. Eine Sonderstellung nehmen hier jene Bestimmungen des Handelns ein, die von außerpersonalen Instanzen, vor allem von Traditionen und von Institutionen ausgehen. Untersucht man Traditionen und Institutionen auf ihren Ursprung hin, so erweisen sie sich als Resultate von Handlungen; gleichwohl erfährt sie das handelnde Individuum als objektive Mächte eigenen Rechts. Das gilt auch dann, wenn sie ihre Ansprüche nur durch die Vermittlung von handelnden Personen anmelden, die sich selbst als ihre Vertreter und als Vollstrecker der von ihnen erhobenen Forderungen verstehen. Vor allem derartige Strukturen sind es, die das Kraftfeld ausgestalten, innerhalb dessen sich jeder Handelnde vorfindet. Damit ergibt sich aber die Frage, wie sich die praktische Vernunft zu den Forderungen verhalten soll, die im Namen von Institutionen dem Handelnden gegenüber erhoben werden. Gewiss steht die praktische Vernunft in Übereinstimmung mit ihrer Idee, wenn sie auch die Welt der Institutionen ihrem Normierungsanspruch zu unterwerfen sucht. Indes wurde anhand der beiden bereits erörterten Aporien deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die praktische Vernunft allein schon im Bereich des individuellen Handelns konfrontiert wird. Denn diese Aporien manifestieren eigentümliche strukturelle Schwächen einer Vernunft, die die Erfahrung machen muss, dass sie dem von ihrer Idee vorgezeichneten Anspruch, das Handeln zu bestimmen, auch im günstigsten Fall immer nur partiell gerecht werden kann. Geht es um die Applikation von Normen und um die Motivation normgerechten Handelns, so hat man es

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bereits mit Problemen zu tun, die die praktische Vernunft aus eigener Kraft nicht lösen kann. Doch gerade dort, wo sie an eine für sie unüberwindliche Grenze ihrer Möglichkeiten zu gelangen scheint, bietet sich noch immer der Ausweg, die Aufgaben, die sie selbst nicht bewältigen kann, Institutionen zur Erledigung anzuvertrauen. So kann die Lösung von Applikationsproblemen einer mit Entscheidungskompetenz ausgestatteten judikativen Instanz übertragen werden; für die Motivationen, deren Wirksamkeit die Vernunft aus eigener Kraft nicht gewährleisten kann, lassen sich formelle und informelle Sanktionssysteme in Anspruch nehmen. Doch selbst dann, wenn die praktische Vernunft prinzipiell fähig wäre, diese Probleme zu lösen, könnte sie unter Realbedingungen trotzdem nicht auf die Hilfe von Institutionen verzichten, weil sie die konkreten Aufgaben, die ihr in der Welt des Handelns gestellt werden, stets unter Zeitdruck erledigen muss. An eine faktische Grenze ihrer Möglichkeiten stößt die praktische Vernunft auch deswegen, weil es ihr, anders als der theoretischen Vernunft, nicht möglich ist, Probleme auf sich beruhen zu lassen oder ihre Lösung zu vertagen. Schon dieses Zeitdrucks wegen bedarf sie einer Entlastung, wie sie ihr nur von funktionsfähigen Institutionen verschafft werden kann. Gewiss versucht sie immer wieder, auch die Welt der Institutionen ihrem Normierungsanspruch zu unterwerfen. Dabei macht sie aber die Erfahrung, dass sie sich gegenüber dieser Welt, kommt es einmal zu einem Konflikt, nicht aus eigener Kraft behaupten kann. Sie kann sich den Raum, den sie für ihre Entfaltung bedarf, selbst weder verschaffen noch sichern. Stets bleibt sie darauf angewiesen, dass ihr dieser Raum von einer anderen Instanz, vorzugsweise von einer Institution, zugewiesen und gesichert wird. Selbst wenn sich die beiden anderen Aporien auflösen ließen, bliebe immer noch eine dritte Aporie, nämlich die Institutionsaporie. Sie ergibt sich deswegen, weil die praktische Vernunft nicht umhin kann, ihren normativen Anspruch auch auf die Welt der Institutionen zu erstrecken, und gerade dabei zugleich erfahren muss, wie sehr sie von dieser Welt abhängig und wie sehr sie zur Sicherung ihrer eigenen Existenz auf sie angewiesen bleibt. So werden gewiss dem Handlungsspielraum des Einzelnen durch Institutionen Grenzen gesetzt. Doch es bedarf solcher Grenzen gerade deswegen, weil dem Einzelnen nur so jener Spielraum auf Dauer gewährleistet werden kann. Bloße Antagonismen zwischen dem sich auf die praktische Vernunft berufenden Individuum und den von ihm vorgefundenen Institutionen reichen für sich allein noch nicht aus, um eine Institutionsaporie entstehen zu lassen. Gewiss können Antagonismen zu Konflikten führen. In eine Aporie führen solche Antagonismen die praktische Vernunft nur insofern, als sie der ihr eigentümlichen Schwäche wegen auf Institutionen, mit denen sie in Konflikt geraten kann, zugleich angewiesen bleibt. Deren Existenz müsste sie sogar fordern, fände sie sich selbst nicht immer schon inmitten

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einer von ihnen konstituierten und strukturierten Welt vor. Auch wenn sie als Vernunft die Existenz von Institutionen fordert, so kann sie doch niemals garantieren, dass diese Institutionen in sich vernünftig sind. Sie kann die Institutionen niemals daran hindern, gemäß dem ihnen eingeprägten Gesetz ihr Eigenleben zu führen. Dazu kommt noch etwas anderes: Die Institutionen sind älter als die Idee einer praktischen Vernunft. Es war eine durch Institutionen und Traditionen durchgeformte Lebenswelt, innerhalb deren einst die folgenreiche Entdeckung gemacht wurde, dass sich die das menschliche Handeln jeweils bestimmenden Normen und Grundsätze auch zum Gegenstand von Prinzipienfragen und zum Inhalt von Begründungspflichten machen lassen. In jedem Fall bleibt aber ein Ungleichgewicht schon deswegen bestehen, weil die Existenz der Institutionen nicht der individuellen praktischen Vernunft bedarf; diese Vernunft bleibt deswegen auf die Institutionen selbst dann angewiesen, wenn sie sich deren Ansprüchen und Forderungen widersetzt. So kann sie die Institutionen niemals in allen Funktionen ersetzen, die von ihnen erfüllt werden. Institutionen können Normen setzen. Doch wenn sie, anders als die praktische Vernunft, die Geltung dieser Normen auch nicht zu begründen vermögen, so können sie andererseits doch Vorkehrungen treffen, die darauf zielen, den Normen Respekt zu verschaffen und ihre Anwendung auf den konkreten Einzelfall zu regeln. Überall dort, wo Handlungsentscheidungen fällig sind, können sie dem Handelnden die Richtung weisen; oftmals nehmen sie ihm sogar die Entscheidung ab. Einfluss auf das Handeln von Individuen nehmen Institutionen jedoch nicht nur dann, wenn sie konkrete Handlungsentscheidungen determinieren. Dem handelnden Individuum gegenüber bringen sie sich auch noch auf eine subtilere Weise zur Geltung. Institutionen, die eine konkrete Lebenswelt prägen, nehmen nicht nur auf die einzelnen Handlungsentscheidungen Einfluss, sondern sie schaffen häufig erst die Alternativen, zwischen denen eine Entscheidung getroffen werden muss. In ihrem Einzugsbereich pflegen sie außerdem auch Deutungskompetenzen in Bezug auf mögliche Handlungen und auf ganze Handlungssysteme für sich zu beanspruchen. Schon der Sinn und der Inhalt von Handlungen wird innerhalb der menschlichen Lebenswelt zu einem guten Teil von Konventionen bestimmt. Nur als Grenzfall sind dort Handlungen denkbar, die nicht durch konventionsgebundene Deutungen in ein Handlungssystem eingefügt sind. Sinn und Inhalt von Handlungen erschließen sich innerhalb der Lebenswelt jedenfalls dem nicht, der sie nur im Blick auf die Merkmale beurteilt, die in den Bereich ihrer naturhaften Faktizität gehören. Es sind in der Regel Institutionen, die jene Konventionen stiften, mit deren Hilfe Handlungen identifiziert und gedeutet werden können. Ein sehr großer Teil der innerhalb der Ordnungen und Systeme des menschlichen Zusammenlebens realisierten Handlungen würde weder Sinn

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noch Zweck erkennen lassen, könnte man ihnen nicht auf der Grundlage institutioneller Konventionen eine entsprechende Deutung geben. Nahezu reine Fälle von derartig strukturierten Handlungen bilden die Spielhandlungen. Die Funktion der ihnen zugeordneten Spielregeln erschöpft sich nicht darin, ein Spielfeld vorauszusetzen und in Bezug auf dieses gebotene, erlaubte und verbotene Handlungen zu unterscheiden. Denn schon die Beschreibung einer solchen Handlung lässt sich, auch vor jeder denkbaren Normierung, immer nur im Rahmen dieser Regeln geben. Gewiss weist jede Spielhandlung auch eine natürliche Beschaffenheit auf, die ihr unabhängig von allen Regeln zukommt. Doch das ist ein Restbestand, der gerade in den Fällen reiner Spielhandlungen so gut wie irrelevant ist und daher vernachlässigt werden kann. Gerade hier liefern die Spielregeln nicht nur die Normen für die zu regulierenden Handlungen, sondern sie sind auch an der Konstituierung dieser Handlungen selbst beteiligt. Sie bestimmen, in welchen Fällen man überhaupt von einer Handlung sprechen kann. Auch darin zeigt sich, wie jedes Spiel mitsamt allen Spielhandlungen auf eine ihm eigene Welt bezogen ist, die gegenüber der realen Lebenswelt als Reservat abgegrenzt bleibt. Spielhandlungen können paradigmatische Funktionen übernehmen, wo es um die Beurteilung und um die Normierung von Handlungen der unmittelbaren realen Lebenspraxis geht. Es ist kein Zufall, dass man auch manche dort geltenden Normen als Spielregeln zu bezeichnen pflegt. Gerade anhand der „Spielregeln“, die in der realen Lebenspraxis befolgt werden, lässt sich die Rolle der Institutionen beim Aufbau der Welt des Handelns deutlich machen. Denn die Institutionen beschränken sich nicht darauf, die Existenz dieser Welt vorauszusetzen und Normen für sie aufzustellen. Schon die diese Welt konstituierenden Elemente haben ihren Ursprung zum guten Teil in Institutionen. Es ist daher ein Dilemma der praktischen Vernunft, dass ihr dort, wo sie das Handeln bestimmen kann, die Möglichkeiten und Alternativen dieses Handelns zumeist von einer Institution vorgegeben werden. Beispiele hierfür bietet jede der Ordnungen, in denen sich der Mensch vorfindet. Diese Ordnungen haben gewiss auch die Aufgabe, zunächst einmal Handlungen zu regulieren, die sie bereits vorfinden und die sich auch unabhängig von ihnen beschreiben lassen. Diese Ordnungen können dann aber nicht umhin, zugleich neue Handlungsmöglichkeiten zu schaffen, die ohne Bezug auf sie gar nicht definiert werden können. Das macht schon jede Rechtsordnung deutlich: Gerade eine hochentwickelte Rechtsordnung normiert eine Lebenswelt, die von ihr selbst bereits auf vielfältige Weise vorgeprägt ist. Am Beispiel der Rechtsordnung lässt sich die Institutionsaporie, in die sich die praktische Vernunft verstrickt, in exemplarischer Deutlichkeit aufweisen. Ohnehin nimmt die Rechtsordnung eine Sonderstellung unter allen

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Institutionen ein, in denen sich das handelnde Individuum vorfindet. Es ist nicht schwer, die Existenz einer Rechtsordnung als Postulat der praktischen Vernunft darzutun. Ungleich schwieriger ist es, Konflikte zu lösen, die sich zwischen dieser Vernunft und der von ihr geforderten Rechtsordnung immer wieder ergeben können. Solche Konflikte ergeben sich vor allem auf Grund der Tatsache, dass keine Rechtsordnung darauf verzichten kann, ihren Normen Respekt zu verschaffen und deren Beachtung mit Hilfe von Sanktionen notfalls auch dann durchzusetzen, wenn Widerstand gegen sie geleistet wird. Nur auf der Grundlage einer derartigen Ordnung können die Handlungen einer Vielfalt von Individuen auf geregelte Weise koexistieren. Nur wenn das Handeln aller ausnahmslos durch Vernunft bestimmt würde, erübrigte sich eine solche Ordnung. Doch das ist eine utopische Voraussetzung. Unter Realbedingungen gibt es indessen keine Alternative zur Rechtsordnung. Denn man kann sich noch nicht einmal der Vernünftigkeit des eigenen Handelns ganz sicher sein, geschweige denn der Vernünftigkeit des Handelns der anderen. So ist es gerade die sich ihrer Grenzen und ihrer Schwäche bewusste praktische Vernunft, die die Existenz einer Rechtsordnung fordert. Diese Grenzen werden nicht zuletzt anhand der Aporien deutlich, in die sie sich verstrickt. Auch dieser Aporien wegen bedarf es einer äußeren Ordnung, die der individuellen Vernunft die Aufgaben abnimmt, die sie aus eigener Kraft ohnehin nicht bewältigen kann. Einer solchen Ordnung bedarf es auch, um Konflikte zwischen Individuen zu lösen, die sich, im Einzelfall oft irrtümlich, auf die Vernunft berufen zu können glauben. Wie lassen sich aber Konflikte lösen, die zwischen der institutionellen Ordnung und der individuellen praktischen Vernunft entstehen können? Bei der Erörterung derartiger Fragen orientiert man sich häufig an Denkmodellen, die die Geltung der Rechtsordnung aus einem fiktiven Urvertrag herleiten. Die Vorstellung eines Urvertrages kann Funktionen von der Art übernehmen, wie man sie vor allem im Bereich genealogischer Mythen antrifft. Die Vorstellung eines Urvertrages kann als Denkmodell nützlich sein, wo Ordnungen menschlichen Zusammenlebens auf die sie bestimmenden Prinzipien hin analysiert werden sollen. Mit ihrer Hilfe versucht man, die Genese von Institutionen im Raum der Idealität zu rekonstruieren und damit zugleich einen Beitrag zu deren Legitimation zu leisten. Der Realsituation der sich inmitten einer Rechtsordnung vorfindenden praktischen Vernunft kann die Idee des Urvertrages trotzdem nicht ohne Verkürzung gerecht werden. Ohnehin wird die Erklärungskraft dieser Idee zumeist überschätzt. Sie muss nämlich jene Institution bereits als gegeben voraussetzen, deren Legitimierung man von ihr erwartet. Wo man einen Vertrag abschließt, hat man immer schon eine intakte Ordnung vorausgesetzt, die die Wirksamkeit der mit ihm intendierten Bindung gewährleistet, aber ihr zugleich auch Grenzen setzt. Nur im Einzugsbereich einer solchen Ordnung

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kann man seinen Partner daran hindern, sich von der Bindung an einen gemeinsam eingegangenen Vertrag nach Belieben loszusagen. Der bloße Konsens der Vertragsparteien unterliegt dem Gesetz der Zeit und bleibt mithin seiner jeweils faktischen Gegenwärtigkeit ausgeliefert. Für sich allein hat er nicht die Kraft, sich über die Zeit zu erheben und eine Dauerhaftigkeit zu erreichen, die auch angesichts eines stets möglichen Sinneswandels des Vertragspartners Bestand hat. Nur eine bereits etablierte institutionelle Ordnung kann einen Konsens gleichsam festschreiben und der Zeit entheben. Auch eine vermeintliche Selbstbindung ist nur dann dauerhaft wirksam, wenn ihre Wirkung über die jeweilige Gegenwärtigkeit hinaus von einer solchen Ordnung garantiert wird. Die Gültigkeit eines Vertrags mag sich auf den Konsens der Partner gründen lassen. Kein Konsens ist jedoch fähig, sich aus eigener Kraft über die Zeit hinweg zu stabilisieren. Es mag sein, dass eine funktionsfähige Institution nicht ohne einen wie auch immer gearteten aktuellen Konsens existieren kann. Auf ihn allein sich zu stützen ist jedoch nicht möglich, wenn sie sich selbst nicht aufgeben will. Traditionellerweise bezeichnet der Begriff des Widerstandsrechts den Punkt, an dem der stets mögliche Antagonismus zwischen der individuellen Vernunft und der Institution der Rechtsordnung und damit die Institutionsaporie in verschärfter Gestalt sichtbar wird. Aus der Idee einer praktischen Vernunft lässt sich die Notwendigkeit einer Rechtsordnung ebenso begründen wie die Pflicht des Individuums, sein Handeln an den Forderungen dieser praktischen Vernunft auszurichten. Eine Aporie ergibt sich jedoch, wenn das Individuum die unmittelbaren Forderungen dieser Vernunft mit den im Namen der institutionellen Ordnung erhobenen Ansprüchen nicht mehr in Übereinstimmung bringen kann. Niemand kann eine Position beziehen, von der aus er einen Konflikt zwischen beiden Instanzen zu entschärfen hoffen könnte. Wer das Individuum mit der Befugnis ausstattet, über die Verbindlichkeit einer jeden im Namen der institutionellen Ordnung erhobenen Forderungen letztgültig zu befinden, verzichtet damit zugleich auf die Bedingungen, unter denen eine solche Ordnung allein funktionsfähig sein kann. Institutionen können sich nicht entfalten, wenn ihr Wirken in jedem Einzelfall der Zustimmung des jeweils Betroffenen bedarf. Die Stabilität einer Institution lässt sich mit einem unbegrenzten, inhaltsbezogenen Prüfungsrecht der individuellen Vernunft schwerlich vereinbaren. Ebenso wenig kann man aber auf der anderen Seite der Institution und ihren Forderungen um ihrer Funktionsfähigkeit willen den Vorrang zugestehen. In diesem Fall könnte sich die individuelle praktische Vernunft nur noch auf Abruf und nur in Reservaten entfalten, die ihr von einer ihr gegenüberstehenden Instanz zugewiesen werden. Auch mit Hilfe von Gebietsabgrenzungen lassen sich Konflikte zwischen beiden Instanzen nicht dauerhaft lösen. In diesem Fall würde die Aporie ohnehin nur an eine an-

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dere Stelle verschoben: weil sich die Konflikte dann an der Frage entzünden, wer die Kompetenz hat, jene Abgrenzungen vorzunehmen. Wer ein Widerstandsrecht annimmt, gibt damit zugleich dem sich innerhalb der Rechtsordnung vorfindenden Individuum die Befugnis, sich die Entscheidung über die Bedingungen vorzubehalten, unter denen es diese Ordnung anzuerkennen bereit ist oder nicht. Doch solche Versuche scheitern, mögen auch die historischen Erfahrungen, durch sie motiviert sind, ein noch so hohes Maß an Evidenz für sich beanspruchen können. Ohne sich selbst zu widersprechen, kann es eine Rechtsordnung dem ihr Unterworfenen nicht anheimstellen, darüber zu befinden, unter welchen Bedingungen er sie anerkennen will. Eine Rechtsordnung ist nicht von der Art eines Angebotes, das der Adressat entweder annehmen oder ablehnen kann. Wenn eine solche Ordnung dem Einzelnen trotzdem einmal ein Widerstandsrecht zugesteht, behält sie sich in der Regel selbst zugleich die Kompetenz vor, über die Voraussetzungen zu entscheiden, unter denen dieses Recht virulent werden kann. Die mit dem Gedanken eines Widerstandsrechts verknüpften Intentionen zielen in diesem Fall ins Leere. Es sind Intentionen, die sich nicht erfüllen lassen, wenn man das Widerstandsrecht der Ordnung inkorporieren will, gegen die sich im Ernstfall wendet, wer von diesem Recht Gebrauch macht. Man kann solche Schwierigkeiten in der Doktrin gewiss dann neutralisieren, wenn man das Widerstandsrecht nicht jener Primärordnung zuweist, sondern einer Metaebene zuordnet. Doch eine derartige Stufenordnung bleibt ein Gedankengebilde der theoretischen Reflexion. In der Welt des Handelns wird immer auf ein und derselben Ebene darüber befunden, welcher Gebrauch von den Stufen gemacht werden soll, die von der Doktrin unterschieden werden. Erörterungen zum Problem des Widerstandsrechts führen häufig zu emotionalen Reaktionen. Erfahrungen der Geschichte machen solche Reaktionen verständlich, die in der Tat dazu verleiten können, sich der Mühe geduldiger Analysen zugunsten von Bekenntnissen zu entledigen. Damit hat man freilich zugleich darauf verzichtet, jene Komplikationen zu durchleuchten, die sich für den Bereich der Prinzipien daraus ergeben, dass keine Rechtsordnung auf die Durchsetzung ihres Anspruchs, respektiert zu werden, zugunsten eines stets aufkündbaren aktuellen Konsenses der jeweils Betroffenen verzichten kann. Nun lässt sich die Aporie allerdings auch dann nicht vermeiden, wenn man für den Fall eines Konflikts einseitig der institutionellen Ordnung den Primat zugesteht. Gewiss wird die Verbindlichkeit einer von einem Staat getragenen Rechtsordnung nicht schon durch Normen aufgehoben, die einer vernünftigen Begründung entbehren. Grundsätzlich kann sie auch von dem Respekt verlangen, der zu Recht oder zu Unrecht fehlerhafte Elemente in ihr ausgemacht zu haben glaubt. Des­ wegen ist aber noch lange nicht ausnahmslos jede Weisung gerechtfertigt,

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die von einer solchen Institution oder in ihrem Namen an das Individuum ergeht. Es kann Grenzfälle geben, in denen es zweifelhaft ist, ob die von dem Einzelnen Respekt verlangende Institution überhaupt noch den Charakter einer Rechtsordnung hat. Daher bleibt die individuelle praktische Vernunft am Ende doch wieder auf sich selbst gestellt, wenn es darum geht, eine Rechtsordnung als solche zu identifizieren. Gerade wenn sie die Verpflichtung übernommen hat, eine Rechtsordnung auch durch die Tat anzuerkennen, muss sie mit der Möglichkeit rechnen, von Instanzen in Anspruch genommen zu werden, die sich nur illegitimerweise auf den Rechtscharakter der hinter ihnen stehenden Institution berufen. In Grenzfällen kann es für den Einzelnen zweifelhaft sein, ob es wirklich noch eine Rechtsordnung ist, die ihn in Anspruch nimmt. Will sich der Einzelne im konkreten Fall insofern über seine Situation klar werden, so muss er den Hang eines jeden Menschen in Rechnung stellen, sich seinen Pflichten mit Hilfe von mancherlei Selbsttäuschungen zu entziehen und solche Täuschungen mit Sophismen zu befestigen und zu rationalisieren; er muss zugleich aber auch die Gefahren der immanenten Perversion kennen, gegenüber der sich keine Rechtsordnung auf wirksame Weise immunisieren lässt. Vor allem darf er sich nicht dadurch beirren lassen, dass Zwangssysteme unterschiedlichster Art in der Maske der Rechtsordnung aufzutreten pflegen. Auch in jenen Grenzfällen führt kein Weg an der Institutionsaporie vorbei: Zwar kann keine Rechtsordnung dem Einzelnen inhaltsbezogene Überprüfungsbefugnisse einräumen, deren Resultate ihn notfalls auch zum Widerstand gegen sie berechtigen könnte. Trotzdem verbleibt ihm die Last, darüber befinden zu müssen, ob es überhaupt eine Rechtsordnung ist, die ihn in Anspruch nimmt. Hier ist die Aporie freilich mehr von prinzipieller als von pragmatischer Relevanz. Zwar kann der Einzelne unter Berufung auf die praktische Vernunft eine Legitimitätsprüfung vornehmen. Er kann sich jedoch kaum irgendwelche Chancen ausrechnen, ein negatives Ergebnis dieser Prüfung in die Tat umzusetzen. Auch eine geglückte prinzipientheoretische Reflexion kann niemals die Klugheit und die praktische Urteilskraft überflüssig machen, deren der Einzelne stets bedarf, um konkrete Situationen beurteilen und dieser Beurteilung gemäß handeln zu können. Die individuelle praktische Vernunft ist zu schwach, um aus eigener Kraft die Grenzen jenes Spielraums zu sichern, dessen sie bedarf, wenn sie sich unter Realbedingungen soll entfalten können. Schon diese Schwäche führt ihr immer wieder vor Augen, warum sie sich in ihrer faktischen Existenz immer schon in Institutionen eingebunden vorfindet. Zwar ist sie gehalten, sich auch gegenüber Ansprüchen zu behaupten, die im Namen von Institutionen gegen sie erhoben werden. Zugleich muss sie aber auch wissen, dass sie sich außerhalb des Schutzbereichs von Institutionen schwerlich selbst behaupten kann, da sie die Bedingungen ihrer eigenen realen

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Existenz weder hervorzubringen noch wirksam zu sichern fähig ist. Für sie bleibt es ein elementares Gebot der Klugheit, sich stets über diese Situation, vor allem aber auch über ihre Verletzlichkeit und über ihre Verführbarkeit klar zu sein. Ein Reich herrschaftsloser Freiheit kann sie weder schaffen noch ideell vorwegnehmen, ohne Gefahr zu laufen, die Möglichkeiten, die ihr verbleiben, vollends aufs Spiel zu setzen. Die Erfahrung der Bedingtheit ihrer eigenen realen Existenz wird sie dazu bringen, in Institutionen und Traditionen nicht ausschließlich Mächte zu sehen, die ihr entgegenstehen. Denn das Optimum ihrer Möglichkeiten, sich zu entfalten, kann sie am ehesten noch unter dem Schutz guter Institutionen erwarten. Gerade gute Institutionen werden ihr den dazu nötigen Raum schon aus eigenem Interesse zugestehen, wenn sie als Gegenleistung bestimmte Spielregeln einzuhalten bereit ist. Eine Garantie ihrer Existenz kann sie sich freilich auf diese Weise nicht einhandeln. Die Diskrepanz zwischen der Unbedingtheit ihres Anspruchs und der Bedingtheit ihrer eigenen Existenz führt sie immer wieder in die Aporie, angesichts deren sie es bereits als einen Vorzug ansehen muss, wenn ihr die Möglichkeit angeboten wird, Kompromisse zu schließen.

V Die praktische Vernunft ist darauf aus, die Welt des Handelns nicht nur treffend zu beurteilen, sondern auch nach ihrer Idee zu gestalten. Deshalb geht es ihr darum, allgemeingültige Normen zu begründen, aber auch darum, diese Normen auf individuelle Handlungen und Situationen anzuwenden. Sie will überdies den Handelnden zu einem Verhalten motivieren, das den so angewendeten Normen entspricht. Schließlich strebt sie danach, die Ordnungen zu gestalten, deren der Mensch bedarf, um mit seinesgleichen auf vernünftige Weise zusammenleben zu können. Sie kann sich diesen Zielen annähern, doch sie erfährt dabei, dass sie sich in Aporien verfängt, wenn sie, statt sich mit Annäherungen zu begnügen, prinzipielle Lösungen erzwingen will. Ihre Kraft reicht nicht aus, die Aufgaben, die sich im Umkreis von Applikation und Motivation stellen, mit dem Anspruch auf Endgültigkeit zu bewältigen; sie ist zu schwach, für die Institutionen, in denen sie sich vorfindet und deren Existenz sie fordern muss, Bedingungen durchzusetzen, denen jede Herrschaft von Menschen über Menschen genügen muss, wenn sie gerechte Herrschaft sein soll. Nur unter utopischen Bedingungen könnte sie ihren Aporien entgehen. Die großen Utopien, die im Laufe der Geschichte des Denkens entwickelt worden sind, entwerfen nicht zufällig allesamt Bedingungen, unter denen die eine oder die andere Aporie nicht mehr zu entstehen braucht. Das ist dann der Fall, wenn

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innerhalb einer in hohem Maße schematisierten Lebenswirklichkeit die Applikation von Normen trivial wird; wenn ein rigides Erziehungssystem Motivationskonflikte gar nicht erst entstehen lässt; wenn schließlich Institutionen kreiert werden, deren Idealität Konflikte mit den in sie eingebundenen Individuen gar nicht erst entstehen lässt. Doch solche Bedingungen sind kontrafaktisch; deswegen können sie freilich die Situation, in der sich die praktische Vernunft unter Realbedingungen befindet, umso deutlicher vor Augen stellen. Die praktische Vernunft wird daher zwar nicht gegenüber ihren Forderungen, wohl aber gegenüber ihren Möglichkeiten ein gehöriges Maß an Skepsis kultivieren, sobald sie eingesehen hat, dass sie für die Ergebnisse ihres Tätigseins niemals eine Erfolgsgarantie übernehmen kann. Dem inmitten der Welt des Handelns lebenden Individuum kann sie normative Orientierungshilfe leisten. Doch weder sie noch irgendeine andere Instanz kann dem konkreten Handeln jemals alle faktischen und normativen Risiken abnehmen, die mit jeder einzelnen Entscheidung verbunden sind. Die Gründe hierfür darf man nicht einseitig nur in der wirklichen Welt suchen, in der sich die praktische Vernunft vorfindet. Denn die Aporien, in die sich diese Vernunft verwickelt, berechtigen zu der Annahme, dass solche Gründe auch in ihrer eigenen Struktur zu finden sind. Zuerst veröffentlicht in: Wolfgang Wieland: Aporien der praktischen Vernunft (= Wissen­ schaft und Gegenwart: Geisteswissenschaftliche Reihe 65). Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1989.

Das Individuum und seine Identifizierung in der Welt der Kontingenz Es gehört zu den Grundtatsachen der conditio humana, dass jedes menschliche Individuum seinen Ort in einer Lebenswelt findet, deren Strukturen durch Gesetzlichkeit und Regelmäßigkeit ebenso wie durch Kontingenz bestimmt sind. Dieses Gewebe aus Gesetzlichkeit und Kontingenz bestimmt indessen die Existenzweise des Individuums nicht nur der Sache nach, sondern es ist zugleich, wenn auch in unterschiedlichen Brechungen und Spiegelungen, für dieses Individuum erfahrbar. Die unterschiedlichen Muster der Weltorientierung, mögen sie durch Autorität, durch Tradition, durch Denken oder durch Erfahrung vermittelt sein, richten sich zunächst immer an dem aus, was überall und jederzeit so ist, wie es ist. Dazu gehört auch das, was regelmäßig so geschieht, wie es geschieht. Das Individuum bliebe orientierungslos, wenn es keine Regelmäßigkeit erfahren könnte. Seine Welt bliebe ihm unverständlich, und es müsste überdies auf jede Aussicht verzichten, mit seinem Handeln in diese Welt planend eingreifen und sie gestalten zu können. Die Regelmäßigkeiten, auf die es dabei vertraut, setzen den Eingriffsmöglichkeiten zugleich aber auch Grenzen. Denn nur dort kann man sich versprechen, mit seinen Handlungen in der Welt etwas auszurichten und zu gestalten, wo die Dinge nicht bereits durch Gesetzlichkeiten vorherbestimmt und lückenlos determiniert sind. Das handelnde Individuum bleibt daher stets auf erfahrbare Kontingenz in seiner Lebenswelt angewiesen, weil es nur hier Spielräume für sein Handeln findet. Es bedarf der Gesetzlichkeit und der Kontingenz gleichermaßen, wenn sein Selbstverständnis als das eines Subjekts von Handlungen nicht lediglich eine Selbsttäuschung repräsentieren soll. Trotzdem bleibt die Kontingenz für die Weltorientierung des Individuums ein beunruhigendes Moment. Denn sie wird gewöhnlich innerhalb eines Bereichs erfahrbar, der sich viel weiter erstreckt, als dies für die Ermöglichung des Handelns nötig wäre. Für jedes Individuum stellt sich daher immer wieder aufs neue und in unterschiedlichen Lebenskontexten die Aufgabe, mit der von ihm erfahrenen Kontingenz zurechtzukommen. Die Aufgabe der Kontingenzbewältigung kann das Selbstverständnis des Individuums bisweilen so sehr dominieren, dass das Pendant, nämlich die Befriedigung des Kontingenzbedürfnisses, aus dem Blickfeld gerät und deshalb übersehen wird. Denn jeder Handelnde muss gewärtigen, dass die Kontingenz in der Welt, die dem Handeln erst

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seinen Freiraum eröffnet, die Intentionen auch durchkreuzen kann, die er mit seinem Tun und mit seinen Entscheidungen verbindet. Diese Strukturen lassen sich exemplarisch anhand der Welt des Rechts studieren. Ihnen Rechnung zu tragen, gehört zu den Aufgaben einer jeden Rechtsordnung, insofern sie das Verhalten von unter der conditio humana existierenden Individuen zu regulieren bestimmt ist. Handlungen und Unterlassungen solcher Individuen sind es, die das Recht seinem normierenden Anspruch unterwirft, wenn es für sie in typisierten Situationen bestimmte Verhaltensweisen verbindlich macht und die Respektierung seines Anspruchs durch die Androhung von Sanktionen notfalls auch erzwingt. Es ist ein denkbar einfaches Modell, an dem sich die meisten Zweige der Rechtsordnung orientieren: Ein individueller Akteur will oder soll durch sein Handeln eine bestimmte Wirkung in der Welt hervorbringen; im Normalfall schätzt er seine Situation richtig ein und kann seine Absicht auch verwirklichen, es sei denn, dies wird durch Faktoren durchkreuzt, auf die er, aus welchen Gründen auch immer, keinen Zugriff hat. So ist es regelmäßig ein auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtetes Verhalten, das von der Rechtsordnung normiert, nämlich geboten, verboten oder freigestellt wird. Individuen, die im Besitz von Rechten und zugleich Adressaten solcher Verhaltensnormen sein können, pflegen in der Rechtswelt auch als Personen bezeichnet zu werden. Das Recht kann andererseits aber auch Individuen als Personen anerkennen, die nicht jenem Idealtypus entsprechen, der auf der Grundlage einer ihm von Natur aus zukommenden Ausstattung Interessen verfolgt, Ziele anstrebt und diese in vielen Fällen auch verwirklicht. Menschliche Individuen können aus guten Gründen auch dann als Personen anerkannt werden, wenn sie jene zum zurechenbaren Handeln befähigende Ausstattung im Einzelfall nicht, noch nicht oder nicht mehr besitzen. Selbst überindividuellen, beispielsweise korporativ strukturierten Gebilden kann von der Rechtsordnung der Status handlungsfähiger Personen zuerkannt werden. In beiden Fällen bedarf es dann aber realer, zu wirklichem Handeln befähigter Individuen, die als Vertreter derer agieren, die selbst auf unmittelbare Weise und aus eigener Kraft nicht handeln können. Nun sind das handelnde Individuum, das Handeln selbst und das von ihm als Handlungsfolge intendierte Ziel nicht so problemlos miteinander verknüpft, wie dies das idealtypische Modell unterstellt. Denn für die Folgen seines Handelns in der Zukunft kann niemand garantieren. Dies gehört zu den Grunderfahrungen der mit der conditio humana unauflöslich verbundenen Kontingenz. Jeder Handelnde muss die Möglichkeit in Rechnung stellen, dass er das von ihm angestrebte Ziel verfehlt. In jedem Fall muss er auf den Eintritt auch von nicht beabsichtigten und nicht vorhergesehenen Folgen, den missverständlich so genannten Nebenwirkungen, gefasst sein, die den beabsichtigten Erfolg des Handelns relativieren und oft sogar ent-

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werten können. Die Rechtsordnung kann diesem Sachverhalt Rechnung tragen, wenn sie es nicht dabei bewenden lässt, die von ihr zu normierenden Handlungen als gleichsam naturwüchsige Fakten anzusehen und sie als solche mit Rechtsfolgen zu verknüpfen, sondern dem handelnden Individuum überdies eine Vielzahl von Folgepflichten, beispielsweise Sorgfaltspflichten, auferlegt und deren Erfüllung sanktioniert. Die ihrer Bestimmung nach auf Kontingenzreduktion zielenden Sekundärpflichten mögen in vielen Fällen durch Generalklauseln abgedeckt sein, die das Verhalten von Individuen mit bestimmten Sanktionen nur dann verknüpfen, wenn es unerwünschte Konsequenzen gezeitigt hat. Eine Rechtsordnung muss jedoch in jedem Fall Antwort auf die Frage nach den Grenzen geben, innerhalb deren eine Person die Folgen ihres Handelns verantworten muss und für sie deshalb auch dann in Anspruch genommen werden kann, wenn sie diese Folgen nicht vorhergesehen hat und vielleicht noch nicht einmal hat vorhersehen können. Der genauen Grenzziehung mögen Ermessensentscheidungen des Gesetzgebers oder – im Einzelfall – des Richters zugrunde liegen. Keine Ermessensentscheidung ist es, dass es einer Grenzziehung bedarf. Hier sind in der Tat, wie auch die Geschichte lehrt, unterschiedlich geartete Lösungen möglich. In jedem Fall muss eine Rechtsordnung jedoch so oder so den Kontingenzen Rechnung tragen, mit denen jedes handelnde Individuum konfrontiert wird. Sie zeigen sich nicht nur darin, dass niemand alle Folgen eines auch noch so überlegt geplanten Handelns in der Hand hat, sondern auch in der Tatsache, dass jedermann gewärtigen muss, nicht nur von den geplanten Folgen des Handelns anderer betroffen zu werden, sondern auch von dessen kontingenten und nicht beabsichtigten Konsequenzen, ganz zu schweigen von der Fülle an Kontingenz, mit der jedes Individuum auch unabhängig von eigenem oder fremdem Handeln schon von Natur aus in seiner Welt konfrontiert ist. Auch die Ethik musste sich von je her der Tatsache stellen, dass niemand über alle Konsequenzen seines Handelns Herr ist. Sie kann freilich Lösungen erproben, die dem vornehmlich das äußere Verhalten regulierenden Recht nicht zugänglich sind, zumal da sie sich darauf beschränken muss, das Individuum nur ideell mit den Folgen seines Handelns zu konfrontieren. Ohnehin stehen ihr die Sanktionen nicht zur Verfügung, die es dem Recht erlauben, das Individuum in der realen Welt zur Verantwortung zu ziehen. Gewiss kann auch die Ethik nicht von der Aufgabe entlastet werden, menschliches Verhalten und die von ihm gezeitigten Folgen zu normieren. Sie hat jedoch die Freiheit, den Schwerpunkt ihrer Normierungen an eine Stelle zu legen, an der das Individuum noch nicht oder nicht mehr mit den von ihm ohnehin niemals ganz beherrschbaren Folgen seines Handelns konfrontiert ist. Freilich muss auch die Ethik der Tatsache Rechnung tragen, dass sich niemand jemals auf eine Position jenseits der Welt der

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Kontingenz zurückziehen kann. Aber anders als dem Recht, das gerade in der Regulierung der handlungsabhängigen Kontingenz in der Lebenswelt eine Aufgabe zu bewältigen hat, von der es nicht dispensiert werden kann, steht ihr die Option offen, sich auf einen gegen die Kontingenz in der äuße­ ren Welt abgeschirmten Bereich zu konzentrieren, nämlich auf den für eine Rechtsordnung auf unmittelbare Weise kaum zugänglichen Bereich der Haltungen, der Maximen, der Gesinnungen und der Motivationen. Wenn an irgendeiner Stelle, so findet sie noch am ehesten hier Dinge, die in der von keiner äußeren Kontingenz durchkreuzten Macht des Individuums liegen. Die Grundzüge der Ethik der Stoa markieren den Prototyp einer sich durch ihre innere Konsequenz auszeichnenden Lösung, bei der das Individuum durch eine randscharfe Ausgrenzung alles dessen, was nicht eindeutig und ohne Einschränkung in seiner Macht steht, gegenüber aller Kontingenz der realen Welt abgeschirmt wird. Eine Ethik, die sich an diesem Paradigma orientiert, kann ihre Normierungen auf das konzentrieren, was eindeutig und ohne Zweifel beim Individuum steht und alles andere in den Bereich des Indifferenten, der Adiaphora entlassen. Sie nimmt dafür die Folgelast auf sich, die Verantwortung für alles, was dem Individuum an realer Kontingenz begegnet, einer überindividuellen Instanz, einem Gott oder der Natur zuzuschreiben. Diese Kontingenzbewältigung bedient sich des Mittels der Ausklammerung und sie verfolgt nicht nur theoretische, sondern vor allem auch lebenspraktische Ziele: Das Individuum soll lernen, sich von der ihm begegnenden Kontingenz nicht betreffen zu lassen. In analoger Weise ist auch die Religion immer wieder, oft entgegen ihrem Selbstverständnis, in Anspruch genommen worden, wenn es darum ging, die Erfahrung von Kontingenz und die mit ihr verbundene Unsicherheit zu bewältigen. Natürlich ist nicht alle Kontingenz, mit der ein Individuum in seiner Welt konfrontiert ist, von Hause aus mit dessen eigenen Handlungen oder mit den Handlungen anderer Individuen verbunden. Im Gegenteil: Es gehört zur conditio humana, gerade auch in der außermenschlichen Welt Irreguläres und Unvorhersehbares, manchmal Förderliches, viel öfters aber Gefährliches gewärtigen zu müssen. Dennoch stehen auch diese Dinge nicht ganz außerhalb des Einzugsbereichs des zu normierenden Verhaltens. Denn es zeigen sich immer wieder Kontingenzen, angesichts deren sich das Individuum zu einer Entscheidung darüber gezwungen sieht, in welcher Weise es mit seinem Handeln und Verhalten auf die Konfrontation mit ihnen antworten soll. Von einer Theorie ist in diesem Fall schwerlich Hilfe zu erwarten. Es gehört nun einmal zum Begriff des Kontingenten, dass es aus dem Rahmen dessen herausfällt, was mit den Mitteln theoretischer Disziplinen erklärt werden kann. Es ist einer der Grundsätze schon der aristotelischen Ontologie, dass die stets das Allgemeingültige und

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Regelmäßige intendierende Wissenschaft das Kontingente nicht erreicht. Dieser Grundsatz behielt auch dort noch Geltung, wo man sich in manchen Hinsichten von der aristotelischen Tradition distanzierte. Wo immer man versuchte, das Kontingente dennoch theoretisch zu erfassen, gelang dies nur dann, wenn sich im jeweiligen Fall die Kontingenz zu einem bloßen Scheinphänomen herabstufen ließ, hinter dem dann allgemeingültige Regularitäten zu suchen waren, als deren Ausdruck sich dieses Phänomen erklären ließ. Das Kontingente, das einer derartigen Reduktion Widerstand entgegensetzte, blieb dem Zugriff der Theorie entzogen. Das in seiner Lebenswelt mit dem Kontingenten konfrontierte Individuum kann deshalb von der Seite der Theorie her weder Hilfe noch Orientierung erwarten. Erfahrene Kontingenz in der Lebenswelt kann sich in seiner Eigenart ohnehin oft selbst dann noch behaupten, wenn eine erklärende Reduktion auf der theoretischen Ebene möglich ist. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass das auf Orientierung in der Welt der Kontingenz zielende Bedürfnis des Menschen bislang weder von der Wissenschaft noch von der professionell betriebenen Philosophie befriedigt werden konnte. Auch die praktische Philosophie macht hier keine Ausnahme, obwohl ihr Gegenstand, das Handeln, in einer Welt ohne alle Kontingenz gar nicht existieren könnte. Es waren stets andere Instanzen, die man in Anspruch nahm, wenn es um eine derartige Orientierung und um die Bewältigung erfahrener Kontingenz ging. Neben der Religion waren es Mythos und Literatur, tradierte Lebenspraxis und Moralistik, individuelle und überindividuelle Gewohnheiten sowie die unterschiedlichsten Typen von sozialen Institutionen, die dem Individuum im Umgang mit der ihm begegnenden Kontingenz zu Hilfe kommen konnten. Nun sind in der Neuzeit Techniken entdeckt und Methoden entwickelt worden, die dazu bestimmt waren, auf einem neuen, bis dahin unbekannten Weg mit Kontingenz umzugehen, sie zu bewältigen und vielleicht sogar beherrschbar zu machen. Die Rede ist von den Disziplinen der Stochastik und vom probabilistischen Denken überhaupt. Die Stochastik eröffnete der Wissenschaft einen Zugriff auf das Kontingente, ohne damit dessen Kontingenz umzudeuten oder gar zum Verschwinden zu bringen. Dies wurde durch einen Kunstgriff erreicht, der im Rückblick sehr einfach aussehen mag, dessen Entdeckung jedoch eine Innovation von außerordentlicher Tragweite war. Es handelt sich um den Grundsatz, dass stochastische Erkenntnisse immer nur im Hinblick auf Kollektive, auf Populationen und Gesamtheiten definiert sind und deswegen die Möglichkeit ausschließen, auf ihrer Grundlage zu definitiven Aussagen über einzelne Individuen zu gelangen, aus denen sich die Gesamtheiten zusammensetzen. Gesetzlichkeit und Zufall lassen sich hier in ihrer wechselseitigen Beziehung unter einem neuen Blickwinkel betrachten. Der Zufall wird nicht zum Verschwinden ge-

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bracht, sofern es um den individuellen Fall geht. Im Blick auf das Kollektiv lassen sich nun jedoch Gesetze des Zufalls suchen und finden. Gesetze des Zufalls: für die traditionelle, aristotelische Auffassung mag dies wie ein Widerspruch in sich anmuten. Der neuzeitlichen Stochastik gelang es indes, mit der Annahme solcher Gesetze zu arbeiten und ihr Erklärungspotential der Bewährung auszusetzen. Der Preis für diese Errungenschaft bestand in der Anerkennung der Tatsache, dass diese Gesetze, sowohl dem Inhalt als auch ihrer Struktur nach Gesetze ganz eigener Art, stets nur auf Kollektive bezogen werden können und daher zum Verzicht darauf zwingen, sie für den Einzelfall fruchtbar zu machen. Er kann insofern ein Reservat des Zufalls bleiben. Die neuzeitliche Stochastik wäre wohl kaum entstanden, hätte sie nicht von sehr einfachen Modellen Gebrauch machen können, deren besondere Beschaffenheit Zufallsgesetze unter leicht überschaubaren und sogar standardisierten Randbedingungen zu studieren erlaubte. Es waren einfache Glücksspiele, deren Analyse im 17. Jahrhundert den Anstoß zur Entwicklung einer quantifizierbaren Probabilistik gab. Es sind vor allem zwei Aspekte, unter denen deutlich wird, warum gerade die Untersuchung von Glücksspielen prädestiniert war, gleichsam die Initialzündung für die Entwicklung probabilistischer Denkweisen zu liefern. Zum einen bilden nämlich bei echten Glücksspielen Elementarereignisse die Basis, die im Verhältnis zueinander alle gleich wahrscheinlich sind. Nur auf der Basis der Annahme von gleich wahrscheinlichen Elementarereignissen ergab sich die Chance, Gesetze des Zufalls zu entdecken und zu formulieren. Diese Entdeckungen erlaubten es dann später, probabilistisches Denken auch auf Gebieten fruchtbar zu machen, die verwickeltere Randbedingungen aufweisen, weil in Bezug auf die hier maßgebenden Elementarereignisse diese einfache, nachmals so genannte Laplacewahrscheinlichkeit dort nicht vorausgesetzt werden kann. Zum anderen ist das Modell des Glücksspiels ausgezeichnet, weil man es hier mit planmäßig hergestellter Kontingenz zu tun hat. Hier geht es darum, sich auf eine Kontingenz einzulassen, die nicht lediglich in ihrer Faktizität vorgefunden, sondern die als Gegenstand eines besonderen Bedürfnisses eigens generiert wird. Die Gesetzlichkeiten, die bei der Analyse von Glücksspielen gefunden werden, sind indessen immer nur Gesetzlichkeiten der großen Zahl. Sie geben an, was in einer großen Zahl von Spielrunden erwartet werden darf; über den einzelnen Fall geben sie dagegen keine Auskunft. Im Laufe der Zeit ist es dann gelungen, das Anwendungsgebiet stochastischer Methoden immer mehr auszuweiten und eine immer größere Zahl von Wirklichkeitsbereichen mit Hilfe des probabilistischen Denkens zu analysieren. Es bleibt die Frage nach der Tragweite eines Denkens, das den einzelnen Fall, das Individuum, aus prinzipiellen Gründen nicht erreichen kann.

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An dieser Stelle ist es zweckmäßig, zunächst noch einige Begriffe zu präzisieren. Der Sprachgebrauch des Alltags, ohnehin zumeist an der menschlichen Lebenswelt orientiert, intendiert in der Regel menschliche Personen, wenn von Individuen die Rede ist. Auf dieser Basis lässt sich die Verwendung des Ausdrucks zur Bezeichnung unterschiedlicher Entitäten ausweiten. Auch einzelne Ereignisse lassen sich dann als individuelle Ereignisse bezeichnen. Wie überall in der Sprache, so ist auch hier der Bereich ungemein groß, wenngleich nicht unbegrenzt, innerhalb dessen Konventionen über die Bedeutung und den Gebrauch eines Ausdrucks abgeschlossen werden können. Auf ausdrückliche Weise wird von dieser Möglichkeit beim Aufbau einer Fachterminologie Gebrauch gemacht. So kann man beispielsweise die Terminologie für eine formale Ontologie entwerfen, für die als Individuum jede Entität gilt, die weder aus gleichartigen Entitäten aufgebaut ist noch in sie aufgelöst werden kann und die sich außerdem stets eindeutig von anderen Entitäten unterscheiden lässt. Auch die Prädikatenlogik orientiert sich an Individuen, wenn sie von der Unterscheidung zwischen Individuen und den ihnen zuzuordnenden Prädikaten ausgeht. Individuen und Prädikate sind dabei nicht nur inhaltlich, sondern vor allem kategorial voneinander unterschieden. Dem trägt auch die formale Sprache Rechnung: Der Name, durch den ein Individuum bezeichnet wird, kann in einem korrekt formulierten Ausdruck niemals die Stelle des Prädikats einnehmen, mit dessen Hilfe Aussagen über Individuen formuliert werden. Goethes Satz „individuum est ineffabile“, wo immer seine Quelle auch zu finden sein mag, lässt nicht mit Sicherheit erkennen, welcher Umfang dem Begriff des Individuums hier zugeordnet ist. Er gibt jedoch, hier sogar der Sache nach in Übereinstimmung mit der aristotelischen Tradition, einen guten Sinn auch dann, wenn man bei seiner Deutung einen sehr weit gefassten Begriff des Individuums ansetzt. Denn er gibt der Vermutung Ausdruck, dass sich über ein Individuum unendlich viele wahre Aussagen formulieren lassen, da es auch durch noch so viele Prädikationen niemals so erschöpfend erfasst werden kann, dass keine weiteren Prädikationen denkbar wären. In der Rede über Individuen gibt es keine letzte, keine abschließende Prädikation. Wenn hier von unendlich vielen Aussagen die Rede ist, so genügt es, den Begriff des Unendlichen statt im mathematischen lediglich im pragmatischen Sinn zu verstehen: Man wird unter Realbedingungen niemals an das Ende möglicher Prädikationen über ein Individuum gelangen. Dabei ist nicht nur an die „gewöhnlichen“ einstelligen, sondern ebenso an die mehrstelligen Prädikate zu denken, durch die die Relationen bezeichnet werden, die zwischen Individuen bestehen. Gerade im Blick auf die mehrstelligen Prädikate leuchtet sofort ein, dass Individuen durch zumindest im pragmatischen Sinn unendlich viele wahre Aussagen charakterisiert werden können.

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Wie immer man den Begriff des Individuums auch präzisieren mag, so wird doch in jedem Fall die Bedingung erfüllt sein müssen, dass sich ein Individuum von seinesgleichen abgrenzen und unterscheiden lässt. Das gilt sowohl für im umgangssprachlichen als auch für in einem rein formalen Sinn verstandene Individuen. Deshalb lassen sich Individuen in jedem Fall identifizieren und sie lassen sich zählen. Ob etwas Analoges auch für Prädikate oder wenigstens für bestimmte Prädikate gilt, ist eine Frage, die sogleich in die Erörterung der schwierigsten Probleme führt, die unsere philosophische Tradition kennt. Wo immer die Frage nach dem Status dessen, worauf Prädikate bezogen sind, aufgeworfen worden ist, hat sie Schulstreitigkeiten initiiert, die die Grundlagen des dem Menschen möglichen Wissens berühren. Auf die Frage nach der Identität von Prädikaten und nach der Identität ihrer Korrelate ist bislang noch keine Antwort ge­geben worden, die sich einer allgemeinen und unangefochtenen Zustimmung hätte erfreuen können. Geringere Probleme stellt die Identifizierung eines Individuums. Die Zuordnung eines Namens ist zwar nicht das einzige, wohl aber das wichtigste Mittel, das einem dabei zur Verfügung steht. Anders als im Bereich der Prädikate sind hier eindeutige Zuordnungen möglich. Soll die Identifikation eines Individuums jedoch ihre Funktion erfüllen, so müssen wenigstens zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Einmal muss der Zuordnung von Name und Individuum eine Stabilität eigen sein, die eine Verselbständigung des Namens gegenüber dem durch ihn bezeichneten Namensträger ausschließt; ein funktionsfähiger Name darf kein Eigenleben führen können. Wenn dergleichen dennoch immer wieder geschieht, so sollten die einschlägigen Erfahrungen gerade zu besonderer Sorgfalt im Umgang mit Namen mahnen. Zum anderen müssen Namen im Verhältnis zueinander stets so eindeutig unterscheidbar sein, dass ihre Identifikation als Namen nicht selbst schon Probleme stellt. Ein Name verliert seine identifikatorische Potenz in eben dem Maße, in dem er selbst zunächst noch einer Identifikation bedarf. Auch das Weltverständnis, das sich in der Umgangssprache ebenso wie in der Sprache der verwalteten Welt spiegelt, respektiert die identifikatorische Funktion des Namens. Gerade hier ist das, was man unter der Identität einer Person zu verstehen pflegt, aufs engste mit ihrem Namen verbunden. Kontingente Bestimmungen kommen einem Individuum nicht auf unmittelbare Weise zu. Kein Prädikat, das das Vorliegen eines Merkmals von einem Individuum aussagt, zeigt bereits als solches und gleichsam von Hause aus Kontingenz an. Es gibt keine „geborenen“ kontingenten Prädikate. Kontingenz kann ein Prädikat im Hinblick auf ein Individuum immer nur insoweit anzeigen, als dieses Individuum zuvor schon in anderer Weise bestimmt und klassifiziert worden ist. Kontingenz zeigen Prädikate daher immer nur in Relation auf jeweils andere Prädikate an, die einem

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Individuum zugesprochen werden, nämlich in Bezug auf Prädikate, denen, aus welchen Gründen auch immer, der Status von essentiellen Prädikaten eingeräumt worden ist. Derart ausgezeichnete Prädikate pflegen einem Individuum explizit oder implizit schon im Zusammenhang mit seiner Identifizierung zugesprochen zu werden. Unter dem Blickwinkel der Logik muss jedoch die Identifizierung streng von jenem Akt unterschieden werden, der einem Individuum ausgezeichnete, essentielle Prädikate zuordnet. Außerhalb strikt formaler Sprachen ist de facto freilich mit jeder Identifizierung in aller Regel eine essentielle Charakterisierung zumindest implizit verbunden. Der Zusammenhang der hier zu erörternden Thematik macht es indes nicht erforderlich, ontologische Grundlagenfragen zu erörtern, die den Essentialismus betreffen. Denn die hier vorgenommenen Differenzierungen zwingen durchaus nicht zu einer Option zugunsten einer bestimmten essentialistischen Ontologie, da sie keine Antwort auf die Frage nach dem Status der Universalien voraussetzen. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist nur von Bedeutung, dass eine Kontingenz von Prädikaten immer nur in Bezug auf das bestimmt ist, was im jeweiligen Zusammenhang als nicht kontingent bereits vorausgesetzt ist. Das können essentielle Prädikate im engeren Sinn sein oder Prädikate, die ein Individuum lediglich klassifizieren; es können aber auch Prädikate sein, die einem Individuum für die ganze Dauer seiner Existenz in Abhebung gegenüber Prädikaten, für die dies nicht gilt, zugesprochen werden. In jedem Fall lässt sich von Kontingenz aber nur im Hinblick auf Individuen sprechen, die bereits identifiziert und durch nichtkontingente Prädikate charakterisiert sind. Nur innerhalb eines formalen Modells wird die Identifikation von Individuen gänzlich problemlos sein. Wenn man es aber nicht dabei bewenden lässt, mit den Elementen einer formalen Kunstsprache zu operieren, sondern den Blick auf das heterogene Kontinuum der sich in der Erfahrung präsentierenden realen Welt richtet, um dort von den Werkzeugen der Logik Gebrauch zu machen, dann ist es oftmals Sache einer durchaus nicht trivialen Entscheidung, wie man aus dem Erscheinungszusammenhang dieser Welt Individuen ausgrenzen, als solche ansprechen und identifizieren kann. Im Rahmen der Lebenspraxis ergeben sich dort noch keine Probleme, wo es um menschliche Personen, um höhere Lebewesen oder um geeignete Artefakte geht. Schwieriger wird die Aufgabe, wenn man den Blick auf die in der realen Welt begegnenden phänomenalen Kontinua richtet und dort versucht, Individuen auszugrenzen und zu identifizieren. Geht es etwa um Landschaftsformationen oder um Meeresströmungen, um Wolken oder um Wasserwellen, so bedarf es zur Identifizierung von Individuen stets einer Ermessensentscheidung, wenn man nicht von vornherein darauf verzichtet, Abgrenzungen vorzunehmen, durch die aus Komplexphänomenen allererst Individuen herausgehoben werden sollen. Eine Ermessensentscheidung ist

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gewiss stets einer Begründung fähig. Sie kann aus ihr jedoch niemals zwingend hergeleitet, sondern allenfalls plausibel und verständlich gemacht werden. Noch nicht einmal im Reich der belebten Natur hat man eine Garantie, den Schwierigkeiten enthoben zu sein, die sich bei dem Versuch ergeben können, Individuen zu identifizieren. Wenig problematisch sind derartige Identifizierungen, wenn sie Gebilde zum Gegenstand haben, die man, auch mit einem Blick auf ihren Ort in der Evolution, als höhere Lebe­wesen auszuzeichnen pflegt. Lebensphänomene auf vergleichsweise niederen Stufen können dagegen dem Versuch einer Individualisierung Widerstand entgegensetzen. Das erfährt man beispielsweise dann, wenn man versucht, etwa bei Pilzlagern und Flechten, bei Korallen oder anderen Hohltieren Individuen zu identifizieren und randscharf gegeneinander abzugrenzen. Lässt sich auch die Individualisierung als ein Resultat der Evolution deuten? Die Entwicklung eines Zentralnervensystems liefert für das Tierreich ohne Zweifel Gründe zugunsten der entsprechenden Annahme. Wer im Reich der Lebewesen Individuen identifizieren will, hat jedenfalls dort oft einen sehr viel größeren Ermessensspielraum, wo es sich um frühe Stadien der Evolution handelt. Die Schwierigkeiten endlich, die sich bei dem Versuch ergeben, im Forschungsbereich der Mikrophysik Individuen auszumachen und zu identifizieren, führen zu jenen Grundlagenfragen, die die Arbeit der Theoretiker der exakten Wissenschaften noch immer in Atem halten. Will man die Schwierigkeiten auf die Spitze treiben, die sich in der realen Welt bei der Identifizierung von Individuen ergeben können, so mag man auf die Grenzen verweisen, an die selbst bei einem „höheren“ Lebewesen, den Menschen nicht ausgenommen, jeder Versuch einer Individualisierung schon deswegen stößt, weil es stets auf vielfältige Weise in eine natürliche und in eine soziale Umwelt eingebunden ist, außerhalb deren es gar nicht existieren könnte. Diese Einbindung hindert gewiss niemanden daran, Individuen zu identifizieren. Sie erinnert jedoch daran, dass das logische wie auch das ontologische Konzept des Individuums auf einer Idealisierung beruht, weil es eine Selbständigkeit unterstellt, die in der realen Welt allenfalls näherungsweise gegeben ist. In dieser realen Welt lassen sich nun einmal keine Gebilde ausmachen, die nicht auch in transzendenten Relationen stehen, also in Relationen, die ihr Relat deswegen nicht lediglich akzidentell bestimmen, weil sie zu seinem Wesen, oder – wie man dies heute oft nennt – zu seiner Identität gehören. Auf diese Verhältnisse pflegt seinen Blick zu richten, wer sich entscheidet, eine Naturauffassung vom holistischen Typus zu erproben; er wird dabei vermutlich einem Begriffssystem den Vorzug geben, das die Begriffe des Individuums und der Individualität nicht als klassifikatorische, sondern als komparative, ein Mehr und ein Weniger zulassende Begriffe ansetzt. Aber auch er wird schon aus pragmatischen Gründen nicht auf einen klassifikatorischen Individualitätsbegriff

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verzichten wollen, wenn es darum geht, die Verhältnisse der menschlichen Lebenswelt auf Begriffe zu bringen. Eine formale Theorie, die sich mit der Individualität und mit der Iden­ tifizierung von Individuen befasst, darf gewiss zunächst die Frage nach der Instanz ausklammern, von der eine solche Identifizierung vorgenommen wird. Diese Frage kann indessen relevant werden, sobald die Grenzen der formalen Theorie überschritten werden. In der großen Mehrzahl der Fälle wird der Akt, durch den ein Individuum identifiziert wird, von einer ihm gegenüber stehenden und von ihm verschiedenen Instanz praktiziert. Gerade die Namengebung ist als ein Akt personaler Identifizierung in vielen Kulturen in besondere Rituale eingefügt, die zugleich auch die Irrever­ sibilität dieses Aktes garantieren sollen. Nun kann aber auch eine Situation besonderer Art gegeben sein: Sie liegt dann vor, wenn die Identifikation eines Individuums nicht von einer von ihm verschiedenen Instanz, sondern von diesem Individuum selbst geleistet wird. Dies ist möglich, weil es Wesen gibt, die Individuen nicht nur sind und die als solche nicht nur identifiziert werden können, sondern die außerdem auch die Fähigkeit haben, sich selbst als Individuen zu verstehen. Nur einem verschwindend kleinen Anteil der Wesen, die sich als Individuen identifizieren lassen, ist diese Fähigkeit zur Selbstidentifikation eigen. Diese Fähigkeit bestimmter Individuen, sich seiner eigenen Individualität bewusst zu sein und sich selbst zu identifizieren, ist eine rätselhafte Disposition, deren Ursprung im Dunkel liegt. Ihr Mani­ festwerden ist dagegen von einer nicht zu erschütternden Evidenz. Denn ein Wesen, das „Ich“ sagt, bezieht sich damit nicht nur auf sich selbst, sondern es leistet damit auch zugleich eine Selbstidentifikation. Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum es nach dem Verdikt eines bekannten Autors bei manchen Menschen ein Ausdruck von Unverschämtheit sein soll, wenn sie „Ich“ sagen und damit von jener einzigartigen Fähigkeit Gebrauch machen. Die mit dieser Fähigkeit ausgestatteten Individuen pflegt man im übrigen auch als Personen zu bezeichnen. Im Gegensatz zu einer heute sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaft propagierten Sprechweise, gemäß der nur dann von Personen gesprochen werden soll, wenn einschlägige Merkmale aktuell vorliegen, wird hier der Personbegriff allen Individuen zugesprochen, deren Genotyp es erlaubt, eine Disposition zur Selbstidentifikation anzunehmen. Es kann dabei davon abgesehen werden, zu welchen Zeiten und unter welchen Randbedingungen sich diese Disposition manifestieren kann. Denn die Existenz einer derartigen Disposition ist sogar mit Bedingungen verträglich, die ihre Manifestation auf Dauer ausschließen. Eine Identifikation, zumal eine Selbstidentifikation, geht unter Real­ bedingungen nicht darin auf, ein punktueller, inhaltsleerer Akt zu sein. Der punktuelle Akt gibt allenfalls das formale Gerüst für die Identifikation

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vor. Unter Realbedingungen weist jede Identifikation auch eine inhaltliche Komponente auf, weil stets jemand als jemand oder etwas als etwas identifiziert wird. Auch eine sich selbst identifizierende Person wird sich immer auf bestimmte Inhalte hin verstehen. Ein entsprechendes Moment ist sogar noch in manch einer personalen Namensgebung präsent. Dieses inhalts­ bezogene Moment einer personalen Identifikation mag selbst gewählt oder aber von Traditionen und Institutionen vorgeprägt sein. Es wird indessen niemals ganz fehlen. Dies ist für den Zusammenhang der gegenwärtigen Überlegungen vor allem deswegen von Bedeutung, weil niemals ohne Bezug auf die mit einer Selbstidentifikation verbundenen inhaltsbezogenen Momente darüber befunden werden kann, was für ein Individuum als kontingent zu gelten hat. Bei einem personalen Individuum wächst der Selbstidentifikation auch die Aufgabe zu, Kontinuität in der Zeit zu stiften. Diese Identität über die Zeit hinweg soll auf diese Weise aber nicht nur der Sache nach gesichert, sondern zugleich auch für das Individuum erfahrbar gemacht werden. Nur ein Individuum, das zu einer die Zeit übergreifende Selbstidentifikation fähig ist, kann Adressat sittlicher Forderungen sein. Nur wenn Identität über die Zeit gesichert ist, lässt sich einem Individuum sein Verhalten in der Vergangenheit als sein eigenes zurechnen; nur unter dieser Bedingung kann ein Individuum zu künftigen Handlungen verpflichtet werden und sich selbst verpflichten. Handlungen lassen sich ohnehin gegenüber natürlichen Prozessen oder Ereignisfolgen schwerlich anders auszeichnen als dadurch, dass sich ihr Urheber mit ihnen identifiziert. Umgekehrt kann sich die Selbstidentifikation eines Individuums auch in Handlungen und durch sie manifestieren. Jede Handlung, die ihren Namen verdient und die sich deshalb nicht auf eine bloß gegenständliche Ereignisfolge reduzieren lässt, fungiert zugleich als vermittelndes Element einer Reflexionsbeziehung, in der sich ein Individuum zwar auf einen objektiven Inhalt, aber damit zugleich auch auf sich selbst bezieht. Sprechhandlungen in der ersten Person, nicht von ungefähr Gegenstand des Interesses mancher Analytiker, sind vorzügliche Exempel, anhand deren sich deutlich machen lässt, welche Strukturelemente der Sache nach zu jeder Handlung gehören. Aber auch die die Gestalt einer sprachfernen Handlung annehmende Selbstidentifikation eines Individuums geht nicht in einem spontanen, momentanen Akt auf. Ein Phänomen wie das der Verantwortung wäre nicht möglich, würden dem Individuum nicht auch frühere Handlungen zugerechnet werden können; das sittliche Sollen andererseits setzt voraus, dass vom Individuum verlangt werden kann, sich auch mit solchen erst noch zu realisierenden Handlungen zu identifizieren, die spontan zu erbringen es zunächst vielleicht gar nicht willens ist. Die hier vorgetragenen Überlegungen sollen auch der Tatsache gerecht werden, dass sich die Folgen eines jeden Handelns gleichsam fächerförmig

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in die Welt ausbreiten. Hier wird die Frage dringlich, bis zu welcher Grenze dem Individuum eine Identifikation mit den Folgen seiner Handlungen zugemutet werden kann; es stellt sich aber auch die Frage nach der Grenze, bis zu der eine Identifikation überhaupt möglich ist. Ein Dilemma ergibt sich hier, weil diese Grenze niemals auf der Grundlage einer allgemeingültigen Regel randscharf markiert werden kann. Jenseits dieser Grenze liegt jedoch stets der Bereich der Handlungsfolgen, die für das handelnde Subjekt nur noch kontingent sind. Institutionelle Ordnungen können von dem Individuum, das in sie eingebunden ist, durchaus verlangen, auch für bestimmte kontingente Folgen seines Handelns Verantwortung zu übernehmen. Doch schon jeder Versuch, eine Grenze zwischen der Handlung selbst und ihren Folgen auszumachen, zwingt letztlich zu Ermessensentscheidungen. Unter der Bedingung der Ordnungen, in denen Menschen mit ihresgleichen zusammenleben, sind solche Entscheidungen zumeist Sache der Institutionen. Zu ihren Aufgaben gehört es, zumindest einen Teil der Kontingenzen zu regulieren, mit denen jedes Individuum konfrontiert ist. Freilich sollte hier nicht übersehen werden, dass sich das Individuum immer auch in Bezug auf diese Institutionen identifizieren kann. Das ist sogar eine Bedingung dafür, dass Institutionen funktionsfähig sein können. Sie sind auf die Individuen angewiesen. Sie lassen sich jedenfalls auch danach klassifizieren, in welcher Weise und in welchem Grade sie eine solche Identifikation verlangen. Es war bereits von den Möglichkeiten der Kontingenzreduktion die Rede, die durch die Stochastik eröffnet werden. Nachdem inzwischen wenigstens einige der mit der Identifizierung von Individuen verbundenen Probleme zur Sprache gekommen sind, ist es sinnvoll, an jene Thematik wieder anzuknüpfen und die Frage nach der Art des Umgangs zu stellen, die der Statistiker mit Individuen pflegt. Der Statistiker untersucht Gesamtheiten von Elementen, die stets ein gemeinsames Merkmal aufweisen müssen, hinsichtlich anderer Merkmale dagegen unterschieden sind. Geht er von geeigneten Fragestellungen aus, so hat er gewiss niemals die Garantie, wohl aber die Chance, in der Verteilung eben dieser Merkmale Regelmäßigkeiten zu entdecken, die nicht selten sogar geeignet sind, Prognosen zu stützen. Solche Regelmäßigkeiten gelten indessen immer nur für Gesamtheiten. Sie schließen eine unmittelbare Anwendung auf die individuellen Elemente aus, die diese Gesamtheiten konstituieren. Das ist eine der Grundregeln, die für jeden Umgang mit Statistik gilt. Ohnehin haben die Aussagen, die der Statistiker über seine Gesamtheiten formuliert und zu begründen sucht, nicht die Struktur jener Allaussagen, die von einer Klasse deswegen gelten, weil sie für jedes ihrer Elemente gültig sind. Gesetze des Zufalls lassen sich daher nur dort entdecken, wo der im Einzelfall präsente Zufall bestehen bleibt. Ließe sich hier mit einer deterministischen, ausnahmslos geltenden Gesetzlichkeit arbeiten, so bestünde gar kein Anlass, von statistischen Techniken

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Gebrauch zu machen. Der Hinweis auf den Zufall liefert dagegen zumindest im ersten Durchgang immer eine korrekte Antwort, wo nach dem Ursprung eines kontingenten Merkmals im Einzelfall gefragt wird, und zwar auch dort, wo der Statistiker bereits Regelmäßigkeiten eruiert hat. Die durch die Statistik ermöglichte Kontingenzreduktion bleibt daher immer auf die Ebene der Gesamtheiten beschränkt; der Einzelfall wird von ihr gerade nicht erreicht. Der Satz „individuum est ineffabile“ entstammt gewiss nicht einer Reflexion auf die Statistik und ihre Grundlagen. Gleichwohl findet er auch hier eine Bestätigung. Damit ist zugleich deutlich geworden, welche Art von Zusammenhang die statistische Kontingenzreduktion mit der Identifikationsproblematik verbindet: Der Statistiker muss nämlich darauf verzichten, die Elemente zu identifizieren, aus denen die von ihm untersuchten Gesamtheiten bestehen. Solange er die Einstellung des Statistikers beibehält, hat er es mit nicht identifizierten und sogar mit nicht identifizierbaren Individuen zu tun. Zwar müssen auch diese Individuen voneinander unterschieden und außerdem auch gezählt werden können. Sie bleiben indessen stets anonym. So liefert gerade das Identifikationsverbot einen wesentlichen Gesichtspunkt, unter dem das vom Statistiker praktizierte Denken ein Stück der ihm eigenen Kontur zeigt. Statistische Individuen sind stets nicht identifizierte Individuen. Die Frage nach dem Nutzen, den der Statistiker aus den Ergebnissen seiner Arbeit ziehen kann, findet eine einfache Antwort: Sie liegt in dem Hinweis auf jene Gesetze des Zufalls und der großen Zahl, die sich gerade dann aufzeigen lassen, wenn man die Kontingenz des Einzelfalls gleichsam einklammert, aber als solche bestehen lässt. Die Frage, was für das einzelne Individuum aus solchen Ergebnissen folgen kann, wird trotzdem dringlich, wenn die Gesamtheiten, die der Statistiker untersucht, aus Elementen bestehen, die als Personen einer Selbstidentifikation fähig sind und die die ihrer Individualität begegnende Kontingenz unmittelbar erfahren können. Der Statistiker, der solche Gesamtheiten betrachtet, hat natürlich keine Schwierigkeiten, wenn er schon auf die Identifikation dieser Individuen verzichtet, zugleich auch von deren Fähigkeit zur Selbstidentifikation abzusehen. Niemand kann ihn daran hindern, auch hier auf die Suche nach Gesetzen des Zufalls und nach Gesetzen der großen Zahl zu gehen. Andererseits kann er personale Individuen nicht daran hindern, die Ergebnisse seiner Bemühungen zur Kenntnis zu nehmen und zu versuchen, sie für sich selbst fruchtbar zu machen. Auch wenn diese Ergebnisse nicht unmittelbar auf den individuellen Fall angewendet werden können, so werden sie dennoch dem personalen Individuum niemals gleichgültig sein. So gut auch das Verbot legitimiert ist, Ergebnisse der Statistik unmittelbar auf den Einzelfall anzuwenden, – es lässt sich nicht immer in letzter

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Konsequenz befolgen. Denn statistische Regelmäßigkeiten, sind sie erst einmal entdeckt, lassen den identifizierten Einzelfall auch dann in einem anderen und neuen Licht erscheinen, wenn die individuelle Kontingenz unangetastet bleibt. Die gerade bei existenznahen Kontingenzen von personalen Individuen immer wieder gestellte Frage „warum gerade ich?“ wird durch den Hinweis auf statistische Regelmäßigkeiten gewiss niemals definitiv beantwortet. Trotzdem ist es nicht gleichgültig, ob Gesetze des Zufalls den Hintergrund abgeben, vor dem jene Frage gestellt wird. Gerade dort, wo es um den Umgang mit dem individuellen Einzelfall geht, können einschlägige Informationen vom statistischen Typus auch dann von Nutzen sein, wenn der jeweilige Fall in seiner Individualität von der Statistik nicht erreicht wird. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Tätigkeit des Arztes. Das handlungsleitende Wissen, das dem Arzt zur Verfügung steht, ist nämlich zum größten Teil Wissen vom statistischen Typus. Anders als vom klinischen Forscher oder vom Epidemiologen wird jedoch vom Arzt verlangt, etwas zu leisten, was er, unter dem Blickwinkel des methodologischen Puristen gesehen, gar nicht leisten kann: Er soll auf der Grundlage statistischen Wissens den Fall eines individuellen Patienten beurteilen und auf der Basis eines derartigen Urteils eine Handlungsentscheidung treffen. Hier stellt sich die Frage, ob sich doch noch Techniken ausfindig machen lassen, die es erlauben, den von der Methodologie geforderten Hiatus zwischen dem individuellen Einzelfall und einer nur auf Gesamtheiten bezogenen statistischen Regelmäßigkeit zu überbrücken. Es liegt auf der Hand, dass diese Frage vornehmlich dort dringlich wird, wo es personale, zur Selbstiden­ tifikation fähige Individuen sind, die die einschlägigen Einzelfälle bilden und die, anders als der Statistiker, für sich selbst keinen Identifikationsverzicht üben können. Nun ist es längst gelungen, statistische Regelmäßigkeit und Einzelfall doch noch in einer Weise aufeinander zu beziehen, die der dem Einzel­ fall eigenen Kontingenz gerecht zu werden scheint. Es ist der Begriff der Wahrscheinlichkeit, der diese Vermittlung leistet. Geht es um kontingente Merkmale, für die statistische Regelmäßigkeiten gelten, so kann auf dieser Grundlage zwar nicht definitiv festgestellt werden, ob einem bestimmten Individuum ein bestimmtes kontingentes Merkmal zukommt oder nicht. Wohl aber lässt sich die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der dies angenommen werden kann. Daran kann in manchen Fällen ein Interesse bestehen, insbesondere dann, wenn es sich um Individuen handelt, die nicht nur Objekte eines solchen Interesses sind, sondern die auch selbst ein derartiges Interesse entwickeln können. Freilich beziehen sich Wahrscheinlichkeiten immer auf zukünftige Kontingenzen; in der Zukunft kann natürlich auch ein jetzt noch nicht vorliegendes Wissen über Vergangenes liegen. Aber es sind gerade die in der Zukunft bevorstehenden Kontingenzen, an denen

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das personale Individuum erwartend, hoffend oder befürchtend Interesse nimmt, weil es, wenn überhaupt, nur hier eine Chance sehen kann, auf Dinge Einfluss zu nehmen, die sich mit Sicherheit gerade noch nicht vorher­ sehen lassen. Was leistet nun aber der Begriff der Wahrscheinlichkeit? Er scheint die Möglichkeit zu eröffnen, die Kontingenz, mit der ein Individuum in seinen Hoffnungen und Chancen, Risiken und Gefahren konfrontiert wird, abzuschätzen und kalkulierbar zu machen. Dieser Begriff scheint wie mit einem Kunstgriff statistisches Denken schließlich doch noch für den Einzelfall fruchtbar zu machen, zumal dann, wenn es quantifizierte Wahrscheinlichkeiten sind, mit denen gearbeitet werden kann. Man sollte freilich nicht übersehen, dass der Umgang mit unquantifizierten, allenfalls komparativ abgestuften Wahrscheinlichkeiten schon seit unvordenklichen Zeiten zu den Techniken der Daseinsbewältigung gehört. Sie tragen der Eigenart der conditio humana insofern Rechnung, als mit ihr ein niemals vollständig überschaubarer Zukunftshorizont verbunden ist. Zu dieser Daseinsbewäl­ tigung gehören in jedem Fall lebenspraktische Regeln, aufgrund deren man abschätzt, was vorhersehbar ist, sowie eine Haltung, auf Grund deren man auf den Eintritt von Unvorhersehbarem gefasst bleibt und die einen überdies befähigt, sich mit Unabänderlichem abzufinden. Dies sind Dinge, die kulturspezifisch in literarischen und öfters noch in vorlitera­rischen Traditionen vermittelt werden. So steht der noch nicht quantifizierte Wahrscheinlichkeitsbegriff der Welt der Umgangssprache noch sehr nahe. Er ist weit davon entfernt, die dem Individuum begegnende Kontingenz zu reduzieren. Seine Funktion besteht darin, Orientierungshilfe im Umgang mit ihr zu geben. Nun ist es der neuzeitlichen Probabilistik bekanntlich gelungen, den Wahrscheinlichkeitsbegriff zu quantifizieren. Ohne Zweifel ist dadurch Kontingenz kalkulierbarer geworden. Es fragt sich indes, ob diese Kalkulier­ barkeit an Grenzen stößt, wenn ein personales Individuum von diesem Begriff im Umgang mit zukünftiger Kontingenz Gebrauch macht. Die Quantifizierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs hat gewiss die Entwicklung einer axiomatisierten mathematischen Theorie ermöglicht. Es ist aber bis heute Gegenstand eines Schulstreits geblieben, wie der Wahrscheinlichkeitsbegriff zu interpretieren ist und von welcher Art die Strukturen sind, die mit seiner Hilfe bezeichnet werden. Der mathematische Formalismus bleibt allerdings indifferent gegenüber jenem Streit, den die Experten unter sich austragen und für den sich bis jetzt noch keine Aussicht zeigt, durch eine Befriedung oder durch einen Kompromiss beigelegt zu werden. Während die Frequentisten als Vertreter eines „objektiven“ Wahrscheinlichkeits­ begriffs in der Wahrscheinlichkeit den Grenzwert einer relativen Häufigkeit sehen, verstehen ihn die „subjektiv“ orientierten Personalisten als das Maß

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eines graduell abstufbaren Glaubens, nämlich einer Erwartungshaltung, mit der eine Person zukünftigen kontingenten Ereignissen entgegensieht; eine Synthese verkörpert die Deutung, gemäß der die Wahrscheinlichkeit als auf eine relative Häufigkeit bezogener Erwartungswert zu verstehen ist. Es mag zunächst so scheinen, als würden die Personalisten die elegantere Lösung im Grundlagenstreit schon deswegen anbieten, weil sie die mit dem Begriff des Grenzwertes verbundenen Schwierigkeiten vermeiden und stattdessen bei einem nur graduell differenzierbaren subjektiven Faktum ansetzen. Der Grad, mit dem ein kontingentes Ereignis erwartet oder an sein Eintreten geglaubt wird, soll sich nach dieser Deutung durch rationales Wettverhalten der erwartenden oder glaubenden Person testen lassen. Eben dies ist jedoch eine sehr voraussetzungsvolle Annahme. Denn es ist die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einem rationalen Wettverhalten zu sprechen, wie dies bei den Vertretern der personalistischen Deutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs geschieht. Wetten mit sehr hohem Einsatz sind schwerlich rational; bei kleinen Einsätzen wird die Freude daran, am Spiel teilzunehmen, gegenüber dem Interesse am Ergebnis oft das Übergewicht haben. Wer eine Teilnahme an Wetten überhaupt für sinnvoll hält, tut dies auf der Grundlage einer Disposition, die längst nicht jeder Person eigen ist. Daher führen alle Versuche, lebenspraktische Entscheidungen in nicht ganz durchschaubaren Konfliktsituationen nach der Analogie zu Wettentscheidungen zu verstehen, immer nur zu Ergebnissen von eng begrenztem Erkenntniswert. Außerdem dürfte der Ansatz eines Erwartungsgrades oder eines Glaubensgrades eine Konstruktion zum Gegenstand haben, der im Selbstverständnis des personalen Individuums nichts zu entsprechen braucht. Natürlich ist niemand gehindert, das Konzept eines Erwartungsgrades als rein theoretische Größe einzuführen. Sinnvoller als der Ansatz einer graduell differenzierbaren Erwartung wäre jedoch der Ansatz einer unteilbaren Erwartung, die sich auf einen graduell differenzierbaren Inhalt als auf ihr intentionales Korrelat richtet. Die Erwartung von etwas, was graduell differenzierbar ist oder der entsprechende Glaube daran, ist schon kategorial von einer Erwartung verschieden, die als psychisches Faktum nach Grad oder Stärke differenziert wird. Es ist also gerade die intentionale Struktur der Erwartung, der die mit Erwartungsgraden arbeitende personalistische Deutung der Wahrscheinlichkeit nicht gerecht wird. Selbst dann, wenn sich diese Bedenken ausräumen ließen, befände sich der Personalist mit seiner Deutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gegenüber dem Frequentisten noch nicht im Vorteil. Das wird deutlich, sobald man die Frage nach der Genese des Erwartungsgrades mit der Absicht stellt, diesen Begriff für die konkrete Arbeit operabel zu machen. Denn hier zeigt sich, dass die mit der frequentistischen Deutung verbundenen Schwierigkeiten nur an eine andere Stelle verschoben worden sind. Wenn man den

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jeweiligen Erwartungsgrad nicht einfach als ein vorgegebenes psychisches factum brutum hinnehmen will, das keiner Rechtfertigung bedürftig ist, wird man nicht umhin können, die Frage nach seiner Genese und nach seiner Legitimation zu stellen. Gerade hier sieht man sich aber schließlich auf Erfahrungen, zumindest aber auf Vormeinungen hinsichtlich relativer Häufigkeiten kontingenter Ereignisse verwiesen. Das einzelne Ereignis, auf das sich die graduell fraktionierte Erwartung richten soll, wird auf diese Weise einer Gesamtheit von Ereignissen zugeordnet, für die eine bestimmte Verteilung relativer Häufigkeiten charakteristisch ist. Auch hier muss darauf verzichtet werden, über individuelle Fälle definitive Aussagen zu machen. Wenn jedenfalls die Annahme von graduell abstufbaren Erwartungshaltungen als psychischen Fakten überhaupt sinnvoll sein sollte, dann gewiss nur unter der Bedingung, dass solche Haltungen zugleich latente Annahmen über Häufigkeitsverteilungen repräsentieren. Eine Annahme, die sich auf derartige Verteilungen richtet, muss aber deswegen nicht selbst in ihrer Gegenständlichkeit eine diesen Verteilungen analoge Differenzierung aufweisen. Auch mit der personalistischen Deutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs wird daher der individuelle Einzelfall nicht erreicht. Denn auch hier wird der kontingente Einzelfall durch die Zuschreibung einer Wahrscheinlichkeit, wenngleich auf einem Umweg, einer möglichen Gesamtheit von nicht identifizierten Fällen zugeordnet. Die Hoffnung, statistisches Denken doch noch für die Bewältigung des individuellen Einzelfalles fruchtbar machen zu können, ist auch dort wirksam, wo der quantifizierte Wahrscheinlichkeitsbegriff beim Aufbau der normativen Entscheidungstheorie in Anspruch genommen wird. Diese Theorie unternimmt es, Formalismen auszuarbeiten, die dazu bestimmt sind, Handlungsentscheidungen zu optimieren, die unter Bedingungen getroffen werden müssen, unter denen nur eine probabilistische Einschätzung der für die Entscheidung relevanten, kontingenten Handlungsumstände, hingegen kein sicheres Wissen erreichbar ist. Das gilt jedenfalls für den wichtigsten Anwendungsbereich dieser Theorie, nämlich für die Entscheidungen unter Risiko. Die Theorie kann daher ihre Optimierungsaufgabe nur unter der von ihr nicht weiter zu prüfenden Voraussetzung lösen, dass dem Entscheidungssubjekt eine adäquate probabilistische Bewertung der Handlungsumstände gelingt. Der Formalismus der Entscheidungstheorie bedarf in jedem konkreten Anwendungsfall der Vorgabe einer Wahrscheinlichkeitsmatrix, in der die einschlägigen Einschätzungen des Entscheidungsträgers aufgelistet sind. Sie setzt diese Einschätzungen voraus und fragt weder nach ihrer Genese noch nach ihrer Legitimation. Solche Fragen muss jedoch stellen, wer nicht nur mit dem Formalismus der Theorie arbeiten, sondern aus ihrer Anwendung auch Nutzen ziehen will. Verlässliche Wahrscheinlichkeitswerte lassen sich aber nur erheben, wenn

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man sich an Häufigkeitsverteilungen orientieren kann, wie sie sich an geeigneten statistischen Gesamtheiten ablesen lassen. Dazu kommt aber noch etwas anderes. Mit den Mitteln der Theorie lässt sich nicht vorhersagen, ob sich die einzelne, auf ihrer Grundlage getroffene individuelle Entscheidung nachträglich als die beste Lösung auch dann noch erweisen wird, wenn die Handlungsumstände bekannt sind. Denn sie will ja gerade Entscheidungen optimieren, die unter einem Risiko, nämlich unter dem Risiko einer nur probabilistischen Bewertung der Umstände getroffen werden müssen. Selbst wenn die in die Wahrscheinlichkeitsmatrix eingehenden Bewertungen objektiv gut begründet sind, kann eine Entscheidung getroffen werden, die sich im Rückblick als ungünstig herausstellen wird. Auch dies gehört zu dem Risiko, unter dem solche Entscheidungen getroffen werden. In Wahrheit lässt sich daher nur im Blick auf eine statistische Gesamtheit von unter vergleichbaren Randbedingungen zu treffenden Entscheidungen behaupten, dass die Theorie eine optimale Entscheidung empfiehlt. Zumindest ideell betrachtet die Theorie die einzelne Entscheidung immer im Rahmen einer Gesamtheit gleichartiger Entscheidungen. Optimiert wird in Wirklichkeit immer nur eine derartige ideelle Entscheidungsgesamtheit. Deshalb kann die Entscheidungstheorie auch nur dort Hilfestellung geben, wo es um Handlungen geht, die wiederholbar sind, wenn schon nicht in der Realität, so doch wenigstens in der Idee. Wo diese Bedingung nicht erfüllt ist, bleibt der Nutzen sehr begrenzt, den man sich von der Anwendung der Theorie versprechen kann. Das bestätigen auch die Beispiele, mit denen die Entscheidungstheoretiker den Formalismus ihrer Theorie zu exemplifizieren pflegen. Es sind fast immer Entscheidungen des privaten oder des geschäftlichen Alltags, die hier das Veranschaulichungsmaterial abgeben. Derartige Entscheidungen sind allemal wiederholbar. Ohne Zweifel kann auch mit Hilfe der Entscheidungstheorie Kontingenz reduziert werden. Das gelingt aber immer nur insoweit, als die kontingente Einzelentscheidung als Element einer statistischen Gesamtheit betrachtet wird. Für das mit dem Zwang zur Entscheidung belastete Individuum ist sie deswegen nur in dem Maße von Nutzen, in dem es dem Entscheidungssubjekt möglich ist, sich von der jeweils einzelnen, individuellen Entscheidung und ihrem Inhalt zu distanzieren. Distanzierung impliziert in letzter Instanz auch immer die Bereitschaft, Identifikationsverzicht zu üben. Nur aus Entscheidungen jedoch, mit deren Inhalten sich das Entscheidungs­subjekt nicht identifiziert, geht dieses Subjekt unverändert als dasselbe hervor. Auch anhand des Phänomens der Gefahr lässt sich die Situation des mit Kontingenzen konfrontierten Individuums beleuchten. Eine Gefahr, die einem Individuum droht, bezieht sich immer auf die Möglichkeit eines schädigenden Ereignisses. Dabei darf aber die Möglichkeit, der Gefahr zu entgehen, nicht ganz ausgeschlossen sein. Eine Gefahr droht außerdem stets

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in der Zukunft und aus der Zukunft. Ereignisse, deren Eintreten oder Eingetretensein bereits gewiss ist, haben nicht den Charakter von Gefahren. Spricht man beispielsweise von einer Lebensgefahr, so bezieht man sich auf die Möglichkeit, unter ganz bestimmten Umständen den Tod zu erleiden. Mit der Rede von einer Lebensgefahr kann dagegen nicht gut die Tatsache intendiert werden, dass der Tod jedem individuellen Leben als unausweichliches Ende mit absoluter Gewissheit bevorsteht. Denn jede Gefahr ist auch durch die niemals ganz aufhebbare Ungewissheit charakterisiert, die sich auf das Eintreten des schädigenden Ereignisses bezieht. Für das Phänomen der Gefahr ist es indessen irrelevant, ob diese Ungewissheit naturgesetzlich begründet ist oder ob sie nur die Grenzen der Information anzeigt, die dem von der Gefahr bedrohten Individuum zum jeweiligen Zeitpunkt und unter den jeweiligen Bedingungen zur Verfügung steht. Die mit jeder Gefahr verbundene Ungewissheit lässt sich differenzieren, wenn Wahrscheinlichkeitswerte zugeordnet werden können. In diesem Fall wird aus einer Ungewissheit ein Risiko. Das mit einer individuellen Situation verbundene Risiko entspricht indessen einer relativen Häufigkeit, wenn man den Einzelfall in einer statistischen Gesamtheit aufgehen lässt. In Bezug auf den Einzelfall lässt sich die Ungewissheit dennoch nicht neutralisieren. Ein Risiko mag sich auch noch so exakt probabilistisch quantifizieren lassen, – von Interesse bleibt doch in erster Linie, ob das drohende, individuelle Ereignis eintreten wird oder nicht. Das ist eine einfache Alternative, die als solche durch keine Probabilistik relativiert werden kann, schon gar nicht, nachdem die Entscheidung gefallen ist. Im Bewusstsein drohender Gefahren wird Kontingenz für ein selbstbewusstes Individuum in einer sehr elementaren Gestalt erfahrbar. Jeder Mensch wird von Kind an in Regeln eingewöhnt, die die Einschätzung von Gefahren und den Umgang mit ihnen zum Gegenstand haben. Sie haben es mit der vorquantitativen Abschätzung nicht nur des Ausmaßes des zu befürchtenden Schadens, sondern auch der Wahrscheinlichkeit zu tun, mit der der Eintritt des entsprechenden Ereignisses droht. Es sind Regeln, die oftmals der gänzlichen Verdrängung von Gefahren eines sehr geringen Wahrscheinlichkeitsgrades Vorschub leisten. Jede Ordnung, unter der Menschen zusammenleben, kennt solche Regeln, deren Beachtung sie den Individuen empfiehlt oder sogar für sie verbindlich macht. Jede derartige Ordnung erwartet überdies von ihren Mitgliedern, dass sie bestimmte Gefahren auf sich nehmen. Zwar gehört es zu den elementaren Zielen eines jeden Individuums, Gefahren aus dem Wege zu gehen, sobald sie als solche erkannt worden sind. Dies lässt sich jedoch immer nur in Bezug auf einzelne, bestimmte Gefahren erreichen. Auf das Ganze der Lebenspraxis eines Individuums bezogen wäre ein solches Vorhaben utopisch. Die Vielfalt der Bedrohungen, mit denen jedes Individuum ständig konfrontiert

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wird, lässt es nicht zu, schlechthin allen Gefahren zu entgehen. Das gehört zu den elementaren Lebenserfahrungen einer jeden mit der Welt der Kontingenz konfrontierten Person. Ihr bleibt auch im günstigsten Fall immer nur die Möglichkeit, Gefahren nach Wahrscheinlichkeit, Größe und Schweregrad gegeneinander abzuwägen und auf dieser Grundlage eine Alternativentscheidung zu treffen. Nicht selten nimmt sogar ein sicheres Übel in Kauf, wer einer bestimmten Gefahr entgehen will. Einschlägige Theorien können bei solchen Entscheidungen gewiss Hilfestellung leisten, wenn sie dazu anleiten, Informationen zu verarbeiten. Die Entscheidung selbst können sie nicht ersetzen. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass manche Gefahren auf eine gänzlich inadäquate Weise bewertet werden. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Ursachen. Zu ihnen gehört die bei den meisten Menschen nur sehr wenig entwickelte Fähigkeit, ohne einschlägige Schulung mit Wahrscheinlichkeiten auf eine der Sache angemessene Weise umzugehen. Der naive und unkontrollierte Umgang mit Wahrscheinlichkeiten verführt allzu leicht zu der Hoffnung, im konkreten Fall gleichsam doch noch durch die Maschen des statistischen Netzes schlüpfen zu können. Das führt oft zu einer Vernachlässigung von Gefahren geringer Wahrscheinlichkeit. Die Realitätswahrnehmung ist, unterstützt durch die Sprache und ihre Grundstrukturen, auf die Feststellung deterministischer Zusammenhänge in weitaus höherem Maße eingerichtet als auf den sachgerechten Umgang mit stochastischen Gesetzlichkeiten. So kann im Umgang mit Gesamtheiten von statistischen, nichtidentifizierten Individuen nicht selten die Realitätswahrnehmung verzerrt werden. Dafür gibt es ein untrügliches Indiz. Ein Massenunglück, in das eine große Anzahl von Menschen verwickelt ist, kann immer der Anteilnahme einer breiten Öffentlichkeit sicher sein. Denn hier hat man es immer mit einer Gruppe von Individuen zu tun, die sich durch leicht zugängliche Merkmale klassifizieren und zusammenfassen lassen, – und sei es auch nur durch die gemeinsame Nähe zum Ort der Katastrophe. Die Summe des Unglücks, zu dem beispielsweise der Straßenverkehr insgesamt führt, wird dagegen mit einer erstaunlichen Gelassenheit zur Kenntnis genommen, obwohl sie, was die Zahl der Opfer anbelangt, die meisten Massenkatastrophen weit hinter sich lässt. Doch in diesem Fall handelt es sich um Opfer, die für den Betrachter als nicht identifizierte Individuen in der statistischen Gesamtheit der Verkehrsteilnehmer überhaupt gar nicht greifbar sind und deshalb in dieser Gesamtheit gleichsam aufgehen. Für die Bewältigung der in Gestalt von Gefahren drohenden Kontingenz haben sich Techniken besonderer Art herausgebildet. Dazu gehören beispielsweise die detaillierten und randscharf anwendbaren Regeln des Geschäftslebens, die in jedem Fall eine eindeutige Entscheidung darüber ermöglichen, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen im Güter­

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verkehr die „Gefahr“ von dem einen auf den anderen Geschäftspartner übergeht. Dazu gehören vor allem aber die Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, Schäden, sind sie einmal eingetreten, zu kollektivieren. Dies gelingt freilich nur dort, wo sich das Individuum von dem Schaden, der es ereilt, deswegen distanzieren kann, weil er nicht seine Identität betrifft und außerdem nichts Unvertretbares oder Irreversibles berührt. Der Kollektivierung von Schäden dienen unterschiedliche Solidargemeinschaften, wie sie von der Rechtsentwicklung hervorgebracht worden sind. Steht eine verlässliche Statistik zur Verfügung, die über die relative Häufigkeit der Schadensfälle Aufschluss gibt, so ist die wichtigste Voraussetzung erfüllt, unter der sich ein Versicherungswesen etablieren lässt. Lässt sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadensereignisses und zugleich die Größe und die Schwere einer Gefahr beziffern, so kann man die Summe aller zu erwartenden Schäden mit einer umso höheren Verlässlichkeit abschätzen, je größer die Anzahl der Individuen ist, die mit ihren Gefahren und Risiken in die Versichertengemeinschaft eintreten. Gerade weil keines dieser Individuen im voraus mit Sicherheit wissen kann, ob oder wie es von einer drohenden Gefahr ereilt werden wird, kann es auf die Kompensation eines Schadens für den Fall seines Eintritts rechnen. Die Kontingenz eines möglichen Schadens, mit der es konfrontiert ist, bewältigt es, indem es selbst mit seinem Eintritt in die Versichertengemeinschaft unbeschadet seiner Fähigkeit zur Selbstidentifikation zugleich die Rolle eines statistischen, zunächst nicht identifizierten Individuums übernimmt und sich von dem Schaden, der es treffen könnte, zugleich distanziert. Der Widerstand, mit dem das moderne Versicherungswesen in seiner Entwicklung gelegentlich zu kämpfen hatte, wurde manchmal auch durch die Einsicht in eben diese Zusammenhänge genährt. Das sich auf das Versicherungswesen einlassende Individuum mutet sich jedenfalls zu, zumindest in Bezug auf bestimmte Kontingenzen seine eigene Identität gleichsam einzuklammern. Eine derartige Kontingenz­ reduktion ist freilich selbst in der Fiktion immer nur dort möglich, wo es um existenzferne Kontingenzen geht, die vertretbare Dinge betreffen. Nur von ihnen kann sich das personale Individuum distanzieren. Anders verhalten sich die Dinge dort, wo ein Individuum mit existenz­ nahen Kontingenzen konfrontiert wird. Zu ihnen gehören beispielsweise alle die Kontingenzen, die mit den von der Existenzphilosophie so genannten Grenzsituationen wie Schuld, Leiden oder Tod im Zusammenhang stehen. Von ihnen kann sich das Individuum schlechterdings nicht distanzieren, da sie den Kern seiner Person und damit zugleich seine Identität berühren. Deshalb kann es sich hier auch nicht vertreten lassen. Natürlich kann ein außenstehender Beobachter auch hier die Position des Statistikers einnehmen. Dem personalen Individuum selbst ist dies noch nicht einmal in der Fiktion möglich, weil es in diesen Situationen von sich und von seiner

Das Individuum und seine Identifizierung in der Welt der Kontingenz 

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Identität nicht absehen kann. Es sind gerade die im emphatischen Sinn des Wortes schicksalhaften Ereignisse, angesichts deren die Aufgabe der Kontingenzbewältigung für das Individuum eine besondere Härte zeigt. Der Versuch einer Rücknahme von Kontingenz in statistische Gesamtheiten, in vielen trivialen Fällen sonst so erfolgreich, findet hier keinen Ansatzpunkt. Denn der Statistiker muss das einzelne Ereignis zugleich als nicht identifiziertes Element einer Gesamtheit ansehen können. Daher kann und muss der Statistiker davon absehen, welches Individuum mit dem in Frage stehenden Ereignis konfrontiert wird. Ihm ist dergleichen selbst im Umgang mit existenznahen Kontingenzen erlaubt. Wenn dies jedoch nicht für das betroffene Individuum selbst gilt, so deswegen, weil es aus der Konfrontation mit existenznahen Kontingenzen nicht als dasselbe hervorgeht, das es zuvor war. Die Selbstidentifikation, zu der ein personales Individuum befähigt ist, lässt sich nämlich auch im Spiegel jener existenznahen Kontingenzen leisten. Dem Zwang, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, kann es sich nicht entziehen. In solchen Auseinandersetzungen wird ein personales Individuum zu dem, was es jeweils ist. Deshalb sind es gerade existenznahe Kontingenzen, die ihm eine Entwicklung ermöglichen, in deren Verlauf es das bildet, was man seinen Charakter zu nennen pflegt. In ihm gründet seine Unverwechselbarkeit und seine Einmaligkeit, auf die hin es sich selbst versteht. Einem solchen Individuum ist eine Identität eigen, die es selbst mitgestaltet hat. In einem solchen Fall – und nur in einem solchen Fall – sprechen wir von einer Individualität. In einer Welt, die sie nicht mit existenznahen Kontingenzen konfrontieren würde, könnte sie sich schwerlich entwickeln. Mit jedem bewusst geführten menschlichen Leben ist die Erfahrung von Kontingenz und die Verarbeitung dieser Erfahrung verbunden. Ein bewusstes Leben wird stets innerhalb eines Zukunftshorizontes geführt, der durch die Erwartung von Regelmäßigkeiten und die Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten vorstrukturiert ist, für das Individuum außerdem aber auch mit Hoffnungen und Befürchtungen besetzt ist, die sich auf Kontingentes beziehen, das keine sichere Voraussage erlaubt. Stets muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass Unvorhersehbares eintritt. Dergleichen kann sogar – eine besonders eindrucksvolle Erfahrung von Kontingenz – als eine Folge des eigenen Handelns und der eigenen Entscheidungen resultieren. Wenn ein personales Individuum solche Erfahrungen verarbeitet, kann es sich in vielen Fällen von den ihm begegnenden Kontingenzen distanzieren, beispielsweise dadurch, dass es die Kontingenzen und manchmal sogar sich selbst in statistische Gesamtheiten zurücknimmt, die zwar Regelmäßigkeiten erkennen lassen mögen, Aussagen oder gar Voraussagen über den individuellen Fall dagegen nicht mehr erlauben. Für ein der Selbstidentifikation fähiges Individuum gibt es aber in jedem Fall existenznahe Kontingenzen,

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von denen es sich schlechterdings nicht distanzieren kann, weil sie in seine Identität involviert sind. Jede Ordnung, in der personale Individuen mit ihresgleichen zusammenleben, bietet Muster für den Umgang mit existenzfernen wie mit existenznahen Kontingenzen an. Der Versuch einer randscharfen und zugleich überzeitlich verbindlichen Abgrenzung beider Kontingenztypen stößt indes auf Schwierigkeiten. Denn oft sind es Vorgaben der jeweiligen kulturellen Tradition, die den Rahmen abstecken, innerhalb dessen dem Individuum Distanzierungen und Identifikationen ermöglicht, aber andererseits auch zugemutet werden. Daraus folgt aber gerade nicht, dass die Abgrenzung beider Bereiche gänzlich Sache der Willkür wäre. Das Bedürfnis, erfahrene Kontingenz durch Reduktion zu bewältigen, gehört zu den anthropologischen Konstanten. Solche Reduktionen können sich an der Vorstellung einer Vorsehung oder einer Fügung durch personale oder anonyme Mächte orientieren, aber auch an der Vorstellung einer verborgenen, alles Geschehen in der Welt bestimmenden Gesetzlichkeit. Eine Reduktion leisten aber auch alle Haltungen und Muster der Lebenspraxis, die das Individuum dazu bringen, sich von der ihm begegnenden Kontingenz zu distanzieren und sich durch sie nicht betreffen zu lassen. Dazu kommen in der neueren Zeit die Techniken, die dazu bestimmt sind, Kontingenz mit Hilfe stochastischer Denkmethoden zu bewältigen. Der Erfolg aller dieser Reduktionstechniken sollte jedoch nicht vergessen lassen, dass stets auch ein positives Bedürfnis nach Kontingenz wirksam ist, das dem Bedürfnis nach Kontingenzreduktion die Waage hält. Dieses Bedürfnis bricht sich überall dort Bahn, wo ein Übermaß an Reduktion, an Regle­mentierung und Verwaltung des Lebens und an Neutralisierung der Erfahrung naturgegebener Kontingenzen dazu zwingt, durch die unterschiedlichsten Arten von Spielen, Lotterien und anderen Zufallsgeneratoren dem Leben wenigstens als Surrogat das Maß an Unüberschaubarkeit zu garantieren, dessen es bedarf. Bei der Führung und der Planung eines bewussten Lebens kommt niemand umhin, immer wieder von Techniken der Kontingenzreduktion Gebrauch zu machen. Das Leben eines personalen Individuums ist andererseits aber auch auf ein Stück Unvorhersehbarkeit und Ungeplantheit, also auf Kontingenz angewiesen, wenn es sich selbst nicht aufgeben will. Kontingenzreduktion und Kontingenzbedürfnis, – vermutlich handelt es sich hierbei um gleichrangige, wenn auch gegenstrebige Tendenzen, die erst in ihrem Zusammenspiel mithelfen, die Individualität eines Individuums zu konstituieren. Zuerst erschienen in: Denken der Individualität. Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann und Stefan Majetschak. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1995, S. 3–25.

Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte Veritas filia temporis: im Topos von der Wahrheit als einem Kind der Zeit meldet sich nicht selten eine Skepsis zu Wort, die Skepsis derer nämlich, die sich redlich um die Erkenntnis einer überzeitlichen Wahrheit bemüht haben und immer wieder die Erfahrung machen mussten, an die Zeit gebunden zu bleiben, von der aus sie diese Bemühungen unternommen haben. Das bedeutet durchaus nicht, dass solche Bemühungen immer ergebnislos bleiben müssten. Im Gegenteil: die Suche nach der Wahrheit hat im Laufe unserer Geschichte reiche Ergebnisse gezeitigt. Doch diese Ergebnisse scheinen, genau besehen, jener Stabilität zu ermangeln, die zu suchen und zu finden man ausgezogen war. Ein überreicher Erfahrungsschatz stellt einem vor Augen, wie es zum anscheinend unabwendbaren Schicksal jeder philo­ sophischen und jeder wissenschaftlichen Erkenntnis gehört, eines Tages überholt zu werden. Diese Überholung kann sehr unterschiedliche Gestalten annehmen: Was als wahr gegolten hat, wird als Irrtum entlarvt, ohne dass in jedem Fall eine neue Einsicht an die Stelle der überwundenen Auffassung treten müsste; eine Einsicht, die zunächst unbedingte Wahrheit zu repräsentieren scheint, wird von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht und repräsentiert danach nur noch ein Teilgebiet oder einen Teilaspekt einer umfassenderen Wahrheit; Ergebnisse, die unter der Voraussetzung bestimmter Paradigmen erzielt wurden, ändern ihren formalen Status oder sie werden sogar gleichsam heimatlos, wenn sich die Suche nach Erkenntnis an anderen, fruchtbarer erscheinenden Paradigmen zu orientieren beginnt; der wirkungsvollste Überholungsprozess jedoch findet dort statt, wo eine wirkliche oder vermeintliche Einsicht schlicht in Vergessenheit gerät, weil diejenigen aussterben, die an ihr Interesse nehmen. Die Auskunft, gemäß der die Wahrheit ein Kind der Zeit ist, scheint jedenfalls geeignet zu sein, derartige Erscheinungen zu erklären. Die in ihr sich ausdrückende Skepsis muss die wissenschaftliche Arbeit durchaus nicht lähmen. Es ist zwar die Frage, ob es möglich ist, Wahrheit zu intendieren, wenn sie nicht als überzeitliche Wahrheit intendiert wird. Andererseits steht es aber jedem frei, auch in der wissenschaftlichen Arbeit auf die Orientierung am Leitbild einer übergeschichtlichen Wahrheit ganz zu verzichten und in der eigenen Tätigkeit nur noch eine Antwort auf Forderungen des Tages zu sehen. Niemand kann leugnen, dass der Wissenschaftsbetrieb, wie er heute

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gewiss nicht zufällig genannt wird, längst in die Geschäfte des Tages inte­ griert ist. Der Effizienz des modernen Wissenschaftsbetriebs kann die Skepsis gegenüber der Möglichkeit zeitenthobener Wahrheit jedenfalls nichts anhaben. Man kommt nicht weit, wenn man die Skepsis nach einer bewährten Regel auf sich selbst richtet und den die Wahrheit auf die Zeit reduzierenden Skeptiker mit der Frage nach dem Status seiner eigenen These in die Enge zu treiben sucht. Denn nur der noch wenig gewitzte Skeptiker lässt sich durch die Unterstellung in Verlegenheit bringen, er erhebe mit seiner Annahme der Zeitgebundenheit der Wahrheit selbst einen überzeitlichen Wahrheitsanspruch. Der wahre Skeptiker wird sich ohnehin des Urteils enthalten und seine Aussagen, wenn er auf sie schon nicht verzichten kann, sofort relativieren. Er fragt und zweifelt; von Behauptungen und Urteilen macht er höchstens dann Gebrauch, wenn sie ihm ein geeignetes Mittel zu sein scheinen, die Selbstsicherheit seines jeweiligen Partners zu erschüttern. Ohnehin versteht sich der Skeptiker nicht von einer Lehrmeinung, sondern von seiner Haltung her, die er gegenüber allen Wahrheitsansprüchen einnimmt. Diese Haltung kann sich durchaus einmal in einem Satz ausdrücken, ohne dass sie auf eine derartige Ausdrucksmöglichkeit angewiesen wäre. Man greift jedoch zu kurz, wenn man nur dem Skeptiker das Recht zubilligt, sich auf den Topos von der Wahrheit als einem Kind der Zeit zu berufen. Denn die Wahrheit wird mitsamt ihrem Geltungsanspruch nicht in jedem Fall relativiert, wenn man ihr einen Platz in der Geschichte anweist. Relativiert wird ein solcher Geltungsanspruch nur dann, wenn er auf eine Größe reduziert werden soll, die selbst nicht wahrheitsfähig ist. Anders liegen die Dinge daher dann, wenn der Bezugspunkt der Reduktion selbst eine wahrheitsfähige Größe ist. In diesem Fall wird die Wahrheit keineswegs zu einem bloßen Schein herabgesetzt. Im Abkömmling wird dann nämlich nur für alle manifest, was auf einer anderen Ebene bereits in verborgener Weise präsent ist. Man kann den Topos von der Wahrheit als einem Kind der Zeit auch so verstehen, dass man Zeit und Geschichte selbst zu wahrheitsfähigen Gebilden erhebt: Die Zeit würde dann, wenn sie Wahrheit hervorbringt, nur etwas erzeugen, was ohnehin bereits in ihr angelegt ist. Eine ähnliche Relation liegt im übrigen auch dem Topos „Historia magistra vitae“ zugrunde. Wer die Geschichte als Lehrmeisterin für das Leben in Anspruch nimmt, spricht ihr damit die Fähigkeit zu, eine eigene Gestalt von Wahrheit zu verkörpern. Das gilt auch dann, wenn die Geschichte nicht in eigenem Namen lehrt, weil sie eines Interpreten bedarf, der sie auf das hin befragt, was in ihr und von ihr zur Lehre dienen kann. Die Frage nach dem Verhältnis der Wahrheit zur Zeit stellt sich in zugespitzter Gestalt in der Philosophie selbst. Denn gerade die Philosophie unterhält schon seit langem zu ihrer Geschichte eine Beziehung, für die es

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in keiner anderen Disziplin ein vergleichbares Beispiel gibt. Wer sich heute auf ein Studium der Philosophie einlässt, muss einen großen Teil seiner Arbeitskraft der Geschichte der Philosophie widmen. Die Arbeit an den Autoren und an den Texten der Vergangenheit kann manchmal einen Aufwand erfordern, der die Philosophie entgegen ihrem Selbst­verständnis als eine historische Disziplin erscheinen lassen mag. Ein solches ­Verhältnis zur Vergangenheit finden wir in keinem anderen Wissenschaftsbereich, noch nicht einmal in den historischen Disziplinen selbst. Für die Geschichts­ wissenschaften ist die Vergangenheit der ihnen zugeordnete Gegenstandsbereich; nur ausnahmsweise befassen sie sich auch einmal mit der Geschichte ihrer selbst als wissenschaftlicher Disziplinen. Wer hingegen Wissenschaftsgeschichte treibt, muss sich dessen bewusst sein, dass die Ergebnisse seiner Arbeit nicht in die Wissenschaften selbst eingehen, deren Geschichte er erforscht. Mathematik und Geschichte der Mathematik sind zwei Disziplinen, die enge Beziehungen zueinander unterhalten können, deren Kompetenzbereiche sich aber trotzdem randscharf gegeneinander abgrenzen lassen. Ähnlich verhalten sich die Dinge in Bezug auf fast alle anderen Wissenschaften. Nur in der Philosophie will eine derartige Abgrenzung nicht gelingen. Selbst dort, wo man der Versuchung erliegt, ein letztbegründendes Wissen von einem Nullpunkt aus aufbauen zu wollen, stellt sich bald das Bedürfnis ein, eine Beziehung zur Vergangenheit herzustellen. Damit ist die Frage gestellt, welchen Zweck die Philosophie verfolgt, wenn sie ihre Anstrengungen zu einem guten Teil der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit widmet. Ist sie am Ende selbst eine historische Disziplin? Ist die Zuwendung zur Vergangenheit Ausdruck von Verlegenheit oder Skepsis? Ist die Geschichte der Philosophie eine der Teildisziplinen der Philosophie? Trägt sie zu den Erkenntnisbemühungen der Philosophie selbst etwas bei? Wer derartige Fragen beantworten will, darf nicht übersehen, dass das aktive Interesse der Philosophie an ihrer Vergangenheit eine verhältnismäßig junge Errungenschaft ihrer Geschichte ist. Noch Kant orientierte sich zunächst an seinen Zeitgenossen und an seinen unmittelbaren Vorgängern. Die eigentliche Vergangenheit der Philosophie war für ihn von sekundärer Bedeutung. Selbst die gelegentliche Berufung auf die „Alten“ brachte allenfalls Orientierungspunkte zur Charakterisierung von Grundpositionen ins Spiel, ohne damit zu einem Studium ihrer Texte zu zwingen. Gewiss bildet die „Geschichte der reinen Vernunft“ das letzte Stück im Aufbau der „Kritik der reinen Vernunft“, ein Stück freilich, das Kant nur skizziert, aber nicht ausgeführt hat. Dennoch greift die Philosophiegeschichte nicht in den Kernbereich der philosophischen Arbeit ein. Der Gang der „Prolegomena“ macht dies deutlich: „Es gibt Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie selbst ihre Philosophie ist. Für diese sind gegenwärtige Prolegomena nicht geschrieben. Sie müssen warten, bis

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diejenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind, ihre Sache werden ausgemacht haben, und alsdann wird an ihnen die Reihe sein, von dem Geschehenen der Welt Nachricht zu geben.“1 Zwar verbleibt dem Philosophiehistoriker immer noch eine wichtige Aufgabe, wenn er dafür verantwortlich ist, die Ergebnisse der philosophischen Arbeit zu sammeln, gleichsam zu notifizieren und einem größeren Publikum zu vermitteln. An der eigentlichen Arbeit der Philosophie nimmt er jedoch nicht teil. Er erfüllt letztlich doch nur eine Aufgabe von sekundärer Bedeutung, weil er nicht zu denen gehört, „die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind“. Diesem Leitbild gemäß nimmt die Philosophie an ihrer Geschichte allenfalls ein akzidentelles Interesse. Der Philosophiehistoriker überschreitet die ihm gezogenen Grenzen, wenn er sich zu denen gesellt, „denen die Geschichte der Philosophie selbst ihre Philosophie ist“. Hier lässt sich der abschätzige Ton nicht überhören, der die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie nur als eine Kompensation des Unvermögens zu eigentlicher philosophischer Arbeit erscheinen lässt. Zudem läuft man Gefahr, sich ablenken zu lassen, wenn man der Geschichte ein zu großes Interesse entgegenbringt. So ist denn auch Kants Warnung zu verstehen: „Zwar ist die Belesenheit in den alten Schriften zu empfehlen, aber dabei muß man nicht den Weg des Nachdenkens verlassen.“2 Ein Kompensationsphänomen kann die Beschäftigung mit ihrer Geschichte aber auch dann sein, wenn sie aus einer Skepsis resultiert, die die Philosophie gegenüber ihren eigenen Wahrheitsansprüchen entwickelt. Hat sie kein Vertrauen mehr, die von ihr in ihrer systematischen Arbeit erstrebten Resultate auch wirklich erzielen zu können, so kann die Beschäftigung mit ihrer Geschichte ein Refugium für diejenigen werden, die diese Geschichte bereits an einem Endpunkt angelangt sehen. Eine derartige Konsequenz ist beispielsweise von Wilhelm Dilthey gezogen worden. Seiner Diagnose des durch das Heraufkommen der neuzeitlichen Wissenschaft eingeläuteten Endes der Metaphysik ist die allgemeine Zustimmung aus guten Gründen versagt geblieben. Denn gerade inmitten dieser Wissenschaft werden die alten Fragen der Metaphysik aufs neue präsentiert – wenngleich oft in einem ganz neuen Gewand. Die These vom Ende des Zeitalters der Metaphysik konnte trotzdem eine Optik begünstigen, die die Philosophie der Vergangenheit nur noch als ein Epiphänomen betrachtet. Ihre Wahrheitsansprüche werden eingeklammert, wenn man in ihnen nur noch einen Ausdruck von Weltanschauungen und damit letztlich Ausdrucksformen des Lebens sieht, als die sie dann vom Philosophiehistoriker gedeutet werden sollen. Für ihn erscheint dann dieser Wahrheitsanspruch als Element einer 1 2

Akad.-Ausg. IV 255. XXIV 643.

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Selbsttäuschung derer, die ihn erheben, weil für ihn die Philosophie der Tradition Lebenserscheinungen nur ausdrückt, aber nicht zu ihrem Gegenstand macht. Da das Leben mitsamt seinen Erscheinungsformen außerhalb jeder Wahrheit steht und selbst keine wahrheitsfähige Größe darstellt, kann der Historiker die Wahrheitsfrage hinsichtlich seiner Objekte auf sich beruhen lassen, zumal da diese Objekte für ihn lediglich der Ebene des bloß Faktischen angehören. Die Wahrheitsfrage wird für ihn nur noch in Bezug auf die Aussagen virulent, die er selbst über die Fakten macht und die er mit seinen Methoden zu begründen sucht. Natürlich enthält die dieser Einstellung zugrunde liegende Philosophie des Lebens selbst wiederum einen Wahrheitsanspruch, wenngleich in Gestalt einer Schwundstufe. Immerhin war dieser Anspruch stark genug, um auch die Lebensphilosophie in die Kontinuität der philosophischen Diskussion einzufügen und sie selbst schließlich als eine der Gestalten der ewigen Wiederkehr der Metaphysik erscheinen zu lassen. Doch der Bruch mit einer Tradition war von je her auch in der Philosophie eines der wirkungsvollsten Mittel, diese Tradition fortzuentwickeln und sich ihr damit einzureihen. Keine der beiden hier erwähnten Positionen lässt freilich die Philosophie­ geschichte als integralen Bestandteil oder als Medium der Philosophie selbst erscheinen. Mag sie ein Notbehelf für die sein, die selbst aus den Quellen der Vernunft zu schöpfen nicht fähig oder nicht willens sind, oder mag sie als Teildisziplin der sich mit dem Leben in seinen vielfältigen Erscheinungsformen befassenden, historisch orientierten Geisteswissenschaften betrieben werden, – in beiden Fällen bleibt sie ein Surrogat. Von keiner der beiden Positionen aus lässt sich der Rang legitimieren, den man der Philosophiehistorie heute zumeist überall dort einräumt, wo man mit ihr nicht lediglich als mit einem Stück jener Geistesgeschichte umgeht, die es mit Ausdrucksphänomenen, aber nicht mit im strengen Sinn wahrheitsfähigen Gebilden zu tun hat. Gibt es Positionen, unter deren Voraussetzung der Rang der Philosophiehistorie als echter Teildisziplin der Philosophie legitimationsfähig wird? Philosophiegeschichte kann man als pragmatische Geschichte betreiben. Das geschieht dort, wo man sich des Besitzes von Wahrheit sicher zu sein glaubt und von seiner eigenen Position aus die Vergangenheit beurteilt. Diese Vergangenheit wird vor allem daraufhin untersucht, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen die einzelnen Bestandteile der Wahrheit zum ersten Mal auftauchen und wie sie verarbeitet werden. Die Geschichte wird auf diese Weise als bloße Vorgeschichte behandelt. Es sind vor allem die naiveren Spielarten der Wissenschaftshistorie, die an einem Modell orientiert sind, gemäß dem der geschichtliche Prozess immer von seinen Resultaten her gedeutet wird. Pragmatische Geschichte kann niemals auf teleonome Begriffsbildungen verzichten, mögen diese lediglich formale Funktionen zu

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erfüllen haben oder mögen mit ihrer Hilfe dem historischen Prozess Triebkräfte unterstellt werden, die ihm die Richtung weisen. Pragmatisch orientierte Bearbeitungen der Philosophiegeschichte mögen bisweilen gewiss Gewaltsamkeiten aufweisen. Gegenüber anderen Behandlungsarten zeichnen sie sich aber dadurch aus, dass sie den von jeder Philo­ sophie erhobenen Wahrheitsanspruch ernst nehmen. Die Philosopheme der Vergangenheit werden nicht als Ausdrucksphänomene auf ihnen vermeintlich zugrunde liegende, nicht wahrheitsfähige Strukturen reduziert, sondern sie werden der Bivalenz, nämlich der Alternative gewürdigt, wahr oder falsch sein zu können. Hier fragt sich allerdings, welche Art von Interesse eine so betrachtete Geschichte auf sich ziehen kann. Wer im Besitz der Wahrheit zu sein glaubt, wird der Vergangenheit höchstens noch ein randständiges Interesse entgegenbringen, weil er in ihr doch nur das findet, was ihm die Gegenwart ohnehin auf unmittelbarere Weise darbietet. Insofern bleibt der Pragmatist dem die Wahrheitsfrage einklammernden, die philosophischen Doktrinen nur als Fakten behandelnden Historiker auch wieder unterlegen. Denn dieser wird darauf aus sein, in der Vielgestaltigkeit der von ihm nur gegenständlich aufgefassten historischen Welt immer neue Entdeckungen zu machen. Der Anhänger der pragmatischen Geschichte mag der Beschäftigung mit der Vergangenheit vielleicht unter didaktischen Gesichtspunkten Nutzen abgewinnen, vorausgesetzt, das historische Material ist zuvor schon aufbereitet worden. Im Prinzip kann er jedoch von der Geschichte absehen, wenn er in ihr vor allem das sucht und findet, was er ohnehin schon aus anderen Quellen zu kennen glaubt. Die Wahrheit ist für ihn ein Kind der Zeit daher nur insofern, als sie sukzessive gefunden und erarbeitet worden ist. Die so betrachtete Geschichte hat für die Philosophie selbst nur noch akzidentelle Bedeutung. Die Geschichte kann für die Philosophie dann eine andere Bedeutung gewinnen, wenn sie sich das Ziel zu setzen vermag, nicht nur über ihre Geschichte, sondern vor allem auch aus ihr und von ihr etwas zu lernen. Die Philosophiehistorie könnte als echte Teildisziplin der Philosophie selbst anerkannt werden, wenn die Geschichte nicht nur Gegenstand des Interesses ist, sondern sich auch als Wahrheitsquelle in Anspruch nehmen lässt. In diesem Fall hätte sie einen Rechtstitel auf den Platz, den sie heute in der Diskussion und vor allem im akademischen Studium de facto längst einnimmt. Damit ist dann aber die Frage gestellt, wie man mit philosophischen Texten umgehen muss, wenn man sie unter diesen Auspizien zum Sprechen bringen will. Die Erfahrung zeigt, dass ein entsprechendes Vorhaben glücken kann. Die Frage bleibt, wie die Bedingungen beschaffen sind, unter denen sich diese Möglichkeit eröffnet. Die Philosophie hat von ihren Anfängen her die Reflexionstechniken ständig verfeinert, deren sie sich bei der Erörterung ihrer Sachthemen bedient. Der Umgang mit den Texten, die die Resultate

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dieser Arbeit speichern, bleibt zumeist jedoch unreflektiert. Das betrifft nicht so sehr die Techniken der Philologie und der Historie, auf deren Hilfe auch der Philosoph im Umgang mit den Texten seiner Vergangenheit nicht verzichten kann. Es geht vielmehr um die Regeln, deren Anwendung es erlaubt, nicht nur der Faktizität der Texte, sondern auch ihrer Wahrheitsfähigkeit und ihrem Wahrheitsanspruch gerecht zu werden. Sie werden bei einer geglückten Interpretation zumeist implizit befolgt. Die Aufgabe bleibt aber, sie auf die Ebene des reflektierenden Bewusstseins zu heben. Will man die Bedingungen auf Begriffe bringen, unter denen man einem Text auch im Hinblick auf seine Wahrheitsfähigkeit gerecht werden kann, so tut man gut daran, sich zunächst einige ganz simple Tatsachen zu vergegenwärtigen, die sich auf das beziehen, was philosophische Texte mit den meisten anderen Texten gemeinsam haben. Jeder Text bietet nämlich sowohl einen gegenständlichen als auch einen intentionalen Aspekt. Gegenständlich betrachtet ist jeder Text ein Ding, das wie jedes andere Ding auf seine realen Eigenschaften und Relationen hin untersucht und beschrieben werden kann. Zu diesen Eigenschaften gehört nicht nur das, was die Wahrnehmung an ihm entdecken kann. Es gehören dazu auch die Umstände seiner Entstehung: wie er von einem bestimmten Autor zu einer bestimmten Zeit verfasst wurde, wie seine Entstehung mit persönlichen, psychischen, sozialen, politischen Bedingungen verflochten ist, wie er auf einen bestimmten oder auf einen unbestimmten, anonymen Adressaten bezogen ist, wie die Ziele und Absichten beschaffen sind, die sein Autor mit ihm verfolgt hat. Auch seine Sprache gehört mit allen ihren Ausdrucksmöglichkeiten noch zur Gegenständlichkeit des Textes. Als Ding unter Dingen steht jeder Text in einem feinmaschigen, gegenständlichen Beziehungsnetz, das für jeden Betrachter sichtbar gemacht werden kann, der der dazu nötigen Einstellung fähig ist. Innerhalb eines solchen realen Beziehungsnetzes kann ein Text auch als Ausdrucksphänomen erscheinen, in dem sich psychische und soziale, individuelle und überindividuelle Konstellationen manifestieren. Freilich muss der Blick geschult sein, der einen Text als Ausdrucksphänomen wahrnehmen will. Aber auch dann überschreitet er nicht notwendig die gegenständliche Dimension. Um dagegen der intentionalen Dimension eines Textes gerecht zu werden, muss man eine vergleichsweise naive Einstellung zu ihm einnehmen. Das mag zunächst überraschen. Denn seinen intentionalen Aspekt zeigt ein Text dort, wo er, gleichsam als Zeichen, auf etwas verweist, was von ihm verschieden ist. Jeder Text intendiert bestimmte Sachverhalte, mag er sie nun treffen oder verfehlen. Diese intentionale Relation ist von jeder gegenständlichen Bestimmung kategorial verschieden. Ein noch so genaues Hinsehen auf seine gegenständlichen Eigenschaften allein kann an einem Text noch keine Charaktere entdecken, die zur Dimension seiner Intentionalität

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gehören. Intentionale Charaktere lassen sich nicht in Lücken finden, die in der gegenständlichen Dimension offen gelassen würden. Solche Lücken gibt es nicht. Zwar sind es gegenständliche Elemente, die als Träger intentionaler Charaktere fungieren. Doch man muss eine spezifische Einstellung zum Text realisieren, wenn man ihm als einer Bezugsbasis intentionaler Relationen gerecht werden will. Eben dies ist die Einstellung, die wir alle vor jeder Reflexion zu Texten zunächst einmal einnehmen. Rezipiert man einen Text auf seine Intentionalität hin, so ist man nur darauf aus, ihn zu verstehen. Natürlich kann man dabei auch einer der vielen Möglichkeiten eines Missverständnisses zum Opfer fallen. Doch hier ist zunächst nur jene Einstellung von Belang, die Verständnis wie Missverständnis allererst ermöglicht, eben jene Einstellung, auf Grund deren man sich des Textes als eines Mediums bedient, mit dessen Hilfe man seine eigene Intention auf den Sachverhalt richtet, den auch der Text intendiert. Versteht man einen Text, so versteht man das, wovon er handelt. Deswegen ist ein Text, mit dem man auf diese Weise umgeht, kein Gegenstand. Auch ein Werkzeug ist kein Gegenstand, solange man von ihm den seiner Bestimmung gemäßen Gebrauch macht. Nehmen wir unseren vorreflexiven, alltäglichen und naiven Umgang mit Texten zum Maßstab, so ist die Gegenständlichkeit eines Textes zumeist nur von untergeordneter Bedeutung im Vergleich zu dem, worüber er handelt und was er zu sagen hat. Texte begegnen uns zunächst nicht als Gegenstände, die als solche erkannt werden, sondern als Medien, die etwas vermitteln und zu verstehen geben. Bei manch einem Text kann es sogar ein Gradmesser für seine Qualität sein, inwieweit er seine Gegenständlichkeit für den, der mit ihm umgeht, im Interesse der intendierten Sache in Vergessenheit geraten lassen kann. Auf seine Gegenständlichkeit wird man gewöhnlich erst aufmerksam, wenn er die von ihm erwartete Leistung, zwischen Leser und intendierter Sache zu vermitteln, nicht mängelfrei erbringt. Ein Anlass, sich der Gegenständlichkeit des Textes zuzuwenden, ergibt sich freilich auch dort, wo die mit ihm verbundenen Intentionen gespalten oder maskiert sind. Ein Leser muss immer damit rechnen, dass ihn Texte beiläufig oder sogar gezielt irreführen. Es gehört zu den elementaren kulturellen Kompetenzen, auf diese Möglichkeit bei jedem Umgang mit Texten stets gefasst zu sein. Die Beziehungen zwischen der gegenständlichen und der intentionalen Dimension eines Textes lassen sich auch mit Hilfe des in der heutigen philosophischen Diskussion häufig benutzten Begriffspaares des Sagens und des Zeigens verdeutlichen. Was ein Text intendiert, das sagt er, und er bezieht sich dabei auf einen Sachverhalt. Was er dagegen ist, kann er nur an ihm selbst zeigen. In vielen trivialen Texten besteht zwischen diesen beiden Dimensionen ein nur äußerlicher Zusammenhang. Die schriftstel-

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lerische Kunst verfügt jedoch über Mittel, diese beiden Dimensionen in ein Entsprechungsverhältnis zu fügen. So lassen sich durch eine geeignete Formung der Gegenständlichkeit eines Textes seine intentionalen Valenzen noch unterstreichen; andererseits lässt sich ein Text auch so gestalten, dass seine Gegenständlichkeit gleichsam einen Kontrapunkt zu seinen intentionalen Valenzen bildet. Unter den philosophischen Autoren ist es vor allem Platon, der von diesen Möglichkeiten auf geradezu virtuose Weise Gebrauch macht. Freilich kann man mit einer geeigneten gegenständlichen Gestaltung des Textes seine Intentionen auch maskieren. Das geschieht beispielsweise dann, wenn man von einer Zensurinstanz zu Rücksichtnahmen gezwungen ist und nur einen bestimmten Kreis von Adressaten erreichen will, dem man es zutraut, derart gestaltete Texte zu verstehen. Es gibt eine Gruppe von Wissenschaften, in ihrem Zentrum die Philologien, die von Texten nicht nur als Medien Gebrauch machen, sondern die in ihnen die eigentlichen Gegenstände ihrer Arbeit finden. Diese Textwissenschaften richten sich gewiss nicht nur auf den gegenständlichen, sondern auch auf den intentionalen Aspekt ihrer Objekte. Trotzdem liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeit zumeist in der gegenständlichen Dimension. Wer eine Textwissenschaft betreibt, wird in seiner Arbeit nicht von dem absehen, was die Texte von sich aus zu verstehen geben wollen. Dies festzustellen, kann manchmal bereits ein erhebliches Maß an Anstrengung erfordern, vor allem dann, wenn es sich um Texte aus einer weit zurückliegenden Zeit handelt. Doch gerade weil die Konzentration auf diese Dinge immer noch eine der naiven Einstellung nahestehende Haltung erfordert, lässt sich der Textwissenschaftler lieber durch die Aufgabe herausfordern, die naive Einstellung zu verlassen, die Texte in ihrer Gegenständlichkeit zu betrachten und sowohl über sie als auch aus ihnen Informationen zu gewinnen, die nicht im Einzugsbereich ihrer Intentionen liegen. Wer eine solche Wissenschaft studiert, muss deshalb zunächst lernen, die naive Haltung, den Text nur auf die von ihm verfolgten Intentionen hin anzusehen und sich von ihm etwas sagen zu lassen, als eine unter vielen anderen möglichen Einstellungen zu verstehen. In dieser Weise gehen Historiker mit ihren Texten um, wenn sie sie als Quellen von Informationen behandeln, die sie nicht immer freiwillig preisgeben. Sie werden in Beziehungsgeflechte eingefügt, auf ihre Entstehung und ihre Überlieferung hin untersucht und auf Spuren hin betrachtet, die individuelle und überindividuelle Konstellationen in ihnen hinterlassen haben. Jeder Text dokumentiert vielerlei, was zu dokumentieren nicht in der Absicht des Autors lag. So bewährt sich der Scharfsinn des Textwissenschaftlers mit Vorliebe gerade an der Gegenständlichkeit des Textes und an den ihr abzuringenden Informationen. Was der Text in der Dimension seiner Intentionalität zu verstehen geben will, mag dann leicht als seine bloße Oberfläche missdeutet werden.

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Auch Philosophiehistorie kann in diesem Sinne als eine Wissenschaft betrieben werden, die die Texte in ihrer Gegenständlichkeit betrachtet. In der Tat wird sie auch häufig auf diese Weise betrieben. Denn auch hier gilt es, zuverlässige Texte zu erstellen und die ihre Entstehung bestimmenden Konstellationen sowie die Geschichte ihrer Rezeption zu erforschen. Eine so betriebene Philosophiehistorie wird zu einem Stück Geistesgeschichte, die ihr eigenes Recht behauptet. Das Interesse, das der Historiker an ihr nehmen kann, steht außer Frage. Es ist dann aber nicht ganz einzusehen, warum gerade die Philosophie an ihrer auf diese Weise zu erforschenden Vergangenheit ein mehr als akzidentelles Interesse nehmen sollte. Wer als Philosophiehistoriker lediglich Geistesgeschichte treibt, wird in aller Regel zwar seine eigene Arbeit und deren Resultate der Wahrheitsfrage aussetzen, aber gerade nicht die Gegenstände dieser Arbeit. Er wird die Herausforderung nicht annehmen, die in dem mit dem Text verbundenen Wahrheitsanspruch liegt, sondern er wird nur das Faktum konstatieren, dass ein derartiger Anspruch von einem Autor erhoben worden ist. Das Faktum, dass Ansprüche erhoben und Intentionen verfolgt worden sind, ist ein möglicher Gegenstand von Aussagen, die sich mit historischen Methoden verifizieren lassen. Die Frage nach der Legitimität solcher Ansprüche lässt sich jedoch innerhalb der Sphäre historischer Gegenständlichkeit nicht mehr beantworten. Auch das Ideal einer wertfreien Wissenschaft wird oft so verstanden, dass es einen Verzicht darauf fordert, die Wahrheitsfrage auch an bestimmte Gegenstände der historischen Forschung zu stellen. Dabei macht es einen nur geringen Unterschied, ob man die Wahrheitsfrage nur auf sich beruhen lässt oder ob man sich auf eine Theorie stützt, die diese Frage, sofern sie an die Gegenstände der historischen Forschung gestellt wird, wegen des angeblichen Mangels an deren Wahrheitsfähigkeit überhaupt für prinzipiell unbeantwortbar erklärt. Was die Struktur – nicht den Inhalt – solcher Theorien anbelangt, so sind Differenzen wie etwa zwischen Diltheys lebensorientiertem Reduktionismus und der Metaphysikkritik des frühen Carnap weniger groß, als dies auf den ersten Blick scheinen mag. Akzeptiert man solche Theorien, dann sind die Philosophien der Vergangenheit nicht nur beiläufig auch Kinder ihrer jeweiligen Zeit, sondern sie gehen darin auf, eben dies zu sein. Wird der auf herkömmliche Weise betriebenen Philosophie die Wahrheitsfähigkeit grundsätzlich abgesprochen, dann kann der Beschäftigung mit ihrer Geschichte leicht die Funktion zuwachsen, gleichsam deren eigenen Konkurs zu verwalten. Eine so betriebene Philosophiehistorie dokumentiert dann nur noch die Abdankung der Philosophie. Es ist aber auch möglich, dass ein autochthones Interesse der Philosophie selbst den Anlass zu der Beschäftigung mit ihrer Geschichte gibt. Wo es darum geht, Wahrheit nicht über die Geschichte, sondern vielmehr aus

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ihr zu gewinnen, ist die Vergangenheit der Philosophie nicht mehr nur ein Gegenstand der Forschung, weil die Beschäftigung mit ihr unversehens zu einem Hilfsmittel der philosophischen Reflexion selbst werden kann. Es mag zunächst so scheinen, als würde die Philosophiehistorie dadurch in ihrem Rang herabgestuft. In Wirklichkeit ist es jedoch eine Auszeichnung für sie, wenn man ihr zutraut, unmittelbar zur Arbeit der Philosophie selbst einen Beitrag leisten zu können. Nur wenn sie dieses Zutrauen rechtfertigt, kann ihr der Status einer echten Teildisziplin der Philosophie zugesprochen werden, die sich nicht darauf beschränkt, nur die Resultate vergangener Arbeit zu sammeln. Dazu ist es freilich notwendig, die Einstellung abzubauen, die der Historiker und der Philologe kultiviert, wenn er seinen Texten in ihrer gegenständlichen Dimension gerecht werden will und wieder jene vergleichsweise unreflektierte Einstellung einzunehmen, in der man von einem Text letztlich nur Gebrauch macht, um mit seiner Hilfe die eigene Intention auf den Gegenstand auszurichten, den auch der Text intendiert. Die eigene Aufmerksamkeit gilt in diesem Fall also nicht dem Text in seiner Gegenständlichkeit, sondern der Sache, von der er handelt. In dieser unreflektierten Einstellung macht man von Texten Gebrauch, um sich von ihnen etwas sagen und über Sachverhalte belehren zu lassen. Freilich kann man zu dieser Naivität, die bereit ist, sich von einem Text etwas sagen zu lassen, nicht unvermittelt zurückkehren, wenn man mit Dokumenten der philosophischen Tradition umgeht. Ohnehin ist Naivität nichts, was kultiviert oder, ist sie erst einmal verloren gegangen, restituiert werden könnte. Philosophische Texte der Vergangenheit setzen dem Verstehen in der Regel einen so großen Widerstand entgegen, dass jeder Versuch, eine unbefangene naive Einstellung einzunehmen, am Text gleichsam abprallt. Es gibt kaum einen philosophischen Text von Rang, der den Leser, der sich um sein Verständnis bemüht, nicht zunächst einmal zu einer reflektierten, ihn vergegenständlichenden Haltung zwingen würde. Es macht nun aber einen Unterschied, ob man in dieser Haltung verharrt oder ob man in ihr nur ein Durchgangsstadium sieht, das man deswegen absolvieren muss, weil sich bei Texten der Vergangenheit deren intentionale Dimension dem ersten Zugriff oft entzieht. Sie kann oft nur im Durchgang durch ihre gegenständliche Betrachtung, gleichsam in ihrem Hintergrund sichtbar gemacht werden. Damit stellt sich aber die Frage nach den Regeln, denen ein Umgang mit Texten folgen kann, deren intentionale Dimension für den Leser zunächst nicht offen zutage liegt. Jede Arbeit in einer Wissenschaft geht von Voraussetzungen aus. Wissenschaft hat es niemals mit puren Fakten zu tun, die sie betrachten könnte, sondern stets mit Fakten unter Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen müssen nicht ausdrücklich formuliert sein, sondern sie bleiben oft latent und werden dann als solche noch nicht einmal dem Forscher selbst klar

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bewusst. Hypothesen liegen dann vor, wenn diese Voraussetzungen nicht nur ausformuliert werden, sondern wenn man mit ihnen auch nach ganz bestimmten Regeln umgeht, deren Analyse zu den Aufgaben der Wissenschaftstheorie gehört. Auch jede wissenschaftliche Arbeit an Texten muss von Voraussetzungen ausgehen. Für die Philosophie ist nun aber eine ganz bestimmte Hypothese bedeutsam, wenn sie Texte ihrer Vergangenheit nicht nur als Gegenstand betrachtet, sondern sie zugleich für ihre eigene Arbeit als Medium fruchtbar zu machen sucht. Es ist die Hypothese der Wahrheit, die imstande ist, den Zugang zur intentionalen Dimension eines Textes zu eröffnen. Wer von dieser Hypothese ausgeht, setzt als wahr an, was der Text über den Gegenstand sagt, von dem er handelt. Er nimmt die Herausforderung an, die im Wahrheitsanspruch des Textes liegt und sieht ihn damit zugleich daraufhin an, dass es sich bei ihm um ein bivalentes, nämlich um ein wahrheitsdifferentes Gebilde handelt, also um ein Gebilde, das unter der Herrschaft der Alternative von wahr oder falsch steht. Er rechnet daher zumindest mit der Möglichkeit einer Konvergenz der Intentionen des Textes und seiner eigenen Intentionen. Dem Text wird zugestanden, dass er, selbst wenn er seinen Gegenstand verfehlen sollte, jedenfalls dazu bestimmt ist, einen Gegenstand zu treffen. Wer einen Text sub ratione veritatis liest, muss natürlich die von ihm beanspruchte Wahrheit nicht als ein Faktum akzeptieren, das einer weiteren Diskussion nicht mehr bedürftig wäre. Hypothesen bleiben stets Voraussetzungen, die unter Erfolgszwang stehen und die sich bewähren müssen. Das gilt auch für den Umgang mit Texten, die man unter der Voraussetzung behandelt, dass durch sie Wahrheit vermittelt werden kann. Es ist die Orientierung an dieser Wahrheitshypothese, die es auch erlaubt, bei der Arbeit mit Texten systematisch-philosophische und historische Fragestellungen zu verbinden und aufeinander zu beziehen. Von derartigen Techniken wird gerade in der philosophiehistorischen Forschung unserer Tage häufig Gebrauch gemacht. Der Sache nach sind sie nicht ganz neu. Schon die Auseinandersetzungen der Klassiker des philosophischen Gedankens mit ihren Vorgängern, angefangen mit Platon und Aristoteles, sind von dieser Art. Philosophen haben sich von je her mit ihren Vorgängern vornehmlich sub ratione veritatis beschäftigt, weil für sie vor allem von Interesse war, was an deren Lehre haltbar ist. Die um ihrer selbst willen interessierende Vergangenheit ist dagegen eine vergleichsweise junge Errungenschaft. Wenn die Philosophie in der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit heute ihr Interesse weniger auf die Autoren selbst, sondern mehr auf die von ihnen intendierten Sachverhalte richtet, so kehrt sie damit eigentlich nur zu jener alten Technik der Auseinandersetzung mit den Vorgängern zurück. Natürlich lässt sich jetzt auch die ganze Ernte der gegenständlich orientierten Forschung in die Diskussion einbringen und nutzbar

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machen. Die Chance, in Texten der Vergangenheit Wahrheit zu finden, hat man jedoch nicht eher, als man auf den Gedanken gekommen ist, in ihnen danach zu suchen. Gewiss macht man nur von einer unter einer Vielzahl von möglichen Hypothesen Gebrauch, wenn man einen Text unter der Voraussetzung der möglichen Wahrheit seines Inhalts liest. Für eine Philosophiehistorie, die sich als Teildisziplin der Philosophie selbst versteht, ist diese Hypothese jedoch unverzichtbar. Aber sie verliert niemals den Status einer Hypothese. Der mit ihr arbeitende Interpret wird daher den Inhalt seiner Texte in derselben Weise auf seine Begründungsfähigkeit hin untersuchen, wie er dies im Hinblick auf die Sätze zu tun gewohnt ist, mit denen er in der systematischen philosophischen Arbeit umgeht. Die Arbeit mit der Wahrheitshypothese wird auch niemals einen Text kanonisieren wollen. Sie eröffnet nur die Chance, die in einem Text möglicherweise enthaltene Wahrheit offenkundig zu machen. Man muss sich darauf gefasst machen, viele Enttäuschungen zu erleben, wenn man philosophische Texte unter der Voraussetzung der Wahrheitshypothese untersucht. Es ist sogar nur ein sehr begrenzter Kreis von Texten, deren Bearbeitung sich unter dieser Hypothese als fruchtbar erweist. Doch das sind gerade die Texte, denen man in der Philosophie den Status klassischer Texte zuzuschreiben pflegt. Es liegt an der sehr unterschiedlich verteilten Fähigkeit philosophischer Texte, auf die Wahrheitsfrage eine befriedigende Antwort zu geben, wenn sich die Philosophie immer nur an einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Autoren der Vergangenheit orientiert. Als Klassiker sind diese Autoren nicht deswegen qualifiziert, weil der in ihren Texten erhobene Wahrheitsanspruch in jedem Fall eingelöst werden könnte, sondern deswegen, weil eine Beschäftigung mit ihnen jedem, der auf diesen Wahrheitsanspruch auch nur eingeht, einen Gewinn an Einsicht in die dort behandelten Sachverhalte verspricht. Nur eine sich immer wieder bewährende Erfahrung im Umgang mit philosophischen Texten kann lehren, welche Autoren diesem niemals randscharf abgrenzbaren Kreis zuzuordnen sinnvoll ist. Wenn ohne Ausnahme jeder Wahrheitsanspruch der Rechtfertigung bedarf, dann wird dadurch, dass man einen philosophischen Text der Vergangenheit sub ratione veritatis liest, keineswegs unmittelbar Wahrheit garantiert, sondern es wird lediglich ein Weg gezeigt, auf dem sie möglicherweise gefunden werden kann. Der Interpret wird daher den von seinem Autor erhobenen Wahrheitsanspruch auf seine Stichhaltigkeit hin überprüfen. Er wird nicht nur die vorgefundenen Begründungen über­prüfen, sondern er wird im Einzugsbereich der Wahrheitshypothese manchmal auch Begründungen verbessern oder sogar nach neuen Begründungen suchen. Die Arbeit mit der Wahrheitshypothese kann es auch nahelegen, Interpretationshypothesen der zweiten Stufe einzuführen. Das sind zusätzliche

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Annahmen, unter deren Voraussetzung eine Wahrheitsvermutung gesichert werden soll. In manchen Fällen lässt sich nämlich die Frage nach der Wahrheit nicht sogleich mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Oft lässt sich ein Wahrheitsanspruch nur dann rechtfertigen, wenn bestimmte Randbedingungen erfüllt sind. Die Wissenschaftsgeschichte, vor allem die Geschichte der exakten Wissenschaften liefert manche Beispiele hierfür. Aber auch beim Umgang mit klassischen Texten der Philosophie kann es lohnend sein, auf die Suche nach derartigen Randbedingungen zu gehen. Mit Hypothesen der zweiten Stufe wird auch dort gearbeitet, wo man die Wahrheitsfrage in das Spannungsfeld des Verhältnisses von Frage und Antwort stellt. Die Sätze, in denen sich die Arbeit der Philosophie dokumentiert, stehen nicht nur in Begründungskontexten, sondern außerdem immer auch in Fragekontexten. Schon der Sinn eines Satzes kann verborgen bleiben, wenn man nicht die Frage kennt, auf die er Antwort geben soll. So können dem Wortlaut nach identische Aussagen je nach den Fragen, in deren Kontext man sie stellt, unterschiedliche Sinngehalte repräsentieren. Dieser Sachverhalt ist jedermann bereits aus der Sprechpraxis des Alltags vertraut. Schwierigkeiten können sich jedoch ergeben, wenn man Texte der philosophischen Tradition unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. In den Texten philosophischer Traktate sind zunächst vornehmlich Aussagen ihres Autors greifbar, in weit geringerem Maß dagegen die Fragen, unter deren Voraussetzung sich diese Aussagen verstehen lassen. Jede Aussage ist immer in ein Geflecht von Problemen und Fragen verwoben, das zumeist nur zu einem geringen Teil zur Sprache gebracht wird. Gerade Probleme und Fragen gehören zu einem guten Teil zu jenen Selbstverständlichkeiten, die ein Autor gar nicht eigens ausformuliert, weil er die Vertrautheit mit ihnen bei seinen Adressaten voraussetzen kann. Der eigentlichen, das bewusste Leben tragenden Selbstverständlichkeiten ist man sich ohnehin nur in Ausnahmefällen auf der Ebene der Reflexion bewusst. Es ist nun aber gerade dieser Fragen- und Problemhorizont, der für den Leser späterer Zeiten, anders als für den Autor und seinen Umkreis, nicht mehr selbstverständlich ist. Deswegen muss der Fragehorizont eines Autors der Vergangenheit zunächst einmal rekonstruiert werden, und zwar gerade dann, wenn man der intentionalen Dimension und damit dem Wahrheitsanspruch seiner Texte gerecht werden will. Hier stellen sich Aufgaben, die man oft nur bewältigen kann, wenn man diese Texte zunächst einer gegenständlichen Analyse unterzieht. Sie hilft mit, die Fragen dingfest zu machen, auf die der Text mit seinen Aussagen Antwort geben will. Ob es sich jedoch um treffende Antworten handelt, vermag eine gegenständliche Betrachtung allein nicht auszumachen. Bei einer Analyse philosophischer Texte, die sich an den von ihnen intendierten Sachverhalten orientiert, bleibt es nicht aus, dass der Interpret über

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die von seinem Autor zur Sprache gebrachten Lehrmeinungen manchmal auch hinausgeht. Wer einen Text in Bezug auf die Sachverhalte lesen will, von denen er handelt, darf sich gerade nicht darauf beschränken, die Meinungen eines Autors als solche zu konstatieren. Trotzdem muss der Interpret hier ansetzen, wenn er auf die Suche nach Bedingungen geht, unter denen sich der vom Autor erhobene Wahrheitsanspruch legitimieren lässt. Diese Bedingungen brauchen nicht in jedem Fall zum Bestand der Lehrmeinung des Autors zu gehören. Das braucht den Interpreten aber keinesfalls daran zu hindern, solche Bedingungen ausfindig zu machen und mit ihnen zu arbeiten. Erwarten darf man von ihm jedoch, dass er stets deutlich macht, bis zu welcher Grenze die Ergebnisse der einschlägigen Untersuchungen dem Autor noch als seine Lehrmeinung zugerechnet werden dürfen. Bei weitem nicht alles, was dem Autor nicht mehr unterstellt werden darf, ist allein deswegen bereits ein illegitimes Resultat des Interpreten. Im Gegenteil: Eine auf die vom Text intendierte Sache ausgerichtete Interpretation kommt hier oft erst auf ihren Weg. Freilich wird es immer heikel sein, einem Autor implizites Wissen zu unterstellen, das er nicht ausdrücklich formuliert hat. Aber hier wird man ohnehin ein ganzes Spektrum von Wissensformen berücksichtigen müssen. Zu ihnen gehören das thematische und gegenstandsbezogene Wissen unabhängig von der Art seiner sprachlichen Dokumentation ebenso wie die vielen Gestalten nichtgegenständlichen Wissens, die sich nur im Umgang mit den Dingen verwirklichen; das sich im Gebrauch der Sprache manifestierende Wissen ebenso wie bestimmte in biologischen Verhaltensmustern hinterlegte kognitive Strukturen. Das Modell der Bewusstseinsschwelle liefert eine zu grob gewirkte Metapher, als dass man mit ihr allein der Vielheit der Wissensformen gerecht werden und sie gliedern könnte. Was bisher skizziert wurde, sollte Bedingungen aufzeigen, unter denen Philosophiehistorie als eine philosophische Disziplin möglich ist, die sich darum bemüht, Wahrheit aus Texten der Vergangenheit und nicht nur Informationen über sie und ihre Autoren zu gewinnen. Damit ist indessen noch nicht klar geworden, warum die Philosophie an ihrer Geschichte ein Interesse nimmt. Es könnte immer noch scheinen, als ließen sich die Auf­ gaben der Philosophie doch besser auf unmittelbare Weise in Angriff nehmen. Dann würde man sich den Aufwand sparen, den der Umweg über ihre Geschichte nötig macht. Über eine lange Zeit ihrer Geschichte ging die Philosophie schließlich ihren Geschäften nach, ohne dazu auf diese Geschichte selbst zurückzugreifen. Unbestritten ist gewiss der didaktische Nutzen der Philosophiehistorie überall dort, wo in die Arbeit der Philosophie und in den Umgang mit ihren Problemen eingeführt werden soll. Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte bliebe indessen ein randständiges Phänomen, wenn es lediglich durch didaktische Bedürfnisse gerechtfertigt wäre.

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Dieses Interesse kann nun aber eine Rechtfertigung von größerem Gewicht geltend machen. Der Status der Philosophie, der sie von anderen Disziplinen unterscheidet, ist nämlich auch durch die eigentümliche Bezie­hung bestimmt, die sie zu ihren Texten hat. Damit sind keineswegs nur die Texte der Vergangenheit gemeint. Gewiss kommt keine Wissenschaft ganz ohne Texte aus. Sie bedarf ihrer zur Dokumentation und zur Mitteilung der Ergebnisse ihrer Arbeit. Doch die Resultate, die so dokumentiert werden, sind zumeist gerade nicht durch die Arbeit an Texten gewonnen worden. Wo dies, wie in den Textwissenschaften, doch einmal der Fall ist, müssen zwei Ebenen unterschieden werden: die Ebene des Textes, den die Arbeit behandelt, und die des Textes, der die Resultate dieser Arbeit dokumentiert. Der Weg zu den Gegenständen einer Wissenschaft führt jedoch nicht notwen­dig und noch nicht einmal regelmäßig über die Dokumentationstexte. Die Philosophie befindet sich hier dagegen in einer besonderen Situation, da sie es mit einem Gegenstand zu tun hat, zu dem der Weg nur über ihre Texte führt. Der philosophische Gedanke muss nicht nur textfähig sein, sondern er ist überdies sogar textbedürftig. Es gibt keinen Weg, der an Texten oder an textfähigen Aussagen vorbei zur Sache der Philosophie führte. Das schließt durchaus nicht die Möglichkeit aus, die Grenzen der Textfähigkeit und die Reichweite textfähiger Aussagen zu bestimmen. Man könnte nun vermuten, die Sache der Philosophie würde die Ausbildung einer spezifischen Textsorte fordern, die es erlaubt, Gegenstand und Medium in ihrem Entsprechungsverhältnis gerecht zu werden. Wer dergleichen erwartet, wird enttäuscht: Es gibt keine Textsorte, die bei der Darstellung des philosophischen Gedankens eine Vorzugsstellung einnehmen würde. Es sind Textsorten der unterschiedlichsten Art, die von der Philosophie beansprucht werden: Systematische Abhandlungen, Traktate, Dialoge, Aphorismen, Briefe, Reden, meditative Texte, Lehrgedichte, stilisierte Disputationen, Kommentare und manche andere Formen können den philosophischen Gedanken verkörpern, der doch außerhalb ihrer gar nicht fassbar ist. Jede dieser Textsorten verfügt über unterschiedliche Kapazitäten des Sagens ebenso wie des Zeigens. In jedem Fall kann überdies auch die Gestaltung der literarischen Form in den Dienst der Darstellung des Gedankens gestellt werden. Das ist einer der Gründe, aus denen die Gegenständlichkeit der Texte und die ihnen immanenten deiktischen Komponenten auch von dem nicht vernachlässigt werden dürfen, der sie vornehmlich mit dem Blick auf ihre Intentionalität, nämlich auf die von ihnen intendierten Sachverhalte untersucht. Die Eigentümlichkeit, dass der Weg zur Sache der Philosophie in aller Regel über Texte führt, scheint deren Dokumente zunächst in die Nähe von literarischen Texten zu rücken. Doch die Grenzen dieser Gemeinsamkeit liegen auf der Hand. Denn der literarische Text entwirft selbst erst die

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Wirklichkeit, auf die er sich bezieht. Der Gegenstand eines philosophischen Textes wird vom Text dagegen weder entworfen noch gar hergestellt, sondern gesucht und manchmal gefunden, oft jedoch verfehlt. Ein derartiger Text verlangt danach, daraufhin beurteilt zu werden, ob er seinen Gegenstand trifft oder verfehlt. Ein literarischer Text kann nicht im logischen Sinn wahr oder falsch sein. Wahrheit kann ihm nur im übertragenen Sinne zugesprochen werden, dann nämlich, wenn die – poetische – Wirklichkeit, die von ihm entworfen wird, eine gelungene Wirklichkeit ist. Dies ist dann aber keine bivalente Wahrheit, da aus ihrer Negation nicht Falschheit entsteht. Der Philosophie stehen für ihre Arbeit außer dem Nachdenken, außer dem Denken überhaupt keine anderen Erkenntnisquellen zu Verfügung. Gewiss kann sie das Denken an Inhalten bewähren, die ihr gleichsam von außen, beispielsweise durch die Erfahrung der äußeren und der inneren Sinne vorgegeben werden. Sie kann aber selbst solche Erfahrungen nicht beibringen. Deshalb ist ihre Arbeit besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Jede Erkenntnisart braucht Hilfsmittel, die es erlauben, ihre Resultate zu beurteilen und notfalls zu korrigieren. Den Erfahrungswissenschaften fehlt es niemals an solchen Korrekturfaktoren. Sie finden sie im Bereich ihrer Erkenntnisquellen: Die Erfahrung selbst liefert diese Faktoren in reichem Maße. Es ist die zentrale Aufgabe der Wissenschaftstheorie der empirischen Disziplinen, die Wege nachzuzeichnen, auf denen Erfahrungserkenntnis gewonnen, begründet, verworfen und korrigiert werden kann. Für die Philosophie kann die Erfahrung jedoch kaum als Korrekturfaktor dienen, wenn sie ihr allenfalls Material für das Denken vorgibt, nicht dagegen als eine eigenständige Quelle ihrer Erkenntnis auftreten kann. Selbst Empiristen vertreten selten ihre Position auf eine so radikale Weise, dass sie die Erfahrung als Quelle nicht nur für die Gegenstände in Anspruch nehmen, auf die sich ihre Theorie bezieht, also für die Erfahrungswissenschaften, sondern am Ende auch noch für ihre Theorie selbst. Auch von den Korrekturinstanzen, die von anderen Wissenschaftsgruppen in Übereinstimmung mit ihren Erkenntnisquellen in Anspruch genommen werden, kann die Philosophie in ihrem Zentralbereich wenig Gebrauch machen. Das gilt für das formale Operieren der Mathematiker ebenso wie für den Rekurs auf autoritative Instanzen in Disziplinen, die sich dogmatischer Denkformen bedienen. Natürlich kann die Philosophie das formale Operieren zum Gegenstand ihres Denkens machen. Es wird dadurch aber nicht selbst zu einer Methode, deren sich die Philosophie anders als in beiläufiger Weise bedienen könnte. Hoffnungen, Philosophie mit mathematischen Methoden zu betreiben, die zu neuen Erkenntnissen führen können, sind oft gehegt, aber nicht zufällig immer wieder enttäuscht worden. Die den dogmatischen Disziplinen eigenen Korrekturinstanzen sind der Philo-

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sophie ohnehin schon von Hause aus fremd. Wie jede andere Disziplin kann auch sie ihre Erkenntnisse nur mit den Mitteln korrigieren, mit denen sie sie auch gewinnt. Das auf sich gestellte Denken hatte jedoch von alters her stets Schwierigkeiten, wenn es sich der Aufgabe stellte, sich selbst zu kritisieren und zu korrigieren. Gewiss kann es auf seine logische Stimmigkeit achten. Widerspruchsfreiheit allein ist jedoch nur eine notwendige, aber keine hinreichende Wahrheitsbedingung. So ist es kein Zufall, wenn die Philosophie immer wieder in Begründungsnot gerät. Wenn die Philosophie an ihrer Geschichte Interesse nimmt, so kann dem die Hoffnung zugrunde liegen, dort den Mangel an Kontrollinstanzen wenigstens kompensieren zu können, an dem sie leidet, sobald sich das Denken, ihr einziges Medium, der Schwierigkeiten bewusst wird, die mit jedem Versuch verbunden sind, sich auf sich selbst zu richten und sich selbst zu korrigieren. Auch die Geschichte kann nicht die Funktion einer solchen Kontrollinstanz erfüllen. Sie kann den Mangel an ihr allenfalls ausgleichen, wenn sie eine Fülle von Beispielen geglückten und weniger geglückten philosophischen Denkens vor Augen stellt. Die Autoren der Vergangenheit sind daher nicht so sehr um ihrer selbst willen von Interesse. Sie sind vielmehr Exempel, an denen sich studieren lässt, welcher Art die Wege sind, auf die ein konsequentes Denken führen kann. Betrachtet man diese Exempel sub ratione veritatis, so eröffnen sie einem die Chance, ein Urteilsvermögen zu kultivieren, das einem die Aufgabe erleichtert, zwischen weiterführenden Wegen und Irrwegen zu unterscheiden. Man kann von ihnen wie von Mustern Gebrauch machen, die weder geeignet noch gar dazu bestimmt sind, kopiert zu werden, die aber als Orientierungspunkte dienen können, wenn es darum geht, die eigenen Versuche auf ihre Tragfähigkeit hin zu testen. Es gehört zum Begriff eines Musters, dass es zumindest der Idee nach auch selbst einer solchen Prüfung muss unterzogen werden können. Schon deshalb können Texte der Vergangenheit niemals Wahrheitskriterien liefern. Aber es gibt Texte, deren Wahrheit als – freilich bewährungsbedürftige – Hypothese anzusetzen, sich für das Denken immer wieder als förderlich erwiesen hat. Nur deshalb spricht man ihnen den Rang klassischer Texte zu. Veritas filia temporis? Wer dieser Formel eine skeptische Deutung gibt und die Wahrheit auf ein bloßes Epiphänomen historischer Faktizität reduziert, wird das Interesse schwerlich rechtfertigen können, das die Philosophie an ihrer Vergangenheit nimmt. Man kann die Formel jedoch auch auf andere Weise verstehen. Dann verweist sie darauf, dass es der Boden der Geschichte ist, vielleicht sogar nur er, der es erlaubt, von ihm aus als Wahrheit etwas zu intendieren, das selbst nicht mehr in diesem Boden verwurzelt ist. Fragen stellen und Antworten geben kann man immer nur innerhalb von ganz bestimmten, kontingenten historischen Situationen. Ob aber eine Antwort eine treffende Antwort ist oder nicht, bestimmt sich nicht mehr

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aus dieser Situation. Wahrheit wird immer nur unter den Bedingungen der Geschichte gesucht und gefunden, doch sie lässt sich von dort her nicht begründen. Veritas filia temporis: Die Philosophie wird durch diese Formel darauf aufmerksam gemacht, dass sie die Aussicht hat, die Wahrheit, auf die sie aus ist, auch vom Boden der Geschichte aus zu entdecken – vorausgesetzt sie hat gelernt, dort in der rechten Weise nach ihr zu suchen. Auf diesem Boden eröffnen sich jedenfalls Chancen für jeden, der – nach einer Formulierung von Rainer Specht – Ausgangspunkte für Fahrten sucht, von denen noch niemand weiß, wohin sie führen. Zuerst erschienen in: Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte. Festschrift für Rainer Specht zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Rolf W. Puster. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1995, S. 9–30.

