Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Das Strahlen im Zeichen triumphalen Unheils [1. ed.] 9783896659286, 9783896659293

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Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Das Strahlen im Zeichen triumphalen Unheils [1. ed.]
 9783896659286, 9783896659293

Table of contents :
Cover
Einleitung: Verwickelte Linien – Die philosophischen Konstellationen am Beginn des 20. Jahrhunderts
I. Der Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert: Eine Silvesternacht, philosophiehistorisch
II. Schnitte: Abenteuer einer Silvesternacht
Erster Teil: Philosophisches Erbe – Wiedergewinnung und Destruktion
I. Philosophie des Lebens und der Geisteswissenschaften: Wilhelm Dilthey zwischen Nietzsche und Hegel
1. Ausdruck und Fluktuanz
2. Konstellationen – Husserl und Dilthey
3. Nietzsche im Hintergrund
II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl
1. Charakteristik
2. Husserls Anfänge
3. Psychologismukritik und ‚Logische Untersuchungen‘
4. Das Projekt der ‚Ideen‘
5. Philosophie als „strenge Wissenschaft“ und Selbstbesinnung
6. Leiblichkeit und inneres Zeitbewusstsein
7. Das Ich als „Residuum in der Weltvernichtung“ und das Ideal einer geeinten Menschheit
8. Phänomenologie als Haltung und als Erfüllung der Philosophie
Exkurs Nicolai Hartmann
III. Neukantianismus: Epistemologie und erneuerte Metaphysik der Metaphysik: Natorp, Windelband, Rickert
1. Landschaft aus dem Rückblick Ernst Cassirer und der Neukantianismus
1. Der Philosoph im bürgerlichen Zeitalter
2. Symbolische Formen und Weltorientierung
3. Kunst: Die symbolische Leerstelle
4. Technik: Diesseits des „Gestells“
5. Der Mythos des Staates
2. Neukantianische Profile
1. Hermann Cohen: Neukantianismus als Projekt – Reine Erkenntnislehre und Logik und das Vermächtnis einer ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‘
2. Paul Natorp: Philosophische Systematik als Frage nach dem Absoluten
3. Der südwestdeutsche Neukantianismus (Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert)
IV. Der Denkweg Martin Heidegger und seine Wegstrecken
1. Heidegger-Topologien
2. Holzwege: Anzeige einer Aporie
V. Anders als Sein geschieht. Konstellationen der Existenz jenseits des Seinsdenkens
1. Jaspers
2. Hannah Arendt: mehr als ein Exkurs
3. Heidegger-Jaspers: Das Antipodenverhältnis noch einmal
4. Anthropologie, Metaphysik und Fundamentalontologie: Max Scheler
5. „Vertauschte Fronten“, Jüdisches Antidotum oder: Gestörte Zeitgenossenschaft? Bemerkungen zu Franz Rosenzweig
Zweiter Teil: Analysis und die logische Form der Welt
I. Freges Neubegründung der Logik
II. Basissätze. Oder die Geschichtlichkeit der analytischen Philosophie
1. Russell und die Husserlsche Phänomenologie: Indirekte Annäherungen
1. Russells Denkansatz
2. Zum Philosophiebegriff des Logischen Atomismus
3. Umbau und Gehalt der Philosophie nach Russell
4. Der Ort der Psychologie: Neutraler Monismus
5. Psychologie und Moral
6. Russell und Husserl noch einmal: Für eine selbstbegrenzte und moralisch sensible Aufklärung
2. Wittgensteins Welten
1. Das andere „Zu den Sachen selbst“
2. Sagen, was der Fall ist
3. Bedeutung und Lebensform. Wie meinst Du das?
4. Das tief geheimisvolle Ich
5. Kontuinuitäten und die Grenzen der Sprache
6. Wittgensteins Fermata
III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik
1. Zeichenhandeln und -denken: Ch. S. Peirce
2. Whiteheads kosmologischer Monismus
3. Platons Chorá und Whiteheads Begriff des extensiven Kontinuums
4. Die zweifache Wahrheit: Whiteheads Konzept der Proposition und die Wahrheitstheorien der Kohärenz und Korrespondenz
5. Die Bestimmungen des Lebens und des Bewußtseins
6. Gottes Gedanken in der Schöpfung und die zwei Naturen Gottes
Dritter Teil: Zwischenwelten Max Weber und Sigmund Freud, oder: Ob Philosophie an ihr Ende gekommen ist
I. Max Weber und die Conditio moderna
1. Die strenge Wissenschaft von Geschichte und Gesellschaft
2. Idealtypen
3. Die Okzidentale Rationalität als Sonderweg
4. Askese und Eros
II. Sigmund Freud und das „innere Afrika“
1. Zwischen Hypnosetechnik und psychoanalytischem Imperativ
2. Psychoanalyse als eine spezifische Form der Hermeneutik des Gesprächs
3. Archäologie und Topologie der Seele
4. Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Freuds portatives Vaterland
5. Jenseits des Lustprinzips: Der Todestrieb
Vierter Teil: Philosophie nach 1945 – Abbrüche und Kontinuitäten – Brückenschlagen über Ströme, die vergehen
I. Messianität und Neomarxismus: Jüdisches Denken zwischen den Zeiten
1. Ernst Bloch: Die philosophische Prophetie des messianischen Zeitalters
1. Mangel und „unendliche Fahrt“
2. Eschatologie und Chiliasmus
3. Kunst als die „eigentlich metaphysische Tätigkeit“: Die Stimmung des ‚Geist der Utopie‘
4. System als Kaleidoskop: ‚Prinzip Hoffnung‘ und späte Gedanken
5. Tradition und Utopie
2. Georg Lukács: Naphta im 20. Jahrhundert
3. Messianität und Welterlösung, Revolution und Theologie: Walter Benjamin
1. Diametrale Freundschaften
2. Aisthetica
3. Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und die Aura
4. Passagen-Werke und -Wege
5. Geschichtsphilosophie und Dialektik im Stillstand
4. Theodor W. Adorno: Das richtige Leben im falschen:
1. Jenseits des „Projekts Aufklärung“
2. Dialektik und Negativität
3. Kunst als Methexis am Absoluten
4. Kritische Theorie der Gesellschaft im Kontext
II. Karl R. Popper und der Kritische Rationalismus
1. Wissenschafts- und Erkenntnistheorie
2. Politische Philosophie: Zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft
3. Welt 3 – Kritisch-rationale Rekonstruktionen der Metaphysik
4. Was bleibt? Poppersche Erbschaften
III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich
1. Sartre und Camus: Eine Jahrhundert-Konstellation
2. Merleau-Ponty: Die Opazität und Medialität des Leibes
3. Jean-François Lyotard: Differenz zwischen Archipelen
4. Foucault: Parrhesia, in Diskurse verstrickt
5. Lévinas: Lehre als Gespräch oder: Der Andere als die Sache selbst
6. Derrida: Jenseits der Differenz von Metaphysik und Nicht-Metaphysik
1. Grammatik, Stimme, Idee
2. Differenz-Bedeutungen
3. Derridas spätes Denken: Recht und Politik
4. Die Gabe und die Verzeihung
5. Religion
6. Gadamer und Derrida: Späte Gespräche
IV. Nach dem Nullpunkt: Philosophische Konstellationen in Deutschland nach 1945
1. Umformungen der Phänomenologie
2. Nach Heidegger
3. Die skeptische Generation und ihre Traditionen
V. Politische Philosophie im 20. Jahrhundert: Die Antike und die Wiedergewinnung von Vernunft aus der Geschichte
1. Eric Voegelins Weltgeschichtliche Betrachtungen
2. Hannah Arendt und das Phänomen der Natalität
3. Leo Strauss und die Kunst des differenzierten Schreibens im Angesicht der Zensur
VI. Seismogramme und philosophischer Diskurs der Moderne: Jürgen Habermas
1. Strukturwandel und Öffentlichkeit
2. Debatten, Positionen, Begriffe: Was Jürgen Habermas am meisten interessiert
VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg
1. Der „unsichtbare Philosoph“: Anekdote und Metapher
2. Schreibprozesse
3. Geschichtliche Phänomenologie und Distanz
4. Humanität der Umständlichkeit
5. Realität aus dem Abstand
6. Blumenberg und Heidegger
VIII. Transformationen: Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
1. Pragmatistischer Kontext
2. Quine: Sprachnetze
3. Davidson: Sprache, Wahrheit, Geist
4. Hilary Putnam: interner Realismus
5. Nelson Goodman (1906−1998): Die dynamische Erzeugung der Welt
6. Stanley Cavell (1926−2018): Skepsis und Tragödie
1. Claims of Reason
2. Gründungsakte
3. Melancholie und Zweifel
4. Gebrochene Treue, neuer Bund: „Remarriage“
5. Cinema-Philosophy
7. Robert Brandom: Gedankenlinien
Ausblick: Sinnlinien in die Philosophie im 21. Jahrhundert
Kleiner autobiographischer Epilog
Register
Personen 1100
Sachen1101

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Harald Seubert

Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts Das Strahlen im Zeichen triumphalen Unheils

ACADEMIA

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89665-928-6 (Print) ISBN 978-3-89665-929-3 (ePDF)

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1. Auflage 2021 © Academia – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2021. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Besuchen Sie uns im Internet academia-verlag.de

Für Kristina Schippling Erinnerte Zukunft, antizipierte Gegenwart, Präsenz des Vergangenen

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Philosophisches Erbe – Wiedergewinnung und Destruktion

31

I. Philosophie des Lebens und der Geisteswissenschaften: Wilhelm Dilthey zwischen Nietzsche und Hegel

33

1. Ausdruck und Fluktuanz

33

2. Konstellationen – Husserl und Dilthey

37

3. Nietzsche im Hintergrund

39

II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

43

1. Charakteristik

43

2. Husserls Anfänge

46

3. Psychologismukritik und ‚Logische Untersuchungen‘

47

4. Das Projekt der ‚Ideen‘

52

5. Philosophie als „strenge Wissenschaft“ und Selbstbesinnung

57

6. Leiblichkeit und inneres Zeitbewusstsein

59

7. Das Ich als „Residuum in der Weltvernichtung“ und das Ideal einer geeinten Menschheit

65

8. Phänomenologie als Haltung und als Erfüllung der Philosophie

67

Exkurs Nicolai Hartmann

70

III. Neukantianismus: Epistemologie und erneuerte Metaphysik der Metaphysik: Natorp, Windelband, Rickert 1. Landschaft aus dem Rückblick Ernst Cassirer und der Neukantianismus 1. Der Philosoph im bürgerlichen Zeitalter 2. Symbolische Formen und Weltorientierung 3. Kunst: Die symbolische Leerstelle 4. Technik: Diesseits des „Gestells“ 5. Der Mythos des Staates

73 73 73 78 84 86 88

7

Inhaltsverzeichnis

2. Neukantianische Profile 1. Hermann Cohen: Neukantianismus als Projekt – Reine Erkenntnislehre und Logik und das Vermächtnis einer ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‘ 2. Paul Natorp: Philosophische Systematik als Frage nach dem Absoluten 3. Der südwestdeutsche Neukantianismus (Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert) IV. Der Denkweg Martin Heidegger und seine Wegstrecken

89 96 99 103

1. Heidegger-Topologien

103

2. Holzwege: Anzeige einer Aporie

118

V. Anders als Sein geschieht. Konstellationen der Existenz jenseits des Seinsdenkens

125

1. Jaspers

125

2. Hannah Arendt: mehr als ein Exkurs

144

3. Heidegger-Jaspers: Das Antipodenverhältnis noch einmal

147

4. Anthropologie, Metaphysik und Fundamentalontologie: Max Scheler

149

5. „Vertauschte Fronten“, Jüdisches Antidotum oder: Gestörte Zeitgenossenschaft? Bemerkungen zu Franz Rosenzweig

157

Zweiter Teil: Analysis und die logische Form der Welt I. Freges Neubegründung der Logik II. Basissätze. Oder die Geschichtlichkeit der analytischen Philosophie 1. Russell und die Husserlsche Phänomenologie: Indirekte Annäherungen 1. Russells Denkansatz 2. Zum Philosophiebegriff des Logischen Atomismus 3. Umbau und Gehalt der Philosophie nach Russell 4. Der Ort der Psychologie: Neutraler Monismus 5. Psychologie und Moral 6. Russell und Husserl noch einmal: Für eine selbstbegrenzte und moralisch sensible Aufklärung

8

89

165 167 171 171 171 173 175 178 181 185

Inhaltsverzeichnis

2. Wittgensteins Welten 1. Das andere „Zu den Sachen selbst“ 2. Sagen, was der Fall ist 3. Bedeutung und Lebensform. Wie meinst Du das? 4. Das tief geheimisvolle Ich 5. Kontuinuitäten und die Grenzen der Sprache 6. Wittgensteins Fermata III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik

187 187 191 193 196 199 204 205

1. Zeichenhandeln und -denken: Ch. S. Peirce

205

2. Whiteheads kosmologischer Monismus

208

3. Platons Chorá und Whiteheads Begriff des extensiven Kontinuums

213

4. Die zweifache Wahrheit: Whiteheads Konzept der Proposition und die Wahrheitstheorien der Kohärenz und Korrespondenz

215

5. Die Bestimmungen des Lebens und des Bewußtseins

215

6. Gottes Gedanken in der Schöpfung und die zwei Naturen Gottes

216

Dritter Teil: Zwischenwelten Max Weber und Sigmund Freud, oder: Ob Philosophie an ihr Ende gekommen ist

219

I. Max Weber und die Conditio moderna

221

1. Die strenge Wissenschaft von Geschichte und Gesellschaft

221

2. Idealtypen

225

3. Die Okzidentale Rationalität als Sonderweg

226

4. Askese und Eros

229

II. Sigmund Freud und das „innere Afrika“

233

1. Zwischen Hypnosetechnik und psychoanalytischem Imperativ

233

2. Psychoanalyse als eine spezifische Form der Hermeneutik des Gesprächs

235

3. Archäologie und Topologie der Seele

236

4. Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Freuds portatives Vaterland

240

5. Jenseits des Lustprinzips: Der Todestrieb

241

9

Inhaltsverzeichnis

Vierter Teil: Philosophie nach 1945 – Abbrüche und Kontinuitäten – Brückenschlagen über Ströme, die vergehen I. Messianität und Neomarxismus: Jüdisches Denken zwischen den Zeiten 1. Ernst Bloch: Die philosophische Prophetie des messianischen Zeitalters 1. Mangel und „unendliche Fahrt“ 2. Eschatologie und Chiliasmus 3. Kunst als die „eigentlich metaphysische Tätigkeit“: Die Stimmung des ‚Geist der Utopie‘ 4. System als Kaleidoskop: ‚Prinzip Hoffnung‘ und späte Gedanken 5. Tradition und Utopie 2. Georg Lukács: Naphta im 20. Jahrhundert 3. Messianität und Welterlösung, Revolution und Theologie: Walter Benjamin 1. Diametrale Freundschaften 2. Aisthetica 3. Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und die Aura 4. Passagen-Werke und -Wege 5. Geschichtsphilosophie und Dialektik im Stillstand 4. Theodor W. Adorno: Das richtige Leben im falschen: 1. Jenseits des „Projekts Aufklärung“ 2. Dialektik und Negativität 3. Kunst als Methexis am Absoluten 4. Kritische Theorie der Gesellschaft im Kontext II. Karl R. Popper und der Kritische Rationalismus

245 247 247 248 253 255 256 258 259 266 268 269 274 277 279 283 283 288 293 296 303

1. Wissenschafts- und Erkenntnistheorie

305

2. Politische Philosophie: Zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft

312

3. Welt 3 – Kritisch-rationale Rekonstruktionen der Metaphysik

318

4. Was bleibt? Poppersche Erbschaften

322

III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

325

1. Sartre und Camus: Eine Jahrhundert-Konstellation

325

10

Inhaltsverzeichnis

2. Merleau-Ponty: Die Opazität und Medialität des Leibes

329

3. Jean-François Lyotard: Differenz zwischen Archipelen

332

4. Foucault: Parrhesia, in Diskurse verstrickt

338

5. Lévinas: Lehre als Gespräch oder: Der Andere als die Sache selbst

344

6. Derrida: Jenseits der Differenz von Metaphysik und NichtMetaphysik 1. Grammatik, Stimme, Idee 2. Differenz-Bedeutungen 3. Derridas spätes Denken: Recht und Politik 4. Die Gabe und die Verzeihung 5. Religion 6. Gadamer und Derrida: Späte Gespräche

346 346 349 350 353 354 354

IV. Nach dem Nullpunkt: Philosophische Konstellationen in Deutschland nach 1945

365

1. Umformungen der Phänomenologie

365

2. Nach Heidegger

368

3. Die skeptische Generation und ihre Traditionen

369

V. Politische Philosophie im 20. Jahrhundert: Die Antike und die Wiedergewinnung von Vernunft aus der Geschichte

381

1. Eric Voegelins Weltgeschichtliche Betrachtungen

381

2. Hannah Arendt und das Phänomen der Natalität

383

3. Leo Strauss und die Kunst des differenzierten Schreibens im Angesicht der Zensur

404

VI. Seismogramme und philosophischer Diskurs der Moderne: Jürgen Habermas

407

1. Strukturwandel und Öffentlichkeit

407

2. Debatten, Positionen, Begriffe: Was Jürgen Habermas am meisten interessiert

412

VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

433

1. Der „unsichtbare Philosoph“: Anekdote und Metapher

433

2. Schreibprozesse

438

3. Geschichtliche Phänomenologie und Distanz

438

11

Inhaltsverzeichnis

4. Humanität der Umständlichkeit

441

5. Realität aus dem Abstand

442

6. Blumenberg und Heidegger

443

VIII. Transformationen: Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

449

1. Pragmatistischer Kontext

450

2. Quine: Sprachnetze

453

3. Davidson: Sprache, Wahrheit, Geist

455

4. Hilary Putnam: interner Realismus

458

5. Nelson Goodman (1906−1998): Die dynamische Erzeugung der Welt

460

6. Stanley Cavell (1926−2018): Skepsis und Tragödie 1. Claims of Reason 2. Gründungsakte 3. Melancholie und Zweifel 4. Gebrochene Treue, neuer Bund: „Remarriage“ 5. Cinema-Philosophy

461 462 465 468 470 472

7. Robert Brandom: Gedankenlinien

474

Ausblick: Sinnlinien in die Philosophie im 21. Jahrhundert

477

Kleiner autobiographischer Epilog

489

Register

493

Personen Sachen

12

493 497

© Matthias Lutzeyer, ohne Titel, Eisenoxydschwarz und Rußschwarz und Leinöl auf Holz und Stahlgitter, 57x60 cm, 6-teilig, 2020. Foto: Frank Paul Kistner

13

Vorbemerkung

Dieses Buch geht auf eine Vorlesung zurück, die ich zuerst im WS 2004/05 an meiner Habilitationsuniversität, der Alma mater in Halle gehalten habe. In München, Bamberg, Basel habe ich in den Folgejahren die Grundgedanken der Vorlesung ganz oder in Teilen wiederholt. Manches ist gestrafft, aktualisiert, geschärft und anderes erweitert worden. Manche neuen Elemente kamen hinzu, vor allem im Bereich der sogenannten analytischen Philosophie. An der Druckfassung habe ich seit Sommer 2020 intensiv gearbeitet, viele Partien neu geschrieben oder umgestaltet. Eine solche Darstellung nimmt notwendigerweise eine bestimmte Perspektive ein, auch wenn sie sich um Gerechtigkeit und Abwägung bemühen sollte. Ich versuche, aus der Reflexion der Denkformen, die mich am stärksten beeinflusst haben und im antiken Denken, der klassischen deutschen Philosophie seit Kant und schließlich der Philosophie der Moderne, ausgehend von Nietzsche, diese Tour d’horizon zu beschreiten. Damit verbindet sich eine Faszinationsgeschichte (K. Heinrich), die für mich von dem jüngst vergangenen, in vielen Zügen noch gegenwärtigen Denken ausgeht. Systematisch soll die Denkbewegung des vergangenen Jahrhunderts vor der Frage nach der Metaphysik, ihren Krisen und Transformationen, als ein Bewegungszusammenhang transparent gemacht werden, an dem heutiges Denken nicht vorbeikommt. Mitunter erlaube ich mir, Hörerinnen und Hörer anzureden, um den Vorlesungsgestus in der Buchform zu bewahren. Die Zitate sind teilweise ausführlicher gehalten als in meinen anderen Büchern, weil die eigene Stimme der Autoren unerlässlich ist. Philosophischem Denken soll man ein wenig zusehen können, denn nicht nur das Was oder Wie macht sein Timbre, ja seine Aura aus. Antiauratisch zu sein, war nicht immer eine philosophische Tugend. Philosophie in ihrer Geschichtlichkeit ist nicht nur mehr, sondern ganz anderes als bloße Doxographie.1

1 Dies lernte ich vor allem von Werner Beierwaltes und Stephan Otto, zwei Philosophen gleichen Jahrgangs 1931 und gänzlich unterschiedlicher Grundorientierung: Während Beierwaltes: Denken des Einen, Frankfurt/Main 1985 und in vielen anderen seiner Bücher, lebenslang an einer Übertragung der Denkgeschichte des Platonismus in Probleme der Moderne, vor allem die Evokation mit der klassischen deutschen Philosophie und der Konfrontation mit Heidegger, interessiert war, versuchte Otto eine „blaupausige Konfrontation. S. Otto, Rekonstruktion der Geschichte Band II. München 1992. Die beiden Münchner Ordinarien waren in concreto weit voneinander entfernt, doch sie verfolgten, wie man aus der Rückschau sehen kann, eine ähnliche Grundfrage.

15

Vorbemerkung

Ich bin von der Philosophie in diesem Jahrhundert der Unvernunft und der Schrecken dauerhaft fasziniert, von den Neuaufbrüchen und dem Mut, in einem szientistischen und ideologischen Zeitalter philosophischem Denken sein Recht zu geben; auch von der Art, wie die großen Inventionen von Literatur und Kunst philosophische Resonanz finden, teilweise auch den Taktschlag vorgaben. Die Faszination möchte ich weitergeben, um Sachlichkeit bemüht und in dem Versuch, den vergangenen und teils hoch aktuellen Stimmen in ihrer Verschiedenheit gerecht zu werden, sie also gerade nicht aus einem fixierten Konzept heraus abzuurteilen. Die verschlungenen Denkbewegungen lassen sich nicht leicht auf eine Formel bringen.2 Sie verlaufen eher labyrinthisch als linear: Eine vertiefte Annäherung an den Grund von Sein und Selbst, die Verfahrensweisen der Archäologie und der Destruktion führen aber in den besten Fällen zu einer „Aufklärung, die in die Tiefen steigt“ (Th. Mann). Die Randgänge der akademischen Philosophie werden mitunter wichtiger als der akademische Diskurs. Tiefenpsychologie, Soziologie, Gesellschaftstheorie kreuzen den Weg der Philosophie und verändern sie ihrerseits. Geschieben ist dieses Buch „cum ira et studio“, nicht mit dem handbuchartigen Anspruch auf Vollständigkeit, welcher sich ohnehin nicht erfüllen lässt, wohl aber in der Absicht, das aus meiner Sicht Erinnernswerte, Markante, auch in rettender Kritik, deutlich zu machen. Daher werden Proportionen tariert, Querverbindungen hergestellt. Die historischen Verwicklungen, der „Verrat der Denker am Geist“, begegnen auf diesem Weg immer wieder.3 Oftmals senden dieselben Persönlichkeiten unterschiedliche Signale aus. Man kann dies an Martin Heidegger auf der einen und an Georg Lukács oder Ernst Bloch auf der anderen Seite sehen. Ob man aus der Geschichte lernen, das 21. Jahrhundert die Fehlgänge des 20. korrigieren kann, ist eine Frage, die ins Offene weist, unentschieden bleibt und diesen Versuch mitbestimmt. Die Denkgeschichte des 20. Jahrhunderts bringt Belastendes und Belastetes, auch Schändliches zutage. Der „Verrat“ und die „Komplizenschaft“ sind unverkennbar. Doch der Ideenhistoriker und systematisch Mitdenkende ist nicht das Weltgericht. Ich jedenfalls bin es nicht.4 Dieses Denken birgt auch große Ressourcen, prominente, weniger prominente

2 Vgl. E. Hobsbawm, Zeitalter der Extreme. Weltgeschcihte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 5 ff., siehe auch ders. Zwischenwelten und Übergangszeiten, Interventionen und Wortmeldungen, Köln 2009. 3 Vgl. P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes. 1680–1715. Aus dem Französischen übertragen von H. Wegener, Hamburg 1939 u.ö., siehe auch M. Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert. 4 Bände. Hamburg 1956 ff. 4 ÄhnlicherTenor bei Hans Blumenberg, Gespräch mit einem unbekannten Teilnehmer des Rothacker-Kreises. Der Blumenberg-Biograph Rüdiger Zill vermutet im Contrepart Jürgen Habermas. R. Zill, Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020, S. 249 f., S. 265 ff.

16

Vorbemerkung

und vergessene. Rettende Kritik (W. Benjamin) ist deshalb eine nahliegende Maxime. Wie weit die Kritik, wie weit die Rettung geht, ist im Einzelnen eine komplexe Frage an die Urteilskraft. Dass moralische und denkerische Erstrangigkeit oftmals im Konflikt stehen, ist ein Skandalon, aber es ist nicht zu ändern. Hans Jonas diskutierte diese Asymmetrie im vergleichenden Blick auf Martin Heidegger und den Kantinterpreten Julius Ebbinghaus, der offen eingestand, Kant habe ihn vor der nazistischen Verfehlung bewahrt.5 Linien werden herauspräpariert und führen am Ende zu einem komplexen, negativ dialektischen „fabula docet“, eher des Sinnes, was aus der Denkgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht vergessen werden darf. Die Gliederung setzt drei Grundlinien des Denkens im 20. Jahrhundert an. Eine erste (I. Teil), hat das große Verdienst, nach der Wahrheit und der Sache selbst zu fragen, Wahrheitsgeltung von der Genesis von Denk- und Fühlakten abzusetzen. Edmund Husserl und der Neukantianismus sind hier unschätzbare Wege gegangen, an die Heidegger oder Jaspers anschließen konnten. Die phänomenologisch-hermeneutischen Linien und die axiomatisch-analytischen überkreuzen sich in der ersten Jahrhunderthälfte bereits vielfach. Dennoch werden sie getrennt behandelt. Die Keimzellen der heute weit entfernten „kontinentalen“, alteuropäischen und der „analytischen“ Philosophie (II. Teil) liegen bei Frege und Wittgenstein. Mehr und expliziter als in anderen Epochen hat die Philosophie der Moderne mit Welten zu tun, die nicht nur in den Einflussbereich der Philosophie gehören: mit der Gesellschaft und der menschlichen Seele. Von Max Weber und Sigmund Freud muss deshalb zumindest exemplarisch die Rede sein (III.Teil); auch wenn sie nur wie große Archipele aus einer ganzen Landschaft der Gesellschaftstheorie und tiefenanalytischen Seelenlehre aufragen. Jene Philosophie, die sich in Kritischer Theorie der eigenen Zeit aussetzte, die das Risiko des unmittelbar Politischen einging, gehört unmittelbar in diese Fluchtlinie. Das Schwergewicht und die formierenden Leistungen liegen m.E. in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Das Denken musste sich nach 1945 aus einem Weltalter der Unvernunft erst allmählich wieder auf die Vernunftwege bringen. Damit verbanden sich Defätismus und arbiträre Ansätze. Dennoch sind auch die Denkbewegungen der zweiten Jahrhunderthälfte sehr bedeutsam (IV. Teil). Vereinzelten Remigrationen wie der Kritischen Theorie kommt dabei hohe Bedeutung zu. Die Inzitamente, die stark von deutschsprachigen Denkern gelegt wurden, strahlten zurück. Ich schließe mit einer skizzierten Fluchtlinie ins 21. Jahrhundert; einem Ausblick, der die Diagnose eines Status quo mit Erwartungen verbindet. Philosophisches Denken wird sich im Zeitalter einer nie geahnten Vernetzung und Verflechtung selbst verändern. Es wird

5 H. Jonas, Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rahel Salamander, Frankfurt/Main, Leipzig 2003, S. 240 ff.

17

Vorbemerkung

auf manche Gewissheiten und Konventionen verzichten und dennoch wird es weiter aus den alteuropäischen Quellen lernen können und ins Offene gehen. Jedenfalls dann, wenn es am Weltbegriff der Philosophie festhalten und weiter etwas zu sagen haben will. Deutlich erkennbar ist sicher, dass der Verfasser stärker von den Tendenzen einer „kontinentalen“ Tradition von Phänomenologie, Hermeneutik, Ideengeschichte und philosophischem Kritizismus als einer analytischen geprägt ist. Ich habe aber zunehmend die fein ziselierten Argumentationsanalysen der analytischen Traditionen schätzen gelernt, dort, wo sie keinem reduktionistischen Dogma folgen und Fragen nicht vorschnell zu Scheinfragen erklären. Beide Linien in ihrer statutarischen Gegenüberstellung zu belassen, bedeutet ohnehin eine Abstraktion. Es kommt, meine ich, vielmehr darauf an, sie in einen Gesprächszusammenhang zu bringen. Die Sache der Philosophie reicht über Schulbildungen immer hinaus. So wird man dem Buch auch anmerken, dass es sich ständig im Spannungsfeld zwischen Schul- und Weltbegriff der Philosophie bewegt. Der Weltbegriff, das, was nach Kant notwendig jedermann interessiert, ist das Telos philosophischen Nachdenkens, das nicht verliert, sondern nur gewinnen kann, es auch von existentiellen Fragen mibestimmt ist. Dies kann man anders sehen. Man sollte aber das eröffnete Blickfeld nicht leichtfertig verengen, wie es in mangelnder Ambiguitätstoleranz und sich in ihre Hallräume verhakender Stimmen zunehmend üblich geworden ist. Eine unphilosophische Haltung wäre dies in jedem Fall.6 * Die Erinnerung geht zurück und ruft Hörerinnen und Hörer aus der Vergangenheit auf, die teils zu Freunden und Freundinnen wurden: intensive symphilosophische Wegkreuzungen, die manchmal bis heute andauern, teils sich verloren haben, in beidseitigen Enttäuschungen oder in den Achtlosigkeiten des Alltags. Erst im Rückblick erkennt man, wie viel in der Zeit gemeinsamen Denkens liegt und was sie für das eigene Leben bedeutet. Die Widmung geht über all das hinaus: in eine geistig-seelische Tiefenbegegnung, wie man sie sehr selten im Leben haben mag, und das nur, wenn man sehr viel Glück hat.7 *

6 Zur Ambiguitätstoleranz vgl. Th. Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018, S. 7 ff. 7 Dazu auch das gemeinsame Buch: K. Schippling und H.Seubert, Bewusstseinssprung. Basel, Berlin 2021.

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Vorbemerkung

Auf Kristinas Anregung geht auch die Wahl des Untertitels zurück, in Anspielung auf die Sequenz am Beginn der ‚Dialektik der Aufklärung‘ von Horkheimer und Adorno. Jenes Diktum besagt, dass die vollends aufgeklärte Erde „im Zeichen triumphalen Unheils strahlen“ werde:8 Von tiefer Ambivalenz durchzogen ist das Sinnbild des Strahlens. Es kann an die finale nukleare Strahlung in einem tödlichen Desaster denken lassen, das in der bipolaren Konstellation des Kalten Krieges als Bedrohung ständig nahelag, aber auch in der heutigen fragilen Weltunordnung nach wie vor latent bleibt. Angezeigt sein könnte auch ein weniger denn je selbstverständlicher Aufschein von Schönheit und phänomenaler Wahrheit, der sich im Zeichen der Dialektik der Aufklärung einstellt, im Licht einer instrumentellen Vernunft, die jederzeit in jenes Unheil umschlägt. Dieser Titel thematisiert die Bruchlinien des Denkens im Zeichen der Moderne, das an seine eigenen Grenzen geht und nicht einfach als „Philosophischer Diskurs der Moderne“ zu situieren ist. Der zunächst anvisierte Untertitel „Aufklärung aus der Tiefe“ beschreibt im Anklang an Thomas Manns Rede zum 80.Geburtstag Sigmund Freuds9 und seine Josephs-Romane die Tiefensemantik einer angesichts der Moderneerfahrung transformierten Vernünftigkeit. * Die Zusammenarbeit mit Academia/Nomos, mit Dr. Martin Reichinger und Dr. Steffen Burk, war wieder eine reine Freude. Für Hilfe bei Redigation und Literaturhinweise danke ich Frau Dr. Manuela Massa (Lüneburg, Neapel, Okoyama), meinen Assistenten Herrn Dr. Thomas Dürst (Basel) und Frau Dina Rubner (Basel) sehr herzlich. Mein Nürnberger Sekretariat mit Arlinda Merdani (Nürnberg), über die Nehemiah-Gateway Stiftung, trägt die täglichen Notwendigkeiten in liebenswerter Weise. Auch der Stiftung und ihrem Vorstand gilt mein großer Dank für ihre Großzügigkeit. HS

Basel, Amrum, Nürnberg im Hochsommer 2021

8 Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1969, S. 7. 9 Th. Mann, Freud und die Zukunft (1936), in: Ders., Reden und Aufsätze, Band 1, Werke Band IX, Frankfurt/Main 1990, S. 478−502.

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Einleitung: Verwickelte Linien – Die philosophischen Konstellationen am Beginn des 20. Jahrhunderts

I. Der Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert: Eine Silvesternacht, philosophiehistorisch 1. Der Titel Philosophie des 20. Jahrhunderts soll eine Differenz anzeigen. Würde diese Differenz nicht mitgedacht, so würde suggeriert, dass Zeitgeschichte und Gedanke einander unmittelbar finden und einen Pas de deux tanzen. Das lässt das 20. Jahrhundert aber nicht zu. Seine tektonischen Beben in weltpolitischer und sozialer Hinsicht reichen in die Gegenwart hinein. In seinem Fanatismus, seinen Verhetzungen scheint es ferngerückt. Und vieles, zumal an Geist und Kunst, ist in alle Windrichtungen zerstoben. In KZs und Gulags sind Künstler, Intellektuelle, auch Philosophen ermordet worden. Der Suizid der Höchstbegabten war nicht selten. Unzeitiger Tod, so zeigte Jean Améry,10 verhindert als eine große Ungerechtigkeit, dass ein Werk oder ein Leben das Telos finden, zu dem sie fähig wären. Hermann Kesten, der als Schriftsteller und Emigrant über seine Zeit nachdachte, bestimmte seinen Ort und den anderer Intellektueller mit der Formel „‚Allein im 20. Jahrhundert“.11 Es gibt gute Gründe diese Formel auch für philosophisches Denken selbst zu verwenden. Das 20. Jahrhundert ist ein Jahrhundert des Verrats der Intellektuellen gewesen (Margret Boveri) – ihrer selbst-gewollten, selbst-gewählten oder mehr oder minder unbewussten Verstrickung, aus Opportunismus und verhexter Vernunft. Gerade Philosophen neigten dazu. Eine besonders signifikante Inkunabel ist Heideggers Illusion, „den Führer“ (philosophisch) „führen“ zu können, die noch lange in antisemitischen Rankunen fortwirkt. Signifikant sind auch Brechts oder Ernst Blochs Stalin-Enthusiasmus, die Selbstopferung bürgerlicher Denker auf dem Opferstein der Agitation, die je unterschiedlich Walter Benjamin und Georg Lukács vollzogen. Das Golgatha der Individuen, die Rede vom ‚Kalvarienberg des Geistes’ (Hegel) ist wohl nie so akut geworden wie im 20. Jahrhundert. Walter Benjamins ‚Geschichtsphilosophische Thesen’, vor allem These IX, die spekulative Variation zu Paul Klees Gemälde

10 J. Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976. 11 So Hermann Kesten in einem Interview mit Wolfgang Buhl im Studio Franken des Bayrischen Rundfunkts, im Besitz des Verfassers. Ich danke Wolfgang Buhl post mortem für vielfache Gespräche zu Hermann Kesten. Vgl. jetzt auch die kompetente Biographie: A. M. Debrunner, Zuhause im 20. Jahrhundert. Hermann Kesten. Biographie, Zürich 2017.

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Einleitung: Verwickelte Linien

des „Angelus novus“, bringt dies auf eine virtuose Formel: „Der Engel hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“.12 Hegel formulierte mehr als ein Jahrhundert früher eine Überlegung, die sich für das 20. Jahrhundert zu bewahrheiten scheint. Die größten Erfolge könne man „ohne rednerische Übertreibung, bloß mit der richtigen Zusammenstellung des Unglücks[…] zu den furchtbarsten Gemälden erheben und ebenso damit die Empfindung zur tiefsten, ratlosesten Trauer steigern, welcher kein versöhnendes Resultat das Gegengewicht hält“.13 Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst, lehrte derselbe Hegel; und Heidegger antwortet ihm: Philosophie ist nur dann, was sie sein kann, wenn sie die Philosophie ihrer Zeit ist. Nicht unter Absehung von dieser Zeit, nicht unter den Laborbedingungen argumentativer Reinheit ist Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts aufzufassen. Richtig ist aber auch, dass in gewichtigem Denken immer wieder der Punkt erreicht wird, wo sich der Gedanke bewusst aus der Zeitbedingtheit löst – rein rational, überzeitlich, zeitüberlegen wird; wo er, wie Francis Bacon programmatisch sagte, von sich selbst schweigt.14 Solche Überlegungen führen unweigerlich auf die Periodisierung des 20. Jahrhunderts. Sie ist strittig und bleibt nicht ohne Folgen für die Versuche, es zu deuten. Ist es ein kurzes Jahrhundert? Anbrechend mit der Jahrhundertkatastrophe (G. F. Kennan) des Ersten Weltkriegs, dem vorläufigen Niedergang Alteuropas, und endend mit dem Niedergang der beiden welthistorischen Blöcke 1989? Dazwischen der Dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts, wie ihn große Analytiker der Zeit wie Raymond Aron benannten. Und danach? Vielleicht der Anbruch einer Friedenszeit der globalen Ökumene, oder eine neue ökonomisch gesteuerte Gefährdung?

12 W. Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von H. Schweppenhäuser und R. Tiedemann, Frankfurt/Main 1974, S. 697 f. 13 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie-Werkausgabe Band XII, Frankfurt/Main 1970, S. 34 f. 14 Hier nehme ich den berühmten Baconschen Topos auf: „Über uns selbst aber schweigen wir“: „De nobis ipsi silemus“. Einerseits umhüllen sich diejenigen, die so verfahren, in ein scheinbar valides Geheimnis, andererseits zeigen sie, dass die moderne Wissenschaft solche Geheimnisse gerade nicht haben darf.

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I. Der Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert: Eine Silvesternacht, philosophiehistorisch

Oder ist es, politisch historisch gesehen, doch vielmehr ein langes Jahrhundert. Der Beginn würde dann mit der Französischen Revolution ansetzen oder mit den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, als die Kabinettsdiplomatie ihre Bindekraft verlor? Mit dem Jahr 1848, vielleicht dem Hambacher Fest 1832, spätestens mit der Sprengung und mühseligen Neubalancierungen unter Bismarck im Jahr 1870/71. Das Ende könnte ebenfalls offengelassen werden. Der Schatten des 20. Jahrhunderts reicht weit in das 21. hinein. Denn nach 1989 brach nicht das Ende der Geschichte aus (Fukuyama).15 Auch die vielfach gespaltene One World transportiert noch Bestände aus der Vergangenheit, mit denen wir noch immer leben. Man kann auch, wie es etwa Jürgen Habermas tat, die große Zäsur mit dem Jahr 1945 ansetzen. Eine neuartige Welt sei da geboren worden, die europäischen, insbesondere deutschen Sonderwege seien ein für allemal diskreditiert, der westliche Weg, der im Sinn einer „Einbeziehung des Anderen“ zu einer Universalität der Menschenrechte führt, sei unhintergehbar geworden.16 Doch die Universalität ist eben eine kontrafaktische; in den Realitäten sind Brüche und Feindschaften nach wie vor virulent. Deshalb kann man sich fragen, ob die Zerstörung der Humanität wirklich ein für alle Mal beendet ist, wie nahe die Gespenster der Vergangenheit sind. Dennoch bedeutet das Jahr 1945 eine tiefe Zäsur, einen Niedergang der Humanität, an dreierlei sehr verschiedenen Fronten: dem von Deutschland und Deutschen initiierten Massenmord (Auschwitz, die Shoah, die Signatur, die sich aller Vergleichbarkeit entzieht), dem GULAG und den Massenvertreibungen durch Stalins Horden und dem „tödlichen Feuer vom Himmel“ mit dem Abwurf der Atombombe (Hiroshima, Nagasaki); die die Fragilität der Fortexistenz der menschlichen Gattung vor aller Augen demonstrierte.17 2. Wo ist der Ort der Philosophie in diesem Panorama? Der britisch-deutsche Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich formulierte einmal treffend, nur durch ihre große Kunst sei diese Epoche gerechtfertigt, durch Marck und

15 F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte. The End of History, München 1992. Über Fukuyamas weitere Werke äußere ich mich hier nicht. Der Gegenblick auf Hegel und von Hegel her ist jüngst kraftvoll thematisiert worden von J. Kaube, Hegels Welt. Berlin 2020. 16 Zu der Grundfigur: J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1996, S. 7 ff. 17 Dazu mit bis heute bedrängender Klarsichtigkeit G. Picht, Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, 2 Bände Stuttgart 1981. Wegen der vielen Sinnlinien, die bei ihm zusammenlaufen, auch wegen meiner Politikberatungs-Affnität und dem engen Kontakt zu Michael Stürmer, hatte ich als Mitzwanziger über Picht promovieren wollen. Manfred Riedel setzte mich dann mit erfreulicher Insistenz auf das Heidegger-Nietzsche-Thema. Vor der Folie späterer universitärer Planierungen sind beides unzeitgemäße und zugleich in der Existenzialität tief bewegende Themen.

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Einleitung: Verwickelte Linien

Macke, Chagall, Picasso, Schönberg, Alban Berg, die große Literatur aller Kulturnationen. Die Philosophie hat kaum je die Unschuld der großen in sich ruhenden Hervorbringungen. Es spricht sogar für sie, dass sie immer wieder neu aufbricht. Selten erreicht sie die Abgeschlossenheit und Vollkommenheit des Werkes, sie ist eher Prozess und Selbstrevision. Wo sie nicht auf die Höhe des Exemplarischen gelangt, hat sie immer den Charakter der Doxa, der uneingestandenen Meinung, an sich. Meinungen, oder modern gesprochen: Ideologien, stellen die dianoetische, bewegte, denkende Untersuchung und Selbstbefragung still. Mitunter wirkt sich dies auch auf die Philosophen aus.18 In Meinungen verstrickt, wird Philosophie selbst zur „Ideologie“, die im 20. Jahrhundert die Namensunschuld, Lehre von den Ideen zu sein, verloren hat.19 Die Versuchung des Philosophen, auch an der Macht teilzuhaben, ist groß und nachhaltig. Wer war dem im 20. Jahrhundert gewachsen? Ein gründlicher Kantianer wie Ebbinghaus war jedenfalls an Bon Sens und Abwehr der totalitären Ideologie Heideggers klar überlegen. Bemerkenswert ist, dass die Philosophie im 20. Jahrhundert zu neuer eigenständiger Kraft fand. Namen wie Husserl, Heidegger oder Wittgenstein stehen dafür ein. Diese Ambivalenzen werden im Einzelnen zu durchmessen sein. Unstrittig aber ist auch, dass das Jahr 1945 eine tief gehende Zäsur markiert, einen Hiat, wenngleich die großen philosophischen Grundrichtungen davor und danach eine Kontinuität erkennen lassen. Husserls Begründung der Phänomenologie als strenge Wissenschaft und als universale Rekonstruktion der Ersten Philosophie findet Resonanz in Frankreich, und im Umkreis der Phänomenologie des leiblichen Lebens. Hier erwacht eine zweite Generation von Phänomenologen, ausgehend von Merleau-Ponty, in Verschränkungen mit der Psychoanalyse und dem Marxismus, aber auch der Thematik des Anderen und einer tiefen religionsphilosophischen Pointierung von Lévinas bis zu Ricoeur.20 Heideggers weltweite Resonanz hat ihre Zentren vor allem außerhalb Deutschlands. Dort wogen nach 1945 latente und offensichtliche Urteile und Vorurteile stärker. Wittgensteins einsame Erörterungsgänge vom ‚Tractatus’ bis zu den ‚Logischen Untersuchungen‘ finden ihre Resonanz in den großflächigen Strömungen der analytischen Philosophie in den angelsächsischen

18 Platon, Theaitetos 191 d-e. Vgl. H. Seubert, Platon-Anfang-Mitte und Ziel der Philosophie, Freiburg/Br. München 2017, S. 454 ff. 19 Zu Comte vgl. W.Schrader, Das Experiment der Autonomie.Studien zu einer Comte-und Marx-Kritik, Amsterdam 1977. 20 Eine Summe zieht P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer. München 1996, vor allem S. 13 ff.

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I. Der Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert: Eine Silvesternacht, philosophiehistorisch

Traditionen.21 Was daran intentio recta und was inentio obliqua war, ist schwer zu unterscheiden. Selbst Zeittendenzen, die durch nachfolgende historische Entwicklungen destruiert scheinen könnten: weiträumige Debatten des Marxismus oder der jüdischen Stimme in der europäischen Philosophie fanden nach 1945 ihre mehr oder minder überzeugende Fortschreibung und um das Jahr 1968 nochmals einen Höhepunkt, mit nachhallenden Tönen in den sechziger Jahren.22 Man muss sich eine weitere Frage stellen: Wie sehr sind die philosophischen Leistungen eines Zeitalters an einzelne Namen geknüpft? Und wie sehr ruhen sie umgekehrt, ähnlich der künstlerischen und ‚literarischen Evolution’, auf einem breiten Überlieferungsstrom auf, so dass im einzelnen Denken etwas präsent werde, was aus einem weiter gehenden Strom hervortritt. Whiteheads bekannter Ausspruch, dass Philosophie aus einigen Fußnoten zu Platon bestehe, aber auch die immer wieder geäußerte Überlegung, dass Philosophie nicht eigentlich eine lineare Fortschrittsgeschichte kenne, sondern dass es einige wesentliche, immer wiederkehrende Knotenpunkte seien, die sie bestimmen, bleibt an den Genealogien des 20. Jahrhunderts zu überprüfen. Hat Philosophie Geschichte oder hat sie keine? Jene Differenz, die zwischen Hans-Georg Gadamer und Kurt Flasch ausgetragen wurde,23 bleibt methodisch hoch relevant. Es ist die Frage: Ist, was zählt, in einem letztlich nicht durch historische und räumliche Koordinaten bestimmten, freien Raum angesiedelt, oder sind spezifische Daten unverlierbar jenem Denken eingeschrieben, so wie es moderne Kunst und vor allem die Poetik eines Sprechens am Rande des Schweigens, wie in Celans ‚Meridian‘-Rede zu Recht für sich beansprucht?24 Erst der Gedankengang im Ganzen kann auf diese Fragen eine Antwort geben. Dass hier ein ernsthaftes Problem liegt, sei aber schon jetzt thematisiert. Nicht minder liegt ein solches Problem in der Frage des Kanons. Ähnlich wie in der Musik- und Kunstgeschichte, sind es auch in der Philosophiegeschichte (mit einer zunehmenden, nicht unproblematischen Tendenz) wenige, immer schmaler abgegrenzte Partikel, über die im Sinne einer Expertenkultur immer mehr gewusst wird. Auf sie kann man den Fokus richten. Dieselben 21 Vgl. hierzu die für die Topographie hilfreiche, wenn auch keinesfalls ausreichende Darlegung bei Ricoeur, ibid., S., 291 ff. 22 Vgl. dazu G.C. Behrmann, M.Bock u.a. Intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, korrigierte Studienausgabe, Campus, Frankfurt am Main/New York 2000. 23 Dazu K. Flasch, Philosophie hat Geschichte. Band 2: Theorie der Philosophiehistorie. Klostermann, Frankfurt am Main 2005, S. 20 ff. 24 Moderne wird dabei in einem empathischen, nicht auf einen Nenner zu bringenden Sinn verstanden, der gerade bei Celan kulminierte. Diesen Zug hat in der Fülle der Celan-Literatur K. Reichert, Paul Celan. Erinnerungen und Briefe, Frankfurt/Main 2020.

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Einleitung: Verwickelte Linien

Stücke kann man in immer luzideren Einspielungen hören. Jeder wendet sich ihnen zu. Weite Teile der Weltmusik und -literatur aber bleiben ungepflügtes Land, unbetretenes Terrain. Mitunter wird der Anschein erweckt, als sei heutiges philosophisches Denken, das die Debatten bestimmt, auf eine einzige Methode geeicht. Bei aller Klärung, die argumentationsanalytische Untersuchungsformen bringen können, spricht manches dafür, dass sich eigene philosophische Arbeiten nur in der Verpflichtung vor der ‚Philosophia perennis’, vor allem aber vor jenen philosophischen Bemühungen, die uns unmittelbar vorausgingen, hinreichend perspektivenreich erproben können. Damit verbindet sich selbstredend auch eine weitere Frage: jene der Kulturrelativität des philosophischen Denkens. Mehrere Geburtsorte der Philosophie, auch in einem engeren Sinn japanische, indische, chinesische Ursprünge und Prägeformen, sind in den letzten Jahren im Zuge transversaler Vernunft namhaft gemacht worden.25 Gerade das 20. Jahrhundert bringt es mit sich, dass europäisches Denken von anderen Weltorten aus interpretierbar geworden ist und sich auch selbst durch diesen Spiegel in seiner Alterität erst zu interpretieren vermag. II. Schnitte: Abenteuer einer Silvesternacht Legen wir einen zeitlichen groben Schnitt; fragen wir nach der Herkunftsgeschichte des Denkens im 20. Jahrhundert. Eine große Zäsur fällt in die Zeit um Hegels und Goethes Tod 1831/32. Schelling stirbt erst gut zwanzig Jahre später. In seiner Spätphilosophie deutet sich aber an, was in der jüngeren Philosophie thematisch werden wird: Skeptische Zweifel gegenüber der Macht eines absoluten Logos und der Vermittlungskraft des Begriffs wie sie Hegel ins Relief trieb. Die Welt ist nur bedingt in Gedanken zu erfassen. Die Kontingenz emanzipiert sich gegenüber der begrifflichen Vermittlung. Dies bedeutet umgekehrt eine ‚Entwirklichung des Geistes’. Nicht er, sondern Erfahrung, im ganzen weiten Feld, das sich hinter diesem nur vermeintlich klaren Ausgangsbegriff verbirgt, soll erschließend sein. Existenz und Leben erweisen ihren Überschuss vor dem Begriff. Die Hegelsche Logik, die als Zusammenhang von kategorialer Erkenntnis und Seinserkenntnis konzipiert ist, kann lediglich negativ die Grundbedingungen aller nur möglichen Erkenntnis umschreiben. Das reale Sein selbst, die Phänomenalität, das geheimnisvolle „Wie“ der Dinge bleibt ihr ‚unvordenklich’. Dies

25 Vgl. E. Holenstein, Philosophieatlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004. Siehe auch meine Monographie Weltphilosophie. Ein Entwurf, Baden-Baden 2016.

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II. Schnitte: Abenteuer einer Silvesternacht

erkannte bereits der späte Schelling mit seiner Unterscheidung „negativer“ und „positiver“ Philosophie. Er antizipiert damit auf seine Weise die nachfolgenden Ströme moderner Philosophie. Im Sinne Schellings könnte man sagen: „Unser Ausgangspunkt ist das allem Denken zuvor, das unbedingt Existierende“. Es ist diese Sinnlinie, die auf dem Weg von Hegel zu Nietzsche durchbricht. Damit wird auch in Frage gestellt, dass die Philosophie angesichts der Moderne noch sein und bleiben kann, was sie zwei Jahrtausende hindurch gewesen war: erste Wissenschaft. Sie wird auf den breiten Wegen der universitären Philosophie des 19. Jahrhunderts auf Vorbedingungen in den Einzelwissenschaften zurückgeführt. Daraus ergeben sich folgenreiche Reduktionen. Vor den großen metaphysischen Fragen scheut die akademische Denkbewegung zurück. Philosophie wird weitgehend auf Erkenntnistheorie und Denkpsychologie reduziert. Der Kantianismus etabliert sich neu als eine Theorie der Erkenntnis,26 die auf die Neubegründung der Eigenständigkeit der Philosophie mit erkenntniskritischem Instrumentarium vorausweist. Zudem meldet sich – ausgehend von John Stuart Mill – der neue Begriff der ‚Geisteswissenschaften’, welche zunächst Legitimation suchen müssen gegenüber den eigentlichen Leitwissenschaften, den Natur- und Ingenieurswissenschaften und deren vermeintlich überlegener Strenge. Links- und Rechtshegelianismus stehen gegeneinander: Der Rechtshegelianismus wird zu einer contre coeur Hegels reaktionär werdenden preußischen Staatsphilosophie, jener zeigt mit Karl Marx die Tendenz, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen.27 Die großen inventiven Marken auf diesem Weg aus Idealismus und Metaphysik heraus, dem Weg von Hegel zu Nietzsche, findet man nicht so sehr innerhalb der Universität, sondern dezidierter bei akademischen Außenseitern: in den Gedanken des Dänen Sören Kierkegaard, der an der wirklichen Existenz des Einzelnen in seinen Lebensstadien die Formen des konkreten, existenziellen Geistes aufweist: ästhetisch, ethisch, religiös, und damit zeigt, wie die menschliche Existenz übergangslos vom einen in das andere Stadium den Sprung vollziehen muss.28 Über dieses wirkliche, faktisch zurückbleibende einzelne Dasein, zwischen Sein und Nichts, zwischen Depression und Freude, Himmel und Hölle, dachte Kierkegaard wortmächtig nach. „Für den Existierenden ist das Existieren 26 Vgl. dazu die souveräne Übersicht: H. Holzhey und W. Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, München 2004, vor allem S. 42 ff. 27 Siehe unter anderem K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, S. 9. 28 Dazu nach wie vor M. Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, München, Freiburg/Br. 1958, S. 5 ff.

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Einleitung: Verwickelte Linien

sein höchstes Interesse, und die Interessiertheit am Existieren ist die Wirklichkeit. Was Wirklichkeit ist, kann in der Sprache der Abstraktion nicht angegeben werden. ‘Jedes Wissen um Wirklichkeit ist Möglichkeit; die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender mehr als wissend ist, ist seine eigene Wirklichkeit, dass er da ist […]. Die einzige Wirklichkeit, die es für einen Existierenden gibt, ist seine eigene ethische‘“.29 Bei Marx liegt die Existenz in der Logik eines Gattungsprozesses, der sich primär über Kapital und Produktionsmittel manifestiert. Arbeit und Produktion bestimmen in der Interpretation der nationalökonomischen Verhältnisse das mögliche Bewusstsein. Das vergegenständlichte Bewusstsein muss sich seiner zentralen Dynamik, der Aneignung von Welt im Arbeitsprozess versichern. Denn erst die Praxis kann jene Syntheseleistung und Selbstvollendung der Philosophie erbringen, die Hegel von dem sich selbst vollendenden Begriff erwartet hatte. In der berühmten 11. Feuerbach-These, die bis heute, mehrere Systeme überdauernd, am Eingangsportal der Humboldt-Universität zu Berlin nachzulesen ist, wird dies markant deutlich: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“.30 Feuerbach, der Privatgelehrte, der vor Handwerker- und Gesellenvereinen seine Vorlesungen hielt und nicht im Elfenbeinturm der Universität, greift dem in einer Apotheose der Sinnlichkeit vor, mit dem Anspruch der Anschaulichkeit, der Konkretion, einer Philosophie des Leibes und der Liebe und der Kritik aller Jenseitsgläubigkeit der Religion. Auch Nietzsche übte eine fulminante Metakritik an den Verhexungen und Irrtümern der Philosophie als Metaphysik. Er führte sie auf eine metaphysische Krankheit zurück, einen Schwindel der Philosophen. Zu kurieren sei diese Krankheit nur, indem die Hinterwelten in die lebendige Schrift des Leibes übersetzt werden, in das zeithafte Leben, die Hermeneutik konkreten Daseins. Dies bedeutet nach Nietzsche am Leitfaden des Leibes zu philosophieren. Philosophie ist also recht verstanden ein Vademecum des Lebens. Die ewigen Wahrheiten der Metaphysik sind nur Fixierungen und Sistierungen, die letztlich zur Täuschung führen. Sie errichten Begriffsdome auf diesem Lebensfluss, wie Nietzsche schon in seiner frühen Schrift ‚Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne’ festhält.31 Nietzsches Hauptgedanken: Die Ewige Wiederkehr des Gleichen, der schwerste Gedanke und ‚Wille zur Macht’, das letzte Faktum, zu dem wir hinunterkommen,32 sind daher stets auch Lebens-Lehren. Es sind Kodifizierungen, wie der zeithafte endliche Mensch dieses Leben be29 30 31 32

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Kierkegaard, A. Unwissenschaftliche Nachschrift II, S. 27. Marx, Engels, Gesamtausgabe, MEGA 3, S. 490 und S. 21. Vgl, F. Nietzsche, KSA 1, S. 875–890. KSA Band 11, S. 461. Damit werden folgenreiche Implikationen für die Positionierung beider Gedanken verbunden. Heidegger hat, ganz im Gegensatz zu den NS-ideologischen Verzeichnungen diesen Zusammenhang differenziert aufgenom-

II. Schnitte: Abenteuer einer Silvesternacht

stehen und sich in ein höheres Dasein hinein transfigurieren soll. ‚Amor fati’: die Lust und Liebe zum unverfügbaren Schicksal lässt sich ohne Transzendenz nicht mehr rein begrifflich oder theoretisch fassen, sondern in der Spannung zwischen Denken und Dichtung, in der Selbst-Auseinandersetzung des Ichs, das in seinem Schatten sich selbst begegnet. Daher ist es ein entscheidender Zug auf allen Nietzscheschen Denkwegen, dass das Wahre als das Ganze niemals ‚auf einen Schlag’ zu erfassen ist, sondern nur in Perspektiven, und in der Mischung von Klarheit und Abschattungen.. Hier zeigt sich bereits eine Geste gegen die überlieferte Philosophie, wie sie erst Franz Rosenzweig ein Jahrhundert später in ein großes „In Philosophos“, gegen die Philosophen zwischen Ionien und Jena, transformieren sollte.33 Innerhalb der Universitäts- und Professorenphilosophie, eines Bürgertums, das bei allem, was man der Gründerzeit kritisch entgegenhalten kann, den Habitus des Besitzes mit jenem des Geistes souverän verschränkte, fand Nietzsches Frage bei Wilhelm Dilthey ihre Entsprechung, mit sehr eigengewichtigen Akzenten. Bei Nietzsche spielt Dilthey keine Rolle. Diltheys NietzscheAneignungen sind marginal. Umso frappierender die Verbindung in der Tiefensemantik ihres Denkens. Janusköpfig sind sie beide: Nietzsche auf die Anfänge zurückbezogen, einerseits in die griechische Antike, das älteste vorklassische Alte, andererseits im Übergang in eine Weisheit von Übermorgen; Dilthey auf die klassische deutsche Philosophie und Dichtung, die Goethezeit orientiert, wobei er zugleich weiß, dass sie ein Ende hat, dass „wir“ nach dem Sturm leben. Obgleich Dilthey (1833−1911) nur wenige Jahre in das neue Jahrhundert hineinlebte und biograpisch wohl mit dem alten Fontane hätte sagen können: „meine Welt ist es nicht mehr“, bieten seine Denkansätze doch übergenug Potential für das beginnende Säkulum. Machen wir ein Gedankenexperiment: Hätte man die unmittelbare Problemlage an der Jahrhundertwende, in einer Silvesterstunde vor Augen, so wäre die Zukunft offen. Es wäre unklar, was der Ort der Philosophie noch sein kann. Erkenntniskritik einer sich rapide beschleunigenden Wissenschaft, die die Philosophie so wenig noch benötigte wie sie ein Jahrhundert zuvor die Religion zu benötigen meinte: War Philosophie nicht selbst zu einer zu starken, dysfunktionalen Hypothese der Einzelwissenschaften geworden?34 Dies bedeu-

men. Dazu Seubert,mit näheren Nachweisen Heiderggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 35 ff. 33 Siehe F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 3 ff. Dazu W. Schmied-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweigs „neues Denken“. Band I Selbstbegrenzendes Denken – In Theologos, Freiburg/Br., München 2006. Für eingehende Gespräche über Rosenzweig danke ich E. Goodman-Thau, Jerusalem, Berlin sehr herzlich. 34 Vor dem Hintergrund der Einzelwissenschaften dehnt sich gleichsam die La Placesche Aussage, dass Gott eine zu starke Hypothese sei, auf metaphysische Abschlussgedanken, die über einzelwissenschaftliche Hypothesen hinausgehen, selbst aus.

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Einleitung: Verwickelte Linien

tete auch, dass die Philosophie in dem Bruch zwischen den „zwei Kulturen“ schon mehrheitlich der einen, der geisteswissenschaftlichen Seite, zuneigte. Sie nahm aber noch, halb defätistisch, eine Brückenfunktion ein. Die Bezugnahme auf Kant als Erkenntniskritiker ohne Metaphysik war einschlägig. Der Rückweg zum nachkantischen deutschen Idealismus war offensichtlich in der Breite zunächst einmal verschlossen.35 Nicht zu verkennen ist dabei auch ein Bewusstsein der Epigonalität bei allen, die solche Reprisen gleichwohl unternehmen. An dieser Bruchstelle wurde die Philosophie im Rückgang zur existenzialistischen Selbstbefragung, die von den eigenen Zeitgenossen indessen allzu leicht in einem Atemzug mit Sektierern und Weltverbesserern gesehen werden konnte. Die Grenze zwischen dem Selbstverständnis der Philosophie als Wissenschaft und als Weltanschauung wurde zu einem Leitmotiv zahlreicher Selbstreflexionen.

Zu starke Hypothesen wären daher transzendentale Verankerungen der Erfahrung. Vgl. zur Lage prägnant H. Holzhey und W. Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Geschichte der Philosophie Band XII, München 2004, S. 13 ff. 35 Dazu ausführlich H. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, 2 Bände, Frankfurt/Main 1986 und 1991.

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Erster Teil: Philosophisches Erbe – Wiedergewinnung und Destruktion

I. Philosophie des Lebens und der Geisteswissenschaften: Wilhelm Dilthey zwischen Nietzsche und Hegel

1. Ausdruck und Fluktuanz Wilhelm Dilthey verdankt sich eine ausgeführte Methodologie der Geisteswissenschaften und der historischen Forschung. Seinerzeit war (man vergleiche die Neukantianer Rickert und Windelband), ausgehend vom Neukantianismus die Unterscheidung zwischen ‚nomothetischen’ (Natur-)Wissenschaften und ‚ideographischen’, das Einzelne beschreibenden Geisteswissenschaften gängig, um diese Differenz zu bezeichnen.36 Diese Antithese des individualisierenden versus des generalisierenden Wissenschaftstypus problematisiert Dilthey. Er raut sie auf und erfasst sie letztlich als irrtümlich. Innerhalb der Geisteswissenschaften sind vielmehr plurale Systeme selbstständig konstituierter Wissenschaften vom Menschen, von Sprache, Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst am Werk. Doch der Geisteswissenschaftler muss dezidiert historisch vorgehen: etwa in der Biographie die Struktur auf den Einzelfall beziehen. Er muss Strukturen als Kontexte verstehen, Staatsrecht, Ökonomie und andere Determinanten eines jeweiligen Weltbildes erfassen, wenn er einer historischen Individualität in concreto gerecht werden will. Deshalb stellt sich ihm immer, nach dem Diktum Schleiermachers, „das individuelle Allgemeine“ als Problem. „Ja, solange der Vorgang des Verstehens dauert, ist auch die Abgrenzung des Materials noch nicht abgeschlossen. Schon um Menschen, Ereignisse, Zustände als diesem Wirkungszusammenhang zugehörig zu erkennen, bedarf es allgemeiner Sätze“ (GS V, S. 257).37 In diesem Zusammenhang notiert Dilthey weiter, dass „die Grade der methodischen Sicherheit im Verständnis […] von der Entwicklung der allgemeinen Wahrheiten abhängig [seien], durch welche dies Verhältnis seine Fundierung erhält“. Die alte Leibnizianische Unterscheidung zwischen Fakten- und Vernunftwahrheiten (verités de fait und verités eternelles) wird neu akut. Die älteren Arbeiten zu Diltey, namentlich Otto Friedrich Bollnow, legten die Auffassung nahe, dass der Lebensbegriff die Mitte von Diltheys Denken markiere. Daraus resultiere auch dessen metaphysikkritische Orientierung. Al-

36 Dazu W. Windelband, Präludien.Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Band I, S. 27−289.Vgl. dazu auch H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg i. Br. u.a. 21910, bzw. 6. und 7. Auflage 1929. 37 Die Zitate beziehen sich in diesem Abschnitt bei den Klammern auf W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Göttingen 1959 ff. mit Band- und Seitenzahl.

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I. Philosophie des Lebens und der Geisteswissenschaften

lerdings scheint in der Altersperiode Diltheys der Zug einer Grundlegung der Geisteswissenschaften zunehmend dominierend zu werden. Damit zieht sich die Philosophie, ähnlich wie bei den Neukantianern, im Wesentlichen auf Wissenschafts- und Erkenntnistheorie zurück. Man kann hier auf die ‚Einleitung in die Geisteswissenschaften‘ (1883) verweisen, einem summierenden Text, dem tiefdringende, biographisch historische Forschungen vorausgehen, von denen die systematischen Folgerungen nicht abzutrennen sind: vor allem das ‚Leben Schleiermachers‘ (1870), Diltheys historiographisches Hauptwerk, zeigt paradigmatisch, was geisteswissenschaftliche Forschung leisten kann. Diltheys Auffassung war es seinerzeit, dass die „individuelle Fülle der Welt“ verschiedene, teils einander disparate Weltsichten hervorbringt, die das Leben des Einzelnen in seiner Geschichtlichkeit prägen und an dern Umgestaltung er wieder mitwirkt. Deshalb ist es verständlich, dass eine exemplarische Biographie wie das ‚Leben Schleiermachers’, die diesen ganzen Kosmos niederlegt, unvollendet bliebund prinzipiell unvollendbar ist. Sie eröffnet den ganzen Prospekt der Zeit, in der Schleiermacher lebte und verbindet den einfühlenden Einblick in die Innenwelt mit objektiven Relationen. Der Biograph muss über die Sachwirklichkeit, in die ein historisch bezeugtes Leben verstrickt ist, wie ein Zeitgenosse unterrichtet sein, um dieses Leben einfühlend fassen und verstehen zu könnne. Die historisch-systematische Verklammerung war es, die Dilthey aus der ‚Einleitung’ von Hegels ‚Phänomenologie des Geistes’ aufgriff und die ihm zum Vorbild wurde. Der systematische Ausgangspunkt muss aus dem Geschichtsprozess selbst hervorgehen. So ist die „grenzenlose Vieldeutigkeit des geschichtlichen Stoffes“ (GS I, S. 374) selbst als eine Genese des Geistes zu begreifen. Man hat treffend diese erste Explikationsform von Diltheys Philosophie als eine „Erkenntnisanthropologie innerer Erfahrung“ aufgefasst.38 Die strikte Abgrenzung gegen die Annahme eines „starren a priori unseres Erkenntnisvermögens“ ist überall erkennbar. „Nur der Ausgang von der Totalität unseres Wesens“ führt zur Einsicht in den realen Lebensprozess, der „am Wollen, Fühlen und vorstellen nur seine verschiedenen Seiten hat“ (GS I, S. XVIII). Dilthey spricht zwar von Erkenntnistheorie, bzw. Erkenntniskritik, ganz mit dem Begriffswort der neukantianischen Zeitgenossen, er verbindet damit aber die Suche nach einem Erfahrungsbegriff, der die Pluralität der menschlichen Weltzugänge eröffnet. Hier meldet sich bereits ein Gedanke, der je spezifisch bei Heidegger und im amerikanischen Pragmatismus zur Entfaltung kommen sollte: dass der Zugang zur Welt zunächst und zuerst auf die Welt

38 Vgl. dazu die Beiträge des Sammelbandes E. W. Orth (Hg.), Dilthey und die Philosopie der Gegenwart, Freiburg/Br, München 1985, siehe auch R.Makkreel, Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften, Frankfurt/Main 1991.

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1. Ausdruck und Fluktuanz

der Alltäglichkeit in ihren Bewandtniszusammenhängen zielt (griech.: pragmata/onta). Die Genese von Bedeutung, die aus diesen Weltzugängen hervorgeht, ist primär, während hintergründig die Überzeugung eine Rolle spielt, dass die Geisteswissenschaften als Wissenschaften von der praktischen Klugheit (Phronesis-Wissenschaft; Selbstbesonnenheit im Aristotelischen Sinn)39 einen originäreren Zugang zum Leben haben als die Naturwissenschaften, die jene Wirklichkeit unter Gesetze summieren.40 In dieser Zeit spielt das Axiom des neapolitanischen Philosophen und Rechtslehrer Giambattista Vico aus der Mitte des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle, der den Grundsatz aufstellt: Verum et factum convertuntur. Ihm zufolge wird das am treffendsten erkannt, was der Erkennende (oder doch seinesgleichen) hervorgebracht haben. Es gebe also einen bevorzugten Zugang des Menschen zur geschichtlichen Welt. Demgegenüber sei die natürliche Welt opak, entzogen, dunkel. Dilthey nimmt diesen Gedanken immer wieder auf. Seine eigene Begründung ist jedoch von anderer Art: nicht poietisch (factum), sondern an der Klugheit (Phronesis) orientiert. „Unser Bild der ganzen Natur erweist sich als bloßer Schatten, den eine uns verborgene Wirklichkeit wirft, dagegen besitzen wir Realität, wie sie ist, b nur aufgrund der in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewusstseins“ (GS I, S. XVIII). Geisteswissenschaften haben ihren Ort deshalb jenseits der einfachen Antithese von Realismus und Idealismus. Poetik und Ästhetik werden für Dilthey zunehmend zentral, er begreift sie als Modelle für die Geisteswissenschaften.41 Dies wirkt bis in die jüngere Geschichte der Hermeneutik hinein, namentlich bis zu Gadamer. Damit verbunden zeichnet sich eine energische Arbeit am Bildbegriff ab. Bild sei zunächst als ‚triebartige Energie’ aufzufassen. Es ist „Leben, Vorgang. Jedes Bild entsteht, entfaltet sich und erlöscht wieder. Dasselbe Bild kehrt ebenso wenig wieder als ein abgefallenes Blatt im neuen Frühling“ (GS VI, S. 99). Die Imagination, und erst recht die poietische Macht der Kunst fügen solche Bilder aber zu einer bleibenden Gestalt.. Aus dem Bild gehen die Begriffe des Typos und des Typischen hervor. Es ist „eine solche Art, vermittels der Erfahrung dieselbe so zu überschreiten, dass sie doch mächtiger gefühlt und tiefer verstanden wird als in den treuesten Kopien des Wirklichen“ (GS V I, S. 172). Der Typus ist, wie Dilthey mit Schleiermacher bemerkt, das „individu-

39 Diese Aspekte an Dilthey hob Manfred Riedel besonders hervor, vgl. ders., Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978, S. 7 ff. und S. 55 ff. 40 Dazu u.a. Riedel, Diltheys Kritik der begründenden Vernunft, in: Orth (Hg.), Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, a.a.O., S. 185 ff. 41 Darauf weist Makkreel S. 234 ff. hin, siehe auch die kluge eigenständige Aneignung bei S. Otto, Rekonstruktion der Geschichte, Band I. Zur Kritik der historischen Vernunft, München 1982; und Band II ibid. 1992.

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elle Allgemeine“. Dieser platonische Bildbegriff gibt eine Ahnung von dem idealistischen Topos der „Mimesis des Absoluten“.42 Die Bild gebende Macht tritt in der Kunst besonders deutlich ans Licht. Sie ist über den engeren Umkreis der bildenden Kunst hinaus ein morphologischer Grundbegriff.43 Leben der Bilder meint bei Dilthey: jeweilige fluktuante Einheitsbildungen zwischen Vorstellungen, Gefühlen. Daher ist auch jedes Handeln bestimmt durch ihr Bild von etwas, das noch nicht ist. An diesem Punkt zeichnen sich die Analogien zwischen Dilthey und der Phänomenologie Husserls und der eidetischen Reduktion ab. Dilthey knüpft mit einem seiner Grundgedanken an Friedrich Schillers Topos von der ‚ästhetischen Erziehung‘ an: Sinnliches Scheinen der Idee erweist sich als das Schöne, der ästhetische Staat als die Brücke, die den Bruch zwischen Welt der Erscheinung und intelligibler Welt überspannen kann. Möglicherweise überdauert der ästhetische Staat die konkreten Staatsgebilde und hat dauerhaftere Überzeugungskraft als sie. Auch Staaten oder politische Gebilde können eine ästhetische Manifestation haben, von Athen bis zum Berlin Schinkels.44 Darin kulminiert gleichsam ihr Geist und löst sich aus der Kontingenz. Diese Transformation vollzieht sich in Gestalt und Typus. „Die Gestalt muss Leben werden und das Leben Gestalt […]. Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt erfasst und so die Anschauung beseelt, oder diese Lebendigkeit in Anschauung darstellt“ (GS VI, S. 117). Die Übersetzung von Erlebnis in Gestalt und von Gestalt in Erlebnis kann Dilthey dann das Schillersche Gesetz nennen. In der mittleren Phase seiner Denkentwicklung wendet sich Dilthey zunehmend anthropologischen und psychologischen, sogar pädagogischen Fragestellungen zu. Er unterscheidet eine zergliedernd beschreibende von einer erklärenden Psychologie. Die Typologie der Geisteswissenschaften scheint sich also in der Psychologie noch einmal in nuce zu wiederholen. Doch auch als beschreibender Psychologe bleibt Dilthey ganz und gar Philosoph. Dabei ist, gerade auch gegenüber jüngeren Diskussionen um die Neurowissenschaften, Diltheys ebenso einfache wie subtile Grundauffassung von Bedeutung: Die Perspektive des persönlichen Erlebnisses kann in das Gefüge einer physikalistischen Erklärung der Welt eingegliedert werden, ist aber keinesfalls aus diesem ableitbar.45 Bewusstseinsvorgänge wären also, von heute her gesprochen, 42 Hierzu Makkreel, a.a.O., S. 230 ff. 43 Zur Philosophie des Bildes und der Darstellung vgl. u.a. Chr. Asmuth, Bilder über Bilder − Bilder ohne Bilder.Eine neue Theorie der Bildlichkeit, Darmstadt 2011. 44 Dies zeigt sehr schön und in der Folge J. Burckhardts M. Stahl, Botschaften des Schönen. Kulturgeschichte der Antike, Stuttgart 2008. 45 Dazu die scharfsinnige Rekonstruktion K.-O Apel, Diltheys Unterscheidung von ‚Erklären‘ und ‚Verstehen‘ im Lichte der Problematik der modernen Wissenschafts-

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2. Konstellationen – Husserl und Dilthey

durch neuronale Prozesse mess- und beschreibbar, womit aber noch gar nichts über das Selbstwissen des Ich und die Konstitution des Wir in einer geschichtlichen Welt, in Erinnerungshorizonten ausgesagt ist. „Die Unmöglichkeit der Ableitung von geistigen Tatsachen aus solchen der mechanischen Naturordnung, welche in der Verschiedenheit ihrer Provenienz gegründet ist, hindert nicht die Einordnung der ersteren in das System der letzteren“ (GS I, S. 11). 2. Konstellationen – Husserl und Dilthey Diltheys späteres Werk mit dem ‚Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften’ (1910) im Zentrum, aber auch der repräsentativen Sammlung ‚Das Erlebnis und die Dichtung’ (1906) ist nicht denkbar ohne eine intensive Auseinandersetzung mit Husserls ‚Logischen Untersuchungen‘ aus dem Jahr 1900. Mit Husserl kam aber ein neuer Anspruch in die Gedankenbewegung: Das Pathos der Ersten Philosophie gegen den ernüchterten Szientismus und die sich verflüchtigende Weltanschauungslehre. Husserl sucht, ganz ähnlich wie Dilthey selbst es immer tat, nach einer ‚Urwissenschaft’: das phänomenologische Votum ‚Zu den Sachen selbst!’ findet deshalb bei Dilthey ein Echo.46 Husserl nennt, ungeachtet seiner Arbeit an einer grundsätzlichen Widerlegung des Psychologismus, die zu entwerfende Grund- und Urwissenschaft eine ‚deskriptive Psychologie’. Entscheidend ist die Einsicht, dass jedes Bewusstsein einen Gegenstand habe, also ‚intentional’ verfasst sei. Zwischen Bewusstseinsakt und seinem Gehalt, ist dabei zu unterscheiden (Noesis, Noema). Zugleich aber sind sie miteinander korreliert. Verstehen und Auslegen gewinnen deshalb eine unhintergehbare Bedeutung auf dem Weg zu den Sachen selbst. Erst aus dem Verstehen können die Objektivationen des Lebens gewonnen werden. Zugleich mit seinen Arbeiten zum jungen Hegel wird für den späteren Dilthey der Begriff des ‚Geistes’ von Gewicht. Geist ist gleichsam Ausdruck des vielfältigen Reichtums der vorliegenden Welt in ihrer Sinnhaftigkeit.47

theorie, in: Orth (Hg.), Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, a.a.O., S. 285 ff. Siehe auch grundsätzlich Apel, Die Erklären-Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt/Main 1979. 46 Zum Verhältnis Dilthey-Husserl Th. M. Seebohm, Die Begründung der Hermeneutik Diltheys in Husserls transzendentaler Phänomenologie, in: Orth (Hg.), Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, S. 97 ff., sowie E. Ströker, Systematische Beziehungen der Husserlschen Philosophie zu Dilthey, in: ebd., S. 63 ff. 47 Der Lebensbegriff Diltheys ist dadurch gegenüber einemAbgleiten ins Außerrationale, wie es etwa in dem useligen Klagessche Topos vom „Geist als Widersacher der Seele“ aufleuchtet, bewahrt.

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I. Philosophie des Lebens und der Geisteswissenschaften

Diese Sinndimension erschließt sich in der Trias von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen. An einer bemerkenswerten Stelle hat Dilthey die Unhintergehbarkeit jener Trias so formuliert: „Die Menschheit wäre, aufgefasst in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache, und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. So ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen das eigene Verfahren, durch welches die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist“ (VII, S. 86 f.). Das Paradigma, an dem sich diese Zusammenhänge am deutlichsten zeigen, ist die Autobiographie. Zu ihrer Geschichte48 formulierte Dilthey in der Spätphase seines Werkes wesentliche Anregungen. Sein Schüler und Schwiegersohn (eine heute kaum mehr praktizierte, seinerzeit aber sehr verbreitete Konstellation) Georg Misch arbeitet in seiner Folge eine umfängliche Geschichte der Autobiographie aus.49 Nirgends sonst nämlich gehen Tun, Erleiden und deren Beschreibung durch den Erlebenden selbst in einem solchen Maß zusammen wie in der Autobiographie. Welt- und Lebensanschauung stehen hier in besonderer Korrelation. Darüber hinaus ergibt sich ein enger „Bezug der Phantasie zu den objektiven Eigenschaften der Welt“ (VIII, S. 27). Weltbilder sind gleichsam immer Fixierungen, die zurückzunehmen sind „in den Bezug zu der Lebendigkeit des Selbsts“ (GS VIII, S. 8). Lebensäußerungen – dieser Begriff umfasst bei Dilthey Phänomene vom großen Kunstwerk bis zu der lallenden Äußerung des kleinen Kindes – verbinden ein Subjekt mit anderen Subjekten, sie verschmelzen Mensch und Welt. Auch die Philosophie ist Manifestation von jeweiligen Selbstdeutungen und Weltauffassungen. Systeme enthalten „so gut als die Religionen oder die Kunstwerke eine Lebens- und Weltansicht […], welche nicht im begrifflichen Denken, sondern in der Lebendigkeit der Personen, welche sie hervorbrachten, gegründet ist?“ (GS VIII, S. 30). Gerade Diltheys letztes Lebensjahr ist von einer an diesem Punkt ansetzenden tief greifenden Kontroverse mit Husserl geprägt. Dies mag menschlich für beide Seiten eine schmerzliche Erfahrung gewesen sein. Es bedeutete faktisch eine Fokussierung ihrer philosophischen Blickpunkte. In der wichtigen Zeitschrift ‚Logos‘ publiziert Husserl seinen grundlegenden Aufsatz: ‚Philosophie

48 S. Otto identifizierte in: Rekonstruktion der Geschichte II, S. 54 ff. die Autobiographie als eine ganz besondere Entführung von Denken und Darstellung, weil in ihr der „Verum et factum convertuntur“-GedankeVicos in der Identität des seine Geschichte Durchlebenden und zugleich Berichtenden in einzigartiger Weise durchsichtig wird. 49 G. Misch, Geschichte der Autobiographie. Vier Bände in acht Teilbänden, Neuauflage 1976 ff.

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3. Nietzsche im Hintergrund

als strenge Wissenschaft‘.50 Mit der Verpflichtung auf die strenge Wissenschaft war gemeint, dass Philosophie gerade nicht Weltanschauung sei. Husserl zielt auf die Unvoreingenommenheit aller Wissenschaft, insbesondere der Philosophie als Erster Wissenschaft, ab. Wissenschaft kann und soll in einem sehr alten, genuin platonischen Methodenideal aus der „Doxa“ herausführen. Diltheys Insistenz auf der Tätigkeit des verstehenden, einfühlenden Lebens und der Weltanschauungsbindung von Erkenntnis verwies in eine gegenläufige Richtung. Ein sehr interessanter Briefwechsel, der die Nähe und subtile Wahrnehmung der Bedeutung der Phänomenologie durch den fünfundzwanzig Jahre Älteren reflektiert, war die Folge.51 Zu einer Verständigung konnte es angesichts der Grunddifferenz nicht kommen. Dilthey starb im Oktober des Jahres 1911 zu Seis am Schlern in Südtirol. 3. Nietzsche im Hintergrund Wenn man sich einmal eingehender mit Nietzsches Denkweg in seiner Formgeschichte, von der Abhandlung (‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‘), den späteren Aphorismenbüchern bis zu der tastenden, fragmenthaften Mitteilung der späten großen Grundlehren vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr befasst hat, werden die Übereinstimmungen und Resonanzen zwischen Dilthey und Nietzsche unübersehbar. Selbstredend spielt der Berliner Professor Dilthey in Nietzsches Werk an keiner einzigen Stelle eine Rolle. Anders verhält es sich bei Dilthey: Zustimmung und ‚vielfacher Widerspruch’, der sich an dem einsamen Denker und Wanderer aus den Hochgebirgen des Engadin entzündet hat, leuchten vereinzelt, aber unübersehbar auf. Dilthey nimmt Nietzsches radikalisierte Lebensphilosophie auf. Dessen Aussagen vom Trieb, der philosophiert, und vom großen Individuum scheinen ihm aber gefährliche Übersteigerungen zu sein. Dilthey betont wie die meisten Hermeneutiker die Kontinuitätslinien der Geschichte. Er folgt der Maxime, dass die Inkommensurabilität und die Individualität in methodische Rekonstruktionen des Ganges der Geschichte einzudeuten seien. Werner Stegmaier hat in seinen Untersuchungen über eine Philosophie der Fluktuanz zwischen Nietzsche und Dilthey das Verhältnis zwischen beiden rekonstruiet.52 Der Vergleich hat allerdings Grenzen. Nietzsche ist, wie sonst 50 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft (Erstveröffentlichung 1910), Einzelausgabe hg. von E. Marbach, Hamburg 2009. 51 Der Briefwechsel Dilthey-Husserl, [„The exchange of letters between Dilthey and Husserl".] With an introduction by Walter Biemel. Man and World 1 (1968): 428−446. 52 W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, S. 45 ff. und S. 360 ff.

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I. Philosophie des Lebens und der Geisteswissenschaften

nur Platon, abhängig von den perspektivischen Brechungen seines Schreibens. Dilthey bewegt sich im Rahmen der diskursiven Abhandlung. Man kann deshalb nicht These gegen These halten, sondern bewegt sich in zwei gegensätzlichen philosophischen Denkwelten. In das Grundverhältnis zwischen Dilthey und Nietzsche trägt sich aus dem französischen Kontext Bergsons Konzeption des Elan vital ein: Die dynamische schöpferische Entwicklung ist der Wesenszug philosophischer Lebenserkenntnis, die sich dem genuinen Raster der Geistes- und Realgeschichte von Herrschen und Gehorchen entzieht. Die Sympathia, ein gemeinsames Leben, steht jenseits der logisch-begrifflichen Grundverhältnisse. Schöpferische Entwicklung und Lebensschwungkraft53 verbinden sich zu einem Gesamtsyndrom der konkreten Lebensdynamik, die Bergson zu einer Grundinstanz in die Denkwelten des 20. Jahrhunderts einbezieht.54 Bergson war Schriftsteller-Philosoph, und aus seiner schriftstellerischen Brillanz ging zu einem guten Teil seine Faszinationskraft hervor.55 Er sah beides: dass Wissenschaften die Lebensorientierungen bündeln und dass sie gegenüber primären Lebensorientierngen dezentrieren und auf Distanz führen. In der Spanung auf diese energetisch-geisthafte Grundkraft hin vollzieht der Bergsonianismus eine Metakritik gegenüber dem gängigen Szientismus und seiner Technikgläubigkeit. Eines der Bergsonschen Inzitamente ist zudem eine Zeitphilosophie, die Zeitlichkeit jenseits der Verräumlichungen thematisiert. Der eigenständige Zugriff auf die Zeitphilosophie, der über Husserl und Heidegger das Denken des 20. Jahrunderts prägt, nimmt mit Bergson seinen eindrucksvollen Beginn. Ein Inzitament der Denkbewegungen bedeutete auch der Denkanfang Georg Simmels: Simmel folgt einer Literatur-Philosophie, einem reflexiven Impressionismus. Ähnlich wie Bergson wird für ihn zunächst das elementare Verhältnis zwischen vergänglichen Gestaltungen und Umgestaltungen einerseits und bleibender Formgebung andererseits zentral. Seinen Schülern entwickelte er solche Korrelationen am Paradigma seiner offensichtlich eindrucksvollen Porzellan- und Facence-Sammlungen als Wechselspiel von Liquidität des zu gestaltenden Materials und der fixierten Form nach dem Brennvorgang.56 Simmel kann die verschiedenen Wissens- und Lebensbereiche nicht mehr in einem Einheitssinn bündeln, er diagnostiziert aber, exemplarisch für eine spätbürgerliche Weltwahrnehmung, deren Fludidität. Die Gegensätzlichkeiten 53 Dazu jetzt H. Bergson, Schöpferische Evolution, Hamburg 2013 (mit einer Einleitung von R. Brague), Hamburg 2013, S. 57 ff. 54 Aus phänomenologischer Perspektive: R. Ingarden, Intuition und Intellekt bei Henri Bergson. Darstellung und Vesuch einer Kritik, Halle/Saale 1921. 55 Eine eigenständige Aneignung Fortschreibung G. Bachelard, La dialectique de la durée – Henri Bergson, Paris 1972. 56 Vgl. P. U. Hein (Hg.), Georg Simmel, Frankfurt/Main 1990.

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3. Nietzsche im Hintergrund

werden registriert, können aber nicht mehr in einen Ausgleich oder gar eine transdifferenzielle Wahrnehmung gebracht werden. Erfahrug und Apriori, Darwinsche Selektionstheorie und Kantische Transzendentalphilosophie und das Verhältnis zwischen Genesis und Geltung bleiben letztlich unversöhnt nebeneinander registriert.57 Das Changieren zwischen Philosophie und Soziologie war eine charakteristische Umgangsweise mit dem für Simmel unlösbaren Moderneproblem. Philosophische Themen, die niemand zuvor in dieser Weise benannt hatte, wie die Mode und das Geld, rücken in das Zentrum seines Interesses. Simmel sieht, dass es keinen Weg an der Moderne vorbei geben kann. Er könnte mit Rimbaud formulieren: „il faut être absolumment moderne!“ Doch in der totalen Verflüssigung jener Modernephänomene führt jede Erfüllung unweigerlich in ein Weitertreiben oder eine „Melancholie der Erfüllung“. Der Metaphysikbegriff verändert sich bei Simmel grundlegend: Einerseits wird die Kantische Metaphysik der Sitten verflüssigt in den Gedanken, sein eigenes, individuelles Gesetz zu verfolgen. Die kreative Einzigartigkeit der Lebensgestaltung ist Dreh- und Angelpunkt. Gezeigt wird dies in bewegenden Monographien unter anderem über Rembrandt, Kant (1904), Goethe (1913) und eine Zusammenschau beider (1916). Zudem entwickelt Simmel eine Phänomenologie des Lebens, die er, der brillierende jüdische Intellektuelle, nicht zu einer aus der philosophischen Rationalität herauführenden Irrationalität missbraucht, sondern in höchste Sinnklarheit zu überführen versucht. Lebens-anschauung bedeutet, dass Leben seine Transzendenz in sich selbst sucht. „Leben will mehr Leben“ und „Leben ist mehr als Leben“ waren Grundgedanken Simmels. Erst durch eine spätere Generation, durch die philosophisch elementarer ansetzenden Konzeptionen von Bloch, Heidegger oder Lukács kamen Simmels reichhaltige Anregungen in den Grundstrom der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Es ist bei allem Vergessen und aller Kontingenz ein wichtiges Signal, dass die Nachwelt Simmels Denken im Licht seiner Rezeption neu für sich entdeckte.58 Seine großen glänzenden Monographien und seine, trotz des im Letzten nicht etablierten akademischen Status, die Berliner Kultur faszinierenen Vorlesungen zeigen eine Kulturphilosophie, die nicht nur im Allgemeinen über Kultur nachdenkt, sondern sich mit kulturellen und ästhetischen Phänome-

57 Zu Einzelheiten: H. P. Müller und T. Reitz (Hg.), Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin 2018, siehe auch K. Lichtblau, Georg Simmel, Frankfurt/Main 1997. 58 Vor allem durch das Verdienst von O. Rammstedt liegt seit den späten achtziger Jahren eine 24-bändige Gesamtausgabe des Werkes von Georg Simmel bei Suhrkamp, Frankfurt/Main vor. Vgl O. Rammstedt,(Hg.),: Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber. Frankfurt 1988.

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nen detailliert aussetzt. Erst vier Jahre vor seinem Tod mit sechzig Jahren wurde Simmel Ordinarius für Philosophie in Straßburg, nachdem er viele Jahre in dem Hazard-Spiel der Berufungen übergangen worden war. Die Widersprüche seines Oeuvres und Lebens waren vielfach; gleichermaßen war er Jude mit allen Exklusionen als Paria und deutscher Patriot, Analytiker der Moderne, der keine überwölbende Theorie bot wie der Marxismus und doch die Dissonanzen ähnlich ingeniös zeichnete.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

1. Charakteristik Ähnlich wie bei Dilthey ist auch bei Husserl die Biographie äußerlich unspektakulär, eine klassische Gelehrtenexistenz, in die erst in den letzten Lebensjahren das barbarische Dunkel der Nazifizierung der Universität einbricht. Geboren 1859 in Mähren, absolviert Husserl in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Studium der Mathematik und Philosophie in Leipzig, dann in Berlin. Er promoviert im Winter 1882/83 in Wien, weitere Studien bei Franz Brentano schließen sich an. Brentano wird vor alllem durch den Begriff der Intentionalität ein wichtiger Anreger. Husserl habilitiert sich in Halle an der Saale mit einer Studie ‚Über den Begriff der Zahl’ im Jahr 1887. Seit der Habilitation lehrte Husserl über eine lange Privatdozentenzeit von vierzehn Jahren in Halle/Saale. Es ist die Zeit einer beeindruckenden philosophischen Arbeit, die Phase, in der das Hauptwerk, die ‚Logischen Untersuchungen’, entsteht und 1900 erscheint. 1901 wird Husserl dann zum außerordentlichen Professor in Göttingen berufen, 1906 mit 47 Jahren, damals sehr spät!, wird er Ordinarius. Seit 1916 bis zu seiner Emeritierung 1928, mit 69 Jahren, lehrt Husserl in Freiburg im Breisgau. Die späten Jahre des Emeritus machen ihn an seiner Heimatuniversität zunehmend zum Fremden. Paris und dann vor allem Prag werden Orte, an denen der als Jude Verfemte noch lehren kann. Husserls spätes Denken ist Zeichen der Vernunft in vernunftwidriger Zeit. Sein Schüler und Freiburger Nachfolger, im Jahr 1933 Rektor der Freiburger Universität, Martin Heidegger, ist vielfach bezichtigt worden, Husserl so fundamentale Rechte wie den Zugang zur Universität unterbunden zu haben. Dies ist in dieser Form nicht in jedem Fall haltbar.59 Doch Heidegger stellte sich auch nicht hinter Husserl, und dem Begräbnis des am 27. April 1938 in weitgehender Isolation und Einsamkeit gestorbenen Lehrers blieb Heidegger fern. Die Widmung an Husserl aus ‚Sein und Zeit‘ strich er in einer Nachauflage. Wie er selbst später zu Protokoll gab, erst aufgrund der Forderungen des

59 Dass Edmund Husserl aber gegen Ende seines Lebens weitgehend im eigenen Land exiliert war und dass Rektor Heidegger dazu schwieg, ist unverkennbar. Eine tieflotende und zugleich literarisch angemessene Husserl-Biographie fehlt bislang, vgl. aber die gute Übersicht in S. Luft, M. Wehrle (Hg.), Husserl-Handbuch, LebenWerk-Wirkung, Stuttgart 2017, S. 8−39 mit weiterer Literatur.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

Verlegers. Husserl sah in Heidegger zeitweise den „Antipoden“. Das Verhältnis in den späten Jahren war zumindest ambivalent. Husserls spätere Jahre waren auch durch Heideggers fulminante Lehrerfolge überschattet: vertraute Briefwechsel sprechen davon, dass nur noch mindere Begabungen zu ihm kamen, die philosophische jeunesse dorée aber zu Heidgger ging.60 Der Alte werde aus seinen Analysen nicht mehr zur systematischen Fundierung der Grundwissenschaft kommen, lautete das Urteil seines Hörerkreises. Wie bedeutsam gerade die verschiedenen Anläufe und ihr relatives Scheitern sind, erschließt sich der Nachwelt immer leichter als der Mitwelt. Husserl muss Gerechtigkeit erfahren, was seit langem, auch durch die Präsentation der Husserliana-Gesamtausgabe im Gange ist. Er löst sich heute neu aus dem Schatten Heideggers, dank einer Wirkung, die weit über orthodoxe phänomenologische Rezeptionsmuster hinausreicht. Husserl strahlte allerdings, nüchtern betrachtet, schon zu seinen Lebzeiten weit in einen vielfältigen und gesamteuropäischen Schülerkreis hinein aus. Zu seinen Schülern gehören Phänomenologen wie Ludwig Landgrebe und Eugen Fink, aber auch Edith Stein und Roman Ingarden, Oskar Becker (der die Mathematikphilosophie neu begründen sollte), Jan Patočka, der philosophische Mentor der Charta 77, der Soziologe Alfred Schütz, der Geistesgeschichtler Aron Gurwitsch, die Editoren seines Oeuvres werden sollten. Alexandre Kojève und Alexandre Koyré gehörten zumindest zeitweise zu Husserls Hörern. Und damit sind nur Namen der späteren Freiburger Schule benannt, die von der früheren Phänomenologengeneration in Göttingen, mit Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Adolf Reinach, zu unterscheiden ist. Als eigene hochkarätige Gestalt ist Max Scheler, in seinem produktiven, spekulativ explosiven Umgang mit den Schultraditionen, besonders hervorzuheben. Die ‚Logischen Untersuchungen’ waren für den frühen Göttinger HusserlKreis normativ. Sprichwörtlich wurde das Votum: „Zu den Sachen selbst“. Die transzendentale Wendung der Phänomenologie in Husserls ‚Ideen I‘ (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie) vollzieht sich dreizehn Jahre später. Wahrgenommen wurde sie als Bruch, der in Husserls eigener Forschung lange vorbereitet war und in der Freiburger Zeit zur transzendentalen Phänomenologie führte.61

60 In Husserls späten Briefen sind Ungenügen und Enttäuschung über die zunehmende Isolierung unverkennbar. Vgl. dazu auch R. Ingarden, Schriften zur Phänomenologie Edmund Husserls, Hg. von W.Galewicz, Tübingen 1998, S. 7 ff. 61 Vgl. ibid., hoch interessant ist die gemeinsame Arbeit am Encyclopedia Britannica-Artikel über Phänomenologie, vgl. dazu W. Biemel, Husserls Encyclopedia Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: W. Biemel, Gesammelte Schriften, Band 1. Schriften zur Philosophie, Stuttgart 1996, S. 173−209; sowie S. G.Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger, Cambridge 2013, S. 48 ff.