Dialektik und Relationen

Bringen Philosophen die Rede auf die Dialektik, so müssen sie sich darauf gefasst machen, dass ihre Gesprächspartner misstrauisch werden. Bei manch einem steht der Name der Dialektik in dem Verdacht, etwas Irratio­nales zu bezeichnen, auf das sich zu beziehen pflegt, wer die Klarheit, aber auch die Mühen eines der Logik verpflichteten, kontrollierten und kontrollierenden Denkens scheut. Der Dialektiker akzeptiert, wie man ihm oft unterstellt, mitnichten die Verpflichtung, Widersprüche zu vermeiden und sie dort, wo sie ihm begegnen, in jedem Fall aufzulösen. Während jede Wissenschaft, aber auch die gesamte zur Dialektik in Distanz stehende Philosophie einen Widerspruch stets als Indiz für einen Fehler behandeln, den es zu korrigieren und dessen Ursprung es aufzudecken gilt, scheint der Widerspruch auf der anderen Seite des Dialektikers liebstes Kind zu sein. Gewiss sind es Missverständnisse, die derartigen Einschätzungen zugrunde liegen. Trotzdem wird der Dialektiker zugestehen müssen, dass es in seinem Umkreis bislang noch nicht gelungen ist, universell gültige Regeln dialektischen Denkens in abstracto darzustellen und damit eine Möglichkeit zu eröffnen, dieses Denken mitsamt seinen Resultaten einer Nachprüfung auszusetzen. Wohl ist immer wieder einmal der Versuch unternommen worden, dialektisches Denken nicht nur zu praktizieren, sondern auch zum Gegenstand einer Theorie zu machen. Aber bislang ist es eben doch noch niemals gelungen, die formale Struktur dieses Denkens freizupräparieren und in einer Weise darzustellen, die den Vergleich mit den Theorien der formalen Logik, an der sich die Dialektiker gerne im Modus der Abgrenzung orientieren, nicht mehr zu scheuen braucht. Vielleicht wird diese Aufgabe eines Tages schließlich doch noch gelöst werden. Denkbar ist es aber auch, dass diese Aufgabe aus prinzipiellen Gründen gar nicht bewältigt werden kann. Einer derartigen Vermutung haben Dialektiker des öfteren Ausdruck gegeben. So ist es durchaus verständlich, wenn deren Sache von weniger wohlwollenden Beurteilern gelegentlich in die Nähe des Obskurantismus gerückt wurde. Natürlich lässt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass eine Theorie der Dialektik vielleicht nur dann entwickelt werden kann, wenn diese Theorie bereits selbst die Regeln auf implizite Weise befolgt, um deren Formulierung und Rekonstruktion sie sich bemüht. Doch selbst dann bliebe die Frage bestehen, ob eben dieser Sachverhalt noch von einem Standort außerhalb der Dialektik aus gedeutet und vielleicht sogar erklärt werden kann.

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Nun sind es offensichtlich sehr unterschiedliche Dinge, auf die der Name der Dialektik im Laufe der Geschichte angewendet worden ist und noch angewendet wird. Als erster Dialektiker der antiken Tradition gilt nicht etwa Heraklit, sondern Zenon von Elea. In seinen Paradoxien fand man die frühesten Paradigmen dialektischen Denkens. Es handelt sich um Paradoxien wie etwa die vom Pfeil, der an jedem Punkt seiner Flugbahn ruht oder die von Achill, der die Schildkröte, der er im Wettlauf einen Vorsprung eingeräumt hat, niemals einholen kann. Es sind Paradoxien, deren Lösung auch noch das Denken unserer Tage beschäftigt. Durchmustert man dann die Geschichte der Philosophie auf die Spielarten hin, in denen sich dialektisches Denken präsentiert hat, so fällt es schwer, gemeinsame Merkmale aufzufinden, die Zenon und Platon, Aristoteles und Plotin, Meister ­E ckhart und Kant, Schelling und Hegel in Bezug auf die Art ihres Denkens gemeinsam wären. Zwar wird man nicht erwarten dürfen, mit Hilfe einer Abstraktion auf der Basis verschiedener Spielarten der Dialektik einen als Organon dialektischen Denkens geeigneten Formalismus entwickeln zu können, dessen korrekte Anwendung dem Dialektiker haltbare Ergebnisse garantierte. Vergleichbares leistet schließlich für ihren Bereich auch die formale Logik nicht, also eine Disziplin, an der man sich oftmals als an einem Gegenbild orientiert hatte, um eine vermeintlich höhere, eben eine dialektische Logik gewinnen zu können. Es ist indessen noch nicht einmal gelungen, eine Theorie zu entwickeln, die, in der kantischen Sprache ausgedrückt, wenn schon nicht als Organon, so doch wenigstens als Kanon zur Beurteilung der Resultate dialektischen Denkens hätte dienen können. Dann bleibt aber immer noch die Frage, ob sich zumindest die Gründe einsehen lassen, die für das Scheitern der einschlägigen bisher unternommenen Versuche verantwortlich sind. Die Merkwürdigkeit bleibt, dass die Geschichte der Philosophie eine nicht sehr große Anzahl von Denkern kennt, die Dialektik in der einen oder in der anderen Gestalt praktiziert haben. Man findet jedoch kaum jemanden, dem es gelungen wäre, von gelegentlichen Teilstücken abgesehen, Struktur und Regelsystem des so praktizierten Denkens darzustellen1. Will man dem Eigentümlichen des dialektischen Denkens gerecht werden, so empfiehlt es sich, bei der Kategorie der Relation anzusetzen. In der von Aristoteles entwickelten Kategorienlehre2 gehört die Relation zu den akzidentellen Bestimmungen, die allesamt im Gegensatz zur Substanz­ kategorie stehen. Akzidenzien können niemals für sich allein existieren, 1

Unter den neueren Versuchen vgl. besonders Dieter Wandschneider, Grundzüge einer Theorie der Dialektik. Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorien­entwicklung in Hegels „Wissenschaft der Logik“, Stuttgart 1995. 2 Vgl. insbesondere Cat. 7; Met. V 15.

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da sie immer nur an einer Substanz und in Bezug auf sie vorkommen. Anders als alle übrigen akzidentellen Kategorien wird aber die Relation nicht durch einen einstelligen, sondern durch einen mehrstelligen Prädikator ausgedrückt. Relationen kommen nicht als Bestimmungen an nur einer Substanz vor, weil sie Beziehungen zwischen mindestens zwei Substanzen repräsentieren. Deshalb gehört es zur Eigenart der Relationen, mit anderen akzidentellen Kategorien gleichsam verschränkt sein zu können. Es sind nun einmal in jedem Fall ganz bestimmte Merkmale, die die Beziehung stiften, in der eine Substanz zu einer anderen Substanz steht. Das mögen bald quantitative, bald qualitative Merkmale sein, nicht selten jedoch aber auch Bestimmungen, die einer der anderen akzidentellen Kategorien zuzuordnen sind. Für unseren gegenwärtigen Zusammenhang ist die in der Geschichte der Kategorienlehre häufig verhandelte Frage, ob die Relation als eine reale oder lediglich als eine mentale, nur von der urteilenden Instanz hergestellte Beziehung zu verstehen ist, nicht so sehr von Belang. Wichtiger ist die Tatsache, dass die aristotelische Theorie der stets nur akzidentellen Relationen zu der Konsequenz führt, dass die Relate – man spricht von ihnen auch als von den Fundamenten der Relation – nicht verändert oder modifiziert werden, wenn sie in eine Relation eintreten. Wie immer man auch den aristotelischen Essentialismus deutet, realistisch oder idealistisch, logisch oder sprachanalytisch, – das seiner Selbständigkeit wegen im eminenten Sinne Seiende, nämlich die Substanz, steht den Relationen, in denen sie sich befindet oder in die sie gesetzt wird, gleichgültig gegenüber, weil sie von ihnen in ihrem Wesen nicht tangiert wird. Eine Substanz bleibt deswegen immer identisch das, was sie ist, welcher Art auch die Relationen sein mögen, in denen sie zu anderen Substanzen steht. Dieses Verständnis der Relation spiegelt sich auch in der Tatsache, dass Aristoteles Relationen durch einen Ausdruck in der Pluralform, nämlich durch die Angabe ihrer Fundamente, also der Relate, zu bezeichnen pflegt. In der Linie dieser extensional orientierten Konzeption steht auch noch die durch die moderne Logik bestimmte Darstellung, die die Relation durch die Menge der geordneten Paare oder, bei mehr als zweistelligen Relationen, durch die Menge der geordneten n-Tupel bezeichnet, zwischen deren Gliedern die entsprechende Beziehung besteht. Aristoteles erörtert allerdings gegen Ende des einschlägigen Kapitels der Kategorienschrift die Frage, ob sich nicht doch noch Gründe finden lassen, die für die Annahme substantieller Relationen sprechen, also von Relationen, in denen Substanzen nicht nur akzidentell, sondern auf Grund der ihr jeweiliges Wesen ausmachenden Bestimmungen stehen. Obwohl er die zugunsten einer solchen Annahme sprechenden Gründe durchaus ernst nimmt, räumt er am Ende doch der strikt essentialistischen Annahme den Vorrang ein, gemäß der keine Substanz ein Relativum sein kann.

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Trotzdem ist damit der systematische Ort bezeichnet, von dem aus in der Folgezeit das Verständnis von Relationen und von den Relativa weiter entwickelt und differenziert wurde. Hier geht es um Erörterungen, die auf längere Sicht zu einer immer stärkeren Aufwertung der Relation führen sollten. Denn die Relation musste sich, wie sich zeigte, nicht für alle Zeiten mit der untergeordneten Stellung begnügen, die ihr von Aristoteles als einer nur akzidentellen Kategorie zugewiesen worden war. Das zeigt sich nicht erst an der Schwerpunktverlagerung vom Begriff der Substanz zu dem der Funktion, also zu einem qualifizierten Relationsbegriff, wie er für die Begrifflichkeit der exakten Wissenschaften der Neuzeit bestimmend wurde. Schon die christliche Theologie sah sich im Zuge der Übernahme von Denkfiguren der antiken Philosophie veranlasst, substantielle Relationen anzunehmen, um das Trinitätsdogma auf den Begriff bringen zu können. Mit der zentralen Stellung des Dogmas von den drei aufeinander bezogenen Personen Gottes ließ sich nicht mehr gut eine Auffassung vereinbaren, die die Relation lediglich als eine akzidentelle Bestimmung versteht. Auch aus diesem Grund hat das Mittelalter eine weit verzweigte, auch heute nur zu einem geringen Teil rezipierte Differenzierung der Relationstheorie entwickelt3. Ein vorläufiges Ende und zugleich einen Höhepunkt der zu einer Aufwertung und Rehabilitierung führenden Entwicklung markiert die Konzeption des internen – oder genauer: des auch internen – Charakters der Relationen, wie sie, unter dem Einfluss Hegels, vor allem von F. H. Bradley ausgearbeitet wurde. Diese Konzeption wurde in England zum Gegenstand einer lebhaft geführten Kontroverse4. Es ist freilich eine Kontroverse, die auch um die Realität und damit um den ontologischen Status der Relationen geführt wurde. Die Frage nach der Berechtigung, interne Relationen anzunehmen, war es auch, an deren Beantwortung sich die Denkwege A. N. Whiteheads und B. Russells trennten, die mit den gemeinsam verfassten „Principia Mathematica“ das Standardwerk der Logik unseres Jahrhunderts vorgelegt hatten, dem nicht zuletzt gerade die Relationenlogik eine nachhaltige Förderung verdankt. 3

Vgl. Kurt Flasch, Zur Rehabilitierung der Relation, in: Wilhelm Friedrich Niebel / ​ Dieter Leisegang (Hg.), Philosophie als Beziehungswissenschaft, Frankfurt a. M. 1971, S. 5–25; Anton J. Krempel, La doctrine de la relation chez St. Thomas, Paris 1952. 4 Zentrale Texte sind: Francis Herbert Bradley, Appearance and Reality. A Metaphysical Essay, London 21897, bes. S. 21–29 u. 512–524; ders., Relations, in: Collected Essays, Oxford 1935, S. 628–676; George Edward Moore, External and Internal Relations, in: Proceedings of the Aristotelian Society 1919–20, S. 40–62; Alfred Jules Ayer, Internal Relations, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. Bd. 14, 1935, S. 173–185; Gilbert Ryle, Internal Relations, in: ebd., S. 154–172. Vgl. dazu auch Rolf-Peter Horstmann, Ontologie und Relationen. Hegel, Bradley, Russell und die Kontroverse über interne und externe Beziehungen, Königstein / Ts. 1984.

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Interne Relationen sind dadurch charakterisiert, dass ihnen ihre Fundamente nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil diese durch sie modifiziert und gestaltet werden. Die Fundamente solcher Relationen können ihre Identität nicht bewahren, wenn sie in andere interne Relationen eingefügt werden. Die von Bradley entwickelte Theorie ist jedoch nicht schon durch die Anerkennung der Existenz interner Relationen überhaupt charakterisiert, sondern vornehmlich dadurch, dass sie keine anderen Relationen als solche interner Art annimmt. So wirkt sich jede Relation, in der Dinge zueinander stehen, auf alle Eigenschaften dieser Dinge aus. Wenn nun aber alle Relationen dem so konzipierten internen Typus zuzuordnen sind, kann es kein endliches Ding geben, das ohne Einschränkung selbständig existieren könnte. Denn zu seinem Wesen gehört in jedem Fall der Inbegriff aller internen Relationen, in denen es als eines von deren Fundamenten steht. Die Annahme des internen Charakters aller Relationen führt Bradley folgerichtig zum Entwurf einer holistischen Metaphysik eines Absoluten, das alle Dinge, die ja ohnehin nicht im vollen Sinne selbständig existieren können, in einem Geflecht interner Relationen auf sich und zugleich auch aufeinander bezieht. Unter der Herrschaft des Konzepts des internen Charakters aller Relationen können alle vermeintlichen Dinge in Wahrheit nicht mehr als Elemente, sondern nur noch als unselbständige Momente der einen umfassenden Wirklichkeit erscheinen. Eine solche Theorie der Wirklichkeit wird nicht zufällig mit Hilfe des Namens der Dialektik charakterisiert. In ihr präsentieren sich denn auch eigentümliche Umschlagphänomene, weil ein jedes Ding je nach der Relation, in der es steht und die man bei seiner Betrachtung akzentuiert, in einem immer wieder neuen Licht erscheint, wenn es sich dabei um eine interne Relation handelt. Da jedoch der Inbegriff aller dieser Relationen vom menschlichen Erkenntnisvermögen niemals adäquat und schon gar nicht simultan erfasst werden kann, kommt es dort, wo eine derartige Dialektik praktiziert wird, nämlich beim sukzessiven Durchgang durch diese Relationen, zu jenen Umschlagphänomenen, die den Gegenstand der Betrachtung im Vergleich zu dem, was er zunächst zu sein schien, plötzlich ganz anders als zuvor präsentieren. Ohne Zweifel ist es lohnend, von der Konzeption der internen Relationen Gebrauch zu machen, wenn man der eigentümlichen Bewegung und der Dynamik, die dem dialektischen Denken eigen ist, gerecht werden will. Entwirft man auf dieser Basis eine Metaphysik, also eine Theorie der Wirklichkeit, die man dann als eine dialektische Theorie bezeichnen mag, so handelt es sich dabei noch nicht um eine Theorie der Dialektik. Um dahin zu gelangen, bedarf es noch eines weiteren Schrittes. Gewiss kann man eine Theorie der Wirklichkeit auf der Basis der Konzeption der internen Relationen entwickeln, die man in der Wirklichkeit sucht und zu finden

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hofft. Aber auch dann kann man in dieser Theorie selbst ausschließlich mit Begriffen arbeiten, die nach dem Vorbild eines der formalen Logik verpflichteten Systems nur in externe Relationen eingehen, durch die sie nicht verändert werden. Der Charakter des Dialektischen ist in diesem Fall nur dem Gegenstand der Theorie eigentümlich, aber nicht auch zugleich der Theorie selbst. Man braucht sich durch diese Differenz nicht irritieren zu lassen. Ohnehin kommen im Normalfall die den Gegenstand einer Theorie charakterisierenden Eigenschaften nicht gleichzeitig auch dieser Theorie selbst zu. Im Bereich anschaulicher Sachverhalte ist dies freilich trivial. Eine Theorie über Farben ist nun einmal selbst nicht farbig. Wenn aber nicht oder nicht nur der Gegenstand einer Theorie, sondern vor allem die Theorie selbst dialektisch sein soll, so muss man sich entschließen, auch mit den Elementen der Theorie, also mit ihren Begriffen auf entsprechende Weise umzugehen. In einem solchen Falle wird man also auch die Beziehungen zwischen Begriffen als interne Relationen behandeln, die die Fähigkeit haben, ihre Fundamente, nämlich die Begriffe selbst, zu modifizieren. Es kann dahingestellt bleiben, ob jeder Begriff, der einem begegnet, in eine interne Relation eingefügt werden kann, weil vorerst das Zugeständnis hinreicht, überhaupt mit Begriffen auf diese Art umgehen oder derartige Begriffe bilden zu können. Erst dort aber, wo man interne Relationen nicht nur zwischen den Gegenständen einer Theorie, sondern auch zwischen den Elementen der Theorie selbst annimmt, liegt dialektisches Denken im engeren Sinne des Wortes vor. Es bleibt Sache einer terminologischen Konvention, ob man in diesem Fall noch vom Namen der Theorie Gebrauch machen will oder ob man diesen Namen ausschließlich im traditionellen Sinne verwenden und ihn der Bezeichnung von begrifflichen und von propositionalen Gebilden vorbehalten will, deren Elemente ausschließlich durch externe Relationen verknüpft sind. Die Möglichkeit, dialektisches Denken zu praktizieren, zwingt jedoch nicht zu der Annahme, dass auch jede Theorie, die sich dieses Denken zum Gegenstand macht, den Charakter des Dialektischen aufweisen muss. Einen guten Teil der Erscheinungsformen, unter denen dialektisches Denken bislang aufgetreten ist, kann man indessen charakterisieren, wenn man sie als Ausdruck einer Methode deutet, die es zulässt, zwischen Begriffen auch interne, die jeweiligen Relate modifizierende Beziehungen anzunehmen und die sich im Umgang mit ihnen über diese Modifikationen auch Rechenschaft gibt. Die Frage nach der Möglichkeit einer dialektischen Theorie ist von sekundärer Bedeutung, wenn man nur die Möglichkeit eines durch die Annahme interner Relationen ermöglichten dialektischen Umgangs mit Begriffen zugesteht, gleichgültig, welcher Charakter der Theorie eigen ist, die sich das Ziel setzt, Klarheit über die Eigenart dieses Umgangs zu verschaffen.

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Wenn unter der Voraussetzung der Existenz interner Relationen Begriffe modifiziert werden, sobald sie in solche Relationen eintreten, kann man im Umkreis des dialektischen Denkens mit Begriffen niemals wie mit ein für alle Mal gegebenen, unveränderlichen Elementen operieren. Diese Tatsache macht es denen, die sich am Leitbild der formalen Logik orientieren, sehr schwer, dialektischem Denken unbefangen gegenüberzutreten, wenn sie mit ihm konfrontiert werden. Wird überdies noch die Eigenart interner Relationen verkannt, so kann es leicht zu einer Einstellung kommen, die im dialektischen Denken die Begriffe bloßer Beliebigkeit und Willkür ausgeliefert zu sehen meint. Aber auch wer von einer anderen Wissenschaft geprägt ist, deren begriffliches Gerüst durch fixe oder sogar definitorisch eingeführte Fachtermini bestimmt ist, lässt sich leicht zu einer derartigen Einstellung verleiten. Das Musterbeispiel für eine derartige Disziplin liefert die Mathematik, da sich innerhalb eines axiomatischen Systems die Bedeutung der explizit oder implizit definierten Elemente niemals ändert. Wo formal operiert wird, bedarf es in jedem Fall eines aus fixen und unveränderlichen Elementen bestehenden Materials. Gerade unter diesem Gesichtspunkt sollte man auch würdigen, wie Aristoteles im Zuge der Entwicklung der Syllogistik, also des ältesten für uns greifbaren formalen Systems überhaupt, in den „Ersten Analytiken“ diesem Erfordernis gerade dadurch gerecht wird, dass er bei der Darstellung der gültigen Schlüsse konsequent auf konkrete, auch inhaltlich bestimmbare Begriffe verzichtet und die den Syllogismus konstituierenden Terme ausschließlich mit Hilfe von Buchstaben markiert. Nun lassen sich außerhalb formaler Wissenschaften von der Art der Mathematik oder der Logik die Techniken des axiomatischen Systems ebenso wie die des formalen Operierens allenfalls in Teilbereichen fruchtbar machen. Diese Techniken sind nicht geeignet, den Gesamtbereich einer empirischen Wissenschaft mitsamt ihren Resultaten in eine Ordnung zu fügen. Aber auch eine empirische Wissenschaft kann niemals auf eine Orientierung an Fixpunkten verzichten, wie sie durch eine Fachterminologie dokumentiert werden. Die Entwicklung einer Wissenschaft kann gewiss manchmal dazu zwingen, innerhalb ihres Begriffsnetzes die Bedeutung einzelner Termini zu modifizieren oder Termini auszuwechseln. In seltenen Fällen kann es sogar zweckmäßig sein, das gesamte Begriffsnetz neu zu knüpfen. Trotzdem ist für die in der Fachterminologie dokumentierten Grundbegriffe eine zumindest relative Unveränderlichkeit eigentümlich. Auf sie kann sich der Forscher im Nahbereich, aber auch in einem weiten Mittelbereich seiner Arbeit stets verlassen. Man könnte weder in einer formalen noch in einer empirischen Wissenschaft mit Aussicht auf Erfolg arbeiten, müsste man damit rechnen, dass die Grundbegriffe durch jede Relation modifiziert werden, in die sie im Zuge der täglichen Arbeit des Forschers

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eintreten. Nun bleiben in den positiven Wissenschaften die Grundbegriffe auf längere Sicht gewiss nicht immer konstant. Thomas Kuhns Theorie der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen mitsamt des in ihnen sich vollziehenden Paradigmenwechsels hat zu erklären versucht, warum es in der Entwicklung der Wissenschaft selbst liegende Gründe sind, die auf längere Sicht immer wieder einmal zu einer Revision der Grundbegriffe führen. In diesen Revolutionen wird gleichsam der Preis eingefordert, der dafür bezahlt werden muss, dass die Epochen der Normalwissenschaft die Arbeit unter der Bedingung fixierter Voraussetzungen garantieren, die als solche vorerst weder in Frage gestellt noch modifiziert werden. Jede positive Wissenschaft bedarf zu ihrer Arbeit einer Orientierung an fixierten Begriffen, auf die sie dank ihrer Unveränderlichkeit selbst dann immer wieder zurückkommen kann, wenn diese Unveränderlichkeit im Laufe der Entwicklung allmählich zu einer Fiktion wird. Die Elemente des Begriffssystems, das einer positiven Wissenschaft zugrunde liegt, sind daher für den Normalfall stets durch externe Relationen untereinander verknüpft. Spricht man von Relationen, die zwischen Begriffen bestehen, mögen diese Relationen nun externer oder interner Natur sein, so ist eine Präzisierung sinnvoll. Man pflegt sich in solchen Fällen zunächst an der einfachsten Form der Aussage zu orientieren, nämlich an der Aussage, die einen gewöhnlichen Prädikator auf ein und nur ein Subjekt bezieht. Die moderne Logik spricht in solchen Fällen von einstelligen Prädikatoren und stellt ihnen die Relationen als mehrstellige Prädikatoren gegenüber. Nun ist es die Frage, ob es korrekt ist, auch die Feinstruktur der einfachen, nur aus Subjekt und einstelligem Prädikat bestehenden Aussage als eine Relation zu verstehen. Die übliche Dokumentation, die dem Subjekt ebenso wie dem Prädikat je ein Zeichen zuordnet, begünstigt jedenfalls eine derartige Deutung. Doch die Frage, ob bereits die einfache Aussage eine Relation repräsentiert, lässt sich nicht einfach durch eine pragmatische Definition des Begriffs der Relation beantworten. Denn man muss der Tatsache gerecht werden, dass gewöhnliche, also einstellige Prädikate nicht anders als mehrstellige Prädikate von ihren Subjekten oder entsprechend von ihren Relaten zunächst einmal ausgesagt, prädiziert werden. Werden aber Relationen ebenso wie einstellige Prädikate ausgesagt, dann gerät man in Schwierigkeiten, wenn man auch die gewöhnliche, einstellige Prädikation als eine Relation deutet, indem man einen mehrstelligen Prädikator als Ausdruck einer Relation versteht, da diese Relation wie alle anderen Relationen ja zu ihren Fundamenten in der ganz andersartigen Aussagerelation stehen müsste. Wer die gewöhnliche Aussage als eine Relation zwischen zwei Elementen deutet, müsste wiederum auch das Bestehen dieser Relation in Bezug auf ihre Fundamente aussagen und sich damit, wenn er nur konsequent ist, in einen unendlichen Regress verstricken. Dennoch ist es im vorliegenden

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Zusammenhang nicht unbedingt erforderlich, diese Aporie aufzulösen, wenn man dem Wesen der Aussage gerecht werden will. Hier kann, zumindest als erste Näherung, eine pragmatische Lösung im Sinne eines Stufenmodells ausreichen, die die durch das Faktum der Prädikation hergestellte Struktur von der Relation unterscheidet, die zwischen deren Fundamenten besteht. In jedem Fall muss man nur die Aussagestruktur von der Struktur dessen, was ausgesagt wird, sorgfältig unterscheiden. Eine Näherung reicht deswegen aus, weil es hier nur auf die Einsicht ankommt, dass jede der ins Spiel kommenden Strukturen in der Weise einer externen, ebenso wie in der einer internen, Relation auftreten kann. Handelt es sich um eine interne Relation, oder – im Falle einer einfachen Aussage – um das Analogon zu einer internen Relation, muss man davon ausgehen, dass das Subjekt oder die Subjekte einer Aussage nicht bleiben, was sie sind, sobald ein Prädika­ tor von ihnen ausgesagt wird. Manche der dem Verständnis nur schwer zu vermittelnden Eigenarten des dialektischen Denkens lassen sich auf dieser Grundlage erschließen. Gerade die auf den ersten Blick stets befremdlich erscheinende Eigentümlichkeit, dass dem dialektischen Denken in seinem Vollzug die Elemente und Gegenstände nicht identisch dieselben bleiben, die sie zunächst waren, wird verständlich, wenn man auch die gewöhnliche Aussage nach Analogie einer internen Relation deutet. Wer mit axiomatischen Systemen umgeht, kann stets wahrheitsdefinite Sätze und konventionell eingeführte Definitionen, die als solche natürlich nicht wahrheitsdefinit sind, randscharf voneinander unterscheiden. Wo man empirische Wissenschaft betreibt, lassen sich zumindest noch grundsätzlich terminologische Konventionen gegenüber wahrheitsdefiniten Aussagen abgrenzen, auch wenn es gelegentlich schwerfallen mag, den Verlauf dieser Grenze exakt nachzuzeichnen. Wahrheitsdefinite Sätze haben jedoch in beiden Fällen die logische Struktur von Wenn-Dann-Sätzen. Sie sagen aus, etwas Bestimmtes sei der Fall, aber nicht schlechthin, sondern unter bestimmten Voraussetzungen. Die konventionell eingeführten Einheiten, selbst nicht wahrheitsfähig, ermöglichen auf diese Weise einen bestimmten Typus von wahrheitsdefiniten Aussagen, in die sie als deren Elemente eingehen. Sie erfüllen dabei zugleich eine abschirmende Funktion, da sie solange, als man normale Wissenschaft betreibt, eine Begründung weder erfordern noch auch nur erlauben. Es sind in exemplarischer Weise gerade die auf Grund von Konventionen definierten Begriffe, die durch die Relationen, in die man sie einfügt, nicht modifiziert werden. Hier kann man sicher sein, dass ein Begriff, kommt man auf ihn zurück, sich unterdessen nicht verändert hat. Die Randbedingungen, unter denen dialektisches Denken praktiziert wird, sind von ganz anderer Art. Dort sind die Voraussetzungen gerade nicht gegeben, wie sie für eine axiomatische oder für eine zumindest an einem Netz fester Grundbegriffe orientierte Wissenschaft charakteristisch

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sind, die die Möglichkeit einer randscharfen Abgrenzung zwischen konventionellen und wahrheitsdefiniten Elementen eröffnen. Wer die Dokumente eines derartigen Denkens analysiert, muss gewärtig sein, auch Elementen zu begegnen, die in ein Einzugsgebiet diesseits jener Abgrenzung zu gehören scheinen, weil sie sich, geht man mit ihnen um, gleichsam unter der Hand verändern. Begegnet man ihnen wieder, sind sie nicht mehr identisch dieselben Elemente wie zuvor. Auch darin gründet die Irritation, die das dialektische Denken bei denjenigen bewirkt, die es mit den Mitteln der formalen Logik und der Semantik zu erfassen suchen. Aber auch wenn dieses Denken an internen Relationen orientiert bleibt und zugleich von solchen Relationen Gebrauch macht, so ist gleichwohl nicht einzusehen, weshalb es nicht möglich sein sollte, Strukturen freizulegen, die es erlauben, das dialektische Denken schließlich doch noch einer Kontrolle zu unterziehen. Will man Klarheit über diese Dinge gewinnen, empfiehlt es sich, die Orientierung an der Begrifflichkeit und an der Argumentationstechnik, die in den positiven Wissenschaften kultiviert werden, aufzugeben und stattdessen den vorwissenschaftlichen Umgang mit der Sprache ins Auge zu fassen. Wo ein Gespräch geführt wird, bedarf es keines randscharf definierten Begriffssystems, das den Partnern gemeinsam sein müsste, wenn das Gespräch nicht scheitern soll. Hier genügt es, darauf vertrauen zu können, dass sich bei den Gesprächspartnern die einschlägigen Bedeutungsfelder überschneiden und einen hinreichend großen gemeinsamen Bereich haben. Ein Gespräch scheitert, wenn es keinen derartigen Bereich gibt. Das ist eine triviale Feststellung, weil in diesem Fall die Partner verschiedene Sprachen sprechen und in Wirklichkeit aneinander vorbeireden. Weniger trivial ist es, dass ein Gespräch auch dann scheitert oder erst gar nicht in Gang kommt, wenn die Partner exakt identische Begriffsapparate mitbringen, wenn sie in das Gespräch eintreten. Dergleichen wird indessen nur dann vorkommen, wenn es sich um ein formalisiertes Begriffssystem etwa von der Art einer Axiomatik handelt. Gewiss kann man sich über ein solches System verständigen und es zum Gegenstand eines Gesprächs machen. Innerhalb dieses Systems kann man formal operieren. Ein Gespräch führen kann dagegen nur, wer eine Position außerhalb eines derartigen Systems bezieht. Wer dies nicht berücksichtigt, wird bald die Erfahrung machen, dass er in einem System von perfekt ausdefinierten Begriffen niemandem mehr irgend etwas mitteilen kann, dass ihm umgekehrt aber auch nichts mitgeteilt werden kann. Denn ein Gespräch kommt nur zustande, wenn die Sprache, in der es geführt werden soll, hinreichend viele Elemente enthält, die gerade noch nicht perfekt ausdefiniert sind. Der Prozess des Verstehens kann in Gang kommen, wo den Begriffen, die in ihn eintreten, ein gewisses Maß an Plastizität eigen ist. Versucht man, etwas zu verstehen oder etwas zu erfahren, so sind die Begriffe, deren man sich bedient, hat man mit seinem

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Versuch Erfolg, am Ende nicht mit letzter Exaktheit dieselben, die sie zuvor waren. Die Modifikationen, die sie in einem Gespräch oder innerhalb eines Verstehensprozesses erfahren, mögen in jedem Einzelfall verschwindend gering sein. Wo jedoch ein Gespräch begonnen wird und wo es in Gang bleibt, müssen gleichwohl diese Rahmenbedingungen gegeben sein. Denn der von der Hermeneutik mit Hilfe der Metapher der Horizontverschmelzung charakterisierte Prozess findet im Grunde in jedem produktiven Gespräch statt, auch wenn die Modifikationen der ins Spiel kommenden Begriffe dort fast immer nur unterschwellig und daher im individuellen Fall auf unmerkliche Weise stattfinden. Nur scheinbar bleiben die Begriffe im Verlauf eines Gesprächs konstant. Doch selbst dieser Schein erfüllt noch eine Funktion, weil er den Gesprächspartnern die Orientierung an der gemeinsam intendierten Sache ermöglicht. Diese Zusammenhänge lassen sich auch anhand der Dialoge Platons studieren. Sie sind das bis heute niemals wieder erreichte Muster einer philosophischen Gesprächskunst geblieben. Gerade die frühen aporetischen Definitionsdialoge zeigen deutlich, wie sich Begriffe allein schon dann ändern können, wenn man mit ihnen in der Weise umgeht, dass man sie und ihre Inhalte zum Gegenstand von Fragen und von Untersuchungen macht. Ein besonderer Reiz dieser Gespräche beruht gerade auf der Unterschwelligkeit, mit der sich für die Partner des Sokrates die Umformung der Begriffe abspielt. Sokrates selbst behält dagegen die Fäden immer in der Hand, weil er den Begriffswandel, der sich auf für die Partner unmerkliche Weise vollzieht, mit Hilfe seiner Fragekunst überblickt und sogar gezielt ins Werk setzen kann. Den Partnern werden diese Dinge erst dann bewusst, wenn ihre Äußerungen und ihre Antworten gleichsam aufsummiert werden. Dann können sie sich der Aporie bewusst werden, in die sie geraten sind, weil sie sich entweder in Widersprüche verwickelt haben oder aber sich plötzlich darüber klar werden, dass sie nicht wissen, was das ist, was ihnen bis dahin selbstverständlich zu sein schien. Sie verstehen zunächst nicht, was mit ihnen geschieht, weil sie sich nicht darüber Rechenschaft geben können, inwiefern im Verlauf des Gesprächs auch mit den Begriffen etwas geschieht. Auch Begriffe haben ihre Schicksale. Diese Erfahrung ist für die Partner des Sokrates beunruhigend, weil der mit einer Definitionsfrage in Gang gebrachte Dialog ja von der stillschweigenden Annahme der Konstanz der Begriffe ausgeht. Spätestens mit der Aporie wird indessen der fiktive Charakter dieser Voraussetzung offenkundig. Der Dialog stellt sich für Sokrates daher auf eine andere Weise dar als für seine Partner. Vielleicht fordert der Dialog den Leser auf, sich in die Rolle eines der Partner des Sokrates zu versetzen. Das allein würde jedoch für ein angemessenes Verständnis noch nicht ausreichen. Denn der Leser soll ja gerade verstehen, was die Partner, die nicht wissen, was mit ihnen geschieht, vorerst nur erleiden.

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In den Dialogen Platons wird Sokrates als eine Gestalt dargestellt, die im Besitz einer Fähigkeit ist, die auch als die Fähigkeit der Unterredung bezeichnet wird (δύναμιϚ τοῦ διαλέγεσθαι). Gelegentlich ist auch einmal von einem dialektischen Wissen (ἐπιστήμη διαλεκτική) die Rede. Die Differenz zwischen den Bedeutungen beider Ausdrücke ist allerdings geringer als es die entsprechenden deutschen Bezeichnungen zunächst vermuten lassen, weil die Mehrzahl der griechischen Ausdrücke für den Begriff des Wissens ohnehin Dispositionen ebenso wie Fähigkeiten und Fertigkeiten mit einschließt. Es ist eine Fähigkeit, die es Sokrates ermöglicht, die Begriffe, mit denen er im Gespräch zu tun hat, auch in solche Relationen einzufügen, die die Kraft haben, ihre Fundamente auch zu modifizieren. Solche Modifikationen sind in einem gewöhnlichen Gespräch, obwohl sie auch dort niemals ganz fehlen, zumeist nur von randständiger Bedeutung. Es bedarf schon einer Fähigkeit, wie sie von Sokrates verkörpert wird, um dergleichen in einem Dialog auch sichtbar werden zu lassen. Dann ist aber nur noch ein kleiner Schritt vonnöten, um eine Technik zu entwickeln, die es erlaubt, mit Begriffen so umzugehen, dass sie ausschließlich in derartige Relationen, eben in interne Relationen eingefügt werden. Die Kunst, mit Begriffen in dieser Weise zu verfahren, ist die Kunst der Dialektik. Sie wird von Platon in einigen seiner späten Werke vorgeführt, in denen das dialogische Element, obwohl noch präsent, in den Hintergrund getreten ist. Der Wandel im Bereich der Bedeutungen der Begriffe ist dort das planmäßig anvisierte Ziel des Umgangs mit ihnen und nicht nur eine Nebenwirkung, die man in Kauf nehmen muss. Die Einsicht in die Dynamik, die in Begriffen verborgen sein kann, wenn man in der hier angezeigten Weise mit ihnen umgeht, erleichtert es einem, auch dem Umgang mit Begriffen gerecht zu werden, der jene Dynamik gänzlich neutralisiert. Ihn praktiziert man vor allem dann, wenn man Mathematik treibt und sich daher ausschließlich mit externen Relationen zwischen seinen Begriffen befasst. So ist es kein Zufall, dass bei Platon Dialektik und Mathematik als zwei Disziplinen erscheinen, die trotz ihrer Gegensätzlichkeit aufeinander bezogen bleiben: Der Mathematiker setzt Hypothesen an, von denen er ausgeht, hinter die er nicht zurückfragt und die sich daher als feste Größen nicht verändern, welchen Gebrauch er auch sonst von ihnen machen mag. Auch die ohnehin schon sehr eingeschränkte Begriffsdynamik, die in jedem Gespräch immer noch virulent ist, ist hier aufgehoben. Es ist die Aufgabe des Dialektikers, die Voraussetzungen des Mathematikers aufzuheben und damit zugleich einen Umgang mit den Begriffen zu praktizieren, der die in ihnen angelegte Dynamik freisetzt5. Hier wird zugleich ein Stück jenes historischen Hintergrundes sichtbar, der dem 5

Vgl. bei Platon Rep. 510b ff., 531e ff.

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Orientierungshilfe geben kann, der sich darum bemüht, Klarheit über das Wesen des Dialektischen zu gewinnen. Es sind mancherlei Versuche unternommen worden, eine Theorie der Dialektik zu entwickeln. Doch jeder dieser Versuche hat selbst im Lager derer, die sich selbst als Dialektiker verstehen, allenfalls innerhalb eines engeren Zirkels Anerkennung finden können. Außerhalb des Kreises derer, die sich einer wie auch immer verstandenen Dialektik verpflichtet fühlen, ist es ohnehin kaum einmal einem dieser Versuche gelungen, die Sache der Dialektik auch einem Außenstehenden verständlich zu machen. Das mag freilich auch daran liegen, dass man zumeist nicht hinreichend genau zwischen einer dialektischen Theorie und einer Theorie der Dialektik unterscheidet. Fordert man dann noch von einer Theorie der Dialektik, dass sie selbst wesentliche Merkmale ihres Gegenstandes aufweist und sich so zugleich als eine dialektische Theorie präsentiert, so läuft man Gefahr, etwas zu fordern, was niemand als Theorie im herkömmlichen Sinn zu akzeptieren bereit wäre, weil es keine Gewähr böte, dass man sich an unveränderlichen Grundannahmen und Grundbegriffen, wie man sie von einer Theorie zu erwarten pflegt, orientieren kann. Unter diesen Umständen ist es sinnvoll, die Ebenen, auf denen einem dialektische Strukturen begegnen können, sorgfältig voneinander zu unterscheiden. So kann man einmal von Dialektik oder von dialektischen Verhältnissen dann sprechen, wenn es um Entitäten geht, die in internen Relationen stehen und die demnach nicht dieselben bleiben, wenn sie in solche Relationen eintreten. Diese Dinge können von einer Theorie untersucht werden, die wie jede Theorie im herkömmlichen Sinn mit Begriffen und mit Aussagen arbeitet, die selbst ausschließlich durch externe Relationen verknüpft sind. Nun können aber Begriffe, da sie nicht nur vorgefunden, sondern auch gemacht oder gestaltet werden können, auch selbst als Elemente behandelt werden, die in interne Relationen eintreten können. Erst wenn man diese Möglichkeit realisiert, erreicht man den Kernbereich der Dialektik. Dann studiert man, was mit Begriffen geschieht, wenn man sie in solche Relationen einfügt. Gewiss kann niemandem verwehrt werden, das Resultat eines solchen Studiums als eine Theorie zu bezeichnen. Gerade deswegen ist jedoch Vorsicht geboten, zumal da die Differenz zwischen der Theorie und ihrem Gegenstandsbereich unkenntlich zu werden droht, wenn man die Beziehung zwischen beiden nach dem Muster einer internen Relation deutet. Deshalb empfiehlt es sich, auf die Rede von einer dialektischen Theorie zu verzichten und den Namen der Theorie nur solchen Gebilden vorzubehalten, die mit ihrem Gegenstand jedenfalls nicht durch interne Relationen verbunden sind. Dann gibt es keine dialektische Theorie, sondern allenfalls einen dialektischen Umgang mit einer Theorie; kein dialektisches Urteil, sondern nur einen dialektischen Umgang mit Urteilen; keine Begriffe,

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die dialektisch wären, sondern nur einen dialektischen Gebrauch, den man von Begriffen macht. Auch von hier aus fällt Licht auf die merkwürdige Redeweise Hegels, der zwar auch von der Dialektik spricht, aber eine besondere Vorliebe für den Ausdruck „das Dialektische“ er­kennen lässt. Das so verstandene Dialektische verweist auf eine personale Instanz, nämlich auf den Dialektiker, der nicht notwendig über ein in Gestalt von Sätzen ausdrückbares Wissen verfügen muss, weil er durch den Besitz einer Disposition charakterisiert ist, nämlich durch die Fähigkeit, mit Begriffen und mit anderen Theorieelementen auf eine ganz spezifische Weise umzugehen. Es ist ein Gebrauchswissen, das der Dialektiker aktualisiert, wenn er im Umgang mit Begriffen ihrer Dynamik gerecht zu werden sucht, die freigesetzt wird, sobald sie in interne Relationen eingefügt werden. Gewiss kann diese auf einer Fertigkeit beruhende Tätigkeit selbst wiederum Gegenstand einer Theorie werden. So bemühen sich beispielsweise die hier vorgetragenen Überlegungen darum, einige Bausteine zu präsentieren, die für den Aufbau einer solchen Theorie nützlich werden können. Aber jede Theorie über die Dialektik wird stets unter der niemals aufzuhebenden Schwäche leiden, dass sie zwar ihren Gegenstand analysieren kann, aber dennoch jenes Gebrauchswissen nicht zu vermitteln vermag, das allein in ihrem Gegenstand präsent ist, nämlich in der Disposition, die den Dialektiker zu dem ihm eigentümlichen Umgang mit Begriffen befähigt. Nur wenn man den Kern der Dialektik in einer durch eine Kompetenz ermöglichten Tätigkeit und nicht in einer formalisierbaren Theorie sucht, hat man die Chance, ihrer Eigenart gerecht zu werden. Denn es bedarf nun einmal einer besonderen Fertigkeit, wenn man Begriffe als Fundamente interner Relationen behandeln will. Begriffe haben gleichsam ihre Schicksale, wenn man von ihnen Gebrauch macht, um Aussagen zu bilden, Gespräche zu führen, Erfahrungen zu formulieren. Nur dort, wo sie konventionell definiert werden, sind sie diesem Schicksal nicht ausgesetzt. Das ist vor allem in den formalen Disziplinen, manchmal freilich auch außerhalb ihres Bereichs, der Fall. Reziprok hierzu verhält sich die Position des Dialektikers. Er schlägt keine Konventionen vor, um Begriffsinhalte zu fixieren, aber er begnügt sich auch nicht damit, dem Wandel, dem Begriffe unterliegen, wenn man von ihnen Gebrauch macht, nur nachzuspüren und ihn zu registrieren. Denn die Aufgabe, die er sich stellt, ist von ganz anderer Art: Er geht mit Begriffen in der Weise um, dass jener Wandel, der sich sonst zumeist nur unterschwellig ereignet, geradezu provoziert wird. Es ist eine bisher allenfalls in Ansätzen bewältigte Aufgabe, Regeln bewusst zu machen, denen diese Tätigkeit folgen kann. Doch es besteht wenig Aussicht, deren Resultate jemals in der Weise verstehen zu können, dass man sie als die Frucht einer bloßen Anwendung und Befolgung von Regeln deutet.

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Zuerst erschienen in: Renate Breuninger (Hrsg.): Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie. Festschrift für Klaus Giel zum 70. Geburtstag. Königshausen & Neumann, Würzburg 1997, S. 369–383.

Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz*

1

1. Vorstellung des Argumentes In diesem Aufsatz soll das Potentialitätsargument, das die Zuschreibung der Menschenwürde an den Embryo legitimieren soll, untersucht werden. Es geht darum, ob es dieses Ziel erreicht oder aber, sollte sich herausstellen, dass ihm dies, wie viele der an den einschlägigen Diskussionen Beteiligten meinen, bislang noch nicht gelungen ist, ob es modifiziert und mit geeigneten Mitteln verbessert werden kann. (1) Jedes Wesen, das potentiell φ ist, hat WürdeM . (2) Jeder menschliche Embryo ist ein Wesen, das potentiell φ ist. Also: (3) Jeder menschliche Embryo hat WürdeM . Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass diesem Argument in den Auseinandersetzungen über den moralischen Status des Embryos nur eine subsidiäre Aufgabe zukommt. Denn es ist eigentlich nur für Adressaten bestimmt, nach deren Meinung der Embryo nicht bereits unmittelbar, sondern allenfalls im Blick auf das, was aus ihm werden soll, die Bedingungen erfüllt, die einen dazu zwingen, ihm die Menschenwürde und die auf ihr basierenden Rechte zuzuerkennen. So macht das Potentialitätsargument den Gedanken fruchtbar, dass dem Embryo bereits das potentielle Vorliegen der diese Würde fundierenden Bestimmungen den entsprechenden moralischen und rechtlichen Status garantiert. Unternimmt man es, dieses Argument zu bewerten, sollte man sich zuvor Rechenschaft darüber geben, ob es Grenzen gibt, die man bei einem solchen Versuch auch unter den günstigsten Randbedingungen nicht über * [Der

Aufsatz erschien ursprünglich unter dem Titel „Pro Potentialitätsargument: Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz“ in dem Sammelband „Der moralische Status menschlicher Embryonen“ (2003 hg. von G. Damschen u. D. Schönecker), in dem die dort untersuchten Argumente durch jeweils eine Pro-Position und eine Contra-Position vorgestellt und verteidigt oder kritisiert werden. Bei dem Potentialitätsargument vertrat Wieland die Pro-Position. Daher dort der nicht eigentlich zum Titel gehörende Vorsatz, der hier unterdrückt wird.]

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schreiten kann. Gerade wenn einem der logische Kern einer Argumentation in Gestalt eines formgerechten Syllogismus präsentiert wird, wie ihn die Herausgeber des vorliegenden Bandes vorgegeben haben *, muss man beachten, dass eine Konklusion inhaltlich niemals einen Ertrag liefern kann, der über den der Prämissen hinausgeht, aus denen sie abgeleitet wird. Man kann nicht erwarten, außerhalb der rein formalen Disziplinen allein mit logischem Schließen Resultate zu erzielen, deren Inhalt in jeder Hinsicht gänzlich neu wäre. Auf diese Weise wird nur expliziert, was in den Prämissen immer schon auf unausdrückliche und latente Weise mit enthalten ist. Auch die von Logikern und Wissenschaftstheoretikern den Problemen der Induktion gewidmeten Bemühungen haben auf ihre Weise bestätigt, dass man mit folgerichtigem logischem Operieren allein niemals zu Ergebnissen gelangt, die nicht schon in den Voraussetzungen enthalten sind. Höchstens in Ausnahmefällen gelingt es einem einmal, seinen Diskussionspartner aufgrund von Prämissen, die er akzeptiert, allein mit logischen Techniken von der Richtigkeit einer These zu überzeugen, der er zunächst widersprochen hatte. Dennoch ist es nicht müßig, Argumentationen auf ihre logische Struktur hin zu untersuchen. Im Gegenteil: Ein solches Unternehmen bietet einem die Möglichkeit, sich über die eigenen Voraussetzungen und Überzeugungen klar zu werden, über die man sich gewöhnlich keine Rechenschaft gibt, da sie zumeist im Ungefähr dessen verbleiben, was man für allzu selbstverständlich hält, als dass man eine Veranlassung sähe, sie zu explizieren und auf Begriffe zu bringen. Oft verdrängt man, dass sich ein moralisches Urteil über einen Einzelfall, für das man sich stark macht, nicht mit den allgemeinen normativen Grundsätzen vereinbaren lässt, denen man sich verpflichtet weiß. So legt es der praktische Umgang mit Argumenten immer wieder nahe, die logische Folgeordnung umzukehren. Das gilt gerade dort, wo man mit logischem Argumentieren nicht nur ein Erkenntnisinteresse befriedigen, sondern zugleich auch Antwort auf normative Fragen finden und damit Entscheidungen im Bereich des individuellen und des kollektiven Handelns legitimieren will. Dann sind es nicht die Prämissen, die am Beginn der logischen Praxis stehen, sondern der Satz, für den man sich stark machen und den man verteidigen will. Für diesen Zweck fahndet man nach Argumenten, die diesen Satz stützen können. In solchen Fällen erschließt man nicht aus gegebenen Prämissen eine Konklusion, sondern man geht für einen bereits vorliegenden, zur Konklusion bestimmten Satz auf die Suche nach Prämissen, aus denen er sich ableiten lässt. Dabei muss man stets berücksichtigen, dass sich aus wahren Prämissen nur wahre Konklusionen ableiten lassen, dass es auf der anderen Seite aber möglich ist, auch aus 1

* [Ebd.,

S. 1–7.]

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falschen Prämissen logisch korrekt auf wahre Konklusionen zu schließen. Die faktische Priorität der Konklusion in der Praxis des Argumentierens kennzeichnet übrigens auch die Konstellation, unter deren Bedingungen im vierten vorchristlichen Jahrhundert bei den Griechen die formale Logik erfunden wurde1. So wird auch eine Prüfung des vorgegebenen Potentialitätsarguments zugunsten der Menschenwürde des Embryos das Schwergewicht nicht auf die Untersuchung seiner formallogischen Folgerichtigkeit legen, die im vorliegenden Fall ohnehin auf der Hand liegt. Da aber gerade die Konklusion kontrovers ist, muss sich die Analyse auf die Frage konzentrieren, ob die Prämissen vertretbar und begründbar sind, aus denen sich diese Konklusion ableiten lässt. Wo kontrovers argumentiert wird, darf die Frage nach der Verteilung der Beweislast nicht ausgeklammert bleiben, wenn die Diskussion nicht strukturlos bleiben soll. Das gilt erst recht dort, wo das Argumentieren keine Ziele theoretischer Neugier verfolgt, sondern Handlungen und Unterlassungen rechtfertigen will, zumal da man sich zwar des Urteilens, nicht aber des Handelns enthalten kann. Nun sind die von den Bioethikern unserer Gegenwart im Blick auf mögliche Handlungsoptionen geführten Diskussionen von Hause aus gewiss keinen inhaltlichen Vorgaben verpflichtet. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass diese Erörterungen häufig in eine Schieflage geraten. Gerade weil es bisher unangefochten und einhellig anerkannte Lebensrechte sind, deren Legitimation die Bioethik heute, ob prinzipiell oder nur methodisch, in Zweifel zieht, wirkt sie auf die Öffentlichkeit oft so, als würde sie ihre Aufgaben vornehmlich in der Rechtfertigung von Tötungslizenzen sehen. Manchmal mag es scheinen, als befänden sich alle von vornherein schon in der Defensive, die sich darum bemühen, das Lebensrecht des Menschen auch für die vorgeburtlichen Phasen seiner Existenz zu sichern, weil oft gerade ihnen die Beweislast zugeschoben wird. Gewiss ist manch ein mit dieser Zielsetzung vorgetragenes Plädoyer nicht in letzter Konsequenz schlusskräftig. Doch man sollte die Augen nicht davor verschließen, dass Bestrebungen, Lebensrechte am Anfang und am Ende der individuellen Existenz des Menschen zu relativieren, heute oft mit einem breit gestreuten öffentlichen Beifall bedacht werden. Dabei werden nicht immer die Interessen und Motive hinreichend deutlich, die hinter diesem Beifall stehen. Deswegen sollte man sich niemals auf eine Beweislastregelung einlassen, die dazu führt, dass die Aufdeckung von Schwächen in der Verteidigung eines Lebensrechts im Effekt so behandelt wird, als ließe sich damit zugleich die Legitimität einer Tötungslizenz dartun. Auch pragmatische Gründe sprechen in solchen Fällen für einen Tutiorismus, 1 Grundinformation bei Ernst Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen 1965.

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nämlich dafür, diejenigen mit der Beweislast zu beschweren, die einem Wesen das Lebensrecht absprechen wollen. Im Zweifelsfall lässt sich die nicht legitimierte Tötung eines Wesens schon ihrer Unwiderruflichkeit wegen schlechterdings nicht entschuldigen. Im Gegensatz dazu ist die Annahme eines Lebensrechts aber auch dann noch tolerierbar, wenn die Begründung einstweilen noch offenkundige Lücken aufweist. Es ist Aufgabe des vorliegenden Bandes, die Korrektheit oder aber die Anfechtbarkeit der vier vorgegebenen Musterargumente2 mitsamt ihrer Prämissen darzutun, die sich auf die Würde und damit zugleich auf das Lebensrecht eines Menschen in jener Phase seines Lebens beziehen, in der man ihn als Embryo zu bezeichnen pflegt. Zur Orientierung soll dabei in allen Fällen die Form eines quantorenlogisch formulierten Basissatzes dienen, der dazu bestimmt ist, das Schema eines Minimalkonsenses in Bezug auf eine Bedingung auszudrücken, unter der niemand bestreitet, dass einem Wesen Menschenwürde zuerkannt werden kann: Für alle Wesen gibt es mindestens eine Eigenschaft φ, so dass gilt: Wenn ein Wesen aktual φ ist, dann hat es WürdeM .3 Damit fungiert das aktuale Vorliegen der Eigenschaft φ als eine hinreichende, nicht aber notwendige Bedingung für die Zuschreibung dieser Würde. Offen bleibt die Möglichkeit, auch einem Wesen, das die Eigenschaft φ in ihrer aktualen Ausprägung nicht aufweist, die Menschenwürde zuzuerkennen, wenn Voraussetzungen anderer Art gegeben sind. So verwendet das Potentialitätsargument, das diese Würde auch dem Embryo sichern will, als erste Prämisse einen Satz, der aus dem Basissatz mittels einer Extension gewonnen wird, kraft deren die Auszeichnung durch die Menschenwürde nicht nur auf das aktuale, sondern schon auf das potentielle Vorliegen jener Eigenschaft φ gegründet wird, insofern es sich auch dem Embryo attestieren lässt. Damit ist zunächst die Frage gestellt, ob diese Ausweitung des Basissatzes möglichen Einwänden standhält, ob dieser Basissatz am Ende überhaupt selbst vertretbar ist.

2. Erörterung des Argumentes Unter der Voraussetzung, dass man berechtigt ist, die Bestimmung des Basis­satzes auf das nur potentielle Vorliegen der Eigenschaft φ auszuweiten, lässt sich ein formal korrekter Schluss ziehen, dessen Konklusion dem Em 2 3

Vgl. die Einleitung von Damschen / S chönecker, S. 1–7. Ebd., S. 3.

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bryo Menschenwürde zugesteht. Wer nun in Bezug auf das so gewonnene Potentialitätsargument die Gegenposition vertreten will, wird schwerlich die formale Korrektheit des Schlusses, sondern den Basissatz anfechten oder wenigstens die Berechtigung bezweifeln, ihn zu einem Potentialitäts­ satz auszuweiten. Will man diese Berechtigung mit Hilfe von Analog­ beispielen in Zweifel ziehen, hat man leichtes Spiel. Zu ihnen gehört das in diesem Zusammenhang häufig herangezogene Kronprinzenargument. Es basiert auf dem kaum zu bestreitenden Gedanken, dass die verfassungs­ mäßigen Rechte des herrschenden Monarchen nicht zugleich auch dem Kronprinzen zukommen, den man, als dessen designierten Nachfolger, auch als potentiellen Monarchen ansprechen kann. Es ist evident, dass es Rechte anderer Art sind, die ihm als lediglich potentiellem Monarchen zukommen. Niemandem, der sich über diese Argumentationsfigur klar geworden ist, wird es schwerfallen, eine Vielzahl von ähnlichen, auf geeigneten Beispielen fußenden Argumenten zu formulieren, die eine generelle Berechtigung ausschließen, aus einem gültigen Aktualitätssatz die Gültigkeit des korrespondierenden Potentialitätssatzes abzuleiten. Auch noch so viele dem Muster des Kronprinzenarguments entsprechende Beispiele erweisen freilich nicht, dass es in allen denkbaren Fällen unzulässig wäre, die Gültigkeit eines an eine Aktualität anknüpfenden Satzes auf die entsprechende Potentialität auszuweiten. Singuläre Gegenbeispiele zeigen nur an, dass es keine generelle Lizenz zu einer solchen Extension gibt. Doch sie lassen die Möglichkeit offen, dass es in bestimmten Fällen oder unter zusätzlichen Voraussetzungen zulässig, vielleicht sogar geboten ist, auf diesem Weg einen inhaltlich vertretbaren Satz zu gewinnen, der die moralische oder die rechtliche Position des Trägers von bestimmten, aktuell ausgeprägten Eigenschaften auch dem zugesteht, dem diese Eigenschaften nur potentiell zukommen. Hier kann man sich an einer Argumentationsfigur orientieren, die einem häufig im Umkreis von Erörterungen begegnet, die den Begriff und den Status der Person zum Inhalt haben. Im Diskurs über die Menschenrechte melden sich heute immer vernehmlicher Vertreter einer Fraktion zu Wort, die diese Rechte nicht allen, sondern ausschließlich solchen Menschen zugestehen wollen, die bestimmte Merkmale aufweisen, auf Grund derer sie als Personen qualifiziert werden können. Zumeist in unmittelbarer oder mittelbarer Anknüpfung an eine von John Locke entwickelte Konzeption4 werden dabei als Abgrenzungskriterien 4

Vgl. John Locke, An Essay concerning human understanding, hg. v. P. H. Nidditch, Oxford 1975 (zuerst 1689), Buch II, Kap. 27, §§ 9 ff. Bei der Auswertung dieser häufig herangezogenen Stelle wird zu wenig berücksichtigt, dass hier, im Rahmen einer allgemeinen Relationenlehre, das leitende Thema nicht die Person, sondern die Identität bildet. Zur gegenwärtigen Diskussion personaler Identität vgl. vor allem Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1984.

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regelmäßig bewusstseinszentrierte, introspektiv erfassbare Phänomene verwendet, vor allem das Ichbewusstsein und damit das Bewusstsein der sich über die Zeit erstreckenden eigenen Identität, das im Modus der Erinnerung auch die Vergangenheit einbezieht. Die mit diesem Ansatz verbundenen Schwierigkeiten sind bekannt. Spricht man die auf Personenrechte reduzierten Menschenrechte denen ab, die den an bestimmten Tatsachen des Bewusstseins orientierten Personkriterien nicht genügen, so kommen sie einem Menschen streng genommen schon dann nicht mehr zu, wenn er sich im Zustand des Schlafes befindet. Will man diese extrem kontraintuitive Konsequenz vermeiden, muss man das Konzept so modifizieren, dass man einem Menschen diese Rechte nicht schon dann absprechen muss, wenn er sich gerade nicht im Zustand des Wachseins befindet. Dies lässt sich erreichen, wenn man sie auch jedem zugesteht, dem die den Status einer Person markierenden Eigenschaften nicht aktual, sondern – vorübergehend – ledig­lich potentiell zukommen. Der Begriff der Potentialität dient hier also dazu, die Härten abzumildern, die sich zwangsläufig ergeben, wenn man diesen Status an Kriterien bindet, die sich auf Phänomene des aktualen Wachbewusstseins beziehen und keine Rücksicht darauf nimmt, dass sich schlechterdings keine Person ohne Unterbrechung in diesem Zustand befindet. So ermöglicht es der Potentialitätsbegriff dem Vertreter der auf Personenrechte eingeschränkten Menschenrechte, auch dem Schläfer, als einem nur potentiell seiner selbst bewussten Individuum, den Status einer Person mitsamt den an ihn gebundenen Rechten zuzugestehen. Kronprinzenargument und Schläferargument sind von sehr simpler Faktur. Der praktische Umgang mit ihnen wird nicht von ihrer einfachen, leicht durchschaubaren formallogischen Struktur reguliert, sondern – wie auch sonst häufig in Erörterungen von Fragen der angewandten Ethik – von inhaltsbezogenen Intuitionen, die als nicht weiter in Frage gestellte Korrekturfaktoren eingesetzt werden und die es das eine Mal zulassen, das andere Mal dagegen verbieten, eine auf eine aktual ausgeprägte Eigenschaft eines Menschen gestützte normative Bestimmung so auszuweiten, dass sie ihm auch dann noch zuzugestehen wäre, wenn ihm diese Eigenschaft nur potentialiter zukommt. Diese Fälle belegen, wie moralische Intuitionen im praktischen Umgang mit logischen Schlüssen und ihren Konklusionen imstande sind, zumindest in einem ersten Zugriff, das Interesse an der formallogischen Folgerichtigkeit eines Arguments hintanzustellen. Dass der Kronprinz nicht die gleichen Rechte wie der Monarch genießt, dass man dem Schläfer nicht den moralischen Status wird streitig machen wollen, der ihm im Wachsein zukommt – solche Evidenzen lässt man sich auch durch formal korrekte Schlussfolgerungen nicht erschüttern. Umso dringlicher wird es, in derartigen Fällen die Voraussetzungen zu revidieren, aus denen sich kontraintuitive Konsequenzen ableiten lassen. Oft legt es freilich erst

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die Formalisierung eines Arguments nahe, zunächst nach Gründen für die Akzeptanz oder die Verwerfung der Prämissen zu suchen. Das gilt im Fall des Potentialitätsarguments besonders für die erste Prämisse, die jedem Wesen, das potentiell eine bestimmte Eigenschaft φ aufweist, die Menschenwürde zugesteht. Zeigen die beiden Beispiele, dass Potentialitätsargumente weder generell akzeptiert noch generell verworfen werden dürfen, stellt sich die Frage, ob sich Randbedingungen finden lassen, unter denen man ein auf der Extension einer Aktualität beruhendes, gültiges Potentialitätsargument formulieren kann, das dem Embryo die Menschenwürde garantiert. Will man die hierfür nötigen Eingrenzungen vornehmen, ist es zweckmäßig, wiederum vom Basissatz auszugehen und die Aufmerksamkeit auch auf das zu lenken, was er offenlässt. Das bezieht sich auf den Begriff der Menschenwürde ebenso wie auf den kategorialen Status der Eigenschaften, an deren aktuales Vorliegen dieser Satz die Zuschreibung dieser Würde bindet; es bezieht sich aber auch auf den Modus, in dem diese Eigenschaften mit der Würde verknüpft werden. Vor allem sollte nicht vernachlässigt werden, dass der Ausdruck „Potentialität“, von dem das nach ihm benannte Argument Gebrauch macht, ähnlich wie die Modalbegriffe in der Umgangssprache, oft recht undifferenziert verwendet wird5. Leicht wird übersehen, dass dieser Ausdruck vieldeutig ist und für unterschiedlich strukturierte Modalfaktoren stehen kann. Schon die ersten Anfänge der Modaltheorie in der Antike geben Zeugnis von der Notwendigkeit, unterschiedlich strukturierte Potentialitätsbegriffe anzusetzen6. Es ist hier nicht möglich, alle Potentialitätsbegriffe, die in der Tradition konzipiert und präzisiert worden sind, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit vorzustellen. Gemeinsam ist allen diesen Begriffen, dass sie einen von dem der aktualen Wirklichkeit verschiedenen logischen oder ontologischen Status dessen markieren, worauf sie bezogen werden. Sie lassen sich nach verschiedenen, zum Teil auch kombinierbaren Gesichtspunkten klassifizieren. Die logische Möglichkeit, ihrem Gehalt nach die ärmste Potentialität, lässt sich auf alle Sachverhalte anwenden, deren Annahme keinen Widerspruch enthält. Auch der Möglichkeitsbegriff wird, gleich jedem anderen Begriff inhaltlich durch das Begriffsnetz mitbestimmt, in dem ihm ein Platz zukommt. So können die drei Modalbegriffe der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit eine hierarchische Klimax oder aber eine 5

Vgl. auch Stephan Buckle, Arguing from potential, in: Peter Singer u. a. (Hg.), Em­ bryo Experimentation. Ethical, Legal and Social Issues, Cambridge 1990, S. 90 ff. 6 Vgl. bei Aristoteles vor allem die „klassische“ Behandlung der Thematik im Buch IX der „Metaphysik“; in den „Ersten Analytiken“ besonders die Kapitel I 3, 13, 15, 16; in „De interpretatione“ die Kapitel 12, 13; in „De anima“ die Kapitel II 1, 5. Vgl. dazu Gerhard Seel, Die Aristotelische Modaltheorie, Berlin 1982.

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anders geartete Ordnung bilden. Nur in dem ersten Fall ist der schwächere in dem jeweils stärkeren Begriff bereits enthalten7; im zweiten Fall ist es denkbar, dass mit jedem Modalbegriff ein Bereich sui generis markiert wird, der sich mit den Bereichen, die den anderen Begriffen entsprechen, nicht überschneidet. Außerdem kann die Potentialität bald eine einseitige, bald eine zweiseitige Möglichkeit anzeigen; nur die zweiseitige Möglichkeit impliziert stets die Möglichkeit des Gegenteils. Ferner ist die Möglichkeit „de dicto“, wie sie einer möglicherweise wahren Aussage entspricht, von der Möglichkeit „de re“ zu unterscheiden, die nicht die Aussage im ganzen, sondern nur ihr Prädikat bestimmt. Auch kann man Potentialitäten so konzipieren, dass sie sich aufeinander anwenden und so gleichsam potenzieren lassen. Daneben kann man auch mit graduierbaren Potentia­ litäten arbeiten. So hat man auch in der bioethischen Diskussion stärkere und schwächere Ausprägungen unterschieden8. Potentialitäten lassen sich auch im Sinn einer inhaltsbezogenen Typologie unterscheiden, so die Möglichkeiten, etwas zu sein oder zu werden, etwas zu tun oder zu erleiden, etwas zu erlangen oder einzubüßen. Eine wiederum andere Differenzierung setzt bei den Randbedingungen an, unter denen sich eine Potentialität auf die ihr zugeordnete Aktualität bezieht9. So lässt sich eine Potentialität ansetzen, die in die Aktualität übergeht, sobald ein Hindernis beseitigt oder eine andere Randbedingung erfüllt ist. Dazu gehören auch die Fälle, in denen dieser Übergang nur den Ablauf einer Zeitspanne erfordert oder das Durchlaufen einer Entwicklung, deren Ergebnis sich mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit prognostizieren lässt. Dadurch unterscheidet sich die zeitlose von der zeitbezogenen, auf eine Zukunft hin orientierten Potentialität, die im übrigen auch bloße Wahrscheinlichkeiten markieren kann. Bedeutsam ist überdies, ob die Potentialität einem Sachverhalt oder einem Gegenstand im Sinne einer akzidentellen oder einer essentiellen Bestimmung zukommt. Oftmals übersieht man die für unsere Fragestellung entscheidenden Potentialitäten, deren Sinn sich deswegen nicht erst im Erreichen der ihnen entsprechenden Aktualität erfüllt, weil ihnen im Verhältnis zu ihr eine höhere Dignität zukommt. So lassen sich Optionen und Machtpositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kompetenzen und Dis 7

Die Annahme einer Klimax der Modalbegriffe verschafft einem, wie man leicht sieht, noch nicht das Recht, aus logischen Gründen aus dem Basissatz auf den entsprechenden Potentialitätssatz zu schließen. 8 Vgl. Jim Stone, Why Potentiality Matters, in: Canadian Journal of Philosophy 17, 1987, S. 815 ff. 9 Auf den unterschiedlichen, von den jeweiligen Randbedingungen abhängigen Inhalt von Potentialitäten haben in der Embryonendebatte insbesondere aufmerksam gemacht P. Singer / Karen Dawson, IVF Technology and the Argument from Potential, in: Singer (o.  Anm. 5), S. 76 ff.

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positionen als gleichsam selbständige Potentialitäten deuten, die stets mehr sind als das, was sich auf ihrer Basis im Einzelfall verwirklichen lässt. Das wird besonders anhand politischer und wirtschaftlicher Optionen deutlich; ihr Eigenwert ist nicht geringer, wenn sie nicht ausgeübt werden. Wo eine derartige optionale Potentialität vorliegt, besteht kein ontologisches Gefälle in Bezug auf eine entsprechende Aktualität10. Auch unter der Vielzahl der Freiheitsbegriffe finden sich Konzepte, die sich zwanglos als selbständige Potentialitäten deuten lassen. Es liegt auf der Hand, dass Diskussionen über Potentialitäten leicht in eine Schieflage geraten, wenn man nicht berücksichtigt, dass einem hier eine geradezu verwirrende Vielzahl unterschiedlich strukturierter Modalbegriffe zur Verfügung steht, die jedenfalls in den Erörterungen des auf Embryonen bezogenen Potentialitätsarguments noch nicht alle ausgereizt worden sind. In der Tat bleibt manchmal verdeckt, dass es nicht immer derselbe Potentialitätsbegriff ist, von dem seine Befürworter und seine Gegner Gebrauch machen11. So bleibt die Frage, ob einer dieser Begriffe geeignet ist, in einen Satz einzugehen, der durch eine legitimierungsfähige Ausweitung des Basissatzes gewonnen wird. Bevor man diese Frage beantwortet, sollte man die Menschenwürde ins Auge fassen, um nach den Bedingungen in Gestalt aktual ausgeprägter Eigenschaften zu suchen, unter denen man sie legitimerweise jemandem zuschreiben kann. Nun lässt sich schwerlich übersehen, dass ihr in der heutigen Diskussion arg strapazierter Begriff auch von denen nicht immer in ein und derselben Bedeutung verwendet wird, für die er nicht nur eine semantische Altlast oder ein kontingentes Zwischenprodukt der Evolution anzeigt. Dennoch wäre es wenig hilfreich, die Vielfalt dieser Bedeutungen katalogisieren zu wollen. Zweckmäßiger ist es, lediglich die Merkmale zu akzentuieren, von denen die Bedeutung bestimmt wird, in der von diesem seinem Typus nach normativen Begriff im gegenwärtigen Zusammenhang Gebrauch gemacht werden soll. Hier jedenfalls soll von der Menschenwürde in dem Sinn die Rede sein, in dem sie einen Wert sui generis repräsentiert, der nicht mit Werten anderer Art so in ein Verhältnis gesetzt werden kann, dass er sich mit ihnen verrechnen ließe. Ein Mangel an dieser Würde kann niemals durch einen anderen Wert kompensiert werden. Deswegen leidet es die Menschenwürde nicht, dass man sie in eine Güterabwägung oder in einen Nutzenkalkül als Element eingehen lässt. Überdies führt der 10

Eine zentrale Stellung kommt den originären, weil nicht von einer korrespondierenden Aktualität her dominierten Potentialitäten auch in der Daseinsanalyse der phänomenologischen Fundamentalontologie zu. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, insbesondere § 31. 11 Vgl. aber die Erörterung der Potentialitätsvarianten bei Anton Leist, Eine Frage des Lebens. Eine Ethik der Abtreibung und künstlichen Befruchtung, Frankfurt a. M. 1990, S. 84 ff.

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korrekte Umgang mit ihrem Begriff immer nur zu Klassifikationen, aber weder zu Abstufungen noch gar zu Quantifizierungen. Dieser Würde ist es eigentümlich, dass sie der durch sie auszuzeichnenden Entität entweder ganz und ungeteilt oder gar nicht, niemals aber in höherem oder geringerem Grade zukommt. Es gibt keine Menschenwürde auf Raten. Dergleichen muss dann auch für die normativen Bestimmungen gelten, die in ihr gründen. Ein auf andere Weise legitimierter Lebensschutz mag graduellen Abstufungen und dem Prinzip des Mehr oder Weniger zugänglich sein12. Ein der Menschenwürde fundiertes Lebensrecht lässt sich hingegen ebenso wenig graduieren wie diese Würde selbst. Der Würde, von der hier die Rede ist, kann das Wesen, dem sie zukommt, weder verlustig gehen noch kann sie ihm genommen werden, schon gar nicht dadurch, dass man es auf würdelose Weise behandelt. Wer sich dergleichen zuschulden kommen lässt, setzt immer nur seine eigene Würde aufs Spiel. Wenn man sie als unverfügbar bezeichnet, so schließt dies ein, dass sie von einem Menschen weder mittels einer arbiträren Zuschreibung durch seinesgleichen noch aufgrund einer Kooptation erworben wird. Kraft eigenen Rechts besitzt sie jeder, dem sie zukommt. Man drückt diesen Gedanken auch gerne so aus, dass man sagt, sie sei dem Menschen von Natur aus oder auf Grund seiner Geburt eigen. Solche Formulierungen sind irrtumsträchtig, weil sie, von ihrer sprachlichen Oberfläche her verstanden, dem Missverständnis Vorschub leisten, diese Würde ließe sich auf naturalistische Weise deuten oder gar fundieren. Zu einer Verwirrung kann die Anknüpfung an die Geburt gerade dort führen, wo man erörtert, ob dem Menschen die Auszeichnung durch sie nicht schon in den frühesten, nämlich den vorgeburtlichen Phasen seiner individuellen Existenz zukommt. Doch solche Formulierungen sind nicht dazu bestimmt, die Würde auf ein natürliches Ereignis zu gründen. Denn sie sollen lediglich verdeutlichen, dass sie einem Menschen jedenfalls nicht kraft einer arbiträren Zuschreibung, nicht auf der Grundlage einer Entscheidung zukommt. Sie ist Gegenstand nicht einer Verleihung, sondern einer Anerkennung. Es ist dieselbe Anerkennung, wie sie jeder Mensch aufgrund der ihm eigenen Würde seinesgleichen schuldet. Es ist die Frage, ob – und gegebenenfalls in welcher Weise – die Anerkennung dieser Würde begründungsfähig ist. Sie stellt sich, vor aller Berücksichtigung von Potentialitäten, schon auf der Ebene des Basissatzes. Nun verknüpft dieser Satz in Gestalt einer formalen Implikation die einem Wesen zukommende Würde mit bestimmten, ihm zukommenden aktualen Eigenschaften, deren Begriffe für die Variable φ eingesetzt werden können. 12 Ein Beispiel für den Versuch einer derartigen Graduierung, der viele Nachfolger gefunden hat, bietet der Warnock Report. Vgl. Mary Warnock, A Question of Life. The Warnock Report on Human Fertilization and Embryology, Oxford 1985.

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Allerdings lässt dieser Satz verschiedene Deutungen des Modus zu, dem­ gemäß die Würde mit der entsprechenden Eigenschaft verbunden wird. Seine Formulierung sagt nichts über den Typus einer möglichen Begründung aus, also nichts darüber, ob die Eigenschaft φ den Rechtsgrund oder lediglich einen Erkenntnisgrund oder vielleicht sogar nur ein Indiz für die rechtmäßige Zuschreibung der Würde abgeben soll. In jedem Fall verdient indessen der Typus der Eigenschaften Aufmerksamkeit, mit denen die Menschenwürde verbunden werden soll. Zumeist werden hier, in Anknüpfung an die Lockesche Konzeption der Person, Phänomene im Reich des Bewusstseins herangezogen, denen die entsprechenden Funktionen abverlangt werden, so dem Selbstbewusstsein, der Fähigkeit zur Selbstachtung, der Selbstbestimmungsfähigkeit, dem Bewusstsein der eigenen Identität über die Zeit hinweg und damit auch dem die Zukunft intendierenden und antizipierenden Bewusstsein. In diesen Umkreis gehört aber auch die Leidensfähigkeit, die Empfindungsfähigkeit, sowie die Fähigkeit, Interessen und Wünsche zu haben. Im Hinblick auf das mit der Menschenwürde verbundene Recht auf Schutz des Lebens wird hier auch der Lebenswunsch und das Lebensinteresse bedeutsam. Will man die auf die Menschenwürde zu gründenden moralischen und juridischen Rechte an Wünsche und Interessen binden, ist besondere Vorsicht geboten. Bekanntlich nehmen in den Konzepten der dem Konsequentialismus verpflichteten Ethiker die manifesten Wünsche und Interessen der Menschen eine zentrale Stellung ein. Nicht selten empfehlen sich solche Konzepte sogar damit, dass sie bei der Befolgung ihrer Normen die optimale Befriedigung dieser Interessen in Aussicht stellen. Gerade teleologisch orientierte Ethikkonzeptionen deuten die Moralität im ganzen oft nur noch funktionalistisch oder instrumentell, wenn sie in ihr ein Gebilde sehen, dessen Sinn und dessen Aufgabe sich darin erschöpft, die Erfüllung der von Menschen gehegten Wünsche zu optimieren. Natürlich spricht nichts gegen eine Befugnis, Techniken zu entwickeln und anzuwenden, mit deren Hilfe sich derartige Optimierungsleistungen erbringen lassen. Ein großer Teil der von Menschen auf ihre Daseinsbewältigung aufgewendeten Mühen ist der Lösung derartiger Aufgaben gewidmet. Trotzdem lassen sich, bei der Strafe eines Sein-Sollen-Fehlschlusses, weder die Moralität noch die Zuschreibung einer normativen Bestimmung von der Art der Menschenwürde noch irgendwelche moralischen oder juridischen Rechte unmittelbar auf die Faktizität von Wünschen und Interessen gründen. So hat ein Lebensrecht auch derjenige, der mangels eines aktualen Lebenswunsches darauf verzichtet, Gebrauch von ihm zu machen. Faktische Wünsche und Interessen können für sich allein keine Norm begründen, zumal da gerade sie in besonderem Maße einer Normierung bedürfen. Moral und Recht sind mit der Lösung der einschlägigen Aufgaben schon immer befasst; zumindest

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implizit nehmen auch die Vertreter einer interessenbasierten Ethik derartige Normierungen vor. Das lässt sich am Beispiel des Kinderwunsches ebenso deutlich machen wie am Beispiel des Wunsches, ein Kind nicht zu haben. Beide Wünsche stellen der modernen Bioethik schwer lösbare Probleme. Nun gibt es gewiss auch Wünsche und Interessen, die unauflöslich mit der conditio humana verbunden sind und sich deswegen durch ihre Konstanz auszeichnen. Zu einem großen, ja zum überwiegenden Teil handelt es sich jedoch um kontingente Phänomene, im Extremfall oft sogar um bloße Launen. Die Beförderung und Optimierung des Wohlergehens, nach dem jeder Mensch strebt, taugt zwar zum Inhalt eines sittlichen Gebotes, aber es ist deswegen weder Prinzip noch Endzweck der Moralität. Zudem muss man in Rechnung stellen, dass alle Menschen in Bezug auf das, was ihr Wohlergehen ausmacht, stets dem Risiko des Irrtums unterworfen sind. Schon diese Irrtumsträchtigkeit der einschlägigen Vorstellungen spricht gegen die Berechtigung, moralische Pflichten und Gebote, aber auch Rechte unmittelbar auf faktisch virulente Wünsche und Interessen zu gründen. Eigene Wünsche und Interessen legitimieren niemanden, in die Rechte anderer einzugreifen, auch dann nicht, wenn der andere von seinen Rechten keinen Gebrauch machen will. Der Versuch, die Menschenwürde mit Tatsachen des Bewusstseins zu verknüpfen, ist auch deswegen bedenklich, weil es sich bei ihnen, durchaus nicht nur im Fall von Wünschen und Interessen, oft um wandelbare Erscheinungen handelt, deren das Subjekt leicht auch wieder verlustig geht. So stellt sich die Frage, ob sich die Anbindung dieser Würde an inkonstante Phänomene korrekt begründen lässt, wenn sie doch ein unverlierbares und unentziehbares Merkmal dessen sein soll, dem sie zukommt. Muss man am Ende also doch akzeptieren, dass ein solches Wesen seine Würde verliert, wenn jene Bewusstseinsphänomene nicht mehr präsent sind? Zu einer solchen Konsequenz ist man dann nicht gezwungen, wenn man diese Phänomene nicht als essentielle Elemente der Würde, nicht als Sachgründe, sondern als kontingente Indikatoren oder als hinreichende, aber nicht notwendige Erkenntnisbedingungen ansieht, unter denen sie einem Menschen zuzuerkennen ist. Die Verwendung der formalen Implikation für die Darstellung des Zusammenhangs zwischen der Menschenwürde und diesen Bedingungen begünstigt freilich eine Deutung, die jenen Bewusstseinsphänomenen die Rolle von lediglich hinreichenden, nicht aber notwendigen Bedingungen zuweist. Man sollte indessen nicht übersehen, dass hinter der Ankopplung der Würde an bestimmte Bewusstseinstatsachen manchmal auch die Absicht steht, den Schutz der in ihr gründenden Rechte denen zu entziehen, die diesen Bedingungen nicht genügen. Sie mutieren dabei unversehens zu notwendigen Bedingungen. Einer derartigen Konsequenz entgeht man dann, wenn man jene Voraussetzungen auch dann als erfüllt ansieht,

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wenn sie nur im Modus der Potentialität gegeben sind. Doch eine solche Lösung überzeugt niemanden, für den jeder Rekurs auf eine Potentialität fragwürdig bleibt. Angesichts der hier skizzierten Schwierigkeiten empfiehlt es sich, will man an der Orientierung am Basissatz trotz allem festhalten, schon auf seiner Ebene strengere Bedingungen anzusetzen, denen ein Begriff genügen muss, wenn er in diesem Satz, der die Zuschreibung der Menschenwürde an ein Wesen zu legitimieren bestimmt ist, für die Variable φ soll eingesetzt werden können. Es sollen auf jeden Fall Bedingungen sein, die mit der Unverlierbarkeit dieser Würde nicht konfligieren. Ebenso wichtig ist es, dass auch diese Bedingungen selbst normativen Charakter aufweisen, wenn man sich nicht spätestens bei dem Versuch, den Basissatz zu begründen, in einen Sein-Sollen-Fehlschluss verstricken will, der auf der Grundlage dessen, was ist, eine Legitimation für das zu liefern vorgibt, was sein soll. Jeder Versuch, normative Prädikationen allein aus faktischen Bestimmungen abzuleiten, führt notwendigerweise zu einem solchen Fehlschluss, weil jede korrekte Begründung eines normativen Satzes mindestens eine normative Prämisse verlangt13. Wer für die Verknüpfung eines deskriptiven und eines normativen Begriffs nach einer logisch stringenten normativen Rechtfertigung sucht, läuft daher Gefahr, sich in einen unendlichen Regress zu verstricken. Nun lässt sich zwar schon jede Anwendung einer Norm auf einen empirischen Sachverhalt als Verknüpfung eines deskriptiven und eines normativen Begriffs darstellen. Doch hinter jeder derartigen Anwendung steht letztlich stets ein Akt der auf Begründungen nicht angewiesenen Urteilskraft14. Zu ihren Domänen gehört die Regulierung von konkreten, faktischen Einzelfällen auf der Grundlage von Gemeingültigkeit beanspruchenden Normen gerade deswegen, weil der Hiatus zwischen Normativem und Deskriptivem lückenlose logische Ableitungen nicht zulässt. 13

Eine präzise und randscharfe Unterscheidung deskriptiver und normativer Begriffe ist unentbehrlich, wenn die logische Struktur von Argumenten zu analysieren ist, die letztlich dazu bestimmt sind, Handlungen zu legitimieren. Deswegen darf man aber nicht außer acht lassen, dass viele Begriffe, die hinter den Ausdrücken der Umgangssprache, aber auch vieler nichtformalisierter Fachsprachen stehen, hybrider Natur sind, da sie sowohl deskriptive als auch normative Komponenten enthalten. Manch einem vermeintlichen Sein-Sollen-Fehlschluss liegen derartige Begriffe zugrunde. Auch die Verständigung des Menschen mit seinesgleichen wird unter den Bedingungen der alltäglichen Lebenswelt durch sie oft erst ermöglicht. Nicht zu übersehen ist, dass schon das platonische Ideenkonzept ebenso wie die aristotelische Ontologie von solchen hybriden Begriffen Gebrauch macht. Ihre Denkmuster lassen sich noch in der gegenwärtigen Philosophie, speziell in der Ethik nachweisen. Vor allem das Konzept einer der Natur bereits innewohnenden Normativität ist zu seiner Darstellung auf derartige Begriffe angewiesen. 14 Vgl. dazu vom Verf., Praxis und Urteilskraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 28, 1974, S. 17 ff. [= oben S. 3 ff.]; ders., Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, Kap. III.

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Empirische Beobachtung kann von sich aus niemals darüber befinden, ob einem Subjekt ein bestimmtes Prädikat vom normativen Typus zukommt oder nicht. Das gilt für die durch die äußeren Sinne vermittelte Erfahrung in gleicher Weise wie für die psychische Introspektion. Will man von der Unterscheidung zwischen Beobachtungsbegriffen und theoretischen Begriffen Gebrauch machen, wie sie in der Wissenschaftstheorie präzisiert worden ist, kann kein Zweifel daran bestehen, dass alle normativen Begriffe den theoretischen Begriffen zuzuschlagen sind, falls man ihnen nicht überhaupt eine eigene Begriffsklasse zugestehen will. Im Zusammenhang mit den hier vorgetragenen Überlegungen wird dies auch für die Deutung des Basissatzes bedeutsam. Wenn dieser Satz die Menschenwürde ausdrücklich mit dem aktualen Vorliegen einer Eigenschaft φ verknüpft, so fällt es schwer, den Modus dieser Aktualität anders als im Sinne einer gegenwärtigen Beobachtbarkeit zu deuten, wenn man sie operationalisieren und zugleich Sätze verifizieren will, die sich auf sie beziehen. Normative und potentielle Bestimmungen sind jedoch beide keine möglichen Gegenstände unmittelbarer Beobachtungen. Auch von hier aus werden die Schwierigkeiten verständlich, die mit dem Versuch verbunden sind, aus einem Aktualitätssatz über eine Ausweitung einen normativ bestimmten Potentialitätssatz zu gewinnen. Denn das modale Begriffspaar aktual-potentiell ist, wie auch sein historischer Ursprung in der aristotelischen Ontologie deutlich macht, von Hause aus dem Bereich des Erkennens zugeordnet. Es lässt sich nicht ohne eingreifende Modifikationen für die begriffliche Bewältigung der Welt des Praktischen und des Normativen fruchtbar machen. Soll begründet werden, warum dem Menschen eine für ihn spezifische Würde zukommt, so taugt dazu, will man einen Sein-Sollen-Fehlschluss vermeiden, nur ein Merkmal, das weder durch einen Beobachtungsbegriff noch überhaupt durch einen deskriptiven Begriff, sondern, wie die Menschenwürde selbst, nur durch einen normativen Begriff bestimmt werden kann. Diese Würde lässt sich daher nicht auf empirisch erhebbare Fakten gründen, weder auf das Lebensinteresse des Menschen noch auf seine Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit, weder auf seine Vernunft oder seine Intelligenz noch auf seine Fähigkeit, Wünsche zu entwickeln, auch nicht auf sein Selbstbewusstsein, sondern letztlich allein darauf, dass er ein Wesen ist, das nicht in seiner von der Natur gegebenen physischen, psychischen und mentalen Ausstattung aufgeht, sondern sich darüber hinaus vor allem durch seine Moralfähigkeit auszeichnet15. Damit ist gerade nicht gemeint, dass er Verhaltensregeln befolgen kann, die für ihn Mittel sind, um vor 15

Eine Bindung nur an Phänomene des Selbstbewusstseins und seiner Derivate allein reicht auch deswegen nicht aus, weil ein seiner selbst bewusstes, aber nicht moralfähiges Wesen durchaus widerspruchsfrei gedacht werden kann.

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gegebene und als solche nicht normierte Ziele zu verwirklichen. Solche Regeln greifen nur, sofern man sich bereits für diese Ziele entschieden hat. An solche Vorbedingungen gebundene Regeln und Normen gelten somit nur hypothetisch; sie haben technischen, aber keinen moralischen Charakter. Gesetze der Moralität erheben dagegen Anspruch auf eine von Voraussetzungen, Bedingungen und Konventionen nicht abhängige Verbindlichkeit. Nun schließen alle unverkürzten Antworten auf die alte Frage, was der Mensch sei, unmittelbar oder mittelbar seine Moralfähigkeit ein. Sein Wesen ist nicht nur durch das bestimmt, was er in der Welt der Natur und in der sozialen Welt ist, sondern weit mehr noch durch das, was er sein soll und was von ihm gefordert wird. Sein Status als eines von der Moralität in Pflicht genommenen Wesens wird nicht dadurch berührt, ob er ihren Imperativen Folge leistet oder nicht, ob er sich die ihn verpflichtenden Forderungen deutlich bewusst macht oder ob er sie verdrängt. Relevant ist nur, dass er als ein essentiell durch seine Moralfähigkeit bestimmtes Wesen daraufhin angelegt ist, diese Forderungen wahrnehmen und sein Handeln und Verhalten durch sie motivieren zu können, auch wenn er von dieser Fähigkeit nicht in jedem Augenblick seiner physischen Existenz Gebrauch macht, ja noch nicht einmal immer Gebrauch machen kann. Seine Würde beruht jedenfalls nicht auf den Ansprüchen, die er selbst erhebt, sondern auf Forderungen, deren Adressat er ist; nicht auf dem, was er will, sondern auf dem, was er soll16. Das gilt auch dann, wenn er sich im Einzelfall darüber irrt, was dieses Sollen von ihm verlangt. Auf jeden Fall rechtfertigt das unbedingte Sollen, unter dem er steht, seinen Anspruch gegenüber jedermann, ihn als moralfähiges Wesen anzuerkennen. Aber obwohl dieses Sollen, was seine Legitimation anbetrifft, gerade nicht in der Welt der Fakten gründet, ist es gleichwohl dazu bestimmt, auf eben diese Welt angewendet zu werden und das Verhalten des Menschen in ihr nicht nur zu normieren, sondern überdies auch zu motivieren. Doch aus dieser Anwendungsbedürftigkeit lässt sich nicht ableiten, dass der Grund der Verbindlichkeit dieses Sollens in der Welt zu suchen wäre, auf die es sich bezieht. Wenn sich die Bestimmung des Menschen als eines moralfähigen Wesens aus prinzipiellen Gründen ebenso wenig wie irgendeine andere normative Bestimmung als eine durch Beobachtung feststellbare, aktual vorliegende faktische Eigenschaft verstehen und auf den Begriff bringen lässt, liegt der Versuch nahe, die Moralfähigkeit ihrer kategorialen Struktur nach zu den Dispositionen zu rechnen. Um dieser Einstufung gerecht zu werden, braucht man hier durchaus nicht die verzweigten Untersuchungen in ihren Einzelheiten zu rekapitulieren, die von den Wissenschaftstheoretikern seit 16

Über die Art des Zusammenhangs zwischen Moralität und Würde vgl. den locus classicus bei Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausgabe Bd. IV, S. 434 f.

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Carnap der formalen Analyse der Dispositionsbegriffe gewidmet worden sind17. Dort richtet sich das Interesse ohnehin nicht so sehr auf den Status und die Funktion, die diesen Begriffen in den praktischen und den normativen Disziplinen zukommt. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist immerhin ein Ergebnis von Bedeutung: dass nämlich alle Dispositionsbegriffe ihrem Status nach theoretische Begriffe sind, die sich auf Inhalte richten, die niemals unmittelbar Gegenstand von Beobachtungen werden können. Obwohl sie sich auf der Basis von Beobachtungen allein nicht definieren lassen, können sie Voraussetzungen liefern, unter denen sich beobachtbare Sachverhalts erklären lassen. Solche Dispositionen lassen sich daher auch als Potentialitäten ansehen, die ihren Inhaber in den Stand setzen, etwas zu bewirken oder zu erleiden, die aber in keiner konkreten Aktualisierung aufgehen. Exemplarisch gilt dies für normativ bestimmte Dispositionen. Zu ihnen führt der Weg nicht, wie bei Potentialitäten anderer Art, über die abschwächende Extension einer aktualen Bestimmung oder über eine bloße Analogiebildung, da sie im Verhältnis zu dem, was sie ermöglichen, stets den Vorrang behaupten. Als eine dispositionelle Potentialität ist die Moralfähigkeit des Menschen nicht von der Art einer aktuellen Eigenschaft, die sich gleichsam im Wartestand befindet. Überdies ist sie für den Menschen keine akzidentelle Bestimmung, sondern ein essentielles Wesensmerkmal, das ihm eigen ist, solange er existiert, und zwar auch dann, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, daran gehindert ist, den Anspruch der Moral wahrzunehmen und ihm sein Handeln zu unterstellen. Wie alle für den Menschen essentiellen normativen Bestimmungen ist auch die Moralfähigkeit nicht graduierbar. Es bleibt die Frage, ob dem Menschen die als dispositionelle Potentialität verstandene Moralfähigkeit als Grund der ihm eigenen Würde mitsamt dem von ihr geforderten Lebensschutz in sämtlichen Phasen seiner individuellen physischen Existenz, also auch schon im embryonalen Zustand eigen ist. Bei der Beantwortung muss beachtet werden, dass sich die Moralfähigkeit im Gegensatz zu anderen, nichtdispositionellen Potentialitäten nicht als Derivat einer allein am Erwachsenen orientierten Aktualität definieren lässt, der sich im Vollbesitz aller seiner Fähigkeiten und Kräfte befindet. Ohnehin würde es zu einer Verkürzung führen, wollte man den Menschen nur unter dem Blickwinkel seines Erwachsenseins betrachten und diese Lebensphase zum Maß aller menschlichen Dinge nehmen. Auch dem Kind kommt die Moralfähigkeit und mit ihr die Menschenwürde nicht erst im Blick auf den Erwachsenen, zu dem es sich entwickeln soll, sondern auf unmittelbare 17

Grundinformation bei Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II: Theorie und Erfahrung, Berlin 1970, S. 213 ff.

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Weise zu. Wollte man die Anerkennung dieser Disposition davon abhängig sein lassen, dass der Mensch bereits ein bestimmtes Stadium seiner persönlichen Entwicklung erreicht hat, müsste man in ihr einen Wendepunkt markieren können, vor dessen Erreichen ihm die Menschenwürde entweder noch gar nicht oder, dem Prinzip des Mehr oder Weniger folgend, nur in einem defizienten Modus zuerkannt zu werden brauchte. Mit einem solchen Ansatz würde man sich schon deswegen Schwierigkeiten einhandeln, weil man über normative Bestimmungen nicht wie über deskriptiv erhebbare Eigenschaften aufgrund von Beobachtungen befinden kann. Vor allem aber ist es die Unverfügbarkeit dieser Würde, die einer derartigen Markierung entgegensteht. Sie lässt es nicht zu, dass die Anerkennung der Würde eines Menschen, in welchem Stadium seiner physischen Entwicklung er sich auch befindet, nur von arbiträren Entscheidungen abhängt, die von seinesgleichen getroffen werden. Das gilt auch für die Fälle, in denen versucht wird, den Charakter solcher Entscheidungen mit Hilfe einer heute beliebten und verbreiteten Methode dadurch zu verschleiern, dass man die Kompetenz zur Einführung konventioneller Definitionen in Anspruch nimmt. Ihre Unantastbarkeit würde man auch dann unterlaufen, wenn man sie nur für den Inhalt ihres Begriffs reserviert, die Frage nach den Regeln seiner Anwendung dagegen auf sich beruhen lässt. Die Menschenwürde wäre gleich den in ihr gründenden Menschenrechten entwertet, wenn es Sache nicht von Einsichten, sondern ausschließlich von Entscheidungen wäre, wer beanspruchen darf, als Subjekt der Würde und der in ihr gründenden Rechte anerkannt zu werden. Entsprechendes gilt für die Antwort auf die Frage, von welchem Zeitpunkt ab einem Menschen die ihm eigene Würde zuzuerkennen ist. Macht man mit dem Prinzip ihrer Unverfügbarkeit ernst, bleibt nur die Konsequenz, sie dem Menschen auf Grund der für ihn essentiellen Moralfähigkeit vom Anfang seines natür­ lichen, auch die embryonale Phase einschließenden individuellen Lebens an nicht als eine momentane, sondern als eine persistierende Disposition zuzuerkennen. Dies ist gleichwohl keine willkürliche Entscheidung, sondern nur eine Konsequenz aus der Einsicht in die Notwendigkeit, in diesen Fragen auf derartige Entscheidungen ein für alle Mal zu verzichten und nach einer Lösung zu suchen, die sich durch eine größtmögliche Entscheidungsferne auszeichnet und zugleich dem schon eingangs bei der Erörterung der Beweislastfrage ins Spiel gebrachten tutioristischen Grundsatz gerecht wird18. 18

Nicht triftig wäre ein Argument, das die Berechtigung, einen späteren Beginn der Moralfähigkeit des Menschen anzusetzen, auf die Notwendigkeit einer moralischen Erziehung gründen will, die es dem Individuum allererst erlaubt, sich dieser Disposition bewusst zu werden. Der Erzieher könnte sein Ziel nicht erreichen, würde er die Moralfähigkeit nicht schon von Anfang an antizipatorisch unterstellen. Wer sich auf das Geschäft einer solchen

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Es wäre nicht der Mühe wert, die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte zu erörtern, wenn darüber, wer ihrer teilhaftig ist, aufgrund von konventionellen Definitionen entschieden werden könnte.

3. Der Zusammenhang des Potentialitätsargumentes mit den übrigen SKIP*-Argumenten Es könnte so aussehen, als sollte mit der hier vorgeschlagenen Lösung die dem Menschen eigene Würde auf ein naturgegebenes Substrat, nämlich auf seine Natürlichkeit gegründet werden, um die Erörterung in eine Option für das von vielen als obsolet angesehene Speziesargument einmünden zu lassen19. Doch die Würde soll in Wirklichkeit hier nicht durch die Faktizität einer natürlichen Spezies legitimiert, sondern mit der Moralfähigkeit des Menschen als einer dispositionellen Potentialität auf eine Bestimmung vom normativen Typus gegründet werden. Allenfalls das Bewusstsein der Moralität lässt sich auch in den Gegebenheiten einer natürlichen Spezies verankern, auf keinen Fall jedoch das intentionale Korrelat dieses Bewusstseins, die Moralität selbst. Selbstredend verlangt jede normative Bestimmung ein Substrat, auf das sie sich anwenden lässt, in letzter Instanz stets auf einen noch nicht vornormierten, faktischen Sachverhalt. Aber an dieses Substrat vererbt sie eben niemals die ihr eigene Fähigkeit, Prämissen normativer Begründungen zu liefern, beispielsweise die Fähigkeit, die Zuschreibung der Menschenwürde an ein Wesen mitsamt den in ihr gründenden Rechten zu

Erziehung einlässt, hat bereits durch die Tat anerkannt, dass der Mensch auch dann schon moralfähig ist, wenn er sich dieser Potentialität noch nicht deutlich bewusst ist. – Eine analoge Situation liegt in Bezug auf die Sprachfähigkeit vor, einer für den Menschen ebenfalls essentiellen Disposition. Niemals wird diese Fähigkeit von Natur aus aktualisiert; denn der Mensch lernt immer nur sprechen, wenn man zu ihm und mit ihm spricht und ihn dabei als ein sprachfähiges, antizipatorisch als ein bereits sprachmächtiges Wesen anerkennt. Jedes sprachfähige und moralfähige Wesen hat Anspruch darauf, dass seine Fähigkeiten entwickelt und bewusst gemacht werden, auch wenn es diesen Anspruch selbst noch nicht durchsetzen kann. * [Ad-hoc-Abkürzung der Herausgeber des eingangs zitierten Sammelbandes: „SKIP“ steht für die dort diskutierten Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargumente.] 19 Man pflegt seit einiger Zeit mit Hilfe einer suggestiven Wortprägung, nicht ohne diskriminierende Konnotationen, von einem „Speziesismus“ zu sprechen. Ohne Zweifel lässt sich auf die bloße Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies allein noch nicht die Gültigkeit einer Norm gründen. Trotzdem macht man sich einer verfehlten Analogie schuldig, wenn man wie Peter Singer eine Identität dieses Fehlers mit „den illegitimen Diskriminierungen in rassistischen oder sexistischen Behauptungen“ diagnostizieren will (Reinhard Merkel, Früheuthanasie, Baden-Baden 2001, S. 469).

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legitimieren20. Allein deswegen, weil die Moralfähigkeit des Menschen als eine ihrem Status nach normative Bestimmung auch beim Erwachsenen niemals zu einem Gegenstand möglicher Beobachtungen wird, bedarf man eines Indikators, der selbst freilich keine Begründungsfunktionen übernehmen und schon gar nicht als essentielles Element der Moralität oder der Menschenwürde gelten kann. Die Zugehörigkeit zu einer Spezies ist immerhin geeignet, die Funktion eines solchen Indikators zu übernehmen. Insoweit wird sie nur als die naturale Basis der Menschenwürde in Anspruch genommen, die selbst aber nicht als naturale Bestimmung gedeutet werden darf. Diese Funktion zu übernehmen ist die menschliche Spezies, zu der ohne jeden Zweifel auch der Embryo gehört, deswegen prädestiniert, weil es jedenfalls Angehörige dieser Spezies sind, denen die Disposition der Moralfähigkeit eigen ist, gleichgültig, ob sie die durch sie eröffneten Optionen ausüben oder nicht21. Dass auch der menschliche Embryo zu dieser Spezies gehört, ist Resultat nicht einer Entscheidung, sondern Inhalt einer begründungsfähigen Einsicht. Bei der Verknüpfung der Moralfähigkeit und der Würde des Menschen mit seiner Spezies ist es allein deren indikatorischer Charakter, der einen den Fehler vermeiden lässt, eine normative Bestimmung durch den Rekurs auf ein bloßes Faktum zu legitimieren. Damit wird der größtmögliche Abstand zu einer Lösung eingehalten, bei der die Zuschreibung der Menschenwürde als die Sache einer arbiträren Entscheidung betrachtet wird. Auf diesen Abstand bedacht zu sein, ist deswegen unabdingbar, weil zur Gemeinschaft moralfähiger, zu gegenseitiger Anerkennung verpflichteter Subjekte ein jeder von Beginn an stets kraft eigenen Rechts, nicht aber auf der Grundlage einer Kooptation, einer arbiträren Zuweisung oder einer Verleihung gehört. Nur deswegen ist jedermann schon um seiner eigenen Menschenwürde willen verpflichtet, die Würde anderer ohne Einschränkung und ohne Vorbedingungen anzuerkennen. Auf der anderen Seite ist niemand für die Achtung und die Anerkennung seiner eigenen Würde seinesgleichen zu Dank verpflichtet. Wer ihre Zuerkennung zur Sache einer Kooptationsentscheidung macht, meldet damit in Wirklichkeit und der Sache nach nur den Anspruch auf das Recht des Stärkeren an. 20 Darauf ist besonders deswegen zu achten, weil der Vorwurf des Sein-Sollen-Fehlschlusses nicht selten irrtümlicherweise gegen Sätze erhoben wird, die in Wirklichkeit nur die Applikation von Normen auf faktische Sachverhalte explizieren. Freilich führt mangelnde Sorgfalt bei der sprachlichen Formulierung einer Argumentation gelegentlich dazu, dass der Unterschied zwischen der Legitimation und der Anwendung einer Norm verwischt wird. 21 Im vorliegenden Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, ob Anlass besteht und Gründe vorliegen, auch die Zugehörigkeit zu bestimmten anderen Spezies für entsprechen­de indikatorische Funktionen in Anspruch zu nehmen.

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Wie ist das aufgrund der vorgetragenen, hier zusammenzufassenden Überlegungen modifizierte Potentialitätsargument zu bewerten? Es hat sich bestätigt, dass das eigentliche Problem nicht in der leicht nachzuweisenden formalen Folgerichtigkeit eines Schlusses besteht, der davon ausgeht, dass die Aktualität, an die der Basissatz anknüpft, auf eine Potentialität hin ausgeweitet wird, und der dem Embryo daraufhin die Menschenwürde unter der Bedingung zuspricht, dass er an dieser Potentialität teilhat. Als fragwürdig haben sich vielmehr einige Voraussetzungen dieses Schlusses erwiesen. Das gilt zunächst für die Berechtigung, jene Extension vorzunehmen und auf diese Weise ohne weitere Begründung die erste Prämisse jenes Schlusses zu gewinnen. Es gilt aber auch im Hinblick darauf, dass der Basissatz selbst in mehrfacher Hinsicht unterbestimmt bleibt; er lässt offen, ob deskriptive oder normative, akzidentelle oder essentielle, momentane oder persistierende Bestimmungen als mögliche Prädikatoren für die Variable φ eingesetzt werden können. Es gilt vor allem in Bezug auf die Vielfalt der Potentialitätsbegriffe, die zur Auswahl stehen. Der hier zur Diskussion gestellte Lösungsvorschlag zielt auf ein Argument, das bei einem Potentialitätstyp ansetzt, zu dem man gerade nicht auf dem Wege über die Extension einer Aktualität gelangt, zumal da normative und als solche nicht unmittelbar beobachtbare Bestimmungen ohnehin keiner Aktualität im gewöhnlichen Sinn fähig sind. Dieses Argument will die Menschenwürde und die auf ihr beruhenden Rechte vielmehr originär und unmittelbar an eine normative Potentialität vom dispositionellen Typus, nämlich an die für den Menschen essentielle Moralfähigkeit, binden22. Die Unverfügbarkeit dieser Würde lässt es nicht zu, dem Menschen die Moralfähigkeit, in der sie gründet, auf Grund einer arbiträren Entscheidung erst von irgendeinem Stadium seiner individuellen physischen Entwicklung ab zuzusprechen. Deswegen wird sie, als eine normative Bestimmung, durch die faktische Spezieszugehörigkeit, wie sie schon dem Embryo unbestritten zukommt, zwar nicht begründet, wohl aber wird diese naturgegebene Zugehörigkeit als Indikator in Anspruch genommen, der sich durch seine Entscheidungsferne auszeichnet. Er begründet nicht, sondern zeigt nur an, dass jedenfalls einem zu dieser Spezies gehörigen Individuum, zumal unter tutioristischen Gesichtspunkten, die Moralfähigkeit nicht abgesprochen werden darf, gleichgültig, wann es die durch sie eröffneten Optionen erst-

22

Auch wenn alle Versuche fehlschlagen, die darauf gerichtet sind, die Menschenwürde mittels eines Sein-Sollen-Fehlschlusses nur auf biologisch erhebbare Fakten zu gründen, so gibt dies dennoch niemandem das Recht, auch nicht auf dem Weg über eine willkürliche Zuweisung der Beweislast, einem Wesen wie dem Embryo allein auf Grund eines faktischen biologischen Befundes diese Würde abzusprechen.

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mals realisiert, ob es sie überhaupt realisiert23. Es gehört zu der Eigenart von dispositionellen wie von optionalen Potentialitäten, von Fähigkeiten wie von Fertigkeiten, dass sie sich gerade nicht als defiziente Abschwächungen der Aktualitäten verstehen lassen, die durch sie allererst ermöglicht werden. Gerade umgekehrt beziehen sie sich auf die ihnen zugeordneten Aktualitäten als Instanzen, an denen sie sich immer nur bewähren, ohne jedoch in ihnen aufzugehen. Ihnen gegenüber behalten die originären, nicht abgeleiteten Potentialitäten stets den Vorrang. Die Frage nach der Beziehung des Potentialitätsarguments in der hier vorgetragenen Spielart zu den anderen drei den moralischen Status des Embryos betreffenden Argumenten ist also leicht zu beantworten. Vom Speziesargument macht es Gebrauch, wenngleich in einer Modifikation, in der die Zugehörigkeit zu einer Spezies keine begründende, sondern nur eine indikatorische Funktion hat. Aber weder die Annahme der Kontinuität der Entwicklung des Wesens, dessen Menschenwürde zur Debatte steht, noch die Annahme von dessen Identität über die Zeit hinweg fordert die Gültigkeit eines Potentialitätsarguments; ebenso wenig wird von dessen Gültigkeit eine jener Annahmen gefordert. Hingegen ist das Potentialitätsargument mit ihnen verträglich, da sich aus seinen Prämissen und den Prämissen des Kontinuitäts- oder des Identitätsarguments kein Widerspruch ableiten lässt. Zuerst veröffentlicht in: Gregor Damschen / Dieter Schönecker (Hrsg.): Der moralische Sta­tus menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument. Walter de Gruyter, Berlin / New York 2003, S. 149–168.

23 Ein Wesen kann einer natürlichen Spezies stets mit hinreichender Sicherheit zugeordnet werden. Dagegen ist eine vergleichbare Sicherheit niemals zu erreichen, wo festgestellt werden soll, ob ein Wesen den für seine Anerkennung als Person den von den Vertretern des Konzepts der Personenrechte verbindlich gemachten Kriterien genügt.

Was heißt und zu welchem Ende vermeidet man den Gebrauch der Urteilskraft? Strategien zu ihrer Umgehung

I Bemüht man sich darum, die Orte zu markieren, an denen die Urteilskraft am Werk ist und an denen sich das Bedürfnis oder sogar die Notwendigkeit meldet, von ihren Leistungen Gebrauch zu machen, so wird es merkwürdig anmuten, wenn man sein Interesse gleichzeitig den Techniken und den Strategien zuwendet, deren Anwendung dazu führt, dass man auf diese Leistungen verzichtet, wie immer dieser Verzicht auch motiviert sein mag. Immerhin sollte es zu denken geben, dass die Urteilskraft gerade bei den Vertretern der theoretischen Wissenschaften eine bescheidene Rolle zu spielen scheint, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen und dabei von fach­spezifischen Methoden Gebrauch machen, um ihre Erkenntnisse zu begründen. Natürlich weiß jeder Forscher, dass er damit rechnen muss, immer wieder einmal in Situationen zu kommen, in denen er, hilft ihm keine Methode mehr weiter, nur noch auf seine Urteilskraft angewiesen ist und, wie man zu sagen pflegt, sich etwas einfallen lassen muss. Dennoch nimmt auch die große Mehrzahl der Wissenschaftstheoretiker die Urteilskraft kaum zur Kenntnis, räumt ihr jedenfalls keinen zentralen Platz unter ihren Traktanden ein. Doch diese Dinge allein berechtigen einen noch nicht dazu, von Techniken zu sprechen, die auf eine Ausgrenzung der Urteilskraft zielen. Nun ist mit den Überlegungen, die hier vorgetragen werden sollen, nicht die Absicht verbunden, die Urteilskraft abzuwerten, wenn sie versuchen, dieses Vermögen und seine Leistungen einmal gleichsam anhand einer Negativkopie zu betrachten. Stellt man nämlich eine solche Gegenrechnung an, hat man die Aussicht, etwas über sie zu erfahren, was man leicht übersieht, wenn man sie nur in direkter Intention ins Auge fasst. Die Konturen dessen, was sie leistet, werden deutlicher, wenn man den Blick zugleich auch auf das richtet, was sie auf Grund ihrer Natur zu leisten gar nicht fähig ist, aber auch auf das, was man gerade dann erreichen kann, wenn man sie einmal zeitweise verabschiedet oder in eine Art von Wartestand versetzt. Zudem wird den Chancen, die sie bietet, schwerlich gerecht, wer vor den

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Risiken und vor den Folgelasten die Augen verschließt, die auf sich nehmen muss, wer von ihr Gebrauch macht. Trotz des Interesses, das die Urteilskraft in neuerer Zeit vor allem im Umkreis der hermeneutisch orientierten Philosophie auf sich ziehen konnte, gehört sie in der philosophischen Diskussion noch immer zu den großen Unbekannten. Daher ist es zweckmäßig, sich bei einer Erörterung, die sich mit ihr befasst, zunächst an der Philosophie Kants auch dann zu orientieren, wenn man keine Kantexegese in historischer Absicht liefern will. Wie kein anderer neuzeitlicher Denker hat Kant die Urteilskraft zu einem der zentralen Themen seines Nachdenkens gemacht. Nachdem er sie in den beiden ersten Kritiken bereits berührt hatte, wird in der dritten und letzten Etappe des „kritischen Geschäfts“ ihre Untersuchung mit den Mitteln der Transzendentalphilosophie in das Zentrum des Interesses gerückt. In der „Kritik der Urteilskraft“ hat Kant so etwas wie ein Alphabet zur Verfügung gestellt, auf das man sich auch heute noch am ehesten einigen kann, wenn man es unternimmt, die von der Urteilskraft gestellten Sachprobleme zu buchstabieren und zu erörtern. Will man sich einen Überblick verschaffen, an welchen Stellen gerade ihre Leistungen im Vordergrund stehen, so muss man vor allem fünf Bereiche hervorheben: Die Urteilskraft ist präsent in Gestalt des sogenannten gemeinen oder gesunden Menschenverstandes; als praktische Urteilskraft steht sie im Dienste der Normierung des konkreten sittlichen Handelns; in den praktischen Wissenschaften wie der Medizin, der Rechtswissenschaft und der Staatslehre reguliert sie jeweils konkrete, singuläre Einzelfälle; in ihrer Rolle als Geschmack bewährt sie sich in einer Welt von Phänomenen, die von dem methodischen und begründenden Denken der Wissenschaft nicht erreicht werden; schließlich ist sie in der Beschäftigung mit dem Bereich der Natur überall dort am Werk, wo teleologische oder zumindest teleonome Begriffe angewendet werden1. 1

Einen Sonderfall, der im vorliegenden Zusammenhang nicht eigens berücksichtigt zu werden braucht, bildet die transzendentale Urteilskraft. Sie ist damit befasst, mit den Anschauungsformen und den Kategorien die apriorischen, vor aller Erfahrung bereits gegebenen Besitzstücke des Verstandes und der Anschauung aufeinander zu beziehen. Ihr widmet Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ mit dem Untertitel „Analytik der Grundsätze“ eine „Transzendentale Doktrin der Urteilskraft“, die damit befasst ist, die Genese der transzendentalen Schemata und der Grundsätze des reinen Verstandes zu rekonstruieren (vgl. A 132/B 171 ff.). Um einen Sonderfall handelt es sich aus verschiedenen Gründen. Einmal sind der Urteilskraft in ihrem transzendentalen Gebrauch die von ihr zu verknüpfenden Elemente bereits gegeben; sie müssen nicht erst noch aufgesucht werden. Zum anderen werden die Leistungen der transzendentalen Urteilskraft vom Urteilenden nicht willkürlich und schon gar nicht in bewusster Planung erbracht. Es sind Leistungen, hinsichtlich derer es dem Urteilenden noch nicht einmal frei steht, ob er sie erbringen will oder nicht, da sie jedem Gebrauch seines Erkenntnisvermögens immer schon zugrunde

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Mit dem Namen des gesunden Verstandes oder des gemeinen Menschenverstandes wird „kein anderes als eben dieses Vermögen“2, die Urteilskraft, bezeichnet. In dieser Rolle dient sie der vortheoretischen, vorreflexiven Weltorientierung, auf die jeder Mensch angewiesen ist, weil sie die Rationalität jenes Alltags reguliert, zu dem er, wenn überhaupt, allenfalls fiktiv und auch dann nur vorübergehend Distanz halten kann. Dieser gemeine Menschenverstand ist eine in unterschiedlichen Graden ausgeteilte Gabe der Natur3. Durch Übung und Erfahrung lässt sie sich perfektionieren, doch niemand, der mit diesem Talent nicht in ausreichendem Maße ausgestattet ist, kann diesen Defekt durch eigene Bemühung und gezieltes Lernen ausgleichen. Das bestätigt auch ihr Ausfallphänomen: Der Mangel an gesundem Menschenverstand ist nichts anderes als die Dummheit, „und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen“4. Sie manifestiert sich nicht in einem Mangel an Kenntnissen, sondern in der Unfähigkeit, mit den Kenntnissen, den Informationen und den Begriffen, über die man verfügt, auf sinnvolle Weise umzugehen und Gebrauch von ihnen zu machen. Gelehrsamkeit ist deswegen mit Dummheit verträglich, dann nämlich, wenn jemand sein Wissen, mag es seinem Inhalt nach auch noch so umfassend sein, nicht auf konkrete Situationen anwenden und für ihre Regulierung fruchtbar machen kann. So bewährt sich die Urteilskraft in der Rolle des gemeinen Menschenverstandes zwar nicht so sehr in den theoretischen Wissenschaften und in ihren Ergebnissen, wohl aber darin, dass ihr Inhaber den Problemen der Lebenspraxis auf treffsichere Weise gerecht zu werden versteht. Die praktische Urteilskraft bewährt sich in der Lösung normativer Pro­ bleme, wenn sie das durch Unbedingtheit ausgezeichnete Gebot des Sitten­ gesetzes auf die Lebenswirklichkeit anwendet5. Dieses hinter den verschie­ denen Gestalten des kategorischen Imperativs stehende Gesetz ist nicht dazu bestimmt, die konkreten, einzelnen Handlungen eines M ­ enschen durch Gebote und Verbote auf unmittelbare Weise zu regulieren. Seiner Struktur nach ist es ein Erlaubnisgesetz, das Handlungsmaximen approbiert, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die praktische Urteilskraft tritt erst dann in Funktion, wenn sie die so legitimierten Maximen für die Regulierung konkreter, singulärer Situationen fruchtbar macht. Erst sie eröffnet liegen. Am Werk ist hier „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden“ (A 141/B 180). (Die „Kritik der reinen Vernunft“ wird, wie üblich, nach der Paginierung der ersten beiden Auflagen, die anderen Texte Kants werden nach der Akademieausgabe zitiert). 2 V 169, vgl. 293 f. 3 Vgl. A 133/B 172. 4 A 134/B 173. 5 Vgl. V 67 ff., V 411.

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die Möglichkeit, Kasuistik zu treiben und die Probleme des Einzelfalls auf der Grundlage von Prinzipien zu lösen. Im Fall der kantischen Ethik zeigt sie überraschenderweise, wie Rigorismus im Prinzipiellen mit Liberalität in der Anwendung vereinbart werden kann6. Domänen der Urteilskraft sind die im Hinblick auf ihre spezifische Eigenart heute immer noch oft verkannten praktischen Disziplinen. Ihrer unreduzierbaren Eigenständigkeit gegenüber den theoretischen Fächern wird nicht gerecht, wer sich nur an dem beliebten, aber irreführenden Paradigma der zwei Kulturen orientiert, zumal da es sich hier um eine Differenz handelt, die nicht auf die landläufige Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften zurückgeführt werden kann. Zwar machen praktische Disziplinen wie die Medizin und die Rechtswissenschaft auch von Resultaten der theoretischen Wissenschaften Gebrauch, manchmal sogar in exzessivem Umfang. Dass hier aber auch noch etwas anderes im Spiel ist, wird schon in Benennungen deutlich, die wie die Namen der ärztlichen Kunst, der Jurisprudenz, der Richterkunst auf praktische Ziele verweisen, die auch mit Hilfe einer noch so perfekten, auf theoretische Ideale gegründeten Wissenschaftsmethodik nicht erreicht werden können. Anders als die theoretischen Wissenschaften lassen sich die praktischen Disziplinen noch nicht einmal fiktiv als Selbstzweck betreiben, da sie ihrem Sinn nur dann gerecht werden, wenn sie in die menschliche Lebenspraxis integriert sind. Zwar wollen auch sie, wie die theoretischen Fächer, wahre Sätze über bestimmte Sachverhalte gewinnen und begründen. Für sie bleiben diese aber immer nur Hilfsmittel, von denen sie Gebrauch machen, wenn sie im Zuge der Regulierung komplexer Lebenssachverhalte in die Welt eingreifen, um sie an einer bestimmten Stelle zu verändern und zu gestalten. In diesem Sinn wendet der Jurist Gesetzesnormen, mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit ausgestattet, auf Einzelfälle an. Der Arzt macht Resultate fruchtbar, die ihm die naturwissenschaftliche, zum Teil auch die psychologische Forschung liefert. Die eigentliche Aufgabe beider besteht aber darin, allgemeine Normen, Regeln und Gesetze, wie immer sie gewonnen und begründet sein mögen, jeweils mit einem Einzelsachverhalt zur Deckung zu bringen. Eben dazu bedarf es der Urteilskraft. Ihre Aufgaben kann man ihr zwar erleichtern, wenn man ihr Regeln zweiter Stufe, sogenannte Anwendungsregeln, an die Hand gibt. Doch damit werden diese Aufgaben nicht gelöst, sondern nur verschoben. In letzter Instanz bleibt die Urteilskraft immer auf sich selbst gestellt7. 6

Vgl. vor allem die kasuistischen Korollarien in Kants „Metaphysik der Sitten“ z. B. V 423, 426, 428, 431, 433, 437. 7 Zur Rolle der Urteilskraft in den praktischen Disziplinen vgl. vom Verf., D ­ iagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin 1975; ferner: Kants Rechtsphilosophie der Urteils­ kraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, 1998, S. 1–22 [= unten S. 345 ff.].

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Ein vierter von der Urteilskraft dominierter Bereich ist das Einzugsgebiet des Geschmacks. Für die Theorie der Urteilskraft hat er sogar exemplarische Bedeutung, weil Kant den größten Teil dessen, was er über die Struktur dieses Vermögens zu sagen hat, in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ im Zusammenhang mit der Behandlung des Geschmacksurteils vorträgt. Die paradigmatische Funktion, die er dem Geschmack für die Analyse der Urteilskraft im ganzen zugesteht, kommt nicht von ungefähr. Sie bietet sich an, weil nur hier die Urteilskraft anhand eines reinen Falles, ohne die Interferenz anderer Vermögen und ihrer Leistungen unverstellt studiert werden kann. Überall sonst kooperiert sie mit anderen Vermögen und muss damit rechnen, von ihnen dominiert zu werden. Von Inhalten und Produkten des Verstandes macht sie Gebrauch, wenn sie Tatsachen der Erfahrung unter seine Regeln und Begriffe subsumiert und sie auf diese Weise zugleich darstellt. Die Elemente, die zum Gegenstand einer derartigen Anwendung werden, absorbieren das Interesse gewöhnlich in einem weit höheren Maße als der Anwendungsprozess selbst. In der Rolle des Geschmacks muss die Urteilskraft hingegen ohne solche Regeln auskommen. Zwar muss auch das Urteil des Geschmacks stets von einem Gegenstand oder von einer Vorstellung von ihm veranlasst werden, doch seinen Bezugspunkt findet es nicht dort, sondern in einem freien Spiel der Vorstellungsvermögen, das der Urteilende in der Weise eines spezifischen Lustgefühls, nämlich als eine Lust der Reflexion und aus der Reflexion erfährt. Dieses Spiel ist noch nicht durch die Option für einen bestimmten Begriff eingeengt. Erst hier muss Kant eine bestimmende, ein Besonderes unter ein Allgemeines subsumierende von einer „bloß“ reflektierenden Urteilskraft unterscheiden, der „nur“ das Besondere gegeben ist, zu dem sie ein geeignetes Allgemeines erst noch suchen muss8. Solange ihr dieses Allgemeine nicht oder noch nicht zur Verfügung steht, kann sie, von keinem vorgegebenen Prinzip abhängig, nur sich selbst Prinzip und Gesetz sein, wenn sie ein gegebenes Besonderes als Beispiel einer allgemeinen Regel ansieht, die man gleichwohl nicht angeben kann. Nur in der Rolle des Geschmacks ist die reflektierende Urteilskraft selbständig tätig, während sie sonst ihrem bestimmenden Pendant, in dessen Hintergrund sie dann bleibt, nur zuarbeitet. Um aber überhaupt in ihrer subsumierenden Funktion Bestimmungen vornehmen zu können, muss die Urteilskraft in einer Vorbereitungsphase reflektierend am Werk gewesen sein. Dann vollzieht die Subsumtion oft nur noch den gegenüber der Reflexion viel weniger anspruchsvollen Schlussakt. Nur ihn hat Kant in der Regel im Auge, wenn er in der Zeit vor der Konzeption der Dritten Kritik die Urteilskraft erwähnt. Schon hier wird deutlich, dass es sich bei der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft 8

Vgl. V 179 f., 237, 288.

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nicht um zwei sich spiegelbildlich zueinander verhaltende, nur in gegensätzliche Richtungen orientierte Spielarten ein und desselben Vermögens, sondern um zwei Phasen handelt, von denen die eine, außer im Falle des Geschmacks, auf der anderen aufbaut. Das wird auch daran deutlich, dass die reflektierende im Gegensatz zur bestimmenden Urteilskraft als solche keine Urteile fällt, die sich von dem Prozess des Reflektierens auch nur der Idee nach isolieren ließen9. Schließlich ist die Urteilskraft in einer dominierenden Rolle auch überall dort am Werk, wo innerhalb einer theoretischen Disziplin, insbesondere in den Naturwissenschaften, von teleonomen Begriffen Gebrauch gemacht wird. Wenn Kant in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ die Funktion und die Leistungen der Urteilskraft im Umgang mit derartigen Begriffen untersucht, schränkt er den Anwendungsbereich dieser Begrifflichkeit ein. Das bedeutet nicht, dass dem teleonom orientierten Denken kein Bereich verbleibt, in dem es sich legitimerweise betätigen kann. Eingeschränkt wird sein Anwendungsbereich deswegen, weil es außerhalb des bewusst Zwecke setzenden Willens ausschließlich die reflektierende Urteilskraft ist, der Kant die Legitimation zuspricht, mit dem Zweckbegriff als mit einem regulativen Prinzip umzugehen. Anders als das vom Kausalbegriff dominierte Begriffsnetz kann die teleonome Begrifflichkeit nicht dazu verwendet werden, Verhältnisse im Bereich der Natur objektiv zu bestimmen. Nur regulative und heuristische Funktionen dürfen ihr anvertraut werden. Zwar liefert sie Maximen, deren sich die Urteilskraft – und nur sie – bei ihrer Reflexionsarbeit bedienen darf, weil sie ihren Bemühungen die Richtung weisen können. Doch es ist eine Begrifflichkeit, die nicht in die Resultate dieser Bemühungen eingehen darf.

II Auf den ersten Blick scheinen es heterogene Felder zu sein, auf denen sich die Urteilskraft so präsentiert, dass ihr Wirken unmittelbar wahrgenommen wird. Man darf freilich nicht übersehen, dass es sich dabei nur um exemplarische Fälle handelt. Die Urteilskraft ist nicht nur hier am Werk. Dennoch lässt sich ihre Tätigkeit gerade auf diesen Feldern deswegen gut 9

Die Unterscheidung der beiden Gestalten der Urteilskraft findet eine Parallele in der von Aristoteles und den Stoikern vorbereiteten, spätestens bei Cicero fixierten Dichotomie von inventio und iudicium. Über die rhetorische Tradition und in deren Folge wurde sie von Petrus Ramus und von der frühneuzeitlichen Schullogik aufgenommen und konnte dort eine erhebliche paradigmatische Kraft entfalten. Auch hier stehen die beiden Glieder der Dichotomie nicht auf derselben Ebene, da die inventio, der anspruchsvollere Akt, letztlich nur dazu bestimmt ist, das iudicium zu ermöglichen.

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studieren, weil sie sonst in Verflechtungen mit anderen Vermögen zumeist nur in dienenden Funktionen tätig ist. Wo sie nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, lässt sich ihr Wirken oft nur mit Mühe identifizieren und abgrenzen. Gleichwohl ist sie in irgendeiner Weise überall präsent, wo überhaupt geurteilt und prädiziert wird, wo überhaupt Subsumtionen vorgenommen werden. Der Sache, nicht nur dem Wort nach steht die Urteilskraft grundsätzlich hinter einem jeden bivalenten Urteil, das von jemandem gefällt wird. Wo eine Anschauung oder ein Gegenstand durch einen Begriff bestimmt wird, wo ein Begriff unter einen anderen Begriff subsumiert wird, ist sie am Werk, auch wenn es oft nur bescheidene Leistungen sind, die ihr abverlangt werden. Dennoch verbleibt sie bei vielen Prädikationen der alltäglichen Weltorientierung, aber auch der Wissenschaft im Hintergrund. Denn es sind stets Aufgaben von einiger Erheblichkeit und von einem bestimmten Komplexitätsgrad, bei denen sie als solche ins Blickfeld gerät, wenn sie für deren Lösung ausdrücklich in Anspruch genommen wird. Dies sind die Fälle, von denen eben einige Typen skizziert worden sind. Ihnen ist jedoch eines gemeinsam: Die Urteilskraft tritt in den Vordergrund und wird gezielt in Anspruch genommen vor allem dort, wo stringente Begründungen oder strenge Beweise entweder aus prinzipiellen Gründen gar nicht oder aus pragmatischen Gründen einstweilen nicht geliefert werden können. Es bleibt eine Merkwürdigkeit, dass man einem Vermögen, das der Mensch in so unterschiedlichen Zusammenhängen mit oft guten Erfolgen in seinen Dienst stellt, gerade im Umkreis der theoretischen Wissenschaften mit Reserve begegnet, wenn man es nicht ganz ignoriert oder sogar gezielt umgeht und auf seine Leistungen bewusst verzichtet. Um dies zu verstehen, muss man die spezifischen Risiken ins Auge fassen, die eingeht, wer die Urteilskraft in Anspruch nimmt und ins Spiel bringt. Es sind Risiken, die deutlich werden, wenn man die Subsumtionen ins Auge fasst, die von der Urteilskraft vorgenommen oder doch wenigstens vorbereitet werden. Das kann die Subsumtion eines komplexen, vielleicht nicht einmal ganz durchschauten Lebenssachverhaltes unter eine Norm, aber auch, im anderen Extrem, einer elementaren Wahrnehmung oder eines Sinneseindrucks unter einen Begriff sein. Auch diese trivialen, inhaltlich zumeist gar nicht strittigen Fälle machen eine Eigentümlichkeit deutlich, die mit einer jeden Tätigkeit der Urteilskraft verbunden ist: Auch diejenigen ihrer Resultate, die man für gelungen hält, leiden immer unter einem Begründungsdefizit. Zumindest sind es keine Begründungen, die ihr den Weg zu ihren Ergebnissen weisen. Dieses Begründungsdefizit ist kein Makel, der sich durch geeignete Vorkehrungen heilen ließe. Das machen gerade jene Trivialfälle deutlich, in denen einfache Sinnesdaten klassifiziert, unter einen Begriff subsumiert und durch ihn bestimmt werden. Hier ergibt sich das Begründungsdefizit

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aus der Heterogeneität der Elemente, die durch einen Subsumtionsakt verknüpft werden. Wo man sich um Begründungen bemüht, muss man immer schon voraussetzen, dass die Größen, die man mit ihrer Hilfe verknüpfen will, gemeinsame Merkmale aufweisen. Gerade die trivialen Prädikationen lassen aber der Heterogeneität ihrer Elemente wegen gar keinen Ansatzpunkt für eine mögliche Begründung erkennen. Wohl hat man immer wieder versucht, dieses Defizit zu kompensieren. Dazu gehören alle die Ansätze, die ihm mit Evidenzpostulaten, mit hypothetischen Strategien, mit zirkulären Argumentationen oder mit autoritativen Setzungen zu begegnen suchen. Gleichwohl gelangt man auch in diesen Fällen immer wieder an einen Punkt, an dem sich die Urteilskraft nur noch auf sich selbst gestellt sieht. Die Rede vom Begründungsdefizit der Urteilskraft meint nicht, dass sich ihr Einzugsbereich in jedem Fall in die Sphäre des Irrationalen erstrecken würde. Ebenso wenig ist gemeint, dass sich dem, dessen Urteilskraft sich durch das Fällen treffender Urteile bewährt, keine Möglichkeiten böten, seine Urteile zu erläutern und plausibel zu machen. Auch wenn man der Urteilskraft mit Kant den Status einer Naturgabe zuerkennt, um die man sich nicht willentlich bemühen kann, wäre der Inhaber dieses Vermögens schlecht beraten, würde er sich auf diesen Besitz nur wie auf ein factum brutum oder gar wie auf ein Orakel berufen. Denn eine geübte und gebildete Urteilskraft bewährt sich auch darin, dass sie die Resultate ihrer Tätigkeit immer noch auf andere Weise formulieren und explizieren und sie damit dem Gesprächspartner stets auch noch in anderer Einkleidung vermitteln kann. Aber selbst dann tritt sie für ihre Ergebnisse keinen bündigen Beweis an. Selbst wenn sich unter ihnen ein beweisfähiges Resultat befindet, ist es nicht die Urteilskraft, die den entsprechenden Beweis führt. Auch wenn sie sich ihrer Sache sicher zu sein glaubt, kann sie für die Richtigkeit ihrer Urteile keine Garantie von der Art leisten, wie sie sich bei einem wissenschaftlichen Begründungsverfahren einfordern lässt. Bei der Beurteilung inhaltlich komplexer Sachverhalte kann das Begründungsdefizit der Urteilskraft dazu führen, dass sich auf bestimmte Fragen gelegentlich auch mehrere, untereinander nicht in jedem Fall kompossible Antworten geben lassen. Gute Beispiele hierfür liefert die juridische Sphäre. Obwohl der Jurisprudenz schon von alters her eine ausgefeilte Methodik für ihre Arbeit zur Verfügung steht, kann auch der beste Jurist bei komplexen oder neuartigen Streitgegenständen den zu erwartenden Urteilsspruch des Gerichts nicht mit Sicherheit vorhersagen. Wo seine professionelle Kompetenz gefordert ist, geht es zunächst nicht darum, zwischen richtigen und falschen, sondern zwischen vertretbaren und unvertretbaren Lösungsversuchen zu unterscheiden. Konkrete Rechtsfälle sind häufig von der Art, dass nicht nur eine Lösung vertretbar ist, zumal da juridische Begründungen

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nicht die Gestalt von lückenlosen Beweisen haben können. Darauf beruht es, dass jede nichttriviale juridische Beurteilung auch eine dezisionistische Komponente enthält. In allen Trivialfällen, in denen sich der zu erwartende Richterspruch mit hinreichender Sicherheit voraussehen lässt, wird es ohnehin nur selten zu einem forensischen Verfahren kommen. So ist es das Begründungsdefizit der Urteilskraft, das in der juridischen Sphäre hinter der bekannten Tatsache steht, dass ein Rechtsstreit für jede der beteiligten Parteien in der Regel mit einem Restrisiko verbunden bleibt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dieses Risiko durch eine weitere Perfektionierung der einschlägigen Methodik irgendwann einmal ganz ausschalten ließe. Gerade die im Begründungsdefizit kulminierenden Risiken der Urteilskraft, wie man sie anhand juridischer Erörterungen studieren kann, machen es verständlich, dass man in den theoretischen, auf das Ideal lückenloser Begründungen verpflichteten Wissenschaften danach strebt, die Urteilskraft zu umgehen und auf ihre Dienste zu verzichten. Anders als in den theoretischen Wissenschaften steht es einem im forensischen Bereich nicht frei, die Lösung eines konkreten Problems einstweilen zu suspendieren, da dies zu einer Rechtsverweigerung führen würde. Weil das Begründungsdefizit jedoch gerade hier nach einer Kompensation verlangt, begegnet man den Risiken der Urteilskraft auf andere Weise. Beim juridischen Urteil – übrigens der Urform des Urteils überhaupt – nimmt diese Kompensation ihren Weg nicht über formale Verfahren, sondern über die Einrichtung von Kollegialinstitutionen, deren Mitglieder sich in ihrer Kooperation gegenseitig kontrollieren, ferner über die Einrichtung eines Rechtswegs oder eines Instanzenzuges. So wird gewährleistet, dass ein und derselbe Sachverhalt nicht nur von einer, sondern von mehreren Personen, in manchen Fällen nicht nur von einem, sondern von mehreren Gremien beurteilt wird. Versperrt ist ein solcher Ausweg überall dort, wo der Urteilende unter Zeitdruck steht. Auch ärztliche Entscheidungen stützen sich manchmal auf konsiliarische Beratungen. Der Zeitdruck, unter dem sie zumeist gefällt werden müssen, würde indessen einen Instanzenzug von vornherein zur Ineffizienz verurteilen. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, mit der Suche nach Regeln für die Tätigkeit der Urteilskraft ihrem Begründungsdefizit zu begegnen. In der Tat kann sie auf manchen Betätigungsfeldern von Maximen Gebrauch machen, die ihr nützliche Orientierungen liefern und damit die Lösung ihrer Aufgaben erleichtern. Dennoch bleibt die Suche nach Regeln für ihre Tätigkeit ohne Ergebnis, wenn man nicht eine pragmatische, sondern eine prinzipielle Lösung anstrebt. Das liegt daran, dass die Elemente, mit denen die Urteilskraft umgeht und die sie anwendet, gewöhnlich selbst den Status von Regeln haben, die zudem oft in der Gestalt von Begriffen auftreten. Keine Regel und kein Begriff kann sich aber selbst anwenden. Dazu bedarf

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es einer personalen Instanz. Zudem steht es komplexen Sachverhalten nicht an der Stirn geschrieben, welche Regel für ihre Behandlung geeignet ist. So spitzen sich viele juridische Probleme auf die Frage zu, welche unter mehreren konkurrierenden Rechtsnormen für die Lösung eines vorliegenden Falles zuständig ist. Ist die Entscheidung für eine bestimmte Norm gefallen, ist die Subsumtion des konkreten Falles unter sie oft nur noch eine triviale Aufgabe. Natürlich kann man versuchen, die Anwendung der Normen selbst noch einmal mit Hilfe von Metanormen der zweiten Stufe zu regulieren. Wer sich nicht mit den pragmatischen Lösungen begnügt, die sich auf diese Weise erzielen lassen und stattdessen eine prinzipielle Lösung sucht, verstrickt sich dann jedoch in die Aporie eines unendlichen Regresses. Gerade weil die sachgerechte Anwendung von Regeln zu den ureigensten Aufgaben der Urteilskraft gehört, steht sie selbst immer noch hinter den Regeln letzter Stufe, mit denen man ihre Tätigkeit zu kanalisieren sucht. Auf diese Aporie der Urteilskraft hat gerade Kant immer wieder aufmerksam gemacht10. Eine charakteristische Eigentümlichkeit der Urteilskraft wird oft übersehen. Zumeist ist sie nämlich nicht auf aktive, sondern nur auf reaktive Weise am Werk. Das Material, an dem sie sich bewährt, muss ihr gleichsam von außen präsentiert werden; sie hat es nicht von Hause aus in ihrem Besitz und kann es sich auch nicht selbst beschaffen. Das zeigt sich gerade dort, wo sich der Mensch in einer komplexen Lebenssituation befindet, auf die er reagieren muss, ohne sie zuvor hinreichend durchschauen oder gar analysieren zu können. Wo seine Urteilskraft gefordert ist, liegt gewöhnlich eine Situation vor, die er nicht selbst herbeigeführt hat. Auch hier liefern wiederum die praktischen Disziplinen die besten Beispiele. Anders als der Vertreter einer theoretischen Wissenschaft stellt sich weder der Arzt noch der Jurist seine Probleme selbst. Sie werden ihnen vielmehr vom Patienten und vom Klienten gestellt. Auch der gemeine Menschenverstand reagiert gewöhnlich nur auf Situationen und Widerfahrnisse, die er vorfindet und die ihn zwingen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Gerade dieser reaktive Charakter der Urteilskraft führt dazu, dass dieses Vermögen in vielen Fällen, in denen es herausgefordert wird, unter Zeitdruck steht. Gerade die Welt des Handelns charakterisiert es, dass sie einem zumeist nicht die Zeit lässt, die nötig wäre, um die Situation, in der man sich vorfindet, auf hinreichend differenzierte Weise zu analysieren. Schließlich muss noch ein weiteres Merkmal erwähnt werden, das der Urteilskraft eigentümlich ist, nämlich ihre Authentizität. Sie gründet in der Tatsache, dass sie ihrem Status nach kein gegenständlicher Besitz, sondern 10 Vgl. z. B. V 169, V 21, 401, 411; V 199; V 275; R 216, 687, 1579; 1675, 2173; A 183/​ B 226.

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eine Disposition ist. Sie ist ein Talent, das ihr Inhaber stets nur in ­eigener Person einsetzen kann. Ihre Leistungen lassen sich nicht delegieren. Wo Arbeit zu verrichten ist, die sich objektiv beschreiben und abgrenzen lässt, kann man sich vertreten lassen. Entsprechendes gilt dort, wo objektivierungsfähige Wissensinhalte erarbeitet, dokumentiert und mitgeteilt werden. Davon macht gerade die moderne Wissenschaft in reichem Maße Gebrauch, wenn sie ihrer Arbeit in immer umfassenderen Verbundsystemen nachgeht, die unter dem Gesetz der Arbeitsteilung stehen und deswegen vielerlei Möglichkeiten bieten, Teilaufgaben einzugrenzen und zu delegieren. Nichts Vergleichbares gibt es dort, wo die Urteilskraft am Werk ist. Sie bleibt, wie es Kant treffend ausdrückt, stets ein „selbsteigenes“ Vermögen11. Auch lässt sie sich nicht gut in hierarchisch aufgebauten Systemen disziplinieren. Natürlich kann, wer seine Urteilskraft ins Spiel bringt, Rat und Hilfe in Anspruch nehmen; er kann sich zu diesem Zweck auch der Kritik eines anderen aussetzen. Doch es bleibt letztlich Sache seiner eigenen Entscheidung, ob er einer Kritik Rechnung tragen will, ob er einen Rat befolgen will oder nicht. Im Blick auf die hier skizzierten Merkmale der Urteilskraft lässt sich leichter verstehen, warum die Wissenschaft ebenso wie die Wissenschaftstheorie, sieht man von den praktischen Disziplinen ab, zur Urteilskraft zumeist Distanz hält. Dies bedeutet nicht, dass dieses Vermögen in der Wissenschaft wie ein Störfaktor oder wie eine Beunruhigung wirken müsste. Auch in den theoretischen Disziplinen ist es nicht selten gerade die Urteilskraft, von der Entdeckungen gemacht werden, die sich erst nachträglich herleiten, bestätigen oder begründen lassen. Aber im Vollzug von Begründungen findet sie nicht den Schwerpunkt ihrer Aufgaben. So sind es die mit ihrer Tätigkeit verbundenen Risiken, um derentwillen die Wissenschaft ihr gegenüber Distanz hält. Zu diesen Risiken gehört, dass ihre Tätigkeit eher reaktiver als aktiver Natur ist, dass sie sich ihrer Aporie wegen niemals letztgültig unter Regeln stellen lässt, dass sie für ihre Resultate keine Erfolgsgarantie übernehmen kann. Vor allem aber stellt das mit ihr verbundene Begründungsdefizit ein Risiko dar, das sie manchmal sogar dem Verdacht der Irrationalität aussetzt. Niemand kann die Wissenschaft von der Verpflichtung freistellen, ihre Ergebnisse mit den dem jeweiligen Fach eigenen Methoden zu begründen. Die entscheidenden Fortschritte in einer Wissenschaft werden zwar durch die Entdeckung neuer Sachverhalte markiert, wie man sie häufig gerade der fachspezifisch geübten Urteilskraft eines Forschers verdankt. Doch was man gemeinhin als Entdeckung bezeichnet, ist seinem formalen Status nach regelmäßig zunächst nur eine Vermutung. Als wissenschaftliches Resultat 11

Vgl. V 232.

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ist sie erst approbiert, nachdem sie gesichert und begründet worden ist. Überdies gehört es zur Eigenart solcher Resultate, dass sie untereinander auf vielfältige Weise vernetzt sind. Der Modus dieser Vernetzung wird im Mikrobereich durch Logik, Methodologie und formales Operieren, im Makrobereich dagegen durch Leitparadigmen und durch Denkstile vorgegeben. Was die Tätigkeit der Urteilskraft zutage fördert, ist zunächst aber gerade noch nicht in ein derartiges Begründungsnetz voll integriert. Auf sich selbst gestellt liefert sie immer nur Resultate von der Art von Solitärelementen. Wenn die Urteilskraft mit ihrer Tätigkeit für die Wissenschaft relevant wird, dann am ehesten dort, wo sie mit der Entdeckung, aber gerade nicht mit der Begründung und der logischen Vernetzung von Wissen befasst ist. Daraus folgt nicht, dass es möglich wäre, eine Heuristik im Sinne einer Methode zu entwickeln, mit deren Anwendung man für die Gewinnung neuen Wissens Garantie leisten könnte. Die Versuche, die in der Vergangenheit im Blick auf ein solches Ziel unternommen worden sind, haben niemals zu den erwünschten Ergebnissen geführt, es sei denn, es handelt sich um Methoden, die wie bei der alten rhetorischen Heuristik nur darauf gerichtet sind, bereits vorliegende, gleichsam archivierte Elemente aufzufinden oder wiederzufinden. Alle einstmals mit großen Hoffnungen verbundenen Versuche sind fehlgeschlagen, die darauf gerichtet waren, die Urteilskraft mit der Entwicklung einer der wissenschaftlichen Forschung dienenden, kombinatorische Techniken verwendenden ars inveniendi zu operationalisieren. Auch von hier aus wird verständlich, dass die Wissenschaft in ihren theoretischen Disziplinen zur Urteilskraft Distanz hält, wenn sich Entdeckungen nicht garantieren und nicht in methodische Konzepte einfügen lassen. Was man in den Wissenschaften als deren spezifische Methoden zu bezeichnen pflegt, lässt sich immerhin auch unter dem Gesichtspunkt deuten, dass sie faktisch deren Emanzipation von der Urteilskraft befördern. Gewiss wäre es zu einseitig geurteilt, wollte man in den Methoden der Wissenschaft so etwas wie Erben der Urteilskraft sehen. Unstreitig eröffnet aber die Orientierung an ihnen ebenso wie ihre Anwendung der Wissenschaft die Chance, ihre Arbeit von dem beherrschenden Einfluss wenigstens teilweise zu befreien, den die Urteilskraft in der Lebenspraxis ausübt.

III Hier setzen die Strategien an, die in den Wissenschaften zu einer Umgehung oder zu einer Entlastung der Urteilskraft führen und damit zugleich die mit ihr verbundenen Risiken vermeiden oder wenigstens minimieren. Eine dieser Strategien besteht darin, bei dem Versuch, ein komplexes Problem zu

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lösen, nicht darauf zu warten, dass der Inhaber einer geübten Urteilskraft eine überzeugende Lösung präsentiert, sondern dieses Problem zunächst in kleine Teilprobleme aufzuspalten, zu deren Lösung es der Intervention der Urteilskraft, wenn überhaupt, nur in wesentlich geringerem Grade bedarf. Dieses Vorgehen ist in der Philosophie der Sache nach in exemplarischer Weise vor allem von Descartes erprobt worden, wenn auch nicht mit dem Primärziel, die Urteilskraft zu entlasten. Doch man darf nicht erwarten, auf diese Weise den Risiken gänzlich zu entgehen, die mit der Tätigkeit der Urteilskraft verknüpft sind. Wo geurteilt und prädiziert wird, ist sie präsent, wenn auch oft nur in einem Restbestand. Dennoch können Problemaufspaltungen dazu führen, dass sie im Einzelfall nur noch mit trivialeren und weniger irrtumsträchtigen Aufgaben beschäftigt wird. Eben dies geschieht in der Wissenschaft allenthalben. Vor allem dort, wo sie kooperativ und in Verbundsystemen betrieben wird, führt kein Weg an einer die Urteilskraft entlastenden Problemaufspaltung vorbei. In einer Nachlassreflexion gibt Kant einen Hinweis, den man auch im Sinne einer Technik der Umgehung der Urteilskraft fruchtbar machen kann: „Das Verfahren nach einer Regel, welches keiner Urteilskraft bedarf, ist mechanisch.“12 In der Tat gibt es Regeln, bei deren Anwendung auf geeignete Sachbereiche man entweder gar nicht oder nur in geringem Umfang auf die Hilfe der Urteilskraft angewiesen ist. Man entkommt zwar auch in diesem Fall nicht ihrer Aporie. Doch sie ist kaum mehr von praktischer Bedeutung, wenn bei der Anwendung mechanischer Verfahren nur noch höchst triviale Subsumtionen vorgenommen werden müssen. So wendet man „mechanische“, die Urteilskraft nicht mehr in Anspruch nehmende Verfahren auf exemplarische Weise dort an, wo man, der traditionellen Formel gemäß, Bestimmungen nach Maß, Zahl und Gewicht vornimmt. Allgemeiner ausgedrückt: Quantifizierungen eröffnen die Chance, die Risiken, vor allem das Begründungsdefizit der Urteilskraft zu minimieren. Natürlich lassen sich Quantifizierungen mit den unterschiedlichsten Zwecken verbinden. Durchaus nicht in jedem Fall sind sie von der bewussten Absicht geleitet, die Urteilskraft zu umgehen. Stets ist dies aber ein Effekt der Quantifizierung, auch wenn es sich nur um eine Nebenwirkung handelt. Die einzelne Zählung oder Messung, beispielsweise das Ablesen und Protokollieren eines Zeigerausschlags im Experiment, überhaupt die Erhebung von Basisdaten bedarf in den meisten Fällen überdies keiner zusätzlichen Begründung mehr und ist ihrer in der Regel noch nicht einmal fähig. Diese Tätigkeiten fordern zwar die Sorgfalt dessen heraus, der sie ausübt, jedoch keine Intervention der Urteilskraft, sofern nur die Identität der Elemente, die ihr das Material liefern, keine weiteren Probleme aufgibt. 12

R 924.

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Seines authentischen Charakters wegen bleibt das von der Urteilskraft erarbeitete Wissen an die personale Instanz des Urteilenden gebunden. Von einem anderen übernehmen kann man es allenfalls so, dass man sich anregen lässt, die eigene Urteilskraft ins Spiel zu bringen und selbst ein authentisches Urteil zu fällen. Wissensinhalte, die nicht in dieser Weise auf eine gegenwärtige personale Instanz angewiesen sind, haben dagegen den Charakter von Daten und von Informationen. Um sie zu gewinnen, bedarf es der Urteilskraft zumeist nur noch in geringem Grade. Auch wenn sie ihre Entstehung im Einzelfall einem authentischen Wissen verdanken, kommt ihnen selbst der Status eines derartigen Wissens nicht mehr zu. Das gilt auch für alle Informationen, die durch die Anwendung von „mechanischen“ Verfahren gewonnen werden. Sie können ohne Verankerung in einer personalen Instanz kontrolliert und weitergegeben werden, ohne dass sich dadurch an ihrem Status etwas ändern würde. Überdies lassen sie sich vernetzen und in Begründungssysteme einfügen, innerhalb deren die einzelne Information nur noch durch die Funktion bestimmt ist, die ihr innerhalb des Systems zukommt. Der hier relevante Unterschied lässt sich auch an der gegebenen oder der fehlenden Delegationsfähigkeit des jeweiligen Wissens ablesen. Man kann einen anderen beauftragen, zu messen, zu zählen sowie Daten und Informationen zu beschaffen. Dagegen kann man einen anderen nicht anstelle seiner selbst urteilen lassen. Auf diese Weise würde man immer nur das an einem Urteil erhalten, was sich auf eine Information reduzieren lässt. Die quantitativen und die formalisierten Methoden, die im Laufe der Zeit von einer immer größeren Anzahl von Wissenschaften übernommen worden sind, erscheinen in einem neuen Licht, wenn sie von der Warte der Urteilskraft aus betrachtet werden. Will man ihnen und den mit ihrer Hilfe erzielten Ergebnissen gerecht werden, muss man zunächst gewiss den Gewinn an Exaktheit, an Kontrollierbarkeit und an der damit ermöglichten oder zumindest erleichterten Reproduzierbarkeit dieser Resultate in Rechnung stellen. Die Anwendung dieser Methoden sollte jedoch nicht nur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Nicht übersehen werden sollte daneben aber auch der Effekt, dass sich mit ihrer Hilfe die mit der Tätigkeit der Urteilskraft verbundenen Risiken minimieren lassen. Man läuft Gefahr, der Quantifizierung in den Wissenschaften und ihrer Tragweite nicht gerecht zu werden, wenn man die mit ihr verbundene Entlastung der Urteilskraft übersieht. Diese Dinge lassen sich auch von der allbekannten Grundeinteilung der Begriffslehre aus beleuchten. Bekanntlich unterscheidet diese Einteilung – lässt man die funktionalen Begriffe einmal auf sich beruhen – klassifikatorische, komparative und metrische Begriffe. Vor allem die klassifikatorischen Begriffe besetzen das Feld, auf dem sich die Urteilskraft bewähren muss. Wer mit ihnen arbeitet, steht vor der Aufgabe, jeweils einen gegebe-

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nen Sachverhalt eindeutig unter einen derartigen Begriff zu subsumieren. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass sich ein Sachverhalt gleichzeitig auch unter mehrere klassifikatorische Begriffe subsumieren lässt. Hier sind in jedem Fall Ja-Nein-Entscheidungen, manchmal auch Serien solcher Entscheidungen fällig. Anders als bei den komparativen Begriffen eröffnet sich hier kein Spektrum von Möglichkeiten, die auf der Figur des „mehr oder weniger“ beruhen. Die besten Beispiele für die Anwendung klassifikatorischer Begriffe liefert auch hier wieder die Welt des Rechts. Die für sie exemplarische Situation ist dadurch charakterisiert, dass für einen komplexen und von Hause aus nicht immer eindeutigen Lebenssachverhalt der Normbegriff gefunden werden muss, der für seine Regulierung taugt. Natürlich wird jeder Jurist seine Option mit Gründen zu stützen suchen. In Konfliktfällen muss er aber darauf gefasst sein, dass sich auch der Vertreter der Gegenmeinung für seine Auffassung stark macht, ohne dass man deswegen in wenigstens einer dieser Begründungen einen manifesten Fehler müsste ausmachen können. Auch eine kunstgerechte juridische Begründung kann nicht in jedem Fall den Anspruch erheben, die einzig mögliche Lösung des zugrunde liegenden Problems zu stützen. Hier liegt einer der Gründe für die schon erwähnte Tatsache, dass juridische Beurteilungen nicht frei von dezisionistischen Komponenten sind. Eine Begründung kann hier die Vertretbarkeit einer Beurteilung zwar plausibel machen, aber sie kann damit nicht immer die entgegengesetzte, vielleicht ebenfalls vertretbare Auffassung bündig widerlegen. Darauf beruht jene Unsicherheit, mit der in jedem nicht trivialen Rechtsstreit die Prognose verbunden ist, die sich auf seine Entscheidung bezieht. Wer sich an ein Gericht wendet, kann, wie der Volksmund weiß, vielleicht nicht in jedem Fall Gerechtigkeit, wohl aber ein Urteil erwarten. Gerade hier wird das mit der Urteilskraft verbundene Risiko deutlich, das man durch die hierarchische Ordnung der entsprechenden Institutionen abmildern, aber allenfalls in Sonderfällen mit Hilfe einer Quantifizierung umgehen kann. „Iudex non calculat“ ist ein Leitsatz, der im Prinzip auch heute noch gilt. Von gänzlich anderer Art sind die Situationen, in denen es angängig ist, metrische Begriffe zu verwenden. Die mit den „echten“, den klassifikatorischen Subsumtionen verbundenen Probleme treten hier höchstens noch in Grenzfällen auf, sofern kein Zweifel daran möglich ist, dass man sich innerhalb des Einzugsbereichs solcher Begriffe befindet. Wo gezählt oder gemessen werden muss, ist im Normalfall immer eine, aber auch nur eine Lösung möglich. Die Zuordnung von Begriff und Sachverhalt ist hier nur noch eine triviale Aufgabe, sofern keine Unklarheit darüber besteht, was im jeweiligen Fall gezählt oder gemessen werden soll. Die Urteilskraft muss zur Lösung derartiger Aufgaben kaum mehr bemüht werden.