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1. Charakteristik

An Husserls Werkstruktur ist charakteristisch, dass nach den ‚Ideen I‘ im Grunde alle publizierten Schriften eher einen in die Phänomenologie einführenden Charakter haben, was zugleich bedeutet, dass es um je verschiedene Annäherungen an den Ursprungspunkt, das Origo der sich zeigenden Phänomene geht. Fichtesche Wissenschaftslehren weisen eine ähnliche Verfasstheit auf,62 auch Paul Natorps ‚Philosophische Systematik‘ folgt dieser Fragestellung der Suche nach dem Ursprungspunkt. Husserls phänomenologische Analysen gehen ins Unendliche mikrologischer Phänomenerfassung, ständig um das Grundlegungsproblem bekümmert, aber auch mit ständigem begleitendem Selbstzweifel durchsetzt, der Tag für Tag sein Forscherleben begleitet. Überliefert sind 45.000 Seiten eng beschriebener Nachlassnotizen. Seine Schülerinnen und Schüler waren mit diesem „Nachlass zu Lebzeiten“, den Manuskripten, intensiv beschäftigt. Edith Stein etwa klagte über diese weitgehende Absorption, die für mehrere Generationen gereicht hätte.63 Die ‚Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins’ (ed. Heidegger), ‚Formale und transzendentale Logik’, ‚Cartesianische Meditationen’, ‚Krisis’, ‚Erfahrung und Urteil’ (ed Landgrebe) bilden nur das publizierte Oeuvre zur Zeit der transzendentalen Phänomenologie ab. Husserls Ausarbeitungen sind von einer insitierenden forschenden Fragebewegung angetrieben, einer Klärung der Sache und ihrer Begründung, die zu Recht von einer „Arbeitsphilosophie“ sprechen lassen. Die Beben der eigenen Zeit und der Erfahrung der Moderne blieben bei Husserl, anders als bei Heidegger, im Hintergrund. Doch in der Wahrnehmung der Zeitgenossen ging die Phänomenologie aufs Engste mit den Innovationen neuer Kunst, ihrem illusionslosen Draußen (au dehors) einher. Eine deutlichere Absage an alle Weltanschauungsphilosophie als bei Husserl lässt sich kaum denken. Welche Unerschütterlichkeit aus dem Denken gewonnen werden kann, ist bei ihm paradigmatisch zu erkennen. Schon die Anlage seiner Ausarbeitungen und Schriften gibt überdeutlich zu verstehen, dass Husserl kein literarischer Philosoph ist, kein „Dichterphilosoph, sondern dass er in immer neuen Bemühungen alleine auf die Apdodiktizität und Wahrheitssuche zielt. Der ungeheure Bestand dieser Manuskripte konnte nur auf abenteuerlichsten Wegen durch den Jesuitenpater Van Breda nach Belgien emigrieren: Eine große Kulturleistung gegen die Zeit. In Louvain (Löwen) wurde das HusserlArchiv eingerichtet, wo seit 1950 die HUSSERLIANA zu erscheinen beginnen, die den Nachlass umfassend dokumentierende Gesamtausgabe. Manche der

62 Dazu G. Zöller, Fichte lesen, Stuttgart 2013. 63 Vgl. dazu E. Stein, Selbstbildnis in Briefen Band III. Briefe an Roman Ingarden, Freiburg/Br., München 2001, S. 87 ff. u.ö. Diese Briefe sind ein ausgezeichneter Spiegel der konkreten Zusammenarbeit im Husserl-Umkreis.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

wichtigsten Husserl-Schüler gerieten zugleich in den Nähe Heideggers: Eugen Fink oder Walter Biemel wären zu nennen. 2. Husserls Anfänge Um die transzendentale Phänomenologie zu verstehen, scheint es sinnvoll, auf Husserls Anfänge zurückzugehen. Begonnen hatte er mit seiner ‚Philosophie der Arithmetik’, die auf der Halleschen Habilitationsschrift ‚Über den Begriff der Zahl’ (1887) basierte. Hier wird die Unterscheidung zwischen dem psychologischen und dem logischen Ausgangspunkt erstmals klar umrissen. Zahlbegriff und Zählen werden zunächst als elementare psychische Denkvorgänge exponiert. Den Begriff der Zahl kann man als eine „Vielheit von Einheiten“ definieren. Damit muss schon auf den Begriff der Vielheit Bezug genommen werden. Entscheidend ist weder die für sich isolierte Einheit noch sind es die Vielheiten. Es ist vielmehr das Verbinden. Der Relationsbegriff als Handlung nimmt also bereits im Versuch einer Rekonstruktion der Mathematik im Licht ihrer Vollzugsweise die erste Position ein. „Geistige Schöpfungen sind die Zahlen, sofern sie Resultate von Tätigkeiten bilden, die wir an konkreten Inhalten einüben; aber was diese Tätigkeiten schaffen, das sind nicht neue absolute Inhalte, die wir dann irgendwo im Raume oder in der ‚Außenwelt’ wiederfinden könnten; sondern es sind eigentümliche Relationsbegriffe, die immer wieder nur erzeugt aber keineswegs irgendwo fertig vorgefunden werden können“.64 Ursprung des Zahlbegriffes als eines Inbegriffs ist es daher, dass „ein einheitliches Interesse“ vollzogen wird und dass „mit ihm zugleich ein einheitliches Bemerken verschiedene Inhalte für sich heraushebt und umfasst“ (Hua XII, S. 330 f.).65 Daran schließt der Begriff der Reflexion an, welche die Summierung von einer Vielheit auf eine Einheit aller erst bemerkbar macht und heraushebt. Man muss sich fragen, wie Husserl von diesem mathematischen Anfang (in Erinnerung an den platonischen Topos vom Traum der Mathematiker von der Wahrheit und der Aussage, Mathematiker seien schlechte Philosophen, eine Linie, die sich von Platon bis Wittgenstein zieht) zu dem Ansatzpunkt der ‚Logischen Untersuchungen’ vordringt. In einem wichtigen Brief an Carl Stumpf aus dem Jahr 1890 bemerkt er: „Die Meinung, von der ich noch bei der Ausarbeitung der Habilitationsschrift geleitet wurde, dass der Anzahlbe-

64 Husserliana (Hua) XII, 280 ff. Dazu M. Hartimo, ‚Philosophie der Arithmetik‘, in: Husserl-Handbuch, a.a.O., S. 48 ff. 65 Husserl, Briefwechsel, Hg. von K. Schuhmann, Dordrecht 1994 Band 1, S. 158; siehe auch Husserl, Studien zur Arithmetik und Geometrie.Texte aus dem Nachlass (1886−1901), hg. von I. Strohmeyer, Husserliana XXI, Den Haag 1983, S. 244 ff.

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griff das Fundament der allgemeinen Arithmetik bilde, erwies sich bald als falsch. Denn durch keinerlei Kunststücke, durch kein ‚uneigentliches vorstellen’ kann man die negativen, rationalen irrationalen und die manngifachen komplexen Zahlen aus dem Anzahlbegriff herleiten“.66 Diese Einsicht führt ihn erst auf die Suche nach einer ‚Arithmetica universalis’, als einem „Stück formaler Logik“, das schichtenweise angelegt sein müsste. Es gibt unterste Schichten, Zahlenverhältnisse der Art 1+1=2, 1+2=3, sowie die Brüche, auf denen alles Spätere beruhe. Zahlen sind dabei als Zeichen zu lesen. Der Ansatz einer ‚Characteristica universalis‘ knüpft offensichtlich an Leibniz an und berührt sich eng mit Freges Konzeption. Von dieser zeichenhaften Lesart der Zahl her ergibt sich der Übergang in ein genuin logisches Interesse, zur Auffassung der Logik als elementarer Wissenschaftslehre. Dabei üben die ‚Logischen Untersuchungen’ grundlegend Kritik an der psychologistischen, genealogischen Lesart der Logik. Husserl gibt Jahrzehnte später in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1924 (Phänomenologische Psychologie: Psychologie der Eidetik) einen Rückblick auf die ‚Logischen Untersuchungen’, um den durchlaufenen Weg transparent zu machen. „Es handelte sich in den einzelnen Untersuchungen des zweiten Bandes um eine Rückwendung der Intuition auf die logischen Erlebnisse, die sich in uns, wenn wir denken, abspielen, die wir aber gerade dann nicht sehen, nicht im aufmerkenden Blick haben, wenn wir die Denktätigkeit in natürlich ursprünglicher Weise vollziehen […]. Es galt, dies verborgen sich abspielende Denkleben durch nachkommmende Reflexion in den Griff zu bringen und sie in getreuen deskriptiven Begriffen zu fixieren; es galt ferner, das neu sich ergebende Problem zu lösen, nämlich verständlich zu machen, wie sich in der Leistung dieses inneren logischen Erlebens die Gestaltung all jener geistigen Gebilde vollzieht, die im aussagend urteilenden Denken hervortreten“,67 Hervortreten sollten damit Urteil und Schluss, als objektiv geistige Prägemuster. 3. Psychologismukritik und ‚Logische Untersuchungen‘ Am Anfang dieser Annäherung steht die Auseinandersetzung mit dem in der philosophischen Szenerie seiner Zeit dominanten Psychologismus. Es ist Husserls zentrales Anliegen, eine ‚reine Logik’ als Wissenschaftslehre, also: als Lehre von den Bedingungen wahrer Aussagen strictu sensu von ihrer

66 Husserl, Der Begriff der Zahl, Hua XII, S. 83 ff. Vgl auch. R. Bernet, I. Kern und E. Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1996, S. 11 ff. 67 Husserl, Phänomenologische Psychologie, Vorlesungen Sommersemester 1925, hg von W. Biemel, Husserliana IX, Den Haag 1962, S. 18 und 20 f.

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Einordnung unter eine Psychologie des Denkens zu unterscheiden; ob diese nun Denkgesetze ermittelt, oder ob sie wie bei Dilthey das Unterfangen einer deskriptiven Psychologie verfolgt. Husserl zeigt, dass die logischen Formen nicht aus der faktischen Natur der Denkvollzüge, auch nicht aus Lebensbedürfnissen herzuleiten sind. Dies widerspricht dem Diktum einer Denkökonomik im wissenschaftlichen Positivismus eines Ernst Mach,68 wonach Argumentationen nach Denkgesetzen einzurichten sind, die einen möglichst geringen Kraftaufwand verlangen. Dabei trifft Husserl im Blick auf die Logik selbst eine Unterscheidung zwischen ‚normativer’ Logik: sie ist die präskriptive, vorschreibende Kunstlehre wissenschaftlichen Erkennens und enthält Grundsätze wie: „Ein Urteil soll nur bei voller Einsicht in den beurteilten Sachverhalt gefällt werden!“ Ihr steht die ‚reine Logik’ gegenüber. Die normativen Sätze der Kunstlehre beruhen auf theoretischen Voraussetzungen, die in dem Feld einer reinen Logik im Ganzen erforscht und begründet werden.69 In den ‚Prolegomena’ seines Werkes geht es Husserl darum, psychologistische Fehlschlüsse, die in gewissem Sinn auch naturalistische Fehlschlüsse sind, zu widerlegen. Das entscheidende Argument besagt, dass psychologische Denkgesetze immer nur zur Verallgemeinerung von Tatsachenbehauptungen gelangen, die auf Erfahrungswerten basieren.70 Sie führen nicht weiter als zu „Wahrscheinlichkeiten höchster Dignität“, wohingegen logische Sätze, wie der Satz vom Widerspruch, unter allen Umständen schlechterdings situationsinvariant (im Rang mathematischer Grundsätze oder platonischer Ideen) Geltung beanspruchen können. Daraus ergibt sich eine ständige Verwechslung durch den ‚psychologistischen Logiker’, der Idealgesetz, logischen Grund einerseits und Realgesetz, Realgrund andererseits miteinander vermischt. In Auseinandersetzung mit Benno Erdmann, dem Kommentator der Kantischen ‚Kritik der reinen Vernunft‘, hält Husserl fest, logische Gesetze ließen sich nur im Blick auf die Menschengattung behaupten, darüber hinaus zu springen, sei eine Vermessenheit. Damit wird einerseits ein nicht hintergehbares skeptisches Motiv eingeführt. Denn es wird geleugnet, dass allgemeinste Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt für die Erkenntnis gegeben seien. Eine rein-logische Wahrheit „an sich“ bleibt, wie Husserl festhält, gleichwohl „was sie ist“, sie behält, in welchem Zusammenhang auch im-

68 E. Mach, die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1886. 69 Vgl. Logische Untersuchungen, Hua XXII, S. 166 ff., dazu D. Zahavi, Intentionalität und Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchungen, Kopenhagen 1992, S. 53 ff., siehe auch U. Melle, Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, in: S. Ijseling (Hg.), Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung, Dordrecht 1889, S. 35 ff. 70 Dazu Bernet, Kern, a.a.O., S. 28 ff., sowie H. Peucker, ‚Logische Untersuchungen‘, in: Husserl-Handbuch, a.a.O., S. 55 ff.

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mer, ihr ideales Sein, ihre uneingeschränkte Geltung, und dies selbst, wenn sie gar nicht denkend erfasst wird. In diesem Sinn wird von einem Reich der Ideen gesprochen, das als axiomatisch hierarchisches System aufgebaut sein soll. Man kann mit Husserl auch sagen (LU § 35), die „rein logischen Einheiten (bildeten) einen ideal geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen, denen das Gedacht- und Ausgedrücktwerden (nur) zufällig“ ist.71 Damit ist zu fragen, wie diese reine Logik nun in realen Erkenntnissen und ihren Vollzügen begegnet, ohne dass sie ihre ideale Reinheit aufgeben muss. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von der Vereinzelung einer idealen Spezies, ihrer Spezifikation in individuellen Einzelfällen. Dass ein ideal-wahrer Satz auch normativ bzw. in einem jeweiligen Urteilsvollzug real werden kann, beruht also darauf, dass er die ideale Bedingung für real vollzogene Urteile ist. Husserl spricht hier von der ‚idealen Möglichkeit’. In keiner Weise sind aber die logischen Allgemeinheiten von sich aus auf ‚subjektive Erlebnisse’ beziehbar.72 Es zeigt sich aber, dass Husserl in der ersten Auflage der ‚Logischen Untersuchungen’ diese reine Scheidung so nicht durchhalten kann. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass das ideale Sein als ein letzter Punkt (wie in der platonischen ‚Anhairesis’ der Hypothesen73) nur in einer Phänomenologie des Denkaktes aufgewiesen werden kann. Ist Husserl also in seinen ‚Logischen Untersuchungen’ in den bekämpften Psychologismus zurückgefallen? Ihn selbst hielt diese Frage nachhaltig in Atem. Letzten Endes versuchte er, diesem Problem in der 2. Auflage zu entkommen. Ein Schlüsseltext ist hier der ‚Entwurf einer Vorrede’, der erst nach seinem Tod publiziert wurde und in dem er darauf hinweist, dass ‚de facto’ die Analysen als „Wesensanalysen“ durchgeführt worden seien, „aber nicht überall in einem gleichmäßig klaren reflektiven Bewusstsein. Wesensanalysen sind, im Sinn der VI. Logischen Untersuchung, „apodiktisch evidente Ideenanalysen“.74 Damit wäre die Erste Wissenschaft der Phänomenologie noch immer in einer eidetisch-deskriptiven Psychologie verortet. Husserl zielte freilich auf eine noch konsequentere Zurückweisung des Psychologismus. Die Phänomenologie sollte deshalb auf eine reine eidetische Logik, eben in der Art einer ‚Mathesis universalis’ begründet werden. Sie sollte die Formwissenschaft für alle mögliche einzelwissenschaftliche Erkenntnis sein, die aber stufenweise gewonnen wird, nicht von einem Prinzip aus, sondern in einer 71 Dazu näher H. Peucker, Von der Psychologie zur Phänomenologie. Husserls Weg zur Phänomenologie der Logischen Untersuchungen, Hamburg 2002. 72 Dazu G. Heffernan, Bedeutung und Evidenz bei Edmund Husserl. Das Verhältnis zwischen der Bedeutungs- und Evidenztheorie der ‚Logischen Untersuchungen‘ und der formalen und Transzendentalen Logik, Bonn 1993. 73 Platon, Politeia 532 d 2 ff. 74 Dazu Heffernan, a.a.O., S. 158 ff.

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methodisch kontrollierten, umsichtigen Deskription, bei der keine einzige Stufe übersprungen werden darf. Dabei hat Husserl die Stufen im Groben so vorgezeichnet: 1. Formenlehre der Bedeutungen, 2. Konsequenzlogik (Schlusslogik) 3. Theorie der (überhaupt nur) möglichen Theorieformen. Der Nachvollzug dieser Stufen kann zur Klärung des Gedankenganges beitragen: Ad 1.: Die Formenlehre erschließt sich als eine philosophische Grammatik von Bedeutungen, die nicht auf faktische Sprachen bezogen wird, sondern auf die Idee des Grammatischen selbst. Es geht um Begriffe, „welche die Idee der theoretischen Einheit konstituieren“ und beispielsweise um die Frage kreisen, wie selbstständige und unselbstständige Bedeutungen miteinander synthetisiert werden können. Unter den sehr komplexen Satz- und Schlussformen ist nun freilich zu unterscheiden. Es sind diejenigen hervorzuheben, die über das Schließen als ‚generelle Wahrheiten’ anerkannt werden können. Ad 2.: In ‚Formale und transzendentale Logik’, der Fortsetzung der ‚Logischen Untersuchungen’, kommt die Unterscheidung zwischen Konsequenzlogik und formaler Wahrheitslogik zum Tragen, die nach Husserl in der bisherigen Geschichte logischer Formen völlig übersehen wurde. In der Konsequenzlogik würde der Satz vom Widerspruch besagen: „Von zwei kontradiktorischen Urteilen sind nicht beide als eigentliche Urteile möglich, nicht beide zur Evidenz der Deutlichkeit zu bringen“ – dies ist auf der Grundlage der Wahrheitslogik so zu fassen: „Von zwei kontradiktorischen Urteilen ist notwendig eines wahr, das andere falsch“. Ad 3.: Die reine Logik muss, auf ihrer höchsten Stufe eine Theorie der überhaupt möglichen Theorieformen sein. Die Skizze ist hier besonders grobflächig, was auch damit zusammenhängt, dass Husserl keine Vorbilder für dieses Unterfangen erkennt und weiß, dass er sich weitgehend in Terra incognita bewegt. Auch hier ist es einfacher, der Ausarbeitung in der ‚Formalen und transzendentalen Logik’ zu folgen: Hier trifft Husserl die Unterscheidung zwischen ‚formaler Apophantik’: eben reiner Logik, und ‚formaler Ontologie‘, die auf den formalen Gegenstand Bezug nimmt. Beide stehen in einer engen Entsprechung zueinander, sind aber nicht miteinander identisch. Der Grammatik entspricht die Morphologie von möglichen Gegenstandskategorien (Einheit, Vielheit etc.), der Konsequenzenlogik entspricht das Verhältnis von Sein und Nichtsein von Gegenständen (‚immer‘; ‚überhaupt’). Darauf beruht auch die Unterscheidung zwischen Urteilen über Urteile und Urteilen über Gegenstände, wobei beides nicht in ein und derselben ‚Einstellung’ gewusst werden kann.75

75 LU § 52, vgl. dazu auch E. Tugendhat, Der Warheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 21970, S. 163 ff.

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3. Psychologismukritik und ‚Logische Untersuchungen‘

Phänomenologie ist für Husserl zu diesem Zeitpunkt nahezu gleichbedeutend mit einer Erkenntnistheorie für die reine Logik. Sie „erschließt die ‚Quellen’, aus denen die Grundbegriffe und die idealen Gesetze der reinen Logik ‚entspringen’, und bis zu welchen sie wieder zurückverfolgt werden müssen, um ihnen die für ein erkenntnistheoretisches Verständnis der reinen Logik erforderliche ‚Klarheit und Deutlichkeit’ zu verschaffen“. Nicht Platonisches ‚sozein ta phainomena’, die akribeia, die auf die Konkretion zielt, sondern die Aufsuchung der logischen Ideen in ihrer idealen, evidenten Gegebenheit, ist zunächst die Aufgabe.76 Es wird aber schon in dieser frühen Zeit die Husserl bewegende Frage gestellt, wie es möglich ist, „dass menschliches Denken, wenn es nach logischer Methode verfährt, eine an sich seiende Dinglichkeit, Natur, oder ein an sich Seiendes der Mathematik trifft?“ (Hua XXIV, S. 401). Damit verbindet sich das seinerzeit viel diskutierte Problem der ‚Transzendenz’: Wie kommt das phänomenologische Bewusstsein zu der Realität der Außenwelt, eine Frage, die sich für Diltheys Lebensbegriff durch die Einfühlung in andere Lebenszusammenhänge erübrigt hatte. Dabei kann man sich allerdings fragen, ob sie nicht eher ignoriert als gelöst worden war. Denn „was kümmern sich die Sachen an sich um unsere Denkbewegungen und um die sie regelnden logischen Gesetze?“ (Hua II, S. 3). Transzendenz im strengen Sinn bedeutet die Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände, also auf nicht Erkenntnisförmiges. Wo und wie könnte man, so fragt sich Husserl, davon sprechen, dass ein dem Bewusstsein gegenüber Transzendentes getroffen wird. Und er antwortet: „wenn die Beziehung eben selbst zu geben wäre, als etwas zu Schauendes“ (Hua II, S. 37). Erst mit den ‚Ideen‘, der Durchführungen seiner Untersuchungen seit 1905, dringt Husserl zu der Einsicht hindurch, dass auch das intentionale Korrelat eines Aktes, also der Gegenstand, so, wie er eben in diesem Akt intendiert wird, als evident gegeben erscheint. Husserl spricht an dieser Stelle vom ‚Korrelationsapriori’.77 In der Fluchtlinie dieser Fragestellung liegt es, dass Husserl in den Jahren während der Ausarbeitung seiner ‚Ideen’ von einer ‚transzendental-phänomenologischen Aufgabe’ spricht, davon, dass die „Korrelationen zwischen Akt, Bedeutung, Gegenstand“ zu erforschen seien. Deshalb richtet sich der Fokus nun auf das Bewusstsein als Evidenzhorizont der Phänomenologie. Das Bewusstsein ist im Sinn der Phänomenologie niemals als punktuelle Identität verfasst, sondern als punktuelle Evidenz. Es ist vielmehr ein Strom der punktuellen Evidenz. Eine etwas längere Passage sei zitiert, in der Husserl dieses Thema anreißt: „Und die Aufgabe ist nun doch die, innerhalb des

76 Vgl. dazu L. Embree und Th. Nenon (Hg.), Husserl’s Ideen, Dordrecht 2013, sowie A. Staiti (Hg.), Commentary on Husserl’s Ideas I, Berlin 2015. 77 Vgl. hierzu auch die ‚Phänomenologische Fundamentalbetrachtung‘, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Hua II, S. 56 ff.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

Rahmens reiner Evidenz oder Selbstgegebenheit allen Gegebenheitsformen und allen Korrelationen nachzugehen […] Und natürlich kommen da nicht nur die einzelnen Akte in Betracht, sondern auch ihre Komplexionen, ihre Zusammenhänge der Einstimmigkeit und Unstimmigkeit und die darin zutage tretenden Teleologien. Diese Zusammenhänge sind Einheiten der Erkenntnis, die als Erkenntniseinheiten auch ihre einheitlichen gegenständlichen Korrelate haben. Auf diesem Wege gelangen wir schließlich auch zum Verständnis, wie das transzendente reale Objekt im Erkenntnisakt getroffen werden kann, als was es zunächst gemeint ist, und wie der Sinn dieser Meinung sich im fortlaufenden Erkenntniszusammenhang schrittweise erfüllt. Wir verstehen dann, wie das Erfahrungsobjekt kontinuierlich sich konstituiert“ (Hua II, S. 13, 75).78 4. Das Projekt der ‚Ideen‘ Wenn man auf die Fortschreibung des phänomenologischen Konzeptes in Husserls ‚Ideen’ blickt, so muss man sich vor Augen führen, dass Bewusstsein für Husserl immer intentional ist: es ist Bewusstsein von etwas. Präfiguriert ist dies nicht erst bei Franz Brentano. Schon bei Platon ist jedes ‚legein‘ immer ein ‚legein ti’. 79 Die Phänomenologie begreift sich als Wesenslehre im Vorgriff auf die Einlösbarkeit des eidetisch erscheinenden Wesenskerns intentionalen Bewusstseins. Das Wesen ist im Bewusstseinsakt originär gegeben. Dies ist bei Akten des Fühlens und Wollens naheliegend. Komplexer sind alle Akte theoretischen Erkennens, in denen das Bewusstsein eine Art „Verheißung“ ist, angewiesen auf Bewährung. Husserl weist damit den intentionalen Akten eine innere Teleologie zu. Sie zielen auf die Erfüllung des theoretischen Vorgriffs ab.80 Die genuine Intentionalität jedweden Aktes hat eminente Implikationen. Sie macht den Psychologismus aus immanenten Gründen obsolet: Erlebnisse sind nicht in psychologische Reaktionen aufzulösen. Im Sinne der höchst naiven Aussagen, dieses Phänomen sei doch ‚eigentlich’ nur auf eine psychische Realisierung aufzulösen. Ebenso wenig lässt sich mit Husserl das Cartesische „Fundamentum“ des ‚Ego cogito’ als des Punktes einer eigentlichen Gewissheit festhalten,

78 Dazu N. de Warren, ‚Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie‘, in: Husserl-Handbuch, a.a.O., S. 65 ff., insbes. S. 71 f. 79 Diese Referenz des Sagens hat bereits in Platons Abgrenzung von den Schein-Erzeugungen der Sophistik einen prominenten Ort. Vgl. Seubert, Platon- Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, Freiburg/Br., München 2017, S. 150 ff. 80 Vgl. den klassisch gewordenen Aufsatz von E. Lévinas, Sur les ‚Ideen‘ de M. E.Husserl, in: Revue philosophique de la France et de l’Etranger, mars-avril 1929, S. 230−265.

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4. Das Projekt der ‚Ideen‘

dem eine opake Außenwelt entgegensteht. Auch Dilthey hatte die cartesianische Unterscheidung von res extensa und res cogitans unterlaufen, freilich in der Totalität des Lebens, wohingegen es Husserl gerade darum geht, ‚Intentio’ und ‚Intentum’ zu unterscheiden und korrelativ aufeinander zu beziehen. Apriorisch und vor aller Erfahrung ist deren Korrelation gegeben. Aus dem Korrelationsapriori von Noesis und Noema wird im Bewusstseinsstrom ein noetisch noematischer Kosmos des Seienden gegeben, in dem sich zuallererst die verschiedenen Seinsregionen abzeichnen. Wenn man mit grobem Pinsel diese Überlegungen nachzeichnet, so ergibt sich eine merkwürdige Ambivalenz. Methodisch folgt Husserl einem Grundzug der Ersten Philosophie, wiederum seit Platon, nämlich der Tendenz, sich aus der Doxa zu lösen und zu einem apodiktisch schlechthin gewissen Wissen zu kommen. In der Sache werden aber differenzierend jeweils einzelne intentionale Akte und Aktarten behandelt. Der Phänomenologe kommt auf dieser Stufe noch nicht zu einem Begriff des Bewusstsein transzendierenden Seienden im Ganzen, oder auch nur des Ganzen der Erfahrung, wie man es im Rahmen Erster Philosophie und Metaphysik erwartete. Die Eidetik findet die Phänomenologie der Welt im Bewusstsein. Dies hat freilich gute Gründe und ist keineswegs als Rückfall in den Psychologismus zu verkennen: Husserl erkennt, dass der eidetisch verfahrende Phänomenologe von Anfang an auf einer anderen Basis steht als der empirisch arbeitende Wissenschaftler. Dieser operiert im Sinne von ‚trial and error’: ‚Versuch und Irrtum’. Er ist an die Methodenschritte der Induktion gebunden. Die Phänomenologie dagegen greift immer auf das Wesen, das vollkommene Erscheinen des Eidos voraus. Es ist die Phantasie des Phänomenologen, es sind Variabilitäten seiner Vorstellung, die ihn jeweils sichtbar Gegebenes fingieren und „umfingieren“ lassen. Das Wesen ist ja immer nur in „Abschattungen“ gegeben. Husserls berühmtes Beispiel ist der Tisch, der von verschiedenen Seiten in seinem raumzeitlichen Erscheinen sichtbar zu machen ist. Hier kristallisiert sich eine vielleicht überraschende Nähe Husserls zu Nietzsches Perspektivismus heraus, bei aller offensichtlichen Divergenz der philosophischen Grundhaltung. Dem Verhältnis zwischen dem einzelnen Aktbewusstsein und dem Ganzen von Erfahrung wendet sich Husserl in jener Zeit immer wieder zu, unter anderem in seinem Text ‚Erfahrung und Urteil’, den sein Schüler Ludwig Landgrebe aus dem Nachlass ediert hatte.81 Darin wird verdeutlicht: Es gibt zwei Formen von Allgemeinheit, eine komparative Allgemeinheit, die jeweils entweder aktuiert wird oder nicht,

81 E. Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. von L.Landgrebe, Hamburg 1999.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

und eine eidetische Allgemeinheit, die von vornherein alle denkbaren nur möglichen Fälle mit umfasst. Offenbleiben muss in alledem noch, wie jener Fußpunkt selbst in die Erkenntnis einzuholen ist, an dem die Variabilitäten ins Invariante umschlagen. Dies ist der systematische Ort der bei Platon als Anhairesis tes hypotheseis gilt, ein höchster Punkt der Betrachtung. Jeweilige einzelne Seinsgeltungen werden durch andere, höherstufige eidetische Ansichten ‚durchstrichen’, sie werden, wie Husserl auch sagt, ‚ent-täuscht’. Eine Täuschung wird jeweils abgelegt.82 Ein Horizontbewusstsein, das „Vermöglichkeiten“ schafft, bezeichnet diese Variierungen. In den ‚Ideen’ spricht Husserl davon, dass die Variierungsmöglichkeit selber tendenziell unendlich ist und auf den Begriff der Welt, als des Inbegriffs des Seienden im Ganzen, führt. Epoché und transzendentale Reduktion führen auf dieses erscheinende Eidos. Husserl war sich der Dignität der platonischen Tradition eher ungefähr und im allgemeinenkt bewusst.83 Die Geschichte der Philosophie und deren große Texte spielen bei ihm keine zentrale Rolle. Er machte gleichwohl von jenem platonisch aufgeladenen Begriff der ‚Theorie‘ Gebrauch, eng verbunden mit dem Begriff der Reflexion (re-flexio): Rückwendung, woraus/aus der er den Phänotyp des Phänomenologen gewinnt. Dieser ist „unbeteiligter Beobachter“. Er hält Abstand zum allgemein menschlichen Dahinleben. Er befragt das Gegebensein der Phänomene, das Wesen für ein Bewusstsein.84 Nicht dagegen ist er an Überzeugungen, an Normen, also an epochalen Begrenzungen der Geltungsdauer interessiert. Hier tut sich etwa der grundsätzliche Hiat auf: Philosophie ist nicht Weltanschauung. Der Epoché-Begriff selbst ist eher in der Grundlinie der stoischen Ethik verankert.85 Er bedeutet bei Husserl so viel wie ‚Innehalten’: ein Inhibieren und Außer-Kraft-setzen. Aus dieser Inhibierung ist indes der Weltbegriff, der sich in den eigenen Konstitutionsleistungen einstellt, ausgenommen. Welt bleibt in einer Generalthesis der Phänomene in Geltung. In den ‚Ideen I‘, namentlich ihrer für diesen Zusammenhang entscheidenden ‚phänomenologischen ‚Fundamentalbetrachtung’, hat Husserl seine Phänomenologie in die Spuren der Kantischen Transzendentalphilosophie gestellt. Transzendentale Erkenntnisse sind nach Kant solche, „die sich 82 Dass Philosophie dort, wo sie den Weg von den Abbildern zum Urbild, von der Meinung (doxa) zum Wissen beschreitet, immer auch der Täuschungen sich entledigt, ließe sich auch bei Fichte und Hegel zeigen. 83 Dies hat schlicht damit zu tun, dass sein ideenhistorisches Interesse nicht besondes ausgeprägt war, vgl. dazu Husserl-Handbuch S. 135 ff. ‚Phänomenologie als Erste Philosophie‘ (Verf. F.Fabbinelli), S. 135 ff; Eidetik (J. Jansen), S. 142 ff. 84 Vgl dazu Bernet, Kern, Edmund Husserl, a.a.O., S. 56 ff. mit einer übersichtlichen Darstellung der verschiedenen, von Husserl beschrittenen Wege. 85 Hua II, S. 65 f., Hua XXIV, S. 216. Siehe zu den existenziellen Dimensionen jetzt K. Schippling und H. Seubert, Bewusstseinssprung. Im Raum von Welt und ich, Basel 2021.

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4. Das Projekt der ‚Ideen‘

nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (KrV B 25). Diesen Ansatz universalisiert die Epoché, und erst damit tritt die Phänomenologie strictu sensu in den Status der Ersten Philosophie ein. Alles Erscheinen ist Erscheinen für das Bewusstsein, auch das Ansichsein der Außenwelt. Es ist unstrittig, dass Husserl damit in die Linienführung des Idealismus eintritt, nicht aber einer Bewusstseins- oder Selbstbewusstseinsphilosophie des transzendentalen Ego (Kritiken wie jene von Wolfgang Cramer zeigen das contre coeur).86 Der Bewusstseinsstrom beschäftigt ihn insofern, als er das Medium oder Organon ist, in dem die phänomenale Welt erscheint. Aufgrund von Korrelationen87 führt der Rückgang in das Bewusstsein zugleich in die Transparenz der Außenwelt in ihren elementarsten Grundformen. Damit wird es allerdings erforderlich zu zeigen, dass das Bewusstsein nichtwelthaft ist. Man wird sich fragen müssen, wie Heideggers Auffassung des Daseins, das immer schon In-der-Welt-sein ist, sich dazu verhält! Die phänomenologische Korrelation kann gerade nicht auf eine Cartesische Dualität von res cogitans versus res extensa zulaufen, weil damit die Welt- und Phänomenrepräsentanz, die sich im Bewusstseinsstrom konstituiert, unterlaufen wäre. Husserl sucht vielmehr zu zeigen, dass der Unterschied darin liegt, dass dem unthematisch auf Weltdinge bezogenen Bewusstsein seine Gegenstände immer nur ‚in Abschattungen’ gegeben sind; während sich das Bewusstsein abschattungsfrei, in einem absoluten Sein selbst gegeben ist. Eben als die Selbstauffassung des Bewusstseinsstroms, der sich in einer Verlängerung der Gegenwart erschließt. Man vergleiche damit die „stream of consciousness“Struktur im modernen Roman bei Joyce oder Proust, wobei in der Romankunst das Unbewusste in den Bewusstseinsstrom eindringt und ihn durchkreuzt.88 Im Erlebnisstrom bin ich, nach Husserl, immer Vollzugs-Ich. Wenn ich Erlebnisse als meine Erlebnisse beschreibe, so treten sie ‚rein’ in den Blick. Wie aber kommt es zu dieser Wendung ins Transzendentale? In den ‚Logischen Untersuchungen’ behandelte Husserl die Konstitution ‚idealer Gegenstände‘, wie der Zahlen und logischen Formen. Dies ist der Ausgangspunkt des Mathematikers und Logikers. Es geht aber darum, die Akte transparent zu machen, die jener eidetischen Erkenntnis zugrunde liegen. Entscheidend ist hier die Vorlesung aus dem Jahr 1905, die die 1928 von Heidegger herausgegebenen ‚Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren 86 W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, Frankfurt/Main 21959, siehe auch schon ders., Das Problem der reinen Anschauung, Tübingen 1937, S. 7 ff. 87 Bernet, Kern, Edmund Husserl, a.a.O., S. 66 ff. 88 Kristina Schippling und Harald Seubert, Zeitbilder: Ästhetica und Anaesthetica. Literarische und cineastische Weltperzeption (Arbeitstitel), Basel i. V. Ein Gespräch, Basel 2021, im Erscheinen.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

Zeitbewusstseins“ als integralen Bestandteil enthält. Hier vollzieht sich der Durchbruch von konstituierten einzelnen Entitäten zu dem sie konstituierenden Fluss, und um den Aufweis der Spezifität des Bewusstseinsstromes aus dem Zeitbewusstsein (namentlich ist hier auf die §§ 35 und 36 jenes Kollegs zu verweisen). Eine parallele Anlage zeigt die Ding-Vorlesung von 1907. Hier fragt Husserl nach der Konstitution „der Welt und der Einheit der Bewusstseinssubjektivität“ (Hua, IX, S. 43). Ausgehend von dieser Einsicht, skizziert Husserl in einer frühen Phase auch sein Programm der transzendentalen Phänomenologie: „Es handelt sich um die grundlegenden Partien einer künftigen Phänomenologie der Erfahrung, um eine von den nächstliegenden und ersten Anfängen ausgehende und von da aus möglichst tief und weit geführte Aufklärung des Wesens der Erfahrungsgegebenheit, mindestens in ihren niederen Formen und Stufen“.89 Die Wahrnehmungsanalysen führen dazu, dass die Phänomenologie auf ‚Fundierungsverhältnisse’ zurückgreift. Intentionale Erlebnisse sind ineinander fundiert; wobei als Urbeispiel aller solcher Fundierungen die elementare Wahrnehmung der Dinge im Raum dient. Der Ausgangspunkt von den Einzeldingen unterscheidet sich deutlich von Diltheys oder Heideggers umgangshaftem, auf die ‚pragmata’ bezogenem, Zugang. Für Husserl ist ein Vollzug, wie etwa eine Liebesempfindung zurückgebunden an das raum-zeitliche Gegebensein der Person, der die Empfindung gilt, und daher in ihr fundiert. Ohne sie und ihre leib-geistige Präsenz wäre der gesamte Vollzug nicht möglich. Gegenüber seinem Freund Albrecht (Brief vom 1. Juli 1908) sagt er es noch ausdrücklicher: er sei auf dem Weg zu großen Publikationen „mit dem letzten Ziel einer völlig neuen Kritik der Vernunft, zu der schon meine ‚Logischen Untersuchungen’ Fundamente enthalten“ (Briefwechsel IX, S. 40 f.). Dem Freund gesteht er freilich auch die großen Schwierigkeiten dieser Arbeiten ein. „Ich sehe goldene Früchte, die keiner sieht und greifbar nahe habe ich sie vor Augen. Aber ich bin Sisyphus, dem sie wieder entschwinden, wenn er nach ihnen greift. Und dieses Greifen ist harte und härteste Arbeit“ (ibid). Husserl geht, so kann man leicht vereinfachend sagen, von der Eidetik der ‚Logischen Untersuchungen’ zurück auf die Elementarität der raum-zeitlich ausgedehnten Dinge: um sich von hier aus dem Ganzen einer eidetisch phänomenologischen Weltrepräsentaton anzunähern.

89 E. Husserl, Ding und Raum, a.a.O., S. 3, dazu: M. Sommer, Abschattung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), S. 271 ff., sowie U. Claesges, Edmund Husserl: Theorie der Raumkonstitution, Den Haag 1964, S. 9 ff. Siehe auch M. Merleau-Ponty, Der Philosoph und sein Schatten, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philsophische Essays, Hamburg 1967, S. 45 ff.

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5. Philosophie als „strenge Wissenschaft“ und Selbstbesinnung

5. Philosophie als „strenge Wissenschaft“ und Selbstbesinnung ‚Philosophie als strenge Wissenschaft’ ist jener Artikel in der Zeitschrift LOGOS (1910/11) überschrieben, der den Briefwechsel mit Dilthey initiierte.90 Walter Biemel bezeichnete die Abhandlung mit guten Gründen als „den Block“, auf dem Husserls weiteres Denken aufruhe. Philosophie bleibt ‚erste Wissenschaft’ (prote Philosophia). Sie würde die ihr und nur ihr eigene dezidierte Schärfe verlieren, wenn sie sich auf natur- aber auch auf geisteswissenschaftliche Methodik begründen würde. Naturwissenschaften haben „die Wirklichkeit, in der wir leben“ zur Grundlage. Später wird Husserl mit großer Resonanz in den Sozialwissenchaften, etwa bei Alfred Schütz, von „Lebenswelt“ sprechen (ein Begriff, der sich Hugo von Hofmannsthal verdankt. Mit dem Husserls Ehefrau Malwineentfernt verwandt war.) Es ist die Lebenswelt, die sich aller Theoriebildung entzieht und ihr vorausgeht. Man wird die lebensweltliche Orientierung nicht an einem einzigen Punkt enträtseln können. Sie springt aus der Reflexivität heraus. Philosophie ist, negativ charakterisiert, radikale Befragung: nichts Vorgegebenes, auch die größte Autorität eines Kant, eines Aristoteles entbindet nicht jener Frageradikalität. „Vor allem darf sie nicht ruhen, bis sie ihre absolut klaren Anfänge, d.h. ihre absolut klaren Probleme, die im eigenen Sinn dieser Probleme vorgezeichneten Methoden und das unterste Arbeitsfeld absolut klar gegebener Sachen gewonnen hat“.91 In seinen Korrespondenzen, insbesondere mit Dilthey, besteht Husserl dann darauf, dass der Anfang als Prinzip metaphysisch sei. Das Cartesische Methodenideal einer unbedingten Transparenz der einzelnen Schritte ist indes für die Phänomenologie verpflichtend, obwohl sie in die tiefsten Schichten der Selbstgegebenheit der Phänomene hineinreicht. „Echte Wissenschaft kennt, soweit ihre wirkliche Lehre reicht, keinen Tiefsinn. Jedes Stück fertiger Wissenschaft ist ein Ganzes von den Denkschritten, deren jeder unmittelbar einsichtig, also gar nicht tiefsinnig ist. Tiefsinn ist Sache der Weisheit, begriffliche Deutlichkeit und Klarheit Sache der strengen Theorie“ (ibid., S. 339). Nicht Weisheit (sophia) ist die Bestimmung der Philosophie, auch wenn sie ins Vortheoretisch Metaphysische ausgreift. Sie hat vielmehr scientia prima, Prote Episteme zu sein. Dies ist Husserls streng-wissenschaftliches Methodenideal. In dem Briefwechsel mit Dilthey wird deshalb die sublime Pointe dieses Ansatzes verdeutlicht: dass hinter jener Ersten Philosophie nicht noch weitere Schichten verborgen bleiben dürften, also keine Zugänglichkeit durch eine

90 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, mit einer Einleitung hg. von E. Marbach, Hamburg 2009, S. 88 ff. als kritische Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der geistigen Situation und Unsituation der Zeit. 91 HuA XXV, S. 60.

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vorausliegende Metawissenschaft, etwa eine ‚Phänomenologie der Metaphysik’.92 Mit der Bestimmung als Erste Philosophie erreicht die Phänomenlogie ihre Sinnklarheit und Selbstgenügsamkeit. Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung der ‚Ideen I’ weckte in Husserls ehemaligem Göttinger Schülerkreis (bei Pfänder, Conrad-Martius, die dann nach München gingen, bis heute ein allerdings verblassender Schweif phänomenologischer Traditionsbildung mit Scheler als Enfant terrible) den Verdacht einer Re-kantianisierung oder eines Rückfalls in den Neukantianismus, der bei näherer Betrachtung auch neukantianischer Theoriebildung absurd erscheint. Ganz anders fiel die Reaktion von Jean-Paul Sartre aus, der in den frühen dreißiger Jahren, im unmittelbaren Umkreis der Hitlerschen Machtergreifung in Berlin die ‚Ideen’ auf Deutsch studierte: „Husserl hat das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinversetzt“, so Sartre unmittelbar im Jahr 1933! „Er hat uns die Welt der Künstler und Propheten zurückgegeben: fürchterlich, feindselig, gefährlich, mit Häfen der Armut und der Liebe. Er hat für eine neue Abhandlung der Leidenschaften Platz gemacht, die sich von dieser so simplen und so grundlegend von unseren Kennern verkannten Wahrheit leiten lassen würde: wenn wir eine Frau lieben, dann weil sie liebenswert ist. So sind wir von Proust befreit. Befreit gleichzeitig vom ‚Innenleben’: vergeblich würden wir die Verhätschlungen unserer Intimität suchen, weil doch schließlich alles draußen ist (tout au dehors!) alles, sogar noch wir selbst: draußen, in der Welt, mitten unter den Anderen. Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen“93– Diese Einsicht wird für das Verständnis der verschiedenen, teils sehr weit auseinandertreibenden Fortschreibungen des Husserlschen Denkansatzes, elementar sein. Mit der Selbstgegebenheit als der Phänomenologie und ihrem Charakter als Erste Philosophie verbindet sich die schrittweise und umwegige Genese der ‚Ideen‘. 1913 erscheint der erste Band der Ideen mit seiner Phänomenologischen Fundamentalbetrachtung; der zweite Band sollte die Konstitution

92 Vgl. dazu G. Berger, The Cogito in Husserl’s Philosophy, Evanston 1972; siehe auch die in jüdischem Denken weitergeführte Perspektive bei E. Lévinas, Totalité et l’infini. Essai sur La l’extériorité´, Den Haag 1961 und ders., Ethique et infin. Essai sur l’extériorité, Den Haag 1961, S. 7 ff. 93 J.-P. Sartre, Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: Die Intentionalität, in: Ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1933−1939, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 36 f. Siehe dazu auch Chr. Bermes, ‚Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 1994, S. 19 ff., siehe auch unter Rezeptionsgesichtspunkten B. Waldenfels, in den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/Main 1985 u.ö., S. 35 ff.

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der, geschichtet vorliegenden, Welt transparent machen: Schichten der animalischen Natur, der seelischen und der geistigen Welt. An jenem zweiten Band, dessen Grundrisse wir jetzt in Husserliana Band IV im Einzelnen studieren können, arbeitete Husserl bis 1928. Ich neige der etwa von Biemel und Held, Philosophen mit einer eigenständigen phänomenologischen Zugangsweise, nahegelegten Auffassung zu, dass sich bei Husserl eine große durchgehende Linienführung erkennen lasse, die dahin führt, dass der 3. Band der ‚Ideen’ der Begründung einer ‚Ersten Philosophie’ gewidmet sein sollte, die dann in einer Vorlesung 1924/25 entfaltet wurde. Die ‚Cartesianischen Meditationen‘, ursprünglich Pariser Vorträge, könnte man als die Ausarbeitung jener Ersten Philosophie verstehen. In einem Brief an den polnischen Freund und Schüler Roman Ingarden positioniert sich Husserl 1930 zu der Chronologie seines Denkens: „Überhaupt ist es ein wahres Unglück, dass ich mit der Ausgestaltung meiner transzendentalen Phänomenologie im systematischen Entwurf so spät zustande gekommen bin“.94 6. Leiblichkeit und inneres Zeitbewusstsein Husserl folgt in den ‚Ideen’ zunächst einem sensualistisch empiristischen Grundmotiv: das Bewusstsein ist aufgrund von Empfindungsdaten auf die Noemata, die erscheinende Welt bezogen. Jede Apperzeption geht von einem Empfindungsgehalt aus, weist aber über ihn hinaus, so dass die jeweilige begrenzte Perspektive auf den Zusammenhang mit anderen solcher Perspektiven („Mitgegenwärtighaben“) verweist. Diesen Akt beschreibt Husserl als „Appräsentation“. Der phänomenologisch präsent gemachte Gegenstand wird im Umkreis seiner bis ins Unndliche reichenden Horizonte erschlossen. Dazu kam Husseerl durch Vorarbeiten, in denen er sich seit 1900 intensiv mit den Voraussetzungen von Wahrnehmung befasst. Es ist sein Verdienst, jenen Elementarbereich des Erlebens, einschließlich der Leiblichkeit nicht mehr wie in der Transzendentalphilosophie gängig ausschließlich als Stoff zu verstehen, der kategorial geordnet und strukturiert wird. Vielmehr konstituiert sich wahrzunehmende Einheit schon auf dieser Ebene. Dies macht es erforderlich, den Blick auch auf die Leiblichkeit zu konzentrierten. Mein Eigenleib muss bestimmte Bewegungen vollziehen, damit ich wahrnehmen kann: etwa Farbe, Gewicht, Dichte erschließen sich in Kinästhe-

94 Siehe zu der Genealogie im Hintergrund auch T. Horsten, Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis, a.a.O., S. 171 ff., sowie ferner R. Ingarden, Über die gegenwärtigen Aufgaben der Phänomenologie, in: Archivio di Filosofia 1 (1957), S. 229 ff.

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sen. Auf diese Weise entstehen immer schon Konfigurationen, Zusammenhänge, niemals nur einzelne punktuelle Perzeptionen der sinnlichen Wahrnehmung. Und es entstehen Assoziationen, etwa die Paarung, die auftritt, wo ein Phänomen ein anderes mit sich führt oder nach sich zieht. Offensichtlich verdanken diese Erwägungen wesentliche Einsichten der beschreibenden Assoziationspsychologie der Zeit. Sie bilden diese Befunde aber eigenständig in die Grundhaltung der Phänomenologiehinein um. Es ist ersichtlich, dass dem inneren Zeitbewusstsein in diesem Zusammenhang eine exponierte Position zukommt. Bewusstsein bildet sich zeitlich als Strom aus. Der Erlebnis- oder Bewusstseinsstrom wird von Husserl von der Mitte der Gegenwart, ihrer Urimpression, her konzipiert, ein Zug, der Husserl mit Augustins Zeitabhandlung verbindet. Heidegger wies seinerseits eine solche Zeitkonzeption dem ‚vulgären Zeitbegriff‘ zu..95 Vergangenes lässt sich nur fassen als ‚verflossenes Heute’; Zukunft als ein „bevorstehendes Jetzt“.96 Wir gehen in unserem Zeitbewusstsein immer von einer Insel des Gegenwärtigen, gleichsam einer Urimpression aus, um die herum sich ein Hof des Kommenden und Gewesenen lagert. Retentionen, Rückgriffe und Protentionen, Vorgriffe. Diese sind freilich nicht wie die räumlichen Perspektiven als Abschattungen verfasst, sondern werden jeweils mit vorgestellt, appräsentiert. Sie bilden daher eine Voraussetzung für Akte der Wiedererinnerung, dieWeckung von abgesunkenen Gegenwarten, die im Erinnerungsstrom ihre dauerhafte Präsenz haben, und antizipatorische Vorgriffe auf das Künftige ermöglichen. Später wird Husserl ausdrücklich sagen, dass „alle Konstitution jeder Art und Stufe von Seiendem meine Zeitigung ist“. Das heißt auch, jede Synthesisleistung wandelt in ihrer Weise die Ursynthesis des Zeitbewusstseins ab. Daraus ergeben sich nun zwei fundamentale Folgerungen: (1) Auch ideale Gegenstände sind nicht einfach zeitfrei; sie sind jederzeit im Zeitstrom zu erzeugen, zugleich sind sie ‚nirgends’, nicht an einer spezifischen Stelle darin fixiert. (2) Husserl hat deutlicher als jeder Denker vor ihm gesehen, dass Zeit und Bewusstseinsstrom aufs Engste ineinander verschränkt sind. Das Ich lässt sich reflektierend, erörternd, selbst als phänomenologischer Gegenstand thematisch machen. Es muss aber vor aller Vergegenständlichung ein originäres Michselbstwissen sein: Instantan, vorreflexiv (strukturell ähnlich wie

95 Vgl. zu Hintergründen und weiterführenden Gedanken auch P. Ricoeur, Zeit und Erfahrung, Band 1: Zeit und historische Erzählung, München 1991, S. 7 ff., sowie De Warren, Husserl and the Promise of Time.Subjectivity in Transcendental Phenomenology, Cambridge 2009 ff. 96 Vgl. E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hg. von M. Heidegger, Tübingen 1980, S. 367 ff.

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D. Henrich die Anfänge des deutschen Idealismus bestimmte).97 Dieses Ich konstituiert sich aus dem Zeitstrom und es sinkt zurück in den Fluss der Retentionen, der seinerseits von der Art des unmittelbar Bewussten bleibt und sich als eine „Lebendige Gegenwart“ mitteilt.98 Die parallel datierende belletristische Literatur des Fin de siècle bestimmte diesen Strom eher als ein Sich-Verlieren. Man denke an das ‚Entgleiten’ bei Loris, dem jungen Hofmannsthal: „aus meinem eigenen Ich durch nichts gehemmt, mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd“.99 Die Phänomenologie der Leiblichkeit führt beim späteren Husserl zu einer sehr tief reichenden Explikation der Fremderfahrung. Eigenleib und der Leib des anderen sind gleichsam monadisch ineinander gespiegelt. Wiederum muss dabei eine Epoché vollzogen werden (Held spricht treffend von Robinsonsituation!). Von der gemeinsamen Sphäre, die ich mit dem Anderen teile, sehe ich zunächst ab, um überhaupt zur Konstitution der Intersubjektivität zu kommen. Die Phänomenologie der Intersubjektivität fragt, wie das Alter Ego in der Eigenheitssphäre des Egos schon erscheint. Die deiktische Verortung „Hier“ und „Dort“ setzt eine Trennlinie: Eigenund Fremdleib sind durch sie geschieden. Dennoch begegnet der andere Leib, dessen biophysische Raumstelle ich niemals einnehmen kann, nicht wie ein beliebiger raum-zeitlich gegebener ausgedehnter Körper, sondern als ‚meinesgleichen geschieht’.100 (Robert Musil gebrauchte diesen Begriff zur Beschreibung der „Parallelaktion“ des Jahres 1914.) Geschichte griff in Husserls späten Jahren unmittelbar und destruktiv in das eigene Leben ein: in der Erfahrung eines Verlustes von Rechten und einer gewaltsamen Vereinsamung durch die ideologische Anfeindug der NS-Zeit. In der philosophischen Konzeption wird Geschichte spät erst thematisch. Bahnbrechend ist hier der 1935 entwickelte Wiener und Prager Vortrag, ‚Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‘.101 Es ist Husserls Diagnose, dass mit der neuzeitlichen Wissenschaft,

97 Vgl. D. Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, München 2007. 98 K. Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Phaenomenologica Band 23, Den Haag 1966. 99 H. von Hofmannsthal, Terzinen über Vergänglichkeit, in: Ders., Gesammelte Werke. Gedichte, Dramen I, Frankfurt/Main 1979, S. 21. 100 Vgl. die gute Übersicht I. Kern, Phänomenologie und Intersubjektivität, in: Husserl-Handbuch, a.a.O., S. 222 ff., mit weiteren Belegstellen aufschlussreich: D. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität, Dordrecht 1996, S. 50 ff. 101 Dieses Momentum zeichnet sich schon in dem Roman von F. Theodor Vischer, Auch Einer (1879) ab, Frankfurt/Main, Leipzig 1987, hg. von Otto Borst. Musil stellte seinen ‚Mann ohne Eigeschaften‘ wesentlich unter die Perspektive der „Paralleaktion“, Band I, Reinbek 1979, S. 10 ff.

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die ihren Anfang bei Descartes oder Bacon erfährt, sich der Weltbegriff fundamental verschoben habe. Welt wird ‚Inbegriff der Gegenstände’, die durch Methoden zur Kenntlichkeit gebracht werden. Die alltägliche, nicht epistemisch und technisch zugerichtete Lebenswelt hingegen bleibt meistens im Unthematischen. Allenfalls durch Klugheit, die vortheoretische Weltorientierung wird sie doch zum Thema.102 Husserl markiert hier eine tief reichende Demarkationslinie. Die Differenz liegt Husserl zufolge darin, dass die Wissenschaften sich in Antike und Mittelalter immer nur endliche, im Lebenshorizont verankerte Aufgaben stellen konnten. Anders steht es seit der Mathematisierung, die neuzeitlicher Wissenschaft zugrunde liegt. Sie beruht auf einer apriorischen Axiomatik, nach der die Erfahrung kategorisiert wird. Symptomatisch ist für Husserl die Kantische Charakterisierung der Art, wie sich der Forscher von der Natur belehren lässt, „nicht wie ein Schüler, der dem Lehrer folgt, sondern als „Richter (Vernunft-Vernehmen), der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“.103 Sprichwörtlich wurde seit Kant in Metaphysik und Metaphysikkritik die Metapher von dem „großen Verhör“, der Vernehmung der Vernunft. Der Topos von der Welt als Gestell, wie Heidegger sie in seiner Technik-Philosophie auffasst, die ohne Husserls Antizipationen gar nicht denkbar wäre, oder Max Webers Rede von dem „stählernen Gehäuse“ setzen an dieser Stelle an. Husserl betont die Tendenz einer unabgeschlossenen Idealisierung und Mathematisierung der Welt, die den natürlichen Weltbezug zurückdrängt. Drei Passagen aus der Krisis-Schrift können dies verdeutlichen: „Mit der ersten Konzeption von Ideen wird der Mensch allmählich zu einem neuen Menschen. Sein geistiges Sein tritt in die Bewegung einer fortschreitenden Neubildung […]. Es verbreitet sich in ihr zunächst […] ein besonderes Menschentum, das, in der Endlichkeit lebend, auf Pole der Unendlichkeit hinlebt“ (Hua VI, S. 322).104Damit ergibt sich die Überformung der Praxis durch die Theorie, die dadurch wiederum durch die angewandten Wissenschaften und die Technik die Praxis bestimmt. Der Cartesische und der Baconsche Anfang neuzeitlicher Naturwissenschaften bilden ein Syndrom, „die im Übergang von theoretischer zur praktischer Einstellung sich vollziehende Synthesis der beiderseitigen Interessen, derart dass die in geschlossener Einheitlichkeit und unter Epoché von aller Praxis erwachsende Theoria (die universale Wissenschaft) dazu berufen wird […] in einer neuen Weise der Menschheit, der in 102 Dazu ausgehend von Michael Polanyi, R. Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Velbrück Wissenschaft, 2008, S. 133 ff. 103 Kant, K.r.V., B. XIII. 104 Die Kürzel beziehen sich jeweils auf den Band der Husserliana-Ausgabe mit der jeweiligen Seitenzahl.

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konkretem Dasein zunächst und immer auch natürlich lebenden, zu dienen“ (HuA VI, S. 329). Husserl geht es um die Krisis dieses Wissenschaftsvertändnisses vor dem Horizont neuzeitlichen Denkens insgesamt. Er hält, anders als Heidegger, bis zu seinem Tod, immer an der Konzeption von Philosophie, als auf Klarheit und Methodizität verpflichteter strenger Wissenschaft, fest. Er versteht also das Krisis-Symptom im medizinischen Sinn als Indizierung des Wendepunktes einer Krankheit, an dem es sich zeigen müsste, ob sie zum Tode oder zum Leben ausschlägt. Die mögliche Heilung kann im Sinne Husserls nur von einer tieferen Grundlegung der Wissenschaft selbst ausgehen, die die Wunde schlug. Die Philosophie als Erste Wissenschaft muss die Zwecke bestimmen, während die Einzelwissenschaften auf der Ebene der Effizienz den Zusammenhang, nur Funktionen und Mittel kennen. Eine Flucht in vorrationale Weltanschaulichkeit, wie sie in der Zeit vielfach diskutiert wurde, zog Husserl nie in Erwägung. Der Erste Weltkrieg, die mit ihm einsetzende Desorientierung und aufziehende Barbarei in einer Welt der höchsten wissenschaftlichen und technisch zivilisatorischen Erfolge, warfen das Problem nach einer höheren wissenschaftlichen Rationalität auf, die den Pathologien jener Krise gewachsen ist. Sigmund Freud schreibt etwa in dieser Epoche sein ‚Unbehagen in der Kultur’.105 Husserl erinnert vor diesem Epochenhintergrund daran, dass die Lebenswelt der unhintergehbare, wenn auch verdeckte Anschauungsboden der Wissenschaft bleibt: „Aber der Naturforscher macht sich nicht klar, dass das ständige Fundament seiner doch subjektiven Denkarbeit die Lebensumwelt ist, sie ist ständig vorausgesetzt als Boden, als Arbeitsfeld, auf dem seine Fragen, seine Denkmethoden allein Sinn haben. Wo wird nun das gewaltige Stück Methode, das von der anschaulichen Umwelt zu den Idealisierungen der Mathematik und zu ihrer Interpretation als objektives Sein führt, der Kritik und Klärung unterworfen?“ (HuA IV, S. 342 f.). Nun tritt aber in der habituell gewordenen wissenschaftlich technischen Welt ein zweiter Knoten, gleichsam eine Reintroduzierung der Wissenschaft in die Lebenswelt, ein: Die Menschheit bedient sich nämlich gleichsam natürlich der technischen Errungenschaften. Husserl spricht vom ‚Einströmen’ der wissenschaftlichen in die natürliche Welt. Der Husserlsche Lebensweltbegriff erweckt zu Anfang den Eindruck, Kontrastbegriff zu dem immer undurchdringlicher werdenden epistemischen Gehäuse zu sein. Bei näherer Betrachtung erweist er sich aber

105 S. Freud, Unbehagen in der Kultur (1929/30), in: Ders., Studienausgabe Band IX, hg. A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/Main 1982, S. 191 ff., vgl. auch ibid. S. 33 ff.: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, a.a.O., S. 33 ff.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

als konkreter Universalhorizont der Wissenschaft. Sie ist in diesen Horizont einbegriffen, auch wenn sie darum nicht weiß oder dies verdrängt. Husserl spricht selbst davon, dass sich das Problem nun verschoben habe; Lebenswelt tritt als „das eigentliche und universalste Problem“ (Hua VI, S. 137) ans Licht, während es zuerst nur darum gegangen war, die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zu definieren. Letztlich führt diese Frage auf eine Diagnostik der spätzeitlichen wissenschaftlichen Zivilisation, die aber, entgegen der weltanschaulichen Kulturkritik, niemals in eine Wissenschafts- oder gar Vernunftskepsis umschlägt. Neu zu tarieren ist allerdings das Verhältnis von Anschauung und Denken (Theorie). „Der leere und vage Titel Anschauung statt ein Geringes und Unterwertiges gegenüber dem höchstwertigen Logischen“ zu sein, „in dem man vermeintlich schon die echte Wahrheit hat“, führt auf die philosophische Grundproblematik der originären Gegebenheit der Phänomene. Die Gegebenheit der Lebenswelt in natürlicher Einstellung ist zu unterscheiden von der letzten Sinnbildung des transzendentalen Ego, die die Lebenswelt phänomenologisch zugänglich macht. Dennoch macht sich die Prote Philosophia zur Sachwalterin der Lebenswelt gegenüber deren Verdrängung durch die Einzelwissenschaften. Walter Biemel hat jenen späten Vorstoß auf die Lebenswelt triftig als „Kreuzungspunkt“ der Husserlschen Forschungen verstanden.106 Zum einen kann die Lebenswelt-Problematik nur „für eine transzendentalphilosophische Phänomenologie zugänglich werden“ (ibid., S. 129). Zum anderen eröffnet sich mit ihr der Horizont der Geschichte. „Man könnte noch weitergehen und sagen, Husserls Bestreben, der Anschauung einen Vorrang zu geben“ – und diese „Rettung der Phänomene“ muss die Crux jeder authentischen Phänomenologie bleiben, die am Ende bei den Sachen selber ist – nur noch ‚zeigen’, nicht mehr ‚begründen’ muss; jene Überlegung, „die sich bis zu Beginn seines Philosophierens zurückverfolgen lässt, ist in der Lebensweltproblematik bewahrt, vertieft und eigens begründet“ (ibid., S. 129). Die transzendentale Phänomenologie muss vorausgesetzt sein, um den Lebensweltbegriff bewahren und fassen zu können. Man muss sich nun freilich fragen, wie der Zusammenhang von Meinung und Episteme im Umkreis der Krisis-Schrift gelagert ist. Ist die epistemische Rationalität einer Lebenswelt gegenüberzustellen, die in die Lage der bloßen Meinung gerät? Es muss vielmehr darum gehen, die Lebenswelt durch die phänomenologische Episteme selbst mit zu durchdringen. „Dieser Rückweg auf die ursprüngliche Lebenswelt ist kein solcher, der einfach die Welt unserer Erfahrung, so wie sie uns gegeben ist, hinnimmt, sondern er verfolgt die in ihr bereits niedergeschlagene Geschichtlichkeit auf ihren Ursprung zurück – eine

106 W. Biemel, Die Idee der Phänomenologie bei Husserl, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band I, S. 147 ff.

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7. Das Ich als „Residuum in der Weltvernichtung“ und das Ideal einer geeinten Menschheit

Geschichtlichkeit, in der der Welt erst der Sinn einer ‚an sich’ seienden Welt objektiver Bestimmbarkeit zugewachsen ist. […] Damit erweist sich auch, dass dieser Bereich der Doxa nicht ein solcher von Evidenzen minderen Ranges ist als der der Episteme, des urteilenden Erkennens und seiner Niederschläge, sondern eben der Bereich der letzten Ursprünglichkeit, auf den sinngemäß die exakte Erkenntnis zurückgeht, deren Charakter als einer bloßen Methode und nicht als eines An-sich vermittelnden Erkenntnisweges durchschaut werden muss“. Die Forderung des Logos-Aufsatzes, Philosophie habe strenge Wissenschaft zu sein, hat Husserl aus guten Gründen niemals aufgegeben. Es gibt zwar Aussagen wie die folgende: „Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausgeträumt“ (Hua VI, S. 508). Damit wird jedoch eher die Situation der eigenen Zeit charakterisiert, die ins Weltanschauliche taumelt, als dass sich Husserl jenem Befund anschließen und eine defätistische Konsequenz daraus ziehen würde. Im Zusammenhang seiner ‚Cartesianischen Meditationen’ und des vorausgehenden Pariser Vortrags hatte Husserl die radikale Selbst-Besinnung als den Anfangsgrund begriffen, auf den jedes Philosophieren einmal zurückgehen müsse. Im Umkreis der Krisis-Schrift ist sehr deutlich, dass diese Besinnung, dieser sinnhafte Ursprungspunkt in die Geschichtlichkeit vorausgehender philosophischer Sinnbildungen eintreten muss, stärker, als Husserl dies bislang getan hatte. „Radikale Besinnung des Philosophen wird darauf abgestellt sein müssen, den Sinn seiner Berufung aus ihrer Geschichtlichkeit zu rechtfertigen, indem er die großen und wesentlichen Sinnbildungen verfolgt, in denen Philosophie aus ihrer ersten vagen Urstiftung übergeht in immer differenziertere Aufgabensysteme, die sich als evidente Explikate des ursprünglichen vagen Sinnes darstellen und sich in Systemen Erfüllungsgestalten verschaffen“ (HuA VI, S. 489 f.). 7. Das Ich als „Residuum in der Weltvernichtung“ und das Ideal einer geeinten Menschheit Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass erst beim späten Husserl die ethische Problematik explizit thematisch, dann aber zum „nervus probandi“ von ethisch verantwortbarer Rationalität und des Ideals einer geeinten Menschheit wird. Ähnlich wie Kant nach der Französischen Revolution erst auf die ethisch-politischen Fragen stieß, ist es bei Husserl der Erste Weltkrieg, der die Epochenzäsur setzt. Husserl zielt, besonders eindrücklich in seinen KaizôArtikeln (benannt nach einer seinerzeit prominenten japanischen Zeitschrift), die erst 1989 im Rahmen der Husserliana zugänglich gemacht wurden, mit dem Krisis-Befund auf eine ‚Erneuerung’ des Menschen, im Zusammenhang des universalen Lebensideals praktischer Vernunft, als der Idee einer geeinten

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

Menschheit. Er entwickelt hier prima facie eine normative Phänomenologie zwischen-menschlicher Mitteilung. Sein Lebensweltbegriff weitet sich aber auf das interkulturelle Gespräch, nicht im Sinne platter Konsensualität, die es zwischen geschiedenen Lebenswelten nicht geben kann, sondern eines SichVertiefens des Eigenen, in der Begegnung mit dem Anderen, worin beide Pole zugleich in eine höhere Form von Selbsteinsicht gehoben werden.107 Diese Sympathetik impliziert eine Transparenz auf Mystik, die aber nicht Gegenpol zur strengen Phänomenologischen Philosophie ist, sondern aus ihr erwachsen muss. Husserl versteht die Ethik als genuinen Bestandteil der Philosophie mit Zügen zu einer Kulturmedizin in der Krisenepoche. Hierher gehören auch seine bedeutsamen Äußerungen über das europäische Ethos. In den frühen dreißiger Jahren, als jene Dimensionen tief gefährdet waren, zeigt Husserl, Europa sei Einsicht. Das kleine, Asien vorgelagerte Kap (P. Valéry), ist nur ethischer Raum, als Kulturbegriff, nicht als geographischer, aber auch nicht machtstaatlich oder ökonomisch zu begründen. Eugen Fink berichtet über die vermächtnishaften späten Worte Husserls: „Ich habe als Philosoph gelebt. Ich werde als Philosoph sterben“.108 Philosophie ist zwar nicht Weltanschauung, aber sie duldet nach Husserls Auffassung auch keine weltanschauliche Konversion. Sie muss bezeugt werden und der einzige Trost des Philosophen bleiben. Daher hatte Husserl größte Schwierigkeiten mit Edith Steins Übertritt zum Katholizismus und schließlich ihrem Ordenseintritt: Philosoph und homo religiosus, femina religiosa, in einem zu sein, schien ihm unmöglich. Auch den Tendenzen seiner jüdischen Schüler, vertieft zur Religion ihrer Väter zurückzukehren, stand Husserl mit Skepsis und letztlich mit Ablehhnung gegenüber. Einige Äußerungen, vor allem des späten Husserl, charakterisieren, welche Leuchtkraft in dieser ausschließlichen Berufung auf den philosophischen Grund aufscheinen kann. An den Weltanschauungsdichter Rudolf Pannwitz: „Nicht dem ‚Welträtsel’, dem ‚Absoluten’ schwächlich auszuweichen, in gefühlsselige Mystik versinken oder trotzig grossthun – sondern ihm stehen u. die Sphinx in den Abgrund jagen: Das ist der Wille der Neuen. Ihre Geheimnisse sind die des Ich, u. sie sind voll zu enthüllen in unendlicher Arbeit“ (28 und 29. 11. 1934). An den Freund Albrecht zu Weihnachten 1931: „Von meiner Lebensarbeit werde ich nicht mehr die Freude haben können, zu beob-

107 Hua XXVII, S. 9, 20 ff., 59 ff., siehe ferner J. Hart, The Person and the Common Life.Studies in a Husserlian Social Ethics, Dordrecht 1991, und Chr. Spahn, Phänomenologosiche Handlungstheorie: Husserls Untersuchungen zur Ethik, Würzburg 1997. 108 Husserliana, Dokumente I, S. 488.

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8. Phänomenologie als Haltung und als Erfüllung der Philosophie

achten, wie sie den philosophischen Geist der neuen Zeit umwandelt, dass sie eine im wahrsten Sinn neue Zeit erweckt. Die jetzige Generation wird nicht verstehen können und verstehen wollen. Aber der Zukunft bin ich absolut sicher“.109 8. Phänomenologie als Haltung und als Erfüllung der Philosophie Für Husserls Idee der Phänomenologie ist entscheidend, dass sie weniger eine Methode beschreibt und schon gar nicht einen Schulzusammenhang, sondern selbst eine Haltung ist. Von entscheidender Bedeutung bei einem Philosophen ist immer, in welchen Gesprächszusammenhängen er steht. Bei Husserl ist es offensichtlich nicht der Weg von der Antike über die Transzendentalphilosophie zum deutschen Idealismus. Selbst seine Kant-Kenntnisse waren wohl sporadisch, er blätterte die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ eher an. Es sind Descartes, Locke, Hume, unter den Zeitgenossen die großen Logiker und Dilthey. Die antike Philosophie spielt, ungeachtet des erkennbaren Platonismus in den Begriffen von Origo und Eidos in Husserls Denken keine explizit thematische Rolle. Darin zeigt sich bei aller systematischen Profiliertheit auch eine Grenze. Wenn er Phänomenologie als Urwissenschaft und als Grundlegungswissenschaft der Ersten Philosophie verstanden sehen wollte, so bedeutet dies zugleich, dass Phänomenologie zumindest ebenso wie Urwissenschaft „eine Methode und Denkhaltung“ ist, ja „die spezifisch philosophische Denkhaltung, die spezifisch philosophische Methode“.110 Die Erste Wissenschaft ist zugleich Erkenntniskritik, Unterscheidung der grundlegenden Erkenntnis von weiteren, peripheren Erkenntnisformen. Husserl pointiert dies in der Erzählung von dem geschliffenen Messer, die er seinem Schüler Emanuel Lévinas mitteilt: am Ende ist die Klinge abgeschliffen. Erkenntniskritik sei aber, so Husserls Einsicht, aufs Engste verschlungen in die Erste Wissenschaft, die Metaphysik. Es geht um den eidetischen Aufweis des Erkenntnisaktes: in dem nur die absolute, gewisse Gegebenheit der Wesenserkenntnis, nicht die variierenden Tatsachenerkenntnisse aufscheinen.

109 Vgl. zur Rekonstruktion und zugleich Fortsetzung dieses lebenslangen Impetus bei Husserl H. Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt/Main 2000, S. 7 ff. Diese Nachlassedition ist die wohl konsequenteste und langjährige Durchführung von Husserls phänomenologischem Programm. Dazu auch Zill, Der absolute Leser, a.a.O., S. 54 ff. 110 Hua VIII, S 196, ibid. V, S. 140 ff. und SSV, S. 78 ff. Vgl. auch den frühen Aufsatz D. Henrich, Über die Grundlagen von Husserls Kritik der philosophischen Tradition, in: Philosophische Rundschau 6 (1958), S. 1 ff.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

Alle ontologischen Gegenstände und alle Weltdinge können derart phänomenologisch konstituiert werden, aber eben aufgrund der genuinen Einstellungsänderung des Phänomenologen, eine gleichsam Platonische Metabole von der Meinung zum Wissen. Der Husserlsche Phänomenbegriff hat durch Heidegger eine elementare Kritik erfahren: Heidegger verweist in seiner Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 darauf, dass der Sinn der phänomenologischen Reduktion gerade darin bestehe, „von dem realen Erlebnis“ abzusehen, die Realität der Intentionalität auszuschalten.111 Diese erste Reduktion von der natürlichen Einstellung zum reinen Bewusstsein verhindere, dass das Sein des welthaft begegnenden Seienden überhaupt eidetisch herausgesehen werden könne. In der eidetischen Reduktion werde lediglich die essentia: das bestimmte Wassein, nicht aber die existentia zur Abhebung gebracht. Dass-Gehalt und Modifikationen im Wie eines Seins treten bei Husserl, so Heideggers Einwand gar nicht ans Licht.112 Es gibt für diesen phänomenologischen Widerstreit, an dem Husserl und Heidegger gleichermaßen zur Kenntlichkeit kommen, ein bemerkenswertes Zeugnis, an dem sich die Wege und indirekt auch die Klingen kreuzen: Es ist Husserls Entwurf eines Encyclopedia Britannica-Artikels über Phänomenologie mit Heideggers Annotationen und Umformulierungen. Husserl hält dort die Konzeption zur Idee einer ‚reinen Phänomenologie’ aufrecht und beschreibt die ‚universale Epoché’ so, dass sie die Gegebenheit der seienden Welt ausscheide; „aber an ihre Stelle tritt die so und so bewusste Welt ‚als solche’, die Welt in Klammern, oder, was dasselbe, es tritt an die Stelle der Welt des einzelnen Weltlichen schlechthin“. Heidegger stellt daraufhin eine ebenso einfache wie grundlegende Frage: „Welches ist die Seinsart dieses absoluten Ego − in welchem Sinne ist es dasselbe wie das je faktische Ich; in welchem Sinne (ist es) nicht dasselbe?“113 Husserl versuchte darauf mit ähnlicher Genauigkeit zu antworten: „Mein transzendentales Ich ist also evident ‚verschieden’ vom natürlichen Ich, aber keineswegs als ein zweites, als ein davon getrenntes im natürlichen Wortsinn […]. Es ist eben das (in voller Konkretion gefasste) Feld der transzendentalen Selbsterfahrung, die jederzeit durch bloße Änderung der Einstellung in psychologische Selbsterfahrung zu wandeln ist. In diesem Übergang stellt sich notwendig eine Identität des Ich her; in transzendentaler Reflexion auf ihn

111 Heidegger GA Band 20: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, a.a.O., S. 150. 112 Eine Übersicht über das philosophische Verhältnis zwischen Heidegger und Husserl, das von den politischen und menschlich-ethischen Verwerfungen nochmals zu unterscheiden ist, vgl. Th. Nenon, Marti Heidegger, in: Husserl-Handbuch, a.a.O., S. 257 ff. 113 Vgl.dazu im Überblick Biemel, Husserls Encyclopedia Britannica Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: ders., Gesammelte Schriten Band I, S. 173 ff. mit weiteren Nachweisen.

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8. Phänomenologie als Haltung und als Erfüllung der Philosophie

wird die psychologische Objektivierung als Selbstobjektivierung des transzendentalen Ich sichtlich, und so findet es sich als wie es in jedem Moment natürlicher Einstellung sich eine Apperzeption auferlegt hat“.114 Letztlich nimmt Husserl also eine Identität des faktischen und des transzendentalen Ich an, die ihn selbst nie ganz befriedigen wird. Heideggers Hauptwerk ‚Sein und Zeit’ ist zu dieser Zeit, im Jahr 1927, schon geschrieben. Husserl begriff Heidegger seinerzeit zunehmend als Antipoden. Heidegger hielt in einem Brief vom 22. Oktober 1927 Husserl das Folgende entgegen: Die Bedeutung des Zitats rechtfertigt eine ausführlichere Zitation: „Übereinstimmung besteht darüber, dass das Seiende im Sinne dessen, was Sie ‚Welt’ nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann, durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart. Damit ist aber nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nicht Seiendes – sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich ‚Welt’ konstituiert? Das ist das zentrale Problem von Sein und Zeit – d.h. eine Fundamentalontologie des Daseins. Es gilt zu zeigen, dass die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden, und dass sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt (Sie sehen hier also noch den Versuch, einen Brückenschlag mit Husserl zu unternehmen!). Die transzendentale Konstitution ist eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst. Dieses, der konkrete Mensch, ist als solcher – als Seiendes nie eine weltliche reale Tatsache, weil der Mensch nie nur vorhanden ist, sondern existiert. Und das ‚Wundersame’ liegt darin, dass die Existenzverfassung des Daseins die transzendentale Konsitution alles Positiven ermöglicht. […] Das Konstituierende ist nicht Nichts also etwas und seiend – obzwar nicht im Sinne des Positiven. Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden selber ist nicht zu umgehen. Universal ist daher das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen“.115 Heidegger greift also in seinem Begriff vom Dasein, dem es um sein Sein selbst geht, bewusst über die transzendentale Epoche hinaus. Früh schon wendet er sich in diesem Zusammenhang gegen die seiner Auffassung nach auf Gegenwärtigkeit und Präsenz zielende Eidetik Husserlscher Phänomenologie. Damit erfasst er aber gerade nicht die innere Dynamik des Husserlschen Bewusstseinsstroms. Kinesis, Ruinanz und Ethos werden für Heidegger zu „Kategorien der Existenz“. Die Husserlsche Intentionalität wird in der Heideggerschen Sorgestruktur in ein Existenzial umstrukturiert werden.

114 Hua IX, S. 172 und S. 274 ff. 115 HuaIX, D Anlage I, S. 602–602.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

Lassen Sie mich diese Erwägungen zu Husserl, die im Blick auf die weiteren philosophischen Linienführungen im 20. Jahrhundert wieder aufgenommen werden müssen, mit zwei Sequenzen aus zwei Nachrufen von Schülern und Vertrauten vorläufig beenden, die beide 1938 geschrieben worden sind. Eugen Fink sagt: „Der Radikalismus seines Lebens trieb ihn immer und überall über alles Vorgefundene hinaus: über Sein und Wahrheit der vorgegebenen Welt, über vorgefundene Wissenschaft und Kultur […]. Seine Arbeit ist getan, sein Werk ist, auch wenn nicht für unsere Zeit, so doch für jene kommenmüssende Zeit, wo die Leidenschaft des Denkens den Adel des Menschen bestimmt. Edmund Husserls Gedächtnis wird als die Erinnerung an einen Getriebenen des Geistes wach bleiben“.116 Ludwig Landgrebe, in einer Rede vor dem Cercle philosophique de Prague, vor dem Husserl wenige Jahre zuvor aufgetreten war, formulierte: „Die Ursprünglichkeit des Lebens als das schöpferische Tun des Geistes, aus dem alles entspringt, was dann als fertiges, ruhendes Sein vor uns steht,- das war das große Thema seiner letzten Lebensjahrzehnte: keine feste Gestalt, die das Leben hervorgebracht hat, keine feste Form als ein dem Ich fremdes Objekt stehen zu lassen, sondern von jeder zurückzugehen zum schaffenden Leben selber, die Welt von innen her zu verstehen“.117 Landgrebe meint darin sogar eine Verwandtschaft zu Hegel zu erkennen. Exkurs Nicolai Hartmann Eine Sonderposition nimmt der heute weitgehend Nicolai Hartmann ein, dessen philosophischer Ansatz zeitweise großen Einfluss hatte. Georg Lukács würdigte Hartmanns Bedeutung für die Ontologie in seinem Spätwerk als Vorstoß, dessen Rang vor allem darin bestehe, dass Hartmann die „Alltagsspontaneität“ ontologisch erfassen könne. Es ist die „natürliche Erkenntnis“ der Husserlschen Lebenswelt, die Hartmann der Ontologie zugänglich macht.118 Hartmanns Konzeption bildete sich in hoher Konsequenz und in einer gewissen Statik aus, die als gegenläufig zu Husserl zu verstehen is. In der Frühschrift ‚Metaphysik der Erkenntnis‘ ist der Ansatz bereits im Wesentlichen fassbar. Hartmann möchte in einem Realismus, in der „intentio recta“ die natürliche Einstellung zum Gegenstand begreifbar machen. Die im Leben geläufige Grundeinstellung und Weltorientierung soll philosophisch im Zusammenhang von Sein und Denken erfasst werden. Hartmann betont, dass sein Ansatz „diesseits“ von Realismus und Idealismus verankert ist. Vom Idea-

116 E. Fink, Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Den Haag 1976, S. 96 f. 117 L. Landgebe, Phänomenologie und Metaphysik, Hamburg 11949, S. 19 f. 118 Vgl. die Beiträge A. J. Buch (Hg.), Nicolai Hartmann 1882−1982, Bonn 1982.

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Exkurs Nicolai Hartmann

lismus unterscheidet er sich durch die These von der Erkenntnisunabhängigkeit der Außenwelt, vom Realismus durch die Möglichkeit in synthetischen Urteilen, apriori das Erfahrene kategorial fassen zu können.119 Ein Vorbehalt gegenüber Hegel ist dabei immer präsent: das Wirkliche soll induktiv erfasst werden, seine Logifizierung, wonach das Wirkliche immer schon das Vernünftige sei, verbietet sich.120 Hartmann betonte durchgängig sein Sebstverständnis als Systematiker, wobei es ihm nicht um den Abschluss eines geschlossenen Systems geht, sondern vielmehr um ein Problemdenken, in dem vergangene Denkkonstellationen eine wichtige Rolle spielen. Dies bedeutet für die Analyse eine strenge Folgerichtigkeit, die sich durchaus am klassischen Analyseprogramm des Aristoteles orientiert. Sie beginnt mit dem, was Hartmann die „Epoché der Standpunkte“ nennt: Darlegung der Positionen der philosophischen Tradition; daran schließt sich eine weitgehend phänomenologisch verfahrende Wesensanalyse des zu untersuchenden Gegebenen an, die in eine Problemanalyse der Aporetiken der Wirklichkeitserfassung mündet. Daran anschließend wird erst die eigentliche philosophische Theoriebildung geleistet, die es unternimmt, diese Aporien aufzulösen.121 Hartmann unterscheidet verschiedene Seinsweisen des Wirklichen voneinander: physisches, organisch-lebendiges, seelisches und geistiges Sein.122 In diesem Licht entwickelte er auch eine Naturphilosophie. Dem geistigen Sein ging Hartmann besonders elaboriert nach. Als ‚objektiver Geist‘ wird dann das gesamte Gebiet von Geschichte und Kultur verstanden, von Recht und Sittlichkeit über Sprache, Kunst bis hin zur Religion. Von ihm wird noch einmal der ‚objektivierte Geist‘ unterschieden, der die Positionierung der subjektiven Erkenntnis zur Objektwelt bezeichnet.123 Seinsstufen bauen im Sinn der Hartmannschen Schichtenontologie aufeinander auf. Die jeweilig höhere setzt die niedrigeren voraus; es könnte von Interesse sein, diese Bauform des Wirklichen mit heutigen Supervenienz-Konzeptionen zu vergleichen.124 Die Kräfte der ‚niedrigeren‘ Entitäten bleiben bestehen. Sie können nicht aufgehoben werden und bestimmen in gewissem Maß die höheren Kategorien. 119 Siehe im Einzelnen N. Hartmann, Die Grundlegung der Ontologie, Berlin, New York 41965, S. 56 ff. 120 Vgl. Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin 1938 u.ö., S. 45 ff. Siehe dazu auch G. Lukács, Nicolai Hartmanns Vorstoß zu einer echten Onotologie, in: ders., Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Darmstadt, Neuwied 1984, S. 22 ff. 121 Hartmann, Ontologie, a.a.O., S. 145 ff. 122 Vgl. zur Übersicht überHartmanns Denken: G. Hartung, M. Wunsch (Hrsg.): Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, Berlin 2014, S. 7 ff. 123 Vgl. dazu auch Hartmann, Neue Wege der Ontologie, Berlin 51969, S. 54 ff. 124 Zur Übersicht vgl. R. Breil, Kritik und System. Die Grundproblematik der Ontologie Nicolai Hartmanns in transzendentalphilosophischer Sicht, Würzburg 1996, S. 17 ff.

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II. Genesis und Geltung der Phänomenologie: Edmund Husserl

Den Schichtenkategorien gehen indes Fundamentalkategorien voraus, die immer in einer paarweisen Polarität angeordnet werden, wobei Hartmann auf die klassische Metaphysik zurückgreift, etwa im Blick auf die Polarität von Form und Materie. An der Klärung der Modalkategorien von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit arbeitete sich Hartmann besonders intensiv ab. Hier wird die gegensätzliche Stellung zu Heidegger greifbar. Auch lebensweltlich wurde dies sichtbar: Der aus dem Baltikum stammende Hartmann führte nach anekdotischen Berichten ein eher bohèmehaftes Leben. Als er neben Heidegger in Marburg wirkte, scheinen sie sich kaum begegnet zu sein, weil Hartmann in der Abenddämmerung seine Aktivitäten startete, wohingegen Heidegger sprichwörtlich den frühen Morgen wählte. Sowohl Notwendikgeit als auch bloße Möglichkeit verdanken sich dem Wirklichen. Ohne dieses wären sie nicht. Eine freischwebende Möglichkeit kann es gar nicht geben, wie Hartmann im Anschluss an die Megariker der Antike festhält.125 Die Analyse führt von der unbegriffenen Wirklichkeit, die das Subjekt affiziert, zu einer immer differenzierteren und zu einer höheren Sinnklarheit gelangenden, möglichst vollständigen Wirklichkeitserfassung. Die Zeit ging zumindest prima facie betrachtet, über Hartmann hinweg: Sowohl gegenüber der Phänomenologie und Hermeneutik als auch einer streng epistemologischen Philosophie zeigen sich die Defizite seines Ansatzes deutlich und wurden auch entsprechend benannt. Der Anspruch des systematischen Problemdenkens und einer komplexen Wirklichkeitserfassung ist allerdings nicht leichtfertig abzutun, zumal Lukács eine durchaus richtige Beobachtung macht: Hartmann ist wie kein zweiter Ontologe der widerständigen Wirklichkeit in ihrem „Gerade-so-sein“, der diese opake Wirklichkeit hinnimmt und zu durchdringen versucht.

125 Vgl. zur Aufarbeitung: J, Stallmach, Dynamis und Energeia, Meisenheim am Glan 1959, S. 67–69, 79; Chr. Hubig, Möglichkeit, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Band 2, Hamburg 2010, S. 1642–1649, hier: 1647 f.

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III. Neukantianismus: Epistemologie und erneuerte Metaphysik der Metaphysik: Natorp, Windelband, Rickert

1. Landschaft aus dem Rückblick Ernst Cassirer und der Neukantianismus 1. Der Philosoph im bürgerlichen Zeitalter Anders als die neu begründete Phänomenologie ist der Neukantianismus fokussiert auf die Rückkehr zum Locus classicus Kantischer Philosophie, der freilich neu interpretiert wird. Die Kulturphilosophie Cassirers, seine groß angelegte Philosophie der symbolischen Formen, war wohl das große Antidotum, das auf gleicher Augenhöhe der Philosophie neuer Zeit, wie Husserl und auch Heidegger Paroli bieten konnte. Bei den Hochschulwochen in Davos 1929 standen sich Heidegger und Cassirer nicht zufällig im Zeichen einer Auseinandersetung über Kant gegenüber. Gegenläufig zur gängigen chronologischen Orientierungen, möchte ich von Cassirer aus den Kosmos des Neukantianismus aufschließen. Cassirer wird 1874 in Breslau geboren. Er ist also eineinhalb Jahrzehnte älter als Heidegger und deutlich jünger als Husserl. Er stammt aus einer der bedeutendsten, weit verzweigten jüdisch-deutschen Familien, darunter Kunsthändler und Verleger. Dieses wohlhabende jüdisch-deutsche Kulturbürgertum und sein Habitus machen es von vorneherein möglich, die Wissenschaften nicht als Brotberuf betreiben zu müssen, sie geben auch einen Habitus, der von Wechselfällen der Universität unabhängig werden lässt.126 Cassirer studiert Philosophie, Geschichte, Kunst- und Literaturwissenschaften, hört unter anderem bei dem jungen Georg Simmel und wechselt dann zu Hermann Cohen, dem Haupt der Marburger Schule des Neukantianismus. Cohen trägt ihm nach der ersten Oberseminarsitzung die Promotion an (heute unvorstellbar, aber ein Signum wirklicher universitärer Exzellenz, die sich nicht verordnen lässt). Cassirer promoviert über ‚Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis‘127 im Jahr 1899 und bereits 1902 126 M. Friedman, Carnap, Cassirer, Heidegger. Geteilte Wege, Frankurt/Main 2004, S. 23 ff., siehe auch in biographischer Hinsicht: M. Ferrari: Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie. Übers. Marion Lauschke. Hamburg 2003, S. 17 ff. 127 E. Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung. Hrsg. Rainer A. Bast, Meiner, Hamburg 1995, S. 50 ff. In der Cassirer-Gesamtausgabe, K.Chr. Köhnke und andere Hg., Hamburg 1995 ff. werden die philosophiehistorischen Studien zum Denken der frühen Neueit als Band 14 vorgelegt.

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III. Neukantianismus: Epistemologie und erneuerte Metaphysik der Metaphysik

erscheint ein großes Buch über ‚Leibniz’ System‘.128 Cassirer rekonstruiert, ausgehend vom kantischen Corpus der drei Kritiken die philosophischen Horizonte, die Kant vor Augen hatte und weist sich als einer der besten Kenner der rationalistischen vorkantischen Philosophie in seiner Zeit aus. Die Eheschließung erfolgt 1902 mit seiner Cousine Toni. Sie sollte auch seine Biographin werden in dem schönen, wenn auch faktisch überpointierenden kleinen Buch ‚Mein Leben mit Ernst Cassirer‘ – anrührend vor allem im Blick auf die Jahre des Wegs in das Exil.129 Cassirer selbst habe, so bemerkt die Gefährtin, seines Lebens schon im Vorblick, nie autobiographisch gedacht. Er ist sehr produktiv. Cassirer versteht sich als Philosoph und als Ideenhistoriker gleichermaßen, als Teil eines Zivilisations- und Kulturkontinuums, das in die Moderne zu transformieren ist. Insofern unterscheidet er sich vom philosophischen Temperament her deutlich von Husserl; der Ansatz ähnelt eher Gadamer. Das Momentum der Aufklärung spielt indes bei Cassirer eine stark normative Rolle. Einen klassischen, die dauerhaften Probleme punktierenden Gelehrsamkeitsstil, ganz ohne Überhitzungen, kann man bei ihm lernen. Noch nicht habilitiert, arbeitet Cassirer an einem großen, insgesamt ihn lebenslang beschäftigenden Werk über das „Erkenntnisproblem in der Philosophie der Neuzeit“ (1906, 1908). Es ist Hermann Cohen, der immer wieder in das Leben eingreift: Toni Cassirer urteilt darüber sehr kritisch.130 Cohen möchte, dass sich Cassirer in Marburg habilitiert, dieser hält sich zurück. Er hat nicht die Eile des Brotgelehrten, zudem muss man den widerlichen provinziellen Antisemitismus in kleineren Universitätsstädten in Rechnung stellen, dessen Rakünen Cassirer wohl zu Recht fürchtete. Er habilitiert sich also, entgegen der Maximen seines Lehrers, bei Dilthey in Berlin – mit dem ersten Band des ‚Erkenntnisproblems’, der bereits vorliegt. Dilthey setzt sich für ihn ein, obwohl er nicht sein Schüler ist: ein schöner Zug aus der Geschichte der alten Universität, der heute keineswegs selbstverständlich wäre. Seit 1906 ist er Privatdozent, 1919 erst wird er auf einen Lehrstuhl berufen; bezeichnenderweise an die bürgerlich-hanseatische Universitätsneugründung in Hamburg. Seine Forschungen stehen in der Folgezeit in der Nähe zu der von dem Ethnographen und Sammler Aby Warburg begründeten mittlerweile legendären Bibliothek. Hamburg ist ähnlich wie Frankfurt eine städtische, vom Bürgertum getragene Universität.

128 E. Cassirer, Leibniz‘ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, hg. von B. Recki, ECW Band 1, Hamburg 1998. 129 Vgl. die hochinteressante, wenn auch sicher nicht unparteiische Darstellung T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg 2004. 130 Ibid., S. 35 ff., siehe auch die biographisch orientierte Gesamtdarstellung: A. Graeser, München 1994, sowie B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin 2004, S. 35 ff.

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1. Landschaft aus dem Rückblick Ernst Cassirer und der Neukantianismus

Ebenso wie Husserl muss er lange Jahre als Privatdozent überbrücken. Cassirer verbringt sie mit intensivsten Forschungen. Die Monographie ‚Individuum und Kosmos’ gilt der Renaissance-Kultur, der in seiner Sichtweise auch Luther angehört.131 Eine Vergegenwärtigung der platonischen Renaissance in England,132 und eine Gesamtdarstellung der Philosophie der Aufklärung 1932133 entstehen in kurzer Zeit. Gerade die Darstellung der Aufklärungsepoche ist ein Pionierwerk und weist Cassirer als einen epochalen Kenner der Philosophiegeschichte der Moderne aus. Zugleich ist Cassirer wesentlich am Ausbau der Meiner-Bibliothek beteiligt gewesen. Der weite Renaissancebegriff war seinerzeit weniger eine Forschungs- und Periodisierungs- als vielmehr eine politische Frage. Cassirers Bild der Renaissance ist gewiss nicht ohne Weiteres zu übernehmen, er fokussiert es auf Burckhardts große Kulturgeschichte der Renaissance, mit dem Urteil, dass in jener Epoche die moderne Welt erstmals Gestalt gewonnen habe.134 Er erschließt als erster in dieser Gründlichkeit und philosophischen Durchsicht Quellentexte der Renaissancephilosophie zwischen Ficino, Pico della Mirandola und Vico. Auch die Vergegenwärtigung der Aufklärung war Statement: Zurückweisung des Irrationalismus und Stärkung kritischer Philosophie. Auf dem Zenit seines Ruhmes debattierte Cassirer auf dem Zenit Europas, dem Zauberberg, der sich nach dem Abgesang Thomas Manns als Fokus der Kultur und Geschichte der Zeit erweist, mit dem ganz anderen neuen Stern der Philosophie, Heidegger. Die Debatte zwischen Heidegger und Cassirer war bereits bei den Zeitgenossen zur Legende geworden. Nachgeahmt werden die Protagonisten von den jungen Zuhörern: Lévinas gibt Cassirer mit dessen ungeheurem weißen Haar und deklamiert: „Ich bin versöhnlich gestimmt“, der kleine untersetzte Bollnow gibt Heidegger: „Interpretieren heißt, die Dinge auf den Kopf stellen“. Ein Gipfeltreffen war dies in mehrfacher Bedeutung: bezogen auf den geographischen Ort, die aktuellen Protagonisten und die verhandelten Fragen. Und fast alles, was später in der Denkgeschichte des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielen sollte, kam vor. Unter den Zuhörern war auch ein Begründer des logischen Positivismus mit ungeheurem Einfluss auf die Genese der analy131 Cassirer, Individuum und Kosmos in der Kultur der Renaissance, ursprünglich 1927, ND. Darmstadt 1981. 132 Cassirer, Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, Stuttgart 1932. 133 Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Berlin 1932, ND Darmstadt 1978 f. 134 Dazu Cassirer, Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Belrin 1921. Es war seinerzeit durchaus üblich, dass die maßgeblichen Philosophieprofessoren sich auch literarischen Themen zuwandten und diese in eine historische Gesamtsicht brachten. Die Verbindung zwischen Goethe und Hölderlin spielte dabei eine entscheidene Rolle, sehr im Unterschied zu der von Goethe zunächst absehenden Hölderlin-Hypostase Heideggers.

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III. Neukantianismus: Epistemologie und erneuerte Metaphysik der Metaphysik

tischen Philosophie: Rudolf Carnap, der metaphysisches Fragen für schlechterdings unsinnig erklärte. Es war unübersehbar, dass damit Welten gegeneinanderstießen, eine philosophische Kultur des Bürgertums in ihrer Dignität und ihren Grenzen, und das Enfant terrible, als stehe Heraklit hinter ihm.135 Die gestaffelten atmosphärisch recht genauen, im Faktischen in die Legende abgleiteten Berichte geben etwas davon zu erkennen: Cassirer wirkte in dem Disput für alle Seiten eher wie der Vertreter eines Zeitalters im Abgtang, Heideggers Aggressivität teilte sich mit, etwas Bilderstürmerisches war in seinem Auftritt. Frau Cassirer, die neben ihm saß, spiegelt dies in ihren Memoiren wider, freilich aus der Perspektive nach 1933: „Und es war nicht schwer zu erkennen, welchen Weg dieser Mann wies […] er war gefährlicher als irgendeiner der anderen Mitläufer. Für mich waren sein tödlicher Ernst und seine völlige Humorlosigkeit das Bedenklichste“136 In der Tat, Salongeselligkeit war Heideggers Sache nicht, die Selbstinszenierung als tiefer Denker war es wohl. Ob man daraus den Heidegger des Jahres 1933 schon extrahieren muss, ist eine andere Frage. Cassirer selbst war im Rückblick in seinem politisch-philosophischen Spätwerk ‚Der Mythos des Staates’ erstaunlicht milde gestimmt; und damit gab er dem philosophischen Disput, was diesem Disput zukommt. So ließ er mehr Gerechtigkeit walten, als sie Heidegger heute entgegengebracht wird: „Ich will nicht sagen, dass diese philosophischen Lehren einen direkten Einfluss auf die Entwicklung der politischen Ideen in Deutschland hatten. Die meisten dieser Ideen entsprangen aus ganz anderer Quelle. Sie hatten einen sehr ‚realistischen’, keinen ‚spekulativen’ Gehalt des Heideggerschen Sokratismus“. „Aber […] eine solche Philosophie verzichtet auf ihre eigenen grundsätzlichen thematischen und ethischen Ideale. Sie kann dann als geschmeidiges Instrument in der Hand der politischen Führer gebraucht werden“.137 Cassirer verlässt Deutschland im Frühjahr 1933, er wartet seine Entlassung nicht ab. Charakteristisch ist, dass er den Rektor der Hamburger Universität (wenige Jahre zuvor hatte er selbst dieses Amt als erster Jude in Deutschland innegehabt) um seine Entlassung bittet. Heidegger hält 1933 seine ‚Rektoratsrede’ − geradezu allegorische Spiegelungen also im Zeitalter der Extreme. Cassirers Schicksal ist ein Emigrantenschicksal, in das plötzlich ein Repräsentant der Philosophie hineinkatapultiert wurde, so wie Thomas Mann als Repräsentant der Literatur. Er musste im Alter von 60 Jahren nach einem 135 Das Davoser „Gipfeltreffen“ ist mittlerweile vielfach erörtert worden, vgl. u.a. M. Friedman, Carnap, Cassirer, Heidegger a.a.O., D. Kaegi, E. Rudolph (Hrsg.): Cassirer – Heidegger: 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, und P. E. Gordon, Continental Divide: Heidegger, Cassirer, Davos. Cambridge, Mass. 2010. 136 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, a.a.O., S. 183. 137 T. Cassirer, ibid., S. 184 f., sie berichtet auch über habituelle Verwerfungen, die selbst, wenn sie rückdatiert sein sollten, einiges vom Timbre erkennen lassen.

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1. Landschaft aus dem Rückblick Ernst Cassirer und der Neukantianismus

Leben in weitgehend glücklichen äußeren Umständen in einem anderen Land heimisch werden. Die Flucht war dramatisch. Er kam noch einmal nach Berlin zurück, um Abwicklungen des Privatvermögens sicherzustellen. Von den Cassirers zur Eile angehalten, verursachte der Taxifahrer einen tödlichen Unfall, ein Mann wird überfahren.138 Cassirer hatte in besseren Tagen Einladungen nach Amerika ausgeschlagen. Nun muss er 1934 in Schweden auf einer Gastprofessur neu beginnen. Er war offensichtlich rasch in der Lage, auf Schwedisch Vorlesungen zu halten, und er setzte sich mit der antimetaphysischen Philosophie des dominierenden schwedischen Philosophen Axel Hägerström umfassend auseinander. Daraus ging sogar ein Buch hervor. Dessen Emotivismus (praktische Sätze haben keinen Wahrheitswert, sie sind nur Kodifizierungen von Gefühlen, Empfindungen)139 widerspricht er aufgrund seines humanen Idealismus. 1941 erreicht ihn dann ein Ruf nach Princeton, an die Yale University, sie ist nicht gänzlich Terra incognita, denn er begegnet dort Freunden aus der Hamburger Zeit wieder, darunter Erwin Panofsky. Er versucht nun recht erfolgreich, in englischer Sprache zu schreiben. Der Wechsel der Sprache bedeutet den Abschied von der Welt von gestern. Mithin kommt manches sogar schärfer zur Kenntlichkeit. Die ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ verdichtet sich in einem schmalen Buchmanuskript, dem ‚Essay on Man‘. Cassirer nimmt damit die Frage nach der ‚Bestimmung des Menschen’ auf, welche die Kantischen Kritiken zusammenhält, und erkennt in ihr den Drehund Angelpunkt, an dem das Humanum festzumachen ist. Der ‚Mythos des Staates‘ ist eine Technik- und Totalitarismus-auseinandersetzung, in der das Humanum noch einmal strahlend aufleuchtet. Cassirer stirbt mit 71 Jahren plötzlich und unerwartet im April 1945 in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs auf dem Campus der Columbia University in New York City, während ihn die Nachricht von Roosevelts Tod erreicht und tief erschüttert hatte. Über diesen späten Jahren liegt ein seltsamer Schatten. Der erneute Wechsel von Yale fiel ihm nicht leicht. Er hatte mit Einstein und anderen Koryphäen disputiert und hätte mit Thomas Mann sagen können: „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur“. Doch was Cassirer zu lehren hatte, kam im Standardcurriculum nicht zentral nicht vor. Eine große Werkedition liegt mittlerweile im Meiner-Verlag vorn, es geht und ging auch um eine Restituierung des Ranges von Cassirer, letztlich um

138 So der Bericht bei Toni Cassirer, a.a.O. 139 E. Cassirer, Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, Stockholm 1939. Dieses tiefe Eintauchen in die Traditionen des Gastlandes zeigt, wie Cassirer noch einmal, auch in der Krisensituation des Exils, seiner philosophischen Neugierde treu bleibt. .