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Die Verwendung metrischer Begriffe und die mit ihr verbundene Quantifizierung markiert nicht den einzigen Weg, der zu einer Entlastung der Urteilskraft führt. Selbst mit Hilfe der Verwendung geeigneter klassifikatorischer Begriffe ist es manchmal möglich, die Risiken der Urteilskraft zu minimieren. Auf die Suche nach ihnen begibt sich, wer es unternimmt, das in einer Disziplin erarbeitete und noch zu erarbeitende Wissen zu systematisieren und seine Dokumentationen aufzugliedern in Basisaussagen und Aussagen, die auf sie zurückgeführt werden können. Was man auch als Basisaussagen ansetzt – man pflegt zu diesem Zweck solche Elemente zu suchen, zu deren Gewinnung die Urteilskraft nicht oder allenfalls in geringem Grade beschäftigt werden muss. Das gilt nicht nur für die Fälle, in denen Aussagen über elementare Sinnesdaten die Basis bilden. Auch das Protokollsatzkonzept, um das sich der Wiener Kreis in der ersten Phase seiner Arbeit bemüht hatte, kann hier trotz seines Scheiterns Material für eine lehrreiche Fallstudie liefern. Auffallend bleibt, dass auch hier die Elemente, die das Fundament alles gesicherten Wissens bilden sollten, so angelegt waren, dass jedenfalls nicht die Urteilskraft zu ihrer Gewinnung bemüht werden musste. Natürlich lassen sich die Basissätze in den auf ihnen aufbauenden Systemen der Erkenntnis selbst nicht mehr begründen. Gerade deswegen leuchtet ein, dass man immer darum bemüht war, sie dort zu suchen, wo das mit ihnen verbundene Begründungsdefizit weniger stört und irritiert als bei Sätzen, die ihre Auffindung der Urteilskraft verdanken. Die als solche nicht agierende, sondern reagierende Urteilskraft ist durch eine eigentümliche Passivität gekennzeichnet. Auch aus diesem Sachverhalt lässt sich ein Gesichtspunkt gewinnen, unter dem es verständlich wird, warum in der Wissenschaft eine Tendenz wirksam ist, die darauf zielt, die Urteilskraft zu entlasten, um damit zugleich auch ihren Risiken zu ent­ gehen. Wo Wissenschaft betrieben wird, ist der Forscher immer darauf aus, etwas zu entdecken und zu analysieren, was ihm vorgegeben ist. Doch er wird sich damit nicht zufrieden geben; er wird seine Tätigkeit nicht darauf beschränken wollen, lediglich zu rezipieren und zu reagieren, da er um der Wissenschaft willen daran interessiert ist, selbst eine aktive Rolle zu übernehmen. Aktiv sein kann er aber auf unterschiedliche Weise, einmal im Hinblick auf sein mentales und begriffliches Instrumentarium, zum anderen aber auch in Bezug auf die Gegenstände selbst, auf die er dieses Instrumentarium anwendet. In beiden Richtungen kann er nach Chancen suchen, über das mitbestimmen zu können, was die Urteilskraft immer nur als Gegebenes hinnehmen kann. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden niemals auf der Grundlage von rezeptiven Einstellungen allein gewonnen. Unter Wissenschaftstheoretikern und Wissenschaftsphilosophen ist es kontrovers, wie sich der aktive Beitrag, den ein Forscher zum Erkennen leistet, präzise abgrenzen und auf Begriffe bringen lässt. Zu verschieden ist

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der Aufbau der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, zu verschieden die Verfassung ihrer Gegenstände, zu verschieden sind erst recht die Fragestellungen jedes einzelnen Forschungsprojekts, als dass dieses Problem eine einheitliche, für alle Fälle gültige Lösung erlauben würde. Ohnehin kann der Wissenschaftler seine aktive Rolle auf unterschiedliche Weise ins Spiel bringen. Zu seinen Resultaten gelangt er nicht nur so, dass er Sachverhalte aufspürt und unter gegebene Begriffe subsumiert. In manchen Fällen erreicht er sein Ziel erst dadurch, dass er gegebene Begriffe modifiziert oder gänzlich neue Begriffe mittels Konvention einführt. Auch das sind aktive, nicht mehr nur rezeptive Leistungen des Forschers. Es gibt keine Wissenschaft, noch nicht einmal eine praktische Disziplin, die sich auf die Dauer mit einem ein für alle Mal gegebenen, abgeschlossenen Begriffsrepertoire zufrieden gibt. Oft ist es mit geringeren Risiken und Schwierigkeiten verbunden, einen gegebenen Sachverhalt mit Hilfe eines neu eingeführten oder modifizierten Begriffs zu erklären als mit einem Begriff, den man einem überkommenen Repertoire nur entnimmt. Eine produktive Tätigkeit in der Wissenschaft wäre kaum möglich, würde man dem Forscher die Lizenz entziehen, über seine Begriffe und ihren Inhalt selbst zu bestimmen. Er kann zwar sein begriffliches Instrumentarium niemals vollständig auswechseln oder gar von einem ideellen Nullpunkt aus neu aufbauen. Jede Einführung eines neuen, jede Modifikation eines gegebenen Begriffs ist für ihn immer nur auf einer Basis möglich, die als solche nicht in Frage gestellt wird. Ein jeder Begriff lässt sich modifizieren; unmöglich ist es aber, einer solchen Operation alle seine Begriffe gleichzeitig zu unterziehen. Hier sollte man auch die sich gewöhnlich unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle abspielenden Modifikationen nicht übersehen, die ein Begriff schon dadurch erleidet, dass von ihm auf bestimmungsgemäße Weise Gebrauch gemacht wird. Auch sind Fortschritte in der Wissenschaft nicht in jedem Fall mit der Entdeckung neuer Sachverhalte verknüpft. Manchmal liegt ihnen nur eine Modifikation der Semantik der mentalen Werkzeuge zugrunde, derer sich der Forscher bedient. Die Urteilskraft wird auch dann entlastet, wenn ihr neue Begriffe angeboten werden, deren Anwendung weniger problematisch ist als der Gebrauch der alten Begriffe. So war beispielsweise Einsteins Modifikation des Begriffs der Gleichzeitigkeit mit einer Revolution in der Physik verbunden, die wenigstens einen ihrer Ursprünge in der Sphäre der Semantik hat. Natürlich kann kein Forscher bei seiner Arbeit auf die Urteilskraft gänzlich verzichten. Er kann jedoch dadurch, dass er von seiner Souveränität im Reich der Begriffe auf gezielte Weise Gebrauch macht, die mit der Tätigkeit der Urteilskraft verbundenen Risiken reduzieren. Den Umgang, den der Wissenschaftler mit Begriffen pflegt, haben die Wissenschaftstheoretiker schon auf vielfache Weise untersucht. Sie haben aber zumeist davon ab-

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gesehen, dass hinter der Entwicklung, die zu der zunehmend bedeutsamer werdenden aktiven Rolle des Forschers im Erkenntnisprozess geführt hat, als eines der wesentlichen, wenngleich oft nur unterschwellig wirksamen Motive auch das Bestreben auszumachen ist, die Grenzen zu überwinden, die durch die Eigenart der Urteilskraft und durch ihr Begründungsdefizit gezogen sind. Es bleibt indessen die Frage, ob mit der Reduzierung ihrer Risiken nicht zugleich auch Chancen verspielt werden, die sie und nur sie eröffnen kann. Wo in einer theoretischen Disziplin geforscht wird, hat der Wissenschaft­ ler die Freiheit, aus dem Gegenstand, der ihm vorliegt, einen Aspekt auszu­ blenden, über den er mit seinen Fragestellungen und Begriffen ebenso wie mit seinen Interessen selbst bestimmt. Seine aktive Rolle verlangt in diesem Fall von ihm, darüber zu befinden, was jeweils das eigentliche Objekt seiner Erkenntnisbemühung sein soll. Auf diese Weise hat er, auch mit Hilfe der von ihm ins Spiel gebrachten Methoden und Hypothesen, immer schon dafür gesorgt, dass Begriff und Realität bereits aufeinander abgestimmt sind, wenn er mit seiner Arbeit beginnt. Manchmal entlastet er allein schon mit dem Entwurf seines Arbeitsplanes die Urteilskraft von einem Teil der Aufgaben, die sie lösen müsste, würde von ihr verlangt, ausschließlich vorgefundene Begriffe auf vorgefundene, weder real noch mental bereits vorpräparierte Gegenstände anzuwenden. Dann braucht er nicht mehr alle Unsicherheitsfaktoren zu akzeptieren, mit denen er überall dort rechnen muss, wo die Urteilskraft mit einer gegebenen Begrifflichkeit auf eine vorgefundene Situation oder auf Probleme reagiert, die ihr von außen gestellt werden. Was von diesen Dingen für die auf die Urteilskraft und ihre Entlastung ausgerichtete Thematik bedeutsam ist, findet sich in den knappen Ausführungen zusammengefasst, die Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ zu der Frage beisteuert, wie eine Disziplin auf den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht werden kann. Die Antwort gewinnt er aus dem Hinweis auf zentrale, von ihm als Revolutionen bezeichnete Ereignisse der Wissenschaftsgeschichte. Der erste wissenschaftliche Mathematiker hatte „für alle Zeiten und in unendliche Weiten“ entdeckt, „daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und daß er […] der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat“13. Auf ähnliche Weise muss auch der Physiker begreifen, „daß die Vernunft nur das einsieht, was

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B XI f.

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sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“14. Diese Wendung impliziert, dass man in der Wissenschaft nicht mehr darauf angewiesen ist, sich ausschließlich auf seine Urteilskraft zu verlassen, um eine Erkenntnis gewinnen zu können. Inwiefern dieses Vermögen damit der Sache nach entlastet wird, ist nicht schwer einzusehen. Hat nämlich eine Disziplin erst einmal den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, macht der Forscher immer wieder die Erfahrung, dass er in einem von ihm mental schon vorpräparierten Gegenstand der Erkenntnis seine eigenen, in ihn gleichsam eingewobenen Begriffe wiederfindet. Insofern muss er nicht die reflektierende Urteilskraft beschäftigen, um für die Beurteilung seines Gegenstandes geeignete Begriffe erst noch ausfindig zu machen. Lehrreich ist die forensische Metaphorik, derer sich Kant bedient, wenn er den Erkenntnisweg des Naturforschers mit einer Zeugenvernehmung vor Gericht vergleicht. Ist eine Wissenschaft auf ihren sicheren Gang gebracht worden, wird die Natur von ihr nicht so wahrgenommen, wie sie sich von sich selbst her zeigt. Nunmehr soll sie gezwungen werden, nur noch auf gezielte Fragen zu antworten, die ihr von der Vernunft gestellt werden. So darf der Erkennende der Natur gegenüber nicht die Position des Schülers einnehmen, „der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“15. Will man dieser Metaphorik gerecht werden, darf man nicht übersehen, dass der Richter auf die Aussage des Zeugen zwar angewiesen ist, aber trotzdem stets Herr des Verfahrens in allen seinen Phasen bleibt. Zur Technik der Verhandlungsführung gehört es, die Fragen so zu stellen, dass sich für den Zeugen gar keine Gelegenheit bietet, abzuschweifen und Dinge vorzutragen, die keine Antworten auf die ihm gestellten Fragen sind. Seine Funktion besteht darin, in den Prozess nicht Beurteilungen, sondern Daten und Informationen einzubringen, über die nicht der Richter, sondern er und vielleicht nur er verfügt. Dies gelingt umso besser, je weniger ihm die Fragen des Richters erlauben, seine eigene Urteilskraft ins Spiel zu bringen. Nicht er, sondern der Richter hat die Aufgabe, den Rechtsfall zu beurteilen und auf Grund dieser Beurteilung zu entscheiden. Der Zeuge ist kein Hilfsrichter. Es liegt auf der Hand, dass Kants forensische Metaphorik, soweit sie für das Verständnis einer Entlastung der Urteilskraft fruchtbar gemacht werden kann, auf die Position des Zeugen zugeschnitten ist. Der über den Gang der Verhandlung verfügende Richter kann auf den Gebrauch seiner Urteilskraft nicht verzichten, wenn er seinen Pflichten nachkommen will. 14 B XIII; vgl. auch V 384: „Nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zu Stande bringen kann.“ 15 B XIII.

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Er setzt sie gerade dann ein, wenn er durch die Art und die Auswahl der an den Zeugen zu richtenden Fragen Reservate bildet, in deren Innenbereich er der Urteilskraft, wenn überhaupt, nur noch in geringem Grade bedarf. Dies gelingt ihm am besten dann, wenn er den jeweiligen Problemkomplex so analysiert, dass er an den Zeugen nur noch Entscheidungsfragen stellen muss, die lediglich mit einem Ja oder Nein zu beantworten sind. Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass die Aufspaltung eines zunächst unübersichtlichen Problemkomplexes in eine Serie von Teilfragen geeignet ist, die Urteilskraft des Befragten zu entlasten, manchmal sogar zu umgehen. Vom Gegenstand einer wissenschaftlichen Fragestellung spricht man bekanntlich nicht in demselben Sinn, in dem in der Umgangssprache von einem Gegenstand die Rede ist. In der Wissenschaft werden Gegenstände nicht schlechthin, sondern immer nur unter Voraussetzungen betrachtet, über die der Forscher selbst entscheidet. Sie blenden alles das aus, was an einer Sache nicht in ihrem Einzugsbereich steht. Man braucht auf diesem Wege nur einen Schritt weiterzugehen, um von der mentalen Ausblendung von Aspekten zur realen Präparation des Gegenstandes zu kommen. Hier muss man sich vergegenwärtigen, dass in der modernen Lebenswelt ein rasch größer werdender Anteil der Dinge, die der Einzelne vorfindet und mit denen er umgeht, nicht von Natur aus existiert, sondern von Menschen hergestellt worden ist. Die Welt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ist in ihrem Kern eine artifizielle Welt. Sie wird von Dingen dominiert, deren Klassifikation mit Hilfe von Begriffen dadurch erleichtert wird, dass sie als Artefakte auf der Basis von Begriffen produziert worden sind. Deshalb ist es nicht die Urteilskraft, die in erster Linie berufen wäre, den Umgang mit den Requisiten dieser Welt zu regulieren. Die Lebenswelt dieser Zivilisation ist nur dann funktionsfähig, wenn das Geschehen in ihr durch hinreichend viele Abläufe dominiert wird, die nur einer mechanischen Regulierung bedürfen, bei der man nicht die Risiken läuft und nicht die Begründungsdefizite in Kauf nehmen muss, die mit dem Einsatz der Urteilskraft verbunden sind. Die Urteilskraft lässt sich jedenfalls auch dadurch entlasten, dass man den Gegenstandsbereich, in dem sie tätig werden soll, vorgängig so gestaltet, dass sie nur noch einfache, nicht kontroverse Subsumtionen vorzunehmen hat. Auch dies ist eine der Erscheinungsformen der Rationalisierung, die zum Schicksal der modernen Welt gehört. In der modernen Zivilisation wird eine immer größere Anzahl von Handlungsentscheidungen der Kompetenz des Individuums entzogen. Das Verhalten der in sie eingebundenen Menschen wird immer weniger durch förmliche Imperative und immer mehr durch die Eigengesetzlichkeit dieser Welt selbst und durch die Installation von Sachzwängen in ihr bestimmt. Techniken der Steuerung und der Regelung haben dies möglich gemacht, mittlerweile auch Techniken der Datenverarbeitung und der künstlichen

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Intelligenz, mit deren Hilfe sich Informationen in einer Menge und in einer Geschwindigkeit bereitstellen und auswerten lassen, die um Größenordnungen von den Möglichkeiten verschieden sind, die der individuelle Mensch mit seinem Wissen, mit seinem Gedächtnis, mit seiner Rezeptionsfähigkeit, aber auch mit seiner Urteilskraft realisieren kann. Es liegt in der Konsequenz der Entwicklung der das moderne Leben bestimmenden Appa­ raturen, dass sie auf immer wirkungsvollere Weise sich selbst zu steuern und so auch auf mögliche Störungen adäquat zu reagieren vermögen. Was ursprünglich einmal als Hilfsmittel und als Werkzeug in der Hand des Menschen konzipiert worden war, hat mittlerweile einen Komplikationsgrad erreicht, der das Gesetz des menschlichen Handelns in dem Maße bestimmt, in dem die von Menschen hergestellten Artefakte ihre Eigen­ gesetzlichkeit geltend machen. Dass die Urteilskraft des Menschen entlastet wird, der sich innerhalb der modernen Welt vorfindet und mit den Dingen in ihr umgeht, hat einen einfachen Grund. Seiner Struktur nach ist es derselbe Grund, aus dem sie entlastet wird, wenn der Naturforscher seinen Gegenstand nur noch nach seinem eigenen Entwurf betrachtet und befragt. Wenn es die Aufgabe der Urteilskraft ist, für die Klassifikation eines komplexen Sachverhalts, aber auch einer einfachen Anschauung den passenden Begriff oder die passende Norm zu finden, dann hat ihr die artifizielle Welt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation darin zu einem guten Teil vorgearbeitet, weil sie die entsprechenden Begriffe und Normen bereits in die zu beurteilenden Dinge selbst eingehen lässt. In dieser Welt muss jeder Urteilende davon ausgehen, dass er die Begriffe, derer er für seine Beurteilungen bedarf, in diesen Dingen selbst finden kann16. Es versteht sich, dass in Wirklichkeit dann doch immer nur ein kleiner Kreis von Experten mit diesen Begriffen sachgerecht umgehen kann. Dies ändert aber nichts daran, dass sie dem Prinzip nach jedermann zugänglich sind, auch wenn die Möglichkeiten des Laien beschränkt sind, den Dingen dieser artifiziellen Welt in anderer Weise als naturwüchsigen Dingen gegenüberzutreten.

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Kants Konzeption der teleologischen Urteilskraft enthält den Gedanken, dass es der Erforschung der Natur zugutekommt, wenn auch die in der natürlichen Welt vorgefundenen Dinge und Gesetze so betrachtet werden, als ob sie in analoger Weise konstituiert wären und als ob ihrer Ordnung eine besondere Technik der Natur zugrunde liegen würde; vgl. V 180 f., 246, 390 ff.

Gebrauch und Umgehung der Urteilskraft

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IV Was hier unter dem Blickwinkel einer Umgehung und einer Entlastung der Urteilskraft erörtert wurde, ist dem Inhalt nach nichts Neues. Die Prozesse, von denen die Entwicklung der Wissenschaft in die entsprechende Richtung gedrängt worden ist, sind von der Wissenschaftstheorie schon eingehend untersucht worden. Bei ihren Analysen standen allerdings stets andere Themen im Fadenkreuz der Intention als die Frage nach der Rolle, die der Urteilskraft in der Wissenschaft zukommt. Umso mehr lohnt es sich, diese Dinge auch einmal daraufhin zu betrachten, welche Konsequenzen sich für die Urteilskraft ergeben, wenn Mechanisierungen, Quantifizierungen, Formalisierungen oder Aufspaltungen komplexer Probleme in triviale Teilprobleme ins Werk gesetzt werden; wenn der Erkennende von den aktiven Möglichkeiten seiner Rolle bewusst Gebrauch macht; wenn er nicht nur das Erkenntnisobjekt seiner Wissenschaft, sondern auch die Welt selbst, in der er lebt, auf der Grundlage seiner eigenen Begriffe ordnet und sich an ihrer Konstitution beteiligt, sie am Ende sogar bewusst und gezielt verändert. Die Entlastung der Urteilskraft war gewiss nicht das von den Promotoren dieser Entwicklung bewusst angestrebte Ziel, sondern eine Nebenfolge, im Effekt freilich nicht unwillkommen, weil sie es einem erspart, auf das Begründungsdefizit zu reagieren, das mit der Tätigkeit der Urteilskraft verbunden ist. Es bleibt die Frage, ob diese Nebenfolge nicht trotzdem zu den Zielen gehört, die zumindest untergründig dem Prozess der neuzeitlichen Rationalisierung die Richtung gewiesen haben. Die vorliegenden Überlegungen wären jedoch unvollständig, würden sie die Kehrseite und die Folgelasten der hier skizzierten Entwicklungen ausblenden. Jede Entlastung und jede Umgehung der Urteilskraft fordert ihren Preis. Wohl sprechen alle Anzeichen dafür, dass es für die Wissenschaft kein Zurück auf dem Weg gibt, der zu jener Entlastung führt, die eine Ablösung der Urteilskraft durch Instanzen zur Folge hat, deren Wirken mit einer Erfolgsgarantie und deshalb mit weniger Risiken als die Arbeit der Urteilskraft verbunden ist. Trotzdem kommt der Urteilskraft weder in der Wissenschaft noch in der mit ihrer Hilfe gestalteten technischen Zivilisation der Stellenwert eines auslaufenden Modells zu, dem man höchstens noch in der Durchschnittlichkeit der alltäglichen Lebenspraxis eine Überlebenschance zugesteht. Denn die hier skizzierten Sachverhalte haben bisher in bewusster Einseitigkeit nur eine Seite der entsprechenden Entwicklung beleuchtet, wenn sie Beispiele für Entlastungen der Urteilskraft vorgeführt, die Kompensationen und Folgelasten dieser Entwicklung dagegen ausgeblendet haben. Versucht man, diese Dinge in den Rahmen eines umfassenderen Zusammenhangs zu stellen, wird man gewahr, dass sich die Urteilskraft

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mittels der Techniken ihrer Entlastung zunächst zwar verdrängen lässt, doch immer nur um den Preis, dass sie sich an einer anderen Stelle wieder meldet und dort umso hartnäckiger ihre Rechte einfordert. Zwar lassen sich Reservate eingrenzen, innerhalb derer die Urteilskraft gleichsam feiern kann, weil sie nur noch minimale oder triviale Aufgaben zu lösen hat. Umso mehr muss man sie aber in Anspruch nehmen, wenn man derartige Reservate allererst definieren und installieren will. Wo sich ein Problem mit Hilfe eines Algorithmus lösen lässt, wird die Urteilskraft dessen, der mit ihm umgeht, in der Tat umgangen. Nicht mehr sie ist es, die hier in Funktion treten muss. Doch es ist etwas anderes, mit einem Algorithmus seinen Regeln gemäß zu arbeiten als ihn allererst zu entwickeln. Seine Entwicklung fordert den Einsatz einer ungeteilten, fachspezifisch geübten Urteilskraft. Analoges gilt für alle die hier zur Sprache gebrachten Beispiele von Entlastungen der Urteilskraft. Eine Sache ist es, auf einfache Alternativen und auf Entscheidungsfragen zu reagieren, zu deren Beantwortung es der Urteilskraft kaum mehr bedarf. Eine andere Sache ist es, eine komplexe Problemlage zunächst in solche Fragen aufzuspalten und diese Fragen zu stellen. Man kann sich eine artifizielle Welt ausdenken, in der die Dinge so geordnet sind, dass die noch notwendigen Entscheidungen, gesetzt den Fall, sie verdienen überhaupt noch diesen Namen, kaum noch eine Mitwirkung der Urteilskraft verlangen. Umso mehr bedarf es ihrer, wenn es gilt, eine solche Welt zu konzipieren. So kann man beispielsweise Huxleys „Brave New World“ auch als eine auf die Spitze getriebene Utopie lesen, in der die Bedingungen zu einem großen Teil aufgehoben sind, unter denen die Menschen bislang darauf angewiesen waren, ihre Urteilskraft zu betätigen und die damit verbundenen Mühen und Risiken auf sich zu nehmen. Wo man nur noch materielle oder psychische Mechanismen be­ tätigen muss, braucht die Urteilskraft unmittelbar nicht mehr in Erscheinung zu treten. Das Ausdenken und Konstruieren solcher Mechanismen ist im Gegensatz dazu keine mechanische Tätigkeit. Kein Mechanismus kann überdies selbst in letzter Instanz darüber befinden, wo er sich auf sinnvolle Weise einsetzen lässt. Im Rahmen kooperativer Systeme kann man mit Aussicht auf Erfolg Strategien zur Vermeidung der Urteilskraft befolgen. In eminentem Maße braucht man ihre Dienste aber dort, wo solche Strategien entworfen werden. So muss die Urteilskraft auch dort – und gerade dort – beschäftigt werden, wo man darauf aus ist, sie am Ende im Effekt zu entlasten. Das gilt auch für die Sphäre der Wissenschaft. Wo sie Aufgaben im Rahmen eines Begründungskontextes bearbeitet, ist sie an einem Ergebnis interessiert, von dem die Urteilskraft gerade nicht mehr vorrangig in Anspruch genommen wird. Dafür wachsen ihr innerhalb des Entdeckungskontextes, also im Zuge der Genese des Wissens, stets neue Aufgaben zu,

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weil sie und nur sie sich der Aufgaben annehmen kann, deren Lösung man früher von einer ars inveniendi vergebens erwartet hatte. Gerade in der Wissenschaft werden die Akte des Entdeckens in letzter Instanz immer Domänen der Urteilskraft bleiben. Jeder Versuch, sie zu vermeiden, zu entlasten oder zu umgehen, bedeutet gerade für sie eine Herausforderung. Insofern wachsen ihr heuristische Funktionen zu, und zwar gerade deswegen, weil sich der alte Wunschtraum einer allgemein anwendbaren, mit Erfolgsgarantie versehenen Heuristik aus prinzipiellen Gründen nicht verwirklichen lässt. Man muss deswegen damit rechnen, dass jeder Versuch, die Urteilskraft zu umgehen, am Ende nur zu einer Problemverschiebung, jeder Versuch, sie zu verabschieden, nur zu einer Verlagerung und zu einer Ausgliederung von Teilaufgaben aus ihrem Einzugsbereich führt. Dies lässt sich auch an der ärztlichen Diagnose verdeutlichen, die früher geradezu einmal als Musterbeispiel für ein Resultat einer fachspezifisch ausgerichteten und eingeübten Urteilskraft gelten konnte. Für die ihr vorgeschaltete Erhebung von Befunden wird die Urteilskraft mittlerweile in immer geringerem Umfang in Anspruch genommen. Man hat schon damit begonnen, auch die Verarbeitung von Befunden Systemen der künstlichen Intelligenz anzuvertrauen. Doch was mit den unterschiedlichen Techniken zutage gefördert und verarbeitet wird, wartet am Ende immer noch darauf, von einer mit Urteilskraft begabten Instanz ausgewertet zu werden, wenn es für die Legitimation von Handlungsentscheidungen fruchtbar gemacht werden muss. Wo der Hiatus überbrückt werden muss, der die Sphären des Erkennens und des Handelns trennt, bedarf es schon deswegen der Urteilskraft, weil die Möglichkeiten des Handelns hinter denen des Erkennens in ihrem Differenzierungsgrad einstweilen noch weit zurückbleiben. Dieser Hiatus zeigt sich auch darin, dass man zwar hypothetisch erkennen, nicht aber hypothetisch handeln kann. Anders als die stets korrigierbare Erkenntnis schafft alles Handeln immer etwas Endgültiges und Unwiderrufliches. Es liegt keine Inkonsistenz darin, dass man auf die Urteilskraft auch dann noch angewiesen ist, wenn man Strategien zu ihrer Entlastung entwirft und Reservate bildet, in denen sie aus ihrer unmittelbaren Verantwortung entlassen ist. Trotzdem resultieren diese Strategien nicht in einem Nullsummenspiel. Eine gelungene Problemverschiebung kann in der Wissenschaft eine produktive Leistung sein. Die Dinge verhalten sich danach niemals genauso wie zuvor. Es gehört zu den fruchtbarsten Techniken der wissenschaftlichen Forschung, ihre Probleme über deren Verschiebung wie auf einem Umweg anzugehen. Betrachtet man die Dinge aus einer Entfernung, die einem einen größeren Überblick ermöglicht, so liegt jedenfalls die Annahme einer ewigen Wiederkehr der Urteilskraft nahe, die auch dadurch begünstigt wird, dass die Urteilskraft selbst immer noch an jedem Versuch

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mitwirkt, der in abgegrenzten Bereichen zu ihrer Umgehung und zu ihrer Entlastung führt17. Zuerst erschienen in: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Herausgegeben von Frithjof Rodi. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2003, S. 9–33.

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Zur Thematik der Urteilskraft vgl. auch vom Verf., Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001.

Herausforderungen der Bioethik

Wie zu leben sei – diese alte Frage der Philosophie erweckt heute den Verdacht, dass sich ihre Vertreter überschätzen, wenn sie versuchen, Form und Inhalt des guten, des richtigen Lebens auf verbindliche Weise zu bestimmen. Ohnehin lässt sich die Antwort schwerlich auf der Ebene finden, auf der die Philosophie unserer Tage mit ihren fein geschliffenen Werkzeugen, mit logischen Begründungen, methodologischen Analysen, transzendentalen Reflexionen und rekonstruierender Texthermeneutik ihre Erfolge einfährt. In den Hintergrund getreten ist diese Frage aber auch deswegen, weil heute ein breiter Konsens jedem Einzelnen das Recht zugesteht, sie in eigener Kompetenz zu beantworten, sofern er nur die Grenzen respektiert, die ihm durch die entsprechenden Rechte anderer gezogen werden. Doch es sind eben diese Grenzen, die man heute überschreiten will, nachdem die Biowissenschaften Optionen in Aussicht gestellt haben, die einen daran zweifeln lassen, ob die Frage „Was ist der Mensch?“ auch in Zukunft noch auf die Unveränderlichkeit einer ihm eigenen Natur zielen kann. Die Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung, die künstliche Befruchtung mit ihren Möglichkeiten der Selektion, die Leihmutterschaft, die Optionen auf gezielte Modifikationen des Erbgutes, die Stammzellenforschung, die Aussicht auf nicht geborene, sondern nach gentechnischen Blaupausen hergestellte Lebewesen, ob man sie nun als Menschen bezeichnet oder nicht, dazu die Forderungen nach Freigabe der Euthanasie – alle diese neuen Möglichkeiten verlangen nach einer ethischen Normierung, zumal da in ihrer Bewertung derzeit Meinung gegen Meinung steht. Eine – zumindest ihrem Namen nach – neue Disziplin, die Bioethik hat sich angeschickt, dieses Gelände neu zu vermessen, um normative Grenzen ziehen zu können. Die Debatte hierüber hat die Reservate der philosophischen Seminare wie auch der Ethikkommissionen längst verlassen und den Raum der Politik und ihrer Entscheidungsträger erreicht. In ihm folgen die Auseinandersetzungen anderen Regeln als den für den innerwissenschaftlichen Diskurs verbindlichen Standards. Denn es ist ein von handfesten Interessen dominierter Raum, in dem die Schlüssigkeit von Argumentationen niemals allein den Ausschlag gibt. Unter solchen Umständen verwundert es nicht, dass bioethische Diskussionen auch emotionale Wirkungen zeitigen – wie sie von den im Umgang mit der Öffentlichkeit Erfahreneren manchmal sogar schon eingeplant zu sein scheinen. So hätten bestimmte,

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provokante Thesen eines bekannten australischen Bioethikers schwerlich die über eine bloße Gegenrede weit hinausgehende Empörung auslösen können, hätte ihre Präsentation nicht den Regeln des ideenpolitischen Marketings entsprochen, bei der diese Empörung, vor allem aus dem der Behinderten, wenn nicht bezweckt, so doch zumindest in Kauf genommen wurde. Ähnliches gilt im übrigen auch für die nicht weniger effektvolle Vermarktung von Regeln für den posthumanistischen Menschenpark und seine designierten Parkwächter. Dass die heutige Bioethik für die Philosophie eine Herausforderung bedeutet, kommt nicht von ungefähr. Bei ihren Fragen geht es, auch im ganz wörtlichen Sinn, um Leben und Tod; nicht darum, wie zu leben sei, sondern wer überhaupt leben darf und wer nicht. Nicht ohne die Schuld mancher ihrer Vertreter steht sie in dem Ruf, ihr Interesse weniger auf die Fundierung von Lebensrechten als auf die Legitimation von Tötungslizenzen zu richten. Nach einer spitzen Bemerkung von Erwin Chargaff markiert die Bioethik sogar nur einen Ausweg, all das zuzulassen, was ethisch nicht erlaubt ist. In dieser Allgemeinheit ist dies gewiss überzogen. Gleichwohl stehen die Bemühungen um die Befugnis, Lebensrechte zu beschneiden, im Brennpunkt der bioethischen Diskussionen, und dies längst nicht mehr nur im Blick auf die vorgeburtlichen Phasen des menschlichen Lebens. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen wirkt der Name der Bioethik, einer Ethik des Lebens, manchmal nur noch wie ein zynischer Euphemismus. Die Bioethiker sehen ihre Aufgabe nicht darin, ethische Fragen lediglich theoretisch zu erörtern. Auch beteiligen sie sich kaum an der Diskussion zentraler Probleme der traditionellen Ethik wie denen der Willensfreiheit, der Handlungsmotivation, der Tugenden oder des Gewissens. In erster Linie geht es ihnen vielmehr darum, auf die Gestaltung des Rechts einzuwirken, auf eine Ordnung also, deren Respektierung sich notfalls erzwingen lässt. Daraus kann man ihnen gewiss keinen Vorwurf machen. Natürlich ist ein jeder gehalten, die Stimme des Gewissens nicht zu überhören. Doch die bioethischen Probleme sind zu brisant, als dass man es dem Gewissen jedes Einzelnen anheimstellen dürfte, wann Lebensrechte zu schützen, wann zu beschneiden, wann zu versagen sind. Von ihm, dem forum internum, darf man nicht erwarten, dass es in einem durch das Recht noch nicht vorstrukturierten Raum in jedem einzelnen, konkreten Fall sicher erkennt, was zu tun geboten ist. Wo es die Bioethik unternimmt, den Beginn und das Ende des Lebens zu normieren, ist sie dabei, Grenzen zu überschreiten, die über lange Zeit unverrückbar zu sein schienen. Nun lassen sich freilich Lebensrechte immer nur innerhalb jener Grenzen beanspruchen, die jedem Menschen von dem ihm von der Natur verordneten Tod vorgezeichnet sind. Umso mehr muss er, unter zivilisierten Bedingungen, vor einer Tötung durch seines-

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gleichen geschützt werden. Das gezielte Töten eines Menschen galt und gilt in den meisten Rechtsordnungen als das schlimmste aller Verbrechen. Ausnahmen, etwa von der Art der Todesstrafe, waren stets an eng umgrenzte Voraussetzungen gebunden. Diese Strafe ist aber, ähnlich wie die immer wieder aufflackernden Kriegsbegeisterungen, vermutlich nur ein Relikt jener rituellen Opfertötungen, die in der Prähistorie des homo sapiens ihren festen Platz hatten. Vor allem die Forschungen von Walter Burkert haben daran erinnert, dass der Mensch von je her auch ein homo necans war und, mittlerweile ins Unbewusste abgedrängt, bis heute wohl auch geblieben ist. Merkwürdig ist es nur, dass diejenigen, die sich heute für eine bioethische Legitimation der Befugnis stark machen, Menschen in bestimmten Fällen gezielt zu töten, ihre Anhänger unter Bedingungen gewinnen, unter denen sich hinsichtlich der Ächtung der Todesstrafe gerade ein Konsens anzubahnen beginnt. Immerhin genügt es, sich die Ansätze von so grundverschiedenen Denkern wie etwa Thomas Hobbes und auf der anderen Seite Emmanuel Levinas zu vergegenwärtigen, um gewahr zu werden, wie mit der condicio humana unauflöslich die Gefahr verbunden ist, dass der Mensch von seinesgleichen gezielt und gewaltsam getötet wird. Nun sollen aber nach den Plänen der Bioethiker Tötungslizenzen vor allem an Ärzte vergeben werden, also gerade an diejenigen, denen die Tradition ihres Berufsstandes von alters her jedes Töten, gleichgültig aus welchen Motiven, ohne Wenn und Aber verbietet. Am prägnantesten hat diese Norm einer ohne jeden Vorbehalt auf den Dienst am Leben ausgerichteten ärztlichen Ethik Christoph Wilhelm Hufeland, der Arzt der Weimarer Klassiker formuliert: „Der Arzt soll und darf nichts anderes tun als Leben erhalten; ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Wert habe oder nicht, das geht ihn nichts an.“ Anderenfalls werde der Arzt, wie Hufeland richtig sah, „der gefährlichste Mann im Staate“. Nicht zu bestreiten sind die Fakten, an denen sich heute die Debatten über das Lebensrecht des Menschen und seine möglichen Grenzen entzünden: Die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen hat sich, zumindest in den industrialisierten Ländern, in einem Maße erhöht, das ehedem utopisch erschienen wäre. Vormals infauste Krankheiten lassen sich heute entweder heilen oder wenigstens in eine „bedingte Gesundheit“ überführen, die dann freilich oft eine medizinische Dauerbetreuung verlangt. Dieser Fortschritt hat indessen, zumal unter den betagten Menschen, den Krankenstand so erhöht, dass man bereits von einer Fortschrittsfalle spricht. Auch fordert die Rettung des Lebens eines Menschen manchmal den Preis, dass ihm nur noch eine vita minima, eine leidvolle Schwundstufe des Lebens erhalten bleibt. Zudem lässt sich die Respektierung des Lebensrechts dort leicht unterlaufen, wo die Grenzen des Lebens zu verschwimmen beginnen. Schon die Auseinandersetzungen über die mit dem

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Konzept des Hirntodes verbundenen Konsequenzen haben dies erwiesen. Strittig ist auch, ob man eine Grenze ziehen darf, diesseits deren das Leben in seinen vorgeburtlichen Phasen noch keinen Schutz beanspruchen kann. Die beliebten Mahnungen, in diesen Dingen Toleranz zu üben, zielen ins Leere, solange strittig bleibt, ob der Mensch in den ersten neun Monaten seiner Existenz nur als Objekt oder, wenigstens der Idee nach, auch schon als potentielles Subjekt toleranten Verhaltens anzusehen ist. Hoffnungen wie auch Befürchtungen knüpfen sich an die Aussicht, dermaleinst mit Hilfe gentechnischer Methoden Menschen gleichsam auf Bestellung, nach Katalog produzieren zu können. Wenn aber die Biotechnologie dazu führt, dass die Grenze zwischen Geborenwerden und Hergestelltsein allmählich verschwimmt, gewinnt die Frage nach dem Recht auf Leben eine neue Dimension. Denn hier wird die „Natalität“ zur Disposition gestellt, die „Geburtlichkeit“, wie sie Hannah Arendt als eine der fundamentalen anthropologischen Konstanten angesetzt hat. Aber auch mittelbar gelangen Lebensrechte auf den Prüfstand. Das belegt der unübersehbar gewordene Zwang, Leistungen der Medizin in der Zukunft zu rationieren. Gewiss ließen sich rationierungsähnliche Entscheidungen in Ausnahmesituationen, beispielsweise bei Massenkatastrophen, auch bisher nicht immer umgehen. Ähnliche Entscheidungen verlangt die Transplantationsmedizin, insofern sie mit dem eklatanten Missverhältnis zwischen der Anzahl der Organspender und der zum Überleben auf Spenderorgane wartenden Empfänger konfrontiert ist. Da aber nun für die Zukunft die Entwicklung von immer komplizierteren, aber auch immer kostenträchtigeren Behandlungsmethoden zu erwarten ist, muss man sich im Hinblick auf die stets knappen Ressourcen, die ein Gemeinwesen dem Gesundheitsbereich zuzuweisen bereit ist, darauf einstellen, dass es schon die sich mit der ihr eigenen Penetranz stets Geltung verschaffende Ökonomie immer weniger erlaubt, jedem Patienten jederzeit die für ihn optimale medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Dann werden zwangsläufig zumindest indirekt auch Lebensrechte zum Gegenstand von Zuteilungen, für die geeignete Standards erst noch zu entwickeln sind. Die Zeiten, in denen sich die Medizin gegenüber der Welt des Wirtschaftens und der Geschäfte glaubte abschotten zu können, sind unwiderruflich vergangen. In diese Gemengelage gehören auch die wirtschaftlichen Folgelasten der von der modernen Medizin bewirkten Steigerung der Lebenserwartung. Mittlerweile hat der Schwund der nachwachsenden Generationen in unseren Breiten längst die Lasten und die mit ihnen verbundenen Probleme vor Augen gestellt, die sich aus ihm für unsere Systeme der sozialen Sicherheit ergeben. Vorerst wagen es nur vereinzelte Stimmen, auch in diesem Umfeld das Thema der Lebensrechte zu ventilieren. So konnte vor einiger Zeit der Ausdruck „sozialverträgliches Frühableben“, eigentlich nur ein Produkt

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geschmacksunsicherer Ironie, Aufsehen erregen. Aber auch die im Umkreis der Demographen ausgebrütete Formel „gelenkte Sterblichkeit“ erinnert einen angesichts der sogenannten „Rentnerschwemme“ und des „Langlebigkeitsrisikos“ recht unsanft daran, dass es schwerlich ein Zufall ist, wenn die der Bevölkerungsentwicklung immanente Sprengkraft und die Euthanasiebewegung zu derselben Zeit die Öffentlichkeit zu beschäftigen beginnen – auch wenn den Teilnehmern an den jeweiligen Diskussionen diese Koinzidenz zumeist noch verborgen bleibt. Gleichwohl bricht sich allmählich das Bewusstsein Bahn, dass es auch ökonomische Engführungen sind, denen die Euthanasiefrage die Aufmerksamkeit verdankt, die sie heute auf sich konzentriert. Auf jeden Fall sollte man hellhörig werden, wenn es gerade ein bekannter Bioethiker ist, der einen mit dem Satz konfrontiert: „Wir respektieren zu sehr die alten Menschen, die mit Alzheimer und Parkinson.“ Von all diesen Entwicklungen sieht sich die Moralphilosophie herausgefordert. Von ihr erwartet man, dass sie Klarheit darüber verschafft, ob die derzeitige Situation sowie der Stand der Wissenschaft und ihre Anwendungen nach neuen Normen verlangen oder ob man auch heute noch auf die überzeitliche Geltung oberster Prinzipien vertrauen darf, die von den Zeitläuften und vom Wandel in den menschlichen Dingen nicht berührt werden. Dazu gehört auch die Frage, inwieweit die heute arg strapazierte, in ihrem Kern aber unverbrauchte Idee einer jedem Menschen eigenen, unteilbaren Würde mitsamt den in ihr gründenden Menschenrechten immer noch als ein unantastbarer normativer Standard dienen kann oder ob ohne Ausnahme alle sittlichen Normen Kinder ihrer Zeit sind, die ihnen ihre Geltung verleiht und auch wieder entzieht. Nun gibt es gerade in der bioethischen Debatte Stimmen, die geltend machen, die Wertvorstellungen der Gesellschaft hätten sich im letzten Jahrhundert massiv gewandelt. Dagegen ist wenig einzuwenden, solange man nur danach fragt, welche Regeln von den Menschen in Wort und Tat faktisch respektiert werden. Doch die philosophische Ethik will nicht nur Fakten protokollieren, wenn sie nach Prinzipien des Handelns fragt, deren Geltung gerade nicht auf ihrer faktischen Anerkennung oder Nichtanerkennung durch ihre Adressaten beruht. Nicht übersehen werden sollte auch, dass die Philosophen zumindest in der öffentlich geführten bioethischen Diskussion mit den Juristen, den Medizinern, den Ökonomen und den Theologen schwer konkurrieren können, hinter denen Institutionen stehen, von denen sie zugleich getragen werden, Institutionen, die im Raum der Politik präsent sind und für ihre Interessen Respekt fordern, auf den sie auch stets rechnen können. Doch gerade in ihrer Einflusslosigkeit liegt eine Chance der Philosophie. Abgeschirmt gegen das Kraftfeld der am Spiel um die Macht beteiligten Institutionen kann sie gleichsam einen Schritt zurücktreten und ihrem Geschäft des freien Nach-

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denkens dort nachgehen, wo es noch nicht von Interessen in ihren Dienst genommen wird, die darauf aus sind, ihm seine Richtung vorzuzeichnen. Ihnen gegenüber kann sie Distanz einhalten und den Blick dabei zugleich auf die Folgelasten lenken, die im Schlagschatten jener Interessen liegen. Überblickt man die in den Auseinandersetzungen zur Bioethik ventilierten Argumente, mit denen gezielte Tötungen, sei es von geborenen, sei es von ungeborenen Menschen legitimiert werden sollen, so fällt auf, dass das Lebensrecht des Menschen immerhin zunächst als eine Norm allgemein anerkannt wird, der eine prima-facie-Geltung, eine Verbindlichkeit des ersten Anscheins in dem Sinn zukommt, dass im Prinzip jedermann beanspruchen kann, vor einer gezielten Tötung durch seinesgleichen geschützt zu werden. Dieses Lebensrecht wird als solches nicht in Frage gestellt. Wohl aber versucht man, es an seinen Rändern so aufzuweichen, dass es nur dann zum Tragen kommt, wenn bestimmte Zusatzbedingungen erfüllt sind. Das gilt auch für den beliebten Rekurs auf Tötungen unter den Bedingungen des Krieges, denen manchmal sogar eine Vorbildfunktion zuwächst. Dieser Rekurs taugt jedoch nicht dazu, das Lebensrecht zu relativieren. Denn hier bricht nur jener urtümliche Naturzustand durch, der den Zustand der Zivilität suspendiert, auf den eine Norm wie die des Lebensrechts angewiesen ist, wenn sie beachtet werden und wenn ihre Geltung durchgesetzt werden soll. Lehrreich ist in diesem Umkreis auch die berüchtigte Ideologie des „lebensunwerten Lebens“, die in Deutschland vor, während, aber eben auch noch lange nach der nationalsozialistischen Herrschaft bis heute immer noch zahlreiche Anhänger gewinnen konnte. Eine unrühmliche Rolle spielt hier ein im Jahre 1920 von dem Juristen Karl Binding und dem Mediziner Alfred Hoche veröffentlichtes Pamphlet, das im Namen dessen, was den Verfassern „höhere Sittlichkeit“ zu sein schien, die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, die Ausmerzung von Geisteskranken und Behinderten propagierte. Schon seine Diktion ist entlarvend. Menschen, die keine produktiven Leistungen erbringen, denunziert es als „absolut wertlos“, als „Ballastexistenzen“, als bloße „Menschenhülsen“, von denen die mit unvertretbarem Aufwand finanzierten „Anstalten, die nur der Idiotenpflege dienen“ bevölkert werden, in denen mit der Arbeitskraft der Ärzte und Pfleger Volksvermögen sinnlos vergeudet wird. So versuchen die Autoren auch den Geldwert zu beziffern, der mit der Liquidation jener Kranken zu erzielen wäre und versäumen dabei auch nicht, selbst noch den Zinsertrag in ihre Rechnung einzustellen. Um diesem Tötungsprogramm Akzeptanz zu sichern, so lesen wir, müsse das „Bewußtsein von der Bedeutungslosigkeit der menschlichen Einzelexistenz“ geschärft werden. Ohnehin seien Skrupel und übertriebene Sorgfalt bei der Auswahl der Todeskandidaten fehl am Platz; einer mehr oder weniger falle nicht in die Waagschale. Allenfalls „beschränkte Pedanten“ würden dem widersprechen.

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Heute ist niemand mehr so leicht bereit, sich auf die Sprachebene zu begeben, auf der die Verfasser ehedem Gehör gefunden haben. Der Ungeist ihres Pamphlets ist gleichwohl virulent geblieben, auch wenn man heute eine eher unterkühlte Sprache bevorzugen wird. Die Formel „lebensunwertes Leben“, die es verdiente, zum Unwort des Jahrhunderts gekürt zu werden, hat es auf jeden Fall zum Leitfossil aller Versuche gemacht, das Lebensrecht eines Menschen an die Bewertung durch eine ihm fremde Instanz zu binden. Dies gilt auch im Hinblick auf die Versuche, Lebensrechte auf Umwegen zu beschneiden. Dergleichen geschieht, wenn man sich auf eine Definitionskompetenz beruft, um Menschenrechte zu Personenrechten umdeuten zu können. Eben darin liegt, um von einer heute beliebten Metaphorik Gebrauch zu machen, der eigentliche Dammbruch im Umgang mit ihnen. Gemäß der Doktrin der Personenrechte kooptiert die Gemeinschaft der Personen nämlich nur solche Menschen, die bestimmten, in der Regel bewusstseinsbezogenen Kriterien genügen, die empfinden können, die über das Bewusstsein ihrer Identität über die Zeit hinweg verfügen, die zukunftsbezogene Wünsche entwickeln und sich im Modus der Erinnerung auf die Vergangenheit beziehen können, die sich durch Rationalität und Sprachfähigkeit auszeichnen, die ausgeprägte Interessen haben, vor allem am Überleben, oder – neuerdings – die der Selbstachtung fähig sind. Doch es bleibt ein Unding, den Menschen auf sein Bewusstsein oder auf dessen Inhalte reduzieren zu wollen. Denn er ist allemal immer viel mehr als er von sich weiß. Seine Würde geht ihm auch dann nicht ab, wenn er sich ihrer nicht bewusst ist. Wo die Menschenrechte nach einem derartigen Muster zu Personenrechten pervertiert werden, steht das Leben des Menschen nicht nur vor, sondern im Prinzip auch nach seiner Geburt zur Disposition, auf jeden Fall aber das Leben von Menschen, die auf Grund von Krankheit, Behinderung oder Alter jenen Personkriterien nicht mehr genügen und sich damit, nach bekanntem Vorbild, als „Unpersonen“ disqualifizieren lassen. Freilich hat man schon bald bemerkt, dass dann bereits den Schlafenden die Personenrechte abgesprochen werden müssten. Natürlich war kaum jemand zu einer solchen kontraintuitiven Konsequenz bereit. Jedenfalls musste sich das Personenrechtskonzept so viele Modifikationen gefallen lassen, dass es als Grundlage für die Lebensrechtsdiskussion immer weniger taugte. Denn in diesem Fall hält man sich am besten gleich unmittelbar an die moralischen Intuitionen, die hinter jenen Modifikationen stehen. Inakzeptabel ist das Konzept der Personenrechte vor allem auch deswegen, weil auf der Grundlage einer dezisionistisch fundierten Definitionskompetenz der Status einer Person einem Menschen nicht nur zugesprochen, sondern auch wieder aberkannt werden kann. Die an diesen Status gebundenen Rechte sind, anders als die Menschenrechte, kein unverlier­

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barer Besitz ihres Inhabers. Ein auf seiner Basis konzediertes Lebensrecht ist daher immer nur ein Recht auf gestundetes Leben. Die genuinen Menschenrechte werden hingegen an die Zugehörigkeit zu einer natürlichen Gattung geknüpft, jedoch nicht deswegen, weil sich ihre Geltung auf natur­ gegebene Fakten gründen ließe, sondern weil allein eine derartige Bindung willkürliche Entscheidungen ausschließt. Die Orientierung an einer natürlichen Spezies hat in diesem Fall keine rechtsbegründende, sondern nur eine indikatorische Funktion. Andere Versuche, gezielte Tötungen von Menschen zu legitimieren, setzen beim Recht auf Selbstbestimmung an: Ein mündiger Mensch, so wird argumentiert, dürfe sein Leben beenden, auch mit fremder Hilfe, wenn er im Weiterleben keinen Sinn mehr sieht. Dieser Forderung hat die Euthanasiebewegung zuerst in den Niederlanden Geltung verschafft, einem vielen von uns mental sehr fern gerückten, fremd gewordenen Land. Die dortige Entwicklung liefert eine für die Bewertung des Euthanasiekonzepts lehrreiche Fallstudie. Am Anfang hatte man für die Erlaubnis geworben, einem Menschen, der unter einer ohnehin zum Tode führenden Krankheit schwer leidet, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin zu seinem eigenen Wohl den Sterbeprozess abzukürzen. Die Euthanasie, zunächst in einer rechtlichen Grauzone exekutiert, wurde dann nach einiger Zeit vom niederländischen Parlament legalisiert, doch mit der Maßgabe, dass sie, um jedem Missbrauch zuvorzukommen, nur unter bestimmten, nachprüfbaren Kautelen exekutiert werden darf. Gleichwohl wird von Tötungen berichtet, die selbst unter den laxen Bedingungen der dortigen Rechtspraxis nachträglich – natürlich immer zu spät – als illegal eingestuft werden mussten. Doch offenbar findet man sich schon damit ab, dass jene Kautelen nicht in jedem Einzelfall respektiert werden. Mittlerweile werden Tötungen aber auch in einer neuen Grauzone exekutiert. Auch die ohne Wollen des Betroffenen, faktisch zudem oft fremdnützige Euthanasie ist bereits statistikfähig geworden. Doch gerade wenn das Opfer seinen eigenen Willen nicht mehr ausdrücken kann, ist es nicht hinzunehmen, dass nur auf Grund von Mutmaßungen über diesen Willen lebenswertes und vermeintlich lebensunwertes Leben wie an einer Todesrampe selegiert wird. Schon wird auch über Tötungen sogar gegen den ausdrücklichen Willen des Opfers berichtet. Solche Euthanasieopfer genießen rechtlich jedenfalls weit weniger Schutz als ehedem Angeklagte in einem Kapitalprozess. Vor dem Hintergrund einer derartigen Praxis wirkt es nur noch wie ein Ausdruck von Zynismus, wenn ein hoher Repräsentant der deutschen Wissenschaft voller Respekt den Mut der niederländischen Parlamentarier bewundert. Das Fallbeispiel aus den Niederlanden lehrt, dass die hier maßgebliche normative Grenzlinie bereits mit der ersten Tötungslizenz und nicht erst mit späteren Ausweitungen oder Missbräuchen überschritten worden ist.

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Die moralische Landschaft verändert sich schon dann, wenn die Alternative Leben oder Sterben überhaupt zum Inhalt einer Option wird, die von ihrem Inhaber eine Entscheidung verlangt und ihn eben damit zugleich der Gefahr sozialen Druckes aussetzt. Nur noch eines kleinen Schrittes bedarf es dann, um den sich auf sein abdingbar gewordenes Lebensrecht Berufenden zu verpflichten, seinen Lebenswillen noch eigens zu begründen. Das belegt die in letzter Zeit häufig zitierte Warnung: „Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet.“ Dabei läuft er zugleich Gefahr, dass sein Lebenswille als „nur triebhaft“ und damit als unbeachtlich eingestuft wird. Die Beziehung des Menschen zu seinesgleichen hat sich jedenfalls in dem Augenblick grundlegend geändert, in dem er sein individuelles Leben und sein Lebenwollen noch eigens rechtfertigen muss. Damit wird auch die Euthanasie zum Nutzen anderer ein mögliches Diskussionsthema. Denn nun stellt sich die Frage, wessen Weiterleben eine Last bedeutet, von der man die „anderen“ mittels einer gezielten Tötung befreien könnte – das der Schwerkranken, der Hochbetagten, der Behinderten, der Dementen, der Depressiven? In einem solchen Umfeld verwundert es nicht mehr, wenn heute bereits gefragt wird: „Ist der Freitod mit ärztlicher Hilfe ein Geschenk an die Solidargemeinschaft?“ Eine suggestive Feststellung weist den Weg zu Einsparungen: „Die letzten Tage und Wochen des Lebens sind die teuersten.“ Ist das Leben erst einmal zu einer bilanzfähigen Größe geworden, liegt es nicht mehr fern, dem Menschen eine „duty to die cheaply“ einzureden, eine „Pflicht, billig zu sterben“. In diesem Kraftfeld gedeihen auch jene Vorschläge, nach denen beim Erreichen einer bestimmten Altersgrenze der Anspruch auf kurative Hilfe ebenso erlöschen soll wie – so eine Anregung aus einer unserer politischen Parteien – ein so zentrales Bürgerrecht wie das Wahlrecht. Es sind vor allem mit den Irrwegen der deutschen Geschichte zusammenhängende Gründe, die äußerste Zurückhaltung gebieten, wo individuelle Lebensrechte zur Disposition gestellt werden. Nur noch makaber ist es, wenn die sonst stets beschworene Unvergleichbarkeit der Untaten einer vergangenen Zeit dazu missbraucht wird, gegenwärtige Entwicklungen zu verharmlosen. So hat sich beispielsweise der Präsident des nationalen Ethikkomitees Frankreichs dafür ausgesprochen, Geschichte, die mehr als 50 Jahre zurückliegt, endlich Geschichte sein zu lassen. Den Deutschen dies in einem Kontext zu empfehlen, in dem es wieder einmal ums Töten geht, zeugt entweder von völliger Unkenntnis dieser Geschichte oder aber von einer groben Geschmacklosigkeit. Fragt man danach, wie Bioethiker die Einräumung einschlägiger Handlungsoptionen rechtfertigen, begegnet man häufig den Techniken der Güter­ abwägung. Wo man Gebrauch von ihnen macht, hat man es gewöhnlich

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nicht schwer, Akzeptanz zu finden, sind sie doch einem jeden schon aus jenem Lebensalltag vertraut, der weitgehend durch konventionelle Normen „mittlerer Reichweite“ reguliert wird, von denen Prinzipielles zumindest nicht unmittelbar berührt wird. Vor allem die Welt des Wirtschaftens liefert das Beispiel für einen Lebensbereich, der sich mit Hilfe solcher Techniken regulieren lässt, weil hier in Gestalt des Geldes ein Maßstab zur Verfügung steht, der die einschlägigen Vergleiche ermöglicht. Nun sind die Entscheidungen, die im Einzugsbereich der Bioethik getroffen werden, gewiss nicht immer ökonomisch motiviert; fast immer aber haben sie ökonomisch fassbare Konsequenzen. Immerhin besteht Einigkeit darüber, dass die Entscheidungen in diesem Bereich nicht ausschließlich nach ökonomischen Kriterien vorbereitet und gefällt werden dürfen. So hat man auch für das nicht unmittelbar ökonomisch Fassbare spezielle Bilanzierungstechniken entwickelt, mit denen man hoffte, Entscheidungen im Raum der Medizin erleichtern zu können. Dazu gehören auch die Kalküle, die dazu bestimmt sind, Leben nach seiner Qualität vergleichend zu bewerten. Doch gerade sie bergen die Gefahr, zur Diskriminierung von angeblich lebensunwertem Leben missbraucht zu werden. In der Lebenspraxis werden Güter zumeist nicht exakt quantitativ, sondern lediglich komparativ und intuitiv gegeneinander abgewogen. So geht es auch bei den unlängst unter dem werbewirksamen, suggestiven Titel „Ethik des Heilens“ ausgetragenen Kontroversen um die Frage, welche Güter einem zur Disposition stehen, wenn man nach Wegen sucht, auf denen sich irgendwann vielleicht einmal bis dahin inkurable Krankheiten heilen lassen. Niemand bestreitet, dass dieses Ziel einen hohen Einsatz wert ist. Strittig ist aber, ob ihm notfalls auch Lebensrechte weichen müssen, beispielsweise von Menschen in den vorgeburtlichen Phasen ihrer individuellen Existenz. Strittig sind die Dinge auch dort, wo sich eine unserer großen Wissenschaftsorganisationen dafür stark macht, Lebensrechte gegen die Wissenschaftsfreiheit abzuwägen und sie in bestimmten Fällen zum Schutz dieser Freiheit aufs Spiel zu setzen. Dieses Beispiel berührt indessen Prinzipielles. Denn hier geht es zugleich um die Frage, ob es Güter gibt, die in keine Abwägung eingehen, die für kein denkbares Ziel zur Disposition stehen, weil sie – trivial ausgedrückt – schlechterdings nicht käuflich sind. Aristoteles hatte diese Frage bekanntlich bejaht und darauf die These gegründet, dass es Fragen gibt, die keine Erörterung verdienen, sondern nur eine Zurechtweisung des Fragenden verlangen. Ließe sich mit Hilfe von Güterabwägungen schlechthin alles in Wertbilanzen verrechnen, auch die Menschenwürde und die in ihr gründenden Rechte, hätte die Moralität keinen Boden mehr. Doch es gibt Grenzen, die sich sofort zeigen, wenn man sich fragt, für welche – vermeintlich hochrangigen – Ziele man notfalls auch Sklaverei, Folter oder Menschenhandel zu akzeptieren bereit wäre.

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Erst mit der Frage nach dem Verlauf dieser Grenzen gelangt man in das Zentrum der ethischen Grundlagenreflexion. Gewiss ist die Freiheit der Wissenschaft ein essentielles Lebenselement jeder Forschung. ­Trotzdem braucht zu ihrer Wahrung kein Lebensrecht zur Disposition gestellt zu werden. Kein Mensch muss für die Wissenschaft sterben, in welchem Stadium seiner Existenz er sich auch immer befindet. Nun gehört die Wissenschaftsfreiheit gewiss zu den tragenden Elementen eines jeden nichttotalitären Staates. Doch gerade diese Freiheit muss ein solcher Staat nicht nur der Wissenschaft, sondern vor allem auch um seiner selbst willen garantieren. Er ist auf sie angewiesen, weil er stets auf die Grenze zwischen erkenntnisfähigen und entscheidungsfähigen Dingen achten muss. Er kann Normen nicht in Bezug auf Dinge setzen, die Gegenstände möglichen Erkennens sind. Seine Gestaltungskompetenz findet ihre Grenze dort, wo der Einzugsbereich dessen beginnt, was wahrheitsfähig ist. Wahrheit und Falschheit sind keine möglichen Inhalte von Mehrheitsentscheidungen. Es ist nun aber gerade das Reich des arbiträren Entscheidungen nicht zugänglichen Wahrheitsfähigen, in das die Wissenschaft mit den Resultaten ihrer Arbeit Einblick gibt, ein Reich freilich, dessen Grenzen mit jeder neuen Erkenntnis aufs neue zu justieren sind. Die Garantie der Forschungsfreiheit bewahrt den freiheitlichen Staat jedenfalls davor, seine Autorität dadurch zu verspielen, dass er über Dinge entscheiden will, über die sich allein auf der Basis begründungsfähiger Erkenntnis befinden lässt. Wo man Güterabwägungen vornimmt, orientiert man sich in der Regel an Normen, die dem Utilitarismus verpflichtet sind, einem ethischen Konzept, das heute auch unter dem Namen des Konsequenzialismus auftritt. Nun hat sich der Utilitarismus schon in eine solche Vielzahl von Spielarten verzweigt, dass es schwer fällt, generelle Aussagen über sie zu begründen, von denen alle diese Spielarten abgedeckt werden. Im deutschen Sprach­ bereich ist zudem immer noch eine Tendenz wirksam, den Namen „Utilita­ rismus“ zu vermeiden. Angejahrte Missverständnisse haben abwertende Konnotationen verschuldet, die diesem Namen immer noch anhaften. Dennoch ist es dem Utilitarismus schließlich gelungen, auch im deutschen Sprachbereich heimisch zu werden. Zumeist übersieht man freilich, dass es eigentlich nur ein Etikettenwechsel war, der ihm unter dem Namen „Verantwortungsethik“ auch bei uns zu einer glänzenden Karriere verholfen hat. Vermutlich waren es die dem Ausdruck „Verantwortung“ anhaftenden, im Deutschen stets tiefen sittlichen Ernst signalisierenden, emotiven Anmutungsqualitäten, die dem unter seinem neuen Namen firmierenden Utilitarismus seinen späten Durchbruch beschert haben. Gemeinsam ist den utilitaristischen Richtungen, die Verantwortungsethik nicht ausgenommen, dass sie die Verbindlichkeit ethischer Normen auf die vorhersehbaren Folgen des zu normierenden Verhaltens gründen.

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Stets soll die Wahl auf die Handlungen oder auf die Verhaltensregeln fallen, deren mutmaßliche Folgenbilanz den größten Nutzen ausweist. Inhaltlich lässt sich der Nutzen, der maximiert werden soll, nicht mehr innerhalb des utilitaristischen Konzepts bestimmen. Diese inhaltliche Bestimmung muss sich der Utilitarist vorgeben lassen. Daher ist schwer einzusehen, wie sich gerade eine moralische Pflicht zur Maximierung eines Zielnutzens soll legitimieren lassen, dessen inhaltliche Bestimmung zur freien Disposition steht. Aus diesem Grund kann jeder derartige Ansatz immer nur eine Ethik der zweiten Linie begründen, deren Normen nur dort greifen, wo der zu maximierende Nutzen inhaltlich bereits bestimmt ist – von welcher Instanz auch immer. In der Entwicklung des Utilitarismus sind denn auch, beginnend mit dem „größten Glück der größten Anzahl“, ganz unterschiedliche Zielgrößen für jene Maximierung ventiliert worden. Gerade weil sie selbst moralisch neutral bleiben, kann ihre inhaltliche Bestimmung immer nur auf einer gewissen vorreflexiven Plausibilität beruhen. Nicht zufällig werden sie denn auch zumeist im Blick auf faktisch verbreitete Präferenzen vorgeschlagen. Besonderen Zuspruch haben solche Ansätze gefunden, die es dem Einzelnen selbst anheimstellen, worin er sein Glück finden will und die es ihm mit all seinen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen überlassen, den Zielnutzen inhaltlich selbst zu bestimmen. Die Existenz eines Interesses begründet für sich allein jedoch niemals einen Anspruch auf seine Befriedigung. Gerade individuelle Präferenzen, oft nur höchst ephemere, flüchtige Phänomene, bedürfen zuvor selbst einer Normierung, zumal in der modernen, unaufhaltsam stets neue Bedürfnisse hervorbringenden Welt. Daraus erhellt, dass sich auf der Basis konsequenzialistischer Ansätze nur Wenn-Dann-Normen legitimieren lassen. Denn eine so fundierte Moral erfüllt immer nur eine Dienstfunktion bei der Maximierung eines letztlich stets außermoralischen Nutzens. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis gibt es freilich keine ernst zu nehmende Ethik, auch keine Gesinnungsethik, der die Folgen des Handelns gleichgültig wären. Nur ist es nicht dasselbe, ob die Berücksichtigung dieser Folgen zum Inhalt der ethischen Normen gehört oder ob sie ihren Legitimationsgrund bilden soll. Dadurch unterscheiden sich folgenbasierte von lediglich folgenorientierten Ethiken. Zur heutigen breiten Akzeptanz des Utilitarismus hat gerade die Tatsache beigetragen, dass es sich bei ihm nur um eine Ethik der zweiten Linie, um eine Ethik nicht der letzten, sondern der vorletzten Fragen handelt. Zwar kommt sie manchen moralischen Intuitionen entgegen, doch sie vernachlässigt die Frage nach der Existenz von Größen, die keine Abwägung erlauben. Die Fachdiskussion hat längst erwiesen, dass sich die einer Abwägung nicht fähige Gerechtigkeit mit einem Konsequenzialismus ebenso

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wenig vereinbaren lässt wie die Unantastbarkeit von Menschenrechten, die zu niemandes Disposition stehen und sich schlechterdings nicht relativieren lassen. Es ist bezeichnend, dass gerade Jeremy Bentham, der Vater des modernen Utilitarismus, die Idee der Menschenrechte als „Unsinn auf Stelzen“ (nonsense upon stilts) verhöhnt hat; in Deutschland zog bekanntlich die Weimarer Verfassung auch wegen ihrer Anerkenntnis von Grundrechten den Spott ihrer Gegner auf sich. Den harten Kern einer jeden Ethik berührt die Frage, ob es Handlungen gibt, deren Normierung deswegen nicht von Voraussetzungen oder Folgen abhängt, weil sie als „actûs intrinsice mali“ unter allen denkbaren Bedingungen verwerflich sind. Zwar gibt es Ethiker, die in allen Moralnormen nur noch Funktionen historischer oder sozialer Konstellationen sehen und ihnen deshalb nur eine bedingte Geltung, eine Geltung auf Abruf zuerkennen wollen. Trotzdem bestreiten noch nicht einmal sie, dass in den zwölf düstersten Jahren der deutschen Geschichte der Beweis dafür angetreten worden ist, dass Menschen zu Handlungen fähig sind, deren normative Beurteilung sich schlechterdings durch keine Bedingungen relativieren lässt. Häufig begegnen einem Normen, die, durch Autoritäten gestützt, unbe­ dingte Geltung beanspruchen, im Umkreis der Religionen. In dieser Gestalt kann sie der säkulare Staat nicht übernehmen. Doch deswegen muss er sich nicht mit einem normativen Minimalprogramm, mit einer normativen Schwundstufe zufrieden geben. Der Platz unbedingt geltender Normen kann auch in ihm nicht unbesetzt bleiben, wenn er in letzter Instanz nicht alles normativer Beliebigkeit überantworten will. Deshalb lässt sich die Frage nach Normen, deren Verbindlichkeit von Bedingungen unabhängig ist und die Grenzen setzen, die niemals überschritten werden dürfen, nicht mit dem wohlfeilen Vorwurf des Fundamentalismus abtun. Der Ethik steht es nicht frei, auf die Suche nach Invarianten zu verzichten. Insoweit gleicht ihre Situation der des Physikers: Wenn der Physiker Anlass hat, an der Unveränderlichkeit von Naturgesetzen oder Naturkonstanten zu zweifeln, die ihm bislang Invarianten zu sein schienen, stellt sich ihm nur die Aufgabe, nach dem Gesetz zu suchen, dem die einschlägigen Veränderungen gehorchen. Wären die Anhänger des normativen Relativismus im Recht, wenn sie in jeder ethischen Norm nur ein Kind ihrer Zeit sehen, könnten sie deren Legitimierung allenfalls auf die Faktizität der sich ständig wandelnden menschlichen Lebenswelt zu gründen suchen und sich damit eines Sein-Sollen-Fehlschlusses schuldig machen. Nun lassen sich Normen und Fakten gewiss nicht vollkommen wasserdicht gegeneinander abschotten, zumal da jede Norm dazu bestimmt ist, Eingriffe in die Welt der Fakten zu regulieren und zu legitimieren. Aber auch wenn insoweit jede Norm auf diese Welt bezogen bleibt – auf sie gründen lässt sich ihre Verbindlichkeit nicht.

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Anderenfalls könnte man gegen die schändliche Rede von der normativen Kraft des Faktischen nichts einwenden, hinter der, wie hinter jeder relati­ vistischen Normenbegründung, letztlich nur jenes Recht des Stärkeren steht, das in Wirklichkeit jedes Recht auflöst. Ließe sich die Verbindlichkeit von Normen nur auf Faktisches gründen, wäre am Ende alles erlaubt: Wer Fakten schaffen oder verändern kann, könnte damit zugleich auch Normen verbindlich machen. Auf Fakten lassen sich indessen allenfalls hypothetische Normen gründen, mit denen man die Welt des eigentlichen Handelns noch gar nicht erreicht. Es gibt hypothetische Sätze, jedoch kein hypothetisches Handeln. Handeln setzt allemal Endgültiges. Sätze kann man widerrufen, Handlungen nicht. Man kann hypothetisch behaupten, nicht aber hypothetisch leben. Es gibt kein Leben auf Probe – ebenso wenig wie es im Ernst eine Zeugung auf Probe geben kann. Vertreter des moralischen Relativismus bedienen sich gerne der Kategorie der Zuschreibung, um der Idee der Menschenwürde mitsamt den in ihr gründenden Menschenrechten die von ihnen beanspruchte unbedingte Verbindlichkeit abzusprechen. Denn eine Zuschreibung, so suggeriert es dieser Ausdruck, kann notfalls auch wieder annulliert werden, beispielsweise auf Grund einer Güterabwägung. Nun liegen gewiss manchen derartigen Einstufungen willkürliche Entscheidungen zugrunde. Doch leicht vernachlässigt man, dass manche Zuschreibungen, auch solche kulturbezogener Art, ihrem Status nach nicht faktische, sondern zweiwertige, nämlich wahrheitsdefinite Gebilde sind, in besonderem Maße gerade solche, wie sie in der Bioethik zur Debatte stehen. Zudem darf nicht übersehen werden, dass der Zuschreibungsakt als Handlung einer normativen Bewertung sowohl fähig als auch bedürftig ist. Das gilt auch in Bezug auf die Menschenrechte. Wer sie jemandem zuschreibt, realisiert keinen performativen Akt; er dokumentiert vielmehr einen bestehenden Sachverhalt. Menschenrechte werden nicht verliehen. Der Inhaber dieser Rechte ist für diesen Besitz denn auch niemandem zu Dank verpflichtet. Eine Spielart des normativen Relativismus von besonderem Raffinement entwickelt die Bioethik dort, wo sie Antworten auf Fragen nach dem Grund und nach der Reichweite der Verbindlichkeit ethischer Normen aus dem Faktum der Evolution zu gewinnen sucht. Dabei werden dann mit dem Menschen selbst auch alle seine Kulturleistungen als Produkte der Evolution gedeutet. So versucht man, auf die Evolution nicht nur eine Erkenntnistheorie, sondern auch eine Ethik zu gründen. Nicht nur in der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, sondern auch in der Gültigkeit seiner Erkenntnisse, nicht nur in den ihm als sittlichem Subjekt eigenen Kompetenzen, sondern auch in der Verbindlichkeit der von ihm anerkannten Normen sieht man dann Produkte der Evolution, Hilfsmittel zum Leben und Überleben der Gattung. Nicht selten wird mit dem Versuch, Moralität

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auf die Evolution zu reduzieren, geradezu die Absicht verfolgt, moralische Schranken zu unterwandern. Solche Deutungen vermengen Richtiges und Fragwürdiges. Ohne Zweifel sind die Fähigkeiten und Kompetenzen des Menschen sowie die Resultate ihrer Betätigung im Rahmen der Evolution entstanden. Das enthebt einen aber nicht der Aufgabe, die Grenzen des evolutionstheoretischen Erklärungspotentials aufzusuchen. Man trifft auf sie, wo Geltungsfragen zur Debatte stehen. Obwohl Erkenntnis unter den Bedingungen der Evolution in Erscheinung möglich geworden ist, verbietet es sich, ihre Gültigkeit auf dieses Faktum zu gründen. Antworten auf Geltungsfragen findet man nur im Einzugsbereich der Bivalenz, aber nicht mit Techniken, die nur für das Auffinden und die Analyse von Fakten taugen. Diese Differenz übersieht, wer es unternimmt, Theoreme der Ethik oder der Erkenntnistheorie in Resultaten der Biologie zu verankern. Ginge es nur um das Überleben der Gattung, würden manche humanitäre Standards eine Fehlentwicklung anzeigen, wenn sie dazu verpflichten, auch dann, wenn es keinem anderen von Nutzen ist, dem Schwachen zu Hilfe zu kommen, dessen Mangel an Lebenstüchtigkeit es ihm nicht erlaubt, sich selbst zu helfen. Der Mensch als das Lebewesen, das seine Großeltern kennt, würde insoweit nur eine evolutionäre Sackgasse anzeigen. Dass Menschen von der Verbindlichkeit bestimmter Normen überzeugt sind, an denen sie sich orientieren, ist ein Faktum, das sich evolutionstheoretisch deuten lässt. Nun hat aber die Gültigkeit von Normen wie auch die Wahrheit von Aussagen einen ganz anderen kategorialen Status als das bloße Faktum, dass jemand von einer Gültigkeit oder von einer Wahrheit überzeugt ist. Im Reich der faktisch existierenden Dinge gibt es keine Zweiwertigkeit, wohl aber im Reservat der propositionalen Gebilde. Besondere Sorgfalt ist hier deswegen angesagt, weil auch falschen Aussagen und illegitimen Normen lebensdienliche Potentiale eigen sein können. Dazu kommt, dass zwar Überzeugungen und Meinungen im Rahmen der Evolution entstehen, nicht jedoch alle ihre Objekte. Für handfeste Dinge ist dies trivial, nicht dagegen für ideale Gegenstände. So werden beispielsweise mathematische Strukturen oder Naturgesetze in evolutionären Prozessen lediglich entdeckt, nicht aber von ihnen hervorgebracht. Ähnlich verhält es sich mit den fundamentalen Normen des menschlichen Handelns und Verhaltens. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf es im Umgang mit bioethischen Argumentationen, die bestimmte Verhaltensweisen deswegen anraten, weil sie angeblich der Sache der Evolution dienlich sind – mag es sich um die Freigabe der aktiven Euthanasie handeln, um Segnungen, die manch einer von der verbrauchenden Embryonenforschung erwartet, oder um eine Eugenik, die den bisherigen, den „naturbelassenen“ Menschen hinter sich lassen will und am Ende vielleicht noch die Entstehung einer ganz neuen Spezies

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ermöglicht. Angesichts eines derartigen evolutionären Utilitarismus gilt es aber zu bedenken, dass die Evolution selbst dann keine Handlungsnormen legitimieren könnte, wenn sich ihre Resultate bereits im voraus genau ausmachen ließen. Sie kann niemanden dazu verpflichten, sich als ihr Agent zu verstehen. Selbst wenn jeder Versuch, sich gegen ihre vermeintliche Allmacht zu stellen, vergeblich wäre, würde eine Norm, die dem Menschen auferlegte, ihre Sache zu der seinen zu machen, ihn nur zum Opportunismus anhalten. Individuelle Lebensrechte haben keinen Platz, wo man die obersten Handlungsnormen aus der Evolution gewinnen will. Schon vor einem Jahrhundert war einmal versucht worden, die Evolution kurzschlüssig zum Universalprinzip des Seins und des Sollens zugleich zu erheben. Der um Ernst Haeckel, den bedeutenden Biologen und dilettantischen Biologisten gescharte Monistenbund hatte einen undifferenzierten Vulgärdarwinismus propagiert, der überdies noch pseudoreligiöse Funktionen erfüllen sollte. Heute kann man auf ein weitaus reicheres Wissen von der Evolution zurückgreifen als damals. Auch steht uns für wissenschaftstheoretische Analysen ein viel leistungsfähigeres Instrumentarium zur Verfügung als Haeckel, der noch nicht einmal den Methoden gewachsen war, von denen er schon zu seiner Zeit hätte Gebrauch machen können. Trotzdem ist sein evolutionärer Monismus ein lehrreiches Beispiel, das einem Irrwege zeigt, in denen man sich verlieren kann, wenn man Fakten mit der Aufgabe beschwert, normative Legitimationen zu liefern. Dabei darf man indessen eine wesentliche Differenz nicht vernachlässigen. Denn hinter der aktuellen bioethischen Debatte stehen, anders als hinter Haeckels Monismus, auch handfeste kommerzielle Interessen, die sich in der Regel freilich nicht im Klartext artikulieren. Will man ein Fazit ziehen und angeben, warum die sich heute abzeichnenden Optionen, mit denen die Bioethiker befasst sind, eine Herausforderung bedeuten, so wird man zu allererst darauf verweisen müssen, dass sich hier eine Entwicklung anbahnt, in der die Menschenrechte zur Disposition gestellt werden. Gewiss fordert niemand offen eine Derogation der entsprechenden Normen. Doch mit den Menschenrechten, voran mit dem Lebensrecht, ist nicht zu spaßen. Ihre Verbindlichkeit hängt von keinem Konsens, von keiner noch so großen Mehrheitsmeinung ab. Man hat sie schon dann verraten, wenn man sich anmaßt, darüber entscheiden zu können, wem sie zukommen und wem nicht, wenn man sie wie Größen behandelt, die sich in Bilanzen verrechnen lassen, wenn man sie dem Schema des Mehr oder Weniger unterwirft, wenn man die Berufung auf sie mit einer Begründungspflicht verbindet. Denn sie beruhen allesamt darauf, dass die Würde des Menschen in jener Moralfähigkeit gründet, die weder Relativierungen noch Abstufungen erlaubt und die enger als andere Kompetenzen mit dem Wesen des Menschen verbunden ist. Arbeit lässt sich delegieren, heute zu-

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nehmend auch an technische Apparaturen. Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz zeigt, dass Analoges auch für kognitive Kompetenzen gilt. Nichts Vergleichbares gilt für die Moralfähigkeit. Als moralfähiges Wesen kann sich der Mensch durch niemanden und durch nichts vertreten lassen. So ist es die Respektierung des Menschen als eines moralfähigen Wesens, die durch die neuen Optionen zur Disposition gestellt wird – nicht verbal, wohl aber durch die Tat. Es steht noch dahin, ob die Gentechnik dermaleinst eine Gattung von Lebewesen kreiert, deren Exemplare gesünder, langlebiger, leistungsfähiger, glücklicher, intelligenter sind als es der heutige Mensch ist, vielleicht aber um den Preis, dass ihnen die Moralfähigkeit abgeht, die dann nur noch ein Störfaktor wäre. Gewiss sind die Stimmen der Forscher ernst zu nehmen, die schon die Möglichkeit solcher Entwicklungen in Abrede stellen. Allen Unmöglichkeitsprognosen gegenüber ist jedoch Skepsis anzuraten – auch eingedenk der Tatsache, dass selbst Albert Einstein noch im Jahre 1920 meinte, nichts gebe zu der Befürchtung Anlass, dass die – erstmals von ihm berechneten – im Inneren der Materie verborgenen Energien jemals vom Menschen würden freigesetzt werden können. Wir können jedenfalls nicht mehr ausschließen, dass eine den Rohstoff Embryo verarbeitende Industrie einmal emendierte Menschen entwickeln wird, die, von der Bürde unbedingt geltender Normen befreit, in mora­ lischer Käfighaltung in einer Wolke von Lustgefühlen leben, märchenhafte sportliche Rekorde erzielen und ein Bruttosozialprodukt in schwindelnder Höhe erwirtschaften – aber warum das eigentlich noch und für wen? Ein bedenkenswerter Vorschlag will denen, die von gentechnischen Züch­ tern in Zukunft vielleicht einmal ins Leben gerufen werden, schon jetzt ein antizipiertes, ein virtuelles Recht zur Mitsprache an den derzeit fälligen Entscheidungen einräumen. Er führt aber nur dann nicht in eine Aporie, wenn man ihn auf zukünftige Wesen bezieht, die sich von uns „naturbelassenen“ Menschen zwar unterscheiden mögen, mit ihnen aber jedenfalls noch den Status der Moralfähigkeit gemeinsam haben. Keinen Angriffspunkt mehr findet dieser Vorschlag dort, wo neue, am Ende gar noch patentierbare Gattungen moralunfähiger Individuen entworfen werden, die vielleicht zu nützlichen Arbeitswesen oder auch zu Sexualobjekten taugen, die aber unfähig sind, zu sich selbst, zu ihrer Situation und zu ihrem Status Stellung zu nehmen und deshalb das ihnen eingeräumte, virtuelle Mitspracherecht gar nicht ausüben könnten. Trotz allem historischen und kulturellen Wandel konnte man sich bisher stets an einem Bild vom Menschen orientieren, dessen physische und psychische Natur konstant bleibt, gleichgültig, welche Werkzeuge man ihm in die Hand gibt. Im Blick auf diese Konstanz konnte beispielsweise der Rechtsphilosoph Julius Ebbinghaus seinerzeit noch die nur auf den ersten Blick paradox erscheinende These vertreten, dass man sich über die Gefahren der Atombombe am besten bei Thukydides infor-

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miert. Vergleichbares ist nicht möglich, wo es um Wesen geht, deren psychophysische Ausstattung ein gänzlich neuartiges Profil zeigt. Auch Abenteuerlust mag mitspielen, wenn manch einer seine Hoffnung auf Dinge setzt, für die das Überschreiten des Rubikon eine gängige Metapher geworden ist. Bei ihrer Verwendung wird indessen oft übersehen, dass Caesar seinerzeit mit dieser militärischen Entscheidung einen Bürgerkrieg auslöste, dessen Folgen am Ende eine Republik zum Opfer fiel. Umso mehr ist angesichts unserer neuen Optionen Zurückhaltung geboten, erst recht, wenn man die Möglichkeit von schlechthin irreversiblen Folgelasten in Rechnung stellt. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine abgründige, aber nicht unrealistische Diagnose Immanuel Kants neue Aktualität. In seiner „Kritik der Urteilskraft“, einem Werk, in dem man dies nicht erwarten würde, stellt er mit dürren Worten fest, dass der Mensch „selbst, soviel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet“. Er konnte noch nicht ahnen, welche vermeintlichen Fortschritte, sei es nach menschlichem, sei es nach einem anderen Maß, dieses Ziel heute in greifbare Nähe gerückt haben. Zuerst veröffentlicht in: Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie (Bonn, 23.–27. September 2002), Vorträge und Kolloquien. Herausge­ geben von Wolfram Hogrebe in Verbindung mit Joachim Bromand. Akademie Verlag, Berlin 2004, S. 829–842.

Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung. Zur Tragweite des hypothetischen Denkens

I Wer die Wissenschaft im Fadenkreuz der neuzeitlichen Aufklärung betrachten will, wird zunächst nach dem Bild suchen, das sich ihre Wortführer von ihr gemacht haben. Zugleich wird er nach den Funktionen fragen, für die sie von ihnen in Anspruch genommen worden ist. Hier scheint die Antwort nicht schwer zu fallen: Von der Wissenschaft, einer Frucht kontrollierender wie auch kontrollierbarer Vernunft, wurde erwartet, dass sie überall dort als Vorbild dienen kann, wo man sich darum bemüht, autonome Rationalität, die sich nicht durch ungerechtfertigte Dogmen, illegitime Autoritäten oder abergläubische Überzeugungen einengen oder gar korrumpieren lässt, über alle Bereiche menschlichen Denkens, Handelns und Zusammenlebens auszubreiten, um sie auf diese Weise in eine legitimierbare Ordnung zu fügen. „Aufklärung durch Wissenschaft“ lautet die Formel für ein Projekt, hinter dem die Hoffnung stand, den Menschen ermutigen zu können, nur seinem eigenen Verstand zu vertrauen und sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen, um so den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu finden – wie es in der immer wieder zitierten Formel ausgedrückt wird, mit der Immanuel Kant das Ziel der Aufklärung mitsamt ihren Triebkräften auf den Begriff gebracht hat. Hier muss man freilich sogleich differenzieren. Wir haben uns heute daran gewöhnt, in Bezug auf ihre Gegenstände wie auch auf ihre Methoden ganz heterogene Disziplinen als Wissenschaften zu bezeichnen. Die Aufklärer pflegten für ihr Unternehmen zunächst jedoch nur bestimmten Wissenschaften exemplarische Bedeutsamkeit zuzugestehen, nämlich der Physik, der Astronomie und der Mathematik, also Disziplinen, die man heute mit dem Prädikat des Exakten auszeichnet. Aber diese Disziplinen sind auch in ihrer neuzeitlichen Gestalt immer noch älter als die Aufklärung. Sie wurden von ihr bereits vorgefunden als Fächer, die auf soliden, nicht von Autoritäten vorgegebenen Fundamenten ruhten und ihre Erfolgsträchtigkeit schon durch die Tat erwiesen hatten. Zentrale Gestalten der frühneuzeitlichen exaktwissenschaftlichen Forschung und – gelegentlich in Personalunion – der Philosophie wie Kopernikus, Kepler, Bacon, Galilei, Descartes, Leibniz,

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Newton wurden von den Aufklärern als Vorbilder und als Stichwortgeber, gleichsam als Paten und Wegbereiter in Anspruch genommen. Gleichwohl zählt man sie gewöhnlich nicht zu den Aufklärern im engeren Sinn des Wortes. Zu deren zentralen Gestalten gehören vornehmlich Literaten und Essayisten, Editoren, Publizisten und Kritiker, unter ihnen gewiss manche Persönlichkeiten, die sich durch eine eminente wissenschaftliche Bildung auszeichneten, die aber mit ihren Unternehmungen nicht so sehr einen exklusiven Kreis von Fachgelehrten, sondern eine breitere, gebildete Öffentlichkeit nicht nur ins Auge gefasst, sondern auch erreicht haben. Gewiss ist auch in ihrem Kreis wissenschaftliche Arbeit geleistet worden, doch man findet in ihm keinen der wegweisenden Klassiker der exakten Wissenschaften, sieht man einmal von Jean Baptiste d’Alembert (1717–1783) ab, der als Mathematiker und als Physiker eine herausgehobene Stellung nicht nur unter den Aufklärern, sondern auch in der Geschichte der exakten Wissenschaften einnimmt. Die Wissenschaft, die von der Aufklärung vorgefunden wurde und die ihr als Vorbild diente, kann man eigentlich nicht als Wissenschaft der Aufklärung bezeichnen. Trotz ihrer engmaschigen Vernetzung mit der Wissenschaft lässt sich die Aufklärung daher auch nicht gut als eine wissenschaftsgeschichtlich definierbare Epoche verstehen. Unternimmt man es, die Wissenschaft unter dem Blickwinkel der Aufklärung zu betrachten, so kann man durchaus bei den Reflexionen ansetzen, mittels derer sie von den Aufklärern thematisiert und ausgewertet worden ist. Doch wer hofft, auf diesem Weg systematisch ausgearbeiteten Wissenschaftstheorien im heutigen Sinn zu begegnen, wird enttäuscht werden. Diese Reflexionen liefern allenfalls Materialien zu derartigen Theorien, die vom Interpreten dann erst noch rekonstruiert werden müssten. Er ist nicht von der Aufgabe dispensiert, auch selbst nach dem Aufbau jener Wissenschaften zu fragen, an denen sich die Aufklärer orientiert und von denen sie, auch ohne mit deren Feinstruktur in allen ihren Einzelheiten vertraut zu sein, Gebrauch gemacht haben. Wer eine Wissenschaft mit Erfolg betreibt oder anwendet, muss nicht zugleich die Fähigkeit haben, ihre Fundamentalstrukturen auf explizite Weise zu durchschauen. Für seine Arbeit reicht in aller Regel eine vorreflexive, praktische und oft implizit bleibende Vertrautheit mit ihr aus. Grundlagentheoretische Reflexionen stellt man ohnehin in der Regel erst post festum an, wenn die Fundamente bereits gelegt sind und sich bewährt haben. Unter diesen Umständen muss sich ein Interpret unserer Tage stets dessen bewusst sein, dass nicht die Aufklärer, sondern letztlich er es ist, der die Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung und ihrer Protagonisten betrachtet. Bei der Erörterung unserer Thematik sollte man auf keinen Fall den praktischen Horizont der Aufklärung aus dem Auge verlieren. Sie erwartete von der Wissenschaft nicht nur, dass sie theoretische Erkenntnisse

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erarbeitet und zugleich mittels ihrer Vorbildfunktion dazu beiträgt, den Menschen zu Selbstbestimmung, Rationalität und Mündigkeit zu führen. Sie war auch darauf aus, die äußeren Bedingungen neu zu gestalten, unter denen der Mensch sein Leben in der Welt fristet und mit seinesgleichen zusammenlebt. Dergleichen wurde dadurch möglich, dass sich die neuzeitliche Wissenschaft, anders als ihre Vorläufer in früheren Epochen der Geschichte, auch im Blick auf Anwendungen in Gestalt technischer Innovationen betreiben ließ. Bis auf den heutigen Tag haben diese Innovationen zur Folge, dass durch sie die Lebenswelt des Menschen immer wieder aufs neue umgestaltet wird. Wie immer sich die Wissenschaft in der Optik der Aufklärung auch darbieten mag – auf keinen Fall sollte man den Blick auf jene kultur- und mentalitätsgeschichtlich definierbare Epoche einengen, der die neuzeitliche Aufklärung den Namen gegeben hat. Denn mit diesem Namen verbindet sich auch ein auf Dauer angelegtes Programm, dessen Realisierung vielleicht niemals an ein unüberholbares, natürliches Ende gelangen kann. Dazu kommt, dass sich der Kreis der Aufklärer niemals randscharf eingrenzen lässt, zumal unter Bedingungen, unter denen dem Ausdruck „Aufklärung“ längst auch die plakativen Eigenschaften eines Schlagwortes, ja eines Reizwortes zugewachsen sind, deren sich jene Ideologen ganz unterschiedlicher Herkunft gerne bedienen, die in der Maske von Aufklärern auftreten. Zudem läuft man Gefahr, die Aufklärung zu verkürzen, wenn man die Potentiale ausblendet, die erst ins Auge fallen, wenn man auch ihre Vorgeschichte und vor allem ihre Wirkungsgeschichte in die Betrachtung mit einbezieht, die trotz ihrer Vernetzung mit der Wissenschaft weit über deren Grenzen hinausweisen. Deshalb ist es angezeigt, auch die Intentionen mitsamt ihren Wirkungen im Auge zu behalten, die auf Bereiche außerhalb des Hauses der Wissenschaft zielen. Dann kann man sich nicht mehr damit begnügen, die Probleme einer Aufklärung durch Wissenschaft zu erörtern, weil man sich auch auf Fragen einlassen muss, die sich auf die Möglichkeiten und die Aufgaben einer Aufklärung trotz Wissenschaft richten. Es versteht sich von selbst, dass es in einem Abendvortrag nicht gut möglich ist, die verschiedenen Zugangswege zu erproben, auf denen man sich dem ungemein vielgestaltigen, randscharf kaum abgrenzbaren Phänomen der Aufklärung nähern kann. Ohnehin lässt die Vielgestaltigkeit der in ihrem Bereich tätigen Charaktere und der von ihnen entwickelten Konzepte des Denkens und Handelns jeden Versuch scheitern, Aussagen zu begründen, die sich mit strikter Allgemeingültigkeit auf alle ihre Protagonisten beziehen lassen. Deshalb werde ich hier einen bestimmten Gesichtspunkt wählen und hoffe, auf diese Weise wenigstens einen der Stränge des dichten, von Aufklärung und Wissenschaft gewirkten Gewebes freilegen und verfolgen zu können.

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II Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne veröffentlichte im Jahre 1982 eine Untersuchung unter dem Titel „Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik“1. Es ist ein Buchtitel, der zunächst, wie es scheint, keine besonderen Überraschungen erwarten lässt. Es ist nicht neu, dass sich die Aufklärer an der neuzeitlichen Physik orientiert und auf sie bezogen haben, auf eine Wissenschaft also, deren Methodenideal dem Experiment als einer Verbindung von Verstand und Beobachtung, Erfahrung und Berechnung eine zentrale Stellung einräumt. Überraschen mag allenfalls, dass es gerade ein prominenter Philologe ist, der einen an sich wohlbekannten und unbestrittenen Sachverhalt thematisiert. Doch der Untertitel des Buches – „Lichtenbergsche Konjunktive“ – macht sogleich die Spur deutlich, die der Autor verfolgt. Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Professor der Physik an der Universität Göttingen, war ein Naturwissenschaftler, dem auf Grund seiner Forschungsresultate ein Platz in der Geschichte seines Faches, insbesondere in der Frühgeschichte der Elektrizitätslehre sicher ist. Zu seinen Leistungen gehört beispielsweise die Entdeckung der dann nach ihm benannten „Figuren“, aber auch die Unterscheidung positiver und negativer Elektrizität. Gleichwohl zählt man ihn nicht zu den Gründervätern oder den Stichwortgebern der neuzeitlichen Physik. Sein eigentlicher, unverblasster, heute immer noch zunehmender Ruhm beruht auf den von ihm in den sogenannten „Sudelbüchern“ aufgezeichneten, erstaunlich vielseitigen, weit über das Gebiet der Physik hinausgreifenden Notizen, die ihn nicht nur als einen der großen Aphoristiker des deutschen Sprachbereichs, sondern auch als einen der klügsten und ideenreichsten Menschen nicht nur des Aufklärungszeitalters ausweisen. Indem Schöne seine Untersuchungen auf Lichtenbergs Verwendung des Konjunktivs, also einer grammatischen Form des Verbums konzentriert, geht er von einer Fragestellung aus, für deren Behandlung in der Tat niemand kompetenter ist als der Sprachwissenschaftler. Er informiert den Leser zunächst über die Ergebnisse bereits vorliegender, umfangreicher sprachstatistischer Auszählungen, die den Gebrauch des Konjunktivs in unserer Gegenwart, in der Zeit Lichtenbergs und vor allem natürlich bei Lichtenberg selbst zum Gegenstand haben, aufgeschlüsselt nach den verschiedenen Modi und Zeitstufen, in denen diese Form des Verbums begeg-

1 Albrecht Schöne, Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive, München 31993.

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net. Dabei macht er auf Lichtenbergs Vorliebe für den Gebrauch konjunktivischer Konditionalgefüge ebenso aufmerksam wie auf seine Gewohnheit, Fragen in konjunktivischer Gestalt zu formulieren. Die linguistische Auswertung der sprachstatistischen Befunde unterstreicht zunächst die höchst signifikante Neigung Lichtenbergs, sich konjunktivischer Ausdrucksweisen in einem Maße zu bedienen, mit dem er ganz aus dem Rahmen der zu seiner Zeit gängigen Sprachgewohnheiten fällt. Diese Neigung sticht so sehr in die Augen, dass Schöne geradezu, personorientiert, von der „konjunktivischen Existenzform“ Lichtenbergs und von den ihm aus „lebenslangem Konjunktivzwang“ zugewachsenen produktiven Energien spricht2. Geht man ins einzelne, um die Gelegenheiten zu charakterisieren, bei denen Lichtenberg konjunktivische Ausdrücke bevorzugt, so findet man sie in besonderer Häufung dort, wo er von der Methodik der Naturwissenschaften handelt und Überlegungen zur Funktion der Hypothese und zur Struktur des Experiments, im besonderen aber zu der komplementären Verknüpfung dieser beiden Elemente anstellt: „Die konjunktivisch angelegte Hypothese fordert und steuert das konjunktivisch gefaßte Experiment.“3 Die Hypothese markiert gleichsam den Fluchtpunkt einer bestimmten Verwendungsweise des Konjunktivs, der sich bei Lichtenberg damit als das ihrer Formulierung angemessene grammatische Element erweist, zumal da gerade er es erlaubt, Möglichkeiten zu thematisieren, bei denen es offen bleiben kann, ob sie realisiert werden oder nicht. Schöne präsentiert eine Fülle von Detailinterpretationen einschlägiger Textperikopen und spricht schließlich von einer für Lichtenberg charakteristischen Hypothesenbereitschaft, als deren grammatisches Vehikel der Konjunktiv diene. Er greift eine Formel Lichtenbergs auf, wenn er vom Konjunktiv als von einem „Zeichen für Aufklärung“, von einem „skeptischen, hypothetischen und experimentellen Konjunktiv“ spricht, der für Lichtenberg, einem Ausdruck aus den Sudelbüchern gemäß, zu einem „Finder für alle Dinge“ geworden sei4. Die konjunktivisch formulierte Hypothese kann demnach also auch heuristische Funktionen erfüllen. Man würde gewiss übertreiben, wollte man die von Schöne erhobenen Befunde und deren Interpretation zum Anlass nehmen, voreilig von einer Aufklärung aus dem Geiste des Konjunktivs zu sprechen. Gleichwohl macht die „Hypothesenbereitschaft“ Lichtenbergs und sein am Leitfaden von Hypothesen vorgehendes Denken eine Spur sichtbar, der ich im Folgenden weiter nachgehen will. Denn es besteht Grund zu der Vermutung, dass

2

Ebd. S. 126. Ebd. S. 71. 4 Ebd. S. 45, 67, 76. 3

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sich in seinen hypothetischen Formulierungen nicht lediglich eine individuelle Eigentümlichkeit des Sprachstils einer bestimmten Person ausdrückt, sondern dass hier Lichtenbergs Hellsichtigkeit für Denkformen manifest wird, von denen die neuzeitliche Wissenschaft insgesamt geprägt ist, deren universale Bedeutung freilich erst viel später allgemeine Anerkennung gefunden hat. Gewiss hat die Wissenschaft auch in früheren Epochen ihrer Geschichte von Hypothesen Gebrauch gemacht. Doch dort erfüllten sie zumeist nur die Funktion von Hilfsmitteln wissenschaftlicher Arbeit, ohne dass man ihnen deswegen schon den Rang von Knotenpunkten oder von tragenden Elementen im Aufbau der mit Hilfe dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnis zugestehen müsste. Setzt man an dieser Stelle an, so sollte man, um möglichen Verwirrungen vorzubeugen, sich zuvor noch Rechenschaft darüber geben, dass man heute in unterschiedlichem Sinn von Hypothesen spricht und zu unterschiedlichen Zwecken von ihnen Gebrauch macht. Sie können einem in Gestalt von ausformulierten Sätzen begegnen, die bestimmte Funktionen innerhalb von Satzsystemen erfüllen. So können sie beispielsweise als Voraussetzungen, als Bedingungen fungieren, unter denen man gegebene Sachverhalte erklärt oder künftige Ereignisse prognostiziert. Mit Hypothesen kann man auf der anderen Seite aber auch arbeiten, um sie selbst anhand einer Konfrontation mit der Erfahrung zu überprüfen, zu bestätigen oder zu verwerfen. Gemeinsam ist diesen Alternativen, dass die Sätze, die hier als Hypothesen fungieren, für sich keinen kategorischen, uneingeschränkten Wahrheitsanspruch erheben. Bei ihnen ist dieser Anspruch suspendiert, sei es vorläufig oder endgültig, aus welchen Gründen und zu welchen Zwecken auch immer. Isoliert betrachtet sind sie allenfalls Behauptungen im Wartestand. Für sie macht sich der Sprecher nicht stark, weil er sich von ihnen auf eine eigentümliche Weise distanziert. Insoweit ist der Konjunktiv in der Tat die ihnen angemessene verbale Ausdrucksweise. Als Hypothesen bezeichnet man manchmal freilich auch Sätze, die nicht oder noch nicht in Funktionszusammenhängen stehen, beispielsweise Sätze, die bloße Vermutungen ausdrücken, für die der Sprecher vielleicht optieren möchte, deren Wahrheitsanspruch er aber dahingestellt sein lassen muss, weil er sich für sie mangels überzeugender Gründe nicht stark machen kann. In diesen Zusammenhang gehören auch Aussagen, deren Wahrheitsgehalt nicht vom Sprecher, sondern vom Adressaten relativiert wird; das ist der Fall, wenn man heute im alltäglichen Diskurs eine Behauptung seines Gesprächspartners in abwertender Absicht als „bloß hypothetisch“ abtut. Hypothesen erfüllen die ihnen möglichen Funktionen indessen nicht nur dort, wo sie in Gestalt von explizit ausformulierten Sätzen vorkommen. In manchen Fällen treten sie nur in maskierter Gestalt auf, oder sie werden nur auf latente, untergründige Weise wirksam. Das ist der Fall bei jenen

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implizit bleibenden Voraussetzungen, über die sich der Wissenschaftler bei seiner Arbeit gewöhnlich gar keine Rechenschaft gibt und auch nicht zu geben braucht, ohne die er aber dieser Arbeit nicht nachgehen könnte. So sind beispielsweise verschwiegene, latent bleibende Voraussetzungen im Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, ja schon in jedem wissenschaftlichen Experiment inkorporiert. Es gehört zu den zentralen Aufgaben der Wissenschaftstheorie, sie aufzuspüren und auf den Begriff zu bringen. Im Folgenden soll von Hypothesen auch in jenem weiteren Sinn die Rede sein, in dem dieser Ausdruck auch alles das abdeckt, was ein Forscher beim Beginn seiner jeweiligen konkreten Arbeit voraussetzt oder – sei es ausdrücklich, sei es implizit und unreflektiert – immer schon vorausgesetzt hat. Im Gegensatz zu bestimmten Gewohnheiten der Alltagssprache, die das „bloß“ Hypothetische gerne abwertet, sollen hier mit der Rede von Hypothesen jedoch keinerlei abqualifizierende Konnotationen verbunden sein.

III Will man die Eigenart und die Tragweite des hypothesenorientierten Denkens im Bereich der neuzeitlichen Wissenschaft ausloten, an der sich die Aufklärer orientierten, so bietet sich für einen solchen Test zunächst der „Fall“ Kopernikus an. Gewiss kann man den Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543) nicht unter die Aufklärer einreihen oder ihn gar im Zentrum der Aufklärung verorten. Dennoch ist zu bedenken, dass dem mit seinem Namen verbundenen Fall eine für das Selbstbewusstsein der gesamten Neuzeit – übrigens auch für Lichtenberg – geradezu exemplarische Bedeutung zugewachsen ist. Mit der durch seine Berechnungen untermauerten Option für das heliozentrische Weltsystem geriet Kopernikus, mit welchem Recht auch immer, in die Position einer Symbolfigur für eine Wissenschaft, die als Quellen begründeter Erkenntnis nicht mehr Autorität und Tradition, sondern nur noch Verstand und Erfahrung akzeptierte und die es auf sich nahm, zum kirchlichen Lehramt, insofern es dem durch wörtlich verstandene biblische Texte gestützten geozentrischen Weltsystem verpflichtet war, auf Distanz zu gehen. Unter den Bedingungen dieser Konstellation konnte die Differenz der beiden kosmologischen Systeme in der Folgezeit zu einem Konflikt zwischen vernünftiger Erkenntnis und widervernünftigem, weil nur durch Autorität gestütztem Dogma hochstilisiert werden. Wir wissen nicht mit hinreichender Sicherheit, welchen formalen Status Kopernikus selbst seinem Weltsystem zuordnete und welchen Erkenntnisanspruch er mit diesem System verband, das er, antike Ansätze aufnehmend und mit Berechnungen weiterentwickelnd, zur Diskussion stellte. Was wir von ihm wissen, spricht aber ohne Zweifel dafür, dass ihm, einem treuen

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und gläubigen Sohn seiner Kirche, nichts ferner lag, als einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen oder gar Kernbereiche der christlichen Glaubenslehre zur Disposition zu stellen. Lehrreich ist das – anonym bleibende – Vorwort, das sein im Jahre 1543 erschienenes Hauptwerk „De revolutionibus orbium coelestium libri VI“ einleitet. Es handelt sich um einen Text, der aus der Feder des Mitherausgebers Andreas Osiander (1498–1552), eines lutherischen Theologen, stammt. Er macht sich für die These stark, dass Kopernikus gerade kein neues Weltsystem propagieren, sondern lediglich ein neues astronomisches Berechnungssystem anbieten wollte, das sich gegenüber den höchst komplizierten Kalkulationen, wie sie das geozentrische System für die Berechnung der Planetenbahnen verlangt, durch seine unvergleichlich größere Einfachheit und Übersichtlichkeit auszeichnet. Nach dieser Deutung erhebt die von Kopernikus vorgestellte Theorie nicht den Anspruch, real existierende Sachverhalte korrekt und unverkürzt abzubilden, also nicht den Anspruch, unmittelbare und unverrückbare Wahrheit zu repräsentieren. Dieser Theorie kommt ineins mit den ihr zugrunde liegenden Berechnungstechniken nur der Status einer Arbeitshypothese zu. In Osianders Interpretation des kopernikanischen Weltsystems hat man oft nur ein taktisch motiviertes Kompromissangebot gesehen, das es ermöglichen sollte, den Wahrheitsansprüchen der ihre Dogmen verwaltenden Kirche entgegenzukommen, wenn nicht gar zu genügen. In der Tat stellt diese Deutung die beiden Weltbilder gar nicht in Augenhöhe einander gegenüber. Sie konfrontiert vielmehr ein mit dem Anspruch auf unbedingte Wahrheit auftretendes Bild der natürlichen Welt mit einer hypothetischen Annahme, deren Realitätswert dahingestellt bleiben kann, solange sie nur dafür in Anspruch genommen wird, dem Forscher eine Methode an die Hand zu geben, die es ihm erlaubt, mit weitaus geringerer Mühe Beobachtung und Berechnung astronomischer Phänomene aufeinander zu beziehen und zur Deckung zu bringen, als dies auf der Grundlage der bisher verwendeten, ungleich komplizierteren Techniken möglich war. Diese Deutung konfrontiert mithin zwei Elemente, die auch unabhängig von ihren inhaltlichen Differenzen schon im Hinblick auf den ihnen zukommenden formalen Status verschiedenen Ebenen zuzuordnen sind. Trotzdem kann man jene Kopernikaner verstehen, die sich mit einer derartigen Differenz im Hinblick auf Rang und Status der beiden Weltsysteme nicht zufrieden geben wollten, weil ihnen schien, dass die Leistung von Kopernikus degradiert, wer seinem heliozentrischen System lediglich den Status einer „bloßen“ Hypothese zugesteht. So distanzierten sie sich von der methodologisch zentrierten Interpretation Osianders und machten sich für eine objektiv-realistische Deutung stark, gemäß der das kopernikanische System die real existierenden Verhältnisse korrekt und unverkürzt abbildet. Dass Osiander die Leistung von Kopernikus mit seiner hypothesenorientierten Deutung nicht entwer-

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ten wollte und sie in Wirklichkeit auch gar nicht entwertet hatte, war diesen Kopernikanern jedoch nicht klar. Die weitere Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft hat dann deutlich gemacht, dass der Kern entscheidender Innovationen nicht selten gerade darin besteht, eine neue Hypothese zur Diskussion zu stellen, die der Forschung eine Richtung vorzeichnet, auf der ihr die Chance geboten wird, neuartige und fruchtbare Ergebnisse zu erzielen. Eine solche Hypothese kann auch die Gestalt eines Rechenverfahrens oder eines Koordinatensystems haben, hinsichtlich dessen Wahl der die Techniken der Koordinatentransformation beherrschende und allenfalls an Zweckmäßigkeitserwägungen gebundene Forscher weitgehend frei entscheiden kann. Gerade vor diesem Hintergrund betrachtet impliziert Osianders Deutung in der Tat keine Abwertung der kopernikanischen Innovation, sondern eher eine Aufwertung des Hypothetischen, das auf diese Weise mit einer neuartigen Dignität ausgestattet wird. Einem heutigen Betrachter, der längst skeptisch geworden ist in Bezug auf die Möglichkeit, eine unabhängig von allen Voraussetzungen gültige, objektiv-gegenständliche Wahrheit in den Griff zu bekommen, dürfte es jedenfalls nicht schwerfallen, der Auffassung Osianders beizupflichten. Den Bedingungen, unter denen der moderne Forscher seiner Arbeit nachgeht, steht sie näher als der naive Realismus der orthodoxen Kopernikaner. Das gilt ohne Rücksicht darauf, wie es um die für uns unmittelbar kaum greifbare Selbstdeutung von Kopernikus bestellt ist. Denn wenn man seinem System den formalen Status einer Hypothese zuschreibt, tastet man das ihm eigene Erklärungspotential nicht an, sondern stellt es allererst in ein Licht, das seinen in methodologischer Hinsicht für die neuzeitliche Wissenschaft paradigmatischen Charakter deutlich macht. Deswegen wird man Osiander zumindest in dieser Hinsicht den Rang eines der Ahnherren eben dieser Wissenschaft zugestehen dürfen. Osiander brauchte mit seiner hypothetisch orientierten Deutung des kopernikanischen Weltsystems den scheinbar höher stehenden kategorischen, von der kirchlichen Autorität gestützten Wahrheitsanspruch der ptolemäischen Tradition nicht zu bekämpfen, weil er ihn auf sich beruhen lassen, ihn gleichsam unterlaufen konnte. Wer sich seiner Interpretation anschließt, braucht sich auch nicht dadurch beirren zu lassen, dass Kopernikus, anders als sein Nachfolger Johannes Kepler (1571–1630), noch nicht über die Voraussetzungen verfügte, unter denen er nicht nur der Kinematik, sondern auch der Dynamik der Planetenbewegungen hätte gerecht werden können. Doch die Überlegenheit dieser Deutung ist nun einmal nicht inhaltlich, sondern methodologisch begründet. Sie beruht darauf, dass sie auf exemplarische Weise jenes hypothetisch orientierte Denken und Erkennen repräsentiert, dem in der neuzeitlichen Wissenschaft die Zukunft gehören sollte. Es ist ein Denken, das sich mit dem bloßen Sachgehalt seiner Ergeb-

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nisse nicht zufrieden gibt, weil es weiß, dass man niemals die Voraussetzungen ausblenden darf, unter denen sie erarbeitet worden sind. Der Sache nach kann ein solches Denken denn auch darauf verzichten, das letzte Wort behalten zu wollen. Es ist ein Verzicht, der keinen Mangel, sondern die eminenten produktiven Potenzen eines Denkens anzeigt, das immer damit rechnen darf und sogar rechnen muss, dass jede, auch eine gute und ergebnisträchtige Voraussetzung eines Tages immer noch durch eine andere, vielleicht noch bessere ersetzt werden kann. Es betreibt Wissenschaft unter Auspizien, unter denen sie sich an jedem Punkt stets noch für weitere Entwicklungen, oder – wie man seit der Aufklärung zu sagen pflegt – für den Fortschritt offenhalten kann. So muss sich das hypothetische Denken darauf einstellen, dass alle seine Resultate immer nur gleichsam auf Abruf gelten. Es kann den Zauberkreis des Vorläufigen nicht verlassen und seinen Resultaten niemals unüberholbare Endgültigkeit garantieren5. Eben das ist der Preis, den dieses Denken dafür zahlen muss, dass es der Wissenschaft den Raum für ein prinzipiell unbegrenztes Fortschreiten eröffnen kann. Wer ernsthaft für die Idee eines derartigen Fortschreitens optiert, hat damit zugleich seine eigene Position relativiert. Schließlich war ja auch das heliozentrische System, welchen formalen Status man ihm auch immer zuschreiben mag, nicht das letzte Wort in der Auseinandersetzung um das „richtige“ Weltsystem. Es wurde spätestens relativiert, als seine Einbettung in das System unserer Galaxis offenkundig geworden war. Richtet man den Blick auf den „Fall“ Galilei, so lassen sich Berührungspunkte zum Fall Kopernikus ausmachen, zumal da Galileo Galilei (1564–1642) sowohl der Sache als auch seinem Selbstverständnis nach der Tradition der von Kopernikus ausgelösten Wende verpflichtet war. In dem von der Inquisition gegen ihn angestrengten Prozess wurde ihm denn auch gerade sein Kopernikanismus vorgeworfen. Vor allem im Blick auf diesen Prozess wurde er, fast in noch höherem Maße als Kopernikus, zu einer Kultfigur, manchmal sogar gar zu einem Märtyrer der neuzeitlichen Wissenschaft hochstilisiert. Gerade unter dem Blickwinkel der Aufklärer schien er auf vorbildliche Weise eine Grundhaltung zu verkörpern, die in

5 Ernst Cassirer macht darauf aufmerksam, wie diese Einsicht gerade von der Aufklärung fruchtbar gemacht wurde. In dem Kapitel „Die Denkform des Zeitalters der Aufklärung“ seines Aufklärungsbuches fasst er zusammen: „Der Begriff des ‚Prinzips‘ selbst verzichtet […] auf jenen absoluten Charakter, den er in den großen metaphysischen Systemen des siebzehnten Jahrhunderts für sich in Anspruch nahm. Er begnügt sich mit einer relativen Gültigkeit; er will nur einen jeweilig-letzten Haltpunkt bezeichnen, zu dem das Denken in seinem Fortgang gelangt ist: mit dem Vorbehalt, dass es auch ihn wieder verlassen und überschreiten kann.“ (E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 1998, S. 27)

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Fragen der Wahrheit und der Erkenntnis nicht bereit ist, sich einer Autorität unterzuordnen, weil sie allein der Erfahrung und dem eigenen, autonomen Urteil vertraut. Es würde indessen zu weit führen, an dieser Stelle auf die Details des von der Forschung vielfältig und kontrovers behandelten Galilei­prozesses einzugehen, dessen Überlieferung ihn zudem mit Legenden und Ideologien überlagerte, nicht selten auch verzerrte. Doch gerade in unserem gegenwärtigen Zusammenhang, in dem es um die Funktion und die Tragweite des hypothetischen Denkens, um die „Hypothesenbereitschaft“ geht, sollte man nicht übersehen, dass es ein hoher Würdenträger der Kirche, nämlich der Kardinal Roberto Bellarmino (1542–1621) war, der Galilei in jenem Prozess eine goldene Brücke mit einem Vermittlungsvorschlag zu bauen bereit war, der genau auf der Linie lag, die Osiander in Bezug auf Kopernikus verfolgt hatte. Das wird auch aus einem Brief deutlich, in dem er schreibt, es schiene ihm, Galilei täte klug daran, sich damit zu begnügen, nicht absolut, sondern ex suppositione, also unter einer Voraussetzung, zu argumentieren, wie es Kopernikus getan habe. Sage man nämlich, vorausgesetzt, die Erde bewege sich und die Sonne stehe still, werde man allen Erscheinungen besser gerecht, als wenn man mit exzentrischen Kreisen und Epizyklen arbeite. Auf diese Weise sei das vorzüglich ausgedrückt und mit keiner Gefahr verbunden; eben dies aber genüge dem Mathematiker6. Dem Mathematiker – und nicht nur ihm, sondern auch dem Physiker – kann es in der Tat genügen. Der Kardinal hatte recht, zumal da ihm die mit dem kopernikanischen Ansatz verbundenen Möglichkeiten der Erklärung und der Berechnung deutlich waren. Er war zu einer Konzession bereit, weil er einsah, dass sich hypothetisches Argumentieren, kunst­gerecht praktiziert, auf einer Ebene bewegt, auf der es mit den Ansprüchen institutionell abgesicherter Verwaltung von mit unbedingtem Wahrheitsanspruch ausgestatteten Dogmen nicht kollidiert. Die Kirche machte sich denn auch schließlich die Position des Kardinals zu eigen, indem sie das kopernikanische Weltbild als solches indizierte, den hypothetischen Umgang mit der ihm zugrunde liegenden Theorie hingegen zu dulden bereit war. Galilei hätte sich nichts vergeben, wenn er den Anspruch auf den Besitz einer voraussetzungslos, absolut gültigen Wahrheit fallen gelassen hätte. Aber er sah noch nicht, dass der Forscher seine Arbeit keineswegs degradiert, wenn er sich für sie und für deren Ergebnisse den Regeln des hypothetischen Denkens verpflichtet. Denn dies gereicht ihm sogar zum Vorteil, weil dieses Denken der Forschung eine Dynamik verleiht, die ihr eine unabsehbare

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Vgl. den Brief Roberto Bellarminos an Paolo A. Foscarini vom 12.4.1615, in: Le Opere di Galileo Galilei, Edizione Nazionale Bd. XII, Firenze 1902, S. 171 f.

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Fülle von immer neu zu erprobenden Möglichkeiten eröffnet. Natürlich ging es dem Kardinal in erster Linie darum, eine Grenze zu markieren, an der sich der Wahrheitsanspruch der Kirche, wie es schien, mit Aussicht auf Erfolg verteidigen ließ. Man wird ihm jedoch bescheinigen dürfen, dass gerade er mit seiner Freigabe des hypothetischen Denkens der wissenschaftlichen Forschung nicht nur keine Hindernisse in den Weg legte, sondern ihren Interessen und ihren Bedürfnissen sogar entgegenkam.

IV Der Gewinn, den die Wissenschaft aus dem hypothesenorientierten Denken ziehen kann, lässt sich nicht nur dort studieren, wo es, wie im Fall Kopernikus, im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen über Vorstellungen und Bilder von der Welt im ganzen praktiziert wird, sondern ebenso dort, wo die Detailforschung von ihm Gebrauch macht. Wendet man es in ihrem Bereich an, hat man den Vorzug, sich nicht darum bemühen zu müssen, partikuläre Entdeckungen in ein vorgegebenes Weltbild einzuordnen. Den Streit über Weltbilder und Weltanschauungen kann man in diesem Fall auf sich beruhen lassen, weil dieses Denken stets einen beliebigen Sachverhalt in der Welt der Erfahrung auswählen und an ihm ansetzen kann, um ihn unter der Voraussetzung bestimmter Bedingungen, eben unter Hypothesen zu betrachten und zu erforschen. Dabei ist es nicht so sehr von Belang, woher diese Voraussetzungen stammen und welche Ziele man mit ihrer Hilfe verfolgen will, ob sie der Forschung den Weg weisen oder ob mit ihrer Hilfe bereits vorliegende Resultate überprüft werden sollen, ob sie selbst zur Bestätigung oder zur Verwerfung anstehen oder ob es darum geht, auf ihrer Basis anderes zu bestätigen oder zu verwerfen. Solche Voraussetzungen kann der Forscher im Prinzip frei wählen, und er kann sie deswegen auch wieder abwählen und gegen andere Voraussetzungen austauschen. Aus diesem Grund stehen sie ihm in praktisch unbegrenzter Anzahl zur Verfügung. Es kennzeichnet jedenfalls die moderne Wissenschaft, dass sie auf ihren jeweiligen Gegenstand nicht unbefangen, gleichsam naiv, in seiner unmittelbaren Gegebenheit, sondern immer nur unter von ihr selbst gewählten Voraussetzungen zugreift. Lehrreich ist in diesem Zusammenhang die Kritik, die Descartes (1596– 1650) in einem an seinen Freund Marin Mersenne (1588–1648) gerichteten Brief an Galilei übt, allerdings gerade nicht an dessen Kopernikanismus, sondern an den Untersuchungen der Fall- und der Wurfbewegung: „Sein Fehler ist, daß er beständig abschweift und niemals seinen Stoff erschöpft, woraus man erkennt, daß er ihn nie ordnungsgemäß geprüft, und daß er, ohne die ersten Gründe der Natur zu betrachten, lediglich die Ur­sachen

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eini­ger besonderer Vorgänge gesucht hat, so daß er ohne Fundament gebaut hat.“7 „Ohne die ersten Gründe der Natur zu betrachten“ – damit trifft Descartes den springenden Punkt, ohne freilich dessen Tragweite richtig einzuschätzen, ohne sich darüber klar zu sein, dass man Galilei dort, wo er nach den Ursachen partikulärer Naturvorgänge suchte, die von ihm praktizierte Verfahrensweise nicht gut zum Inhalt eines Vorwurfs machen kann. Denn Galilei legte seine Untersuchungen ja so an, dass er es mit seiner reale wie auch mentale Experimente einsetzenden, also mit Voraussetzungen vorgehenden Methode ermöglichte, über partikuläre Sachverhalte auch dann – und gerade dann – begründungsfähige und nachprüfbare Erkenntnisse zu gewinnen, wenn man es dahingestellt sein lässt, wie es sich mit dem Fundament, nämlich mit den ersten Gründen der Natur verhält. Auf sie braucht man in diesem Fall gerade nicht mehr zu rekurrieren. Wenn der Wissenschaftler mit Hilfe derartiger Methoden an jeder beliebigen Stelle inmitten der Welt der Erfahrung mit seiner Arbeit ansetzen darf, braucht er nicht darauf zu warten, dass ihm der Grundlagenforscher seine Resultate präsentiert. Das ist einer der Gründe dafür, dass sich die neuzeitliche Erfahrungswissenschaften in die Breite und vor allem ins Detail entwickeln konnten, wie dies auf andere Weise schwerlich möglich gewesen wäre. Ihre erstaunlichen Erfolge waren bedingt durch die Fähigkeit des hypothetischen Denkens, sich auf Sachverhalte zu konzentrieren, die in Bedingungszusammenhänge entweder schon eingebettet sind oder sich in sie einbetten lassen. Diese Zusammenhänge erleichtern es einem, geeignete Voraussetzungen zu wählen, unter denen die Analyse derartiger Sachverhalte fruchtbare Resultate erwarten lässt. Zudem erlaubt es jene Fähigkeit, die konkrete Detailforschung gegenüber allem abzuschirmen, was sich hinter ihrem Rücken befindet. So kann das hypothetische Denken mit gutem Gewissen alles ausklammern und auf sich beruhen lassen, was mit dem Anspruch auf Unbedingtheit auftritt und sich schon deswegen in Bedingungszusammenhänge nicht fassen und nicht einfügen lässt. Ohnehin verbindet eine Wissenschaft, die ein solches Denken praktiziert, ihre Geltungsansprüche weder mit den Hypothesen als solchen noch mit Aussagen über Sachverhalte, die aus dem hypothetischen Zusammenhang isoliert werden. Sie zielt mit ihren Intentionen vielmehr auf die Verknüpfungen von Voraussetzungen und Sachverhalten. Selbstredend kann auch eine diesem Muster verpflichtete Forschung nicht gänzlich auf Prinzipien verzichten. Freilich ist sie nicht auf inhaltsbezogene oberste Axiome angewiesen, wohl

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Œvres de Descartes, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, Bd. 2: Correspondance Mars 1638–Decembre 1639, Paris 1898, S. 380. Übersetzung zitiert nach Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, S. 402.

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aber auf Prinzipien methodologischer Natur, die ihre Arbeit regulieren. So ist es kein Zufall, dass der Begriff der Methode zu einem der Leitbegriffe der neuzeitlichen Wissenschaft geworden ist. Das Ausklammern von allem, was mit dem Anspruch auf Absolutheit und Unbedingtheit auftritt, gehört zu den bleibenden Errungenschaften der neuzeitlichen Wissenschaft. In ihrem Einzugsbereich wurde es möglich, dass sich gerade unter dem Dach der Aufklärung Wissenschaftler und Laien, Gläubige und Ungläubige, Skeptiker, Atheisten und religiös Gleichgültige begegnen konnten. Vor einem solchen Hintergrund wird auch das merkwürdige Phänomen verständlich, dass Angehörige anderer Kulturkreise von den Errungenschaften der europäischen Entwicklung die neuzeitliche Wissenschaft mitsamt der auf ihr aufbauenden Technik rezipieren konnten, ohne sich deswegen von Traditionen und Glaubensüberzeugungen ihrer eigenen Kultur distanzieren zu müssen. Es gehört zu den Leistungen des hypothetischen Denkens, dass sich auf seiner Basis ein Typus von Wissenschaft, sogar strenger Wissenschaft, herausbilden konnte, deren Resultate nicht letztbegründet sind, einer Letztbegründung sogar noch nicht einmal bedürfen. Ob es notwendig, oder überhaupt sinnvoll ist, nach einer Letztbegründung alles Wissens zu streben, gehört zu den alten, aber ständig aktuell gebliebenen Kernproblemen der Philosophie. Zu den Aufgaben der positiven Wissenschaften neuzeitlichen Zuschnitts, die sich gegenüber der Philosophie emanzipiert haben, gehört die Letztbegründung alles Wissens dagegen nicht. Diese Wissenschaften müssen sich damit abfinden, dass sie mit ihren Mitteln niemals im strengen Sinne unbedingtes, schlechthin unüberholbares Wissen gewinnen, wohl aber Resultate erarbeiten können, die relative, nämlich von den jeweiligen Voraussetzungen abhängige und auf sie bezogene Gewissheit in Anspruch nehmen dürfen. Auf diese Potenz des hypothetischen Denkens hat Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) auf die ihm eigene, logisch präzise Weise aufmerksam gemacht. In seinen „Nouveaux Essais“, den einer in Dialogform geführten Auseinandersetzung mit John Locke (1632–1716) gewidmeten „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“, distanziert er sich an einer Stelle durch den Mund des fiktiven Dialogpartners Theophilus zunächst von Versuchen, Erkenntnis allein auf der Grundlage von Prinzipien zu gewinnen, die auf bloßer Willkür beruhen. Trotzdem gesteht er zu, „daß selbst Grundsätze, die nicht völlig gewiß sind, ihren Nutzen haben können, wenn man nur durch Beweisführung darauf weiter baut. Denn obwohl in diesem Falle alle Schlußfolgerungen nur bedingte Wahrheit besitzen und nur unter der Voraussetzung gelten, daß jenes Prinzip wahr ist, so wären doch zum mindesten dieser Zusammenhang selbst und diese bedingten Urteile erwiesen – so daß sehr zu wünschen wäre, daß wir viele

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auf diese Art geschriebene Bücher hätten, wobei, wenn der Leser oder der Lernende von der Bedingung unterrichtet wäre, keine Gefahr des Irrtums bestünde“8.

V Bücher dieser Art gibt es heute zuhauf. Denn was Leibniz an der zitierten Stelle skizziert, macht den logischen Kernbestand dessen aus, was man heute die hypothetisch-deduktive Methode nennt. Es ist eine Methode, die mittlerweile als Königsweg der erfahrungswissenschaftlichen Forschung anerkannt ist. Wer dieser Methode folgt, geht immer von bestimmten Voraus­setzungen aus, unter denen er bestimmte Sachverhalte untersucht. Das schließt nicht die Möglichkeit aus, hinter sie auch einmal zurückzufragen, beispielsweise dann, wenn es darauf ankommt, ein mit Hilfe dieser Methode gewonnenes Stück Erkenntnis in ein umfassenderes Forschungsprogramm einzuordnen. Die Gültigkeit der jeweiligen Verknüpfung zwischen Voraussetzung und Folge wird davon jedoch nicht berührt. Sie hängt nicht davon ab, welche Funktionen man einer Verknüpfung abverlangt, wenn man sie in ein umfassenderes System als eines seiner Elemente einbaut. In die landläufigen, im Regelfall sprachlich verkürzten Ausformulierungen von am Leitfaden des hypothetischen Denkens erarbeiteten Resultaten werden die Voraussetzungen in vielen Fällen nicht explizit aufgenommen. Das kann leicht zu dem Irrtum verführen, dass man es bei ihnen mit gewöhnlichen kategorischen Behauptungen zu tun hat. Wer diese Ausdrücke auf ihre logische Tiefenstruktur hin untersucht, stößt indessen auf Wenn-Dann-Aussagen, in denen die jeweilige Voraussetzung als eines ihrer Elemente figuriert. Die auf diese Weise sprachlich elaborierten Aussagen machen deutlich, dass sich ein allfälliger Wahrheitsanspruch nur mit ihnen, aber nicht unmittelbar mit ihren Teilaussagen verbinden lässt. Auch wenn sich die Voraussetzungen in der Forschungspraxis immer wieder bewährt haben, können jene Aussagen ihren hypothetischen Status prinzipiell niemals ablegen. Diesem Typus der Wenn-Dann-Aussagen gehören im übrigen auch jene schon eingangs erwähnten Sätze an, für deren Formulierung sich Lichtenberg, seinem hoch entwickelten Sensorium für logisch-grammatische Strukturen getreu, des konjunktivischen Konditionalgefüges bedient hat.

8 Leibniz, Nouveaux Essais IV, cap. XII, § 6, zit. nach G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers., eingeleitet u. erläutert v. Ernst Cassirer, Hamburg 1971, S. 540 [= S. 485 f. in der Neuausgabe von 1996].

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Nicht nur bei den Sätzen, mit denen empirische Disziplinen ihre Ergeb­ nisse ausdrücken, fördert die Analyse ihrer logischen Tiefenstruktur hypothetische Aussagen, Wenn-Dann-Aussagen zutage. Entsprechendes gilt auch für Sätze einer nicht-empirischen Disziplin wie der Mathematik. Die Mathematik der klassischen Tradition hatte sich nach dem Vorbild der Geometrie Euklids über eine lange Zeit an Axiomen orientiert, die sie mit einem durch Evidenz beglaubigten Wahrheitsanspruch ausstattete. Der moderne Mathematiker verlangt dagegen von seinen Axiomen keine ihren Inhalt beglaubigende oder gar letztbegründende Evidenz mehr. Er geht von Axiomen aus, die auf Grund einer Konvention vorausgesetzt werden und deswegen keinen eigenen Wahrheitsanspruch erheben. Sein Augenmerk richtet er auf die deduktiven Relationen, die zwischen den so vorausgesetzten Axiomen und den aus ihnen abgeleiteten Theoremen bestehen. Seine Resultate sind denn auch, analysiert man sie auf ihre formale Struktur hin, nicht die einzelnen aus ihrem Systemzusammenhang isolierten Theoreme, die ebenfalls keinen eigenen Wahrheitsanspruch erheben, sondern jene Wenn-Dann-Sätze, die Axiome und Theoreme verknüpfen. So kann gerade auch die Entwicklung der Mathematik vor Augen führen, inwiefern der Verzicht auf einen eigenen, inhaltsbezogenen Wahrheitsanspruch der Axiome keinen Verlust, sondern einen Gewinn darstellt, weil die Möglichkeit der Konstruktion von Hypothesengefügen eine Fülle neuer, vordem noch nicht einmal erahnbarer Möglichkeiten eröffnet. Gehört es zu den Möglichkeiten der Wenn-Dann-Aussagen, sich zu komplexeren Gebilden verknüpfen zu lassen, so lässt sich jede Voraussetzung auch als Folge einer noch höheren Voraussetzung, jede Folge als Voraussetzung weiterer Folgen begreifen, nach denen man dann auf die Suche gehen kann. Auf diese Weise kann man immer komplexere Netzwerke von Bedingungen und Bedingtem knüpfen, ohne auf diese Weise an eine Grenze zu gelangen, an der sich ein Unbedingtes zeigen würde. Das gilt auch für die Grundlagenforschung, sofern sie nach den Voraussetzungen auch dessen fragt, was man gewöhnlich als schon bekannt und erwiesen ansieht. Auch sie darf sich niemals Hoffnungen machen, einmal an die Grenzen der Welt des Bedingenden und des Bedingten zu stoßen. Damit ist nicht gesagt, dass Unbedingtes den Intentionen des Menschen schlechterdings unzugänglich wäre. Dem Zugriff der in ihrer neuzeitlichen Gestalt betriebenen Wissenschaft bleibt es jedoch entzogen. Deswegen taugt diese Wissenschaft auch nicht dazu, die Basis einer Weltanschauung abzugeben. Eine wissenschaftliche Weltanschauung, wie sie gelegentlich beschworen wird, ist ein Phantom. Dergleichen kann es schon deshalb nicht geben, weil es zu den Charakteristika einer Weltanschauung gehört, dass sie für sich Endgültigkeit und Unüberholbarkeit beansprucht. Wissenschaftliche Forschung führt dagegen stets nur zu Resultaten, die schon aus prinzipiel-

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len Gründen überholbar sind. Auch von hier aus wird verständlich, dass gerade mit der neuzeitlichen Wissenschaft die von der Aufklärung geforderte Toleranz hinsichtlich des seiner Natur nach ja stets auf ein Unbedingtes gerichteten religiösen Glaubens vereinbar ist. Die dem hypothetischen Denken verpflichtete Wissenschaft hat sich vom Bereich des Unbedingten distanziert. Damit hat sie zugleich den Weg freigegeben, auf dem sie ihre reichen Resultate einfahren konnte. Es fällt auf, dass Descartes, ein in seiner systematischen Fundamentalphilosophie allen Kompromissen abholder Klassiker des Letztbegründungsideals, gerade dort, wo er sich in den „Prinzipien der Philosophie“ der empirischen Erforschung der Natur zuzuwenden beginnt, dem hypothetischen Denken Tribut zollt. Anders als in seiner ein oberstes Prinzip alles Wissens anvisierenden Fundamentalphilosophie verzichtet er hier auf den Anspruch, unüberholbare Wahrheiten entdecken zu können; er will sich deswegen endgültiger Urteile enthalten und nur noch hypothetisch vorgehen. Auf die Wahrheit der Hypothesen, so lesen wir, komme es in diesem Fall gar nicht so sehr an. Die auf sie aufgewendete Mühe lohne sich selbst dann, wenn sie sich als falsch herausstellen sollten. Denn man könne sogar im Ausgang von falschen Hypothesen Ergebnisse erarbeiten, die mit der Erfahrung übereinstimmen. Für das Leben seien sie von nicht geringerem Nutzen als die Wahrheit selbst, gerade dann nämlich, wenn man von ihnen Gebrauch macht, um in der Natur Ursachenforschung zu betreiben oder um Wirkungen hervorzubringen, die man selbst geplant hat9. Dieses Zugeständnis in Bezug auf den Gebrauch falscher oder möglicherweise falscher Hypothesen überrascht weniger, wenn man sich daran erinnert, dass schon die aristotelische formale Logik die Möglichkeit kennt, aus falschen Prämissen wahre Konklusionen abzuleiten10.

VI Ausgehend von einem Charakteristikum des Lichtenbergschen Denkens habe ich versucht, die Bedeutung des hypothetischen Denkens für die neuzeitliche Wissenschaft anhand einiger Belege zu beleuchten. Nun könnte man einwenden, hier habe der Einfluss wissenschaftstheoretischer Lehrmeinungen, die zur Zeit der Aufklärung noch nicht entwickelt vorlagen, zu historisch anfechtbaren Extrapolationen verführt. Gewiss war das hypothetische Denken durch die Kompromissvorschläge Osianders und Bellarminos mit einer Dignität ausgestattet worden, die dem Kopernikanismus 9 10

Vgl. René Descartes, Principia Philosophiae, Amstelodami 1664, pars III, cap. 44. Vgl. Aristoteles, Analytica priora II, cap. 2–4.

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einen gewissen Schutz bot. Er erlaubte es, auf jeden Fall von dem mathematischen Potential der Heliozentrik Gebrauch zu machen und hielt überdies die Möglichkeit einer Weiterentwicklung offen. Doch die Begründer der neuzeitlichen Naturwissenschaft waren nicht so weit gegangen, dass sie sogleich ihre gesamte Arbeit mitsamt ihren Resultaten ausdrücklich unter das Prinzip des hypothetischen Denkens gestellt oder sie gar auf der Basis einer auf den Fallibilismus verpflichteten Wissenschaftstheorie interpretiert hätten. Daher bleibt zunächst noch offen, ob Lichtenberg mit der ihm eigenen „Hypothesenbereitschaft“ die Tiefenstruktur dieser Wissenschaft schärfer als seine Vorgänger und seine Zeitgenossen durchschaut oder doch nur die Randposition eines Außenseiters eingenommen hat. Auch die Väter der Aufklärung, die sich diese Naturwissenschaft zum Vorbild genommen hatten, haben allenfalls implizit, aber gewiss nicht ausdrücklich für das hypothetische Denken optiert. Man kann sogar manche Texte aus ihrer Feder beibringen, die eine deutliche Distanz gegenüber dem Umgang mit Hypothesen ausdrücken und ihren Gebrauch nur unter restrik­tiven Bedingungen billigen. Hier ist vor allem an den für das Wissenschaftsverständnis der Aufklärung zentralen „Discours préliminaire“ zu denken, mit dem d’Alembert das Gemeinschaftswerk der großen französischen „Encyclopédie“ einleitet. Auch dieser Text enthält keine detailliert ausgearbeitete Wissenschaftstheorie, wohl aber Elemente zu einer solchen Theorie. „Beobachtung und Berechnung“ und speziell „Experiment und Mathematik“ markieren hier das neue Methodenideal, das dem Forscher, der sich ihm verschreibt, die Chance bietet, begründbare Erkenntnis zu erarbeiten. Damit grenzt sich d’Alembert zugleich aber auch gegenüber denen ab, die sich damit zufrieden geben, bloße Hypothesen auszudenken, mit denen sie im Bereich des Vagen und des Unsicheren, des Willkürlichen und des Unverbindlichen verbleiben. Dieses „bloß“ Hypothetische repräsentiert für d’Alembert Gedanken minderen Ranges, die allenfalls der Phantasie schmeicheln, aber gewiss nicht den strengen Forderungen der Vernunft genü­gen können. Die Hypothesen, von denen er hier spricht, und von denen er sich ebenso wie manche andere Aufklärer distanziert, übernehmen keine Funktion innerhalb von kontrollierbaren Begründungssystemen; sie haben den Status von gleichsam freischwebenden, spekulativen Erdichtungen, die geistreich erscheinen mögen, aber dem Test einer Konfrontation mit der Welt der Beobachtung und der Erfahrung nicht unterzogen werden, ja gar nicht ausgesetzt werden können. Weil sie sich nicht bewähren müssen, bleiben sie für die Forschung funktionslos. In den Bedingungsgefügen, die wissenschaftliche Erkenntnisse untereinander verknüpfen, haben sie keinen Platz. Es sind jene Vorstellungen, die in der damaligen, heute allzu leicht Missverständnisse generierenden Terminologie auch als „Systeme“

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be­zeichnet wurden und später dann vor allem von Etienne Bonnot de Condillac (1714–1780) in einer ihrer Untersuchung gewidmeten, umfänglichen, auch den Bereich der Begriffsdichtungen einschließenden Arbeit einer vernichtenden Kritik unterzogen wurden. D’Alembert ist mithin weit davon entfernt, im „Discours préliminaire“ mit seiner Abgrenzung gegenüber solchen freischwebenden Hypothesen die Existenz impliziter Voraussetzungen einer fortschrittsfähigen wissenschaftlichen Forschung leugnen zu wollen, die sich der Techniken des Experiments und der Mathematik bedient. Dass sie bei ihm nicht unter dem Namen der Hypothese auftreten, steht dem nicht entgegen. Der Sache nach ist nämlich die von ihm unter der Formel „Beobachtung und Berechnung“ empfohlene Methodik dem hypothetischen Denken verpflichtet. Denn eben diese Methodik verlangt von den Berechnungen, deren sich der Forscher bedient, dass sie sich auf kontrollierbare Weise in dem weiten Feld beobachtbarer Fakten bewähren – ähnlich wie sich die von Kopernikus vorgeschlagenen heliozentrisch orientierten Berechnungen in Bezug auf die astronomischen Beobachtungen bewährt hatten, jedenfalls weitaus besser als die Berechnungen der Geozentriker. Will man der historischen Dimension von Forschung und Erkenntnis gerecht werden, darf man die Differenzen nicht übersehen, die zwischen der jeweils praktizierten Wissenschaft und der Deutung bestehen, die man ihr auf der Ebene der methodenkritischen Reflexion angedeihen lässt. Davon war eingangs bereits die Rede. Die jeweils praktizierte Wissenschaft wird von der auf sie gerichteten Reflexion, die ihre Fundamente auf den Begriff zu bringen sucht, gewöhnlich erst mit einer gewissen Verzögerung eingeholt. Wissenschaftlichen Innovationen begegnet man zunächst mit überkommenen, schon vorliegenden, aber der Sache nach nicht selten inadäquaten Deutungsmustern, die anhand anderer Substrate entwickelt worden sind. Deswegen kann der forschende Wissenschaftler nicht immer beanspruchen, zugleich auch der authentische Interpret der oft unausgesprochen bleibenden Voraussetzungen und Implikationen seiner Arbeit zu sein. Auch der Forscher unserer Tage arbeitet de facto nach Grundsätzen, wie sie von der fallibilistischen Wissenschaftstheorie formuliert worden sind. Niemand zwingt ihn indessen zu einer Methodenreflexion und schon gar nicht dazu, sich auch ausdrücklich zu dieser Theorie zu bekennen. Beschäftigt man sich mit der in einer vergangenen Zeit praktizierten Wissenschaft und versucht man, ihre Grundlagen und ihre Strukturen freizupräparieren, befindet man sich in einer Lage, die der eines Philologen ähnlich ist, der sich von niemandem verbieten lässt, bei seiner Beschäftigung mit archaischen Texten auch von modernen hermeneutischen Theorien und Techniken mitsamt der ihnen zugehörigen Fachterminologie Gebrauch zu machen, von Dingen also, die noch gänzlich außerhalb des Gesichtskreises

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der von ihm behandelten Autoren lagen. Wer solche Hilfsmittel verwendet, braucht sich deswegen jedenfalls keinen Mangel an historischer Treue vorwerfen zu lassen. Behält man die Verwerfungen im Auge, wie sie im Verhältnis real praktizierter Wissenschaft und der Selbstdeutung ihrer Vertreter entstehen können, braucht man sich nicht durch das Faktum verwirren zu lassen, dass auch im Einzugsbereich der Aufklärung, in dem die dem hypothetischen Denken verpflichtete Wissenschaft praktiziert wurde, das Leitbild einer unbedingt geltenden und prinzipiell unüberholbaren Wahrheit noch lange Zeit wirksam war. Autoritativ gestützte Ansprüche älterer Traditionen auf unüberholbare Wahrheit gehörten zu den Randbedingungen, unter denen das Denken der Aufklärung seiner eigenen Position Kontur gab. Sie bildeten den polemischen Kontext dieses Denkens, das sich allein auf die Autonomie der Vernunft und auf die ihr eigenen Methoden verlassen wollte. Aber auch damit verband sich zunächst immer noch die Hoffnung, irgendwann einmal Ergebnisse zu erzielen, die einen gesicherten, durch Unbedingtheit, Voraussetzungslosigkeit und Überzeitlichkeit ausgezeichneten Wahrheitsanspruch erheben können. Die Hoffnung auf einen für die Zukunft zu erwartenden, mit dem Besitz voraussetzungslos gültigen Wissens verbundenen natürlichen Abschluss der Arbeit in den Wissenschaften wird dagegen heute nur noch von wenigen geteilt. Kaum jemand erwartet noch, dass sich die Möglichkeiten, die Dinge immer wieder unter neuen Voraussetzungen, unter neuen Gesichtspunkten zu untersuchen und mit neuen Techniken in sie einzugreifen, irgendwann einmal erschöpft haben. Längst hat man sich daran gewöhnt, dass einen auch die großen Innovationen in der Wissenschaft einem natürlichen Ende ihrer Arbeit nicht näher bringen. Ohnehin haben derartige Innovationen regelmäßig im Gefolge, dass die Aufgaben der Wissenschaft wieder einmal schwieriger geworden sind. Solange man die Tragweite der neuen Hypothesenbereitschaft noch nicht überblickte, konnten die mit der Rede vom „bloß“ Hypothetischen verbundenen abwertenden Konnotationen noch lange Zeit lebendig bleiben. Sie konnten den Blick von der Tatsache ablenken, dass sich die neuzeitliche Wissenschaft von Anfang an in Netzwerken von Bedingendem und Bedingtem entwickelte, die keine Aussicht boten, innerhalb ihrer jemals zu einem nicht mehr hinterfragbaren Unbedingten zu gelangen. Neuzeitliche Wissenschaft war der Sache nach niemals voraussetzungslose Wissenschaft. Dies setzt ihr die für sie charakteristischen Grenzen, aber es lässt einen auch einsehen, warum ihr ihre erstaunlichen Erfolge gerade auf Grund ihrer Voraussetzungshaftigkeit beschieden waren.

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VII Ist von Reserven gegenüber Hypothesen im weiteren Umkreis der Auf­ klärung die Rede, sollte man zwei Aussprüche nicht übergehen, denen beinahe schon der Rang sprichwörtlicher Redensarten zugewachsen ist. So legte Isaac Newton (1643–1727) besonderen Wert auf die Feststellung, dass er keine Hypothesen erdichte. Mit seiner bald zum Schlagwort gewordenen Sentenz „Hypotheses non fingo“ wollte er in der zweiten Auflage seines systematischen Hauptwerks, den „Philosophiae naturalis principia mathematica“, bestimmten Fehldeutungen begegnen, die seine Theorie erfahren hatte. Diese Sentenz hat ausgedehnte Kontroversen in Bezug auf die Frage ausgelöst, wie der Ausdruck „Hypothesis“ hier zu verstehen ist, Kontroversen, die bis heute noch nicht zu einem einvernehmlichen Abschluss gebracht werden konnten. Sie findet sich in einem Kontext, der das Gravitations­ gesetz behandelt. Dieses Gesetz gibt die quantifizierten Beziehungen an, die zwischen der Schwerkraft und den Massen der Körper bestehen, auf die sie wirkt, und macht es möglich, die von dieser Kraft verursachten Bewegungen zu berechnen. Eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Gravitation lässt sich aus ihm jedoch nicht ableiten. Newton konnte mit seinem Gesetz angeben, in welcher Weise sich materielle Körper der Schwerkraft gemäß anziehen. Dagegen wollte er keine Antwort auf die Frage geben, warum überhaupt eine solche Kraft wirksam ist. Insoweit wollte er auch keine Hypothese ausdenken, zumal da er sie mit seinen Mitteln ohnehin nicht an der Erfahrung hätte erproben und für einschlägige Berechnungen fruchtbar machen können. Verträglich mit seinem Ansatz ist jedenfalls eine Deutung jener Sentenz, die den Ausdruck „Hypothesis“ lediglich auf nicht an der Erfahrung überprüfbare und deswegen nur „fingierte“ Mutmaßungen, Einfälle oder Begriffskombinationen hinsichtlich des Ursprungs der Gravitation bezieht, nicht aber auf die Bedingungen, unter denen diese Kraft wirkt und die es ermöglichen, die von ihr verursachten Bewegungen zu berechnen, und schon gar nicht auf die methodischen Voraussetzungen, auf deren Funktion jede planmäßig betriebene Forschung angewiesen ist. Freilich konnte Newton mit Hilfe seines Gravitationsgesetzes allein noch nicht die physikalische Stabilität des Sonnensystems erklären. So suchte er mit der empirisch nicht überprüfbaren Hypothese eines gelegentlich erforderlichen göttlichen Eingreifens in die Natur diese Erklärungslücke zu überbrücken. Bei der anderen Sentenz, die eine Reserve gegenüber der Erklärungskraft von Hypothesen dokumentiert, handelt es sich um einen Ausspruch, der ein Jahrhundert nach Newton von Pierre Laplace (1749–1827) formuliert worden war, nachdem es gelungen war, die physikalische Stabilität des

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Sonnensystems allein mit Methoden der Physik nachzuweisen. Es handelt sich um die legendär gewordene Antwort auf die ihm von Napoleon (1769–1821) gestellte Frage, welchen Platz in seinem physikalischen System Gott einnehme: Er habe diese Hypothese nicht nötig gehabt. Das ist durchaus nicht als eine ironisch formulierte Blasphemie zu verstehen, sondern als eine folgerichtige Konsequenz aus dem Ansatz einer autonom gewordenen Wissenschaft, der es mittlerweile gelungen war, die Planetenbewegungen im Sonnensystem mitsamt der Stabilität dieses Systems ausschließlich auf der Grundlage überprüfbarer und berechenbarer Eigenschaften innerweltlicher Sachverhalte zu erklären, ohne auf einen jenseitigen, unerforschlichen Schöpfer und Erhalter der Welt rekurrieren zu müssen. Newtons Annahme eines gelegentlichen göttlichen Eingreifens in die kosmischen Bewegungen war, auf ihre methodische Funktion hin gesehen, in der Tat eine Hypothese im eher abwertenden Sinne des Wortes. Sie markierte eine Lücke im Erklärungskontext und war schon deswegen ein Fremdkörper, weil der Physiker mit ihr nicht gemäß den auf berechenbare Größen zugeschnittenen Regeln umgehen konnte. Einer „Hypothese Gott“ bedurfte es nicht mehr, nachdem Laplace eine leistungsfähigere Theorie zur Verfügung stand, die keine nur mit einer überempirischen und damit für eine Berechnung unzugänglichen Annahme zu überbrückende Erklärungsslücke mehr aufwies.

VIII D’Alembert will im „Discours préliminaire“ zur „Encyclopédie“ nur solche Disziplinen als Wissenschaften im strengen Sinn anerkennen, die Beobachtungen und Berechnungen miteinander verknüpfen. Er ist davon überzeugt, dass einen nur die Anwendung der Mathematik davor bewahrt, im Bereich von bloßen Annahmen oder Vermutungen zu verbleiben, die zwar geistreich sein mögen, aber keine Funktion in einem Prozess erfüllen, der auf den Gewinn einer produktiven und begründbaren Erkenntnis zielt. Dass man bei ihm keine elaborierte Wissenschaftstheorie findet, die auf detaillierte Weise die Feinstruktur des Zusammenwirkens von Berechnung und Beobachtung, von Mathematik und Experiment analysiert, ist verständlich, wenn man die Dinge unter dem Blickwinkel eines heutigen Betrachters ansieht. Erst die moderne Wissenschaftstheorie hat die immensen Schwierigkeiten ans Licht gebracht, die zu bewältigen sind, wenn man die Komplexität des Zusammenwirkens jener Elemente auf befriedigende Weise erklären und auf den Begriff bringen will. Wenn d’Alembert von der Wissenschaft verlangt, Beobachtungen und Berechnungen aufeinander zu beziehen, fordert er nichts, was der Wissenschaft früherer Epochen gänzlich fremd gewesen wäre. Doch quantitativ

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orientierte Überlegungen waren beispielsweise im Umkreis und in der Tradition etwa der aristotelischen Physik nicht gerade von zentraler Bedeu­ tung. Noch die Naturphilosophen der Pariser Nominalistenschule des 14. Jahrhunderts, die man als Vorläufer Galileis anzusehen pflegt, stellten ihre Überlegungen nicht unter Bedingungen an, die sie dazu gezwungen hätten, quantitative Messungen vorzunehmen und deren Ergebnisse mathe­ matisch zu verarbeiten. Auf der anderen Seite hatte die Astronomie der ptolemäischen Tradition höchst komplizierte Systeme entwickelt, um mit ihrer Hilfe die Planetenbahnen, wie sie sich dem Betrachter auf der Erde darbieten, berechnen zu können. Das kopernikanische System war ihnen nicht allein seiner viel größeren Einfachheit wegen überlegen. Zu seinen Vorzügen gehörte auch, dass jeder mit ihm wie mit einer Hypothese um­gehen konnte, ohne gezwungen zu sein, mit ihm unmittelbar einen naiv-realistischen Anspruch auf voraussetzungslose Wahrheit zu verbinden. Das gilt auch ganz unabhängig davon, ob man sich mit den ideenpolitischen Absichten identifiziert, die Osiander zu seiner Deutung motiviert hatten. Entscheidende Innovationen in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften bestanden nicht selten in der Anwendung neuer Berechnungsmethoden, die Entdeckungen nicht nur ermöglichten, sondern auch bereits selbst verkörperten. Das mochte ehedem manchen Betrachter zunächst überraschen. Heute hat man sich aber daran gewöhnt, dass die Einführung neuer Berechnungssysteme oder auch nur neuer Rechengrößen und Hilfsbegriffe, die sich bei ihrer Anwendung auf zunächst disparat erscheinende Tatsachen der Erfahrung im Vergleich zu den bisher verfolgten Ansätzen als effizienter erweisen, eminente Forschungsleistungen darstellen können, die als solche oft sogar bedeutsamer sind als die einzelnen Resultate, die sich mit ihrer Hilfe erarbeiten lassen11. Diesem Muster entsprechen 11 Schon Wilhelm Dilthey (1833–1911) hat in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ im Zusammenhang seiner Metaphysikkritik auf ein einschlägiges Beispiel für die Karriere eines theoretischen Hilfsbegriffs aufmerksam gemacht: Bei der Entstehung des modernen wissenschaftlichen Bewusstseins „wandelt sich der metaphysische Begriff des Atoms in einen bloßen Hilfsbegriff zur Beherrschung der Erfahrungen“ (W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzig 91990, S. 399). Dieser Satz ist treffend, wenn man ihn allein auf die Struktur der faktisch geleisteten Arbeit in der Wissenschaft bezieht, wie sie unter den neuzeitlichen Bedingungen betrieben wurde. Erst auf Grund einer derartigen scheinbaren Degradierung eines seiner Herkunft nach ursprünglich metaphysischen Begriffs zu einem „bloßen“ Hilfsbegriff der Forschung konnte er zu einer geradezu ex­ plosiven Weiterentwicklung der Wissenschaft beitragen, unbeschadet der letztlich folgenlos bleibenden „metaphysischen“ Deutungen, denen manche Forscher noch lange Zeit zuneigten. – Lehrreich ist in diesem Zusammenhang auch das Votum von Niels Bohr, „die Schrödingersche Wellenfunktion sei nur eine Rechengröße und bezeichne kein Phänomen“ (zitiert nach Carl Friedrich von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 71958, S. 330).

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manche Innovationen, die von der Theoretischen Physik erarbeitet worden sind. Sie konnte sich auf diese Weise zu einer der zentralen naturwissenschaftlichen Disziplinen entwickeln. Die neuzeitliche Naturwissenschaft bediente sich zunächst der traditio­ nellen euklidischen Mathematik, um Phänomene der natürlichen Welt unter der Voraussetzung eines Kalküls zu analysieren. Es zeigte sich jedoch bald, dass sie nicht fähig war, mit Hilfe der überkommenen Mathematik allein alle Bewegungsvorgänge der natürlichen Welt berechenbar zu machen. So suchte sie nach neuen Wegen, die es ermöglichen sollten, auch Phänomene, deren Berechenbarkeit auf den ersten Blick nicht auf der Hand lag, einem Kalkül zu unterwerfen. Dieses Bedürfnis inaugurierte Weiterentwicklungen der Mathematik bis hin zur Begründung ganz neuer Disziplinen. Ein Beispiel hierfür bietet die von Descartes begründete Ana­ lytische Geometrie, ein anderes Beispiel die Infinitesimalrechnung. Von Newton und Leibniz gleichzeitig und unabhängig voneinander entwickelt, verdankt sie ihre Entstehung dem Bedürfnis der Naturforschung, auch ungleichförmige Bewegungen mit dem Anspruch auf mathematische Exaktheit zu analysieren. Das hinderte die Infinitesimalrechnung aber durchaus nicht daran, sich gegenüber der Physik bald auch als ein Stück reiner Mathematik zu etablieren. Ein schönes Beispiel für die Entstehung einer neuen, hypothesenträchtigen, ungemein erfolgreichen und fruchtbaren mathematischen Disziplin bietet auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ihre Techniken erlaubten es, die Grenzen der natürlichen Welt zu überschreiten und Bereiche zu mathematisieren, die bis dahin einer Berechnung unzugänglich schienen. Ihre Entstehung verdankt sie bekanntlich einem höchst banalen Anlass. Der Chevalier de Méré hatte im Glücksspiel auf längere Sicht nicht den erhofften Erfolg und zweifelte schließlich daran, dass bei seinem Würfeln alles mit rechten Dingen zugegangen war. Blaise Pascal (1623–1662), selbst kein Aufklärer im engeren Sinn des Wortes, konnte ihm jedoch mit Hilfe der von ihm entwickelten Grundsätze der Wahrscheinlichkeitstheorie zeigen, dass er die Dinge innerhalb eines ihnen inadäquaten, allzu naiven Erwartungshorizonts beurteilt hatte und dass er für ihn günstigere Ergebnisse nach den Gesetzen des Zufalls gar nicht hätte erwarten können. Die ihn enttäuschenden Resultate seines Würfelspiels lagen in der Tat im Bereich der mit der neuen Rechentechnik ermittelten Wahrscheinlichkeiten. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung erweckte im Kreis der Aufklärer lebhaftes Interesse, das zu Weiterentwicklungen der ihr zugrunde liegenden Theorie führte. Dieses Interesse wurde auch durch die Tatsache motiviert, dass hier plötzlich eine Technik zur Verfügung stand, mit der man die Hoffnung verbinden konnte, sie auch für Analysen der Lebenswelt des Menschen fruchtbar machen zu können. Denn diese Technik hatte den

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Weg für die Erforschung von Gesetzen des Zufalls freigegeben. Die Bedeutsamkeit der Entdeckung, dass es derartige Gesetze überhaupt geben kann, wird sofort deutlich, wenn man beachtet, dass sich Gesetz und Zufall nach dem Verständnis der älteren Tradition gegenseitig gerade ausschließen. So wurde von der aristotelischen Physik die natürliche Welt, wie sie der Mensch im Horizont seiner Sprache auf unmittelbare Weise erfährt, auf Begriffe gebracht. Diese Welt kennt strenge, ausnahmslos geltende Gesetzlichkeiten nur im Bereich des Sternenhimmels. Die Welt unterhalb des Mondes zeigt dagegen lediglich Regelmäßigkeiten, bei denen stets mit Ausnahmen gerechnet werden muss. Sie können von Störfaktoren in Gestalt von Zufällen durchkreuzt werden, die als solche prinzipiell unvorhersehbar und unberechenbar sind. Die Entdeckung von Gesetzen des Zufalls wurde durch die Möglichkeit begünstigt, den Zufall gleichsam in Reinkultur zu studieren und ihn nicht nur als eine Störung bestimmter Regelmäßigkeiten oder Üblichkeiten anzusehen. Eben diese Möglichkeit bot die Analyse von Glücksspielen. Anhand ihrer ließ sich zeigen, wie man solche Gesetze entdecken und wie man kalkulierend mit ihnen umgehen kann, wenn man nur berücksichtigt, dass sich aus ihnen keine exakten Aussagen über individuelle Einzelfälle ableiten lassen. Die Entdeckung von Gesetzen des Zufalls, ursprünglich ein Widerspruch in sich, war ein epochales Ereignis. Ihre volle Tragweite, der des Übergangs zum heliozentrischen System vergleichbar, wurde erst nach einer gewissen Latenzzeit erkannt. Heute zweifelt niemand daran, dass mit der aus Pascals Glücksspielanalysen hervorgegangenen Entwicklung einer Probabilistik der Bereich der Dinge, auf den eine mit mathematischen Methoden arbeitende Wissenschaft Zugriff hat, ungemein weit ausgedehnt worden ist. Es wurde möglich, in Bezug auf mannigfache Vorfälle und Geschehnisse auch der menschlichen Lebenswelt, die sich der Beobachtung zunächst nur als kontingente Einzelsachverhalte darstellen, die Hypothese zu erproben, dass Gesetze des Zufalls am Werk sind, auf Grund deren sich Probabilitäten berechnen lassen.

IX Es gibt Elemente in der Arbeit des forschenden Wissenschaftlers, die dieser Arbeit als oft unausgedrückt bleibende Voraussetzungen zugrunde liegen und ihrer Funktion nach hypothetisch sind, gewöhnlich aber nicht mit diesem Namen bezeichnet werden. Hier darf man noch einmal an die Gestalt Lichtenbergs erinnern. Zwar hat auch er keine systematisch aufgebaute Erkenntnistheorie der von ihm praktizierten Fachwissenschaft ausgearbeitet. Sein Reflexionsvermögen,

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mit dem im Bereich seiner Wissenschaft kaum einer seiner Zeitgenossen hätte konkurrieren können, wurde durch ein Sensorium für jene Tiefenstrukturen des Denkens und Erkennens ergänzt, die gewöhnlich nicht die Aufmerksamkeitsschwelle des forschenden Wissenschaftlers überschreiten. Es war schon davon die Rede, dass die Hypothese gewissermaßen den Fluchtpunkt der bei ihm so beliebten konjunktivisch formulierten Wendungen bildete. Das gilt im besonderen im Hinblick auf die Experimente des Physikers, deren Formalstruktur Lichtenberg vornehmlich mit Hilfe von konjunktivischen Aussagen, wie sie von Albrecht Schöne analysiert worden sind, auf den Begriff zu bringen versuchte. Schon diese Formulierungen machen die hypothetischen Elemente deutlich, die in jedem Experiment enthalten sind. Die Erfahrungen, an denen der in einer empirischen Wissenschaft tätige Forscher interessiert ist, gewinnt und verarbeitet er im Experiment unter von ihm eigens für den jeweiligen Zweck planmäßig gewählten Voraussetzungen theoretischer wie auch gegenständlicher Natur. Das sind keine Erfahrungen im trivialen, alltagssprachlichen Sinn des Wortes. Triviale Erfahrungen sind von der Art, dass sie dem Menschen ohne sein aktives Zutun gleichsam zustoßen. Es sind Widerfahrnisse, denen gegenüber er sich immer nur passiv verhalten kann. Empirische Wissenschaften richten ihre Intention nur zu einem geringen Teil auf derartige Erfahrungen. Schon wenn man auch nur zu messen beginnt, hat man den Bereich jener naiven, passiven Erfahrung bereits hinter sich gelassen. Erfahrungen, die nicht nur Widerfahrnisse sind, weil sie von einem aktiv und planmäßig Handelnden auf der Grundlage von Experimenten ins Werk gesetzt werden, sind von anderer Art. Sie werden auf der Grundlage gezielter Planungen provoziert, die mitsamt dem apparativen Aufbau des jeweiligen Experiments einen Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sich das Resultat, beispielsweise ein bestimmter „Effekt“, zeigen soll. Deshalb ist es nicht eine schlicht vorgefundene, sondern eine hergestellte, präparierte Realität, die mit einem Experiment anvisiert wird. Der apparative Aufbau soll es ermöglichen, eine Komponente dieser Realität auszublenden, um sie isoliert untersuchen zu können. Damit erweist sich das Experiment geradezu als ein exemplarischer Fall für die Betrachtung eines Gegenstandes unter bestimmten Voraussetzungen. Sie haben in seinem Aufbau reale, ja materielle Gestalt angenommen. Zur unverkürzten, elaborierten sprachlichen Darstellung des Resultats bedarf es auch in diesem Fall immer eines hypothetischen Satzes, eines Wenn-Dann-Satzes. In der Forschungspraxis werden allerdings die im Einzelfall oft sehr komplexen Voraussetzungen dann nicht in extenso ausformuliert, wenn im Kreis der jeweiligen Insider keine Fehldeutungen zu befürchten sind. Experimente können den Zweck verfolgen, die Gültigkeit eines bestimmten Satzes, der zunächst eine Vermutung ausdrücken mag, zu überprüfen,

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um ihn auf diese Weise zu bestätigen oder zu verwerfen. Kann man ihn bestätigen, wird man ihn in ein System anderer, teils ausformulierter, teils der experimentellen Anordnung latent zugrunde liegender und von ihr verkörperter Sätze einzubinden suchen. Dabei sollte man aber der oft verdrängten Tatsache Rechnung tragen, dass es einem auch mit Hilfe experimenteller Untersuchungen nicht möglich ist, den Zauberkreis des hypothetischen Denkens zu verlassen, zumal da das wissenschaftliche Experiment selbst eine Frucht dieses Denkens ist. Man muss sich damit abfinden, dass man auf diesem Weg nicht zu kategorischen Sätzen gelangt, deren Gültigkeit nicht durch Voraussetzungen bedingt ist, auch wenn sich in der Alltagssprache der Wissenschaft manch einer daran gewöhnt hat, die jeweiligen Voraussetzungen auf sich beruhen zu lassen und Hypothesen als bewiesen anzusehen, wenn sie sich in mehreren Tests immer wieder bewährt haben. Gerade deswegen sollte man nicht übersehen, dass es richtungweisende Innovationen der Wissenschaftsgeschichte waren, die zur Revision von bislang für sicher gehaltenen, manchmal noch nicht einmal explizit ausformulierten Voraussetzungen gezwungen und damit deren hypothetischen Status vor Augen gestellt haben. Dem steht nicht entgegen, dass man es niemandem verwehren darf, in geeigneten Kontexten die Rechte der Alltagssprache in Anspruch zu nehmen. Zu ihren vielen Funktionen gehört auch die, dem Menschen jenes Maß an Sicherheit im Umgang mit der von ihm vor aller Reflexion auf unmittelbare Weise erfahrenen Welt zu bieten, auf das er in seiner Lebenspraxis ebenso wie in seiner Forschungspraxis angewiesen ist. Es gibt auch eine Alltagssprache des Wissenschaftlers, der nicht verpflichtet ist, ständig die Ergebnisse grundlagentheoretischer Untersuchungen in seine Aussagen und Aussagensysteme mit aufzunehmen, wenn er sich um die Lösung eines speziellen Einzelproblems bemüht. Er befindet sich hier in einer Situation, die der des Heliozentrikers vergleichbar ist, dem niemand verbieten darf, im Alltag vom Aufgang und vom Untergang der Sonne zu sprechen. Ohnehin muss auch er spätestens dann der hypothetischen Struktur seines Welt­systems Rechnung tragen, wenn er berücksichtigt, dass die zentrale Stellung der Sonne relativiert wird, sobald man ihre Position innerhalb unserer Galaxis in Rechnung stellt.