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III. Neukantianismus: Epistemologie und erneuerte Metaphysik der Metaphysik

eine Revision von Davos, für die nach dem Vergangenen vieles spricht.140 Als ich 1991 an einem mehrsemestrigen Forschungsseminar bei Habermas in Frankfurt über die ‚Philosophie der symbolischen Formen’ teilnahm, ahnte ich etwas von diesem helleren Geist. Heidegger rührte indes an Tiefen, die durch die Phänomenologie vorbereitet wurden und der Cassirerschen Kulturphilosophie letztlich fernblieben.141 2. Symbolische Formen und Weltorientierung Wenn man den eigenständigen Ansatz von Cassirers Chef d’oeuvre ins Auge fasst – und darum muss es in diesem Zusammenhang gehen –, so wird man ihn kantianisch transzendentalphilosophisch als die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung zu verstehen haben.142 Die Frage der ‚Objektivität’ der Dinge, das Erkenntnis- und auch das Wahrheitsproblem sind Teilauffächerungen dieses grundlegenden Problems. Bedeutung ist nach Cassirer aber immer das zugrunde liegende Problematon, von dem anzufangen ist, um nach der Möglichkeit dieses Faktums zu fragen.143 Dies ist im Sachgehalt wiederum so weit nicht von Heidegger entfernt, der in seinen frühen Privatdozentenvorlesungen bekanntlich das Diktum prägte: ‚Die Bedeutung ist das Primäre’. Die Erkenntnisrichtung ist freilich anders orientiert. Bereits Wahrnehmung ist Cassirer zufolge niemals unabhängig zu halten von ‚Bedeutung’. Wahrnehmungsweisen differieren je nach der ‚Bedeutung’, die ihnen unterlegt wird. Cassirer gibt zunächst das Beispiel der gezogenen Linie: „Dem mathematischen Geist wird dieser Linienzug zu nichts anderem als zum anschaulichen Repräsentanten eines bestimmten Funktionsverlaufs, wo die ästhetische Richtung der Betrachtung vielleicht eine Hogarthsche Schönheitslinie vor sich sah – da sieht der Blick des Mathematikers das Bild einer bestimmten trigonometrischen Figur, etwa eine Sinuskurve vor sich […]“.144 Zur entscheidenden Frage wird die jeweilige Rahmen setzende symbolische Form. Als ‚symbolische Form’ versteht Cassirer grundsätzlich „jede Energie 140 Vgl.dazu Kaegi und Rudolph, a.a.O., und Gordon, Continental Divide, a.a.O., S. 50 ff. Ich erinnere mich vor diesem Hintergrund auch an ein sehr inspirierendes Cassirer-Seminar bei Jürgen Habermas in Frankfurt Sommersemester 1991. 141 Vgl. dazu H. Seubert, Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens, Freiburg/Br., München 2019, S. 246 ff., Siehe in Aufnahme eines auf Franz Rosenzweig zurückgehenden Topos: Chr. von Wolzogen, Vertauschte Fronten. Heidegger und Rosenzweig, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46.2 (1994), S. 109 ff. 142 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bände, Berlin 1923−1929, hier nach ND. Darmstadt 1974, Band 1, S. 9 ff. 143 Ibid., S. 54 ff. 144 Vgl. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1977, S. 211 f.

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1. Landschaft aus dem Rückblick Ernst Cassirer und der Neukantianismus

des Geistes […][…] durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“.145 Diese „Zueignung“ ist ein ganz elementarer Vorgang; alles sinnlich Seiende ist in diesem Sinne ‚Symbol’; was gegenüber den auch bei Cassirer präsenten Symbolbegriffen in klassischer deutscher Philosophie und Dichtung eine bemerkenswerte Ausweitung des Begriffes bedeutet: Sie ging, prominent bei Schelling, von dem Eins-Werden der Gegensätze aus. Schon empirische, theoriegeleitete Wissenschaft arbeitet indes symbolisierend. Der Physiker, so nimmt Cassirer Arbeiten des früh verstorbenen Heinrich Hertz auf, bezieht sich nicht direkt auf Gegenstände der Außenwelt, er formt sich ‚innere Scheinbilder’ der äußerlichen Dinge.146 Goethes Symbolverständnis, wonach das Allgemeine „nur in seinen Besonderungen ist und lebt“, wird für Cassirer zu einem zentralen Bezugspunkt. Es ist dieser sehr individuelle Platonismus, wie er sagt, der eine Zweiweltentheorie, Diesseits und Jenseits, physische und geistige Entitäten hinter sich lässt, und von dem Band zwischen beiden Polen her denkt. Charakteristisch für seinen Ansatz ist es, dass Cassirer von einer ‚Energie des Geistes’ spricht; dies verweist auf Humboldts Ergon-Energeia-Satz, dem zufolge Sprache „nicht so sehr Werk, sondern vielmehr eine Tätigkeit (energeia)“ ist.147 Die Kultur formende geistige Welt des 18. Jahrhunderts, mit Goethe oder Humboldt, ist für Cassirer mindestens ebenso prägend gewesen wie der Kantianismus. Cassirer geht davon aus, dass die Symbolisierung Wirklichkeit keineswegs einfach abbildet, sondern geprägt wird, um Gestaltungen und Umgestaltungen des Wirklichen hervorzubringen. Technik, Staat, Gesetzgebung sind insofern als „symbolische Formen“ zu begreifen.148 Man kann, wenn man die methodischen Bemerkungen bei Cassirer zusammennimmt, den nicht ganz unzutreffenden Eindruck haben, dass er eine Kantische und eine Hegelsche Linie miteinander verbindet: Er geht (Hegelisch) von konkreten Formen und Prägungen des ‚objektiven Geistes’ aus, um dann „durch eine rekonstruktive Analyse zu ihren elementaren Voraussetzungen, zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit’ durchzudringen“ (PhSF III, S. 67). 145 E. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. 7., unveränd. Aufl. Darmstadt 1983, S. 169–200: S. 175 f. Dazu auch O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, S. 50 ff. 146 Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., siehe auch ders., Philosophie der symbolischen Formen, I, a.a.O., S. 45 ff. u.ö. 147 Dazu J. Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt/Main 1990, S. 23 ff., siehe M. Riedel, Sprechen und Hören. Humboldt und Hegel oder das ursprünglich dialektische Grundverhältnis, in: ders., Hören auf die Sprache, Frankfurt/Main 1990, S. 50 ff. 148 Dies zeigt sich noch einmal pointiert in Cassirers Spätwerk: Der Mythos des Staates, 1949, ursprünglich: The Myth of the State, Princeton 1945.

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Cassirer wollte dabei den Begriff des Geistes in einem starken Sinn verstanden wissen und nicht in kulturphilosophische Konzeptionen auflösen. Zugleich ging es ihm um eine Umformung des Geistbegriffs. „Der Begriff ‚Geist’ ist korrekt; aber wir dürfen ihn nicht als Name einer Substanz gebrauchen – für ein Ding ‚quod in se est et per se concipitur’ („das, was in sich ist und durch sich selbst entworfen wird“). Wir sollten ihn in einem funktionellen Sinne gebrauchen als einen umfassenden Namen für alle jene Funktionen, welche die Welt der menschlichen Kultur konstituieren und aufbauen“(ibid.).149 Kultur aber, und hier wird der in heutiger Rezeption oftmals zu gering gewichtete Hegelianische Ansatz der Cassirerschen Kulturphilosophie sehr deutlich, ist konkrete Totalität des Geistes, ein „System seiner mannigfachen Äußerungen“, was auch heißt, dass der Kulturbegriff immer gleichzeitig dynamisch gefasst und auf ein Tätigsein bezogen wird. Der Kulturbegriff ist, wie Cassirer bemerkt hat, von den „Grundformen und Grundrichtungen“ geistigen Produzierens untrennbar. Kantisch ist der Anspruch, kategoriale Grundformen zu exponieren, die die Bedingung der Möglichkeit eines Zugangs zur Realität beschreiben. Ein Fokus in der Tektonik der Symbolischen Formen liegt auf der Sprache. Sie ist schon für Cassirer das Medium, in dem sich alle Wirklichkeit abzeichnet. Cassirer ließ sich deshalb auch tief auf die ethnographische, kulturvergleichende wissenschaftliche Literatur ein.150 Mittels der Sprache können wir überhaupt nur den Bereich der subjektiven Welt überschreiten, Sprache ist deshalb immer auf die Bezeichnung von Dingen bezogen. Sinnlicher Ausdruck, anschaulicher Ausdruck (also nicht unmittelbar Gegenwärtiges vergegenwärtigende sprachliche Repräsentation) und schließlich begriffliches Denken differenzieren sich in der Sprache aus. Sie ist , in strikter Zuordnung zu dieser Stufung, mimetisch-analogisch und begrifflich symbolisierend. In der Sprache bildet sich auch erst die Raum-Zeit-Differenz aus. Cassirer hält fest, dass „jede neue Gestalt des Objektiven“, also jede kategoriale Erfassung von Wirklichkeit, auch auf das Bild „der subjektiven Wirklichkeit“ einwirkt und ihre neuen Züge erschließt.151 Das Aufkommen von Zahlbegriffen markiert dabei eine Zäsur in der Weltsymbolisierung. Denn Zählen schließt das Erfordernis, Einheiten und damit eine gegliederte, artikulierte Wirklichkeit anzunehmen, ein. In einem Zusammenhang, der in der Genese der modernen Philosophie (auch im Blick auf 149 Vgl. dazu auch G. Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, Frankfurt/Main 2009, S. 35 ff. 150 In dieser philosophisch-ethnographischen Linie folgt ihm heute Harald Haarmann, vgl. ders., Myth as source of knowledge in early western thought. The quest for historiography, science and philosophy in Greek antiquity, Wiesbaden 2015. 151 Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form, a.a.O., S. 53 f., siehe auch ders., Philosophie der symbolischen Formen, Band 1, S. 35 ff.

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das Raum-Zeitdenken bei Bergson oder Husserl oder Heidegger) von großer Bedeutung ist, nimmt Cassirer an, die Grenze zwischen Raum- und Zeitvorstellung entstehe fließend. Primär teilt sich immer eine Körperbewegung, ein Körpervollzug mit. Insofern spielt bei Cassirer ähnlich wie bei Husserl die leibliche Präsentation eine wesentliche Rolle. Raum-Konezptionen sind aus aus unmittelbaren körperlichen Wahrnehmungen zu gewinnen. Daraus, ob etwas als plötzlich oder nach und nach eintretend perzipiert werden wird. Zweierlei dürfte systematisch aus diesem Ansatz bei Cassirer eindeutig hervorgehen: 1. Dass nicht Objektivität im menschlichen Denken zur Nachahmung gebracht wird. Vielmehr werden Ordnungsverhältnisse symbolisch (u.a. sprachlich) gewonnen. 2. Dass der Weg vom „Sinnlich-Konkreten zum Generisch-Allgemeinen“ führt, sodass Kategorialität eine Verallgemeinerung, aber auch Abstraktion von konkreten Lebensvollzügen bedeutet. Das ‚ist’ (die Kopula ‚sein‘) ist eine Abstraktion sehr konkreter Symbolisierungsakte. Die Kopula vollzieht also eine Abstraktion auf ein ‚bloßes Formwort’ hin. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang der Übergang von der mimetischen zur analogischen Wahrnehmungsweise. Auch wenn diese Gedankengänge nicht gänzlich neu sind, sondern ihre Essenz sich im Grunde schon in den Sprachtheorien Humboldts oder Herders haben, macht Cassirer doch deutlich, „wie die Sprache auch nachdem sie sich von der bloß onomatopoetischen Art des Ausdrucks befreit hat, noch immer bestrebt ist, sich dem Bedeutungsgehalt anzugleichen, ihm gleichsam tastend nachzugehen“ (PhSF I, S. 182).152 Dass urteilende Sätze gebildet werden, setzt daher die Konturierung von Zusammenhängen durch Prä- und Suffixe in der Sprache voraus, die Evokation von Verwandtschaftsbeziehungen-. 3. Neben der Sprache ist der Mythos eine wesentliche, symbolische Form. Ihm gilt im Wesentlichen der zweite Band von Cassirers Chef d’oeuvre. Der Mythos leistet eine geistige Gesamtdeutung der Welt. Adorno und Horkheimer griffen mit ihrer ‚Dialektik der Aufklärung’ in ähnlicher Weise auf einen weiten Mythosbegriff als Gegenbild zurück. Cassirer war der Auffassung, dass vom Mythos, über die Kunst zur Wissenschaft der Begriff/der Geist immer mehr zu sich und zur Aufklärung über sich selbst gelange. Aber er sah auch sehr deutlich, dass innerhalb ein und derselben Gesellschaft zu einer Zeit verschiedene Wirklichkeiten bestehen, der Mythos also durch eine Aufklärung von ihm/was schon immanent schwierig ist, da der Mythos selbst eine Form von Aufklärung bleibt.

152 Hier wird jeweils nach dem Nachdruck der Einzelausgabe Darmstadt 1974, in der vielzitierten Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft zitiert.

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Im Mythos muss also in jedem Fall eine Ur-teilung vollzogen werden, jene zwischen Heiligem und Profanem, Diesseits und Jenseits. Zudem ist gerade im Mythos die Zeit virulent. Denn mythische Erzählung ist immer Ursprungsforschung, Symbolisierung und Rückbezug auf eine anderweitig gar nicht aussagbare Arché. Der Mythos entwickelt seine eigene Kategorialität, ein Gefüge von Beziehungen (denken Sie etwa an die ‚Familienbande’, durchaus im doppeldeutigen Wortsinn, die sich in den Göttergenealogien spiegeln!153), das als die Macht von nicht-menschlichen Daseinsmächten Gestalt gewinnt. Dies führt bei Cassirer freilich keineswegs zu einem planen Anthropomorphismus. Die ‚Bestimmung des Menschen‘ wird im Mythos transzendiert. Cassirer legt seine Auffassung mythischen Denkens, denn artikulierter Mythos ist eine Form von Denken, in der folgenden Weise dar: „Das Ich drückt nicht nur seine eigene, ihm von Anfang an gegebene Form den Gegenständen auf, sondern es findet, es gewinnt diese Form erst in der Gesamtheit der Wirkungen, die es auf die Gegenstände übt und die es von ihnen zurückempfängt“ (PhSF II, S. 239). „Denn der Mensch überträgt nicht einfach seine eigene fertig ausgebildete Persönlichkeit auf den Gott und leiht diesem nicht schlechthin sein eigenes Selbstbewusstsein: sondern die Gestalt seiner Götter ist es, an denen er dieses Selbstbewusstsein erst findet“ (ibid., S. 253).154 Der dritte, 1929 erschienene Band widmet sich der Frage der Erkenntnis. Cassirer beginnt auf der Ebene elementarer Wahrnehmungen. Sinnlichkeit ist auch für Cassirer keinesfalls reine Passivität, sondern, worin er sich erneut mit Husserl berührt, eine erste Form- und Prägespur des reflexiven Geistes, in der freilich, noch ähnlich dem mythischen Symbolisationszusammenhang, nicht das Einzelding und seine Eigenschaften auseinandertreten, sondern vielmehr ein Strom der Sukzession in Koexistenz sichtbar wird. Hierher gehört auch die seinerzeit vielerörterte Problematik magischer Rationalität. Man denke an Frazers „Golden bough“, das Meisterwerk der imperialistischen ArmchairEthnologie, mit dem sich auch Wittgenstein eingehend auseinandersetzen sollte.155 Die mythische Erkenntnis hat eine Eigenlogik. Sie versetzt real in einen Lebenszusammenhang. Cassirer will zeigen, dass es auf der mythischen Erkenntnisstufe noch nicht zu einer Trennung von Substanz und Eigenschaft kommt. Die eigenschaft153 Dazu K. Heinrich, tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik, Dahlemer Vorlesungen, Band 1, Berlin 1987. 154 T. Bevc: Kulturgenese als Dialektik von Mythos und Vernunft. Ernst Cassirer und die Kritische Theorie, Würzburg 2005, S. 35 ff. 155 Vgl. dazu die Epoche machende Auseinandersetzung L.Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: ders., Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. J. Schulge, Frankfurt/Main 1989, S. 29 ff.

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lichen Attribute, die ins atmosphärisch Auratische ausgreifen, überwölben, durchdringen und bestimmen vielmehr das jeweilige Seiende.156 Das Objekt des Sehens verändert sich, indem Repräsentation (Darstellung von Bedeutungen) zu einer eigenen Fähigkeit und Funktion des Bewusstseins wird. Damit treten in der Wirklichkeit konstante Faktoren, das Substanz-Substrat und der variable Faktor, auseinander. Und dies ermöglicht es erst, dass isolierbare Entitäten und messbare Parameter unterschieden werden können. Der Schritt von der „Erlebniszeit“ zur „Messzeit“ wird so erst vollzogen. Heidegger bestimmt in ‚Sein und Zeit‘ und seinen frühen phänomenologischen Aristoteles-Interpretationen die Differenz zwischen ‚pragmata‘ und ‚onta‘. Mit einer jeweiligen Erkenntnisänderung ändert sich also der gesamte Perzeptionszusammenhang. Doch das Projekt, das in einer gemeinsamen Epochensignatur Ähnlichkeiten aufweist, wird ganz anders durchgeführt. Cassirer beruft sich auf Kurt Goldstein, einen seiner Cousins, der auch auf Merleau-Ponty eine starke Wirkung ausüben sollte.157 Ein Beispiel aus Goldsteins Forschungen spielt dabei eine besondere Rolle: Der Fall zweier taubstummer und blinder Mädchen, die durch spezifische Methoden Sprechen lernten, jedoch niemals in die Lage kamen, Worte im syntaktischen Sinn zu gebrauchen. Ist dies Sprachbeherrschung? Ein objektives Weltbild kann, so Cassirers Einwand, nur im prädikativen propositionalen Sprachzusammenhang entstehen. Er leugnet nicht, dass es vorgelagerte, nicht propositionale Sprachschichten gebe, die irrational seien, Heidegger hingegen wird gerade auf jenen nicht propositionalen Grund der Sprache in der Duplizität von Hören (unabhängig von dem Goldstein-Beispiel), Sprechen und vor allem in dem sprechenden Sichauslegen der Sprache verweisen.158 Im Bereich reiner Erkenntnis hat Cassirer im Wesentlichen die Grundzüge der Kantischen Deduktionen in ihren verschiedenen Filiationen fortgesetzt. Er ist der Auffassung, dass die kategoriale, begriffliche Erkenntnis eine ‚Kritik’ der Wirklichkeit leisten muss. Begriffliche Erkenntnis begrenzt sich nicht darauf, „die Welt der Gegenstände zu überschauen und deren Ordnung in sich widerzuspiegeln. Die Zusammenfassung, die ‚Synopsis’ des Manngifaltigen wird dem Denken nicht schlechthin von den Gegenständen vorgeschrieben, sondern sie muss durch eigene und selbstständige Tätigkeit des Denkens, gemäß der in ihm selbst liegenden Normen und Kriterien hergestellt werden“

156 Siehe dazu Cassirer, PhSF, II, G. Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes, a.a.O., S. 56 ff. 157 N. Andersch, Symbolische Form und psychische Erkrankung. Argumente für eine „Neue Psychopathologie“. Klinische und philosophische Überlegungen, Würzburg 2014; vgl. auch H. J. Sandkühler, D. Petzold (Hg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Phiolosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003. 158 Dazu B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassires Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, S. 32 ff.

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(III, S. 333).159 Dabei sind es insbesondere mathematische Funktionsbegriffe, Begriffe als Prinzipien und Regeln, die der Erkenntnis eine Ordnung geben und sie orientieren, während es in der natürlichen Weltkenntnis primär das Verhältnis von Gattung und Art ist. Dagegen ist kritisch eingewandt worden, dass diese Auffassung gar nicht auf die Wahrheitsfrage hin transparent sei.160 Sie spielt sich jenseits der Wahr-Falsch-Unterscheidung ab. Sie ist aber wahrheitsoffen. Entscheidend für Cassirers Rekonstruktion der Erkenntnis ist das Problem der Zuordnung, sie verbindet einen einzelnen Inhalt (1) mit einer oder mehreren Reihenordnungen (2) und mit einem dazugehörigen Reihenprinzip (3). Was ein Funktionsbegriff, der inhaltsarm und dehnbar ist, damit aber eine hohe Flexibilität aufweist, leistet, ist dies, dass er „Bestimmungen“ einander zuordnen lässt, „die im übrigen durch nichts anderes als durch eben das Gesetz der Zuordnung selbst miteinander verbunden sind, die keinerlei ‚Gleichheit’ oder ‚Ähnlichkeit’ miteinander aufzuweisen brauchen“.161 Cassirer bleibt aber auch dem Hegelschen Konzept verpflichtet, wonach im Erkenntnisbegriff nach und nach ans Licht komme, was immer schon in ihm wirksam war. Die Methode des ‚radikal sich vollbringenden Skeptizismus’, die für Hegel namentlich in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ maßgeblich ist,162 bringt Cassirer nicht explizit in Anschlag. Dennoch wird die Überlegung, dass das Wahre erst am Ende ans Licht kommt, auch zu einem tektonischen Prinzip der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘. Denn sie beruht darauf, dass Ordnungsformen nicht „Abbilder von etwas Früherem“ sind, sondern das, woraufhin das Frühere entworfen ist, das aber erst von ihm her vollständig enthüllt werden kann.163 3. Kunst: Die symbolische Leerstelle Es mag nun verwunderlich sein, dass Cassirer in seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ die Kunst nicht ausdrücklich behandelt. Der architektonische Ort der Kunstphilosophie scheint ihm doppeldeutig geblieben zu sein. Kunst ist ein Universum für sich und sie ist doch in der Linienführung der symbolischen Formen verankert. Sie unterscheidet sich jedenfalls nach Cassi-

159 Hier wird der Humboldtsche Duktus sehr deutlich, vgl. Trabant, Traditionen Humboldts, a.a.O., S. 57 ff. 160 R. von Kymmei, Der Begriff des ‚Symbols‘ in der Philosophie Ernst Cassirers, Diss. Bonn 1953. 161 Zu dieser Ähnlichkeitsepistemologie: B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998, S. 18 ff. 162 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe Band III, Frankfurt/Main 1970, S. 25 ff. 163 Cassirer, PhSF III, S. 254 ff.

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rer kategorial von anderen symbolischen Formen darin, dass sie die Wirklichkeit nicht abkürzt, nicht Abbreviaturen schafft – dies geschieht je spezifisch in Sprache, Mythos, Wissenschaft – sondern dass sie sie intensiviert: „In art we do not conceptualize the world, we perceptualize it“.164 Man tut aber Cassirer wohl keinen Tort an, wenn man festhält (Sie mögen dies selbst überprüfen!), dass ihm keine Kunstphilosophie auf der Höhe von Hegel, Schelling, oder im 20. Jahrhundert (wir werden darauf kommen!) von Nietzsche, Bloch Heidegger, Adorno gelungen ist. Dabei lebte er in einem klassischen, von Kunstwerken geprägten Ambiente, ging früh mit Kunst, vor allem bildender Kunst und Literatur um, in einer ausgesprochen kultivierten und wachen Weise. Gewiss, er entwickelt einen Mimesisbegriff, der darauf verweist, dass Nachbilden ein ‚Vorbilden’ (einen Vorentwurf) voraussetze; doch eben dies ist ein Topos der klassischen Kunstmetaphysik. Goethe bemerkte einmal im Gespräch mit dem Kanzler von Müller, Kunst ist Auslegerin der Natur, sie ahmt sie nicht einfach nach, vielmehr bildet sie ihre Gestalten voraus.165 Darin zeige sich letztlich das geistige Vermögen der Natur. Cassirer hielt fest, dass Kunst stets Ausdruck, Expression sei, dabei aber zugleich formend und bildend sein muss. Dem Ausdrucksmoment wies er aber eine gewisse Priorität zu. Dies ist für die Entwicklung des Kunstbegriffs berechtigt. Es bedeutet aber auch eine gewisse Einengung. Denn in einem solchen Begriff von Kunst können Spezifika der Form, aber auch die Ontologie – und die Wahrheitsbezogenheit – des Werkes nicht wirklich reflektiert werden. Augenfällig ist auch, dass Cassirer sich paradigmatisch über die poetischen und ästhetischen Aussagen des 19. Jahrhunderts hinweg ins 18. Jahrhundert wendet, mit Goethe als Zentralgestirn. Seine kunstphilosophischen Perspektiven, die man freilich auch nicht überbelasten darf, weil sie in Abhandlungen in der Exilzeit unter oftmals eher prekären Umständen niedergelegt sind (erst die großangelegte Nachlassedition macht sie zugänglich!), führen in keiner Weise zu einer Theorie der modernen, oder gar hypermodernen Künste.166

164 Vor allem von Nelson Goodman wurden zahlreiche Inspirationen Cassirers aufgenommen, vgl. ders., Sprachen der Kunst -Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main 1995, S. 12 ff. Vgl. auch Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ada Löwith, Frankfurt am Main 1965 und 1984. 165 Dazu M. Riedel, Kunst als Auslegerin der Natur. Naturästhetik und Hermeneutik in der klassischen deutschen Philosophie, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 23 ff. 166 Dazu H. Seubert und K. Schippling, Zeitbilder, Ein Gespräch, geplant für Basel 2022.

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4. Technik: Diesseits des „Gestells“ Auch der Technik wies Cassirer unter den symbolischen Formen keinen fixierten Ort zu. Schon 1930 schreibt er allerdings einen Aufsatz: ‚Form und Technik‘, der in seiner Spätphilosophie weiterwirkt.167 Auch hier erkennt man, gemessen an Heideggers, freilich nach dem Zweiten Weltkrieg verfassten Meta-Metaphysik der Technik, aber auch gemessen an Günther Anders oder Hans Jonas technikphilosophische Konzeptionen,168 eine eher konventionelle Einbeziehung der Technik in eine Kulturphilosophie – mit einer gewissen Fasziniertheit des alteuropäischen Bürgers von technischen Instrumentarien. Sie gehtnicht so weit wie die Visionen, mit der Technik Alteuropa verabschieden zu können, so wie dies der Futurismus, Marinetti oder zeitweise Gottfried Benn meinten. Cassirer zitiert zu Beginn Max Eyth, den damals bekannten „Dichteringenieur“: „Technik ist alles, was dem menschlichen Wollen eine körperliche Form gibt“. Naturerkenntnis, angewandte Naturwissenschaft und technische Naturbeherrschung rücken für Cassirer eng zusammen. Etwas von der Überzeugung und Erwartung an eine Amelioration der hinfälligen Natur durch den Menschen ist in dieser Technikphilosophie omnipräsent. Er fragt behutsam, ob die Erschließung der Objektwelt Entfremdung des Menschen von seinem Wesen bedeutet.169 Allerdings zieht er als Korrektiv, deutlich entschärft!, wiederum einen Hegelschen Gedanken heran, dass „nämlich das technische Wirken, in seiner Richtung nach außen, immer zugleich ein Selbstbekenntnis des Menschen und in ihm ein Medium seiner Selbsterkenntnis darstellt“. Damit wird Bezug genommen auf die grundlegenden Entfremdungsanalysen der ‚Phänomenologie des Geistes‘ und die Dynamik des Herr-Knecht-Verhältnisses. Der Knecht arbeitet sich, anders als der Herr, an der Außenwelt ab und gewinnt damit eine Bildung, die dem Herrn versagt bleibt. Dadurch gewinnt er seine Überlegenheit. Ernst Kapp, Hegelianer in den Wäldern Texas waldrodend tätig und eine Art Bindeglied zwischen Hegel und Cassirer, formulierte, im Gebrauch der Werkzeuge gelange man erst zu einer Kenntnis der eigenen Organe, die sich

167 Dazu Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 22000, S. 54 ff. 168 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Band II, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitaler der dritten Industriellen Revolution, München 1980; H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung.Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/Main 1979. 169 E. Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2010, S. 27 f.

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des Organons der Werkzeuge bedienen.170 Bei Cassirer liegt seinerzeit eine gewisse, wenngleich sehr selektive Marx-Rezeption vor. Vor allem beruft er sich auf das XIII. Kapitel des ‚Kapitals’: ‚Entwicklung der Maschinerie’. Er sieht, dass Technik neue Wirtschafts- und Organisationsformen mit sich bringt, etwa einen Nationen und Bedürfnisse überspannenden Markt, „Emanzipation von den organischen Schranken“. Und Cassirer sieht, etwa mit dem AEG-Generaldirektor und zeitweiligen deutschen Außenminister Walther Rathenau, der über diese Fragen bedeutsame Essaybände veröffentlicht hatte, dass „der Gewinn […] auch Opfer nach sich zieht“. Etwa dieses, eine Don Juaneske Entwicklung: „Jedes gestillte Bedürfnis dient nur dazu, im gesteigerten Maße neue Bedürfnisse hervorzuheben- und aus diesem Kreislauf ist für den, der einmal in ihn eingegangen ist, kein Entrinnen“.171 Cassirer bezweifelt aber und verneint letztlich, dass dies in einem „Wesen“ der Technik liege. Den systematischen Ort der Technik schreibt er vielmehr der Teleologie in der dritten Kantischen Kritik zu, vor dem Horizont der Kantischen Perspektive auf den Menschen als Endzweck der Schöpfung. Technik „versteht ihren eigenen Sinn und ihr eigenes Telos am besten, wenn sie sich dahin bescheidet, dass sie niemals Selbstzweck sein kann, sondern sich einem ‚anderen Reich der Zwecke’, dass sie sich einer endgültigen Teleologie einzuordnen hat, die Kant als Ethiko-Teleologie bezeichnet“.172 Technik steht also im Dienst der Humanität, eine Aussicht, die, sehen Sie es mir nach und prüfen Sie mein in diesem Punkt eher hartes Urteil, durch Hegels Studium der Nationalökonomie und während der ersten industriellen Revolution ein Jahrhundert früher, erst recht durch Marx und die Soziologie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, schon überholt worden war. Cassirers Überlegungen zu einer ‚Solidarität der Arbeit’, der zivilisierenden, pazifizierenden Wirkung der Technik gegenüber den inneren Kräften des Menschen selbst, haben ihre Berechtigung und ihr ethisches Recht im Rahmen eines ethischen Sozialismus. Die Dynamik von Technik und Technologie erfassen sie aber nur bedingt.173

170 E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, erstmals Braunschweig 1877. 171 E. Cassirer, Smbol, Technik, Sprache, Hamburg 1985, S. 87. 172 E. Cassirer, Form und Technik (1982), in: B. Recki (Hg.), Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausfabe Band 17, Hamburg 2009, S. 182. 173 Eine Kontrastierung mit Heideggers später Technik-Philosophie könnte ebenso aufschlussreich sein wie mit H. Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik, Frankfurt/Main 2009, S. 22 ff.

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5. Der Mythos des Staates Erst im Exil, in seinem letzten Buch ‚Der Mythos des Staates’ kommt Cassirer, im Rücken Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus, auf das Problem der Technik zurück; wobei er die Masseninszenierungen der Totalitarismen als moderne, politische Religionen im Blick hat, den Atavismus, der sich höchster technischer Simulationen bedient: Leni Riefenstahls Olympiafilm, die Inszenierungen der Reichsparteitage und ihre Lichtdome, die Propagandamaschinerien, letztlich auch die Erzeugung von neuen Realitäten in eindrucksvollen filmischen Szenerien (auch in der frühen sowjetischen Filmproduktion!), geben im Nachhinein die Matrix dieser Diagnose ab.174 In all diesen Machinationen wirken in einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen erzeugte Mythen, die in besonderem Maße dem Menschen des technischen Zeitalters Suggestionen vermitteln. Über Gründe und Ursachen wäre nachzudenken. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass der Mensch im Entfremdungsstatus nicht mehr Bürger im tradierten Sinne ist, nicht mehr die Kunst der Besonnenheit (Phronesis) übt. Aber greift Cassirers Diagnose auch in diesem Feld wirklich? Bediente sich nicht auch die Demokratie, freilich in seiner Zeit nur andeutungsweise, der großen Simulationsmaschine und ist die Rückkehr des Mythos nur Rückfall in die Barbarei? Kann es nicht auch eine andere, gegenläufig orientierte „Arbeit am Mythos“ geben, die Hans Blumenberg später etablieren sollte? Die Wegstrecke „Vom Kultus zur Kultur“ verläuft vermutlich nicht nur linear. Es gab auch andere, gegenläufige Geschichtsauffassungen. Ernst Bloch etwa hatte in seinem bedeutenden Essaybuch ‚Erbschaft dieser Zeit’ der europäischen Linken vorgeworfen, dass sie den Mythos der regredierenden Rechten überlassen hätte.175 Freud konstatierte ein ‚Unbehagen in der Kultur’, das gerade den vermeintlich pazifzierten Kulturbürger in unregelmäßigen Abständen zum kulturellen Selbstmord treibt, weil ihm die Zivilisierung zu anstrengend ist. Solche Denker stellten um 1930 eine härtere und treffendere Zeitdiagnose auf, die Cassirer fremd bleiben sollte. Deshalb bleibt Cassirers Kulturdiagnostik Erbschaft einer glücklicheren bürgerlichen Zeit, aus der er von der atavistischen Barbarei vertrieben wurde. Sie dient als Humanitätsmaßstab, erlaubt aber nicht den unmittelbaren Anschluss. Die Sehnsucht nach einer humanisierenden, moral-gebenden Kraft und Kultivierung im Anschluss an Kant behält ihr Gewicht auch in den neuen dehumanisierenden Tendenzen des 21. Jahr-

174 Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und grenzenlose Ästhetisierung der Politik, bzw. Politisierung der Ästhetik kann mit Kategorien Walter Benjamins, Hans Blumenbergs und mancher anderer neu in den Blick gebracht werden. 175 E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Erweiterte Neuausgabe, Bloch, Gesamtausgabe Band 4, Frankfurt/Main 1970, erstmals erschien diese Bestandsaufnahme 1935.

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2. Neukantianische Profile

hunderts. Husserl sah ungleich schärfer als Cassirer, dass die alteuropäische Welt in den Strudel der Vernichtung gezogen wurde. Cassirers Größe und Grenze liegen gleichermaßen darin, dass er Kultur-Bürger war, wie wir es nicht mehr sein können. 2. Neukantianische Profile 1. Hermann Cohen: Neukantianismus als Projekt – Reine Erkenntnislehre und Logik und das Vermächtnis einer ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‘ Ich muss mich darauf begrenzen, eine Art topographischer Übersicht über den Neukantianismus in seinen verschiedenen Verzweigungen und Schulen zu geben. Man kann schulmäßig zwischen der Marburger Schule mit Hermann Cohen und Paul Natorp als Exponenten und der südwestdeutschen Schule mit Heinrich Rickert im Zentrum unterscheiden. Cassirer war, bei aller Eigenständigkeit, in seinen Anfängen vor allem von Hermann Cohen geprägt und beeinflusst. Die Biographie dieses Mannes, des als Kant-Interpret und Systematikers wohlgrößten Neukantianers und des Begründers einer Kulturphilosophie der Moderne aus den Quellen des Judentums, führt ins Zentrum der jüdischen Geschichte Europas. Geboren wurde Hermann Cohen 1842 im anhaltinischen Coswig als Sohn eines Vorbeters an der dortigen Synagoge. Solche Synagogen mit zum Teil hoher Auslegungs-, Lehr- und Gesangskultur gab es im damaligen Deutschland in jeder größeren Kreisstadt. Cohen ist seit seiner Jugend genauestens mit den hebräischen Riten, Bräuchen, der Sprache und Kultur des Judentums vertraut.176 In diesem jüdischen Umkreis bewegt er sich, und heiratet die 18 Jahre jüngere Tochter des bedeutenden jüdischen Kantors Lewandowsky, die Begleiterin seines Lebens – Martha. Jüdisches Leben und Denken bleiben Leitmotive seiner Existenz.177 Erst nach seiner Emeritierung treten sie ins Zentrum. Seine letzte große Lehrtätigkeit nimmt er am jüdischen Lehrhaus zu Berlin wahr. Aus den dort gehalte-

176 Vgl. H. Holzhey, W. Röd, Geschichte der Philosophie Band XIII, S. 42 ff., sehr instruktivauch H. Holzey, Ursprung und Einheit. Die Geschichte der ‚Marburger Schule‘ als Auseinandersetzung um die Lögoi des Denkens, Basel, Stuttgart 1986, S. 92 ff. 177 Für Cohens Kantianischen Sozialismus und sein Verhältnis als Jude zum deutschen Nationalstaat sind einschlägige Cohen, Jüdische Schriften, Band I-III, Berlin 1924; vgl. E. Goodman-Thau und G. Y. Kohler (Hg.), Nationalismus und Religion. Hermann Cohen zum 100. Todestag, Heidelberg 2019.

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nen Vorlesungen geht das späte Hauptwerk ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‘ hervor. Cohen exponierte sich allerdings wie wenige Ordinarien seiner Zeit zeitlebens als Jude und als ethischer Sozialist. So trat er im Antisemitismusstreit offen gegen den Nationalhistoriker Treitschke auf.178 Seine Wurzeln waren immer präsent geblieben. Dennoch zeichnet sich eine schrittweise Rückkehr zu diesen Wurzeln ab. So reiste er nach Russland, in die Gegend der altjüdischen Orthodoxie. Er verfasste, den bei Kant angelegten unabdingbaren Übergang von der Ethik zur Religion nachvollziehend, am Ende jenes Spätwerk, das mir am eindrucksvollsten scheint: eine ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums’ (1919 postum erschienen).179 1918 starb der in Berlin Geborene. Seine Ehefrau Martha edierte das philosophische Vermächtnis. Sie hatte ihren Mann um 24 Jahre überlebt und wurde als 82-Järhige nach Theresienstadt deportiet, wo sie nach dem ihr gewidmeten Stolperstein in Berlin „12. September 1942“ den Tod fand. Promoviert wurde Hermann Cohen in Halle, mit einer logischen Untersuchung, die als Preisaufgabe in Berlin im Umkreis des Logikers und Hegel-Schülers Trendelenburg vorgelegt worden war.180 In den Archivakten ist die Arbeit mit keinem Prädikat versehen, ein Vorgang, dem auch vor dem Hintergrund des latenten Antisemitismus weiter nachzugehen wäre. Zweimal scheitert ein Habilitationsgesuch in Berlin. In Marburg wird er durch die Unterstützung von Friedrich Albert Lange (Verf. einer bedeutenden, auch für Nietzsche zentralen Geschichte des Materialismus) 1873 habilitiert, 1876 wird er Langes Nachfolger als Ordinarius. Hier bleibt er über Jahrzehnte prägend.181 Marburg blieb nachhaltig ein Zentrum der Kantforschung bis in die Gegenwart. Dass er Ernst Cassirer eine Promotion in Marburg nahelegte, mag auch mit den eigenen Erfahrungen zu tun gehabt haben.

178 P. Natorp, Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher. Gedächtnisrede, gehalten in der Aula der Universität Marburg, 4. Juli 1918. Siehe auch S. Wogenstein, Horizonte der Moderne: Tragödie und Judentum von Cohen bis Lévinas, Heidelberg 2011, S. 23 ff. H. Wiedebach, Hermann Cohens Kindheit, in: Kalonymos 21, 1, 2018, S. 1–9, mehrere Abb., auch online. 179 H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 1978, ND der zweiten Auflage Franfkurt/Main 1929, vgl. dazu auch den für Cassirers Denken grundlegenden Sammelband E. Goodman-Thau und G. Y.Kohler (Hg.), Nationalismus und Religion. Hermann Cohen zum 100.Geburtstag, a.a.O. 180 H. Cohen, Zur Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 7 (1871), S. 249 ff., wiederabgedruckt: Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, hg. von A. Görland und E. Cassirer, Berlin I 1928, S. 229 ff. 181 Vgl. dazu H. Holzhey, Hermann Cohen, Frankfurt/Main 1994, S. 20 ff., siehe auch R. Brandt, F. Orlik, Philosophisches Denken – Politisches Wirken, Hildesheim 1992.

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Cohen wurde zu einem Kant-Interpreten von größter Subtilität, der peinlich genau die Kenntnis der Quellen, also die geschichtliche Rekonstruktion, mit systematischem Interesse zu verbinden versucht. Er beginnt mit einer ‚Theorie der Erfahrung’, die sich ihrerseits an einen damaligen Streitfall über den Status der Anschauungsformen von Raum und Zeit entzündete. Cohen radikalisierte dabei den Kantischen Ansatz. Raum und Zeit und synthetische Einheit als formale Bedingung der Erfahrung sind als ‚Apriori’ zu denken, dies aber heißt, dass es im Erfahrungsbegriff nur um das formal apriorische Moment der Sinnlichkeit gehen kann. Erfahrung ist also die Instanz, an der ein Begriff a priori als gehaltvoll aufzuweisen ist. Bei aller Differenz in der Interessenlage und der sehr unterschiedlichen Intensität der Bezugnahme auf Kant ist doch eine gewisse Parallelität der Denkwege zu Husserl deutlich. Cohen begann in den 1860er-Jahren mit einem psychologischen Ansatz, wobei er versuchte, die Philosophie ebenso wie andere Kulturleistungen ganz auf die Tätigkeit des Bewusstseins zu beziehen. Die Platonische Idee etwa als „lebendige Denktätigkeit des Schauens“ zu rekonstruieren, um sich, auch vor dem Hintergrund der genannten Kontroverse, auf eine „neuerliche Begründung der Kantischen Lehre vom Apriori“ zu konzentrieren.182 Die intensiven Kantstudien setzten ihn auf eine andere Spur. Dabei ist feilich deutlich, dass sich für Cohen das kritische Unterfangen, das Problem einer ‚Metaphysik der Metaphysik’, ganz auf die Frage nach der Möglichkeit wissenschaftlicher Metaphysik fokussiert: „Was Natur sei, geht uns nichts an, sofern wir philosophieren, nicht dichten wollen“.183 Es geht in der von ihm umrissenen ‚transzendentalen Methode’ darum, für die „Elemente des erkennenden Bewusstseins“ aufzuweisen, dass sie „hinreichend und notwendig sind, das Faktum der Wissenschaft zu begründen und zu festigen“ .184 Dies führt soweit, dass nach Cohen ‚Realität’ einzig als ‚Denkmittel’, als Urqualität oder ‚Sachheit’ eine Rolle spieltt. Sie ist kategoriale Bestimmung, aus der aber keine Folgerungen auf Substanz oder Materialität abgeleitet werden können. Denken ist reines Denken, in dessen Methoden sich der Gegenstand erzeugt. Cohens Interesse gilt mithin einer ‚Logik reiner Erkenntnis’, eines Denkens aus dem Ursprung. In jenem Werk, in dem Cohen dies nachzuweisen sucht, eben seiner „Logik der reinen Erkenntnis“ (1902, 2. Aufl. 1914) führt sein Unterfangen einer De-Ontologisierung philosophischen Grundlegungswissens für die mathematischen Naturwissenschaften so weit, dass er den Satz schreibt, „dass die Welt der Dinge auf dem Grund der Gesetze des 182 Cohen, Die platonische Ideenlehre, psychologisch entwickelt, in: Schriften I, a.a.O., S. 30 ff. 183 Cohen, Biographisches Vorwort, in: F.A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Nachdruckausgabe Cohen, Werke Band I, S. XI. 184 Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 1871, S. 74 f.

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Denkens beruht“. „Nicht am Himmel sind Sterne gegeben, sondern in den raisons de l’astronomie“.185 Dem Urteil kommt dabei größtes Gewicht zu. Cohen korrigiert Kant an entscheidender Stelle. Er selbst würde wohl eher gesagt haben, er suche mit Kant über Kant hinauszugehen. Die grundlegende Stiftung von Einheit wird nämlich Cohen zufolge nicht durch die Einheit des Selbstbewusstseins in der ‚transzendentalen Apperzeption’ begründet, sondern durch das Urteil selbst: dadurch, dass im Urteil Sonderung als Vereinigung, Vereinigung aber als Sonderung vonstattengeht. Hier ist die Platonische Verbindung von Verflechtung und Trennung, Symploke und Dihairesis zu erkennen. Es zeichnet sich aber zugleich eine Logik der Korrelationen ab. Beide Operationen, Verbindung und Trennung, nämlich beschreiben in ihrem Zusammenhang eine Richtungsdifferenz, in der die Korrelation beider Tätigkeitsrichtungen sich als differenzierte Einheit erweist.186 Damit wird die kantische Schrittfolge einer Logik der Subsumption des rhapsodisch Mannigfaltigen unter Kategorien gebunden erkennbar erweitert. Cohen blieb nicht bei der theoretischen Philosophie stehen. Er legte dann eine ‚Ethik des reinen Willens’ (1904) vor. Damit wollte er zeigen, dass die Konsequenzen der Erfahrungslehre, also seiner theoretischen Philosophie als Erkenntnistheorie, unmittelbar auf die Ethik hinführen. Dies ist ein stärkerer systematischer Anspruch an die Ethik als die Aussage, dass die „Erfahrungslehre der Sittenlehre einen Platz offen“ lässt, was die grobe Grundstruktur der Kantischen Konzeption wäre. Cohen gesteht ein, dass die Erfahrungslehre der Ethik einzig die logischen Grundbegriffe vorgeben könne, nicht aber die jeweiligen Gehalte. Erstmals im Horizont der Ethik ist bei Cohen von Selbstbewusstsein die Rede. Es ist auffällig, dass Cohen die Kantische Postulatenlehre (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele), die die Postulate der praktischen Vernunft gleichsam als Bedürfnisse des Sittensubjekts begreift, nicht aufnimmt.187 Am Recht dieser Kantischen Überlegung mag man in der Tat zweifeln. Wenn es primär „Bedürfnisse“ des intelligiblen, sittlichen Subjekts geben kann, ist also folglich die Rede von Bedürfnissen des theoretischen Vernunftsubjektes überhaupt sinnvoll? Auch die Konvergenz von Sittlichkeit und Freiheit ist in Cohens reiner Ethik nicht entscheidend, vielmehr greift er auf die Kantische Teleologie als „ideellen Grenzbegriff“ der Welt im Ganzen in ihrer Erscheinungsweise zurück; insofern durchsetzt er die Ethik mit Zügen der Kritik der Urteilskraft. Gegenstand der Ethik ist der ‚homo noumenon’ als 185 Cohen, Das Prinzip der Intinitesimal-Methode und seine Geschichte, Werke 5.I, Hildesheim 1984, S. 125. 186 Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, a.a.O., S. 55 ff. 187 H. Holzhey, Sein und Sollen Postmetaphysischer Idealismus bei Cohen und Natorp, in: Chr. Krijnen und E. W. Orth (Hg.), Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie, Würzburg 1998, S. 139 ff.

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Ideal der ‚Menschheit’. Damit wird wiederum in tektonisch genialer Weise die Staatslehre als reine Rechtslehre verflochten, wenn der gesetzlich geordnete Staat als der genuine Raum dieses sittlichen Menschen aufgefasst wird.188 Zugleich werden in diesem Deutungszusammenhang jüdische Motive erkennbar, die auf den Strom jüdischer Religionsphilosophie von Buber über Rosenzweig bis zu Emmanuel Lévinas vorausweisen: unbedingte apodiktische Verpflichtung kann in der Wirklichkeit nur von der Zukunft her Gestalt gewinnen. Ewigkeit ist Bezug auf eine Zukunft jenseits des Zeitstroms, die sich im Zeitstrom zeigt, eine messianisch erfüllte Zeit, die in rein sittlichem Handeln proleptisch in Anspruch genommen wird.189 Eine Synthese, die tektonisch als virtuose Überblendung Kantischer Ansätze zu fassen ist (KpV und Metaphysik der Sitten), zeigt sich darin, dass Cassirer in die reine Ethik schon eine materiale Tugendlehre einschreibt, gemäß der Kantischen Tektonik der Pflichten, die zugleich Zwecke sind. Cohen fasst also solche Tugenden als Haltungen des Charakters (dies wäre in der Sache vielleicht eine Kant und Aristoteles in eine Beziehung bringende Topologie) auf, wobei er einerseits die Liebe, die vom Ich zur Gemeinschaft führt, andrerseits die Ehre oder Würde, die vom Du ausgeht und so zu einem Wir der Gemeinschaft übergehen kann, als Grundtugenden nennt. Ein Vorgriff auf die starke Akzentuierung des Dialogischen in der jüdischen Philosophie.190 Immer wieder nimmt Cohen freilich neben dem sittlich humanen Ideal auch die Individualität des Einzelnen in den Blick; namentlich in der ‚Liebestugend’ der Bescheidenheit, die sich in der unauflöslichen Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit weiß, sodann in der ‚Wahrhaftigkeit’, in der Menschen einander Ehre erweisen. Die normative Staatsphilosophie Cohens kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sehr scharf die soziale Frage der Arbeiterschaft seiner Zeit auffasste und auf die kantische Zweck-Mittel-Formel brachte. Auch hierin weist er über seine Zeit heraus, ebenso wie aufgrund der Sensitivität des jüdischen Denkers. Die „Idee des Sozialismus“ ist deshalb für Cohen die „Idee des Zweckvorzugs des Menschen“, der niemals darin aufgeht, Kalkulationsmasse 188 Vgl. dazu auch P. Fiorano, Geschichtliche Ewigkeit. Ursprung und Zeitlichkeit in der Philosophie Hermann Cohens, Würzburg 1993 und J. Klein, Die Grundlegung der Ethik in der Philosophie Hermann Cohens und Paul Natorps -eine Kritik des Neukantianismus, Göttingen 1976. 189 Dazu wiederum sehr treffend Fiorano; siehe auch zu den rechtsphilosophischen Implikationen E. Goodman-Thau, Nationalismus und Religion. Hermann Cohen nach 100 Jahren, in: dieselbe (Hg.), Nationalismus und Religion, a.a.O., S. 41 ff., sowie M. Heger, Der strafrechtliche Schutz von Nation und Religion in Deutschland, in: ibid., S. 21 ff. 190 Siehe pars pro toto die sehr grundlegende Bestandsaufnahme E. Goodman-Thau und F. Oz-Salzberger (Hg.), Das Jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität, Berlin 2005.

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im ökonomischen Markt zu sein, sei es als Produzent, sei es als Konsument. Das ‚Reich der Zwecke’ ist sehr konkret zu fassen als Gemeinschaft der geeinten Menschheit. Es bildet den autonomen Zusammenhang unter dem Sittengesetz.191 Das aber heißt: ein ethisch verfasster Staat wäre zugleich in Übereinstimmung mit der Idee des Sozialen. Cohens Sozialismusbegriff ist Kriterium seines Staatsbegriffs. Dahinter deutet sich in seinen späten Jahren eine Geschichtsphilosophie an, die auf ‚ewige Arbeit’ an der Verwirklichung der Sittlichkeit zielt. Zwischen religiösen und säkularen jüdischen Topoi besteht eine enge Verbindung. Auch die Ankunft des Messias wäre nicht Ende der Welt; sondern größtmögliche Verwirklichung der Konvergenz von Recht und Ethik. Franz Rosenzweig, Cohen eng verbunden, hat auf die spezifisch jüdisch messianische Zielrichtung jenes Sozialismus hingewiesen: er sei spezifisch messianisch „als In- und Miteinander von Liebesgebot und Gerechtigkeitsforderung, wie als geheime Triebkraft, die in Lassalle und, soweit ihm das Gnadengeschenk der Inkonsequenz verliehen war, selbst in Karl Marx wirkte“.192 Man erkennt unmittelbar, dass Cohen aus seiner Kant-Deutung heraus eine zunehmende Neigung und Kraft zur Systembildung fand. In diesem Zusammenhang hat, beruhend auf einem bedeutenden Kommentar zu Kants dritter Kritik auch eine ‚Ästhetik des reinen Gefühls’ (1912) ihren Ort. Die Systemstücke entsprechen also den Kommentarteilen zu Kants Corpus, wobei Cohen die dritte Kritik, ‚Analytik des Schönen und der Zweckhaftigkeit‘, als Ästhetik liest, was sich keinesfalls von selbst versteht.193 Kunst, so Cohen in seinem eigenen systematischen Entwurf, „stellt eine eigene Welt dar, die weder in der Natur noch in der Sittlichkeit aufgeht“,194 und es wird deutlich, dass Cohen Kultur wesentlich von der Kunst her denkt. Dem entspricht, im Sinne des Kantischen Spiels der Erkenntnisvermögen Sinnlichkeit und Verstand mit sich selbst, ein Bewusstsein, das nicht über sich hinausgeht, „um außerhalb des Eigenen der in sich beruhenden Tätigkeit einen Gegenstand als Inhalt gewinnen zu wollen“, sondern das eben mit sich selbst in freiem Umgang bleibt und spielt.195 Die eminente Kunst ist 191 Vgl. Cohen, Ethik des reinen Willens, Berlin 1912, Nachdruck Holzhey (Hg.), Werke Band 8.. 192 F. Rosenzweig, Einleitung, in: Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Berlin 1924, Band I, S. XXiii. 193 Die Grundform reiner Ästhetik istes dann auch, die die Analytiken des Schönen, des Erhabenen und die Teleologie der Natur zusammenhält. 194 Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, Werke Band 3, S. 99. Die tektonische Spezifik in Cohens eigenständiger Ästhetik des reinen Gefühls ist die Aufgliederung des Schönen in das Erhabene und den Humor, die quer zur Kantischen Tektonik steht. 195 Vgl. zu Kants dritter Kritik heute W. Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, S. 7 ff.

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bei Cohen die Poesie, eine zweite Sprache, neben der gegenstandsorientierten Sprache der Erkenntnis. In keiner Weise führt diese Ästhetik die materiale Linie der spekulativen ästhetischen Systeme des deutschen Idealismus weiter, auch nicht die Einsichten der Romantiker oder Nietzsches explosiven Gedanken der Artisten-Metaphysik. Sie signalisiert freilich, wie sehr die Zweckfreiheit zum genuinen Humanum gehört und dass zur Kultur gleichwesentlich Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst gehören. Sein Judentum wurde, ungeachtet seiner Herkunft, für Cohen zunehmend durch die massiven Antisemitismus-Attacken zu einem fundamentalen Moment seines Denkens und seiner Intellektualität. Einen Anlass bildeten die antisemitsichen Invektiven des des Nationalhistorikers Treitschke, die Cohen wort- und argumentationsstark zurückwies.196 Treitschke sprach in der HochZeit dessen, was deutsch-jüdische Symbiose genannt wird, davon, dass das Judentum „Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes sei“, der sich mit dem Wesen des Christentums – und das heißt auch mit einer bürgerlichen Verfassung, die auf das Christentum hin errichtet ist – prinzipiell nicht verbinden lasse.197 Cohen zeigt demgegenüber, aus welchen bösartigen Verfälschungen der genuin jüdischen Quellen, der Hebräischen Bibel aber auch des Talmud, der Antisemitismus schöpfe. Dies tut er in einem dezidiert philosophischen Sinn durch die Prüfung der jüdischen Quellen an den Maßstäben der Vernunft.198 Bemerkenswert ist es, dass er nicht nur dem antisemitischen Vorurteil widerspricht, sondern auch den Tendenzen des Zionismus (Herzl, junger Martin Buber) in Israel eine Heimstatt und Sammlung des zerstreuten Volkes zu errichten. Gerade in der Diaspora, dem verbliebenen ‚Rest Israels’, kann und soll das Wesen des Judentums kenntlich werden.199 In seiner Spätphilosophie geht er weiter: Er erkennt, dass Religion niemals auf die allgemeinen Formulare der westlichen Rationalität reduziert werden kann, erst recht nicht, wenn diese so erkenntnistheoretisch und ethisch rein gehalten sein sollen, wie Cohen es versuchte. Religion ist, wie er in der Linie von Moses Maimonides weiß, eine tiefere Quelle. Sie bleibt aber unabdingbar auf die Vernunft bezogen, auch in ihrer Geschichtlichkeit, ihren kontingenten Über196 Dazu im Einzelnen Goodman-Thau, Deutschtum und Judentum, a.a.O., sowie A. Poma, Nationality, State and Internationalism in Hermann Cohens ‚Ein Bekenntniß in der Judenfrage‘, in: Nationalismus und Religion, a.a.O., S. 75 ff. 197 Vgl. die kritische Auseinandersetzung Cohens mit Treitschke in seinem ‚Bekenntnis zur Judenfrage, in: Jüdische Schriften Band II, S. 73 ff. 198 Vgl. Cohen, Religion der Vernunft, a.a.O., S. 7 ff., sowie die Beiträge von Irene Kajon (S. 21 ff.), Jeffrey A. Barash (S. 115 ff.), Micha Brumlik (S. 125 ff.), Roy Amir (S. 135 ff.) und Chr. Schmidt (S. 157 ff.) in Goodman-Thau, Kohler (Hg.), Nationalismus und Religion, a.a.O. 199 Vgl. Fiorato, Geschichtliche Ewigkeit, a.a.O., S. 175 ff. und H. Holzhey, Die Religion im System der Philosophie Cohens, in: Hermann Cohen und die Erkenntnistheorie, a.a.O., S. 147 ff.

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lieferungen und ihrer statutarischen Tradition. In seinem eindrucksvollen Spätwerk trägt Cohen, der noch einmal konsequent wie Moses Mendelssohn sich gleichermaßen als Jude, Philosoph und Deutscher weiß, auch die eigene Spannung aus: zwischen einer Religion, die begrifflich fassbar sei, und den Quellen des Glaubens der Väter. Religion ist – dies ist eine Grundeinsicht bei Cohen – niemals ganz in eine reine Sittenlehre zu übersetzen. „Die Tugend geht auf die Allheit, aber sie hängt an dem Menschen, an dem lebendigen Menschen“, der sich in der Religion seinem Gott gegenübersieht.200 Auch die theoretische Forderung der Begriffseinheit schöpft noch aus dem Monotheismus, aus der Korrelation eines Bundes mit sich selbst. 2. Paul Natorp: Philosophische Systematik als Frage nach dem Absoluten Der zweite systematisch weit über einen Schulzusammenhang hinausragende Exponent der Marburger Schule ist Paul Natorp, geboren 1854 in Düsseldorf. Er stammt, wie viele große Geister, aus dem protestantischen Pfarrhaus. Der begabte junge Mann schwankt in seiner Jugend zwischen einer wissenschaftlichen oder philosophischen Laufbahn und einer Wendung zur Musik. Immerhin scheint er ein bemerkenswerter Pianist gewesen zu sein, und kein geringerer als Brahms war sein Mentor. Er studiert erst in Straßburg, wo er unter der Ägide von Cohen 1881 über ‚Descartes’ Erkenntnistheorie’ promoviert. Die Vergleichsperspektiven zu Kant sind stets präsent. Cohen drängte allerdings darauf, Descartes’ Eigengewicht sichtbar zu machen und ihn nicht nur als Vorläufer Kants zu verstehen. Ökonomisch hatte er nicht die Unabhängigkeit, wie sie einem Cassirer gegeben war. Langjährige, zeitraubende Tätigkeit in der Universitätsbibliohtek ermöglichte erst die philosophische Laufbahn. Auch Natorp heiratet eine Cousine, er wird 1893 in Marburg zum Ordinarius berufen, 1922 wird er an derselben Universität emeritiert. Diese große Konstanz sichert ihm mit allen Vor- und Nachteilen die Möglichkeit, eine Schule zu begründen. Natorp verstand sich immer auch als Theoretiker der Pädagogik. Aus gutem Grund wirkte er während seines Professorendaseins auch öffentlich und verfasste nationale Aufrufe. 1918 reklamiert er den „Deutsche Weltberuf“ zu einer transnationalen Humanität. Auch die nationale, vielleicht mit dem Sprachgebrauch der Goethezeit besser „nationelle“, Wendung nahm bei Natorp nie verzerrende, hassvolle Züge an, wie sie bei sehr viel weiter links ste-

200 So Cohen am Ende seiner Marburger Abschiedsvorlesung, hier zit. nach Holzhey, Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19.und des 20. Jahrhunderts, a.a.O., S. 64.

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henden Intellektuellen, etwa dem Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr, offen vorkamen.201 Im Sommer 1924 stirbt Natorp in Marburg. In den letzten Lebensjahren hatte sich zu dem jungen Heidegger ein enger, achtungsvoller Kontakt eingestellt. Heideggers „Natorp-Bericht“ führte zu Heideggers Berufung auf das Extraordinariat in Marburg. Natorp verstand das Ingenium des Jüngeren wohl besser als Husserl. Er war von Heideggers phänomenologischem Blick, der Kennzeichnung der ‚hermeneutischen Situation’ und der darauf aufruhenden Aristoteles-Deutung beeindruckt. Ich kann und muss es bei der Darlegung Natorpscher Philosophie, obgleich ihr hohe Bedeutung zukommt, bei einigen wenigen Grundzügen belassen, die sich an Natorps ‚Philosophische Systematik‘ anschließen. Ohne Zweifel ist Natorp in seiner ‚Erkenntnislogik’ (‚Theoretik‘) weitgehend von Cohen abhängig, wenngleich er Einheit und Mannigfaltigkeit nicht nur im Urteil nachweist, sondern die Urteilsformen ihrerseits zu deduzieren versucht.202 Die Frage des Selbstbewusstseins wurde deshalb zum zentralen, hintergründig leitenden Problem. Auch Natorp sieht Philosophie als Grundlegung der Wissenschaften, von deren Existenz als Grundvoraussetzung auszugehen sei. Er lässt sich auf die spezifische Foschungslogik von Physik und Mathematik tiefer gehender ein als andere Neukantianer. Darin ist eine Affinität zu Husserl, aber auch zu Cassirer zu erkennen. Die Philosophie hat den Grund des Wissensprozesses freizulegen, das Urgesetz der synthetischen Einheit. Sie geht auf das Zentrum zu, die Wissenschaften strahlen von diesem Zentrum der Begründungen in die Peripherie aus,203 ein durchaus Platonischer Ansatz. Man denke an die Divergenz zwischen der Aufhebung der Hypothesen (anhairesis) in der Dialektik und den propädeutischen Disziplinen. 1903 legt Natorp ein sehr wichtiges Buch vor, vielleicht sein schönstes, das bis heute in der Platonforschung Achtung und Aufmerksamkeit beanspruchen kann, ‚Platons Ideenlehre‘204 (in jüngerer Zeit wieder aufgelegt). Es hat das große Verdienst im Einzelnen, in Folge der Schleiermacherschen Interpretationsweise an den jeweiligen Dialogen orientiert und zugleich systematisch zu zeigen, dass die Platonischen Ideen Gesetze seien (nomoi), nicht aber

201 Vgl. die Dokumente in dem zweibändigen Werk H. Holzhey, Cohen und Natorp, Band I, a.a.O., S. 1 ff. und S. 40 ff. Siehe auch den Nachruf von E. Cassirer, Paul Natorp 24. Januar 1854−17. August 1924, in: Kant-Studien 30 (1925), S. 273−258. 202 Dazu sehr differenziert Holzhey, a.a.O., S. 272 ff. 203 Vgl. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. Einführung in den kritischen Idealismus, Göttingen 1911, 21918, S. 36 ff. 204 Natorp, Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Hamburg 1994, vor allem S. 1 ff. und S. 121 ff.

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Dinge.205 Die platonische Ideation habe also einen Verpflichtungs- und Bindungscharakter. Dies wird für Natorps eigene philosophische Konzeption von Bedeutung sein. Platon beeinflusst sein Denken ähnlich tief gehend wie Kant. Natorp sucht nach der synthetischen Einheit als Grundrelation des Einen und Mannigfaltigen, in Anlehnung an das dialektische Verfahren, so wie Platon es in seinem Spätdialog ‚Philebos’ entwickelt. Vor diesem Hintergrund gewinnen Ethik und Praktische Philosophie für den Platoniker Natorp immer im Zusammenhang mit der Pädagogik ihr zentrales philosophisches Gewicht. Erkenntnis untersteht einem Gesetz der Erfahrung oder des Sollens. In Anlehnung an Platon wird als elementarste Form des Strebens ein Trieb expliziert, der in Auseinandersetzung mit der Welt der Sinnlichkeit den Charakter der Arbeit annimmt und bis hin zu einem Vernunftwillen differenziert werden kann.206 Dem sozialen Leben, in Anklang an die Platonische Paideia, kommt dabei, auch im Cohenschen Sinn, eine zentrale Bedeutung zu. Es ist zu fassen als „Arbeitsgemeinschaft kraft gemeinschaftlicher Willensregelung der Arbeitstreibe der vergemeinschafteten Individuen“207 – ein Kantianisch Platonischer Zusammenhang, der durch die Valenzen des Arbeitsbegriffs in der modernen Welt nicht mehr ohne Weiteres akzeptabel sein dürfte. In seiner Spätzeit wandte sich Natorp, auch in Bezug auf eine Leerstelle, die HermannCohen bewusst offengelassen hatte, der Frage des Selbstbewusstseins explizit zu. Ein umfangreicher Nachlass, vor allem aus den Jahren zwischen 1914 bis 1924, liegt vor, der in fast Husserlscher Manier in immer neuen Anläufen dieses Problem zu bewegen versucht. Natorp sucht dabei zugleich nach einem Ursprungspunkt des Systems der Erkenntnis, wobei es nicht mehr nur wie in Cohens theoretischer Philosophie um Wissenschaft, insbesondere mathematische Wissenschaft gehen kann, sondern um die Einheit des Bewusstseins für das Leben.208 Natorp findet diesen Ursprungspunkt in der originären vor-reflexiven Duplizität des Selbstbewusstseins. Diese Einsicht weist, wie Jürgen Stolzenberg zutreffend herausgearbeitet hat,209 Analogien zu den Diskussionen im Frühidealismus in Anschluss an Fichtes erste WL von 1794, auf. Ich ist ‚Sich Aussprechen’, das hinter die propositionalen Aussagen zurückführt: „Das große Wunder, dass ‚Es’, das Unsagbare nun eben spricht,

205 Vgl. ibid., S. 179 ff., vor allem aber den ‚metakritischen Anhang‘: Logos-PsycheEros, ibid., S. 457 ff. 206 Vgl. Natorp, Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik, Tübingen21908, S. 124 ff. 207 Natorp, Philosophische Systematik, a.a.O., S. 7 f. 208 Vgl. dazu Holzhey, Chohen und Natorp, Band I, a.a.O., S. 249 ff. 209 DazuJ. Stolzenberg, Ursprung und System. Probleme der Begründung systematischer Philosophie im Werk Hermann Cohens, Paul Natorps und beim frühen Martin Heidegger, Göttingen 1995, S. 189 ff.

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sich selbst ausspricht, und eben damit zugleich sich selbst vernimmt, so sich selbst in sich selbst auseinanderlegt in das Sprechende und Gesprochene“.210 Dies fasst Natorp als das Urlogische, in dem zugleich ein Indifferenzpunkt von Ich und Welt erreicht werde. 3. Der südwestdeutsche Neukantianismus (Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert) Gegenüber dem Niveau, das Cohen und Natorp vorgeben, scheint der Neukantianismus südwestdeutscher Prägung deutlich weniger gewichtig zu sein. Nur kurz soll am Ende darauf Bezug genommen werden. Wilhelm Windelband 1848−1915, Professor in Zürich, Freiburg, Straßburg, seit 1903 in Heidelberg, schließt explizit und kanonisch an Kant an. Doch legt er kein Kommentarwerk von vergleichbarem Niveau vor, wie dies Hermann Cohen tat. Der Kantische Kritizismus soll fortgesetzt werden. Die Grenze und Begrenztheit des Ansatzes zeigt sich in Windelbands Urteil, dass sich seit Kant in der Philosophie nichts wesentlich Neues getan habe211 Durch Neukantianer dieser Prägung wird Hegel offensichtlich für mehrere Generationen bewusst und willentlich als toter Hund behandelt!. Windelband vertritt eine Wertphilosophie und greift letztlich auf ein geschlossenes Weltanschauungssystem zurück. Dieses hierarchische System, das nicht nur ethisch, sondern auch ästhetisch und erkenntnistheoretisch perspektiviert ist, beruht auf Axiomata, denen alle Feststellungen „über die Zusammengehörigkeit oder die Wertverhältnisse“ einzelner Vorstellungsinhalte folgen müssen.212 Die ‚synthetischen Urteile a priori’ werden in eine quasi-mathematische Axiomatik überführt. Windelband hat ein 1892 zuerst erschienenes aber bis heute bei Mohr Siebeck aufgelegtes ‚Lehrbuch der Geschichte der Philosophie’ verfasst: vielleicht sein Hauptwerk. Es zeigt einerseits, wie bestimmte Problemata in der Geschichte der Philosophie immer wieder begegnen. Eben darin sehe ich die Bedeutung dieser Philosophiegeschichte. Sie folgt also nicht eigentlich dem Taktschlag eines linearen Fortschritts, sondern geht im Kreis. Problemgeschichte und Quellenforschung werden durch kulturgeschichtliche und biographische Motive ergänzt. Von Windelband stammt ursprünglich auch die Differenzierung zwischen nomothetischer (gesetzgebender) Naturwissenschaft und idiographischer auf das Einzelne bezogenen Kultur- oder Geisteswissenschaften. Interessant bleibt, 210 P. Natorp, Philosophische Systematik, Hamburg 1958, § 108, S. 286 f. 211 Zur Übersicht über Windelbands Werk, vgl. Holzhey, Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, a.a.O., S. 89 ff. W. Windelband, Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie, in: ders., Präludien Band II, S. 1−23, sowie ders., Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie, in: Präludien I, S. 138. 212 Windelband, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1914, S. 5 und S. 255 ff.

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dass die idiographische Methode Windelband zufolge niemals eines teleologischen, zweckgerichteten Instrumentariums entbehren kann. Es sei nur angemerkt, dass in der Geschichtswissenschaft die zugrunde liegende Trennung sehr schnell in Fluss gebracht wird, vor allem durch Karl Lamprechts Struktur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte.213 Windelbands Schüler und Nachfolger ist Heinrich Rickert, 1863 in Danzig geboren, 1936 dort gestorben. 1891 wurde er über das Thema ‚Der Gegenstand der Erkenntnis’ bei Windelband habilitiert. Rickert ist im Grunde eine künstlerische Natur, im Jahr der Promotion heiratet er die Bildhauerin Sophie Keibel; ihm wird anekdotisch eine fast pathische Furcht vor Menschenbegegnungen und großen Städten nachgesagt. Heidelberg habe ihn in dieser Hinsicht schon überfordert.214 Dennoch bleibt er am Puls literarischer und künstlerischer Entwicklungen, anders als die anderen Geheimräte, Philosophen, denen man ihre Jugend nicht mehr ansah. Man muss sehen, dass im deutschen Südwesten der Umgang mit dem kantischen Erbe freier war als in Marburg. Rickert fasste die philosophische Linie zwischen Kant und Hegel als einen Zusammenhang auf. Er hatte einen Weltbegriff der Philosophie vor Augen, im Fokus auf das, was notwendig jedermann interessiert, freilich auf der Basis epistemischer Grundlegung. In seine Werk-Struktur gehört ein später Kommentar von Goethes FaustDichtung. Über Goethe lasen und publizierten seinerzeit viele Philosophieordinarien. Rickerts Beitrag ist allerdings bis heute sehr bemerkenswert, weil er den Charakter des „Work in Progress“, des offenen Kunstwerks herausstellt, welcher nicht von einer an Fausts II. anachronistischen Einheit des Kunstwerks abhängt. In Rickerts Grundlegung der theoretischen Philosophie spielt deshalb der Begriff der ‚Transzendenz’ eine entscheidende Rolle, weil der Gegenstand der Erkenntnis ein so und nicht anderes Sollen dem Urteil vorschreibt. Soll Erkennen wahr sein, hat es sich derart normativ nach seinem Gegenstand zu richten. Hier ist der Schritt zum phänomenologischen Programm „Zu den Sachen selbst!“, dem Votum der Husserlschen Phänomenologie, naheliegend. Rickert exponiert ein heterologisches Prinzip, das besagt, dass die Form eines Inhaltes bedarf. Dabei wird eine transzendentalpsychologische Wegrichtung, in der vom wirklichen Erkenntnisakt ausgegangen wird, von einer

213 Zu der Erklären-Verstehen-Kontroverse W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894), in: Ders., Präludien II, S. 136 ff., sowie H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg/Br., Leipzig und Tübingen 21910, Nachdruck Stuttgart 1986. 214 Vgl. P.-U. Merz, Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der verstehenden Soziologie, Würzburg 1990, das Zeitkolorit ist sehr gut eingefangen bei H. Glockner, Heidelberger Bilderbuch. Erinnerungen, Bonn 1969.

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2. Neukantianische Profile

transzendentallogischen unterschieden, die vom wahren Satz zu dessen Gegenstand führen soll. Rickert vertiefte deshalb auch Windelbands Lehre von der Methodologie der Wissenschaften und er entdogmatisierte sie. Doch ging er nach wie vor davon aus, dass in naturwissenschaftlicher Begriffsbildung „das Individuelle im strengen Sinne“ zum Verschwinden gebracht werde. Cassirer widersprach dem, in Rekurs auf Reihenbildung in der Mathematik, andere widersprachen im Blick auf die Gattungs-Art-Klassifikation.215 Ereigniswissenschaften, namentlich die Geschichtswissenschaft, sind immer auf Werte-systeme und -hierarchien bezogen, was nicht heißt, dass sie selbst werten. Sie sind nicht für oder gegen ein Ereignis wie die Französische Revolution, aber sie müssen vergangene Wertungen, als Haltung, verständlich machen. Max Weber, sollte daraus erkenntnistheoretische Funken von großer Tragweite schlagen. Indessen: beide Weisen der Wissenschaft sind, Natorp zufolge, notwendige Glieder und Konstituentien von Kultur.216

215 Vgl. dazu G. Oakes, Weber und Rickert. Concept formation in the cultural sciences, Cambridge, Mass. 1988, S. 25 ff. 216 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, ND Darmstadt 1979, S. 293 ff.

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IV. Der Denkweg Martin Heidegger und seine Wegstrecken

1. Heidegger-Topologien Zwei charakteristische Zeugnisse kann man an den Anfang rücken, die signalisieren, wer Heidegger für seine Zeitgenossen und die etwas Jüngeren war und wie seine Denkbewegung von kongenialen Begabungen wahrgenommen wurde. Beide stammen aus dem Jahr 1969, dem Jahr von Heideggers 80. Geburtstag. Eugen Fink und Rudolph Berlinger, die beiden Herausgeber der ‚Perspektiven der Philosophie’ (seinerzeit noch ‚Philosophische Perspektiven’) formulierten: „Martin Heidegger hat in diesem Jahrhundert die erregendste denkerische Perspektive aufgerissen und wie ein Vulkan der Ursprünglichkeit den Firnis einer erstarrten und fixierten Tradition durchbrochen. In der leidenschaftlich-bohrenden Geduld seines Fragens gibt er ein exemplum humanitatis und zugleich ein Beispiel für den den Menschen über sich hinaustreibenden Bezug zu Sein und nichts, zu Tod und Leben, zur einen, alles durchgreifenden Welt“.217 Hannah Arendt, die Heidegger geliebt hatte, und er sie, die jüdische Emigrantin und politische Philosophin, zog das folgende Resümee:218 „Denn die Neigung zum Tyrannischen lässt sich theoretisch bei fast allen großen Denkern nachweisen (Kant ist die große Ausnahme). […] Bei diesen Wenigen ist es letztlich gleichgültig, wohin die Stürme ihres Jahrhunderts sie verschlagen mögen. Denn der Sturm, der durch das Denken Heideggers zieht – wie der, welcher uns nach Jahrtausenden noch aus dem Werk Platons entgegenweht“ – [hier zieht sie eine Verbindung zu Heideggers Rektoratsrede, die mit dem Platonwort (Politeia 497d): „tà megála pánta episphale“: „Alles Große steht im Sturm“ geschlossen hatte] – „stammt nicht aus dem Jahrhundert. Er kommt aus dem Uralten, und was er hinterlässt, ist ein Vollendetes, das, wie alles vollendete, heimfällt zum Uralten.“219 Arendt rückte ihre Betrachtung

217 Dazu wiederum Oakes, Weber und Rickert, a.a.O., s. 321 ff. 218 In Grundzügen ist diese Heidegger-Rekonstruktion vor meiner Monographie: Heidegger-Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens. Freiburg/Br., München 2019 und dem Heidegger-Lexikon Leiden, München 2020 entstanden. Sie ist aus einer größeren Flughöhe formuliert und unternimmt es, Heidegger nicht nur immanent, sondern aus der Genese seiner Begriffssprache zu erläutern. Aus dem Rückblick können sich die verschiedenen Perspektiven wechselseitig erhellen. 219 Dazu H. Arendt, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: G. Neske und E. Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, S. 232 ff., hier S. 244.

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IV. Der Denkweg Martin Heidegger und seine Wegstrecken

freilich noch unter ein anderes Platonwort. Es stammt aus den Platonischen ‚Nomoi‘ 775 und deutet eine gewisse Distanzierung an: „Denn der Anfang ist auch ein Gott, solange er unter den Menschen weilt, rettet er alles“. Als anfangenden, anfänglichen Denker kann man Heidegger tatsächlich mit guten Gründen verstehen. Lassen Sie uns zunächst, im Sinn einer ersten Orientierung einen groben Eindruck von Heideggers Denkbewegung und Denkweg gewinnen. Dabei stelle ich die Grundzüge abbreviativ dar, zumal ich in den letzten Jahren an leicht zugänglichen Orten einiges über Heidegger publiziert habe.220 Ich will dabei, seiner eigenen Intention nach, Heidegger nicht primär biographisch perspektivieren. Es gibt eine apokryphe Bemerkung, die Heidegger Arendt zufolge in der Einleitung einer seiner Aristoteles-Vorlesungen verwendet haben soll (schriftlich überliefert ist sie nicht): „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb“.221 Und bezogen auf Nietzsche formulierte er ganz änhnlich: „Der Name des Denkers ist die Sache seines Denkens“.222 Der „Denkweg“ ist für Heidegger ein paradigmatisches Sinnbild. „Wege, nicht Werke“ formulierte er deshalb als Vorspruch zu seiner Gesamtausgabe. Früh zeichnet sich das Proprium des Denkansatzes den inspirierenden Vorlesungen des jungen Freiburger Privatdozenten und Oberassistenten Husserls umrissartig ab. Heidegger hielt in den Jahren 1919 bis 1923 eine Reihe von Vorlesungen, die den Begriff der Phänomenologie gegenüber Husserl neu orientieren sollten. Das Urphänomen ist das Dasein, die Weise, menschlich in der Welt zu sein und zu leben. Der Phänomenologe sollte keine eidetische Reduktion vornehmen, sondern dem Bewegtheitszusammenhang, jenem eigenen Dasein, das er selbst ‚ist’ und zu sein hat, nachgehen.223 Dasein, das ist In-der-Welt- sein und am-Leben-sein, in einer Spannung, wie er sie in einer der tiefsten Vorlesungen jener Zeit der ‚Ontologie‘ Hermeneutik der Faktizität‘ (Sommersemester 1923) auf die Spannung von Bewegung Kinesis und Aufenthalt Ethos orientiert.224 Es ist deutlich, dass eine in der Zeit liegende existenzialistische Zuspitzung der Fragerichtung, ein in Extrem und Gegensätze-Denken Heideggers eigenständige Anfänge bestimmt. Dies ist die Prägung durch den Dänen Sören 220 Vgl. hierzu insbes. H. Seubert, Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens, Freiburg/Br., München 2019, für zahlreiche weitere Aufsätze verweise ich auf die in Vorbereitung befindliche Edition meiner Aufsätze in drei Bänden, die bis zum Jahr 2027 erscheinen soll. 221 Überliefert ist diese Aussage in keinem Vorlesungstext, sondern in Arendt, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt (1969), in: G. Neske und E.Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, S. 232 ff., hier S. 237. 222 Heidegger, Nietzsche Band I, Pfullingen Neuauflage 1989, S. 9. 223 Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen, 15. Auflage 1984, § 1, S. 2 ff. 224 Vgl. dazu Heidegger, GA Band 63, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, S. 7 f. und S. 19 ff. Dazu Seubert, Heidegger, Ende der Philosophie, a.a.O., S. 89 ff.

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1. Heidegger-Topologien

Kierkegaard, durch Rilke, Dostojevskij, die fundamentalen Generationenerfahrungen. Die philosophischen Prägungen reichen tiefer zurück. Einerseits auf Aristoteles, dessen ontologische Problembesteimmung Heidegger mit Franz Brentanos Studie ‚Die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles‘225 kennengelernt hatte. Das „pollachos legomenon“ der Seinsfrage wurde für Heidegger zur Urszene, an der er zum Philosophen wurde. Andererseits ist die frühchristliche Naherwartung der Parusie zu nennen, ein Leben auf dem schmalen Grat, dem Kairos des Gerichts und der vorlaufenden Zeiterfahrung ins Eschaton.226 Man versteht Heidegger nicht, wenn man sich nicht seine genuine Modernität vor Augen führt. So sollte nicht verkannt werden, dass der frühe Heidegger von einem theologischen Pathos mitbestimmt ist, einer Fremdheit gegenüber dem bürgerlichen Habitus Glättungen der gründerzeitlichen Kultur, wie es ähnlich bei dem Schweizer Theologen Karl Barth in dessen Römerbrief-Kommentar aufbricht.227 In dem frühen Zusammenhang spielt bereits die Sorge (cura) eine Rolle. Einerseits liegen im Heideggerschen Sorgebegriff Reminiszenzen an die antike Bestimmung der Epimeleia, andererseits deutet sich an, dass Heidegger in der Sorge die Husserlsche ‚Intentionalität’ aufnimmt und in eine Grundhaltung umzeichnet. Wenn Sie in jenen frühen blitzartigen Denkgestus Einblick haben wollen, können Sie exemplarisch zu Heideggers Natorp-Bericht greifen, der bereits erwähnt wurde. Ein Schrifstück, das die Berufung nach Marburg vorbereiten sollte228 Heidegger beginnt mit einer punktierenden Bestimmung der ‚hermeneutischen Situation’; dann zieht er eine Summe aus den Denkbewegungen seiner frühen Vorlesungen. „Der Grundsinn der faktischen Lebensbewegtheit ist das Sorgen (curare). In dem gerichteten sorgenden ‚Aussein auf etwas’ ist das Worauf der Sorge des Lebens da, die jeweilige Welt. Die Sorgensbewegtheit hat den Charakter des Umgangs des faktischen Lebens mit seiner Welt“. Welt ist jeweils im Wie einer Erschlossenheit für das Dasein gegeben und zu befragen. Dies führt auf die bereits zitierte Heideggersche Grundeinsicht, dass die Bedeutung das Primäre sei. Die frühe Denkbewegung gewinnt in Marburg in Kontakt mit der neukantianischen Forschung eine neue Tiefenschärfe. Es ist die Zeit, in der sich Heidegger auch systematisch mit der Phänomenologie

225 Vgl. Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, in: Heidegger GA Band 14: Zur Sache des Denkens, Frankfurt/Main 2007, S. 93 ff. 226 Vgl. mit Einzelnachweisen zum geistigen Ambiente beim frühen Heidegger, Seubert, a.a.O., S. 27 ff. 227 Ibid. Ein Grundtenor der Philosophie ähnlich wie der Theologie nach dem Ersten Weltkrietg ist das Fraglichwerden eines linearen Kulturfortschrittsgedankens, das Aufbrechen der Abgründe in der geistigen Situation der Zeit. 228 Dazu Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation, Stuttgart, Ditzingen 1990.

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IV. Der Denkweg Martin Heidegger und seine Wegstrecken

seines Lehrers Husserl vertieft auseinandersetzt. Von der gemeinsamen und zugleich konflikthaften Arbeit am Encyclopedia Britannica-Artikel war bereits die Rede. Sichtbar wird in den Vorlesungen der wenigen Marburger Jahre der durchgängige Versuch, die ursprüngliche Temporalität (Zeitlichkeit) der Phänomene und ihrer kategorialen Bestimmungen aufzuweisen. Dieser Ansatz ist wesentlich, wenn man Heideggers spätere Destruktion der Metaphysik (metata physika) auf ihren fundamentalontologischen Grund hin befragt. In Marburg versucht Heidegger zu zeigen, dass die Erfahrung von Anwesenheit, einer Parousia erscheinender Präsenz für das logische Bestimmungsgefüge grundlegend ist und allen Urteilen vorausliegt. Die gemeinhin angenommene Zeitfreiheit von Urteilen oder Ideationen ist eine Täuschung. Damit wird das Sein des Seienden auf eine permanente Präsenz, die „Anwesenheit“ (Parousia) reduziert. Einige der glänzendsten Vorlesungen, die Heidegger jemals gehalten hat, sind in der Marburger Zeit entstanden. Jene zum Platonischen ‚Sophistes’:229 die Auseinandersetzung mit der Generierung des intelligiblen Kosmos in den fünf großen Gattungen (Ruhe-Bewegung, Sein-Selbigkeit-Andersheit), die die Verbindung von Sein und Nichts erst zu denken ermöglichen; und eine Aristoteles-Vorlesung,230 die Aristoteles nämlich von der Lehre vom Bewegten in der ‚Physik’ und von der ‚Affektenlehre’ der Rhetorik her versteht. Heidegger muss in dieser Zeit, aus der wir auch die meisten Berichte seiner älteren Schüler und späteren Freunde (O. Becker, H. G. Gadamer und natürlich Hannah Arendt) haben, ein ungeheuer bewegender und faszinierende Lehrer gewesen sein. Ein Hauptwerk lag bis 1927 noch nicht vor. Seine Philosophie war Philosophieren im mündlichen Vollzug, im Hörsaal, in Kollegs, die mehr Gewicht hatten als die Bücher, die seinerzeit von großen Fachvertretern routiniert publiziert wurden. Heideggers Odium als das des geheimen Königs im Reich der Philosophie231 sprach sich herum. In der Frage- und Einkreisungsinsistenz, die in der Dramaturgie eines Semesters immer mehr zunahm, bis am Ende die Durchsicht eines eigenständigen Neuanfangs des Denkens sichtbar wurde, spannte sich Heideggers Denkdramaturgie auf. Man kann sich davon heute einen Eindruck verschaffen, auch von der Detailliertheit der Auslegungen, die Heidegger seinen Hörern zugemutet hatte. Man kann aus Tonaufnahmen aus späteren Jahren und Berichten überdies einiges 229 M. Heidegger, Platon: Sophistes, Vorlesung Wintersemester 1924/25, GA Band 19, hg. von I. Schüßler, Frankfurt/Main 22018. 230 M. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA Band 18, Sommersemester 1924, Frankfurt/Main 2002. 231 Vgl. dazu die Reminiszenzen bei Arendt, in: Martin Heidegger im Gespräch, a.a.O., S. 232 ff., siehe auch H. Jonas, Heideggers Entschlossenheit und Entschluss, in: ibid., S. 221 ff.

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1. Heidegger-Topologien

über Heideggers Vortragsweise erahnen. Sie folgte peinlich genau einem sorgfältig ausgearbeiteten Text, handschriftliche DIN-A3 Formate, mit der Festlegung sogar von Betonungszeichen. Auch seine Semiare bereitete Heidegger peinlich genau vor. Für die Erzeugung der Gedanken im Sprechen gab es nur geringen Raum.232 Wiederholungen, die zugleich einen weiteren Rahmen um den Gedankenausschnitt fügten, knüpften die Vorlesungsstunden aneinander. Im Rahmen der Gesamtausgabe sind die Vorlesungen und ein großer Teil der Seminare mittlerweile zugänglich. Heidegger legte auch den einzelnen Sitzungen genaue Ausarbeitungen zugrunde. Hannah Arendt schrieb ihm später, niemand halte solche Seminare wie er.233 Dies hatte mit dem Verfahren zu tun, das Heidegger ‚Phänomenologische Interpretation‘ nannte: in der Gestalt des gewesenen, vergangenen Textes die Sache selbst aufzusuchen. Jenseits des Überlieferungsgesprächs mit dem Denken der Früheren werden wir dieser Sache nicht habhaft. Doch die Sache ist aus den vergangenen Textgestalten herauszulösen und gleichsam lebendig zu machen. Der Lehrgestus Heideggers änderte sich, nach der Aussage einiger Zeugen, als ‚Sein und Zeit’ 1927 erschienen war. Die Rückhaltlosigkeit der Mitteilungen gab Heidegger auf. Das torsohafte Hauptwerk machte ihn schnell bekannt. Entstanden war es auch als Summe aus der Denkbewegung der Vorlesungen. So sehr Heidegger äußerlich eher einem Schwarzwaldbauern als einem Großordinarius ähnelte, so schlug sein Denken in die philosophischen Landschaften ein. Und das epochale Buch wurde vielfach missverstanden: anthropologisch, psychoanalytisch, als Existenzphilosoph in der Folge Kierkegaards. Die stringente ontologisch- phänomenologische Orientierung, die formale Präzision seines Denkens, durchaus auch die Verpflichtung gegenüber Husserl wurden zunächst weniger erkennbar. Karl Jaspers und Max Scheler dürften unter den Zeitgenossen diejenigen gewesen sein, denen sich Heideggers Weg auch in der Tiefe erschloss.234 ‚Sein und Zeit‘ ist ein großer Entwurf. Durchgehend thematisiert wird die die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein. Leitfaden zu ihrer Ausarbeitung ist das Da-sein, die Seinsweise des Menschen, in der Welt

232 Zum Umgang mit den Manuskripten als Partituren vgl. jetzt U. v. Bülow, Das ‚Hand-Werk‘ des Denkens – Zum Nachlass von Martin Heidegger, in: H. Seubert und K. Neugebauer (Hg.), Auslegungen. Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften, Freiburg/Br., München 2017, S. 309 ff. 233 Dies kann man jetzt an herausragenden Editionen von Heideggers Seminaren erkennen, vgl. GA Band 83. Seminare. Platon-Aristoteles-Augustinus, Frankfurt/Main 2012, hg. von M. Michalski. 234 Vgl. die sehr engen Affinitäten und zugleich die Komplementaritäten, die sich im Briefwechsel Heidegger-Jaspers abzeichnen, dazu weiter unten.

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IV. Der Denkweg Martin Heidegger und seine Wegstrecken

zu sein. Ist das Dasein doch das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Heidegger arbeitet, zunächst im Sinn der Umweltanalyse und der Unterschiedenheit des Vorhandenen (Ding) gegenüber dem für einen Gebrauch Zuhandenen (Zeug), den methodischen Vorrang einer pragmatischen, welthaften Erschlossenheit des Seienden heraus. Dabei rekurriert er auf die griechische Gegenüberstellung von on (Seiendem) und pragma (Sachverhalt, Heidegger formuliert „Bewandtniszusammenhang“).235 Dies bedeutet auch, dass theoretisches Weltverhalten ein abgeleiteter, derivierter Modus jenes originären Erschlossenseins ist. Heidegger orientiert die Grundrelation des In-der-Welt-seins zunächst auf den Raum. Bei jener Zugangsweise muss man immer auch mitbedenken, dass für Heidegger der Mensch ein Wesen der Ferne ist; ein von seinem Dasein zu einzelnem Seienden Fliehender. Eben dies ist der Sinn des Topos der Flucht in das ‚Man’. Die Bedeutung der leiblichen Verfasstheit des Daseins in Heideggers Ansatz wird man keineswegs unterschätzen dürfen, nur weil Heidegger ihn in seiner Verborgenheit begriff; sie setzt bei ihm freilich voraus, dass der Leib durchweg ‚Gestimmtheit’ des Daseins ist.236 Das Dasein kann aus der Streuung und Verlorenheit in das Man durch das Gewissen, als Ruf der Sorge zurückfinden. Es vollendet sich in der Endlichkeit, in einem Sein-zum-Tode, als dem Letztpunkt seiner unvertretbaren Eigentlichkeit. Die Ekstasen der Zeit fügen die Fragebewegung vom Dasein, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, in ihre vielfachen Vollzüge ein. Die dreifache Temporalität denkt Heidegger als Sich-vorweg-sein, Schon-(gewesen)-sein-in im Sein-bei. In dieser dreifachen ekstatischen Temporalität verschränken sich endliches Dasein als Geworfenheit (Substanzumschreibung bei Aristoteles: To ti en einai) und Entwurf. Der primäre Sinn der Zeitlichkeit ist Heidegger zufolge die Zukunft, im Sinn jenes Sichvorwegseins. Die Sorgestruktur des Daseins findet ihren Grund erst in der Zeitlichkeit.237

235 Dazu Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 19 ff. und S. 41 ff. 236 Diese leibliche Dimension ist unstrittig in Husserls ‚Cartesianischen Meditationen‘ expliziter herausgearbeitet worden. Merleau-Ponty und die Phänomenologie des Leibes schlossen an Husserl an, nicht an Heidegger. Dessen späteren, gemeinsam mit Medard Boss durchgeführten ‚Zollikoner Seminare‘ nehmen diesen Faden vermehrt auf. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hg. von Peter Trawny, Frankfurt/Main 2018, dazu auch Seubert, Heidegger, a.a.O., S. 457 ff. 237 Sein und Zeit, a.a.O., S. 301 ff. Eine genauere Nachzeichnung der Gedankenstruktur gebe ich in: Seubert, Heidegger, a.a.O., und Heidegger-Lexikon, Leiden 2021, S. 34 ff.

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1. Heidegger-Topologien

Er schließt an ein Verständnis der Geschichtlichkeit an, das mit dem historischem Bewusstsein (Dilthey, Graf York) vorartikuliert ist: Dasein ist wesentlich geschichtliches Dasein. Nach ‚Sein und Zeit’ bricht bei Heidegger eine Selbstverständigung an, die ihn gewiss auf der Höhe seiner Produktivität zeigt, die aber auch deutlich macht, dass er dem anthropologisch existenziellen Missverständnis zu entgehen versucht. Dies führt zunächst zu einer stärkeren Rückbeziehung auf Kant. Zugleich vergegenwärtigt Heidegger den Gang des abendländschen metaphysischen Denkens im Gegenüber zu seiner Frage nach dem Sinn von Sein. Die Denkbewegung zwischen 1929 und 1931 setzt einen weiteren Akut.238 Sie ist aber keineswegs einheitlich. Heidegger denkt dem Seinsgeschehen nach, das sich in der Grundlegung der Metaphysik, an der Frage: „Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“239 entzündet. Der Satz vom Grund (Leibniz, Schelling) führt in ein Zwischen, in dem sich der Weltzusammenhang aus Seiendem (die „omnitudo realitatis“) auf den Zusammenhang des Seins des Seienden im Ganzen als transparent erweist. Menschliches Dasein wird nun als Transzendenz, der Mensch als ‚überschwingendes Wesen, aufgefasst, das auf das Sein selbst zielt. Man kann jene großen, sprachlich kraftvollen, in tiefem Eindringen in das Überlieferungsgespräch schöpfenden Abhandlungen (hierher gehört auch die Freiburger Antrittsvorlesung aus dem Juli 1929: Was ist Metaphysik?) als Explikationdes menschlichen Vollzugs der Metaphysik verstehen. Zugleich deutet sich, in einer Verwandlung der kantischen philosophischen Tektonik auf ihren temporalen Ursinn in Heideggers Kant-Buch (Kant und das Problem der Metaphysik) der Versuch eines Kanons, vielleicht sogar eines transzendentalen Systems, an.240 Insofern kommt Heidegger, scheinbar paradoxerweise, in der Phase seiner intensivsten spekulativen Selbstbewegung auch in größtmögliche Nähe zu Denkansätzen der Zeitgenossen, die wie Karl Jaspers die Kant-Nähe immer akzeptierten. Zunächst belasse ich es bei einem Hinweis auf Band 29/30, Vorlesung WS 1929/30, wo Heidegger aus der Grundstimmung die Grundfrage der ‚tiefen Lange-weile’ eine dreifache Tektonik der zeitlichen Wiederholung der Metaphysik exponiert. Von „Ver-

238 Vgl. hierzu wiederum Seubert, Ende der Philosophie, a.a.O., eine herausragende Quelle zu dieser Phase ist der Briefwechsel mit Elisabeth Blochmann, HeideggerBlochmann, Briefwechsel 1918−1969, hg. von J. W. Storck, Marbach 1989. 239 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: ders., Wegmarken, GA Band 9, Frankfurt/Main 1976, S. 123 ff. 240 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA Band 3. Frankfurt/Main 1991, S., 20 ff. Für die Wiederaufnahme metaphysischer Fragestellungen ist es nicht ohne Bedeutung, dass Heidegger das Kant-Buch Max Scheler widmet. Vgl auch GA Band 25: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt/Main 1987.