X Sucht man nach den Spuren des hypothetischen Denkens im Umkreis der neuzeitlichen Wissenschaft, darf man die Rolle der Fragestellung in der Genese und im Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht übergehen. Nicht jede Erkenntnis, die ihren Namen verdient, entspringt einer

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gezielten Fragestellung. Der Mensch, der Dinge auf den Begriff bringt, die er ohne eigenes Zutun als Widerfahrnisse erlebt, betreibt noch keine eigentliche Wissenschaft. In diesem Fall fehlt es noch an einer Fragestellung, die als Beitrag des aktiv tätigen Subjekts für jedes wissenschaftliche Erkennen unabdingbar ist. Schon ganz einfache Fragestellungen können jene Neugier kanalisieren, ohne die Wissenschaften schwerlich entstanden wären. Diese Neugier kann sich beispielsweise im Sammeln und Beschreiben, im Ordnen und Registrieren von Phänomenen der vom Menschen zunächst auf passive Weise erfahrenen Welt betätigen. Georges-Louis Leclerc de Buffons (1707–1788) monumentale „Histoire naturelle“, eines der berühmtesten und wirkungsmächtigsten Werke der Aufklärung, bietet hierfür eine Fülle von Belegen. Einfache, zumeist ursachenbezogene Fragestellungen standen schon im Rücken der antiken Wissenschaft. Die Wissenschaft in ihrer neuzeitlichen Gestalt zeichnet sich indessen dadurch aus, dass sie es mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden mathematischen und experimentellen Techniken ermöglichte, ihre Fragestellungen ständig auszuweiten und sie nicht nur immer weiter zu präzisieren und zu differenzieren, sondern überdies auch endlos immer neue Fragestellungen zu erproben. Jeder differenzierten Frage ist aber schon von Hause aus ein hypothetisches Potential eigen, das allerdings oft nur in verdeckter Gestalt wirksam ist. In jedem Fall aber steckt man mit der Formulierung einer Frage Grenzen für mögliche Antworten ab. Wer auf eine Frage, die ihm gestellt wird, zu antworten bereit ist, hat damit zugleich schon bestimmte, oft nur latente und noch nicht präzisierte Voraussetzungen des Fragenden stillschweigend akzeptiert – wie jeder weiß, der einen ahnungslosen Gesprächspartner in sophistischer Manier mit Fangfragen traktiert. Auch in der am Leitfaden des hypothetischen Denkens betriebenen ex­ perimentierenden Wissenschaft lässt sich jede Aussage, die ein Arbeitsresultat dokumentiert, nur dann angemessen verstehen, wenn man sie als Antwort auf eine Frage versteht und sie damit zugleich von Voraussetzungen abhängig sein lässt. Hinter der Planung eines Experiments steht immer eine Fragestellung, die zwar nicht in allen Einzelheiten exakt ausformuliert zu sein braucht, die aber in jedem Fall in die apparative Anordnung eingeht. Auf diesen Zusammenhang macht d’Alembert in seinem „Encyclo­pédie“Artikel über das Experiment, speziell über die experimentelle Physik, aufmerksam. In der Experimentalphysik, so liest man dort, komme es darauf an, Experiment und Beobachtung nicht zu verwechseln. Auf Grund von Beobachtungen könne man sinnenfällige Phänomene beschreiben, die dem Betrachter ohne sein eigenes Zutun von der Natur freiwillig dargeboten werden. Das Experiment hingegen gehe weiter. Es bringe neue Erscheinungen hervor, um auch das freizulegen, was die Natur gewöhnlich verbirgt.

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Es richte eine Frage an die Natur und zwinge sie damit zu einer Antwort. Wo es um die Charakterisierung des Experiments geht, ist d’Alemberts Formulierung bis heute ein beliebter Topos geblieben. Zwar sind gewiss nicht jedem, der Gebrauch von ihm macht, die hypothetischen Strukturelemente jeder präzisen Fragestellung und damit auch jedes Experiments präsent. Gleichwohl lässt sich die Relevanz der Fragestellung anhand des wohlbekannten Faktums verdeutlichen, dass sich Kreativität in der Forschung gewiss auch in der Begründung treffender Aussagen, aber mehr noch in der Ausarbeitung neuer Fragestellungen erweist. Die Rolle der in jeder – expliziten oder latenten – Fragestellung enthaltenen Voraussetzungen lässt sich auch am Beispiel der Berechnungen klar machen, deren man sich in den experimentellen Fächern bedient. Den Vorrang genießen dort nämlich solche Fragestellungen, die quantifizierte Antworten verlangen, beispielsweise Antworten, mit denen Messresultate dokumentiert werden. Die neuzeitliche Naturwissenschaft schlug in ihrer Entwicklung einen Weg ein, auf dem sie die Dinge primär im Blick auf ihre quantitativ fassbaren Eigenschaften betrachten konnte. Sie hatte sich damit das Programm zu eigen gemacht, wie es eine beliebte Formel ausdrückt, alles das zu messen, was messbar ist und das noch nicht Messbare messbar zu machen. Die Vorteile dieser Einstellung liegen auf der Hand: Einmal bieten sich die einschlägigen Resultate, kann man nur auf dazu geeignete mathematische Techniken zurückgreifen, zur Weiterverarbeitung geradezu an. Vor allem aber kann sich jede auf quantifizierte, messbare Resultate ausgerichtete Forschung darauf verlassen, dass es ungleich leichter ist, sich über das Ergebnis einer Messung zu einigen als über die Korrektheit von Antworten auf nichtquantitativ orientierte Fragen. Die eminente Fruchtbarkeit der messenden und experimentierenden Wissenschaft führte freilich dazu, dass das Interesse an den nicht quantifizierbaren Eigenschaften der Dinge im Laufe der Zeit immer mehr in den Hintergrund trat, um schließlich zu erlahmen. So empfand man es bald gar nicht mehr als einen Verlust, dass die auf die messbaren Eigenschaften der Dinge ausgerichtete Forschung nach den für die ältere, die aristotelische und die scholastische Tradition so zentralen substantiellen, prinzipiell nicht messbaren Wesensbestimmungen der Dinge nicht mehr fragte, um sie schließlich ganz zu vergessen. Die Abhängigkeit der Resultate wissenschaftlicher Arbeit von der sie leitenden Fragestellung zeigt nur einen Aspekt ihrer Voraussetzungshaftigkeit. Man kann noch einen Schritt weiter gehen, um jene zumeist latent bleibenden Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis aufzuspüren, die noch hinter den einzelnen Fragestellungen stehen. Die Bedeutsamkeit dieser Voraussetzungen ist von den Wissenschaftstheoretikern erst relativ spät, nämlich erst dann entdeckt worden, als sie sich nicht mehr damit begnügten, die Begründungszusammenhänge, in die sich schon vorliegende Ergebnisse

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wissenschaftlicher Forschung fügen lassen, logisch zu analysieren, sondern auch nach den Randbedingungen fragten, unter denen solche Ergebnisse allererst erarbeitet werden. Spätestens seit Karl Poppers ­(1902–1994) „Logik der Forschung“ haben die entsprechenden Untersuchungen zu Einsich­ ten geführt, von denen die Bedeutung des hypothetischen Denkens für unsere Wissenschaften auf überraschende Weise unterstrichen worden ist. Ob es nun Denkstile im Sinne von Ludwik Fleck (1896–1961) oder Forschungsprogramme im Sinne von Imre Lakatos (1922–1974) sind, ob es um Paul Feyerabends (1924–1994) auf spielerische Weise propagierten wissenschaftstheoretischen Anarchismus des „anything goes“ geht oder um die derzeit vieldiskutierten Paradigmen und Paradigmenwechsel im Sinne von Thomas Kuhns Theorie wissenschaftlicher Revolutionen – alle diese Ansätze stellen Konzepte vor, die man, etwas salopp ausgedrückt, als hypothetische Grundausstattungen bezeichnen könnte. In allen derartigen Fällen geht es um Voraussetzungen und Randbedingungen, die noch hinter den Fragestellungen der konkreten wissenschaftlichen Arbeit stehen und gleichsam die mentale Physiognomie von wissenschaftlichen Richtungen, Schulen und Traditionen prägen. Dem einzelnen Forscher braucht es nicht gegenständlich bewusst zu sein, dass auch diese Dinge zu den Voraussetzun­gen seiner Arbeit und ihrer Ergebnisse gehören. Dennoch muss man gerade auf sie den Blick richten, wenn man es unternimmt, die Fundamente der Wissenschaft so zu betrachten, wie sie sich unter dem Blickwinkel der Aufklärung darstellen.

XI Von der neuzeitlichen Wissenschaft hatten sich die Aufklärer Hilfe bei ihrem Bestreben erhofft, den Menschen aus jener Unmündigkeit zu befreien, die seinen Verstand an von ihm fremden Autoritäten errichtete Schranken stoßen lässt. Dergleichen kann die Wissenschaft gewiss schon dann leisten, wenn man sie zweckfrei, nur um ihrer selbst willen betreibt. Man würde indessen die Intentionen der Aufklärung verfehlen, wollte man ihr eine einseitige Orientierung an dem Leitbild eines kontemplativen, sich selbst genügenden Erkenntnisstrebens nach antiken Mustern unterstellen. Bei dem Versuch, Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung zu betrachten, habe ich nämlich bislang noch zentrale Intentionen vernachlässigt, für deren Realisierung die Aufklärer auf die Hilfe der Wissenschaft hofften. Hier ist zunächst an die Möglichkeiten technischer Anwendung zu denken, unter deren Blickwinkel die Wissenschaft nach dem Vorbild von Francis Bacon (1561–1626), einem der Stichwortgeber der Aufklärung, betrachtet wurde. Bacon hatte mit dem atlantischen „Haus Salomons“

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eine technisch ausgerichtete Utopie entworfen, die ja, wie sich längst herausgestellt hat, nicht in allen Punkten bloße Utopie geblieben ist. Unter dieser technischen und zugleich lebenspraktischen Perspektive betrachtet stellt sich eine Wissenschaft dar, die nicht nur geeignet, sondern sogar dazu bestimmt ist, zur Mehrung des Glücks und des Nutzens der Menschheit in Dienst genommen zu werden. In ihrem Bestreben, das beschwerliche Los der Menschen in der Welt zu verändern und ihre Lebensbedingungen zu verbessern, gibt sich die Aufklärung nicht damit zufrieden, lediglich ungerechtfertigte Vorurteile abzubauen und die Menschen von abergläubischen Überzeugungen zu befreien. Der Wissenschaft gibt sie vielmehr auch das Ziel vor, die Wirklichkeit nicht nur zu erkennen, sondern auch zum Wohle aller in sie einzugreifen und sie zu beherrschen. Das wird ihr dadurch erleichtert, dass sie Vergleichbares schon im Fall des wissenschaftlichen Experimentierens leistet, das ebenfalls seinen Gegenstand nicht nur betrachtet und gedanklich analysiert, sondern ihn auch nach einem bestimmten Plan präpariert und gestaltet. Der Experimentator greift an einer Stelle in die Realität ein, um sie mit Hilfe der Modifikationen, die er an ihr vornimmt, zu erkennen; der Techniker bedient sich solcher Erkenntnisse, wenn er von ihnen Gebrauch macht, um in die Welt einzugreifen. Es ist ein gleitender Übergang, der vom wissenschaftlichen Experiment zur technischen Konstruktion führt. Unter diesen Bedingungen konnte es dazu kommen, dass in der Wissenschaft der Neuzeit, anders als in früheren Epochen, die Traditionen des theoretischen Erkennens mit denen des gewerblichen Handwerks und der Werkstätten eine Verbindung eingingen. Die Möglichkeit, ein im Erkennen gründendes Herstellen und ein auf einem geplanten Herstellen beruhendes Erkennen miteinander zu verbinden, gehört deswegen zu den charakteristischen Merkmalen dieser Wissenschaft. Nicht zufällig gehört es zum Programm der französischen „Encyclopédie“, wie sie es schon in ihrem Titel ankündigt, von den Wissenschaften, den Künsten und von den Gewerben zu handeln. So ist es nur konsequent, wenn man heute in Bezug auf unsere Lebenswelt von einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu sprechen pflegt. Sie ist eine vom Menschen teils vorgefundene, zunehmend aber auch eine auf der Grundlage von gezielten Planungen von ihm hergestellte, gestaltete Welt. Auch die herstellende Wissenschaft, die im Verbund mit der Technik in die Welt eingreift, steht unter dem Gesetz des hypothetischen Denkens. Nur haben hier die jeweiligen Konsequenzen nicht den Status von Sätzen, sondern den von real existierenden Gegenständen. Solche Resultate, angefangen mit den im Forschungsexperiment gemessenen Effekten bis hin zu hochdifferenzierten technischen Konstruktionen bedürfen, jedenfalls insofern es sich bei ihnen um reale Fakten handelt, keiner weiteren Begründung.

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Dergleichen leistet erst die Interpretation, die den Zusammenhang von Voraussetzungen und Folgen zum Gegenstand ihrer Reflexionen macht. Ob es möglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen eine bestimmte reale Wirkung zu erzielen, wird durch die Tat erwiesen, wie immer man dieses Resultat auch interpretieren mag. Eine Differenz besteht nur insofern, als sich das Interesse des Technikers primär auf das Faktum einer gelungenen Konstruktion konzentriert, während der Experimentator mehr an der Deutung des von ihm im Rahmen einer bestimmten Fragestellung hervorgebrachten Effektes interessiert ist. Wenn also auch die herstellende Wissenschaft noch unter dem Gesetz des hypothetischen Denkens steht, dann nicht deswegen, weil die Faktizität ihrer Resultate und Konstruktionen durch die Voraussetzungen relativiert würde, unter denen sie zustande gekommen sind. Sätze kann man widerrufen, Fakten lassen sich dagegen, insofern es sich bei ihnen um reale Sachverhalte handelt, verändern oder modifizieren, aber als solche ebenso wenig zurücknehmen wie Handlungen, nachdem sie realisiert worden sind. Unter jenem Gesetz steht die herstellende Wissenschaft deswegen, weil ihre Resultate stets nur auf der Grundlage bestimmter Voraussetzungen realisiert werden. Dazu kommt, dass ein Resultat der herstellenden Wissenschaft selbst dann nicht entwertet wird, wenn sich herausstellt, dass es falsche Voraussetzungen waren, unter denen es erzielt worden ist. Fakten können immer auch für sich selbst sprechen. Schon an einer früheren Stelle hatte ich darauf aufmerksam gemacht, dass auch falsche Hypothesen, wie Descartes wusste, als Voraussetzungen tauglich sind, wenn sie das Erreichen eines erwünschten Zwecks ermöglichen12. Es bleibt dann aber die Aufgabe, Normen ausfindig zu machen und zu legitimieren, die geeignet sind, einen angemessenen Umgang mit den so geschaffenen Fakten zu regulieren.

XII Will man ein vorläufiges Fazit ziehen und danach fragen, welchen Erfolg das Projekt hatte, Aufklärung durch Wissenschaft zu bewirken, so darf man feststellen, dass sich die Wissenschaft in ihrer neuzeitlichen Gestalt in der Tat als ein höchst probates Mittel erwiesen hat, ihre Adepten in den Stand zu setzen, nur auf den eigenen Verstand zu bauen und alle Versuche abzuwehren, seine Betätigung durch Machtsprüche von Autoritäten einzuengen. Es ist eine Wissenschaft, die das hypothetische Denken nicht proklamierte, wohl aber praktizierte. Es ist jedenfalls ein Denken, das es einem erleichtert, sich über seine Voraussetzungen klar zu werden, über sie zu ver 12

Vgl. oben Anm. 9.

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fügen, sie in Frage zu stellen und sogar auszuwechseln. Es bedurfte freilich noch eines längeren Weges, bis das Vorgehen dieser Wissenschaft auch von der auf ihre Methoden gerichteten Reflexion erreicht und seine Tragweite unverkürzt vor Augen gestellt werden konnte. So ist es verständlich, dass das Ideal eines kategorischen, voraussetzungslosen und unüberholbaren Wissens auch im Zeitalter der Aufklärung noch wirksam sein konnte. Das Projekt einer Aufklärung durch Wissenschaft gerät indessen in Schwierigkeiten besonderer Art. Sie werden einem sofort deutlich, wenn man berücksichtigt, dass die Aufklärer die Fähigkeit und den Mut, auf den eigenen, autonomen Verstand zu vertrauen, allen Menschen vermitteln wollten, jedenfalls nicht nur den Adepten der Wissenschaft. Sie hatten nicht im Sinn, alle Menschen zu Wissenschaftlern heranzubilden. So bleibt die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht der Vertreter der Wissenschaft auch für den Laien zum Vorbild taugt. Niemandem vermittelt man die den Forscher auszeichnenden Kompetenzen, wenn man ihm nur die Resultate seiner Forschungspraxis mitteilt. Dazu kommt, dass auch der höchstqualifizierte Forscher unverkürzte Mündigkeit und wissenschaftliche Kompetenz allein innerhalb seines Fachgebietes für sich in Anspruch nehmen kann. Das liegt in unseren Tagen noch deutlicher vor Augen als in der Epoche der Aufklärung. Heute ist es längst evident geworden, dass sich ein Einzelner nur noch über einen mittlerweile immer kleiner werdenden Ausschnitt der Wirklichkeit authentisches Wissen erarbeiten kann. Aus diesem Grunde könnte den Vertreter des auf die Antike zurückgehenden kontemplativen Erkenntnisideals, der Erkenntnis um ihrer selbst willen zu gewinnen sucht, eine produktive Tätigkeit in der unter den gegenwärtigen Bedingungen betriebenen Wissenschaft schwerlich befriedigen. Denn dieses Ideal ist auf die Möglichkeit ausgerichtet, Einsicht in den Aufbau der Welt und der Wirklichkeit im ganzen zu gewinnen. Es kann aber nicht mehr gut unter Bedingungen angestrebt werden, unter denen von dem Adepten der Wissenschaft in den meisten Fällen die Fähigkeit erwartet wird, sich mit seinen Kompetenzen in ein Team einzuordnen und zweckbezogen in ihm zu arbeiten. Die meisten wissenschaftlichen Fachdiskussionen sind heute der Öffentlichkeit zugänglich. Doch gerade die reifsten und differenziertesten wissenschaftlichen Fächer sind längst zu Arkandisziplinen geworden. Die bloße Kenntnis ihrer Resultate garantiert niemandem die Kompetenzen, die nötig sind, um sie auch zu verstehen oder gar sachgerecht mit ihnen umzugehen. Sie sind zu hochkomplexen Gebilden geworden, von denen Ergebnisse zutage gefördert werden, die für jeden Heutigen, sofern er nicht zum kleinen Kreis der jeweiligen Insider gehört, allenfalls noch Objekte eines Glaubens sein können, der sich merkwürdigerweise zwar nicht inhaltlich, wohl aber seiner Struktur nach nur wenig von jenem Glauben unterscheidet, der von

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den wahrheitsverwaltenden Instanzen eingefordert wurde, zu deren Ansprüchen die Aufklärung gerade auf Distanz gegangen war. So ist die in ihrer heutigen Gestalt betriebene Wissenschaft zu einer Größe geworden, von der man nicht mehr erhoffen kann, dass die Arbeit in ihrem Bereich dem einzelnen Menschen die Garantie gibt, den Status des individuellen Aufgeklärtseins zu erlangen. Als einem Laien bleibt ihm am Ende nur noch die Möglichkeit, dem zu vertrauen, was der Wissenschaftler ihm sagt, auch wenn es sich dabei immer nur um ein Vertrauen auf Abruf handelt. So bleibt die Frage offen, wie eine sich an der Wissenschaft orientierende Aufklärung auch den Laien erreichen kann. Dieses in dem Projekt einer Aufklärung durch Wissenschaft angelegte Dilemma ist schon ihren Wortführern nicht verborgen geblieben. Sie haben versucht, es mit Hilfe von Kompromissen zu neutralisieren. Auch die den gebildeten Laien als Adressaten ins Auge fassende französische „Encyclopédie“ verkörpert einen solchen Kompromiss. Es ist auch kein Zufall, dass das 18. Jahrhundert zu einer großen Zeit für humanitär motivierte Bemühungen um eine allgemeine Volksbildung, für Popularphilosophie und Populärwissenschaft, für ein aufblühendes Zeitschriftenwesen wurde. Mit Hilfe der Moralischen Wochenschriften haben Aufklärer gerade das gebildete Laienpublikum daran erinnert, dass unverkürzte Vernunft nicht nur logische und theoretische, sondern stets auch praktische Vernunft ist, die sich nicht mit einem Wissen über das, was der Fall oder nicht der Fall ist, begnügt, sondern auch nach einer begründbaren Antwort auf die alten Fragen sucht, wie zu leben sei und wie sich die Lebenswelt des Menschen so gestalten lässt, dass sie es jedermann ermöglicht, menschenwürdig in ihr zu leben. Die um ihre praktische Dimension nicht verkürzte Vernunft ist fähig, das Handeln des Menschen nicht nur zu analysieren, sondern auch zu motivieren. Deshalb bezieht sie sich nicht auf dieselbe Weise auf das Handeln, auf die sich die theoretische Vernunft auf ihre Erkenntnisobjekte bezieht. Mögen sich die Menschen in ihren theoretischen und technischen Kompetenzen auch noch so sehr voneinander unterscheiden – in praktischer Hinsicht, d. h. in ihrer Eigenschaft, moralfähige, unter einem spezifischen Sollen stehende Personen zu sein, sind alle einander gleich. An der praktischen Vernunft kann der Gelehrte und der Ungelehrte in gleicher Weise und sogar in gleichem Maße teilhaben. Gerade der Aufgeklärte weiß, dass er die Verantwortung für die Normierung seines Handelns und Verhaltens stets allein trägt. Er kann sie auf keine andere Instanz abschieben. Der Ernst des Handelns wird überdies noch dadurch unterstrichen, dass eine Handlung zwar stets unter bestimmten Voraussetzungen zustande kommt, ohne jedoch in ihrer Faktizität durch sie relativiert zu werden. Man kann hypothetisch behaupten, aber man kann nicht probeweise handeln oder probeweise leben.

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Auf dem Feld der Normierung der Lebenspraxis hat die Aufklärung ihre größten, ihre bleibenden Erfolge erzielt. Hier sind nicht nur ihre Bemühungen um die Förderung praktischer Disziplinen wie der Pädagogik, der Psychologie und der Ökonomie zu erwähnen, sondern auch die von ihr angestoßenen Innovationen auf politischem und rechtlichem, auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet sowie ihr Eintreten für Ordnungen des Zusammenlebens, die dem Menschen die eigenverantwortliche Betätigung seiner Vernunft garantieren. So werden, zumal vor dem Hintergrund der Konfessionskriege, auch die Optionen für den säkularen, in Sachen der Religion neutralen Staat und für eine republikanische Staatsverfassung verständlich. Dazu gehört auch Forderung nach Toleranz in allen Fragen, die sich nicht mehr auf der Basis der Vernunft allein beantworten lassen. Mit diesem Toleranzpostulat werden die Ansprüche der Religion auf den Besitz unbedingt gültiger Wahrheiten nicht offen bekämpft, wohl aber, was ihre möglichen Auswirkungen auf die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens anbetrifft, restringiert und gleichsam unterlaufen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Eintreten der Aufklärung für ein ausdifferenziertes, profanes und kodifikationsfähiges Naturrecht, für die Humanisierung des Strafrechts und des Strafvollzugs, für die Abschaffung der Folter und grausamer Leibesstrafen, für die Entlarvung abergläubischer Vorstellungen, angefangen vom bösen Blick bis hin zu Zaubereidelikten und zum Hexenwahn. Das größte Verdienst, das sich die Aufklärung im Bereich der praktischen Vernunft zurechnen darf, besteht in der Entdeckung und Propagierung der Menschenrechte, unveräußerlicher Grundrechte des Individuums gegenüber jedermann, vor allem gegenüber dem Staat. Sie haben Epoche gemacht, nachdem sie zuerst 1776 in Nordamerika und danach 1789 in Frankreich auch auf der Ebene der Politik proklamiert worden waren. In unserem Kulturkreis sind sie heute, wenngleich erst nach zähen Auseinandersetzungen, als überpositive, nicht verhandelbare und von keinen Bedingungen abhängige Rechte eines jeden Menschen anerkannt, die ihm von niemandem verliehen worden sind, sondern ihm von Geburt aus zukommen und ihm ihrer Idee nach auch von niemandem entzogen werden dürfen.

XIII Angesichts dieser Errungenschaften im Einzugsbereich der praktischen Vernunft mag es scheinen, als würde durch sie die Bedeutung der theo­ retischen Wissenschaften für die Aufklärung relativiert, von denen sie sich Hilfe bei ihrem Bemühen versprochen hatte, dem Menschen intellektuelle Autonomie und Mündigkeit zu vermitteln. Rückt man die Wissenschaft in

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das Fadenkreuz der Aufklärung, so kann man sie aber auch unter einem Aspekt betrachten, der hier bis jetzt noch nicht zur Sprache gekommen ist. Es lohnt sich nämlich, danach zu fragen, ob es sich bei der Wissenschaft nicht nur um ein Vorbild und ein Mittel, sondern vielleicht auch um einen möglichen Adressaten der Aufklärung handelt, der auch selbst ihrer bedürftig ist. Bedarf es am Ende einer Aufklärung trotz Wissenschaft?13 Diese Frage wäre früher gewiss einhellig negativ beantwortet worden. Was Wissenschaft ihrem Wesen nach ist und was sie vermag, sofern sie den ihr eigenen Gesetzen getreu betrieben wird, schien sich lange Zeit von selbst zu verstehen. Wissenschaft schien mitsamt der von ihr erarbeiteten Erkenntnisse ein Gut zu sein, dessen unbestrittener Wert durch keine Relativierung angetastet werden kann. Mittlerweile ist es aber klar geworden, dass man das Wesen der Wissenschaft verfehlt, wenn man nicht wahr haben will, dass auch sie, wie ohnehin fast alle Dinge in der Welt, zumal in ihren herstellenden Disziplinen, allein schon der mit ihr verbundenen Risiken und Gefahren wegen mit Ambivalenzen behaftet ist. Die Voraussetzungen und die Ergebnisse ihrer Arbeit sind auf eine weitaus kompliziertere Weise untereinander verknüpft, als dies ein naiver Betrachter annehmen mag, der sich am Modell eines additiven, geradlinigen Fortschritts orientiert und nur darauf sieht, dass dieser Fortschritt ständig neue Erkenntnisse in ihre Archive einbringt. Was Wissenschaft in ihrem Kern eigentlich ist, scheint heute, wirft man den Blick auf die Kontroversen ihrer Theoretiker und ihrer Historiker, weniger klar zu sein als zu einer Zeit, die noch kein Bedürfnis nach einer differenzierungsfähigen Wissenschaftstheorie entwickelt hatte. Die dem hypothetischen Denken verpflichtete Wissenschaft hat nicht nur eine überaus reiche Ernte eingefahren, die heute kein Einzelner mehr überblicken kann. Sie hat überdies eine Dynamik freigesetzt, die Probleme stellt, von denen einstweilen noch nicht abzusehen ist, wie sie sich lösen lassen. Denn diese Wissenschaft ist mitsamt der von ihr ermöglichten Technik zu einem gewichtigen, ökonomisch, politisch, sogar militärisch bedeutsamen Faktor innerhalb der von ihr umgestalteten modernen Lebenswelt geworden, aus der sie sich, selbst wenn sie es wollte, nicht mehr in ein Reservat zurückziehen kann. Es ist offenbar geworden, dass im Kraftfeld dieser Lebenswelt auch ihre Entwicklung mehr und mehr von den diese Welt konstituierenden und miteinander interferierenden Mächten beeinflusst wird. Die der liberalen Freiheitsidee verpflichteten Staaten gestehen der Wissenschaft zwar eine auf sie zugeschnittene Freiheit zu, die ihren Vertretern die theoretische Neugier nicht beschneidet und die ihr zumindest prinzipiell garantiert, dass sie sich die Fragestellungen, Zielsetzungen und Resultate ihrer 13

Vgl. dazu auch Rainer Enskat, Aufklärung trotz Wissenschaft, in ders. (Hg.), Wissenschaft und Aufklärung, Opladen 1996, S. 119–157.

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Arbeit von niemandem vorgeben zu lassen braucht. Trotzdem ist niemand daran gehindert, die Wissenschaft in Dienst und in Anspruch zu nehmen, wenn es darum geht, die Mittel ausfindig zu machen, mit denen sich beliebige vorgegebene Ziele auf optimale Weise realisieren lassen. Mit Hilfe der Wissenschaft, die von ihrer Freiheit Gebrauch macht, ist es jedenfalls gelungen, die moderne Lebenswelt mit einer Fülle von Dingen auszustatten, auf die trotz der Skepsis mancher Kulturkritiker niemand mehr verzichten will. Aber diese Freiheit ist – wie die Freiheit des Denkens und Handelns überhaupt – auf eine Instanz angewiesen, die sie vor Missbrauch und vor Ausschreitungen bewahrt. Gerade d’Alembert hat in seinem „Discours préliminaire“ zur „Encyclopédie“ eingeschärft, dass eben solcher Gefahren wegen jede Freiheit der Aufklärung bedarf. Der Wissenschaftler unserer Tage ist schon auf Grund seiner sozialen und ökonomischen Stellung in vielerlei Abhängigkeiten eingebunden. Die unter dem Diktat der fortschreitenden Arbeitsteilung stehende, zunehmend kostenträchtiger werdende und auf Finanzierungsgarantien angewiesene Wissenschaft erlaubt es ihm immer weniger, die liberale Garantie der Wissenschaftsfreiheit für seine eigene Person ohne Einschränkung in Anspruch zu nehmen und über die Thematik und die Fragestellungen seiner Arbeit selbst zu entscheiden. Zudem ist der einzelne, vorwiegend in Teams und Netzwerken arbeitende moderne Forscher als Individuum noch nicht einmal mehr uneingeschränkt das Subjekt des nicht von ihm allein, sondern allenfalls unter seiner Mitwirkung erarbeiteten Wissens. Noch weniger ist er Herr über die Ressourcen, ohne die seiner Arbeit die ökonomische Basis fehlen würde. Die Aufklärung hatte in ihrem Bemühen, dem Menschen die Mündigkeit gegenüber allen Mächten zu sichern, von denen sie bedroht werden kann, auf das autonome, vernünftige Denken gesetzt, wie es in der neuzeitlichen, zunächst von Privatleuten betriebenen Wissenschaft schon so erfolgreich praktiziert wurde. Aber eben diese Wissenschaft ist gerade durch ihre Erfolge in die Gefahr geraten, von eben diesen Mächten, in unserer Gegenwart vor allem von der Ökonomie, vereinnahmt zu werden. Ein Symptom hierfür zeigt die Entwicklung, die dazu geführt hat, dass mittlerweile immer mehr Resultate wissenschaftlicher Forschung patentfähig werden. Über die Grenzen dieser Patentfähigkeit wird derzeit bekanntlich gestritten, vor allem dort, wo das Reich des Lebendigen ins Spiel kommt. Einstweilen ist noch keine Lösung in Sicht, auf die sich alle an diesem Streit Beteiligten einigen können. Wäre Newton jetzt noch am Leben – so ein launiger Einfall von Erwin Chargaff (1905–2002) – würde er gewiss versuchen, die Gravitation zum Patent anzumelden. Natürlich ist dies nur ein sarkastisches Bonmot, das nicht für bare Münze genommen werden sollte. Trotzdem macht es eine Tendenz deutlich, von der die Realität des heutigen

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Wissenschaftsbetriebs bestimmt wird. Ein anderes Symptom liefert die allbekannte Tatsache, dass man bei uns begonnen hat, den Erfolg und damit auch die Reputation eines Forschers an dem Umfang der von ihm für seine Arbeit eingeworbenen „Drittmittel“ zu messen. Solche Symptome führen vor Augen, dass sich die Wissenschaft mittlerweile in einer Gemengelage vorfindet, die ein Bedürfnis nach Aufklärung hervorbringt, das sie mit ihren eigenen Mitteln nicht befriedigen kann.

XIV Es bleibt die Frage, welche Chancen die Wissenschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen noch hat, den Kern ihrer Autonomie zu bewahren. Welche Aufgaben sie im Dienst der Aufklärung auch übernommen hat und welche sie vielleicht noch übernehmen kann – sie ist offensichtlich in eine Situation geraten, in der sie auch selbst auf den Prüfstand gestellt werden muss. Aktuell geworden ist die an die Aufklärung gerichtete Frage, welche von allen überhaupt denkbaren Inhalten des Wissens als wissenswert gelten können. Diese Frage wurde selten gestellt, solange man überzeugt war, alles überhaupt Wissbare sei schon als solches auch wissenswürdig. Heute versteht sich dies nicht mehr von selbst. Die erdrückende Überfülle des bis heute erarbeiteten, archivierten, längst nicht mehr in jedem Fall persongebundenen und daher zu einem immer größeren Anteil anonymen und subjektlosen Wissens verlangt vernünftige Kriterien, die es erlauben, auch im Blick auf die künftige Arbeit der Wissenschaft Grade der Wissens­ würdigkeit auszumachen14. Gerade hier ist Aufklärung trotz, ja sogar wegen Wissenschaft angesagt, da die dem hypothetischen Denken verpflichtete Wissenschaft gerade solche Kriterien nicht erarbeiten und legitimieren kann. Hier handelt es sich um einen Problemkreis, der gleichsam im Rücken der Wissenschaft und des Wissenschaftsbetriebs entstanden ist. Er macht deutlich, dass man von der Wissenschaft unserer Gegenwart weder erwarten noch verlangen kann, dass sie ihrer Fortentwicklung die Richtung vorgibt und sie auch selbst steuert. Seit die Wissenschaft zu einer der Grundlagen der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation geworden ist, hat sie auch noch in einer anderen Hinsicht ihre frühere Unschuld verloren. Die stürmische Entwicklung, die durch die Einbindung in diese Zivilisation ermöglicht wurde, hat erwiesen, dass sie nicht imstande ist, ihre Errungenschaften auf Dauer in 14

Vgl. zur Frage nach dem Wissenswerten vom Verf., Möglichkeiten der Wissenschaftstheorie, in: Rüdiger Bubner u. a. (Hg.), Hermeneutik und Dialektik, Bd. 1, Tübingen 1970, S. 31–56.

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der Hand zu behalten und über sie zu verfügen. Nicht sie, sondern andere Instanzen befinden darüber, wer von ihren Resultaten Gebrauch macht und zu welchen Zwecken dies geschieht. So muss man der Tatsache Rechnung tragen, dass die Kompetenz, Wissen zu erarbeiten und zu begründen, nieman­dem die Fähigkeit und die Bereitschaft garantiert, mit diesem Wissen auch auf verantwortbare Weise umzugehen. Die Probleme, die der Umgang mit den Früchten der Wissenschaft, zumal der herstellenden Disziplinen, für die Ordnung des Zusammenlebens mündiger Menschen stellt, dazu die Risiken gefährlicher, ja zerstörerischer und verheerender Konsequenzen ihrer Arbeit, sind schon den Vätern der Aufklärung nicht verborgen geblieben. Dafür steht der Name Montesquieus und, in anderer Weise, auch der Name Rousseaus. Auch wenn diese Probleme niemals ganz der Vergessenheit anheimfielen, fanden die Stimmen der Skeptiker für lange Zeit nur in einem sehr bescheidenen Umfang Gehör. Die allgemeine Meinung orientierte sich zumeist an denen, die es verstanden, die Aufmerksamkeit einseitig auf die für den Menschen förderlichen, nützlichen und auf den ersten Blick unproblematischen Folgen der Wissenschaft zu lenken und zugleich überzeugt waren, damit eine fortschrittsgläubige, optimistisch gestimmte Einstellung ihr gegenüber festschreiben zu können. Eine Wende zeichnete sich eigentlich erst im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 1945 ab, durch die manche Hoffnungen und Prognosen relativiert, wenn nicht entwertet wurden. Es gibt zu denken, dass noch zwei Jahrzehnte vorher Albert Einstein (1879–1955) in einem Interview die Meinung äußerte, nicht die leisesten Anzeichen lägen vor, dass es einmal möglich würde, die erstmals von ihm berechneten, im Inneren der Materie verborgenen Energien freizusetzen. Betrachten wir zum Vergleich unsere gegenwärtige Situation, so hätte man es bis vor kurzem gewiss noch für schlechterdings unmöglich gehalten, mittels einer Manipulation des menschlichen Genoms eine neue biologische Spezies herzustellen. Heute kann man damit rechnen, dass dergleichen in einer nicht allzu fernen Zukunft in den Bereich des Möglichen rückt. Deswegen ist man schon jetzt gehalten, die tatsächlichen, die moralischen und die politischen Konsequenzen ins Auge zu fassen, die sich daraus ergeben, dass man in dem, was den Menschen zum Menschen macht, heute nicht mehr mit Sicherheit eine den Zeitläuften enthobene Konstante sehen kann. Es kann dahingestellt bleiben, bis zu welchem Punkt die Möglichkeiten einer Aufklärung durch Wissenschaft mittlerweile ausgereizt sind. Das gilt auch im Hinblick auf gutgemeinte neuere Versuche, bestimmte Disziplinen, etwa die Geisteswissenschaften so zu profilieren, dass man ihnen die Aufgabe anvertrauen kann, die Sache der Aufklärung auch unter den Bedingungen der modernen Lebenswelt voranzubringen. Denn die Aufgaben einer Aufklärung trotz Wissenschaft werden dadurch nicht berührt, nicht

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deswegen, weil die Wissenschaft in ihrem auf die Erarbeitung von Erkenntnis und Wissen verpflichteten Bereich versagt hätte, sondern weil sie umgekehrt Möglichkeiten eröffnet, Konsequenzen gezeitigt und damit Erfolge von einer Ambivalenz erzielt hat, wie dies in der Vergangenheit niemand für möglich gehalten hätte. So ist es dringlich geworden, Klarheit über die Art und Weise eines vertretbaren Umgangs mit ihr und ihren Resultaten zu gewinnen. Dies kann nicht von der Wissenschaft selbst, sondern nur von einer Aufklärung über sie erwartet werden. Die Wissenschaften können dieser Aufklärung zwar zu Hilfe kommen, aber sie können sie niemals von ihrer Aufgabe entlasten und an ihre Stelle treten. Sogar die Vernunft selbst bedarf ihrer, weil sie die Gefahr, missbraucht zu werden, niemals endgültig bannen kann. Man kann Immanuel Kants Hauptwerk, die drei Kritiken, auch so deuten, dass man in ihm einen Versuch sieht, auf der Ebene der Reflexion ein Fazit der sich ihrer selbst, ihrer Antriebe und ihrer Ziele noch immer nicht voll bewussten Aufklärung zu ziehen. Gegen Ende der dritten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft“, spricht Kant von den selbstersonnenen Plagen des Menschen, die ihn durch den Druck der Herrschaft und durch die Barbarei der Kriege in Not versetzen. Im Blick auf sie stellt er die pessimistische Diagnose, dass der „Mensch selbst, soviel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet“15. Sollte dies dem Menschen wirklich einmal gelingen, dann gewiss nicht ohne die Hilfe und ohne die Mitwirkung der Wissenschaft. Betrachtet man die dazu fähige Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung, mag es unter derartigen Auspizien scheinen, als hätte die Aufklärung eine ihrer wichtigsten Aufgaben immer noch vor sich. Öffentlicher Abendvortrag auf dem von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina u. a. veranstalteten Meeting ‚Wissenschaft und Aufklärung‘ in Halle / Saale am 26. Jan. 2007; zuerst veröffentlicht in: Acta Historica Leopoldina Bd. 57, 2011, S. 99–130.

15

Kant, Akad.-Ausg., Bd. V, S. 430.

Zur Geschichte der Philosophie: Antike und Mittelalter

Das sokratische Erbe in Platons Philosophie

Unsere philosophische Tradition kennt keinen Autor, dessen Wirkungs­ geschichte sich nach Umfang und Vielfalt mit der Wirkungsgeschichte ­Platons vergleichen ließe. Wenn Alfred North Whitehead in seiner berühmten und schon fast bis zum Überdruss zitierten Formulierung feststellt, europäische Philosophie bestehe aus Fußnoten zu Platon, so mag dies zunächst wie eine Übertreibung aussehen, wenn man nur die Traditionen ins Auge fasst, die Platon nachzufolgen und sein Philosophieren weiterzuentwickeln gesucht haben. Platons Wirkungsgeschichte besteht indessen nicht nur aus den vielen Platonismen, die in der Entwicklung der europäischen Philosophie aufgetreten sind. Mit gleichem Recht gehören zu ihr alle, die sich mit Platon auseinandergesetzt, die sich von ihm distanziert oder die ihn bekämpft haben und sich dabei oft genug erst über ihre eigene Position klar geworden sind. Das ist eine Reihe, die bereits mit Aristoteles beginnt und mit Karl Popper, dem militantesten Platongegner unserer Tage, gewiss noch nicht ihr Ende gefunden hat. Zu Platons Wirkungsgeschichte gehören schließlich alle, die Fragen in einer Art stellen und zu beantworten suchen, wie dies für uns zum ersten Mal bei Platon greifbar ist, gleichgültig, ob man sich des historischen Ursprungs dieses Fragens bewusst ist oder nicht. Wer in Platons Werken die Gründungsdokumente der europäischen philosophischen Tradition sieht, kann sich jedenfalls vor allem auf die Tatsache berufen, dass sich hier zum ersten Mal der größte Teil der Fragen und Probleme fassen lässt, deren Erörterung die Philosophie seither in Atem gehalten hat. Platons Philosophie ist gleichwohl nicht aus dem Nichts entstanden. Im Gegenteil: Bei kaum einem Denker von Rang ist die Abhängigkeit von seiner geistigen Herkunft so offenkundig wie gerade bei Platon. Dabei ist nicht so sehr an die Anhänger Heraklits zu denken, denen er sich in der Jugend angeschlossen zu haben scheint, auch nicht an die Pythagoreer, mit denen er bis in sein Alter in Verbindung stand, noch nicht einmal an die Sophistik, mit der er Auseinandersetzungen führte, die sein Werk auf vielfältige Weise dokumentiert. Zu denken ist vielmehr an Sokrates, den Platon als den Lehrer verehrte, der als Vorbild seinem Leben und Denken die Richtung gab1. Platon hat seinem Lehrer ein einzigartiges Denkmal gesetzt: Fast alle seine Werke haben die literarische Form von Dialogen, in denen die Figur 1

Ep. VII, 324d ff.

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Zur Geschichte der Philosophie: Antike und Mittelalter 

des Sokrates eine zentrale Stellung einnimmt. Sieht man von den – in ihrer Mehrzahl vermutlich ohnehin unechten – Briefen ab, so spricht Platon an keiner Stelle in eigenem Namen über sein Philosophieren und dessen Resultate. Dieser Sachverhalt zwingt jeden Interpreten zu einer Auseinandersetzung mit der Frage, wo Platons Philosophie in dem unter seinem Namen überlieferten Werk zu finden ist. Die Antwort auf eine derartige Frage wäre trivial, würde sie in Bezug auf einen Autor philosophischer Lehrschriften oder Traktate gestellt. Geht es dagegen um Platon und seine Dialoge, führt der Versuch einer Antwort sogleich zu hermeneutischen Problemen: Spricht Platon in seinen Dialogen durch den Mund des Sokrates oder einer anderen der von ihm gestalteten Figuren? Muss die eigentliche Philosophie Platons vielleicht auf der Basis der Dialoge zuerst rekonstruiert werden? Ist Platons Philosophie am Ende in einer von ihm nur mündlich mitgeteilten, in den Dialogen allenfalls angedeuteten Lehre zu finden? Zugleich geht es dabei um die Frage, wie man sokratisches und platonisches Gedankengut gegeneinander abgrenzen kann. Wer hier eine Antwort geben will, steht vor der Aufgabe, den von Platon als Dialogfigur gestalteten Sokrates auf sein historisches Vorbild, auf Platons Lehrer, zu beziehen. Der historische Sokrates ist eine der rätselhaftesten Figuren der Philosophiegeschichte2. Für uns ist er ausschließlich in seinen Wirkungen greifbar, zumal da er, wie gut bezeugt ist, sein Philosophieren niemals in einer Schrift mitgeteilt hat. Karl Jaspers wird seiner Gestalt gerecht, wenn er ihn in seinem Werk über die großen Philosophen unter die maßgebenden Menschen, seinen Schüler Platon dagegen unter die fortzeugenden Gründer des Philosophierens einreiht. Gewiss gibt es einige Sätze, für die sich schon der historische Sokrates stark gemacht haben dürfte: Unrecht tun ist schlimmer als Unrecht erleiden; Tugend ist ein Wissen; niemand tut willentlich Unrecht; ich weiß von meinem Nichtwissen. Trotzdem ist die Mitte seines Philosophierens nicht in bestimmten Thesen zu finden, sondern in der Tätigkeit eines unablässigen Fragens, mit dem er seine Zeitgenossen heimsuchte und damit die Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit dessen unmittelbar erfahrbar machte, was ein jeder für richtig hielt und was er zu wissen glaubte. Kein Wunder, dass Sokrates damit bei seinen Partnern mancherlei Aversionen hervorrief, die an dem Todesurteil, das schließlich über ihn verhängt wurde, gewiss nicht ganz unschuldig waren. Als historische Gestalt und als Urheber der von ihm ausgehenden Wirkungen lässt sich Sokrates dennoch kaum fassen. Nach dem Urteil eines der besten Kenner 2

Vgl. z. B. Karl Jaspers, Die großen Philosophen, München 1957; Heinrich Maier, Sokrates. Sein Werk und seine geschichtliche Stellung, Tübingen 1913 (Repr. Aalen 1964); Gottfried Martin, Sokrates in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1967; Olof Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, Bern 21979, Helmut Kuhn, Sokrates. Ein Versuch über den Ursprung der Metaphysik, München 1959.

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der Materie3 lässt sich die Situation des heutigen Betrachters gar mit der Situation eines Historikers vergleichen, der auf der Basis der literarischen Gestaltung des Doktor Faustus zu Erkenntnissen über ihr Vorbild, den legendären spätmittelalterlichen Wundermann, gelangen will. Trotzdem kann man auf der Grundlage der Quellen versuchen, sich dem historischen Sokrates wenigstens zu nähern. Wertvoll sind die sehr kurzen Berichte, die Aristoteles gibt, wenn er zwei Errungenschaften heraushebt, die man Sokrates verdankt: das induktive Argumentieren und vor allem die in den Bemühungen um Definitionen in der Ethik sich dokumentierende Suche nach dem Allgemeinen4. Die von Aristophanes in den „Wolken“ von Sokrates gezeichnete Karikatur mag einige Züge treffen und sogar überbetonen, könnte aber, wie es jeder guten Karikatur eigen ist, nur von dem angemessen gewürdigt werden, der auch unabhängig von ihr deren Vorbild kennt. Xenophon will Sokrates in seinen „Erinnerungen“ gegenüber seinen Anklägern verteidigen, wenn er das Bild einer durchaus sympathischen, aber eben doch biederen und harmlosen Figur zeichnet, von der man nicht annehmen würde, dass sie einen der Wendepunkte der Philosophiegeschichte markiert. Am Ende sieht man sich daher doch wieder auf das Denkmal verwiesen, das Sokrates von Platon in den Dialogen gesetzt worden ist. Obwohl dieser Sokrates das Resultat einer mit äußerstem Raffinement gearbeiteten literarischen Gestaltung ist, bleiben Platons Dialoge als Antwort auf Sokrates’ Wirken immer noch die wichtigsten Quellen, die einen Zugang zu seinem historischen Vorbild ermöglichen, auch wenn es nach der Formulierung eines vermutlich unechten, den Sachverhalt trotzdem treffend charakterisierenden, unter Platons Namen überlieferten Briefes ein jung und schön gewordener Sokrates ist, auf den diese Dialoge zurückgehen5. Alle mit dem historischen Sokrates verbundenen Ungewissheiten brauchen einen aber nicht von dem Versuch abzuhalten, das sokratische Erbe in Platons Philosophie einzukreisen. Man sollte dabei nur nicht das Ziel verfolgen, Sokratisches und Platonisches exakt und randscharf gegeneinander abzugrenzen. Denn dieses sokratische Erbe wird für uns immer nur als ein Erbe sichtbar, das Platon bereits angetreten und seinem Gestaltungswillen unterworfen hat. Daher kann man sich nichts von dem Versuch versprechen, dieses Erbe gleichsam mit Hilfe eines Subtraktionsverfahrens freizupräparieren, bei dem man von allem absehen müsste, was eine lange Tradition als genuin platonische Lehre zu betrachten pflegt, in besonderem Maße also von den über Platons Werk verstreuten Überlegungen, deren 3

Gigon a. a. O. (Anm. 2). Arist. Met. M 4, 1078b27 ff.; A 6, 987 b1 ff. 5 Ep. II, 314c. 4

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sachlichen Gehalt man unter dem Titel der Ideenlehre zusammenzufassen pflegt. Trotzdem darf man hoffen, Platons sokratisches Erbe am leichtesten noch in seinem Frühwerk, also beispielsweise im „Laches“, zu Gesicht zu bekommen. Aber es wird heute kaum jemand mehr den Thesen älterer Forscher beipflichten, die gerade in Platons Frühwerk eine getreue Darstellung des historischen Sokrates, seiner Existenz und seines Philosophierens finden wollten6. Andererseits sollte man nicht übersehen, dass Platons sokratisches Erbe mancherlei Metamorphosen erfahren hat, gerade deshalb aber in seinem Denken selbst noch im Spätwerk wirksam sein kann. Zum sokratischen Erbe gehört ohne Zweifel die literarische Form des Dialogs, deren sich Platon für sein geschriebenes Werk bedient, wenn er Gespräche gestaltet, in denen ein stilisierter Sokrates in Interaktion mit Partnern unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Charakters Erörterungen anstellt, deren Nerv nicht so sehr in Thesen oder Behauptungen, sondern in der Kunst des Fragens zu finden ist. Die Platonforschung hat bis heute noch nicht zu einer Einigung darüber gefunden, welcher Stellenwert dieser literarischen Form bei der Deutung von Platons Philosophie im ganzen zuzumessen ist, ob sie mit dem Inhalt dieser Philosophie in einem inneren Zusammenhang steht und deshalb für ihn wesentlich, vielleicht sogar von ihm gefordert ist und bereits als Form der Mitteilung des philosophischen Gedankens dient7 oder ob man in ihr nur eine kunstvolle Einkleidung sehen soll, über deren Techniken ein Autor vom schriftstellerischen Genius Platons jederzeit verfügen konnte, die sich aber dem mit ihrer Hilfe mitgeteilten Inhalt gegenüber neutral verhält, zwar oft mit gutem Erfolg didaktische Absichten verwirklicht, ohne jedoch den Leser immer daran hindern zu können, die Aufmerksamkeit von den zentralen philosophischen Lehren weg auf weniger wichtige, ja auf äußerliche Dinge hinzulenken8. 6

Vgl. John Burnet, Greek Philosophy, Bd. 1: Thales to Plato, London 1950; Alfred E. Taylor, Socrates, London 1935 (Repr. Westport 1976); Maier a. a. O. (Anm. 2). 7 Z. B. Fr. Schleiermacher, Einleitung zu Platos Werken (1804, S. 3–52; 21817, S. 3–52; 3 1855, S. 5–36), in: Konrad Gaiser (Hg.), Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 1–32; Ernst Heitsch, Wege zu Platon. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens, Göttingen 1992; Julius Stenzel, Literarische Form und philosophischer Gehalt des platonischen Dialoges, in: ders., Studien zur Entwicklung der Platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles, Breslau 1917, 2. erw. Aufl. Leipzig 1931, Repr. Darmstadt 1961; Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bde. 5–7: Griechische Philosophie, Tübingen 1985–1991; Hermann Gundert, Platonstudien, hg. von Klaus Döring / F. Preißhofen, Amsterdam 1977; Jürgen Mittelstraß, Versuch über den Sokratischen Dialog, in: Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität, Frankfurt a. M., S. 138–161; Paul Friedländer, Platon, Bde. 1–3, Berlin 31964–1975; Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982 (21999). 8 Z. B. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubil.-Ausg., hg. v. H. Glockner, Stuttgart 1927–1940 u. ö., Bd. 18: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 2. Bd.; Paul

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Wer von diesem Deutungsmuster Gebrauch macht, steht bei seinem Versuch, Platons Philosophie zu verstehen, zunächst vor der Aufgabe, den dogmatischen Kern unter der dialogischen Einkleidung freizulegen, seinen systematischen Zusammenhang zu rekonstruieren und darzustellen. Der Platon der philosophiehistorischen Handbücher ist zumeist ein in dieser Weise rekonstruierter Platon, dessen Philosophie zwar eine Entwicklung erfahren hat, in ihren Hauptlehren sich dennoch als eine Einheit darstellen lässt. Zum Verständnis eines in dieser Weise systematisierten Platon trägt ein von der Forschung zwar beachtetes9, aber nicht gerade verwöhntes Frühwerk wie der „Laches“ dann freilich nur sehr wenig bei. Die hier am Paradigma des „Laches“ vorzutragende Deutung will gewiss nicht ausschließen, dass sich aus Platons Dialogen, vorzugsweise freilich aus den Werken der mittleren Zeit und der Spätzeit, manche Sätze herausgreifen lassen, die als Lehrmeinungen Platons in Anspruch genommen werden können. Sie will indessen die Vermutung erhärten, dass dabei mancherlei übersehen wird, was für das Verständnis von Platons Denken deshalb wesentlich ist, weil schon die Dialogform selbst und nicht nur der in sie eingelassene Inhalt Momente des philosophischen Gedankens repräsentiert. Das lässt sich mit Hilfe der in der gegenwärtigen Philosophie häufig verwendeten Alternative von Sagen und Zeigen verdeutlichen: Platon kann gewiss manches sagen oder, genauer, durch Sokrates und die anderen Dialogfiguren sagen lassen. Mittels der Techniken der Dialogregie kann er außerdem aber noch viele Dinge zeigen, die er nicht sagt und die sich manchmal vielleicht gar nicht aussagen lassen. Die Techniken der literarischen Formgestaltung erlauben es ihm, auch alle deiktischen Valenzen der Sprache für den Ausdruck und für die Gestaltung des philosophischen Gedankens fruchtbar zu machen. Die Aussagen, die Sätze, die Fragen, die in einem platonischen Dialog vorkommen, werden von ganz bestimmten, literarisch gestalteten Charakteren gegenüber ganz bestimmten Adressaten geäußert. Zwar wird gelegentlich auch einmal über die Personen des Dialogs gesprochen; dennoch Natorp, Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Leipzig 21921 (Repr. Hamburg 1994); Hans Joachim Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959; Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963 (31998); Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, Paderborn 1993 (it. Per una nuova interpretazione di Platone, Milano 141994); ferner die Mehrheit der Vertreter der englischsprachigen Platonforschung. 9 Z. B. Rosamond Kent Sprague, Plato: Laches and Charmides. Translated, with an Introduction and Notes, Indianapolis 1973; Rudolf Schrastetter, Der Weg des Menschen bei Plato. München 1966; Reinhard Dieterle, Platons „Laches“ und „Charmides“. Untersuchungen zur elenktisch-aporetischen Struktur der platonischen Frühdialoge, Diss. Freiburg 1966; Georg Picht, Kommentar zu Platons „Laches“ (Typoskr.).

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werden sie dem Leser in erster Linie nur gezeigt, nämlich als Gestalten von ausgeprägter Individualität, mit bestimmten Überzeugungen, Vormeinungen und Vorurteilen, die sie in das Gespräch einbringen. Sie alle haben historische Vorbilder, die der zeitgenössische Leser oft noch kannte oder von denen er zumindest wusste. Dieser Leser konnte daher auch die Spannung in Rechnung stellen, die zwischen Platons Gestaltung literarischer Charaktere und ihren historischen Vorbildern besteht. Dazu gehört auch die Spannung zwischen der Entstehungszeit eines Dialoges und der Zeit, zu der das dargestellte Gespräch auf der Ebene der literarischen Fiktion spielt. Was Sokrates von Platon in seinen Dialogen in den Mund gelegt wird, konnte und musste der zeitgenössische Leser deshalb vor dem Hintergrund der ganzen Lebensgeschichte des historischen Vorbildes dieser Figur bis hin zum Todesurteil verstehen. Dieser Leser kannte auch die militärische Karriere des Generals Laches, den Platon in dem nach ihm benannten Dialog auftreten lässt, um von Sokrates in ein Gespräch über das Wesen der Tapferkeit verwickelt zu werden. Das gleiche gilt für Laches’ Kollegen und Rivalen Nikias. Von ihm wusste der Leser, dass er, im Dialog von Sokrates über den Primat des Heerführers vor dem Seher belehrt10, in späteren Jahren im Zuge der Sizilienexpedition des Peloponnesischen Krieges von einem Rat der Seher in einer Weise Gebrauch machen wird, der das ihm anvertraute Heer in die Niederlage und ihn selbst indirekt in den Tod führt. Es gibt auch ein Wissen, das im Dialog nur gezeigt wird. Es ist ein Wissen vom Typus der Fähigkeiten und Fertigkeiten, das einer bewährt, wenn er mit der Welt, vor allem aber mit den Menschen in ihr umgehen kann, ohne es deswegen zum Gegenstand oder zum Inhalt eines verbalen Ausdrucks machen zu müssen. In diesem Sinne wird Sokrates als ein Mensch gezeigt, der über die Fähigkeit verfügt, seinem jeweiligen Partner die diesem selbst nicht immer bewussten Voraussetzungen seines Redens im Gespräch vor Augen zu stellen und ihn im Ausgang von der Erörterung einer beliebigen gegenständlichen Frage zugleich Erfahrungen machen zu lassen, die ihn über sich selbst aufklären. Schon durch den Besitz einer derartigen Fähigkeit ist ihrem Inhaber ein Stück Wirklichkeit originär erschlossen. Nikias ist es, der im „Laches“ die Fähigkeit auf den Begriff bringt, mit der Sokrates von Platon ausgestattet wird: Gleichgültig, bei welcher Thematik ein Gespräch seinen Anfang nimmt, das Sokrates mit einem Partner führt –, wer sich auf ein solches Gespräch einlässt, kann dem Schicksal nicht entgehen, von Sokrates mit der Rede so herumgetrieben zu werden, dass er über sich selbst, nämlich über sein jetziges und über sein vergangenes Leben Rechenschaft geben muss11. So wird dem Redenden die Erfahrung vermit 10 11

La. 198e, vgl. 195e f. La. 187e f.; vgl. Apol. 29d ff.

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telt, dass er selbst immer schon in das involviert ist, von dem er spricht. Im sokratischen Gespräch muss sich daher der Partner als der zeigen, der er wirklich ist. Das von Sokrates bewirkte Rechenschaftgeben (λόγον διδόναι), eine auch in der Praxis der zeitgenössischen Politik und Justiz gründende Formel12, enthält daher dort, wo sie bei Platon verwendet wird, stets auch einen Selbstbezug. In einem sokratischen Gespräch werden daher nicht nur Informationen ausgetauscht, sondern es werden zugleich auch Situationen verändert. Platon zeigt in der literarischen Fiktion stets die redende Instanz, die hinter jeder Äußerung steht. So wird der Leser mit einem Satz niemals allein gelassen, weil in jedem Fall zugleich mit der Person des jeweiligen Sprechers ein Realkontext aufgewiesen wird, in dessen Spannungsfeld sich alles Gesagte bewegt. Auch dieser Realkontext wird als Bedeutungsträger mit den Techniken der Dialogregie für die Darstellung des philosophischen Gedankens fungibel gemacht. Es war das Vorbild der Gesprächspraxis seines Lehrers, durch das Platon veranlasst wurde, für diese Darstellung eine Form zu wählen, die deutlich macht, dass selbst theoretische Erörterungen nicht nur Wissensinhalte, nicht nur Thesen oder Hypothesen, sondern zugleich immer auch die Subjekte des Wissens betreffen13. Die von Sokrates in Platons Dialogen an einer Vielzahl von Stellen eingeforderte Rechenschaftsgabe bezieht sich vordergründig gewiss zunächst auf objektive Inhalte, der Sache nach aber zugleich auf die Rechenschaft gebende Instanz selbst. Im „Laches“, seiner Entstehungszeit nach einer der frühesten Dialoge Platons, wird ein Realkontext in ungewöhnlicher Breite präsentiert. Es ist fast die erste Hälfte des Textes, die sich mit dieser Aufgabe befasst14. Schon der quantitativen Relationen wegen wird man hier schwerlich von einer Einleitung sprechen können. Einer früheren Epoche der Forschung, die der Erörterung von Echtheitsfragen in besonderem Maße zugetan war, musste diese vermeintlich hypertrophe Einleitung gelegentlich sogar dazu dienen, den Platon gegenüber erhobenen Vorwurf schriftstellerischer Ungeschicklichkeit zu begründen oder gar den ganzen Dialog für unecht zu erklären15. Übersehen wurde, was auch heute noch immer wieder verkannt wird: Platons Einleitungen und Rahmengespräche gehen nicht darin auf, lediglich eine literarische Dekoration beizusteuern. Denn sie sollen die jeweilige konkrete Situation vor Augen stellen, aus der heraus Sokrates die philo­ 12

Vgl. Wolf Steidle, Der Dialog „Laches“ und Platons Verhältnis zu Athen in den Frühdialogen, in: Museum Helveticum 7, 1950, S. 129–146. 13 Vgl. Mittelstraß a. a. O. (Anm. 7), Picht a. a. O. (Anm. 9), Wieland a. a. O. (Anm. 7). 14 La. 178a–189c. 15 Z. B. Carl Schaarschmidt, Die Sammlung der platonischen Schriften. Zur Scheidung der echten von den unechten untersucht, Bonn 1866; Friedrich Ast, Platons Leben und Schriften, Leipzig 1816; Hermann Bonitz, Bemerkungen zu dem Abschnitt des Dialogs Charmides p. 165–172, in ders., Platonische Studien, Würzburg 31886, S. 243–253.

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sophische Reflexion durch sein Fragen entwickelt und zu der sie immer wieder zurückkehren kann. Die Frage nach einer allgemeingültigen Wesensbestimmung, wie sie von Sokrates im „Laches“ in Bezug auf die Tapferkeit gestellt wird16, gewinnt die ihr eigene Kontur erst durch den Kontrast zur Kontingenz der Situation. So kann gerade durch die Gestaltung des Realkontextes gezeigt werden, wie die Personen des Dialoges immer schon über eine noch vor aller Thematisierung liegende Vertrautheit mit den Dingen verfügen, die erst in der Folge zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird. Zu Beginn des „Laches“ haben zwei Väter, Lysimachos und Melesias, gemeinsam mit den beiden Generälen Laches und Nikias soeben einer Schaustellung eines seine Künste vorführenden Waffenkämpfers beigewohnt. Sie wollen die beiden Militärs um ihren Rat bitten, ob es sinnvoll ist, ihre Söhne in diesem Kampfsport ausbilden zu lassen, wenn ihnen eine möglichst gute Erziehung zuteilwerden soll. Sie selbst waren, was sie beklagen, von ihren Vätern vernachlässigt worden; freimütig bekennen sie, nichts Rechtes gelernt und im Leben nichts der Rede Wertes geleistet zu haben17. Was man bei Expertenbefragungen bis auf den heutigen Tag gewärtigen muss, geschieht auch hier: Die die Angelegenheit unter dem Blickwinkel ihres Metiers beurteilenden Militärs sind uneins. Nikias plädiert für, Laches gegen den Unterricht in der Waffenkunst. An dieser Stelle wird allerdings noch nicht gesagt, dass es dazu nur deswegen kommen kann, weil diese Kunst wie alle Künste von Hause aus ambivalent ist und deswegen zu unterschiedlichen Zwecken nutzbar gemacht werden kann. Sokrates, auf Vorschlag des Laches hinzugezogen18, will das ihm angetragene Amt eines Schiedsrichters nicht antreten, weil ihm hier nicht eine bloße Dezision, sondern Sachverstand gefordert zu sein scheint. Gerade deswegen fragt er nach dem Endzweck, der gegebenenfalls mit der Ausbildung der Söhne in der Waffenkunst verfolgt werden soll. Die Frage nach Erziehung und Ausbildung mündet für ihn letztlich in die Frage nach der Seele ein, danach nämlich, wie sie der Tugend (ἀρετή) oder speziell der Tapferkeit (ἀνδρεία) teilhaftig werden kann19. Sie bietet sich hier als der Teil der Tugend an, dessen Entwicklung durch den Unterricht in der Waffenkunst nach einer gängigen Meinung gefördert wird. Die Erörterungen, die die zweite Hälfte des „Laches“ bilden, pflegt man durch den Begriff des aporetischen Definitionsdialoges zu charakterisieren20, also durch einen Begriff, der auch auf eine Reihe von anderen Dialogen Platons passt. Aporetisch sind diese Dialoge, weil sie ihr Ziel nicht 16

La. 190d. La. 179c. 18 La. 184c; vgl. 180c. 19 La. 185d f., 190b; vgl. 182c. 20 La. 189c–201c. 17

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erreichen, sondern in einer allen Partnern erfahrbar gemachten Ausweglosigkeit zu enden scheinen; als Definitionsdialoge gelten sie, weil Sokrates eine den jeweiligen Rahmen bildende konkrete Problemstellung zunächst suspendiert und darauf dringt, jeder weiteren Erörterung die Frage nach Sinn und Bedeutung eines zuvor schon verwendeten Begriffs vorzuschalten, im „Laches“ also die Frage, was Tugend und speziell was Tapferkeit eigentlich sei21. Es ist eine Frage, mit der nicht etwas gänzlich Neues erkundet, sondern mit deren Hilfe eine Sache aufgeklärt werden soll, mit der alle Beteiligten bereits vertraut sind und von der sie sogar ein sicheres Wissen zu haben glauben. Diese vorgängige Vertrautheit der Dialogfiguren mit der Sache, auf die sich die Definitionsfrage bezieht, gehört zu eben den Dingen, die bei Platon zumeist nicht gesagt, dagegen häufig mit Hilfe der Techniken der Dialogregie gezeigt werden. Der bereits erwähnte Bericht des Aristoteles berechtigt dazu, auch die sogenannten Definitionsfragen zu dem in Platons Philosophie weiter wirkenden sokratischen Erbe zu rechnen. Hier muss jedoch ein naheliegendes Missverständnis abgewehrt werden. Spricht man heute von Definitionen, so denkt man an Formulierungen, die dazu bestimmt sind, Vereinbarungen über den Gebrauch bestimmter sprachlicher Ausdrücke zu dokumentieren. Solchen Konventionen steht nahe, was man früher als Nominaldefinition zu bezeichnen pflegte. Allemal handelt es sich dabei um Gebilde diesseits der Zweiwertigkeit. Konventionen sind entweder abgeschlossen worden oder sind gescheitert, sie sind entweder zweckmäßig oder unzweckmäßig, aber gerade deswegen können sie nicht wahr oder falsch sein. Wenn dagegen Platon seinen Sokrates eine Definitionsfrage stellen lässt, geschieht dies immer unter der Voraussetzung der Wahrheitsdefinitheit des Erfragten. Diese Frage intendiert einen Sachverhalt, den die Antwort entweder trifft oder verfehlt. Sokrates verfolgt im „Laches“ keineswegs die Absicht, lediglich eine Konvention über den Gebrauch des Wortes „Tapferkeit“ abzuschließen. Er forscht auch keinen Konventionen nach, die früher einmal abgeschlossen worden sein mögen. Er will vielmehr wissen, was Tapferkeit eigentlich ist und worauf man sich bezieht, wenn man Fragen erörtert, die bestimmte Bewertungen und Normierungen des Handelns und Verhaltens zum Gegenstand haben. Man einigt sich also nicht über einen Sprachgebrauch, sondern man intendiert unter den Bedingungen eines bereits akzeptierten Sprachgebrauchs genau den Sachverhalt, auf den man sich bezieht, wenn man schon in der alltäglichen Rede von Tapferkeit spricht und sie erwähnt. Verfolgt man eine solche Intention, so kann dies unabhängig von konventionellen Definitionen geschehen, die man über die Bezeichnungen ihres Zieles abschließen mag. 21

La. 190b ff., vgl. 191e f., 194c, 199e, Charm. 159a, Men. 71b, Euthyphr. 6d, Lys. 223b, Rep. 354b.

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Unter diesen Umständen ist es verständlich, wenn man heute der Bezeichnung „Definitionsfrage“ den neutralen Ausdruck „Was-ist-X-Frage“ vorzieht. Verständlich ist auch, dass die logische Feinanalyse der einschlägigen Textstücke heute, vor allem seit Logik und Semantik eine Fülle von begrifflichen Werkzeugen entwickelt haben, der Forschung mancherlei neue Aufgaben stellt22. Das gilt nicht zuletzt auch für den „Laches“23. Es ist hier nicht der Ort, die Erörterungen zu analysieren, mit denen das Vorverständnis auf Begriffe gebracht werden soll, das die im „Laches“ auftretenden Dialogfiguren in Bezug auf Tapfersein und Tapferkeit mitbringen. Daher mögen einige Hinweise genügen. Laches antwortet auf Sokrates’ Frage, was Tapferkeit sei, mit der Skizze eines seinem Kompetenzbereich zugeordneten Handlungsschemas: Tapfer ist, wer in der Schlachtreihe standhaltend den Feind abzuwehren bereit ist und nicht flieht24. Sokrates muss ihm klarmachen, dass er zwar ein gutes Beispiel für tapferes Verhalten angegeben, zugleich aber die Intention der Frage verfehlt hat. Laches hat in der Tat Schwierigkeiten, diese Intention zu verstehen, wenn Sokrates den Sinn der auf ein Allgemeines gerichteten Frage zu verdeutlichen sucht. Aber sogar Sokrates fällt der Versuch schwer, den Sinn dieser Frage deutlich zu machen und das von ihm intendierte Allgemeine korrekt und auf eine auch für seine Partner verständliche Weise zu bezeichnen25. Auch er kann nämlich nicht auf Beispiele und Gegenbeispiele verzichten, wenn er es unternimmt, sein Frageziel gleichsam einzukreisen. So bezieht er sich mit einem Komplementärbeispiel auf die Tapferkeit, die auch der Fliehende an den Tag legen kann26, und knüpft damit in der Sache gerade an das Lob an, das ihm Laches schon im Vorgespräch für sein vorbildliches Verhalten auf der Flucht erteilt hatte27. Laches muss ferner zugestehen, dass Tapferkeit auch außerhalb des Krieges in vielerlei Lagen, beispielsweise in Not oder 22

Vgl. Richard Robinson, Plato’s Earlier Dialectic, Oxford 21953; Victor Goldschmidt, Les dialogues de Platon. Structure et méthode dialectique, Paris 41988 (1947); Peter Stemmer, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin 1992. 23 Vgl. Rolf W. Puster, Zur Argumentationsstruktur platonischer Dialoge: die „Wasist-X?“-Frage in „Laches“, „Charmides“, „Der größere Hippias“ u. „Euthyphron“, Freiburg 1983; Wolfgang Detel, Zur Argumentationsstruktur im ersten Hauptteil von Platons Aretedialogen, in: Archiv f. Geschichte d. Philosophie 55, 1973, S. 1–29; ders., Die Kritik an den Definitionen im zweiten Hauptteil der platonischen Aretedialoge, in: Kant-Studien 65, 1974, S. 122–134; ders., Bemerkungen zum Einleitungsteil einiger platonischer Frühdialoge, in: Gymnasium 82, 1975, S. 308–314; Hugh H. Benson, Misunderstanding the „What-is-F-ness?“-Question, in: Archiv f. Geschichte d. Philosophie 72, 1990, S. 125–142; Andreas Graeser, Zur Logik der Argumentationsstruktur in Platons Dialogen „Laches“ und „Charmides“, in: Archiv f. Geschichte d. Philosophie 57, 1975, S. 172–181. 24 La. 190e; vgl. Apol. 28b. 25 La. 190e, 191e, 192b, 194a; vgl. 185d, 189e. 26 La. 191a, vgl. 182b. 27 La. 181a f.

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in der Krankheit, bewährt werden kann. Es sind aber am Ende nicht so sehr die Handlungen in konkreten Situationen, durch die man Tapferkeit beweist, sondern die Einstellungen zu den diese Situationen beherrschenden Affekten: Tapferkeit wird bewährt gegenüber Lust und Schmerz, Furcht und Begierde28. Damit ist Laches’ zweiter Definitionsvorschlag vorbereitet, der die Tapferkeit internalisiert, wenn er sie als eine bestimmte Beharrlichkeit der Seele bestimmt29. Diese sich auf eine Vielheit von affektiven Situationen beziehende Formel wird der Forderung nach Allgemeinheit schon eher gerecht, zumal da mit der Beziehung auf die Seele auch hier die Ebene erreicht ist, die schon in der ersten Hälfte des Dialoges eine entscheidende Wendung des Gesprächs ermöglicht hatte30. Doch nun kann Sokrates gegen diese offenkundig zu weite Bestimmung Beispiele von Beharrlichkeit anführen, die zwar durch Laches’ Formel gedeckt sind, die aber, wie etwa beharrliches Geldausgeben, niemand als Beispiele für Tapferkeit akzeptieren würde. Man sollte auch hier nicht übersehen, dass Sokrates seine Erörterungen nicht anstellen könnte, wenn er nicht die Möglichkeit hätte, in jedem Stadium des Gesprächs auf ein latentes Vorverständnis von Tapferkeit zurückzugreifen, das er mit seinen Partnern teilt, das aber einstweilen von niemandem auf den Begriff gebracht werden kann. Laches’ Definitionsvorschläge aktualisieren einen Aspekt der Tapferkeit, gemäß dem sie als eine faktisch vorliegende natürliche Eigenschaft erscheint, die Menschen, ja sogar bestimmten Tieren31 zukommen, aber auch fehlen kann. Wenn Nikias, im Vergleich zu Laches auf einer höheren Reflexionsstufe stehend und durch manche Gespräche mit Sokrates schon vorbereitet32, nunmehr eine Definition vorschlägt, die Tapferkeit als ein Wissen (ἐπιστήμη), nämlich vom Furchtbaren und vom Unbedenklichen, bestimmt33, so stellt er eine nicht nur inhaltlich neue Alternative zur Diskussion. Denn auch strukturell ist diese Definition von Laches’ am Faktischen orientierten Vorschlägen unterschieden. Laches’ zweiter Definitionsvorschlag war schließlich auch daran gescheitert, dass er die Verständigkeit (φρόνησιϚ) nicht mit der als Beharrlichkeit der Seele verstandenen Tapferkeit verbinden konnte34. Ist Tapferkeit nun aber nach Nikias’ Vorschlag eine Gestalt des Wissens, so kommt ihr auch der Charakter der Intentionalität zu. Dies führt dann zur Unterscheidung der bloß als faktische Eigenschaft vorliegenden Kühnheit (θρασύτηϚ) von der auch intentional verstandenen 28 29 30 31 32 33 34

La. 191e; vgl. Rep. 429c ff., 442b, Legg. 633c f. La. 192b. La. 185d f. La. 197a. La. 188a, 194d. La. 194e f.; vgl. 182c, vgl. Prot. 360a ff. La. 192c ff.

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Tapferkeit (ἀνδρεία) im engeren Sinne35. Nur ihr wird ein Gegenstand zugeordnet, der erfasst, aber auch verfehlt werden kann. Es ist ihr Gegenstand, der die eigentliche Tapferkeit mit dem Bereich des Wahrheitsfähigen in Verbindung bringt, da eine Sache nicht schon deswegen furchtbar ist, weil sie von jemandem für furchtbar gehalten wird. Daher kann man sich über das, was wahrhaft zu fürchten ist, auch irren. Tapfer ist daher nach dem am Wissen orientierten Vorschlag von Nikias, wer sich über diese Dinge gerade nicht irrt. Offen bleibt, welcher Typus von Wissen bei diesem Vorschlag vorausgesetzt ist. Nikias scheitert jedoch mit seinem Vorschlag gerade auch deswegen, weil er den mit dem Begriff des Wissens verbundenen Schwierigkeiten, mit denen er von Sokrates und Laches gemeinsam36 konfrontiert wird, nicht gewachsen ist37. Fragt man nach dem Ergebnis des Versuchs, das Wesen der Tapferkeit zu bestimmen, so liefert der „Laches“ kein Resultat in Gestalt einer mitteilbaren Formel. Freilich besteht in der Forschung kein Konsens, ob der „ἔκφοροϚ λόγοϚ“, den es nach Sokrates’ ausdrücklicher Feststellung am Ende des Gesprächs nicht gibt38, einen mitteilbaren Satz meint oder ob mit diesem Ausdruck die Partner nur zur Verschwiegenheit ermahnt werden sollen. Nicht gut in Frage stellen lässt sich jedoch die Ausweglosigkeit aller, die Sokrates zum Schluss konstatiert, wenn er die Erfolglosigkeit der Suche nach der Wesensbestimmung der Tapferkeit einräumt39. Aporetische Situationen, in denen sich ein Partner in einen Widerspruch verwickelt, hatten sich im Dialog freilich auch schon früher ergeben40. Diese Aporien ließen sich damals aber doch noch überwinden. Die Aporie am Ende des Dialoges, hinter der auch die Frage nach der Einheit der Tugenden steht, führt dagegen nur noch zu einer Vertagung. Verbunden ist sie mit dem Eingeständnis, dass alle Beteiligten der Belehrung bedürfen. Nach außen hin ergebnislos bleibt der „Laches“ sogar in zweifacher Hinsicht, da nicht nur der Versuch gescheitert ist, das Wesen der Tapferkeit in einer verbalen Formel auszudrücken. Gescheitert ist auch der Versuch, die Frage zu beantworten, die den Anstoß zu den ganzen Erörterungen des Dialoges gegeben hatte. Denn es gibt keinen begründeten Rat, was für einen Unterricht die jungen Leute genießen sollen und wo der Lehrer zu finden ist, dessen nicht nur sie, sondern offenkundig alle Gesprächspartner bedürfen. Auch die Aporetik ist ein Element des sokratischen Erbes in Platons Philo­sophieren. Sie gibt Anlass zu der Frage, was Platon mit Dialogen von 35 36 37 38 39 40

La. 197a ff.; vgl. 184b, Prot. 350b. La. 196c ff. La. 199a ff. La. 201a. La. 199e; vgl. 200e. La. 194c, 196b.

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der Art des „Laches“ zu verstehen geben wollte, die ohne ein ausformulier­ tes Ergebnis enden, nachdem die Partner von Sokrates in eine Aporie geführt worden sind, die sie ihr Nichtwissen im Hinblick auf das jeweils in Frage stehende Thema hat erfahren lassen. Sie haben damit gewiss die Stufe des bewussten Nichtwissens erreicht, die Sokrates für sich seit eh und je in Anspruch nimmt. Trotzdem erscheint die Aporie als ein Skandalon, weil sie sich gewöhnlich gerade nicht als ein Resultat der Erörterung von Fragen über letztlich gleichgültige Dinge ergibt. Die triviale Frage danach, was Schnelligkeit sei, findet im Rahmen des insoweit nur hypothetisch geführten Dialoges eine befriedigende Antwort41. In die Aporie führt dagegen die Frage nach dem Wesen der Tapferkeit, also nach einer Sache, die wahrhaft wissenswert ist, weil es hier um ein Wissen geht, das zu besitzen einem Mann ansteht, der auf sich hält42. Nun hat es niemals an Versuchen gefehlt, Platons Aporien als Oberflächenphänomene zu deuten und damit als bloßen Schein, manchmal sogar als Dokumente ironischer Verstellung zu entlarven43. Folgt man diesem Deutungsmuster, so erscheint die Aporetik als ein bloßes Mittel literarischer Technik, mit dessen Anwendung Platon schriftstellerische Virtuosität beweist: Wenn Sokrates seine Partner in Aporien verstrickt, so soll der Leser die einschlägigen Texte so lesen, als ob es Rätsel wären, weil er darauf vertrauen darf, dass er, hinreichende Anstrengung vorausgesetzt, die von Platon versteckte Auflösung schließlich findet, mit der er dann wie mit einer Prämie für die Mühen der gedanklichen Mitarbeit belohnt wird. Die Aporetik erscheint dann auf die Funktion eines literarischen Kunstmittels reduziert, das allenfalls bei der didaktischen Aufbereitung der Lehrgegenstände nützliche Dienste leisten kann. Die Aporetik, für die in Platons Dialogen die Gestalt des Sokrates steht, vermag auf jeden Fall das Gewicht deutlich zu machen, das der Frage im Verhältnis zu den gegebenen wie auch zu den nicht gegebenen Antworten zukommt. Gerade der historische Sokrates hat nach einem aristotelischen Bericht gefragt, aber nicht geantwortet44. Trotzdem ist man nicht gehalten, in der Zuspitzung der Aporie schon Platons letztes Wort zu der Frage nach dem Wesen der Tapferkeit zu sehen. Im „Laches“ dient Sokrates die Aporie denn auch als Anlass einer an die Partner gerichteten Ermahnung, in ihren 41

La. 192a f. La. 200a. 43 Vgl. Walter Schulz, Das Problem der Aporie in den Tugenddialogen Platos, in: Dieter Henrich u. a. (Hg.), Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken (Festschrift ­Gadamer), Tübingen 1960, S. 261–275; Michael Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken, Berlin 1987; ­Walter Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 41990; Charles L. Griswold, Philosophy, Education and Courage in Plato’s Laches, in: Interpretation 14, 1986, S. 177–193. 44 Arist. Soph. el. 34, 183b7. 42

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Zur Geschichte der Philosophie: Antike und Mittelalter 

Bemühungen nicht locker zu lassen45. Das Ergebnis einer Wiederaufnahme findet sich der Sache nach in der „Politeia“, wenn dort eine umfassendere Bestimmung der Tapferkeit entwickelt wird, in die im „Laches“ erprobte Teilresultate als Elemente eingehen46. Das wird ermöglicht durch einen neuen, im „Laches“ noch nicht verwendeten Rahmen, der durch das Modell der dreistufig gegliederten Seele gebildet wird, wiewohl die Erwähnung des Musiktheoretikers Damon47, der als erster ein vergleichbares Modell vorgeschlagen haben soll, als eine in diese Richtung weisende Andeutung verstanden werden kann. In anderer Weise entwickelt der „Politikos“ eine Bestimmung der Tapferkeit, die die kognitiven und die nichtkognitiven Momente integriert, wie sie im „Laches“ noch auf die beiden Partner von Sokrates verteilt sind48. Wiederum das Modell der „Politeia“ macht verständlich, warum die einzelnen Tugenden, obwohl nicht identisch, nicht unabhängig voneinander in ihrem Wesen bestimmt werden können. Der „Laches“ grenzt eine zunächst auf die Tugend im ganzen gehende Fragestellung auf die Tapferkeit als auf einen ihrer Teile ein49. Der Schluss dieses Dialoges legt jedoch auf dem Wege über eine Reflexion auf die temporale Struktur des die Tapferkeit ausmachenden Wissens50 die Vermutung nahe, dass der Versuch, in ihr einen Teil der ganzen Tugend zu sehen, von einer hier nicht anwendbaren Vorstellung des Verhältnisses von Ganzem und Teil ausgeht51. Die Aporie, in die Sokrates seine Partner geraten lässt, verhindert also keineswegs eine Weiterführung der Untersuchung, sondern fordert sie geradezu. Dennoch behauptet sie ihr eigenes Recht, weil sie niemals zu der Annahme Anlass gibt, diese Untersuchung könnte irgendwann einmal in einer verbalen Formulierung von der Art eines Definitionssatzes an ein unüberholbares Ziel gelangen. Wer in einem Dialog von der Art des „Laches“ hinter der Aporetik ein derartiges Resultat zu identifizieren sucht, kommt in Schwierigkeiten, wenn er sich zugleich einen Reim auf das Nichtwissen machen soll, zu dem sich Sokrates immer wieder bekennt. Auch die zum Bewusstsein des eigenen Nichtwissens führende Reflexion gehört zum sokratischen Erbe der Philosophie Platons. Wie aber ist dieses Nichtwissen zu deuten? Ist sein Ein­ geständnis nur ironisch gemeint, das eigentliche Wissen maskierend? Oder ist Platon eben doch über Sokrates hinausgegangen und hat für sich den 45

La. 201a. Rep. 429c ff. 47 La. 180d, 197d, 200a. 48 Pol. 306a ff.; vgl. Legg. 963d ff. 49 La. 190b f.; 197e f. 50 La. 198b ff. 51 La. 199c f.; vgl. Gregory Vlastos, The Unity of the Virtues in the Protagoras, in: ders., Platonic Studies, Princeton / N. J. 1973, S. 221–269. 46

Das sokratische Erbe in Platons Philosophie

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Besitz jenes Wissens beansprucht, auf das sein Lehrer nur ausgerichtet war, ohne es realisieren zu können? Das sokratische Nichtwissen, selbst schon vieldeutig, ist gewiss nicht geeignet, eine Grenzlinie zwischen Sokrates und Platon zu markieren. Denn Platon hat es nicht hinter sich gelassen, sondern in sein Philosophieren eingebaut und in ihm gegenwärtig gehalten. Dieses gewusste Nichtwissen verweist nur gelegentlich einmal auf einen Informationsmangel, der sich durch geeignete Mitteilungen beheben lässt. Das Nichtwissen kann seinen Grund auch im Fehlen einer Kompetenz haben, die einem ein bestimmtes Sachgebiet erschließt, ohne sich aber darin zu erschöpfen, ihrem Inhaber die Kenntnis bestimmter Sätze zu verschaffen. So führt Sokrates seine Inkompetenz ins Feld, das den Ausgangspunkt bildende Erziehungsproblem zu lösen52. Erst recht lässt sie ihn das ihm angetragene Amt eines Schiedsrichters ablehnen, obwohl er ursprünglich gerade der ihm unterstellten Kompetenz wegen zum Gespräch hinzugezogen worden war53. Sokrates bekennt sein Nichtwissen indessen immer nur in Bezug auf ganz bestimmte Inhalte. Kommt es einmal darauf an, kann er durchaus mit Informationen aufwarten. So führt er im Zuge seiner Kritik an Laches’ erstem Definitionsvorschlag Komplementärbeispiele an, die seine Beschlagenheit in militärhistorischen Dingen zeigen54. Sie erlaubt es ihm, dem Erfahrungshorizont seines Partners Rechnung zu tragen. Sokratisches Nichtwissen, also bewusstes Nichtwissen, ist immer bereits das Resultat, allenfalls ein Zwischenresultat einer Erörterung, die einen wahrhaft wissenswerten Gegenstand thematisiert. Es steht niemals am ersten Anfang einer solchen Erörterung. Im „Laches“ zeigt sich dies in Sokrates’ Eingeständnis, gerade über das Wesen der Tapferkeit, von der im Dialog ständig die Rede war, nicht Bescheid zu wissen55. Das ist ein Beispiel für einen Gegenstand, über den zunächst alle, zumal Sokrates’ Gesprächspartner, Bescheid zu wissen glauben. Das sokratische Nichtwissen steht daher weniger zum genuinen Wissen im Gegensatz, sondern vielmehr zu einem Scheinwissen, aufgrund dessen man nur zu wissen glaubt, aber gerade nicht wirklich weiß56. Dieses Nichtwissen enthält die Einsicht, dass das vermeintliche Wissen, das jeder über die wesentlichen Dinge zu haben glaubt, seine Brüchigkeit gerade dann zeigt, wenn es von seinem Träger nicht mehr verteidigt werden kann, sobald es mit Hilfe von Techniken geprüft und in Frage gestellt wird, wie sie Sokrates zu Gebote stehen. Obwohl der Inhalt von Nikias’ Definitionsvorschlag57, der die Tapferkeit als eine 52 53 54 55 56 57

La. 186c, 200e; vgl. 184c. La. 180c. La. 191a f. La. 199e. La. 190c; vgl. 186d. La. 194e.

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Gestalt des Wissens versteht, einen Fortschritt darstellt und von Platon gerade in der „Politeia“ wieder aufgenommen wird, repräsentiert er schon deswegen kein Wissen, weil sein Urheber nicht auf angemessene Weise mit ihm umgehen kann. Das zeigt sich in seiner Unfähigkeit, der Zeitstruktur des einschlägigen Wissens, die von Sokrates ins Spiel gebracht wird, sowie seiner Reflexivstruktur gerecht zu werden58. Das vermeintliche Wissen, über das jeder immer schon zu verfügen glaubt, repräsentiert daher in Wirklichkeit bloß Meinungen. Dessen ist sich Sokrates freilich ganz sicher. Diese Sicherheit zeigt sich in seiner Fertigkeit, Meinungen in ihrer Eigenart gerecht zu werden und mit ihnen umzugehen. Deshalb kommt er auch nicht in Versuchung, endgültiges Wissen in Gestalt von Aussagen zu suchen, da Aussagen von Hause aus ohnehin immer nur Meinungen dokumentieren. So konnte denn auch schon vermutet werden, dass in der Fähigkeit, Meinungen als Meinungen zu identifizieren, das eigentliche Wissen besteht59. Wie dem auch sei –, weder das Wissen, nach dem Sokrates sucht, noch das Wissen, das er als bewusst Nichtwissender verkörpert, lässt sich ohne Rest in Aussagen vergegenständlichen und mitteilen. Nicht zufällig vergleicht Sokrates sein Wissen einmal mit der Unfassbarkeit eines Traumbildes60. Das Allgemeine, nach dem er fragt, ist in unserem Reden über beliebige Objekte, vor allem in den Prädikatoren ständig präsent. Es ist aber auch für Sokrates kaum zu fassen, wenn man es selbst zum Objekt zu machen sucht. Auch die Ideen, die Platon später annehmen wird, um das Ziel des sokratischen Fragens zu kennzeichnen, markieren nur eine der Lösungsmöglichkeiten. Über die Folgelasten dieser Annahme lässt Platon selbst immerhin ein klareres Bewusstsein erkennen als die meisten seiner Nachfolger. Die Schriftkritik des „Phaidros“, eine der Schlüsselstellen jeder Platondeutung, lässt sich ebenfalls in diesem Sinne auswerten61. Sokrates lehrt in diesem späten Dialog die Unfähigkeit der Schrift, Wissen zu inkorporieren. Zwar könne sie als Gedächtnisstütze von Nutzen sein. Aus eigener Kraft vermöge sie aber kein Wissen mitzuteilen, da sie, um nicht planlos herumzuirren, auf die Hilfe einer Instanz angewiesen sei, die hinter ihr steht und über das eigentliche Wissen verfügt, das sie befähigt, von ihr den richtigen Gebrauch zu machen. Platon lässt Sokrates hier gewiss nicht nur den Wortlaut mündlicher Rede mit ihrer schriftlichen Fixierung konfrontieren. Der Sache nach unterliegt bereits der der schriftlichen Fixierung lediglich fähige Wortlaut dem Verdikt, wenn das eigentliche Wissen nur bei der mit diesem Wortlaut umgehenden Instanz zu suchen ist. Zwar ist diese Instanz dem 58

La. 198b ff. Vgl. Theodor Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum „Charmides“, „Menon“ und „Staat“, Berlin 1974. 60 Symp. 175e. 61 Phaidr. 274b ff. 59

Das sokratische Erbe in Platons Philosophie

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gesprochenen Wort immer noch näher als seiner schriftlichen Dokumentation. Aber auch das gesprochene Wort verkörpert ohne diese Instanz für sich allein noch kein Wissen. Die Schriftkritik gibt jedenfalls keinen Anlass, Platon zu unterstellen, das Ziel des Erkenntnisstrebens im Wortlaut von Sätzen, ob nun aufgeschrieben oder nicht, gesucht zu haben. Diese Kritik ist der Sache nach ohnehin zugleich eine Rechtfertigung der sokratischen Existenz. Sie wird den immensen Kompetenzen, die der redende Sokrates allenthalben bewährt, ebenso gerecht wie seinem bewussten Nichtwissen, auf das er, der sein Philosophieren niemals schriftlich fixiert hat, sich immer gerade dann berufen kann, wenn es darum geht, Wissen in verbaler Gestalt zu vergegenständlichen. So ist das Eingeständnis des Nichtwissens in Bezug auf die Tapferkeit im „Laches“ das Resultat der vergeblichen Suche nach einer das Wesen dieser Tugend ohne Rest ausdrückenden Formel unter Bedingungen, unter denen Dialogfiguren gezeigt werden, die von dem Begriff der Tapferkeit auf treffende Weise Gebrauch machen können, solange er nicht zum Gegenstand gemacht wird. Woran orientiert man sich dann aber beim Gebrauch dieses Begriffs? Diese Frage wird im „Laches“ gestellt, ohne dort noch eine Antwort zu finden62. Misstrauen gegenüber dem Wortlaut verbaler Formulierungen zeigt der „Laches“ auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst mag man glauben, von allem, was man weiß, auch aussagen zu können, was es ist63. Diesen von Sokrates nicht ohne eine gewisse List gemachten Vorschlag ist Laches sofort zu akzeptieren bereit, ohne zu bemerken, dass der Satz dazu bestimmt ist, durch die Tat falsifiziert zu werden. Bald gerät Laches in Schwierigkeiten, weil er, nach dem Wissen der Tapferkeit gefragt, gerade das nicht objektivieren kann, worauf für ihn ein Stück seines Selbstverständnisses beruht. Nachdem seine Definitionsvorschläge der Prüfung nicht haben standhalten können, muss er unwillig gestehen, was er im Sinn habe (νοεῖν), nämlich was Tapferkeit sei, gerade nicht in einem Satz zusammenfassend aus­ drücken zu können64. Damit ist bereits die Selbstverständlichkeit erschüttert, mit der die Erörterung ihre Intention zunächst auf die Formulierung von Aussagen richtete. Denn es handelt sich ja nicht nur um eine auf die Person des Laches beschränkte Ausdrucksschwäche, zumal da auch Sokrates selbst am Ende das Fehlen eines in einer mitteilbaren Formel ausgedrückten Ergebnisses feststellen muss65. Doch der „Laches“ zeigt auch noch andere Gestalten, die der Hiatus zwischen Gesagtem und Gemeintem annehmen kann. Ein solcher Hiatus liegt auch vor, wenn man, wie es die Redner oft 62

La. 197e. La. 190c. 64 La. 194a f. 65 La. 201a. 63

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tun, mit leeren Worten Eindruck macht, die nicht ausdrücken, was man im Sinn hat66; er tritt auch ein, wenn man etwas sagt, was den Partner nicht erreicht. Gerade Laches zeigt keine Scheu vor dem Eingeständnis, etwas nicht verstanden zu haben67; auch er kennt den Unterschied zwischen dem, was einer sagt, und dem, was er eigentlich sagen will. Ein Hiatus liegt ferner dann vor, wenn man absichtlich zurückhält, was man sagen könnte68. Gemäß einer im Griechischen gängigen Redeweise schließlich sagt nichts, wer etwas Falsches oder etwas Unsinniges ausdrückt69. Überdeutlich wird schon zu Beginn des Dialoges eine ganz andersartige Divergenz zwischen Gemeintem und Gesagtem akzentuiert: Lysimachos bittet die beiden Militärs, die um ihren Rat in der Erziehungsfrage gebeten werden sollen, ausdrücklich um die Freimütigkeit (παρρησία) der Rede, zu der er auch selbst bereit ist70. Diese Freimütigkeit verlangt, mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg zu halten, sich zu den eigenen Defiziten zu bekennen und wie unter Freunden nur zu sagen, was man wirklich im Sinn hat. Eine solche Situation ist weit davon entfernt, den Normalfall verbaler Kommunikation zu exemplifizieren, da es zur Lebensklugheit gehört, auf Partner vorbereitet zu sein, die sich verstellen, einem nur nach dem Munde reden und die eigene Meinung verbergen. Der Anfang des „Laches“ lehrt, dass die Situation der freimütigen Rede eher die Ausnahme darstellt. Wer das Ziel des Philosophierens nur in der Erarbeitung und in der Begründung von Lehrsätzen sieht, wird Platons „Laches“ vermutlich nur wenig Interesse entgegenbringen. Nicht zufällig war dieser Dialog in der Wirkungsgeschichte des Platonismus kaum von Bedeutung. Auch die Platon­ forschung liest dieses Werk oft nur im Licht eines „noch nicht“, nämlich im Blick auf die hier allenfalls vorbereiteten oder angedeuteten, vielleicht sogar bewusst zurückgehaltenen Lehren, in denen die Tradition den Ertrag von Platons Philosophieren zusammenzufassen pflegt71. (Einen Sonderfall bilden die politisch-philosophischen Interpretationen aus der Schule von Leo Strauss72.) Geht man von einem solchen Ansatz aus, läuft man jedoch 66

La. 196b, 197c; vgl. 195a La. 190e, 191e, 194a, 194d, 196a. 68 La. 197c. 69 La. 195a, 196b f.; vgl. 199e. 70 La. 178a; vgl. 179c, 186d, 189a, 196b. 71 Vgl. Ian M. Crombie, An Examination of Plato’s Doctrines, 2 Bde., London 1962 u.1963; William D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, Oxford 1951; Hartmut Erbse, Über Platons Methode in den sogenannten Jugenddialogen, in: Hermes 96, 1968, S. 21–40; Charles H. Kahn, Plato’s Methodology in the Laches, in: Revue international de Philosophie 40, 1986, S. 7–21; N. P. White, Plato on Knowledge and Reality, Indianapolis 1976. 72 Vgl. Mark Blitz, An Introduction to the Reading of Plato’s Laches, in: Interpretation 5, 1975, S. 185–225; Griswold a. a. O. (Anm. 43); S. P. Umphrey, Plato’s Laches on Courage, in: Apeiron 10, 1976, S. 14–22. 67

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Gefahr, das zu übersehen, was ein Werk wie der „Laches“ gerade dann zu verstehen gibt, wenn man von den Lösungsmöglichkeiten absieht, die sein Autor erst zu einem späteren Zeitpunkt entdeckt hat. Dann verspielt man allzu leicht die Chance, jenem sokratischen Erbe gerecht zu werden, das Platons Philosophieren in allen Stadien seines Weges geprägt hat. Zu diesem Erbe gehört das nichtpropositionale Wissen, wie es von Platon mit den Mitteln der Dialogregie oft nur gezeigt wird73. Man kann zwar über dieses Wissen mit Hilfe von Sätzen reden; es geht aber selbst nicht in diese Sätze ein und es lässt sich durch sie auch nicht mitteilen. Die sich auf Platon berufende Tradition nahm ein solches Wissen dort an, wo eine Wahrheit erschaut wird, die durch Sätze weder vorstellig gemacht noch vermittelt werden kann. Ohne Zweifel erkennt Platon die Existenz eines Unsagbaren an. Doch er ist weit davon entfernt, einem Kult des Unsagbaren das Wort zu reden. Seine Antwort auf die Entdeckung von Unsagbarem besteht in der Ausbildung einer höchst differenzierten Kultur des Umgangs mit dem Sagbaren, die zugleich dessen Grenzen bewusst macht. Der Eigenart des nichtpropositionalen Wissens und seiner Rolle wird man nicht gerecht, wenn man es nur in Grenzerfahrungen sucht, die wenigen Auserwählten vorbehalten sind. Denn über ein Wissen dieser Art verfügt jeder, der sich auf eine Sache versteht, der Mathematiker ebenso wie der bei Sokrates so beliebte Handwerker. Die Befähigung, über Gegenstände seines Kompetenzbereichs treffend zu reden, ist nur ein Epiphänomen dieses Wissens. Selbst der Waffenkämpfer im „Laches“ hat mit der Vorführung seiner Kunst vor dem Beginn des Dialoges eine Probe des ihn auszeichnenden Wissens gegeben74. In Verbalisierungen geht es ebenso wenig ein wie etwa das Wissen, das den guten Reiter oder den Flötenspieler ausmacht75. Das Beispiel des Wissens vom Hören und vom Sehen, das dem guten Ohrenarzt oder Augenarzt eigen ist76, meint ebenfalls kein definitorisches Wissen. Auch die Kompetenz, die Sokrates im Umgang mit der Rede, besonders aber im Umgang mit Fragen bewährt, geht selbst nicht in die Sätze ein, von denen sie gelegentlich einmal zum Gegenstand gemacht wird. In allen diesen Fällen liegt ein Wissen vor, das seinen Ort im Gebrauch von Dingen und im Umgang mit ihnen hat. Ein solches Wissen lässt sich noch nicht einmal virtuell von seinem Subjekt isolieren, da es nur in dieser Bindung die ihm eigene, nicht mitteilbare Authentizität findet. Es ist ein Wissen von der Art, wie es heute vor allem das Interesse der personalistisch orientier-

73

Wieland a. a. O. (Anm. 7). La. 179e f., 181c f., 182c, 184c, 193b. 75 La. 193b, 194e. 76 La. 189e f.; vgl. 185c. 74

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ten Erkenntnistheorie auf sich zieht77. Mit den Techniken der Dialogregie bringt es Platon auf eine wirkungsvollere Weise ins Spiel, als es durch bloße Aussagen über dieses Wissen möglich wäre. Gerade in der unreflektierten Einstellung pflegt man alle Rede immer zugleich auf den Sprecher und dessen persönliche Glaubwürdigkeit zurückzubeziehen. Sokrates kann daher von Laches gerühmt werden, weil er für ihn die gelungene Harmonie von Worten und Taten verkörpert und weil er dessen, was er sagt, auch würdig ist78. Laches wäre andernfalls gewiss nicht bereit, sich auf das für ihn so ungewohnte sokratische Gespräch einzulassen79. Die Personalität des von Sokrates verkörperten Wissens erschöpft sich freilich nicht in der auch von Sokrates geforderten Übereinstimmung von Worten und Taten oder in der Verkoppelung der Wahrheit der Rede mit der Wahrhaftigkeit des Sprechers80. Denn es geht um ein Wissen, das eine Person zu dem macht, was sie ist, und von dem sie sich nicht wie von einer bloßen Information distanzieren kann. Auch die technischen und die handwerklichen Kompetenzen gehören diesem Typus an. Freilich scheitern bei Platon alle Versuche, die Tugenden nach dem Vorbild des Gebrauchswissens zu verstehen. Aber die ihnen eigene kognitive Komponente lässt sich schon gar nicht im Sinne einer propositionalen Information verstehen. Die Rückbindung des nichtpropositionalen Wissens an sein Subjekt braucht sich andererseits auch nicht in die Paradoxien des Selbstbewusstseins zu verstricken. Aber die reflexive Komponente des Wissens, als das Nikias die Tapferkeit versteht, wird von ihm selbst gar nicht artikuliert. So wird auch nicht ausgesprochen, dass die von Laches angeführten Gegenbeispiele81 gerade wegen des Fehlens der reflexiven Komponente scheitern. Denn gerade der Tapfere muss wissen, was nicht für irgendjemanden, sondern was für ihn selbst wahrhaft furchtbar ist. Eine andere Gestalt der Reflexivität nimmt Sokrates für den Dialog als solchen in Anspruch: Selbst der Vollzug der Untersuchung macht es nötig, die Tapferkeit, von der die Rede ist, in der Führung des Gesprächs auch selbst ins Spiel zu bringen82. Im Rückblick mag daher selbst die am Beginn des Dialoges beschworene Freimütigkeit als eine Gestalt der Tapferkeit erscheinen. Die vor allem durch die Sokratesgestalt verkörperte Dimension des personalen Wissens gehört zu dem Erbe, das Platon auch dort bewahrt hat, wo im Spätwerk die Sokratesgestalt nicht mehr jederzeit dominiert. Ein 77

Vgl. Michael Polanyi, Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, London 1973. 78 La. 188c f.; vgl. 181b, 189b. 79 La. 188e, 194a. 80 La. 193e; vgl. 188d. 81 La. 195b ff.; vgl. 192e. 82 La. 194a.

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arges Missverständnis wäre es aber, wollte man den „eigentlichen“ Platon nur in den Elementen seines Denkens suchen, die nicht zu diesem Erbe gehören. Der Platonismus der Tradition ist freilich über weite Strecken ein Platonismus ohne Sokrates, mithin ein gleichsam halbierter Platon. Dem um sein sokratisches Erbe verkürzten Platon fehlt jedoch nicht nur das eine oder das andere Element, sondern es fehlt ihm eine ganze Dimension. Der Sokrates der Dialoge agiert am Leitfaden von propositionalen Gebilden, von Fragen und von Antworten, wenn er Sätze zu finden und zu formulieren, zu begründen und zu verwerfen sucht. An diesen Sätzen muss sich jeder Versuch einer Rekonstruktion von Platons Denken orientieren. Die propositionalen Strukturen bilden aber immer nur eine Oberfläche, unter der jene Tiefendimension nicht vernachlässigt werden sollte, der Gestalten des Wissens zugeordnet sind, die Platon mitsamt ihren Subjekten oft nur noch zeigt. Die Philosophie glaubt heute eingesehen zu haben, dass sie sich, will sie nicht einer Selbsttäuschung zum Opfer fallen, nicht nur als Doktrin, sondern auch als Tätigkeit verstehen muss. Es ist das sokratische Erbe, das es Platon erlaubt, auch dieser Dimension der Tätigkeit gerecht zu werden. Ihr entspricht die Bereitschaft, selbst dort auf das Fragen nicht zu verzichten, wo niemand die Möglichkeit einer Antwort garantieren kann. Es ist das Fragen, was Platon und durch ihn alle spätere Philosophie von Sokrates gelernt hat. Zuerst veröffentlicht in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen. Heraus­ gegeben von Theo Kobusch und Burkhard Mojsisch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, S. 5–24.

Staat und Selbstbewusstsein. Eine Notiz zu Platons Politeia Die Frage nach der Wahrheit über die Wirklichkeit im ganzen kann nicht ohne Bezug auf die Frage nach dem Maßstab des richtigen Handelns innerhalb der Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens beantwortet werden. Mit dem Gewinn dieser Einsicht tritt die Geschichte der antiken Philosophie in ihre klassische Periode ein. Die Überlieferung markiert diesen Punkt mit dem Namen des Sokrates. Seit alters her steht aber die Gestalt des Sokrates auch für die Entdeckung, dass man darüber, wie zu leben sei, nicht ausschließlich auf der Grundlage von Autorität oder Tradition entscheiden muss. Denn gerade Sokrates war es, der diese Frage argumentativen Erörterungen zugänglich machte, in denen es darum ging, einsehbare und vernünftige Begründungen des Handelns zu finden. Mit der Frage nach einer vernünftigen Begründung des Handelns ist zugleich das Problem gestellt, in welcher Weise sich der denkende und handelnde Mensch auf sich selbst zurückbeziehen kann. Es ist ein Problem, dessen Virulenz nicht davon abhängt, ob einem eine spezifische Terminologie zur Verfügung steht, die es erlaubt, Reflexivstrukturen als solche zu thematisieren. Denn das Problem des Selbstbewusstseins lässt sich in den unterschiedlichsten sprachlichen Verkleidungen präsentieren. Daher sollte man sich nicht durch die Tatsache beirren lassen, dass eine zur Bezeichnung der einschlägigen Strukturen geeignete Terminologie im Umkreis der antiken Philosophie allenfalls in Ansätzen zu finden ist. Der Sache nach sind Strukturen der Selbstbeziehung jedenfalls bereits überall dort vorausgesetzt, wo man nach der Legitimation des menschlichen Handelns und der Ordnungen menschlichen Zusammenlebens fragt. Hier geht es um Fragen, die sich nicht darin erschöpfen, bestimmte Gegenstände zu intendieren, weil sie sich zugleich immer auf den Fragenden selbst zurückbeziehen. Fragt man nach den Grundsätzen des richtigen Handelns, so geht es einem immer auch um das eigene Handeln; fragt man nach der Legitimation der Ordnungen menschlichen Zusammenlebens, so geht es einem zugleich um den eigenen Stand innerhalb dieser Ordnungen. Wissen und Handeln stehen für den nicht als voneinander unabhängige, selbständige Größen gegenüber, der in dem Bewusstsein handelt, dass die eigenen Entscheidungen einer Rechtfertigung fähig, aber auch bedürftig sind. Denn das Handeln gehört zu den Gebilden, für deren Struktur es nicht

Staat und Selbstbewusstsein

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ohne Bedeutung ist, ob und gegebenenfalls wie sie von einem Bewusstsein intendiert, getroffen oder in es aufgenommen werden. Wer sich darum bemüht, über die Grundsätze, Motive und Normen des eigenen Handelns Klarheit zu gewinnen, gestaltet damit zugleich auch dieses Handeln selbst. Entsprechendes gilt für die Ordnungen menschlichen Zusammenlebens. Auch sie sind in ihrer Existenzweise und in ihrem Aufbau auf das Bewusstsein derer zurückbezogen, die in sie eingebunden sind. Kein Staat, überhaupt keine überindividuelle Ordnung ist existenzfähig, wenn sie nicht auf die eine oder die andere Weise im Bewusstsein derer präsent ist, die ihr zugehören. Gewiss muss es sich hier nicht um eine Präsenz von der Art einer bloßen Wiederholung oder einer Widerspiegelung objektiv gegebener Strukturen auf der Ebene des Bewusstseins handeln. Das gegenständliche Substrat dieser Ordnung kann sich auf der Ebene des Bewusstseins der sie ermöglichenden Individuen auch in verkürzter, in verzerrter, ja geradezu in verkehrter Gestalt darstellen. Es ist sogar der Regelfall, wenn der Staatsbürger in Bezug auf seinen Staat ein falsches Bewusstsein entwickelt. Gleichwohl kann kein Staat existieren, wenn er sich nicht auf irgendein Bewusstsein stützen kann, das ihn intendiert. Möglicherweise ist es sogar der Behauptung und der Sicherung seiner Existenz dienlich, wenn sich seine Bürger nur mittels eines falschen Bewusstseins auf ihn beziehen. In diesem Fall könnte er durchaus daran interessiert sein, sich von den jeweiligen Inhalten des ihn intendierenden Bewusstseins zu distanzieren. Auch dann aber bliebe er um seiner eigenen Existenz willen auf das Faktum eines solchen Bewusstseins angewiesen. Umgekehrt kann sich das Individuum selbst nicht verstehen, wenn es sich nicht in den überindividuellen Ordnungen, in denen es sich vorfindet, zu spiegeln sucht. Dies führt freilich zu einem Selbstverständnis, das sich nur zu oft als Selbsttäuschung erweist, wenn man seinen Inhalt analysiert. Es ist daher begreiflich, wenn bei dieser Sachlage immer wieder der Versuch unternommen wird, jenes falsche Bewusstsein zu berichtigen, das das Individuum in Bezug auf die Ordnungen, in die es eingefügt ist und insofern auch in Bezug auf sich selbst entwickelt. Derartigen Versuchen liegt regelmäßig die Meinung zugrunde, ein korrektes und vollständiges Bewusstsein von den Ordnungen, in die sich der Einzelne eingebunden weiß, sei für ihn nicht nur erreichbar, sondern darüber hinaus auch, aus welchen Gründen auch immer, erstrebenswert. Es sind durchaus nicht nur theoretische Interessen, die solche Versuche motivieren. Doch man missdeutet die hier maßgeblichen Strukturen, wenn man das Bewusstsein, von dem hier die Rede ist, nur im Hinblick darauf beurteilt, ob es den von ihm intendierten Gegenstand trifft oder nicht trifft. Denn hier handelt es sich in Wirklichkeit um Reflexionsstrukturen, die zwar durchaus mögliche Gegenstände zweiwertiger Aussagen sind, die aber selbst noch weit davon entfernt sind,

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lediglich Beispiele zweiwertiger wahrheitsdefiniter Gebilde zu sein. Hier handelt es sich um Gestalten des Bewusstseins, die einen Gegenstand intendieren, ohne ihm gegenüber gleichgültig zu sein und ohne ihn dabei das sein zu lassen, was er ist. Denn sie sind selbst Momente der Sache, mit der sie es zu tun haben, einer Sache, die sie, wenn sie sich auf sie richten, vielleicht treffen oder verfehlen, in jedem Fall aber modifizieren und gestalten. Daher ist es eine nichttriviale Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, im Einzugsbereich solcher Reflexionsstrukturen von richtigem und falschem Bewusstsein zu sprechen. Dem Wissen, das den von ihm intendierten Gegenstand zugleich verändert und gestaltet, wird man nicht gerecht, wenn man in ihm nur den Träger eines bivalenten Geltungsanspruchs sieht. Derartiges Wissen ist zugleich immer auch ein gegenständliches Faktum, das Wirkungen ausüben und erleiden kann. Doch selbst, wenn bereits geklärt wäre, in welchem Sinne reflexives Wissen überhaupt wahr oder falsch sein kann, so bliebe immer noch die Frage, wie derjenige beschaffen sein müsste, der korrektes und unverkürztes Wissen über sich selbst zu ertragen fähig ist. Bei der Erörterung derartiger Fragen kann es nützlich sein, einige Elemente des von Platon entwickelten Staatsmodells der „Politeia“ zu betrachten. Dieser Entwurf erschöpft sich bekanntlich nicht darin, lediglich das Ergebnis einer gegenständlichen Staatskonstruktion vor Augen zu führen. Denn Platon lässt sich angelegen sein, zugleich mit dieser gegenständlichen Konstruktion stets auch auf die Weise Rücksicht zu nehmen, in der sich der Staat mit seinen Organen und seinen Handlungen im Bewusstsein der Staatsbürger darstellt und damit erst zu der ihm eigenen vollen Wirklichkeit gelangt. Das Staatsmodell der „Politeia“ ist weit davon entfernt, die Organe des Gemeinwesens auf ein Gebot zur unbedingten Wahrhaftigkeit den Staatsbürgern gegenüber zu verpflichten. Oberste Richtschnur des Handelns der politischen Instanzen ist vielmehr die Sorge für die Einheit des Staates und damit zugleich für die Dauerhaftigkeit seines Bestandes. Auf dieses Ziel sind alle Pflichten hingeordnet, die den Inhabern politischer Ämter auferlegt werden. Wollen sie diesen Pflichten nachkommen, so ist es ihnen nicht nur erlaubt sondern gelegentlich sogar geboten, die Bürger zu täuschen und zu belügen, freilich nur dann, wenn es der Nutzen des Staates erfordert1. Die Norm, die den Bürgern des Staates die Pflicht zur Wahrhaftigkeit auferlegt, behält im Grundsatz ihre Verbindlichkeit. Sie erfährt auch keine Einschränkungen, solange es nur um den Verkehr der Bürger untereinander und um den Verkehr des Bürgers mit den Organen des Staates geht. Wenn jedoch die Regierung von der Pflicht zur Wahrhaftigkeit dispensiert werden kann, so bedeutet dies, dass die zugrunde liegende Norm 1

Rep. 389b ff.

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eben doch keine unbedingte Geltung für sich beanspruchen kann. Es ist immer die jeweils höherrangige Norm, auf die sich das Recht zu einer Ausnahme begründen lässt. Im vorliegenden Fall ist diese höhere Norm an dem Ziel orientiert, die Einheit des Staates auf Dauer zu sichern und zu bewahren. Geht es darum, dieses Ziel zu erreichen, so kann es gerechtfertigt sein, Täuschung und Lüge in derselben Weise einzusetzen, in der ein Arzt über die Gabe eines Heilmittels entscheidet. Platons Analogie von Medizin und Politik erstreckt sich auch auf die Asymmetrien, die beim Arzt wie beim Staatsmann in Bezug auf die Wahrhaftigkeitspflicht bestehen: Beiden ist es erlaubt, manchmal sogar geboten, den ihnen Anbefohlenen die Wahrheit in deren eigenem Interesse vorzuenthalten. Eine derartige Befugnis kommt dem Kranken und dem Staatsbürger jedoch nicht zu. Sie sind in jedem Fall verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Platons Modellstaat ist also weit davon entfernt, jedermann ein schrankenloses Recht auf Wahrheit einzuräumen. Denn es können Bedingungen eintreten, unter denen dieses Recht zur Disposition steht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es mit dem Interesse an einem gesunden Leben oder mit dem Interesse des Staates auf dauerhafte Behauptung seiner Einheit zu kollidieren droht. Die Wahrheit muss sich also eine Prüfung auf den Nutzen hin gefallen lassen, den sie für den haben kann, der Zugang zu ihr hat. Das Ergebnis dieser Prüfung geht in die Konstruktion des platonischen Modellstaates mit ein. Dieser Staat kennt Stufen der Wahrheit, zu denen nur der Zugang hat, der ein daraufhin ausgerichtetes Erziehungsprogramm absolviert. Sie führen hin zu der Wahrheit, die mit jener Einsicht in das Gute verbunden ist, die die dauerhafte Einheit des Staates allererst zu garantieren vermag. Doch nicht diese Wahrheit ist es, die zur Disposition steht. Denn zu ihr hat ohnehin niemand Zugang, der nicht mittels einer langwierigen Erziehung darauf vorbereitet worden ist, sie zu verstehen. Zur Disposition stehen immer nur Gestalten der Wahrheit, zu denen der Einzelne Zugang zwar haben könnte, aber eben doch im Interesse des Staates und zugleich in seinem eigenen Interesse nicht haben soll. Denn ein schrankenloser Zugang zur Wahrheit in allen ihren Spielarten lässt sich mit dem guten Leben in der Einheit eines Staates nicht in allen Fällen vereinbaren. Werden also die Staatsbürger von den politischen Instanzen in ihrer eigenen Angelegenheit getäuscht, so ist dies nicht notwendig ein Anzeichen dafür, dass man es bereits mit einer Verfallsform des Staates zu tun hat. Im Gegenteil: Gerade der ideale, auf der Einsicht der Regierenden in das Gute basierende Modellstaat ist es, der eben diesen Regierenden eine Täuschungslizenz einräumt. Offensichtlich ist, wenigstens unter Menschen, für Platon kein Gemeinwesen denkbar, deren Instanzen auf eine derartige Lizenz nicht angewiesen wären. Das unterstreicht der platonische Sokrates jedenfalls mit dem Hinweis darauf, dass zwar den Menschen gelegentlich

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eine Täuschung wie ein Heilmittel von Nutzen ist, niemals dagegen den Göttern. Der ideale Modellstaat ist indessen ein Gemeinwesen nicht für Götter, sondern für Menschen. Will man seiner Struktur gerecht werden, so ist es allenfalls in zweiter Linie von Bedeutung, in welchem Umfang die Regierenden von der Täuschungslizenz Gebrauch machen. Wichtiger ist, dass der Zugang zur Wahrheit überhaupt instrumentalisiert wird und im Interesse der Selbstbehauptung des Staates zur Disposition steht. Nicht jedes beliebige Wissen ist innerhalb seiner bereits als solches gut. Daher muss es einer Legitimationsprüfung unterworfen werden, deren Ergebnis es ermöglichen soll, Bestimmungen darüber zu treffen, wem im Staat der Zugang zu welcher Art von Wissen eröffnet und wem welche Art von Täuschung verordnet wird. Es ist ein Staat, innerhalb dessen der Bürger der Täuschung so bedarf, wie das Kind zu seiner Erziehung zunächst der Märchen bedarf, die zwar auf Wahrheit bezogen bleiben und deshalb Wahrheit enthalten, die aber gerade nicht ihrem Wortsinn nach wahr sind2. Die in die Verfassung des Modellstaates eingebaute Täuschungslizenz wird zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Dichterkritik gerechtfertigt. Der Kern dieser Kritik liegt ja nicht in dem Vorwurf, dass Homer und Hesiod lügen, sondern darin, dass es sich nicht um schöne Lügen handelt, die sich sehen lassen können3. Daher reglementiert der Modellstaat sowohl die für die Kinder als auch die für die Erwachsenen bestimmten Geschichten. Vor allem verpflichtet er die Dichter, die Götter nur in einer Weise darzustellen, in der sie von den Menschen auch als Vorbild anerkannt werden können. Andererseits ist es beispielsweise verboten, Menschen darzustellen, die im Unrecht ihr Glück finden oder denen die von ihnen heimlicherweise begangenen ungerechten Taten zum Vorteil gereichen4. Doch wenn es die Pflicht der Dichter ist, das Gegenteil davon darzustellen, so werden sie damit nicht zu Täuschungen von der trivialen Art verpflichtet. In dem zu gründenden Modellstaat haben nur Dichter Platz, die die Dinge so darstellen, wie sie diesem Staat und den ihm zugeordneten Menschen entsprechen. Bezogen auf das im Idealstaat verkörperte Normengefüge kann richtig sein, was offenkundig falsch ist, wenn man es auf die realen Staaten der Erfahrungswelt bezieht. Die Verfassung dieses Idealstaates ermöglicht es niemandem, aus dem von ihm begangenen Unrecht irgendeinen Vorteil zu ziehen oder im Unrecht sein Glück zu finden. So helfen die Dichter mit, das hervorzubringen und zu befestigen, was sie in ihren Werken als vorfindbare Wirklichkeit darzustellen gehalten sind.

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Rep. 377a. Rep. 377d. 4 Rep. 392b. 3

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Es ist eine ganz bestimmte Situation im Leben des Modellstaates, für die der Verfassungsentwurf Vorschriften enthält, wie die Regenten von ihrer Täuschungslizenz Gebrauch zu machen haben. Es handelt sich um die vom Staat eingerichteten Hochzeitsfeste5. Sie stehen im Dienst einer Politik, die eugenische Planung betreibt und die sich zu diesem Zweck darum bemüht, solche Paare zusammenzuführen, deren Verbindung gutgearteten Nachwuchs für die oberen Stände erwarten lässt. Die Paarungen bleiben somit nicht dem Zufall überlassen. Nachwuchs soll nur dann die Garantie haben, aufgezogen zu werden, wenn er aus Verbindungen stammt, die vom Staat im Blick auf die Tüchtigkeit beider Partner gestiftet worden sind. Der Nachwuchs aus Verbindungen minderqualifizierter Partner kommt nicht in jedem Fall in den Genuss einer derartigen Chance. Der platonische Sokrates macht es daher in seiner Entwicklung des Modellstaates den Regenten zur Pflicht, gerade bei der Vorbereitung der Hochzeitsfeste darauf bedacht zu sein, dass die Betroffenen über das, was mit ihnen eigentlich geschieht, getäuscht werden. Bei der Veranstaltung dieser Feste muss nämlich die Regie so ausgeübt werden, dass sie den unmittelbar Betroffenen verborgen bleibt. Sie dürfen die Planung nicht durchschauen, auf Grund deren die füreinander bestimmten Partner zusammengeführt werden. Für sie ist es der durch ein Losverfahren repräsentierte Zufall, der sie zusammenführt. Doch dieses Losverfahren bildet nur die Fassade, hinter der sich Manipulationen verbergen, die nicht ans Licht treten dürfen. Der Sinn dieser auf Täuschung der unmittelbar Betroffenen abzielenden Regie ist klar: Um der eugenischen Planung einen möglichst großen Erfolg zu garantieren, soll sie gegenüber allen Irritationen abgeschirmt werden, die von denen ausgehen könnten, die durch sie betroffen sind. Das wird am besten dann gelingen, wenn bereits die pure Existenz einer Planung verborgen bleibt. Die Regenten wären als planende Instanzen potentielle Adressaten eines individuellen Begehrens der Betroffenen, das sich auf diese Weise geltend machen könnte, um die Planung und ihre Folgen zu durchkreuzen. Der durch ein Losverfahren repräsentierte Zufall kann dagegen nicht gut ein derartiger Adressat sein. Es dient also gerade der Effektivität dieser Planung, wenn sie als solche von den unmittelbar Betroffenen gar nicht wahrgenommen wird. Für die Stabilität und für die dauerhafte Einheit des Staates kann es nur von Vorteil sein, wenn die für sein Leben in langfristiger Perspektive betrachtet wichtigsten Ereignisse auf eine Instanz zurückgeführt werden, auf die das menschliche Wollen und Wünschen keinen Einfluss hat. Die mit der Veranstaltung der Hochzeitsfeste verbundenen Täuschungsmanöver sollen letztlich der inneren Befriedung der auf diese Weise Ge 5

Rep. 458e ff.

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täuschten dienen. Die für die Stabilität des Staates unabdingbare Eintracht unter den Bürgern setzte man aufs Spiel, wollte man ihnen den wahren Sachverhalt offenbaren. Wenn man sie aber mit Hilfe des Losverfahrens täuscht, so befestigt man bei ihnen den Glauben an das Wirken von Zufall und Kontingenz, wo in Wahrheit planende Instanzen am Werk sind. Was von ihnen verfügt wird, lässt sich offensichtlich dann leichter annehmen, wenn es als Werk des Zufalls auftritt. Platon pflegt in der „Politeia“ also ein Kontingenzbewusstsein, dessen der Staat ebenso wie der einzelne Bürger bedarf. Es führt zu dem Glauben, in einer Ordnung zu leben, die in einem weit geringeren Umfang das Resultat bewussten Planens zu sein scheint als dies in Wirklichkeit der Fall ist. Die Pflege dieses Kontingenzbewusstseins kommt innerhalb des Modellstaates ein sehr hoher Rang zu. Denn nur unter der Voraussetzung des entsprechenden Glaubens hat die eugenische Politik die Chance, ihre Ziele innerhalb eines stabilen Gemeinwesens zu erreichen. Denn der Kernbereich dieser Politik darf nicht dem Staatsbürger gegenüber als das, was er eigentlich ist, dargestellt werden. Der moderne Betrachter könnte leicht befremdet sein, wenn er die Voraussetzungen der von Platon in der Verfassung des Modellstaates verankerten Hochzeitsfeste und den Inhalt der in ihrem Zusammenhang inszenierten Täuschungen betrachtet. Das betrifft nicht so sehr das bloße Faktum dieser Täuschungen und noch nicht einmal die Tatsache, dass die Verpflichtung, sie zu inszenieren, Verfassungsrang hat. Die Frage, ob dem Inhaber der politischen Gewalt zum Wohl aller Täuschungen erlaubt sind, wird in der Tradition ohnehin in der Mehrzahl der Fälle positiv beantwortet. Befremden könnte dagegen der Inhalt des Täuschungsmanövers erregen, weil es ja gerade ein Kontingenzbewusstsein [ist], das mit seiner Hilfe bei den Betroffenen hervorgerufen werden soll. Mit seiner Hilfe soll ja zugleich ein Bedürfnis befriedigt werden, das sich bereits aus den Grundstrukturen des Staates ergibt. Man hat sich heute, nicht zuletzt unter dem Einfluss moderner Religionskritik, längst daran gewöhnt, ein dazu reziprokes Bedürfnis anzusetzen. Es soll darauf aus sein, in Zufall und Kontingenz, wo immer sie das Leben entscheidend bestimmen, bloßen Schein zu sehen, hinter dem man die Fügung eines allmächtigen Willes oder das Wirken einer nur ihren eigenen Gesetzen unterworfenen Natur sucht. Die Erfahrung von Kontingenz gehört gewiss zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens überhaupt. So lässt sich ein guter Teil der Kulturentwicklung am Leitfaden der Entdeckung realer und mentaler Techniken deuten, deren Aufgabe darin besteht, die mit jedem Leben verbundene Kontingenz entweder zu reduzieren oder aber sie dadurch zu bewältigen, dass man ihr einen Sinn unterlegt. Die Wirksamkeit eines auf Kontigenzbewältigung zielenden Bedürfnisses lässt sich gewiss nicht leugnen. Bestimmte Institutionen in Platons Modellstaat sind indessen dazu bestimmt, einem reziproken Bedürfnis Rechnung

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zu tragen. Zumindest mit der Inszenierung der Hochzeitsfeste soll ja keine Kontingenz durch Reduktion auf eine hinter ihr stehende Instanz für die Betroffenen erträglich oder zumindest verständlich gemacht werden. Es ist gerade umgekehrt der Schein einer Kontingenz, der inszeniert wird, um die Existenz einer bewussten Planung zu verbergen und deren Folgen für die von ihr Betroffenen akzeptabel zu machen. Gewiss sind es Extrembedingungen, unter denen die Frage gestellt werden muss, welches Maß an Kontingenzbewusstsein für den unter seinesgleichen lebenden Menschen nicht lediglich erträglich, sondern darüber hinaus sogar notwendig ist. Extreme Bedingungen aber sind es auch, die durch den Modellstaat der „Politeia“ repräsentiert werden. Die Konstruktion dieses Staates soll schließlich ein Maximum an rationaler Planung ermöglichen, durch die zugleich der Einfluss unkontrollierter Mächte eingegrenzt und neutralisiert werden soll. Die Realsituationen im Bereich der gewöhnlichen Lebenserfahrung enthalten ein Maß an Undurchschaubarkeit, das höchstens die Frage provoziert, wie die das menschliche Leben allenthalben bestimmende Kontingenz erträglich gemacht werden kann. Unter einer Extrembedingung wie der eines rational konstruierten, jeder Zufälligkeit so weit wie möglich zuvorkommenden Modellstaates liegt es dagegen näher, nach dem für das menschliche Leben unabdingbaren Mindestmaß von Kontingenzbewusstsein zu fragen. Gerade der Entwurf eines in extremem Maße sowohl planenden als auch durchgeplanten Staates kann die Aufmerksamkeit auf die Grenzen richten, die von einem Selbstbewusstsein gezogen werden, das sich inmitten einer geplanten Welt vorfindet und das sich gerade deshalb nicht ohne Rest von der Planung vereinnahmt sehen will. Platon hat im Kontingenzbedürfnis eine der Grundtatsachen erkannt, denen eine dauerhafte Ordnung menschlichen Zusammenlebens Rechnung tragen muss. Sie ist seither in den Erörterungen der praktischen Philosophie zumeist vernachlässigt worden. Bei Platon hat die Notwendigkeit, dieses Kontingenzbedürfnis zu befriedigen, einen Rang, der die Lizenz zu weitgehenden Täuschungen im Staat legitimiert. Man wird ihm, wie immer man auch die Möglichkeit einer solchen Legitimation auch einschätzen mag, auf jeden Fall zugestehen müssen, erstmals die später immer wieder verdrängte Frage exponiert zu haben, ob es eine auf Dauer angelegte Ordnung menschlichen Zusammenlebens verträgt, von allen, die in sie eingefügt sind, durchschaut zu werden. Eine analoge Frage könnte sich am physisch-biologischen Leben des Individuums orientieren. Es ist entgegen manchen Vormeinungen nicht ausgemacht, ob das bewusste Leben des Menschen die vollständige Kenntnis der Bedingungen ertragen könnte, von denen es abhängig ist. Die allgemeine Frage, in welchem Umfang es ein Gemeinwesen auf die Dauer ertragen kann, sich im Bewusstsein seine Glieder unverkürzt darzustellen, lässt sich durchaus am platonischen Beispiel der mit der Orga-

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nisation der Hochzeitsfeste verbundenen Täuschungsmanöver exponieren. Diese Frage ist jedoch einer Zuspitzung fähig, die dieses Beispiel nicht mehr zu veranschaulichen vermag. Denn dort hat man es mit Täuschungen über die Struktur und über das Wirken des Staates zu tun, denen immer nur ein Teil derer, die ihm angehören, unterworfen ist. Die Regenten setzen die mit den Hochzeitsfesten verbundenen Täuschungen zwar ins Werk, doch sie sind ihnen gerade deswegen selbst nicht unterworfen. Es mag daher zunächst so aussehen, als müsste der größere Teil der Bürger bei bestimmten Gelegenheiten zum Wohl des Staates und zugleich zu ihrem eigenen Wohl getäuscht werden; den Regenten scheint ihr Amt hingegen das Privileg zu verschaffen, als einzige in die Struktur und das Wirken des Staates eingeweiht zu sein. Doch das ist richtig wohl in Bezug auf Aktionen von der Art der Hochzeitsfeste, nicht jedoch in Bezug auf die Wirklichkeit des Staates in ihrer Totalität. Platons Modellstaat darf sich in seiner unverkürzten Wirklichkeit noch nicht einmal den Regenten als der darstellen, der er eigentlich ist. Platons „Politeia“ verordnet nämlich auch den Regenten unaufhebbare und dauerhafte Täuschungen über ihre Situation und über ihre Stellung im Staat. Das Wohl dieses Staates scheint es zu erfordern, die Einsicht in seine unverkürzte Wirklichkeit im Interesse seiner dauerhaften Einheit selbst denen vorzuenthalten, die mit der Regierungsgewalt betraut sind. Dies betrifft vor allem das Verfahren, das dazu dient, diejenigen schon in ihrer Jugend auszuwählen, die für das Regentenamt bestimmt und ausgebildet werden sollen6. Das Staatsmodell der „Politeia“ enthält keine detaillierten Regeln für diesen Auswahlprozess. Platon verzichtet sogar ausdrücklich darauf, die zur Designation der künftigen Herrscher führenden Prüfungen im einzelnen zu erörtern. Denn wichtiger als die das Auswahlverfahren regulierenden Detailvorschriften sind ihm die Vorschriften, deren Anwendung dazu führt, dass die Regenten von dem Auswahlprozess, dem sie selbst unterzogen werden, keine deutliche Erinnerung behalten. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es freilich außerordentlicher Anstrengungen. Denn die Regenten sollen später in dem Auswahlprozess und in den ersten Stadien ihrer Ausbildung rückblickend nicht mehr etwas Wirkliches sehen. Sie sollen dazu gebracht werden, den Bildungsweg, den sie selbst absolviert haben, nur noch für einen Traum zu halten. Der Aufbau des Staates muss es ermöglichen, eine derartige Täuschung zu institutionalisieren. Natürlich soll nicht nur den Regenten die Wahrheit über den Weg vorenthalten bleiben, der sie in ihr Amt geführt hat. Entsprechende Täuschungen werden auch den anderen Ständen verordnet. Trotzdem hat man es hier mit einer neuen Dimension der von der Verfassung des Staates vorgesehenen Täu-

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Rep. 413c ff.

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schungen zu tun, wenn nunmehr auch die Regenten betroffen sind. Denn in diesem Fall gibt es ja innerhalb des Staates keine Instanz mehr, die nicht in Täuschung befangen wäre. Den Regenten soll der Weg, der sie in ihr Amt geführt hat, nachträglich nur noch als ein Traumgebilde erscheinen. Die Darstellung der wahren Wirklichkeit sollen sie im Inhalt einer Erzählung zu finden glauben. Es handelt sich um einen künstlichen Mythos, dessen Inhalt eine Glaubensüberzeugung sein soll, in deren Anerkennung sich ohne Ausnahme alle Stände des Staates treffen. Im Dialog wird er von Sokrates unter außergewöhnlichen Kautelen skizziert. Er soll die Menschen glauben machen, nicht von anderen Menschen erzogen worden zu sein, sondern ihre Fähigkeiten, wie sie in Wirklichkeit durch planmäßige Erziehung entwickelt worden sind, außermenschlichen Ursachen zu verdanken. Sie sollen die Überzeugung haben, in einem unterirdischen Bereich geformt und erst nach Abschluss dieses Bildungsprozesses mitsamt Waffen und Werkzeugen zur Oberwelt entlassen worden zu sein. Alle Angehörigen des Staates, die Regenten nicht ausgenommen, sollen sich selbst in diesem Sinne als Kinder der Erde verstehen. Vor allem die Gliederung des Gemeinwesens in die drei Stände und die Zuordnung jedes Menschen zu einem dieser Stände ist diesem Mythos gemäß dem Zugriff bewussten menschlichen Planens entzogen. Die Verantwortung hierfür trägt im Mythos jener Gott, der die Menschen in der Phase ihres unterirdischen Vorlebens geformt hat. Der Mythos sagt, dass bei dieser Formung den einen Menschen Gold, den anderen Silber, wieder anderen Eisen und Erz beigemischt wird. Es sind Beimischungen, die die Menschen dazu prädestinieren, einem bestimmten Stand anzugehören. Trotzdem wird man im Modellstaat nicht durch Geburt und Abstammung automatisch dem Stand seiner Erzeuger zugeordnet. Zwar sind im Regelfall aus Verbindungen standesgleicher Paare Nachkommen zu erwarten, die dazu prädestiniert sind, demselben Stand anzugehören. Doch diese Regel lässt Ausnahmen zu. Denn ein Nachkomme kann durchaus einmal Eigenschaften aufweisen, die es nicht erlauben, ihn dem Stand seiner Erzeuger zuzuordnen. „Goldenen“ Erzeugern können im Einzelfall auch einmal „silberne“ Nachkommen geboren werden und umgekehrt. Deswegen werden die Regenten im Namen des menschenbildenden Gottes dazu verpflichtet, die geborenen Kinder im Hinblick auf die in ihnen enthaltenen Metalle zu prüfen und sie auf der Grundlage dieser Prüfung einem der drei Stände zuzuordnen. Denn sie haben im Interesse der dauerhaften Einheit des Staates die Sorge um die Qualität des Nachwuchses allen anderen Aufgaben vorzuordnen. Dieser Mythos soll also bewirken, dass die Zuweisung der Individuen zu einem der Stände nicht als Resultat einer von Menschen getroffenen Ermessensentscheidung erfahren wird. Denn die Regenten sollen sich ja selbst so verstehen, dass sie eine Zuordnung lediglich diagnostizieren, die

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der Sache nach bereits vorliegt, weil über sie, dem Mythos gemäß, bereits von einer außermenschlichen Instanz entschieden worden ist. Im Gegensatz zu den Manipulationen im Umkreis der Hochzeitsfeste ist der Metallmythos Inhalt einer Täuschung, die nicht von einer Instanz innerhalb des Staates geplant und ins Werk gesetzt wird, da ja auch die Regenten selbst Opfer dieser Täuschungen sein sollen. Der Sache nach treffen sie gewiss Entscheidungen; sie sollen jedoch ebenso wie alle anderen Bürger der Meinung sein, dass nicht sie im Besitz der hier einschlägigen Entscheidungskompetenz sind. Ihre Entscheidungen tragen auch für sie selbst die Maske diagnostischer Einsichten in Befunde, die jedem planenden Wollen bereits vorgegeben zu sein scheinen. Damit stellt sich die Frage, wie derartige Täuschungen ins Werk gesetzt werden können, wenn es innerhalb des Staates keine Instanz gibt, die den wahren Sachverhalt kennt und die deswegen Subjekt der entsprechenden Täuschungshandlungen sein könnte. Doch Platon rechnet gar nicht mit der Möglichkeit, die durch den Metallmythos repräsentierte Täuschung schon bei der Gründung des Modellstaates in dessen Fundamente einzubauen. Hier hat die Gründergeneration der Regenten – und nur sie – eine Aufgabe zu bewältigen, die sich in vergleichbarer Form keiner der nachfolgenden Generationen stellt. Denn nur diese nachfolgenden Generationen werden den Glauben an die Wahrheit jenes Metallmythos unreflektiert kultivieren und überliefern können, weil sie bereits selbst in diesem Glauben aufgewachsen sind. Das Wissen davon, dass es sich hier um einen künstlichen, der Bewahrung der dauerhaften Eintracht innerhalb des Staates dienenden Mythos handelt, stirbt mit der Generation der Gründerregenten ein für alle Mal aus. Schon von der zweiten Regentengeneration ab sollen die Täuschungen über den Ursprung der Ständeordnung noch nicht einmal mehr von denen durchschaut werden können, die auf Grund ihres Amtes mit der Aufgabe betraut sind, sie zu tradieren. Es ist nicht schwer, die Funktion zu erkennen, die der Metallmythos und der Glaube an ihn im Staat erfüllt. Diese innerhalb des Staates von niemandem als solche durchschaute Täuschung steht nämlich in Bezug auf ihre Funktion in Analogie zu den Täuschungen, die von den Regenten planmäßig beispielsweise bei der Inszenierung der Hochzeitsfeste ins Werk gesetzt werden. In beiden Fällen soll das Handeln von Verfassungsorganen mitsamt seinen Resultaten den jeweils Betroffenen so präsentiert werden, dass Entscheidungen der politischen Amtsträger als Ereignisse hingenommen werden, die sich nicht mehr auf eine hinter ihnen stehende menschliche Instanz zurückführen lassen. Die Akzeptanz dieser Entscheidungen ist garantiert, wenn sie nicht als Optionen in Alternativen, sondern als Notwendigkeiten erfahren werden, für die Instanzen außerhalb der Menschenwelt verantwortlich sind. Ob es sich dabei um einen Gott, um die Natur oder

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um den Zufall handelt, – gemeinsam ist diesen Instanzen, dass es gegen die Resultate ihres Wirkens keine Appellationsmöglichkeit gibt. Das gilt in besonderem Maße dann, wenn es innerhalb des Staates keine Instanz mehr gibt, die die Täuschungen durchschauen könnte. So erfüllt gerade der Metallmythos die Funktion, Elemente zu liefern, aus denen sich die Selbsttäuschung der Regenten im Hinblick auf ihr eigenes Handeln aufbaut. Er dient dem Ziel, politischen Fehlentwicklungen vorzubeugen, wenn selbst sie die Möglichkeiten politischen Handelns für enger begrenzt halten sollen als sie es in Wirklichkeit sind. Wo sie der Sache nach durchaus als Entscheidungsträger auftreten könnten, müssen sie sich den Konstruktionsbedingungen des Staates gemäß selbst als Instanzen verstehen, die bestehende Sachverhalte nur zu erkennen haben, um diese Erkenntnis dann für das, was dem Handeln zu tun bleibt, fruchtbar zu machen. In der Tat stehen sie im Staat stets vor einer Fülle von Aufgaben, bei deren Bewältigung ihnen das Bewusstsein, Urheber ihres Handelns zu sein, nicht streitig gemacht wird. Der Modellstaat der „Politeia“ ist ein in hohem Maße künstlicher Staat. Am Beispiel des Metallmythos und seiner Funktion lässt sich indes deutlich machen, warum es dieser Staat nicht verträgt, dass das ganze Ausmaß dieser Künstlichkeit von den ihm angehörenden Bürgern durchschaut wird. Das gilt selbst im Hinblick auf den Stand der Regenten. Dass selbst sie sich über die Struktur des Staates täuschen, wird von dieser Struktur selbst gefordert. Die Merkwürdigkeit dieses Sachverhalts ist nicht zu übersehen: Gerade der ideale Staat ist so konstruiert, dass er ein adäquates Bewusstsein seiner selbst weder entwickeln noch auch nur dulden kann. Innerhalb seiner gibt es keinen Ort, an dem ein unverkürztes Wissen von seiner Grundverfassung aufgebaut und kultiviert werden könnte. Es ist ein Staat, der sich in seiner Totalität keinem seiner Bürger jemals als das darstellt, was er in Wirklichkeit ist. Gewiss werden den Regenten in geringerem Maße als den anderen Ständen Täuschungen verordnet. Gänzlich frei von Täuschungen dürfen aber auch sie nicht sein. Auch der ideale Staat kann sich kein unverkürztes Selbstbewusstsein leisten. Denn gerade er wird alles vermeiden, was der Entstehung von Zwietracht und in ihrer Folge dem eigenen Verfall Vorschub leisten könnte. Gewiss bezieht sich dieser Staat durch die Vermittlung jenes Wissens auf sich selbst zurück, das seine Bürger, je nach ihrem Stand in unterschiedlicher Weise, in Bezug auf ihn entwickeln. Ohne eine derartige Rückbeziehung, in der er sich auf der Ebene dieses Wissens selbst darstellt, könnte er gar nicht existent sein. Doch zu diesem Selbstbewusstsein des Staates, das durch das Wissen seiner Bürger von ihm vermittelt ist, gehört zugleich eine Täuschung über sich selbst. Es ist eine Selbsttäuschung, kraft deren der Ursprung des Staates auf eine Ebene projiziert wird, die vom Menschen nur erkannt und anerkannt, von seinem Handeln aber nicht erreicht und schon gar nicht gestaltet werden kann.

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Nur eine außerhalb des Modellstaates stehende Instanz kann im Besitz einer adäquaten und unverkürzten Einsicht in seine Grundlagen und in seine Struktur sein. Dies wird in Platons Werk bereits durch die Techniken der literarischen Darbietung des philosophischen Gedankens unterstrichen. Denn es ist Sokrates, der im Gespräch mit seinen Partnern diesen Staat entwirft und damit zugleich jene externe Instanz verkörpert. Er ist sogar auf doppelte Weise präsent, da er den Dialog nicht nur führt, sondern ihn außerdem auch an dem auf das Gespräch folgenden Tag erzählend wiederholt. Man versteht Platons Konzeption nur dann, wenn man berücksichtigt, wie in der Gestalt des Sokrates ein Wissen verkörpert wird, das sich mit keiner der Formen des Wissens und des Bewusstseins deckt, die innerhalb des Modellstaates ihren Ort haben können. Als Konstrukteur dieses Staates durchschaut Sokrates alle Täuschungen, die in die Fundamente des Gemeinwesens so eingebaut werden, dass sie sich innerhalb seiner weder erkennen noch berichtigen lassen. Nur er weiß über diesen Staat auch das, was seinen Regenten und erst recht den übrigen Bürgern verborgen bleiben muss. So repräsentiert er mit seiner Person ein Wissen über den Staat, das keine Entsprechung auf der Seite des Staates selbst findet. Der Staat kennt seinen Konstrukteur nicht und er kann ihn nicht kennen. Er weiß von seinem Konstrukteur ebenso wenig wie die Timaioswelt von dem Demiurgen weiß, dessen Wirken sie ihre Entstehung verdankt. Eine Gestalt von der Art des Sokrates wäre als Bürger eines nach dem Muster der „Politeia“ aufgebauten Staates schwerlich vorstellbar. Sie könnte von einem derartigen Staat in seiner Mitte schlechterdings nicht toleriert werden. Umgekehrt würde ein Sokrates dort auch keinen Anlass finden, auf die ihm eigene Art wirksam zu sein. Man kann sich kaum ausmalen, wie Sokrates eines der für ihn charakteristischen Gespräche gerade mit einer Person führen könnte, die Bürger von Platons Modellstaat ist. Solche Personen sind fiktive Objekte seiner Gespräche, aber nicht deren mögliche Partner. Sokratische Gespräche von der Art, wie sie von Platon gestaltet werden, gehen oft von einer ganz beliebigen Frage aus, führen den Partner dann aber zielstrebig zu einem Punkt, an dem er mit sich selbst konfrontiert wird und sich der Selbsttäuschung unmittelbar bewusst wird, in denen er sich über sein eigenes Wissen und Wollen befindet. Ein geglücktes sokratisches Gespräch führt immer dazu, dass ein falsches Selbstbewusstsein wenigstens an einem Punkt berichtigt wird. Doch der Modellstaat müsste solche Bestrebungen sofort in ihre Schranken verweisen, zumal da das Wirksamsein bestimmter Selbsttäuschungen selbst noch auf der Ebene der Regenten essentiell für ihn ist. Daher ist das Wissen über den Modellstaat mit dem Wissen, das innerhalb seiner möglich ist, niemals zur Deckung zu bringen. Es bleibt die Frage, welche Bedeutung die hier skizzierten Struktureigentümlichkeiten des platonischen Modellstaats für eine auf das Allgemeine

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gehende Einsicht in die Ordnungen haben, in denen Menschen mit ihresgleichen zusammenleben. Wer in Platons Staat ein politisches Programm sieht, wird kaum Grund haben, diesen Dingen eine Bedeutung zu verleihen, die nicht an den Anlass dieses Programms gebunden wäre. Doch dieser Modellstaat hat nicht so sehr einen programmatischen als vielmehr einen exemplarischen Status. Bei seiner Analyse wird man sich immer noch mit Gewinn an Grundsätzen der neukantianischen Platondeutung orientieren dürfen. Dort war beispielsweise versucht worden, den Sinn der Ideenannahme mit Hilfe der Konzeption des Naturgesetzes zu verdeutlichen. Nun lässt sich diese Konzeption in der uns vertrauten Form bei Platon gewiss nicht finden. Eine Orientierung an ihr als an einem Analogon kann trotzdem nützlich sein, weil sie zum Verstehen selbst dort noch beitragen kann, wo andere Verständnishilfen versagen, nicht ausgenommen auch solche Hilfen, wie sie von der historisch orientierten Platonforschung entwickelt worden sind. Wer sich an dem Verhältnis eines bewegten Körpers zu den seine Bewegung regulierenden Naturgesetzen orientiert, bezieht sich auf ein Paradigma, anhand dessen er sich den Sinn einer nichtgegenständlichen Relation klar machen kann, die auch Platon selbst gewöhnlich nur mit Hilfe der bildhaft-gegenständlichen Teilhabe-Metaphorik umschreibt. In diesem Sinn darf man auch Platons Modellstaat als ein Paradigma in Anspruch nehmen, anhand dessen man sich Gesetzlichkeiten und Kräfte in reiner Form vor Augen stellen kann, wie sie in jedem menschlichen Handeln und in jeder Ordnungsgestalt menschlichen Zusammenlebens wirksam sind. Die zentrale Bedeutung und die Erklärungskraft, die beispielsweise dem Trägheitssatz in der klassischen Mechanik zukommt, wird nicht dadurch eingeschränkt, dass der von ihm vorausgesetzte Körper, auf den keine Kräfte einwirken, in der Welt der Erfahrung nirgends anzutreffen ist. Ganz ähnlich wird auch die Erklärungskraft von Platons Politeia­modell nicht dadurch beeinträchtigt, dass man keine Aussichten hat, es in der realen Welt zu realisieren. Denn seine Funktion, als Beurteilungsmaßstab bei der Normierung menschlichen Lebens und Handels zu dienen, kann dieses Modell auch dann erfüllen, wenn es in unverkürzter Form nirgends realisiert ist und vielleicht sogar niemals realisiert werden kann7. Es geht dabei um jene Elemente der Gerechtigkeit, die niemals völlig fehlen können, wo ein Gemeinwesen oder ein Einzelner handelnd etwas bewirkt. Es sind die Elemente, ohne die selbst eine Räuberbande nicht mehr funktionsfähig sein könnte8. Auch sie würde auseinanderfallen, wenn im Innenverhältnis nicht die Gerechtigkeitsnorm anerkannt wäre.

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Rep. 472c ff. Rep. 351c.

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Darf man Platons Staatsmodell auf diese Art deuten, so lässt sich mit seiner Hilfe verständlich machen, warum kein Gemeinwesen darauf verzich­ ten kann, sich im Bewusstsein derer darzustellen, die ihm angehören. Das Bild, das sich seine Glieder von seiner Wirklichkeit machen, ist ein Stück eben dieser Wirklichkeit selbst. Daher kann ihm dieses Bild nicht gleichgültig sein. Platons Modell kann aber auch verständlich machen, dass einen Staat gerade die Sorge um seine Einheit und um seine Stabilität dazu veranlassen kann, ein in letzter Konsequenz korrektes Bild von sich selbst zu verhindern. Jeder Staat bedarf der wissenden Selbstbeziehung, die durch das Bewusstsein der ihm zugehörigen Glieder vermittelt ist. Doch dieses Selbstbewusstsein enthält Selbsttäuschungen, die für seinen Träger unaufhebbar sind und allenfalls von einer externen Instanz durchschaut werden können. Wenn Platons Staatsmodell wirklich paradigmatische Funktionen für jedes menschliche Gemeinwesen erfüllen kann, so ergibt sich freilich, dass kein stabiler und dauerhafter Staat in seinem Inneren ein in letzter Konsequenz zutreffendes Wissen davon, was seine Wirklichkeit ausmacht, ertragen könnte. Platons Modellstaat erfüllt indessen noch eine andere Funktion. In Platons Metaphorik verkörpert er jene größere Schrift, an der sich die Strukturen ablesen lassen, die auch die Seele des individuellen Menschen konstituieren, dort aber nicht mit hinreichender Genauigkeit analysiert werden können9. Wenn man die an dem größeren Modell abgelesenen Strukturmerkmale auf den individuellen Menschen zurückbeziehen darf, so ist man zu der Vermutung berechtigt, dass sich eine vollendete Selbsterkenntnis mit den Bedingungen, unter denen ein Mensch leben kann, nicht verträgt. Möglicherweise sind Selbsttäuschungen nicht in jedem Fall lediglich Unvollkommenheiten bewussten Lebens, die sich mit Hilfe von geeigneten Anstrengungen überwinden lassen. Denn es kann Selbsttäuschungen geben, die zu den Lebensbedingungen menschlicher Existenz überhaupt gehören. Selbsterkenntnis von der Art, wie sie der Delphische Spruch vom Menschen fordert, hat ohnehin nur wenig mit jener wissenden Selbstbeziehung gemein, die eines der zentralen Themen markiert, um die das neuzeitliche Denken kreist. Selbsterkenntnis im Sinne des Delphischen Spruchs soll dem Menschen vielmehr die Einsicht in seine Grenzen, vor allem in seine Sterblichkeit vermitteln. Sie ist daher durchaus auch auf der Grundlage einer Haltung zu verwirklichen, kraft deren der Mensch die Undurchschau­ barkeit der Grundlagen hinnimmt, auf denen seine Existenz beruht. So wird auch jeder, der es unternimmt, einen Menschen über sich selbst auf-

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Rep. 368c f.

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zuklären, gut daran tun, zunächst nach den Grenzen zu suchen, jenseits deren es fraglich wird, ob er ihm mit dieser Aufklärung wirklich einen Dienst erweist. Zuerst erschienen in: Synthesis philosophica 10, Vol. 5, No. 2/1990, S. 393–406.

Zeitliche Kausalstrukturen in der aristotelischen Logik Die neuzeitliche Diskussion des Kausalbegriffs orientiert sich gewöhnlich an dem Begriffspaar von Ursache und Wirkung: Dieses Begriffspaar bezeichnet eine nicht symmetrische Relation; als Ursache und als Wirkung werden zwei voneinander unterschiedene Zustände bezeichnet, zwischen denen ein noch näher zu bestimmender gesetzmäßiger Zusammenhang besteht. Der fehlenden Symmetrie dieser Relation entspricht die Tatsache, dass die Kausalrelation zugleich eine zeitliche Relation ist: Die Wirkung ist nicht nur „logisch“ später, sondern prinzipiell auch „zeitlich“ später als die Ursache. Daher lässt sich das Kausalproblem auch in der Form stellen, dass danach gefragt wird, wodurch eine zeitliche Relation (post hoc) zu einer Kausalrelation (propter hoc) qualifiziert werden kann. Die zeitliche Struktur der Kausalrelation zeigt sich am deutlichsten in der neuzeitlichen Mechanik: Die kausale Struktur aller Bewegungsvorgänge beruht hier gerade darauf, dass es der durch Ort und Geschwindigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt angegebene Zustand eines mechanischen Systems gestattet, bei Kenntnis der einwirkenden Kräfte den Zustand dieses Systems für jeden beliebigen Zeitpunkt zu bestimmen. Dies gilt für vergangene und zukünftige Zustände in genau derselben Weise; es fällt jedoch auf, dass für das Selbstbewusstsein der neuzeitlichen Physik die so gegebene Möglichkeit der Prognose gegenüber der Möglichkeit, vergangene Zustände zu bestimmen, in den Vordergrund tritt. Der aristotelische Ursachenbegriff ist hiervon nicht nur inhaltlich, sondern auch als Begriff verschieden. Diese Verschiedenheit wird nur unzureichend charakterisiert, wenn man einem gängigen Schema folgt, wonach in der Neuzeit eine der aristotelischen Ursachen, nämlich die causa efficiens, aus dem Gefüge der vier Ursachen herausgelöst und verabsolutiert worden sei. Auf diese Weise werden die wesentlichen Differenzen nur verdeckt: denn im Gegensatz zum neuzeitlichen Ursachenbegriff erlaubt der aristotelische Begriff keine eineindeutige Zuordnung von Ursachen und Verursachtem; dies hängt damit zusammen, dass Ursache und Verursachtes (von „Wirkung“ kann man bei Aristoteles schwerlich sprechen) gar nicht auf derselben ontologischen Stufe stehen: Aristoteles fragt nach Prinzipien, und zwar so, dass er immer von Dingen ausgeht und nach deren Prinzipien fragt, aber niemals aus gegebenen Prinzipien ein Ding zu konstruieren sucht. Ein weiterer

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Unterschied zum neuzeitlichen Ursachenbegriff besteht darin, dass Aristoteles nicht von einer zeitlichen Differenz zwischen Ursache und Verursachtem ausgeht. Zwar ist eine solche zeitliche Differenz durchaus denkbar; so kann unter den bekannten vier Ursachen die causa movens durchaus einen Bezug zur Vergangenheit zeigen, ebenso wie die causa finalis gelegentlich, wenngleich nicht immer, auf die Zukunft verweisen kann. Doch dieser mögliche Zeitbezug gehört nicht zum Begriff dieser Ursachen. Es ist denn auch kein Zufall, dass Aristoteles dort, wo er thematisch über die Ursachen als solche redet (Phys. B 3, Met. Δ 2) die Zeitstruktur der Verursachungsrelation keiner Erörterung für bedürftig hält. Dies erklärt sich daher, dass er, wie seine Standardbeispiele zeigen, von der Annahme der Koexistenz und der Gleichzeitigkeit von Ursache und Verursachtem ausgeht. Dies wird besonders schön auch dadurch bestätigt, dass die in Phys. H vorgetragenen, den Beweis der Existenz des unbewegten Bewegers vorbereitenden Erörterungen von einer strengen Gleichzeitigkeit aller Glieder der Ursachenkette ausgehen; der Beweis für die Existenz des unbewegten Bewegers selbst arbeitet denn auch mit dem Gedanken der Unmöglichkeit unendlicher Bedingungsreihen. So sind die zeitlichen Relationen hier von der Aufgabe entlastet, die Basis von Verursachungsrelationen abzugeben. Nur so ist es verständlich, dass Aristoteles sowohl die auf die Unmöglichkeit eines unendlichen Bedingungszusammenhangs gestützte Existenz des ersten Bewegers als auch die zeitliche Unendlichkeit der Welt widerspruchsfrei behaupten kann. Wie sehr im übrigen die aristotelische Physik an einem Kausalverständnis orientiert bleibt, dass die Verursachungsrelation gerade nicht als zeitliche Relation besteht, zeigen die Schwierigkeiten, in die Aristoteles ebenso wie die sich auf ihn berufende Tradition gerät, wenn es darum geht, eine mit den Grundbegriffen des Systems verträgliche Theorie der Wurfbewegung zu entwickeln. Nun ist freilich der aristotelische Ursachenbegriff viel zu sehr am Erfahrungsgehalt des gewöhnlichen Weltverständnisses orientiert, als dass sich die über eine Zeitdauer hin erstreckten Kausalbeziehungen ganz übergehen ließen. Es ist nun aber bezeichnend, dass sich für Aristoteles das Problem zeitlicher Kausalrelationen nicht als Problem der Physik, sondern als ein solches der Wissenschaftstheorie stellt. Er behandelt es in dem bisher wenig beachteten Kapitel B 12 der „Zweiten Analytiken“. Das zweite Buch der „Zweiten Analytiken“ unternimmt es, die an der syllogistischen Technik orientierte Beweistheorie (oder vielmehr deren Vorform) auf die Lehre von den vier Ursachen anzuwenden: Ein regelrecht geführter, wissenschaftlich begründeter Beweis ist dadurch charakterisiert, dass der Mittelbegriff im Beweis zugleich die Ursache bezeichnet1. Nun 1 Vgl. Anal. post. A 13; B 2, 90 a6 f.: τὸ μὲν γὰρ αἴτιον τὸ μέσον, ἐν ἅπασι δὲ τοῦτο ζητεῖται ; Β 11 passim.