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windung“ oder gar „Überwindung“ der Metaphysik, wie er sie später einführen wird, ist hier noch nicht die Rede. Entwickelt wird das Fragegefüge von Welt – Endlichkeit – Einsamkeit; mit einer bemerkenswert ausgreifenden Analyse der „Weltlosigkeit“ der Pflanzen, des weltarmen Seins des Tieres (also der biologischen Seite) und der welt-bildenden Kraft menschlichen Daseins. Diese Lineatur, die die Seinsfrage wie in einen systematischen, oder zumindest ‚kanonischen‘ Zusammenhang zu bringen suchte, führt zur Entfaltung von vier fundamentalontologischen Problemata.241 1. Ontologische Differenz: also die wesenmäßige Unterschiedenheit des Seins vom Seienden. 2. Die Innere Artikulation von Sein in Was-sein, Wie-sein: Es geht um beider Zugehörigkeiten zueinander und zur Idee des Seins überhaupt. 3. Grundartikulationen der Weisen-zu-sein. Erschlossenheit innerweltlicher Seienden und Aufgeschlossenheit des Seins selbst sind hier in ihrem Verhältnis zueinander zu befragen. 4. Der Zusammenhang von Sein und Wahrheit wird schon hier, im Umkreis der Grundprobleme-Vorlesung, thematisiert. Soweit figuriert sich die Fundamentalontologie über ‚Sein und Zeit‘ hinausgehend aus. An ihre Seite soll aber zeitweise eine regionale Ontik treten. Die Ontologie läuft in einer Kehre, so heißt es hier, ausdrücklich „in die metaphysische Ontik“ zurück, wobei es in jener Metontologie (metaphysischen Ontik) auch um eine Klärung des nicht daseinsmäßigen Seienden und um Regionen dieses Seienden geht. Eine gewisse Nähe zum Impetus von Nicolai Hartmanns „Schichtenontologie“ ist in dieser Zeit bei allem sonstigen Abstand zwischen ihnen unverkennbar.242 Auch mögliche Disziplinen wie Politik und Ethik hätten im Zeichen der Metontologie berücksichtigt werden können. Heideggers originäre Denkbewegung und Denkkraft konnte sich aber nicht bei dieser Tektonik beruhigen. Die ‚Kehre’, wie unter der Rubrik des „anderen Anfangs“ später eingeführt wurde, sollte eine ganz andere Bedeutung annehmen. Das Jahr 1933 ist für Heidegger unstrittig eine Zaesur. Man weiß um sein Rektorat 1933/34 in Freiburg/Breisgau, man kann aus den Dokumenten, Zeugnissen, Selbstzeugnissen auch wissen, dass er nazistischer Mediokrität sich widersetzte. Dennoch wurde er NS-Rektor dieser Alma mater.243 In seiner Rektoratsrede ging es um die ‚Selbstbehauptung der deutschen Universität’

241 M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt-Endlichkeit-Einsamkeit, Frankfurt/Main 1983, S. 7 ff. 242 N. Hartmann, Systematische Philosophie, Stuttgart 1942 u.ö. 243 Mittlerweile – zumal seit dem Beginn der Edition der sogenannten ‚Schwarzen Hefte‘ 2014 sind die kritischen, teils polemischen bis zur „Damnatio memoriae“ reichenden Aussagen Legion. Es gibt freilich auch eine über das Ziel hinausschießende Apologetik. Ich versuche in meiner Monographie Heidegger – Ende der Philosophie, a.a.O., S. 363 ff. eine ausgewogene Darstellung. Siehe auch: A. Denker

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1. Heidegger-Topologien

in einer gewollten starken Anlehnung an platonische Ständelehre und ihre Abfolge, weshalb der Historiker Gerhard Ritter oder der Klassische Philologe Wolfgang Schadewaldt (es existieren zwei Versionen) Heidegger in der Freiburger Straßenbahn 1934 ansprechen konnte: „Na Herr Kollege, zurück aus Syrakus?“244 Die Frage nach Heidegger und dem Nationalsozialismus, bzw. Heideggers, wie immer geartetem Antisemitismus, hat inzwischen alle anderen Fische der Interpretation totgebissen. Sie bleibt, wie ich andernorts gezeigt habe, ein tiefer Makel, eine Trübung und Selbstkorrumpierung. Doch der Sog einer Vernichtung des Denkens unter dem Strudel der öffentlichen Meinung erreicht mittlerweile nicht nur Heidegger. Von größtem Gewicht für die Anbahnung der Seinsfrage Heideggers ist der 1935 entstehende Aufsatz ‚Der Ursprung des Kunstwerkes’. Kunst wird dort als „ins-Werk-Setzen der Wahrheit“ begriffen. Dem griechischen Grundwort für Wahrheit (A-letheia) gilt das zentrale Augenmerk. Das Kunstwerk expliziert Heidegger als den „Riss“ von aufgehender Welt und sich verschließender Erde. Wahrheit (aletheia) lichtet sich aus der Verborgenheit zumal dann, wenn sie im Werk zur Erscheinung kommt. Zugleich stiftet das Kunstwerk jeweils den Zusammenhang der Schaffenden und Bewahrenden.245 Die Rede vom ‚Ursprung’ gewinnt dann einen sehr konkret aletheiologischen Sinn: „Die Kunst lässt die Wahrheit entspringen. Die Kunst entspringt als stiftende Bewahrung der Wahrheit des Seienden im Werk. Etwas entspringen, im stiftenden Sprung aus der Wesensherkunft ins Sein bringen, das meint das Wort Ursprung“.246 Die Denkbewegung bis 1945, die mittlerweile weitgehend überschaubar ist, lässt sich zunächst an der Abfolge der Vorlesungen vergegenwärtigen. Heidegger sucht zentral die Zweisprache mit Nietzsche. Er erkennt in Nietzsche, den er nicht als Dichter-Philosophen fragmentiert wahrnimmt, sondern in dem er die letzte Form der Metaphysik erfasst, eine stringente Tektonik, die sich von Nietzsches fulminantem aphoristischen Schreiben löst: Das Was-sein (essentia) zeige sich als ewige Wiederkehr des Gleichen (der ‚abgründlichste Gedanke’, den Zarathustra sucht) und das Dass-sein (existentia) als Wille zur Macht, nach Nietzsche „das letzte Faktum, zu dem wir hinunterkommen“.247 Sie treten zu einem in sich geschlossenen systematischen Gefüge

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und H. Zaborowski (Hg.), zur Hermeneutik der ‚Schwarzen Hefte‘. Heidegger-Jahrbuch 2017. Solche Anekdoten leben aus der mündlichen Mitteilung. Hans-Georg Gadamer brachte, nicht nur zu Heidegger, manche davon in Umlauf. Die Anspielung auf Platons mehrfach missglücktes Syrakusanisches Abenteuer ist keineswegs kontingent. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Ders., Holzwege, GA Band 5, S. 53ff. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Ders., Holzwege, GA Band 5, S. 65 f. Ich gehe hier nicht mehr auf Einzelheiten der Heidegger-Nietzsche-Auseinandersetzung ein. Vgl. dazu bereits H. Seubert, Heideggers Auseinandersetzung mit

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zusammen.248 Mit dem „Willen zur Macht“, der sich schließlich zu einem „Willen zum Willen“ selbst ermächtigte, und dem Übermenschen als dem äußersten Kulminationspunkt von Nietzsches Denken ist die metaphysische Überlieferung an ihr Ende gekommen. Deshalb ist Nietzsche, als was er sich übrigens auch selbst zu einem Gutteil sah, die äußerste Gegenfigur zu Platon. Was nach ihm kommt, kann Heidegger zufolge nur noch als eine in die Leere der Regelkreisläufe getriebene Welt des technischen Gestells betrachtet? werden. Es ist deutlich, dass Heidegger in seinen verschiedenen Nietzschevorlesungen und begleitenden Ausarbeitungen unterschiedliche Sichtweisen auf Nietzsche erprobte; und es ist durchaus sinnvoll, von einem Denkagon, einem Denkkampf, zu sprechen.249 Heidegger erörtert Nietzschesche Sätze und Halbsätze, und legt seinen Hörern nahe, mit ihnen umzugehen, wie mit Bestimmungen des Aristoteles, also keine leichtfüßige Spielerei mit ihm zu treiben, sondern ihm hartes Nachdenken zu widmen. Seine Folge von Nietzsche-Vorlesungen (1961 erstmals in einer deutlich redigierten zweibändigen Ausgabe vorgelegt) rettet Nietzsche aus der biologistischen Trivial Lesart der NS-Philosophie, sie widersetzt sich auch der Hypostase des Willens zur Macht und der Abwehr der ewigen Wiederkunft, und ist insofern unverkennbar ein Antidotum zu den sich Nietzsches bedienenden Ideologen wie Alfred Baeumler oder Ernst Bertram.250 Allerdings ist die letzte Philosophie an keiner Stelle für Heidegger Referenzpunkt, auf den er zurückkehren könnte. Der andere, nicht mehr metaphysische Anfang, von dem bei ihm zunehmend die Rede ist, die Einkehr und Rückkehr des Denkens in die Erfahrung des Seins, ist überhaupt nur in Abstoßung aus dem ersten Anfang möglich. Heidegger sagte später Hans-Georg Gadamer gegenüber: „Nietzsche hat mich kaputt gemacht!“251 Das ominöse Wort wirft Fragen auf, auch für den Fortgang von Heideggers Denkentwicklung. Wäre sie anders verlaufen, wenn

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Nietzsche und die Sache seines Denkens, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 7 ff. mit Einzelnachweisen. Standards setzt W. Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, Berlin, New York 2000. Zur Systematizität bzw. dem strengen Gefüge, das Heidegger gerade den NietzscheAuslegungen abgewinnt, vgl. auch Seubert, Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche, a.a.O., S. 45 ff. So Seubert, Heideggers Auseinandersetzung, ibid., S. 7 ff. in Anknüpfung an Überlegungen von Manfred Riedel. A. Bauemler, Nietzsche – Der Philosoph und Politiker, Berlin 1931; siehe auch E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918. Beide Arbeiten waren für die Nietzsche-Rezeption in der NS-Zeit sehr einflussreich. Der Vergleich kann zeigen, dass Heideggers Denansatz im Blick auf Nietzsche von einer „faschistischen“, erst recht einer NS-Lesart Nietzsches abgrundtief unterschieden ist. Hier angeführt nach Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche, a.a.O., S. 17.

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er nicht der Nietzscheschen, sondern vielleicht einer Kantischen Spur gefolgt wäre. Mit Nietzsche bricht in jedem Fall ein Hiat auf: Heidegger wendet sich von Nietzsche ausgehend der Dichtung zu. Das Gespräch verläuft anders, wo es auf Hölderlin, den eminenten Dichter in Heideggers Verständnis, trifft. Nicht mehr agonal, sondern in einem hörenden, zurücknehmenden Gestus. Es sind die großen Hölderlin-Hymnen ‚Germanien‘, ‚Der Rhein‘, ‚Andenken‘ („was bleibet aber stiften die Dichter“), die der Philosophie ihren Richtungssinn vorzeichnen; dem Geviert von Himmel und Erde, Menschen und Sterblichen, auch dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem, der Einsicht, dass die Ausfahrt in das Tochterland der Herkunft (von ihm gelöst, ihm aber gleichwohl verbunden) Grundvoraussetzung für das ‚Schwerste’ ist, nämlich, im Eigenen heimisch zu werden.252 Die Hölderlinschen Sprachbilder werden gewiss „Gewalt brauchend“ verwendet, wie Heidegger seine Interpretationsmethode selbst beschrieb. Hölderlins Dichtung gewinnt geradezu Offenbarungsgang. Die Auslegung der Sprachbilder changiert zwischen philosophisch-systematischer und geschichtlicher Topik. Heidegger wendet sich in dieser Zeit auch einem anderen Vollendungspunkt der neuzeitlichen Metaphysik zu: in den Auslegungen von Hegels Logik, der Zuwendung zu der Selbstbewegung des Begriffs durch Negation, die er dem eigenen Seinsdenken kontrastiert. Es stellt sich die Frage, wie sich das eine zum anderen fügt, klassische deutsche Philosophie und Heideggers Neuanfang. Zweimal legt er in jenen Semestern Schellings Freiheitsschrift aus dem Jahr 1809 aus, die Frage nach dem Bösen fasst Heidegger ontologisch als Aufstand im Grunde selbst, dem Hervorgang frei bestimmten endlichen Seins und Daseins aus dem Seinsgrund auf. Und am Ende, in den letzten beiden Vorlesungen, die Heidegger in Freiburg vor 1945 hielt, legt er den vor- und außermetaphysischen Anfangspunkt von Sein und Wahrheit frei. ALETHEIA: aletheuein ist als verbaler Vollzug zu verstehen. Bei den vorsokratischen Denkern, Parmenides und Heraklit, zeigt sich diese Spur des Anfangs am ausdrücklichsten. In Parmenides’ Lehrgedicht, dem von der Göttin gewiesenen Wahrspruch wird deutlich, dass nur das Eine ist und die onto-logische Einheit von Denken und Sein unhintergehbar besteht: to auto gar noein te kai estindass Denken und Sein dasselbe seien.253 Heidegger verbindet dies mit dem lichtend eröffnenden Einblick der Göttin in das Seiende im Ganzen, zugleich 252 Dazu Heidegger, ‚Andenken‘, in: GA Band 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/Main 1981, S. 79−132, sowie Hölderlins Erde und Himmel, ibid., S. 152−182. 253 Dem Parmenideischen Lehrgedicht und dem onto-logischen Grundsatz setzte sich Heidegger mehrfach aus. Vgl. dazu Heidegger, Parmenides, GA 54, Vorlesung Wintersemester 1942/43. Frankfurt/Main 32018.

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aber mit dem Logos des Heraklit, in dessen gegenwendiger Fügung sich die Wahrheit der Physis notwendigerweise verberge. Der Heraklitische Logos ist in Heideggers Rekonstruktion nicht dialektisch, er ist auch nicht polar verfasst, sondern „gegenwendig“ und er wird als sich Zusagen (legein) der Seinserfahrung selbst gedacht.254 Die Seinserfahrung, wie er sie versteht, führt Heidegger vor allem unter der Vorlesungsrubrik „Logik“ ein. Seit der Marburger Zeit ist „Logik“, bei allen inhaltlichen Veränderungen, für Heidegger die Frage nach der Wahrheit. Die grundlegende Seinserfahrung entzieht sich einer propositional systematischen Darstellung. Die Leitworte, die auf diese Wege über das Sein zu sagen sind, führen jeweils eine nicht aufzulösende Gleichzeitigkeit des Widersprechenden ein, eine Gegensätzlichkeits-Paradoxie. Dies erinnert im Gestus an fernöstliche Rätsel- und Meditationssprüche, die Koane, etwa: ‚Das Sein ist das Leerste und zugleich der Überfluss’; ‚Das Sein ist das Gemeinste und zugleich das Einzige’; ‚das Verlässlichste und zugleich der Abgrund‘; ‚das Vergessenste und zugleich die Erinnerung‘; ‚das Gesagteste (denn in allem kopulativen Sprechen davon, dass etwas ‚ist’, sprechen wir sein Sein mit aus) und zugleich das Unsagbare‘. Dies führt dazu, dass das Phänomen des verschlossenen jäh aufblitzenden Seins jedweder kategorialen Aussage, auch jener über den Lebenszusammenhang des Daseins zugrunde liegen muss. Nicht als propositionales Prinzip freilich, sondern als Grund und Abgrund. Dadurch, dass sich Sein jeweils lichtet, kommen die Grundstellungen der abendländischen Metaphysik zustande. Sie reichen von der Platonischen Idea, über die Aristotelische entelcheia-Bewegung, zu der mittelalterlichen Metaphysik des summum bonum, dem Cartesischen „ego cogito“, nach Heidegger der reflexiven Mit-Vorstellung des ‚Ich denke‘ mit den gegenständlichen Vorstellungen; über Sein als Position, nicht als reales Prädikat in der Kantischen Einheit des ‚Ich denke’, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, die Selbstbestimmung des Begriffes im deutschen Idealismus (Hegelscher Prägung) bis zu Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht. In der Nietzscheschen Letztfassung ist gleichsam die das Entbergungspotenzial der Lichtung aufgezehrt, aus dem die Metaphysik lebte: Die Seinserfahrung, als verborgener Grund sich zeigender Wahrheit, als Physis, die es liebt, sich zu verbergen, ist „übersprungen“.255 Daher kann Heidegger, indem er Nietzsches Rede vom Nihilismus aufnimmt und mit dem Akzent des Verlustes des metaphysischen Raumes im

254 Dazu Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, in GA Band 55, Vorlesung Sommersemester 1943, Frankfurt/Main 1979. 255 Vgl. dazu ibid., S. 234 ff. Die Nachweise wären legionhaft zu führen. Vgl. Heidegger, GA 65, Beiträge zur Philosophie 1936−1938, Frankfurt/Main 1989. Die nachfolgenden Nachweise beziehen sich auf dieses Werk.

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technischen Gestell einer Spätzeit Metaphysik selbst als Nihilismus begreifen: als jenes in Epochen sich gliedernde Denken, in dem es mit dem Sein nichts ist. Es war damit aber eben deshalb nichts, weil die Schwebe des Seins, der offenen Stelle im gegliederten Entwurf des Seienden im Ganzen, nicht ausgehalten werden konnte. Umgekehrt ist deutlich, dass Sein immer nur in den geschichtlichen Manifestationen, wenn man so will, eine Maske ist, in der es zugleich nicht gedacht werden kann. Heideggers Hörer erfuhren von der versuchsweisen Anbahnung des Seinsdenkens einiges. Doch es erschloss sich eher zwischen den Zeilen und in indirekter Mitteilung. Der eigentliche Kern indes blieb verborgen. Gleichwohl legte Heidegger diesen Kern, sein originäres Denken der Seinsfrage, Tag für Tag in streng komponierten Aufzeichnungen nieder, die sich zu einem esoterischen Schriftwerk bündelten, das sich zu einem beachtlichen Korpus summierte. Besonders gewichtig sind dabei die ‚Beiträge zur Philosophie’, erstmals 1989 zu Heideggers 100. Geburtstag publiziert.256 Sein erscheint dabei als „Ereignis“, mitunter auch als Er-äugnis, als lichtender Ein-Blick und Augenblick.257 Heidegger erwägt in jenen Aufzeichnungen den Zusammenhang von Menschen und Göttern. Er handelt von dem ‚letzten Gott’, der mit Zügen des deus absconditus aus der jüdischen und christlichen Tradition versehen wird und doch zu einem neuen Mythologem wird: Er sei ein „letzter Gott“, „kein Ende, sondern das Insicheinschwingen des Anfangs und somit die höchste Gestalt der Verweigerung, da Anfängliches allem Festhalten [sc. wie es die geschichtlichen Gestalten der Metaphysik bestimmte!] sich entzieht und nur west im Überragen alles dessen, was schon als Künftiges in ihn eingefangen und seiner bestimmenden Kraft überantwortet ist“ (GA 65, S. 416). Damit wird das auf den Wegen der Metaphysik Mitschwingende und sie Ermöglichende exponiert. Im Anschluss an die Kunstwerk-Abhandlung deutet Heidegger das Verhältnis des Menschen zum Sein als Riss und Zerklüftung bzw. als Bergung im Seinsgeschehen. Seinsdenken ist direkt auf die Sprache bezogen. So wie das Dasein im Umkreis von ‚Sein und Zeit’ als Verstehen aus dem doppelten Grund der Sprache (Sprechen und Hören bzw. Schweigen) aufgefasst wird, wird in der ‚Kehre’ die Sprache zur Bergung und Entbergung des Seins. „Sprache, ob

256 Siehe dazu sehr textnah F.-W. von Herrmann, Transzendenz und Ereignis. Heideggers ‚Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Ein Kommentar, Würzburg 2019. 257 Die Rede vom Er-äugnis wird prominent mit der verstärkten Aneignung Goethes beim späteren Heidegger.

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gesprochen oder geschwiegen, die erste und weiteste Vermenschung des Seienden […]. Die Sprache gründet im Schweigen. Das Schweigen ist das verborgenste Maß-halten. Es hält das Maß, indem es die Maßstäbe erst setzt. Und so ist die Sprache Maß-setzung im Innersten und Weitesten. Maß-setzung als Erwesung des Fugs und seiner Fügung (Ereignis). Und sofern die Sprache Grund des Daseins ist, liegt in diesem die Mäßigung und zwar als der Grund des Streites von Welt und Erde“. (GA 65, 510). Heidegger strukturiert die ‚Beiträge‘ in „Seinsfugen“. Fugen bezeichnen die Struktur des Seins, als Lichtung (phänomenales Zutage-Treten) und Verbergung. Erinnert werden kann an Hölderlins Frage: ‚Giebt es auf Erden ein Maaß?’, die das Maß aus dem Zuspiel von Lichtung und Verbergung entwickelt. Die behutsam andenkende Annäherung an den anderen Anfang jenseits der Metaphysik soll die Lichtung der Verbergung bewahren. In den ‚Beiträgen’ und begleitenden großen Ausarbeitungen, etwa ‚Metaphysik und Nihilismus’ (GA 67), vor allem aber ‚Die Geschichte des Seins’ und ‚Koinon‘ artikuliert Heidegger deutlich, wie in der späten, sichtlos werdenden Neuzeit, Heidegger zufolge, dieses Maß verloren ist. Auch Heidegger verlor in einer skandalös bleibenden zeitweisen Zuwendung zu Hitler und dem Nazismus zumindest zeitweise dieses Maß in einer Ideologie der Not der Notlosigkeit, die er andernorts prägnant bestimmte.258 Die Diagnose des ‚Gestells’ und des Riesenhaften in einer planetarischen, also weltumspannenden Technik ist in der Maßlosigkeit dieses Zeitalters angelegt. Diese Diagnose hat ungeachtet des bei Heidegger unverkennbaren Mangels an Urteilskraft hohe Aktualität und Brisanz: Totalitarismen, aber auch der jedes Gegenhaltes entbundene kapitalistische Markt der Demokratie, treiben in Zerstörungen und ‚Verwüstung’. Mit Nietzsche: ‚Die Wüste wächst, weh dem der Wüsten birgt’.259 Ein aufschlussreiches Zeugnis sind die ‚Feldweg-Gespräche’, die Heidegger in den Tagen um das Kriegsende niederschrieb. „Schloss Hausen im Donautal, am 8. Mai 1945“ schließt die Datierung des dritten Gesprächs: Ein Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager zwischen einem Jüngeren und einem Älteren. Die abschließenden Sätze: „Am Tage, da die Welt ihren Sieg feierte und noch nicht erkannte, dass sie seit Jahrhunderten schon die Besiegte ihres eigenen Aufstandes ist“.260 Es ist diese Klarund Weitsicht, die Heideggers Ausblicke in die eigene Zeit charakterisiert, und die über seine Rankünen hinausgeht.

258 Vgl. Seubert, Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens, a.a.O., S. 363 ff. 259 Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, KSA Band 6, München 1980, S. 377−410. 260 Heidegger, GA 77, S. 240.

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In der Technik spannt sich der Mensch selbst in das Gestell ein, seine zerstückelnde, fragmentierende Wirkung bestimmt ihn. Indessen sah Heidegger – dies eben unterscheidet seinen Ansatz von jedweder Technik-Kritik – dass das Wesen der Technik selbst nichts Technisches ist. Mit der Richtungsanzeige der Hölderlin-Verse: ‚Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch’.261 Die Not der Notlosgikeit ist daher einerseits die Zeit des Endes abendländischer Metaphysik, sie nötigt aber die Denkenden, die Heidegger als die Verborgenen sieht, die Lanthanonten (man vergleiche ein ähnliches Begriffswort aus der Emigration bei Walter Benjamin!) zur Einkehr bei der Wahrheit des Seins. „Einblick in das, was ist – so heißt der Blitz der Wahrheit des Seyns in das wahrlose Sein. Wenn Einblick sich ereignet, dann sind die Menschen die vom Blitz des Seyns in ihr Wesen Getroffenen […]“.262 „Sehen wir den Blitz im Wesen der Technik? Den Blitz, der aus der Stille kommt als sie selbst? Die Stille still. Was stillt sie? Sie stillt Seyn in das Wesen von Welt. Dass Welt, weltend, das Nächste sei alles Nahen, das naht, indem es die Wahrheit des Seyns dem Menschenwesen nähert und so den Menschen dem Ereignis vereignet“.263 Die Bewegung der Sprache, das Sprachwesen, wie es sich in eminenten Zeugnissen, der Dichtung und der Philosophie spiegelt, wie es aber auch aus der Geschichtlichkeit der Sprache sich öffnet, führt auf das Ereignis: In Auslegung von Dichtungen Hölderlins, auch Trakls, Rilkes kam Heidegger je länger je mehr auf diesen Ursprungspunkt zurück. Dies zeigt sich exemplarisch in dem Akademie-Vortrag ‚Unterwegs zur Sprache’: „Gerade das Eigentümliche der Sprache, dass sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner“ (VuA., S. 241). Der spätere Heidegger öffnete sich auch auf die Kunst der Moderne, ihren hermetischen Rückgriff in eine Wesensverfassung der eminenten Dinge, in deren Nähe sich wohnen lässt. Im Umkreis solcher Dinge geht Welt auf: Cézanne, Paul Klee und ein alter Krug entbergen diesen Ding-Charakter. Sehr klar sieht er in der Abhandlung ‚Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens’ die Seinsgeschichte als Folge von je spezifischen Epochen, die im Sinn Husserls auch jeweils eine Epoché (Einklammerung) der Seinserfahrung vollziehen. Wenn sich im Gestell, in der möglichen, vermutlich sogar wahrscheinlichen Aussicht auf ein Verenden menschlichen Daseins dessen Möglichkeiten erschöpft haben, so muss die „Aufgabe des Denkens“

261 Hölderlin, Patmos, Vorstufe, vgl. dazu J.Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. ‚Friedensfeier‘ – ‚Der Einzige‘ – ‚Patmos‘, Darmstadt 1990, S. 189. 262 Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, GA Band 79, S. 75. 263 Ibid., S. 77.

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dann „die Preisgabe des bisherigen Denkens in die Bestimmung der Sache des Denkens sein“.264 Hierher gehört die späte einschlagende Einsicht, dass das Phänomen der A-letheia niemals angemessen mit Wahrheit zu übersetzen sei, ist doch jeder Wahrheitsbegriff seit Homer auf ein propositionales Satzverhältnis bezogen. 2. Holzwege: Anzeige einer Aporie Man kann, seit Heideggers Nachlass in einer über hundertbändigen, noch nicht abgeschlossenen Ausgabe weitgehend zugänglich ist, nach der systematischen Einheit von Heideggers Denkweg fragen. Es ist ein Denkweg (Pöggeler),265 der sich im Sinn der Kehre entfaltet und den fundamentalontologischen Ausgang vom Dasein zurücknimmt auf die Heidegger zufolge ungefragte Frage nach dem Sinn von Sein selbst. Letztlich ist es das Sein, das den Menschen braucht. Im Hintergrund schwingt der ingeniöse Anfang abendländischer Ontologie, der die Überlieferung, namentlich die Aristotelische, in ihrem ganzen Gewicht, ihrer Nicht-Selbstverständlichkeit zur Entfaltung zu bringen versucht. Eine gewichtige Zäsur wird dann durch die Arbeiten um 1930/31 markiert. Ein mikrologischer Blick wird allerdings zu erkennen geben, dass dieser eine Denkweg in ungleich mehr Wegstrecken zerfällt, in Auswicklungen und Umkreisungen. Ist es statthaft von Aporien zu sprechen, in die Heidegger geraten sei? Hier lohnt es, noch einmal den Fragmentcharakter von ‚Sein und Zeit‘ in den Blick nehmen. Im Aufriss der Abhandlung (GA Band 5, S. 39 ff.) wird deutlich, dass der erste Teil drei Abschnitte hätte entfalten sollen: ‚Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins’. Dies ist ausgeführt worden; in der Analytik des Daseins aus seinem In-der-Weltsein; aus der Räumlichkeit als Raum des Gebrauchs, bis hin zu dem Grundzug verstehenden Ausgelegtseins in Rede und Sprache, dem Man und seiner Verfallenheit und Neugierde, bei der die Auslegung, nicht so sehr aus diagnostischen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen anzusetzen hat: eben, weil das Dasein ein Wesen der Ferne ist; und hier her gehört darüberhinaus auch noch die Sorge (cura-) Analyse. Auch der zweite Abschnitt: ‚Dasein und Zeitlichkeit‘ ist ausgeführt. Er enthält die Darlegung des Ganz-sein Könnens des Daseins im Vorlauf zum Tode, seine daseinsmäßige Bezeugung und Zuspitzung auf ein eigentliches Seinkönnen hin, im Gewissen, dem Ruf, der aus uns und zugleich über uns kommt.

264 Heidegger, Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 80. Ich nehme dieses Motiv der ‚Sache des Denkens‘ auf in: Heidegger − Ende der Philosophie, a.a.O., S. 431 ff. 265 Auch Heideggers Grunmotiv ‚Wege, nicht Werke‘ zeigt diese Richtung an. Vgl. O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 21989.

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2. Holzwege: Anzeige einer Aporie

‚Sein und Zeit‘ ist dabei in Wiederholungsstrukturen vefasst, denn schließlich ist es die ‚Wiederholung’ des Grundrisses der Fundamentalontologie im Licht ek-statischer Zeitlichkeit, womit der Boden, gleichsam das Grundphänomen erreicht ist. Der dritte, geplante Abschnitt hätte den Titel ‚Zeit und Sein’ tragen sollen, um die systematische ‚Kehre‘ zu antizipieren. Er ist nach allem, was man weiß, niemals ausgeführt worden: die letzten beiden Abschnitte der Buchversion von ‚Sein und Zeit‘, die die Entfaltung der Zeitlichkeit auf eine Welt-Geschichte hin verdichten, enthalten Hinweise auf diese Umkehrung auf ein temporales Seinsverständnis. Maßgeblich wurde hier für Heidegger der Hinweis auf die Unterscheidung des Ontischen (nicht daseinsmäßig Seienden) vom Ontologischen bei Diltheys Freund und philosophischem Gesprächspartner, dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Die generische Differenz zwischen beidem, zwischen dem „Okular der Weltgeschichte“ und der Dynamik „virtueller Kraftübertragung“, müsse sich bestimmen lassen.266 In diesen Horizont trägt Heidegger die Auseinandersetzung mit Hegels Begriff der Weltgeschichte ein; so zitiert er aus der ‚Phänomenologie des Geistes’: „Die Zeit erscheint daher als das Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in sich vollendet ist […]“ und Heidegger kommentiert dies so, dass er den eigenen Aufriss dagegen rückt. „Die vorstehende existenziale Analytik des Daseins setzt dagegen in der ‚Konkretion’ der faktisch geworfenen Existenz selbst ein, um die Zeitlichkeit als deren ursprüngliche Ermöglichung zu enthüllen. Der ‚Geist’ fällt nicht erst in die Zeit, sondern existiert als ursprüngliche Zeitigung der Zeitlichkeit“ (SuZ., 436).267 Von diesem Ausgangspunkt her hat Heidegger am Ende des Hauptwerks die ‚Kehre’ und das heißt auch: die Aporie, in die er damals geraten war, namhaft gemacht. „Die Herausstellung der Seinsverfassung des Daseins“ sei nur ein ‚Weg’, thematisches Ziel sei aber die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt. Dies legt freilich nur die grundlegende Linienführung von ‚Sein und Zeit‘ offen, die unter Zitation von ‚Sophistes’ 244a auf die Gigantomacheia, den Gigantenkampf über das Sein, hingewiesen hatte: „Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ‚seiend’ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen“. Heidegger unternimmt den Rückgang von der Daseinsverfassung auf die ursprüngliche Zeitigungsweise der ekstatischen Zeitlichkeit selbst. „Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins. Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“ (SuZ,

266 Vgl. den Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877−1897, Halle/Saale 1923, S. 177 ff. 267 Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 436.

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437).268 Sinn ist dabei als immanente Richtung, als eine Art Uhrzeigersinn zu verstehen. Der zweite geplante Teil des Hauptwerks hätte eine dreifache Gliederung haben sollen. Obwohl er nicht ausgeführt wurde und in dieser Form wohl auch nicht ausführbar war, ist er zu thematisieren. Enthalten sollte er: 1. Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik der Temporalität. Man wird aber das Kant-Buch von 1929 mit dem Vorlauf einer Reihe der großen Marburger Vorlesungen in diesem Sinn verstehen können. 2. Zum anderen sollte das ontologische Fundament des ‚ego sum’ erörtert werden, der Cartesischen Begründung neuzeitlicher Philosophie, die auf die Problematik der ‚Res cogitans’ zuzuspitzen war. Dies geschieht einerseits in der Destruktion der Subjekt-Objekt-Scheidung, die bei all ihrer Originalität doch, wenn man sie im Licht Husserls und Diltheys betrachtet, nicht völlig überraschend auftritt. Heidegger hat dieses Problematon im § 64 des Hauptweks weitestgehend expliziert, wo er Sorge und Selbstheit zusammenführt. Das Kantische: ‚Ich denke, dass alle meine Vorstellungen muss begleiten können‘, versteht er dort als Selbstaussage des in der Welt seienden Daseins. Aufgenommen ist damit auch ein Grundproblem in der Auseinandersetzung mit Husserl: die Frage nach dem Sein der Intentionalität. 3. Schließlich sollte die ‚Abhandlung’ des Aristoteles über die Zeit, man wird näher sagen müssen, die Physik als Lehre von der Bewegung als phänomenale Grenze der antiken Ontologie aufgenommen werden. Eben dies nimmt den Impuls seiner frühen Aristoteles-Auslegungen auf, am eindrücklichsten dargelegt in der Vorlesung aus dem SS 1924: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Die aristotelische Lehre von den bewegten Dingen beschäftigte Heidegger bis in seine späten Seminare. Man kann dann die Frage aufwerfen, ob das eindrucksvollste Schriftstück des Weges in die Kehre, die ‚Beiträge’, eben an der selbst erkannten Aporetik von ‚Sein und Zeit‘ anschließen. Zu einer gerundeten und gelassenen Übersicht über das zu Denkende kam Heidegger freilich nie. Vor allem im Zusammenhang der Zwiesprache mit Nietzsche gewinnt bei Heidegger der Gedanke Gestalt, dass, ‚ein Übergang zu sein’, das Höchste sei, was von einem Denker gesagt werden könne. Der vorbereitende, selbst immer vorläufige Charakter des Denkens, in den ‚Beiträgen’ und den sie begleitenden

268 Vgl. dazu auch Th. Rentsch (Hg.), Sein und Zeit, 2. bearbeitete Auflage, Berlin 2007 (Klassiker Auslegen); ders., Sein und Zeit: Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2003, S. 51–80.

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Ausarbeitungen269 zeigt sich auch in der Textgestalt sehr deutlich. Er steht aber unter dem Vorbehalt, dass die in das technische Gestell driftende Spätzeit überhaupt in ein Denken münde und nicht „verende“. Auf dem Frontispiz der ‚Beiträge’ heißt es: „Hier wird das in langer Zögerung Verhaltende andeutend festgehalten als Richtscheit einer Ausgestaltung“. Deshalb zweifelte Heidegger auch an den Wegen der ‚Kehre’. Die Anordnung der ‚Beiträge’ als ‚Fugen’ spielt hier eine maßgebliche Rolle. Geht es dabei doch um die Verfugung der Seinsgeschichte der Metaphysik in die Verfasstheit des Seinsgeschehens selbst, die das Ereignis „die Wiederbringung des Seienden aus der Wahrheit des Seyns“ (GA 65, S. 11) in eine Gestalt bringen soll. Die Fugenstruktur ist für Heidegger Antidotum zum ‚System’, dem Nietzsche mangelnde intellektuelle Redlichkeit vorgehalten hatte. Keinesfalls ist daraus eine postmoderne Ermäßigung der Begründungsstandards abzulesen. Denn die hörend, vernehmend exponierte Fuge (fuga: Flucht) sollte eine größere Strenge haben, als sie das philosophische System haben könne. Heidegger strukturiert das nachgelassene Werk nach acht Seinsfugen: Beginnend mit dem Vorblick, ein Einblick in die geschichtliche Bahn des Seins im Ganzen, mit Rückgriff auf seine ersten Anfänge, folgen 1. ‚der Anklang’, der auf den notwendig dissonanten Akkord in Abhebung von der eigenen Zeitepoche verweist. 2. ‚Machenschaft’, ‚Erlebnis’, der europäische Nihilismus und sein Ausgriff ins ‚Riesenhafte’, sodann 3. das ‚Zuspiel’, das Auseinandertreten des ersten Anfangs in den anderen. Dass der erste Anfang als Geschichte des Seins, in dem es mit dem Sein ‚nichts’ war, aufgefasst wird, hat zur Voraussetzung einen Sprung in diesen anderen Anfang. Umgekehrt ist aber nur der sich abarbeitende Rückgang in den ersten Anfang überhaupt dazu in der Lage, in das Offene des anderen Anfangs einzutreten (Schelling, positive und negative Philosophie). Der vierte Abschnitt 4. ist als ‚Der Sprung’ überschrieben, er behandelt die innere Zerklüftung der Seinsfrage, insbesondere den inneren Riss, der aufgehe, wenn man sich dem Wesen des Seins selbst annähere. Dabei geht es auch um die Gründung des Daseins in dem ursprünglichen Seinsgeschehen. Das Da-sein inständlich allein zu bestehen in der höchsten schaffenden und d.h. zugleich er-leidenden Durchmessung der weitesten Entrückungen“ (ibid. S. 324). Vorlaufen in den Tod ist „nicht Wille zum Nichts im gemeinen Sinne, sondern umgekehrt höchstes Da-sein, welches die Verborgenheit des

269 (GA 66: Besinnung; GA 67: Metaphysik und Nihilismus; GA 68: Hegel: Auseinandersetzung über die Hegelsche Logik und die ‚Negativität’; GA 69: Geschichte des Seins- Koinon. Diese Konvolute ergänzen den Zugang zum ‚esoterischen‘ Heidegger, Näheres dazu Seubert, Heidegger – Ende der Philosophie, a.a.O., S. 200 ff.

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Da-seins mit in die Inständlichkeit des Bestehens der Wahrheit einbezieht“ (ibid., S. 325). Hier her gehört dann weiterhin die Fuge der Zukünftigen (Lanthanonten) und des letzten Gottes. Es findet sich aber ein Erwägungszusammenhang, unter der Überschrift ‚Der Zeit-Raum als der Ab-grund’, in dem tatsächlich jene Bewegung eingelöst ist, die Heidegger am Ende von ‚Sein und Zeit’ skizzierte: Sein aus der ursprünglichen Zeitigung und Zeitlichkeit heraus zu denken. Der Zeit-Raum ist nach Heidegges Begrifflichkeit der Ab-grund selbst. Mit seinen Worten: „die erstwesentliche lichtende Verbergung als die Wesung der Wahrheit“ (ibid., S. 380). Dabei denkt Heidegger Raum und Zeit in einer engen Verschränkung, „Die Zeit räumt ein, niemals berückend. Der Raum zeitigt ein, niemals entrückend“ (ibid., S. 386). Dies ist offensichtlich eine Zeit-Lehre des anderen Anfangs, wohingegen die Konstitution des Zeitflusses, auch im Sinn von Husserl daran gebunden ist, dass „ein Vorhandenes festgehalten wird“ (ibid., S. 382).270 Sehr deutlich wird dies im folgenden Satzgefüge: „Die Entfaltung von Raum und Zeit aus dem eigens und ursprünglich begriffenen Zeit-Raum als dem Abgrund des Grundes innerhalb des Denkens des anderen Anfangs; Die Ermächtigung des Zeit-Raums als Wesung der Wahrheit innerhalb der künftigen Gründung des Daseins durch die Bergung der Wahrheit des Ereignisses in das hierdurch sich umgestaltende Seiende“ (S. 386). Anders als in ‚Sein und Zeit‘, wo eine klare systematische Priorität der Zeitlichkeit vor dem Raum aufscheint, verweist die originäre Exposition der Zeitigung aus der ursprünglichen Zeitlichkeit einerseits auf die Gleichursprünglichkeit mit dem Raum, andererseits auf die Verdeckung, das Nichtsein, also die Lethe-Verborgenheit am Grunde des Seinsgeschehens selbst.271 Eine weitere große Schwierigkeit besteht in der Verständigung über den methodischen Ort von Heideggers später Philosophie. Es ist deutlich, dass von den Privatdozentenjahren bis ‚Sein und Zeit’ der Zusammenhang von Phänomenologie und Hermeneutik das Zentrum von Heideggers Methodologie ausmachte. Fassbar ist dies bei allen Eigenwegen, die Heidegger ging, auch in dem philosophischen Erörterungszusammenhang zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck einerseits und Husserl andererseits. Phainesthai, Phainomena meint das Erscheinen dessen, was ist, welches immer an den verstehenden

270 Dies ist eine Tendenz der forcierten Abgrenzung Heideggers, die sich auch in den ‚Schwarzen Heften‘ spiegelt. Vgl. zu einem stimmigen Gesamtbild: K.-H. Lembeck, Einführung in die phänomenologische Philosophie, Darmstadt 1994 und T. Keiling, Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation der Spätphilosophie Heideggers, Tübingen 2013. 271 Dazu u.a. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a.a.O., S. 55 ff.

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Modus der Rede, ihre originäre Seinsweise als Auslegung gebunden ist.272 Heidegger hat spät, im Zusammenhang seiner Erwägungen über die Sprache und in anderen Arbeiten, am Titel der ‚Phänomenologie’ festgehalten ,273 während er neidlos, doch mit einer gewissen Unbeteiligtheit, auch konstatierte, Hermeneutik, dies sei nun ganz die Sache Gadamers. Und heute? Die Phänomenologie ist weitgehend zu einer historischen Phase unter anderen geworden. Längst gilt sie als eine Methode oder Strömung neben anderen, die historisch verzeichnet werden kann. Dies läuft den ursprünglichen Intentionen zuwider. Denn die Phänomenologie war, wie wir sahen, Husserls Selbstverständnis zufolge, keine Richtung. Sie ist die zu Zeiten sich wandelnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch der Denkenden zu entsprechen. „Wird die Phänomenologie so erfahren und behalten, dann kann sie als Titel verschwinden, zugunsten der Sache des Denkens, deren Offenbarkeit ein Geheimnis bleibt“ (S. 90). Demnach war es für Heidegger phänomenologisch folgerichtig, auf die innere Zerklüftung des Seins selbst zu treffen. Es ist zugleich ein Anfangsdenken, das nicht mehr und nicht weniger unternimmt, als Physis und Aletheia entgegenzudenken, nicht in ideativer Fixierung auf Seiendes, sondern auf das dynamische Geschehen am Grund des Seins selbst. Die Aporie ist in solchem Denken nicht eigentlich ein entwicklungsgeschichtlich zu behebender Defekt. Sie ist formgebend. Denn erst sie führt immer wieder in den LETHE-Grund der Aletheia zurück. Diese Aporetik ist freilich umso stringenter von praktisch philosophischen Defiziten zu unterscheiden.

272 Vgl. Sein und Zeit, a.a.O., S. 42 ff. Diesen Auslegungscharakter der Rede betont Figal, Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt/Main 32001. 273 ‚Sein und Zeit‘ stellt sich schon durch den mit Husserl eng verknüpften Publikationsort betont in den Bezugsrahmen der Phänomenologie. Zu näherer Erwägung Seubert, Heidegger, a.a.O., S. 145 ff.

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V. Anders als Sein geschieht. Konstellationen der Existenz jenseits des Seinsdenkens274

Das Profil von Heideggers Denkbewegung, das wir nun in einer Art Nahoptik verfolgt haben, kann nochmals schärfer ans Licht treten, wenn drei große Zeitgenossen, die in je verschiedener Dichte mit ihm im Zusammenhang standen, thematisiert werden: Karl Jaspers – Max Scheler – Franz Rosenzweig. Je spezifischer sie bei allen Differenzen den philosophischen Neuaufbruch um 1920 signalisieren, desto genuiner treiben sie, erst recht durch die Gegenfolie ihres eigenen Denkens und durch die Einsprüche zu Heidegger, sein Denken ins Relief. Dies bedeutet keineswegs, dass sie nur Nebenfiguren wären. Doch der heute betriebene Versuch, Heidegger „dahin zu treiben, wohin er gehöre: ad acta“, ist eine Mischung aus Unkenntnis und Infamie. Ohne Heidegger würde das kontinentale Profil der Philosophie der Modene verzeichnet werden, der inneren Aporetik der philosophischen Situation würde ausgewichen. 1. Jaspers Geboren ist dieser große Denker, der heute kaum mehr dieAufmerksamkeit genießt, die er der Sache nach verdienen würde, 1883 in Oldenburg. Er entstammt großbürgerlichem, ursprünglich bäuerlichem Haus. Daraus mag eine gewisse Souveränität gegenüber den Moden und Tendenzen des Akademischen resultieren. Jaspers studierte Kunstgeschichte und Jurisprudenz in München. Später wandte er sich der Medizin zu. Eine philosophische Orientierung war aber unverkennbar. Mit achtzehn Jahren wird ihm eine niederschmetternde medizinische Diagnose gestellt, eine Lungen- und Herzkrankheit, die unheilbar ist und unter damaligen Umständen nur geringe Lebensaussichten gibt. In seiner ‚Philosophischen Autobiographie’ bemerkt Jaspers dazu: „Alle Entschlüsse meines Lebens waren mitbedingt durch eine Grundtatsache meines Daseins. Von Kindheit an war ich organisch krank [sc. Bronchiektasen und sekundäre Herzinsuffizienz]. Die Krankheit durfte durch Sorge um sie nicht zum Lebensinhalt werden. Die Aufgabe war, sie fast ohne Bewusstsein

274 Der Konstellationen-Begriff ist durch D. Henrichs einschlägige Studien zentral geworden. Vgl. ders., Werke im Werden. München 2011. Es geht nicht darum, Heidegger zum Zentralgestirn zu machen, wohl aber sollen die Zusammenhänge verschiedener Denkformationen in seiner Zeit thematisiert werden. Henrich behält diese eminente Rede von ‚Konstellationen‘ Formierungsphasen eines Denkens vor.

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zu behandeln und zu arbeiten, als ob sie nicht da sei […]. Die Chance lag in der Hartnäckigkeit, jeden guten Augenblick zu ergreifen und unter allen Umständen die Arbeit fortzusetzen. Eine weitere Folge der Krankheit war, dass ich in der Öffentlichkeit nur unter sorgfältig eingehaltene Voraussetzungen und immer nur kurz auftreten konnte […]“.275 Dass der Denker der Existenz ein zurückgezogenes Leben führen musste, ist eine tief reichende Prägung, die seinem Leben die Signatur gab. Jaspers erreicht gleichwohl ein Alter von 86 Jahren und entfaltet eine mehr als bemerkenswerte Produktivität. 1909 schließt er mit Promotion und Examina das Medizinstudium ab und wird Assistent des bedeutenden Psychopathologen Nissl in Heidelberg. Er habilitiert sich 1913 mit einer ‚Allgemeinen Psychopathologie’,276 einer phänomenologischen Beschreibung der verschiedenen Krankheitssymptome. Dabei arbeitete er bereits transdisziplinär und machte sich die deskriptive Psychologie des frühen Husserl zu eigen. 1919 erscheint das erste große Opus magnum, die ‚Psychologie der Weltanschauungen’, ein Werk, das schon deutlich auf dem Weg zur Philosophie ist, und sich der Genese von Einstellungen („gegenständlich – selbstreflektiert – enthusiastisch“) und den durch sie vorgeprägten Weltbildern zuwendet. Strukturell wird eine Typologie vom sinnlich-räumlichen, über das seelsichkulturelle zum metaphysischen Weltbild exponiert. Das dritte Hauptkapitel versucht freilich das Leben des Geistes zwischen Skeptizismus, dem Halt im Begrenzten und dem Halt im Gegensätzlichen zu fassen. Es schließt mit einer Erörterung der Kantischen Ideenlehre. 1920 wird Jaspers auf ein Extraordinariat für Philosophie berufen, ein Jahr später auf ein Ordinariat – alles in Heidelberg. 1931 erscheint als 1000. Bändchen der damals verbreiteten Göschen-Reihe die berühmte Diagnose ‚Die geistige Situation der Zeit’, eine Diagnose der Moderne, die sich Max Webers Diagnose von der Entzauberung der Welt verpflichtete, und die den Nationalsozialismus nicht ausdrücklich in das diagnostisch-prognostische Portfolio aufnimmt, jedoch, wie späteren Kritikern Jaspers’ entgegenzuhalten ist, die Koordinaten zu seiner Erfassung bereitstellt.277 In den frühen dreißiger Jahren erscheint Jaspers’ erstes Epoche machendes Hauptwerk: ‚Philosophie’ in drei Bänden. Darin wird sein Anspruch deutlich, der keineswegs weltanschaulich

275 Karl Jaspers erzählt sein Leben (Erstsendung 1966). Vgl. auch Jaspers, Philosophische Autobiographie, München 1977. 276 K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen. Springer, Berlin 1913; 4., völlig neu bearbeitete Auflage: Berlin/Heidelberg 1946. Vgl. dazu K. Eming, Th. Fuchs, Karl Jaspers. Philosophie und Psychopathologie, Heidelberg 2007, S. 23 ff., S. 80 ff. 277 K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin, Leipzig 1931. In diesem Sinn steht Jaspers zeitdiagnostisches Werk wie ein Seismograph in den Wellen eines zunehmenden Verlustes von Rationalität und Sinnklarheit.

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existenzphilosophisch ist, sondern nicht weniger zu fassen bestrebt ist als den Gesamtanspruch von Philosophie als Weltwissenschaft, durch eine freie Umformung und Neuaneignung der Kantischen Vernunftarchitektur. Undenkbar ist Jaspers‘ Leben ohne die Symbiose mit seiner Frau Gertrud geb. Mayer. Sie war jüdischer Herkunft und zugleich die Schwester seines Lebensfreundes. Gertrud Jaspers ermöglicht dem Mann ein höchst produktives Leben mit der Krankheit. Eine sehr besondere, aber sicher nicht sonderlich freie Lebenspartnerschaft. Er trennt sich nicht von der jüdischen Gattin, wie viele Karrieristen es taten, 1933 wird er aus der Universitätsverwaltung ausgeschlossen, 1937 zwangspensioniert. Der Vorlesungsabbruch mitten im Semester wird erzwungen. Publikationseinschränkungen folgen. 1945 setzt Jaspers das Kolleg genau an der Stelle fortan der er acht Jahre zuvor hatte abbrechen müssen. Er erfuhr später, dass sein eigener Abtransport, und der seiner Frau, in das Konzentrationslager für den 14. 4. 1945 vorgesehen waren. Mit dem Faktum, wenn auch nicht dem Datum hatte man schon länger gerechnet. Die Giftkapsel und die Prolepsis auf den Freitod begleiten ihn durch die Jahre. Vollzogen werden musste der äußerste Akt nicht; am 1. April wurde Heidelberg von den Amerikanern besetzt. Jaspers war einer der ersten, der in einer höchst bedenkenswerten, dem nüchternen durch und durchgeformten Pathos seiner Diktion geschuldeten Weise in einer Vorlesung ‚Die Schuldfrage’, den Taumel in das NS-Regime thematisierte. 1948 wechselte Jaspers, weil er die Heuchelei und fehlende Lernfähigkeit der Deutschen klar sah, aufgrund seiner Einsicht in die fehlende „geistig sittliche[r] Umkehr“ nach Basel: in die Stadt von Erasmus von Rotterdam, Nietzsche und Jacob Burckhardt, wo er für die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens noch einmal eine ungemein reiche Produktivität entfalten sollte. Seine umfangreiche Monographie ‚Von der Wahrheit’ entsteht hier. Daneben verfasst er zunehmend Werke mit tagesaktuellem Bezug. Auf die entwicklungsgeschichtliche Problematik wird noch hinzuweisen sein. Hannah Arendt, die bei ihm promoviert worden war, und Rolf Hochhuth, das Enfant terrible der Nachkriegsliteratur, sind seine engsten Brief- und Gesprächspartner.278

278 Vgl. zur Biographie: K. Salamun, Karl Jaspers. 2. Auflage, Würzburg 2006; H. Saner, Karl Jaspers. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 12. Auflage. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005. Eine magistrale Biographie liegt bisher nicht vor. Siehe aber als Surrogat jetzt die Korrespondenzbände: Korrespondenzen. Drei Bände: Psychiatrie/Medizin, Philosophie, Politik/Universität. Hrsg. v. M. Bormuth, C. Dutt, D. von Engelhardt, D. Kaegi, R. Wiehl u. E. Wolgast. Wallstein, Göttingen 2016. Matthias Bormuth (Hrsg.): Leben als Grenzsituation: Eine Biographie in Briefen. 1. Auflage, Göttingen 2019.