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bleiben freilich, wie man längst gesehen hat, bei der Kombination von Ursachenlehre und Beweistheorie noch einige Fragen offen; vor allem ist es oft schwierig, von dem die Ursache bezeichnenden Mittelbegriff einen solchen Gebrauch zu machen, dass sich zusammen mit den Begriffen des zu beweisenden Satzes zwei Prämissen konstruieren lassen, die den Anforderungen der syllogistischen Theorie entsprechen. Diese Aufgabe ist, wie in die Anal. post. B 11 gegebenen Beispiele (erste Kriegshandlung als Kriegsursache; Gesundheit als Zweck des Spaziergangs) zeigen, nur möglich, wenn man zugleich Umformungen vornimmt, die nicht mehr durch den Wortlaut des Textes, sondern nur noch durch den Systemzusammenhang legitimiert werden können. Doch diese Schwierigkeiten brauchen uns hier, wo es allein um die Zeitstruktur der Kausalbeziehungen geht, nicht weiter zu kümmern. Wie immer es sich nun mit der genauen Formulierung der Sätze, die den die jeweilige Ursache bezeichnenden Ausdruck enthalten, stehen mag – man kann sich an die Ausführungen im Kapitel Anal. post. B 12 halten, wenn man nach den Beziehungen zwischen zeitlichen und kausalen Relationen fragt. Zuerst werden in diesem Kapitel die „homogenen“ Fälle behandelt; hier geht es um die Ursache von Vergangenem, (gegenwärtig) Werdendem und Zukünftigem, jedoch so, dass Ursache und Verursachtes noch gleichzeitig sind (95a10–21). Damit ist natürlich nur gesagt, dass derartige gleichzeitige Kausalrelationen in jedem Zeitmodus vorkommen können. Dass es sich hier in der Tat um Fälle handelt, in denen Ursache und Verursachtes gleichzeitig sind, also gleichsam um die „Normalfälle“ der aristotelischen Kausaltheorie, wird am Ende dieses Abschnittes ausdrücklich bestätigt (95a22 ff.: τὸ μὲν οὖν οὕτωϚ αἴτιον καὶ οὗ αἴτιον ἅμα γίνεται). Ein neues Problem taucht aber auf, wenn Ursache und Verursachtes nicht gleichzeitig existieren, sondern im Zeitkontinuum (ἐν τῷ συνεχεῖ χρόνῳ, a24) verschiedene Stellen einnehmen. Es ist bezeichnend, dass sich Aristoteles hier eigens auf die gewöhnliche Erfahrung (ὥσπερ δοκεῖ ἡμῖν, a25) beruft, um seine Vermutung zu legitimieren, dass auch hier echte Kausalrelationen vorliegen können. Ist diese Vermutung aber begründet, so können sich Beweise auch auf solche zeitlich distinkten Ursachen stützen. In allen diesen Fällen muss aber der Syllogismus vom jeweils Späteren ausgehen (ἀπὸ τοῦ ὕστερον γεγονότοϚ ὁ συλλογισμόϚ, a28). Was für eine Beziehung ist hier durch das „ἀπό“ ausgedrückt? Hier geht es nicht darum, aus gegebenen Prämissen eine Conclusio abzuleiten, sondern umgekehrt ist zu einem gegebenen Satz, der dann als Conclusio fungieren soll, ein Mittelbegriff zu finden, der eine der Ursachen für den in der Conclusio ausgedrückten Sachverhalt bezeichnet und so die Formulierung der Beweisprämissen erst ermöglicht. Damit ist dann aber gesagt, dass die durch den Mittelbegriff bezeichnete Ursache früher ist als der Sachverhalt, für den sie Ursache

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ist2. Das „ἀπό“ bezieht sich hier also nicht auf die Ordnung der logischen Ableitung, sondern auf die Richtung, die einzuschlagen ist, wenn im Ausgang von einer gegebenen Conclusio ein Beweis erst zu konstruieren ist. In diesem Zusammenhang ist streng darauf zu achten, dass Aristoteles keineswegs mit Hilfe der syllogistischen Beweistechnik die Existenz einer bestimmten Ursache erschließen will; umgekehrt werden syllogistische Technik und Ursachenforschung gerade in der Weise kombiniert, dass mit Hilfe der Ursache, die noch gefunden werden muss, die als solche notwendigerweise schon bekannte Existenz des zu beweisenden Sachverhalts dann auch wirklich bewiesen wird. Man kann also sinnvollerweise immer nur im Ausgang vom Verursachten nach einer (gleichzeitigen oder vorhergehenden) Ursache fragen und sodann den entsprechenden Syllogismus konstruieren; dagegen ist es nicht angängig, von einer gegebenen Ursache aus auf den verursachten Sachverhalt zu schließen. Diese Möglichkeit wird von Aristoteles im übrigen ausdrücklich ausgeschlossen (ἀπὸ δὲ τοῦ προτέρου ὀυκ ἔστιν, οἷον ἐπεὶ τόδε γέγονεν, ὅτι τόδ’ ὕστερον γέγονεν, a30 f.). Der Grund hierfür liegt, wie man leicht sieht, darin, dass die Relation zwischen Ursache und Verursachtem bei Aristoteles mehreindeutig ist. Wir halten also fest, dass Aristoteles im Zusammenhang von Anal. post. B 12 drei logisch streng voneinander zu unterscheidende Thesen vorträgt: 1. Es gibt Kausalrelationen, die sich über eine Zeitdauer hin erstrecken; 2. die Ursache liegt in diesem Fall immer früher als der verursachte Sachverhalt; 3. methodisch muss man immer beim Verursachten ansetzen, um von hier aus auf die Ursache zu schließen. Der umgekehrte Weg ist nicht möglich3. Es fällt auf, dass Aristoteles für alle mit zeitlich distinkten Ursachen arbeitenden Beweise außerdem jeweils einen einheitlichen Zeitmodus fordert; insoweit gilt auch für den Mittelbegriff immer noch eine Homogenitätsforderung. So kann man für vergangene Sachverhalte Beweise konstruieren, die mit einer zeitlich noch weiter zurückliegenden Ursache arbeiten; in ähnlicher Weise kann man auch im Bereich des Zukünftigen operieren (vgl. 95a36 ff.). Doch die Grenzen der Zeitmodi dürfen niemals überschritten werden. Auch aus diesem Grund lässt sich mit den Mitteln der Beweistheorie niemals eine exakte Prognose stellen. 2

Vgl. Anal. post. B 16, 98b17: τὸ γὰρ αἴτιον πρότερον οὗ αἴτιον. Dagegen spricht nicht, dass der korrespondierende Syllogismus wie jeder andere Syllogismus aus Prämissen auf eine Conclusio schließt; denn der korrespondierende Syllogismus hat keine Ursachen zu Prämissen, sondern Prämissen, in denen die Ursache als Mittelbegriff vorkommt; durch die Außenbegriffe ist aber schon in den Prämissen die Ursache auf das bezogen, dessen Ursache sie ist. 3

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Wie wichtig für Aristoteles diese modale Homogenität der Terme gerade bei zeitlich distinkten Kausalrelationen war, zeigen auch die Variablenbeispiele, die er 95b16–29 vorführt. Hier werden streng analoge Schemata für den Ursachenbeweis vorgeführt, von denen sich das eine auf Vergangenes, das andere auf Zukünftiges bezieht; in beiden Fällen aber wird auf ein in der Zeitreihe vorhergehendes Ereignis als auf eine notwendige Bedingung zurückgeschlossen. Die Orientierung an dem an die Prädikationsstruktur gebundenen Syllogismus ist in diesen Schemata stillschweigend aufgegeben; Aristoteles macht hier vielmehr nur Gebrauch von der Transitivität der Implikation, und zwar auf der Grundlage, dass die Behauptung der Existenz der (zeitlich vorhergehenden) Ursache von der Behauptung der Existenz des Verursachten impliziert wird. Zur Eigenart der aristotelischen Kausalrelation gehört aber, dass die Kontraposition nicht gilt: Die Behauptung der Existenz des Verursachten wird von der Behauptung der Existenz der Ursache gerade nicht impliziert. Aus dieser Tatsache allein lassen sich freilich noch keine Folgerungen zugunsten einer indeterministischen Deutung der aristotelischen Kausaltheorie ziehen. Wohl aber lässt sich sagen, dass die von Aristoteles hier betrachteten Ursachen immer nur den Status von notwendigen, aber nicht von hinreichenden Bedingungen haben. Schon deshalb – und nicht allein wegen der Möglichkeit der zusätzlichen Einwirkung von systemfremden „zufälligen“ Ursachen – ist es unmöglich, unter Voraussetzung dieses Kausalbegriffs zukünftige aus gegenwärtigen Ereignissen sicher vorherzusagen. Diese in Anal. post. B 12 entwickelte Theorie liefert uns einen Gesichtspunkt, der für die Deutung der in De Int. 9 entwickelten Theorie von den kontingenten Zukunftsaussagen nützlich ist. Aristoteles entwickelt in diesem Kapitel bekanntlich die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man Aussagen von dem Typus „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ im Hinblick auf ihre semantischen Beziehungen zu analysieren unternimmt. Die Rätsel dieses Kapitels sind auch nach den sehr eingehenden Erörterungen, zu deren Gegenstand es in letzter Zeit gemacht worden ist, noch lange nicht gelöst. Die Tatsache, dass sich Aristoteles hier, im Einklang mit den Fragestellungen von „De interpretatione“, streng auf die logischen und semantischen Probleme beschränkt, erleichtert ein adäquates Verständnis dieses Textes keineswegs; denn dieser Text liefert keinen Anhaltspunkt für die Entscheidung der Frage, auf Grund welcher Sachverhalte diese Probleme gerade bei kontingenten Zukunftsaussagen – und nur dort – vorkommen. Geht man nun aber von der in Anal. post. B 12 entwickelten Theorie aus, so wird die Fragestellung von De int. 9 plausibel. Man muss dabei nur berücksichtigen, dass Aristoteles von einer Adäquationstheorie der Wahrheit ausgeht: wenn eine Aussage wahr ist, dann besteht der von ihr gemeinte Sachverhalt. Zudem ist in diesem Fall die Begründungsrelation nicht um-

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kehrbar: Das Bestehen des Sachverhaltes ist Ursache für die Wahrheit der dieses Bestehen behauptenden Aussage, aber nicht umgekehrt4. Der aristotelische Ursachenbegriff ist weit genug, um auch noch diese Beziehung zu decken5. Wenn man nun an die Regeln von Anal. post. B 12 denkt, so sieht man sofort, dass sich keine Schwierigkeiten ergeben, wenn es um Aussagen geht, die die Existenz zeitloser oder kontingenter gegenwärtiger Sachverhalte behaupten. Aber auch Aussagen, die sich auf kontingente vergangene Ereignisse richten, bieten keine Probleme, denn hier stimmt die zeitliche Ordnung der semantischen Begründung mit den Anforderungen der Kausaltheorie überein. Die einzige Schwierigkeit ergibt sich bei kontingenten Aussagen, die sich auf Zukünftiges beziehen: Nach der semantischen Ordnung würde die Wahrheit der (gegenwärtigen) Aussage durch die erst in Zukunft eintretende Existenz des Ereignisses begründet. Die Kausaltheorie verlangt jedoch, dass bei zeitlich distinkten Verhältnissen die Ursache dem Verursachten auch zeitlich vorhergehen muss, und dass man überdies immer nur vom Verursachten auf die (in zeitlicher Hinsicht möglicherweise vorhergehende) Ursache schließen kann, aber nicht umgekehrt. Deswegen kann man also nicht von der „Wahrheit“ einer gegenwärtigen Aussage auf das Eintreten des von ihr ausgesagten zukünftigen Ereignisses schließen; außerdem lässt sich die Wahrheit gegenwärtiger Aussagen auch gar nicht durch erst künftig eintretende Sachverhalte begründen. Es gibt also keine mit den Voraussetzungen des Systems verträgliche Beziehung, die mit logischer Notwendigkeit zu einem zukünftigen Ereignis führen könnte. Diese Theorie macht die Schwierigkeiten verständlich, die sich ergeben, wenn man die Wahrheit auch von Zukunftsaussagen auf das Bestehen der ausgesagten Sachverhalte begründen will. Nun geht Aristoteles in De int. 9 freilich nicht so vor, dass er sich einfach nur auf die Theorie von Anal. post. B 12 beriefe, obwohl sich auf diese Weise das Problem auf eine systemkonforme Weise sehr viel einfacher hätte lösen lassen. Das liegt daran, dass die Fragestellung in De int. 9 dadurch modifiziert ist, dass Aristoteles hier vom Bivalenzprinzip ausgeht, nämlich von dem Satz, dass bei einem Paar kontradiktorischer Sätze der eine Satz wahr, der andere falsch sein muss. Damit hat sich eine Verschärfung der Fragestellung ergeben. Denn die Gültigkeit von „p ∨ ¬ p“ steht auch für den Fall fest, dass für „p“ kontingente Zukunftsaussagen substituiert werden. Wenn es aber auf diese Weise möglich sein sollte, auf dem Umweg über die Formulierung derartiger Alternativen 4 Met.

Θ 10, 1051b7 ff.; E 4, 1027 b28 ff.; Phys. Γ 8, 208a14 ff.; Cat. 12, 14b9 ff. Dies wird bewiesen durch Cat. 12, wo Aristoteles zur Charakterisierung der semantischen Relation zwischen wahrer Aussage und ausgesagtem Sachverhalt den Ursachenbegriff anwendet, wenngleich die Formulierung erkennen lässt, dass es sich um einen Sonderfall der möglichen Anwendungen dieses Begriffs handelt (ἔστι δὲ ὁ μὲν λόγοϚ οὐδαμῶϚ αἴτιοϚ τοῦ εἶναι τὸ πρᾶγμα, τὸ μέντοι πρᾶγμα φαίνεταί πωϚ αἴτον τοῦ εἶναι ἀληθῆ τὸν λόγον, 14b18 ff.). 5

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doch noch zu wahren Zukunftsaussagen – die dann jeweils Glieder solcher Alternativen sind – zu kommen, dann wäre es nicht einzusehen, wodurch man gehindert sein sollte, aus der Wahrheit eben dieser Aussagen auf das (zukünftige) Bestehen der von ihnen ausgesagten Sachverhalte zu schließen. Aristoteles vermeidet diese Konsequenz bekanntlich dadurch, dass er eine Grundannahme modifiziert, und zwar in der Weise, dass er auf die Forderung verzichtet, die Wahrheitswerte auf die Glieder der Alternative jeweils eindeutig zu distribuieren (δῆλον ὅτι οὐκ ἀνάγκη πάσηϚ καταφάσεωϚ καὶ ἀποφάσεωϚ τῶν ἀντικειμένων τὴν μὲν ἀληθῆ τὴν δὲ ψευδῆ εἶναι, 19a39 f.). Auf diese Weise entgeht also Aristoteles der Konsequenz, eindeutig wahre Aussagen über zukünftige Ereignisse akzeptieren zu müssen. Damit ist er aber auch zugleich der Notwendigkeit enthoben, ein zeitlich distinktes Begründungsverhältnis akzeptieren zu müssen, bei dem entgegen der natürlichen Ordnung das Begründete (die Wahrheit der gegenwärtigen Aussage) dem Begründenden (dem zukünftigen Ereignis) zeitlich vorhergeht. Die Existenz von eindeutig wahren Aussagen über zukünftige kontingente Ereignisse kann also auch im Blick darauf ausgeschlossen werden, dass sich die vermeintliche Wahrheit solcher Aussagen gar nicht auf eine systemkonforme Weise begründen ließe. Obwohl die beiden hier berücksichtigten Kapitel in keinem erkennbaren literarischen Zusammenhang stehen, lässt sich ihre systematische Stellung zueinander so bestimmen, dass De int. 9 einige Schwierigkeiten ausräumt, die sich unter Voraussetzung der Allgemeingültigkeit von „p ∨ ¬ p“ dann ergeben, wenn man die in Anal. post. B 12 entwickelte Theorie zeitlicher Kausalrelationen auch auf die semantischen Relationen anwendet, durch die die Wahrheit über Kontingentes begründet werden kann. Dass eine solche Anwendung zulässig ist, wird nicht zuletzt durch De int. 9 bestätigt. Man hat sich in der Tat schon längst darüber gewundert, dass Aristoteles in diesem Kapitel die Unterscheidung zwischen logischer Notwendigkeit und Realnotwendigkeit nicht mit der Deutlichkeit trifft, die man von heutigen Vorstellungen aus fordern zu können glaubt. Bekanntlich behauptet Aristoteles, dass aus der Annahme eindeutiger Wahrheitswerte auch für kontingente Zukunftsaussagen die Notwendigkeit alles Geschehens und zugleich die Unmöglichkeit sowohl des Zufalls als auch des Handelns und die Sinnlosigkeit praktischer Beratschlagung folge (18b6 f., 14 f., 30 ff.). Sollte Aristoteles hier wirklich logische Notwendigkeit und Realnotwendigkeit „verwechselt“ haben? Bevor man einen solchen Vorwurf erhebt, sollte man an der Selbstverständlichkeit dieser Unterscheidung zweifeln. Denn es ist schwer einzusehen, welchen Sinn die Rede von Realnotwendigkeit haben kann, wenn ihr Begriff nicht am Leitfaden eines logischen Notwendigkeitsbegriffs bestimmt wird. Trotzdem bleibt die Frage, ob gerade die semantische Relation geeignet ist, eine derartige Notwendigkeit zu

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begründen. Nun muss man hier aber berücksichtigen, dass die von Aristoteles akzeptierte Notwendigkeit nicht als Realdetermination im Sinne der neuzeitlichen Mechanik verstanden werden darf. Die Notwendigkeit ist vielmehr als ἀνάγκη ἐξ ὑποθέσεωϚ immer nur eine notwendige Bedingung für ein gegebenes Bedingtes. Nun gibt es allerdings keinen Grund, warum die semantische Relation nicht auch als ein Fall solcher Bedingungsverhältnisse verstanden werden sollte. Denn die Aussagen, deren Struktur Aristoteles in „De interpretatione“ untersucht, stehen den von ihnen intendierten Sachverhalten nicht als weltlose Gebilde, etwa von der Art stoischer λεκτά, gegenüber. Die Aussagen sind vielmehr selbst gegenständliche Gebilde, wenngleich eigener Art. Das zeigt sich in De int. 9 daran, dass Aristoteles hier eine Ausdrucksweise bevorzugt, bei der der konkrete Charakter der auf einen Sprecher zurückgehenden Aussage deutlich wird (18a35, b7, b34). Dem widerspricht nicht, wenn Aristoteles ausdrücklich darauf hinweist, dass man von dem konkreten Aussprechen der Aussage auch absehen kann (19b36 ff.). Offenbar genügt in diesem Zusammenhang bereits die bloße Möglichkeit einer entsprechenden Aussage. Aber auch dann wird man von der möglichen Konkretheit der Aussage nicht ganz absehen können: Der Sinn von Aussagen, die zeitliche Okkasionalbegriffe (z. B. „morgen“) enthalten, lässt sich nur erfassen, wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei ihnen um zumindest potentiell gegenständliche Gebilde handelt, die auch selbst zeitlich bestimmt sind. Wenn nun die Wahrheit einer solchen Aussage dadurch bedingt ist, dass der ausgesagte Sachverhalt besteht, und wenn außerdem bei zeitlich distinkten Verhältnissen immer nur auf zeitlich vorhergehende Bedingungen geschlossen werden kann, muss man bei kontingenten Zukunftsaussagen – und nur dort – auf die Zuordnung definiter Wahrheitswerte verzichten. Die Lösung, die Aristoteles in De int. 9 anbietet, um den sich im Ausgang von der unbezweifelten Gültigkeit von „p ∨ ¬ p“ ergebenden Schwierigkeiten zu entgehen, ist also eine Lösung, die zwar nicht literarisch erkennbar dem Kapitel Anal. post. B 12 entnommen ist, wohl aber der Sache nach durch die in diesem Kapitel entwickelte Theorie dann begründet werden kann, wenn man von der von Aristoteles vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch macht, das Bestehen eines Sachverhaltes als Ursache der Wahrheit der dieses Bestehen behauptenden Aussage zu deuten. Zuerst veröffentlicht in: Archiv für Geschichte der Philosophie 54. Bd., 1972, H. 3, S. 229–237.

Aristoteles und die Seeschlacht. Zur Struktur prognostischer Aussagen Prognosen werden nicht nur im Bereich der Wissenschaften gestellt. Der Ursprung unseres Interesses an Prognosen lässt sich schwerlich einsehen, wenn man den Blick nur auf die Stellen im Aufbau des Erkenntnissystems der Wissenschaften richtet, an denen Aussagen über zukünftige Ereignisse Ziel oder Hilfsmittel menschlicher Erkenntnisbemühungen sind. Noch nicht einmal für den Bereich der Wissenschaften wird unser Interesse an Prognosen verständlich, wenn man nicht berücksichtigt, dass dieses Interesse auf einer der fundamentalen Strukturen menschlichen Lebens überhaupt beruht. Man kann sich kein auch noch so einfach und primitiv strukturiertes menschliches Leben vorstellen, in dem die jeweilige Gegenwart nicht stets im Horizont von Antizipationen der Zukunft und von Vormeinungen über sie erfahren würde. Jedes menschliche Handeln greift in einen Zukunftsbereich aus, den es gestalten will. Prognosen über das mögliche Resultat von Handlungen sind dabei ebenso Orientierungshilfen wie Prognosen über das, was ohnehin geschieht. Doch jede derartige Prognose bleibt mit einem nie ganz zu beseitigenden Risiko behaftet. Das hängt damit zusammen, dass sie immer von Bedingungen abhängt, dass sie begrenzt und unvollständig ist. So gewiss die Möglichkeit von Prognosen zu den Bedingungen gehört, unter denen sinnvolles Handeln und Planen erst möglich wird – eine universale, unbedingte und absolut sichere Prognose würde die Möglichkeit des Handelns selbst aufheben. Prognosen im weiteren Sinne des Wortes sind nicht notwendig stets in sprachlicher Gestalt ausformuliert, geschweige denn begründet. Im Gegenteil: Die in Gestalt sprachlicher Gebilde ausformulierten Prognosen stellen bereits einen Sonderfall dar. Denn hier wird nur thematisiert, was in einer vorreflexiven und gleichsam unterschwelligen Gestalt bereits existent und virulent ist. Gewiss haben wir es in den Wissenschaften mit Prognosen zu tun, die unter kontrollierbaren Bedingungen verbalisiert und begründet sind. Doch gerade am Beispiel der Prognose lässt sich zeigen, wie auch noch die in den Wissenschaften erarbeitete Wirklichkeitserkenntnis auf einem praktischen Weltverständnis basiert, das sich zwar, wenn es darauf ankommt, in Sätzen und Aussagen auszudrücken vermag, das andererseits aber nicht darauf angewiesen ist, sich in verbalisierter Gestalt darzustellen. Auf mögliche Zukunft ist jeder Mensch immer schon dadurch bezogen,

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dass er überhaupt lebt und handelt – auch dann, wenn er den Mund gar nicht öffnet und dieses Bezogensein sprachlich noch gar nicht zu artikulieren vermag. An diese Trivialitäten muss man sich erinnern, wenn man die Rolle der Prognose in den Wissenschaften richtig einschätzen will. Denn man steht sonst ratlos vor der Tatsache, dass die Fähigkeit einer Wissenschaft, richtige Prognosen zu liefern, immer wieder als Faszinosum erlebt werden konnte. Denn hier scheint die Wissenschaft etwas leisten zu können, auf das menschliche Lebenspraxis schon immer aus ist. Das gilt nicht nur für die neuzeitlichen Wissenschaften. Es ist bezeichnend, dass gerade mit dem Anfang der Wissenschaften in der Antike die Nachricht von zwei treffenden Prognosen verbunden ist. Denn die Überlieferung bringt die halblegendäre Gestalt des Thales mit zwei Prognosen in Zusammenhang: Die Voraussage der Sonnenfinsternis im Jahre 585 v. Chr. liefert eines der ganz wenigen festen Daten, die wir aus der Frühgeschichte der Wissenschaft überhaupt besitzen. Die andere Prognose des Thales ist nach der Überlieferung mit einer gelungenen Ölspekulation verbunden: Auf Grund einer treffenden meteorologischen Prognose soll er einmal eine besonders reiche Ölernte vorausgesehen, alle Ölmühlen seiner Umgebung rechtzeitig auf Kredit gekauft und nach der Ernte mit Gewinn weiterverkauft haben. Gleichwohl hatte die Prognose im Bereich der antiken Wissenschaft – sieht man einmal von der Medizin ab – nur eine bescheidene Bedeutung. Die Mantik konnte, kaum angefochten, neben einer Wissenschaft bestehen, die mit ihr nicht mit Erfolg konkurrieren konnte. Denn die Mantik versprach, Bedürfnisse zu erfüllen, die die Wissenschaft nun einmal nicht erfüllen konnte. Nehmen wir als Beispiel die aristotelische Naturwissenschaft: Sie versucht das, was immer in gleicher Weise ist und geschieht, auf Begriffe zu bringen. Dass die Ordnung der natürlichen Welt in ihrer Regelmäßigkeit immer wieder vom Zufall durchkreuzt werden kann, ist eine Einsicht, die als solche noch innerhalb dieser Wissenschaft ausgesprochen und begründet werden kann. Die einzelnen zufälligen Ereignisse werden hingegen von der Wissenschaft nicht mehr erreicht. Die neuzeitliche Wissenschaft machte sich hingegen anheischig, Begründungsmodelle zu liefern, mit deren Hilfe auch noch das, was im aristotelischen System dem Zufall zugesprochen war, erklärungs- und prognosefähig sollte gemacht werden können. Die Möglichkeit, treffende Prognosen nicht nur zu stellen, sondern auch zu begründen, wurde so in den neuzeitlichen Wissenschaften zu einer Art Gütesiegel. So diffizil die Probleme auch sein mögen, die sich beim theoretischen Aufbau einer Wissenschaft stellen, wenn es darum geht, auf Grund welcher Kriterien Theorien bestätigt oder verworfen werden: Hat eine Theorie erst einmal ihre Fähigkeit erwiesen, die Basis für zutreffende Prognosen abzugeben, so hat sie zumindest für

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die Praxis ihre Feuerprobe bestanden und wird so lange akzeptiert, bis sie von einer noch besseren Theorie überholt wird. Trotzdem ist die neuzeitliche Wissenschaft an Prognosen nicht um ihrer selbst willen interessiert. Gelungene Prognosen liefern vielmehr nur besonders überzeugende Argumente, wenn es um die Bestätigung einer Theorie geht. Das lässt sich am Beispiel der für das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis paradigmatischen klassischen Mechanik deutlich machen. Ihr geht es nicht um Prognose als solche, sondern um die Feststellung einer gegenüber der Zeit invarianten Gesetzlichkeit, deren Anwendung sich in der gelungenen Prognose nur besonders bewährt. Ihr Instrumentarium erlaubt es, den Zustand eines Systems zu einem beliebigen Zeitpunkt zu berechnen, wenn die Randbedingungen, der Zustand zu irgendeinem Zeitpunkt sowie die für dieses System geltenden Gesetze vollständig bekannt sind. Es macht keinen Unterschied, ob man von einem gegebenen Zeitpunkt aus in seine Zukunft voraus- oder in seine Vergangenheit zurückrechnet. Da man von der Annahme der Homogeneität der Zeit ausgeht, sind für jeden Jetztpunkt Zukunft und Vergangenheit nur durch ihre Lage auf der Zeitgeraden voneinander unterschieden. Voraussage künftiger und Berechnung vergangener, schon eingetretener Ereignisse werden durch Anwendung ein und derselben Methode möglich. Für die Berechnungen in Bezug auf ein derartiges System ist es prinzipiell gleichgültig, an welchem Punkt der Zeitgeraden sich derjenige, der diese Berechnungen vornimmt, gerade befindet. Prognose und Retrognose sind in diesem Fall immer nur relativ: nämlich relativ zum Zustand des Systems zu einem beliebigen Zeitpunkt, auf den sich die Berechnungen beziehen. Eine wirkliche, unbedingte Prognose liegt aber nur vor, wenn sie sich auf den Zeitpunkt bezieht, zu dem die Berechnungen, Ableitungen, Erklärungen wirklich stattfinden. Natürlich kann der Physiker den Zeitpunkt immer so wählen, dass de facto eine echte und nicht nur eine relative Prognose zustande kommt. Doch diesen Unterschied sieht man den Berechnungen selbst nicht mehr an. Ob eine solche Berechnung eine echte Prognose ist oder nicht, hängt also von Randbedingungen ab, die in die Berechnung selbst nicht eingehen. Es ist bezeichnend, dass sich in der modernen Wissenschaftstheorie die Lehrmeinung durchgesetzt hat, wonach wissenschaftliche Erklärung und (begründete) Prognose ein und dieselbe Struktur aufweisen. Nur im Hinblick auf pragmatische Umstände, nämlich im Hinblick auf den Zeitpunkt, zu dem die logische Ableitung vorgenommen wird, lässt sich dann bestimmen, ob man es mit einer Erklärung oder mit einer Prognose zu tun hat. Dem Gebilde selbst sieht man dies nicht an. Es mag sein, dass die moderne Theorie der Erklärung noch mancherlei Differenzierungen und Verfeinerungen erfahren wird. Auf der Grundlage dieser Theorie lässt sich indes nicht verständlich machen, warum die Fähigkeit einer wissenschaftlichen

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Theorie, zutreffende Prognosen zu stellen, ganz anders als ihre Fähigkeit, Erklärungen zu liefern, als Faszinosum erfahren werden konnte. Man kann die neuzeitliche Wissenschaft und ihren Erfolg nicht verstehen, ohne zu berücksichtigen, von welchen Bezügen sie planmäßig absieht, wenn sie Modelle konstruiert, unter deren Voraussetzungen sie die Wirklichkeit zu deuten unternimmt. Für unseren Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass sie jedenfalls vom vorreflexiven Zeitverständnis des lebenden und handelnden Menschen absieht. Sie sieht davon ab, dass für den Betrachter immer ein bestimmter Zeitpunkt, nämlich seine jeweilige Gegenwart, sein jeweiliges Jetzt vor allen anderen Zeitpunkten ausgezeichnet ist. Sie sieht davon ab, dass der Betrachter der Zeit unterworfen ist und höchstens fiktiv, niemals aber in Wirklichkeit eine Position außerhalb ihrer beziehen kann. Schließlich sieht sie aber auch von der Inhomogeneität der gelebten und erfahrenen Zeit ab. Diese Inhomogeneität zeigt sich darin, dass Vergangenes und Zukünftiges in Bezug auf die jeweilige Gegenwart des lebenden und handelnden Menschen strukturell und nicht nur durch ihre Position auf der Zeitgeraden unterschieden sind. Es ist kein Zufall, dass manche philosophische Zeittheorien gerade derartige Phänomene zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen gewählt haben. – Das besondere Interesse an der Prognose ist aber nun gerade in den Verhältnissen jenes Bereiches begründet, in welchem der planende, handelnde, erwartende und, nicht zu vergessen, auch der forschende Mensch vorkommt. Erst in Bezug auf ihn wird eine Aussage oder ein Argument zur Prognose qualifiziert. Echte Prognosen gibt es nur für ihn, nicht aber für die von ihm betriebene Wissenschaft. Ihren Aussagen sieht man als solchen niemals an, ob sie die Stellung echter Prognosen einnehmen können oder nicht. Diese Sachlage zwingt nun allerdings nicht dazu, die Orientierung an der Wissenschaft ganz aufzugeben, wenn man über Struktur und Eigenart echter Prognosen Klarheit gewinnen will. Denn man vergisst zu leicht, dass die auf Formulierung und Begründung von Erkenntnissen zielenden theoretischen Disziplinen nur die eine Hemisphäre der Wissenschaft überhaupt ausmachen. Ihnen stehen gleichberechtigt die auf begründetes Handeln im Einzelfall zielenden praktischen Wissenschaften gegenüber. Gleichberechtigt sind sie der Sache, der Aufgabe und dem Ursprung nach, nicht so sehr dagegen im Selbstverständnis des modernen Wissenschaftlers, erst recht nicht für den Wissenschaftstheoretiker, der sich bei seinen Überlegungen fast immer an den theoretischen Disziplinen orientiert. Die praktischen Wissenschaften, für die Jurisprudenz und Medizin die prominentesten Beispiele abgeben, gehen keineswegs darin auf, Resultate der theoretischen Disziplinen auf Probleme des menschlichen Lebens anzuwenden. Sie tun dies freilich in unserer Zeit in einem solchen Umfang, dass ihr eigener spezifischer Wissenschaftscharakter darüber in Vergessenheit zu geraten droht.

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Praktische Wissenschaften könnten sie indes selbst dann noch sein, wenn es gar keine Resultate theoretischer Disziplinen anzuwenden gäbe. Auch ihre Geschichte bestätigt, dass sie Wissenschaften kraft eigenen Rechts und nicht nur von Gnaden der theoretischen Wissenschaften sind. So sehr sie auch deren Ergebnisse anwenden mögen: Es bedarf immer noch einer Instanz, die darüber zu befinden hat, wo und in welchem Umfang solche Anwendungen vorgenommen werden sollen. Für die praktischen Wissenschaften ist es charakteristisch, dass man in ihnen gerade nicht davon absehen kann – und zwar noch nicht einmal fiktiv –, dass der Betrachter selbst in der Zeit steht und unter ihren Bedingungen plant und handelt. Damit hängt es zusammen, dass die praktischen Wissenschaften unmittelbar mit dem Problem der Prognose zu tun haben. Ob eine Aussage oder ein Argument eine Prognose ist, ergibt sich hier nicht erst aus pragmatischen Randbedingungen. Der Arzt, der eine Aussage über das macht, was seinem Patienten bevorsteht und womit er zu rechnen hat, der Jurist, der die Wahrscheinlichkeit abschätzt, mit der ein Klagebegehren seines Klienten zum gewünschten Erfolg führe – sie markieren Grundsituationen, in denen prognostiziert wird. Es handelt sich hier um Prognosen, die in einem Interaktionszusammenhang stehen. Er garantiert, dass sich der Prognostizierende noch nicht einmal fiktiv von seiner eigenen Zeitstelle distanzieren kann. Daher haben wir es in den praktischen Wissenschaften mit echten Prognosen zu tun. In ihnen interessiert die Prognose unmittelbar und um ihrer selbst willen. Sie ist nicht nur ein Mittel, mit dessen Hilfe Hypothesen bestätigt oder verworfen werden. Ihr Charakter als Prognose ergibt sich nicht erst, wenn man pragmatische Randbedingungen in Rechnung stellt, wie sie bei Prognosen in den theoretischen Wissenschaften nicht mehr in den Sinn der Aussagen selbst eingehen. Sie behält immer einen Bezug zur menschlichen Handlung; denn im Hinblick auf sie kann zwischen Handlungsalternativen begründet entschieden werden. Fragen wir nun nach der formalen Struktur der Prognose, so sehen wir uns an eine in kurzer Zeit rasch angewachsene und differenzierte Spezialdisziplin, die temporale Logik, verwiesen. In ihre Kompetenz fällt die Analyse von Aussagen und Systemen von Aussagen, die zeitliche Verhältnisse zum Gegenstand haben. Freilich ist es der temporalen Logik bisher noch kaum gelungen, den besonderen Problemen gerecht zu werden, wie sie sich im Hinblick auf prognostische Aussagen gerade im Bereich der praktischen Wissenschaften stellen. Doch wenn wir danach fragen, durch welche Merkmale sich die echte prognostische Aussage von anderen Aussagen unterscheidet und welche Merkmale sie mit gewöhnlichen Aussagen gemein hat, so ist es auch gar nicht unbedingt nötig, dass wir uns mit dem komplizierten Gebilde dieser temporalen Logik beschäftigen. Wir sind

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nämlich in der günstigen Lage, einen klassischen Text zur Logik der Prognose zu besitzen, anhand dessen sich die wichtigsten hier einschlägigen Probleme erörtern lassen. Es handelt sich um das neunte Kapitel der aristotelischen Schrift „De interpretatione“. In diesem Text nimmt Aristoteles in einer bis heute vorbildlichen Klarheit semantische Analysen von Sätzen vor, deren bevorzugtes Beispiel der Satz „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ darstellt. Er beschränkt sich dabei auf die Analyse prognostischer Aussagen; die Analyse prognostischer Argumente gehört nicht zu den hier behandelten Themen. Dieser Text hat in letzter Zeit eine wissenschaftliche Diskussion von außergewöhnlichem Umfang und außergewöhnlicher Intensität auf sich konzentriert. Es ist freilich eine Diskussion, die außerhalb der Kreise der Philosophiehistoriker und der Logiker bisher kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Aristoteles geht bei seinen Überlegungen zunächst von einem logischen Gesetz aus, das wir heute mit der Formel „(p ∨ ¬ p)“ aufschreiben und das zum „tertium non datur“ (TND), dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten der traditionellen Logik, in enger Beziehung steht. Die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes wird von Aristoteles nicht in Zweifel gezogen; auch wenn wir für „p“ eine prognostische Aussage einsetzen, erhalten wir eine notwendigerweise wahre Aussage. Die Aussage „Morgen findet eine Seeschlacht statt, oder morgen findet keine Seeschlacht statt“ ist notwendigerweise wahr. Sie enthält prognostische Aussagen als Bestandteile; sie ist freilich selbst keine prognostische Aussage mehr. Worauf beruht aber nun die Wahrheit von Aussagen, die wir durch Einsetzung in die erwähnte Formel gewinnen? Versuchen wir, diese Formel zu erläutern, so liegt es nahe, ihre Wahrheit auf die Definition der Disjunktion sowie auf den Satz zu gründen, dass jedes Aussagenpaar von der Gestalt (p; ¬ p) genau ein wahres und genau ein falsches Glied enthält. Eben dieser Satz jedoch, so lehrt Aristoteles in unserem Text, sei nicht ohne jede Ausnahme gültig. Er gelte zwar für universelle Aussagen; er gelte ferner für Individualaussagen, die sich auf gegenwärtige oder vergangene Ereignisse beziehen. Er gelte indes nicht für Aussagen über individuelle zukünftige Ereignisse. Die Gültigkeit des Satzes „(p ∨ ¬ p)“ kann mithin auf diese Weise nicht begründet werden. Aristoteles stellt somit im Hinblick auf unser Beispiel die folgende Behauptung auf: Zwar ist der Satz „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden, oder morgen wird keine Seeschlacht stattfinden“ ein logisch-wahrer Satz. Das zwingt aber nicht zu der Annahme, dass deswegen auch einer der beiden Teilsätze wahr ist – also entweder der Satz „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ oder der Satz „Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden“. Die Behauptung ist also, dass aus der Wahrheit von „(p  ∨ ¬ p)“

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eben nicht folgt, dass entweder „p“ oder „¬ p“ wahr ist, jedenfalls dann (und nur dann) nicht, wenn es sich bei „p“ um eine prognostische Aussage handelt. Aus diesen Voraussetzungen folgt, dass sich prognostische Aussagen im Hinblick auf ihre Wahrheitsbedingungen und überhaupt im Hinblick auf ihre Fähigkeit, wahr oder falsch zu sein, anders verhalten als alle übrigen Aussagen. – Nun könnte man versuchen, diese Schwierigkeiten mit einer einfachen Überlegung zu entschärfen: Man braucht nämlich nur anzunehmen, dass jede prognostische Aussage an sich eindeutig wahr oder falsch ist, das heißt, dass sie einen definiten Wahrheitswert hat, dessen Vorliegen in der Gegenwart jedoch nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann. (Eine derartige Deutung wäre beispielsweise den Prognosen adäquat, wie sie sich auf der Basis der neuzeitlichen Mechanik stellen lassen.) Aristoteles macht von dieser Lösungsmöglichkeit jedoch keinen Gebrauch. Wenn sich der Wahrheitswert einer prognostischen Aussage nicht eindeutig bestimmen lässt, so liegt dem nicht lediglich ein Wissensdefizit auf Seiten des Urteilenden zugrunde, das sich in der Folgezeit aufheben ließe. Die Behauptung des Aristoteles ist vielmehr, dass auch ganz unabhängig von unserem jeweiligen Kenntniszustand und von unseren jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten Aussagen über Ereignisse von morgen am heutigen Tage weder eindeutig wahr noch eindeutig falsch sind. Er geht freilich nicht so weit, Prognosen einem Bereich zuzuweisen, der gänzlich außerhalb des Bereiches möglicher Wahrheit läge. Prognosen gehören also nicht in den Bereich der rhetorischen Modi, die wie Bitten, Wünsche oder Befehle in der Tat ganz außerhalb des Bereiches möglicher Wahrheit oder Falschheit stehen. Denn anders als für solche rhetorischen Modi gilt für Prognosen, dass man aus ihnen Gebilde – etwa von der Form „(p ∨ ¬ p)“ – konstruieren kann, die einen definiten Wahrheitswert besitzen. Wie begründet Aristoteles seine These, dass prognostische Aussagen im Gegensatz zu allen anderen Aussagen weder eindeutig wahr noch eindeutig falsch sind? Er stellt eine semantische Überlegung an und betrachtet die Beziehung, die zwischen einer wahren Aussage und dem ausgesagten Sachverhalt besteht. Genauer: Er betrachtet die Beziehung, die zwischen der Behauptung der Wahrheit einer Aussage und der Behauptung dieser Aussage selbst besteht. Diese Beziehung ist in der modernen Semantik Gegenstand von vielfältigen Differenzierungen und Präzisierungen geworden, die vor allem mit dem Namen von Alfred Tarski verbunden sind. Im Zusammenhang unserer gegenwärtigen Überlegungen ist es jedoch nicht erforderlich, von diesen Differenzierungen Gebrauch zu machen. Wir können uns hier mit einer einfachen aristotelischen Feststellung begnügen: Wenn die Behauptung, ein Ding sei weiß, wahr ist, dann folgt daraus, dass das Ding weiß ist. Allgemeiner: Wenn es der Fall ist, dass „p“ wahr ist, dann folgt

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daraus, dass p der Fall ist: w(p) → p. Gilt aber diese Beziehung, so steht einem ein Verfahren zur Verfügung, das es erlaubt, von der Wahrheit einer Aussage auf das Bestehen des ausgesagten Sachverhaltes zu schließen. Die Zulässigkeit dieses Verfahrens wird dadurch eingeschränkt, dass die Voraussetzungen für seine Anwendung auf konkrete Fälle nicht immer gegeben sind, nämlich immer dann nicht, wenn der Wahrheitswert der Aussage „p“ nicht bekannt ist. Solange man aber davon ausgeht, dass gleichwohl an sich immer entweder „p“ oder „¬ p“ wahr ist, wird wenigstens prinzipiell der universelle Geltungsanspruch des Ableitungsverfahrens nicht angetastet, das es stets erlaubt, aus der Wahrheit einer Aussage das Bestehen des entsprechenden Sachverhaltes zu folgern. Für jeden denkbaren Sachverhalt würde auch gelten, dass er eindeutig entweder besteht oder nicht besteht, weil sich ihm stets ein Aussagenpaar zuordnen lässt, von dem genau ein Glied wahr und das andere Glied falsch ist. Unter diesen Umständen verzichtet Aristoteles auf die Annahme, dass prognostische Aussagen eindeutig wahr oder falsch sind. Er verzichtet auf sie, weil sie in Verbindung mit der Allgemeingültigkeit des Satzes „w(p) → p“ mit der für ihn evidenten Tatsache unverträglich ist, dass es in unserer natürlichen Welt Zufälle und prinzipiell unvorhersehbare Ereignisse gibt. Denn die natürliche Welt ist für Aristoteles kein Bereich von ausnahmslos und lückenlos geltenden universellen Gesetzlichkeiten, sondern ein Bereich von Regelmäßigkeiten, die störanfällig sind und stets von für sie äußer­ lichen, zufälligen Ereignissen durchkreuzt werden können. Auch die Möglichkeit menschlichen Handelns, Beratschlagens und Entscheidens beruht auf dieser Struktur der natürlichen Welt. Das ist die einzige Stelle, an der in die semantischen Überlegungen eine Annahme über die Struktur der realen Welt aufgenommen wird. Gewiss wäre es möglich, einen Zufallsbegriff so einzuführen, dass die Annahme fester Wahrheitswerte auch für prognostische Aussagen dadurch nicht tangiert wird. Doch die aristotelische Argumentation ist in diesem Punkt ganz eindeutig. Dem Interpreten bleibt nur die Aufgabe, den aristotelischen Zufallsbegriff so zu explizieren, dass seine Einführung dazu zwingt, für prognostische Aussagen – also für Aussagen über künftige Ereignisse, deren Eintreten oder Nichteintreten stets durch Zufälliges durchkreuzt werden kann – auf feste Wahrheitswerte zu verzichten. Aristoteles will hier keinen Beweis gegen die Annahme der Notwendigkeit alles Geschehens führen. Dass eine derartige Notwendigkeit nicht existiert, sondern nur Regelmäßigkeit, steht für ihn fest. Sein Problem ist, die Semantik der Aussagen so einzurichten, dass nicht-notwendiges und immer unter dem Vorbehalt des Zufalls stehendes Zukünftiges noch nicht einmal mit den Mitteln logischer Notwendigkeit erreicht werden kann. Nur deswegen verzichtet er für prognostische Aussagen auf feste Wahrheitswerte.

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Unter der Voraussetzung einer derartigen Semantik ist natürlich die Erfüllung einer Prognose ihrem Wesen nach etwas ganz anderes als die Verifikation einer Aussage. Auch die aristotelische Theorie der zeitlichen Kausalverhältnisse (Analytica posteriora B 12) trägt diesen Zusammenhängen Rechnung. Aristoteles rechnet nämlich mit Kausalbeziehungen, die immer nur nach einer Richtung hin voll determiniert sind: Von einem gegebenen Ereignis aus kann man immer auf die Bedingungen zurückschließen, ohne die es nicht eingetreten wäre. Vom jeweiligen Ereignis aus gesehen besteht im Hinblick auf die in seiner Vergangenheit liegenden Bedingungen stets ein vollständiger und prinzipiell lückenloser Determinationszusammenhang. Nichts Entsprechendes gilt für die Zukunft: Man kann immer nur vom gegebenen Bedingten auf gleichzeitige oder vergangene Bedingungen zurückschließen, nicht aber von gegebenen Bedingungen auf ein zukünftiges Bedingtes. Hier handelt es sich um einen Kausalbegriff, der dem natürlichen Weltverständnis und vor allem auch dem Selbstverständnis des handelnden Menschen adäquat ist. Dieser Kausalbegriff macht denn auch verständlich, dass Aussagen über Gegenwärtiges und Vergangenes keine Probleme von der Art stellen, wie sie einem im Umkreis prognostischer Aussagen begegnen. „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“: Diese Aussage ist am heutigen Tag, an dem sie ausgesprochen wird, nach der Lehre des Aristoteles weder wahr noch falsch. Aristoteles macht nun aber keine Angabe darüber, ob hier etwas anderes an die Stelle der definiten Wahrheitswerte tritt und was dies gegebenenfalls ist. In der Sache lassen sich auf diese Frage ganz unterschiedliche Antworten geben: Man kann einen Wahrscheinlichkeitsbegriff einführen, man kann mit Modaloperatoren arbeiten, man kann die Gültigkeit einer mehrwertigen Logik unterstellen. Auf diese Weise kann man verschiedene Lösungen ausarbeiten, von denen jede mit der aristotelischen Theorie widerspruchsfrei verbunden werden kann. Keine dieser Lösungen wird jedoch vom Text her eindeutig gefordert. Für welche Lösung man sich aber auch entscheiden wird: Die prognostische Aussage bleibt in jedem Fall mit einem eindeutigen Risiko behaftet. Denn für die eindeutige Alternative von wahr oder falsch, die im Hinblick auf die gegenwärtige Aussage nicht anwendbar ist, gibt es ja ein Analogon in der Zukunft: Das prognostische Ereignis wird entweder eintreffen oder nicht eintreffen. Hier gibt es keine dritte Möglichkeit. Ob das Ereignis eingetroffen sein wird oder nicht, kann in der Zukunft Gegenstand einer Aussage sein, die eindeutig entweder wahr oder falsch ist. In der Diskussion des Problems der contingentia futura und seiner Lösungsversuche ist später, vor allem in der mittelalterlichen Tradition, die Orientierung an der Allwissenheit Gottes, die als solche ja keinen zeitlichen Bedingungen unterliegen darf, von Bedeutung geworden. Aber auch die

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Existenz eines göttlichen Allwissens würde die Tatsache bestehen lassen, dass die Prognose für den an diesem Wissen nicht partizipierenden Menschen eine mit einem für die jeweilige Gegenwart unaufhebbaren Risiko behaftete Aussage bleibt. Nach der aristotelischen Lehre können Prognosen nicht wie andere Aussagen eindeutig wahr oder falsch sein, weil sie sich auf Ereignisse beziehen, von denen nicht nur im Hinblick auf unser Wissen, sondern auch der Sache nach nicht feststeht, ob sie eintreten werden oder nicht. Dazu gehören bei Aristoteles gewiss auch Ereignisse im Bereich der Natur, die durch menschliches Handeln nicht beeinflusst werden können. Kein Zweifel kann jedoch daran bestehen, dass das Interesse an der Theorie der Prognose vor allem durch die Existenz solcher Sachverhalte bestimmt ist, auf deren Eintreten oder Nichteintreten menschliches Handeln noch Einfluss nehmen kann. Nicht zufällig hat Aristoteles als Beispiel für ein künftiges Ereignis die morgige Seeschlacht gewählt. Im Bereich natürlicher Ereignisse mögen wir heute geneigt sein, wenn wir uns am Paradigma der klassischen Mechanik orientieren, die Unbestimmtheit des Wahrheitswertes einer prognostischen Aussage ganz auf das Konto unseres gegenwärtigen, begrenzten Informationsstandes zu buchen. Das Ereignis wäre dann an sich determiniert, die Prognose hätte einen eindeutigen Wahrheitswert, und das Eintreffen oder Nichteintreffen des prognostizierten Ereignisses würde die Prognose verifizieren oder falsifizieren. Mit diesem Modell lässt sich jedoch nicht arbeiten, wenn menschliches Handeln im Spiel ist. Menschliches Handeln geht notwendigerweise davon aus, dass die Zukunft nicht in allen Einzelheiten vorbestimmt ist, sondern dass es die Möglichkeit von Alternativentscheidungen gibt, durch die die Zukunft gestaltet wird. Selbst wenn eine auch noch so gut begründete Theorie dies als Illusion oder Selbsttäuschung entlarven sollte, bleibt gleichwohl die Tatsache bestehen, dass der Handelnde in seinem Selbstverständnis niemals auf die praktische Hypothese, dass Alternativentscheidungen möglich sind, verzichten kann, wenn er nicht auf die Möglichkeit des Handelns überhaupt verzichten will. Aber auch damit ist noch nicht ganz verständlich gemacht, warum sich echte Prognosen in ihrer Semantik von allen Aussagen, die in einer Wissenschaft vorkommen, grundlegend unterscheiden. Wir müssen dazu noch in Rechnung stellen, dass man der echten prognostischen Aussage, wie sie von Aristoteles analysiert wird, ihren prognostischen Charakter bereits an der Formulierung ansieht. Das ist bei den prognostischen Aussagen wie auch den prognostischen Argumenten, wie sie von der modernen Wissenschaftstheorie untersucht werden, nicht der Fall. Ob es sich bei einem Gebilde um eine Prognose handelt oder nicht, ergibt sich dort immer nur im Hinblick auf die pragmatischen Randbedingungen. Aristoteles untersucht die Aussage „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“. Der moderne Theoretiker

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würde dagegen gewiss der Aussage „Zu einem Zeitpunkt ti findet eine Seeschlacht statt“ den Vorzug geben. Hier hängt es in der Tat von pragmatischen Randbedingungen ab, ob eine solche Aussage prognostische Valenz hat oder nicht. Dem Wortlaut der Aussage sieht man es nicht an, ob der Zeitpunkt ti von der Gegenwart des Sprechers aus gesehen in der Zukunft liegt oder nicht. Die Aussage „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ ist aber bereits durch ihren Wortlaut als Prognose qualifiziert. Ein Rekurs auf pragmatische Randbedingungen ist hier nicht mehr erforderlich. Dieser Unterschied beruht auf der Tatsache, dass die echte Prognose, wie sie von Aristoteles analysiert wird, einen Zeitindikator, nämlich den Indikator „morgen“ anstatt einer objektiven Zeitkoordinate enthält. (Als Indikatoren bezeichnet man die Elemente eines Satzes, deren Sinn auf konkrete Umstände verweist, unter denen der Satz ausgesprochen wird: „hier“, „jetzt“, „heute“, „morgen“, „dieser“, „jener“, „ich“, „du“ sind derartige Indikatoren.) Die semantischen Probleme, die mit der echten Prognose verbunden sind, hängen mit diesem Indikator zusammen. Es ist kein Zufall, dass die Logiker oft bestrebt sind, Indikatoren enthaltende Aussagen aus dem Bereich der formalen Logik auszuklammern. Zu den elementaren Voraussetzungen, unter denen theoretische Wissenschaft erst möglich geworden ist, gehört es, dass Aussagen mit Indikatoren vermieden und durch Aussagen mit objektiven Koordinaten, beispielsweise Zeitkoordinaten ersetzt werden. Der Grund hierfür ist nicht schwer einzusehen: Jede theoretische Wissenschaft muss mit Aussagen arbeiten, die intersubjektiv und situationsunabhängig fungibel sind. Eben diese Bedingungen erfüllen Indikatoren enthaltende Aussagen jedoch nicht. Da schon ihr Sinn auf pragmatische Randbedingungen verweist, bleibt auch ihr Wahrheitswert von diesen Bedingungen abhängig. Er kann sich mit der Änderung dieser Bedingungen selbst ändern. Eine theoretische Wissenschaft bleibt jedoch auf Aussagen mit festem Wahrheitswert angewiesen. Sie geht davon aus, dass sich zwar unsere Meinung über diesen Wahrheitswert ändern kann, nicht aber dieser Wahrheitswert selbst. Erst nach Eliminierung der Indikatoren kann eine Aussage jenes zeitlose und ideale Gebilde meinen, für das sich der Name der Proposition eingebürgert hat. Bei der Analyse der echten Prognose, an der diese Eliminierung noch nicht vorgenommen worden ist, können sich daher spezifisch prognostische Probleme noch in Gestalt semantischer Probleme darstellen. Bei der echten, einen Zeitindikator enthaltenden prognostischen Aussage kann man nicht davon absehen, dass nicht nur ihr Gegenstand, sondern auch sie selbst ein zeitliches und reales Gebilde innerhalb der wirklichen Welt ist. Sie sagt nicht nur etwas über zeitliche Verhältnisse aus, sondern steht als reales Ereignis auch selbst in einem zeitlichen Zusammenhang. Die echte Prognose steht also noch nicht einmal der Idee nach außerhalb der

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Welt, im Blick auf die sie prognostiziert. Die Schwierigkeiten, die mit der Aufklärung ihrer Struktur verbunden sind, haben vor allem hier ihren Ursprung. Es sind Schwierigkeiten, die sich dadurch, dass man die Operation der Indikatoreneliminierung vornimmt, zwar verschieben, aber eben nicht endgültig auflösen lassen. Vortrag, gehalten auf dem XVI. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte („Prognose und Wissenschaft“), Hannover 4.–6. Mai 1978; zuerst veröffentlicht in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2, 1979, S. 25–33.

Literatur Aristoteles: Categoriae et Liber de Interpretatione. Ed. Lorenzo Minio-Paluello. Oxford 1949. Aristoteles: Categories and De Interpretatione. Translated with notes by John L. Ackrill. Oxford 1963. Léon Baudry: La querelle des futurs contingents (Louvain 1465–1475). Textes inédits (= Études de philosophie médiévale 38). Paris 1950. Vincenza Celluprica: Il capitolo 9 del De interpretatione di Aristotele. Rassegna di studi: 1930–1973. Bologna 1977. Dorothea Frede: Aristoteles und die „Seeschlacht“. Das Problem der Contingentia Futura in De Interpretatione 9 (= Hypomnemata 27). Göttingen 1970. Nelson Goodman: Fact, Fiction and Forecast. 2New York 1965. Hans Lenk: Erklärung, Prognose, Planung. Skizzen zu Brennpunktproblemen der Wissenschaftstheorie. Freiburg 1972. Karl R.: Popper: The Poverty of Historicism. 2London 1960 (deutsch: Das Elend des Historizismus. Tübingen 1965). Nicholas Rescher / A lasdair Urquhart (Hg.): Temporal Logic (= Library of exact philosophy). Wien 1971. Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie. Bd. 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Berlin 1969 (Kap. II: Erklärung, Voraussage, Retrodiktion und andere Formen der wissenschaftlichen Systematisierung, S. 153–207). Wolfgang Wieland: Zeitliche Kausalstrukturen in der aristotelischen Logik, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 54, 1972, S. 229–237 [= oben S. 258 ff.].

Poiesis. Das aristotelische Konzept einer Philosophie des Herstellens

1. Aristoteles als Entdecker der Möglichkeit empirischer Wissenschaft Fragt man nach der Gegenwartsbedeutung der Philosophie des Aristoteles, so nimmt man eine Position ein, von der aus man sich mit der Geschichte der Philosophie nicht nur aus antiquarischem Interesse befasst, sondern den Blick zugleich auch auf die Gegenstände richtet, die von ihren klassischen Autoren behandelt worden sind. In diesem Fall ist man bereit, nicht nur über sie, sondern auch von ihnen zu lernen, weil man erwartet, bei ihnen nicht lediglich Meinungen, sondern gültige Einsichten und Entdeckungen vorzufinden, die man auch im Blick auf ihre Gegenwartsbedeutung am besten dann würdigen kann, wenn man sie an ihrer Quelle studiert. Gewiss sieht man niemals voraus, wann sich solche Erwartungen erfüllen, auch dann nicht, wenn es Aristoteles ist, mit dem man sich unter solchen Auspizien beschäftigt. Auch wenn manche Ergebnisse seines Denkens in der Gegenwart immer noch präsent sind, wenngleich oft nur untergründig, so darf man auf der anderen Seite die Kritik nicht ausblenden, die im Verlauf der Geschichte an seinen Lehren geübt worden ist. So ist es beispielsweise längst zu einem Gemeinplatz geworden, dass die Begründer der neuzeitlichen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert ebenso wie ihre Vorläufer drei Jahrhunderte zuvor mit einer von Aristoteles begründeten Tradition gebrochen haben. Jedenfalls könnte man manche Beispiele von aristo­ telischen Lehren anführen, die heute – mit welchem Recht auch immer – von vielen als obsolet angesehen werden. Dazu gehört die teleologische Deutung des Naturgeschehens ebenso wie die These von der Unmöglichkeit eines leeren Raumes; die Annahme der Kreisbewegung als der voll­ kommensten kosmischen Bewegung ebenso wie eine Dynamik, die jedem der vier Elemente – Feuer, Luft, Wasser und Erde – einen natürlichen Ort zuweist, den es wieder zu erreichen sucht, wenn es von ihm entfernt worden ist; dazu gehört auch die Deutung des Gehirns als eines Organs, das dazu bestimmt ist, die vom Herzen ausgehende Wärme abzukühlen. Vor allem aber gehört dazu das Projekt einer als Fundamentalphilosophie verstan­ denen Metaphysik, die der moderne Mensch, der aufgeklärt zu sein glaubt,

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für längst „überwunden“ hält, sowie eine politische Theorie, von der die Sklaverei als eine von der Natur gegebene und gerechtfertigte Institution eingestuft wird. Fragt man hingegen danach, was zum bleibenden Ertrag der aristote­ lischen Philosophie zu rechnen ist, ist man gut beraten, wenn man den Blick nicht nur auf einzelne, inhaltlich bestimmte Lehrmeinungen und Thesen richtet. Ungleich bedeutsamer für ihre Wirkungsgeschichte ist es, dass Aristoteles zumindest der Idee nach auch heute noch überall präsent ist, wo empirische Wissenschaft betrieben wird. Die Möglichkeit einer methodisch fundierten empirischen Wissenschaft ist seine Entdeckung – wohlgemerkt die Möglichkeit empirischer Wissenschaft, nicht von Wissenschaft überhaupt. Will man die Tragweite dieser Innovation richtig einschätzen, muss man zugleich den platonischen Hintergrund der aristotelischen Philosophie in Rechnung stellen. Platon hatte in der Mathematik eine nichtempirische Wissenschaft schon vorgefunden. Sie wurde ihm zum Vorbild und zugleich zur Propädeutik für alles eigentliche, im strengen Sinn verstandene Wissen insofern, als sie ihre geglückten Resultate streng begründen und gegenüber jedem Einwurf und jedem Zweifel erfolgreich verteidigen kann, auch wenn sie ihre Gegenstände nicht in der sinnenfälligen Welt, sondern in einer idealen Sphäre findet. Wissenschaft im strengen Sinn und Empirie bleiben hier hinsichtlich ihrer Gegenstandsbereiche und Methoden ebenso wie in Bezug auf den jeweils erreichbaren Grad der Gewissheit voneinander geschieden. Wenn aber Wissenschaft und Erfahrung als einander ausschließende Größen angesehen werden, muss das Konzept einer Erfahrungswissenschaft als in sich widersprüchlich erscheinen, weil es, wie es scheint, Unvereinbares zu vermengen sucht. So wird bei Platon der Bereich der Erfahrung zu einer Domäne nicht des Wissens, sondern der bloßen Meinung. Die Leistung des Aristoteles, das Reich der Erfahrung und ihrer Inhalte dem methodischen Zugriff einer Wissenschaft erschlossen zu haben, lässt sich nur vor diesem Hintergrund angemessen würdigen. Zwar räumt auch er der Mathematik in seinem Wissenskosmos einen gesicherten Platz ein, anders als Platon gesteht er ihr jedoch keine exemplarischen Funktionen zu. Er nimmt sie nicht in Anspruch, wo er darum bemüht ist, den Inhalten der Erfahrung einen wissenschaftsfähigen Status zu verleihen. Sein Weg führt nicht über die Formen und die Figuren der Mathematik, sondern über die gezielte Bildung und den Gebrauch von Begriffen, die für die Analyse des jeweiligen Erfahrungsinhalts geeignet sind. Es sind nicht bildliche, metaphorisch verwendete, sondern begrifflich fundierte sprachliche Ausdrücke, mit deren Hilfe er die Welt der Erfahrung in eine Ordnung fügt, die es ihm erlaubt, Erfahrungsinhalte zu erforschen und auf der Grundlage gezielter Fragestellungen zu erklären sowie einschlägige Behauptungen zu begründen oder mit Gründen zu verwerfen.

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Will man sich klar darüber werden, wie Aristoteles auf der Ebene des Begriffs operiert, muss man den Blick zwar auch auf inhaltlich bestimmte sprachliche Ausdrücke, vor allem aber auf jene unscheinbaren Mittel richten, die von der Sprache in Gestalt von Funktionalausdrücken, beispielsweise mit der Partikel „insofern“1 angeboten werden. Dieser Ausdruck markiert geradezu einen Knotenpunkt in seinem Denken, da er es ermöglicht, ein und denselben Gegenstand gleichzeitig unter verschiedenen Aspekten zu betrachten und damit zugleich unter verschiedene Begriffe zu subsumieren. Dieses „insofern“ ist daher ein Indikator, der anzeigt, dass nicht gegenständliche oder bildliche, sondern begrifflich vermittelte Strukturen intendiert werden. Deswegen werden die mit seiner Hilfe ausgeblendeten Momente einer Sache keineswegs verdinglicht. So braucht Aristoteles keine Kritik von der Art zu fürchten, wie er sie an Platon und seiner Ideenannahme geübt hatte. Platon selbst wusste freilich, dass man den Sinn einer bildlichen, nur ihrer Oberflächenstruktur wegen dinglich anmutenden Aussage verfehlt, wenn man sie naiv beim Wort nimmt und damit ihren bildlichen Charakter verfehlt. Er fand einen Ausweg in der mit gezielten Fragen und indirekten Mitteilungen arbeitenden, auch literarische Kunstmittel einsetzenden Gestaltung des philosophischen Gedankens, aber gerade nicht, wie nach ihm Aristoteles, in den Techniken der Präparation begrifflich vermittelter Strukturen. Wenn man sich auch heute noch auf einem aristotelischen Fundament bewegt, wenn man Erfahrungswissenschaft treibt, dann deswegen, weil jede derartige Disziplin ihre Inhalte nicht schlechthin, sondern stets unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich in jedem einzelnen Fall unter einem bestimmten „insofern“ ins Auge fasst und gleichsam vorpräpariert, über das der Forscher Herr ist, wenn er mit seiner Hilfe die Dinge, die er betrachten will, seinem begrifflichen Instrumentarium unterwirft. Die hinter dem „insofern“ stehende Einstellung lässt sich bei Aristoteles, dem Entdecker des Begriffs, freilich oft auch dort ausmachen, wo er dieses Wort selbst gar nicht ausdrücklich verwendet, wohl aber mit anderen Wörtern wie mit Begriffen umgeht. Diese Einstellung prägt das aristotelische Philosophieren in allen seinen Zweigen, nicht zuletzt auch dort, wo es die Poiesis, die herstellende Tätigkeit und die mit ihr verknüpfte Erfahrung zum Thema macht2.

1 „ᾗ“. 2

Eine aspektorientierte Deutung der Poiesis im Verhältnis zur Praxis findet sich bei Theodor Ebert, Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30, 1976, S. 12–30.

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2. Theoretische, praktische und poietische Wissenschaften Will man den Sinn des aristotelischen Konzepts einer Wissenschaft von der Poiesis erfassen, muss man beachten, dass Aristoteles die Gesamtheit aller Wissensgebiete in die theoretischen, die praktischen und die poietischen, herstellenden Disziplinen einteilt3. Diese dreigliedrige Unterscheidung gilt nicht nur für die Disziplinen selbst, sondern entsprechend auch für die hinter ihnen stehenden und sie ermöglichenden Einstellungen und Dispositionen sowie für die ihnen zugeordneten Gegenstandsbereiche. Sie wird dort, wo sie von Aristoteles erwähnt wird, nicht weiter begründet. Er spricht von ihr als von etwas Allbekanntem, Selbstverständlichem, als würde er voraussetzen, dass der Leser mit ihr bereits vertraut ist4. Den heutigen Leser mag diese Trichotomie zunächst irritieren. Er ist gewohnt, sich an einer Zweiteilung, nämlich an der Unterscheidung von Theorie und Praxis als der maßgeblichen Fundamentaldifferenz zu orientieren. Unter dieser Voraussetzung scheint die Poiesis, das Herstellen von Dingen, sofern man sie in ihrer Eigenart überhaupt wahrnimmt, nur noch eine spezielle Unterart des praktischen Verhaltens, also des Handelns zu sein. Heutzutage würde gewiss manch einer, nach Beispielen für Praxis und praktisches Verhalten gefragt, das artifizielle Herstellen vermutlich sogar an erster Stelle nennen und es seiner Erfahrungsnähe wegen vielleicht sogar zum Leitparadigma für das Handeln überhaupt wählen. Unter einem Praktiker pflegt man sich jemanden vorzustellen, der kompetent ist, das Entstehen von bestimmten Zuständen zu bewirken oder bestimmte Dinge sachgerecht herzustellen; dadurch unterscheidet er sich vom „unpraktischen“ Theoretiker, dem man nachsagt, dass er nichts Handfestes zustande zu bringen fähig ist. Umso dringlicher wird vor diesem Hintergrund die Frage, warum sich Aristoteles an einer Dreiteilung orientiert, bei der er dem Herstellen, der Poiesis, eine im Verhältnis zum Handeln, zur Praxis, ebenso wie im Verhältnis zur Theorie unabhängige und gleichrangige Stellung zugesteht. Die mit dem Anspruch auf Vollständigkeit auftretende Trichotomie von theoretischen, praktischen sowie poietischen Fächern und Einstellungen ist als solche, was ihre Gleichrangigkeit anbetrifft, in der Folgezeit, ja schon in der Schule des Aristoteles selbst vernachlässigt worden und wurde kaum weiter tradiert. Auch wo sie von der heutigen Forschung zur Kenntnis genommen wird, lässt man ihre systematischen Implikationen zumeist auf 3

Vgl. Met. VI 1, 1025b22 ff.; IX 2, 1046b3; XI 7, 1063b36 ff.; Top. VI 6, 145a16 ff. Diogenes Laertius führt diese Trichotomie auf Platon zurück (III 83); vgl. aber auch den EN VI 4, 1140a3 gegebenen Hinweis auf die Behandlung des Unterschieds von Poiesis und Praxis schon in den exoterischen, vermutlich auch Dihairesenkataloge enthaltenden Schriften. 4

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sich beruhen. Zu nahe scheint für den modernen Betrachter das Herstellen dem Handeln benachbart zu sein, als dass er ernst damit machen würde, es von ihm mit der gleichen Eindeutigkeit wie von der Einstellung des Theoretikers abzugrenzen. So ist die Differenz des Handelns und des Herstellens zu einem Thema geworden, das heute nur innerhalb der mit den menschlichen Tätigkeiten überhaupt und mit ihrer Normierung befassten praktischen Philosophie abgehandelt wird5. Bei Aristoteles selbst tun auch die überlieferten Schriften des Corpus Aristotelicum ein übriges, um die Frage nach der Natur ebenso wie nach der Eigenständigkeit der Poiesis hintanzustellen. Zwar finden sich bei ihm, über manche Schriften verstreut, in nicht geringer Anzahl Stellen, an denen Beispiele für herstellendes Verhalten und für seine Resultate angeführt und erörtert werden. Doch im Gegensatz zu den Verhältnissen im Bereich der theoretischen wie auch der praktischen Philosophie gibt es keine Schriftengruppe, die sich als solche dem Problemkreis der Poiesis zuordnen ließe. Auch wer die mit der Theorie der Dichtung befasste „Poetik“ noch so hoch einschätzt, wird schwerlich bereit sein, gerade diesem Werk die Aufgabe zu unterstellen, als Platzhalter für eine ganze Gruppe von Fächern zu dienen, die weder als theoretische noch als praktische Disziplinen einzustufen sind. Immerhin markiert die „Poetik“ in Bezug auf ihre systematische Verortung eine Verlegenheit, da sie in der Dichotomie des Theoretischen und Praktischen in der Tat keine eindeutig bestimmbare Stelle findet. So konnte es dazu kommen, dass sie in der Ordnung der Werke des Aristoteles als eine sich mit Kunstwerken bestimmter Art beschäftigende, – modern ausgedrückt – „ästhetische“ Disziplin eher wie ein Anhang erscheint. Wo man aber die Gegenstände poietischer Disziplinen nur noch in der Welt des Ästhetischen, also des Schönen und des Geschmacks sucht, wird man nicht mehr dem Anspruch gerecht, dass diese Fächer in ihrem ursprünglichen, aristotelischen Sinn ihren Gegenstand im Herstellen und Bewirken überhaupt finden, um welche Gegenstände und Inhalte es sich im einzelnen dabei auch immer handeln mag. Dann aber scheint das Konzept einer allgemeinen, nicht mit konkreten Herstellungsakten, sondern mit den entsprechenden Prinzipienfragen befassten poietischen Philosophie eine einstweilen noch kaum besetzte Leerstelle zu markieren. Doch wer sich um die Kunst des sorgfältigen Lesens der klassischen Texte bemüht, darf nicht darauf verzichten, sich auch den – echten oder scheinbaren – Leerstellen gerade deswegen zuzuwenden, weil sie sich der Aufmerksamkeit des Lesers in der Regel zunächst entziehen. Die folgenden Ausführungen machen also gerade nicht die aristotelische Literaturtheorie zu ihrem Thema. Stattdessen gehen sie Spuren nach, die 5

Vgl. Ernst Vollrath, Überlegungen zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Praxis und Poiesis, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 14, 1989, S. 1–26.

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sich bei Aristoteles außerhalb der „Poetik“ von jenem Konzept poietischer Wissenschaften finden. Freilich bietet dabei auch die indirekte Überlieferung nur wenig Hilfe. Die überlieferten antiken Schriftenkataloge geben keinen Anlass zu der Annahme, Aristoteles hätte die poietischen Disziplinen und ihre Thematik in nennenswertem Umfang in eigenen, selbständigen Schriften behandelt. Damit stellt sich das Problem, aus welchen Gründen er, freiwillig oder unfreiwillig, nur zwei der drei von ihm unterschiedenen Zweige des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens mit eigenen Lehrschriften prinzipientheoretischer Natur bedacht hat. Zugleich ergibt sich die Frage, ob sich vielleicht diese Leerstelle, wenn überhaupt, mit aristotelischen Materialien oder mit Materialien anderer Herkunft ausfüllen lässt.

3. Praxis und Poiesis, Handeln und Herstellen Kann man sich schon nicht auf einen aristotelischen Text stützen, der das Konzept einer poietischen Prinzipienwissenschaft in extenso expliziert, so ist es zweckmäßig, zuerst die Abgrenzungen und Kriterien zu betrachten, mit denen Aristoteles Herstellen und Handeln, aber auch Hergestelltes und von Natur aus Existierendes unterscheidet. So gehört es zu den Kennzeichen des Herstellens, der Poiesis, dass die planende Aktivität eines Menschen ein Resultat zeitigt, das auch dann noch selbständig existieren kann, wenn die Tätigkeit, durch die es hervorgebracht worden ist, bereits an ihr Ende gekommen ist. Dieses Resultat kann ein handfestes, gegenständliches Ding von der Art eines Hauses, eines Bildwerks oder eines Gebrauchsgegenstandes, aber auch, wie bei der Tätigkeit des Arztes, ein Zustand wie die Gesundheit sein. Ein gegenständliches Artefakt würde zwar ohne eine entsprechende Tätigkeit einer herstellenden Instanz gar nicht existieren. Hat aber diese Tätigkeit ihr Ziel erreicht, wird das fertige Produkt aus ihr entlassen und gleichsam in Freiheit gesetzt. So kennzeichnet es den Prozess des Herstellens, dass sein Zweck nicht in ihm selbst, sondern stets außerhalb seiner liegt6. Da er nur im Blick auf dieses Ergebnis beurteilt wird, sind alle Bestimmungen ohne Belang, die in der Person des Herstellenden liegen7. Der Herstellende tritt hinter sein Produkt zurück, im Gegensatz zum Handelnden, der sich mit seinen Handlungen stets identifiziert.

6

Vgl. EN VI 2, 1139b1 f.; VI 4, 1140a1–23; Met. II 1, 981b26; Cael. III 7, 306a16; Met. IX 8, 1050a23 ff.; ferner Met. IX 6, 1048b18–34 mit der Unterscheidung der in sich vollendeten und der vollendeten Prozesse sowie MM I 34, 1197a3 ff. 7 Vgl. EN II 3, 1105a 26 ff.

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Die Praxis, also das – nicht herstellende – Handeln im engeren Sinn ist nicht auf ein Resultat ausgerichtet, für dessen Erreichen es selbst nur ein Mittel oder eine Voraussetzung wäre. So findet gemäß einem aristotelischen Beispiel im Gegensatz zum Bau, zum Herstellen eines Hauses das Kitharaspiel sein Ziel und seinen Zweck nur in sich selbst8. Das markiert keineswegs ein Defizit. Dass im Gegensatz zur Poiesis die Praxis ihren Zweck schon in sich selbst findet, bedeutet für sie umgekehrt sogar eine Auszeichnung. Den Herstellenden binden die Produkte seiner Tätigkeit in ein Netzwerk von Zweckrelationen ein, im Blick auf die das Gelingen oder Misslingen seines Tuns beurteilt werden muss. Natürlich findet sich auch der Handelnde in mancherlei Bindungen vor, zu denen auch Relationen teleonomer Natur gehören. Er ist jedoch gleichsam durch einen höheren Freiheitsgrad ausgezeichnet, weil über das Gelingen seines Tuns nur unmittelbar auf Grund seines Vollzugs, nicht aber außerdem noch in Bezug auf ein davon noch zu unterscheidendes Resultat zu befinden ist9. Es ist gerade diese Unabhängigkeit, nicht von äußeren Determinationsfaktoren, sondern von vorgegebenen, der Person des Handelnden äußerlichen Zwecken, was die spezifische Freiheit des Handelns ausmacht. Die Unterscheidung von Handeln und Herstellen wird vor allem für die Charakterisierung der sozialen und der politischen Existenz des Menschen bedeutsam. Zu den zentralen Thesen der Ethik wie auch der politischen Wissenschaft des Aristoteles gehört der Satz, gemäß dem das menschliche Leben in seiner Ganzheit als Handeln, als eine Praxis und damit gerade nicht als eine Poiesis, als ein Herstellen oder Bewirken von etwas verstanden werden muss10. Das Leben eines freien, zugleich aber in seinem Gemeinwesen verorteten Bürgers im ganzen findet seinen Sinn letztlich immer nur in sich selbst, auch dann, wenn es Phasen herstellenden Verhaltens enthält. Deswegen lässt sich die aristotelische Ethik als eine Lehre vom guten und richtigen Leben deuten, das nur dann gelingt, wenn es als ganzes nicht im Dienst von Zielen steht, die außerhalb seiner selbst liegen. Diese Ethik hat die Bedingungen zu ermitteln und auf den Begriff zu bringen, die es dem Menschen allererst ermöglichen, ein gelingendes Leben zu führen. Als eine praktische Wissenschaft ist sie nicht auf unmittelbare Weise damit befasst, auch herstellende Aktivitäten zu analysieren oder zu regulieren. Sie beschäftigt sich höchstens mit der Art, in der die herstellenden – nach griechischem Verständnis zum Teil als banausisch angesehenen – Aktivitäten und ihre Resultate in das menschliche Leben einbauen lassen, ferner 8

Vgl. MM I 34, 1197a4 ff. Vgl. EN VI 2, 1139b2 ff. 10 Vgl. Pol. I 4, 1254a4 ff. Dem entspricht, dass auch die Eudaimonie als das Ziel alles menschlichen Strebens und Tätigseins ihrem Status nach eine ihren Zweck in sich selbst findende Praxis ist; vgl. Phys. II 6, 197 b5; EN I 2, 1095a14 ff. I 11, 1100a13; X 6, 1176b1 ff. 9

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mit dem Gebrauch, den der Mensch in seinem Leben von diesen Resultaten sinnvollerweise machen kann11. Innerhalb des Lebens steht alles Her­ gestellte mitsamt den meisten Tätigkeiten, die seiner Verfertigung dienen, in einem finalen Verbund. Alle seine Elemente greifen ineinander, weil das Produkt der einen Tätigkeit in der Regel von einer anderen Aktivität wiederum als Mittel in Gebrauch genommen wird. Diese in jedes geordnete Gemeinwesen eingebaute Hierarchie der Zwecke findet ihre Spitze in jener guten und richtigen, ihr Ziel in sich selbst findenden Lebenspraxis aller, der auch das Handeln des guten Staatsmannes verpflichtet ist12. Wenn das menschliche Leben im ganzen als eine Praxis zu verstehen ist, dann darf diese den Vorrang gegenüber allem partikulären Herstellen auch dann noch behaupten, wenn bei einem Menschen die in seine Lebenspraxis eingelassenen herstellenden Tätigkeiten dominieren, und resultatlose, ihren Zweck nur in sich selbst findenden Einzelhandlungen eher die Ausnahme sind. Dieses Vorrangs der Praxis vor der Poiesis wegen kann sich Aristoteles in seinen Texten zur praktischen Philosophie damit begnügen, über das Herstellen in einer eher beiläufigen Weise zu sprechen. Von dem im Sinne einer Praxis verstandenen Ganzen des Lebens aus betrachtet ist unter den Bedingungen der aristotelischen Lebenswelt der von der Poiesis ausgehende Problemdruck jedenfalls nicht so groß, dass die Ethik oder die politische Theorie die Beschäftigung mit ihr zu einem der Schwerpunkte ihrer Bemühungen machen müsste. Wo dagegen nicht die Lebenspraxis im ganzen das Thema abgibt, sondern einzelne herstellende Aktivitäten innerhalb des Lebens, kann man für jeden Zweig des herstellenden Tätigseins bereits auf Sachwalter zurückgreifen, angefangen vom Handwerker über den Arzt und den Strategen bis hin zum Gesetzgeber, von denen man Antworten auf einschlägige Fragen bekommen kann, ohne dass man dazu in jedem Fall die Hilfe einer Prinzipienwissenschaft in Anspruch nehmen müsste. Schon der von Platon dargestellte und gestaltete Sokrates hatte unter den von ihm befragten Gesprächspartnern gerade den Handwerkern – und eigentlich nur ihnen – zugestanden, über wirkliches, einer Prüfung standhaltendes Fachwissen zu verfügen, ein Wissen freilich, das sich ausschließlich auf die Gegenstände ihres Tätigkeitsbereichs bezieht und auf sie eingeschränkt bleibt. Denn auch die Handwerker zeigten sich, gleich allen seinen anderen Gesprächspartnern, Sokrates gegenüber als Unwissende, wenn es darum ging, die fundamentalen Fragen nach dem richtigen Leben und nach den Normen des Handelns sachgerecht zu erörtern und zu beantworten13.

11

Vgl. Pol. I 5, 1277 b34 ff. Vgl. EN I 1, 1094a6 ff.; Pol. I 4. 13 Vgl. Plat. Apol. 22c f. 12

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Unter diesen Umständen lässt sich verstehen, dass Aristoteles den herstel­ lenden Tätigkeiten und den mit ihnen verbundenen Problemen nicht das gleiche Maß an Zuwendung widmet wie den mit den Grundlagen des theoretischen Erkennens und den mit der Lebenspraxis im ganzen verbundenen Problemen. Die natürliche, vorreflexive Weltorientierung des Menschen lässt sich durch die theoretische, sein Handeln durch die praktische Wissenschaft perfektionieren. Das handwerkliche Herstellen von Artefakten kann sich dagegen, zumindest unter den Bedingungen der aristotelischen Welt, für seine Zielsetzungen in vielen Fällen selbst genug sein, freilich nur insofern, als die Kompetenz des Handwerkers einer Vervollkommnung durch eine auf der Ebene des Begriffs mit Prinzipien operierende poietische Wissenschaft in den meisten Fällen gar nicht bedarf. Umso merkwürdiger ist es, dass für Aristoteles das Herstellen und damit die handwerklichen Künste dennoch so bedeutsam sind, dass er die Disziplinen, die dazu bestimmt sind, sie zu ihrem Gegenstand machen, gleichrangig neben die theoretischen und die praktischen Disziplinen stellt14. Man sollte sich nicht dadurch beirren lassen, dass die Rede von einer poietischen Wissenschaft auch zu Missverständnissen führen kann. Leicht entstehen sie, wenn man die Kunstfertigkeit (technê) im Sinne des Inbegriffs alles kompetenten, handwerksmäßigen Herstellens nicht hinreichend präzise von der Prinzipienwissenschaft unterscheidet, die sich dieses Herstellen mitsamt den hergestellten Dingen zum Gegenstand ihrer begrifflichen Analysen macht. Wenn Aristoteles gleichwohl beides mit dem Namen des Wissens (epistêmê) bezeichnet, hält er sich nur an einen dem Griechischen eigenen allgemeinen Sprachgebrauch, dessen sich schon Platon bedient, wenn er mit diesem Ausdruck nicht nur das theoretische Wissen, sondern auch die Fertigkeit des Handwerkers bezeichnet, der sich auf seine Sache deswegen versteht, weil ihm ein Gebrauchswissen nichtpropositionaler Natur zu Gebote steht. So ist es kein Zufall, dass sich auch bei Aristoteles die Bedeutungsfelder von Kunstfertigkeit (technê) und Wissen (epistêmê)

14

Es mag zunächst Verwunderung erregen, dass Aristoteles einer ausdrücklichen Feststellung für wert hält, dass die Physik weder zu den praktischen noch zu den poietischen Wissenschaften gehört; vgl. Met. VI 1, 1025b18 ff. Eine solche Feststellung ist an dieser Stelle aber gerade deswegen sinnvoll, weil sie in einem Zusammenhang getroffen wird, in dem auch in genereller Weise von Prinzipienwissenschaften die Rede ist. Die Physik richtet sich auf die in Bewegung befindliche, natürliche Welt und befragt sie auf ihre Prinzipien hin. Deshalb muss sie gegenüber den Wissenschaften abgegrenzt werden, die sich, wie die Mathematik und die hier auch in Gestalt der Theologie auftretende Erste Philosophie mit Unbewegtem als ihrem Gegenstand befassen. Die praktischen und poietischen Wissenschaften sind beide mit Tätigkeiten, also ebenfalls mit bestimmten Bewegungen und mit ihren Prinzipien befasst. Von ihnen unterscheidet sich die Physik auf Grund ihres Charakters als einer theoretischen Disziplin.

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überschneiden15. Der Begriff des Wissens umfasst jedenfalls auch seine nichtpropositionalen Gestalten. Daher ist es Aristoteles möglich, auch in der Kompetenz des Handwerkers eine Gestalt des Wissens zu sehen. Wenn im Zusammenhang der gegenwärtigen Arbeit von der poietischen Wissenschaft die Rede ist, so ist damit jedoch allein jene von Aristoteles nicht ausgeführte Disziplin gemeint, die nicht selbst herstellt, sondern die sich das Herstellen und das Hergestellte zu ihrem Gegenstand macht und es auf die Prinzipien hin untersucht, die ihm zugrunde liegen. Ihrer Methode nach ist sie eine theoretische Disziplin, die sich aber, ähnlich wie die praktische Philosophie, dadurch von den „eigentlichen“ theoretischen Wissenschaften unterscheidet, dass sie zugleich ihrem Gegenstandsbereich von Nutzen sein will16. Die Poiesis und die Wissenschaft von der Poiesis müssen gerade deswegen stets sorgfältig auseinandergehalten werden, weil es sich bei beiden um Formen des Wissens, wenn auch von unterschiedlichem Typus handelt. Jedenfalls charakterisiert es die Poiesis, dass sie und allein sie, nicht aber die sie untersuchende Wissenschaft das für sie spezifische Werk hervorbringt.

4. Der Vorrang der natürlichen Dinge vor den Artefakten in der aristotelischen Welt Bei dieser Sachlage ist es ratsam, noch einen anderen Weg zu erproben, wenn man die besondere Bewandtnis entdecken will, die es mit dem Herstellen hat. In der Tat werden die Aufgaben einer Wissenschaft von der Poiesis deutlicher, wenn man mit seinen Überlegungen zunächst nicht bei den herstellenden Tätigkeiten und ihren Verflechtungen ansetzt, sondern bei den Artefakten als ihren Ergebnissen. Die lehrreichsten Stellen, an denen Aristoteles von künstlich hergestellten Dingen handelt, finden sich nun aber merkwürdigerweise in der „Physik“, also in seinen Vorlesungen über die Natur im ganzen sowie über die von Natur aus existierenden Dinge und ihre Bewegungen. Hier wird die Poiesis in der Weise zum Element eines Gegensatzpaares, dass nicht das Herstellen dem Handeln, sondern das von Menschenhand Hergestellte dem von Natur aus Existierenden gegenübergestellt wird17. Die Produkte des Herstellens werden hier allerdings nicht um ihrer selbst willen betrachtet. Ihre Behandlung dient vielmehr nur dazu, 15 Vgl.

dazu die zahlreichen in Bonitz’ Index Aristotelicus nachgewiesenen Belege (759a21–39; 279b57–280a4). 16 Vgl. die unten in Anm. 31 und 32 nachgewiesenen Stellen. 17 Lehrreiche, hier jedoch nicht zu erörternde Beispiele für eine vergleichbare Entgegensetzung aus dem Bereich der praktischen Philosophie liefern die seit der Zeit der Sophistik geführten Auseinandersetzungen zum Thema des Naturrechts und seines Verhältnisses zum positiven Recht; bei Aristoteles vgl. EN V 10, 1134b18 ff.

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den von Natur aus bestehenden Dingen durch ein Gegenbild schärfere Konturen zu verleihen, um so zugleich den Vorrang rechtfertigen zu können, den sie im Verhältnis zu den von Menschen hergestellten Artefakten in Anspruch nehmen. Dies ist nur möglich, weil natürliche Dinge und Artefakte manche Gemeinsamkeiten aufweisen, die es erlauben, beide wenigstens ein Stück weit parallel zu behandeln18. Von Natur aus bestehenden Wesen wie den Tieren, den Pflanzen, aber auch den Elementen sind jeweils spezifische Bewegungsarten zugeordnet. Aristotelisch gesprochen enthalten diese Wesen in sich selbst ein Prinzip der ihnen eigenen Bewegung und Ruhe19. Aber auch sie können zu gewaltsamen Bewegungen gezwungen werden, die immer nur von außen ins Werk gesetzt werden und ihrer Natur daher fremd bleiben. Dies zeigt sich auch daran, dass auf längere Sicht stets ihre natürliche Bewegungsweise die Oberhand gewinnt. Der nach oben geworfene Stein kehrt bald seine Richtung um und fällt abwärts. Dann bewegt er sich wieder so, wie es jedem Ding zukommt, das seiner Natur nach dem Element der Erde zugeordnet ist. Bei den Lebewesen gehört auch der Generationsprozess zu den spezifischen Bewegungen, die ihnen von der Natur vorgezeichnet sind. „Ein Mensch zeugt einen Menschen“ lautet ein von Aristoteles häufig angeführter Leitsatz, der auch ausdrückt, dass ein Mensch kein anderes Wesen als einen Menschen zeugen kann und dass er auch niemals von einem anderen Wesen gezeugt wird20. Von anderer Art sind die Bewegungen der Artefakte. Sie haben ihren Ursprung niemals in sich, sondern im Tun derer, die mit ihnen umgehen und von denen sie hervorgebracht werden21. Sie dauern nur solange an, als diese Instanzen präsent sind. Nur das stoffliche Material, aus dem sie hergestellt sind, besteht von Natur aus. Deshalb kann sich ein Artefakt in Bezug auf sein Material auch auf natürliche Weise bewegen. Es gibt keine Dinge, die unter sämtlichen Aspekten, unter denen man sie betrachten kann, nichts als Artefakte wären, wohl aber Dinge, die sowohl nach ihrer Form als auch nach ihrem Stoff von Natur aus existieren. In keinem Fall können dagegen Artefakte ihresgleichen oder gar etwas gänzlich Neues hervorbringen. Aristoteles unterstreicht dies mit einer Anspielung auf ein scherzhaftes Beispiel des Sophisten Antiphon: Wer ein Bett in der Hoffnung einpflanzt, eines Tages junge Betten ernten zu können, wird enttäuscht werden; allenfalls kann er mit dem Aussprossen von jungen Trieben rechnen, 18

Hierfür bieten vor allem die Bücher Phys. I und II manche Beispiele. Vgl. dazu auch die Kapitelfolge Met. VII 7–9 mit ihrer differenzierenden Klassifizierung der unterschiedlichen Arten von Hervorgebrachtem. 19 Vgl. Phys. II 1, 192b13 f.; Met. V 1, 1025b19 ff. 20 Vgl. in der Phys. II 7, 198a 26 f.; II 1, 193b8 ff. 21 Vgl. EN VI 4, 1140 a13 f.; Met. V 1, 1025b21 ff.

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solange das Holz, aus dem das Bett als aus seinem natürlichen Material gefertigt wurde, noch nicht ganz abgestorben ist22. Auch darin zeigt sich wiederum der Vorrang des von Natur aus Bestehenden vor allem künstlich Hergestellten. So können auch nur natürliche Wesen geboren werden, da der Generationsprozess vom herstellenden Verfertigen verschieden ist und von ihm nicht nachgebildet werden kann23. Von dieser Auszeichnung des Generationsprozesses gegenüber allem Herstellen macht im übrigen noch das christliche Credo Gebrauch, wenn es die Schöpfung als ein von Gott Hervorgebrachtes versteht, den Gottessohn aber mit der Formel „genitum, non factum“ allem Geschaffenen enthebt. Aristoteles kann zwischen Natürlichem und Artifiziellem andererseits aber auch Entsprechungen entdecken. Im Sinne des Vierursachenschemas24 sind es dieselben Prinzipien, aus denen das eine wie das andere, wenngleich auf unterschiedliche Weise, in Bezug auf seine Entstehung und seine Struktur erklärt und auf den Begriff gebracht wird. Dies bezeugen Sentenzen wie die, dass die Kunstfertigkeit die Natur nachahmt, oder dass sie zu Ende bringt, was die Natur nicht vollendet hat25. Der Vorrang der Natur gründet hier darin, dass sie dem Herstellenden als Vorbild dient, wenn er sich bei seiner Planung vorstellt, wie der Gegenstand, den er herstellen will, von der Natur gestaltet würde. Auch noch in einer anderen Hinsicht zeigt die Natur ihre Dominanz: Es sind letztlich stets naturgegebene Bedürfnisse, die mit Hilfe von hergestellten Artefakten befriedigt werden. So werden auch auf diese Weise die hergestellten Dinge in die Welt der Natur eingebettet. Die wichtigste und wirkungsvollste Verklammerung von Natürlichem und Artifiziellem gelingt Aristoteles indessen mit Hilfe des Zweckbegriffs. Der Herstellende verhält sich zweckorientiert, wenn er ein Produkt im Blick auf die Funktionen plant und gestaltet, die es einmal erfüllen soll. Umgekehrt erschließt sich die in der Wahrnehmung präsente Natur in ihrer Regelhaftigkeit am besten immer noch dem, der sich zu ihrer Deutung teleonomer Begriffe bedient. Die Verwendung solcher Begriffe wird auch dadurch erleichtert, dass es die Sprache, in der wir uns über unsere Lebenswelt verständigen, ohnehin nahelegt, Prozesse und Bewegungen von ihrem End 22

Vgl. Phys. II 1, 193a12 ff. Eine Aristotelesdeutung, die umgekehrt dem Herstellen und dem Hergestelltsein den Primat einräumt, findet sich skizziert bei Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, in: Dilthey-Jahrbuch 6, 1989, S. 237–269, vgl. bes. S. 253 f., 260, 266 f. [= ders., Phänom. Int. zu Arist., hg. v. G. Neumann, Frankfurt / M . 2013]. – Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Deutung der Platonischen Idee aus dem Geiste der Herstellung bei Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 8 1994, S. 214 ff. 24 Vgl. Phys. II 3. 25 Vgl. Phys. II 2, 194a 21; II 8, 199a15 f. 23

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punkt her zu beschreiben. Die Sprache tendiert dazu, von diesem Endpunkt wie von einem Zielpunkt zu sprechen. Dies gilt für natürliche Bewegungen und für artifizielle Prozesse in gleicher Weise. Es sind diese schon von der Sprache suggerierten, teleonom gedeuteten Verklammerungen, die Aristoteles den Weg zu einer physiomorphen Deutung der Poiesis ebenso wie zu einer technomorphen Deutung der Natur eröffnen. Damit ist verständlich geworden, warum auch unter dem Gesichtspunkt der hergestellten Dinge die Ausarbeitung einer Prinzipienwissenschaft von der Poiesis für Aristoteles keine vordringliche Aufgabe war. Die im Zweckgedanken konvergierenden Analogien von Natürlichem und Artifiziellem, aber auch die Universalität des Vierursachenschemas erlaubten es ihm, unter dem Dach der Naturtheorie auch den ihm innerhalb seiner Lebenswelt begegnenden Artefakten gerecht zu werden. Wenn sich aber wesentliche Stücke einer Philosophie der Poiesis und ihrer Produkte schon im Rahmen der Ethik und der Naturlehre erörtern lassen, so mag das Konzept einer poietischen Wissenschaft als einem der drei Teile der Philosophie immer noch als ein interessanter und origineller Denkansatz erscheinen. Aristoteles konnte auf seine Entfaltung jedoch verzichten, weil eine sachgerechte Erörterung der einschlägigen Probleme nicht den Aufwand verlangt, der mit der Ausarbeitung einer eigenen philosophischen Fundamentaldisziplin verbunden wäre. Wer so urteilt, muss jedoch mit dem Vorwurf rechnen, dass er das in jenem Konzept verborgene Potential bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat.

5. Der Vorrang der Artefakte in der modernen Lebenswelt Will man einen solchen Vorwurf begründen, sollte man die Dinge zunächst noch unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten und noch genauer darauf sehen, von welcher Art die Paradigmen sind, an denen sich Aristoteles orientiert, wenn er von Artefakten handelt. Zwar kann in solchen Fällen durchaus auch vom Gesetz als dem Werk des Gesetzgebers, von der Gesundheit als dem Werk des Arztes oder vom Sieg als dem Werk des Strategen die Rede sein. In der Regel spricht Aristoteles jedoch von Häusern und Schiffen, von Statuen, von Werkzeugen und Waffen. Seine Leitparadigmen für die Poiesis und ihre Produkte sind also zumeist körperliche, leblose Dinge, die dazu bestimmt sind, von jemandem in Gebrauch genommen zu werden. Das dazu nötige nichtpropositionale Gebrauchswissen soll garantieren, dass diese Artefakte im Zuge ihres Gebrauchs ihrem Zweck nicht entfremdet werden, dass sie den Status von bloßen Mitteln nicht verlieren und dass dem, der mit ihnen umgeht, die Herrschaft über sie nicht entgleitet. Gewiss greifen Menschen auch auf von Natur aus bestehende Dinge

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zurück, um sie für unterschiedliche Zwecke in Gebrauch zu nehmen. Artefakte verdanken ihre Existenz jedoch von vornherein einer Planung, die ihnen im menschlichen Leben und Zusammenleben bestimmte Funktionen vorzeichnen. Da sie allein dieser Funktionen wegen hergestellt werden, bleibt ihnen trotz ihrer dinglichen Selbständigkeit der Charakter des Fragmentarischen und Ergänzungsbedürftigen stets erhalten. Manifestieren lässt sich dies am Beispiel des Werkzeugs. Was ein Werkzeug eigentlich ist, begreift man nicht, wenn man nicht mit dem Gebrauch vertraut ist, den man von ihm machen kann. Weil es – auch in einem ganz wörtlichen Sinn – in die Hand genommen und von ihr geführt werden muss, zeichnet Aristoteles die Hand sogar als das „Werkzeug der Werkzeuge“26 aus. Auch in diesem Fall behauptet wiederum das von Natur aus Entstandene den Vorrang vor dem Hergestellten, da es der zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehörenden Hand sowohl zur Herstellung als auch zum Gebrauch des Werkzeugs bedarf. Werkzeuge stehen daher als das, was sie sind, in jeder Hinsicht unter der Herrschaft des Menschen. Mit allen anderen Artefakten ist ihnen gemeinsam, dass sie, da sie kein eigenes Bewegungsprinzip haben, schlechterdings keine Eigentätigkeit entfalten und sich gegenüber ihren Benutzern nicht verselbständigen können. Die Herrschaft eines Menschen über sie wird deshalb nicht durch die Artefakte selbst, sondern allenfalls durch Machtansprüche anderer Menschen in Frage gestellt. Nun ist die Lebenswelt, in der sich Aristoteles bewegte, die er vor Augen hatte und die ihm die Paradigmen seines Denkens lieferte, fundamental von der Lebenswelt des modernen Menschen verschieden. Aristoteles konnte sich noch damit begnügen, eine Theorie der Wirklichkeit am Paradigma von relativ selbständig existierenden, substantiellen und naturgegebenen Dinge zu entwickeln. Immerhin war sie leistungsfähig genug, um mit leichten Modifikationen auch den von Menschen hergestellten, beherrschten und in Gebrauch genommenen Artefakten gerecht zu werden, die sich weitgehend noch nach dem Muster natürlicher Dinge auf den Begriff bringen ließen. Die artifiziellen Requisiten des menschlichen Lebens, das sich im Raum der modernen, wissenschaftlich-technischen Zivilisation abspielt, sind dagegen von anderer Art. Wohl sind auch sie noch auf den Menschen bezogen, jedoch so, dass er zugleich in sie eingebunden, oft sogar geradezu verstrickt ist. Auch unter sich stehen sie in vielfältigen funktionalen Zusammenhängen, über die der individuelle Mensch nicht mehr in allen Fällen Herr ist. Die Dinge, die diese moderne Lebenswelt konstituieren, werden auf der Basis der aristotelischen Theorie der Wirklichkeit auch mit Hilfe von Extrapolationen nicht mehr erreicht. Es ist keine naturgegebene 26

De an. III 8, 432a1.

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Lebenswelt, in der einem gelegentlich auch bestimmte Artefakte begegnen, sondern eine Welt, die für den, der in ihr lebt, von ihren Artefakten domi­ niert wird. Zwar steht auch sie noch innerhalb des Horizontes einer vorgegebenen Natur. Doch diese artifizielle Lebenswelt hat nicht nur die Tendenz, sondern auch die Kraft, ihren Einzugsbereich ständig zu erweitern. Mittlerweile schiebt sie ihre Grenzen immer weiter nach außen vor, so weit, dass die Natur oft nur noch als Störfaktor wahrgenommen wird, den es zu neutralisieren gilt. Für die artifizielle Lebenswelt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ist es charakteristisch, dass sie ihre Fähigkeit bewiesen hat, eine Eigendynamik zu entwickeln. In ihr werden nicht nur von natürlichen, sondern auch von hergestellten Dingen Prozesse in Gang gesetzt und unterhalten, die sich der Planung und der Kontrolle entziehen, weil sie sich nicht mehr zuverlässig von den Absichten und den Zielen derer regulieren lassen, die mit ihnen umgehen. Dem steht nicht entgegen, dass der Herstellung dieser Dinge wie auch ihrem Gebrauch in jedem Fall intentionale Akte von Individuen zugrunde liegen. Deren Resultate werden jedoch häufig in ein Eigenleben entlassen, das nicht mehr von solchen Intentionen gesteuert wird. So kommt es immer häufiger zu Effekten, wie man sie mit den Beispielen Pygmalions oder des Zauberlehrlings verbindet. Durch sie werden die Herstellenden und die Gebrauchenden in das System jener Artefakte und in die von ihnen entfaltete Eigendynamik auf eine Weise eingebunden, dass sie es gewiss noch beeinflussen, aber nicht mehr beherrschen können. Hier wird ein Zerstörungspotential aufgebaut, das diese Lebenswelt mitsamt ihren natürlichen Ressourcen irreversibel schädigen, ja sogar mit allen Menschen auslöschen kann. Die Eigendynamik der modernen, artifiziellen Lebenswelt wird durch ihre ständig zunehmende Unüberschaubarkeit noch verstärkt. Unter den von ihr geschaffenen Bedingungen ist das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Menschen und den von ihnen hergestellten Dingen im Begriff, sich umzukehren. Nur an der Oberfläche mag es manchmal noch so aussehen, als würden auch in der modernen Welt noch alle Artefakte wie eh und je von Menschen, die Herr über sie sind und bleiben, nach der Art handfester Werkzeuge in Dienst genommen. Doch die Artefakte, von denen diese Welt dominiert wird, haben in Wirklichkeit gar nicht mehr den Status von Werkzeugen im traditionellen Sinn. Werkzeuge herkömmlicher Art üben eine nur dienende Funktion aus, wenn sie in Gebrauch genommen werden. Ein immer größer werdender Anteil der in Verbundsysteme eingefügten Requisiten und Apparaturen der modernen Welt muss dagegen, wie es die Umgangssprache schon längst bemerkt hat, bedient werden. Mit ihnen kann nur umgehen, wer bereit ist, sich ihnen anzupassen und unterzuordnen. Nur deswegen konnte es dazu kommen, dass unter den Bedingungen der

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Lebenswelt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation Herrschaft über Menschen am wirkungsvollsten durch die Verwaltung von Sachen, nämlich ihrer Requisiten ausgeübt wird. Die auf unmittelbare Weise an Personen gebundene Herrschaft von Menschen über Menschen hat sich zwar auch unter den Bedingungen der modernen artifiziellen Lebenswelt durchaus nicht verflüchtigt. Sie ist aber nicht mehr der wichtigste Modus, in dem Menschen in Abhängigkeit gehalten werden. Ohnehin lässt sich schwerlich übersehen, dass die Artefakte der modernen Welt auf das menschliche Leben mittlerweile längst bis in die privatesten Bereiche Einfluss nehmen. Die Requisiten der hergestellten, vom Individuum oft als von ihm unabhängige und ihn sogar beherrschende Macht erfahrenen modernen Welt vergleicht man nicht zufällig gelegentlich mit Fetischen. Die Tragweite dieses Vergleichs kann man gut bei Karl Marx, einem der scharfsichtigsten Diagnostiker und zugleich fragwürdigsten Therapeuten dieser Welt studieren27. Ein Fetisch ist in der Tat ein Artefakt, ein von Menschen hervorgebrachtes oder zumindest approbiertes Ding, von dem sie sich gleichwohl als abhängig erfahren und eben deswegen auch abhängig sind. Die Grenzen des Vergleichs mit einem wirklichen Fetisch liegen allerdings auf der Hand. Die Abhängigkeit von ihm lässt sich im Prinzip durch Aufklärung neutralisieren, da seine Macht allein auf dem Glauben an ihn beruht. Die Fetische in der Welt der modernen, in ihre nicht mehr zuverlässig steuerbare Eigengesetzlichkeit entlassenen Zivilisation bestimmen das Leben der Menschen dagegen auch unabhängig von der Bewusstseinsstellung, mit der sie in diese Welt eintreten und in ihr agieren, selbst dann, wenn sie die Struktur dieser Welt durchschauen. Ein angemessenes Verständnis der Eigendynamik der modernen Lebenswelt setzt die Einsicht voraus, dass es sich bei ihr, weil sie von den Menschen auf unmittelbare Weise erfahren wird, nicht lediglich um den Inhalt einer Deutungshypothese handelt, die man notfalls auch verwerfen und durch eine andere Hypothese ersetzen kann. Natürlich befand sich die erfahrene Lebenswelt des Menschen zu keiner Zeit im Zustand der Unveränderlichkeit oder auch nur der gleichgewichtigen Ruhe. Doch die Veränderungen in dieser Welt gingen in der Regel unterschwellig vonstatten. Eher war es die Ausnahme, wenn eine Generation einmal Zeuge einer manifesten, alle ihre Lebensbedingungen berührenden Revolution wurde. Devisen wie die Weisheit des Kohelet – „Nichts Neues geschieht unter der Sonne“ – standen mit den Bedingungen, unter denen man sich in der vormodernen Welt mit Aussicht auf Erfolg orientieren konnte, in den meisten Fällen in gutem Einklang. Die moderne Lebenswelt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation hat 27 Karl Marx, Das Kapital. Man vergleiche im ersten Kapitel des ersten Buchs den vierten Abschnitt: „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“.

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hingegen Bedingungen geschaffen, unter denen jedes Individuum innerhalb seiner Lebensspanne ständig mit irreversiblen Veränderungen, mit Neuem, bislang nicht Vorhergesehenem, sogar gänzlich Unvorhersehbarem rechnen muss. Diese Welt setzt für das Bewahren in weit geringerem Maße Prämien aus als für das Verändern, das Einführen von Neuem. Schon jede individuelle Lebensplanung muss sich auf diese unmittelbar erfahrbaren, sich ständig beschleunigenden Veränderungen dieser Welt einstellen, wie sie von menschlicher Tätigkeit und Planung zwar noch ausgelöst werden, ohne aber von ihr noch erfolgreich beherrscht oder gesteuert werden zu können. Das in dieser Welt so oft zelebrierte Freiheitspathos, gewiss auch ein kompensatorisches Phänomen, sollte nicht verdecken, dass die Entlassung des Menschen in eine vormals nicht gekannte Selbständigkeit und Mündigkeit mit einer Abhängigkeit von Wirtschaft und Technik vergesellschaftet ist, die wie anonyme Mächte wirken und für deren kaum noch steuerbare Entwicklung die bisherige Geschichte kein vergleichbares Beispiel bietet. „Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten“ – diese Vermutung Mephistos hat sich auf eine ehedem nicht vorstellbare Weise in einer Welt bewahrheitet, in der erst jüngst der Homunkulus aus der Sphäre der dichterischen Vorstellungskraft und der extrapolierenden Utopie in das Reich der realen Möglichkeiten übergetreten ist. Gerade er dürfte ein Produkt werden, bei dem, ähnlich wie bei hinreichend differenzierten Artefakten im Bereich der künstlichen Intelligenz, nicht mehr auszuschließen ist, dass er der Herrschaft seiner Hersteller entgleitet.

6. Die Eigendynamik der artifiziellen Systeme in der modernen Welt Konfrontiert man die aristotelische Lebenswelt als eine natürliche Welt, in die auch Artefakte eingebettet sind, mit der modernen, von hergestellten Dingen dominierten Welt, so zeigt sich bald, dass man hier nicht randscharf abgrenzen, sondern lediglich unterschiedliche Schwerpunkte markieren kann. Niemand kann zuverlässig voraussagen, wohin und wie weit die Entwicklung noch führen wird, von der die Grenzen dessen, was sich herstellen oder bewirken lässt, immer weiter hinausgeschoben werden. Schon jetzt begünstigt sie eine Mentalität, die den Beginn ebenso wie das Ende des menschlichen Lebens seiner Natürlichkeit enthebt und sich in diesem Bereich mit zunehmend stärker eingreifenden, gezielten Manipulationen abzufinden beginnt. Sie hat es ermöglicht, auch den Menschen selbst mitsamt seiner von der Natur gegebenen physischen und psychischen Ausstattung dem Zugriff des Herstellens auszuliefern. Die darin verborgene, das Menschenbild im ganzen berührende Brisanz wird derzeit oft noch verkannt.

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Vor diesem Hintergrund ist zu bedenken, dass die Menschenrechte, anders als bloße Bürgerrechte, ihrem Inhaber allein deswegen zukommen, weil er ein Mensch ist. Sie werden ihm nicht von seinesgleichen verliehen, stehen zu niemandes Disposition und können ihm deswegen niemals entzogen werden. Ehedem sprach man davon, dass ihm diese Rechte auf Grund seiner Geburt zukommen. Dabei war es gerade die Anknüpfung an die Geburt, die es verbot, mit einem Menschen wie mit einem hergestellten Wesen umzugehen. Mit dieser Anknüpfung wird das vorgeburtliche Leben des Menschen indessen rechtlich nicht erreicht. Gerade diese Phase seiner individuellen Existenz ist dann aber durch die Möglichkeiten manipulierenden Eingreifens in besonderem Maße gefährdet. Es ist damit zu rechnen, dass sich der Produzent eines Homunkulus die Befugnis anmaßt, über den rechtlichen Status seines Produkts selbst zu entscheiden. Ein lediglich zugestandenes Recht steht aber zur Disposition dessen, der es verleiht. Es kann, anders als die wirklichen Menschenrechte, dem Begünstigten auch wieder entzogen werden. Die Artefakte, von denen die moderne Welt konstituiert wird, haben nicht mehr den Zuschnitt jener Dinge, die sich wie die aristotelischen Substanzen durch jene Selbständigkeit ihrer Existenz auszeichnen, um derentwillen sie den Kern der Wirklichkeit ausmachen. Den Kern der modernen Lebenswelt bilden keine selbständig existierenden Substanzen, sondern Netzwerke substanzarmer, wenn nicht sogar substanzloser Funktionen, innerhalb deren substantielle Dinge im herkömmlichen Sinn allenfalls noch Knotenpunkte markieren. Das steht gewiss auch mit der Entwicklung in Zusammenhang, die innerhalb der neuzeitlichen Wissenschaft die Verlagerung des Schwerpunkts vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff zur Folge hatte28. Wichtiger aber noch ist die Dominanz des Funktionellen, die in der menschlichen Lebenswelt bereits vor jeder Theorie und Wissenschaft unmittelbar von jedermann erfahren werden kann. Dies lässt sich gut am Beispiel der Entsubstantialisierung des Geldes verdeutlichen. Mit der Erfindung von metallischem Münzgeld im antiken Lydien wurde es möglich, sich an einem einheitlichen Wertmaßstab für alle handelbaren Dinge zu orientieren und von einer Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft überzugehen. Im Laufe der Entwicklung wurde das Münzgeld durch Zertifikate, Wechsel und Zahlungsversprechen ergänzt, vor allem aber durch das Papiergeld fast verdrängt, für das man nur vorübergehend noch eine Deckung durch Substanzwerte aus Edelmetall verlangte. Diese Entwicklung hat schließlich dazu geführt, dass den Kern der Geldwirtschaft heute das gänzlich entsubstantiierte, abstrakte Buchgeld bildet. Es ist allein in nach strengen Regeln vorgenommenen Dokumentationen existent, 28

Vgl. immer noch Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910.

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die mittlerweile auch kaum mehr in handfesten Büchern, sondern zumeist nur noch in elektronischen Systemen gespeichert werden. Was einstmals in Gestalt substantieller, metallischer Gegenstände präsent war, hat sich über eine Serie von Zwischenstufen in ein höchst kompliziertes Regelsystem abstrakter Relationen und Funktionen transformiert, das selbst Fachleute nur noch mit Mühe durchschauen können. Es basiert in letzter Instanz nur auf dem ihm entgegengebrachten Vertrauen. Gerade anhand dieses Beispiels lässt sich daher deutlich machen, wie die artifizielle Welt in dem Maße, in dem sie sich immer weniger überschauen lässt, das menschliche Leben in immer stärkeren Maße dadurch dominiert, dass sie ein Pseudoleben und eine Eigendynamik entwickelt, die es auch ihren Herstellern und Gestaltern verwehrt, Herr über sie zu bleiben. Der Hersteller gibt sein Produkt aus der Hand, wenn es vollendet ist. Über sie verfügt sodann, wer das einschlägige Gebrauchswissen hat, das den Umgang mit ihm reguliert. Es macht indessen einen wesentlichen Unterschied, ob dieses Wissen auf einen handfesten, materiellen Gegenstand oder auf ein System abstrakter Relationen und Funktionen bezogen ist. Weist dieses System einen hinreichend hohen Grad von Komplexität auf, ist damit zu rechnen, dass die Linie überschritten wird, jenseits deren man auf kein ihm adäquates Gebrauchswissen mehr zurückgreifen kann. Spätestens dann muss man gewärtigen, dass das System ein Eigenleben entfaltet und dass in ihm Prozesse ablaufen, die in einem präzisen Sinn des Wortes subjektlos und damit anonym sind. Dies lässt sich auch am Beispiel dessen verdeutlichen, was man heute mit dem Namen der Information zu bezeichnen pflegt. Information ist ihrem Wesen nach ein herrenloses Wissen, vom Wissenden isoliert, dessen Status dem eines hergestellten, gegenständlichen Artefakts gleicht. Dergleichen tritt freilich nicht erst als Resultat von Entwicklungen in der modernen Welt auf. Was Information als subjektloses Wissen alles nicht leistet, was sie aber gleichwohl bewirken kann, kann man im Prinzip bereits in Platons Kritik der Schriftlichkeit nachlesen29. Trotzdem hat die moderne Welt auch hier zu einem Umbruch geführt. Nachdem sich mittlerweile ganze Industrie­zweige der Produktion und der Verbreitung unübersehbarer Mengen von Information widmen, lassen sich die Techniken, die ehedem für einen angemessenen Umgang mit dem schriftlich fixierten Wort entwickelt worden waren, allenfalls noch sporadisch in Bezug auf die modernen Informationsmassen fruchtbar machen. Heute ist es möglich geworden, Information als lediglich potentielles Wissen zu generieren und zu speichern, das noch niemals Besitz eines aktuell wissenden Subjekts war. Information als solche gibt es freilich seit eh und je. Doch erst in unserer Gegenwart ist das subjektlose 29

Plat. Phaidr. 274c ff.

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Wissen im Begriff, das subjektgebundene, im Bewusstsein von Individuen verortete Wissen zu dominieren. Seine Bezugspunkte müssen nicht mehr in jedem Fall Personen sein, die Wissen erarbeiten, dokumentieren und mitteilend mit ihm umgehen, sondern speicherungsfähige und gespeicherte Informationsgüter, im Verhältnis zu denen den Individuen nur noch die Rolle von Nutzern und Benutzern zukommt. Die aus den Bedürfnissen der Nachrichtentechnik entstandene Informationstheorie hat Formalismen entwickelt, die es erlauben, auf kontrollierbare Weise mit dem umzugehen, was vom Wissen übrig bleibt, wenn man seine Verankerung in einer wissenden Instanz kappt. Doch die produzierte Welt subjektloser Informationen und Bilder ist ohnedies für manch einen schon längst zu einer zweiten Natur, manchmal sogar zur eigentlichen Wirklichkeit geworden. Zu den Triebfedern der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft gehörte ursprünglich die Hoffnung, mit ihrer Hilfe der Natur dermaleinst nicht mehr nur unterworfen zu sein, sondern sie zugleich auch beherrschen zu können. Diese Hoffnung hat sich in manch einer Hinsicht erfüllt. Überraschenderweise hat sich aber gezeigt, dass es oft leichter ist, ein Stück Natur zu beherrschen als die Folgelasten in den Griff zu bekommen, die aus von Menschenhand gefertigten Dingen entstehen. In Bezug auf sie muss man gewärtigen, dass die hier nicht zufällig oft verwendete biomorphe Metaphorik der Entwicklung die Existenz von Prozessen suggeriert, die autonomen naturwüchsigen Vorgängen vergleichbar sind. Gute Beispiele hierfür bietet auch hier wieder die Sphäre der Ökonomie. In ihr laufen im Zuge der Befriedigung vorhandener wie auch der fortwährenden Erweckung neuer Bedürfnisse Prozesse ab, die zwar alle vom Willen bewusst agierender Individuen ihren Ausgang nehmen, die in ihrer Verflechtung jedoch auch Wirkungen nach sich ziehen, für die es keine Instanz gibt, die sie mit Erfolgsgarantie steuern und beherrschen könnte. Gewiss gab es niemals eine Gestalt des Wirtschaftens, die der Mensch mit ihren Folgen in jeder Hinsicht und ohne Einschränkung in der Hand gehabt hätte. Trotzdem bedeutete die Verdrängung der alteuropäischen, im „ganzen Haus“ fundierten Ökonomie durch den modernen Markt einen qualitativen Sprung. Von einem bloßen Mittel wurde der Markt zum Bezugszentrum des Wirtschaftens, zwar noch zu beeinflussen, aber nicht mehr zu beherrschen. Das Scheitern derer, die sich, um sich seinem Herrschaftsbereich zu entziehen, kompromisslos der Verwirklichung einer Planwirtschaft verschrieben haben, spricht eine hinreichend deutliche Sprache. Der Markt hat heute jedenfalls die Rolle einer anonym agierenden, pseudomythischen, aber niemals unmittelbar greifbaren Entität angenommen, der ein umfassendes, aber subjektloses Wissen zugeschrieben wird, von dem man annimmt, dass es allem individuellen, persongebundenen Wissen nach Relevanz, Struktur und Umfang weit überlegen ist. Zumindest in der Fik-

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tion kann man ihn sogar mit einem – für das wirtschaftende Individuum natürlich unzugänglichen – Aktionszentrum ausstatten, wie es beispielsweise in Gestalt der „unsichtbaren Hand“ schon von Adam Smith, dem Vater der neuzeitlichen Ökonomie, postuliert wurde30. Analoges gilt auch für andere Größen, die in der Moderne zu subjektlos agierenden Entitäten erhoben worden sind. Man pflegt sie mit Kollektivsingularen zu bezeichnen. Es gilt für „die“ Technik, wie sie am radikalsten in Heideggers Überlegungen zum „Gestell“ gedeutet worden ist, aber auch für „die“ Gesellschaft, den Götzen der modernen Welt. Was sich auch immer hinter diesem Namen verbirgt – man sieht in ihr, anders als in der traditionellen societas civilis, eine anonyme, für das Individuum ungreifbare, durch keine Verfassung gebändigte, agierende Instanz, für die es weder ein Steuerungszentrum noch von ihr bevollmächtigte Vertreter gibt. Sie wird als eine Instanz behandelt, die angerufen und beschworen wird, für die es aber keine Repräsentanten gibt, an die man auf gezielte Weise appellieren könnte, die keine Rückfragen zulässt und die niemandem Rechenschaft geben muss über das, was ihr zu tun und zu lassen gefällt, bei der es sich also um ein Gebilde handelt, das keine Kontrollinstanz kennt, die es im Zaum halten könnte. „Die“ Gesellschaft ist so zu einer höchst wirkungsmächtigen, aber subjektlosen Entität geworden, deren durch keine Gewaltenteilung strukturierte Souveränität letzter Stufe über das Leben der Menschen widerspruchslos akzeptiert wird. Nicht zufällig wird „die“ Gesellschaft nicht selten auch selbst zum Pseudosubjekt der Gesamtheit der in der menschlichen Lebenswelt sich abspielenden Prozesse hochstilisiert. Die an der Gestaltung der modernen, artifiziellen Lebenswelt Beteiligten lassen sich in dieser Rolle individuell kaum mehr identifizieren. Hinter den Artefakten der aristotelischen Welt lassen sich im Prinzip stets individuelle Personen oder Systeme von Personen ausmachen, die für ihre Hervorbringung und für ihren Gebrauch verantwortlich sind. Nichts Vergleichbares lässt sich über das Beziehungsgeflecht aussagen, das die moderne wissenschaftlich-technische Welt strukturiert. Innerhalb dieses Geflechts mutiert das eigenverantwortliche Subjekt zum bloßen Funktionsträger. Die Artefakte der aristotelischen Lebenswelt ließen sich, wenngleich mit einigen Modifikationen, in gewisser Weise immer noch nach Analogie zu den von 30

Im Zusammenhang mit der Thematik der vorliegenden Arbeit verdient Erwähnung, dass gerade Adam Smith mit seiner Entgegensetzung von produktiver und unproduktiver Arbeit in Absetzung von der aristotelischen Tradition den herstellenden gegenüber allen praktischen Aktivitäten des Menschen den Vorrang deswegen einräumt, weil nur sie mit handfesten Gegenständen zu tun hat, deren Wert durch produktive, herstellende Arbeit, die sich an ihnen betätigt, erhöht wird. Überdies ist es ein Vorzug der produktiven Arbeit, dass nur sie sich speichern lässt. Vgl. An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, II 3.

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Natur aus existierenden Dingen deuten. Die moderne artifizielle Welt lässt Vergleichbares nicht mehr zu. Eine Begrifflichkeit, die wie die der aristotelischen Ontologie selbständig existierender Substanzen im Blick auf eine anders strukturierte und erfahrene Welt entwickelt worden ist, findet hier nur noch sporadisch geeignete Angriffspunkte. Die hier angesprochenen Sachverhalte sind von Vertretern unterschiedlicher Professionen bereits unter vielfältigen Gesichtspunkten beleuchtet und analysiert worden. Theorien wie die der – mittlerweile längst zum Schlagwort gewordenen – „Entfremdung“, aber auch Systemtheorien haben es unternommen, auf die ständig sich wandelnde Lebenswelt, die der moderne Mensch wahrnimmt und erfährt, einen Reim zu machen und sie auf den Begriff zu bringen. Entsprechendes gilt für die Institutionentheorien und für die von Hegel bis Popper unter verschiedenen Namen aufgetretenen Theorien des objektiven Geistes, insofern sie für die zwar stets von individuellen Aktivitäten ausgelösten, aber nicht mehr steuerbaren Veränderungen ein fiktives, außerindividuelles Pseudosubjekt ansetzen. Bezeichnend ist vor allem, dass gerade in der Zeit, in der die Unbeherrschbarkeit der von Menschen hergestellten Lebenswelt wahrnehmbar zu werden begann, die Karriere einer in der gesamten aristotelischen Tradition niemals gepflegten Disziplin, nämlich der Geschichtsphilosophie ihren Anfang nahm. Sie fand ihre Themen und Aufgaben in jenen Entwicklungen, die ohne menschliche Tätigkeiten weder in Gang gesetzt noch unterhalten würden, die sich aber durch solche Tätigkeiten weder planen noch steuern lassen. Sie war es, die sich fortan der sich in der menschlichen Lebenswelt abspielenden Prozesse annahm, die dem Zugriff einer gezielten Planung entzogen bleiben. Sie konnte jedoch niemals auf überzeugende Weise den Hiatus überbrücken, der sich zwischen diesen überindividuellen Prozessen und den von Menschen bewusst ins Werk gesetzten Aktivitäten auftut. So nimmt es nicht wunder, dass auch „die“ Geschichte zu einer anonymen Macht und zu einem Pseudosubjekt avancieren konnte. Vergegenwärtigt man sich den Wandel der erfahrbaren Lebensbedingungen, den die hier nur grob skizzierten Befunde anzeigen, mag sich ein Gefühl der Nostalgie einstellen, wenn man sich bewusst macht, dass manche Verhaltensnormen, an denen sich der Mensch über lange Zeiten hin im Umgang mit den Dingen ebenso wie mit seinesgleichen orientieren konnte, nicht mehr greifen, zwar nicht deswegen, weil sie ihre Verbindlichkeit eingebüßt hätten, sondern weil die Lebenswelt, die zu regulieren ihre Aufgabe war, nicht mehr besteht. Nur natürlich ist es, dass in dieser Situation manch einer seine Hoffnungen aufs Restaurative setzt. Doch jeder Aufruf von der Art „zurück zu …“ oder „wir müssen wieder …“ zielt ins Leere, weil abzusehen ist, dass jeder Versuch, ihm nachzukommen, andere als die beabsichtigten Resultate zeitigen würde. In der Geschichte gibt es

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keine Rückkehr – es sei denn als ideologische Verbrämung, von der neue Sachverhalte mit alten Etiketten versehen werden.

7. ‚Poietische Philosophie‘ als Leerstelle im aristotelischen System der Wissenschaften Es könnte so scheinen, als hätten sich die Überlegungen der beiden letzten Abschnitte weit von Aristoteles entfernt. Doch die Konfrontation mit bestimmten Strukturen der modernen Lebenswelt sollte in Wirklichkeit nur noch einmal von einer anderen Seite aus plausibel machen, warum es für Aristoteles unter den Bedingungen seiner Lebenswelt nicht vordringlich war, eine Philosophie der Poiesis im Detail auszuarbeiten. Denn er fand sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie einen Platz für die Beschäftigung mit den von Menschen produzierten, ohne Ausnahme leblosen Artefakten. In keinem von beiden Fällen musste er diesen Artefakten eine systematisch dominierende Stellung einräumen. Nun ist jedoch eine am Paradigma vorgefundener substantieller Dinge orientierte Metaphysik und Physik wenig geeignet, den Eigentümlichkeiten der Entitäten gerecht zu werden, von denen die moderne wissenschaftlich-technische Welt konstituiert wird. Aristoteles konnte die Metaphysik ebenso wie die Physik auf der Basis der auch mit der Sprache und ihren Strukturen in Einklang stehenden Intuition entwickeln, dass die Dinge, die das Fundament der Wirklichkeit ausmachen, auf Grund ihrer Wesensbestimmung in relativer Selbständigkeit und gegenseitiger Unabhängigkeit existieren; dass sie sich alle identifizieren und voneinander unterscheiden lassen; dass sie untereinander in mancherlei externen Relationen stehen, ohne in ihnen aufzugehen, da ihnen eine Essenz eigen ist, die durch diese Relationen nicht berührt wird. Diese Prinzipienlehre ist auf eine Lebenswelt zugeschnitten, wie sie von den Menschen, die in ihr leben und mit ihresgleichen interagieren, schon vor aller Reflexion wahrgenommen wird. Sie handeln und behaupten sich in ihr, weil sie auf die Existenz einer natürlichen Ordnung vertrauen, die durch manifeste, wenngleich stets vom Zufall bedrohte Regelmäßigkeiten geprägt ist, und weil sie sich im Umgang mit dieser Welt überdies der Hilfe von Dingen bedienen können, die sie selbst zu bestimmten Zwecken hergestellt haben und die auch deswegen für sie nichts Fremdes sind, da sie jederzeit Herr über sie bleiben. Auf die in der modernen Welt von Menschen und letztlich auch für Menschen hergestellten Dinge sowie auf die von ihnen konstituierten Systeme, die sich verselbständigen und ein immer weniger beherrschbares Eigenleben entfalten, lässt sich die Begrifflichkeit der Metaphysik und der Physik des Aristoteles nicht mehr unmittelbar anwenden. Gleichwohl wäre schlecht

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beraten, wer deswegen die aristotelische Philosophie für obsolet halten würde. Im Gegenteil: Gerade eine Philosophie der Poiesis, also des Herstellens und der hergestellten Artefakte wäre dazu prädestiniert, die moderne, von Menschen gemachte Welt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und das Leben in ihr begrifflich zu erfassen, zumal da sie die Probleme, die sich hier stellen, weder einer theoretischen noch einer praktischen Disziplin zur Lösung anvertrauen kann. Eine solche poietische Philosophie müsste sich der Tatsache stellen, dass die Eigendynamik der modernen artifiziellen Welt von anderer Art ist und anderen Regeln folgt als das Leben natürlicher Kreaturen, dass sie sich aber auch nicht vollständig auf die Pläne und Absichten derer zurückführen lässt, von denen die diese Welt konstituierenden Requisiten geplant und hergestellt worden sind. Will man damit ernst machen, das aristotelische Konzept einer Philosophie der Poiesis unter den Bedingungen der Gegenwart wieder aufzunehmen, kann man es allerdings nicht dabei bewenden lassen, lediglich eine Theorie über die artifizielle Welt zu entwickeln. Schon bei Aristoteles soll die praktische Philosophie nicht nur eine Theorie über die Welt des Handelns entwickeln, sondern ineins damit zugleich der Lebenspraxis selbst dienen31. Ähnlich soll auch die Beschäftigung mit der Poiesis nicht nur auf das Erkennen des Herstellens eingegrenzt sein, wenn sie dieses Herstellen zugleich auch ermöglichen und wenn sie ihm dienen kann32. Wie der Mensch das Herstellen in den Griff bekommt und zugleich das Hergestellte beherrschen kann, war bei Aristoteles noch kein Problem, zu dessen Lösung es der Ausarbeitung einer eigenständigen Prinzipienlehre bedurft hätte. Das waren Dinge, die auf der Hand lagen, sich von selbst verstanden und schon im Rahmen der theoretischen und der praktischen Philosophie zuverlässig auf den Begriff gebracht werden konnten. Ein die Ausarbeitung einer poietischen Philosophie fordernder Problemdruck entsteht erst mit dem Entstehen einer artifiziellen, eine Eigendynamik entwickelnden und für das ihm ausgelieferte Individuum nicht mehr ganz durchschaubaren, geschweige denn beherrschbaren Lebenswelt. Noch Kant konnte feststellen: „Nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann.“33 In der gegenwärtigen Welt ist jedoch vieles von dem, was von Menschen hergestellt wird, auch wenn es auf der Grundlage von Begriffen geschieht, weit weniger zu durchschauen als der Bereich der von der Natur gegebenen Dinge34. 31

Vgl. EN I 1, 1095a5 ff.; II 2, 1103b26 ff; X 10, 1179a33 ff. Vgl. EE I 5, 1216b17 ff. 33 Kritik der Urteilskraft, Akad.-Ausg. V 384. 34 Erst von hier aus wird die Sonderstellung verständlich, die bei Aristoteles der Poetik insofern zukommt, als sie sich weder der theoretischen noch der praktischen Philosophie zuordnen lässt. Vielleicht begegnet man in der aristotelischen Lebenswelt nur im kunst­ 32

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Aristoteles hatte den theoretischen und den praktischen Disziplinen eine im Verhältnis zu ihnen gleichrangige poietische Wissenschaft an die Seite gestellt, die das Herstellen nicht praktizieren, sondern begreifen sollte, ohne sie in extenso auszuarbeiten. Er konnte schwerlich ahnen, welch eine fast unerschöpfliche Aufgabenfülle auf eine solche Disziplin unter den Bedingungen einer auch heute immer noch undurchschauten und unbegriffenen, von Menschen geschaffen, aber nicht beherrschten, sondern sie beherrschenden Technokratie dermaleinst warten würde. Er konnte das Heraufkommen der modernen Lebenswelt natürlich nicht ahnen, deren Dinge und Ereignisse sich in ihrer Eigendynamik weder unmittelbar auf das Wirken der Natur zurückführen noch ohne Rest aus dem menschlichen Wollen und Planen erklären lassen. Weder eine Ontologie der Wirklichkeit noch eine Theorie des Handelns im traditionellen Sinn erreicht den Kern dieser Welt. Umso mehr darf man es als eine der Großtaten von Aristoteles ansehen, dass er eine Disziplin konzipiert hat, die eine überaus lange Zeitspanne wie ein Leertitel gleichsam im Wartestand verbringen musste und, trotz der in der Neuzeit dem Phänomen der Arbeit zugewachsenen neuen Dignität, als solche fast in Vergessenheit geraten ist. Doch gerade sie ist eine Disziplin, ohne die sich eine Philosophie der Technik und der modernen Lebenswelt ebenso wenig wie eine ihrem eigenen Anspruch genügende Geschichtsphilosophie begründen lässt. Wenn es einmal eine ihrem Gegenstand adäquate philosophische Theorie der modernen Welt geben sollte, die es schafft, die wissenschaftlich-technischen Zivilisation durchschaubar und zugleich auch steuerbar zu machen, wird dies gewiss eine Theorie der Poiesis sein35. Zuerst erschienen in: Thomas Buchheim / Hellmut Flashar / R ichard A. H. King (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? Felix Meiner Verlag, Hamburg 2003, S. 223–247.

gerecht verfassten Drama einem Artefakt, das eine Eigendynamik zu entfalten fähig ist, da es auch unabhängig von der aktuellen Darstellung in der der Theateraufführung die Affekte der Furcht und des Mitleids provozieren und deshalb nicht nur auf den Zuschauer, sondern bereits auf den Leser als auf die Bezugsgröße einer Intentionalbewegung eine kathartische, läuternde Wirkung ausüben kann. Vgl. Poet. 26, 1462a10 ff. 35 Einige der in dieser Arbeit angeführten Belege sind ausführlicher behandelt in dem Aufsatz des Verfassers „Aristoteles und die Idee der poietischen Wissenschaft. Eine vergessene philosophische Disziplin?“, in: Thomas Grethlein u. a. (Hg.), Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie (Festschrift Riedel), Würzburg 1996, S. 479–505.

Die Ewigkeit der Welt. Der Streit zwischen Joannes Philoponus und Simplicius

I Der Einfluss, den die aristotelische Philosophie im Hochmittelalter auf die Auslegung des Selbstverständnisses des christlichen Glaubens ausübte, bezeichnet äußerlich den Höhepunkt der Wirkungsgeschichte dieser Philosophie. Zwar wurden – trotz der beträchtlichen Treue im Detail – die grundlegenden Stücke der aristotelischen Lehre umgebildet, wesentliche Intentionen ihres Urhebers – wie sie uns die historische Forschung sehen gelehrt hat – missverstanden, wenn nicht gar ins Gegenteil verkehrt. Doch das ist kein Einwand dagegen, dass es sich um eine ausgesprochen produktive Aneignung handelt. Derartige Wiederaneignungen vergangener geschichtlicher Gestalten pflegen sich der Frage nach der historischen Wahrheit gegenüber gleichgültig zu verhalten. Nun gibt es keine historische Gestalt, keine historische „Tatsache“, von der man noch sinnvoll reden könnte, wenn man sie von ihren Wirkungen in Gedanken zu trennen sucht. In der Geschichte sind Wirkungen nichts, was dem „Wesen“ der Dinge nur äußerlich wäre. Dennoch wird die Frage nach der geschichtlichen Wahrheit nicht sinnlos, und zwar deswegen nicht, weil jede historische Gestalt schon wegen der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeder Wirkungsgeschichte immer mehr ist als das, was ihre Wirkungen an den Tag legen. Was sie ist, zeigt sich allein an ihren Wirkungen und doch geht sie nicht in ihnen auf. Im Hinblick auf das Verhältnis von geschichtlicher Wahrheit und Wirksamkeit macht man daher leicht eine der Grunderfahrungen alles geisteswissenschaftlichen Arbeitens: Man hat verschiedene Grundbegriffe, die sich in ihrer Anwendung gegenseitig ausschließen; und doch kann man auf keinen von ihnen verzichten. Im Vergleich mit dem Aristotelismus des Hochmittelalters liegt der Einfluss der aristotelischen Philosophie auf die christliche Selbstauslegung der Spätantike nicht so deutlich am Tage. Das ist kein Zufall. Es handelt sich hier ja kaum um eine bewusste Aneignung, sondern um einen Traditionsstrom, in dem man noch viel zu unmittelbar lebte, als dass man von ihm hätte Abstand nehmen und ihn sich hätte vergegenständlichen können.

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Etwas anders verhält es sich mit dem Einfluss Platons auf das Selbstverständnis des jungen Christentums. Doch so sicher es ist, dass man die altchristlichen Väter und ihre Zeitgenossen nicht ohne Platon verstehen kann, so sicher ist es auch, dass es sich hier nicht um jenen historischen Platon handelt, zu dem Aristoteles in einem fast unüberbrückbaren Gegensatz steht. Platon – das ist für die Spätantike zunächst einmal die Tradition, die wir heute unter dem Namen Neuplatonismus zusammenfassen. In den Neuplatonismus ist jedoch Aristotelisches in demselben Maß wie Platonisches eingegangen1. Plotin spricht beide Sprachen, die Sprache Platons wie die Sprache Aristoteles’ und es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal die vorliegenden Texte unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen. So ist auf dem Wege über den Neuplatonismus schon in der Väterzeit manches Aristotelische in die christliche Selbstauslegung eingegangen und es ist die Frage, ob in dem vom Christentum rezipierten neuplatonischen Gedankengut nicht die Elemente aristotelischer Herkunft überwiegen. Die Frage nach der Ewigkeit der Welt spielt in der Geschichte der Begegnung und Auseinandersetzung von griechischer Philosophie und christlicher Theologie eine ausgezeichnete Rolle. Hier haben wir einen der wenigen Punkte vor uns, hinsichtlich deren sich christliches und griechisches Weltverständnis nicht endgültig haben verständigen können. Zwischen der Auffassung, dass die Welt von Natur aus und von Ewigkeit her besteht und der Auffassung, dass sie als kontingentes Werk eines allmächtigen Schöpfers einen Anfang in der Zeit hat, lässt sich nicht einfach vermitteln, wenn man nicht auf Wesentliches verzichten will; denn in beiden Fällen – sowohl bei der Schöpfungstheologie als auch bei der Lehre von der immerseienden natürlichen Welt – handelt es sich um der Sache nach jeweils zentrale Lehrstücke. Die christliche Akzentuierung der platonischen Unterscheidung einer sinnlichen und einer intelligiblen Welt (wobei die intelligible Welt als ewiger Schöpfungsplan Gottes fungiert) ist ein Versuch, die antike Auffassung von der Ewigkeit der Welt wenigstens teilweise zu retten. Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, dass gelegentlich auch von christlicher Seite aus der Versuch gemacht wurde, auf die Zeitlichkeit der Schöpfung ganz zu verzichten. Am augenfälligsten ließe es sich vielleicht am Beispiel des Origenes zeigen, wie die Zeitlichkeit der Schöpfung gerade dort leicht zum Opfer gebracht wird, wo sich die christliche Lehre zu sehr mit der überlieferten Philosophie einlässt; im Rückblick erscheint es dann auch konsequent, dass Origenes mit seiner nur allegorischen Deutung des Schöpfungswerkes von der Kirche abgelehnt wurde. Wie sehr die Lehre von der Ewigkeit der Welt 1

Auf diese Tatsache hat Hegel besonderen Wert gelegt. Vgl. in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (Sämtl. Werke. Jubil.-Ausg. hg. von H. Glockner), Bd. 19, S. 10, 35, 40, 53.

Die Ewigkeit der Welt

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in der allgemeinen Auffassung zum Kernbestand der griechischen philosophischen Tradition gehörte, lässt sich auch am Beispiel des Bischofs Synesios von Kyrene zeigen, der zunächst ein Schüler der Platonikerin Hypatia war und erst als reifer Mann Christ wurde: Noch bei seinem Übertritt zum Christentum macht er den Vorbehalt, es sei ihm unmöglich, in allen Punkten der christlichen Lehre zuzustimmen: Zu denjenigen Punkten, die er von seiner bisherigen philosophischen Überzeugung auf keinen Fall aufgeben zu können glaubt, gehört die Lehre von der Ewigkeit der Welt2. Wie verträgt sich aber die der christlichen Antike wohlbekannte Kosmogonie, die Platon im „Timaios“ vorträgt, mit der Annahme, dass die Ewigkeit der Welt ein für die spätantike Überlieferung zentraler Gedanke ist? Hier handelt es sich in der Tat um eine Ausnahme. Wir wissen, dass sich schon Platons Schüler darüber stritten, ob die Lehre von der Weltbildung durch den Demiurgen wörtlich zu verstehen ist oder nicht. Die Anzeichen sprechen indes dafür, dass Platon diese kosmogonische Erzählung nicht im wörtlichen Sinn verstanden haben wollte. Man darf freilich hinter dem Timaiosmythos auch keine unverschlüsselte und entmytho­ logisierte Kosmologie suchen. Denn dieser ganze Mythos gehört als gleichsam nachträgliches Proömium zur „Politeia“ noch in den Umkreis von Platons Staatsphilosophie und muss aus der pädagogischen Zielsetzung dieses Staatsentwurfs verstanden werden. Dennoch: der Weltschöpfungsmythos des „Timaios“ war zu verführerisch, als dass sich die christliche Theologie nicht schon frühzeitig auf ihn in seinem wörtlichen Sinn berufen hätte. Platon wird so in die Rolle eines Vorläufers des christlichen Schöpfungsglaubens gedrängt, und nach einem gängigen Schema entsteht auch bald die Fabel, dass Platon im „Timaios“ vom Alten Testament abhängig sei. Sie zeigt, wie man Platon aus dem Zusammenhang des griechischen Denkens herauslösen musste, wenn man jenes Stück seiner Philosophie mit einer typisch christlichen Lehre zusammenbringen wollte. Man muss vor Augen haben, wie sehr die Lehre von der Ewigkeit der Welt für die Spätantike ein notwendiger Bestandteil der philosophischen Tradition war, wenn man die Bedeutung der bisher fast unbeachteten Kontroverse zwischen Simplicius und Philoponus angemessen würdigen will. Die allegorische Auslegung des Schöpfungsberichtes war die eine Möglichkeit, zwischen offenbartem Glaubensinhalt und griechischer Philosophie zu vermitteln. Die andere Möglichkeit der Vermittlung bestand darin, den zeitlichen Anfang der Welt mit den Mitteln der philosophischen Tradition zu beweisen. Was Philoponus unternimmt, ist ein solcher Versuch, mit spezifisch philosophischen Mitteln zunächst die aristotelischen Beweise für 2 Für unseren Zusammenhang ist es nicht von Belang, dass es bei Synesios ausdrücklich nur um das zeitliche Weltende geht.

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die zeitliche Unendlichkeit der Welt zu widerlegen, um anschließend selbst einen positiven Beweis für die zeitliche Endlichkeit der Welt zu führen. Es ist höchst bezeichnend, dass Philoponus kein spezifisch christliches Argument benützt, dass sich seine Beweisgänge zwar inhaltlich gegen Aristoteles richten, ihm jedoch im Hinblick auf Form und Mittel der Argumentation tief verpflichtet bleiben. Philoponus versucht, Aristoteles in einer bestimmten Frage mit seinen eigenen Mitteln zu widerlegen – ein Verfahren, das in der Schulpraxis zwar nicht ganz ungebräuchlich ist, hier aber doch deswegen von besonderem Interesse ist, weil auf diese Weise eine christliche Glaubenslehre mit dem philosophischen Denken in Übereinstimmung gebracht werden soll. So ist Philoponus der erste Denker von Rang, der bewusst und ausdrücklich die Denkmittel der aristotelischen Philosophie für die Selbstauslegung des christlichen Glaubens fruchtbar macht. Die Philosophiegeschichte kennt den Alexandriner Philoponus3 vor allem als einen der großen Kommentatoren der aristotelischen Lehrschriften, die Kirchengeschichte außerdem als einen Vertreter des Monophysitismus und als den Begründer des Tritheismus. Über seine Lebensumstände ist wenig bekannt; ob er einer christlichen Familie entstammt oder erst im Mannesalter zum Christentum übergetreten ist, bleibt ungewiss. Die Ewigkeit der Welt hat er zuerst in einer gegen Proclus gerichteten Schrift (bekannt unter dem Titel „De aeternitate mundi“) zu widerlegen unternommen, die sich philosophisch vornehmlich auf Platons „Timaios“ stützt; danach auch noch in einer sechs Bücher umfassenden Schrift, die sich gegen die aristotelischen Argumente für die Ewigkeit der Welt richtet. Sie schließt sich zeitlich wie sachlich an die Proclusschrift an: Hatte Philoponus die Argumente des Proclus für die Ewigkeit der Welt, die dieser aus Aristoteles nahm, vom platonischen Standpunkt aus zu entkräften unternommen, so begibt er sich nun selbst auf die Ebene der aristotelischen Begrifflichkeit. Diese Schrift ist verloren, doch wissen wir genug von ihr, um ihren wesentlichen Inhalt beurteilen zu können: Simplicius beschäftigt sich an zwei Stellen seiner Aristoteleskommentare ausführlich mit ihr, nämlich im Kommentar zum ersten Buch von „De caelo“ und in dem zum achten Buch der „Physik“. Im Kommentar zu „De caelo“ behandelt er die ersten fünf Bücher der Schrift seines Gegners, die die Ewigkeit der Welt als solche zu widerlegen versuchen, im Physikkommentar ausschließlich das sechste Buch, das sich mit der philosophisch zentraleren Frage der Ewigkeit der Bewegung und der Zeit beschäftigt. Wir werden uns in dieser Arbeit nur mit dem zuletzt 3

Über ihn und seinen Zusammenhang mit der Schultradition vgl. insbesondere die ausgezeichnete Arbeit von Henri-Dominique Saffrey, Le chrétien Jean Philopon et la survivance de l’école d’Alexandrie au VIe siècle, in: Revue des études grecques 67, 1954, S. 396–410.

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genannten Teil der Kontroverse beschäftigen4; die Argumentationen im „De caelo“-Kommentar betreffen oft spezielle Fragen der Kosmologie, die geistesgeschichtlich wohl von hohem Interesse sind, aber für das grundsätzliche Problem weniger Bedeutung haben als die Erörterungen des sechsten Buches, wo die Frage nach der Ewigkeit in ihrem eigensten Bereich gestellt wird: nämlich im Bereich der spekulativen Erörterung der Bewegung und der Zeit. Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang noch zwei andere Tatsachen, die Philoponus einen festen Platz in der Geschichte der Natur­ wissenschaften sichern: Er ist nämlich ein Vorläufer der in der Entstehungs­ geschichte der neuzeitlichen Physik so wichtigen Impetustheorie. Sie geht aus einer Kritik der aristotelischen Theorie der Ortsbewegung hervor: Wird noch nach Aristoteles die bewegende Kraft dem Medium der Bewegung mitgeteilt, so wird nach Philoponus die bewegende Kraft unmittelbar dem Gegenstand der Bewegung mitgeteilt (dieser „Impetus“ erlischt dann mit der Zeit und die Bewegung kommt wieder zum Stehen)5. Auch noch in einer anderen Hinsicht nimmt Philoponus eine Mittelstellung zwischen aristotelischer und neuzeitlicher Physik ein: der Gedanke eines absoluten Raumes, der in der neuzeitlichen Physik so wichtig wurde, ist bei ihm bereits vorgebildet6. Es ist bezeichnend, wie Raumtheorie, Impetuslehre und christliche Theologie hier voneinander abhängig sind. Philoponus geht zunächst zwar von einer immanenten Kritik der aristotelischen Lehre vom Ort aus. Mit einem Ansatz eines absoluten homogenen, nicht mehr qualitativ bestimmten Raumes ist aber ein Verzicht auf die Grundlage der aristotelischen Dynamik, nämlich die Lehre von den natürlichen Örtern, verbunden. So zieht die Impetustheorie nur die dynamischen Konsequenzen der neuen Auffassung vom Raum. Streben aber die Dinge nicht mehr zu einem natürlichen Ort als dem Endpunkt ihrer Bewegung, so liegt die Annahme des Schöpfergottes, der den von ihm geschaffenen Dingen ihren Ort erst anweisen und ihre Bewegung erst mitteilen muss, für Philoponus natürlich besonders nahe. Es bleibt auffallend, dass an einem derartigen Wendepunkt in der Geschichte der Naturwissenschaft der erste christliche Aristoteliker steht; 4

Simpl. in Phys. 1129–1152, 1156–1169, 1171–1182, 1326–1336 Diels [H. Diels (ed.), Commentaria in Aristotelem Graeca (CAG) vol. X, Berolini 1895]; Stellenangaben ohne weitere Bezeichnung beziehen sich hinfort auf diesen Band. 5 Vgl. Pierre Duhem, Le système du monde. Histoire des doctrines cosmologiques de Platon a Copernic, Paris o. J. [1913], Bd. I, S. 380 ff. sowie Anneliese Maier, Die Impetustheorie der Scholastik, Wien 1940, S. 11 ff. 6 Vgl. hierzu jetzt Max Jammer, Concepts of Space, Cambridge (Mass.) 1954, S. ­52–56. [Vgl. auch vom Verf., Zur Raumtheorie des Johannes Philoponus, in: Festschrift für Joseph Klein z. 70. Geb., Göttingen 1967, S. 114–135.]

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freilich nicht ein Aristoteliker, der den Worten seines Meisters blind vertraut, sondern der seine eigene Stellung zu wahren bestrebt ist und gerade durch immanente Kritik die Fragen ihrer Beantwortung ein Stück weit näher bringen will.

II Wir werfen zunächst den Blick auf die Argumente des Aristoteles für die Ewigkeit von Bewegung und Zeit, an denen sich die Kontroverse orientiert. Sie finden sich im ersten Kapitel des achten Physikbuches. Erörtert wird die Frage der Ewigkeit der Welt zwar auch im ersten Buch von „De caelo“, doch findet sich dort kein positiver Beweis für die Ewigkeit der Welt; Aristoteles will dort in erster Linie nur zeigen, dass die Annahme, die Welt habe zwar einen zeitlichen Anfang, könne aber unbegrenzt dauern, zu Widersprüchen führt. Diese Argumentation richtet sich gegen das buchstäbliche Verständnis von Platons Timaiosmythos. So liegt das spekulative Schwergewicht auf den Beweisen für die Ewigkeit der Bewegung, die Aristoteles im achten Physikbuch gibt. Wir sprachen im vorigen Abschnitt davon, dass für das Bewusstsein der Spätantike die Lehre von der Ewigkeit der Welt zu den Kernstücken der griechischen philosophischen Überlieferung überhaupt gehört. Nun erklärt Aristoteles in De caelo A 10 (279b12), dass vor ihm kein Denker die Ewigkeit der Welt vertreten habe. Schon die Tatsache, dass er die Ewigkeit mit komplizierten Argumentationen zu beweisen unternimmt, spricht dafür, dass es sich nicht um eine fraglos übernommene Glaubensgewissheit handelt. Lässt sich dann überhaupt noch die Behauptung halten, dass diese Lehre zum Wesenskern des griechischen Denkens gehört? Man muss zunächst einmal anerkennen, dass es bei den Griechen sowohl mythische als auch – bei den Vorsokratikern – eine Fülle von philosophischen Kosmogonien gibt. In der Tat ist Aristoteles der erste Denker, der auf eine kosmogonische Theorie bewusst und ausdrücklich verzichtet, und das spätantike Bewusstsein von der Ewigkeit der Welt ist zunächst einmal zu einem guten Teil ein Stück aristotelischer Wirkungsgeschichte. Und dennoch kommt es nicht von ungefähr, dass die Ewigkeit der Welt als eine gemeingriechische Überzeugung gilt. Man muss sich nur vergegenwärtigen, welche Stellung Aristoteles seinen Vorgängern gegenüber einnimmt. Wenn er nämlich die Lehre seines Vorgängers kritisiert, dann handelt es sich fast nie darum, dass er lediglich eine dem Inhalt nach entgegengesetzte Behauptung aufstellen und begründen würde. Die von ihm an seinen Vorgängern geübte Kritik ist vielmehr eine immanente Kritik; sie will nur die Konsequenzen aus dem, was der Gegner immer schon zu-

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gestanden hat, ziehen, um aus der Unverträglichkeit dieser Konsequenz mit einer anderen Behauptung des Gegners diese andere Behauptung zu erschüttern7. Kurz, es geht Aristoteles bei seiner Kritik immer auch darum, die verborgenen gemeinsamen Grundlagen des Denkens seiner Vorgänger in den Blick zu bringen. Deswegen ist für ihn die Kritik der Vorgänger eine Aufgabe von nicht nur propädeutischem, sondern auch von eminent sachlichem Interesse; es wäre eine lehrreiche Aufgabe, einmal seine ganze Philosophie unter diesem Gesichtspunkt aus seinem Verhältnis zur Tradition zu interpretieren. Aristoteles als Denker, bei dem die gemeinsamen Voraussetzungen griechischen Denkens zur Selbstauslegung kommen: das erklärt den umfassenden Anspruch, mit dem seine Philosophie auftritt, ebenso wie die oftmals nicht zu verkennende Trivialität, die nur ein unkritischer und blind verehrender Aristotelismus übersehen kann. In diesem Sinne bringt Aristoteles mit seiner Lehre von der Ewigkeit der Welt nur eine der bis dahin nicht formulierten gemeinsamen Voraussetzungen des griechischen Denkens zum Bewusstsein. Damit hängt es zusammen, dass für den aristotelischen Ewigkeitsbeweis die Analyse der Bewegung und der Zeit so wichtig wird: Lässt sich nämlich zeigen, dass Bewegung und Zeit keinen Anfang haben können, sondern ewig sein müssen, so folgt hieraus auch die Ewigkeit der Welt; denn jede Bewegung setzt notwendigerweise ein Bewegtes voraus, deren Bewegung sie ist. Wer also eine ewige Bewegung oder eine ewige Zeit – wie fast alle Vorgänger des Aristoteles – zugibt, kann von diesen Voraussetzungen aus gezwungen werden, auch die Ewigkeit der Welt zuzugeben. Und wer einen periodischen Wechsel von Weltentstehung und Weltzerstörung annimmt, dem lässt sich aus der Einheit des Bewegungszusammenhangs zeigen, dass er noch nicht den angemessenen Weltbegriff hat: Beim periodischen Wechsel von „Weltent­stehung“ und „Weltzerstörung“ handelt es sich strenggenommen nur um innerweltliche Vorgänge, wenn man mit dem Gedanken der Einheit und Ewigkeit des Bewegungszusammenhanges ernst macht8. Auch der Gedanke des „ex nihilo nihil“, mit dem die Vorsokratiker die Geschichte des für uns verbindlichen Denkens begründeten, impliziert die Konsequenz, dass es keine wirkliche Kosmogonie geben kann, weil alles Entstehen immer als innerweltlicher Vorgang verstanden werden muss: Man muss das

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Die Regeln dieser Argumentationen sind die der dialektischen Praxis, wie sie Aristoteles selbst in der „Topik“ zusammengestellt hat. Es ist bemerkenswert, dass in Top. A 11 (104b8, 16) die Frage nach der Ewigkeit der Welt das Musterbeispiel für dialektische Probleme von ausschließlich theoretischem Wert ist. 8 Vgl. De caelo A 10, 280 a11 ff., wo Aristoteles zeigt, dass der periodische Wechsel von Weltentstehung und Weltzerstörung in Wahrheit nur als Zustandsänderung einer einzigen an sich ewigen Welt verstanden werden kann.

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Woraus des Entstehens schon immer mit zu der Welt gehören lassen, deren Entstehung erst erklärt werden soll. Aristoteles führt zwei Beweise für die Ewigkeit der Bewegung. Der erste Beweis (251a8–28) geht von der Definition der Bewegung aus, nach welcher sie ἡ τοῦ δυνάμει ὄντοϚ ἐντελέχεια ᾗ τοιοῦτον (vgl. auch 201a10) ist; in den Begriffen der traditionellen Ontologie: Bewegung ist die Wirklichkeit dessen, was nur der Möglichkeit nach ist, aber gerade insofern es ein solches ist (nämlich ein der Möglichkeit nach Seiendes). Bei jeder Bewegung ist logisch wie zeitlich eine Sache vorausgesetzt, die bewegt werden kann, aber noch nicht wirklich bewegt wird. Dieses Bewegliche, das vorausgesetzt werden muss, hat nun aber entweder ewig geruht oder es ist selbst geworden. Im letzteren Falle wäre die Voraussetzung einer „ersten“ Bewegung bereits aufgehoben, da das Werden des ersten Beweglichen selbst wieder eine Bewegung ist (dieser Gedankengang lässt sich beliebig iterieren). Wenn man aber ein vorher ewig ruhendes Bewegliches voraussetzt, muss man ein erstes Bewegendes annehmen, das sich dadurch, dass es zu bewegen beginnt, auch selbst wandelt. Auch in diesem Falle liegt jeder „ersten“ Bewegung immer noch eine weitere vorauf und man kommt auch auf diesem Wege zu einer unendlichen Bewegungskette. Der Beweis beruht also auf dem Gedanken, dass man, wenn man überhaupt Bewegung zu denken versucht, sie notwendigerweise als ewige Bewegung annehmen muss: Ein Anfang der Bewegung wäre daher nicht widerspruchsfrei zu denken möglich. Der zweite Beweis geht auf die Unendlichkeit der Zeit (251b10–28). Die Zeit war (219b2) als Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Frühere und Spätere bestimmt worden (ἀριθμὸϚ κινήσεωϚ κατὰ τὸ πρότερον καὶ ὕστερον). Ist aber die Zeit ewig, muss auch die Bewegung ewig sein. Dieser zweite Beweis ist charakteristisch für das Verhältnis des Aristoteles zur philosophischen Tradition: Er stellt zunächst ausdrücklich fest, dass die Zeit für alle Denker ewig ist (ὁμονοητικῶϚ ἔχοντεϚ φαίνονται πάντεϚ· ἀγένητον γὰρ εἶναι λέγουσιν 251b14) – ausgenommen natürlich Platon, der im „Timaios“ von einer Entstehung der Zeit spricht. Dieses Zugeständnis genügt Aristoteles. Denn aus der Ewigkeit der Zeit kann man auf die Ewigkeit der Bewegung und der Welt schließen. Jede Bewegung setzt nämlich schon eine Welt von bewegenden und beweglichen Dingen voraus. Wenn die Vorgänger trotz ihrer Einsicht in die Ewigkeit der Zeit noch nicht zur Einsicht in die Ewigkeit der Welt gelangten, so deswegen, weil bei ihnen noch ein wichtiges gedankliches Mittelglied fehlt. Dieses Mittelglied ist die Reflexion auf die spezifische Seinsweise der Zeit (die Aristoteles als erster vollzogen hat). Dass die Zeit nicht eine selbständige Macht oder ein von der Welt unabhängiges Wesen ist, sondern eine Ordnungsform, von der man sinnvoll nur im Hinblick auf zeitliche Dinge reden kann, hat erst Aristoteles gezeigt. – Aristoteles führt auch einen direkten Ewigkeitsbeweis aus dem Begriff der

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Zeit: Zu jeder Zeit gehört ein „Jetzt“ (νῦν); es ist das einzige, was man an der Zeit fassen kann. Es ist Grenze und Mitte, d. h. jedes Jetzt ist immer zugleich Ende eines vorhergehenden und Anfang eines folgenden Zeit­ abschnittes. In jedem dieser Abschnitte können wir aber ein weiteres Jetzt herausgreifen und dieser Prozess ist wieder beliebig iterierbar. Also ist die Zeit ewig und mit ihr die Bewegung. Es ergibt sich eine Schwierigkeit, wenn man an die Theologie des Aristoteles denkt. Wie verträgt sich der Beweis für die Ewigkeit der Bewegung mit dem Beweis für die Existenz eines ersten unbewegten Bewegers, wie er im zwölften Metaphysikbuch geführt und im achten Physikbuch vorbereitet wird? Der Beweis für den unbewegten Beweger arbeitet ja ebenfalls mit dem Gedanken des Bewegungszusammenhangs, kommt aber doch gerade zu seinem Ergebnis auf Grund der Voraussetzung, dass sich die Bewegungskette nicht ins Unendliche fortführen lässt. Warum kann Aristoteles im einen Fall die Annahme eines unendlichen Regresses fordern, im anderen Fall dagegen bekämpfen? Für Aristoteles besteht in dieser Hinsicht kein Widerspruch, denn der Beweis für den unbewegten Beweger berücksichtigt gar nicht den über die Zeit hin erstreckten Bewegungszusammenhang, sondern nur das momentane Entsprechungsgefüge der aufeinander einwirkenden Dinge. Es ist kein Zufall, dass Aristoteles diesen momentanen Zusammenhang (in Phys. Θ 5) gerade am Beispiel des Werkzeuggebrauchs verdeutlicht. Nur bei diesem momentanen Zusammenhang lehnt er den unendlichen Regress ab, aber nicht bei dem über die Zeit erstreckten Zusammenhang. Mit anderen Worten: nur die Annahme von zugleich vorliegendem, d. h. aktual Unendlichem, führt zu Widersprüchen; eine zeitliche Erstreckung ins Unendliche ist jedoch niemals aktual unendlich, eben weil diese Reihe niemals zugleich vorliegen kann. So wird es verständlich, dass für Aristoteles der Gedanke der Kreisbewegung so wichtig wird. Die Kreisvorstellung vermittelt nämlich die Annahme eines zeitlich unbegrenzten Bewegungszusammenhangs mit der Annahme einer endlichen Anzahl von Bewegungsursachen. Aristoteles hat ja auch den ersten Beweger nicht unmittelbar aus dem innerweltlichen Bewegungszusammenhang bewiesen, sondern über die Zwischenstufe des ewig kreisförmig bewegten Himmels9. Erst von hier aus wird auf die Existenz eines unbewegten Bewegers geschlossen. Zwischen der zeitlichen Unendlichkeit des Bewegungszusammenhangs und der Annahme eines ersten Bewegers besteht somit in Wahrheit kein Widerspruch. 9

Vgl. hierzu die wichtige Abhandlung von Klaus Oehler, Der Beweis für den unbewegten Beweger bei Aristoteles, in: Philologus 99, 1955, S. 70 ff. [= ders., Der unbewegte Beweger des Aristoteles, Frankfurt a. M., 1984, S. 40 ff.].

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III In der Kontroverse, mit der wir uns beschäftigen, fällt zunächst der ungemein heftige und überhebliche Ton des sonst immer sehr zurückhaltenden und gelehrten Simplicius auf. Er bezeichnet die Ausführungen seines Gegners gelegentlich einmal als Kehricht, den er über das Laienpublikum ausschüttet (1129,29; 1179,28), wirft ihm Großsprecherei und Streitsucht vor (1156,34; 1160,10), unterstellt ihm, manche Argumentation nur geführt zu haben, um sein Werk aufzublähen (1130,5), um so auf das Laienpublikum Eindruck zu machen (1118,1). Die Einführung der Argumente des Gegners wird oft von verächtlichen Bemerkungen begleitet: So heißt es bei einer bestimmten Argumentation, sie übersteige bereits den Verstand des Gegners (1162,6). Simplicius entschuldigt sich sogar noch bei seinen Lesern dafür, dass er ihnen solche Dinge überhaupt zumutet. Denn in seinem eigenen Urteil schreibt er für die Gebildeten, die eine solche Belehrung eigentlich gar nicht nötig hätten; gleichwohl scheint ihm eine gründliche Auseinandersetzung notwendig zu sein, weil, wie er sagt, Philoponus gerade dem Ungebildeten mit seinen Theorien sehr gefällt. Simplicius vertritt in diesem Streit die Belange der Schulorthodoxie: Das zeigt sich auch darin, dass er sich nur mit der Schrift des Philoponus, die sich gegen die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt richtet, beschäftigt und die Antiproclusschrift nicht berücksichtigt. Die Heftigkeit der Argumentation des Simplicius lässt sich aus dem Gegensatz in der Sache allein kaum hinreichend erklären. So könnte gerade die Tatsache, dass Simplicius so ausdrücklich versichert, dass er keine Feindschaft zu Philoponus habe (im De caelo-Kommentar 26,18) ein Hinweis darauf sein, dass auch persönliche Gründe bei dieser Auseinandersetzung mitspielen10. Wer allzu deutlich erklären muss, dass ihn nur das Interesse an der Sache selbst leite, beweist damit das Gegenteil. – Wir können im Zusammenhang dieses Aufsatzes die Argumentation der beiden Gegner nicht in ihrem ganzen Umfang behandeln, sondern wählen aus der umfangreichen Diskussion einige wenige Beispiele aus. Es geht Philoponus zunächst einmal darum, die aristotelische Position zu erschüttern. Zu diesem Zweck sucht er in den aristotelischen Argumentationen innere Widersprüche nachzuweisen. Man beachte hier die typisch rhetorische Argumentation, die die Voraussetzungen des Gegners – auch wenn sie inhaltlich nicht akzeptiert werden – zunächst einmal zugesteht, 10

Alfred Gudemann äußert in seinem RE-Artikel über Philoponus (IX 2, Sp. 1766 f.) die gut begründete Vermutung, dass der Streit um die Nachfolge des Ammonius in der Leitung der Schule zu Alexandrien hier eine wichtige Rolle spielt.

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um dann den Gegner durch den Aufweis von Unverträglichkeiten unter diesen Voraussetzungen ad absurdum zu führen. Philoponus versucht zunächst (1130,7 ff.) zu zeigen, dass aus der Bewegungsdefinition noch nicht, wie Aristoteles glaubt, die Ewigkeit der Bewegung folgt. Zu diesem Zweck gesteht er Aristoteles zunächst einmal die Existenz einer ewigen Bewegung zu. Aristoteles kennt nämlich – so stellt Philoponus fest – sowohl ewige als auch begrenzte Bewegungen. Jede Definition muss aber nun im gleichen Sinne von allen Gegenständen gelten, die unter sie fallen. Würde die Bewegungsdefinition nun aber auch für die ewigen Bewegungen (also die Kreisbewegungen des Himmels und der Gestirne) gelten, so müsste es etwas geben, was auch der ewigen Bewegung noch vorausliegt (προϋπάρχει), wenn die Bewegungsdefinition verlangt, dass jeder Bewegung ein Bewegliches vorhergeht. Das ist aber ein Widerspruch: Der Himmel müsste seiner eigenen – ewigen – Kreisbewegung zeitlich vorausliegen. Dann könnte aber jene ewige Bewegung, von der wir ausgegangen waren, in Wahrheit gar nicht ewig sein – was gegen die Voraussetzung wäre. Auch die andere Möglichkeit, dass die Bewegungsdefinition nur von der zeitlich begrenzten Bewegung gilt, ist gegen die Voraussetzung: die Definition der Bewegung sollte ja für alle Bewegungen gleichermaßen gelten. – Damit ist nun freilich noch nicht die zeitliche Begrenzung aller Bewegung bewiesen, aber Philoponus glaubt doch, wenigstens den ersten aristotelischen Beweis dadurch zu entkräften, dass er zeigt, warum es nicht möglich ist, den Gedanken einer ewigen Bewegung mit den begrifflichen Mitteln des Aristoteles widerspruchsfrei zu denken. Simplicius will dagegen die Konsequenz der aristotelischen Argumentation retten (1131,9 ff.): Er gibt zunächst seinem Gegner zu, dass in der Tat die Bewegungsdefinition von jeder Bewegung, der ewigen und der zeitlichen, gelte. Nur sei das Vorhergehen des Beweglichen, das die Bewegungsdefinition fordert, bei der unbegrenzten ewigen Bewegung anders als bei der begrenzten zu verstehen: Bei demjenigen, dessen Bewegung einen Anfang und ein Ende hat, ist das Bewegliche auch dann noch da, wenn gerade Ruhe herrscht. Bei der ewigen Bewegung genügt es dagegen schon, dass immer der eine Bewegungszustand dem anderen vorhergeht. Simplicius verdeutlicht dies am Beispiel des Sonnenlaufs im Tierkreis: Wenn die Sonne im Widder steht, ist sie der Möglichkeit nach (δυνάμει) im Stier: Die Sonne im Widder ist also das Bewegliche, das der Bewegung – hier also der Sonne im Stier – vorhergeht. Das Voraufliegen (προϋπάρχειν) des Beweglichen soll also bei der ewigen Kreisbewegung immer nur das Bewegliche im jeweils vorhergehenden Bewegungsabschnitt meinen. Ein weiteres Argument des Philoponus gegen den aristotelischen Beweisgang geht von der Lehre von den natürlichen Bewegungen aus (1133,16 ff.). In demselben Augenblick, in dem das natürliche Ding entsteht, kommt ihm

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auch schon seine natürliche Bewegung zu. Folglich liegt der Bewegung natürlich bewegter Dinge nichts vorauf: In dem Augenblick, in dem das Feuer entsteht, kommt ihm auch schon seine natürliche Bewegung nach oben zu. Hier hat es Simplicius leichter mit seiner Entgegnung: Er kann darauf hinweisen, dass auch die Elemente, von deren natürlicher Bewegung die Rede ist, zunächst einmal entstehen müssen, und zwar nach Aristoteles wechselseitig auseinander: damit ist aber bereits der endlose Bewegungsregress gegeben. Dies ist ein hin und her gehendes dialektisches Spiel mit den aristo­ telischen Grundbegriffen, das beide Partner kunstvoll beherrschen und das doch für die Sache wenig hergibt; es kommt zu keinem Ergebnis, weil beide Partner die aristotelischen Prinzipien nach je verschiedenen Richtungen hin differenzieren. Von größerem sachlichen Interesse ist das Argument des Philoponus, die Behauptung, die Bewegung habe keinen Anfang, könne nur bewiesen werden, wenn der vielzerredete Grundsatz der Physiker (πολυθρύλητον ἀξίωμα 1140,13 f.) richtig ist, dass nichts aus dem, was in keiner Weise ist, entstehen kann. Aristoteles erhält deswegen einen Tadel, weil er dieses πολυθρύλητον ἀξίωμα in seiner Beweisführung nicht verwendet hat. Wohl hat Simplicius recht, wenn er entgegnet, dass Aristoteles nicht von den allgemeinsten, sondern immer von den konkretesten Voraussetzungen ausgeht, die in der jeweiligen Erörterung gerade noch möglich sind. Der Behauptung des Philoponus kommt freilich insofern eine besondere Bedeutung zu, als es in jenem Satz in der Tat um diejenigen gemeinsamen Grundlagen des griechischen Philosophierens geht, die auch in Aristoteles’ Lehre von der Ewigkeit der Welt vorausgesetzt sind. Doch dieser Satz ist, wie Philoponus glaubt, nicht schwer zu widerlegen. Dass der Satz „ex nihilo nihil“ zwar für die lebendige Natur, nicht aber für Gott, der auch die Materie geschaffen hat, gilt (1141,11), ist für den Christen Philoponus, der hier auf die populäre Antiproclusschrift zurückgreift, selbstverständlich. Schwerer wiegt indes ein spekulatives Argument. Philoponus nützt hier geschickt eine Schwierigkeit der aristotelischen Metaphysik aus, wenn er zeigen will, dass nicht nur Gott, sondern in gewisser Weise auch Kunst und Natur ihre Gegenstände aus dem Nichts hervorbringen (1142,4 ff.). Er geht dabei von den Grundbegriffen der aristotelischen Prinzipienlehre, Form und Stoff (εἶδοϚ, ὕλη), aus. Aristoteles hatte die Prinzipienbegriffe aus einer Analyse des Werdens gewonnen: Jedes Werden eines Dinges lässt sich als Formung eines schon vorliegenden Stoffes, der diese Form noch nicht hat, verstehen und jede Veränderung eines Dinges ist ein Wechsel von Eigenschaften an einem beharrenden Substrat. Welche Rolle spielt aber nun die Form (εἶδοϚ) im Werdeprozess? Sie hält sich nicht durch wie der Stoff, sondern ist ja bei allem Vergänglichen nur eine bestimmte Zeit anwesend. Aber wenn auch die Form beim Werden und Vergehen der Dinge auftaucht und

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wieder verschwindet, kann man dennoch nicht in Hinsicht auf sie selbst von einem Werden und Vergehen sprechen: Wenn sie auftaucht, dann „entsteht“ sie nicht aus irgendeinem schon vorliegenden Stoff; und ähnlich ist es beim Vergehen. Woher kommt aber dann die Form, die zwar in der Zeit auftaucht und verschwindet, aber doch nicht wie die Dinge selbst dem Werden unterworfen ist? Philoponus nimmt dies als Beweis für die Möglichkeit einer generatio ex nihilo (so interpretiert er das Auftauchen der Formen im Werdeprozess) und gibt eine Erklärung anhand der Beispiele von Farbe und Figur, die beide nicht „aus“ etwas Vorliegendem entstehen11. Man muss sehen, dass Philoponus hier eine spekulative Schwierigkeit der aristotelischen Philosophie geschickt ausnutzt. Sie entsteht, sobald man in der realen Welt der Veränderung ewige Formen ansetzt: In welcher Weise kann man im Hinblick auf die ewigen Formen von Bewegung und Wechsel sprechen?12 Diese Schwierigkeit hat Aristoteles nicht ganz bewältigt und es ist bezeichnend, dass Philoponus gerade an einer solchen Stelle ansetzt, um die Lehre von der generatio ex nihilo noch im Rahmen der aristotelischen Begrifflichkeit zu begründen. Die Erwiderung des Simplicius stützt sich auf den aristotelischen Begriff der στέρησιϚ, die Ewigkeit der εἴδη und die Lehre, dass alles Werden aus Gegensätzen geschieht. Doch seine Replik überzeugt wenig, da er auf die Schwierigkeiten der εἶδοϚ-Problematik, die Philoponus ausnützt, nicht eingeht und so der aristotelischen Lehre voreilig eine systematische Geschlossenheit zuspricht, die ihr in Wahrheit gar nicht zukommt. Die Kritik, die Philoponus an dem aristotelischen Beweis aus dem Begriff des Jetzt (νῦν als Grenze von Früher und Später) übt, lässt den neuplatonischen Hintergrund der Kontroverse sichtbar werden (1157,4 ff.). Er gibt sich zunächst über die Voraussetzungen Rechenschaft: 1. die Zeit steht, da sie als Bewegungszahl definiert ist, wenn man vom Körper ausgeht, nur auf der dritten bzw. vierten Seinsstufe (σῶμα – κινητικὴ δύναμιϚ – κίνησιϚ – χρόνοϚ); d. h. jede bewegende Kraft setzt als Träger einen Körper voraus, Bewegung eine bewegende Kraft, Zeit aber eine Bewegung. 2. Die geistigen Wesenheiten (νοεραὶ οὐσίαι) sind aller Körperlichkeit enthoben. 3. Das Jetzt (νῦν) gehört, da es unteilbar ist, zu den einfachen Dingen, hinsichtlich deren nach der aristotelischen Lehre von der Wahrheit kein Irrtum möglich ist, sondern nur Kennen und Nichtkennen, Erfassen oder Verfehlen13. Einer vermittelten Erkenntnis sind diese einfachen Dinge weder bedürftig noch fähig. Nun kann aber der (intuitiv erkennende) Geist (νοῦϚ) nicht alle Dinge 11

Vgl. hierzu auch 1173,30 ff.; 1177,25. Zu diesem Problem vgl. bei Aristoteles besonders Met. Z 8, 1033b5; H 3, 1043b14; H 5, 1044b2; Λ 3,1069b35; Phys. E 1, 224b10; E 5, 229b10. 13 Vgl. Arist. Met. Θ 10, 1051b17 ff. 12

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zugleich erfassen, (das wäre nur dem göttlichen Geist möglich), doch von ihm will Philoponus, wie er betont, hier nicht reden, sondern nur von dem ihm nachgeordneten Geist – εἴτε ἀγγελικὸϚ εἴη εἴτε ψυχικὸϚ εἴτε ὁποιοσοῦν ἄλλοϚ. Er ist also notwendig diskursiv – und zwar auch im Blick auf die Erkenntnis des Unmittelbaren, da er ja von einem Denkinhalt zum anderen übergehen muss. Aus diesen Voraussetzungen schließt Philoponus, dass der Geist, wenn er schon nichts Körperliches ist, noch viel weniger etwas mit Bewegung oder Zeit gemein haben kann. Wenn er andererseits seine Gegenstände niemals alle zugleich denken kann, so gibt es in seinem Denken frühere und spätere Denkinhalte, aber eben nicht im zeitlichen Sinn. Auch wenn die Zeit (wie bei Platon) mit dem Himmel entstanden ist, wird man, wenn man von allen Körpern absieht, auch von aller Zeit absehen müssen, nicht jedoch vom Geist. Die Tätigkeit des Geistes ist diskursiv (μεταβατικῶϚ), auch dann, wenn es gar keine Zeit gäbe. Das „Früher“ und „Später“, von dem wir in Hinblick auf den diskursiven Geist sprechen, darf also nicht im zeitlichen Sinn verstanden werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, auch Gott selbst noch in die Zeit hinabzuziehen. Wohl ist unsere ganze Redeweise zeitlich geprägt. Aber deswegen braucht noch nicht mit zeitlichen Rede­weisen immer nur Zeitliches gemeint zu sein. Wenn man von Überzeitlichem redet, muss man sich immer der Vorläufigkeit unserer zeitlich bestimmten Ausdrucksweise bewusst sein. Philoponus will mit dieser Argumentation zeigen, dass Aristoteles aus dem Grenzcharakter des Jetzt (als Mitte zwischen Früher und Später) zu Unrecht eine ewige Zeit (und damit eine ewige Bewegung und eine ewige Welt) bewiesen zu haben glaubt, wenn noch die Möglichkeit offen ist, ein unzeitliches Früher und Später anzunehmen. So verteidigt Simplicius als Gegenthese den Satz, dass auch das Früher und Später, von dem Philoponus spricht, gar nicht anders als zeitlich verstanden werden kann. Er entwickelt die Schwierigkeiten, die in dem Begriff eines zwar diskursiv, aber unzeitlich erkennenden Geistes liegen (1160,4): Wenn man schon davon spricht, dass der Geist nicht zwei Denkinhalte zugleich erfassen könne, sondern vom einen zum anderen übergehen müsse, so ist nicht einzusehen, welchen anderen als eben zeitlichen Sinn man hier mit den Bestimmungen des Früher und Später verbinden soll, zumal das „Übergehen“ doch eine Bewegung ist. Wohl kann man von Früher und Später auch noch in einem anderen als zeitlichen Sinn reden, wie die Kategorienlehre zeigt14. Doch die beiden nichtzeitlichen Bedeutungen des Früher, die Simplicius berücksichtigt (πρῶτον φύσει καὶ οὐσίᾳ und πρῶτον θέσει) passen nicht auf die Diskursivität des Geistes. Kurz: wer Diskursivität voraussetzt, muss auch 14

Cat. 12, 14a 26 ff.; Met. Δ 11, 1018b 9 ff.

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ihre Zeitlichkeit anerkennen, denn die Diskursivität ist eine bestimmte Bewegungsform. – Die Argumentation, die Simplicius aus diesem Grundgedanken entwickelt, ist dialektisch: Er will zeigen, dass Philoponus seiner eigenen Voraussetzung der Diskursivität des Geistes widerspricht, wenn er ihn (und auch Gott) aller Beziehung zur Zeit enthebt. Er überprüft lediglich die Konsequenz der Folgerungen; dass in Wahrheit die Tätigkeit des Geistes gar nicht diskursiv sei (ἀμετάβατοϚ 1162,6), spricht er wohl aus, er lässt sich indes nicht darauf ein, diesen Ansatz auszuführen – weil dies, wie er sagt, weit über seinen (sc. des Philoponus) Verstand gehe. Mit Argumenten, die zu den eben betrachteten parallel gehen, wird die Auseinandersetzung über das Verhältnis Gottes zur Zeit (1162,12 ff.) geführt. Wir gehen darauf hier nicht näher ein, ebenso wenig auf die Auseinandersetzung über den aristotelischen Beweis der Ewigkeit der Zeit aus dem allgemeinen consensus der Philosophen (1164,7 ff.) (Philoponus verteidigt hier natürlich die große Ausnahme Platon), und auf diejenige über die Vergänglichkeit der Bewegung (1171,30 ff.), sondern betrachten den positiven Beweis, den Philoponus für die zeitliche Endlichkeit der Welt gibt. Hatten die bisherigen Argumentationen nur den Zweck, die aristotelischen Beweise für die Ewigkeit der Welt als fehlerhaft zu entlarven, so soll hier bewiesen werden, dass Zeit und Bewegung notwendig einen Anfang haben müssen. Auch hier formuliert Philoponus zunächst Axiome (1178,9 ff.): 1. Wenn A notwendig B zu seiner Entstehung voraussetzt, kann A nicht entstehen, wenn nicht vorher B entstanden ist. 2. Eine unendlich große Zahl gibt es nicht, d. h. man erreicht beim Zählen niemals ein Unendliches; ferner kann ein Unendliches weder vergrößert noch vermehrt werden. 3. Wenn zu der Entstehung einer Sache eine unendliche Reihe von Bedingungen nötig ist, dann ist es unmöglich, dass sie entsteht. – Diese Voraussetzungen habe ja schon Aristoteles selbst anerkannt bei seinem Beweis15, dass die Elemente unmöglich unbegrenzt an Zahl sein können, wenn man davon ausgeht, dass sie wechselseitig auseinander entstehen. – Philoponus entwickelt seinen Beweisgang am Beispiel des Feuers: Damit eine bestimmte Bewegung des Feuers entstehen kann, müssen andere Bewegungen vorhergehen, bei der das Feuer aus Luft entsteht, die Luft wiederum aus Wasser und so fort. Man müsste nun aber unbegrenzt viele Bewegungen voraussetzen, damit ein bestimmtes Feuer entstehen kann, wenn nicht die Welt und der Wandel der Dinge einen Anfang hat. Muss man aber für die Entstehung dieses gegenwärtigen Feuers eine unendliche Reihe von Bedingungen annehmen, so ist sie nach den Axiomen unmöglich. Folglich muss es eine erste Bewegung gegeben haben, wenn überhaupt das gegenwärtige Feuer entstehen konnte. 15

Vgl. De gen. et corr. B 5, 332b30 ff.

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Man beachte, dass Philoponus auch hier ganz mit aristotelischen Denkmitteln arbeitet. Er nimmt einen Gedankengang, mit dem Aristoteles die Unmöglichkeit von Unbegrenztem beweist, aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus und wendet ihn auf ein Problem an, auf das ihn Aristoteles selbst gerade nicht angewandt hatte – nämlich auf die Frage nach der Ewigkeit der Welt. Den unbegrenzten Regress im zeitlichen Zusammenhang der Bewegungen, den Aristoteles unbedenklich vollzieht, bekämpft er (der Form nach) mit den Argumenten, mit denen Aristoteles die Annahme der Existenz aktual unendlich vieler Elemente bekämpft. Freilich – in dieser Übertragung zeigt sich ein Gestaltwandel des Denkens, von dem noch zu reden sein wird. Zwei weitere Argumente des Philoponus benützen die Paradoxien des Unendlichkeitsbegriffs: Wenn man den bisherigen Bewegungen diejenigen, die noch entstehen, hinzufügt, vermehren sie deren Zahl; da aber Unbegrenztes nicht vermehrt werden kann, ist es unmöglich, dass die bisherigen Bewegungen zeitlich unbegrenzt sind. Ähnlich geht das Argument aus der Ungleichmäßigkeit der Sphärenbewegung des Himmels: Wenn die Umschwünge der einen Sphäre ein Vielfaches der der anderen ausmachen, die Anzahl dieser Umschwünge indes unendlich groß ist, würden die Umschwünge der ersten Sphäre der Zahl nach ein Vielfaches des Unendlichen sein. Diese Konsequenz ist aber für Philoponus absurd, wenn man noch nicht einmal das „einfache“ Unbegrenzte durchschreiten kann. Daher, so schließt er, muss auch die kreisförmige Himmelsbewegung einen Anfang haben. Wenn die Welt, die Bewegung und die Zeit unendlich wären, hätte der gegenwärtige Zustand, weil er von unendlich vielen Bedingungen abhinge, niemals erreicht werden können – folglich muss die Welt einen Anfang haben16. Das ist der Grundgedanke der Argumentation des Philoponus, und die Kritik des Simplicius beschäftigt sich nur noch mit dem Begriff vom Unendlichen, von dem Philoponus ausgeht (1179,27 ff.). So gibt er seinem Gegner die Axiome zunächst zu, bestreitet aber, dass der Begriff des Unendlichen, über den die Axiome Aussagen machen, für die vorliegende Frage relevant ist. Denn es handelt sich bei Zeit und Bewegung, wie Simplicius glaubt, nicht um eine aktual unendliche Zahl oder Größe (κατ’ ἐνέργειαν καὶ κυρίωϚ ἄπειρον) – dann wäre die Argumentation des Philoponus in der Tat unanfechtbar – sondern lediglich um die Möglichkeit, über 16

Es ist bemerkenswert, dass Aristoteles eine ähnliche Argumentation auch einmal beim Bewegungsproblem führt, ohne sie freilich auf das kosmologische Problem anzuwenden: in Phys. E 2, 225b33 ff. dient das Argument nämlich dazu, die Iteration des Bewegungsbegriffs (Bewegung der Bewegung) auszuschließen. In Phys. Θ taucht allerdings diese Argumentationsstruktur nicht auf. Es kann dahingestellt bleiben, ob eine entwicklungsgeschichtliche Interpretation hier unumgänglich ist.

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jede beliebige Grenze immer noch hinauszugehen. Eine Aussage über den Weg als Ganzes lässt sich aber nicht machen, weil er niemals als Ganzes gegeben ist. So ist dies ἐπ’ ἄπειρον προΐον kein ἄπειρον im eigentlichen Sinn; es ist ja für dieses „Weitergehen ins Unendliche“ charakteristisch, dass „das“ Unendliche niemals erreicht wird. Deswegen – so schließt Simplicius – sind die Axiome des Philoponus hier, wo es nicht um ein gegenwärtiges Zusammenvorliegen von Unendlichem geht, nicht anwendbar. So weit man auch jenen „Weg ins Unbegrenzte“ gehen mag: man bleibt immer im Begrenzten. Die Zeit ist somit nicht schlechthin unbegrenzt, sondern nur in gewisser Hinsicht: Das Jetzt (νῦν), von dem aus wir in die Zeitreihe zurückgehen, setzt der Zeit eine Grenze. Simplicius sucht also gegenüber der Argumentation des Philoponus, deren relative Berechtigung er anerkennt, die zeitliche Unendlichkeit der Welt durch eine Einschränkung des Unendlichkeitsbegriffs zu retten. Man vermeidet die begrifflichen Schwierigkeiten des ἄπειρον, wenn man nur ein ἐπ’ ἄπειρον προΐον annimmt. Aus dem Vorliegen eines ἐπ’ ἄπειρον lässt sich jedoch niemals – darauf legt Simplicius großen Wert – logisch auf ein ἐνεργείᾳ ἄπειρον schließen. Es ist bezeichnend, wie Simplicius die Stelle aus „De generatione et corruptione“, die Philoponus im analogen Sinne für seine Argumentationen herangezogen hatte, deutet. Aristoteles will, wie Simplicius zu zeigen sucht, gar nicht sagen, dass die Voraussetzung eines unendlichen Regresses bei den Elementarprozessen zu der Annahme zwingen würde, dass der Prozess der Elementarumwandlung unmöglich ist. Der unendliche Regress zwingt nach Simplicius nur zu der Annahme eines immerwährenden Kreislaufs endlich vieler auseinander entstehender Elemente. Dabei handelt es sich um einen Kreislauf von Gestalten (εἴδη): Gäbe es unbegrenzt viele Gestalten, so wären Definitionen und Erkenntnis überhaupt unmöglich: man könnte keine spezifischen Unterschiede mehr bestimmen. Zu diesen Schwierigkeiten käme man, wollte man das unbegrenzte Auseinander-Entstehen der Elemente im Sinne eines eidetischen linearen Zusammenhangs verstehen. Der Kreislaufgedanke, auf den Simplicius hier so großen Wert legt, kann diese Schwierigkeiten umgehen und lässt zudem die Annahme der zeitlichen Unbegrenztheit der Welt unangetastet17. Daher liegt – wie Simplicius seine Polemik beschließt, im Begriff 17

Der Gedanke, dass ein Unbegrenztes im Sinne des ἐπ’ ἄπειρον auch dann möglich ist, wenn nur Begrenztes vorausgesetzt ist, liegt auch der Polemik zugrunde, die Simplicius an einer späteren Stelle (1326,38 ff.) gegen die These des Philoponus führt, nach welcher schon aus dem Grundsatz, dass keinem begrenzten Körper, also auch nicht dem Himmel, unbegrenzte Kraft (δύναμιϚ) zukommen kann (bei Arist. Phys. Θ 10, 266a24 ff.) die zeitliche Endlichkeit der Bewegung folgen soll. Simplicius ist ungehalten darüber, dass Philoponus offenbar glaubt, Aristoteles könne nicht einmal in einem einzigen Buch Widersprüche unter seinen Voraussetzungen vermeiden: Zu Beginn wolle er beweisen, dass es immer Be-

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der unbegrenzten Zeit gar nicht die Paradoxie, die Philoponus in ihm zu finden glaubt: Die Größen, um die man immer noch eine gegebene Größe vermehren oder vervielfachen kann, vermehren oder vervielfachen niemals eine unendliche Größe, sondern immer nur eine endliche: Wenn man eine endliche Größe auch ins Unendliche weiter vermehrt, so gelangt man deswegen doch niemals zu einer aktual unendlichen Größe.

IV Bei der Kontroverse, aus der wir einige Stücke vorgeführt haben, handelt es sich um eine Schulstreitigkeit – allerdings von einer ungewöhnlichen spekulativen Höhe. Es stehen sich zwei Partner gegenüber, die dieselbe Sprache reden und mit denselben begrifflichen Mitteln ihr Problem erörtern. Die Schärfe, in der die Diskussion geführt wird, kann man erst würdigen, wenn man die vielen in der Schultradition begründeten Gemeinsamkeiten im Auge behält. Wenn auch die Problemstellung nicht von der Tatsache unabhängig ist, dass Simplicius als Heide argumentiert und Philoponus als Christ, so handelt es sich doch nicht um einen Kampf „weltanschaulicher“ Gegensätze oder um einen „Einbruch“ des Christlichen in die antike Tradition. Wenn man gelegentlich missionarischen Eifer findet, dann doch nur auf der Seite des Simplicius. Die Tatsache, dass Philoponus als Christ argumentiert, ist inhaltlich recht wenig von Bedeutung: gelegentlich ein Hinweis auf die Genesis (1166,22; 1174,24) und eine versteckte Anspielung auf die Christen (1179,29). Damit sind die spezifischen christlichen Inhalte aber auch schon erschöpft und es ist bezeichnend, dass diese Anspielungen noch zu Simplicius’ Anteil an der Diskussion gehören und sich nicht unmittelbar auf die Schrift des Philoponus gegen Aristoteles beziehen. Freilich kommt in der Diskussion gelegentlich einmal die Idee des Schöpfergottes zur Sprache. Aber auch bei der Entfaltung der Problematik dieses Begriffs finden wir ausschließlich Denkmittel, die aus der aristotelischen Tradition stammen18. Gerade darin liegt ja die Bedeutung von Philoponus, dass er die aristotelische Begrifflichkeit und Denkweise in die christliche Theologie wegung geben müsse, hier aber sei ihre begrenzte Kraft ein Hinweis auf die Vergänglichkeit der Welt, und im an die „Physik“ anschließenden ersten Buch von „De caelo“ vertrete er wieder die Unvergänglichkeit. Simplicius fragt entrüstet, was für ein Chamäleon solcher Wandlungen fähig sei, wie sie Aristoteles von Philoponus unterstellt werden (1329,5)! 18 Man muss beachten, in welchem Sinne der Schöpfergedanke für Philoponus bereits der Schultradition angehören konnte: Von seinem Lehrer Ammonius wissen wir, dass er – im Rahmen der Platon-Aristotelesharmonistik – in einem Buch die These verteidigte καὶ ποιητικὸν αἴτιον ἡγεῖσθαι τὸν θεὸν τοῦ παντὸϚ κόσμου τὸν Ἀριστοτέλη (Simpl. in Phys. 1363,9 Diels).

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einführt. Dass er inhaltlich an Aristoteles Kritik übt, fällt gegenüber dieser Tatsache nicht ins Gewicht19. Gerade dadurch bindet er sich an die griechische Tradition, dass er versucht, sie aus sich selbst heraus zu überwinden. Der neuzeitliche Betrachter wird sich vielleicht über das Fehlen aller spezifisch christlichen Elemente bei Philoponus wundern. Doch das ist kein Einwand gegen die Christlichkeit des Philoponus. Im Gegenteil: in einem Umkreis, in dem es Christen ebenso wie Nichtchristen gibt, muss eine Argumentation zugunsten eines christlichen Glaubensinhaltes umso überzeugender wirken, je weniger spezifisch christliche Elemente darin enthalten sind. Ein Beweis wirkt dann am überzeugendsten, wenn man ihn ausschließlich aus den Voraussetzungen des Gegners führt20. Doch gerade weil es sich um eine Schuldiskussion handelt, kann man besonders deutlich einen Wandel der Denkweise beobachten. Es sind die Denkweisen, mit denen wir heute oft allzu unreflektiert den Gegensatz zwischen griechischem und christlichem Denken zu fassen suchen. 19 Es ist bemerkenswert, dass am Anfang der Wiederaufnahme der Aristotelestradition in der Theologie des hohen Mittelalters bei Robert Grosseteste eine grundsätzliche Kritik der aristotelischen Beweise für die Ewigkeit der Welt in Phys. Θ 1 steht (vgl. Etienne Gilson / Philotheus Böhner, Die Geschichte der christlichen Philosophie von ihren Anfängen bis Nikolaus von Kues, Paderborn 1937, S. 388–390; Duhem a. a. O. (Anm. 5), Bd. V, S. 341 ff.) – eine merkwürdige Parallele zur Aristoteleskritik des Philoponus und eine schöne Bestätigung dafür, dass es gerade Auseinandersetzung und Kritik sind, die im Bereich der Geschichte Kontinuität stiften. 20 Daher ist es wenig begründet, wenn man die Aristotelesexegese des Philoponus einer heidnischen Periode seines Lebens zuordnet, wie es Gudemann a. a. O. (Anm. 10), Sp. 1769 tut: Das wäre nur unter einer Voraussetzung möglich, die den Gegensatz zwischen Griechischem und Christlichem stärker betont als es im Blick auf die historische Situation angemessen ist. Auch der christliche Theologe Philoponus ist noch Aristoteliker; andererseits sehen wir aber auch den Kommentator Philoponus an entscheidenden Stellen Kritik üben, die die spätere Aristoteleskritik vorwegnimmt. Diese Tatsache ist offenbar noch nicht genügend berücksichtigt worden. Man muss für den Zusammenhang dieses Problems vor allem verweisen auf seinen Kommentar zu Arist. Phys. Γ 4–8, also zur Abhandlung über das Unendliche. Er entwickelt im Anschluss an Γ 5, 204b7 aus der Unmöglichkeit einer aktual unendlich großen Zahl Konsequenzen, die zur Ablehnung eines zeitlichen Anfangs der Welt führen (Philop. in Phys. 428,14 ff. Vitelli [Hieronymus Vitelli (ed.), CAG vol. XVI, Berolini 1887]). Auch das Argument, es sei ungereimt, wenn bei Annahme einer ewigen verflossenen Zeit diese gleichwohl in der Gegenwart immer noch vergrößert werde, begegnet in diesem Kommentar: ἐπ’ ἄπειρον ἄρα αὐξηθήσεται τὸ ἄπειρον (429,10). Lässt sich aber das Unbegrenzte nicht vermehren, so ist auch die Ewigkeit der Welt unmöglich. Vgl. auch 456,6 ff.: Philoponus macht darauf aufmerksam, dass Aristoteles’ Ablehnung eines aktual Unendlichen die Annahme eines Anfangs der Zeit nahelegt, d. h. ὅτι χρόνοϚ ἦν ὅτε χρόνοϚ οὐκ ἦν. Er führt nun in einem korollarienartigen Abschnitt eine ausgedehnte und die Grenzen des Theologischen streifenden Spekulation über diesen Satz und kommt zu dem Ergebnis, dass man diesen Schwierigkeiten entgehen könne, wenn man davon ausgehe, dass οὐκ ἦν ἀεὶ χρόνοϚ. Auch 468,4 wird noch einmal die Konsequenz ausgesprochen, ἀδύνατον ἄναρχον εἶναι τὸν χρόνον (zu 206a25).

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Hier kommt an erster Stelle der Unterschied zwischen einem Denken, das sich am Bild des Kreises orientiert, und einem Denken, das sich am Bild der Linie orientiert, in Betracht. Dieser Gegensatz zeigt sich sehr schön beim Beispiel des Elementarprozesses, das Philoponus bei seinem Beweis für die Endlichkeit der Welt heranzieht. Philoponus denkt den Prozess der auseinander entstehenden Elemente unter dem Bild der Linie und fordert folgerichtig einen zeitlichen Anfang des Prozesses, da die lineare Unendlichkeit in der Tat zu Schwierigkeiten führt. Simplicius denkt den Elementarprozess unter dem Bild des Kreises, kann die Unbegrenztheit des Prozesses retten und sich mit einer endlichen Anzahl von Elementen begnügen. Er weist sogar selbst ausdrücklich darauf hin, dass es sich hier um einen Unterschied zwischen dem Kreisschema und dem Linienschema handelt, wenn er ἀνακυκλούμενα τῷ εἴδει γινόμενα in Gegensatz stellt zu γινόμενα ἐπ’ εὐθείαϚ προϊόντα (1181,13). Hieraus wird deutlich, wie die Unterscheidung von Kreis und Linie mit einer anderen Unterscheidung zusammenhängt: Wer – wie Simplicius – einen zeitlich unbegrenzten Prozess, an dem aber nur endlich viele Elemente beteiligt sind, ansetzt, muss die Annahme einer immer gleichen Natur der Dinge machen. In der Tat: Simplicius spricht wie selbstverständlich von einem eidetischen Kreislauf, also von einem Kreislauf der Wesensformen. Philoponus interessiert sich nicht für die Wesensformen, wenn er von der linearen Auffassung ausgeht und von ihr aus die Endlichkeit des Geschehens zu beweisen unternimmt; seine Argumente betrachten vielmehr nur die Prozessualität des Geschehens selbst und sehen von den spezifischen Bestimmtheiten der an diesem Geschehen beteiligten Gegenstände ab. Die immer gleiche Natur der Dinge ist für Philoponus belanglos, wenn er nur noch den funktionalen Zusammenhang als solchen betrachtet. (Auch Raumtheorie und Impetuslehre hängen ja, wie wir sahen, mit der Abkehr von der Ontologie der Wesensformen zusammen.) Der Gegensatz wirkt sich auch aus auf die Auffassungen von der hier relevanten Form des Unendlichkeitsbegriffs. Philoponus arbeitet, wie wir sahen, nur mit dem Begriff des aktual Unendlichen, während Simplicius im Gegensatz dazu auf den eingeschränkten Unendlichkeitsbegriff des ἐπ’ ἄπειρον ἰέναι hinweist. Für Simplicius steht der immer gleiche Prozess des eidetischen Kreislaufs der Dinge im Vordergrund. Dass er sich hier ins Unbegrenzte verlängern lässt, ist für ihn nur eine immer neue Bestätigung der eidetischen Konstanz. Für Philoponus steht der Prozess als solcher im Vordergrund – und weil er sich an keiner gleichbleibenden Natur der Dinge orientiert, vergegenständlicht er Bewegung und Zeit und muss die Bewegungskette im Sinne einer aktual unendlichen Reihe verstehen. Er zeigt deren innere Widersprüchlichkeit auf und kommt mit denselben Argumenten, mit denen Aristoteles – der selbst freilich Zeit und Bewegung niemals vergegenständlicht hatte – die Annahme eines aktual Unendlichen als unmöglich erweist, zur Annahme

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der Endlichkeit der Zeit. Simplicius kann indes gefahrlos einen unbegrenzten Prozess zugeben, weil durch den Gedanken des Kreislaufs der Dinge die Begrenztheit des für ihn im eigentlichen Sinne Wirklichen gesichert ist. Daher denkt er auch – im Gegensatz zu Philoponus – den Bewegungszusammenhang und die Zeitreihe noch nicht als Bedingungszusammenhang. Die Vergegenständlichung der Zeit ist zweifellos ein Kernpunkt in der Argumentation des Philoponus; für ihn werden die einzelnen Zeitabschnitte selbst zu etwas Wirklichem; sein Gegner geht von der Voraussetzung aus, dass nur Gegenwärtiges im eigentlichen Sinne wirklich ist. Daher tauchen bei ihm die Schwierigkeiten des aktual Unendlichen nur auf, wenn man von einem Zugleichsein unbegrenzt vieler Elemente ausgeht. Man sieht deutlich, wie es sich hier um zwei verschiedene Betrachtungsweisen ein und desselben Sachverhaltes handelt, aus dem entgegengesetzte Folgerungen gezogen werden – und es mag klargeworden sein, wie zwei Grundunterscheidungen (Kreis-Linie; eidetisch-prozessual) nicht schon durch die bloße Begegnung zweier „Weltanschauungen“, sondern in der konkreten Problemarbeit ihre Ausprägung erhalten. Auch eine andere wichtige Unterscheidung sehen wir in der Kontroverse Gestalt annehmen: sie betrifft die Auffassung der Zeit und ihr Verhältnis zur Ewigkeit. Philoponus verteidigt die zeitliche Endlichkeit der Welt – und radikalisiert auf der anderen Seite die Ewigkeit Gottes, indem er der Seinsweise Gottes das Prädikat des schlechthin Unzeitlichen gibt, um ihn nicht in den Bereich der (endlichen) Zeit herabzuziehen. Zu einer adäquaten Ausdrucksweise dieses Überzeitlichen ist für ihn die der Zeitlichkeit verhaftete Sprache, die von Überzeitlichem nur im übertragenen Sinne reden kann, überhaupt nicht geeignet. Simplicius lässt indes die Welt ewig sein und bedarf (wenigstens in dieser Kontroverse) keiner höheren, noch darüber hinausgehenden Ewigkeit: Für ihn ist die Zeit selbst schon ewig, und von diesem Begriff der ewigen Zeit aus sucht er die Unterscheidung des Philoponus zu nivellieren, indem er einmal die Ewigkeit der Weltzeit verteidigt und das andere Mal die Seinsweise Gottes gegenüber seinem Gegner in Hinblick auf genau dieselbe Zeitstruktur versteht. So legt er auch bei der Deutung der entsprechenden Timaiosstelle so großen Wert darauf, dass im platonischen Mythos die (ewige) Zeit vom Demiurgen gerade deswegen geschaffen worden ist, damit die sichtbare Welt ihrem Urbild noch ähnlicher werde (1159,14; 1165,16): Sie ist zwar nur ein Bild der Ewigkeit, aber eben doch ein ewiges Bild (Tim. 37b). Eine Tatsache zeigt sich hier, wie wir glauben, besonders deutlich: dass nämlich Gegensätze bei historischer Betrachtungsweise nicht naiv angewandt werden dürfen in dem Sinne, dass man die Glieder der Alternative auf beide Partner verteilt. Jede echte Auseinandersetzung lebt vielmehr daraus, dass der eine Partner schon gar nicht die Dimension der Alterna-

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tive anerkennt, aus der der andere argumentiert. Auf unser Beispiel angewandt: Es ist bedenklich, in geistesgeschichtlicher Betrachtungsweise der griechischen „Ewigkeit“ die christliche „Zeitlichkeit“ gegenüberzustellen. Diese Unterscheidung wurde erst unter christlichen Voraussetzungen notwendig. Für die Auffassung des klassischen griechischen Denkens besteht kein strenger Gegensatz zwischen Ewigkeit und Zeit – weil die Zeit selbst ewig ist. Nur wenn, wie nach der christlichen Auffassung, die Zeit selbst nicht mehr ewig ist, braucht man einen in Abgrenzung gegenüber diesem Zeitbegriff radikalisierten Ewigkeitsbegriff, der nicht mehr das Immer-Sein meint, sondern dasjenige, was auch diesem Immer-Sein wie aller Art von zeitlicher Ausdehnung, in gleichsam punktualer Existenz enthoben ist. Hier konnte man freilich auf neuplatonische Vorstellungen zurückgreifen21, doch ist es bezeichnend, dass in der klassischen Philosophie diese punktuale Ewigkeitsvorstellung keine Rolle spielt; man denke etwa an Arist. Met. Λ 7: αἰὼν συνεχὴϚ καὶ αΐδιοϚ ὑπάρχει τῷ θεῷ (1072b29). Dieser klassische Ewigkeitsbegriff des Immer-Seins bleibt nun freilich auch in der christlichen Zeitspekulation noch bestehen; so kommt man dann zu der Dreiteilung der Zeitstufen in aeternitas, sempiternitas (oder aevum) und tempus, die in dieser Form auf Boethius zurückgeht und für alle christliche und nachchristliche Zeitauffassung bis weit in die Neuzeit hinein charakteristisch bleibt. Die sempiternitas, die etwa dem klassischen Begriff der einen, ewigen Zeit entspricht, hat hier freilich nur noch die Funktion der Vermittlung, nämlich des Widerspruchs, der im Begriff eines schlechthin über aller Zeit stehenden Gottes liegt, der ohne sich selbst zu ändern eine Welt mit einem bestimmten zeitlichen Anfang schafft22. Diese Dreiteilung finden wir bei Philoponus zwar nicht begrifflich expliziert, aber es lässt sich kaum übersehen, dass Philoponus de facto bereits mit dieser Unterscheidung arbeitet, wenn er seine These verteidigt. Für Simplicius dagegen ist es typisch, wie er seinem Gegner, wenn er ihm die Ewigkeit der Zeit beweisen will, zugleich zu zeigen sucht, dass auch er Gott nicht im strengen Sinn als außerhalb des Wechsels stehend zu denken vermöge (vgl. 1161,21 ff.)23. So bewegt sich 21

Vgl. Plotin, Enn. III, 7, 3. Es ist bemerkenswert, dass Simplicius innerhalb der Kontroverse, bei der es ihm nur um die Verteidigung des Aristoteles geht, mit diesem Ewigkeitsbegriff überhaupt nicht arbeitet. 22 Diese Vermittlung ist vor allem nötig, um den Begriff einer Zeit, in der es noch keine Zeit gab – vgl. 1158,29 ff. – widerspruchsfrei denken zu können. 23 Bei dieser Gelegenheit sei noch auf eine andere Eigentümlichkeit der Zeitauffassung hingewiesen: Im Zusammenhang unserer Kontroverse taucht an einer Stelle im Hinblick auf die Zeitstruktur die Flussmetapher auf. Es ist die Rede (1163,2) von Strukturen κατὰ τὸν ῥέοντα χρόνον und die folgende Zeile nimmt das Bild des Fließens (ῥοή) wieder auf. Das ist deswegen bemerkenswert, weil die Metapher des Fließens, die uns von allen modernen Zeittheorien her so sehr selbstverständlich erscheint, in den antiken klassischen Texten zum Zeitproblem überhaupt nicht vorkommt. Die Zeit wird bei Platon (Tim. 37b) und

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Simplicius in der Kontroverse noch ganz innerhalb der antiken Vorstellung der immerwährenden Zeit.

V Wir haben in den vorigen Abschnitten zunächst über die Kontroverse berichtet und dann an einigen Beispielen zu zeigen versucht, wie gerade in einer Schuldiskussion im Rahmen konkreter Problemarbeit Denkformen, die wir heute gerne für die Unterscheidung des Griechischen vom Christlichen in Anspruch nehmen, Kontur annehmen. Denn das zeichnet ja Philoponus von den anderen Christen der Spätantike aus, dass er die zeitliche Endlichkeit der Welt nicht als Glaubenssatz hinnimmt, sondern sie gerade im Rahmen der aristotelischen Begrifflichkeit zu beweisen versucht. Damit wird er zu einem entscheidenden Mittelglied zwischen dem antiken und dem mittelalterlichen Aristotelismus24. Geistesgeschichtlich ist die Kontroverse auch deswegen von Interesse, weil die Frage nach der Beweisbarkeit der zeitlichen Endlichkeit der Welt ja in der christlichen Theologie und Philosophie nicht zur Ruhe gekommen ist. Thomas von Aquino, der die Lehre vom zeitlichen Anfang der Welt aus dem Bereich der der Vernunft zugänglichen Wahrheiten herausnimmt und in dieser Frage spekulative Zurückhaltung übt, steht damit doch im Widerspruch mit der herrschenden Tendenz seiner Zeit. Wir haben hier einen der wenigen Punkte vor uns, hinsichtlich deren er nie im vollen Sinne als Autorität anerkannt wurde. Doch die Philosophie hat über das geistesgeschichtliche Interesse hinaus die Wahrheitsfrage zu stellen: Ist in der Frage, über die sich Simplicius und Philoponus streiten und die auf ihrer Ebene unentschieden bleibt, eine sachliche Entscheidung möglich? Aristoteles (Phys. Δ 11, 219b2) als Zahl gedacht und es ist verständlich, dass die Kontinuität der Zeit ein schwieriges Problem darstellt; denn die Zeit ist in erster Linie immer als Zeitabschnitt verstanden. In der Metapher des Gehens, die wir bei Platon (Tim. 37d, 38a) ebenso wie bei Augustinus (praeterire, Conf. XI passim) finden, ist jedenfalls jenes Moment der Diskontinuität enthalten, das bei der Flussmetapher nicht mehr da ist. Dass die Flussmetapher, die uns in der Kontroverse im Hinblick auf die Zeitstruktur begegnet – soweit wir sehen, erstmals in einem philosophischen Text – in den klassischen Texten nicht vorkommt, ist umso auffallender, als ja diese Metapher sonst in der philosophischen Diskussion schon frühzeitig eine wichtige Rolle spielt. 24 Saffrey a. a. O. (Anm. 3), S. 409 f., macht den historischen Zusammenhang mit dem arabischen und damit auch mit dem mittelalterlichen Aristotelismus deutlich: Weil mit Philoponus die (aristotelische) alexandrinische Schule christlich wurde, entging sie der drohenden Aufhebung durch Justinian und konnte so die Aristotelestradition an die Araber, und damit indirekt an die Scholastik, vermitteln. (Die Akademie in Athen wurde 529 geschlossen und in demselben Jahre erschien Philoponus’ Schrift gegen Proclus).

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In der Tat sind wir hier in der Lage, auf eine Lehre verweisen zu können, die jenes Problem der Lösung ein Stück weit näher bringt. Wir denken an Kants Lehre von der Antinomie der reinen Vernunft, also von den Widersprüchen, in die sich die Vernunft notwendigerweise verstrickt, wenn sie Aussagen über das Weltganze zu machen versucht. Wir vergegenwärtigen uns den Beweis, den er für den ersten Teil der Thesis („Die Welt hat einen Anfang in der Zeit“) gibt: „Denn, man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendlich verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins; welches zuerst zu beweisen war.“ (KrV, B 454) Dies ist aber nichts anderes als der Grundgedanke der Argumentation des Philoponus, mit der er einen positiven Beweis seiner These zu geben versucht. Soweit wir sehen, taucht diese Argumentation hier zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens auf25. Der Grundgedanke des kantischen Beweises der Antithesis („Die Welt hat keinen Anfang“) findet sich entsprechend in einem Argument des Simplicius (1177,29). Kant gibt nun freilich keine eindeutige inhaltliche Antwort auf die Frage nach der Ewigkeit der Welt. Wohl aber kann er zeigen, warum diese Frage letztlich unentschieden bleiben muss. Ein unmittelbarer wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen unserer Kontroverse und der Konzeption der „Kritik der reinen Vernunft“ ist so gut wie ausgeschlossen. Doch es wird damit nur umso auffallender, dass wir diesen Widerstreit der reinen Vernunft mit sich selbst in einem spätantiken Schulstreit ausgetragen finden, in der – wenn man es so formulieren darf – das griechische Denken an die Grenzen seiner eigenen Voraussetzungen gelangt. Freilich wird man nicht annehmen dürfen, dass Kant zu unserem Pro­ blem bereits das letzte Wort gesprochen hat: Die moderne Mathematik und Logik hat deutlich genug gezeigt, dass der Grundsatz des tertium non datur, 25

Einer genauen Untersuchung wert scheint mir auch die Tatsache zu sein, dass dieses Argument bei Philoponus wie bei Kant nur im Hinblick auf einen Anfang, aber nicht im Hinblick auf ein Ende der Zeit vorgebracht wird. Kant kann sich darauf berufen, dass es der reinen Vernunft immer nur auf die Totalität der Bedingungen eines Gegebenen ankommt, nicht aber auf die Folgen und dass folglich nur der Regress, nicht aber der Progress von Interesse ist (B 436 f., B 539). Im Rahmen der transzendentalen Fragestellung ist diese Einschränkung nötig; das sachliche Problem bleibt gleichwohl bestehen, denn zugunsten der Endlichkeit der Zeit in der anderen Richtung lässt sich mit der Unendlichkeitsparadoxie ohnehin nicht gut argumentieren. Diese Asymmetrie ist vielleicht ein Hinweis auf die in den klassischen Zeittheorien fast immer übersehene Geschichtlichkeit der Zeit.

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dessen grundsätzliche Gültigkeit Kant in diesem Zusammenhang gar nicht in Frage stellt, bereits aus rein logischen Gründen dort nicht mehr fraglos gilt, wo der Grenzbegriff des Unendlichen im Spiel ist. Wohl aber hat Kant das kosmologische Problem durch seinen Aufweis, dass die kosmologischen Grundbegriffe typische Grenzbegriffe sind, in einen Bereich gestellt, den auch derjenige, der im einzelnen andere Wege geht als er, nicht mehr gut verlassen kann, wenn er nicht eine von seiner Kritik schon überholte Position beziehen will. Zuerst erschienen in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Dieter Henrich, Walter Schulz, Karl-Heinz Volkmann-Schluck. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960, S. 291–316.

Kontinuum und Engelzeit bei Thomas von Aquino Aristoteles behandelt im Buch Z der „Physik“ die Struktur des Kontinuums und zeigt im Zusammenhang dieser Untersuchung, wie diese Struktur nicht nur der räumlichen Ausdehnung, sondern auch der Bewegung und der Zeit eigentümlich ist. Zwischen diesen Grundformen der anschaulich erfahr­ baren Welt besteht sogar eine durch ihre Kontinuität vermittelte Beziehung: Die Teilbarkeit in immer wieder Teilbares – die das Wesen des Kontinuums ausmacht – wird beispielsweise an der Bewegung mit Hilfe von iterierbaren Zuordnungsoperationen manifestiert, bei denen die Bewegung zur Zeit oder zur räumlichen Ausdehnung in Relation gesetzt wird. Aristoteles geht in der Analyse des Kontinuums noch einen Schritt weiter: Er zeigt bei Gelegenheit der Untersuchung des Anfangs und des Endes von Bewegungen, dass unter der Voraussetzung kontinuierlicher Bewegung auch für den Gegenstand der Bewegung das Kontinuitätspostulat gilt. Auch der bewegte Körper selbst muss ein Kontinuum sein und muss daher in immer wieder Teilbares geteilt werden können. Beim Kontinuum, von dem hier die Rede ist, handelt es sich um eine Fundamentalbestimmung der Welt unserer anschaulichen Erfahrung. Dass es in dieser Welt Bewegungen gibt, ist ein nicht mehr hinterfragbares Faktum, das jede Kategorialanalyse stets im Auge behalten muss. Mit dieser Orientierung am Faktum der Bewegung hängt es zusammen, dass das Kontinuum bei Aristoteles eine physikalische und keine mathematische Kategorie ist. Daher ist es verständlich, dass ein Problem wie das der Konstruktion der reellen Zahlen im Umkreis der aristotelischen Kontinuumstheorie nicht auftaucht. Diese Theorie hat es vielmehr mit den anschau­lichen Grundlagen der Welt der Erfahrung zu tun, wie sie sich auch vor aller thematischen Reflexion auf sie und auf ihre Gegebenheitsweise darbietet. Man mag einwenden, dass „anschaulich“ ein Ausdruck ist, über dessen präzisen Sinn man sich nur schwer einigt. Nun ist das Kontinuum kein Faktum, das innerhalb einer – wie auch immer verstandenen – Anschauung neben anderen Fakten vorfindbar wäre. Es handelt sich vielmehr um eine der Strukturen, die jeder möglichen Anschauung zugrunde liegt; im Blick auf sie kann der Begriff der Anschauung – was immer man auch zunächst unter „Anschauung“ verstanden haben mag – auf sinnvolle Weise normiert werden.

Kontinuum und Engelzeit bei Thomas von Aquino 

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Nachdem Aristoteles auch für den Gegenstand der Bewegung ein Kontinuitätspostulat formuliert hat, ist es nur konsequent, wenn er in Z 10 der „Physik“ zum Abschluss der Diskussion des Kontinuums eine Theorie begründet, nach der Unteilbares kein mögliches Subjekt stetiger Bewegungen sein kann. Unteilbares kann allenfalls akzidentell (κατὰ συμβεβηκόϚ) bewegt werden, insofern nämlich, als es akzidentell an einem Bewegten vorkommen kann, das als solches freilich die Struktur des Kontinuums aufweisen muss. Aus diesem Grunde hätte beispielsweise die in der neuzeitlichen Mechanik so fruchtbare, zur Konstruktion von „Massenpunkten“ führende Idealisierung in der aristotelischen Physik aus systematischen Gründen keinen Platz. Denn bei dieser Idealisierung wird von etwas abgesehen, was für die im aristotelischen Sinn physikalische Betrachtung, insofern sie eine streng physikalische bleibt, konstitutiv ist: nämlich von der Kontinuität des Bewegungssubjekts. Es liegt auf der Hand, dass sich im Umkreis der Aristotelesrezeption des Hochmittelalters Schwierigkeiten ergeben mussten, wenn die Aufgabe gestellt war, Wesen und Wirken der Engel im Rahmen einer aristote­ lischen Begrifflichkeit formulierbar zu machen. Beim Engel haben wir es mit einem spirituellen, einfachen und unteilbaren Wesen zu tun. Nach der Lehrmeinung von Thomas von Aquino ist nun die Unteilbarkeit des Engels von jener Unteilbarkeit verschieden, die mit Bezug auf das Kontinuum definiert wird und beispielsweise einem Punkt als einem terminus continui zukommt. Die Unteilbarkeit des Engels ist im Gegensatz dazu extra totum genus continui (S. Th. I,8,2). Der Engel gehört der anschaulich erfahrbaren Welt nicht an; entsprechend ist die Erschaffung der Engelwelt dem Werk der sechs Tage vorgeordnet. Damit ist eine Trennung der Bereiche vollzogen, wie sie als solche noch keine Probleme zu stellen braucht: einmal die anschauliche Sphäre des Sechstagewerks, in ihrer Anschaulichkeit durch die Struktur des Kontinuums bestimmt; auf der anderen Seite die rein intelligible Sphäre der Engel, die nicht an die Materie gebunden ist. Schwierigkeiten ergeben sich nun aber deswegen, weil diese Bereiche nicht vollkommen voneinander getrennt sind. Denn es handelt sich um eine Welt, die als Schöpfung eine Einheit bildet. Dass der Engel überdies nicht nur in einem supramundanen Bereich lebt, sondern auch in die sichtbare Welt hinein zu wirken und sogar in ihr zu erscheinen und sich zu bewegen vermag, steht für Thomas schon durch das biblische Zeugnis außerhalb jeden Zweifels. Dann aber ergibt sich die Frage, wie sich derartige Bewegungen in das begriffliche System einfügen lassen, wenn einerseits das aristotelische Kontinuitätspostulat, das auch für alles Bewegte gilt, erfüllt werden und andererseits die Unteilbarkeit und Immaterialität des Engels, an der Thomas im Gegensatz etwa zu Bonaventura strikt festhält, gewahrt bleiben soll.

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Fragen dieser Art werden in der der Engelsbewegung gewidmeten Quaestio LIII des ersten Teils der „Summa theologica“ erörtert. Thomas geht bei seinen Argumentationen im ersten Artikel dieser Quaestio von einer Unterscheidung aus, wonach sowohl vom Am-Orte-Sein als auch von örtlicher Bewegung in unterschiedlichem Sinn (aequivoce) die Rede ist, je nachdem es sich um einen Engel oder um einen (materiellen) Körper handelt (sicut esse in loco aequivoce convenit corpori et angelo, ita etiam et moveri secundum locum). Der den Gesetzen des Kontinuums unterliegende materielle Körper ist, ganz in Übereinstimmung mit der aristotelischen τόποϚLehre, insofern an einem Ort, als er von diesem Ort umfasst wird (corpus enim est in loco, inquantum continetur sub loco, et commensuratur loco). Ist aber die räumliche Ausdehnung des von seinem Ort umfassten Körpers eine stetige, so ist auch die Bewegung stetig, auf Grund deren der Körper seinen Ort verändert. Die Ortsbewegung des Engels ist dagegen schon deswegen von ganz anderer Art als die Ortsbewegung materieller Körper, weil der Engel schon von Hause aus eine andere Beziehung zum Ort hat. Als nicht-räumliches Wesen ist er an die für die materielle räumliche Welt charakteristischen Strukturen nicht gebunden; er tritt dieser Welt gleichsam von außen gegenüber, selbst dann, wenn er in dieser Welt erscheint und in ihr wirkt. Er kann daher in Beziehung zu einen Ort treten, aber er wird deswegen doch nicht wie ein Körper von seinem Ort umfasst. Gerade umgekehrt umfasst er den Ort, zu dem er in Beziehung tritt; eben deswegen ist er auch nicht an die Gesetze des Örtlichen gebunden (angelus non est in loco ut commen­suratus et contentus, sed magis ut continens). Nur in diesem Sinne ist es erlaubt, von einem Ort des Engels zu sprechen. Thomas drückt diese Beziehung des Engels zum Ort auch so aus, dass er von einem Vermögen spricht, kraft dessen sich der Engel auf den Ort richtet, ihn berührt und auf ihn wirkt (angelus non est in loco nisi secundum contactum virtutis). Das ist für den Engel gleichzeitig immer nur im Hinblick auf genau einen Ort möglich. Daher kann auch der im übrigen den Gesetzen der Räumlichkeit nicht unterworfene Engel nicht an mehreren Orten zugleich wirken. Umgekehrt ist es nicht nötig, dass der Engel jederzeit durch sein Wirken einem Ort zugeordnet ist: Er muss nicht ständig wirken und ist daher nicht darauf angewiesen, auf einen Ort bezogen zu sein1. Der Engel verfügt gleichsam über den Ort, wenn er – als selbst nicht ausgedehntes Wesen – zu der Welt des Kontinuums in Beziehung tritt und dort

1 Hoc non reputo inconveniens quod angelus sine loco possit esse et non in loco, quando nullam operationem circa locum habet (I Sent. 37,3,1).

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Wirkungen ausübt2. Deshalb kann er sukzessiv zu verschiedenen Örtern in Beziehung treten; eben darin besteht das, was man im übertragenen Sinn als Ortsbewegung des Engels bezeichnen kann. Daher stellt Thomas fest, dass motus angeli in loco nihil aliud sit quam diversi contactus diversorum locorum successive et non simul. Diese „Bewegung“ unterscheidet sich von der gewöhnlichen Ortsbewegung, wie sie für materielle, räumlich ausgedehnte Körper charakteristisch ist, vor allem dadurch, dass sie nicht kontinuierlich zu sein braucht (motus angeli in loco non oportet quod commensuretur loco, nec quod sit secundum exigentiam eius, ut scilicet habeat continuitatem ex loco, sed potest esse motus eius continuus et non continuus; S. Th. I,53,1). Der Engel befindet sich nach dieser Theorie strenggenommen nicht an einem Ort, sondern er tritt als von Hause aus unräumliches Wesen mittels eines besonderen Vermögens (virtus) zu Örtern nur in Beziehung. Dem Ort ist hier also im Sinne der Kategorienlehre kein gewöhnliches, einstelliges Prädikat zugeordnet; er ist vielmehr Relat einer zweistelligen Relation. Wenn der Engel nun sukzessiv zu verschiedenen Orten auf diese Weise in Beziehung tritt und sie gleichsam berührt, dann braucht er nicht auch die jeweils dazwischenliegenden Örter zu berühren. Zwar ist ihm auch dies prinzipiell möglich, doch dies ist dann ein bloßer Grenzfall. Von diesem Grenzfall einmal abgesehen, handelt es sich daher bei der englischen Bewegung, bei der sukzessiv verschiedene Orte berührt werden, um eine bahnfreie Bewegung: Der Engel kann zu zwei voneinander getrennten Orten im räumlichen Kontinuum nacheinander eine Beziehung aufnehmen, ohne dass er einen Weg durch dieses räumliche Kontinuum nehmen müsste. Es bleibt vielmehr dem Engel selbst anheimgestellt, ob er, wenn er eine Ortsbeziehung mit einer anderen vertauschen will, dazu das räumliche Intervall zwischen diesen beiden Orten durchmessen will oder nicht (in potestate eius est applicare se loco prout vult, vel per medium vel sine medio). Er ist also nicht ans Kontinuum gebunden; er kann den jeweils nächsten Ort, zu dem er sich hinwendet, unmittelbar mit einem oder, wenn er will, auch mit mehreren diskontinuierlichen „Engelsprüngen“ oder aber auf einer kontinuierlichen Bahn erreichen. Mit jener diskontinuierlichen Bewegung wird ein entfernter Ort unabhängig vom Zwischenraum erreicht. Natürlich ist es möglich, diesen Ort mit Hilfe von Engelsprüngen auch etappenweise zu erreichen und dabei von einzelnen Örtern des Zwischenraumes Gebrauch zu machen. Den ganzen Zwischenraum mit Hilfe unstetiger Bewegungen durchmessen könnte der Engel allerdings selbst dann nicht, wenn er es

2 Angelus et quaelibet substantia incorporea non potest esse in corpore vel in loco nisi per operationem, quae effectum aliquem in eo causat (I Sent. 37,3,1).

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wollte. Er müsste dann nämlich sukzessiv jeden Punkt des Zwischenraums einnehmen. Ein aktual Unendliches zu durchmessen und durchzuzählen ist aber auch einem Engel unmöglich (si ergo mobile quodcumque moveatur motu non continuo, sequitur quod vel non transeat omnia media, vel quod actu numeret media infinita: quod est impossibile. Sic igitur secundum quod motus angeli non est continuus, non pertransit omnia media; S. Th. I,53,2)3. Mit dieser Konzeption des Engelsprungs als einer bahnfreien, unstetigen Bewegung oder besser: als eines Bewegungsäquivalents muss man sich in unserem Zusammenhang begnügen. Thomas geht es bei den hier einschlägigen Erörterungen nur darum, die Andersartigkeit dieses Bewegungsäquivalents gegenüber allen den Bewegungen herauszustellen, die innerhalb der anschaulichen Welt der materiellen Dinge ablaufen und die alle die Struktur des Kontinuums aufweisen. Eine ausgearbeitete Theorie derartiger bahnfreier Bewegungen legt er indes nicht vor. Er lässt es bei dem Grundgedanken bewenden, dass die Bewegung des Engels in Bezug auf das Kontinuum nach Regeln verläuft, die unter den Voraussetzungen eben dieses Kontinuums nicht mehr vorstellbar gemacht werden können. Zwar können jedes Erscheinen eines Engels oder einer seiner Wirkungen in dieser Welt ein anschauliches und vorstellbares Ereignis sein. Doch der Zusammenhang solcher Ereignisse braucht kein Äquivalent in der anschaulichen Welt zu haben, sondern wird auf Zusammenhänge zurückgeführt, die jenseits des Kontinuums und damit auch jenseits der Vorstellbarkeit liegen. Wenn der Engel sukzessiv zu verschiedenen Orten in Beziehung treten kann, ohne einen Zwischenraum durchmessen zu müssen, so stellt sich angesichts der Verschränkung von Bewegung, Zeit und räumlicher Größe in der Struktur des Kontinuums sofort die Frage, wie es mit der Zeitstruktur der englischen Bewegung bestellt ist. Auch diese Frage wird von Thomas in der „Summa theologica“ (wie auch im Sentenzenkommentar) behandelt; eine ausführlichere Erörterung findet sich im Opusculum „De instantibus“4. Die Echtheit dieser kleinen Schrift ist umstritten; doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich zumindest um ein Werk aus dem engsten Umkreis von Thomas handelt. 3

Ob sich der Engel kontinuierlich oder diskontinuierlich bewegt, hängt auch davon ab, ob er sich einem ausgedehnten und damit teilbaren oder aber einem unteilbaren Ort zuwendet: Allein im ersteren Fall ist für ihn eine kontinuierliche Bewegung möglich. Vgl. Quodl. 1,3,2: potest continue moveri, sicut aliquid in loco divisibili existens, continue intercipiendo spatium; secundum vero quod in loco indivisibili est, non potest eius motus esse continuus, nec pertransire omnia media. 4 Zu diesem Opusculum vgl. auch Clemens Baeumker (Hg.), Die Impossibilia des ­Siger von Brabant (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. 2, H. 6), Münster 1898, S. 160 ff.

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Wenn man die thomasische Lehre von der Engelzeit verstehen will, muss man sich zuerst vergegenwärtigen, in welcher Weise Thomas die in den Grundzügen von Aristoteles übernommene Zeittheorie akzentuiert. Aristoteles hatte bekanntlich die Zeit als die Zahl der Bewegung gemäß dem Früheren und Späteren (ὁ ἀριθμὸϚ τῆϚ κινήσεωϚ κατὰ τὸ πρότερον καὶ ὕστερον; Phys. Δ 11, 219b2) definiert. Obwohl nun aber die Zahlenreihe nach der aristotelischen Theorie diskontinuierlich ist, gilt die Zeit gleichwohl als kontinuierliche Größe. Das ist leicht einzusehen: Als Zahl bestimmt ist die Zeit nämlich nicht im Sinne der abstrakten Zahlprädikate, sondern im Sinne der mit ihrer Hilfe gezählten Gegenstände. Dabei handelt es sich im Falle der Zeit um kontinuierlich ausgedehnte Bewegungsabschnitte, die freilich als solche nicht schon vorgegeben sind: denn erst durch das die Zeit mitkonstituierende Zählen werden im Bewegungskontinuum Abschnitte markiert und unterschieden. Solche Abschnitte lassen sich durch entsprechendes Zählen grundsätzlich ins Unbegrenzte weiter teilen. Hier ergibt sich die Frage, ob es, wenn man allein von der Zeitdefinition ausgeht, noch sinnvoll ist, von der Zeit zu sprechen, oder ob gemäß dieser Definition ebenso viele Zeiten denkbar sind, wie es Bewegungen gibt, die gezählt werden können. Die aristotelische Zeittheorie, insofern sie innerhalb des Rahmens der erwähnten Zeitdefinition entwickelt wird, steht der Frage nach möglicher Einheit oder Vielheit der Zeit zunächst indifferent gegenüber. Nur anhangsweise (223a21 ff.) bietet Aristoteles eine Antwort auf diese Frage an, wenn er die Einheit der Zeit analog der Einheit der abstrakten Zahlprädikate versteht und außerdem die Kreisbewegung auszeichnet, weil sie die ideale kontinuierliche Bewegung ist und überdies von allen Bewegungen – schon auf Grund ihrer Periodizität – am besten zur Zählung geeignet ist. Dass in der traditionellen Meinung Zeitmessung und Zeitbestimmung auf die Himmelsbewegung bezogen sind, kann diese Theorie plausibel machen. Dadurch wird aber der Inhalt dieser allgemeinen Meinung noch nicht zu einem Bestandteil der Theorie. Die physikalische Theorie fordert um der Einheit der Zeit willen, dass eine bestimmte Bewegung ausgezeichnet werde. Welche Bewegung dann aber ausgezeichnet werden muss, ist strenggenommen keine physikalische, sondern eine kosmologische Frage. So betrifft die Frage nach der Einheit der Zeit in der aristotelischen Theorie nicht eigentlich die Physik im engeren Sinne, sondern deren kosmologische Randbedingungen. Für den Verfasser von „De instantibus“ rückt nun aber das an der Frage nach der Existenz einer ausgezeichneten Bewegung orientierte Problem der Einheit der Zeit in den Mittelpunkt des Interesses. In diesem Opusculum werden bestimmte kategoriale Differenzierungen benutzt, um die besondere Beziehung zu kennzeichnen, die zwischen der Zeit und der Himmelsbewegung im Unterschied zu allen anderen Bewegungen besteht. Nach

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dieser Differenzierung verhält sich die Zeit zu den von ihr gezählten oder gemessenen Bewegungen in jedem Fall wie ein Maß (mensura) zu dem von ihm Gemessenen (mensuratum). Das gilt für alle Bewegungen einschließlich der ausgezeichneten Bewegung des Himmels. Für diese – und nur für sie – gilt aber außerdem noch eine andere Beziehung: Zu ihr verhält sich nämlich die eine Zeit auch wie eine Eigenschaft (accidens) zu einem Ding (subiectum), an dem diese Eigenschaft vorkommt. Für alle anderen, durch die Zeit nur gemessenen Bewegungen gilt diese Beziehung natürlich nicht (De inst. c. 1). Die Zeit erscheint hier also als gewöhnliche und unmittelbare Eigenschaft der innerhalb der kosmischen Ordnung ausgezeichneten Bewegung5; allen anderen Bewegungen kommt sie nur mittelbar und nur insofern zu, als sie zu jener ausgezeichneten Bewegung in eine Maßbeziehung gesetzt werden. Ihr kategorialer Status als Eigenschaft der einheitlichen Himmelsbewegung garantiert zugleich ihre eigene Einheitlichkeit6. Die Rückbeziehung der Zeit auf die zählende Seele muss unter solchen Voraussetzungen natürlich ganz in den Hintergrund treten: Während bei Aristoteles die Zeit gleichsam in der Mitte zwischen der zählenden Seele und den gezählten Bewegungen – unter denen die Himmelsbewegung traditionellerweise den Vorrang hat – steht, hebt Thomas dieses aristotelische Gleichgewicht zwischen dem kosmischen und dem psychischen Bezug der Zeit zugunsten des kosmischen Bezuges auf7. Diese in der angezeigten Weise kategorial abgesicherte kosmologische Orientierung des Zeitverständnisses führt aber unter der thomasischen Voraussetzung der Existenz supramundaner, intelligibler Wesen zu Konsequenzen, die sich von der aristotelischen Vorlage noch weiter entfernen. Die Zeit bleibt nämlich nicht nur als Eigenschaft der Himmelsbewegung, sondern erst recht insofern sie Maß anderer Bewegungen ist, auf die anschauliche Welt orientiert, und dies unbeschadet der Tatsache, dass im Gegensatz zu Aristoteles auch selbständig existierende Wesen akzeptiert werden, die nicht zu dieser anschaulichen Welt gehören, aber andererseits doch nicht wie Gott aller Bewegung und Veränderung enthoben sind. Es gibt mithin einen Bereich, in dem Veränderung vorkommt; solche Ver­

5

Insofern die Zeit also nicht nur Maß ist, kommt ihr ein gegenständlicher Charakter zu; dem entspricht, dass die Zeit nach der Lehre der „Summa theologica“ ein unmittelbarer – und sogar ausgezeichneter – Gegenstand der Schöpfung ist (Quatuor enim ponuntur simul creata, scilicet caelum empyreum, materia corporalis – quae nomine terrae intelligitur –, tempus, et natura angelica; S. Th. I,46,3). 6 Vgl. In phys. IV,23,13: ad accipiendam veram temporis unitatem, oportet recurrere ad unitatem primi motus. 7 Vgl. dazu die restriktive Interpretation, die Thomas im Physikkommentar (IV,23,5) dem aristotelischen Hinweis auf die psychische Fundierung der Zeit (223a22 ff.) gibt.

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änderungen werden aber, weil sie nicht unserer sichtbaren Welt zugehören, nicht durch unsere an eben diese Welt gebundene Zeit gemessen8. So stellt sich die Frage, ob sich auch für die Veränderungen im Bereich der Engelwelt nach Analogie der Zeit unserer Welt eine Metrik definieren lässt. Bejaht man diese Frage, so ergibt sich zugleich ein weiteres Problem: ob und gegebenenfalls welche Beziehungen zwischen der so bestimmten Engelzeit und unserer Weltzeit definierbar sind. Eine besondere Schwierigkeit bei der Definition derartiger Beziehungen gründet darin, dass die Engelwelt am Kontinuum keinen Anteil hat. Die für die Engelwelt charakteristische Art der Veränderung zeigt sich schon am Erkennen des Engels: er verfügt weder über Sinnenbilder noch über Phantasmata. Seine species intelligibiles, durch die er die Dinge erkennt, entstehen nicht durch einen wie auch immer gearteten Abstraktionsprozess, sondern sie sind schon von Natur aus in seinem Besitz. Da er niemals auf Anschauung rekurrieren muss, kann er, anders als der Mensch, auch in kognitiver Hinsicht jenseits des Kontinuums stehen. Sein Erkennen der Dinge ist intuitiv. Aber er kann, im Gegensatz zu Gott, nicht alle Dinge mit einer Intuition zugleich erkennen; er muss, wenn er verschiedene Dinge erkennen will, sich ihnen sukzessiv zuwenden. Schon hier also, wo man noch von allen räumlichen Bezügen absehen kann, gibt es beim Engel ein Früher und Später, also eine Sukzession. Ganz ähnlich verhält es sich mit jenen Aktionen, mit denen sich der Engel einem jeweils bestimmten Ort zuwendet. – Was für ein Zeitbegriff lässt sich nun im Hinblick auf solche an keinem Kontinuum mehr orientierte Sukzessionen definieren? Man muss beachten, dass die Folge des Früheren und Späteren, hier also die Folge der sukzedierenden englischen Aktionen und Intuitionen, anders als bei den Bewegungen innerhalb der sinnenfälligen Welt, eine Folge von diskreten Elementen darstellt: totum hoc est discretum, et non continuum: et tempus est in actionibus eorum secundum similitudinem eius, quod est formale in eo, non autem secundum eius materiale, a quo habet esse continuum (De inst. c. 1). Wenn Thomas hier von einem formale und von einem materiale im Blick auf die Temporalordnung jener Sukzessionen spricht, so bezieht er sich auf die auch hier vorausgesetzte aristotelische Definition der Zeit als der Zahl der Bewegung. Die Elemente dieser Definition werden auf der Grundlage des hylemorphistischen Schemas gedeutet. Hier ist nun gesagt, dass die Engelzeit zwar nicht der aristotelischen Definition folgt, dass sie sich aber doch nach Ähnlichkeit mit der durch diese Definition bestimm 8 Angelus est supra tempus quod est numerus motus caeli, quia est supra omnem motum corporalis naturae. Non tamen est supra tempus quod est numerus successionis esse eius post non esse, et etiam quod est numerus successionis quae est in operationibus eius (S. Th. I,61,2).

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ten Zeit fassen lässt. Diese Ähnlichkeit bezieht sich nicht auf die Zeit als Ganzes, sondern nur auf das formale an ihr (nämlich die Zahl), nicht aber auf ihr materiale (nämlich die Bewegung). Dass bedeutet aber, dass die Sukzessivität der englischen Aktionen der Sukzessivität der Zahlenreihe entspricht. Dabei darf man aber gerade nicht mehr die Existenz eines Kontinuums unterstellen, etwa in Gestalt einer vorgegebenen Bewegung, auf die die Sukzessivitätsordnung nur angewendet werden müsste9. Die Elemente, deren Sukzession die Engelzeit ausmacht, sind daher nicht ausgedehnt und können deshalb auch nicht mehr geteilt werden: ideo tempus quo mensuratur successio in actionibus angelorum, est ex indivisibilibus, sicut numerus componitur ex unitatibus quae sunt indivisibilia quaedam (De inst. c. 1). Die der Sukzessivität der englischen Aktionen zugeordnete Zeit ist also atomistische Zeit im strikten Sinne des Wortes10. Nun legt der Verfasser von „De instantibus“ Wert darauf, dass die als Ordnung der Sukzessivität diskreter und unteilbarer englischer Aktionen verstandene Engelzeit nur als Analogon zur Reihe der natürlichen Zahlen verstanden werden darf, dass sie selbst aber keine Zahlenreihe ist. Durch diese Differenzierung wird der Hiatus zwischen der Engelwelt und der Welt des Kontinuums noch vergrößert. Denn auch die gewöhnliche Zahl weist noch eine Beziehung zum Kontinuum auf, insofern nämlich, als Thomas, der sich hierbei auf eine Andeutung der aristotelischen Physik bezieht (207b7 ff.), die Reihe der natürlichen Zahlen auf der Grundlage der fortschreitenden Teilung des Kontinuums konstruiert und von dort her begründet11. Auf diese Weise wird im übrigen zugleich die Unendlichkeit der Zahlenreihe gesichert. Wenn nun aber auch die Zahl ihrer Herkunft nach auf das Kontinuum bezogen bleibt, ist es zu verstehen, dass Thomas für

9 Vgl. dazu Quodl. 9,4,4: In ipsis operationibus angeli […] non est invenire aliquam continuitatem, sed consequenter se habent; unde et nunc, quae mensurant motum angeli, sunt consequenter se habentia, et non est inter ea aliquid continuans; et ipsa pluralitas sic se consequentium est quoddam tempus, in quo dicimus angelum moveri. 10 Zur Geschichte des Indivisibilienproblems im Mittelalter vgl. jetzt auch Wolfgang Breidert, Das aristotelische Kontinuum in der Scholastik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. N. F. Bd. 1), Münster 1970. Die Bedeutung der mit der Engelsbewegung verbundenen Problematik für die Entstehung von „atomistischen“ Auffassungen, wie sie vor allem im 14. Jahrhundert entwickelt wurden, betonen J. E. Murdoch / E . A. Synan, Two Questions on the Continuum: Walter Chatton (?), O. F. M. and Adam Wodeham, O. F. M., in: Franciscan Studies 26, 1966, S. 212–288, vgl. S. 215 f. 11 Auch die fundamentalen arithmetischen Operationen werden durch Rückgang auf die Teilung des Kontinuums begründet: pluralitas causatur ex divisione continui; ex hoc enim possunt inveniri omnes illae passiones in numeris quas Arithmetici demonstrant, sicut multiplicatio et aggregatio, et huiusmodi, quae fundantur supra divisionem infinitam continui (I Sent. 24,1,1).

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die durch strikte Diskontinuität ausgezeichnete Engelwelt nicht nur eines neuen Zeitbegriffs, sondern auch eines modifizierten Zahlbegriffs bedarf. Jene Teilung des Kontinuums, durch die die Zahlenreihe konstruiert wird, ist also prinzipiell von derselben Art wie die Teilung, durch die die Zeit entsteht; nur handelt es sich in diesem zweiten Fall um ein Kontinuum spezieller Art, nämlich um eine bestimmte Bewegung. In beiden Fällen entsteht durch die Teilung eine quantitas discreta; diese freilich bleibt systematisch sekundär gegenüber der quantitas continua, auf die sie durch ihre konstruktive Genese bezogen ist. Doch gerade wegen dieser Beziehung darf das Einheitsmaß der englischen Aktionen noch nicht einmal eine Quantität von Art der quantitas discreta sein. Gibt es dann aber überhaupt eine Maßbestimmung, die sich auf die Engelwelt anwenden lässt, wenn sogar schon die Zahlenreihe wegen ihrer konstruktiven Genese aus der Teilung des Kontinuums hier keine Anwendung finden kann? Das sind ähnliche Schwierigkeiten, wie sie sich im Hinblick auf die Verwendung der Zahl auch in der Trinitätstheorie ergeben. Thomas versucht, diese Schwierigkeiten dadurch zu beseitigen, dass er eine neue Gattung von Zahlen, nämlich die transzendentalen Zahlen einführt12. Ihre Grundlage ist lediglich das unum transcendens: Grundlage der gewöhnlichen Zahlen ist außerdem auch noch das davon verschiedene unum als principium numeri. Die transzendentalen Zahlen sollen der Immaterialität der Engel angemessen sein, weil ihnen lediglich eine divisio et numerositas formalis zugrunde liegt13. Die gewöhnlichen Zahlen, deren Reihe am Leitfaden der Teilung des Kontinuums konstruiert wird, unterscheiden und zählen Exemplare derselben Art; jedes dieser gezählten Exemplare ist aber wieder teilbar, weil es an der Materie teilhat. Wo andere Verhältnisse herrschen, nämlich bei immateriellen Entitäten wie den Engeln, bei denen Art und Individuum zusammenfallen, und entsprechend auch bei den Aktionen der Engel, bleibt als Maß nur die numerositas formalis übrig14. Diese Unterscheidung transzendentaler und gewöhnlicher Zahlen – nicht zu verwechseln mit der Unterscheidung der zählenden von der gezählten Zahl – zeigt allerdings alle Merkmale einer Verlegenheitslösung, umso mehr, als Thomas nirgends eine Theorie dieser 12

Hierzu vgl. insbesondere Ewald Bodewig, Zahl und Kontinuum in der Philosophie des hl. Thomas, in: Divus Thomas 13, 1935, S. 55–77; 187–207. 13 Die divisio materialis setzt voraus, dass die zu teilenden und zu zählenden Gegenstände etwas Gemeinsames haben: es ist die Teilung, die im exemplarischen Sinn beim Kontinuum stattfindet. Bei der divisio formalis muss diese Voraussetzung nicht erfüllt sein; hier genügt es, dass die zu teilenden Dinge voneinander verschieden sind (S. Th. I,30,3; vgl. auch Bodewig a. a. O. [Anm. 12], S. 57 ff.). 14 Vgl. S. Th. I,50,3: in angelis non est numerus qui est quantitas discreta, causatus ex divisione continui; sed causatus ex distinctione formarum, prout multitudo est de transcendentibus.

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transzendentalen Zahlen vorträgt, sondern es immer nur bei Andeutungen bewenden lässt, aus denen hervorzugehen scheint, dass die transzendentale Arithmetik der gewöhnlichen Arithmetik dann doch genau entspricht. Diese Andeutungen sind jedoch wenigstens hinreichend, die leitende Absicht, nämlich den Aufbau eines nicht auf die Welt des Kontinuums bezogenen Maß- und Kategoriensystems, deutlich zu machen. Die Engelzeit unterscheidet sich also von der gewöhnlichen, von Thomas auch als tempus nostrum bezeichneten Zeit dadurch, dass sie aus Einheiten besteht, die im Gegensatz zu der das Einheitsmaß unserer Zeit bildenden Zeitdauer nicht weiter geteilt werden können. Diese unteilbaren Zeiteinheiten (particulae) bilden eine diskrete Reihe, zwischen deren Elementen nichts ihnen Gleichartiges mehr eingeschoben werden kann – wie es im übrigen der Definition solcher Reihen entspricht. Was also die Engelzeit vom tempus nostrum unterscheidet, ist nicht nur der Sachverhalt, dass es sich bei ihr um eine Sukzession diskreter und atomarer Einheiten handelt, sondern ebenso die Tatsache, dass es überhaupt Elemente gibt, aus denen diese Zeit aufgebaut wird. Vergleichbare Elemente unserer, auf Bewegungskontinua bezogenen Zeit gibt es bekanntlich nicht, zumal da sich Kontinua überhaupt nicht aus Elementen irgendwelcher Art aufbauen lassen. In unserer Zeit sind Augenblicke (instantia) immer nur Grenzen von Zeit­abschnitten, aber keine Teile oder gar Elemente der Zeit; Teile der Zeit können dort nur selbst wieder kontinuierlich teilbare zeitliche Erstreckungen sein. Dagegen sind die unteilbaren und diskreten englischen Zeitpartikeln echte Elemente. Deren Sukzession liegt kein weiteres Medium, etwa gar von der Art einer kontinuierlichen Bewegung, zugrunde. Denn die Sukzession dieser Zeit-Elemente ist keine Sukzession in einer Zeit, sondern sie konstituiert erst die Engelzeit15. Eine englische Zeitpartikel kann wegen ihrer Unteilbarkeit daher auch keinen Verlauf haben; insofern kann sie als Maß den englischen Aktionen, die selbst am Kontinuum keinen Anteil haben, zugeordnet sein. So handelt es sich bei ihr um ein unteilbares und daher auch unausgedehntes Element der Engelzeit (particula ipsius temporis indivisibilis, De inst. c. 1). Wenn Thomas im Zusammenhang der Erörterung der Engelzeit feststellt, „hoc autem imaginationem nostram transcendit“, so ist dies wörtlich zu verstehen. Es ist dies keine Floskel, die nur auf die inhaltliche Kompliziertheit des zur Diskussion stehenden Gegenstandes und auf die mit seiner Erörterung verbundenen Schwierigkeiten hinweisen soll. Denn die diskrete und atomistisch strukturierte Engelzeit übersteigt unser Vorstellungsvermögen in einem präzisierbaren Sinn: unser Vorstellungsvermögen bleibt ebenso wie unsere Anschauung auf die Strukturen des Kontinuums 15

Vgl. Anm. 9.

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bezogen und an sie gebunden16. Was jenseits dieses Bereiches liegt, kann man sich nicht vorstellen, sondern allenfalls denken. Umgekehrt darf man vermuten, dass Dinge, die prinzipiell unanschaulich und unvorstellbar sind, Strukturen aufweisen, die sich nicht in der Welt des Kontinuums darstellen lassen. So wird der Bereich der möglichen Inhalte unserer Vorstellung und unserer Anschauung durch das Kontinuum zugleich ermöglicht und begrenzt. Was bei der thomasischen Konstruktion der Engelzeit als der Sukzessivordnung der diskreten und unteilbaren englischen Aktionen verlorengeht, ist die Einheit der Zeit. Damit ist nicht nur gemeint, dass unsere auf dem Bewegungskontinuum basierende Zeit und die streng diskrete Engelzeit einander ohne Vermittlung gegenüberstehen, weil es kein gemeinsames Maß für sie gibt. Denn auch bereits innerhalb der Engelwelt fehlt ein gemeinsames Zeitmaß: Zur Himmelsbewegung, die die Einheit unserer Zeit gewährleistet, gibt es keine Entsprechung in der Engelwelt. Im Hinblick auf die Zeit ist jeder Engel auf sich selbst gestellt, weil die Ordnung der Abfolge der seinen Aktionen zugeordneten Zeitpartikeln für ihn bereits Zeit ist. Daher gibt es keine Synchronizität der einzelnen englischen Eigenzeiten. Wenn aber die Engel in ihren Aktionen voneinander unabhängig sind, dann muss auch jedem Engel eine ihm spezifische Zeit zukommen. Nun kann Thomas freilich auch für die Engelwelt, in der kein einheitliches Zeitmaß definiert ist, nicht auf alle zeitlichen Ordnungsbeziehungen verzichten. Zwar hat jeder Engel seine ihm zukommende Folge von Zeitpartikeln, die seine Zeit konstituiert. Doch es ist möglich, Relationen zwischen einer Engelzeit und unserer Zeit ebenso wie zwischen verschiedenen Engelzeiten zu definieren17. Dies geschieht mit Hilfe von Gleichzeitigkeitsrelationen, die freilich gegenüber den Gleichzeitigkeitsrelationen, wie sie im Bereich unserer Zeit gelten, modifiziert sind (vgl. De inst. c. 4). Für derartige modifizierte Gleichzeitigkeitsrelationen gilt beispielsweise, dass ein Element, also ein Augenblick einer Engelzeit, mit einer langen Dauer in der 16 imaginatio non potest extendi ultra quantitatem (Quaest. disp. De Pot. Dei 3,19). In einem ähnlichen Zusammenhang, nämlich bei der Erörterung der möglichen Ortslosigkeit des Engels, formuliert Thomas: Sed hoc tamen non est imaginabile, quia imaginatio continuum non transcendit (I Sent. 37,3,1). Wer daher Probleme der englischen Welt erörtern will, muss imaginationem transcendere (vgl. S. Th. I, 52, 2). Vgl. dazu auch Ludger Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur. Stellung und Gehalt des Grundsatzes in der Philosophie des Hl. Thomas von Aquin (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters Bd. 27, H. 2), Münster 1953, bes. S. 131 ff. 17 Damit geht die Lehre von „De instantibus“ über die in der „Summa theologica“ vertretene Position hinaus, die jede Beziehung zwischen Engelzeit und unserer Zeit negierte: si tempus motus angeli non sit continuum, sed successio quaedam ipsorum nunc, non habe­bit proportionem ad tempus quod mensurat motum corporalium, quod est continuum (S. Th. I,53,3).

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Ordnung unserer Zeit, sogar mit unserer ganzen Zeit, koexistieren kann. Diese Relation gilt aber nur für die Zeitdauer als Ganzes; es besteht nämlich keine Gleichzeitigkeitsrelation zwischen Teilen oder auch Augenblicken dieser Dauer und der englischen Zeitpartikel. Denn dann ließe sich leicht ableiten, dass auch verschiedene Augenblicke unserer Zeit gleichzeitig sein könnten, was offenbar unsinnig ist. Das Kontinuum einer Zeitdauer lässt sich aber in keinem Fall auf ein Diskretum wie eine englische Zeitpartikel abbilden. Es handelt sich also um eine Relation, die bereits wegen ihrer Asymmetrie von der im Bereich unserer Zeit geltenden Gleichzeitigkeitsrelation verschieden ist. Mit dieser Modifikation der Gleichzeitigkeitsrelation ist es möglich, zwischen den verschiedenen Zeittypen Ordnungsbeziehungen zu definieren; eine auch den englischen Bereich umfassende Einheit der Zeit lässt sich jedoch auf diese Weise nicht konstruieren18. Wenn man versucht, diese nur scheinbar weit abliegenden Lehrstücke für die philosophische Diskussion fruchtbar zu machen, so sollte man sich davor hüten, allzu unvermittelt Verbindungslinien zu bestimmten Theorien und Begriffsbildungen der Physik unserer Tage zu ziehen. Zwar scheint sich ein solcher Vergleich zunächst anzubieten, etwa wenn man an die Konzeption von bewegungsäquivalenten Vorgängen denkt, die sich von den echten Bewegungen in der Welt des Kontinuums dadurch unterscheiden, dass ihnen eine eindeutige Bahn nicht zugeordnet werden kann; oder an die Konzeption einer aus sukzedierenden, unteilbaren Einheiten bestehenden „atomistischen“ Zeit; oder schließlich an die Tatsache, dass der Gleichzeitigkeitsbegriff einer Modifikation unterzogen wird. Doch dieser Schein trügt. Das wird sofort klar, wenn man den unterschiedlichen Kontext berücksichtigt, innerhalb dessen die jeweiligen Theorien ihre systematische Stelle haben. Dann sieht man leicht, dass es sich in der Tat nur um formale Analogien handelt, die man bekanntlich allzu leicht überbewertet. Darum sind aber die in der thomasischen Engellehre entwickelten Theorien nicht weniger lehrreich. Wir sind nicht daran gehindert, diese Theo 18 Ein Analogon zur einen Zeit unserer Welt ist in der Engelwelt allerdings das aevum. Es steht zwischen Zeit und Ewigkeit und ist als Maß der Dauer jenen Wesen zugeordnet, denen wie den Engeln von Natur aus ein unvergängliches Sein zukommt, ohne dass sie deswegen schon in jeder Hinsicht ewig wären; denn mit ihnen können, unbeschadet der Unveränderlichkeit ihres Seins, zumindest akzidentell Veränderungen verbunden sein (vgl. S. Th. I,9,2; I,10,5; De inst. c. 5). Die hier erörterte Engelzeit bezieht sich also immer nur auf jene das unveränderliche Sein der Engel nicht tangierenden Veränderungen; die Dauer des unvergänglichen Seins des Engels wird dagegen durch das aevum gemessen. Dagegen ist unsere Zeit ein Maß der Dauer auch des Seins der durch sie gemessenen (vergänglichen) Dinge. Thomas kann also auf eine Einheit der Zeit im englischen Bereich auch deswegen leicht verzichten, weil die dieser Zeit zugrunde liegende Veränderung niemals das Wesen des Engels betreffen kann und weil die Engelzeit gegenüber dem aevum von nur sekundärer Bedeutung ist.

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rien unter der Voraussetzung zu untersuchen, dass es sich um Versuche handelt, innerhalb eines Gebietes, das durch dogmatische und traditionelle Vorgaben weniger stark als andere Gebiete prädeterminiert ist, neue Vorstellungen und Begriffe zu entwickeln, die den aristoteloiden Rahmen des thomasischen Kategorialsystems bisweilen sprengen. Gerade die Engellehre konnte so zu einem begrifflichen Experimentierfeld werden – zwar nicht den hinter ihr stehenden Absichten nach, wohl aber im Hinblick auf ihre tatsächliche Funktion. So ist es systematisch gesehen auch kein Zufall, dass man in der Philosophie der beginnenden Neuzeit immer wieder auf Lehrstücke treffen kann, die im Gegenzug zur aristotelischen Tradition entwickelt worden sind, die aber gleichwohl ihre Vorläufer in der mittelalterlichen Engellehre haben19. Dies ist möglich, weil in der Engellehre Regeln und Begriffe, die sonst unangefochten in Geltung waren, in Frage gestellt und suspendiert werden konnten. Wenn es sich die aristotelische Naturphilosophie angelegen sein lässt, Selbstverständlichkeiten auf den Begriff zu bringen, die unserer alltäglichen Erfahrung mit den Dingen zugrunde liegen, so beleuchten manche Positionen der thomasischen Engellehre dieses sonst Selbstverständliche gerade dadurch, dass sie von ihm absehen und Gegenpositionen entwickeln. Was die Struktur des Kontinuums für unsere Anschauung und die in ihr gegebene Welt wirklich bedeutet, lässt sich auch dadurch manifest machen, dass man eine Welt von der Art der Engelwelt entwirft, die von Hause aus am Kontinuum keinen Anteil hat. Im Gegenbild wird hier etwas von dem, was das Kontinuum für unsere Welt bedeutet, vor Augen gestellt. Daher kann man an einem solchen Modell prüfen, von welchen Selbstverständlichkeiten man absehen und welche Konsequenzen man akzeptieren muss, wenn man es mit dem Ansatz der Existenz von Entitäten, die am Kontinuum keinen Anteil haben, ernst meint. Das Selbstverständliche kann als solches niemals gegenständlich bewusst werden. Sobald die Reflexion versucht, es zu erhellen und begrifflich zu bestimmen, ist es im strengen Sinne schon kein Selbstverständliches mehr. Auch dies ist einer der Gründe, warum das philosophische Denken immer gewärtigen muss, dass sein Gegenstand unter der Betrachtung nicht das bleibt, was er zunächst zu sein schien. Zuerst erschienen in: Einheit und Vielheit. Festschrift für Carl Friedrich von Weizsäcker zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Erhard Scheibe und Georg Süßmann. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973, S. 77–90.

19

Über Annahmen scholastischer Engellehren, die Ansätze neuzeitlicher Physik und Physiologie (insbesondere Descartes’) vorwegnehmen, vgl. Rainer Specht, Commercium mentis et corporis, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 12 ff.

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Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft

Kant hat mit der ersten Hälfte seines Alterswerkes, der „Metaphysik der Sitten“, unter dem Titel „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ einen Entwurf vorgelegt, der zu den zentralen klassischen Texten der Rechtsphilosophie gehört. Hier unterzieht er sich einer Aufgabe, die zum Pflichtpensum einer jeden rechtsphilosophischen Bemühung gehört, wenn er Grundnormen zu formulieren und zu begründen unternimmt, denen eine Rechtsordnung nicht widerstreiten darf, wenn sie auf diese Bezeichnung legitimerweise Anspruch erheben will. Es geht ihm darum, aus der Idee der Menschenrechte, von ihm gewöhnlich mit dem Kollektivsingular „Recht der Menschheit“ bezeichnet, derartige Grundnormen herzuleiten. Man kann darüber streiten, ob Kants Entwurf nicht auch Elemente enthält, deren Zeitgebundenheit man heute, wenn man sie nunmehr aus einem gewissen historischen Abstand betrachtet, nicht mehr gut übersehen kann. Dazu könnte man beispielsweise bestimmte Aussagen zur Todesstrafe, zum Eherecht, zur Stellung der Frau, vielleicht sogar zum Widerstandsrecht rechnen. Gleichwohl sollte Kants Anspruch ernst genommen werden, dass hier ein Normensystem entwickelt und vorgestellt wird, das die Minimalbedingungen formulieren will, die überall dort erfüllt sein müssen, wo ein Gemeinwesen den Anspruch, ein Rechtsstaat zu sein, legitimerweise glaubt anmelden zu können. Dieses Normensystem soll zugleich aber auch eine Begrifflichkeit bereitstellen, die es erlaubt, konkrete Tatbestände aus der menschlichen Lebenswelt zu bewerten, ohne dabei die Idee des Rechts aus dem Auge zu verlieren. Gemäß dieser Idee wird das Recht verstanden als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“1. Damit wird bereits deutlich, dass das so verstandene Recht gerade nicht auf die Funktion reduziert wird, lediglich ein ethisches Minimum zu repräsentieren, und zwar deswegen nicht, weil es ausschließlich das äußere Verhalten der Rechtssubjekte, also der Menschen zu regulieren hat. Die für die Ethik zentrale Frage nach der Motivation, die hinter diesem Verhalten 1 VI 230. Kantzitate werden auf die übliche Weise nach der Akademie-Ausgabe nachgewiesen, die „Kritik der reinen Vernunft“ nach den beiden Originalausgaben, die Nachlassreflexionen nach der fortlaufenden Zählung durch Adickes.

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steht, kann es ausklammern und es muss sie sogar ausklammern. Eben darauf beruht denn auch die Differenz von Legalität und Moralität, die zu den Fundamenten von Kants praktischer Philosophie gehört. Es ist gewiss eine der Forderungen des von Kant im kategorischen Imperativ formulierten Sittengesetzes, dass der Mensch mit seinesgleichen in einer rechtlich verfassten Ordnung zusammenlebe. Daraus folgt aber gerade nicht, dass alles, was das Sittengesetz vom Menschen fordert, zugleich als Rechtspflicht gleichsam festgeschrieben werden kann. Im Gegenteil: es kann gerade zu einer Perversion der Rechtsordnung führen, wenn sie die ihr aus der Idee des Rechts gezogenen Grenzen missachtet und vor dem forum externum der Legalität zu verhandeln sucht, was seiner Natur nach dem forum internum der Moral vorbehalten bleiben muss. Im Sinne einer vielzitierten Formulierung Kants lässt sich die Aufgabe, eine Rechtsordnung zu etablieren, selbst von einem Volk von Teufeln lösen. Dies ist deswegen möglich, weil das Recht von den Gesinnungen und den Motivationen des Handelnden gänzlich absieht; das gilt selbst dann noch, wenn man in Rechnung stellt, dass bereits die pure Existenz einer Rechtsordnung ein das menschliche Handeln nachhaltig beeinflussender Motivationsfaktor sein kann. Nun sieht Kant in der menschlichen Gesellschaft gewiss nicht gerade ein Volk von Teufeln. Allemal bleibt ihm der Mensch dennoch ein aus einem so krummen Holz gemachtes Wesen, dass aus ihm niemals etwas Gerades werden kann. An diese der Entwicklung rechtlicher Fundamentalnormen gewidmete naturrechtliche Theorie der „Metaphysik der Sitten“ denkt man zumeist, wenn von Kants Rechtsphilosophie die Rede ist. An sie sollte hier nur erinnert werden, damit klargestellt wird, was im Folgenden gerade nicht thematisiert werden soll. Denn diese Theorie der obersten Normen und ihrer Begründung repräsentiert in Wirklichkeit nur eine der Ebenen der kantischen Rechtsphilosophie. Diese Philosophie kennt indessen, ähnlich wie in der Ethik, auch noch eine andere Ebene. Sie enthält gleichsam eine Tiefenschicht, deren Existenz oft übersehen wird, vermutlich auch deshalb, weil sich Kant auf sie immer nur in verstreuten Hinweisen, niemals aber im systematischen Zusammenhang bezogen hat. Hier handelt es sich um einen Inbegriff von Fragen, wie sie sich überall dort stellen, wo Rechtsnormen, wie immer sie formuliert und begründet sein mögen, im konkreten Einzelfall angewendet werden sollen. Zunächst könnte man vermuten, dass damit ein eher nachrangiger Problemkreis bezeichnet wird. Denn es könnte scheinen, es bedürfe, wenn einem klar formulierte und schlüssig legitimierte Normen bereits zur Verfügung stehen, nur noch der Subsumption des jeweiligen Einzelfalles unter die für ihn zuständige Norm, um ihn auf korrekte Weise zu regulieren. Die Bindung der Justiz, aber auch der Verwaltung an Recht und Gesetz scheint von den jeweils zuständigen Instanzen eines Rechtsstaats keine gestaltende und schon gar keine schöpferische

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Leistung zu verlangen, wenn sie ihnen nur zumutet, jeden Einzelfall mittels einer Subsumption unter gegebene Normen zu entscheiden, die für sich Allgemeingültigkeit beanspruchen. Kant wusste jedoch, warum solche Subsumptionen sehr oft Aufgaben stellen, deren Lösung schlechterdings nicht trivial ist. Als Faktum ist dies ohnehin jedem vertraut, der mit solchen Dingen befasst ist. Denn weil es niemals eine Norm geben kann, die die Fähigkeit hat, sich selbst anzuwenden und zur Geltung zu bringen, bedarf es begriffsnotwendig stets einer Instanz, die die zur Anwendung der Norm nötige Subsumption vornimmt. Diese Instanz kann niemals ein ideales Gebilde sein, das selbst den Status einer Norm hat. Es muss eine reale Person sein, der die Aufgabe zufällt, den Hiatus zwischen genereller Norm und Einzelfall zu überbrücken. Auf welche Weise und unter welchen Bedingungen eben dies geleistet werden kann, ist eines der Themen, deren Behandlung in den Zuständigkeits­bereich der Rechtsphilosophie der „unteren Ebene“ fällt. Dieser Ebene kann auch vieles von dem zugeordnet werden, was man heute nicht der Philosophie des Rechts, sondern eher der Methodologie der Rechtswissenschaft zuordnen würde. Doch die Bezeichnung der Kompetenzbereiche ist in diesem Zusammenhang höchstens von nachrangiger Bedeutung, solange man sich darüber einig ist, dass die Probleme, mit denen man hier konfrontiert ist, auch unter dem philosophischen Gesichtswinkel keinesfalls ein geringeres Gewicht haben als die mit der Aufsuchung und der Legitimation einer Grundnorm verbundenen Fragen. Bei dem Versuch, diese Probleme zu lösen, kann man aus der modernen Wissenschaftstheorie und aus ihren Ergebnissen nur in sehr bescheidenem Umfang Nutzen ziehen. Das rührt vor allem daher, dass sich die Wissenschaftstheorie unserer Gegenwart ganz einseitig an den Methoden und Problemen der theoretischen Disziplinen orientiert. Diese Disziplinen bemühen sich um die Entdeckung von Sachverhalten und um die Begründung von Erkenntnissen über sie. Dabei kann es sich im übrigen um Erkenntnisse von ganz unterschiedlichen Allgemeinheitsgraden handeln. Sie sehen es nicht mehr als ihre Aufgabe an, den Gebrauch zu kontrollieren, der von ihren Resultaten gemacht wird, – in welchen Zusammenhängen auch immer dies geschehen mag. Die Rechtswissenschaft ist demgegenüber, wie auch die Medizin, eine praktische Wissenschaft. Praktisch ist sie aber nicht deswegen, weil sie auf die Vornahme von Hantierungen angewiesen wäre, sondern aus einem anderen Grund: Die Gewinnung von allgemeingültigen Sätzen, mögen sie deskriptiven oder normativen Status haben, ist nicht der letzte Zweck, den sie mit ihrer Arbeit verfolgt. Denn derartige Resultate erfüllen immer nur eine Dienstfunktion, wenn sie dazu benutzt werden, eine legitimationsfähige Regulierung von konkreten Einzelsachverhalten und Einzelsituationen zu ermöglichen. Solche singulären Fakten sind in

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einer praktischen Disziplin Gegenstand nicht nur des Erkennens, sondern vor allem auch des Veränderns und des Gestaltens. Alles Handeln wird nämlich stets in der konkreten Situation des jeweiligen Einzelfalles exekutiert. So kann es kein Handeln im Allgemeinen geben. Der Theoretiker ist berechtigt, wenngleich nicht verpflichtet, sich auf die Ebene des Allgemeinen zurückzuziehen und dort zu verbleiben; daher kann er den Einzelfall jedenfalls einstweilig vernachlässigen. Die Mannigfaltigkeit der konkreten Einzelfälle, mit denen der Vertreter einer praktischen Disziplin konfrontiert wird, kann dieser jedoch mit Hilfe einer Theorie allein nicht bewältigen. Das ist auch einer der Gründe, die Kant veranlassen, seiner Rechtsphilo­ sophie nicht den Titel einer Metaphysik des Rechts zu geben, sondern sie als „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ vorzustellen: Die Mannigfaltigkeit der Einzelfälle wird von keinem System erreicht2. Praktisch ist eine wissenschaftliche Disziplin gerade dann, wenn ihr eigentliches Ziel darin besteht, den Hiatus zwischen Allgemeinem und Einzelnem für jeden Einzelfall zu überbrücken, der ihr präsentiert wird, gleichgültig, ob es zu dieser Überbrückung einer gegenständlichen Hantierung bedarf oder nicht. Auf die Regulierung des Einzelfalles kann sie niemals verzichten, – sie wäre sonst nichts als Theorie. Verzichten kann sie aber auch nicht auf das Allgemeine, da sich die Praxis nicht in einem blinden oder unreflektierten Eintauchen in die Vielfalt des Einzelnen verwirklicht, sondern darin, dass das Einzelne unter dem Blickwinkel eines Allgemeinen, beispielsweise einer Norm, betrachtet und bewertet wird. Es „heißt nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks Praxis, welche als Befolgung gewisser im Allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird“3. Damit ist klar, warum es einer Mittelinstanz bedarf, die die allgemeine Norm oder die allgemeine Regel auf der einen Seite mit dem Einzelfall auf der anderen Seite verknüpft. Diese vermittelnde Instanz tritt bei Kant unter dem Namen der Urteilskraft auf. Es handelt sich um ein Vermögen, das auch für die konkrete Realisierung des Rechts überall dort in Anspruch genommen wird, wo ein Einzelnes unter ein Allgemeines subsumiert werden soll, mag dieses Allgemeine eine Norm oder eine Regel sein. Kant handelt von dem Vermögen der Urteilskraft an einer Reihe von Stellen, vor allem natürlich in der Dritten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft“. Gerade sie gibt aber für das Verständnis der Funktion und der Aufgabe der Urteilskraft im Recht unmittelbar sehr wenig her. So muss man sich zunächst an eine Reihe von Stellen halten, an denen die Urteilskraft und ihre Funktion eher beiläufig behandelt wird.

2 3

Vgl. VI 205. VIII 275.

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In der „Kritik der reinen Vernunft“ findet sich zu Beginn des von Kant auch als „Transzendentale Doktrin der Urteilskraft“ bezeichneten Lehrstücks der „Analytik der Grundsätze“ eine Überlegung, die sich auf die Urteilskraft im allgemeinen bezieht: „Ein Arzt daher, ein Richter, oder ein Staatskundiger, kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden.“4 Mit anderen Worten drückt dies ein kleiner Aufsatz der neunziger Jahre aus: „So kann es Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt, z. B. Ärzte oder Rechtsgelehrte, die ihre Schule gut gemacht haben, die aber, wenn sie ein Consilium zu geben haben, nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen.“5 In der Jurisprudenz als einer praktischen Disziplin bedarf es also stets einer urteilenden Instanz, um generelle Regeln und Normen auf Einzelfälle sachgerecht anwenden zu können. Das impliziert natürlich nicht, dass die theoretischen Wissenschaften auf die Hilfe der Urteilskraft gänzlich verzichten könnten. Doch in ihnen nimmt die Urteilskraft nun einmal nicht die zentrale Stellung ein, die ihr in den praktischen Disziplinen zugestanden werden muss. Dafür gibt es leicht einzusehende Gründe. So weisen alle theoretischen Wissenschaften, zumindest der Idee nach, in Bezug auf die Gegenstände, auf die sie ihre Intentionen richten, eine eigentümliche Souveränität auf. Denn die Wissenschaft selbst ist es, die hier ihre Gegenstände auswählt, die Fragen aufwirft und die Probleme formuliert; sie selbst entwickelt auch die Methoden und befindet über ihren Einsatz. Anders verhalten sich die Dinge in den praktischen Disziplinen. Dem Juristen werden ebenso wie dem Arzt die zu lösenden Probleme von außen gestellt, und zwar zunächst immer in Gestalt von Einzelfällen in konkreten Situationen. So hat gerade der Richter nicht die Freiheit, darüber zu entscheiden, mit welchen Problemen, also mit welchen Einzelfällen er sich befassen will und mit welchen nicht. Der Unabhängigkeit, die ihm in einem Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, in den Fragen zugestanden wird, die den Inhalt des von ihm zu fällenden Urteils betreffen, entspricht auf der anderen Seite der Zwang, den ihm vorgelegten Fall entscheiden zu müssen und ihn nicht einfach zurückweisen zu dürfen. Denn eine Rechtsordnung erhebt immer 4 5

A 133/B 173. VIII 275.

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den Anspruch, zumindest der Idee nach mit ihren Normen die Gesamtheit der vorkommenden, ja der überhaupt denkbaren Fälle und Probleme ihres Einzugsbereichs abdecken zu können. Ob man nun aber ein naturrechtliches oder ein positivrechtliches System ins Auge fasst, – in jedem Fall steht nur eine endliche Anzahl von Normen mit endlich vielen in ihnen berücksichtigten Tatbestandsmerkmalen zur Verfügung, um eine unübersehbar große, praktisch sogar potentiell unendliche Anzahl von Einzelfällen zu regulieren, von denen keiner dem anderen genau gleicht, zumal da in der Realität jede konkrete Einzelsituation eine unerschöpfliche Anzahl von Merkmalen aufweist. Von dieser Art sind die Situationen, in denen von der Urteilskraft gefordert wird, die beiden nicht nur inhaltlich, sondern auch kategorial heterogenen Elemente, nämlich Norm und Einzelfall mittels der Operation der Subsumption aufeinander zu beziehen. Gewiss ist die Lösung dieser Aufgabe für manche Einzelfälle trivial. Dies sollte einen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dieser mit dem Namen der Subsumption bezeichneten Zuordnung eine ganze Reihe von nicht leicht zu entwirrenden Problemen verbunden sein kann. Kant war sich bewusst, dass die Einzelfälle eben „nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen“6, der Regel nämlich, unter die sie subsumiert werden sollen. Deshalb kann bei der Lösung jeder nichttrivialen Subsumptionsaufgabe eine Entscheidung notwendig werden, wie immer diese Entscheidung dann auch begründet werden mag. Denn eine Gesetzesformel kann, wie Kant in einer Nachlassreflexion notiert, „niemals so genau bestimmt werden, daß sich nicht Fälle finden sollten, die unter die Bedingung des Gesetzes gehören, welchen aber der Ausspruch des Gesetzes nicht anpaßt“7. Damit ist bereits deutlich geworden, von welcher Art die Schwierigkeiten sind, die bei dem Versuch, eine Subsumption vorzunehmen, virulent werden können. Denn gerade die nichttrivialen Subsumptionen sind ja nicht von der Art, dass ein eindeutig vorgegebener Einzelfall mit einer ebenso eindeutig vorgegebenen Norm lediglich verknüpft werden müsste. Es geht aber in der Regel auch nicht darum, dass zu einer gegebenen Norm ein passender Einzelfall erst noch aufgesucht werden müsste; dergleichen wird allenfalls gelegentlich einmal zu didaktischen Zwecken verlangt. Die Situation, in der die Urteilskraft der Juristen gefordert ist, wird vielmehr dadurch charakterisiert, dass zu einem Einzelfall, der dem Juristen zur Entscheidung oder zur Beratung präsentiert wird, die Norm oder die Normen allererst gesucht und gefunden werden müssen, die eine vertretbare Subsumption erlauben. In der Lösung eben dieser Aufgabe besteht die eigent 6 7

A 134/B 173. R 430.

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lich produktive Leistung der Urteilskraft; es ist eine Leistung, bei der sie sich nicht vertreten lassen kann. Kant hat die Aufgaben dieses Vermögens in der Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft“ auch terminologisch unterschieden: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine ([…] das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert […] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.“8 Man sollte sich durch dieses „bloß“ nicht irritieren lassen; es hat jedenfalls keine abwertende Bedeutung. Im Gegenteil: die reflektierende Urteilskraft hat die schwierigere Aufgabe zu bewältigen. Als „bloß“ reflektierend kann sie nur deshalb bezeichnet werden, weil die bestimmende Urteilskraft erst in Tätigkeit treten kann, wenn die reflektierende Urteilskraft ihre Aufgabe bereits erfüllt hat. Deshalb muss die bestimmende die reflektierende Urteilskraft voraussetzen, nicht aber umgekehrt. So markiert die reflektierende Urteilskraft den eigentlichen Kern der Aktivität dieses Vermögens. Ist die einschlägige und geeignete Gesetzesnorm erst einmal gefunden, dann, aber auch nur dann ist die nachfolgende Subsumption in den meisten Fällen nur noch die Lösung einer trivialen Aufgabe. Nicht trivial ist es aber, zu einem Einzelfall, der einem präsentiert wird, genau die Normen zu finden, die für seine Regulierung geeignet sind. Damit stellt sich sogleich die Frage, ob es einen Leitfaden gibt, an den sich die Urteilskraft halten kann, wenn sie ihren Aufgaben nachgeht und ihnen gerecht werden will. Man könnte zunächst vermuten, dass es vor allem die Logik ist, deren Hilfe von der Urteilskraft hier in Anspruch genommen wird. Doch diese Möglichkeit schließt Kant sogleich aus: „Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert; so bleibt ihr nichts übrig, als […] formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft.“9 Für die Anwendung von Regeln lassen sich also niemals Regeln höherer Stufe angeben, in Bezug auf die man nicht sogleich wieder in ein Anwendungsproblem auf der nächst höheren Stufe verwickelt würde. Das gleiche gilt natürlich für die Anwendung von Normen. Daher würde einen die Frage nach den Normen, die die Anwendung von Normen regulieren, wenn man der inneren Konse 8 9

V 179. A132/B 171.

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quenz des Gedankens folgt, in einen unendlichen Regress führen. Auch im Rechtswesen muss jeder Praktiker für jeden ihm vorkommenden Einzelfall entscheiden, ob er ein Fall einer bestimmten Regel ist oder nicht. Es können aber für ihn ebenso wie „für die Urteilskraft nicht immer wiederum Regeln gegeben werden […], wonach sie sich in der Subsumption zu richten habe (weil das ins Unendliche gehen würde)“10. Dadurch wird gewiss nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, mehrstufige Systeme zu verwenden, bei denen die Geschäfte der Normenfindung und der Normenanwendung selbst wieder mit Hilfe von Anwendungsnormen reguliert werden. Ohnehin gibt es kein differenziertes, funktionsfähiges Rechtssystem, das für die Auslegung seiner Normen auf ein gewisses Repertoire von Auslegungsregeln und Applikationsnormen verzichten könnte. Doch es sind immer nur pragmatische Lösungen, die auf diese Weise ermöglicht werden. Grundsätzliche Lösungen schließt der mit dem Anwendungsproblem verbundene unendliche Regress jedenfalls aus. Die Zuordnung von Norm und Einzelfall kann daher in letzter Instanz niemals durch die Anwendung einer Regel mit einer jeden möglichen Zweifel ausschließenden Gewissheit legitimiert werden. Der erwähnte unendliche Regress liefert somit auch ein Indiz dafür, dass die Tätigkeit der Urteilskraft niemals ohne Rest operationalisiert werden kann. Dieses Vermögen kann sich gewiss manchmal auch der Hilfe von Kalkülen bedienen. Doch die Urteilskraft selbst kann ihre Kompetenz an keinen Kalkül abtreten. Man könnte sogar den Verdacht schöpfen, dass hier möglicherweise eine Schwachstelle in der Urteilskraft auszumachen ist, wenn ihre Aktivität nicht letztgültig und lückenlos kontrolliert werden kann. In den Fragen der Zuordnung von Einzelfall und Norm ist es daher sinnlos, dem Phantom einer vollkommenen, beispielsweise durch strenge Beweise vermittelten Sicherheit nachjagen zu wollen. Wo die Leistungen der Urteilskraft gefordert sind, bleibt man immer darauf angewiesen, einen Rest an Unsicherheit zu akzeptieren, mit dem jeder leben muss. Würde diese Unsicherheit nicht bestehen und gäbe es deswegen keinen Bedarf, sie zu minimieren, wäre es kaum zu verstehen, warum differenzierte Rechtsordnungen für die Überprüfung von richterlichen Urteilen einen Instanzenzug vorsehen, der die Möglichkeit eröffnet, Urteile zu modifizieren, aufzuheben oder die Sache neu zu verhandeln. Kant, der eine Theorie über die Urteilskraft entwickelt, muss diesen Schwierigkeiten nun aber auch auf der Ebene der Prinzipien begegnen. Der theoretische Ausweg, den er findet, ist überraschend einfach: Er besteht in der Option zugunsten einer Naturalisierung der Urteilskraft. Wenn schon ihre Tätigkeit nicht ohne Rest operationalisiert werden kann, so bleibt 10

VIII 275.

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immer­hin noch die Möglichkeit, sie als eine Fähigkeit zu akzeptieren, die zu der dem Menschen von der Natur gegebenen Ausstattung gehört. Mit ihr ist der eine Mensch in höherem, der andere in geringerem Maße versehen worden. Das ist der Grund dafür, dass „Urteilskraft […] ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Spezifische des so genannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann; denn, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf […] darreichen und gleichsam einpfropfen kann; so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist, in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher“11. Der Status der Urteilskraft erhält noch eine besondere Kontur vor dem Hintergrund ihres Gegenbildes. Damit ist das ihr zugeordnete, zu ihr reziproke Ausfallsphänomen gemeint: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“12 Dummheit besteht also nicht in einem Mangel an Kenntnissen oder Informationen; einem derartigen Mangel ließe sich immer noch durch den Erwerb der fehlenden Kenntnisse abhelfen, da es zu deren Wesen gehört, dass sie transferierbar sind. Dummheit besteht vielmehr im Mangel an der Fähigkeit, mit seinen Kenntnissen, wie arm oder wie reich sie auch immer sein mögen, auf sinnvolle Weise umzugehen. Man kann die Differenz, auf die Kant hier besonderen Wert legt, durch eine zu ihr parallele, in der gegenwärtigen Philosophie beliebte Unterscheidung verdeutlichen: Kenntnisse, selbst wenn sie sich auf Normen oder Regeln als auf ihren Gegenstand beziehen, lassen sich immer objektivieren; das geschieht beispielsweise dann, wenn sie in sprachlichen Ausdrücken dokumentiert und in dieser Gestalt mitgeteilt werden. Insofern gehören sie zum Bereich des durch seine propositionale Struktur charakterisierten „Know-that“. Dagegen gehört die Urteilskraft, die mit dergleichen nur umgeht, weil sie Informationen, Normen und Regeln zuerst auffinden und dann anwenden muss, einem anderen kategorialen Typus an. Sie hat als solche keine Inhalte, weil sie zu den nicht objektivierbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten gehört, also zu dem, was man heute unter dem Obertitel des „Know-how“ zusammenzufassen pflegt. Es versteht sich von selbst, dass es sich hier um zwei Wissensformen handelt, die nicht so sehr durch die Gegenstände unterschieden sind, auf die sie sich richten, sondern vielmehr durch ihre Struktur und durch den Modus, in dem sie wirkliche und mögliche Inhalte intendieren. Die Inhalte des gegenständlichen Wissens können objektiviert und mitgeteilt werden. Die Urteilskraft hat dagegen 11 12

A 133/B 172. A 133/B 172.

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den Status einer Fähigkeit, die selbst und als solche keine eigenen Inhalte hat, die jedoch der Inhalte bedarf, weil sie sich nur an ihnen, wenn sie ihr präsentiert werden, bewähren kann. In einem Kontext, in dem rechtsphilosophische Probleme erörtert werden, ergibt sich nun aber eine Schwierigkeit aus der Tatsache, dass Kant keine Untersuchung der Urteilskraft und ihrer Verfahrensweise in abstracto vorlegt, sondern immer nur Elemente dieses Vermögens und der Resultate seiner Betätigung vor Augen stellt. Dieses Vermögen wird von ihm exemplarisch untersucht, nämlich in der „Kritik der Urteilskraft“ am Beispiel der ästhetischen Urteilskraft, wie sie vor allem in Gestalt des Geschmacks greifbar wird. Nun ist es kein Zufall, dass Kant gerade dieses Paradigma gewählt hat. Denn die Urteilskraft muss sonst überall, wo sie tätig wird, mit anderen Vermögen, beispielsweise mit dem Verstand oder mit dem Willen in einer Weise kooperieren, die es nur unter großer Mühe erlaubt, ihren eigenen Anteil herauszupräparieren. Nur dort, wo sie in Gestalt des Geschmacks tätig ist, ist sie rein als solche und unabhängig von anderen Vorstellungsvermögen tätig. Gewiss wäre es eine lohnende Aufgabe, auf der Grundlage der kantischen „Ästhetik“ eine Lehre von der Urteilskraft im allgemeinen zu erarbeiten, um sie für eine Durchleuchtung auch jener Gestalt der Urteilskraft fruchtbar machen zu können, die vom Juristen in Anspruch genommen wird, wenn er seinen Aufgaben nachgeht. Im vorliegenden Zusammenhang kann dies freilich nicht geleistet werden. Es ist indessen ein Glücksfall, dass man sich in diesen Dingen zumindest an eine Reihe von einzelnen Überlegungen Kants halten kann, die in den Nachlassreflexionen verstreut sind und die einem gleichsam als Orientierungspunkte dienen können, im Blick auf die sich ein ganzes Gelände vermessen lässt. Wenn Kant in der Urteilskraft ein naturgegebenes Talent sieht, so bedeutet das gerade nicht, dass es sich bei diesem Vermögen um ein factum brutum im Sinne einer angeborenen und zugleich unveränderlichen Ausstattung handeln würde, deren Existenz von ihrem Besitzer lediglich zur Kenntnis genommen werden könnte. Gewiss ist der Mangel an dieser Fähigkeit, auch Dummheit genannt, ein Defizit, das schlechterdings durch nichts kompensiert werden kann. Trotzdem ist jene Naturgabe bei jedem, der mit ihr bedacht worden ist, der Kultivierung und der Ausbildung nicht nur fähig, sondern sogar bedürftig. Doch dazu bedarf es nicht der Mitteilung von Informationen, sondern der Differenzierung und der Ausformung jener Fähigkeit, mit der auf angemessene Weise umzugehen ein jeder zunächst noch lernen muss, der von der Natur mit ihr ausgestattet worden ist. Dies kann immer nur in der Weise der Übung und der Einübung geschehen. Dazu ist es nötig, dass man sich mit einer großen Zahl von Einzelfällen auseinandersetzt, sei es unter Anleitung, sei es nach dem Grundsatz von Versuch und Irrtum. Einer solchen Übung bedarf es jedenfalls überall dort, wo

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eine generelle, bereits von Hause aus auf alle Einzelfälle nahtlos passende Regel nicht präsent ist, die einen der Mühe entheben könnte, die eigene Fähigkeit zur Applikation anhand von Einzelfällen zu schulen. Es lassen sich deshalb zwei Gründe unterscheiden, aus denen ein Richter oder ein Arzt in der Anwendung seiner Regeln und Normen danebengreifen kann. Es kann einmal dann geschehen, wenn es dem Urteilenden an natürlicher Urteilskraft mangelt, andererseits aber auch dann, wenn „er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden“ ist13. Übung an Beispielen schärft gewiss die Urteilskraft; aber die Kenntnis auch noch so vieler Beispiele allein kann einen Mangel an Urteilskraft dort, wo er vorliegt, niemals wettmachen. Denn auch als Übungsmaterial können Beispiele nur deswegen dienen, weil zumindest der Idee nach ein jedes von ihnen zunächst einmal auch selbst beurteilt worden sein muss14. Es kann immer nur ein Beispiel für eine Norm sein, niemals jedoch kann es die Funktion der Norm selbst erfüllen. Die Kultivierung der Urteilskraft mittels Übung erfordert in jedem Fall Zeit. Kant bezeichnet sie deswegen auch einmal als den „Verstand, der nicht vor Jahren kommt“15. Gerne bedient er sich in einschlägigen Zusammenhängen auch der organologischen Metaphorik der Reife, vor allem dann, wenn er zugleich die Entwicklungsfähigkeit der Urteilskraft unterstreichen will und dann, um das Ziel dieser Entwicklung zu kennzeichnen, auch von einer „gereiften“ Urteilskraft spricht. In jedem Fall bleibt aber die Urteilskraft ein Vermögen, „dessen Stelle nicht durch eine allgemeine Vorschrift kann ersetzt werden“16. Bezeichnenderweise liefert Kant die Entwicklungsbedürftigkeit der Ur­ teilskraft und der zu einer Entwicklung erforderliche Zeitraum sogar ein Argument zur Rechtfertigung der Institution des Berufsbeamtentums. Denn der Funktionsträger des Staates ist „seinem ihm auferlegten Geschäfte völlig gewachsen“ und er verfügt über eine „durch Übung erlangte reife Urteilskraft“ nur unter der Voraussetzung, dass er „durch eine hinlängliche Zeit hindurch“ auf seine Amtstätigkeit vorbereitet worden ist. Dies ist indessen eine Zeit „über der er diejenige versäumt, die er zur Erlernung eines anderen ihn nährenden Geschäfts hätte verwenden können“17. Es ist eine Crux jedes ernsthaften Kantstudiums, dass Kant in terminologischen Dingen nicht selten eine den Leser verwirrende Großzügigkeit zeigt. Er kann auf der einen Seite den Verstand, der der Belehrung bedarf, von der 13

A 134/B 173. Vgl. V 355, A 315/B 372. 15 VII 199. 16 R 5237. 17 VI 328. 14

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Urteilskraft unterscheiden, die nicht durch Belehrung, sondern nur durch Übung vervollkommnet werden kann. Auf der anderen Seite kann er vom Verstand aber auch in einem viel weiteren Sinne sprechen, so nämlich, dass die Urteilskraft nur als eine besondere Erscheinungsform dieses im weiteren Sinne aufgefassten Verstandes auftritt, der in diesem Fall den Inbegriff der „oberen Erkenntnisvermögen“ umfasst, wie sie Kant gelegentlich noch in Anlehnung an den von ihm vorgefundenen, traditionellen Sprachgebrauch bezeichnet18. Auch die eben erwähnte Charakterisierung der Urteilskraft als des „Verstandes, der nicht vor Jahren kommt“, gehört in diesen Zusammenhang. Von der Urteilskraft spricht Kant in diesem Sinne aber auch gern als vom „gesunden Verstand“ oder als von der „gesunden Vernunft“19. So formuliert eine Reflexion: „Der gesunde Verstand ist das Vermögen, eine allgemeine Fertigkeit empirisch zu urteilen in concreto zu beweisen.“20 In besonderem Maße ist es gerade der Richter, der dieser gesunden Vernunft bedarf. Speziell auf seine gesunde Vernunft gemünzt ist der Satz: „Die gesunde Vernunft kann nicht, wenn sie mangelt, durch spekulative ersetzt werden; denn sie beruht auf dem Vermögen, viele Umstände, die unmöglich unter so viel Regeln gebracht werden können, zu übersehen.“21 Hier liegt es auf der Hand, dass eben jenes Vermögen gemeint ist, das von Kant in anderen Texten mit dem Namen der Urteilskraft bezeichnet wird. Man würde Kant allerdings missverstehen, wollte man ihn solcher Thesen wegen als einen Anhänger des case law-Systems oder einen Vertreter von Auffassungen betrachten, wie sie beispielsweise von der Freirechtsschule vertreten worden sind. Gleichwohl sollte man niemals übersehen, in welcher Weise Kant die Unhintergehbarkeit des individuellen Einzelfalles betont. Ein solcher Fall vermag seine Singularität stets gegenüber der Allgemeinheit der zu seiner Regulierung bestimmten Norm zur Geltung zu bringen. Hier ist sogar ein spezifisches Merkmal zu finden, das die Jurisprudenz als eine praktische Disziplin sui generis charakterisiert: „Es ist auch merkwürdig, daß keine Wissenschaft, die sich auf Vernunft gründet, so der Vielheit der Fälle nötig hat, an welchen die Regeln in concreto geprüft werden könnten als Rechtswissenschaft.“22 Eine Merkwürdigkeit ist dies nämlich gerade deswegen, weil die Erkenntnisse dieser Disziplin den Anspruch erheben, Erkenntnisse aus Vernunft zu sein. Vernunft muss sich jedoch stets an einem Allgemeinen ausrichten. Zu beachten ist ferner, dass die Einzelfälle nicht nur einseitig auf Grund der normativen Regeln 18

Z. B. A 130/B 169. Vgl. etwa V 169, R 444. 20 R 433. 21 R 444. 22 R 430. 19

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beurteilt werden. Reziprok hierzu wird ja gesagt, dass umgekehrt auch die Regeln an den konkreten Fällen geprüft werden müssen. Den Grund hierfür gibt Kant an: „Das Recht ist das einzige Vernunfterkenntnis, wo die Regel in concreto durch gemeinen Verstand sicherer als in abstracto erkannt wird, ja diese so gar jenes Urteil verdirbt.“23 Hier wird deutlich, dass der Allgemeinheitsanspruch der Norm keineswegs zugunsten der Konkretion und der Singularität des Einzelfalles geopfert werden soll. Im Gegenteil: geht man mit dem Recht auf die richtige Weise um, so zeigt sich, dass es der allgemeinen Normen bedarf, die freilich die Eigenart an sich haben, dass ihr Wesen immer nur in Bezug auf den konkreten Einzelfall erkannt werden können. Die allgemeinen Normen können niemals so formuliert werden, dass sie randscharf auf jeden einschlägigen Einzelfall passen. Die von diesem Einzelfall abgelöste Norm bleibt daher immer etwas Fragmentarisches, weil sie ihren Inhalt nur dort unverkürzt zeigt, wo sie sachgerecht mit Hilfe der Urteilskraft appliziert wird. Das kann aber immer nur an einem Beispiel geschehen. Von hier aus lässt sich nun aber auch Kants Lehre vom positiven Recht und von der Gesetzgebung besser verstehen. Die Gesetze des positiven Rechts sind zwar Normen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit; ihrer vom Einzelfall abgelösten Abstraktheit wegen kann ihre Geltung aber immer nur vorläufig sein. Kant ist jedenfalls weit davon entfernt, in seinem in der „Metaphysik der Sitten“ vorgelegten naturrechtlichen Entwurf zugleich eine oberste positive Norm zu sehen, die notfalls auch den Anspruch auf zwangsweise Durchsetzung erheben könnte. Gewiss gilt auf der einen Seite der Satz, „daß es leichter ist, in jedem gegebenen Falle, da das factum wohl eruiert ist, ohne Gesetzesformel zu entscheiden, was Recht ist, als nach irgendeiner Formel“24. Das ist jedoch nur eine zwar begründbare Denkmöglichkeit, aus der aber für den Juristen in seiner täglichen Arbeit wenig folgt. Unter den Bedingungen der realen Welt bedarf das Recht stets der äußeren Publizität, nämlich einer „beständigen, für jedermann zugänglichen Norm“, die von der Regierung oder von einem positiven Gesetzgeber sanktioniert worden ist25. Der positiven Gesetzgebung bedarf es schon deswegen, weil ohne sie der Einzelne gar nicht genau wüsste, woran er sein äußeres Handeln zu orientieren und was er von dem Handeln eines anderen zu gewärtigen hat. Selbst dann bleibt für ihn immer noch eine Ungewissheit bestehen, wie sie in der Tatsache gründet, dass allgemeine Norm und Einzelfall niemals exakt kongruieren. Deswegen hat Kant auch Verständ-

23

R 430; vgl. R 432. R 430. 25 VII 22. 24

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nis für „die Klage der Juristen, daß es beinahe vergeblich sei, eine genau bestimmte Norm der Rechtspflege (ius certum) zu hoffen“26. Denn auch der beste Jurist kann, zu seinem Leidwesen, seinem Klienten im Einzelfall niemals mit letzter, jeden Zweifel ausschließenden Sicherheit garantieren, wie ein Rechtsstreit entschieden werden wird. Der von einem positiven Gesetzgeber sanktionierten Normen bedarf es aber auch deswegen, weil mangels ihrer die Geltung und die Beachtung des Rechts schwerlich durchgesetzt werden könnte, – notfalls eben auch gegen den widerstrebenden Willen der Rechtsunterworfenen. In der realen Welt stehen naturrechtliche Normen nicht über dem positiven Recht; sie lassen sich gegen dieses Recht forensisch nicht geltend machen. Auch naturrechtlich legitimierte Normen müssen, auch der Rechtssicherheit wegen, um in der realen Welt gesetzt werden zu können, von einem positiven Gesetzgeber sanktioniert werden. „Daher schöpft […] der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht“27 und „der schriftgelehrte Jurist sucht die Gesetze der Sicherung des Mein und Dein […] nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch“28. Es sind vor allem Gesichtspunkte der Rechtssicherheit, unter denen selbst noch Abweichungen des positiven Rechts vom Naturrecht gerechtfertigt werden können29. Nur auf Grund der in einem Gesetzbuch formulierten, positiven Normen soll also die Fülle der zu einer Entscheidung präsentierten Einzelfälle reguliert werden. Deshalb muss der Rechtsanwender gerade hier seine Urteilskraft bewähren, zumal da sich kaum eine Norm finden lässt, mit der man einen Einzelfall lückenlos zur Deckung bringen kann, da nun einmal einer endlichen Anzahl von Normmerkmalen eine praktisch unbegrenzte Zahl von Merkmalen gegenübersteht, die den konkreten Einzelfall charakterisieren. So bleibt immer die Gefahr bestehen, eine Regel oder eine Norm auch zu missbrauchen, wenn sie nicht von einer Instanz angewendet wird, die eine gereifte Urteilskraft ins Spiel bringt: „Keine Regel […] ist […] vor Mißbrauch sicher.“30 Dessen soll sich auch jeder Gesetzgeber bewusst sein. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Normen so zu formulieren, dass sie einem möglichen Missbrauch nicht noch entgegenkommen, wenn es schon nicht möglich ist, sie gegen Missbrauch zu immunisieren: „Ein Gesetz, das leicht mißbraucht werden kann, scheint Unrecht zu sein.“31 Aber die Ge-

26 27 28 29 30 31

VII 25. VII 23. VII 24. Vgl. VI 297 ff. A 133/B 172. R 196.

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fahr möglichen Missbrauchs lässt sich auch durch eine noch so sorgfältige Formulierung einer Gesetzesnorm niemals völlig ausschalten. Deswegen bleibt jede Anwendung einer positiven Gesetzesnorm letztlich auf die Hilfe der Urteilskraft angewiesen. Jedenfalls ist die niemals ganz zu neutralisierende Möglichkeit ihres Missbrauchs schon durch den niemals nahtlos zu überbrückenden Hiatus zwischen genereller, abstrakter Norm und Einzelfall vorgezeichnet. Subsumiert man einen Einzelfall unter eine Norm, so vollzieht man normalerweise nur den Schlussakt eines mehrgliedrigen Prozesses, innerhalb dessen zunächst nicht nur die Norm, sondern auch der Einzelfall einer Interpretation unterzogen wird. In diesem Prozess ist es zunächst einmal nötig, Normen daraufhin zu prüfen, ob sie überhaupt für die Regulierung des jeweils vorliegenden Falles in Anspruch genommen werden können. Dies steht dem zu regulierenden Einzelfall, wenn er nicht ganz trivial ist, niemals gleichsam an der Stirn geschrieben. Eben deswegen bedarf es ja auch jenes Vermögens, das Kant mit dem Namen der reflektierenden Urteilskraft benennt. Natürlich darf sich auch die reflektierende Urteilskraft niemals über ein gegebenes Normensystem einfach hinwegsetzen. Gerade deshalb darf sie sich der Aufgabe nicht entziehen, überall dort, wo prima facie mehrere unterschiedliche Normen konkurrieren, sich für eine dieser Normen begründet zu entscheiden, um sie der Regulierung des vorliegenden Einzelfalles zugrunde zu legen. Eine derartige Situation liegt beispielsweise auch dort vor, wo der Jurist mittels seiner Urteilskraft schon bei mäßigen Inkongruenzen zwischen Norm und Einzelfall entscheiden muss, ob er die Norm per analogiam anwenden oder sie zur Grundlage einer Entscheidung auf der Basis des argumentum e contrario machen soll. Kant hat eine Reihe von Beispielen skizziert, die entsprechend zugespitzte Situationen vor Augen stellen, in denen eine Entscheidung der Urteilskraft gefordert ist. Das geschieht allerdings nicht in der Rechts­philosophie, sondern in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“, also in der zweiten Hälfte der „Metaphysik der Sitten“. Hier werden einigen Abschnitten, in denen die wichtigsten moralischen Pflichten der Menschen abgehandelt werden, Korollarien beigegeben, die der Erörterung von kasuistischen Problemen gewidmet sind. Diese Korollarien beweisen im übrigen, wie Kant seinen Rigorismus im Grundsätzlichen mit einer Liberalität in der Anwendung moralischer Normen zu verbinden wusste. Als Beispiel möge eine Lehre Kants dienen, die dem Verständnis von jeher beträchtliche Schwierigkeiten bereitet hat, nämlich das zwar nicht juridische, wohl aber moralische Verbot der Lüge. Bekanntlich ist es nicht das Verbot als solches, was oftmals Befremden erregt hat, sondern die These, dass es auch in speziellen, exzeptionellen Fällen schlechterdings durch keinerlei Ausnahmeregel soll modifiziert werden dürfen. Aus diesem Konflikt lassen sich im üb-

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rigen auch Musterargumente für den Streit zwischen Gesinnungsethikern und Verantwortungsethikern gewinnen, in denen zur Debatte steht, ob und gegebenenfalls in welcher Weise bei der Normierung einer in Betracht gezogenen Handlung und bei der Entscheidung für oder gegen ihre Rea­ lisierung die Folgen in Rechnung gestellt werden müssen, die sie entweder mit Sicherheit oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zeitigen wird. Kant fragt: „Kann eine Unwahrheit aus bloßer Höflichkeit (z. B. das ganz gehorsamster Diener am Ende eines Briefes) für Lüge gehalten werden? Niemand wird ja dadurch betrogen. – Ein Autor fragt einen seiner Leser: Wie gefällt Ihnen mein Werk? Die Antwort könnte nun zwar illusorisch gegeben werden, da man über die Verfänglichkeit einer solchen Frage spöttelte; aber wer hat den Witz immer bei der Hand? Das geringste Zögern mit der Antwort ist schon Kränkung des Verfassers; darf er diesem also zum Munde reden?“32 Auf solche kasuistischen Fragen gibt Kant, formell gesehen, keine endgültige Antwort, wenngleich er sie zumindest nahezulegen scheint. Immerhin wäre dies aber keine Antwort, die in Bezug auf die jeweils skizzierte Situation für die Geltung einer Art von Ausnahmerecht plädieren würde. Doch der Sinn jener Fragen liegt gar nicht darin, zu einer eindeutigen und unbezweifelbaren Antwort zu führen. Sie sollen in erster Linie das Bewusstsein dafür schärfen, warum die Zuständigkeit einer bestimmten Norm für die Regulierung eines bestimmten Falles manchmal uneindeutig ist und deshalb zweifelhaft bleiben kann, und zwar aus Gründen, die nicht in der Norm selbst zu liegen brauchen, wenn schon die alternativen Möglichkeiten der Beschreibung und der Interpretation des Falles selbst eine eindeutige Lösung nicht erlauben. Derartige Situationen können im Sinn der Beispiele Kants gerade beim Gebrauch von Höflichkeitsformeln vorkommen, mit denen man die Kommunikationen des Alltags abzufedern pflegt. Auch die heute üblichen Höflichkeitsformen sind in der konkreten Situation selten genau so gemeint, wie dies ihrem Wortsinn entsprechen würde. Aber daraus folgt gerade nicht zwingend, dass lügt, wer sich solcher Höflichkeitsformeln bedient. Sie erfüllen ihren Zweck immer nur innerhalb eines funktionalen Systems, in dem sich alle Beteiligten über den Sinn und über den Inhalt bestimmter Spielregeln immer schon stillschweigend geeinigt haben. Deshalb weiß jeder Beteiligte, warum die einschlägigen Äußerungen gerade nicht in ihrem Wortsinn zu verstehen sind. Wer sich an diese Spielregeln hält, täuscht daher niemanden und er wird auch selbst durch das Verhalten seines Partners nicht getäuscht. Gewiss sind derartige Spielregeln nicht über jede Kritik erhaben. Doch wer sich an sie hält, praktiziert keineswegs das Verhalten eines Lügners, weil die Norm, die für solche

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VI 431.

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Fälle zunächst zuständig zu sein scheint, genau besehen eben doch nicht zu deren Regulierung taugt. Kant benützt in diesen Kasuistiken also ein Exhaustionsverfahren. Seine Anwendung in strittigen, unklaren oder zweifelhaften Fällen führt gerade nicht zu einer Relativierung der Norm oder zu der Begründung eines Ausnahmerechts. Denn es setzt an einer ganz anderen Stelle an, nämlich bei der Interpretationsbedürftigkeit des Anwendungsfalles. So ermöglicht es pragmatische Lösungen, wenn es sie auch nicht erzwingt, da immer noch ein Spielraum für das begründungsfähige Ermessen verbleibt. Das gilt für den Umgang mit dem Lügenproblem ebenso wie für den Umgang mit den anderen von Kant behandelten Fallgruppen, in denen es etwa um den Selbstmord, um Fragen der Sexualität, um den Umgang mit Geld und Gütern und dergleichen mehr geht. Kants Kasuistikfragen sollen indessen nur zur Übung dienen33; sie liefern demnach gerade keine generellen Doktrinen in abstracto. Zur Übung sind solche Fallstudien indessen höchst nützlich, weil nur mit ihrer Hilfe eine funktionstüchtige Urteilskraft in die Kompetenz zur Regulierung des jeweiligen Sachgebiets eingeübt werden kann. Untersucht man die Situationen, in denen es im Umkreis des Rechts der Betätigung der Urteilskraft bedarf, so darf man sich nicht auf die Fälle beschränken, in denen von ihr nur gefordert ist, die Subsumption konkreter Einzelfälle unter die Normen einer positiven Rechtsordnung vorzubereiten. Zwar bleibt jeder Rechtswahrer an die Normen der positiven Gesetze gebunden; er darf sie nicht eigenmächtig abändern oder modifizieren. Auf einer anderen Ebene bleiben aber auch die Normen des positiven Rechts einer Begutachtung bedürftig, wie sie nur von einer ausgebildeten Urteilskraft geleistet werden kann. Das ist freilich nicht mehr ein Gegenstand der alltäglichen Rechtspraxis. Hier bedarf es nämlich der Urteilskraft, deren sich der Gesetzgeber auch zu seinem eigenen Nutzen bedienen muss. Das gilt jedenfalls dann, wenn er der Einsicht folgt, dass „Gesetze […] das Recht, was Menschen natürlicher Weise fordern, nur verwalten“34 können. Bei diesem Teil der kantischen Rechtsphilosophie der Urteilskraft, ebenfalls nur skizzenhaft dokumentiert und überliefert, handelt es sich um eine an den Gesetzgeber gerichtete Theorie de lege ferenda. Er soll dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass der niemals ganz überbrückbare Hiatus zwischen Norm und Einzelfall auch de facto dazu führt, dass die Normen eines positiven Gesetzes zwar nicht für den Rechtswahrer, wohl aber der Sache nach immer nur eine vorläufige Legitimität beanspruchen können. Das spiegelt sich schon in der empirisch zu erhebenden Tatsache, dass ohne Ausnahme alles positive Recht der Veränderung unterworfen ist. Darin 33 34

Vgl. VI 411. R 430.

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liegt jedoch kein Mangel des positiven Rechts, der mit Hilfe einer dazu geeigneten Gesetzgebung behoben werden könnte. Bekanntlich finden sich, wie schon erwähnt, immer Fälle, „die unter die Bedingung des Gesetzes gehören, welchen aber der Ausspruch des Gesetzes nicht anpaßt“35. Gewiss ist es zunächst die Aufgabe des Rechtswahrers, die in dem konkreten Fall auftretenden Inkongruenzen zu glätten. Trotzdem ist hier nicht nur der Rechtsanwender aufgerufen. Im Blick auf solche Inkongruenzen gilt nämlich: „Um des willen sollten die Wirkungen desselben Gesetzes in verschiedenen Fällen als Versuche angesehen werden, darnach es geprüft, verworfen oder bestimmt werden muß. Sonst müssen immer Einschränkungen hinzugefügt werden, welche so viel Ausnahmen ausmachen, daß es aufhört, eine allgemeine Regel zu sein.“36 Nicht nur wegen dem ständigen Wandel in den Lebensbedingungen der realen Welt, sondern allein schon wegen der Anwendungsbedürftigkeit einer jeden generellen Norm ist mithin alles positive Recht darauf angewiesen, fortgebildet zu werden. Auch den auf Dauer hin angelegten Kodifikationen des positiven Rechts – und gerade ihnen – ist entgegen den Wünschen und den Absichten ihrer Urheber oft nur eine verhältnismäßig geringe Lebensdauer beschieden. Entweder ausdrücklich, durch Novellierun­gen, oder verdeckt, mittels eher unterschwelliger Modifikationen durch die mit den konkreten Einzelfällen befasste Rechtspraxis pflegen auch Kodifikationen in Inhalt und Charakter ständig modifiziert zu werden. Denn es gilt der Satz „daß die weltlichen Gesetzbücher der Veränderung unterworfen bleiben müssen, nachdem die Erfahrung mehr oder bessere Einsichten gewährt“37. Wie alles, mit dem Menschen den Anspruch auf Richtigkeit verbinden, bleibt auch das Gesetz stets dem Risiko des Irrtums ausgesetzt: „Alle Satzungen der Regierung aber, weil sie von Menschen ausgehen, wenigstens von diesen sanktioniert werden, bleiben jederzeit der Gefahr des Irrtums oder der Zweckwidrigkeit unterworfen.“38 Diese Aussage bezieht sich noch gar nicht auf das Problem, das mit der Möglichkeit von ungerechten Gesetzen verbunden ist, also von positiv-rechtlichen Normen, die mit der Idee des Rechts, dem „Recht der Menschheit“ im Widerspruch stehen. Angesprochen ist hier nur jener Hiatus, wie er auf einer viel elementareren Ebene dann sichtbar wird, wenn der Gesetzgeber erkennen muss, dass die von ihm sanktionierte Rechtsnorm in ihrer Anwendung das Ziel nicht verwirklicht, das er mit ihrer Hilfe erreichen wollte. Auf derartige Erfahrungen muss der Gesetzgeber vorbereitet sein, weil jedes positive 35

R 430. R 430. 37 VII 25. 38 VII 33. 36

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Gesetz – kantisch gesprochen – auch der Welt der Erscheinungen angehört und deshalb auch der Beurteilung durch die Erfahrung unterliegt. Wie jeder Mensch aus der Erfahrung lernt, sogar in erster Linie aus ihr, so wird auch ein positives Rechtssystem auf Grund der Erfahrungen, die man mit ihm macht, eingeschlossen auch die Erfahrungen, zu denen es allererst den Anlass gibt, dem Wandel unterworfen bleiben, gleichgültig, ob dies der Gesetzgeber erwartet oder nicht. Was man gewöhnlich als den Inbegriff der kantischen Rechtsphilosophie ansieht, nämlich seine am Recht der Menschheit orientierte naturrechtliche Theorie der obersten Normen und ihrer Begründung, darf mit vollem Recht die systematisch zentrale Stellung behaupten, die ihr Kant angewiesen hat. Aber diese Normenbegründung bildet dennoch nur gleichsam das Dach, unter dem sich noch vielerlei Probleme verbergen, zu deren Lösung jene Normen allein nicht ausreichen. Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft, die Rechtsphilosophie der unteren Ebene, kann indessen noch einer ganz anderen Dimension der Dinge gerecht werden, der Dimension nämlich, in der die mit der Normenanwendung verbundenen Probleme auftreten. Sie ergeben sich dort, wo die Normen, welchen Inhalt sie auch immer haben mögen, konkretisiert werden müssen. Es sind immer endlich viele Normen, unter die die potentiell unendlich vielen Einzelfälle subsumiert werden müssen, von denen sich keiner auch durch noch so viele Merkmale erschöpfend beschreiben lässt. Die Überbrückung des Hiatus zwischen Norm und Einzelfall ist aber eine Aufgabe, deren Erledigung durch Sekundärnormen oder Algorithmen gewiss gelegentlich erleichtert, aber eben doch niemals an sie delegiert werden kann. Hier wird nicht nur die Normenkenntnis des Rechtswahrers, sondern letztlich seine Urteilskraft in Anspruch genommen. Ihre Funktion kann sie nur dann erfüllen, wenn das ihr zugrunde liegende Talent anhand einer hinreichend großen Zahl von Beispielen geformt und eingeübt worden ist. Eben diesem Ziel dient bekanntlich auch heute das Studium und die Ausbildung des Juristen. Vom Juristen wird gewiss verlangt, dass er das System der Normen mitsamt ihren Begründungen beherrscht; die für den juristischen Beruf notwendigen Fähigkeiten muss er dennoch vor allem dadurch ausbilden, dass er mit wirklichen und mit erfundenen Fällen konfrontiert wird, auf die er die Normen anwenden soll, denen es aber nicht auf den ersten Blick anzusehen ist, welche Normen für ihre Regulierung passend sind. So wichtig die Normen und ihr Inhalt auch für die Rechtswirklichkeit sind, so bleibt es doch eine elementare Tatsache, dass eine Rechtsordnung höchstens so gut sein kann wie es den ausgebildeten Fähigkeiten derer entspricht, die innerhalb dieser Ordnung das Recht anzuwenden haben. Kants nur fragmentarisch dokumentierte Rechtsphilosophie der Urteilskraft wird jedenfalls den Problemen der Normenanwendung gerecht, wie

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sie der Rechtsfindung auch unter den Bedingungen des Alltags gestellt werden. Zu ihrer Lösung bedarf es vor allem jenes Gebrauchswissens, das sich nicht vergegenständlichen und nicht objektivieren lässt, weil es sich nur dort zeigt, wo sich eine geübte Urteilskraft durch den Erfolg bewährt. Zuerst erschienen in: Zeitschrift für philosophische Forschung Bd. 52, H. 1/Jan.–März 1998, S. 1–22.

Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur

I Schellings Naturphilosophie ist für viele das Musterbeispiel einer Spekulation, die die Grenzen möglicher Erkenntnis missachtet und sich zu Thesen versteigt, deren Wahrheitsanspruch prinzipiell unkontrollierbar ist. Es scheint so, als stehe Schelling den zu seiner Zeit bereits etablierten experimentellen Naturwissenschaften ohne Verständnis, ja mit Ressentiment gegenüber, und als versuche er, vor den Mühseligkeiten empirischer Forschung in einen Bereich zu fliehen, in dem vor allem geistreiche und phantasievolle Kombinationen honoriert werden. Es ist auffallend, dass seine Naturphilosophie heute keineswegs nur von der Naturwissenschaft abgelehnt wird; auch in Philosophie und Philosophiehistorie steht das Urteil über diese Erscheinungsform idealistischen Denkens zumeist fest. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man Schelling wenigstens noch mit den Methoden der Geistesgeschichte seiner Zeit oder aus seiner Entwicklung verstehen will. In Wirklichkeit spricht sich in dieser Haltung ein viel härteres Urteil über den philosophischen Gedanken und seinen Wahrheitsanspruch aus, als es durch eine mit Gründen geführte Argumentation überhaupt gefällt werden kann. Wenn sich auch das philosophische Interesse seit einiger Zeit wieder stärker auf Schelling richtet, so sind es doch mehr die Entwürfe seiner mittleren und späteren Zeit, deren Probleme zum Gegenstand von Untersuchungen werden. Die Schriften, mit denen er zuerst die Aufmerksamkeit seiner Zeit auf sich zu lenken verstand, lässt man dagegen auf sich beruhen. Auf dem Wege „Von Kant zu Hegel“ ist mit der Naturphilosophie des frühen Schelling der Tiefpunkt einer Entwicklung bezeichnet, deren Stadien man ohnehin oft nicht so sehr nach ihrem Eigenwert, sondern nach ihrem Ausgangspunkt oder nach ihrem vermeintlichen Endpunkt beurteilt. Die Naturphilosophie scheint als „Weltphilosophie“ allzu sehr aus der durch die transzendentale Fragestellung provozierten Entwicklung herauszufallen. Der Übergang von Fichtes Wissenschaftslehre zur Naturphilosophie stellt sich dann als ein Bruch, wenn nicht gar als ein unkritischer Rückfall hinter das dar, was eben erst durch eine unvergleichliche Anstrengung des Denkens erreicht worden war.

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Es hat unter solchen Umständen wenig Sinn, einzelne Theoreme dieser Naturphilosophie einer Prüfung zu unterziehen. Wichtiger ist es, sich über die Voraussetzungen klar zu werden, unter denen sich für Schelling die Aufgabe, eine Naturphilosophie zu entwerfen, stellt. Auch wenn es richtig ist, dass Schelling gerade in den naturphilosophischen Schriften gelegentlich immer wieder versucht ist, das als Behauptung auszusprechen, was dem Inhalt und der Begründung nach höchstens eine Vermutung sein könnte, so darf man darüber nicht vergessen, dass am Ursprung seiner Naturphilosophie eine Fragestellung steht, die einer Aporie der Transzendentalphilosophie entspringt. Es wird zu zeigen sein, warum Schelling der Meinung sein konnte, dass seine Wendung zur Natur nicht einen unkritischen Rückfall hinter Kant und Fichte darstellt, sondern dass sie sich konsequent aus dem auf die Spitze getriebenen Ansatz der Subjektivitätsphilosophie ergibt. Man hat schon mancherlei Behauptungen und Vermutungen darüber formuliert, welcher Art die Einflüsse sind, die Schelling in seiner Naturphilosophie assimiliert. Fragen dieser Art sind legitim, wenn sie einer bewussten oder unbewussten Verlegenheit dem Text gegenüber entspringen. Es ist für unser Verhältnis zur Philosophiegeschichte aber schon allzu selbstverständlich geworden, dass man überall dort, wo der Gedanke nicht mehr durch sich selbst zu überzeugen vermag, geneigt ist, sich vom Inhalt des Textes dadurch zu distanzieren, dass man ihn in historische Wirkungs- und Abhängigkeitsrelationen einordnet. Die äußere oder innere Entwicklungsgeschichte des Autors tritt an die Stelle der sachlichen Diskussion seiner Gedanken. Ohne allen Zweifel ist die Entwicklungsgeschichte eines Denkers oder eines Systems ein Gegenstand legitimen geisteswissenschaftlichen Interesses. Geht es aber um die inhaltliche Prüfung des Textes auf seinen Wahrheitsgehalt – und dies gehört zu jeder philosophischen Auslegung –, so kann die genetische Methode höchstens noch Hilfsfunktionen erfüllen. Wahrheit ist immer nur unter den Bedingungen der Geschichte möglich, aber sie begründet sich nicht aus solchen Bedingungen. Jeder philosophische Text tritt mit dem Anspruch auf, Wahrheit mitzuteilen. Dass jeder derartige Anspruch zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten äußeren Umständen erscheint, ist trivial. Er lässt sich aber aus solchen Umständen niemals begründen; bei ihnen handelt es sich niemals um Ursachen, sondern immer nur um Bedingungen des Wahrheitsanspruchs. Der Text wird verdinglicht, wenn man seinen Wahrheitsanspruch nicht ernst nimmt. Er mag dann als Knotenpunkt vielfältiger geistesgeschichtlicher Ursachen und Wirkungen erscheinen. Doch es ist gerade die Intention des Autors, über die man in einem solchen Falle hinweggesehen hat. Wer Sätze mit dem Anspruch auf Wahrheit vorträgt, hat nicht oder wenigstens nicht nur die Absicht, ein Stadium seiner eigenen Entwicklung darzustellen oder in

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historische Wirkungszusammenhänge einzugreifen. Übersieht man dies, so verstößt man gegen Regeln, die zu den Grundsätzen einer einwandfreien philosophischen Textauslegung gehören. Jeder ernst zu nehmende Autor hat Anspruch darauf, dass sein Text zunächst einmal darauf befragt wird, was er mitteilen will, und wie er dies mitteilt. Es ist kaum nötig zu bemerken, dass es Schelling seinen Interpreten in dieser Hinsicht nicht immer leicht macht. Zu verschlungen scheinen die Wege und die Wandlungen seines eruptiven Denkens zu sein, als dass sie immer die Konsequenzen eines geradlinigen Gedankenzusammenhangs erkennen ließen. Das zeigt sich schon darin, dass es kein „Hauptwerk“ gibt, von dem aus man sich den Weg durch die Fülle der Schriften und Entwürfe bahnen könnte. Auch „die“ Naturphilosophie Schellings gibt es bekanntlich nicht. Was vorliegt, ist eine Reihe von Schriften, deren Aus­ sagen zumindest in ihrem Wortsinn nicht immer miteinander harmonieren, und deren vorläufigen Charakter schon ihre Titel erkennen lassen. Man vergisst aber nur zu oft, dass die logische Ordnung der Gedanken durchaus kein Abbild der zeitlichen Ordnung ihres Auftretens zu sein braucht. Oft spricht Schelling eine Vermutung aus, stellt eine Begründung in Aussicht und schlägt dann zunächst ganz andere Wege ein. So kommt es dazu, dass Schelling gelegentlich mehrere in entgegengesetzte Richtungen zielende vorläufige Versuche zur selben Zeit nicht nur anstellt, sondern sie im Bewusstsein ihrer Vorläufigkeit der Öffentlichkeit mitteilt. Wer daher Schellings Denken in seinem Zusammenhang verstehen will, darf es nicht als erwiesen ansehen, dass dieser Zusammenhang am ehesten noch dann sichtbar gemacht werden kann, wenn man sich als Leitfaden die Entstehungszeit seiner Schriften wählt. Umgekehrt berechtigt natürlich auch der Misserfolg, den alle bisherigen Versuche, Schellings Denken genetisch verständlich zu machen, erlitten haben, noch nicht zu der Annahme, dass ein Zusammenhang in Schellings Denken nicht aufzuweisen sei.

II Es ist bekannt, dass einer der Anstöße, die in der Frühgeschichte des Deutschen Idealismus wirksam wurden, von der Postulatenlehre in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ ausging. Kant will dort bekanntlich zeigen, dass die eine Vernunft als theoretische Vernunft zwar niemals zu einer begründeten Erkenntnis über Gott und Unsterblichkeit gelangen könne, dass sie aber als praktische Vernunft um des moralischen Gesetzes willen an etwas glaube, was sie doch niemals beweisen kann. In diesem Sinne postuliere die praktische Vernunft die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele; dass sie dies tue, sei keineswegs in ihr Belieben gestellt,

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da es sich um Bedingungen des Objekts des durch das moralische Gesetz bestimmten Willens handle. Diese Lehre Kants hat dem Verständnis seit jeher eine Reihe von Schwierigkeiten bereitet. Der Schein besteht, dass Kant hier inkonsequenterweise der Vernunft wieder zugesteht, was er ihr vorher, in der theoretischen Philosophie, mit überzeugenden Gründen streitig gemacht hatte. Wäre dem so, dann läge allerdings eine Inkongruenz oder gar ein Widerspruch in der Lehre Kants vor. Auch wäre dann nicht zu sehen, welchen Sinn die komplizierten Überlegungen der theoretischen Philosophie überhaupt noch haben können, wenn die praktische Philosophie den transzendenten Bereich, den die „Kritik der reinen Vernunft“ für immer verschlossen zu haben glaubte, mit leichter Mühe wieder zugänglich macht und Aussagen über ihn zulässt. Es ist verständlich, dass eine so verstandene Postulatenlehre von supranaturalistischen Theologen aufgegriffen werden konnte, die hier einen Weg gefunden zu haben glaubten, der ihnen die Möglichkeit einer neuen und originellen Ableitung dogmatischer Sätze zu eröffnen schien1. Schellings Entwicklung ist in entscheidender Weise dadurch geprägt worden, dass sein Tübinger Theologiestudium zeitweise im Zeichen der so verstandenen Postulatenlehre stand. Wie die Briefe an Hegel2 zeigen, hatte er für diesen Versuch, bei Kant die Grundlagen des Supranaturalismus zu finden, nur bitteren Spott übrig, und er fasste den Entschluss, dem zum Durchbruch zu verhelfen, was er als den wahren Kern der Transzendentalphilosophie ansah. Doch was will die Postulatenlehre und die Lehre vom Primat der reinen praktischen Vernunft überhaupt sagen? Kant behauptet nirgends, die Vernunft könne gleichsam auf einem Umweg – also etwa auf dem Umweg über moralphilosophische Überlegungen – in ein sonst und von Rechts wegen für sie verschlossenes Gebiet geführt werden. Die Postulatenlehre soll nach seiner Intention überhaupt keine neue Beweismethode für Sätze über die Existenz Gottes und über die Unsterblichkeit der Seele liefern. Denn es handelt sich gar nicht darum, dass die praktische Philosophie theoretische Sätze über das Bestehen transzendenter Sachverhalte als wahr oder als falsch erweisen soll. Kant spricht denn auch deutlich genug aus, dass der Bereich der Erkenntnis durch die Postulate der praktischen Vernunft nicht im geringsten erweitert werden kann. Die Vernunft sucht zwar nicht nur im theoretischen, sondern auch im praktischen Gebrauch nach einem Unbedingten; 1 Über

die Vorgeschichte dieser Verbindung zwischen Postulatenlehre und Offen­ barungstheologie vgl. jetzt Dieter Henrich: Carl Immanuel Diez. Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Idealismus, in: Hegel-Studien 3, 1965, S. 276–282. 2 Über seine Einstellung zu dieser Theologie vgl. vor allem seine Briefe an Hegel vom 5.1. sowie vom 4.2. und 21.7.1795, in: Gustav L. Plitt (Hg.), Aus Schellings Leben. In Briefen, Bd. 1, Leipzig 1869, S. 71–80.

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dieses Unbedingte in praktischer Rücksicht ist aber das „höchste Gut“, in dem Tugend und Glückseligkeit als notwendig verbunden gedacht werden. Die Existenz Gottes, die Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele werden in diesem praktischen Begriff eines höchsten Gutes vereinigt gedacht; doch daraus, dass die praktische Vernunft notwendig nach dem „höchsten Gut“ strebt, folgt für die erkennende Vernunft weder seine Wirklichkeit, noch auch nur seine Wahrscheinlichkeit. Die Postulatenlehre will vielmehr etwas anderes sagen: Wer nach dem Sittengesetz handelt, entwickelt im Hinblick auf das letzte Ziel seines Willens notwendig einen bestimmten Glauben und fordert die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Unabhängig vom Prinzip der Moralität lässt sich dieser Glaube niemals begründen. Nur von hier erhält er seine Rechtfertigung; die „Kritik der praktischen Vernunft“ weist dann nach, dass er in der Tat auch nur im Bereich des sittlichen Handelns Legitimität beanspruchen kann. Hier kommt alles darauf an zu sehen, dass es sich nach Kants Meinung nicht um Postulate handelt, die erst in der „Kritik der praktischen Vernunft“ aufgestellt würden. Die „Kritik der praktischen Vernunft“ lehrt vielmehr nur, dass die praktische Vernunft – oder, wie Kant formuliert, die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch – selbst diese Postulate aufstellt. Die „Kritik der praktischen Vernunft“ will nur Erkenntnisse über diese Zusammenhänge vermitteln. Sie ist als solche gerade nicht das unmittelbare Resultat eines praktischen Gebrauches der Vernunft: die praktische Philosophie fordert von der Vernunft keine Erkenntnis bestimmter Sachverhalte oder auch nur den Glauben daran. Sie erkennt nur, dass die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch immer schon von bestimmten Voraussetzungen ausgeht, die sich sogar in der Form theoretischer Sätze ausdrücken lassen, einer Erfüllung im Bereich der Theorie jedoch weder fähig sind noch bedürfen. Sie zeigt, dass diese Postulate allein dort ihren Ort haben, wo sie auch entsprungen sind, nämlich im Bereich der Praxis. Auch wenn die Postulate als theoretische Sätze ausgedrückt werden, so bleiben diese Sätze in ihrer Anwendung doch auf den praktischen Gebrauch der Vernunft bezogen und eingeschränkt; sie haben legitimerweise immer nur mit Objekten unseres Willens zu tun. Die Rede vom „moralischen Gottesbeweis“ ist also systematisch irreführend. Die Postulatenlehre eröffnet keinen Weg zu einer auf neue Weise nunmehr moralphilosophisch begründeten Metaphysik, sondern sie soll umgekehrt gerade zeigen, warum auch über die Moralität kein Weg zur Metaphysik gefunden werden kann. Eine ihrer wesentlichsten Aufgaben besteht ja gerade darin, unberechtigte theoretische Grenzüberschreitungen des praktischen Vernunftglaubens abzuwehren. Schelling wusste, dass man die Postulatenlehre Kants nicht im Sinne einer Kryptometaphysik verstehen darf. Er hat sie auch niemals so verstan­ den, als würde hier gleichsam ein neues Beweisverfahren für Sätze vorge-

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schlagen, die auf andere Weise nicht bewiesen werden können. Die „Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus“ von 1795 wenden sich in ihrer Gesamtheit gegen eben diese Auffassung. Gleichwohl macht Schelling von den Grundbegriffen der Postulatenlehre einen ganz anderen Gebrauch als Kant. So sieht er davon ab, dass es sich für Kant bei Gott und Unsterblichkeit immer noch um Gegenstände der praktischen Vernunft handelt – wenn auch nicht um Gegenstände theoretischen Wissens, so doch um solche des Wollens, Glaubens und Hoffens, insofern es unter der Bedingung des Prinzips der Moralität steht. Schelling hebt nun im Gegensatz zu Kant alle Gegenständlichkeit auf. Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit haben keine Bedeutung mehr für die Subjektivität, sondern nur noch eine Bedeutung in der Subjektivität. Er will die Subjektivität darüber aufklären, dass sie es in Wahrheit beim Inhalt der Postulate allein mit sich selbst zu tun habe. Was Schelling an der kantischen Postulatenlehre so sehr fasziniert, ist im wesentlichen nur der Gedanke, dass es möglich ist, auf Grund eines praktischen Interesses einen bestimmten Vernunftglauben nicht etwa nur zu erklären, sondern vor allem auch zu legitimieren. Wenn es nun auch nicht möglich ist, auf diese Weise zu begründeten Behauptungen über die objektive Wirklichkeit zu kommen, so kann man andererseits vielleicht doch jener „praktischen Wirklichkeit“, mit der sich der sittlich Handelnde in seinem Vernunftglauben umgibt, ein solches Gewicht verleihen, dass die der theoretischen Vernunft zugeordnete gegenständliche Wirklichkeit ihr gegenüber zwar nicht verschwindet, jedoch aufhört, Gegenstand des primären Interesses zu sein. Schellings Gegensatz zu Kant ist zunächst einmal durch eine derartige Modifikation im Bereich des Interesses begründet. Nur solange man auf dem Standpunkt des theoretisch reflektierenden Bewusstseins und seines Interesses steht, kommt dem Inhalt der Postulate der praktischen Vernunft eine geringere Realität zu. Schellings Wendung ist, von hier aus gesehen, überraschend einfach: er versucht, die Position des theoretisch Reflektierenden ganz zu verlassen und stattdessen von der Position des frei Handelnden aus zu philosophieren. Es ist, wenn diese Analogie erlaubt ist, die Position der praktischen Vernunft, die Schelling bezieht, und gerade nicht die Position der Kritik der praktischen Vernunft. Schelling polemisiert keineswegs gegen die Schranken, in die Kant die theoretische Erkenntnis gewiesen hatte. Seinem Selbstverständnis nach bleibt er zunächst immer noch Kantianer. Die Differenz liegt in Wahrheit in einem unterschiedlichen Verständnis hinsichtlich dessen, was als Wirklichkeit im strengen Sinne des Wortes anerkannt werden soll. Die an sich bestehende, selbständige Wirklichkeit ist für Schelling vergleichsweise uninteressant geworden gegenüber der Wirklichkeit, die sich die Subjektivität selbst in ihrer Sphäre aufbaut und die durch ihr freies Handeln erst konsti-

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tuiert wird. In dieser Sphäre findet der Mensch keine eigentlichen Objekte mehr vor3. Deutlicher noch als in den von Schelling selbst veröffentlichten Frühschriften werden diese Intentionen in jenem in einer Handschrift Hegels überlieferten Fragment, das von seinem Herausgeber F. Rosenzweig* vielleicht etwas missverständlich als „Ältestes Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ bezeichnet worden ist. In diesem – vielleicht nicht ohne Beteiligung Hölderlins – von Schelling formulierten Entwurf heißt es gleich zu Anfang des überlieferten Bruchstückes: Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat, so wird diese Ethik nichts andres als ein vollständiges System aller Ideen, oder was dasselbe ist, aller praktischen Postulate seyn. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freyen Wesen. Mit dem freyen, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen seyn?

Hier wird nicht mehr danach gefragt, wie sich eine objektive Welt dem menschlichen Erkenntnisvermögen darstellt; es geht allein um die für ein moralisches Wesen existierende, d. h. unter der Bedingung der Existenz von Freiheit entworfene Welt. So wird hier zugleich die Haltung deutlich, die für die Beziehung des spekulativen Idealismus zu Kant immer bestimmend geblieben ist: Man will zwar niemals das restaurieren, was Kant – auch nach der Überzeugung der Idealisten – ein für alle Mal zerstört hatte. Man ist beinahe ängstlich darum bemüht, die Sätze innerhalb der Systementwürfe niemals so zu formulieren, dass sie wie Theoreme vorkritischer Metaphysik verstanden werden könnten. Man siedelt sich vielmehr, wie man glaubt, innerhalb des Bereiches der kritischen Philosophie an, versucht aber nun, hier anstatt der nicht mehr möglichen theoretischen Metaphysik alter Form spekulative Theorien ganz neuer Art aufzubauen, indem man auf das alte Ideal theoretischer Wahrheit, das auch Kant nur modifiziert, aber keineswegs zerstört hatte, ganz verzichtet. In diesem Sinn fordert Schelling im „Systemprogramm“, dass die ganze Metaphysik künftig in die Moral falle – und nicht etwa nur, dass die Metaphysik durch die Moral begründet werden müsse. Was er hier intendiert, ist eine Metaphysik des moralischen Wesens. Dies ist nicht so zu verstehen, als sollte das moralische Wesen nur 3

I 243. Alle nicht näher bezeichneten Nachweise beziehen sich hinfort auf: Fr. W. J. v. Schellings sämmtliche Werke, hg. v. Karl Fr. Aug. Schelling, Stuttgart 1856–61. * [Sitz. Ber. Ak. Heidelberg, Philos.-hist. Kl., 1917 Nr. 5]

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der Gegenstand einer metaphysischen Betrachtung sein, sondern so, dass das moralische Wesen als solches in seiner Autonomie diese Metaphysik entwerfen soll, wie es auch seine Welt in einem freien Akt selbst erschafft. Der kantischen Kritik glaubt Schelling dadurch entgehen zu können, dass er konsequent darauf verzichtet, die Sätze des auf dieser Basis konstruierten Systems mit dem Anspruch, theoretische oder gegenständliche Erkenntnis zu sein oder zu liefern, auszustatten. Wenn man also Schelling gerecht werden will, wird man berücksichtigen müssen, dass er in seinen Anfängen gar keine Erkenntnisse im traditionellen Sinn, aber auch nicht im Sinn der kantischen Philosophie vermitteln will. Er bezieht, durch bestimmte Gedankengänge Kants angeregt, die Position der Praxis und verabsolutiert die kantische Einsicht, dass sich die Praxis (die „Freiheit“) ihre eigene Wirklichkeit und ihr eigenes Wirklichkeitsverständnis aufbaut, das von der Theorie weder begründet noch widerlegt werden kann. Die Theorie kann lediglich theoretische Ansprüche dieses auf die Praxis und auf einen verabsolutierten Freiheitsbegriff gegründeten Wirklichkeitsverständnisses abwehren.

III Man kann Schellings Naturphilosophie als einen großangelegten Versuch ansehen, die natürliche Welt im Sinne des „Systemprogramms“ so zu konstruieren, wie sie sich für ein „moralisches Wesen“, d. h. unter der Bedingung, dass Freiheit möglich sein soll, darstellen muss. Damit hat man die Probleme, die diese Philosophie stellt, noch nicht aufgeklärt; man hat aber wenigstens einen Leitfaden für eine solche Aufklärung an die Hand bekommen. Um den Ansatzpunkt der Naturphilosophie zu begreifen, muss man jedoch auch die ersten systematischen Entwürfe, die Schelling der Öffentlichkeit vorgelegt hatte, berücksichtigen. Diese Schriften werden in der Forschung oft so gedeutet, als sei Schelling hier noch treuer, aber unselbständiger Anhänger Fichtes. Nun ist es evident, dass vor allem die beiden Arbeiten „Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt“ (1794) und „Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen“ (1795) ihrer Entstehung wie ihrem Inhalt nach das Erscheinen von Fichtes Schriften „Über den Begriff der Wissenschaftslehre“ und „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ voraussetzen. Die Beziehung zur ersten Wissenschaftslehre Fichtes hat aber diese frühesten Schriften Schellings dem Interesse der Forschung in oft ungerechtfertigter Weise entzogen. Wenn der Anstoß zu ihrer Konzeption zweifellos auch von Fichte her kommt, so sind sie doch in ihrer Durchführung keine Schülerarbeiten, sondern, wie man leicht sieht,

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so eigenständig, dass ein Rekurs auf Fichte für das Verständnis nur noch gelegentlich von Nutzen ist4. Man macht sich viel zu selten die Tatsache bewusst, dass die Basis des für die Entwicklung der idealistischen Philosophie charakteristischen Überholungs- und Überbietungsprozesses in der Regel nicht die zu Ende reflektierten Systementwürfe waren, sondern meistens nur deren Ansatzpunkte und Fundamentalthesen. So auch hier: Schelling hatte zunächst nur den Anfang von Fichtes „Wissenschaftslehre“ gelesen5 und war dann sogleich eigene Wege gegangen, für die vor allem das Vorbild Spinozas entscheidend wurde6. Die Schrift „Vom Ich“ erweist sich gerade dann, wenn man auf die Differenzen zu Fichtes „Wissenschaftslehre“ achtet, als eine vorzügliche Einführung in das Denken Schellings. Das Thema dieser Schrift ist das „Unbedingte“, das hier daraufhin untersucht werden soll, inwiefern es sich im menschlichen Wissen auffinden lässt. Dieses Unbedingte ist aber nicht das als Faktum der Vernunft hinzunehmende Prinzip der Moralität. Die Reflexion setzt in dieser Schrift ganz beim theoretischen Wissen im traditionellen Sinne an, wenn sie danach fragt, wie sich mögliches Wissen begründen lasse. Wie bezieht sich das Wissen auf seinen Gegenstand, wodurch hat es „Realität“? In vielen Fällen lässt sich der Realitätsanspruch eines bestimmten Wissens auf die schon erwiesene Realität eines anderen Wissens zurückführen. Doch die Prinzipienfrage ist damit nicht beantwortet: auf jeden Fall muss nach dem Wissen gefragt werden, auf das alles andere Wissen zurückgeführt werden kann. Unser Wissen ist zwar zunächst immer ein bedingtes Wissen. Schelling benützt aber den Begriff des Bedingens so, dass er die Möglichkeit eines unendlichen Regresses ausschließt: Alles Bedingtsein weist seinem Wesen nach auf ein Unbedingtes zurück. Dies ist das Unbedingte im menschlichen Wissen, von dem der Titel der Schrift spricht. Schelling fragt nun, wie man sich dieses Unbedingten versichern kann. Er stellt diese Frage nicht, ohne zugleich auf die Bedingungen einer sinnvollen Rede vom Absoluten zu reflektieren. Ein Blick auf die Sprache er 4

Es ist vor allem von Wilhelm Metzger (Die Epochen der Schellingschen Philosophie von 1795 bis 1802. Ein problemgeschichtlicher Versuch, Heidelberg 1911; vgl. S. 4 f.) wahrscheinlich gemacht worden, dass Schelling, wenn überhaupt, dann erst in den Jahren 1795 bis 1797 vorübergehend zum Fichteaner geworden ist. 5 Schellings Brief an Fichte vom 3.10.1801, in: Imm. H. Fichte / K arl Fr. Aug. Schelling (Hg.), Fichtes und Schellings philosophischer Briefwechsel, Stuttgart 1856, S. 102. 6 Seine eigenen späteren Beurteilungen dieser frühesten Schriften sind keineswegs einheitlich; so will Schelling nach den 1827 in München gehaltenen Vorlesungen „Zur Geschichte der neueren Philosophie“ in seinen frühen Schriften nur der Ausleger Fichtes gewesen sein (X 95 ff.). Die Vorrede zum zweiten Abdruck der Abhandlung „Vom Ich“ in der Ausgabe von 1809 charakterisiert diese Schrift aber gerade durch jene Merkmale (vgl. I 159), die im Lichte der Selbstdarstellung von 1827 (X 99 f.) den Differenzpunkt gegenüber Fichte bezeichnen.

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möglicht zwar noch nicht die Antwort, gibt aber doch einen Hinweis für die weitere Erörterung: „Bedingen“ ist nämlich ein Wort, von dem sich sagen lässt, „daß es beinahe den ganzen Schatz philosophischer Wahrheit enthalte“7: „Bedingen“ bezeichnet eine Handlung, durch die etwas zum Ding gemacht wird; das Unbedingte ist dann aber gerade das, was noch nicht zum Ding gemacht ist und auch nie dazu gemacht werden kann. Wie lässt sich aber über das Unbedingte etwas ausmachen? Die Methode, die Schelling hier anwendet, bedient sich nicht wie die Fichtes der Reflexion auf die Bedingungen des Bewusstseins. Schelling geht vielmehr nur vom Begriff des Unbedingten aus8. Seine Methode ließe sich mit einem Ausdruck unserer Tage vielleicht als Sinnanalyse oder Formalanalyse bezeichnen; er fragt danach, was im Begriff des Unbedingten schon enthalten ist9: „Im Gebiete des Absoluten selbst gelten keine anderen als bloß analytische Sätze“.10 Das bedeutet nicht, dass man mit Hilfe der Sinnanalyse das Absolute ganz erfassen könnte, wohl aber, dass mit der Sinnanalyse alle rationalen Möglichkeiten in Bezug auf das Absolute bereits erschöpft sind. Sie gibt Antwort auf die Frage, die nur scheinbar eine bloße Vorfrage ist: welche Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn man sinnvoll von einem Unbedingten reden und irgendeinem Inhalt das Prädikat der Unbedingtheit zusprechen will? Schelling entwickelt in den ersten Paragraphen der Schrift „Vom Ich“ solche Bedingungen: Das Unbedingte des Wissens darf kein Satz sein, der der Begründung durch einen anderen Satz fähig oder bedürftig wäre. Denn auch jede Begründung wäre noch eine Bedingung; durch sie würde ein Abhängigkeitsverhältnis hergestellt, das die Unbedingtheit ausschlösse. Daher kann das Unbedingte des Wissens kein begründungsfähiger Satz sein. Entsprechend kann es auch keinen Existenzbeweis für das Unbedingte geben, der etwas anderes wäre als das, was sich schon ohnehin durch die Mittel einer Begriffsanalyse ergibt. – Das Unbedingte darf ferner niemals ein Ding oder ein Gegenstand für das Wissen sein. Keinerlei Gegenständlichkeit ist mit dem Charakter der Unbedingtheit zu vereinbaren: Ein Gegenstand ist immer ein Objekt für ein Subjekt. Ein Gegenstand des Wissens ist insofern, als er Gegenstand ist, vom Wissen abhängig und kann deswegen kein Un 7

I 166. Das ist der Sinn des „Spinozismus“ beim jungen Schelling. Vgl. dazu seinen Brief an Hegel vom 4.2.1795 (Plitt a.a.O [Anm. 2], S. 74 ff.). 9 Analog ist die Methode Schellings in seiner Schrift „Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt“. Schelling versucht hier die obersten Prinzipien der Philosophie durch eine Analyse ihres Begriffes zu gewinnen. In diesem Sinne macht sich diese Schrift die „Form“ jeder Philosophie zum Thema (I 92); der Inhalt ist aber durch die Form schon mitgegeben. 10 I 308. 8

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bedingtes sein. Da also kein Objekt ohne Subjekt denkbar ist, kann ein Unbedingtes, das diesen Namen verdient, niemals von etwas, das von ihm verschieden ist, gewusst oder erkannt werden. Das liegt nicht an der Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens und auch nicht nur daran, dass das Unbedingte niemals ein Gegenstand möglicher Erfahrung sein könnte, sondern es folgt bereits aus dem Begriff des Absoluten selbst. Es hat also den Anschein, als wäre alles Wissen notwendig immer nur Wissen von einem Bedingten und als müsste deswegen eine Philosophie des Unbedingten unmöglich sein. Das Unbedingte ist notwendig unerkennbar und alle Theorie kann nur die Aufgabe haben, diese Unerkennbarkeit zu explizieren. Ist nun aber das Unbedingte gleichwohl der eigentliche Gegenstand der Philosophie, so bedeutet das, dass sie von Hause aus unfähig ist, ihre Aufgabe zu erfüllen. Es besteht also bei der Philosophie eine unaufhebbare Diskrepanz zwischen Anspruch und Leistung. „Das Absolute kann nur durchs Absolute gegeben werden“ – so lautet die Formel, mit der Schelling diese Zusammenhänge auszudrücken sucht11. Das Absolute muss deshalb allem Denken, das sich auf das Absolute richten will, immer schon zuvorgekommen sein. Man sieht leicht, dass dieser Ansatz Schellings von der Postulatenlehre der kantischen Ethik weit entfernt ist. Schelling verlässt hier noch nicht den Umkreis der theoretischen Philosophie, wenn er versucht, die Frage nach dem Unbedingten, zu deren Beantwortung Kant ein kunstvolles Gedankengebäude konstruiert hatte, gleichsam mit einem Kunstgriff zu beantworten. Freilich hat Schelling dabei den Boden der kantischen Philosophie bereits verlassen. Er akzeptiert nicht die Voraussetzung, dass die von unserer Vernunft gebildeten Begriffe immer nur im Hinblick auf mögliche Erfahrung Gültigkeit haben. Er treibt Begriffsanalyse und lässt die Frage, wie es mit der Erkenntnis im Bereich möglicher Erfahrung steht, auf sich beruhen. Er erhebt auch gar nicht den Anspruch, mit Hilfe der Begriffsanalyse etwas über eine „objektive“ Wirklichkeit ausmachen zu können. Er entwickelt gegenüber Kant ein neues Vorverständnis dessen, was als Wirklichkeit zu gelten hat: Mag Erkenntnis aus bloßen Begriffen die empirische Wirklichkeit auch verfehlen, so bleibt immer noch der Ausweg, sich an die Welt und an die Wirklichkeit zu halten, die von den Begriffen als solchen konstituiert wird. Für Kant ist beispielsweise der Begriff Gottes „nur“ eine Idee, weil sie nur regulative Funktionen erfüllt und weil nichts ihr Korrespondierendes in der Anschauung gegeben werden kann. Schelling behauptet nicht das Gegenteil; für ihn fällt lediglich das „nur“ weg, weil ihm die Wirklichkeit, die die Idee für die Subjektivität besitzt, hier viel wichtiger ist als

11

I 163, 167.

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jene objektive Wirklichkeit, die den Gegenstand möglicher Erfahrung des Menschen bildet. Schelling überspringt hier also den Bereich der Erfahrungserkenntnis: Das Unbedingte ist nicht nur deshalb kein Objekt möglicher Erkenntnis, weil es kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, sondern auch schon deshalb, weil es zum Begriff des Unbedingten gehört, kein Objekt werden zu können, und zwar auch nicht für das reine Denken. Die Reflexion auf das Unbedingte fördert also zutage, dass es eine Theorie des Unbedingten nicht geben kann und dass sich nur die Unmöglichkeit einer solchen Theorie dartun lässt. Es ist dies keine formallogische Unmöglichkeit. Denn der Inhalt des Begriffs des Unbedingten impliziert nichts Widersprüchliches: Man kann durchaus den Begriff eines Unbedingten bilden, zu dessen Merkmalen es gehört, kein mögliches Objekt des Denkens zu sein. Die Schwierigkeit ergibt sich erst dadurch, dass man diesen Begriff wirklich zu denken versucht: dann will man nämlich etwas tun, was auf Grund des Inhalts dieses Begriffs gerade unmöglich sein sollte. Wenn man hier von einem „Widerspruch“ reden will, dann nur so, wie man im Idealismus gern von Widerspruch redet, wenn er ihn nicht als eine Beziehung zwischen Inhalten des Denkens, sondern als eine solche zwischen der Tätigkeit des Denkens und seinem Inhalt behandelt. Schelling bezeichnet das auf diese Weise anvisierte ungegenständliche Unbedingte zunächst als absolutes Ich und legt es mit Hilfe von Kategorien aus, die der Sphäre des Ich entstammen. Doch wenn man seinen Ansatz verstehen will, muss man sehen, dass er nicht vom Ich des Bewusstseins ausgeht, um von hier aus zum Unbedingten zu gelangen; er geht vielmehr von einer Sinnanalyse des Begriffs des Unbedingten aus und deutet es als absolutes Ich, das jenseits der Gegenständlichkeit und der Scheidung von Subjekt und Objekt steht und in dem das Prinzip des Seins und des Denkens zusammenfallen. Damit ist die Differenz zu Fichte bezeichnet; nichts anderes kann legitimerweise gemeint sein, wenn man vom „Spinozismus“ Schellings spricht12. Wenn sich bei der Begriffsanalyse des Unbedingten aber diese Schwierigkeiten ergeben, was bleibt einer Philosophie, die vom Unbedingten handeln will, dann noch zu tun übrig? Hier ist der Ursprung dessen, was man oft als Schellings Sprung in den Irrationalismus oder in die Mystik charakterisiert. Besteht keine Möglichkeit, auf rationale Weise zum Unbedingten zu gelangen, dann bleibt, wenn man sich nicht für einen Verzicht entscheidet, nur noch jener Sprung übrig, mit dem man sich der Notwendigkeit allen Begründens und Argumentierens enthebt. Dies ist der systematische Ort, an dem der Begriff der intellektualen Anschauung auftaucht. Für Schelling be 12

Vgl. dazu auch den Brief Schellings an Hegel vom 4.2.1795 (Plitt a. a. O. [Anm. 2]).

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zeichnend ist aber weniger, dass überhaupt ein solcher Sprung getan wird, sondern vielmehr, dass er als das Ergebnis einer konsequent durchgeführten Sinnanalyse erscheint.

IV In dem an Spinoza orientierten Begriff der intellektualen Anschauung konzentrieren sich die Schwierigkeiten, die die Philosophie des frühen Schelling bietet. Hier wird die Differenz gegenüber Fichte offenkundig. Man weiß längst, dass sich die Aussagen, die Schelling über die intellektuale Anschauung macht, nicht zu einer einheitlichen Theorie zusammenfügen lassen. Dass bei diesem Begriff neben Spinoza Kant im Hintergrund steht, ist sicher; aber auch Kants Grenzbegriff der intellektualen Anschauung als eines dem Menschen nicht zukommenden Vermögens, sich seine Gegenstände durch das Denken selbst zu geben, hilft nicht sehr weit, wenn es darum geht, die Funktion des Schellingschen Begriffs zu verstehen. Doch um was für eine Funktion handelt es sich? Hier zeigen sich sogleich Schwierigkeiten; denn die Widersprüche ergeben sich gerade dann, wenn man die Lehre von der intellektualen Anschauung mit den Mitteln der Reflexion auszulegen versucht. Ist die intellektuale Anschauung etwas Vorgefundenes oder etwas erst noch zu Realisierendes? Ist sie der Weg, der zum Unbedingten hinführt oder ist sie dieses Unbedingte selbst? Die verschiedenartigen Bestimmungen, die Schelling von der intellektualen Anschauung gibt, wurden schon oft behandelt. Sie brauchen hier nicht vollständig aufgeführt zu werden. Schelling spricht von der intellektualen Anschauung gelegentlich wie von einer inneren Erfahrung13, bei der alle Zeit getilgt ist oder wie von einem extremen Zustand, zu dem sich der Mensch auf einem mystischen Weg erheben kann14. Dann wieder ist von ihr die Rede als von einem Zustand, der niemals fester Besitz, sondern immer nur Zielpunkt einer unendlichen Annäherung sein kann; in diesem Zustand eines „höheren Lebens“15 ist die Persönlichkeit „zernichtet“16; daher kann dieser Zustand sogar mit dem Tode verglichen werden17. Ob es sich also bei der intellektualen Anschauung um einen wirklichen Zustand handelt oder aber um ein unerreichbares, nur richtungweisendes Leitziel, ist bei

13

I 318. I 183; Schelling spricht sogar von einem „absoluten Zustand […] in dem wir, nur uns selbst gegenwärtig, […] ein höheres Leben leben“ (I 321). 15 I 321. 16 I 200. 17 I 324. 14

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Schelling nicht eindeutig18. Gelegentlich scheint sich Schelling mit der bloßen Denkmöglichkeit zufrieden zu geben; vor allem auch dort, wo er von der intellektualen Anschauung als von einem Zustand spricht, an dessen praktische Erreichbarkeit zu glauben Schwärmerei wäre19. Sie ist sich ihrer selbst nicht bewusst20, denn sie ist die freie Handlung, durch die alles Selbstbewusstsein erst entsteht. Kann sie auch kein Selbstbewusstsein sein21, so doch „Selbstbeschauung“22. Da sie kein Objekt haben kann23, aber auch kein Objekt des Wissens neben anderen Objekten ist, muss sie wenigstens Gegenstand eines Glaubens im Sinne Jacobis sein können24. Schelling kann aber auch von einer intellektualen Anschauung der Welt25 wie unserer selbst26 sprechen. Die intellektuale Anschauung kann dann wieder als ein Prinzip erscheinen, das zwar nicht in jedem zum Bewusstsein kommt, wohl aber unabhängig davon im Bewusstsein immer schon zugrunde liegt27; so verstanden, ist sie kein vorübergehender Zustand, aber auch kein Leitideal, sondern ein bleibendes, unveränderliches Organ28. Man wird sich angesichts solcher Diversitäten nicht mit der Auskunft begnügen wollen, dass jeder Mystiker vom Ziel seines Weges gewöhnlich nur in gegensätzlichen Bestimmungen redet. Ohnehin erzielt man in der Mehrzahl der Fälle nur Aussagen von sehr geringem Informationswert, wenn man bestimmten Sachverhalten das Prädikat „mystisch“ beilegt. Auch die Suche nach Vorgängern, eine andere Verlegenheitslösung, hilft nicht weiter. Zwar bestehen Beziehungen nicht nur zu Spinoza und zu Kant, sondern auch zur cognitio centralis des schwäbischen Pietismus29. Doch diese Beziehung kann höchstens die Art erklären, wie Schelling seine Rede von der intellektualen Anschauung ausgestaltet; sie gibt das Kolorit, aber die systematischen Ausgangspunkte sind nicht vergleichbar. – Die Aussagen, die der frühe Schelling über die intellektuale Anschauung macht, sind Ausdruck einer spekulativen Verlegenheit, die sich aus dem Ergebnis der Sinn 18 Im Brief an Hegel vom 4.2.1795 heißt es: „Unser höchstes Bestreben ist die Zerstörung unserer Persönlichkeit, Uebergang in die absolute Sphäre des Seins, der aber in Ewigkeit nicht möglich ist.“ (Plitt a. a. O. [Anm. 2], S. 77). 19 I 332. 20 I 180. 21 I 324. 22 I 326. 23 I 181. 24 I 216. 25 I 285. 26 I 319. 27 I 443. 28 IV 362. 29 Vgl. Robert Schneider, Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen, Würzburg 1938, S. 85 ff.

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analyse des „Unbedingten“ ergibt. Wenn jede äußere Beziehung, in der das Unbedingte stände, schon seine Unbedingtheit beeinträchtigte, so kann es, wie sich gezeigt hat, für das endliche Bewusstsein niemals die Möglichkeit geben, das Unbedingte zu objektivieren. Das Unbedingte kann daher nur in einer Beziehung zu sich selbst stehen. Es kann nicht hervorgebracht werden, sondern es kann sich nur selbst zu dem machen, was es ist. Schon die gnoseologische Relation, in die sich das endliche, gegenständliche Bewusstsein zu ihm stellen könnte, beeinträchtigte die Unbedingtheit. Insofern kann die intellektuale Anschauung nur „Selbstbeschauung“ des Absoluten sein. In der Sprache der Tradition, vor der sich Schelling in dieser Zeit freilich noch ängstlich hütet, würde dies heißen, dass Gott selbst der einzige Theologe ist. Will sich daher das endliche Bewusstsein überhaupt selbst ins Spiel bringen, so bleibt ihm nur die Möglichkeit, im Absoluten aufzugehen und in der Einung mit ihm seine eigene Individualität auszulöschen. Denn für ein Bedingtes kann es kein Unbedingtes geben, sondern immer nur für das Unbedingte selbst. Insofern kann es sich für das endliche Bewusstsein hier in der Tat um den „Tod“ handeln oder doch wenigstens um den Schlaf, den Schelling in diesem Zusammenhang ebenfalls einmal als Beispiel wählt30. Doch von dem, was schon durch seinen Begriff so bestimmt ist, dass es kein mögliches Objekt eines Subjekts sein kann, lässt sich, wenn überhaupt, nur in indirekter Weise, nämlich in Bildern und Symbolen reden. Und wenn dieses höchste Prinzip nicht erst in der Freiheitsschrift von 1809, sondern schon in den frühesten Veröffentlichungen als Wollen verstanden wird31, so ist damit gerade nicht das individuelle und empirische Wollen gemeint, das auf ein bestimmtes Objekt gerichtet und schon deswegen unfrei ist, sondern ein absoluter Wille, der Ursache seiner selbst ist und sich nur auf sich selbst richten kann, weil es für ihn nichts außerhalb seiner selbst gibt. Aus den Modellen und Symbolen, mit deren Hilfe Schelling von der intellektualen Anschauung spricht, wird zumindest dies klar: sie erscheint nur dann, wenn über sie vom Standpunkt des endlichen Bewusstseins aus, d. h. in objektivierender und dinglicher Weise geredet wird, als ein Medium oder als ein Vermögen, mit dessen Hilfe sich das endliche Bewusstsein des Absoluten versichern will. Doch für das endliche Bewusstsein soll das Unbedingte ja gerade unerreichbar sein. Gibt man aber die Position des endlichen Bewusstseins auf, so kann die intellektuale Anschauung kein bloßes Organon des Absoluten mehr sein: sie ist dann selbst dieses Absolute. Dem endlichen Bewusstsein wird nicht etwa nur ein erhabenes Objekt vorgehalten, sondern es wird ihm zugemutet, in einem freien Akt sich selbst aufzugeben und seinen eigenen Standpunkt zu verlassen. Darin gründen die 30 31

I 391. Z. B. I 401.

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Schwierigkeiten, die mit den Gegensätzlichkeiten in Schellings Rede über die intellektuale Anschauung verbunden sind. Streng genommen, könnte man über sie nur vom Standpunkt des Absoluten selbst aus reden. Doch es bleibt immer die Rede eines endlichen Bewusstseins, auch wenn es sich nur noch in gleichsam gebrochener Weise aussprechen kann. Man kann von diesem höchsten Punkt immer nur ausgehen; es führt aber kein Weg zu ihm hin. Wenn Schelling daher einmal an einer späteren Stelle in platonischer Manier fragt, ob die intellektuale Anschauung lehrbar, durch Unterricht zu erwerben, angeboren oder aber ein göttliches Geschick sei32, so ist ihm die Frage schon deshalb nicht beantwortbar, weil er die Alternative nicht akzeptiert. Von hier aus wird die Tatsache verständlich, dass es für Schelling keine eigentliche Theorie der intellektualen Anschauung geben kann. Sie kann zwar gleichsam nachträglich noch einmal wieder zum Gegenstand einer Reflexion gemacht werden; sie wird aber durch diese Reflexion niemals überholt, zumal da die Reflexion hier ihr eigenes Ungenügen erfährt. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Schelling, wenn er auf die intellektuale Anschauung zu sprechen kommt, auf das prinzipielle Ungenügen einer jeden Sprache hinweisen kann33. So ist es verständlich, dass Schellings Rede im Umkreis der intellektualen Anschauung oft auf Sätze in Form der Aussage verzichtet und sich stattdessen imperativischer Formen bedient34. Die so exponierte Frage nach dem Unbedingten hat Schelling sein Leben lang begleitet. Jeder seiner vielen Systementwürfe lässt sich als Versuch deuten, dieses in den frühesten Schriften zunächst auf formale Weise eingeführte Absolute und den Weg zu ihm näher zu bestimmen. Das wird besonders deutlich im Hinblick auf seine Spätphilosophie: Wie die Untersuchungen von Walter Schulz35 gezeigt haben, gehört die Überzeugung, dass das endliche Bewusstsein jenes Absolute außer sich setzen muss, weil es ihm prinzipiell unzugänglich ist, zu den Voraussetzungen dieser Spätphilosophie. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Schelling in seiner Frühzeit explizit die entgegengesetzte Auffassung vertreten hätte. Die Eindeutig 32

IV 361. I 216. 34 Aufmerksamkeit verdient auch die Tatsache, dass Schelling das „Ich bin“, das die Stelle des obersten Grundsatzes einnimmt, in der Schrift „Vom Ich“ konsequent mit einem Ausrufungszeichen versieht (I 168, 179, 204, 206 f., 210; vgl. auch 238, 309). Dieser oberste Grundsatz ist kein Gegenstand des Erkennens; er ist nicht als Aussage formuliert und daher weder wahr noch falsch, sondern er ist Inhalt einer Forderung. Mit dem imperativischen Charakter des obersten Grundsatzes hängt es zusammen, dass er, für sich betrachtet, gar keinen „Sinn“ hat: „So erfährst du, was das Ich sey, nicht durch den Grundsatz, sondern umgekehrt, was der Grundsatz bedeute, muß dir das Ich in dir sagen“ (I 450). 35 Walter Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 1955, bes. S. 49 ff. und 65 ff. 33

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keit, mit der Schelling hier die intellektuale Anschauung als unmittelbare Gewissheit des Bewusstseins verstanden hätte, besteht in Wahrheit gar nicht. Die Schwierigkeiten und Mehrdeutigkeiten, die mit dem Begriff der intellektualen Anschauung verbunden sind, rühren gerade daher, dass Schelling die Frage in der Schwebe lässt, ob das vermittels der intellektualen Anschauung realisierte Absolute für den Menschen ein erreichbarer Zustand im Sinne einer unmittelbaren Gewissheit ist oder ob es sich dabei um ein im Hintergrund stehendes und vom Bewusstsein niemals realisierbares transzendentales Ideal handelt. Schelling verfügt zu dieser Zeit noch nicht über die erforderlichen begrifflichen Mittel für die hier notwendigen Differenzierungen. Dass er hier eine Frage in der Schwebe lässt, kann man freilich erst dann präzise feststellen, wenn man die zur Differenzierung erforderlichen begrifflichen Mittel besitzt und dann gleichsam von einer höheren Reflexionsstufe aus zurückblickt. Zusammenhänge dieser Art bewirken, dass derjenige, der Schellings Denken „unitarisch“ interpretieren will, ebenso die zur Stützung seiner These nötigen Belegstellen finden kann wie derjenige, der eindeutig unterschiedene Entwicklungsstadien voneinander abgrenzen will.

V Mit dem bisher Angeführten wurde nur der Hintergrund von Schellings Naturphilosophie beleuchtet. Der Ansatz dieser Philosophie lässt sich daraus allein aber noch nicht verstehen. Man wird ihr auch schwerlich gerecht werden, wenn man in ihr nur den Versuch sieht, die Subjektivitätsphilosophie, die angeblich bei Fichte dem Problem der Natur noch nicht gerecht werden kann, durch eine Philosophie der objektiven Welt zu „ergänzen“. Das gilt allenfalls für die dritte der „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre“, in der Schelling den Versuch unternimmt, in die Transzendentalphilosophie eine Naturphilosophie einzubauen36. Doch auch von dem als absolutes Ich gedeuteten Unbedingten der intellektualen Anschauung führt kein gerader Weg zur Naturphilosophie. Einen der Ansatzpunkte von Schellings Naturphilosophie findet man, wenn man von einer Überlegung Fichtes in § 1 (Ziff. 7b) der „Wissenschaftslehre“ von 1794 ausgeht, wo gezeigt werden soll, dass das Sein des Ich ausschließlich darin besteht, dass es sich selbst als seiend setzt. Das heißt das Selbstbewusstsein ist und hat keine Substanz, sondern existiert nur als reine Aktualität. Zum Zweck der Erläuterung folgt eine Frage: „Man hört wohl die Frage aufwerfen: was war ich wohl, ehe ich zum Selbst 36

I 383 ff.

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bewusstseyn kam? Die natürliche Antwort darauf ist: ich war gar nicht; denn ich war nicht Ich. Das Ich ist nur insofern, inwiefern es sich seiner bewusst ist.“37 Solche Fragen, die hinter das Selbstbewusstsein zurückgehen wollen, sind für Fichte falsch gestellt. Denn sie setzen eine Abstraktion voraus, die nach den Grundsätzen der Wissenschaftslehre deswegen gar nicht möglich ist, weil bei aller Abstraktion immer noch das abstrahierende Bewusstsein vorausgesetzt werden muss, das niemals hintergangen werden kann. Fichte kann also nicht mit den Mitteln der Reflexion den Zauberkreis des Selbstbewusstseins verlassen. Doch wenn auch das Selbstbewusstsein nicht aus einem ihm vorhergehenden Substrat abgeleitet oder verständlich gemacht werden kann, so besagt dies noch nicht, dass eine Vorgeschichte überhaupt nicht existierte. Schelling sucht nun nach einem Weg, auf dem er sinnvolle Skepsis auch gegenüber der Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins üben kann. So fragt er nach den mundanen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn ein Selbstbewusstsein entstehen soll – wobei er im Auge behält, dass es sich deswegen aus solchen Bedingungen noch nicht ableiten lässt38. Die Natur ist in diesem Fall der Inbegriff der das Ich ermöglichenden Bedingungen. Dies ist einer der Grundgedanken seiner Naturphilosophie, die gleichsam die Vorgeschichte des Selbstbewusstseins darzustellen unternimmt. Dieser Ansatz führt schließlich zu der Auffassung, nach der Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie gleichberechtigt sind, weil sie sich gegenseitig, gleichsam in reziprokem Verhältnis zu begründen vermögen. Denn die so verstandene Natur und das Ich umgreifen sich gegenseitig. Schelling hat diese Auffassung vor allem im „System des transzendentalen Idealismus“ von 1800 entwickelt. Die Einleitung zu den „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ von 1797 zeigt aber noch einen anderen Zugang zur Naturphilosophie. Hier reflektiert Schelling nicht mehr nur auf die Strukturen der Subjektivität und des Selbstbewusstseins, er nimmt auch nicht mehr die Möglichkeit philoso­ phischer Reflexion als selbstverständlich hin, sondern er stellt auch die von alledem handelnde Philosophie als solche in Frage. Es hatte sich ja schon gezeigt, dass die Philosophie ihre Absicht, das Unbedingte zu denken, nicht realisieren kann. So wird auch die Frage nach den ihr selbst zumeist verborgenen Voraussetzungen der Philosophie gestellt. Damit, und nicht etwa mit der Einbeziehung eines von Fichte angeblich vergessenen Gebietes, ist der entscheidende Schritt getan: Schelling nimmt die philosophische Reflexion nicht mehr als etwas problemlos Gegebenes hin, sondern fragt nach 37

Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hg. v. Imm. H. Fichte, Bd. 1, Berlin 1845 [Nachdr. 1971], S. 97. 38 Sehr aufschlussreich ist hier das zweite Stück der „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre“ von 1797, vor allem I 370 ff. und 392 f.

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den Bedingungen ihrer Möglichkeit39. Er will gerade nicht unterstellen, das Selbstbewusstsein und speziell die philosophische Reflexion sei eine dem Menschen von Natur aus zukommende Möglichkeit, die als solche keiner Erörterung bedürfe. Vor allem aber bezweifelt er, dass sich in der Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins das oberste Prinzip allen Wissens und aller Dinge finden lasse. Damit wird aufs neue die durch eine einseitige Betonung der transzendentalen Fragestellung in Vergessenheit zu geraten drohende Frage nach den realen Voraussetzungen des Bewusstseins und der Vernunft als philosophische Frage restituiert. So geht Schelling in der Naturphilosophie von der Einsicht aus, dass Philosophie gerade nichts Natürliches ist. Der Mensch verlässt seinen Naturzustand dadurch, dass er sich seiner selbst bewusst wird, dass er philosophiert und nach der Natur fragt: „Sobald der Mensch sich selbst mit der äußeren Welt in Widerspruch setzt […], ist der erste Schritt zur Philosophie geschehen. Mit jener Trennung zuerst beginnt Reflexion; von nun an trennt er was die Natur auf immer vereinigt hatte, trennt den Gegenstand von der Anschauung, den Begriff vom Bilde, endlich (indem er sein eigenes Objekt wird) sich selbst von sich selbst.“40 Wenn die Philosophie danach fragt, wie die Natur und die Welt der Erfahrung möglich ist, wenn sie das Selbstbewusstsein zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht, so manifestiert sich darin diese Entgegensetzung nur in jener besonders extremen Form, die alles gegenständliche Bewusstsein, das von seinem eigenen Ursprung nichts weiß, ermöglicht. Die Naturphilosophie fragt bei Schelling also nicht nur nach den Bedingungen der Möglichkeit der Natur, sondern gleichzeitig auch nach den Bedingungen der Möglichkeit eben dieser Frage: Sie ist aber nur möglich geworden durch ein Ereignis, das Schelling später, in einer kleinen Schrift von 1802, auch einmal „Entzweiung“41 nennt, ein Ereignis, das zu der „unbedingten Forderung das Absolute außer sich zu haben“ führt42. Aus diesem Grunde ist Schellings Naturphilosophie ihrem Ansatz und ihrer Intention nach zugleich eine Selbstkritik der Philosophie überhaupt. Denn Philosophie setzt zu ihrer Existenz voraus, dass der Mensch mit der äußeren Welt in Gegensatz geraten ist. Dieser Gegensatz schafft erst die Bedingungen dafür, dass ein Bedürfnis43 nach Philosophie entstehen kann. 39

Dies fand zunächst noch den Beifall Fichtes. So hat Fichte gerade die Einleitung der „Ideen“ (Novalis gegenüber) sehr gelobt (Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen, hg. v. Max Preitz, Darmstadt 1957, S. 104). Vgl. außerdem den Brief Fichtes an Schelling vom 22.10.1799, in: Fichte / S chelling a. a. O. (Anm. 5), S. 21 f. 40 II 13. 41 V 115. 42 V 109. 43 II 15.

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So ist die Philosophie, wie jener Akt der Entgegensetzung überhaupt, nur aus Freiheit möglich: „Philosophie ist nicht etwas, was unserm Geiste ohne sein Zuthun, ursprünglich und von Natur beiwohnt. Sie ist durchaus ein Werk der Freiheit. Sie ist jedem nur das, wozu er sie selbst gemacht hat; und darum ist auch die Idee von Philosophie nur das Resultat der Philosophie selbst, welche als eine unendliche Wissenschaft zugleich die Wissenschaft von sich selbst ist.“44 Die Philosophie ist daher nicht nur durch ihren jeweiligen Lehrgehalt charakterisiert, sondern auch durch etwas, was ihr gewöhnlich verborgen ist – nämlich dadurch, dass sie eine Tätigkeit ist, die erst möglich wird, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Schelling kommt es deshalb zunächst darauf an, die Philosophie über sich selbst aufzuklären; weil ihre Intention zumeist nur auf einen bestimmten Lehrinhalt geht, nicht aber auf sich selbst, d. h. auf das, was sie im Unterschied zu diesem Lehrgehalt eigentlich ist, bleibt sie sich selbst zumeist ein Rätsel. Schelling sucht sie als Manifestation eines Bewusstseinszustandes zu erweisen, der selbst nur wieder eine Epoche innerhalb eines Entwicklungsprozesses ist. Auch hier liegt eine der Wurzeln des sogenannten Irrationalismus Schellings. Sieht man nämlich den Wesenskern einer Philosophie primär nicht in den Ergebnissen einer Tätigkeit, sondern in der Aktualität dieser Tätigkeit selbst, dann ist es nicht so wesentlich, dass der Philosophierende in den Besitz bestimmter Sätze gelangt, den Sinn dieser Sätze versteht und sie adäquat begründen kann, wesentlich ist dann vielmehr, dass er jene Tätigkeit selbst nachvollzieht45. Denn Philosophie ist für Schelling diese Tätigkeit – und nicht etwa nur eine Theorie über sie. Im Vollzug dieser Tätigkeit, der durch eine theoretische Reflexion auf sie niemals ersetzt werden kann, sieht Schelling einen Akt der Freiheit. Deswegen ist ihm jede wahre Philosophie esoterisch: „Man muß also jener Frage selbst, mit der alle Philosophie beginnt, fähig seyn, um philosophiren zu können. Diese Frage ist nicht eine solche, die man ohne eignes Zuthun andern nachsprechen kann. Sie ist ein freihervorgebrachtes, selbst aufgegebenes Problem.“46 Dies ist keine Esoterik, die sich auf die Kenntnis bestimmter für wahr gehaltener Aussagen gründet, Aussagen, die nur einem bestimmten Kreis mitgeteilt werden. Im Gegenteil: was überhaupt ausgesagt werden kann, soll auch ausgesagt werden. Schon in den „Briefen über Dogmatismus und Kritizismus“ hält es Schelling geradezu für ein „Verbrechen an der Menschheit, Grundsätze zu

44

II 11. Philosophie ist daher selbst keine Wissenschaft, die man, als einen Inbegriff von Sätzen, erlernen könnte, sondern „sie ist der wissenschaftliche Geist, den man zum Lernen schon mitbringen muß, wenn dasselbe nicht in ein lediglich historisches Wissen ausschlagen soll“ (I 417); vgl. I 306. 46 II 18. 45

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verbergen, die allgemein mittheilbar sind“47. Schellings Esoterik orientiert sich denn auch an der Fähigkeit, einen Akt der Freiheit auszuführen, und gerade nicht an Sätzen, auch nicht an solchen, die sich ihrerseits auf diese Ausführung beziehen48. Selbst diese Sätze sind allgemein mitteilbar; bei jener Tätigkeit handelt es sich aber um etwas, das nicht mitgeteilt, sondern nur aus eigener Anstrengung praktiziert werden kann. Die wahre Philosophie wird daher nicht durch einen äußeren Machtspruch, sondern „durch sich selbst zur esoterischen“, weil sie „nicht gelernt, nicht nachgebetet, nicht nachgeheuchelt, nicht auch von geheimen Feinden und Ausspähern nachgesprochen werden kann“49. Dem Philosophieren geht ein Naturzustand voraus, in dem der Mensch noch einig ist mit seiner Welt50. Für einen Menschen in diesem Naturzustande sind Gegenstand und Vorstellung noch identisch; es gibt für ihn weder ein Selbstbewusstsein, noch gibt es Objekte. Er hat sich in diesem Naturzustand noch nicht von den Dingen distanziert, weil er sich noch nicht seiner selbst bewusst geworden ist51. Dieser Naturzustand ist also nicht nur ein Bewusstseinszustand, wohl aber ist er ein Zustand, der nicht ohne eine ihm adäquate Bewusstseinsform definiert werden kann. – Die Spekulation hingegen – oder, wie es in der zweiten Auflage der „Ideen“ von 1803 heißt: die bloße Reflexion – setzt voraus, dass die Einheit mit der Welt bereits aufgelöst ist; sie bewegt sich in der Trennung von den Dingen und ist sich Selbstzweck. Von ihr grenzt Schelling die „wahre“ Philosophie ab: für diese ist die Reflexion bloßes Mittel52. Das bedeutet nicht, dass dieser wahren Philosophie noch andere Mittel zur Verfügung stünden. Auch sie ist gezwungen, sich der Mittel der Reflexion zu bedienen. Der Unterschied liegt nur darin, dass die wahre Philosophie weiß, dass es sich um ein Mittel handelt, dass sie sich seiner bedienen kann, ohne ihm ausgeliefert zu sein. Die Eigenart der „wahren“ Philosophie liegt also auch nicht im Sinngehalt bestimmter Sätze, sondern in der Art, mit diesen Sätzen umzugehen. Schelling fordert hier eine Philosophie, die sich nicht nur von allen Dingen, sondern auch von sich selbst distanzieren kann und die sich dessen bewusst 47

I 341. Vgl. I 352, 417 f., 306 ff., 341; IV 232. 49 I 341. 50 Dieser „philosophische Naturzustand“ entspricht bei Schelling zunächst dem mythischen Bewusstsein, wie er es schon in der Schrift von 1793 „Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt“ untersucht hatte; vgl. I 73 f. 51 II 12 ff.; vgl. I 369 ff. 52 Vgl. die dazu parallelen Ausführungen I 359 f.: „Es gibt ein Talent zu trennen, was sie getrennt, und in Gedanken abzusondern, was in der Natur überall verbunden ist. Dieß ist ein zum Philosophiren unentbehrliches, aber äußerst unglückseliges Talent, wofern es nicht mit dem philosophischen, wieder zu vereinigen, was man getrennt hat, verbunden ist; denn nur diese beiden zusammengenommen machen den Philosophen.“ 48

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ist, dass sie von Bedingungen abhängt, über die sie nicht verfügt. Es ist dies keine „praktische“ Philosophie im Sinne Kants, sondern eine Philosophie, die zwar wie jede Philosophie durch eine bestimmte „Praxis“, nämlich durch einen Akt der Freiheit ermöglicht ist, sich aber auch dessen eingedenk bleibt. Der Weg zur „wahren“ Philosophie führt also nur über die Selbstnegation des reflexiven Denkens. Die Philosophie ist eine Tätigkeit, die nicht nur einen Ursprung hat, der außerhalb ihrer Grenzen liegt, sondern sie hat auch ein außerhalb ihrer liegendes Ziel: Sie ist durch jene Entzweiung zwischen Mensch und Natur möglich geworden und strebt nun bewusst oder unbewusst danach, diese Entzweiung wieder aufzuheben. Sie ist sich nicht nur kein Selbstzweck, sondern hat das Ziel, sich selbst dadurch überflüssig zu machen, dass sie die Bedingungen aufhebt, unter denen sie selbst erst möglich, aber auch notwendig geworden ist. So ist sie ein „nothwendiges Uebel“, eine „Disci­plin der verirrten Vernunft“ und „arbeitet […] zu ihrer eigenen Vernichtung“53. Die „wahre“ Philosophie zeichnet sich von der gewöhnlichen Philosophie dadurch aus, dass sie diese Zusammenhänge durchschaut und daher das Ziel bewusst anstreben kann, das den Gang der ihrer selbst und ihres Ursprungs nicht bewussten spekulativen Philosophie ohnehin schon bestimmt. Die erste Auflage der „Ideen“ drückt diese Gedanken in einer mehr enthusiastischen Form aus: „Der Philosoph, der seine Lebenszeit oder einen Theil derselben dazu anwendet, der spekulativen Philosophie in ihre bodenlosen Abgründe zu folgen, um dort ihr letztes Fundament zu untergraben, bringt der Menschheit ein Opfer, das, weil es Aufopferung des Edelsten ist, was er hat, vielleicht den meisten andern gleichgeachtet werden darf. Glücklich genug, wenn er die Philosophie so weit bringt, daß auch das letzte Bedürfniß derselben, als einer besonderen Wissenschaft, und damit sein eigener Name auf immer aus dem Gedächtniß der Menschen verschwindet.“54 Schon die prinzipiell nicht objektivierbare intellektuale Anschauung hatte eine ähnliche Funktion: Sie sollte das Unbedingte realisieren, das vom reflexiven und diskursiven Denken nicht erreicht werden konnte. In der Einleitung zu den „Ideen“ ist das Ziel der Philosophie, nämlich die Aufhebung der Entzweiung, ebenfalls kein gegenständliches Wissen. Das Ziel ist aber auch nicht mehr jener mystische Sprung, dessen Vollziehbarkeit problematisch bleibt; hier geht Schelling davon aus, dass die Trennung nicht ohne bewusste und planmäßige Arbeit aufgehoben werden kann, wenn auch nicht allein durch sie. – Wenn sich nun die Philosophie von einem Ziel her versteht, das außerhalb ihrer selbst liegt, kann sie daher nur ein Übergangsphänomen sein. Sie ist daher keine „Theorie“, die 53 54

II 14. II 15.

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sich selbst genügt. Vor allem kann sie die Aufhebung der Trennung nicht dadurch befördern, dass sie dieses Ziel zum Gegenstand der Reflexion macht. Daher ist es durchaus konsequent, wenn es Schelling in der Einlei­ tung zu den „Ideen“ nur bei diesen ganz kurzen Bemerkungen zur Philosophie der Philosophie bewenden lässt und sogleich dazu übergeht, mit Hilfe der Reflexion die Prinzipien zu diskutieren, die der Erforschung der Erscheinungen der natürlichen Welt zugrunde liegen. Hier versucht er vor allem, Gedanken Kants fruchtbar zu machen, insbesondere die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft“, deren Grundsätze er in Richtung auf eine Vermittlung der Differenz zwischen Reflexion und Empirie weiterentwickeln will. Schelling arbeitet mit der Kategorie des Bedürfnisses, wenn er die Philo­ sophie über sich selbst und ihren Ursprung aufklären will55. Er spricht nämlich von einem Bedürfnis, durch das die Philosophie erst möglich geworden ist und das durch die Philosophie befriedigt werden soll56. Die Tatsache und die Art dieses Bedürfnisses bestimmt die inhaltliche Arbeit der Philosophie, ohne dass diese von diesem Zusammenhang wissen muss. Schellings Absicht geht nicht auf eine Metatheorie in Gestalt einer Philosophie der Philosophie. Das wäre nur ein Versuch, durch Fixierung der Haltung der Reflexion die Philosophie daran zu hindern, ihr Ziel zu verwirklichen57. Das Bedürfnis nach Philosophie soll auch nicht so befriedigt werden, dass es immer wieder aufs neue entstehen kann. Es geht vielmehr darum, die Ursachen zu beseitigen, die dieses Bedürfnis erst hervorrufen. Es ist erst dann endgültig aufgehoben, wenn die Entzweiung des Menschen von der natürlichen Welt wieder überwunden und ein Naturzustand, nun aber nicht vor der Freiheit, sondern durch die Freiheit, wieder erreicht ist. Die Natur, von der hier die Rede ist, ist kein Sachbereich unter anderen Sachbereichen, die der Mensch zum Gegenstand der Reflexion erhebt, sondern sie ist das, was aller Reflexion und allem Selbstbewusstsein vorausliegt. Sie ist das, aus dem sich der Mensch durch jene Entzweiung, die Bewusstwerdung und Objektivierung zugleich ist, herausgesetzt hat. So zeigt die Naturphilosophie bei Schelling ein doppeltes Gesicht: sie hat 55

Hegel entwickelt in seiner ersten philosophischen Druckschrift, der „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie“ von 1801, zumindest äußerlich noch als guter Schellingianer, ähnliche Gedankengänge. Man beachte vor allem den Abschnitt „Bedürfniß der Philosophie“ (Sämtl. Werke. Jubil.-Ausg., hg. v. H. Glockner, Bd. 1, S. 44–49]), wo Hegel mit dem für ihn so wichtigen Begriff der Entzweiung arbeitet, der bei Schelling erst in der zweiten Auflage der „Ideen“ (1803) erscheint; in ihr ist im übrigen auch das Wort „Spekulation“ durch „Reflexion“ ersetzt (II 13 ff.). 56 II 14. 57 Von hier aus ist es zu verstehen, wenn Schelling ein „Philosophiren über Philosophie“ auch in späterer Zeit bewusst meidet, z. B. IV 84 u. IX 211. Denn die Reflexion konserviert jene Trennung, die durch die Philosophie selbst gerade überbrückt werden sollte.

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einerseits die natürliche Welt zu durchdringen, wie sie sich auf der Ebene der Reflexion, also der Entgegensetzung zwischen Subjekt und Objekt darbietet. Sie hat aber auch ins Auge zu fassen, dass es sich bei der so verstandenen Natur nur um einen Übergangszustand handelt, weil sie durch die Subjektivität bedingt ist. Sie muss der Natur daher auch insofern gerecht zu werden suchen, als die Natur jener Entzweiung vorausliegt58. Aus diesem Grund unternimmt es die Naturphilosophie, die Natur als Absolutes zu denken. Die Frage geht dann darauf, wie eine Natur gedacht werden muss, wenn sich in ihr die Subjektivität erheben und sich gegen sie stellen kann. Die Subjektivität soll sich an die Natur als an ihren eigenen Ermöglichungsgrund erinnern und auf diesem Wege die Entzweiung überwinden. – Das „Systemprogramm“ fragte: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ Diese Frage lässt sich auch so verstehen, dass sie nach den Bedingungen fragt, unter denen eine Welt gedacht werden kann, in der ein freies und sich dieser Welt gegenübersetzendes und sie objektivierendes Wesen möglich ist. Schellings Naturphilosophie will diese Frage beantworten. Bei dieser Antwort wird die Philosophie zugleich darauf aufmerksam gemacht, dass sie selbst nicht von Natur aus existiert. Wie die auf dieser Grundlage entworfene Naturphilosophie im einzelnen aussieht, auf welche Weise der Begriff des Organismus bald zum Zentralbegriff von Schellings Überlegungen wird, warum Schelling das Ganze der Natur mit Hilfe von teleologischen Kategorien konstruiert – solche Fragen müssen wir hier auf sich beruhen lassen. Überraschend bleibt, dass die Selbstkritik des reflexiven Denkens und die Frage nach der urständlichen Natur zugleich den Weg zur Empirie freigibt. In keiner späteren Schrift hat sich Schelling so unbefangen auf sie eingelassen wie in den „Ideen“. Dass dieser Zusammenhang zwischen der Selbstkritik der Philosophie und der Freigabe der Empirie nicht nur akzidentell ist, wird am deutlichsten durch den Schlussabschnitt der „Briefe über Dogmatismus und Kriticismus“ belegt: „Unser Geist fühlt sich freier, indem er aus dem Zustande der Spekulation zum Genuß und zur Erforschung der Natur zurückkehrt, ohne daß er befürchten muß, durch eine immer wiederkehrende Unruhe seines unbefriedigten Geistes aufs neue in jenen unnatürlichen Zustand zurückgeführt zu werden.“59 Es ist nach den Worten dieser Schrift gerade die Erfahrung, die einen der Aufgabe der mühsamen Spekulation enthebt – freilich erst dann, wenn man zuerst diese Aufgabe der Spekulation übernommen und zu 58

In einer späteren Arbeit wird diese Differenz auch terminologisch fixiert, der Aufsatz „Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt“ unterscheidet in diesem Sinne gleich zu Beginn zwischen Naturphilosophie und spekulativer Physik (V  107 ff.). 59 I 341.

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Ende geführt hat. Dann erst sind die Ideen unserer Spekulation „in Leben und Daseyn übergegangen“.

VI Was ist unter dieser Aufhebung der Entzweiung, der Vermittlung von Mensch und Natur, durch die sich zugleich die Philosophie als besondere Wissenschaft überflüssig macht, zu verstehen? Die „Ideen“ von 1797 entwickeln in dieser Hinsicht keine klaren Vorstellungen, zumal da es hier bei einigen wenigen knappen Hinweisen bleibt. Wenn man indes in Rechnung stellt, dass Schelling, gleich vielen anderen Autoren seiner Zeit, in den veröffentlichten Schriften möglicherweise weniger sagt, als er sagen könnte, wenn er keinerlei Rücksichten zu nehmen hätte, dann können diese Dinge auch noch in einem ganz anderen Licht erscheinen. Das nicht veröffentlichte und nur als private Mitteilung konzipierte „Systemprogramm“ sowie briefliche Äußerungen helfen hier weiter. Wenn Schelling von der Trennung einer ursprünglichen Einheit zwischen Mensch und Natur spricht, so greift er damit ein Lieblingsmotiv der Zeit auf. Doch wichtiger als die Herkunft des Motivs ist die Art, wie er es aufgreift und auf der Basis der transzendentalen Fragestellung verarbeitet. Wenn er auf eine endzeitliche Aufhebung dieser Trennung hofft, so betrifft dieses Ereignis nicht nur das Denken und die Reflexion. Die Reflexion ist ihm nämlich nur die am meisten charakteristische, aber durchaus nicht die einzige Manifestation dieser Trennung. Die erhoffte Aufhebung der Entzweiung erscheint im „Systemprogramm“ in der Gestalt einer neuen Religion, die paradox als „Mythologie der Vernunft“ bezeichnet wird. Dies ist im Sinne eines nicht gewachsenen, sondern geschaffenen Mythos zu verstehen, in dem sich die spekulierende Vernunft zugleich mit aller Positivität in Religion und Staat selbst aufhebt. In diesem zukünftigen Reich gibt es keine Philosophie mehr; sie hat auf ihre Wissenschaftlichkeit Verzicht getan und ist ins „Leben“ übergegangen. Es gibt aber auch keine Religion im alten Sinn mehr, denn sie ist, indem sie auf ihre Positivität Verzicht getan hat, ebenfalls ins „Leben“ übergegangen. Der Schlussabschnitt des „Systemprogramms“ skizziert diese Utopie: „Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns […] Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der

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Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte Werk der Menschheit seyn.“ Die Aufhebung der Trennung ist nicht nur ein Bewusstseinswandel, sondern als solcher ist sie zugleich auch ein politisches und soziales Ideal. Die Reflexion mit allen ihren Spielarten hat sich von dem in der Unmittelbarkeit verharrenden „Volk“ gelöst und damit zugleich die Möglichkeit seiner Unterdrückung geschaffen. Daher erscheint das endzeitliche Ideal hier als die endgültige Aufhebung der Trennung zwischen Philosophie und Volk, die zugleich die Verwirklichung des Freiheits- und des Gleichheitsideals zur Folge haben soll. Denn die Entzweiung ist Schelling nicht nur der Ursprung der Philosophie und des reflexiven Selbstbewusstseins, sondern zugleich auch der Ursprung aller Herrschaft und des Staates. Die Idee der Aufhebung der Entzweiung ist nun aber noch kein politisches Konzept, aber doch eine politisch-soziale Utopie. Schon ein vorhergehender Abschnitt des „Systemprogramms“ befasst sich mit dem Staat und fordert im Namen der Freiheit seine Abschaffung60. Schelling akzeptiert noch nicht einmal das Maß an physischer Gewalt, das zur Garantie der bürgerlichen Freiheit nötig ist. Er gibt sich hier als utopischer Anarchist: Weil Staat und Philosophie derselben Wurzel entspringen, ist die erhoffte und erstrebte Aufhebung des einen mit der Aufhebung des anderen notwendig verbunden; „die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben“, und die Geschichte wird mit dem Abbau aller Herrschaftsstrukturen an ihr Ende gekommen sein. Denn die neue Religion soll das Bewusstsein der Menschen so verwandeln, dass es einer äußeren Sicherung der Freiheit nicht mehr bedarf. Dass diese Vorstellungen mit den in der Einleitung zur ersten naturphilosophischen Schrift mehr angedeuteten als ausgesprochenen Hoffnungen konvergieren können, beweist der aus dem Jahre 1802 stammende Aufsatz aus dem „Kritischen Journal: Ueber das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt“, ein Aufsatz, der früher schon einmal Hegel zugeschrieben worden war. Dieser Aufsatz sieht den „Grundirrthum“ der modernen Kultur in der unbedingten „Forderung das Absolute außer sich zu haben“61. Auch das Christentum steht unter den Bedingungen dieser 60

Von hier aus ist auch die eigenartige „Neue Deduktion des Naturrechts“ von 1795 zu verstehen. Diese Deduktion bezweckt den Aufweis, dass das Naturrecht ein widersprüchlicher Begriff ist und sich notwendig selbst zerstört (I 279). Denn das Recht bedürfe zu seiner Verwirklichung einer positiven Zwangsordnung; eine solche bindet sich aber nicht notwendig an das Recht. Das Problem einer Rechtsordnung ist also prinzipiell unlösbar. Dass die politischen Implikationen bei Schelling in einer von ihm veröffentlichten Schrift nur zwischen den Zeilen zu finden sind, versteht sich von selbst (vgl. vor allem die „Nachschrift“ I 279 f.). 61 V 108 f.

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Entzweiung, die aufgehoben werden soll. Schelling erwartet seine Verklärung „in die Heiterkeit und Schönheit der griechischen Religion“. Die zeitlichen und äußeren Formen des Christentums werden zerfallen; „dann ist der Himmel wahrhaft wieder gewonnen und das absolute Evangelium wieder verkündet“. Es ist aber gerade die der Entzweiung vorausliegende Natur, die zum Symbol der für die Zukunft erwarteten und die Entzweiung überwindenden Religion wird: „Die neue Religion, die schon sich in einzelnen Offenbarungen verkündet […] wird in der Wiedergeburt der Natur zum Symbol der ewigen Einheit erkannt.“62 Die Briefe, die Schelling und Hegel wechselten, nachdem Hegel sein Studium abgeschlossen und Tübingen verlassen hatte, zeigen deutlich genug, dass sich die Tübinger Freunde von einer die Ansätze Kants und Fichtes fortentwickelnden Philosophie der Freiheit nicht nur Einsichten, sondern auch geschichtliche und politische Wirkungen versprachen. Der konkrete Ansatzpunkt der Kritik war freilich zunächst immer noch die Tübinger supranaturalistische Orthodoxie. Deren Dogmatik sollte, wie jede mögliche positive Dogmatik überhaupt, auf der Grundlage der neuen Philosophie ad absurdum geführt werden. Schelling besaß wie Hegel genug historisches Verständnis, um zu sehen, dass theologische Dogmatik und Kirchenverfassung auf die Dauer niemals gleichgültig nebeneinander existieren können. Die württembergische Kirchenordnung und ihre Handhabung war es vor allem, die die Tübinger Freunde nur mit Widerwillen an ein späteres Leben im Dienst der Landeskirche denken ließ. Weil für sie der Geist der Unterdrückung vor allem in der hierarchisch verfassten Kirche verkörpert ist, bedingen sich politische und theologische Kritik hier gegenseitig; sie werden vom Standpunkt eines epochalen Bewusstseins aus geübt, für das die Beschäftigung mit der Transzendentalphilosophie und die Erfahrung der Französischen Revolution63 in gleicher Weise bestimmend waren. So kommt Schelling dazu, die Verfassung der politischen Welt und die der Wissenschaft in Parallele zu setzen. Er schreibt am 4.2.1795 an Hegel: „[…] wir wollen beide verhindern, dass nicht das Große, was unser Zeitalter hervorgebracht hat, sich wieder mit dem verlegenen Sauerteig vergangener Zeiten zusammenfinde – es soll rein […] unter uns bleiben, und ist es möglich […] mit der lauten Verkündigung kommen, daß es der ganzen bisherigen Verfassung der Welt und der Wissenschaften den Streit auf Sieg oder Untergang

62

V 119 f. Die Bedeutung, die die Französische Revolution für den „Tübinger Freundeskreis“ hatte, ist bekannt und in der Forschungsliteratur oft behandelt worden. Dass Schelling noch später der Ruf, ein verkappter Revolutionär zu sein, vorausging, beweist der Brief in: Plitt a. a. O. (Anm. 2), S. 91 f. Vgl. auch Goethes Brief an Voigt vom 29.5.1798. 63

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anbiete, von uns zur Nachwelt gehen.“64 In manchen anderen Briefstellen werden ähnliche Gedanken formuliert. Man erhoffte für Deutschland politische Konsequenzen aus der philosophischen Revolution, die mit Kant begonnen hatte65. Das „Reich Gottes“, in dem die Tübinger Freunde das Ende der Geschichte erwarteten und das ihnen ihr Losungswort abgab, ist daher nicht nur ein theologischer Begriff, sondern artikuliert auch bestimmte politische Erwartungen. Der Inhalt dieser Erwartungen ist ein Zustand, in dem alle Politik aufgehoben ist, weil die Bedingungen, unter denen sie notwendig wird, beseitigt sind. Man kann diese Idee des Reiches Gottes richtig würdigen, wenn man daran denkt, dass hier Ideale der Französischen Revolution in eigenartiger Weise eine theologische Sublimation erfahren haben – eine Sublimation freilich, die Schelling gerade nicht zum politischen Akteur, sondern zum naherwartenden Utopisten macht, der sich mit gleichgesinnten Freunden zu einem esoterischen Bund zusammenschließt und mit ihnen die Idee des Reiches Gottes verwalten will, bis sie von der Geschichte selbst für die Welt verwirklicht wird und so den Gegensatz von Philosophie und Volk überwindet. Dieses Reich Gottes bedeutet nicht nur das Ende der hierarchisch und nach politischem Vorbild verfassten Kirche, sondern zugleich auch das Ende jeden religiösen Glaubens, sofern dieser an Dogmen gebunden oder an gegenständlichen Fakten orientiert ist. Die Kritik an aller positiven Religion findet ihren unmittelbarsten Ausdruck in dem 1799 entstandenen, aber erst aus dem Nachlass vollständig veröffentlichten „Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens“66. Hier wird gerade die Natur als Instanz gegenüber allem statutarischen Kirchenglauben aufgerufen: „Wollte gern vor dem Kreuz mich neigen, / Wenn ihr mir einen Berg könnt zeigen, / Darin dem Christen zum Exempel / Wär von Natur erbaut ein Tempel.“ Es ist ohne weiteres verständlich, dass in den veröffentlichten Schriften Schellings der politische und religionskritische Aspekt zurücktritt. Die Rücksicht auf die bestehenden Verhältnisse war schon bald stärker als der Wille zur Veränderung. Hat man aber erst einmal auf die politischen Hoffnungen und Erwartungen des jungen Schelling achten gelernt, so zeigen auch manche Stücke der veröffentlichten Schriften ein anderes Gesicht. Wenn Schelling von der „letzten Hoffnung zur Rettung der Menschheit“

64

Die Parallelisierung von „Welt“ und „Wissenschaft“ ist durchaus wörtlich zu nehmen. Das bestätigt auch die Vorrede zur Schrift „Vom Ich“, wo sich Schelling der Öffentlichkeit gegenüber natürlich wesentlich vorsichtiger ausdrückt, aber keinen Zweifel daran lässt, dass die Verwirklichung des Ideals der Wissenschaft nur der Vorbereitung der Verwirklichung des politisch-sozialen Ideals dient (I 158 f.). 65 Vgl. dazu auch den Kant-Nekrolog Schellings aus der Würzburger Zeit (VI 3 ff.). 66 Plitt a. a. O. (Anm. 2), S. 282 ff.

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spricht, die lange genug alle Fesseln des Aberglaubens getragen habe67, oder wenn er vom Anschauungsvermögen handelt, das nicht nur durch „todte Spekulation“, sondern auch durch „gesellschaftliche Verdorbenheit“ ertötet sein könne68, so handelt es sich schwerlich um Dinge, deren Relevanz allein auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Gelehrtenrepublik beschränkt ist. Auch Schellings Sinn für Esoterik muss hier noch einmal erwähnt werden. Schelling gibt ihm an manchen Stellen Ausdruck und lässt gelegentlich durchblicken, dass er den möglichen politischen Sinn einer derartigen Esoterik sehr wohl in seine Überlegungen aufgenommen hat69. Auch der zu überwindende Gegensatz von Philosophen und Volk erscheint in der Nachschrift zur Naturrechtsschrift in einer Form, die ohne Kenntnis des „Systemprogramms“ kaum verständlich wäre70. Dass die Utopie des Reiches Gottes inhaltlich nicht positiv bestimmt wird, ist nicht weiter auffallend – das ist eine Eigenart vieler Utopien, oft sogar eine ihrer Existenzbedingungen. Auffallend bleibt aber, dass Andeutungen, die die Einleitung zu den „Ideen“ geben, nicht auf eine theologisch begründete Utopie zielen, ebenso wenig aber auf eine Utopie, die als Entwurf der reflektierenden Philosophie aufträte. Schellings Utopie will ja gerade kein Gegenstand der Philosophie mehr sein, sondern die Verwirk­ lichung der wahren Philosophie selbst. Die Philosophie hat zwar auch noch eine kritische Funktion gegenüber dem utopischen Bewusstsein. Diese wird aber relativiert dadurch, dass die Philosophie diese ihre Funktion von jenem Eschaton zugewiesen erhält. Deswegen kann es sich bei Schellings Utopie nicht um differenzierte Pläne handeln, die nur auf ihre Verwirklichung warteten. Der künftige Zustand soll gerade nicht von einer ihn planenden Vernunft abhängig sein. Daher ist es der Sache nach ganz konsequent, wenn Schellings Utopie inhaltlich unbestimmt bleibt. Das außerhalb ihrer selbst liegende Ziel der Philosophie ist in den „Ideen“ anders als im „Systemprogramm“ und in den Briefen kein Inhalt einer Naherwartung mehr. Zwar hat Schelling seine Erwartung eines künftigen „Reiches Gottes“ niemals aufgegeben. Das Ideal dieser Erwartung rückt aber bald in eine immer fernere Zukunft. Dem entspricht auf der anderen Seite, dass die Entzweiung gleichzeitig ihre Eigenschaft, als ein Akt der Freiheit zeitloses Schicksal des seiner selbst bewussten Menschen zu sein, verliert und stattdessen eine geschichtsphilosophische Deutung erhält. Sie wird dann als Charakteristikum der modernen gegenüber der antiken Welt herausgestellt: Erst die neue Welt ist es, die den Menschen mit 67

I 339. I 353. 69 I 418. 70 I 280; vgl. dazu auch den Schluss der Miszelle „Ueber Offenbarung und Volksunterricht“ (I 482). 68

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der Natur entzweit71: „Die neuere Welt ist allgemein die Welt der Gegensätze, und wenn in der alten, aller einzelnen Regungen ungeachtet, doch im Ganzen das Unendliche mit dem Endlichen unter einer gemeinschaftlichen Hülle vereinigt liegt, so hat der Geist der späteren Zeit zuerst diese Hülle gesprengt und jenes in absoluter Entgegensetzung mit diesem erscheinen lassen.“72 So drücken es die „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ von 1802 aus73. Eine „mythologische Welt“74 soll zwar einst die moderne Welt ablösen und deren Gegensätze überwinden. Diese Welt steht aber jetzt nicht mehr unmittelbar bevor. Der Geschichtsphilosophie, die Schelling nun entwirft, wächst die Funktion zu, den durch die Nichterfüllung der Naherwartung geschaffenen leeren Raum auszufüllen. Diese Geschichtsphilosophie, im „System des transzendentalen Idealismus“ von 1800 erstmals dargestellt, sieht den Endzweck der Weltentwicklung in der in einer ungewissen Zukunft liegenden Verwirklichung Gottes. Bis zum Eintritt dieser Endzeit übernimmt – gleichsam schon im Vorgriff – die Kunst als Organon der wahren Philosophie die Aufgabe, zwischen den Gegensätzen zu vermitteln75. Schelling intendiert niemals eine politische Theorie, höchstens insofern, als er nach den Bedingungen fragt, unter denen die Notwendigkeit einer Politik überhaupt aufgehoben ist. Entscheidend ist aber, dass schon diese Bedingungen nicht mehr mit Mitteln der Politik hergestellt werden. Denn das Endziel ist Gegenstand der Erwartung und gerade nicht einer Aktion. Lehrreich ist in diesem Zusammenhang das erst aus dem Nachlass veröffentlichte „System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere“ von 1804. Dieses System gipfelt – für Schelling ganz ungewöhnlich – in einer Theorie des Staates. Man darf hier keine Parallele zu Hegels Staatsauffassung ziehen. Denn Schelling lässt keinen Zweifel daran, dass er hier überhaupt nicht an einen wirklichen Staat denkt, in dem Herrschaft von Menschen über Menschen ausgeübt wird. Jener Staat, in dem sich Wissenschaft, Religion und Kunst durchdringen, ist in Wahrheit nichts anderes als das endzeitliche Gottesreich, in dem gleich allen Dingen auch die Philosophie ihr Ziel erreicht und sich als Wissenschaft entbehrlich gemacht hat, weil sie ganz zum „Leben“ mit und in einer sittlichen Totalität geworden ist76. 71

Vgl. dazu aus den Vorlesungen über die „Philosophie der Kunst“ (V 427). V 272. 73 Vgl. auch V 290. 74 V 445. 75 Über die Stellung der Kunst im System Schellings vgl. die ausgezeichnete systemimmanente Interpretation von Dieter Jähnig, Schelling. Die Kunst in der Philosophie, Pfullingen 1966. 76 VI 575 f. Zum Gedanken der „ins Leben“ übergehenden Philosophie vgl. aus den „Briefen über Dogmatismus und Kriticismus“ I 340 f. u. 417; auch der Schluss der Einlei­ 72

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Wenn Heinrich Heine 1834 in seiner zunächst für das französische Publikum bestimmten Schrift über die „Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland“ Verbindungslinien zwischen Philosophie und Politik vor allem im Bereich des Deutschen Idealismus zu ziehen suchte, so kam er bestimmten Intentionen des jungen Schelling und des jungen Hegel viel näher, als er selbst auf Grund der ihm zugänglichen Texte wissen konnte. Wie man auch die wohl niemals ganz aufzuklärende politische Einstellung beider in der Zeit vor 1800 beurteilen mag – es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Begeisterung für die Französische Revolution die ganze Stiftszeit geprägt hat. Ebenso sicher ist, dass man Schelling kein politisches Konzept unterstellen darf. Man weiß, wie sehr er in der Fähigkeit, der Politik im Detail und in der Konkretion gerecht zu werden, von Hegel übertroffen wurde. Doch für die Beurteilung seiner frühen Entwürfe ist dies nicht das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr seine Einsicht, dass die reflexive Philosophie und eine letztlich immer auf Zwang beruhende Sozialordnung nicht unabhängig voneinander sind und auch nur zusammen aufgehoben werden können. Schellings philosophischer Rang zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er auch die Philosophie selbst niemals naiv oder unkritisch hinnimmt, sondern auch nach den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit und den Konsequenzen ihrer Wirklichkeit fragt. Er weiß, dass diese Bedingungen und Konsequenzen auch einen politischen und gesellschaftlichen Aspekt haben. Das ist nicht nur in der hier bisher allein berücksichtigten Frühzeit so. Noch die nie vollendeten „Weltalter“ entwerfen in der Vorrede die Utopie einer künftigen Zeit, in der es keine Philosophie mehr gibt, weil dann die Gründe für das Bedürfnis, das nach ihr verlangt, endgültig beseitigt sind. Der Versuch, „Philosophie mit Natur wieder zu vereinigen“, erscheint hier nur als ein erster Schritt auf einem Wege, der zu dem Endziel führt, an dem die Entgegensetzung der „Welt des Gedankens“ und der „Welt der Wirklichkeit“ überwunden ist: „Es wird Eine Welt seyn, und der Friede des goldnen Zeitalters zuerst in der einträchtigen Verbindung aller Wissenschaften sich verkünden.“77 Schelling ist trotz alledem kein politischer Denker. Eine politische Theorie hat er nie entwickelt, und das ist schwerlich ein Zufall: es ist auch nicht tung zur zweiten Auflage der „Ideen“ (II 72 f.) entwickelt diesen Gedanken. – Auch bei dieser Idee hat Oetinger Pate gestanden; vgl. dazu Ernst Benz, Schellings theologische Geistesahnen, in: Abh. Geistes- u. Sozialwiss. Kl. Akad. Wiss. u. Lit. Mainz, Jg. 1955, Nr. 3, S. 64 ff.; ferner Schneider a. a. O. (Anm. 29), S. 46. 77 Die Weltalter. Fragmente, hg. v. Manfred Schröter, München 1946, S. 9. – Zur anarchistischen Utopie und zur Kritik des Staates vgl. aus den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ VII 461 ff., ferner die Fassung dieses Abschnitts in der von Schelling korrigierten Georgiischen Nachschrift, mitgeteilt bei Alexander Hollerbach, Der Rechtsgedanke bei Schelling, Frankfurt a. M. 1957, S. 190 f.

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einzusehen, wie sich aus den Prinzipien seines Denkens eine politische Theorie bruchlos sollte ableiten lassen. Doch das schließt die politische Relevanz seines Denkens nicht aus. Freilich ergibt sich eine solche Relevanz bei Schelling gelegentlich erst dann, wenn man seinen Ansätzen eine entsprechende Deutung gibt. Wie von jeder Aktion, so gilt auch von jeder Theorie, dass die Frage nach ihrer Relevanz und ihren Konsequenzen unabhängig von der Frage nach den Intentionen beantwortet werden muss. Man wird aber eine politisch-soziale Relevanz auch von Schellings Subjektivitätsphilosophie schwer leugnen können: Ein Gedanke wie der eines Ich, das aus sich eine Welt produziert, aber nicht sieht, dass es sich hier um seine Produktion handelt, das sich daher als von der von ihm produzierten Welt abhängig erfährt und den Folgen dieser Abhängigkeit entfliehen will – ein Gedanke dieser Art passt zu gut auf die Struktur unserer Lebenswelt, als dass man sich nicht versucht fühlen könnte, die von Schelling entwickelten Denkformen bei der Lösung ihrer Probleme in Anspruch zu nehmen. Merkwürdig bleibt die Tatsache, dass die Philosophie nach Hegels Tod Wege einschlug, auf denen von verschiedenen Seiten aus Ansätze, die wir beim jungen Hegel sowie in den unveröffentlichten Schriften und Dokumenten des jungen Schelling finden, wieder aufgenommen zu werden scheinen. Die Frage ist, ob es sich dort der Sache nach um ein Zurückfallen hinter eine Position, auf der diese Ansätze schon überwunden waren, handelt oder ob dies nicht der Fall ist. Diese Frage wird wohl immer unentscheidbar bleiben: Man kann nicht gut die von einem Autor veröffentlichten Texte gegen seine unveröffentlichten Schriften, gegen Briefe oder gegen Dokumente rein privaten Charakters ausspielen. Zurückgehaltene Entwürfe darf man nicht so auslegen, als handelte es sich um Schriften, deren Veröffentlichung nur zufällig unterblieben wäre; man darf indessen auch nicht unterstellen, dass es sich um bloße Versuche handelt, für die der Autor selbst gar nicht einstehen wollte. Kommensurabel sind Aussagen eines Autors nur unter der Bedingung, dass sie sich an denselben Adressaten richten. Diese Bedingung ist aber bei Schelling im Verhältnis zwischen veröffentlichten Schriften und unveröffentlichten Dokumenten nicht gegeben. Die Differenz ist bei ihm umso gravierender, weil er ja selbst bisweilen bewusst philosophische Esoterik zu kultivieren sucht. Sicher ist, dass jede Auslegung philosophischer Werke und Entwürfe, die von ihrem Autor nicht veröffentlicht worden sind, Schwierigkeiten gegenüber steht, die gewöhnlich in der Philosophiegeschichte viel zu wenig ernst genommen werden.

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VII Schellings Naturphilosophie muss von ihrem Ansatz her notwendigerweise ambivalent erscheinen, wenn der Naturbegriff selbst ambivalent ist. Die Natur erscheint der Reflexion als Gegenstand unter den Bedingungen der Entzweiung, als Natur wird aber auch andererseits das bezeichnet, was dieser Entzweiung vorhergeht und insofern zugleich Leitziel für deren Überwindung ist. Sofern nun die Natur als dasjenige verstanden wird, was der Trennung voraufliegt, so werden ihr die Prädikate des Absoluten zugesprochen, über die Schelling in seinen Überlegungen zur intellektualen Anschauung gehandelt hatte. Das analytisch bestimmte Absolute, zuerst als „Ich“ gedacht, wird also nun als alles umfassende „Natur“ gedeutet. Daher muss auch der Ursprung der Subjektivität mit allen ihren Vermögen bis hin zur Reflexion in diese urständliche Natur verlegt werden. Diese Natur soll mithin so gedacht werden, dass sie sogar die Entstehung eines Nichtnatür­lichen, eben der Freiheit ermöglichen soll. Schelling sucht bekanntlich dieses Problem so zu lösen, dass er die Natur nicht als ein ewig in sich ruhendes Absolutes versteht, sondern als ein dynamisches Absolutes, das bestrebt ist, seine Absolutheit in allen seinen Produkten darzustellen. Diese mimetische Produktivität durchläuft verschiedene Grade der Vollkommenheit. Der Begriff des Absoluten liefert der Naturphilosophie das Kriterium für die Beurteilung der einzelnen Stufen der Naturentwicklung. Die Naturphilosophie betrachtet also jedes Naturwesen daraufhin, ob und inwieweit es den Anspruch, das Absolute darzustellen, einlösen kann. Die Tragweite dieses spekulativen Entwurfs einer Naturphilosophie spiegelt sich in Schellings Verhältnis zur neuzeitlichen Naturwissenschaft. Denn Schelling hält diesen oftmals modifizierten Entwurf zugleich wenigstens grundsätzlich für die empirische Wissenschaft und ihre Ergebnisse offen. Dass sein 1796 begonnenes Studium der Naturwissenschaften, insbesondere seine Beschäftigung mit elektrischen, magnetischen, chemischen Phänomenen, ein wichtiges Moment in der Genese der Naturphilosophie war, kann nicht bezweifelt werden. Wichtiger aber als die Feststellung genetischer Zusammenhänge ist eine Antwort auf die Frage nach der systematischen Stellung, die der Naturwissenschaft in Schellings Naturphilosophie zugewiesen wird. Es fällt auf, dass man in den „Ideen“ von 1797 nirgends die Geringschätzung der Erfahrung gegenüber findet, wie sie von einer gedankenlosen Kritik Schelling immer wieder vorgeworfen worden ist. Schelling geht hier vielmehr auf die aktuellen Probleme der positiven Naturwissenschaft seiner Tage in einer Weise ein, die noch weit davon entfernt ist, vorschnelle Verallgemeinerungen zuzulassen. Wenn man seine Naturphilosophie, wie es oft geschieht, der Romantik zuordnen zu können

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glaubt, so kann man sich jedenfalls nicht auf die Schrift von 1797 berufen. Es ist kein Zufall, dass gerade dieses Buch im Jenaer Romantikerkreis entschieden abgelehnt wurde78. Die Unbefangenheit gegenüber der Empirie79 war natürlich begünstigt durch die radikale Skepsis der spekulativen Philo­ sophie gegenüber, wie sie sich gerade in der Einleitung der „Ideen“ ausspricht. Hier scheint der Platz der Philosophie gleichsam einmal vorübergehend unbesetzt zu sein. Doch gerade von hier aus ergeben sich die Fragen, die Schellings weiteres Denken bestimmt haben. Welchen Platz erhält aber nun die empirische Forschung in seiner Naturphilosophie? Wenn man nur einzelne, aus dem Zusammenhang der einzelnen einschlägigen Schriften aus den Jahren 1797 bis 1806 genommene Aussagen über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Naturphilosophie neben­ einanderhält, wird man freilich sehr leicht Widersprüche feststellen können. Doch dann wird man der Tatsache nicht gerecht, dass Schelling die Natur bald unter den Bedingungen der Reflexion, bald aber auch unter den Bedingungen jener umfassenden Vernunft betrachtet, die die Reflexion überwinden will. So ist die Naturphilosophie von der Naturwissenschaft dann unabhängig, wenn diese die Bedingungen untersucht, unter denen eine Natur und sie selbst als Philosophie erst möglich wird. Hier geht es um die Frage, wie eine Natur gedacht werden muss, wenn begreiflich gemacht werden soll, dass in und aus ihr eine Subjektivität entstehen kann, die sich ihr gegenüberstellt und sie negiert. Jene Voraussetzung, wonach die Produkte der Natur im Hinblick auf eine stufenweise, quantitativ differenzierte Repräsentation des Unbedingten zu beurteilen sind, gibt hier einen Rahmen. Insofern nun aber dieser Rahmen ausgefüllt werden soll, sieht sich Schelling auf die experimentelle Wissenschaft angewiesen. Das bedeutet aber nicht, dass naturwissenschaftliche Sätze nun ohne weiteres zu naturphilosophischen Sätzen werden könnten oder umgekehrt, wohl aber, dass spezielle naturphilosophische Hypothesen einer Korrektur oder Bestätigung durch Ergebnisse der empirischen Wissenschaft durchaus zugänglich sind, dass ferner die Naturphilosophie der Arbeit der empirischen Forschung vielleicht die Richtung geben, sie aber eben doch niemals ersetzen kann, weil sie sie in einer bestimmten Hinsicht sogar voraussetzt. Das Verhältnis zwischen beiden wird am Ende der Vorrede zur ersten Auflage der „Ideen“ so bestimmt: „Es ist wahr, daß uns Chemie die Elemente, Physik die Sylben, Mathematik die Natur lesen lehrt; aber man darf 78

Vgl. Horst Fuhrmans (Hg.), F. W. J. Schelling, Briefe und Dokumente, Bd. 1, Bonn 1962, S. 153 ff. 79 Diese Unbefangenheit zeigt sich besonders deutlich, wenn man die 1797 erschienene Urfassung der „Ideen“ berücksichtigt. (Die Gesamtausgabe enthält einen Abdruck der zweiten Auflage von 1803; diese Auflage ist durch umfangreiche Zusätze erweitert.)

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nicht vergessen, daß es der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen.“80 Man mag sich darüber streiten, ob Schelling später bei dieser Auslegung gelegentlich vielleicht einmal zu weit gegangen ist. Manche der angeblich absurden Thesen in seiner Naturphilosophie sind indes in Wahrheit nur gewagte Vermutungen von der Art, wie sie von denen, die an der Forschung teilnehmen, zu allen Zeiten angestellt worden sind, weil der induktive Aufbau der Erkenntnis in jedem Fall einer Orientierungshilfe bedarf. Wenn man über Grundbegriffe reden will, so muss man sich, wie Schelling an Lichtenberg anknüpfend betont, ohnehin einer Bildersprache bedienen81. Wie immer man also Einzelheiten dieser Philosophie auch beurteilen will, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass sich die Naturphilosophie in allen Detailfragen auf die Ergebnisse der Erfahrungswissenschaft stützen muss. Jene Empirie, über die sich Schelling gelegentlich in abfälligem Sinn äußert, ist gerade nicht die von Hause aus auf systematische Einheit hin orientierte und auf sie angewiesene Erfahrungswissenschaft, sondern es ist jene Naturgeschichte, die auf merkwürdige Einzelphänomene gerichtet ist, diese sammelt und beschreibt. Es ist das disparate Wissen der „Tabellen und Register“, das im „Systemprogramm“ von 1796 auf eine niedere Stufe verwiesen wird. „Spekulative Physik“ ist aber für Schelling zunächst nichts anderes als die im Gegensatz dazu auf eine systematische Einheit ausgehende Wissenschaft. Nach der „Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ von 1799 führt der Weg zu dieser Einheit, die einen Blick in die „innere Construction“ der Natur vermitteln soll, über das planmäßig ausgeführte Experiment, das nichts anderes als „ein Eingriff durch Freiheit in die Natur“ ist. „Jedes Experiment ist eine Frage an die Natur, auf welche zu antworten sie gezwungen wird. Aber jede Frage enthält ein verstecktes Urtheil a priori.“82 Der „spekulativen Physik“ wächst so die Aufgabe zu, auf Lücken im System aufmerksam zu machen, die noch mit Hilfe des Experimentes ausgefüllt werden müssen. So lässt es sich verstehen, dass Schelling zum Experimentieren gelegentlich geradezu auffordert83; dass er der Naturphilosophie die Annahme verborgener Grundstoffe und überhaupt die Annahme von qualitates occultae verbietet; dass er die von ihm

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II 6. So sehr sich auch Schelling der Erfahrung verpflichtet weiß, so macht ihm doch die bloße Berufung auf sie noch keine Erkenntnis aus. Die Erfahrung liefert selbst keine Maßstäbe für ihre Beurteilung; daher kommt gerade der Naturphilosophie die Aufgabe zu, auf eine oberste Einheit der Erfahrung zu dringen (vgl. IV 533 f.). 81 II 99. 82 III 276. 83 Vgl. dazu auch den Brief an Christoph Heinrich Pfaff vom 6.3.1798, in: Fuhrmans a. a. O. (Anm. 78), S. 120; vgl. auch III 276 ff. und II 559.

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aufgestellten Hypothesen an der Erfahrung geprüft sehen will84. Freilich ist diese Erfahrungswissenschaft noch lange kein Selbstzweck: Erfahrungen führen erst in der Verbindung mit Apriorischem zum systematischen Wissen. Schelling sieht eine ungeahnte Mathematisierung der Wissenschaften voraus und spielt sogar einmal mit dem Gedanken einer Auflösung aller Wissenschaften in eine universelle Mathematik85. Die so als spekulative Physik verstandene Naturphilosophie soll also die Prinzipien aufdecken, unter denen sich die Mannigfaltigkeit der einzelnen Erfahrungen schließlich zu einer systematischen Einheit zusammenfügen lässt. Sie soll der Naturwissenschaft jene umfassenden Ideen vorhalten, die sie in ihrer immer durch Antizipationen geleiteten Arbeit stets voraussetzen muss. Schon die Einleitung zu den „Ideen“ sucht die Bedingungen anzugeben, unter denen diese Aufgabe bewältigt werden kann. Im besonderen ist es der Gedanke eines ewigen Kreislaufs aller Dinge, den Schelling als Leitidee für die Deutung der Natur im Ganzen in Anspruch nimmt86. Er hält ihn durchaus einer empirischen Bewährung für fähig; auch in späterer Zeit hat er ihn wieder aufgenommen, wie es besonders schön die Naturphilosophie der „Weltalter“fragmente zeigt. Wie immer man Ansätze dieser Art auch beurteilen mag, so war Schelling vielleicht der letzte große Denker, der noch mit einem gewissen Erfolg versucht hatte, die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung in ihrer ganzen Breite zu rezipieren und für eine Naturphilosophie fruchtbar zu machen. Dass dies nicht nur für eine kurze Periode seines Denkens gilt, zeigt nicht zuletzt die schöne Akademierede von 1832 „Über Faraday’s neueste Entdeckung“87. Sie beweist, dass Schelling die Bedeutung der Entdeckung der elektromagnetischen Induktion für das System der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sofort erkannt hatte. Die Naturphilosophie ist bei Schelling insofern mit der empirischen Wissenschaft verbunden, als sie sich der Tatsache annimmt, dass alle Erfahrung nach systematischer Einheit strebt, wenn sie zur Wissenschaft werden 84

So lehnt Schelling beispielsweise aus diesen Gründen den Begriff einer Lebenskraft ab: I 388; III 80 f., 152. Vgl. auch II 28, 49, 260, 293 f., 307, 526 f. Dazu Metzger a. a. O. (Anm. 4), S. 68 f. 85 I 463. 86 „Die Natur hat in ihrer ganzen Oekonomie nichts zugelassen, was für sich und unabhängig vom ganzen Zusammenhange der Dinge existiren könnte, keine Kraft, die nicht durch eine entgegengesetzte beschränkt, nur in diesem Streit ihre Fortdauer fände, kein Produkt, das nicht durch Wirkung und Gegenwirkung allein geworden wäre, was es ist, und das unaufhörlich zurückgäbe, was es empfangen hat und unter neuer Gestalt wieder erhielte, was es zurückgegeben hatte. Dieß ist der große Kunstgriff der Natur, durch welchen allein sie den beständigen Kreislauf, in welchem sie fortdauert, und damit ihre eigne Ewigkeit sichert.“ (II 111 f.; vgl. auch II 350.) 87 IX 439 ff.

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will. Sie lässt sich deswegen aber nicht auf die Aufgaben einschränken, die man heute der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften überträgt. In dieser Wissenschaftstheorie ist in den letzten Jahrzehnten sehr fruchtbare Arbeit geleistet, und es sind wichtige Ergebnisse erzielt worden. Das war aber nur möglich, weil diese Wissenschaftstheorie ihren Fragenbereich in einer bestimmten Weise eingrenzte und damit Sicherheit und Definitheit ihrer Aussagen erkaufte. Der diese Theorie betreibende, reflektierende Theoretiker kommt in der Theorie selbst nicht vor. Philosophie unterscheidet sich aber von jeder gegenständlichen Wissenschaftstheorie weniger dadurch, dass sie inhaltlich ganz andere Fragen stellte, als dadurch, dass sie solche Eingrenzungen möglichen und erlaubten Fragens, auf denen die Sicherheit der Wissenschaft – und die der Wissenschaftstheorie – beruht, nicht akzeptiert, sondern alles, auch sich selbst, ihren Ursprung und ihr Endziel, zum Gegenstand der Frage macht. Deswegen ist Schellings Natur­ philosophie nicht nur Wissenschaftstheorie und spekulative Physik, sondern zugleich auch Selbstkritik der Philosophie88. Dem zur „spekulativen Physik“ führenden, von der Idee einer systemati­ schen Einheit allen Wissens geleiteten Ansatz kann man, wenn man von den Bemühungen unserer Tage ausgeht, möglicherweise leichter gerecht werden. Gerade deshalb verdient aber auf der anderen Seite Schellings Intention, auf dem Weg über eine neuartige Zuwendung zur Natur die Entzweiung, durch die auch Reflexion und Herrschaftsstrukturen erst möglich geworden sind, zu überwinden, besondere Aufmerksamkeit, und dies nicht nur wegen ihrer längst bekannten Berührungen mit der Naturerfahrung Hölderlins. Hier wird wieder einmal manifest, dass der Deutsche Idealismus ein Philosophieren auf der Grundlage ständig sich überholender produktiver Skepsis nicht nur war, sondern dass er sich zuweilen auch selbst so verstand. Am Ursprung von Schellings Naturphilosophie, wie sie im „Systemprogramm“ und am Beginn der Einleitung zu den „Ideen“ greifbar wird, steht eine Skepsis gegenüber aller Reflexion und Spekulation 88

Manche scheinbaren Widersprüche unter Schellings Aussagen über die Aufgabe der Naturphilosophie gehen auf seine auch sonst oft zu beobachtende Sorglosigkeit in terminologischen Dingen zurück. Ein Beispiel: In § 3 der „Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ soll die These begründet werden „Die Naturphilosophie ist speculative Physik“ (III 274); hier ist die an der Idee einer letzten systematischen Einheit des Wissens orientierte, aber doch zunächst von planmäßig angestellten Experimenten ausgehende Wissenschaft gemeint (vgl. o. Anm. 80). Wenn dagegen der Aufsatz „Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt“ eine Trennung zwischen Naturphilosophie und spekulativer Physik vornimmt (V 107 f.), so meint „spekulative Physik“ zwar ebenfalls jene auf systematische Einheit der Erfahrung ausgehende Wissenschaft, die unter der Bedingung der Entzweiung steht. Die Naturphilosophie hat es aber hier gerade mit der diesseits der Entzweiung liegenden urständlichen Natur zu tun, die, streng genommen, noch nicht einmal Gegenstand der Reflexion sein kann.

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als solcher. Diese Skepsis stellt die Unbedingtheit jedes philosophischen Wahrheitsanspruchs dadurch in Frage, dass sie das spekulative Denken von einem Bedürfnis her versteht, das dieses Denken nicht geschaffen hat und noch nicht einmal objektiv vorfindet – weil es nämlich von diesem Bedürfnis erzeugt ist, über das es keine Macht hat. Diese Skepsis sucht jede Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins durch den Ausblick auf ein vergangenes und ein zukünftiges Einssein mit allen Dingen, das durch keine Zäsur des Bewusstseins gesprengt ist, zu relativieren. Was ist aber diese Skepsis, die die Philosophie überflüssig machen möchte? Ist sie selbst wieder ihrem Wesen nach ein Denken oder versteht sie sich als Epiphänomen einer Tätigkeit von ganz anderer, religiöser, politischer oder poetischer Art? Wie dem auch sei, es wird bemerkenswert bleiben, dass Schellings Zuwendung zur Welt der Natur ihrer Intention nach keinen Rückfall in einen längst abgetanen philosophischen Dogmatismus bedeutet, sondern einem auf die Spitze getriebenen Zweifel gegenüber dem Sinn und den Möglichkeiten der Philosophie überhaupt entspringt. Zuerst erschienen in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. W. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1967, S. 406–440.

Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit I Die Schwierigkeiten, die sich bei jedem Versuch einer Interpretation von Hegels erstem Hauptwerk, der „Phänomenologie des Geistes“, bieten, haben ganz verschiedene Gründe. Nur zum Teil nämlich gehen diese Schwierigkeiten auf die Eigenart des spekulativen Denkens zurück, die nicht nur hier eine Modifikation des sonst üblichen Argumentationsstils notwendig zu machen scheint. Dieses spekulative Denken ist – was oft nicht genügend berücksichtigt wird – nicht von der Art, dass man es durch „Anwendung“ eines mehr oder weniger komplizierten formalen Schemas auf einen von ihm unabhängigen Inhalt üben könnte. Wer von einer Methode fordert, dass sie solche gegenüber den jeweiligen Inhalten gleichgültige Schemata an die Hand gibt, wird bei Hegel vergeblich nach einer Methode des Denkens suchen: er ist einem epigonalen Missverständnis zum Opfer gefallen. Hegel zwingt noch mehr als die meisten anderen großen Denker dazu, jede seiner Argumentationen für sich auf ihre Struktur hin zu untersuchen. Hegels eigene Hinweise auf den Weg seines Denkens, etwa seine Lehre von der Selbstbewegung des Begriffs, die Lehre vom spekulativen Satz oder gar die absolute Vorstellung vom dialektischen Dreischritt, können, richtig verstanden, niemanden der Mühe der geduldigen Einzelanalyse, die sich durch keine Formalstruktur vorwegnehmen lässt, entheben. Trotzdem, vielleicht aber auch gerade deshalb, ist die Hegelliteratur sehr arm an Detailinterpretationen von Textstücken, in denen der Interpret Satz für Satz und Wort für Wort dem Gedanken folgt. Man hält sich gedankenlos allzu oft an den bekannten Satz Hegels, wonach das Wahre das Ganze ist; man übersieht aber sehr leicht, dass es nicht möglich ist, dieses Ganze in einem unmittelbaren Zugriff in Besitz zu nehmen. Wer dies glaubt, reduziert Hegel auf eine Position, die seine Philosophie nach ihrem ausdrücklichen Selbstzeugnis überwunden zu haben beansprucht. Die besonderen Schwierigkeiten der „Phänomenologie des Geistes“ hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass die Beziehung sehr schwer zu bestimmen ist, die dieses Werk zu dem auf die „Wissenschaft der Logik“ gegründeten System Hegels einnimmt. Man kann schwerlich behaupten, dass es bis jetzt gelungen wäre, eine der vielen Meinungen zu dieser Frage wirklich überzeugend zu begründen. Dazu kommt, dass Hegels eigene

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Auffassung von der Natur dieser Beziehung offensichtlich einer Entwicklung unterworfen war. Mochte Hegel zunächst die „Phänomenologie des Geistes“ auch als Einleitung in das System konzipiert haben –, später neigte er dazu, in der Logik die philosophische Fundamentaldisziplin zu sehen, die selbst einer Begründung nicht nur nicht bedarf, sondern ihrer noch nicht einmal fähig ist. Dann fragt sich allerdings, was für eine Funktion das Unternehmen einer „Phänomenologie des Geistes“ noch erfüllt. Aber Sachfragen lassen sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man nur noch genetische Probleme erörtert. Denn auch die Ergebnisse einer genetischen Untersuchung können philosophisch nur dann relevant sein, wenn die Wahrheitsfrage nicht von Anfang an ausgeklammert worden ist. So kann man nur schwer angeben, was Hegels Phänomenologie nun eigentlich ist. Der Untertitel „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ scheint einen ersten Hinweis darauf zu geben. Doch wie sieht dieser Weg aus, der durch die Reihe der Erfahrungen des Bewusstseins gebildet wird? Lassen sich seine einzelnen Etappen aus sich selbst und aus den jeweils vorhergehenden Etappen verstehen oder sind sie alle, angefangen mit der sinnlichen Gewissheit, nur im Hinblick auf das Ende des Weges im absoluten Wissen zu begreifen? Setzt die „Phänomenologie des Geistes“ zu ihrem Verständnis das ganze System bereits voraus oder handelt es sich bei ihr um den Versuch einer philosophischen Letztbegründung allen Wissens, die wir auch nach dem heute üblichen Sprachgebrauch noch als „phänomenologisch“ bezeichnen müssen? – Vielleicht ist es zweckmäßig, solche Fragen wenigstens einmal vorläufig auf sich beruhen zu lassen. Man wird sie ohnehin nicht eher in angemessener Weise beantworten können, als man es gelernt haben wird, jenes eigentümliche Begriffsstenogramm, das der Text der „Phänomenologie des Geistes“ ist, zu entziffern. Davon sind wir heute noch weit entfernt: Es ist offenbar leichter, über das Ganze mehr oder weniger angemessene Behauptungen zu formulieren, als einen einzelnen Gedankenschritt so verständlich zu machen, dass man ihn nachvollziehen kann.

II Besonders der Anfang der „Phänomenologie des Geistes“, nämlich die Dialektik der sinnlichen Gewissheit, setzt dem Verständnis oft einen scheinbar unüberwindlichen Widerstand entgegen. Auf den ersten Blick ist denn auch das, was hier dem Bewusstsein zugemutet wird, kaum zu rechtfertigen. Man vergegenwärtige sich: Auf die Frage „was ist das Jetzt?“ kommt die Antwort „das Jetzt ist die Nacht“. Eine wahre Antwort kann durch Aufschreiben nichts von ihrer Wahrheit verlieren. Schreiben wir nun diese

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Wahrheit auf, so machen wir, wenn wir sie am nächsten Mittag betrachten, die Erfahrung, dass sie, wie Hegel sagt, schal geworden ist1. – Jeder fühlt natürlich, dass hier nicht alles ganz mit rechten Dingen zugeht. Wer logisch geschult ist, hat es nicht sehr schwer, die Punkte, hinsichtlich derer sich Bedenken ergeben, genau zu bezeichnen. Doch man wird Hegel nicht gerecht, wenn man ihm logische oder semantische Fehler nachweist und nicht gleichzeitig die Möglichkeit in Rechnung stellt, dass er diese Fehlerhaftigkeit selbst gekannt und berücksichtigt hat. Dass man aus Fehlern lernen kann, ist bekannt. Dies kann so geschehen, dass man seinen Ursprung erkennt; es kann aber auch so geschehen, dass man zwar nicht durch einen Fehler, wohl aber bei Gelegenheit eines solchen eine neue Erfahrung macht, die das Interesse an seiner logischen Auflösung ganz zurücktreten lässt. Beispielsweise lassen sich manche Stellen in Platons Dialogen auf diese Weise deuten. Eine Orientierung an der platonischen Dialogtechnik kann uns in der Tat hier weiterhelfen. Denn was am Anfang von Hegels Phänomenologie geschieht, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht wenig von dem, was Protreptik und Elenktik in den frühen Platondialogen zustande bringen. Man wird also einmal von der Hypothese ausgehen dürfen, dass Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit in Analogie zu jener frühplatonischen Dialektik zu verstehen ist2, zu der – mindestens – zwei Partner nötig sind. Es wird nun überraschen, dass wir in der Dialektik der sinnlichen Gewissheit ebenfalls zwei Partner, gleichsam stilisiert, vorfinden: In Hegels Gedankengang kommt nicht nur die sinnliche Gewissheit, das unmittelbare Wissen selbst vor, sondern ebenso auch wir, die wir dieses unmittelbare Wissen zum Gegenstand der Betrachtung machen3: „Wir haben uns eben so unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern, und von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten.“4 Der nun folgende Abschnitt beschreibt diese sinnliche Gewissheit so, wie wir sie sehen: Sie erscheint als die reichste Erkenntnis, wenn ihr Inhalt betrachtet werden soll, nämlich „ebensowohl, wenn wir im Raume und in der Zeit, worin er sich ausbreitet, hinaus-, als wenn wir uns ein Stück 1

Vgl. II 83 Zitate aus Werken Hegels beziehen sich auf die Jubiläumsausgabe, hg. von H. Glockner, Stuttgart 1927 ff. 2 Vgl. dazu Richard Robinson, Plato’s Earlier Dialectic, Oxford 21953, bes. S. 7 ff. und 49 ff. 3 Wer „wir“ sind, wird im Text nicht gesagt. Sicher scheint mir zu sein, dass „wir“ nicht die Position des absoluten Wissens einnehmen. Denn diese Redeweise dient auch bei Hegel zugleich dem Zweck, den Leser in unaufdringlicher Weise in den Gedankengang einzubeziehen. So sind „wir“ eher eine Art sokratischer Instanz. 4 II 81. Die folgenden Textstellen sind alle dem Zusammenhang der Seiten 81–84 entnommen.

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aus dieser Fülle nehmen, und durch Theilung in dasselbe hineingehen“. Die sinnliche Gewissheit erscheint ferner als die wahrhafteste Erkenntnis, weil sie ihren Gegenstand so lässt, wie er ist, und noch nichts von ihm weggenommen hat. Doch das gilt nur, solange wir die unmittelbare sinnliche Gewissheit zum Gegenstand der Untersuchung machen. Denn in der angegebenen Weise erscheint sie nur uns. Ein Fortschritt im Gang der Untersuchung ergibt sich erst, wenn wir fragen, wie sich die sinnliche Gewissheit selbst versteht. Sie ist nämlich, wie man leicht sieht, kein transzendentales oder reines Bewusstsein, sondern eine Bewusstseinsform von der Art, dass sie Aussagen machen und, wie sich später zeigen wird, auch Fragen beantworten kann. Mag sein, dass uns die sinnliche Gewissheit als die reichste aller Erkenntnisweisen erscheint, wenn wir darauf achten, welche Aussagen wir über sie machen können, und wenn wir die Fülle ihrer möglichen Inhalte ansehen. Anders aber sieht es aus, wenn wir die sinnliche Gewissheit selbst anhören. „Diese Gewißheit aber giebt in der That sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus.“ Das bedeutet nicht, dass das Bewusstsein im Modus der sinnlichen Gewissheit eine Aussage dieser Art selbst machen könnte. Was in diesem Satz gesagt ist, ist vielmehr nur das Ergebnis einer Reflexion, der wir die Aussagen unterwerfen, die die sinnliche Gewissheit macht. Denn die Gewissheit gibt sich selbst nur für die ärmste Wahrheit aus; Hegel sagt nicht, dass sie dies so von sich behaupte oder aussage. Denn: „Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dieß aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Seyn der Sache.“ Gemeint ist damit Folgendes: Die Tatsache, dass die sinnliche Gewissheit von allen ihren Inhalten nichts anderes als allein das ärmste und leerste Prädikat – das Sein – aussagen kann, zeigt, dass für sie selbst der Reichtum, den wir an ihr zu sehen glauben, gar nicht vorhanden ist. So kann ihr Gegenstand für sie selbst immer nur ein bloßes „Dieses“ sein, ohne alle weitere Bestimmung. Diese Diskrepanz zwischen dem Bild, das wir uns von der sinnlichen Gewissheit machen, und der Selbstdeutung dieser Gewissheit provoziert den Fortgang der Erörterung.

III Das reine Sein macht in dem angegebenen Sinn das Wesen der sinnlichen Gewissheit aus; anstatt vom „Wesen“ kann Hegel hier gleichbedeutend auch von der „Wahrheit“ sprechen. Diese Wahrheit zeigt sich indessen erst dann, wenn Aussagen gemacht werden; dennoch meint Hegel bei dem Wort „Wahrheit“ keinen Wahrheitswert einer Aussage. Wenn für ihn das reine Sein die Wahrheit der sinnlichen Gewissheit ist, so bedeutet dies nur, dass die sinnliche Gewissheit als solche von ihren Inhalten nichts prädizieren

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kann, es sei denn das bloße Sein. Zu diesem Ergebnis kommen aber erst wir mit unserer Reflexion; die sinnliche Gewissheit kann sich aus eigener Kraft nicht zu dieser Allgemeinheit erheben, sie ist vielmehr immer an ihren jeweiligen einzelnen Inhalt hingegeben. Wenn Hegel von der Wahrheit der sinnlichen Gewissheit spricht, geht es demnach nicht darum, ob die Aus­ sagen, die die sinnliche Gewissheit macht, wahr sind oder unter welchen Bedingungen sie wahr sind; es geht vielmehr nur um den Inbegriff dessen, was in Aussagen solcher Art überhaupt ausgesagt werden kann. Dies bezeichnet Hegel mit einem Kategorialbegriff – hier mit dem Begriff des reinen Seins. So kommt es, dass „Wahrheit“ in dem von Hegel verwendeten Sinn einem Begriff zukommt, aber trotzdem nur gefunden wird, indem man Aussagen betrachtet und über sie reflektiert. Der nächste Abschnitt macht das bisher Erarbeitete zum Gegenstand der Betrachtung. „An dem reinen Seyn aber […] spielt, wenn wir zusehen, noch vieles andere beiher. Eine wirkliche sinnliche Gewißheit ist nicht nur diese reine Unmittelbarkeit, sondern ein Beispiel derselben.“ Wichtig ist hier der Zusatz „wenn wir zusehen“. Die sinnliche Gewissheit weiß noch nicht von allein, dass sie es immer mit Beispielen zu tun hat, die ein Allgemeines nur repräsentieren. Das heißt: sie kann noch nicht das Beispiel als Beispiel sehen. Auch die Unterscheidung zwischen Ich und Gegenstand, sowie die Vermittlung von beiden – die Tatsache, dass sie aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig fordern – wird von uns an der sinnlichen Gewissheit und nicht von dieser selbst gefunden und festgestellt. Nun heißt es freilich sogleich: „Diesen Unterschied des Wesens und des Beispiels, der Unmittelbarkeit und der Vermittlung, machen nicht nur wir, sondern wir finden ihn an der sinnlichen Gewißheit selbst, und in der Form, wie er an ihr ist, nicht wie wir ihn soeben bestimmten, ist er aufzunehmen.“ Es handelt sich also jetzt nicht nur um das Ergebnis einer äußeren Reflexion. Wir müssen versuchen, auch in dieser Hinsicht die sinnliche Gewissheit zum Reden zu bringen. Die Unterscheidung von Wesen und Beispiel kommt also nicht ganz von außen; sie wird nicht an die sinnliche Gewissheit herangetragen, sondern wir finden sie an ihr. Immerhin ist auch hier zu berücksichtigen, dass wir es sind, die den Unterschied finden; wir finden ihn aber erst, nachdem wir ihn gesucht haben. Wenn wir nun sehen, wie die sinnliche Gewissheit die Beziehung von Ich und Gegenstand vor aller Reflexion über sie versteht, so finden wir von jener wechselseitigen Vermittlung, von der die Rede war, nichts mehr vor. Denn die sinnliche Gewissheit lässt das Ich als ein gegenüber dem Gegenstand Unwesentliches zurücktreten. Für sie ist jedes Wissen ein Wissen von einem Gegenstand, jedoch in der Weise, dass der Gegenstand als etwas dem Wissen gegenüber Selbständiges erfahren wird. Es ist jenes Weltverständnis, das man in der erkenntnistheoretischen Diskussion als naiven Realismus zu bezeichnen

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pflegt: die Dinge sind und bleiben das, was sie sind, unabhängig davon, ob sich das erkennende Bewusstsein auf sie richtet oder nicht. Man kann nach dieser Auffassung die Dinge so, wie sie sind, erkennen. Das Wissen ist zwar auf die Dinge angewiesen, die Dinge hingegen nicht auf das Wissen. Das ergibt sich vielmehr erst durch unsere Reflexion. Zum zweiten Male bereits ist also die Situation entstanden, dass unsere Auffassung von der sinnlichen Gewissheit mit deren Selbstdeutung im Gegensatz steht. Nur hatten wir beim ersten Mal selbst unsere Auffassung korrigieren können, nachdem für uns die sinnliche Gewissheit selbst an ihren Aussagen greifbar geworden war. Jetzt aber soll umgekehrt die sinnliche Gewissheit selbst dazu gebracht werden, das Unzureichende ihres Wirklichkeitsverständnisses von ihren eigenen Voraussetzungen aus einzusehen und zu korrigieren. Das kann indes nicht so geschehen, dass sie nur von uns belehrt würde über Ergebnisse, zu denen wir erst auf dem Wege der Reflexion gekommen sind. Hier gilt immer nur die Einsicht, zu der das Bewusstsein selbst gekommen ist. Die sinnliche Gewissheit kann indes nicht auf sich selbst reflektieren, und daher müssen wir nach einem anderen Weg suchen, der dahin führt, dass die Selbstdeutung der sinnlichen Gewissheit als Selbsttäuschung entlarvt wird. Hier beginnt das schon erwähnte Experiment, bei dem die beiden Partner in eine dialogische Situation eintreten. Die sinnliche Gewissheit wird von uns gefragt, und dies auf gezielte Weise. Doch die Gewissheit selbst kann dies jetzt noch nicht überschauen. Es wird nach dem „Dieses“ gefragt und, da es in zwei verschiedenen Gestalten vorkommt, sofort nach dem Hier und dem Jetzt: in ihnen sieht das Bewusstsein jene unmittelbare Wirklichkeit, die auf ein Ich oder eine Subjektivität nicht angewiesen ist. Das Spiel beginnt mit der Wesensfrage: „was ist das Jetzt?“ Die Wesensfrage wird als solche nicht erfasst, wie sich an der Antwort zeigt: „das Jetzt ist die Nacht.“ Nun ist allerdings gesagt, dass wir die Antwort geben. Eine hier möglicherweise auftauchende Schwierigkeit verschwindet, wenn man bedenkt, dass wir uns hier ja gerade auf den Standpunkt der sinnlichen Gewissheit gestellt haben und von diesem Standpunkt aus die Frage sogleich beantworten5. Wenn es sich schon um eine stilisierte Dialogsituation handelt, so macht es wenig aus, ob man den Dialog mit einem realen Partner führt oder aber mit sich selbst, vorausgesetzt, man kann die beiden Bewusstseinsstufen vonei 5

Die Möglichkeit dieser Deutung wird bestätigt durch eine Stelle II 84: „[…] wir sprechen schlechthin nicht, wie wir es in dieser sinnlichen Gewißheit meinen.“ Vgl. auch eine Parallele aus einem anderen Zusammenhang (II 88): „Wir müssen […] uns zu demselben diesen Ich, welches das gewißwissende ist, machen lassen.“ Wir können also das Bewusstsein verstehen, weil wir uns immer auf seinen Standpunkt zu begeben vermögen. Das gilt aber nicht in umgekehrter Richtung: das Bewusstsein kann uns durchaus nicht immer verstehen.

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nander unterscheiden. Die Dialektik ist hier also ihrer Form nach ein Spiel von Frage und Antwort6. Es entspricht der Naivität der sinnlichen Gewissheit recht gut, wenn sie von den Komplikationen einer gezielten Was-Frage noch ebenso wenig weiß wie von den Schwierigkeiten, die sich durch eine Substantivierung – „das Jetzt“ – ergeben können, wenn man den ursprünglichen Funktionssinn des Wortes „jetzt“ dabei vergisst. Die Antwort auf die Wesensfrage nennt also nur ein Beispiel –, ein häufiger Eröffnungszug in den platonischen Dialogen7. – Die Analyse des Beispiels führt weiter: Wir schreiben die Wahrheit auf; denn auch die sinnliche Gewissheit wird ohne weiteres der Voraussetzung zustimmen, dass eine Wahrheit nicht dadurch aufhört, Wahrheit zu sein, dass man sie aufschreibt und aufbewahrt. Doch am nächsten Mittag ist jene Wahrheit schal geworden. Auf diese Weise macht das Bewusstsein die Erfahrung, dass das, was es zunächst als Wahrheit ausgegeben hatte, seinem eigenen Anspruch nicht genügen kann. Die Wahrheit ist gerade nicht im konkreten Jetzt zu finden: Es zeigt sich, dass das Jetzt als solches zwar bleibt, dass aber das andere, dem das Jetztsein nur zukommt, dem Wandel unterworfen ist wie in unserem Beispiel die Nacht oder der Mittag. „Das Jetzt selbst erhält sich wohl, aber als ein solches, das nicht Nacht ist.“ So fragwürdig, vom Standpunkt des reflektierenden Bewusstseins aus betrachtet, auch die logischen Mittel sein mögen, mit Hilfe derer das Bewusstsein zu dieser Erfahrung gebracht wird – auf andere Weise hätte ihm diese Erfahrung schwerlich vermittelt werden können, da ihm die Unterscheidungsgesichtspunkte der Reflexion noch nicht zur Verfügung stehen. Auf dem Weg über unsere gezielte Frage und über den Versuch, die hier gewonnene vermeintliche Wahrheit durch Aufschreiben und Aufbewahren festzuhalten, hat die sinnliche Gewissheit die Erfahrung gemacht, dass das Jetzt in Wahrheit ein Allgemeines ist; alles, was sie zunächst als unmittelbares Seiendes angesehen hatte, hat nunmehr auch für sie nur noch die Funktion eines Beispiels. Insofern die sinnliche Gewissheit die Sprache benutzt, hat sie es immer schon mit dem Allgemeinen zu tun, auch wenn sie das nicht weiß. Sie meint wohl, mit dem Einzelnen zu tun zu haben; aber 6 Vgl. dazu auch die Bestimmung der Dialektik in Schellings Weltaltern: „Diese Scheidung, diese Verdoppelung unserer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwei Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein unwissendes, das aber Wissenschaft sucht, und ein wissendes, das aber sein Wissen nicht weiß, dieses stille Gespräch, diese innere Unterredungskunst, das eigentliche Geheimniß des Philosophen, ist es, von welcher die äußere, darum Dialektik genannt, das Nachbild, und wo sie zur bloßen Form geworden, der leere Schein und Schatten ist“ (Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Fr. Aug. Schelling, Bd. 8, Stuttgart 1861, S. 201). 7 Vgl. Hegels Charakterisierung der platonischen Dialogtechnik: „ […] der Autor läßt den Antworter sprechen, was er (der Autor) will. Die Frage ist so auf die Spitze gestellt, dass nur ganz einfache Antwort möglich ist“ (XVIII 185).

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indem sie versucht, darüber zu reden, macht sie die Erfahrung, dass das Einzelne als solches gar nicht aussagbar ist. In diesem Fall sagt man also notwendig immer etwas anderes als man meint: „Die Sprache aber ist, wie wir sehen, das wahrhaftere; in ihr widerlegen wir selbst unmittelbar unsere Meinung, und da das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewißheit ist, und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Seyn, das wir meinen, je sagen können.“8 Ein entsprechendes Spiel wird mit dem „Hier“ durchgeführt. Die sinnliche Gewissheit macht auch hier die Erfahrung, dass nicht das unmittelbare Einzelne im Hier das Wesentliche und Bleibende ist. Gerade umgekehrt zu ihrer ursprünglichen Annahme gilt: Beim Hier und beim Jetzt ist nicht der jeweilige Gegenstand das Bleibende, sondern allein das Ich. Was auch immer jetzt und hier ist: es kann immer nur für ein Ich jetzt und hier sein. – Beim Ich zeigt sich aber in ähnlicher Weise, dass es als Einzelnes nicht aussagbar ist. Was ausgesagt werden kann, ist auch im Falle des Ich nur ein Allgemeines: „Die sinnliche Gewißheit erfährt also, daß ihr Wesen weder in dem Gegenstande noch in dem Ich […] ist; denn an beiden ist das, was Ich meine, vielmehr ein Unwesentliches, und der Gegenstand und Ich sind allgemeine, in welchen dasjenige Jetzt und Hier und Ich, das ich meine, nicht bestehen bleibt, oder ist.“9 Das Wesentliche der sinnlichen Gewissheit lässt sich also nicht einseitig im Subjekt finden; es liegt vielmehr im Ganzen seines Weltverhältnisses. Das Einzelne auf der subjektiven Seite lässt sich ebenso wenig aussagen wie das Einzelne auf der objektiven Seite. Es lässt sich nur noch zeigen, und zwar wird es uns gezeigt.

IV Hegel bezeichnet schon in diesem Abschnitt den Weg des Bewusstseins mit Hilfe des Wortes „Dialektik“. Es ließ sich zeigen, dass für diese Art von Dialektik der Gegensatz zwischen zwei Partnern, nämlich dem Bewusstsein in der Weise der sinnlichen Gewissheit und uns konstitutiv ist. Wir können uns dabei zwar in dieses Bewusstsein versetzen, aber wir können andererseits auch einen Dialog mit ihm führen, schließlich können wir auch noch darüber reflektieren. Wenn man hier die frühplatonische Dialektik zum Vergleich heranzieht, dann kann man dies nicht nur in Hinblick auf die dialogische Situation als solche tun, sondern vor allem auch im Hinblick 8

In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie kommt Hegel bei Gelegenheit der Behandlung der Megariker auf diese Zusammenhänge zu sprechen, vgl. XVIII 143 f. Vgl. dazu auch Wilhelm Purpus, Zur Dialektik des Bewusstseins nach Hegel. Ein Beitrag zur Würdigung der Phänomenologie des Geistes, Berlin 1908, S. 45 f. 9 II 86 f.

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darauf, dass es sich hier um ein Analogon zu jener Form der Gesprächsführung handelt, die Platon im Blick auf Sokrates in Abgrenzung gegen die Diskussionsspiele der Sophisten entwickelt hat: Es geht nicht darum, mit einer im voraus formulierten These recht zu behalten, sondern darum, in gemeinsamer Bemühung zu einer Einsicht zu kommen10. Dabei ist es durchaus möglich, dass ein Partner eine zunächst eingenommene Position auch wieder aufgibt, ohne dass dadurch schon der Dialog „entschieden“, d. h. beendet wäre. Platoniker ist Hegel in der Phänomenologie aber auch noch in anderer Hinsicht: Es wird nur dann etwas als Einsicht akzeptiert, wenn das Bewusstsein selbst darauf gekommen ist. Nichts anderes ist gemeint, wenn Hegel von der Erfahrung des Bewusstseins spricht: Die Phänomenologie will den Weg dieser Erfahrung nachzeichnen, aber sie will weder formgerechte Deduktionen liefern, noch sich mit bloßen Reflexionen über das Bewusstsein zufriedengeben. Freilich kann es sich auch hier nicht um eine naive Rezeption Platons handeln; dazu war sich Hegel viel zu sehr der Verschiedenheiten in den Ausgangspunkten bewusst. Was zwischen Hegel und Platon steht, ist im Hinblick auf unsere Frage vor allem die von Descartes begründete Philosophie der Subjektivität, insbesondere die Philosophie Kants, Fichtes und Schellings. Die neuzeitliche Philosophie der Subjekti­ vität versucht zunächst, alles Wissen aus dem Bewusstsein zu begründen; sodann unternimmt sie es aber auch, dieses selbst auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin zu untersuchen: Das Bewusstsein wird aus Prinzipien deduziert, doch dem gewöhnlichen Bewusstsein bleibt seine Herkunft aus jenen Prinzipien dunkel. Hegels Phänomenologie ist nun zwar ebenso Bewusstseinsphilosophie wie die Philosophie seiner Vorgänger. Worauf es Hegel hier aber vor allem ankommt, ist dies: Er will das Bewusstsein nicht nur zum Gegenstand der Reflexion machen, sondern er will es mit allen seinen Erfahrungsmöglichkeiten an seiner Theorie selbst beteiligen. So steht das Bewusstsein, das die Theorie macht, dem Bewusstsein, über das es die Theorie macht, nicht mehr unvermittelt gegenüber. Das Bewusstsein ist auch nach idealistischer Auffassung nichts, was aus sich selbst verständlich wäre. Hegel versucht indes nicht, das Bewusstsein auf Grund dieser Tatsache aus einem höheren Prinzip zu deduzieren, sondern er sucht einen Weg, der es dem unmittelbaren Bewusstsein gestattet, seine Abhängigkeiten und Verflechtungen schrittweise selbst einzusehen. Das gilt im Grunde für den ganzen Weg des Bewusstseins bis hin zum absoluten Wissen. Der Hiatus zwischen dem gewöhnlichen Bewusstsein und den Prinzipien, die in seinem Rücken stehen, wird so aufgehoben. So konnte 10 Zur Unterscheidung, des „harten“ eristischen vom „weichen“ dialektischen Diskussionsstil vgl. bei Platon vor allem Menon 75c8–d7.

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es für Hegel naheliegen, platonische Denkformen auf dem Boden der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität zu wiederholen. Sie vermögen den für den frühen Hegel zentra­len Gegensatz zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion zu überbrücken. Man könnte noch einige andere platonische Elemente in Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit aufweisen: Wenn Hegel zu zeigen sucht, dass wir uns letztlich selbst widersprechen, wenn wir glauben, von einzelnen, sinnlichen Dingen reden zu können, ohne das Allgemeine im Blick zu haben11, so nimmt er auch hier eine platonische Einsicht auf. – Noch wichtiger ist jedoch dies: die sinnliche Gewissheit ist keine ungeschicht­ liche, abstrakte Bewusstseinsstruktur – etwa im Sinne eines kantianischen „Bewusstseins überhaupt“ –, sondern ein empirisches, konkretes und geschichtlich vermitteltes Bewusstsein, das schon in einer Welt – der von 1806 – lebt. Es handelt sich – analog zu den Figuren in den frühplatonischen Dialogen – um ein Bewusstsein, das schon vielerlei mitbringt, manches zu wissen glaubt, Vorurteile und Verneinungen hat, ein Bewusstsein vor allem, das Rede und Antwort stehen kann. Dieses Bewusstsein ist bei Hegel durch das bestimmt, was er in seinen ersten Druckschriften als Entzweiung oder als „Dualismus in der Kultur der neuern Geschichte unserer nordwestlichen Welt“ bezeichnet. Diese Entzweiung zeigt sich besonders in dem Verhältnis von Subjektivität und Objektivität12. Das Bewusstsein, bei dem die Phänomenologie ansetzt, ist zugleich das des gemeinen Menschenverstandes. Hegel wusste von der Kontingenz der Inhalte dieses gemeinen Menschenverstandes; er hat ihn als Ausgangspunkt der spekulativen Untersuchung anerkannt, freilich als einen Ausgangspunkt, der überwunden werden muss. Der gemeine Menschenverstand glaubt im unmittelbaren Wissen eine Grundlage zu haben, die sich durch nichts erschüttern lässt13. Die Phänomenologie des Geistes entwickelt aber dann die Dialektik, die das Unwahre am gemeinen Menschenverstand in einer auch für ihn selbst einsehbaren Weise aufdecken soll. Die sinnliche Gewissheit ist nun allerdings auf das Absolute bezogen, und man ist leicht versucht, das Gesetz des Fortganges in der Phänomenologie des Geistes mit dem Absoluten in Verbindung zu bringen oder aus 11

Vgl. II 90: „Eine solche Behauptung (sc. das Seyn von äußeren Dingen als diesen, oder sinnlichen, habe absolute Wahrheit für das Bewußtseyn) weiß zugleich nicht, was sie spricht, weiß nicht, daß sie das Gegentheil von dem sagt, was sie sagen will.“ 12 Vgl. I 44 ff., 47, 187. Descartes ist für Hegel historisch gesehen nicht der Urheber dieses Dualismus, sondern er hat nur in abstrakter Form ausgesprochen, wodurch diese Zeit in der nordwestlichen Welt ohnehin schon bestimmt ist. 13 Hegel hat das Problem des unmittelbaren Wissens später noch einmal in systema­ tischer Weise in der Enzyklopädie abgehandelt (VIII 164–184); zum Problem des Verhältnisses von gemeinem Menschenverstand und unmittelbarem Wissen vgl. S. 168 f.

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ihm zu erklären. Das ist wohl zulässig, doch man darf dann im Absoluten keine im Hintergrund wirkende, gleichsam teleologisch steuernde Instanz sehen. Das Absolute ist vielmehr, wie Hegel es in der Einleitung zur Phänomenologie ausdrückt, „an und für sich schon bei uns“14. Dies muss aber in einem ausweisbaren Sinne auch schon für das unmittelbare Wissen und den gemeinen Menschenverstand gelten. Das Absolute ist nämlich insofern „bei uns“, als der Wahrheitsanspruch, der mit allen Formen und Gestalten unseres Wissens immer verbunden ist, seinem Wesen nach ein Absolutheitsanspruch ist, ob wir das wollen oder nicht15. Dieser Anspruch wird der Prüfung unterworfen, bei der sich zeigt, dass er nicht gerechtfertigt werden kann. Doch Hegel weiß, dass man einen Absolutheitsanspruch immer nur dann zurückweisen kann, wenn man einen neuen und anderen Absolutheitsanspruch erhebt. Weil das so ist, kann seine Philosophie zugleich Theorie des Absoluten und radikale Skepsis sein. Hegel geht davon aus, dass wir in allem unserem Denken, auch im trivialsten Bewusstsein, immer schon ein Absolutes vorausgesetzt haben, denn auch das trivialste Bewusstsein erhebt den Anspruch, im Besitz von Wahrheit zu sein. Freilich hält dieser Wahrheitsanspruch einer Prüfung nicht stand. Doch die Präsenz des Absoluten, von der die Einleitung spricht, kann auch in der Gestalt vorliegen, dass nur ein Absolutheitsanspruch in der Form des Wahrheitsanspruchs erhoben wird. Der Weg der Erfahrung des Bewusstseins hat aber zur Folge, dass es seine Auffassung von der Wahrheit ständig korrigieren muss, wenn es nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten will. Zuerst veröffentlicht in: Orbis scriptus. Festschrift für Dmitrij Tschižewskij zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Dietrich Gerhardt, Wiktor Weintraub, Hans-Jürgen zum Winkel. Wilhelm Fink Verlag, München 1966, S. 933–941.

14

II 68; vgl. in der Differenzschrift I 55 f. Der gemeine Menschenverstand hat eine Beziehung auf die absolute Totalität, wenngleich diese „im Innern und unausgedrückt“ bleibt; vgl. I 56. 15

Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik

Wer von den traditionellen Argumentationsformen herkommt und sich zum ersten Mal mit der Dialektik der ersten Kategorien in Hegels „Wissenschaft der Logik“ befasst, gewinnt leicht den Eindruck, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugehe. Wie aus dem reinen Sein, mit dem die Logik beginnt, das Nichts hervorgehen soll und weiterhin Werden und Dasein, scheint sich zunächst einer einsehbaren Rekonstruktion zu entziehen. Es hat denn auch nicht an Versuchen gefehlt, diese Dialektik ad absurdum zu führen; ganz im Gegensatz zu allen übrigen Abschnitten von Hegels Logik stand die Behandlung der ersten Kategorien schon frühzeitig im Mittelpunkt einer gezielten Kritik. Auch dort aber, wo man Hegel gegen solche Kritik zu verteidigen versucht, entsteht nur selten eine Situation, in der der Anfang dieser Logik verständlich erscheint. Dies liegt zu einem guten Teil daran, dass die Hegelinterpretation von jeher Schwierigkeiten hatte, der Alternative von nur äußerlicher Kritik oder nur versichernder Paraphrase zu entgehen. Nun hat Hegel bekanntlich selbst die Einfachheit, um nicht zu sagen die Trivialität dieses Anfangs betont. Diese angebliche Einfachheit steht zwar in seltsamem Kontrast zu den Schwierigkeiten, die dieses Lehrstück bisher dem Verständnis geboten hat. Doch man darf nicht aus dem Auge verlieren, dass es sich hier um Schwierigkeiten handelt, die nicht etwa daraus resultieren, dass man die ersten Kategorien noch nicht differenziert genug denkt, sondern im Gegenteil daraus, dass man illegitimerweise ein zu hohes Maß an begrifflicher Differenzierung unterstellt. Denn die Denkmittel, die wir gewöhnlich vor aller Reflexion schon mitbringen, sind zu kompliziert und zu voraussetzungsvoll, um ein adäquates Verständnis der ersten Kategorien zu ermöglichen, wenn man keine sachgerechten Vorsichtsmaßregeln trifft. Die eigentliche Gefahr liegt für den Interpreten immer darin, zu viel hinter dem Begriff des Seins zu suchen. Und gerade hier gilt doch: „Es ist nichts in ihm anzuschauen […] Es ist eben so wenig etwas in ihm zu denken […].“1 Es kommt also darauf an, das zu denken, von dem gleichsam kraft Definition schon gilt, dass in ihm nichts zu denken sei. 1

L 22 [= XI,44] Hegel wird nach der Ausgabe von 1832 ff. (G. W. F. Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 1–18, Berlin 1832–1845) zitiert; die erste Auflage der „Wissenschaft der Logik“ nach der Originalausgabe (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band, Erstes Buch. Das Sein. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1812, Göttingen 1966, zit. L. [Zitate hieraus sind

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Es ist bezeichnend, dass Hegel die Logik denn auch mit einer bloßen Erwähnung dieser ersten Kategorie beginnt. Der berühmte erste „Satz“ der Logik ist gar kein Satz im vollen Sinne, sondern ein Anakoluth: „Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung.“2 Die darauf folgenden Ausführungen versuchen, diese Bestimmungslosigkeit des Seins näher zu beleuchten. Diese Bestimmungslosigkeit verbietet es, im Begriff des Seins noch irgendeinen Inhalt zu suchen; sie verbietet es aber auch, das Sein in irgendein Beziehungsgefüge zu setzen. Von möglichen Inhalten und möglichen Relationen her betrachtet, ist das Sein „in der That Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts“3. Was ist hier geschehen? Hegel unternimmt den Versuch, über das Sein, das er zunächst nur erwähnt hatte, eine Aussage zu formulieren, das heißt, dem Sein ein echtes Prädikat zuzusprechen. Dieser Versuch gelingt nicht; Hegel versucht daher, eben diese Tatsache auf verschiedene Arten zu umschreiben. Bei dem Versuch, dafür auch die äußere Gestalt eines gewöhnlichen Satzes über das Sein zu benutzen, kommt er zu der Formulierung „das Sein ist […] Nichts“. Dabei ist freilich „Nichts“ nur scheinbar ein gewöhnliches Prädikats­nomen. Es markiert vielmehr nur eine Leerstelle und weist damit gleichzeitig auf die Tatsache hin, dass ein echtes Prädikat oder ein echtes Prädikatsnomen nicht gefunden werden kann. Dadurch ist man aber zur zweiten Kategorie gekommen, nämlich eben zur Kategorie des Nichts. Diese Kategorie entspringt nicht auf irgendeine geheimnisvolle Weise aus dem Sein, sondern sie ist der Ausdruck eines fehlgeschlagenen Versuchs der Reflexion, das Sein als echtes Aussagesubjekt zu behandeln. In dieser Weise kommt also bereits hier die Reflexion ins Spiel. In der Unbestimmtheit, die dem Sein nach dem Fehlschlag aller anderen Prädikationen schließlich zugesprochen werden muss, ist das Nichts bereits enthalten4. Um aber überhaupt bis hierher zu kommen, ist es nötig, dass der Versuch, Aussagen zu bilden, wirklich unternommen wird. Eben dies ist aber Sache der Reflexion. Insofern kommt also der Anstoß, der dazu führt, über das reine Sein hinauszugehen, gleichsam von außen. Hegel hat eine differenzierte Darstellung des Sachverhalts, dass das Sein kein Subjekt möglicher echter Aussagen ist, vorgelegt: Es handelt sich um einen Abschnitt aus der ersten Auflage der „Wissenschaft der Logik“, der in die Fassung der zweiten Auflage weder wörtlich noch dem Sinn nach übernommen worden ist. Er findet sich in der zweiten Anmerkung zum Kapitel buchstaben- und zeichenadäquat mit G. W. F. Hegel, Ges. Werke, hg. v. der Rhein.-Westf. Akad. d. Wiss., Hamburg 1968 ff., Bd. 11, hg. v. F. Hogemann / W. Jaeschke, Hamburg 1978. Die Seitenzahlen dieser Ausgabe sind hier beigesetzt.] 2 L 22 [= XI,43]. 3 L 22 [= XI,44]. 4 Vgl. VI 169.

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über das Sein, die wie alle Anmerkungen nicht in den systematischen Zusammenhang des von der „Wissenschaft der Logik“ behandelten Gegenstandes gehört, sondern Reflexionen über diesen Zusammenhang vorträgt. Es geht in diesem Abschnitt5 darum, den Sinn jener Erwähnung des reinen Seins verständlich zu machen, mit der die Logik beginnt. Hegel wählt ein Vorgehen, das einer Exhaustionsmethode ähnelt: In mehreren sukzessiven und aufeinander bezogenen Schritten gelangt er zu immer ärmeren Gestalten des Ausgangssatzes, nachdem sich bei den reicheren Formen Inkonsistenzen ergeben haben. „Nehmen wir die Behauptung des reinen Seyns α) in der Form auf, wie sie am weitesten aus dem Meynen herausgetreten ist, als den Satz: Das Seyn ist das Absolute; so wird vom Seyn etwas ausgesagt, das von ihm unterschieden ist. Das von ihm Unterschiedene ist ein Anderes als es; das Andre aber enthält das Nichts dessen, dessen Andres es ist. Was somit in diesem Satze vorhanden ist, ist nicht das reine Seyn, sondern das Seyn eben so sehr in Beziehung auf sein Nichts. – Das Absolute wird von ihm unterschieden; indem aber gesagt wird, es sey das Absolute, so wird auch gesagt, sie seyen nicht unterschieden. Es ist also nicht das reine Seyn, sondern die Bewegung vorhanden, welche das Werden ist.“6 Dieser Text erweckt den Anschein, als werde ein Widerspruch aufgezeigt oder gar abgeleitet. Es ist in der Tat Hegels Lehre, dass ein Satz wie „Das Seyn ist das Absolute“ bereits einen Widerspruch in sich enthält. Nur hat man Hegel missverstanden, wenn man unter seinem „Widerspruch“ genau die Beziehung versteht, die zwischen Elementen von Satzpaaren von der Form „p“ und „¬ p“ besteht. Eine derartige Beziehung ist in der Tat niemals gemeint, wenn Hegel in spekulativen Zusammenhängen von „Widerspruch“ redet, so vielfältig die Strukturen im übrigen auch sein mögen, die mit diesem Ausdruck bezeichnet werden. An unserer Stelle ist eine Diskrepanz besonderer Art gemeint. Sie besteht zwischen dem, was der Satz behauptet, und dem, was dieser Satz selbst ist bzw. was er tut, indem er etwas behauptet. So spricht unser Textstück davon, dass der fragliche Satz etwas Bestimmtes „aussagt“, andererseits aber auch, dass in diesem Satz etwas Bestimmtes „vorhanden ist“ und dass in ihm etwas „unterschieden wird“. Inhaltlich behauptet der Satz die Ununterschiedenheit von Sein und Absolutem; in seiner äußeren Gestalt enthält der Satz jedoch eine Unterscheidung beider Terme. Sein und Absolutes werden also in jenem Satz sowohl unterschieden als auch nicht unterschieden. Wer darauf hinweist, dass Unterscheidung und Nichtunterscheidung doch eben nicht in derselben Hinsicht erfolgen, erhebt damit keinen Einwand gegen Hegel, der ja die Verschiedenheit der Hinsichten in derartigen Fällen niemals in Frage stellt. 5 6

L 35–37 [= XI,52 f.]. L 35 f. [= XI,52].

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Darum handelt es sich hier auch nicht um einen formallogischen Widerspruch, sondern allenfalls um eine metalogische Pseudoparadoxie. Was Hegel hier zeigen will, ist relativ einfach: Materie und intentionales Korrelat jenes Satzes kongruieren nicht. Dies lässt sich unabhängig von der Entscheidung der Frage feststellen, ob Entsprechendes von allen Sätzen im Umkreis spekulativer Wahrheiten gilt. Denn es ist offenkundig, dass der fragliche Satz etwas anderes ist als das, was er bezeichnet. Er wird also das eine Mal gegenständlich pragmatisch betrachtet, das andere Mal im Hinblick auf den von ihm ausgesagten Sachverhalt. Das zeigt sich auch in der Ausdrucksweise, deren sich Hegel bedient: Wenn es heißt, es werde vom Sein etwas ausgesagt, „das von ihm unterschieden ist“, so bezieht sich dies auf die gegenständliche Aussage, nicht aber auf ihren Sinn. Daher kann Hegel hier von dem sprechen, was „in diesem Satze vorhanden ist“. Und wenn er in pragmatischer Betrachtungsweise feststellt, „das Absolute wird von ihm unterschieden“ (nämlich vom „Seyn“), so soll damit gerade nicht gesagt sein, dass diese gegenständlich-pragmatische Unterschiedenheit von jenem Satz auch behauptet werde. Denn behauptet wird ja, dass eine Unterschiedenheit gerade nicht vorliege7. Man kann an dieser Stelle die Fragen, die sich aus der Urteilstheorie Hegels, insbesondere aus seiner Auffassung von der identifizierenden Funktion der Kopula ergeben, auf sich beruhen lassen. Denn hier sind nicht Sätze überhaupt das Thema, sondern solche Sätze, in denen das reine Sein die Stelle des Satzsubjekts einnimmt. Hegel will hier zeigen, dass diesem reinen Sein strenggenommen kein Prädikat zugesprochen werden kann, weil es allein schon dadurch, dass ihm ein von ihm unterschiedenes Prädikat zugesprochen wird, de facto entgegen der Voraussetzung zu einem Bestimmten wird – gleichgültig, ob dies dem Prädizierenden klar ist oder nicht. Hat man einmal diese Überlegungen akzeptiert, so bieten die weiteren Stufen in Hegels Exhaustionsverfahren kaum mehr Schwierigkeiten, da dort nur jeweils analoge Reflexionen vollzogen werden. Die zweite Stufe wird nun dadurch erreicht, dass man die die Reinheit des Seins beeinträchtigende Verschiedenheit zwischen Subjekt und Prädikatsnomen aufgibt. Wenn nämlich mit dem Satz „Das Seyn ist das Absolute“ eine Identifikation intendiert ist, dann soll dies nunmehr auch in der äußeren Gestalt des Satzes zum Ausdruck kommen. So gilt für diesen Fall die Forderung, dass „die Verschiedenheit als bloß des Wortes oder als Verbindung mit einem 7

Als Beispiel für die von Hegel als „Widerspruch“ bezeichnete Diskrepanz, die sich zwischen dem gegenständlichen und dem intentionalen Aspekt ergibt, vgl. auch L 30 [= XI,49]: „Insofern der Satz: Seyn und Nichts ist dasselbe, die Identität dieser Bestimmungen ausspricht, aber in der That sie eben so als unterschieden enthält, widerspricht er sich in sich selbst, und löst sich auf.“

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unnützen Theile verschwindet“8. Die zweite Stufe wird demnach durch die Tautologie „Das Seyn ist das Seyn“ repräsentiert. Auch hier jedoch besteht noch eine Diskrepanz zwischen Materie und intentionalem Korrelat des Satzes. Was hier „vorhanden“ ist, wie es Hegel ausdrückt, ist ein Sagen. Während aber gewöhnlich jedes Sagen einen Inhalt, ein intentionales Korrelat hat, so ist dies bei einer manifesten Tautologie, wie sie hier vorliegt, in Wahrheit nicht der Fall. Dadurch, dass überhaupt ein Satz formuliert wird, wird der Anspruch erhoben, es werde etwas gesagt. Ist der Satz aber bereits in seiner äußeren Gestalt tautologisch, so kann dieser Anspruch nicht eingelöst werden. Daher wird auf der dritten Stufe auf das zur Tautologie führende Prädikatsnomen verzichtet. Dadurch entsteht der Satz „Das Seyn ist“. Aber auch hier ist immer noch das Sein als Subjekt vom Sein als Prädikat unterschieden. Es bleibt also in der gegenständlichen Form des Satzes immer noch eine Differenz bestehen, deren Nichtexistenz gerade ausgesagt werden soll. Daher muss auch noch auf das Prädikat und damit auf die Form des Satzes überhaupt verzichtet werden. Man kommt damit zur vierten Stufe: „Reines Seyn, oder vielmehr nur Seyn; satzlos ohne Behauptung oder Prädikat. Oder die Behauptung ist in das Meynen zurückgegangen.“9 Diese Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass das Sein nur noch erwähnt wird10. Damit ist der Anfang der Logik nun freilich nicht auf strenge Weise hergeleitet – weder im Sinne der formalen Logik, noch im Sinne des spekulativen „Beweises“. Wohl aber ist dieser Anfang als solcher plausibel gemacht. So ist es nach diesen Reflexionen verständlich, dass der systematische Zusammenhang der Darstellung in Hegels Logik in der Tat nicht mit einem Satz oder einer Behauptung, überhaupt nicht mit einer inhaltlichen Bestimmtheit, sondern allein mit der satzlosen Erwähnung der ersten Kategorie, nämlich eben des reinen bestimmungslosen Seins, beginnen kann. Die Reflexion zeigt, dass man mit jedem Satz, den man etwa über dieses Sein bilden kann, seinen Gegenstand nicht nur aus inhaltlichen Gründen, sondern schon deshalb verfehlt, weil es sich überhaupt um einen Satz handelt. Wir haben es also, wenn man eine heute gebräuchliche Unterscheidung hier anwenden darf, methodisch mit einem Gegensatz von semantischer Betrachtung einerseits und pragmatischer Betrachtung andererseits zu tun. Es hat sich gezeigt, dass jeder hier untersuchte Ausdruck selbst etwas ande 8

L 36 [= XI,52]. L 36 [= XI,52]. 10 Gerade auf dieser Stufe, auf der ein inhaltlich bestimmbares intentionales Korrelat nicht mehr existiert, tritt der gegenständlich-pragmatische Aspekt in den Vordergrund: „Diß Seyn ohne Beziehung auf Bedeutung, wie es unmittelbar ist und unmittelbar genommen werden soll, gehört es einem Subjecte an; es ist ein ausgesprochenes, hat ein empirisches Daseyn überhaupt“ (L 37 [= XI,53]). 9

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res ist, als er meint und intendiert; indem man Sätze der angegebenen Art formuliert, tut man etwas anderes, als man zu tun intendiert11: Man will die Bestimmungslosigkeit des reinen Seins ausdrücken und kann es doch nicht verhindern, dieses Sein mittels eben dieses Versuchs zu bestimmen. Damit ist noch nicht verständlich gemacht, warum bei dieser Sachlage Schwierigkeiten auftauchen können. Warum lässt man jene Diskrepanzen, die man leicht auch mit Hilfe einer Stufenunterscheidung zwischen objektsprachlicher und metasprachlicher Betrachtungsweise entschärfen könnte, nicht einfach auf sich beruhen? Denn wir sind heute doch aus guten Gründen anzunehmen gewohnt, dass gerade eine präzise Unterscheidung der verschiedenen Sprachstufen noch am ehesten geeignet ist, Inkonsistenzen zu verhüten und Scheinwidersprüche als solche kenntlich zu machen. Warum aber gesteht Hegel solchen Differenzierungen nur ein relatives Recht zu, und warum muss er in seinem System darauf Wert legen, dass das reine Sein kein Subjekt möglicher Prädikate ist? Warum soll das, was ein Satz aussagt – entgegen allem, was sonst im Sprachgebrauch üblich ist – mit dem kongruieren, was in ihm „vorhanden“ ist? Hegel ist in seiner Logik auf der Suche nach dem Begriff, der das selbst ist, was er intendiert. Es handelt sich hier also um einen Begriff, zu dessen Definition es gehört, dass jene Differenzierungen im Hinblick auf ihn irrelevant werden, oder genauer: dass die Inhalte, die sich unter Voraussetzung solcher Differenzierungen ergeben, konvergieren. Dieser Begriff wird bekanntlich erst am Ende der Logik, nämlich in der Kategorie der „absoluten Idee“, erreicht. Erst hier haben wir den Begriff vor uns, der in seinem intentionalen Korrelat nicht mehr unterschieden werden kann, weil er mit ihm zusammenfällt. Nur im Hinblick hierauf spricht Hegel ja auch von „dem“ Begriff. Im Gegensatz dazu sind die Kategorien in den Sphären des Seins und des Wesens Begriffe höchstens im Sinne der traditionellen Verstandeslogik; in diesen Bestimmungen liegt „der“ Begriff nur in einer noch der Entwicklung bedürftigen Form vor12. 11 Vgl. III 60: „Wenn das früher abstrakte Denken zunächst nur für das Princip als Inhalt sich interessirt, aber im Fortgange der Bildung auf die andere Seite, auf das Benehmen des Erkennens zu achten getrieben ist, so wird auch das subjektive Thun als wesentliches Moment der objektiven Wahrheit erfaßt.“ 12 Entsprechendes gilt für den von Hegel verwendeten spekulativen Wahrheitsbegriff. Bekanntlich verwendet Hegel den Wahrheitsbegriff auch in einer von der herkömmlichen Bestimmung abweichenden Gestalt, wenn er der „Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserer Vorstellung“ die „Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst“ gegenüberstellt (z. B. VI 51 f.). Dem entspricht, dass Hegel nicht nur von der Wahrheit von Sätzen, sondern auch – und zwar gerade in der Logik – von der Wahrheit von Begriffen handelt. Man kann diesen Stellen gerecht werden, wenn man realisiert, dass auch der dort zugrunde liegende Wahrheitsbegriff an der traditionellen Adäquationsvorstellung orientiert bleibt: In solchen Fällen geht es um die Übereinstimmung zwischen dem, was ein Begriff ist, und

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Hat man damit nicht das Ende der „Wissenschaft der Logik“ illegitimerweise für die Deutung alles dessen, was ihm in der Ordnung des Werkes vorhergeht, vorausgesetzt? Es wäre zweifellos unzulässig, wollte man versuchen, für die Deutung von einzelnen Kategorien der Hegelschen Logik andere Kategorien, die in der Ordnung des Systems noch nicht entwickelt sind, explizit heranzuziehen. Die systematische Ordnung des Gedankens würde auf diese Weise unterlaufen und zu der Unverbindlichkeit einer rein didaktischen Ordnung degradiert. Doch in Wahrheit soll von solchen systematisch jeweils „späteren“ Kategorien gar nicht explizit Gebrauch gemacht werden. Das schließt freilich nicht aus, dass diese Kategorien auch dort, wo sie noch nicht ausdrücklich vorausgesetzt werden können, als Implikate immer schon im Spiel sein können. Die Reflexion kann von ihnen auch dort Gebrauch machen, wo sie noch nicht thematisch sind. Auch bei Hegel erfolgt durch den bloßen Gebrauch der diese Kategorien bereits enthaltenden Sprache noch kein systematischer Vorgriff. Wenn indes die Reflexion von diesen Kategorien immer schon Gebrauch macht, so hält sie gleichsam damit das Material stets präsent, aus dem das begriffliche System konstruiert wird. Auf den Anfang der Logik angewendet bedeutet dies, dass Hegel hier keineswegs einen späteren Begriff voraussetzt, um an ihm als Richtschnur die Bestimmungen des Anfangs zu messen. Nähme man die Existenz einer derartigen Voraussetzung an, würde der Fortgang des Gedankens vollends unverständlich. Für das Verständnis dieses Fortgangs ist es nun aber wesentlich, dass der Mangel der systematisch früheren Kategorien zwar auch durch äußere Reflexion, also etwa durch einen Vergleich, mit dem Begriff der absoluten Idee aufgezeigt werden kann, dass sich aber doch der Fortgang des Gedankens allein dann erzwingen lässt, wenn sich dieser Mangel auch ohne derartige Voraussetzungen an der jeweiligen Kategorie selbst zeigt. Unser Exhaustionsverfahren ist nun ein schönes Beispiel für diesen Weg: Nichts wird ausdrücklich von dem antizipiert, was die Lehre vom Begriff bringen wird, wohl aber wird aufgezeigt, dass die Kategorie des Seins etwas anderes ist, als sie bezeichnet – und etwas anderes, als sie meint, wenn man von ihr Gebrauch macht oder sie gar thematisiert. Man meint etwas Unbestimmtes und Ununterschiedenes; aber man bestimmt und unterscheidet es allein schon dadurch, dass man darüber Aussagen macht, gleichgültig ob man diesen Erfolg will oder nicht. Der Aufweis einer derartigen Diskrepanz reicht also hin, den Fortgang zu erzwingen. Dagegen ist es nicht dem, was er meint. Die ständige Diskrepanz zwischen beiden in den Kategorien motiviert den Fortgang der Logik. In diesem Sinn findet jede Stufe der Begriffsentwicklung ihre im angezeigten Sinn verstandene Wahrheit in der jeweilig nächsten Stufe.

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erforderlich – und in unserem Fall auch gar nicht möglich –, dass mit den auf der jeweiligen Stufe bereits entwickelten Kategorien die Diskrepanz als solche und die Notwendigkeit ihrer Aufhebung erklärt werden kann. Dass das Sein nicht der Begriff ist, der sich auf sich selbst bezieht, lässt sich einsehen, ohne dass man entsprechende explizite Voraussetzungen zu Hilfe nimmt. Dass aber die Seinskategorie überhaupt einer derartigen Prüfung unterworfen wird, lässt sich nicht verständlich machen, wenn man nicht das Ziel der Logik in Rechnung stellt. Das Sein ist unbestimmt, und die zweite Kategorie, die des Nichts, signalisiert zunächst nur die Abwesenheit aller Bestimmung. Hier ist keine Kategorie in einem systemimmanenten Sinn vorausgesetzt. Wohl aber ist in pragmatischer Hinsicht vorausgesetzt, dass man den Versuch einer Bestimmung des reinen Seins unternommen hat. Erst aus dem Resultat dieses Versuches bietet sich dem systematischen Fortgang die Kategorie des Nichts an. Man muss also die Gedanken in den späteren Teilen der Logik denn auch nicht rekonstruiert haben, wenn man die Bewegungen der Seinslogik verstehen will. Welcher Art sind aber nun die Voraussetzungen der Hegelschen Logik, die ich hier als pragmatische Voraussetzungen bezeichnet habe? Was Hegel – in diesem Sinne bei dem, der die Logik studiert – voraussetzt, ist eine hinreichende, auf der Höhe seiner Zeit stehende philosophische Bildung, und zwar sowohl im systematischen als auch im historischen Bereich. Eine derartige Bildung muss auch bereits gelernt haben, mit allen Mitteln philosophischer Reflexion mühelos umzugehen. Diese Reflexionsfähigkeit wird sich zunächst in den streng vom Haupttext abgetrennten Anmerkungen zu bewähren haben, die ja nicht in den Zusammenhang des Systems selbst gehören, sondern das Geschäft der Reflexion eingestandenermaßen und ausdrücklich betreiben. Man muss aber sehen, dass auch die Darstellung des Systems im Haupttext niemals auf die Reflexion ganz verzichten kann – schon deswegen nicht, weil ja ständig von im System noch nicht eingeführten Begriffen zumindest in einem vorläufigen Sinn Gebrauch gemacht wird13. 13

Dass sich Hegel dieser Tatsache auch im Hinblick auf den Haupttext bewusst war, lehrt vor allem die Vorrede zur zweiten Auflage (vgl. bes. III 21 f.). Hier findet sich das merkwürdige Programm einer voraussetzungslosen Darstellung des Systems der Logik, die der Voraussetzungslosigkeit des Systems selbst kongruieren soll; es ist die Konzeption einer reflexionsfreien, quasimathematischen Darstellung des Systems logischer Begriffe. „Allein auf solche abstrakte Vollkommenheit der Darstellung muß freilich im Allgemeinen Verzicht gethan werden“ (ebd.). Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Hegel dieses Programm überhaupt für realisierbar gehalten hätte. Nicht zufällig weist Hegel gerade auch in diesem Zusammenhang auf die Probleme des Anfangs hin: Versuchte man das Programm der quasimathematischen Darstellung des Systems zu realisieren, käme man über die bloße Nennung der „ganz einfachen Ausdrücke des Einfachen“ nicht hinaus. Die Mathematik ist für Hegel in der Philosophie immer noch ein unvollkommeneres Darstellungsmittel als die Sprache (vgl. V 59).

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Daher können bei Konzeption und Darstellung eines derartigen Gedankengangs Absichten und Ziele im Hintergrund stehen, die sich in der Darstellung selbst allenfalls zeigen können, die aber doch in ihr nicht thematisch zur Sprache kommen. Das besagt für unseren Fall: Dass eine Kategorie wie das reine unbestimmte Sein daraufhin angesprochen und befragt wird, ob sie und die über sie formulierten Sätze, das, was sie meinen, selbst auch sind, ist vom systematischen Endziel der Logik her motiviert. Man muss indes dieses Endziel nicht antizipiert haben, wenn man den Inhalt des Gedankenganges angemessen verstehen will, der zeigen soll, dass es sich beim reinen Sein jedenfalls nicht um den Begriff handelt, der selbst das ist, was er meint, und der sich selbst zum Gegenstand hat. Das in der Konstruktion eines derartigen Begriffs bestehende Ziel wird also im Gang der Logik nirgends ausdrücklich vorausgesetzt; es geht in keine der begrifflichen Operationen als Element ein. Dem steht jedoch nicht entgegen, dass sich die Auswahl dieser Operationen an jenem Ziel orientiert und sich von dort her nur motivieren lässt. Es ist aber etwas ganz Verschiedenes, ob man einen Gedankengang als solchen aus seinen immanent logischen Beziehungen nachvollziehen oder ob man – in ganz anderer Blickrichtung – seine Motivation verstehen will. Auch hieraus folgt nicht, dass man den äußeren Gang und den Aufbau der „Wissenschaft der Logik“ nur als Resultat einer nachträglichen didaktischen Reflexion betrachten dürfte. Denn hier handelt es sich ja nicht darum, dass man zu einem Ergebnis hinführen wollte, über das grundsätzlich auch unabhängig von dem Weg, der zu ihm führt, zu reden sinnvoll wäre. Auf diesem Weg werden nacheinander in systematischer Ordnung die Kategorien rekonstruiert, die den Inhalt der logischen Wissenschaft ausmachen. Man kann hier in der Tat strenggenommen nur von einer Rekonstruktion sprechen, denn im Wortlaut des Textes wird prinzipiell von allen Kategorien von Anfang an Gebrauch gemacht. Aber gerade deshalb macht es den entscheidenden Unterschied aus, ob die jeweiligen Kategorien an einer bestimmten Stelle bereits explizit entwickelt worden sind oder ob sie noch in jenes Umfeld von Sprache und Reflexion gehören, aus dem der Aufbau des logischen Systems sein Material gewinnt. Aus ihm stammen auch die Verständnishilfen, deren auch das philosophierende endliche Bewusstsein immer bedarf. Denn dieses endliche Bewusstsein kann niemals den „Standpunkt“ der Logik beziehen. Das Logische bleibt vielmehr immer sein Gegenstand; das reine Denken ist keine Möglichkeit, die vom endlichen Geist verwirklicht werden könnte. So stellt sich der endliche Geist, wenn er die Wissenschaft der Logik entwickelt, keineswegs auf den Standpunkt Gottes; gerade wenn man sich an Hegels bekannter Metapher orientiert, gilt es zu bedenken, dass die Logik nur die Darstellung Gottes geben kann, „wie er in seinem ewigen Wesen, vor der Erschaffung der Natur und eines

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endlichen Geistes ist“14. Die Darstellung bewegt sich jedoch ganz im Bereich des Endlichen und seiner Kontingenz. Hegels Logik will eine Logik des Absoluten sein. Dies zeigt sich darin, dass sie zwar nicht den Begriff des Absoluten an den systematischen Anfang der Begriffsbildung stellt, wohl aber von dort her das Kriterium gewinnt, das die Einsicht in das Ungenügen der einzelnen Kategorien vermittelt. Der Fortgang wird durch die auf jeder Stufe in anderer Weise entwickelte Einsicht erzwungen, dass die jeweilige Kategorie noch nicht die adäquate Darstellung des Absoluten gibt. Eine Feststellung wie diese lässt sich in ihrer abstrakten Allgemeinheit natürlich nur vor der Reflexion treffen, die sich nicht streng an den jeweiligen Stand der Begriffsentwicklung gebunden weiß. Die Konkretisierung des Nachweises der Nichtabsolutheit der einzelnen Kategorien nimmt auf jeder Stufe eine jeweils andere Gestalt an. In unserem Fall, nämlich im Hinblick auf die Kategorie des reinen, unbestimmten Seins, geschah dies bekanntlich in Gestalt des Nachweises, dass diese Kategorie etwas anderes ist, als sie meint. Die Unbestimmtheit des Seins ist gerade als solche eine Bestimmung besonderer Art15. Die Hegelsche Logik hat zwar das Absolute zum Gegenstand, aber sie ist keine Spekulation, die den Anspruch erheben könnte, auf dem Standpunkt des Absoluten zu stehen. Es handelt sich vielmehr um das Unternehmen des endlichen Geistes, die Kategorien zu entwickeln und zu erfassen, die für eine angemessene Auslegung des Absoluten notwendig sind. Auf dieser Ebene des endlichen Geistes bewegt sich die Darstellung der Logik. Diese Ebene wird innerhalb dieser Darstellung niemals thematisch; gerade deswegen braucht sie aber auch nicht verlassen zu werden. Die Probleme der Logik Hegels werden nicht verständlich, wenn man diese Tatsache außer acht lässt. Denn für die „Wissenschaft der Logik“ gilt, wie für alle Philosophie, dass sie nur auf Grund dessen, dass wir endliche Wesen sind, möglich und notwendig wird16. Das zeigt sich schon an einigen simplen Tatsachen, über die man allzu leicht hinwegsieht: Hegels „Wissenschaft der Logik“ ist ein Buch, das in einer bestimmten Sprache einer bestimmten Zeit geschrieben worden ist. Vor allem aber ist es ein Buch, in dem mit Hilfe von in eben jener ­Sprache formulierten Sätzen bestimmte Behauptungen mit dem Anspruch auf Wahrheit aufgestellt werden. Mag der Inhalt dieser Behauptungen auch weit von dem der gewöhnlichen Sprache üblicherweise zugeordneten Bereich entfernt sein, mögen ferner die logischen Beziehungen, wie sie zwischen den Sätzen dieses Buches herrschen, oft nur in mühevoller Arbeit zu präzisieren 14

L XIII [= XI,21]. Es ist bemerkenswert, dass auf diese Weise ein unmittelbarer Übergang vom Sein zum Dasein möglich wird (vgl. L 21 [= XI,43]; ferner V 347 f.). 16 Vgl. XVI 483. 15

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sein, die Tatsache bleibt bestehen, dass auch für Hegel das Material der gewöhnlichen Sprache nicht zu unscheinbar sein kann, wenn es darum geht, eine begriffliche Bestimmung des Absoluten auszuarbeiten. Nun hat bekanntlich Hegel selbst gegen die Form des gewöhnlichen Satzes ins Feld geführt, er sei unfähig, die eigentliche, nämlich die spekulative Wahrheit auszudrücken. Dieser Grundsatz Hegels gehört bekanntlich zu den am häufigsten zitierten Lehrstücken von Hegels Denken. Doch was soll an die Stelle des Satzes treten? Hegel macht nie einen Ansatz, eine neue Kunstsprache einzuführen oder gar ein neues, außersprachliches Organon der Philosophie zu entwickeln. Es gibt keinen Weg, der hinter die in der Gestalt des Satzes erreichte Vergegenständlichung zurückführen könnte. Daraus folgt nun freilich nicht, dass seine Kritik des Satzes nicht ernst zu nehmen wäre. Mindestens das gleiche Gewicht hat aber die Tatsache, dass sich Hegel nach wie vor, und zwar auch in der Logik, stets der Form des Satzes bedient, dessen Sphäre er weder verlassen kann noch will – von der einzigen Ausnahme des Anfangs der Logik abgesehen. Auch der spekulative Satz zeigt die äußere Gestalt eines gewöhnlichen Satzes. Es gelten lediglich besondere Regeln für den Umgang mit ihm, insofern nämlich, als er der ständigen Korrektur bedarf. Aber auch hier wird der Bereich der üblichen sprachlichen Ausdrucksmittel niemals verlassen. In diesem Sinne formuliert die „Wissenschaft der Logik“ mit Hilfe von Sätzen der gewöhnlichen Sprache Aussagen über das Absolute, die fortwährend der Revision unterzogen werden. Auch in dieser Hinsicht betrachtet, handelt es sich um einen gerade vom endlichen Geist unternommenen Versuch, das Absolute in der Sphäre des sich in der Sprache ausdrückenden abstrakten Begriffs bestimmbar zu machen. Ein in sich ruhendes und sich selbst genügendes Absolutes bedürfte keiner Logik17. 17

So stellt Hegel gerade gegen Schelling heraus, es könne nur in Betracht kommen, „wie solches Absolute in das denkende Wissen und in das Aussprechen dieses Wissens eintritt“ (III 73). Die „Wissenschaft der Logik“ hat das Absolute vor seiner Entäußerung zur Natur – von Hegel „das Logische“, gelegentlich auch „das Dialektische“ genannt – zum Gegenstand; ihr Ziel ist die Entwicklung und Begründung der Formen möglicher Rede vom Absoluten. Die „Wissenschaft der Logik“ darf aber mit jenem Absoluten in der Gestalt des „Logischen“, das ihr Gegenstand ist, nicht verwechselt werden. Es besteht hier eine Differenz, die etwa der Differenz zwischen Natur und Naturphilosophie entspricht. Den hier sich ergebenden Schwierigkeiten wird man nicht dadurch begegnen können, dass man den Entwurf einer der Hegelschen Logik zuzuordnenden Metalogik fordert. Die Konstruktion von Metastufen ist zwar möglich und zulässig, wird aber, als Ergebnis einer einfachen formalen Reflexion, das Verständnis der Sache nur wenig fördern. Wenn man schon mit diesen Reflexionsformen arbeitet, dann ergeben sich die Schwierigkeiten mit dem Text Hegels nicht deswegen, weil eine gegebene Objektstufe bislang noch nicht durch eine Metastufe ergänzt worden wäre, sondern umgekehrt gerade dadurch, dass in diesem Text bereits eine Metastufe greifbar ist, zu der die entsprechende Objektstufe erst noch gefunden werden muss.

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Die Hegelsche Logik ist dennoch keine Theorie über den sich auf das Absolute richtenden endlichen Geist; sie bleibt eine vom endlichen, sich seiner Endlichkeit bewussten Geist betriebene Wissenschaft, die das Absolute zum Inhalt hat. Diese Differenz wird erst auf der letzten Stufe der logischen Entwicklung, nämlich auf der Stufe der absoluten Idee, vermittelt: „Bisher haben wir die Idee in der Entwickelung durch ihre verschiedenen Stufen hindurch zu unserm Gegenstand gehabt; nunmehr aber ist die Idee sich selbst gegenständlich.“18 Hegel versucht, auf verschiedenen Wegen dem Verständnis der logischen Kategorien zu Hilfe zu kommen. Einer dieser Wege ergibt sich aus der Möglichkeit, die jeweilige Kategorie als Definition des Absoluten zu betrachten19. Man muss in diesen Fällen beachten, dass es sich hier lediglich um eine Verständnishilfe handelt. Dies geht einmal schon daraus hervor, dass sich derartige Hinweise nur in Abschnitten finden, die korollarienartigen Charakter haben. Außerdem sagt Hegel in solchen Zusammenhängen nicht, dass man die Kategorien als Definitionen des Absoluten behandeln müsse, sondern nur, dass man dies tun könne. Vor allem aber gilt es zu berücksichtigen, dass nach Hegels eigener, im dritten Buch der „Wissenschaft der Logik“ entwickelten Lehre eine Definition niemals die endgültige Form des Wissens darstellt. Denn in jeder Definition ist das Definiendum ein Element, das in der Sphäre der Vorstellung verbleibt und nicht zum Begriff erhoben wird. Hegel setzt also gerade nicht voraus, dass das Absolute in einer Definition zu erfassen wäre, und dass es demzufolge eine „richtige“ Definition des Absoluten geben müsste. Eben deshalb lässt sich die Form der Definition dann gefahrlos benutzen, wenn sie nur als Verständnishilfe fungiert; denn hier kommt es darauf an, jene Grenzen der jeweiligen kategorialen Bestimmung anzugeben, die sich dann zeigen, wenn von ihr verlangt wird, das Absolute adäquat auszudrücken. So bleibt durch die Wahl einer Verständnishilfe vom Typus „… ist Definition des Absoluten“ die Beziehung aller logischen Kategorien auf das Absolute gewahrt; daneben ist aber durch die Orientierung an der Form der Definition sichergestellt, dass keine derartige Bestimmung endgültig ist, sondern eine Position markiert, die der Kritik sowohl fähig als auch bedürftig ist und somit einen Fortgang erzwingt. – Jeder einschlägige Begriff wird unter der Voraussetzung betrachtet, adäquater Ausdruck des Absoluten zu sein. Doch es scheint, als würde diese Voraussetzung einzig zum Zwecke ihrer Falsifikation eingeführt. So wird auf diese Weise immer nur gezeigt, dass es sich bei den in Betracht gezogenen Kategorien um endliche Kategorien handelt. Die Absolutheits­ hypothese hat hier die Funktion, die Endlichkeit des Endlichen aufzuweisen. 18 19

VI 408. Z. B. VI 163; III 69.

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Eine andere Verständnishilfe, die Hegel anbietet, geht von den Beziehungen aus, die zum gewöhnlichen Sprachgebrauch bestehen. Die Kategorien der Logik, die mit dem Anspruch auftreten, Prädikate oder Definitionen des Absoluten zu sein, sind zugleich Denkbestimmungen, „von denen wir allenthalben Gebrauch machen, die uns in jedem Satze, den wir sprechen, zum Munde herausgehen“20. Es handelt sich mithin bei den von der Logik behandelten Kategorien nicht um Fernabliegendes, sondern um Gegenstände, mit denen wir schon immer in gewisser Weise vertraut sind. Schon bevor wir mit der logischen Reflexion einsetzen, haben wir pragmatische Kenntnis von ihnen. In diesem Sinne hat es die Logik mit einem Allbekannten zu tun21. Daraus folgt aber, wenn die Logik sämtliche Kategorien zugleich als Bestimmungen des Absoluten betrachtet, dass das Absolute uns von Anfang an nur scheinbar gegenübersteht, in Wahrheit aber immer schon vertraut ist. „Man meint gewöhnlich, das Absolute müsse weit jenseits liegen, aber es ist gerade das ganz Gegenwärtige, das wir als Denkendes, wenn auch ohne ausdrückliches Bewußtseyn darum, immer mit uns führen und gebrauchen.“22 So erweist sich jede Deutung der logischen Kategorien als unzulässig, die diesen Kategorien einen „höheren“, von dem gewöhnlichen abweichenden Sinn unterstellt. Trotzdem begnügt sich Hegel nicht damit, eine bloße Analyse von bestimmten Funktionalausdrücken der gegenständlich vorliegenden kontingenten Sprache zu liefern, die als solche dann unbefragt hingenommen werden müsste. Ihrem Wahrheitsanspruch nach ist die Logik von der Positivität einer faktischen Sprache unabhängig; so ist es auch kein Abstraktionsprozess auf der Basis der natürlichen Sprache, der die formale Genese bezeichnet, durch den die logischen Kategorien als solche entstünden. Sondern es gilt gerade umgekehrt: dass die Logik, wenngleich sie sich auch immer in einer faktischen Sprache manifestieren muss, deswegen doch keine bloße Funktion dieser Sprache ist. Sosehr die Sprache als Verständnishilfe dienen kann und sosehr sich bei der Entwicklung und Erörterung der logischen Kategorien bestimmte Ausdrücke der Sprache gleichsam von selbst anbieten – eine Analyse der Sprache als Sprache allein könnte die Logik niemals ersetzen. Die Sprache rein als solche bleibt steril, wenn kein 20

III 13. „Es ist aber das Eigenthümliche der Philosophie, das zu untersuchen, was man sonst für bekannt hält“ (XIII 33). „Das Geschäft der Philosophie besteht nur darin, dasjenige, was rücksichtlich des Denkens den Menschen von Alters her gegolten, ausdrücklich zum Bewußtseyn zu bringen“ (VI 43). „Die Denkbestimmungen der Logik sind […] das Innerste, aber zugleich sind sie es, die wir immer im Munde führen und die deshalb etwas durchaus Bekanntes zu seyn scheinen. Aber solch Bekanntes ist gewöhnlich das Unbekannteste“ (VI 50). Dem entspricht, dass die allgemeinen Kategorien, insbesondere auch der Begriff des Seins, der Bildung der Zeit entnommen sind (XIII 73). 22 VI 50. 21

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Standpunkt gegeben ist, von dem aus sie befragt und analysiert wird. Sucht und findet man in der Sprache logische Bestimmungen, so ist es die Idee der Logik, die die Voraussetzung bildet. Ob daher ein Ausdruck geeignet ist, das Substrat einer logischen Kategorie abzugeben, lässt sich niemals anhand der Sprache allein entscheiden. Wie sich die Bezeichnungen für die logischen Kategorien inmitten der Sprache gleichsam von selbst anbieten, wenn die logische Struktur erst einmal aufgeklärt ist, dafür gibt ein Zusatz zur Erörterung der Kategorie des Seins in der enzyklopädischen Logik ein gutes Beispiel: „Wir haben, wenn angefangen wird zu denken, nichts als den Gedanken in seiner reinen Bestimmungslosigkeit, denn zur Bestimmung gehört schon Eines und ein Anderes; im Anfang aber haben wir noch kein Anderes. Das Bestimmungslose, wie wir es hier haben, ist das Unmittelbare, nicht die vermittelte Bestimmungslosigkeit, nicht die Aufhebung aller Bestimmtheit, sondern die Unmittelbarkeit der Bestimmungslosigkeit, die Bestimmungslosigkeit vor aller Bestimmtheit, das Bestimmungslose als Allererstes. Dieß aber nennen wir das Seyn.“23 Hier wird also zunächst der Sinn der ersten Kategorie erörtert. Dazu gehört, dass der Anfang der Wissenschaft notwendigerweise durch Unmittelbarkeit und Bestimmungslosigkeit gekennzeichnet ist. Für dieses amorphe, aller systematischen Ordnung vorhergehende Gebilde bietet sich der Name „Sein“ an. Es handelt sich hier also nicht um eine im übrigen willkürliche terminologische Fixierung; es wird vielmehr nach einem Ausdruck der natürlichen Sprache gesucht, dessen Semantik die von der logischen Analyse erarbeiteten Merkmale schon von Hause aus enthält. Von ähnlicher Struktur ist der Gedankengang des Anfangskapitels („Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“), das der Erörterung der ersten Kategorien vorausgeht. In diesem Kapitel geht es darum, den Anfang der Logik allein aus dem Begriff des Anfangs zu gewinnen. Hegel unternimmt es hier zu zeigen, wie sich der Anfang der Logik bei der unbestimmten Unmittelbarkeit des Seins durch eine Reflexion auf den Sinn von „Anfang“ von selbst ergibt. Die philosophiegeschichtlichen Bezüge – eine weitere von Hegel angebotene Verständnishilfe – haben eine ähnliche Funktion. Es ist bekannt, dass Hegel im Gang der Philosophiegeschichte den Gang der Logik gleichsam als ihr Skelett wiederzufinden glaubte. Damit ist aber keine Historisierung der Logik impliziert. Denn der Begründungszusammenhang ist hier – ähnlich wie beim Beispiel der Sprache – eindeutig und unumkehrbar: Die Logik entsteht nicht über einen Abstraktionsprozess, dem das historische Material unterworfen würde; vielmehr gibt umgekehrt die Logik den Maßstab 23

VI 166.

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dafür ab, ob und wieweit es in der Geschichte vernünftig zugegangen ist. In diesem Sinne ist es Parmenides, dessen Position der des reinen Seins am Anfang der Logik entspricht. Doch neben dieser Zuordnung gibt es eine noch wichtigere Beziehung zwischen Seinslogik und Philosophiegeschichte. Die Logik des Seins enthält nämlich der Sache nach eine Kritik an allen Ursprungsphilosophien, d. h. an allen Philosophien, die ihre Aufgabe darin sehen, ein Prinzip alles Wissens sowie aller Dinge zu suchen und inhaltlich zu bestimmen. Hegel versucht zu zeigen, dass zwischen Anspruch und Leistung solcher Philosophien eine Diskrepanz besteht: Solange sie nämlich nur versuchen, mit ihrem Prinzip irgendeine inhaltliche Vorstellung zu verknüpfen, ist nichts eigentlich erklärt, da jene inhaltliche Vorstellung doch äußerlich bleibt. Auf das System bezogen, ist man in diesen Fällen noch nicht über die Stufe des reinen Seins hinausgekommen, nämlich dann nicht, wenn man das Prinzip selbst nur nennen, aber nicht entwickeln kann. Man kommt also in Wahrheit über die Stufe des reinen Seins hinaus, wenn man nur versucht, ein reicheres und höher differenziertes Prinzip an die Stelle des abstrakten und bestimmungslosen Seins zu setzen. Was immer man auch an den Anfang setzt: die logische Funktion eines jeden derartigen Prinzips kann, insofern es sich um den Anfang handelt, immer nur die des bloß nennbaren Seins sein. Lehrreich ist in diesem Zusammenhang besonders die Kritik, die Hegel an den Prinzipien der Frühphilosophie Fichtes und Schellings übt: „Wenn Ich = Ich, oder auch die intellektuelle Anschauung wahrhaft als nur das Erste genommen wird, so ist es in dieser reinen Unmittelbarkeit nichts anderes als Seyn, so wie das reine Seyn umgekehrt als nicht mehr dieses abstrakte, sondern in sich die Vermittlung enthaltende Seyn, reines Denken oder Anschauen ist.“24 Damit ist nichts anderes gesagt als dies: der logische Gehalt dieser Prinzipien, also das, was in ihnen über die Vorstellung hinaus gedacht wird, ist allemal nur der des reinen unmittelbaren Seins. Von der anderen Seite betrachtet: Das Ich, wenn es als Prinzip verwendet werden soll, kann gar kein wirkliches Prinzip sein, denn in ihm ist immer noch die logische Bestimmung des Seins vorausgesetzt25. Was diese Prinzipien sonst noch zu enthalten scheinen, gehört bereits in den Bereich der Vorstellung, aber nicht in den des Logischen. Als Anfang und Prinzip enthält die intellektuelle Anschauung nichts weiter als das reine Sein; was darüber hinaus in ihr zu liegen scheint, betrifft jedenfalls nicht mehr ihre Anfangsfunktion. Nimmt man solche Gedankengänge ernst, so wird man jeden Streit um die inhaltliche Bestimmung von Prinzipien für überflüssig ansehen. Denn 24

VI 165. Vgl. dazu Hegels Descartes-Darstellung in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (bes. XV 339 ff. und 366). 25

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was Anfang ist, bestimmt sich aufgrund der Überlegung Hegels ausschließlich aus der Voraussetzung, dass es sich um den Anfang handelt. „Was somit über das Seyn ausgesprochen oder enthalten seyn soll, in den reichern Formen von Absolutem oder Gott, diß ist im Anfange nur leeres Wort, und nur Seyn; diß Einfache, das sonst keine weitere Bedeutung hat, diß Leere ist also der absolute Anfang der Philosophie.“26 Wer versucht, irgendeine Bestimmung als Anfang oder Prinzip herauszustellen, hat in Wahrheit implizit doch schon den Sinn von Anfang überhaupt vorausgesetzt. Er muss sich die fundamentalen logischen Bestimmungen vorgeben lassen, wenn er seine Theorie vortragen will. Daher können alle Ursprungsphilosophien zwar Beispiele abgeben für die Strukturen, von denen der Anfang der Logik handelt. Doch es bedarf in diesen Fällen einer besonderen Reflexion. Durch sie muss klar werden, dass es im strengen Sinne für das reine Sein ein Beispiel gar nicht geben kann; von allem, was ein Beispiel an sachhaltigen Bestimmungen aufweist, muss man ja gerade absehen, wenn man die Funktion des absoluten Anfangs verstehen will: er kann immer nur genannt werden, doch lässt er sich, insofern er absoluter Anfang ist, niemals bestimmen. Von dieser Art also sind die Verständnishilfen, die Hegel anbietet, um den Gehalt der logischen Kategorien deutlich zu machen. Ihre Funktion erfüllen diese Verständnishilfen jedoch nur unter der Bedingung, dass man ihr prinzipielles Ungenügen einsieht. So wird man – wie gerade bei der Kategorie des reinen Seins – dort keine Erklärung mehr anstreben, wo es nichts zu erklären gibt als eben diese Unerklärbarkeit. Man hat immer wieder geglaubt, Hegels Logik aus dem Gegensatz zur traditionellen Logik als gleichsam höhere Logik verstehen zu können, die bestimmte Grundgesetze der traditionellen Logik nicht mehr übernimmt. Doch in Wahrheit besteht zwischen Hegels Logik und der traditionellen Logik kein Konkurrenzverhältnis. Hegels Unternehmen, den Begriff zu konstruieren, der das selbst ist, was er meint, hat kein Pendant im Bereich der klassischen Logik, zu deren Theorie Hegel wichtige und auch heute noch erwägenswerte Beiträge geleistet hat. So braucht es auch nicht zu überraschen, dass in der Darstellung, die Hegel von seiner Logik gibt, also in dem Buch mit dem Titel „Wissenschaft der Logik“, keine Lehre der klassischen Logik revoziert wird. Daher wird jede Interpretation dieses Buches gut beraten sein, wenn sie von der hermeneutischen Hypothese ausgeht, dass in Hegels Logik die klassische Logik weiter gilt. Zuerst veröffentlicht in: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Herausgeber Helmut Fahrenbach. Verlag Günther Neske, Pfullingen 1973, S. 395–414.

26

L 18 [= XI,40].

Heinrich Heine und die Philosophie I Heinrich Heine und die Philosophie – eine solche Beziehung wird auf den ersten Blick sicherlich merkwürdig anmuten. Sofern das gegenwärtige Bildungsbewusstsein überhaupt noch einen Platz für Heine übrig hat, kennt es ihn höchstens noch als Lyriker und als den Autor der ebenso spöttischen wie ironischen Prosa der „Reisebilder“. Das Prosawerk wurde und wird oft als angeblich oberflächliche Journalistik disqualifiziert und diffamiert – und dies durchaus nicht erst seit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Schon lange vorher begann der Ruhm des Mannes zu verblassen, der im Bewusstsein des Bürgertums der Wilhelminischen Ära als Lyriker eine mit Goethe vergleichbare Stellung eingenommen hatte. Sein „Buch der Lieder“ hatte fast den Rang eines Hausbuches in jener Gesellschaft, die von der Dichtung dem Alltag und der Gegenwart mit ihren Problemen entrückt zu werden erwartete. Die Dichtung war dort weniger Ausdruck oder Korrektiv der Wirklichkeit, sondern viel eher nur eine Kompensation von Mängeln eben dieser Wirklichkeit. Schopenhauers Philosophie kam in diesem Umkreis zu einer verspäteten gesellschaftlichen Wirkung. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die Zeit von Heines breitester Bildungswirkung mit dem Höhepunkt der Wirksamkeit Schopenhauers zusammenfiel, eines Denkers also, der wie kaum ein anderer den Problemen der Zeit fremd und unbeteiligt gegenüberstand und der diese Distanz von der Gegenwart auch noch philosophisch zu legitimieren bestrebt war. Auch Heinrich Heine, der ein Virtuose in der Kunst war, sich von sich selbst und seinem dichterischen Werk auf eine eigentümliche Weise zu distanzieren, schien jenem Kompensationsbedürfnis entgegenzukommen. Doch es handelte sich bei der Entzweiung von Dichtung und Wirklichkeit eben doch nur um einen der vielen Aspekte, die Heine dem Publikum bot, einen Aspekt freilich, der bald zum Klischee wurde, angesichts dessen man die unaufhebbar vieldeutige Existenz dieses romantischen Aufklärers allzu schnell vergaß, zu einem Klischee, auf das allein die anfängliche Bewunderung wie die spätere Ablehnung bezogen war. Doch in diesem so stilisierten Heine-Bild hat die Philosophie keinen Platz. Auf der anderen Seite wird man aber auch in den Handbüchern der Philosophiegeschichte den Namen Heines vergeblich suchen. Wenn nun

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Heine doch unter dem Blickwinkel der Philosophie betrachtet werden soll, so geht es dabei nicht darum, ihm noch gleichsam nachträglich einen Platz in der Geschichte des Denkens anzuweisen. Denn es handelt sich hier durchaus nicht um ein vergessenes Kapitel der Philosophiegeschichte, in die Heine auch im günstigsten Fall nur als Randerscheinung gehört. Er war kein systematischer Denker und die Beschäftigung mit philosophischen Gedankengängen war für ihn auch nicht – wie es etwa bei Schiller der Fall gewesen war – eine Bedingung seiner poetischen Existenz. Aber es geht auch nicht darum, Heines Weltanschauung anhand seiner Dichtungen darzustellen, um so etwa eine geistesgeschichtliche Einordnung zu versuchen. Abgesehen davon, dass Weltanschauung mit Philosophie wenig gemein hat – weil sie nämlich niemals den Anspruch erheben kann, begründete Einsicht zu gewinnen –, böte eine solche Aufgabe deswegen ihre eigenen Schwierigkeiten, weil es Heine fertigbringt, auch einer jeden Weltanschauung gegenüber kritische und ironische Distanz zu bewahren. Diese Distanz zeigt sich auch in dem merkwürdig gebrochenen Verhältnis, das Heine zur Dichtung überhaupt hat; die Dichtung erfüllt für ihn nicht so sehr die Funktionen von Ausdruck oder Darstellung, sondern viel eher die einer Kompensation, wenn auch nicht in dem trivialen Sinne, in dem sie dann oft verstanden worden war. Die Folge dieser Kompensation ist ein Verlust der Unmittelbarkeit, der mit einer Verdinglichung des Kunstwerkes zusammengeht. Heine lässt es immer merken, dass seine Dichtung „bloß noch“ Dichtung ist. Die ästhetische Reflexion steht daher bei dieser Grundhaltung mit der Dichtung selbst in innerem Zusammenhang. Doch auch von dem Beitrag zur Ästhetik, der sich so betrachtet aus Heine gewinnen ließe, soll hier nicht die Rede sein. Es geht mir unter dem Blickwinkel der Philosophie vielmehr um die folgende Tatsache: Heine geht zwar auf der einen Seite alles das ab, was einen großen Denker ausmacht; so vermag er vor allem kaum, einen Gedanken in seine Konsequenzen zu entfalten. Er besitzt aber dennoch ein sehr bewusstes Verhältnis zur philosophischen Tradition, auf deren Verständnis er große Mühe gewendet hat und die er genauer kannte, als man gewöhnlich glaubt. So lässt sich zeigen, wie Heine, obwohl selbst kein Philosoph im engeren Sinn, manche Tendenzen erkennen lässt, die für eine Charakteristik der philosophischen Situation nach Hegels Tod von Bedeutung sind. Heine hat gern darauf hingewiesen, dass ihm noch in seiner Schulzeit, nämlich in seinem zwölften Lebensjahr, alle Systeme der freien Denker vorgetragen worden sind1, nämlich von dem Rektor Schallmeyer, einem liberal gesinnten katholischen Geistlichen, der in Düsseldorf das Lyzeum 1 Heinrich Heines Sämtliche Werke, hg. v. Ernst Elster, Leipzig / W ien 1887–90, VII 461 u. VI 68 f.; Nachweise beziehen sich hinfort auf diese Ausgabe.

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leitete, das Heine besuchte, und der außerdem ein Freund der Familie Heine war. Heine hat diesen Mann auch später noch immer sehr bewundert, weil er eine Philosophie wie die der französischen Aufklärung lebendig machen konnte und dabei auf der anderen Seite doch seine geistlichen Amtspflichten nicht im geringsten verletzte. Wichtiger aber ist Heines Studienzeit. In demjenigen Teil seiner Studienzeit, die Heine in Berlin verbrachte, ist besonders der Einfluss Hegels bestimmend geworden. Heine hörte bei Hegel Kolleg; noch wichtiger für seine Entwicklung war seine eifrige Mitarbeit in dem Berliner „Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums“, der von dem Hegelianer Eduard Gans mitbegründet worden war und unter dem geistigen Einfluss Hegels stand. Es spricht vieles dafür, dass Hegel auf Heine in dieser Zeit weniger durch Schriften und Vorlesungen, sondern mehr auf dem Wege über den gesellschaftlichen und persönlichen Verkehr Einfluss genommen hat. Der Deutsche Idealismus jedenfalls gewinnt und behält von dieser Zeit an eine zentrale Bedeutung für das Bild, das sich Heine von seiner Zeit, speziell von Deutschland und den Deutschen macht. Im Pariser Exil schließlich, wo sich Heine zuerst der utopistischen Sekte der Anhänger von St. Simon anschloss, entstand 1834 als Bestandteil des Sammelwerks „De l’Allemagne“ die für das französische Publikum auf Anregung von Enfantin und Chevalier verfasste Schrift „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“. Es ist dies der Versuch einer kleinen, populär plaudernden Philosophiegeschichte. In Deutschland wurde sie zunächst nur in einer durch die Zensur verstümmelten Form bekannt. In die Zeit des Pariser Exils fällt auch noch ein eingehendes, sich über mehrere Jahre hin erstreckendes Studium der Philosophie Hegels. Heine wollte sie gemeinverständlich für das französische Publikum darstellen2. Das Manuskript dieser Schrift, auf die Heine, wenn man seinem Selbstzeugnis Glauben schenken darf, außerordentliche Mühe gewendet hat, wurde aber von ihm selbst vernichtet, als er – in seiner überraschenden letzten Wendung – zum Glauben des Alten Testamentes zurückgefunden hatte, nachdem er, wie er es einmal ausdrückt, lange genug bei den Hegelianern die Schweine gehütet hatte3. In diesem letzten Stadium seiner geistigen Entwicklung distanziert sich Heine auch ausdrücklich von seiner Philosophiegeschichte4. Betrachten wir nun die Darstellung der Philosophiegeschichte etwas genauer. Es geht Heine hier – wie im ganzen Werk „De l’Allemagne“ – darum, einen Beitrag zur französischen Diskussion über Deutschland zu liefern. Er hat dabei die Absicht, an einer Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland mitzuhelfen. In der Zeit, in der Heine an seinem Deutsch 2

VI 47 f. I 485. 4 IV 155 f. 3

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landwerk arbeitete, galt die deutsche Philosophie in Frankreich – vor allem durch den Einfluss des Buches der Frau von Staël – als spiritualistisch, mystisch und religiös. Heine arbeitet demgegenüber besonders den abstrakt-begrifflichen Charakter und die atheistische Tendenz der deutschen Philosophie hervor, die alles andere – wie er gegen Frau von Staël betont5 – als ein gottesfürchtiger Nebel sei. Heine beschränkt sich freilich nicht schematisch auf den deutschen Anteil an der neuzeitlichen Geschichte des Denkens: Descartes, Locke und Spinoza werden ebenso behandelt wie etwa Leibniz und Wolff. Aber das Interesse Heines konzentriert sich doch auf die wichtigsten Ereignisse in der deutschen Geistesgeschichte: auf die Reformation und auf die durch Kant eingeleitete philosophische Revolution. Heine wollte selbst niemals ein abstrakter Denker sein6. Seine Stellung zu den eigenen theoretischen Schriften und besonders zu der kleinen Philosophiegeschichte bleibt zweideutig. Zwar bemerkt er einmal, die poetischen und die theoretischen Schriften seien nur einem Gedanken entsprungen7; an einer anderen Stelle dagegen erklärt Heine voller Sarkasmus, nachdem ihm der Stoff für die Poesie ausgegangen sei, habe er nach möglichen Themen für Prosawerke Umschau gehalten und da hätten sich eben als mögliche Gegenstände philosophische Themen angeboten8. Manchmal mag es so scheinen, als schätze Heine seine theoretischen Schriften noch höher ein als seine poetischen Werke – er sieht in ihnen einmal geradezu einen Ersatz für die Schwächen der Gedichte9. Trotzdem hat gerade der späte Heine einen denkbar großen Abstand von der Philosophie gewonnen; er bekennt, noch niemals von einem philosophischen System befriedigt worden zu sein und sieht in der Philosophie nur noch einen Tanzboden des Geistes10. Heine behandelt die deutsche Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der religiösen Tradition. Das ist nicht nur im Sinn einer äußerlichen Parallele zu verstehen. Es ist Heines These, dass die neuzeitliche Philosophie nur eine Fortsetzung und – das gilt in besonderem Maße für Kant und den Deutschen Idealismus – die letzte Konsequenz aus einem letztlich religiösen Ansatz ist. Dies darf man aber nicht so verstehen, als würde in der deutschen Philosophie ein spekulativ-dogmatischer Hintersinn gesucht. Im Gegenteil: Heine versucht gerade nachzuweisen, dass trotz der vielen positiven Beziehungen der neuzeitlichen Philosophie zur Religion im Grunde hier eine sich ständig steigernde atheistische Tendenz vorliegt11. 5 6 7 8 9 10 11

VI 22 f., 531 f. Vgl. VI 47 f. I 497. IV 305 f. I 5. VI 54. VI 534 f., 41

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Der oft zur Schau getragene Pantheismus gibt hierfür nur die Fassade her. Heine berührt sich dabei in der Sache bisweilen mit Jacobis Deutung der rationalen Philosophie. Jene Tendenz beginnt nun für Heine merkwürdigerweise bereits mit Luther und der Reformation, deren historische Bedeutung er darin sieht, dass erst durch sie die Geburt der Denkfreiheit möglich wurde; denn Luther war es, der der menschlichen Vernunft das Recht einräumte, frei von aller Autorität die Bibel zu erklären12. Die deutsche Philosophie ist nur eine späte Frucht der so gewonnenen Denkfreiheit13. Die Entwicklung erreicht ihren kritischen Punkt bei Kant, in dessen Philosophie Gott nur mehr ein Grenzbegriff, ein Noumenon ist. Alle denkbaren „Beweise“ für die Existenz eines theistisch verstandenen Gottes werden hier ein für alle Mal widerlegt. Die Entwicklung endet schließlich mit Hegel; er macht in seiner Religionsphilosophie ernst damit, dass das Christentum im Unterschied zu allen anderen Religionen einen Gott kennt, der gestorben ist14. Mit seiner Idee des absoluten Wissens beansprucht Hegel auch, einen Standpunkt erreicht zu haben, der bis dahin allein Gott selbst vorbehalten war. Oder, wie es in der Sprache Hegels ausgedrückt werden müsste: Erst im Menschen gelangt Gott zum Bewusstsein seiner selbst. Heine ist nicht der einzige, der diese Lehre Hegels im Sinne einer Selbstvergottung des Menschen versteht; in seinen späten „Geständnissen“ finden sich einige amüsante Ausführungen zu diesem Thema15. Sehr witzig, aber in der Sache gar nicht unbegründet, bringt Heine die Philosophie Hegels in Verbindung mit der biblischen Erzählung von der Schlange im Paradies: „Die Schlange, diese kleine Privatdozentin“ – so heißt es bei ihm16 – „trug schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie vor. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigt sehr scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gotte werde durch die Erkenntnis.“ So deutet Heine den Mythos vom Baum der Erkenntnis am Leitfaden von Hegels Idee des absoluten Wissens. Daher steht Hegel am Endpunkt einer Entwicklung, die mit der Schlange im Paradies begonnen hat: Erst Hegel hat das Programm der Schlange voll erfüllt. Dies alles darf man nicht so verstehen, als würde durch die Emanzipation der sich auf sich selbst besinnenden und mündig werdenden Vernunft nur die Möglichkeit eröffnet, die Frage nach der Existenz Gottes zu verneinen. Heine sieht hier tiefer: Das wahre Wesen des neuzeitlichen Atheismus zeigt sich nicht darin, dass die Existenz Gottes geleugnet wird, sondern 12

IV 194. Vgl. V 240; VI 57 f. 14 VI 535. 15 IV 48 ff. 16 IV 158; vgl. VI 53. 13

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darin, dass sich die Vernunft auf sich selbst stellt und sich selbst das Recht und die Fähigkeit zuspricht, aus eigener Machtvollkommenheit über solche Fragen zu entscheiden. An dieser atheistischen Deutung der neuzeitlichen Philosophiegeschichte hat Heine immer festgehalten; was sich bei ihm ändert, ist nur die Bewertung dieses Atheismus. Dies lässt sich vor allem auch durch die Deutung belegen, die Heine der Philosophie Kants gibt. In Kants Kritik mit ihrem Beweis der Unmöglichkeit aller natürlichen Gotterkenntnis stürzt „der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes […] Es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet […] Kniet nieder – man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte“17. Damit kommt in Kants Kritik der reinen Vernunft die Aufklärung an ihr eigentliches Ziel. Mit der theologischen und religiösen Tradition ist nun endgültig gebrochen. Die Kritik der praktischen Vernunft, mit der Kant auf dem Umweg über das Sittengesetz doch wieder zu einem Gottesbegriff gelangt, versteht Heine nur als Inkonsequenz, als Zurückweichen vor dem ursprünglichen Ansatz, ja als Farce. Es sei eine Inkonsequenz, zu der sich Kant möglicherweise nur „der Polizei wegen“ und aus Mitleid mit seinem alten Diener, der ohne einen persönlichen Gott nicht leben könne, habe verleiten lassen18. Es mag eine seltsame Ironie sein, dass sich Heine am Ende seines Lebens selbst in die Rolle dieses Dieners begibt19 – wie immer man auch seine letzte Wandlung sonst beurteilen mag. Bemerkenswert ist jedoch, dass Heine nicht nur die Entwicklung Kants, sondern auch die Entwicklung Fichtes und Schellings als ein Zurückweichen von den Konsequenzen des jeweiligen eigenen revolutionären Ansatzes deutet20. Natürlich lässt sich Heine die Gelegenheit nicht entgehen, die vermeintliche Mystik des späten Schelling zu verspotten, – nicht nur in der Philosophiegeschichte, sondern auch in manchen Gedichten. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, Heines philosophiegeschichtliche Darstellung im einzelnen zu untersuchen. Man würde bei einer solchen Durchmusterung zu dem Urteil kommen, dass Heine manche Denker, besonders solche aus dem Bereich der frühneuzeitlichen Philosophie, gelegentlich etwas voreilig, bisweilen jedoch geradezu in tendenziöser Weise einseitig etikettiert. Dies ist etwa der Fall, wenn er das starre Alternativschema von Idealismus und Materialismus oder – vor allem unter dem Einfluss der Ideen von St. Simon – das von Spiritualismus und Sensualismus anwendet. Doch das mag man sich immer noch mit der populären Tendenz dieser Schrift erklären. Immerhin gibt es einige Gestalten, denen 17

IV 246. Vgl. IV 259. Zu Heines Kant-Deutung vgl. die lehrreichen Ausführungen von Odo Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg / München 1958, S. 41 ff. 19 IV 155 f. 20 IV 281 f.; 287 f. 18

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Heine eine erstaunlich ausgewogene Darstellung widmet, so vor allem den großen Polemikern Luther und Lessing. Man wird indes Heines Schrift schwerlich gerecht, wenn man nur die Behandlung der einzelnen Gestalten in Betracht zieht. Es gilt daher, die Maxime von Heines Interpretation herauszustellen, die mir der Schlüssel für ein angemessenes Verständnis seines Ansatzes zu sein scheint. Sie ist am stärksten wirksam im Kernstück von Heines Abhandlung, nämlich in der Darstellung Kants und der Denker des Deutschen Idealismus. Ich denke an den Grundsatz der durchgängigen Wechselbestimmung von Philosophie und Politik. Nach Heine ist nämlich die Philosophie niemals vollständig aus sich selbst, sondern zugleich auch aus politischen Bezügen zu verstehen: Die Philosophiegeschichte ist – wie auch die Religionsgeschichte – immer auch Element der politischen Geschichte. Die jeweilige Selbstdeutung einer Philosophie ist daher niemals schon ein hinreichendes Kriterium für ihre Beurteilung. – Eines der schönsten Beispiele für jenen Zusammenhang von Philosophie und Politik bietet die parallele Behandlung der Französischen Revolution – eines der wichtigsten Bezugspunkte im Denken Heines überhaupt21 – auf der einen Seite und der philosophischen Entwicklung von Kant bis Hegel auf der anderen Seite. Die deutsche Philosophie dieser Zeit nennt Heine einmal sogar geradezu den Traum der Französischen Revolution. Wir finden diese Deutung bei Heine zum ersten Male in einer 1831 erschienenen, noch ganz unter dem Eindruck der Julirevolution stehenden kleinen Schrift (Einleitung zu „Kahldorf über den Adel“). Ich zitiere die ganze hier in Betracht kommende Stelle22, inhaltliche Parallelen finden sich in Heines Philosophiegeschichte – und auch in anderen Schriften Heines – sehr häufig: Seltsam ist es, daß das praktische Treiben unserer Nachbarn jenseits des Rheins dennoch eine eigene Wahlverwandtschaft hatte mit unseren philosophischen Träumen im geruhsamen Deutschland. Man vergleiche nur die Geschichte der Französischen Revolution mit der Geschichte der deutschen Philosophie, und man sollte glauben, die Franzosen, denen so viel wirkliche Geschäfte oblagen, wobei sie durchaus wach bleiben mußten, hätten uns Deutsche ersucht, unterdessen für sie zu schlafen und zu träumen, und unsere deutsche Philosophie sei nichts anderes als der Traum der Französischen Revolution. So hatten wir den Bruch mit dem Bestehenden und der Überlieferung im Reiche des Gedankens, eben so wie die Franzosen im Gebiete der Gesellschaft, um die Kritik der reinen Vernunft sammelten sich unsere philosophischen Jakobiner, die nichts gelten ließen, als was jener Kritik standhielt. Kant war unser Robespierre. – Nachher kam Fichte mit seinem Ich, der Napoleon der Philosophie, die höchste Liebe und der höchste Egoismus, 21 22

VII 509. VII 281 f.

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die Alleinherrschaft des Gedankens, der souveräne Wille, der ein schnelles Universalreich improvisierte, das eben so schnell wieder verschwand, der despotische, schauerlich einsame Idealismus. – Unter seinem konsequenten Schritt erseufzten die geheimen Blumen, die von der kantischen Guillotine noch verschont geblieben oder seitdem unbemerkt hervorgeblüht waren, die unterdrückten Erdgeister regten sich, der Boden zitterte, die Konterrevolution brach aus, und unter Schelling erhielt die Vergangenheit mit ihren traditionellen Interessen wieder Anerkenntnis, sogar Entschädigung, und in der neuen Restauration, in der Naturphilosophie, wirtschaften wieder die grauen Emigranten, die gegen die Herrschaft der Vernunft und der Idee beständig intrigiert, der Mystizismus, der Pietismus, der Jesuitismus, die Legitimität, die Romantik, die Deutschtümelei, die Gemütlichkeit – bis Hegel, der Orleans der Philosophie, ein neues Regiment begründete, oder vielmehr ordnete, ein eklektisches Regiment, worin er freilich selber wenig bedeutet, dem er aber an die Spitze gestellt ist und worin er den alten Kantischen Jakobinern, den Fichteschen Bonapartisten, den Schellingschen Pairs und seinen eigenen Kreaturen eine feste verfassungsmäßige Stellung anweist.

Man kann darüber streiten, ob Heine der Sache nach in der Parallelisierung vielleicht nicht doch ein wenig zu weit gegangen ist, wenn er etwa Kant mit Robespierre zusammenbringt, Fichte mit Napoleon, Schelling mit der Restauration, Hegel mit Louis Philippe. Doch von ihm selbst war dies gerade auch nicht allzu ernst gemeint23. Immerhin: die Tatsache lässt sich nicht leugnen, dass die Französische Revolution aus dem Selbstverständnis Kants und der Denker des Deutschen Idealismus nicht wegzudenken ist24. Auch sollte man einmal daran denken, wie gerne Kant – möglicherweise sogar unreflektiert – mit der Revolutionsmetaphorik („Revolution der Denkungsart“ u. dgl.) arbeitet. Für Heine ist es ein Zug des deutschen Nationalcharakters, dass der Deutsche an der Stelle, an der der Franzose sich zur Tat entschieden hat, diese Tat nur auf der gedanklichen Ebene – und das heißt in Heines Metaphorik: als Traum – wiederholt. Das liegt vor allem daran, dass der seinem Wesen nach zur Träumerei neigende Deutsche, wie Heine einmal 1828 aus England schreibt, nichts hat, wofür er eigentlich kämpfen könnte, „und da er zu mutmaßen begann, daß es doch Dinge geben könne, deren Besitz wünschenswert wäre, so haben wohlweise seine Philosophen ihn gelehrt, an der Existenz solcher Dinge zu zweifeln“25. Der deutsche Nationalcharakter hat mithin eine besondere Affinität zum theoretischen Verhalten. Daher ist auch die Philosophie nach Heines Urteil in weit höherem Maße als die Literatur ein Schlüssel zum Verständnis dieses 23

IV 264. Vgl. dazu jetzt auch Hermann Lübbe, Die politische Theorie der Hegelschen Rechten, in: Archiv für Philosophie 10, 1960, S. 175–227, bes. S. 189 ff. 25 III 435. 24

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deutschen Nationalcharakters26. – Eine ähnliche Charakterisierung wie die Heines findet sich im übrigen nicht weniger drastisch auch bei Hegel, der im Kant-Abschnitt seiner Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie ebenfalls eine Parallelität zwischen Französischer Revolution und deutscher Philosophie andeutet und dabei die Deutschen folgendermaßen charakterisiert: „Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei läßt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen, und operiert innerhalb seiner.“27 Heine geht es jedoch nicht nur um eine bloße Parallelisierung von Philosophie und Politik. Zwar wird von Kant und dem Deutschen Idealismus selbst der ursprünglich revolutionäre Antrieb ihres Denkens in Theorie aufgehoben, aber dies geschieht nur vorläufig. Denn jede Philosophie hat für Heine unmittelbare gesellschaftliche Bedeutung sowie gesellschaftliche Folgen. So ist ihm die Philosophie von Kant bis Hegel nicht nur ein Traum der Französischen Revolution, sondern sie bereitet auch eine deutsche Revolution unmittelbar vor, gleichgültig, ob diese Konsequenz beabsichtigt ist oder nicht. Denn da in dieser Philosophie der Atheismus auf die Spitze getrieben wird, muss sie zwangsläufig revolutionäre Kräfte entwickeln, die eines Tages hervorbrechen werden: Hier sieht sich nämlich der Mensch erstmals ganz auf sich selbst gestellt und nimmt folgerichtig dann sein Schicksal auch selbst in die Hand. Die Deutschen sind, so heißt es an einer Stelle28, ein methodisches Volk: Man musste mit der Reformation beginnen, dann zur Philosophie übergehen und erst nach deren Vollendung war die politische Revolution fällig. Diese Ordnung ist aber, so meint Heine, ganz vernünftig. Denn: „Die Köpfe, die die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat, kann die Revolution nachher zu beliebigen Zwecken abschlagen. Die Philosophie hätte aber nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution, wenn diese ihr vorherging, abgeschlagen worden wären.“ In dem berühmten Schlussabschnitt seiner Philosophiegeschichte spricht nun Heine – seltsamerweise völlig ernst, ohne Ironie, ja sogar in einer bei ihm überraschenden unreflektierten Begeisterung – von einer künftigen Revolution in Deutschland, die durch das neue Wirklichkeitsverständnis der deutschen Philosophie vorbereitet ist und alles in den Schatten stellen soll, was es bis dahin in der Welt an Umsturz gegeben hat. Heine zieht auch hier noch im einzelnen Parallelen zur Philosophie: Er spricht in diesem Zusammenhang von neuen Kantianern, die dann auftreten werden und die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät mehr etwas wissen wollen und die letzten Verbindungen zur Vergangenheit durchschneiden; er spricht 26

IV 163. G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke. Jubil.-Ausg. hg. von H. Glockner, Bd. 19, S. 553. 28 IV 293. 27

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von neuen Fichteanern, die in ihrem Willensfanatismus durch nichts mehr zu bändigen sind; er spricht schließlich von neuen Naturphilosophen, die in das Zerstörungswerk jener deutschen Revolution eingreifen und die die Gewalten der Natur in ihren Dienst stellen. Gegenüber dieser künftigen deutschen Revolution, vor der Heine die Franzosen warnen will, erscheint ihm die Französische Revolution nur als eine harmlose Idylle. – Dieser Abschnitt hat seine eigene Geschichte gehabt. Er wurde, als die Schrift in Deutschland erscheinen sollte, vom Zensor gestrichen; in Frankreich wurde er oft nachgedruckt, öfter noch zitiert, 1851 wurde er sogar in der französischen Deputiertenkammer erörtert; 1870 glaubte man in Frankreich, Heines Prophezeiung sei endlich eingetroffen und noch im Zweiten Weltkrieg griff man allen Ernstes auf Heines Prophezeihung zurück, um sie mit Hitler in Zusammenhang zu bringen29. Nicht übersehen sollte man bei alledem jedoch, dass Heine hier eine Konsequenz aus der idealistischen Philosophie zieht, wie sie später ganz ähnlich – nur viel radikaler, aber auch wirkungsvoller – von Karl Marx gezogen wurde. Es lässt sich heute wohl kaum mehr feststellen, ob hier ein unmittelbarer wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang vorliegt. Immerhin hat Friedrich Engels in seiner späten Feuerbach-Schrift von 1885 Heine für die Vorgeschichte des Marxismus in Anspruch genommen und anerkannt, dass Heine der erste gewesen sei, der gesehen habe, dass die künftige Revolution aus der Philosophie Hegels und nicht aus der Konsequenz des Liberalismus entspringen werde. Bemerkenswert bleibt auch, dass Heine in den Entwürfen von „Briefen über Deutschland“, die er 1843 niederschrieb, mit einer an spätere Formulierungen von Marx erinnernden Wendung das Proletariat als den Träger und die Philosophen als die Führer jener großen Revolution bezeichnete30 und dass er später sogar im Kommunismus das eigentliche Problem der Zeit sah31. Heine hielt es schließlich sogar für möglich, dass jene revolutionären Konsequenzen schon von Hegel selbst intendiert worden sind. Hatte Heine auch zunächst wie fast alle seiner Zeitgenossen geglaubt, Hegels Staatsphilosophie bezwecke nur eine Rechtfertigung des Bestehenden32, so räumt er später doch ein, dass Hegel vielleicht nur aus taktischen Gründen den Schutz von Staatsgewalt und Kirche gesucht hat, um seiner Philosophie ein ruhiges Wachstum zu ermöglichen33. Heine glaubt damit den esoterischen Sinn dieser Philosophie entdeckt, ihr Schulgeheimnis ausgeplaudert 29

Vgl. Ludwig Marcuse: Heinrich Heine. Ein Leben zwischen Gestern und Morgen, Hamburg 21951, S. 9. 30 VI 535. 31 VI 315, 408 ff. 32 V 18; IV 287. 33 VI 411, 535, 46.

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zu haben34. Historisch ist er hier nicht ganz im Recht. Dennoch sollte man daran denken, dass man oftmals Wesentliches über einen Denker dadurch erfährt, dass man Konsequenzen aus seinen Ansätzen zieht, die dieser selbst noch nicht gezogen hat. Wer sich zur Stützung seines eigenen Anliegens auf einen anderen Denker beruft, ist selten völlig im Unrecht. Zumindest die wirkungsgeschichtliche Rolle Hegels hat Heine als erster richtig eingeschätzt: Auch nach 1848 glaubt er, im Gegensatz zur herrschenden Meinung, niemals an einen Zusammenbruch des Deutschen Idealismus, sondern versteht auch diese Zeit immer noch aus der Konsequenz Hegels, dessen Erbe er bei den mehr oder minder geheimen Führern der deutschen Arbeiterbewegung bewahrt sieht. Das alles ändert aber nichts daran, dass Heine mit seiner Prophezeihung einer künftigen deutschen Revolution aus dem Geiste der Philosophie im Allgemeinen bleibt. So sehr sich Heine auch in Grundsatzfragen politisch engagiert hat – eine politische Konzeption besaß er nicht. Daher wird man sich auch hüten müssen, die Berührungspunkte mit dem marxistischen Denken zu überfordern, wie es heute leicht geschieht, und zwar sowohl im Positiven als auch im Negativen. Heine hat es vermieden, genau zu sagen, was mit jener künftigen deutschen Revolution ursprünglich gemeint sein sollte. Der Schlussabschnitt seiner Philosophiegeschichte bleibt daher einer der rätselhaftesten Texte, die von Heine überliefert sind.

II Man wird nicht fehlgehen, wenn man in der eben skizzierten Verflechtung von Philosophie und Politik den zentralen Gesichtspunkt von Heines Darstellung der deutschen Philosophiegeschichte sieht. Man muss aber auch sehen, dass es Heine hier durchaus nicht um die politischen Theorien geht, um die sich die von ihm behandelten Philosophen etwa selbst bemüht haben. Ohnehin war ja gerade die politische Theorie innerhalb der deutschen Philosophie nur selten in einer der Sache angemessenen Weise gepflegt worden. Methodisch verstand sich die politische Theorie innerhalb der deutschen Philosophie zumeist von der Individualethik her; zwar in der Weise, dass sie sich ihr gegenüber abgrenzte, aber doch gerade deshalb umso enger an sie und an ihre Begrifflichkeit gebunden blieb. Die vor allem auch in der Popularphilosophie immer wieder aufgeworfene Frage, ob das Handeln des Staatsmannes nach anderen Grundsätzen zu beurteilen sei als alles private Handeln des Individuums, kann sinnvoll nur unter den sehr anfechtbaren Voraussetzungen einer Ethik gestellt werden, die nicht sieht, dass grund 34

IV 164; VI 533 f., 40.

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sätzlich alles menschliche Handeln immer auch politische Implikationen und politische Aspekte hat, unter denen es betrachtet werden muss, wenn man ihm gerecht werden will. Denn das private Individuum der traditionellen Gesinnungsethik ist nur eine Fiktion. Die Universalität des politischen Aspektes zeigt sich bei Heine am schönsten in seiner Darstellung der Philosophie von Kant bis Hegel. Für Heine haben diese Denker eine unmittelbar politische Bedeutung nicht etwa insofern, als sie vom Politischen reden, sondern nur insofern, als sie durch ein Bewusstmachen der Tradition sowie zugleich durch eine Auseinandersetzung mit ihr die Voraussetzungen für eine künftige politische Aktion schaffen. Es ist natürlich für die Beurteilung dieser Dinge nicht sehr von Belang, ob der einzelne Denker diese politischen Konsequenzen seines Denkens auch will; es kommt noch nicht einmal darauf an, ob er sie überhaupt sieht. Denn gerade auch eine bewusst apolitische Grundhaltung, wie sie nach Heines Deutung für die deutsche Philosophie charakteristisch ist, kann als solche eine eminent politische Bedeutung haben. Es handelt sich hier also nicht um bestimmte politische Theorien, sondern um die Tatsache, dass die bloße Existenz einer Philosophie selbst schon ein politisch relevantes Faktum ist. Heine schreibt seine kleine Geschichte der deutschen Philosophie zu einer Zeit, in der ein großer Teil der herkömmlichen philosophischen Grundbegriffe und Grundunterscheidungen relativiert wird. In unserem Zusammenhang kommt es hier vor allem auf die Unterscheidung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Verhalten des Menschen an. Diese Unterscheidung geht auf Platon und Aristoteles zurück und ist von da ab eigentlich niemals ernstlich in Frage gestellt worden. In vergröberter Form, nämlich als Unterscheidung von Theorie und Praxis, hat sie sogar den Weg in die selbstverständlichen und unreflektierten Voraussetzungen des naiven und alltäglichen Bewusstseins gefunden und ist so längst ein Gemeinplatz geworden. Die fraglose Geltung dieser Unterscheidung wurde im Anschluss an Kant erstmals vom Deutschen Idealismus ernstlich in Frage gestellt. Denn erst ein auf die Spitze getriebener und konsequent durchgeführter Idealismus lässt es zu, die wirkliche Welt primär als Objekt der gestaltenden und konstituierenden Tätigkeit einer Subjektivität zu verstehen. Aber noch nicht einmal Hegel führt diesen Ansatz vollkommen konsequent durch: So deutlich er auch sieht, dass die starre Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Verhalten nicht geeignet ist, der Wirklichkeit von Mensch und Welt gerecht zu werden – er versteht doch sein eigenes Philosophieren wiederum nur als Theorie dieser Dinge, und zwar als Theorie im alten, überkommenen Sinn, die in sich selbst ruht, die aber auch zu spät kommt, als dass sie in der Wirklichkeit noch etwas ausrichten könnte. Mag auch sein, dass Vernunft und Wirklichkeit ineinander verschränkt sind und

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sich beide gegenseitig bedingen: Die Philosophie, die diese Verschränkung beschreibt, versteht sich selbst ihr gegenüber noch als autonom. Nach ­Hegels Tod wird aber schließlich auch diese Art von Autonomie in Frage gestellt. Die Vernunft macht jetzt plötzlich die Erfahrung, dass sie sich nicht mehr vollkommen aus sich selbst verstehen kann. Heine ist einer der ersten, der damit ernst macht35. Auch in den Diskussionen der sogenannten Linkshegelianer, bei denen die Philosophie in einem in der bisherigen Geschichte des Denkens nicht gekannten Ausmaß gegen sich selbst kritisch wird, versucht man Sinn und Aufgabe der Philosophie neu zu bestimmen. Man tut dies unter der Voraussetzung, dass die Philosophie der Wirklichkeit nicht gegenübersteht, dass sie nicht eine objektive Abbildung oder eine theoretische Deutung der Wirklichkeit liefern kann, dass sie vielmehr zugleich selbst ein Bestandteil und eine Funktion dieser Wirklichkeit ist und daher niemals über ihren eigenen Schatten springen kann. Seitdem ist der Ideologieverdacht eines der wirkungsvollsten Mittel innerhalb der philosophischen Diskussion – und längst nicht nur in ihr. Es ist ein Verdacht, der auch den und sogar gerade den treffen kann, der sich ihm gegenüber auf die traditionelle Position der reinen Theorie zurückziehen will. Denn gerade wer sich dezidiert apolitisch verhält, muss nun immer damit rechnen, dass man ihm deshalb den Versuch einer Rechtfertigung der jeweils bestehenden Verhältnisse unterstellt und ihn in diesem Sinne beurteilt und auch verurteilt, auch dann, wenn eine solche Rechtfertigung gar nicht gewollt ist. Denn die Selbstdeutung eines Denkers ist durchaus nicht notwendig das wichtigste Kriterium für seine Beurteilung. Mit Recht sieht Heine in dem ständigen Klagen über angebliches Nichtverstandenwerden mehr eine komische Seite der deutschen Philosophen36. Heine arbeitet selbst freilich noch nicht planmäßig, wie viele spätere, mit den Mitteln von Ideologiekritik und Ideologieverdacht. Es kommt ihm nur auf den Nachweis an, dass bereits die Formulierung eines abstrakten Gedankens ein politisch und gesellschaftlich relevantes Faktum sein kann, durch das die Welt gestaltet wird, mag das vom Urheber dieses Gedankens auch in keiner Weise beabsichtigt sein. „Die Welt ist die Signatur des Wortes“37 lautet einer der hier maßgeblichen Kernsätze Heines. Denn ein Gedanke ist nichts, was der Wirklichkeit schlicht gegenüberstehen würde, 35

Das ist nicht im Sinne einer unkritischen Übernahme irrationalistischer Positionen zu sehen. Der aufklärerische Geist Heines zeigt sich im Gegenteil kaum jemals so deutlich wie dort, wo er über den vermeintlichen Irrationalismus des späten Schelling spottet, vgl. z. B. II 170 f., 351; I 314; IV 288; V 292 ff. In einem Zeitgedicht Heines muss König Ludwig von Bayern sogar imaginieren, der Kaiser von China zu sein, um sich vorstellen zu können, dass sein „Hofweltweiser Confusius bekömmt die klarsten Gedanken“ (I 313). 36 IV 262. 37 IV 248.

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was sie nur abbilden würde; durch einen Gedanken kann vielmehr auch eben diese Wirklichkeit selbst verändert werden, und zwar schon allein dadurch, dass er ausgesprochen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die jeweilige Veränderung von der Philosophie auch gefordert wird, ja noch nicht einmal, dass sie selbst ihre möglichen Konsequenzen im Leben und in der Geschichte überhaupt sieht. Die Philosophie kann vielmehr solche Veränderungen allein schon dadurch bedingen, dass sie da ist. Sie ist immer mehr, als sie von sich selbst weiß. Wenn sie auch die Welt nur abbilden will, so gehört sie doch andererseits selbst immer in diese Welt. Diese Verflechtung hat Heine im Sinn – und nicht eine Ableitung der philosophischen Ideen aus politischen und ökonomischen Gegebenheiten –, wenn er bei der Behandlung der einzelnen Systeme vornehmlich immer nach der „sozialen Bedeutung“ einer Philosophie fragt. Das gilt entsprechend auch für seine Darstellung der Philosophiegeschichte selbst, wenn er im Hinblick auf dieses Buch, das die Philosophie einem breiteren Kreis vermitteln will, von einer demokratischen Tendenz38 spricht. Dass die gesellschaftliche und politische Bedeutung einer Philosophie für Heine ein entscheidendes Kriterium bei ihrer Beurteilung ist, lässt sich besonders schön an einem geschichtsphilosophischen Fragment zeigen, das vermutlich aus dem Jahr 1832 stammt39. Heine stellt hier die beiden wichtigsten Grundtypen der Geschichtsphilosophie einander gegenüber: die Auffassung der Geschichte als eines Kreislaufs und die Auffassung der Geschichte als eines linearen Fortschritts. Für den Vertreter der Kreislaufdeutung ist es nun charakteristisch, dass er am politischen Tagesgeschehen kein unmittelbares Interesse nimmt. Doch Heine sieht, wie gerade eine solche politische Abstinenz eine ganz bestimmte politische Funktion haben kann: nämlich im Sinne einer Erhaltung oder Legitimation des Bestehenden. Eine derartige Geschichtsphilosophie kann daher leicht noch von offizieller Seite gefördert werden. Wenn andererseits der Fortschrittsgedanke zwar auch nicht die menschlichen Kräfte lähmt, so verführt er doch dazu, das Lebensrecht der Gegenwart zugunsten der Zukunft aufs Spiel zu setzen und damit zu entwerten. Auch bei dieser Geschichtsphilosophie liegt ihre gesellschaftliche Bedeutung auf der Hand: sie verleitet dazu, das Leben in der Gegenwart als bloßes Mittel zu einem zukünftigen Zweck anzusehen und danach zu handeln. Bei beiden Auffassungen geht aber die eigentliche Hingabe an die Gegenwart, in der allein das geschichtlich relevante Handeln liegen kann, verloren. In dieser Hingabe an die Gegenwart und im Geltendmachen ihres Lebensrechtes besteht für Heine alle wirkliche Revolution. So wird es im übrigen auch verständlich, dass 38 39

IV 154. VII 294 ff.

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Heine selbst keine soziale Utopie entworfen hat. Denn gerade eine Utopie zieht im besonderen Maße die Konsequenz nach sich, die Gegenwart zu entwerten. Das wird vor allem dann bedeutsam, wenn man bedenkt, dass die Wirklichkeit doch immer noch erträglicher gewesen ist als der Zustand, der sich ergeben hätte, wenn eine der großen sozialen Utopien vollständig verwirklicht worden wäre. Nach Heine haben andere, vor allem Karl Marx, noch radikalere Konsequenzen als er aus der Philosophie des Deutschen Idealismus gezogen. Historisch bedeutsam bleibt gleichwohl, dass Heine der erste war, der mit seiner Konsequenz einer schließlich zwangsläufig in Aktion übergehenden Philosophie in diese Richtung gewiesen und die wirkungsgeschichtliche Rolle Hegels richtig eingeschätzt hat. Demgegenüber ist es von geringerer Bedeutung, ob Heine auf den jungen Marx, mit dem er in Paris freundschaftlich verkehrte, in der Sache irgendeinen nennenswerten Einfluss ausgeübt hat. Die überlieferten Zeugnisse reichen nicht aus, um diese Frage mit Sicherheit zu bejahen. Wie dem auch sei: die Parallelität in der Sache bleibt auf jeden Fall bemerkenswert, auch wenn man Marx im Vergleich zu Heine das weitaus größere philosophische Reflexionsvermögen zusprechen muss. Immerhin: in der 1852 geschriebenen Vorrede zur zweiten Auflage der Philosophiegeschichte, die Heine nach seiner letzten religiösen Wendung verfasst hat, und in der er sich vom Inhalt und der Tendenz dieser Schrift distanziert, findet sich eine besonders scharfe Abgrenzung Heines gegenüber seinem „Freund Marx“40. Gerade die Schärfe dieser späteren Abgrenzung legt die Vermutung nahe, dass sich Heine und Marx in der Sache vorher zumindest sehr nahestanden. Das alles qualifiziert Heine nun freilich noch lange nicht zum großen Philosophen. Aber er hat selbst einen derartigen Anspruch auch niemals erhoben. Er gehört in den Umkreis des Vormärz, in eine Zeit also, die philosophiegeschichtlich betrachtet mit Hegels Tod beginnt und die dadurch charakterisiert ist, dass sie Hegels eigenen Anspruch, die Geschichte des Denkens zum Höhepunkt und zum Abschluss geführt zu haben, ganz ernst nimmt. Aus diesem Grunde ist sie von einem epochalen Bewusstsein erfüllt und sucht nun nach ganz neuen Wegen des Denkens, indem sie bisweilen sogar die Philosophie überhaupt liquidieren zu wollen scheint. Man sucht, wie Heine es einmal formuliert, nach einem Heilmittel gegen das einseitige Streben nach Vergeistigung41. Eine Fülle von Entwürfen und Ansätzen wird in dieser Zeit zur Diskussion gestellt; sie werden jedoch kaum einmal konsequent weiter verfolgt und zu Ende gedacht. Es ist eine Zeit des Erprobens und der Versuche; Kritik und Polemik, bei der sich die Fronten 40 41

IV 157; VI 53. VII 47.

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rasch ändern, ja gelegentlich sogar umkehren, sind an der Tagesordnung. Jeder bekämpft jeden, und es ist unter all diesen Umständen kein Zufall, dass sich im Vormärz die Philosophie – und nicht nur sie! – vor allem journalistischer Mittel bedient. Man kann, wenn man den Maßstab der traditionellen Philosophie anlegt, mit guten Gründen die innere Unverbindlichkeit des damaligen Philosophierens tadeln, eine Unverbindlichkeit, die schuld daran ist, dass es in dieser Epoche keinen „großen“ Denker im herkömmlichen Sinn gibt. Das nimmt aber nicht Wunder, wenn man daran denkt, dass Hegel in einer auch noch im Vormärz als verbindlich anerkannten Weise der Philosophie die Aufgabe zugewiesen hatte, ihre Zeit in Gedanken zu fassen42. Mochte das für die großen Denker der Vergangenheit auch immer schon in ähnlicher Weise gegolten haben – unter den Bedingungen des historischen Bewusstseins hat diese Wesensbestimmung der Philosophie erst ihren spezifischen Akzent bekommen: Es macht einen Unterschied, ob man es weiß, dass die Philosophie im besten Fall nur ihre Zeit in Gedanken fassen kann, und daher dieser ihrer Aufgabe nicht mehr unbefangen gegenübersteht. Trotz allem aber muss man anerkennen, dass im Vormärz in der Auseinandersetzung mit Hegel wenigstens ansatzweise alle die Gedanken konzipiert wurden, die für die moderne Welt und ihr Wirklichkeitsverständnis charakteristisch sind. Zwar gilt philosophisch ein Gedanke immer nur genau so weit, wie er in seine Konsequenzen entfaltet worden ist. Doch vielleicht haben gerade deshalb die Zeiten, in denen noch alles offen und noch nichts endgültig entschieden ist, ihren eigentümlichen Reiz. Das gilt in der Philosophiegeschichte für den Vormärz nicht weniger als etwa für die in jeder anderen Beziehung davon so verschiedenen Epochen der Vorsokratiker oder der frühen griechischen Kirchenväter. Im Vormärz ereignet sich aber auch noch etwas anderes: das geschichtlich wirkungsmächtige Philosophieren spaltet sich von der Schulphilosophie wieder ab. Ich denke dabei an einen Gegensatz, wie er etwa dem kantischen Gegensatz zwischen dem Schulbegriff und dem Weltbegriff der Philosophie entspricht. Beim Schulbegriff handelt es sich um ein „System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird“, beim Weltbegriff geht es um die „Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“43. Die Philosophiegeschichte der beginnenden Neuzeit ist ein schönes Beispiel dafür, wie diese beiden Gestalten der Philosophie im Verhältnis zueinander selbständige Entwicklungen nehmen können: Die philosophischen Gedanken, die die Zeit bewegten, wurden nicht auf den Universitäten geboren. Die Universitäten pflegten vielmehr noch lange Zeit eine im Absterben begriffene Tradition. Es muss zu denken 42 43

Hegel a. a. O. (Anm. 27), Bd. 7, S. 35. Kritik der reinen Vernunft, B 866 f.

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geben, dass weder Descartes noch Leibniz, weder Spinoza noch Pascal, weder Locke noch Hume Philosophie im akademischen und schulmäßigen Sinne gelehrt haben. Die wirkungs- und bildungsgeschichtliche Sonderstellung der Philosophie Kants und vor allem des Deutschen Idealismus beruht nicht zuletzt darauf, dass hier ein Gegensatz zwischen der schulmäßig an den Universitäten gelehrten Philosophie und den Ideen, die die Zeit bewegten, nicht bestand. Das gab es in dieser Form jedoch nach Hegels Tod schon nicht mehr. Die schulmäßig betriebene Philosophie nahm wieder ihre eigene Entwicklung, und das, was die Zeit bewegte, auch wenn sie es nicht immer wahr haben wollte, wurde von Einzelgängern wie Marx, Kierkegaard oder Nietzsche abseits vom offiziellen Bildungswesen verarbeitet. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Gestalt wie Heine. Man hat ihn mit jedem dieser drei Denker schon vergleichen wollen. Doch wenn man sich auf einen solchen Vergleich einlässt, fällt er leicht zuungunsten Heines aus. Ihm fehlt im Vergleich zu Marx, Kierkegaard oder Nietzsche vielleicht weniger die philosophische Originalität, wohl aber die unerbittliche Konsequenz des Denkens, die bei jedem dieser drei doch so unsystematischen, unter sich so verschiedenen Philosophen sogar so weit geht, dass sie für die Autonomie des Denkens selbst tödlich wird. Wenn man solche Maßstäbe an Heine anlegt, mag er leicht als philosophisch engagierter Dilettant erscheinen. Doch so hat er sich im Grunde ja auch selbst verstanden. Was er wollte, war lediglich, dem französischen Publikum eine populäre Darstellung der deutschen Philosophiegeschichte zu liefern. Doch man sollte vielleicht die bewusstseinsbildende Kraft einer Popularphilosophie nicht unterschätzen: die geschichtlichen Wirkungen gehen oftmals gerade von ihr aus; in manchen anderen Fällen sind diese Wirkungen zumindest durch sie vermittelt. Es sollte zu denken geben, wie sehr sich gerade totalitäre Staatsordnungen im Zuge der Konsolidierung ihrer Herrschaft um eine ihnen adäquate Popularphilosophie bemühen. Dass Heines Grundgedanke, die enge Wechselbeziehung von Philosophie und Politik, in Deutschland kaum Widerhall gefunden hat, ist bei dem vorwiegend apolitischen Grundzug der deutschen philosophischen Tradition nicht weiter verwunderlich; es bestätigt nur Heines Deutung der deutschen Philosophie. Heine steht mit am Anfang einer Entwicklung, die mit der Relativierung des überkommenen theoretischen Wahrheitsideals beginnt, deren Konsequenzen aber heute noch gar nicht zu übersehen sind. Aber es ist für die Philosophie eine noch nicht endgültig beantwortete Frage, welche Funktion sie in einer Gesellschaft noch haben kann, die von ihr, so wie es heute ist, keine umfassende Theorie der Wirklichkeit mehr erwartet. Die Gesellschaft ist ja nicht nur Gegenstand der Philosophie; die Philosophie hat umgekehrt, unbeschadet ihres Wahrheitsanspruchs, selbst eine gesellschaftliche Funktion. Bei Heine erlaubte es die historische Situation, die

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als relevant betrachteten Ereignisse in Philosophie und Gesellschaft auf Deutschland und Frankreich zu verteilen. Aber solche Trennungen sind im allgemeinen nur auf Grund einer Abstraktion möglich, einer Abstraktion freilich, der sich die Philosophie oft nicht bewusst ist, weil sie eine der Bedingungen ihrer Möglichkeit ist. Doch die Philosophie hat die Autonomie, die sie zu haben beansprucht und zu haben glaubt, nicht schon deswegen, weil sie von ihren Verflechtungen mit der Gesellschaft nichts weiß. Zuerst erschienen in: Deutsche Vierteljahrsschrift f. Literaturwissenschaft u. Geistes­ geschichte Jg. 37, 1963, H. 2, S. 232–248.

Anhänge

Curriculum vitae (1982) Vorgetragen bei Einführung in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften Man gerät in Verlegenheit, wenn man als Fachvertreter der Philosophie aufgefordert wird, der jedem neu kooptierten Mitglied dieser Akademie obliegenden Pflicht entsprechend sich vorzustellen und zu sagen, wer man ist. Diese Verlegenheit ist mit einer Schwierigkeit verbunden, die darauf beruht, dass es einem – anders als dem Vertreter jeder anderen Disziplin – verwehrt bleibt, den Namen seines Faches auf unmittelbare Weise in Anspruch zu nehmen, wenn man sich selbst und seine Arbeit charakterisieren will. Denn jeder von uns hat die strenge, aber wohlbegründete Mahnung Kants im Ohr, wonach es nur „sehr ruhmredig“ und anmaßend wäre, wollte jemand sich selbst einen Philosophen nennen. Diese Mahnung gründet in der Überzeugung, dass der Mensch das ihm von der Philosophie erstrebte Ziel vermutlich niemals endgültig erreichen kann, wenn es darum geht, einen Punkt zu finden, von dem aus sich das dem Menschen überhaupt erreichbare Wissen als Ganzes mitsamt seinen Grenzen überblicken lässt, einen Punkt, von dem aus zugleich die Möglichkeit eröffnet wird, alles menschliche Leben und Zusammenleben dauerhaft unter den Anspruch der Vernunft zu stellen. Als akademische Disziplin wird die Philosophie heute freilich wie alle anderen Wissenschaften vom Gesetz der Arbeitsteilung und der Spezialisierung beherrscht. Die Antriebe für das, was sie tut, kommen gleichwohl aus einem Bereich, der von jener Spezialisierung nicht erreicht wird. Damit mag es zusammenhängen, dass manch einer die Präsenz der Philosophie in der Universität unserer Tage bereits für einen Anachronismus hält. Merkwürdigerweise fordert man aber auch heute noch von dem, der sich um die Sache der Philosophie bemüht, dass er sich mit dieser Sache in einem Maße identifiziert, wie man es in vergleichbarer Weise von einem Vertreter einer anderen Disziplin, sieht man einmal vom Theologen ab, niemals erwartet. Aber gerade diese Forderung nach Identifikation hat auf der anderen Seite auch zur Folge, dass sich der Vertreter der Philosophie zugleich stets um jene Distanz zur Sache bemühen muss, ohne die fruchtbare und nachprüfbare Arbeit nun einmal nicht geleistet werden kann. Doch ich sollte nicht länger vor der Aufgabe ausweichen, von dem Weg zu berichten, der mich in den Bereich der Philosophie geführt hat. Geboren

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im Jahre 1933 und aufgewachsen in Heidenheim an der Brenz, einer kleinen Stadt auf der Schwäbischen Alb, die vom Krieg kaum erreicht wurde, verlebte ich dort eine Jugend, deren Probleme vor allem mit dem frühen Tod des Vaters zusammenhingen. Konstellationen, deren Zufälligkeit man gerade im Rückblick niemals umzudeuten versuchen sollte, spielten noch dem Gymnasiasten das eine oder das andere Buch in die Hand, das, geheimnisvoll und faszinierend zugleich, Möglichkeiten des Philosophierens vorstellte und zugleich zum Nachdenken herausforderte. Der Mangel an Selbstkritik, der mit eigenen ersten Gehversuchen im Bereich dieser Möglichkeiten verbunden zu sein pflegt, gibt einem für den Anfang einen guten und vielleicht unentbehrlichen Schutz. Man gäbe solche Versuche gewiss vorschnell auf, würde man zu früh auch nur eines Teils der Schwierigkeiten gewahr, in die einen philosophisches Denken führen kann, würde man sich zu früh der Gefahr bewusst, dass man sich mit seiner Reflexion fast zwangsläufig nur im Kreise dreht, solange man nicht ein solides Handwerk gelernt hat, wie es für den sachgerechten Umgang auch mit der Welt des Begriffs unbedingt nötig ist. Es war indes die Unmittelbarkeit der Wirkung eines Buches, vor dem, anders als vor den Werken der philosophischen Klassiker der Tradition, weder logische noch historische Verständnis­barrieren aufgerichtet zu sein schienen, das für die Studienwahl bestimmend wurde: Ich spreche von Heideggers Werk „Sein und Zeit“, unter dessen Eindruck ich mich zum Studium der Philosophie entschloss, ein Studium, mit dem ich zugleich die Erwartung verknüpfte, in der Philosophie einmal die Grundlage einer beruflichen Existenz zu finden. Auch wenn sich diese Erwartung schneller erfüllen sollte, als ich zu hoffen wagte, so war es doch, im Rückblick betrachtet, ein ob seiner Wirklichkeitsfremdheit geradezu wahnwitziger Entschluss. Über die Studien- und Lehrjahre kann ich mich kurz fassen, zumal da der Geist der Heidelberger Philosophischen Fakultät der fünfziger Jahre von dieser Stelle aus schon des öfteren – und zwar weit wirkungsvoller, als mir dies zu tun möglich wäre – beschworen worden ist. Und was man seinem Lehrer verdankt, wenn man Schüler von Hans-Georg Gadamer ist, weiß ohnehin jeder, der diesem Kreise angehört. Es war eine Schule, in der sich der Lehrer des wirksamsten und strengsten Zuchtmittels bediente, das es im Bereich der Wissenschaft gibt, nämlich der Gewährung von Freiheit und Unabhängigkeit. Jeder Ordinarius würde sich heute glücklich schätzen, räumte man ihm in der Universität unserer Tage für seine Arbeit auch nur einen Teil jener Freiheit ein, deren man sich als Assistent bei Gadamer in den angeblich so finsteren Zeiten der sogenannten alten Ordinarienuniversität erfreuen konnte. Es herrschte eine Liberalität, die es beispielsweise nicht nur erlaubte, die Beschäftigung mit der damals noch von vielen Seiten beargwöhnten modernen formalen Logik und mit analytischen Techniken

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in die hermeneutische Arbeit an der philosophischen Tradition einzubringen, sondern die mir auch die Möglichkeit eröffnete, als „ausgeliehener“ Assistent, – damals etwas ganz Unübliches –, für einige Jahre zu Carl Friedrich von Weizsäcker nach Hamburg zu gehen. Hier konnte ich ein Denken anderer Art kennenlernen. Es war ein Denken, für das die Grundfragen der modernen Physik ebenso bestimmend waren wie die Werke der philosophischen Klassiker; die Offenheit für Gestalten der Wahrheit jenseits des begründenden Denkens ebenso wie die Aporien der Weltpolitik unserer Tage. Hier wurde etwas von der Spannung deutlich, in der – wie Platon als erster gesehen hat – Politik und Philosophie stets aufeinander bezogen sind und in der sich beide gerade deswegen stets gegeneinander abgrenzen müssen. Fruchtbar wurden die Hamburger Lehrjahre aber auch durch die Begegnung mit Ernst Kapp, dem Gräzisten, der auf Fragestellungen und Methoden meiner Arbeiten zur antiken Philosophie durch manch eine Anregung Einfluss genommen hat. – Doch ich greife vor. Denn ich muss, wenn von den Heidelberger Lehrjahren die Rede ist, auch von Karl Löwith sprechen. Schüler im eigentlichen Sinne des Wortes hat Löwith wohl niemals gehabt. Aber niemand konnte sich dem unaufdringlichen und diskreten Einfluss eines Mannes entziehen, der das Problem von Identifikation und Distanz in Bezug auf die Sache der Philosophie für sich selbst auf eine unnachahmbare Weise gelöst hatte und der mit der ihm eigenen Skepsis nicht so sehr eine erkenntnistheoretische Position bezog, sondern eine Haltung bewährte, die sich durch keine historische und keine logische Reflexion verblüffen ließ und die stets den Verdacht wachhielt, dass die endgültigen Antworten auf die Grundfragen der Philosophie, wenn es sie überhaupt gibt, vielleicht ganz einfache Antworten sind. Mag die Philosophie von Hause aus auch noch so sehr einem universalen Anspruch verpflichtet sein – in der Tagesarbeit geht es trotzdem, wie in jeder anderen Wissenschaft, zunächst immer um das historische oder das systematische Detail. Der größere Teil der Arbeiten, die ich bisher vorgelegt habe, bemüht sich darum, historische und systematische Fragestellungen zu verbinden und aufeinander zu beziehen. In diesen Arbeiten, die sich in erster Linie mit Platon und mit Aristoteles (eingeschlossen gelegentliche Ausflüge in die Spätantike und ins Mittelalter), in zweiter Linie mit der Philosophie des deutschen Idealismus beschäftigen, habe ich versucht, Philosophiehistorie nicht um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern sie in den Dienst der Arbeit an den systematischen Problemen der Philosophie zu stellen. Selbstredend müssen sich auch derart angelegte Arbeiten der philologischen und der historischen Kritik stellen. Vorgeordnet bleiben gleichwohl die an den Sachproblemen der Philosophie ausgerichteten Fragestellungen. Ein reinrassiger Systematiker mag freilich zweifeln, ob man sich bei der Lösung seiner Probleme gerade dann Hilfe erhoffen kann, wenn man den

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„Umweg“ über die Geschichte der Philosophie zu gehen unternimmt. Doch die systematische Philosophie kann sich in ihrer Arbeit zunächst einmal nur logischer und reflexiver Methoden bedienen. Sie kann, im Gegensatz zu den meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen, niemals unmittelbar auf Erfahrung rekurrieren. Sie befindet sich daher oft in Beweisnot und geht immer wieder auf die Suche nach Instanzen, die ihr helfen, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu überprüfen. Eine solche Hilfe können indessen die Klassiker des philosophischen Gedankens geben. Niemand wird Wahrheit lediglich auf die Autorität eines Klassikers oder gar nur auf historische Faktizität gründen wollen. Aber der Rang eines Klassikers in der Philosophie bemisst sich auch danach, inwieweit er einem dabei helfen kann, Antworten selbst noch auf solche Fragen zu finden, wie sie ihm in seinem historischen Umkreis noch gar nicht gestellt worden waren. So muss man die Gefahr der Einseitigkeit in Kauf nehmen, wenn man es unternimmt, beispielsweise Aristoteles mit Hilfe von Reflexionsformen moderner Sprachanalyse, Platon mit Hilfe von Alternativen moderner Erkenntnistheorie zu deuten. Wenn solche Untersuchungen fruchtbar sind, so ist ihr Gewinn vor allem dort zu suchen, wo es etwa gelungen sein sollte, in der Konfrontation mit den klassischen Autoren in Bezug auf moderne philosophische Ansätze Inkonsistenzen aufzuspüren und Vorurteile als solche zu erkennen. Diese Grundsätze habe ich auch in meinen Lehrveranstaltungen an den Universitäten, an denen ich bisher tätig war, fruchtbar zu machen versucht. Nachdem ich im Jahre 1960 in Heidelberg habilitiert worden war, folgte ich Berufungen zunächst nach Hamburg, sodann nach Marburg, Göttingen, Freiburg und jetzt eben zurück nach Heidelberg; andere, nicht weniger verlockende Rufe nach Bern, nach Salzburg und nach Tübingen habe ich schweren Herzens abgelehnt. Trotzdem verlief mein Werdegang nicht so geradlinig, wie es meine Darstellung vielleicht erscheinen lässt. Noch als Ordinarius der Philosophie habe ich nämlich ein Studium der Medizin begonnen und danach, gelegentlich unbezahlte Beurlaubung in Anspruch nehmend, auch die Medizinalassistentenzeit bis zur ärztlichen Approbation absolviert. Man fasst einen derartigen Entschluss nicht und noch weniger realisiert man ihn, wenn dem nicht ein ursprüngliches Interesse zugrunde liegt, das nicht mehr begründet oder erklärt werden kann. Von meinem Weg in der Philosophie her gesehen war es jedenfalls auch ein Versuch, bisher Versäumtes nachzuholen und auch in einer ganz anders strukturierten Disziplin wenigstens so weit heimisch zu werden, dass ich gleichsam auf zwei Beinen stehen konnte. Dem Eintauchen in eine der Welt verantwortlichen Handelns verpflichtete Disziplin, die nicht nur von forschender Wissenschaft, sondern ebenso von der Erfahrung des Praktikers lebt und getragen wird, verdanke ich die Unmittelbarkeit des Kontaktes mit einem Stück jener Wirklichkeit, die der

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philosophischen Reflexion allzu leicht zu entgleiten in Gefahr steht. Die Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen Fragen, besonders mit Fragen an der gemeinsamen Grenze von Philosophie und Medizin, charakterisiert seither einen anderen Schwerpunkt meiner Arbeit. Eine Zeitlang spielte ich sogar mit dem Gedanken, den Beruf endgültig zu wechseln. Das waren Erwägungen, die sich nicht zuletzt auch angesichts der Ereignisse von 1968 und der darauffolgenden Jahre nahelegten. Schließlich war aber auch die Zeit dieser Wirren vorübergegangen, wenn auch gewiss nicht spurlos; die Universitäten trugen jedenfalls auch danach immer noch ihre alten Namen. Die unter der Herrschaft eines technokratischen Bildungsideals durchreglementierte und gleichsam auf Stromliniengestalt reformierte Universität, die unausweichlich auf uns zuzukommen scheint, wird erst recht nicht alles das verkörpern können, was einmal die Würde der traditionellen Universität ausmachte. Ein Fach wie die Philosophie, das nun einmal keinen äußerlich fassbaren Nutzen abwirft, wird an dieser Universität, wie zu fürchten ist, heimatlos werden und kaum mehr einen legitimen Platz beanspruchen können. Und wenn ich mich zum Schluss noch einmal auf meinen Lehrer Gadamer berufen darf, so sind jetzt schon, wie er einmal in den „Philosophischen Lehrjahren“ bemerkt, die Sitzungen der Akademie die einzigen eines Gelehrten würdigen Sitzungen im heutigen akademischen Leben. Umso mehr danke ich Ihnen dafür, dass Sie beschlossen haben, mich in Ihren Kreis aufzunehmen und mich an dieser Form wissenschaftlicher Kommunikation teilnehmen zu lassen. Zuerst erschienen in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1983. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1984, S. 58–61.

Lebensdaten

geboren 1933 in Heidenheim an der Brenz Abitur 1952 an der Schubart-Oberrealschule in Aalen Studium der Philosophie, daneben Psychologie, Musik- und Rechtswissenschaft in Göttingen, München und Heidelberg, Promotion 1955 Wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg bei Karl Löwith 1954–56; HansGeorg Gadamer 1956/57; in Hamburg bei Carl Friedrich von Weizsäcker 1957–60 Habilitation in Heidelberg 1960 Privatdozent in Heidelberg 1960/1961 Extraordinariat in Hamburg 1961 Ordinariat in Marburg 1964 Studium der Humanmedizin (seit 1965, bei gleichzeitiger Wahrnehmung seiner Pflichten als Ordinarius); medizinisches Staatsexamen 1970; ärztliche Approbation 1973 Ordinariat für Philosophie an der Universität Göttingen 1968; in Freiburg im Breisgau 1979; in Heidelberg 1983 seit 1982 Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften emeritiert 1998 Dr. med. h. c. Tübingen 2005 gestorben 2015 in Göttingen

Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Wieland Abkürzungen AGPh FAZ HWPh PhR RGG3 WdF ZphF ✴

Archiv für Geschichte der Philosophie Frankfurter Allgemeine Zeitung Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1971 ff. Philosophische Rundschau Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 1957 ff. Wege der Forschung Zeitschrift für philosophische Forschung in diesem Band aufgenommen

1956 1. Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie (= Heidelberger Forschungen 4), Winter, Heidelberg 1956. 100 S. [urspr. Diss. Heidelberg 1955]. 2. Zum Problem der Begründung des Naturrechts, PhR 4, 1956, 89–104 [= Rez. Werner Maihofer, Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie (1954) u. Gerhart Husserl, Recht und Zeit. Fünf rechtsphilosophische Essays (1955)].

1957 3. Das Freiheitsproblem zwischen Philosophie und Psychologie, PhR 5, 1957, 19–34 [= Rez. Wilhelm Keller, Psychologie und Philosophie des Wollens (1954)].

1958 4. 5. 6. 7.

Entwicklung in Geschichte und Kultur, RGG3 2 (1958), 510–516. Erkenntnistheorie, ebenda 559–563. ‚Geist, philosophisch‘, ebenda 1286–1289. Zur Problemgeschichte der formalen Logik, PhR 6, 1958, 71–93 [= Rez. I. M.  Bocheński, Formale Logik (1956)]. 8. Aristoteles als Rhetoriker und die exoterischen Schriften, Hermes 86, 1958, 323–346.

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1959 9. Hegel, RGG 3 (1959), 115–119. 10. Jacobi, ebenda 508 f. 11. Idealismus, begrifflich / Philosophie des Deutschen Idealismus, ebenda 556–​562. 12. Irrational, ebenda 896 f. 3

1960 13. ✴ Die Ewigkeit der Welt (Der Streit zwischen Joannes Philoponus und Simplicius), in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken (Festschrift Gadamer), Tübingen 1960, 291–316. 14. Philosophische Grundfragen der modernen Physik, Ruperto Carola 28, 1960, 226–233. 15. Das Problem der Prinzipienforschung und die aristotelische Physik, Kant-­ Studien 52, 1960/61, 206–219. 16. Neuhegelianismus, RGG3 4 (1960), 1415 f. 17. Ontologie, ebenda 1632–35.

1962 18. Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1962. 354 S. [urspr. Habil.-Schr. Wintersemester 1959/60, Heidelberg].

1963 19. ✴ Heinrich Heine und die Philosophie, Deutsche Vierteljahrsschrift f. Literaturwiss. u. Geistesgeschichte 37, 1963, 232–248.

1964 20. Wissenschaft und Ethik. Der philosophische Aspekt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung ‚Das Parlament‘. Beil. 1/64, 2. Januar 1964, 11–26 [Nachschrift eines Referats auf dem Akademischen Symposium 1963 der Evangelischen Akademie Tutzing].

1966 21. Die Aristotelische Theorie der Notwendigkeitsschlüsse, Phronesis 11, 1966, 35–60. 22. ✴ Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit, in: Orbis scriptus (Festschrift Tschižewskij), München 1966, 933–941.

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23. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band, erstes Buch. Das Sein. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1812. Nachdruck besorgt von Wolfgang Wieland, Göttingen 1966 [darin Vorwort S. 5–7]. 24. Über Physik und Metaphysik, in: Eckart Heimendahl, Dialog des Abendlandes. Physik und Philosophie, München 1966, 124–131.

1967 25. Zur Deutung der Aristotelischen Logik, PhR 14, 1967, 1–27 [= Rez. Günther Patzig, Die aristotelische Syllogistik (1959)]. 26. Zur Raumtheorie des Johannes Philoponus, in: Festschrift für Joseph Klein zum 70. Geburtstag, Göttingen 1967, 114–135. 27. ✴ Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur, in: Natur und Geschichte (Festschrift Löwith), Stuttgart 1967, 406–440.

1969 – Mitherausgeber: Zeitschrift ‚Archiv für Geschichte der Philosophie‘ seit 1969.

1970 28. Gegen die Degradierung der Vernunft zum Werkzeug: Dem Philosophen Hans-Georg Gadamer um 70. Geburtstag, FAZ, 11.2.1970, Nr. 35, 32. 29. Möglichkeiten der Wissenschaftstheorie, in: Rüdiger Bubner (Hg.), Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze, Bd. 1: Methode und Wissenschaft, Lebenswelt und Geschichte, Tübingen 1970, 31–56. – Die aristotelische Physik [vgl. Nr. 18], 2., durchgesehene Auflage mit einem Nachwort, Göttingen 1970, 365 S. 30. Nachwort, in: Hegels erste Druckschrift: Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern […] Aus dem Französischen eines verstorbenen Schweizers [Jean Jacques Chart] übers. und mit Anmerkungen versehen [von G. W. F. Hegel] Frankfurt a. M. 1798, Göttingen 1970.

1971 31. Aevum, HWPh 1 (1971), 88 f. 32. Aion, ebenda 117–119. 33. Thesen zum öffentlichen Gespräch ‚Diagnose als Problem ärztlichen Erkennens und Handelns‘, in: Kongreßbericht 77. Tagung der Nordwestdeutschen Gesellschaft für Innere Medizin, Lübeck 1971, 30–32. – Quellen und Studien zur Philosophie, de Gruyter, Berlin [Gründungs- und Mitherausgeber mit Erhard Scheibe u. Günther Patzig, bis 2003].

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1972 34. Bemerkungen zum Problem der philosophischen Begriffsbildung, in: Samuel M. Stern u. a. (Hg.), Islamic Philosophy and the Classical Tradition (Festschrift Walzer), Oxford 1972, 503–515. 35. Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie, in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 1: Geschichte, Probleme, Aufgaben, Freiburg i. Br. 1972, 505–534. 36. Die aristotelische Theorie der Möglichkeitsschlüsse, Phronesis 17, 1972, 124–152. 37. ✴ Zeitliche Kausalstrukturen in der aristotelischen Logik, AGPh 54, 1972, 229–237. 38. Dauer, HWPh 2 (1972), 26 f.

1973 39. ✴ Kontinuum und Engelzeit bei Thomas von Aquino, in: Einheit und Vielheit (Festschrift Weizsäcker), Göttingen 1973, 77–90. 40. ✴ Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik, in: Wirklichkeit und Reflexion (Festschrift Schulz), Pfullingen 1973, 395–414.

1974 41. ✴ Praxis und Urteilskraft, ZphF 28, 1974, 17–42.

1975 42. Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, de Gruyter, Berlin / New York 1975. 176 S. 43. Die aristotelische Theorie der Syllogismen mit modal gemischten Prämissen, Phronesis 20, 1975, 77–92. 44. Entwicklung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, 199–228. – Aristotle’s Physics and the Problem of Inquiry into Principles, in: Jonathan Barnes u. a. (Hg.), Articles on Aristotle, Bd. 1: Science, London 1975, 127–140 [engl. Übers. von Nr. 15]. – The Problem of Teleology, ebenda 141–160 [engl. Übers. von § 16 von Nr. 18]. – Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur, in: Manfred Frank / G erhard Kurz (Hg.), Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt a. M. 1975, 237–279 [vgl. Nr. 27]. – Heinrich Heine und die Philosophie, in: Helmut Koopmann (Hg.), Heinrich Heine (= WdF 289), Darmstadt 1975, 133–155 [vgl. Nr. 19]. – Das Kontinuum, in: Gustav A. Seeck (Hg.), Die Naturphilosophie des Aristoteles (= WdF 225), Darmstadt 1975, 251–300 [urspr. § 17 von Nr. 18].

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1976 45. Probleme der aristotelischen Theorie über die Schlüsse aus falschen Prämis­ sen, AGPh 58, 1976, 1–9. 46. Platon und der Nutzen der Idee. Zur Funktion der Idee des Guten, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1, 1976, 19–33. – Zur Problemgeschichte der formalen Logik, in: Carl J. Classen (Hg.), Sophistik (= WdF 187), Darmstadt 1976, 248–253 [gekürzte Version von Nr. 7].

1977 47. Die Aufklärungspflicht des Arztes aus philosophischer Sicht, Medizinische Klinik 72, 1977, 1597–1600.

1978 48. Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 1: Antike, hg. v. Wolfgang Wieland, Reclams Universalbibliothek, Stuttgart 1978 (bibliogr. erg. Ausg. 2010) [S. 7–46 allg. Einleitung; jeweils kurze Einleitungen zu den ausgewählten Texten]. – Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit, in: Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt a. M. 1978, 194–212 [vgl. Nr. 22].

1979 49. ✴ Aristoteles und die Seeschlacht. Zur Struktur prognostischer Aussagen, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2, 1979, 25–33.

1980 50. Die aristotelische Theorie der Konversion von Modalaussagen, Phronesis 25, 1980, 109–116. 51. Wohin mit den Philosophen?, Zeitschrift f. Didaktik der Philosophie 2, 1980, 67–69. 52. Die Problematik des Begriffs der ‚Allgemeinen wissenschaftlichen Anerkennung‘ in der Medizin, in: G. A. Neuhaus (Hg.), Pluralität in der Medizin – der geistige und methodische Hintergrund. Bericht über ein Symposium der Medizinisch Pharmazeutischen Studiengesellschaft e. V. vom 24.–26. Mai 1979 in Titisee / S chwarzw. (= Schriftenreihe der Medizinisch Pharmazeutischen Studiengesellschaft 7), Frankfurt a. M. 1980, 145–148.

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1981 53. Die aristotelische Logik in der gegenwärtigen Diskussion, Freiburger Universitätsblätter 73, 1981, 45–56. 54. Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaftstheorie, Angewandte Chemie 93, 1981, 627–634. 55. Handbuch Philosophie [10 Bde.], hg. v. Elisabeth Ströker u. Wolfgang Wieland, Alber, Freiburg / München 1981–1996.

1982 56. Platon und die Formen des Wissens, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982. 339 S.

1983 57. Systematische Bemerkungen zum Diagnosebegriff, Münstersche Beiträge zur Geschichte und Theorie der Medizin 20, 1983, 17–34. 58. Verbindlichkeit als wissenschaftstheoretisches Problem?, in: Erwin Deutsch u. a. (Hg.), Verbindlichkeit der medizinisch-diagnostischen und therapeu­ tischen Aussage, Stuttgart / New York 1983, 35–42.

1984 59. Erkennen in der Medizin, Der Allgemeinarzt 6, 1984, 129–132 u. 244–248. 60. ✴ (Antrittsrede bei der Einführung in die Heidelberger Akad.), Jahrbuch für 1983 der Heidelberger Akad. d. Wiss., Heidelberg 1984, 58–61.

1985 61. Philosophie nach ihrem Weltbegriff, in: Georg Picht – Philosophie der Verantwortung, hg. v. Constanze Eisenbart, Stuttgart 1985, 89–108. 62. Grundlagen der Krankheitsbetrachtung, in: Rudolf Gross (Hg.), Geistige Grundlagen der Medizin, Berlin u. a. 1985, 42–55. 63. Prolegomena zum Zeitbegriff, in: Heinrich Schipperges (Hg.), Pathogenese. Grundzüge und Perspektiven einer Theoretischen Pathologie, Berlin u. a. 1985, 7–31. – Die aristotelische Theorie der Konversion von Modalaussagen, in: Albert Menne / Nils Öffenberger (Hg.), Zur modernen Deutung der Aristotelischen Logik, Bd. 2: Formale und nicht-formale Logik bei Aristoteles, Hildesheim u. a. 1985, 180–187 [vgl. Nr. 50]. – Die aristotelische Theorie der Möglichkeitsschlüsse, ebenda 188–216 [vgl. Nr. 36].

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1986 64. Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik. Philosophische Überlegungen zu Grundfragen einer praktischen Wissenschaft (= Abh. d. Heidelb. Ak. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., 1985/4), Winter, Heidelberg 1986. 136 S. [Vorgetragen am 17. Nov. 1984].

1987 65. Platons Schriftkritik und die Grenzen der Mitteilbarkeit, in: Volker Bohn (Hg.), Romantik – Literatur und Philosophie (= Poetik: Internationale Beiträge 1), Frankfurt a. M. 1987, 24–44.

1988 66. La actualidad de la filosofia griega, Méthexis 1, 1988, 3–16. 67. Wie sicher ist die ‚sichere‘ Diagnose? Der Patient zwischen Überdiagnostik und begriffloser Intuition, Der Allgemeinarzt 10, 1988, 706–709.

1989 68. ✴ Aporien der praktischen Vernunft (= Wissenschaft u. Gegenwart: Geisteswissenschaftliche Reihe 65), Klostermann, Frankfurt a. M. 1989. 47 S. 69. Estado y Autoconciencia. Apuntes a la República de Platón, in: Manuel Cruz u. a. (Hg.), Historia, Lenguaje, Sociedad (Homenaje a Emilio Lledó), Barcelona 1989, 90–103 70. Strukturtypen ärztlichen Handelns, in: Hans-Martin Sass (Hg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, 69–95. – Grundlagen der Krankheitsbetrachtung, in: Franz Wagner (Hg.), Medizin. Momente der Veränderung, Berlin u. a. 1989, 63–70 [vgl. Nr. 62].

1990 71. Norm und Situation in der aristotelischen Ethik, in: Herméneutique et onto­ logie (Festschrift Aubenque), Paris 1990, 127–145. 72. Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik begründet hat, Deutsche Vierteljahrsschrift f. Literaturwiss. u. Geistesgeschichte 64, 1990, 604–623. 73. ✴ Staat und Selbstbewußtsein. Eine Notiz zu Platons Politeia, Synthesis Philosophica 10, Bd. 5, Nr. 2, 1990, 393–406 [vgl. Nr. 69]. 74. Einführung, in: Georg Picht, Platons Dialoge ‚Nomoi‘ und ‚Symposion‘, Stuttgart 1990, VII–XXVI (= Georg Picht, Vorlesungen und Schriften. Studienausgabe, hg. von Constanze Eisenbart in Zusammenarbeit mit Enno Rudolph, Stuttgart 1985 ff.).

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1991 – La crítica de Platón a la escritura y los límites de la comunicabilidad, Méthe­xis 4, 1991, 19–37 [span. Übers. von Nr. 65]. 75. Laudatio auf Werner Beierwaltes (Kuno-Fischer-Preis 1991), Heidelberger Jahrbücher 35, 1991, 155–162.

1992 – Die aristotelische Physik [vgl. Nr. 18], 3., um ein Vorwort erweiterte Auflage, Göttingen 1992. 365. S.

1993 – La Fisica di Aristotele. Studi sulla Fondazione della scienza della natura e sui fondamenti linguistici dell ricerca dei principi in Aristotele (= Collezione di testi e di studi: Filosofia), Bologna: il Mulino, 1993. 469 S. [ital. Übers. von Nr. 18 von Carlo Gentili]. 76. Das Menschenbild in der Gesundheitspolitik, in: Hans Rüdiger Vogel (Hg.), Illusionen in der Gesundheitspolitik, Stuttgart / New York 1993, 7–24. 77. The Concept of the Art of Medicine, in: Corinna Delkeskamp-Hayes and Mary Ann Gardell Cutter (Hg.), Science, Technology, and the Art of Medicine. European-American Dialogues (= Philosophy and Medicine 44), Dordrecht 1993, 165–182. 78. Rez. Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der ‚ungeschriebenen Lehren‘ (1993), FAZ, 7.12.1993, Nr. 284, L16.

1994 79. Rez. Thomas A. Szlezák, Platon lesen (1993), FAZ, 15.3.1994, Nr. 62, L18. 80. Prognose. Philosophische Überlegungen zu einem Arbeitsbegriff des Arztes, in: Andreas Frewer / Claus Rödel (Hg.), Prognose und Ethik. Theorie und klinische Praxis eines Schlüsselbegriffs der Ethik in der Medizin. Beiträge der II. Erlangener Studientage zur Ethik in der Medizin 1993 (= Erlangener Studien zur Ethik in der Medizin 2), Erlangen 1994 [ausgeliefert 1995], 37–58. 81. Rez. Wolfgang Röd, Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Bd. 1 (1994), FAZ, 21.11.1994, Nr. 270, L16.

1995 82. Der Arzt und seine Handlungsnormen im Spannungsfeld der Wahrscheinlichkeit, in: Peter Kröner u. a. (Hg.), Ars medica. Verlorene Einheit der Medizin?, Stuttgart / New York 1995, 157–173.

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83. ✴ Das Individuum und seine Identifizierung in der Welt der Kontingenz, in: Denken der Individualität (Festschrift Simon), Berlin / New York 1995, 3–25. 84. Philosophische Aspekte des Krankheitsbegriffs, in: Krankheitsbegriff, Krankheitsforschung, Krankheitswesen (Festschrift Doerr), Berlin u. a. 1995, 59–76. 85. ✴ Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte, in: Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte (Festschrift Specht), Berlin / New York 1995, 9–30. 86. Das Begründungsproblem in der Medizin, in: Richard Toellner / Urban Wiesing (Hg.), Wissen – Handeln – Ethik. Strukturen ärztlichen Handelns und ihre ethische Relevanz, Stuttgart / New York 1995, 57–75. 87. Rez. Dieter Birnbacher, Tun und Lassen (1995), FAZ, 14.11.1995, Nr. 265, L16.

1996 88. Aristoteles und die Idee der poetischen Wissenschaft. Eine vergessene philosophische Disziplin?, in: Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie (Festschrift Manfred Riedel), Würzburg 1996, 479–505. 89. ✴ Das sokratische Erbe: Laches, in: Theo Kobusch / Burkhard Mojsisch (Hg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 5–24. 90. Rez. Fr. Schleiermacher, Über die Philosophie Platons […] Hg. und eingel. von Peter M. Steiner (1996), FAZ, 5.6.1996, Nr. 129, 12.

1997 – La razón y su praxis. Cuatro ensayos filosoficos. Trad. e introd. de Alejandro Vigo, Buenos Aires 1997 [span. Übers. von Nr. 35.41.68.83]. 91. Aristoteles über Schlüsse aus widersprüchlichen Prämissen, in: Beiträge zur antiken Philosophie (Festschrift Kullmann), Stuttgart 1997, 167–183. 92. ✴ Dialektik und Relationen, in: Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie (Festschrift Giel), Würzburg 1997, 369–383. 93. Karl Löwith in Heidelberg, Heidelberger Jahrbücher 41, 1997, 267–274.

1998 94. ✴ Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft, ZphF 52, 1998, 1–22. 95. Verantwortungsethik als Spielart des Utilitarismus, Akademie-Journal 1, 1998, 37–40.

466

Anhänge

1999 96. Verantwortung – Prinzip der Ethik? (= Schriften der Philos.-hist. Klasse der Heidelberger Akad., Bd. 16), Winter, Heidelberg 1999. 103 S. [vorgetragen am 28. Juni 1997). – Norma y situación en la ética aristotélica, in: A. G. Vigo (Hg.), Acción, razón y verdad. Estudios sobre la filosofia práctica de Aristotéles (= Anuario Filosófico 32/1, 1999), 315–342 [span. Übers. von Nr. 71]. – Platon und die Formen des Wissens [vgl. Nr. 56], 2., durchgesehene und um einen Anhang und ein Nachwort erweiterte Auflage, Göttingen 1999. 356 S.

2001 97. Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. 403 S.

2002 98. The character and mission of the practical sciences, as exemplified by medicine, Poiesis & Praxis 1, 2002, 123–134.

2003 99.

100. 101.

102.

✴ Pro Potentialitätsargument: Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz, in: Gregor Damschen / Dieter Schönecker (Hg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin 2003, 149–168. ✴ Poiesis. Das aristotelische Konzept einer Philosophie des Herstellens, in: Thomas Buchheim u. a. (Hg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, 223–247. ✴ Was heißt und zu welchem Ende vermeidet man den Gebrauch der Urteilskraft? Strategien zu ihrer Umgehung, in: Frithjof Rodi (Hg.), Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen, Weilerswist 2003, 9–33. Bioethik als Herausforderung (= Bonner philosophische Vorträge und Studien 20), University Press, Bonn 2003. 71 S.

2004 103. ✴ Herausforderungen der Bioethik, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie (Bonn, 23.–27. Sept. 2002), Vorträge und Kolloquien, Berlin 2004, 829–842.

Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Wieland

467

104. Grundlegende Aspekte des Krankheitsbegriffs, in: Nadja Mazouz u. a. (Hg.), Krankheitsbegriff und Mittelverteilung (= Beiträge zum Gesundheitsmanagment 8), B ­ aden-Baden 2004, 15–29. – Diagnose [vgl. Nr. 42], zweite, mit einem Vorwort zur Neuauflage versehene Auflage, Verlag Johannes G. Hoof, Warendorf 2004. 216 S.

2005 105. Medizin als praktische Wissenschaft. Die Frage nach ihrem Menschenbild, in: Matthias Girke u. a. (Hg.), Medizin als Menschenbild. Das Verständnis des Menschen in Schul- und Komplementärmedizin. […], Köln 2005, 9–27.

2007 106. Zur Tragfähigkeit eines wertfreien Krankheitsbegriff, Erwägen Wissen Ethik 18, 2007, 133–136. 107. Die Lust im Erkennen: Kants emotionales Apriori und die Rehabilitierung des Gefühls, in: Jürgen Stolzenberg (Hg.), Kant in der Gegenwart, Berlin / NewYork 2007, 291–316.

2011 108. ✴ Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung. Zur Tragweite des hypothetischen Denkens, Acta Historica Leopoldina 57, 2011, 99–130 [vorgetragen am 26. Jan. 2007].

2014 109. Medizin als praktische Wissenschaft. Kleine medizintheoretische Schriften (= Reason and Normativity 9), hg. v. Rainer Enskat und Alejandro G. Vigo, Olms, Hildesheim 2014. 240 S.

Register Mit einem (+) versehene Hochzahlen (für Anmerkungen) stehen dort, wo auf Text und Anmerkung der jeweiligen Seite gesondert hingewiesen werden soll.

I. Namen und Zitate d’Alembert  180, 196 f., 200, 206 f., 215 Ammonius 31210, 32018 Antiphon 288 Arendt  164, 28923 Aristophanes 223 Aristoteles  27, 92, 101 ff., 106, 1216, 1419, 19510, 223, 229, 233+44, ­258–265, 271 ff., 278 ff., 291, 300 ff., 306, 307, 308 ff., 313, 314 f., 316, 317, 318, 319, 320 f., 324, 328 f., 441, 453, 454 Cat. 12, 14a26 ff.: 31614; 12, 14b9 ff.: 263; De int. 9, 18a35: 265; 9, 18b7: 265; 9, 18b34: 265; 9, 18b36 ff.: 265; 9, 19a39 f.: 264; 9, 18b6 f.: 264; 9, 18b14 f.: 264; 9, 18b30 ff.: 264; 12–13: 1216; Anal. pr. I 3: 1216; I 13: 1216; I 15–16: 1216; Anal. post. I 13: 2591; II 2, 90a6: 2591; II 12, 95a10–21: 260; II 12, 95a22 ff.: 260; II 12, 95a24: 260; II 12, 95a28: 260; II 12, 95a30 f.: 261; II 12, 95a36 ff.: 261; II 12, 95b16–29: 262; II 16, 98b17: 261; Top. I 11, 104b8: 3097; I 11, 104b16: 3097; VI 6, 145a 16 ff.: 281; Soph. el. 34, 183b7: 233; Phys. I/II: 28818; II 1, 192b13 f.: 288; II 1, 193b8 ff.: 288; II 1, 193a12 ff.: 289; II 2, 194a21: 289; II 3: 259, 289; II 6, 197 b5: 28410; II 7, 198a26 f.: 288; II 8, 199a15 f.: 289; III 1, 201a10: 310; III 5, 204b7: 32120; III 5, 206a25: 32120; III 7, 207 b7 ff.: 336; III 8, 208a14 ff.: 263; IV 11, 219b2: 310, 32523; 333; IV 14, 223a21 ff.: 333, 3347; V 1, 224b10: 31512; V 2, 225b33 ff.: 31816; V 5, 229b10: 31512; VIII 1, 251a8–28:

310; VIII 1, 251b14: 310; VIII 10, 266a24 ff.: 31917; Cael. I 10, 279b12: 308; I 10, 280a11 ff.: 3098; III 7, 306a16; De gen. et corr. II 5, 332b30 ff.: 31715; De an. II 1: 1216; II 5: 1216; III 8, 432a1: 291; Met. I 6, 987 b1 ff.: 223; II 1, 981b26: 282; V 1, 1025b19 ff.: 288; V 1, 1025b21 ff.: 288; V 2: 259; V 11, 1018b9 ff.: 31614; VI 4, 1027 b28 ff.: 263; VI 1, 1025b18 ff.: 28614; VI 1, 1025b22 ff.: 281; VII 7–9: 28818; VII 8, 1033b5: 31512; VIII 3, 1043b14: 31512; VIII 5, 1044b2: 31512; IX: 1216; IX 2, 1046b3: 281; IX 6, 1048b18–34: 283; IX 8, 1050a23 ff.: 283; IX 10, 1051b7 ff.: 263; IX 10, 1051b17 ff.: 31513; XI 7, 1063b 36 ff.: 281; XII 3, 1069b35: 31512; XII 7, 1072b29: 324; XIII 4, 1078b27 ff.: 223; EN I 1, 1094a6 ff.: 285; I 1, 1095a5 ff.: 301; I 2, 1095a14 ff.: 28410; I 11, 1100a13: 28410; II 2, 1103b26 ff.: 301; II 3, 1105a26 ff.: 283; V 10, 1134b18 ff.: 28717; VI 2, 1139b1 ff.: 283, 284; VI 4, 1140a1–23: 283; VI 4, 1140a3: 2814; VI 4, 1140a13 f.: 288; X 6, 1176b1 ff.: 28410; X 10, 1179a33 ff.: 301; MM I 34, 1197a3 ff.: 283, 284; Pol. I 4: 285; I 4, 1254a4 ff.: 284; I 5, 1277 b34 ff.: 285; Poet.: 282 f.; 26, 1462a10 ff.: 30134 Aristotelismus  303, 325+24 Augustinus 32523 Conf. XI passim: 32523 Bacon  179, 208

Register Bellarmino  189 f., 195 Bentham 173 Binding 166 Boëthius 324 Bohr 20111 Bradley  103, 104 de Buffon  206 Burkert 163 Carnap  90, 130 Cassirer 1885 Chargaff  162, 215 Chevalier 432 Cicero 1419 de Condillac  197 Damon 234 Descartes  148, 179, 190 f., 195, 202, 210, 34119, 41212 , 42825, 433, 446 Œuvres (Adam/Tannery) II 380: 190 f.; Principia Philosophiae III 44: 195 Dilthey  84, 90, 20111 Diogenes Laertius  2814 Ebbinghaus 177 Einstein  177, 217 Enfantin 432 Engels 439 epikurisch 392 Erlanger Programm (Schule)  3 ff., 14 Euklid 194 Feyerabend 208 Fichte  365, 366, 372 f., 374, 376, 377, 381 f., 38339, 391, 411, 428, 436 f. WW I 97: 381 f. Fleck 208 Foscarini 1896 Freirechtschule 356 Gadamer  452, 455 Galilei  179, 188 f., 190 f., 201 Gans 432 Gigon  222 f.+3 Goethe  63, 39163, 430 Haeckel 176 Hegel  101, 103, 113, 299, 3041, 368, 371, 3748, 37612 , 37818, 38755, 390 f., 394 ff., 403–413, 414–429, 432, 434, 436 ff., 439 f., 441 f., 444 f., 446



469

XIX 10: 304; 35: 304; 40: 304; 53: 304 WW (Jub.–Ausg.) I 44 ff.: 412, 38755; I 47: 412; I 56: 41315; I 187: 412; II 68: 413; II 81: 405; II 81–84: 405–410; II 83: 404 f.; II 84: 4085; II 88: 4085; II 86 f.: 410; II 90: 41211; VII 35: 445; XIX 553: 438; – L XIII/ XI 21: 422 f.; L 18/XI 40: 429; L 22/ XI 43: 415; L 22/XI 44: 414; L22/ XI 44: 415; L 30/XI 49: 4177; L 35/ XI 52: 416; L 36/ XI 52: 417 f.; L 36/ XI 52: 418; L 37/XI 53: 41810; – WW (‚Freundesausg.‘) III 13: 426; III 21 f.: 42113; III 60: 41911; III 73: 42417; V 51 f.: 41912; V 59: 42113; VI 43: 42621; VI 50: 42621; VI 165: 428; VI 166: 427; VI 408: 425; XIII 33: 42621; XIII 73: 42621 Hegelianer  432, 442 Heidegger 12310, 28923, 298, 452 SZ § 31: 12310 Heine  395, 430–447 WW (Elster) I 5: 433; I 313: 44235; I 314: 44235; I 497; I 485: 432; II 170 f.: 44235; II 351: 44235; III 435: 437; IV 48 f.: 434; IV 154: 443; IV 155 f., 435: IV 157: 444; IV 158: 434; 432; IV 163: 438; IV 164: 440; IV 194: 434; IV 246: 435; IV 248: 44235; IV 259: 435; IV 264: 437; IV 281 f.: 435; IV 262: 44235; IV 287 f.: 435, 439; IV 288: 44235; IV 293: 438; IV 305 f.: 433; V 18: 439; V 240: 434; V 292 f.: 44235; VI 22 f.: 433; VI 40: 440; VI 41: 433; VI 46: 439; VI 47 f.: 432, 433; VI 53: 444; VI 54: 433; VI 57 f.: 434; VI 68 f.: 431; VI 315: 439; VI 408 f.: 439; VI 411: 439; VI 531 f.: 433; VI 533 f.: 440; VI 534 f.: 433; VI 535: 434, 439; VII 47: 444; VII 281 f.: 436; VII 294 ff.: 443; VII 461: 431; VII 509: 436 Heraklit  101, 221 Herakliteer 221 Hesiod 246 Hobbes 163 Hoche 166 Hölderlin 371 Homer 246 Hufeland 163 Hume 446

470

Anhänge

Huxley 158 Hypatia 305 Jacobi  378, 434 Jaspers 222 Jenaer Romantikerkreis  398 Joannes Philoponus  305 ff., 312–324 De aet. mundi: 306; in Phys. 428,14 ff.: 32120; 429,10: 32120; 456,6 ff.: 32120; 468,4: 32120 Justinian 32524 Kant  21, 38 f., 44, 45, 83 f., 101, 12916, 137, 140 f., 143, 145, 146, 148, 153 f., 15616, 178, 179, 218, 301, 326 f., 345–363, 367 ff., 375, 377, 378, 387, 391, 39265, 411, 433, 434, 435, 436 f., 438, 441, 446, 451 B XI f.: 153; B XIII: 154; A 130/B 169: 356; A 132/B 171 ff.: 137, 351; A 133/B 172: 138, 353, 358; A 133/ B 173: 349; A 134/B 173: 138, 350, 355; A 141/B 180: 138; A 183/B 226: 145; A 315/B 372: 355; B 436 f.: 32625; B 454: 326; B 539: 32625; B 866 f.: 445; IV 255: 83 f.; IV 434 f.: 129; V 21: 145; V 67 ff.: 138; V 169: 138, 145, 356; V 179: 351; V 180 f.: 156; V 199: 145; V 232: 146; V 293 f.: 138; V 246: 156; V 390 ff.: 156; V 411: 138; V 275: 145; V 355: 355; V 384: 145, 301; V 423: 139; V 426: 139; V 428: 139; V 431: 139; V 433: 139; V 137: 139; V 179 f.: 140; V 237: 140; V 288: 140; V 401: 145; V 411: 145; VI 205: 348; VI 230: 345; VI 297 ff.: 358; VI 328: 355; VI 411: 361; VI 431: 360; VII 22: 357; VII 23: 358; VII 24: 358; VII 25: 358, 362; VII 33: 362; VII 199: 355; VIII 275: 348, 352; XXIV: 643: 84; R 196: 358; R 216: 145; R 430: 350, 357, 361, 362; R 432: 357; R 444: 356; R 687: 145; R 926: 148; R 1597: 145; R 1675: 145; R 2173: 145; R 5237: 355 Kapp 453 Kepler  179, 187 Kirchenväter  304, 445 Kirkegaard 446 Kopernikus  179, 185 ff., 197

Kopernikaner  186 f. Kopernikanismus  188, 190, 195 Kuhn  107, 208 Laches (Dialogfigur)  226, 228, 230 ff., 235, 237 f., 240 Lakatos 208 Laplace  199 f. Leibniz  179, 192 f., 202, 433, 446 Nouv. Ess. IV,12,6: 192 f. Lessing 436 Levinas 163 Lichtenberg  182–185, 193, 196, 203 f. Locke  119, 192, 433, 446 Löwith 453 Lorenzen 3 Louis Philippe I.  437 Ludwig (König von Bayern)  44235 Luther  434, 436 Lysimachos  228, 238 Marx  293, 439, 444, 446 Marxismus 439 Meister Eckhart  101 Melesias 228 de Méré (Gombaud)  202 Mersenne 190 Monistenbund 176 Montesquieu 217 Napoleon  200, 436, 437 Neomarxismus, Neomarxisten  25 Neuplatonismus, neuplatonisch  304, 315, 324 Newton  180, 199 f., 202, 215 Nietzsche 446 Nikias (Dialogfigur)  226, 228, 231 f., 235, 240 Novalis 38339 Oetinger 39576 Origines 304 Osiander  186 f., 189, 195, 201 Pariser Nominalistenschule  201 Parmenides 428 Pascal  202, 203, 446 Petrus Ramus  1419 Philoponus  s. Joannes Pfaff 39983 Platon  35, 89, 92, 101, 110, 111,

Register ­ 21–241, 244, 245, 248, 249, 250, 2 252, 254, 255, 279, 280, 2814, 285, 286, 296, 304 ff., 308, 310, 316, 317, 32423, 411, 441, 453, 354 Apol. 22c f.: 285; Lach. 178a: 238; 178a–189c: 227; 179c: 228, 238; 179e f.: 239; 180c: 235; 180d: 234; 181a f.: 230; 181c f.: 239; 182c: 239; 184c: 228, 239; 185d f.: 228, 231; 186c: 235; 186d: 238; 187e f.: 226; 188a: 231; 188c f.: 240; 188e: 240; 189a: 238; 189c–201c: 228; 189e f.: 239; 190b f.: 228, 229, 234; 190c: 235, 237; 190d: 228; 190e: 230, 238; 191a f.: 230, 235; 191e f.: 230, 231, 238; 192a f.: 233; 192b: 230, 231; 192c ff.: 231; 193b: 239; 193e: 240; 194a f.: 230, 237, 238, 240; 194c: 232; 194d: 231; 194e f.: 231, 235, 239; 195a: 238; 195b ff.: 240; 196a: 238; 196b f.: 232, 238; 196c ff.: 232; 197a ff: 231, 232; 197c: 238; 197d: 234; 197e f.: 234, 237; 198b ff.: 234, 236; 198e: 226; 199a ff.: 232; 199c f.: 234; 199e: 232, 235; 200a: 233, 234; 200e: 235; 201a: 232, 234, 237; Men. 71b: 229; 75c–d: 41110; Phaidr. 274b ff.: 236; 274c ff.: 296; Pol. 306a ff.: 234; Rep.: 305; 351c: 255; 368c f.: 256; 377a: 246; 377d: 246; 389b ff.: 244; 392b: 246; 413c ff.: 250; 429c ff.: 234; 458e ff.: 247; 472c ff.: 255; 510b ff.: 111; 531e ff.: 111; Symp. 195e: 236; Ep. II, 314c: 223; VII, 324d ff.: 221; Tim. 305 f., 310; 37b: 323, 32423, 32523 Platoniker, -in  305, 411 Platonismus  238, 241 Plotin  101, 304, 32421 Enn. III,7,3: 32421 Popper  208, 221, 299 Proclus  306, 32524 Pythagoreer 221 Robespierre  436, 437 Rousseau 217 Rosenzweig 371 Russell 103 de Saint-Simon  432, 435 Schallmeyer  431, 432

471

Schelling  101, 365–402, 4096, 411, 42417, 428, 435, 437, 44235 WW (K. F.A. Schelling) I 73 f.: 38550; I 92: 3749; I 152: 40084; I 158: 39264; I 159: 3736; I 163: 375; I 166: 374; I 167: 375; I 168: 38034; I 179: 38034; I 180: 378; I 181: 378; I 183: 377; I 200: 377; I 204: 38034; I 206 f.: 38034; I 210: 38034; I 216: 378, 380; I 280: 393; I 285: 378; I 306 ff.: 385; I 308: 374; I 318: 377; I 319: 378; I 321: 377+14; I 324: 377, 378; I 326: 378; I 332: 378; I 339: 393; I 340 f.: 39476; I 341: 385, 388; I 352: 385; I 353: 393; I 359 f.: 38552; I 370 ff.: 382; I 383 ff.: 381; I 388: 40084; I 391: 379; I 392 f.: 382; I 401: 379; I 417 f.: 384 45, 385, 39476; I 418: 393; I 443: 378; I 450: 38034; I 463: 400; I 482: 39370; II 6: 398 f.; II 11: 384; II 12 ff.: 385; II 13 ff.: 383, 38755; II 14: 386, 387; II 15: 383, 386; II 18: 384; II 72 f.: 39476; II 99: 399; II 111 f.: 40086; III 274: 40188; III 276: 399; IV 84: 38757; IV 232: 385; IV 361: 380; IV 362: 378; IV 533 f.: 39980; V 107 ff.: 38858, 40188; V 108: 390; V 109: 383; V 115: 383; V 119: 391; V 272: 394; V 427 f.: 393 f.; V 445: 394; VI 3 ff.: 39265; VI 575 f.: 394; VIII 201: 4096; IX 211: 38757; IX 439 ff.: 400; X 95: 3736; X 99: 3736 Schiller 431 Schöne  182 f., 204 Schopenhauer 430 Schulz 380 Simplicius  305 ff., 312–20, 322–325 in Phys. 1118,1: 312; 1129,29: 312; 1130,5: 312; 1130,7 ff: 312; 1131,9 ff.: 312; 1133,16 ff.: 312; 1140,13 f.: 314; 1141,11: 314; 1142,4 ff.: 314; 1156,34: 312; 1157,4 ff.: 315; 1158,29 ff.: 32422; 1159,14: 323; 1160,4: 316; 1160,10: 312; 1161,21 ff.: 324; 1162,6: 312, 317; 1162,12 ff.: 317; 1163,2: 32423; 1164,7 ff.: 317; 1165,16: 323; 1166,22: 320; 1171,30 ff.: 317; 1173,30 ff.: 31511; 1174,24: 320; 1177,25: 31511; 1177,29: 326; 1178,9 ff.: 317; 1179,27 ff.: 318;

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Anhänge

1179,28: 312; 1179,29: 320; 1181,13: 322; 1326,38 ff.: 31917; 1329,5: 32017; 1363,9: 32018 Smith 298 Sokrates  110, 111, 221–241, 242, 245, 247, 251, 254, 285, 411 Specht 99 de Spinoza  377, 378, 433, 446 Spinozismus 3748, 376 de Staël  433 Stoa, stoisch  60, 265 Stoiker 1419 Strauss 238 Synesios 305 Tarski 272 Thales 267 Thomas v. Aquino  325, 328–341 De inst.: 333; c.1: 334, 335, 336, 338; c.4: 339; c.5: 34018; De pot. 3,19: 33916; in Phys. IV,23,5: 3347;

IV,23,13: 3346; Quodl. 1,3,2: 3323; 9,4,4: 3369; I Sent. 24,1,1: 33611; 37,3,1: 3301,2; 33916; S. Th. I,9,2: 34018; I,10,5: 34018; I,30,3: 33713; I,46,3: 3345; I,50,3: 33714; I,52,2: 33916; I,53: 330; I,53,1: 331; I,53,2: 332; I,53,3: 33917; I,61,2: 3358 Thukydides 177 Voigt 39163 Vorsokratiker 445 von Weizsäcker  453 Whitehead  103, 221 Wiener Kreis  151 Wolff 433 Xenophon 223 Zenon von Elea  101

II. Sachen Absolutes, absolut:  104; 307, 373 ff., 376, 379 ff., 383, 388, 390, 397; 404, 4053, 411, 412 f., 416 f., 419 f., 423 f., 425 f., 429, 434; vgl. Unbedingtes Adiaphora: 60 Allgemeines, Allgemeinheit:  15, 18, 31 ff., 39 f., 140, 223, 230 f., 236, 254, 347 ff., 351, 356 f., 407, 409 f., 412 Alternative:  6, 9 ff., 17, 44, 49 ff., 76 f., 86, 92, 158, 169, 184, 225, 231, 252, 263 f., 271, 274 f., 323, 380, 414, 454 Analogie:  5, 36, 73, 108, 13219, 245, 252, 290, 298 f., 335, 340, 405 Anfang:  7, 117, 131, 267, 304 f., ­308–311, 313 f., 317 f., 322, 324 ff., 325 f., 427, 428 f. Anschauung, anschaulich:  105, 1371, 142, 156, 328 f., 332, 334 f., 338 f., 341, 375, 383 Aporie, Aporetik:  3, 30 ff., 35 f., 40, 46 ff., 51 ff., 108, 110, 145 f. 148, 177, 228, 232 ff., 366 Applikation, Anwendung:  15 ff., 19, 28, 35–42, 47, 49, 55, 56, 69, 113, 127,

131, 13320, 145, 149 f., 347, 349, 351 f., 355, 359, 361 f., 369, 403 Applikationsaporie:  31–40, 41, 48 Artefakt, artifiziell:  34, 65, 155 f., 281, 283, 286–296, 298–30134 Aufbau:  3 ff., 13, 21 ff., 43, 50, 63, 74, 83, 113, 152, 180, 184 f., 204 f., 211, 243, 250, 266 f., 338, 399, 422; vgl. Aufhebung (b. Hegel):  386 f., 389 f.; vgl. Entzweiung Aufklärung, Aufklärer:  179–183, 185, 188+5, 192, 192, 195 f., 198 f., 206, 208–218, 293, 432, 435 Ausnahme:  17 f., 37 f., 43, 61, 93, 163, 165, 203, 238, 245, 251, 271, 285, 293, 300, 305, 317, 361 f., 359–362 Authentizität, authentisch:  145, 149, 197, 211, 239 Bedürfnis (b. Schelling):  383, 387, 395, 402 Begriff:  34, 39, 105–113, 123, 127+13, 128–131, 142, 144, 149–154, 156, 201+11, 279 f., 289 f., 303, 327, 374 f., 377, 383, 407, 419+12 , 422, 425, 434

Register Beobachtung:  182, 186, 196 f., 200 f., 206; vgl. Berechnung; Experiment Bewegung:  187, 199 f., 202, 255, 278, 28614, 287–290, 306–311, 313–31917, 322, 328–338, 340, 416 421 Beweislast:  117 f. Bewusstsein:  120, 125 f., 132, 167, 234, 242 ff., 249, 253, 256, 374, 376, 379 ff., 381 ff., 383, 38550, 390, 404, 406, 408–413, 422, 434 Bioethik:  117, 122, 126, 161–178 Bivalenz, wahrheitsdifferent:  86, 92, 97, 142, 175, 244, 263 Christentum, christlich:  103, 185 f., 303–308, 320 f., 324 f., 390 f., 434 Dauer, aevum:  34018 Definition, -sfrage, Was-(ist-X)-Frage, Wesensfrage:  110, 223, 228 ff., 232, 408 f., 425 dezisionistisch, arbiträr:  10, 17, 20, 39, 124, 131, 133 f., 144, 150, 167, 171 Dialektik, dialektisch, Dialektiker: ​ 100 f., 103–106, 108 f., 110–113, 309, 314, 404 f., 409+6, 410 das Dialektische:  113, 42417 Dialog, Gespräch:  6 f., 25 f., 109 f. 110 f.,   221 f., 224 ff., 228 f. Dichterkritik (Plat. Rep.):  246 Disposition:  111, 113, 123, 129 f., 281; dispositionelle Potentialität s. Potentialität; vgl. Moralfähigkeit eidetisch vs. prozessual:  322 f.; vgl. Kreis Einzelfall:  7, 17, 32 f., 36 f., 39 ff., 49, 62, 69–72, 74, 76, 116, 123, 139, 269, 346 ff., 350 ff., 356–359, 361, 363 endlicher Geist (b. Hegel):  422 f., 424 f. Engel (Definition):  329 Engelsbewegung:  330 ff. Engelzeit: 333–340 Entdeckung:  158 f. Entscheidung:  9 ff., 17–21, 24, 28 f., 33, 36, 39, 41, 47, 49, 53, 56, 58, 60, 65, 69, 71, 73–77, 79, 116, 124, 131, 133 f., 144 ff., 150, 155, 158 f., 164, 168–171, 174, 177 f., 242, 252, 262, 275, 325, 350, 358 ff., 417

473

Entscheidungstheorie:  74 f. Entwicklungsgeschichte, Entstehung: ​ 87, 90, 366 f., 373, 381, 404 Entzweiung (b. Schelling, Hegel):  283, 386 ff., 389 ff., 393, 397, 401, 412 Erfahrung:  57, 97, 128, 1371, 182, 184 f., 189, 195 f., 199, 204, 260, 279, 328, 341, 375 f., 383, 388, 397, 39980, 400 f.+88, 404 f., 409 f., 411 Ethik:  27, 42, 59 f., 120, 125 f., 12713, 139, 162 f., 165, 170, 172–175, 223, 284 f., 290, 345 f., 371, 375, 440 Evolution:  174 ff. Ewigkeit der Welt:  304–311, 312 ff., 314 ff., 32119 Ewigkeitsbegriff:  323 f. Exhaustion:  38 f., 361, 416 f., 420 Existenzphilosophie: 78 Experiment:  13, 182, 183, 185, 191, 196 f., 200, 204 f., 206 f., 209, 399; vgl. Beobachtung; Hypothese Fähigkeit, Fertigkeit:  6, 18, 67, 70, 77 f., 111, 113, 122, 125, 128 f., 130, 13218, 135, 175, 180, 217, 226, 236, 353 ff.; vgl. Kompetenz Fetisch:  293; vgl. Artefakt Flussmetapher:  324 f. 23 Frage, Frage- und Antwortstruktur:  94, 205 ff., 110, 222, 228, 233, 239, 241, 408 f. Französische Revolution:  39163, 392, 395, 436 ff., 439 Freiheit:  23, 25 f., 45, 55, 123, 153, 214 f., 283 f., 294, 345, 349, 369, 371 f., 384–387, 389 ff., 393, 397, 399, 452; vgl. Wissenschaftsfreiheit Funktionalausdruck:  280, 426 Funktionsbegriff:  103, 295 Gebrauch, Umgang, umgehen mit:  3 f., 95, 105, 109 ff., 111, 112 f., 236 f., 239, 296, 452 Gebrauchswissen:  113, 240, 286, 290, 296, 364 Gefahr, Risiko:  31, 54, 60, 72, 75–78, 126, 144 146, 150, 163 f., 169 f., 177, 189, 193, 214 f., 218, 266, 274 f., 358, 362 Gegenständlichkeit, vergegenständ­ lichen, Verdinglichung, verdinglichen: ​

474

Anhänge

74, 87–90, 96, 236 f., 255, 280, 322 f., 366, 370, 374, 417 f., 431 gemeine Menschenverstand:  137 f., 145, 356, 412 f., vgl. Urteilskraft; Vernunft generatio ex nihilo:  309, 314 f. Gerechtigkeit:  150, 172 Gesagtes vs. Gemeintes:  237 f., 409 f. Geschichtsphilosophie:  299, 393 f. Geschmack, -surteil:  21, 137, 140 f., 354 Gesetzlichkeit, -mäßigkeit:  57, 61 f., 69, 77, 79, 80, 203, 255, 273; vgl. Regelmäßigkeit Gott, göttlich:  60, 103, 200, 246, 251, 252, 274 f., 289, 304, 307, 314, 316 f., 320, 323 f., 334, 335, 367–370, 375, 379, 394, 422, 429, 434 f. Güterabwägung:  123, 169 ff., 172 f. Handeln:  4–13, 18–24, 26, 28–33, 35 f., 39–47, 49–53, 55–61, 68 f., 79, 116 f., 129 f., 137, 145, 156, 159, 165, 172, 174, 181, 212, 215, 229, 242 ff., 252 f., 255, 264, 266, 269, 275, 281–287, 301 f., 346, 348, 357, 370, 440 f., 443, 454 Handlung:  3, 5 ff., 9, 11–16, 19–22, 31, 33 f., 41 f., 44–47, 49 ff., 55, 57–60, 68 f., 75, 117, 127, 128, 172 ff., 210, 212, 231, 244, 266, 270, 283, 360, 374, 378 Handlungsfolge:  9, 58 f., 68 f., 79, 171 ff., 359 f. Handlungsschema:  8, 10, 14 ff., 19, 21 f., 230 Hochzeitsfeste (Plat. Rep.):  247–250, 252 Horizontverschmelzung: 110 Hypothese, Voraussetzung:  10, 91 f., 155, 183 ff., 203 ff.; vgl. Experiment, Konjunktiv ich:  67, 381 f. Ich:  376, 380 4, 382, 397, 407, 4085, 410, 428 Idealismus:  367, 371, 373, 395, 401, 432 f., 436 f. 438 f., 441, 444, 446, 453 Identifizierung, Identifikation:  64–70, 80, 451, 453 Identität:  15, 64, 66, 68, 78 ff., 1194, 120, 125, 135, 167, 434

Impetustheorie:  307, 322 Individuum:  47–56, 57–80, 177, 243, 251, 292, 297 f., 337, 440 f. Information, Kenntnis:  138, 149, 227, 240, 296 f., 353, 354 Institution:  14, 17, 39, 40, 46, 47 ff., 50 f., 51, 52, 54 f., 55 f., 68 Institutionsaporie: 46–55 intellektuale/-elle Anschauung:  377 ff., 386, 397, 428 Intentionalität, intentional:  87 ff., 96 f., 231 f., 366 f., 417 Intuition (des Engels):  335 inventio vs. iudicium:  1419 Jetzt (nyn):  311, 315 f., 319 Jurisprudenz, Rechtswissenschaft:  28, 36, 137, 139, 143 f., 145, 150, 269, 347, 349, 356 Kasuistik, kasuistisch:  35 f., 38 f., 139+6, 359 ff. Kategorie (b. Hegel):  414 f., 420 f., 422 f., 425 ff., 429 Kausal-, Ursachenbegriff:  141, 258 f., 262 f.+5, 274 Kausalrelation:  258–262, 264, 274 Know-that vs. Know-how:  353 Kompetenz:  18, 53, 88, 113, 122, 131, 143, 155, 161, 174 ff., 211 f., 217, 235, 237, 239 f., 270, 286 f., 353, 361 Konjunktiv, konjunktivisch:  182 f., 184, 193, 204; vgl. Experiment; Hypothese Konsequentialismus:  125 f., 171 ff.; vgl. Utilitarismus konstruktiv, Konstruktivität:  3 f. Kontinuum:  65, 260, 328–332, ­335–341; vgl. Engelzeit; -sbewegung Kontingenz:  8, 32, 57–80, 228, 248 f. Kontingenzbedürfnis: 57, 80, 249 Kontingenzbewältigung: 57, 60, 79, 249 Kontingenzerfahrung, -bewusstsein:  57, 60, 76, 79, 248 f. Kontingenzreduktion: 59, 69 f., 78, 80, 248 f. Kreis, -lauf:  319, 322 f., 400, 443 Kreisbewegung:  278, 311, 313, 333 Kronprinzenargument: 119 Lebensphilosophie: 85

Register Lebensrecht:  117 f., 124, 125, 162, 163 f., 166–171, 176 Lebenswelt:  4, 49 f., 57, 60 f., 63, 67, 12713, 155, 173, 181, 202 f., 209, 212, 214 f., 217, 285, 289–295, 298–303, 345, 396 Legalität:  345 f.; vgl. Moralität Letztbegründung:  3, 192, 195, 404 Liberalismus: 439 Linie  322 f.; vgl. Kreis Logik:  6, 37, 65, 100–103, 105 ff., 109, 117, 147, 195, 230, 270 f., 276, 326, 351; b. Hegel 404, 414–429; 452 das Logische:  422, 42417, 428 Lüge, Täuschung:  244–254; b. Kant ​ 38 f., 359 ff. Maß, messen:  148 f., 204, 207, 334+5, 337–340; vgl. Quantifikation Mathematik:  63, 72, 97, 106, 111, 153, 175, 189, 194, 196 f., 202 ff., 206 f., 279, 400, 42113 Mechanik:  255, 258, 265, 268, 272, 275, 329 Medizin:  28, 137, 139, 164, 170, 245, 267, 269, 347, 454, 455 Meinung:  236, 279 Menschenrechte, „Recht der Menschheit“:  119 f., 131 f., 167, 168, 173, 174, 176, 213, 295, 345, 362 f. Menschenwürde:  115, 123 f., 129+16, 131 f., 165, 167, 174 Metallmythos (Plat. Rep.):  251 ff. Methode:  186, 191–195, 287, 374+9, 403 Mittelbegriff (als Ursache):  259 ff.+3 Moralfähigkeit:  128–135, 176 f. Moralität:  (125), 129+16, 132 f., 170, 174, 345 f., 369 f., 373; vgl. Legalität; Menschenwürde Motivation:  43, 48, 345 f. Motivationsaporie: 41–46 Name:  64, 67 f. Natur:  60, 66, 12713, 129, 137, 141, 154, 15616, 190 f., 195, 199, 206 f., 248, 252, 275, 287–292, 294, 297, 299, 301 f., 314, 366, 381–389, 391 f., 394 f., 397–402. 422, 42417, 439 Naturphilosophie (b. Schelling):  365 ff., 372, 381 ff., 387 f., 390, 397 ff.

475

Naturrecht:  213, 28717, 358, 39060 Naturwissenschaft:  196, 202, 207, 267, 278, 307, 365, 397 ff., 401 Norm, Normierung, normativ:  4, 7 ff., 11, 13–20, 22, 24, 29–51, 53, 55 f., 74, 116, 120, 123 ff., 127–134, 137 ff., 142, 145, 156, 161, 163, 165 f., 168, 170–177, 210, 212 f., 243–248, 255, 282, 285, 346–353, 355–363 Notwendigkeit:  263 ff., 273 Person, personal:  58 f., 63 ff., 67 f., 70 ff., 77 ff., 80, 103, 113, 119 f., 125, 13523, 145 f., 149 f., 167 f., 212, 215, 240, 283 f., 297 f. 347 Philosophie: Schulbegriff vs. Weltbegriff 445 f.; als Tätigkeit 241, 384 f., 386 Philosophiegeschichte:  82–86, 90–93, 95, 101, 222 f., 278, 306, 356 f., 396, 4108, 427 f., 430–433, 435 f., 438, 440, 443–446, 453 Pietismus: 378 Poiesis, Herstellen:  VI, 6, 155 f., 204, 209 f., 214, 217, 280–287, 290–296, 299–302 Politik, politisch:  5, 45, 87, 123, 161, 165, 169, 213 f., 217, 227, 238, 244 f., 247 f., 252 f., 255, 279, 284 f., 349, 390–396, 402, 436–443, 446 f., 453 Popularphilosophie, populär:  212, 314, 435, 440, 446 Postulat der praktischen Vernunft: ​ 367 ff. Potentialität:  121 ff., 130 ff., 134 f. Potentialitätsargument: 115–135 praktische Philosophie, Philosophia practica:  4 f. 13, 20, 23 ff., 27–33, 35, 41 f., 61, 249, 282, 285, 287, 28717, 300 f. 368 f. 386 praktischer Syllogismus:  42 praktische Vernunft:  26, 29–31, 33 f., 40–56, 212 f., 367–370, 435 praktische Wirklichkeit (b. Schelling): ​ 370 ff., 375 f. praktische Wissenschaft:  14, 27 f., 137, 139, 145 f., 152, 269 f., 282, 284, 286, 301 f., 347 f.; vgl. Jurisprudenz, Medizin Prinzipien:  3, 16, 18, 27, 30, 33, 39, 49, 51, 53, 54, 139, 165, 190 ff., 195,

476

Anhänge

258, 282 f., 285 ff., 289 f., 300 f., 314, 348, 352, 373 f.+9, 387, 400, 411, 428 Prognose, prognostisch:  150, 258, 261, 262 ff., 266–276; vgl. Zukunft propositionale Strukturen:  105, 175, 239 ff., 286 f., 290, 353 Quantifizierung:  124, 148 f., 150 f., 157, 207 Raumtheorie:  307, 322 Realismus:  407 f. Realkontext (plat. Dialog):  227 f. Rechenschaft geben, Rechtfertigung: ​ 110, 226 f.; 242 Recht:  47, 50–54, 58 ff., 125, 133, 150, 161 f., 164, 168, 174, 177, 245, 28717, 295, 345 f., 348 f., 357 f., 361 ff., 39060 Rechtsphilosophie:  345–348, 359, 361, 363 Reflexion: 3, 5, 18, 22 ff., 32 f., 53 f., 88, 91, 94, 140, 148, 197, 205, 218, 228, 234, 300, 310, 328, 341, 373 f., 376 f., 381–385, 387–390, 397 f., 401, 407 ff., 411 f., 414 f., 418, 420–424, 426 f., 429, 431 Reformation:  433 f., 438 Regelmäßigkeit:  57, 69 ff., 79, 203, 267, 273, 300 Reich Gottes:  392 f. Rekonstruktion, rekonstruieren:  3, 5, 51, 94, 1371, 222, 225, 241, 414, 421, 422 Relation:  66, 101–112, 258, 300 Relativismus:  173 f. Religion:  60 f., 213, 389–392, 433 f. Revolution:  293, 392, 433, 438 ff., 443 Schläferargument:  120, 167 Schriftkritik:  236 f., 296 Sein-Sollen-Fehlschluss:  125, 127+13, 128, 13422 , 173 Selbstbewusstsein: 128+15, 240, 242 ff., 253 f., 254, 378, 381 f., 383, 385, 387, 390, 402 Selbstbeziehung, Selbstbezug:  227, 242, 256 Selbstdeutung, -verständnis:  10 f., 57, 197 f., 237, 243, 274, 275, 406, 408, 436, 437, 442

Selbsterkenntnis:  256 f. Selbstidentifikation:  67 f., 70 f., 78 ff. Selbstständigkeit, selbständig:  66, 102, 104, 123, 140, 242, 283, 291, 295, 299 f., 310, 334, 370 Selbsttäuschung:  11, 43, 46, 54, 57, 85, 241, 243, 253, 254, 256, 275, 408 Situation:  9–18, 22, 25, 31–35, 41 f., 47, 54 ff., 58, 76, 78, 145, 150, 153, 227 f., 348 ff. Skepsis:  82, 382, 398, 401 f., 413, 453 sokratisches Nichtwissen:  234–237 Sophist, Sophistik:  221, 28717, 288, 411 spekulativ:  371, 386, 38855, 397–403, 412, 416 ff., 41912 , 424 Spezies:  132 ff., 168 Spiel:  11 f., 34, 50, 62, 73, 80, 140, 202 f., 408 f., 410 Spielhandlung: 11–14, 20, 34, 50 Spielregel:  8, 11 f., 50, 55, 360 Sprache:  409 f., 42113, 423 f., 426 f., 423 f. Staat, Verfassung:  38, 53, 163, 171, 173, 213 f., 243–256, 390, 298, 394, 391, 39577 Statistik, statistisch:  69–72, 74–79; vgl. personal Stochastik:  61 f., 69 f.; vgl. Probabilistik Subjektivitätsphilosophie:  366, 381, 396, 411 f. Substanz:  101 f., 295 Subsum(p)tion:  15 f., 18 f., 24, 32–42, 49, 127, 140, 142 f., 145, 346–352, 359, 363 f. Supranaturalismus:  368, 391 Syllogismus, Syllogistik:  V, VI, 106, 116 f., 259–262 Tapferkeit:  226, 228–235, 237, 240 Technik, technisch:  22 f., 44, 129, 208 ff., 240, 298 tertium non datur:  271, 326 f. Text:  83, 86–98, 197, 282, 366 f. Transzendentalphilosophie:  137, 366, 368, 381 f. 391 Tugend:  162, 228, 234 Unbedingtes:  194; (b. Schelling) ­373–377, 379 f., 382, 386; vgl. Absolutes unbewegter Beweger:  259, 311

Register Unendlichkeit, Unendliches, Unbe­ grenztes:  16, 63, 259, 306, 310 f., 318–323, 326 f., 333, 394 unendlicher Regress:  37, 107, 127, 311, 318, 319, 351 f. Unteilbares, Unteilbarkeit:  73, 165, 315, 329, 3323, 338 ff.; vgl. Kontinuum Urteil:  15, 19, 36, 42, 142, 144, 149, 150 Urteilskraft:  18–21, 23 f., 40, 54, 127, 136–160, 348–359, 361, 363 f.; ästhetische 354; bestimmende 140, 351; „bloß“ reflektierende 140, 351, 359; Domänen der 138–141; Mangel an 153, 353 f.; Merkmale der ­142–146; transzendentale 1371 Urvertrag:  51 f. Utilitarismus:  171 ff., 176; vgl. Konsequentialismus Utopie:  55 f., 158, 209, 389–393, 395+77, 444 Verantwortung:  10, 68 f., 171, 212, Verantwortungssethik:  171 f., 360 Vernunft vs. Verstand (b. Kant):  355 f. Vierursachenschema:  258 f., 289 f. Vorverständnis:  230 f., 375 Wahrheit:  81 f., 85 f., 90 ff., 97 ff., 171, 175, 187, 189, 192, 195, 201, 239 f., 240, 242, 245 f., 248, 250, 252, 263 ff., 271 ff., 303, 371, 374, 404 f., 406 f., 409, 41211, 413, 41911, 453 f.; semantische Konzeption der  262 f., 272 f. spekulative  417, 41912 , 424 Wahrheitsanspruch:  4, 82, 84 ff., 184, 186, 187, 189, 190, 194, 198, 365, 413, 423, 426, 446; des philos. Textes  87, 90, 92 ff., 366, 423

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Wahrheitsfähigkeit: 82, 85 ff., 90, 108, 171, 232 Wahrheitsfrage:  85 f., 90, 93 f., 325, 404 Wahrheitshypothese, sub ratione veri­ tatis:  92 f., 98 Wahrheitswert:  264 f., 272 ff., 406 Wahrscheinlichkeit, -srechnung, Probabilistik:  61 f., 71–76, 202 f. Wenn-Dann-Satz:  108, 193 f., 204 Widerspruch:  62, 100, 121, 135, 203, 232, 311, 313, 325, 362, 368, 376, 383, 416 f.+7 Widerstandsrecht:  52 f., 345 Wissenschaftsfreiheit:  170 f., 215 Wissenschaftstheorie:  4, 13, 92, 97, 129 f., 136, 146, 151, 152, 157, 185, 196, 197, 200, 207, 214, 259, 268, 269, 275, 347, 401 wissenswert, -würdig: 216, 233, 235 Zahl:  310, 315, 317, 318, 32120, 32423, 333, 335–338 Zeit, zeitliche Strukturen:  9–15, 30, 52, 68, 81 f., 85 ff., 89 f., 120, 125, 135, 145, 165, 167, 173, 226, 258 ff., 263, 265, 268 ff., 276, 304–311, 312–326, 328, 332–340, 355, 365 f. 377, 395, 405, 455; vgl. Situation; Kausalrelation; Prognose; Engelzeit Zufall:  61 f., 69 ff., 203, 247, 248, 253, 258, 267, 273, 300 Zukunft, zukünftig:  9, 58, 71, 73, 76, 122, 125, 259, 262 ff., 266, 268, 271, 274 ff.; vgl. Prognose Zuschreibung:  115, 118, 121, 124 f., 127, 132 f., 174 Zweck, teleologisch, teleonom:  6, 23, 43, 141, 283 ff.+10, 289 f., 347 f., 360, 443