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1945 trat Jaspes mit seinem epochal einzigartigen Buch über die ‚Schuldfrage‘ hervor. Jaspers unterschied dabei eine unmittelbar ‚kriminelle’ Schuld von einer politischen Schuld und einem metaphysischen Horizont des Schuldbegriffs.279 Die kriminelle Schuld bleibt auf einen spezifischen Personenkreis begrenzt. Dass die Dimensionen der Schuldfrage weiterreichten, war unverkennbar. In der Gemengelage aus Anklage, Selbstanklage, vor allem aber Selbstentlastung wurde Jaspers Einlassung weitgehend übergangen. Jaspers war freilich der klaren Auffassung, dass es einer ‚radikalen existenziellen Umkehr“ nach der Katastrophe der Shoah bedürfe. Und er stieß auf die Verweigerungshaltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sich dem auszusetzen. Dies schloss auch ein, dass er, obgleich gewiss kein Linksintellektueller, scharf seine persönliche Kontinuität von Karrieren kritisiert. Politische Publizistik, wie sie Rolf Hochhuth später im Jaspersschen Windschatten übte, ist nicht von Jaspers’ eigenen Auffassungen gedeckt. Er zielte letztlich auf eine Restituierung bürgerlicher Phronesis nach dem Ende des totalitären Zeitalters. Deshalb in der Schrift ‚Wohin treibt die Bundesrepublik?’ (1965) die Kritik an der Untertanenmentalität als einem kontinuierlichen, aber höchst fragwürdigen Leitfaden deutscher Geschichte: „Für den neuen Staat ist die Umkehr der Denkungsart notwendig. Jaspers bedient sich hier eines Kantischen Begriffs, der seinen Ort allerdings in der Religionsschrift hat. Eine der größten Gefahren ist das Dulden seitens der Untertanen, die in ihrem Dasein zufrieden sind, solange sie teilhaben am Wohlstand. Sie fühlen sich nicht mitverantwortlich für den Gang der Politik, sondern sind gefügig. Sie lassen sich zunächst kaum merkbare Fesseln gefallen, bis sie sich schließlich im Zuchthaus wiederfinden, aus dem sie keinen Ausweg mehr finden“ (BR 191).280 Sicher eine bemerkenswerte Diagnose, die eine Linie deutscher Geschichte (man denke an Heinrich Manns Untertan) trifft, viele republikanische, wenn auch nicht dezidiert demokratische Überlieferungsstränge: Preußen in der Aufklärung, die josephinischen Reformen, die KUK-Monarchie insgesamt und die Libertäten des Alten Reiches aber übergeht Ist dies ein Einwand? Es bleibt in jedem Fall ein bitteres und schwerwiegendes Faktum, dass sich die republikanischen Gegenlinien im äußeren Verlauf der deutschen Geschichte nicht durchsetzen konnten und der nazistische Totalitarismus durchdringen konnte. 279 Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. Hier wird ebenso wie in der bewussten Suche nach Sinnklärung in der Öffentlichkeit die weitgehende Differenz gegenüber Heidegger offensichtlich. 280 Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? München 1965, S. 191. Vgl. dazu auch den Briefwechsel K. Jaspers, H. Arendt, Briefwechsel 1926−1969, hg.von H. Saner München 1983. Jaspers stand zu Arendt auch angesichts der Skandalisierungen bei ihrem Eichmann-Buch.

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In der Schrift ‚Wohin treibt die Bundesrepublik?‘281 ist eine klare und aus der Vergangenheit nur allzu verständliche Skepsis gegenüber dem Wiedervereinigungstraum deutlich. Dann legte Jaspers ‚Die Atombombe und die Zukunft des Menschen‘ vor (1958). Ernst Tugendhat nahm in ‚Die Atomkriegsgefahr oder warum man sie nicht sieht‘ und Dieter Henrich in seiner ‚Ethik zum nuklearen Frieden‘ diesen Faden in einer veränderten Zeit, Ende der achtziger Jahre, am Höhepunkt der bipolaren Konfrontation, wieder auf.282 Für Jaspers zeigt sich die Neuigkeit der nuklearen Bedrohung darin, dass erstmals die Vernichtung der Menschheit in den Möglichkeitshorizont rückt. Man findet bei Jaspers eine dezidierte politische Philosophie praktischer Rationalität, die sich an okkasionellen Zusammenhängen entzündet: der ‚geistigen Situation’ der Zeit in der niedergehenden Republik um 1930, vor allem aber im Jahr 1945. Jaspers war in seinen politischen Stellungahmen stark von Hannah Arendt, auch von dem jungen Rolf Hochhuth beeinflusst, und man kann ihm nicht ganz den Vorwurf ersparen, dass seine politischen Einlassungen vorschnell und eilig gewesen seien. Am bedeutendsten, auch als politische Analyse zu einem Zeitpunkt nach der Suezkrise 1956 aber noch vor dem Sputnik-Schock, während sich ein nukleares Patt abzeichnet, ist das Buch ‚Die Atombombe und die Zukunft des Menschen’. Jaspers erkennt eine weltweite Grenzsituation äußerster Zuspitzung: Das Dilemma, dass einerseits die totale Selbstvernichtung der Menschheit im Atomkrieg denkbar ist (MAD: mutual assured destruction), andererseits ein weltweites totalitäres Herrschaftssystem, das menschliche Humanität, Freiheit, Menschenwürde, Liebe und Kommunikation völlig unter den eisernen Banden des strukturellen staatlichen Terrors zu vernichten droht. Raymond Aron: der Denker des Nuklearen (La paix et la guerre) prägte die Formel von der bipolaren, globalen und nuklearen Signatur der Weltlage,283 die auf dem aporetischen Grat balanciere, dass Krieg unwahrscheinlich, Frieden aber unmöglich sei.284 Diese rough balances (M. Stürmer) prägten die Weltlage bis 1989. Jaspers erwägt die Aporien, und es ist 281 Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik, a.a.O., S. 134 ff. 282 E.Tugendhat, Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht, Berlin 1988; D. Henrich, Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt/Main 1990, S. 50 ff., ein ins Aporetische übersetzter Kantischer Zugriff. 283 R. Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, Berlin 1980, S. 459 ff., siehe auch Arons Spätwerk: Die letzten Jahre des Jahrhunderts, Stuttgart 1986, dazu H. Seubert, Erinnerung an den ‚Engagierten Beobachter’ in veränderter Zeit. Raymond Aron als Theoretiker des Totalitarismus und der nuklearen Weltlage, in: Hans Maier und Michael Schäfer (Hgg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs Band II. Paderborn 1997, S. 311 ff. Siehe auch R. Aron, Karl Jaspes und die Politik, in: J. Hersch u.a. (Hg.), Karl Jaspers – Philosoph, Arzt, politischer Denker, a.a.O., S. 59 ff. 284 So ibid., a.a.O, S. 335 ff.

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hoch eindrucksvoll, wie er einerseits die Logik jener Waffe als unhintergehbar begreift, andererseits alteuropäische Ethos-Formen auch in der so getönten Gegenwart nicht außer Kraft gesetzt sehen möchte. „Dass jene Katastrophe ständig als Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit vor Augen steht, ist heute eine gewaltige Chance für die Selbstbesinnung überhaupt und zugleich die einzige Chance für die politische Erneuerung und damit für die Abwehr der Katastrophe“.285 Jaspers sieht bereits, dass das ganz neue Stadium, das die neuen Konfrontationen an den Tag legen würden, über jenes alteuropäische Ethos hinaus, das übrigens den Bürger und den Staatsbürger als Soldaten in sich schließt, zu einem ewigen Frieden nötigen könne. Die heutige Diffusion der Bedrohungslage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts macht Kriege wieder führbar, andererseits fehlt ihr ein Ordnungsprinzip, Terror und „low intensity wars“ dominieren die politische Agenda. Dafür, also für den Entwurf einer Weltordnung jenseits des Desasters von Atomkrieg und Totalitarismus hat Jaspers sehr präzise Überlegungen entworfen. Hier reichen seine Einsichten klar über die Einlassungen der politischen Stichwortgeber hinaus. Die Anerkennung internationaler Rechtsgesetze gegen Gewalt und Willkür (er schließt also ganz anders als Heidegger positiv an die Völkerbunds-Idee an), Revisionen von Ungerechtigkeit auf gesetzlichem Weg und Gleichheit von Völkern und Nationen vor dem Internationalen Schiedsgericht, Verzicht auf absolute Souveränität und auf das Veto-Recht innerhalb konsensual eingerichteter Gremien, Aufhebung jeder Zensur, höchstmögliche Partizipation möglichst vieler Menschen, Respektierung von Ergebnissen freier und geheimer Wahlen. Jaspers hat jedenfalls im engen Anschluss an das Hauptwerk Hannah Arendts über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955, deutsch) eine Affiniatät aller totalitären Systeme angenommen, Massenterror, Polizeigewalt, die eisernen Bande, die nicht übersehen werden können.286 Auch dies gehört zur ausgeprägten Rationalität seines Denkens. Man bemerkt hier politische Einlassungen in Figurierungen der eigenen Zeit, deren Konturen bei Heidegger in der Diagnose des ‚Gestells’, der nihilistischen, anihilierenden neuzeitlichen Technik und vor allem in einer moralischen Indifferenz verwischt werden. ‚Der philosophische Glaube’, ein zentrales Werk der Religionsphilosophie, ist letztlich der Schlusstein von Jaspers‘ Systematik.287 Jaspers wird, auch 285 K. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1983, S. 24. 286 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1961, hier 1991, S. 34 ff. 287 K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, S. 65 ff., S. 260 ff. u.a. Damit nimmt Jaspers den Kantischen Faden der Religionsschrift wieder auf, angesichts der Brüchigkeit existenziellen Menschseins im Horizont des Umgreifenden.

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aufgrund seiner hohen moralischen Integrität, eine Instanz in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Hannah Arendt formulierte: „Wo Jaspers spricht, wird es hell“.288 Schließlich entfaltet Jaspers eine originäre, aus der Selbstverständigung und seinem eigenen Philosophiebegriff sich zuspitzende, sich aber sorgfältig den jeweiligen Denkansätzen widmende philosophiehistorische Arbeit: ‚Die großen Philosophen’ (auch in Einzelportraits, Platon, Augustinus, Schelling, Nietzsche). Unübersehbar ist auch der Weg zu einem philosophischen Denken aus verschiedenen interkulturellen Kontexten in ‚Ursprung und Ziel der Geschichte‘289 und die Jaspers‘ Oeuvre begleitende Frage nach dem Sinn der Universität. Jaspers hinterlässt einen ungewöhnlich umfänglichen Nachlass von 35000 Manuskriptseiten und 25.000 Briefen. In einem DFG-Projekt, das lange Zeit von R. Wiehl geleitet wurde, wurde dieser umfassende Briefnachlass erhoben, der Grundlage einer Jaspers-Biographie sein kann.290 Man tut gut daran, zunächst die philosophischen Grundlinien in das bislang gewonnene Bild einzuzeichnen. Philosophie ist für Jaspers „Selbstreflexion“, die „im gegebenen und entgegenkommenden Sein den Gehalt der eigenen Freiheit“ hervorbringt.291 Philosophie ist daher immer in sich selbst schon sittliche Vernunft: Lessing und Kant werden hier fortgeschrieben. Es ist aber entscheidend, dass Philosophie zugleich Selbstreflexion ist und eine ungeschützte, nicht endende Frageinsistenz an sich hat (dies ist durchaus ein Strukturmoment, das Jaspers bei allen späteren Entfernungen mit Heidegger teilt). Meinungen und Ideologien, die der menschlichen Orientierung dienen, haben es an sich, Fixierungen zu bilden, die aber im Fluss der Kommunikation aufzubrechen sind. „Allen Gehäusen gemeinsam ist der Rationalismus“,292 so formuliert Jaspers schon in seiner ‚Psychologie der Weltanschauungen’. Mit der Bildung einer fixierten Meinung (Doxa) steht die Denkbewegung still, dies wusste bereits Platon. Jaspers erweist sich hier ganz und gar als Platoniker. Der Selbstvergewisserungsaspekt ist für seine Reflexionsbewegung zentral. „Vom Sein, das als es selbst ungegenständlich ist, habe ich nur eine erhellende Vergewisserung in inadäquater Vergegenständlichung. Dieses ungegenständliche Sein ist die Existenz, wenn es mir in eigenem Ursprung gegenwärtig werden

288 So Arendt in dem ikonisch gewordenen Gespräch mit Günter Gaus „Zur Person“ 1964. 289 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München, Zürich 1949 u.ö. Hier skizziert Jaspers die Konzeption der Achsenzeit, die zwar immer wieder kritisch beleuchtet, letztlich aber als geschichtsphilosophisches Modell breit rezipiert wurde. Siehe jetzt dazu J. Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München 2018. 290 Vgl. dazu Karl Jaspers, Korrespondenzen, 3 Bände, Göttingen 2016 ff. 291 K. Jaspers, Von der Wahrheit, München 1947, hier 1986, S. 356. 292 Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, a.a.O., S. 305 f.

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kann dadurch, dass ich es selbst bin; es heißt Transzendenz, wenn es in gegenständlicher Gestalt der Chiffre, aber nur für Existenz erfassbar, das Sein ist“ (I, 28). Auch bei Jaspers geht die Seinsforschung vom Gesichtspunkt je eigenen Daseins aus, doch er spricht im Sinn einer Selbstbezeugung und -verantwortung unzweideutig von ‚ich’, während Heidegger, schon in ‚Sein und Zeit’ im Namen des Daseinsbegriffs der Ich-Problematik zu entgehen versucht. Alle Ontologie ist für Jaspers orientierende Abstraktion, Dogmatisierung, die der Freiheit philosophierender Bewegung allenfalls bedingt gerecht werden kannhilosophieren bedeutet die Fähigkeit des Menschen, sein Dasein selbst zu ‚transzendieren’. Am stärksten war die Nähe zwischen Heidegger und Jaspers in den Jahren 1929/30. Dabei bewegt sich rationales Denken immer schon in einer SubjektObjekt Spaltung, was der Psychopathologe Jaspers durchaus im Sinn einer nahezu schizophrenen Spaltung verstanden wissen will. Denkend zu transzendieren, bedeutet dann nicht weniger, als diese Spaltung zu überwinden und darin das sie Umgreifende erkennen zu können. In diesem Licht hat sich Jaspers, in einer wirklich ingeniösen Weise, Kant neu angeeignet.293 Die Transzendentalphilosophie reiße mit ihrer Fokussierung auf den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis (den kantischen Urteilen a priori) aus der gegenstandshaften Fixierung heraus. Sie bedeutet also eine epochale Einstellungsänderung des Selbstbewusstseins. Damit hängt es aufs Engste zusammen, dass für Karl Jaspers Philosophieren immer an ‚indirekte Mitteilung’ gebunden ist, die nur jeweils in eigenem Existenzvollzug und -bezug realisiert werden kann. Es ist ein ‚negatives Transzendieren’, ein Gespräch mit dem Lesenden, keine ‚Lehre’. Mit dieser Haltung ist Jaspers nicht allein. Martin Buber, der jüdische Denker des Dialogs, wird formulieren: „Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch“.294 Auch Ludwig Wittgenstein folgte einem ganz ähnlichen Gestus: „Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie, auf ihnen, über sie hinausgestiegen ist“ (Tractatus). Das Bild von der Leiter ist wörtlich so, und unabhängig von Wittgensteins Leiter-Metaphorik, auch bei Jaspers zu finden. Die philosophische Bewegung sei „Erklimmen einer Leiter, die nach Benutzung preiszugeben ist“.295 Im Zusammenhang der ‚indirekten Mitteilung’ wird die Klärung der Strukturen der Existenz zur

293 Diese Relektüre Kants steht quer zu Kantianismus und Existenzialismus. Sie gewahrt an Kant die durchgehende Vernunftarchitektonik, die sich aber des Ausgriffs in einen letzten Systemanspruch enthält. 294 M. Buber, Antwort, in: P. A. Schilpp und M. Friedmann (Hg.), Martin Buber, Suttgart 1963, S. 7 f. 295 Jaspers, Von der Wahrheit, a.a.O., S. 86.

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‚Existenzerhellung’, die das Rätsel des Existierens abwägt, aber niemals im Ganzen in propositionale Klarheit bringt. Jaspers unterschied bereits in seiner ‚Philosophie’ verschiedene Ebenen des Transzendierens voneinander: Solche Sphären sind das Transzendieren in der philosophischen Weltorientierung, sodann in der Existenzerhellung, weiter in Selbstkommunikation, die das Handeln anleiten will, und schließlich das ‚metaphysische Transzendieren’, das metaphysische Vorentwürfe nicht einer Destruktion unterzieht, sondern in ihnen ‚Chiffern’ allmenschlicher Transzendenz aufnimmt.296 Dies ist eher das Profil einer kantischen „Metaphysik der Metaphysik“ – eine Aufbrechung der Metaphysik in einen offenen Denkstrom. Dabei ist auch vor dem Hintergrund von Jaspers‘ durchgehend intensiver Kant-Rezeption die Umformung gegenüber Kant bemerkenswert. Jaspers geht in der Formgebung seines Existenzbegriffs von der Größe eines „Bewusstseins überhaupt“ aus, „das in allen eine und gleiche Bewusstsein, mit dem wir auf das gegenständlich gewordene Sein, auf identische Weise es meinend, wahrnehmend, fühlen, gerichtet sind derart, dass uns in jedem seiner Akte ein Allgemeingültiges aufleuchtet“.297 Insofern vertieft mein „Bewusstsein überhaupt“ das bloße, raumzeitlich bedingte Dasein. Es zeigt sich genuin im Fragen, das als ‚Erwachen’ „aus einem Dasein als einem bloßen Dasein in einer Welt zu einem Erkenntnisdasein“ zu verstehen ist.298 Darüber hinaus greift, was Jaspers ‚Geist’ nennt: „Denn der Mensch ist nie ein nur formales Ich des Verstandes und nie nur Dasein als Vitalität, sondern er ist Träger eines Gehalts, der entweder in dem Dunkel einer primitiven Gemeinschaft bewahrt oder durch eine geistige, bewusst werdende, und nie zureichend gewusste Ganzheit verwirklicht wird“.299 Jaspers orientiert sich am Kantischen regulativen Begriff der Ideen: Kantisch nimmt sich mithin ein Weltbegriff aus, der auf ‚regulative Prinzipien‘ gestützt ist. Sie verweisen auf Welt Omnitudo realitatis und können, in der Folge der Kantischen Postulate zwar gedacht, aber niemals begriffen werden. Jaspers hebt hier Absolutheit, Totalität und Unbedingtheit der Idee heraus. Entscheidend wird dabei ein Selbstwissen des Menschen als ‚homo noumenon’ mit der Orientierung an Ideen. Wir erfahren uns als „Etwas, das als das Ganze oder die Existenz gilt, das mit Worten wie Idee, Geist, Leben, Substanz bezeichnet wird, das unerwiesen und unerweislich ist, das jeder Formulierung spottet, da jede Formulierung wieder rückgängig gemacht werden muss“.300 Im Augen296 Dazu K. Jaspers, Chiffren der Transzendenz.Eine Vorlesung aus dem Jahr 1970, München 1961. 297 Jaspers, Von der Wahrheit, a.a.O., S. 65. 298 So Jaspers, Philosophie I, S. 172 und Von der Wahrheit, S. 64. 299 Jaspers, Philosophie II, S. 53. 300 Ibid., S. X.

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blick (Kairos) wird jener volle Lebensvollzug evident, als eine Synthese, die (Kierkegaard-Impulse, die bei Jaspers in tiefere Denkschichten weisen als bei Heidegger!) von Zeitlichkeit und einem überzeitlichen Leben. Jeanne Hersch, eine der wichtigsten Jaspers-Schülerinnen aus seiner Schweizer Zeit, hat dazu treffend und mit großem Sensorium angemerkt. „Das Sein als Freiheit kann sich deshalb niemals als Bestand und Dauer verwirklichen. Es ist, indem es sich erwirbt, und erlischt, wenn es in seinem Gewordensein dauern möchte“.301 Der Augenblick tritt ein in Grenzsituationen, jenen Situationen (der chronisch Kranke kennt sie natürlich besonders gut!), in denen alles Dasein und die Geschichtlichkeit des Wirklichen überhaupt fragil werden. Jaspers geht sogar so weit zu formulieren, dass „Grenzsituationen erfahren und Existieren“ dasselbe sei (II, S. 204). Plan, Berechnung, Kalkül schlagen an solchen Grenzsituationen fehl, „das Werden der in uns möglichen Existenz“, unseres Arkanums, evozieren sie. Grenzsituationen bestimmen sich auf den Tod hin und die Fragwürdigkeit des Daseins in seiner Geschichtlichkeit. „Das geschichtliche Bewusstsein als Schicksalsbewusstsein ist das Ernstnehmen des konkreten Daseins“.302 Man kann in jener Erfahrung der Grenzsituation, ähnlich wie in Heideggers Hinweis auf die Geschichtlichkeit des Daseins, eine Urintuition von Jaspers sehen, die von seiner eigenen Lebensbewegung untrennbar ist. Diese Urintuition wurde von Jaspers mit dem Konzept der ‚Kommunikation’ verbunden, das in der ‚Philosophie’ zu einem zentralen Topos wird, in enger Korrespondenz mit Bubers Ich-Du Philosophie und das christliche Pendant bei Ferdinand Ebner.303 Er geht, sicher mit einer deutlich anderen Gewichtung als Heidegger, davon aus, dass Existenz sich nur in Kommunikation verwirklichen kann, und man mag auch annehmen, dass die politische Philosophie von Jaspers ohne jene Akzentuierung schwer denkbar wäre. Deutlich ist zunächst, dass sich Kommunikation in unterschiedlichen Horizonten ablagert, von der primitiven Gemeinschaft in Selbsterhaltung über sachliche Zweckhaftigkeit und Rationalität, bis zu einer ideenbestimmten Geistigkeit. Kommunikation ist aber immer erst ermöglicht durch ein Tiefengespräch mit sich selbst. Die Massengesellschaften in der industrialisierten Moderne sind daher gleichermaßen für Selbstwerden und Kommunikation desaströs. Herbert Marcuse brachte die Problematik später in seiner Diagnose des spätmodern-kapitalistischen „One dimensional man“ auf den Begriff „Kommunikati-

301 J. Hersch, Existenz in der empirischen Wirklichkeit, in: J. Hersch u.a. (Hg.), Karl Jaspers – Philosoph, Arzt, politischer Denker, München, Zürich 1986, S. 47 ff. 302 Jaspers, Philosophie II, S. 219. 303 Vgl. F. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente (1961), Wien 1952.

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on findet jeweils zwischen zweien statt, die sich verbinden, aber zwei bleiben müssen – die zueinander kommen aus der Einsamkeit und doch Einsamkeit nur kennen, weil sie in Kommunikation stehen. Ich kann nicht selbst werden, ohne in Kommunikation zu treten und nicht in Kommunikation treten, ohne einsam zu sein. Ich muss die Einsamkeit wollen, wenn ich selbst aus eigenem Ursprung zu sein und darum in tiefste Kommunikation zu treten wage“.304 Die äußerste Offenheit der Kommunikation, dieser „Wille zur Offenbarkeit“, ist einzig dadurch ermöglicht, dass die eigene Existenz sich „als zu sich kommend weiß“. Diese existentielle Grundstellung bedeutet gleichermaßen Kampf und Liebe: obgleich gewisse ‚Appelle’, also vorzeichnende Maximen dieses Verhaltens, jene Kommunikation in ‚prinzipieller Gleichrangigkeit’, ‚uneigennützigem Engagement’ und daher in Verhältnissen, in denen einander Lehrer und Schüler in einer prinzipiellen Gleichheit begegnen, verorten, so ist doch ein rückhaltloser Eros, der um seine Nähe zum Tod (Thanatos) weiß, für Jaspers ihr tiefster Ort. „Als Liebe ist diese Kommunikation nicht die blinde Liebe, gleichgültig, welchen Gegenstand sie trifft, sondern die kämpfende Liebe, die hellsichtig ist. Sie stellt in Frage, macht schwer, fordert, ergreift aus möglicher Existenz die andere mögliche Existenz […]. In diesem Kampf wagen beide rückhaltlos sich zu zeigen und infrage stellen zu lassen. Wenn Existenz möglich ist, so wird sie erscheinen als dieses Sichgewinnen (das nie objektiv wird) durch kämpfendes Sichhingeben“.305 Dolf Sternberger, der Jaspers aus Heidelberger Nachkriegszeiten kannte, hat einmal treffend angemerkt, dass es ein Rätsel bleibe, wie das sperrige Wort der Kommunikation eine solche Wirkung entfalten konnte, wie bei Jaspers. Sei nicht, wo Jaspers von „Kommunikation“ spreche eigentlich ‚Liebe’ gemeint? Diese Vermutung legt sich in der Tat nahe. Wo diese liebende Offenheit endet, dort erst können die eisernen Bande des Totalitären sich schließen. Jaspers erinnerte noch 1931, als der Beginn eines totalitären Regimes greifbar wurde, an den Menschen, nicht als Daseinsexemplar, sondern in seiner unvertretbaren Individualität. Darin sei er immer liebenswert. Es gebe in jedem Einzelnen seinen „möglichen Adel“. Jaspers’ Schuld-Evokation nach 1945 nimmt die menschliche Humanität auch in dieser Höhe beim Wort. Sie wurde im damaligen Deutschland ignoriert. Erst bei Horkheimer und Adorno fand sie nach deren Rückkehr aus der Emigration in den folgenden Jahren eine Resonanz.306 Die Remigranten, 304 Jaspers, Philosophie II, S. 61. Dazu M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. 305 Jaspers, Philosophie II, S. 65. 306 Es ist nicht zufällig, dass Frankfurt am Main unter seinem Oberbürgermeister Kolb an die Tradition der städtischen Universität anknüpfte und bewusst und willentlich die Emigranten zurückrief: eine einzigartige Handlung in den deutschen Kontexten.H. Hofmann, Dr. h.c. Walter Kolb. In: ders.: Frankfurts Oberbürgermeister

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die in die Hölle gesehen hatten, lebten aus dem Bewusstsein: „Dass wir leben, ist unsere Schuld. Wir wissen vor Gott, was uns tief demütigt“. Das Metanoeite ‚Kehrt um‘, liegt allerdings schon in seinem Begriff der Existenz. Existenz ist als solche ‚schuldbewusst’, in einem ungleich präziseren Sinn, als es Heideggers Rede vom ‚Gewissen-haben-wollen’ zuließ. Wesentlich ist hier auch noch einmal auf Jaspers’ Weggang von Heidelberg nach Basel 1948 zu verweisen. „Es war in Heidelberg, als ob es sich um die Menschheit handle“, so existentiell blickte Jaspers auf seinen eignen Hochschul- und Lehrort. Noch wenige Jahre vor seinem Tod drängte sich ihm die Frage auf, warum er weggegangen sei. Letztlich sei sie nicht zu beantworten, obwohl die Schuldvergessenheit der Nachkriegsgesellschaft objektiv sehr viel erklärte. Bei Nacht und Nebel ging er, auf einem Wagen der Kantonsregierung über die Grenze wie bei einer Entführung. Der Weggang hatte unverkennbar Züge der traumatischen Einsicht, dass Jaspers sah, dass unter den Deutschen eine Neubesinnung nicht möglich war und nicht einmal aufrichtig versucht wurde. Institutionen erwiesen sich nachhaltig als korrumpiert. Jaspers war in Heidelberg erster Senator geworden. Er spielte eine hoch exponierte Rolle bei der Neubegründung einer alten Universität und durchaus auch eine Parallelund Counterhistory-Rolle zu jener Heideggers 1933. Dennoch ging Jaspers‘ Ruf zu einer Neubesinnung weitgehend ins Leere. Er hatte formuliert: „Wir müssen Abstand nehmen von einer Vergangenheit um uns und in uns“, „wir wollen nicht aus dem Nein zum Schlechten, sondern aus dem Ja zum Guten leben, aus der Tiefe unserer eigentlichen Vergangenheit, die uns trägt“. Und nicht ohne Nostalgie zu einem Land, das 1933 untergegangen war: „Treu sind wir unseren Eltern, unserer Heimat, treu unserem Vaterlande, das wir sehen in Kant und Goethe und Lessing und den anderen hohen Gestalten und in allem, was bei uns Adel hatte in Gehorsam gegen die ewigen sittlichen Forderungen- in unserer Sprache- in unseren Wäldern, Bergen, Strömen, in unserem Meer“.307 Die geistig intellektuelle Landschaftsorientierung war der Kontrast, der die konkret zu durchleuchtende Schuld, vor allem der an der Euthanasie beteiligten medizinischen Fakultät, umso greller leuchten ließ. Jaspers‘ Anspruch war radikal, gleichermaßen weit entfernt von der bruchlosen Fortsetzung von Ordinarienkarrieren und der entmündigenden reeducation-Attitüde, die vielfache und unheilige Allianzen miteinander eingingen, mit verheerenden Folgen bis heute.

1945–1995: Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Stadt. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 79–164. 307 K. Jaspers, Vom lebendigen Geist der Universität, Heidelberg 1946. Siehe jetzt auch ders., Schriften zur Universitätsidee, hg. von O. Immel, Basel 2016, S. 85 ff.

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Jaspers sah die Universität, bzw, deren Idee 1946, als einen Ort uneingeschränkter Kommunikation und deshalb als den idealen Punkt der Neubesinnung. Von ihr könne eine Vernunft-Republik ausgehen, ein staatsunabhängiger geistiger Raum, der gleichwohl durch den Staat und seine Institutionen garantiert ist. Wenn er diesen Raum politisiert, reglementiert, funktionalisiert, so verkennt der Staat seine eigene Bildungsaufgabe. Nach der Erfahrung des Totalitarismus knüpft Jaspers sehr bewusst und souverän an den Hallraum der abendländischen geistigen Überlieferung und an die Humboldtsche Idee an. Seine Universitäts-Rede verdient heute höchste Aufmerksamkeit. Erst mehr als fünfzig Jahre später schloss sich eine ebenbürtige Würdigung der Universität an, Jacques Derridas Schrift über die unbedingte Universität.308 Der äußerste Horizont von Jaspers’ Denkbewegung ist von hier her abschließend zu skizzieren. Dabei zeigt sich, dass es auch Jaspers um einen Begriff des Seins geht, das nicht in Seiendes der Realität der Dinge, einzubeziehen ist. Gerade an dieser Stelle wird eine gemeinsame ontologische Fragestellung deutlich, die weit über den Rayon der Existenzphilosphie hinausreicht. Jaspers spricht selbst vom „Hellwerden eines mit allem bestimmten Wissen unvergleichbaren Seinsbewusstseins“. Jenes Sein ist im Sinn platonischer philosophischer Mythen, aber auch des ursprünglichen Seins vor dem Urteil, in der Frühzeit des deutschen Idealismus (bei Hölderlin oder beim frühen Schelling) für Jaspers eine Einheit, „in der ich und Gegenstände noch gar nicht getrennt waren, darum Dunkelheit herrschte und noch kein Sinn gewusst wurde“.309 Jaspers spricht deshalb von jenem Ursprungspunkt von Sinn in einer gewissen Variabilität als von dem „Umgreifenden“, das nicht selbst, sondern, worin alles andere uns vorkommt. „Das philosophische Erdenken des Umgreifenden […] ist ein Erhellen der Räume, aus denen das Ursprüngliche uns entgegentritt. Es sind Räume, in denen erst Wissen möglich ist, die aber selbst nicht gewusst werden“.310 Er suchte jenes ‚Umgreifende’ in verschiedenen, pluralen Existenzweisen. Auch hier ist ein Nietzscheanischer Ansatz mit im Spiel. Es ging Jaspers darum, mit Nietzsche perspektivisch zu denken, als Streuung des denkenden Ich in Dasein, Bewusstsein, Geist (Umgreifendes, das wir selbst sind), und zugleich als das Umgreifende, das das Sein selbst ist: also die Welt. Auch in der philosophischen Gotteslehre begegnet jedes Sein einem letzten Horizont.

308 J. Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt/Main 2001, worin sich Derrida bewusst von den amerikanischen Realitäten der Postmoderne auf die alteuropäische Universität und ihre re- und dekonstruierbare Idee zurückwendet. 309 Jaspers, Wahrheit, S. 606. 310 Jaspers, Wahrheit, S. 158.

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Und es wird durch ein Band zusammengehalten: die Vernunft.311 Die Vielheit des Umgreifenden ist zugleich eine Vielheit in der Wahrheit, die den Einheitssinn des Wahren in verschiedenen perspektivischen Brechnungen zeigt. Dabei suchte Jaspers Vernunft so zu bestimmen, dass in ihr „alle Weisen des Sinnes von Wahrheit zueinander“ kommen, „indem sie jeden zur Geltung bringt. Sie verhindert, dass sich eine Wahrheit in sich selbst verschließt“.312 Wahrheit ist nach Jaspers gleichermaßen universell und dynamisch. Die geschichtlichen Ausgestaltungen des Wahrheitstopos und eine Logik im Sinn „umfassender Systematik der Denkmöglichkeiten“ sind daher die beiden Ankerpunkte, auf die sich Jaspers’ Denkbewegung in den späteren Jahren konzentriert. Jaspers wird deshalb zu einem der ganz wenigen bedeutenden Philosophen seiner Zeit, die die Demokratie, eine ‚Idee’ als regulatives Prinzip, mit Vehemenz einfordern und ihr das Wort reden. Auch hier steht er in der Fluchtlinie von Kants Einforderung einer republikanischen, gewaltenteiligen Regierungsform.313 Philosophie spielt sich in einem öffentlichen Raum ab. Er scheint damit die Schlussfolgerung aus einer Lebenserfahrung in seiner Zeit zu ziehen, die stets vom Verrat der Intellektuellen bedroht war. „Die Demokratie ist eine Idee. Das bedeutet, dass sie nirgends vollendet sein kann und dass sie sogar als Ideal sich einer anschaulichen Vorstellung entzieht […][…]. Der demokratischen Idee entspricht das Bewusstsein der Unvollendbarkeit des Menschen“.314 Demokratie verbinde sich in exzeptioneller Weise mit Vernunft, meint Jaspers, womit offensichtlich ein kontrafaktisches Ideal skizziert ist. „Die Vernunft muss in die Völker dringen, um Wirksamkeit und Dauer zu gewinnen. Daher ist ‚Demokratie’ unumgänglich. Ihr Sinn ist die Herausarbeitung der Vernunft im gemeinsamen Denken und Handeln eines Volkes und der Völker untereinander. Wenn die Vernunft durch den Weltfrieden die Atombombe außer Wirkung setzt, dann nur durch die Demokratie als politische Lebensform“.315 Die Schule, die Jaspers als Analytiker und Diagnostiker der Moderne durchlief, war jene von Max Weber. Dies bewahrt seinen Demokratiebegriff vor normativen Überladungen.

311 Vgl. zur sinnkritischen Konturierung des Wahrheitsgedankens: Jaspers, Nachlass zur Philosophischen Logik, hgg. von H. Saner und M. Hänggi, München 1991. 312 Jaspers, ibid. S. 605 f. 313 Vgl. vor allem Kants Republik-Idee und die Grundgedanken der Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ und der ‚Metaphysik der Sitten‘. Siehe auch R. Koselleck, Jaspers, die Geschichte und das Unpolitische, in: Karl Jaspers -Philosoph, Arzt und politischer Denker, a.a.O., S. 292 ff. 314 Jaspers, Die Atombombe, a.a.O., S. 425. 315 Ibid., S. 419.

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Obwohl er mit Emphase auf die Demokratie blickt, weiß er, wie viel an charismatischer, exzeptioneller Herrschaft liegt. Weber charakterisierte in jener Rede ‚Politik als Beruf’, 1919 in dem von der Räterervolution noch umtobten München gehalten, den Politiker, der vom Parteimann und Ideologen, aber auch von dem leer gewordenen alten Adel zu unterscheiden ist (Platons Politikos, der wahre Staatsmann ist es, der hier in Rede steht). Dieser bedürfe „des Augenmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen: also der Distanz zu den Dingen und Menschen“316 und: „Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber ‚dennoch’ zu sagen vermag, nur der hat den ‚Beruf’ zur Politik“.317 In der ‚geistigen Situation der Zeit’ 1931 war Jaspers dann der Auffassung, dass die Ausnahmepersönlichkeit das einzige Remedium zu Nivellierungstendenz, enthumanisierender Bürokratie, kurz: der Herrschaft des Apparates sei. Man denkt an Aristoteles’ Begriff des ‚Mannes, der an sich selbst’ ein Gesetz in der ‚Politik’ sei. Jener Staatsmann muss zumal in einer tiefen politischen Krisis, wo es um Neuformung oder Untergang geht, tertium non datur!, „aus eigenem Ursprung das Steuer ergreifen“ können, „auch gegen die Masse“.318 Auch nach der endgültigen Desavouierung und Verhunzung der Rede vom ‚Führer’ hielt Jaspers nach 1945 an diesem Ideal fest, er suchte sie aber in eine Verschränkung mit der Demokratie-Idee zu bringen, ohne dass er Exempla für die demokratischen „Führer“ nachwies. „Die politische Führerpersönlichkeit des demokratischen Typus ist kein Diktator. Ein demokratischer Führer ist vielmehr je für Zeit der erste Mann des Staates, überzeugend, nicht befehlend, sprechend als Bürger, nicht charismatischer Abgott“.319 Respektable Konzeptionen wie Dolf Sternbergers Sprechen in der Demokratie, sein Votum für die „Staatsfreundschaft“ weisen in eine ähnliche, von Jaspers damals gewiesene Richtung. Jaspers’ Philosophie der Kommunikation ist unübersehbar auch ein Prolog für eine Verständigung über nationale Grenzen hinweg. Hier kann er an Cusanus und Leibniz anschließen. In seinem Werk ‚Vom Ursprung und Ziel der Geschichte’ (1949) konzipiert Jaspers einen universalgeschichtlichen

316 M. Weber, Wissenschaft als Beruf (1917/1919). Politik als Beruf (1919). Max WeberGesamtausgabe, Band I/17. Herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992, hier Studienausgabe 1994, S. 88. 317 Vgl. dazu im Blick auf Jaspers: D. Henrich, Denken im Blick auf Max Weber, in: Karl Jaspers.Philosoph, Arzt, politischer Denker, a.a.O., S. 207 ff. 318 K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, a.a.O., S. 51. 319 K. Salamun, Karl Jaspers, München 2009, S. 94.

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Zusammenhang im Fokus auf die Achsenzeit, die er, in gewisser Übereinstimmung mit Spengler, aber auch mit Toynbee zwischen 800 bis 200 v. Chr. ansetzt.320 „In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, im Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse-, in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesajay-, Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Platon- und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen angedeutet ist, erwuchs in diesen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wussten“.321 Die Achsenzeit-Diagnose erprobt Jaspers dann in der Konzeption seiner ‚Großen Philosophen’. Man sieht, dass dies ein völlig anderer Bezug ist als die Fortschrittssequenz der naturalistischen Geschichtsphilosophie, die gewisse Reiche und Kulturen als Vorstufen anderer begreift und organologisch zwischen Keim, Blüte und Verfall unterschied. Hegel deutete die Ideengeschichte als Zu-sich-kommen des Geistes, war aber nicht ganz frei von dem organologischen Ansatz.322 Jaspers denkt von der Pluralität der Kulturen her. Dies führte näher zu Herder als zu Hegel.323 Die Pluralität jener Völker ist das Bauprinzip der einen Menschheit. Denk- und Kulturformen sind individuelle Ausprägungen, und jede von ihnen schreibt an der Geschichte der Menschheit mit. Jaspers meint, dass aus dem Rekurs auf die strukturell gemeinsame, in den Ausformungen grundverschiedene Tendenzen generierende Achsenzeit Kommunikation zwischen Völkern und Kulturen Gestalt annehmen könnte; daher ist seine Geschichtsphilosophie immer auch in praktisch philosophischer Perspektive orientiert. Dies zumindest teilt sie mit der Hegelschen idealistischen Rede vom ‚Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit’. Wenn man den kontrastiven Vergleich zu Heidegger an dieser Stelle noch einmal aufnimmt, so ist ein weiterer Punkt in Anschlag zu bringen: Jaspers meldete in deutlicher Unterscheidung gegenüber Heidegger an dem Ideal aufgeklärter, neuzeitlicher Wissenschaft niemals grundsätzliche Zweifel an. Er schlug dabei ein geradezu Platonisches Ideal des nicht doxastischen, son320 321 322 323

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Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, a.a.O., S. 57 ff. Ibid., S. 20. K. Jaspers, Die großen Philosophen, Band I, München 1957, S. 12 ff. K. Jaspers, Zur Frage der Entmythologisierung. München 1954. Er setzt sich dort nicht nur mit Rudolf Bultmann, sonden auch mit Fritz Buri als weiterem Vertreter einer „existenzphilosophischen“ Theologie auseinander.

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dern wahrhaft gewissen Wissens (des ‚zwingenden’ Charakters des Wissens der Wissenschaft) vor. Dabei neigte Jaspers, wie sich zumal in seiner Auseinandersetzung mit Bultmanns Entmythologisierungsprogramm der Schriften des Neuen Testamentes zeigt, einem „engeren“, dezidiert neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff zu, dem zufolge jedes Denken Wissenschaft heißt, „das methodisch verfährt, einen systematischen Charakter anzunehmen versucht und sich dabei auch der rationalen Mittel des Verstandes bedient“.324 Zu dieser wissenschaftlichen Rationalität sind auch Theologie und Philosophie verpflichtet; auch wenn sie den Gegenstandsbereich der Wissenschaften auf das Umgreifende hin transzendieren. Jaspers hielt ganz im Sinne der wissenschaftlichen Askese-Maximen Max Webers fest: „Wissenschaftliche Erkenntnis vermag keine Ziele für das Leben zu geben. Je klarer sie über sich selbst wird, umso entschiedener verweist sie auf einen ihr unzugänglichen anderen Ursprung, auf unsere Freiheit. Wissenschaft vermag keine Antwort zu geben auf die Frage nach ihrem eigenen Sinn (dies kommt Heideggers ‚Die Wissenschaft denkt nicht’ nahe). Dass Wissenschaft sein soll, beruht auf einem ursprünglichen Wissenwollen, dessen Recht nicht wissenschaftlich bewiesen werden kann“.325 Er sieht also, dass zwischen phronetischer Selbstbesinnung und wissenschaftlicher Begründung ein Hiat bleibt, den Husserl noch in einem cartesianischen Begründungsparadigma schließen wollte. Die ‚Reinheit wissenschaftlicher Erkenntnis’ bleibt aber eine Anforderung der Vernunft, der nicht nur der wissenschaftliche Mensch, sondern „die starke und bewusste Existenz“ in der Moderne genügen sollte. Jaspers zieht daraus eine auch für seine ‚Idee der Universität’ zentrale Folgerung, dass nämlich der Philosoph in einer Einzelwissenschaft geschult sein muss (Selbstbegrenzung), um wissenschaftliche Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen. Er muss ständig „im Kontakt mit wissenschaftlicher Erkenntnis leben“, um sie überschreiten und transformieren zu können. Darin, dass Philosophie Erste Wissenschaft ist, zeigt sich eine tiefe, bleibende Affinität zwischen Jaspers und Husserl, die an Heidegger vorbeigeht. An dieser Stelle kommt die Idee einer Religion der Vernunft, auf der Linie zwischen Kant und Cohen erneut ins Spiel. Für Jaspers ist Offenbarung ein Autoritarismus, der der Vernunftfreiheit in grundsätzlicher Hinsicht entgegengesetzt ist. Jesus ist daher nicht in seiner im Selbstzeugnis benannten Göttlichkeit bedeutsam für die Philosophie (hier folgt er einer neuzeitlichen Linie, die von Renan bis Nietzsche reicht), sondern darin, dass er als einer der maßgeblichen Menschen neben Sokrates, Buddha, Konfuzius, die den großen Philosophen entgegengesetzt werden, während er einen Gipfelpunkt des Leidens erreicht

324 Ibid. 325 Zit. nach Kurt Salamun, a.a.O., S. 100.

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habe – Leiden aber zum Handeln machte.326 Dennoch ist eben hier eine Differenzierung relevant. Denn für Jaspers reduziert sich das religiöse Problem nie auf Ethik, sondern verweist in die philosophische Mitte des Monotheismus, auf die Transzendenz in einen äußersten Horizont. Plotin und der Neuplatonismus, auch Augustinus entwarfen aus seiner Sicht Präfigurationen jenes Monotheismusbegriffs. Die Tranzendenzbewegung reicht allerdings über eine konkrete Offenbarungsreligion hinaus. Bedeutet doch Religion nichts anderes als eine Rückbindung an absolute Gesetze. Jaspers nimmt indessen den in der platonischen Tradition angesetzten Hiatus nicht auf, dass nämlich das Eine, die höchste Idee, ‚jenseits von Sein’ (Epekeina tes ousias) ist. Es ist für ihn vielmehr höchster Inbegriff von Sein. Das platonisch-neuplatonische Eine fasst er gleichwohl als „Bezugspunkt von allem, was ist, der Träger, das Ziel, der Ursprung“.327 „Allen Weisen des Einen gegenüber hat den Vorrang des Einen allein der Eine Gott. Er ist die reine Transzendenz – daher ist er allein das wahrhaft Umgreifende, das alles andere Umgreifende zu tragen vermag“.328Er manifestiert sich aber nur in ‚Chiffern von Transzendenz’, ein Zentraltopos der in Jaspers’ späten Jahren vorgetragenen ‚Einführungen in die Philosophie’, wobei er Chiffre als sprachliche Schematisierung (in der Folge von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ § 42: Chiffren der Natur) auffasst, die das Nicht-mehr-Gegenständliche in gegenstandshafte Prädikationen bringen könne. Das Eine zeigt und verhüllt sich in seinen Chiffren gleichermaßen. Jaspers figurierte seine Prädikationenlehre in seiner späten Religionsphilosophie weiter aus. Zeichen ist „definierbare Bedeutung eines Anderen, als solches unmittelbar Zugänglichen“, ‚Symbol’ ist anschauliche Fülle, in der „das Symbolisierte nur im Symbol erst da ist“, Chiffren aber, oder „Chiffern“, wie er bevorzugt schreibt, sind „Sprachen des Transzendenten“, „das nur durch Sprache, nicht durch die Identität von Sache und Symbol selbst zugänglich ist“.329 Mithin können Natur, Kunst, selbst die Metaphysik als solche Chiffrenschrift der Transzendenz entschlüsselt werden. „Liebe zur Natur sieht die Chiffre als die Wahrheit eines Seins, das nicht messbar und allgemeingültig ist, aber in aller Wirklichkeit mit ergriffen werden kann. In der Straßenpfütze und im Sonnenaufgang, in der Anatomie eines Wurms und in einer Mittelmeerlandschaft ist etwas, was mit dem bloßen Dasein als Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung nicht erschöpft ist. Natur als Chiffre ist in geschichtlich besonderer Gestalt die Erdgebundenheit meines Daseins, die

326 Jaspers, Die maßgebenden Menschen. Sokrates, Buddha, Konfuzius, München 1957. Vgl. dazu auch Jaspers, Der philosophische Glaube, a.a.O., S. 459 ff. 327 Jaspers, Von der Wahrheit, S. 691. 328 Ibid., S. 702. 329 Jaspers, Chiffren der Transzendenz, a.a.O., S. 7 ff.

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Nähe der Natur, in der ich geboren bin und mich gewählt habe. Als solche ist sie inkommunikable Chiffre, weil in ihr einzig für mich und daher am eindringlichsten Natur als das Verwandte – die Landschaft meiner Seele – und im Unterschied als das ganz Fremde ist“.330 Verbildlichung mag dies in der Nordsee finden oder in metakategorialen Weltwahrnehmungen wie Ungarettis „M’illumino d’immenso“. Crux des Übergangs in den philosophischen Glauben ist aber für Jaspers, wie schon für Kant die menschliche Endlichkeit, namentlich eine antinomische Grundstruktur aller endlichen Freiheit, in der „alles uns Positive an das dazugehörige Negative gebunden ist. Es gibt kein Gutes ohne mögliches und wirkliches Böses, keine Wahrheit ohne Falschheit, Leben nicht ohne Tod; Glück ist an Schmerz gebunden, Verwirklichen an Wagen und Verlieren“.331Man mag es sich phänomenal verdeutlichen: exzeptionelle Schönheit eines Kunstwerks, einer Landschaft, schließlich und am tiefsten eines Menschen ist nie ohne den Schmerz einer bleibenden Ferne und Inkommensurabilität. Crux ist dabei das Scheitern, eine Grenzsitutation eigenster Art, auch in der Ethik. Es bejahen zu können in einer, am Offenbarungsglauben gemessenen, Gottlosigkeit, in der Absage an Kultus oder an die Erwartung eines spezifischen Zuspruchs führt auf den philosophischen Glauben, dessen Struktur Jaspers als Zutrauen versteht, „dass das Sein und seine Erkennbarkeit im Grunde ‚in Ordnung’ und im Prinzip widerspruchslos sei“,332 dass Kommunikation möglich ist, dass Menschen, wenn schon nicht miteinander beten, doch miteinander sprechen können. * Sucht man nun nach der Verständigungsspur zwischen Heidegger und Jaspers, so wird eine Schwäche von Jaspers’ Denken erkennbar: die ihm eingeschriebene Vagheit, freischwebende Figuration, bei bleibender Orientierung an alteuropäischen Denkformen und Institutionen, darunter die Universität. Dies macht die Spannung eines tarierungsbedürftigen, fragilen Lebens aus, das Stabilität sucht und im Kontext eines Denkens steht, das sich dennoch in erstaunlichem Maß in die existenzialistische Parrhesia wagte. Ernst Bloch geißelte einst in seinen Leipziger Vorlesungen Heideggers Unanständigkeit,

330 Jaspers, Philosophie III, S. 174 f. 331 Ibid., S. 221. 332 Jaspers, Von der Wahrheit, a.a.O., S. 297.

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seine Komplizenschaft mit dem NS, diagnostizierte aber zugleich den höheren Rang gegenüber Jaspers, der „wie ein Waschweib“ philosophiere.333 Jaspers‘ Auseinandersetzung mit Heidegger spitzt sich in dem Satz zu, dass Heidegger ‚nichts’ von Freiheit verstehe und sie letztlich verfehle.334 Freiheit ist für Jaspers immer an bezeugte menschliche Existenz als Realisierung des Freiseins gebunden: ‚Freiheit’ ist nur, wo ich selbst bin. Heidegger bleibe einem Wahn verhaftet, nämlich: ein Werk, eine Sache selbst betreiben zu können, „die unabhängig wäre von dem, was ich bin und tue“, was sicher nicht auf die Daseinsanalyse von ‚Sein und Zeit‘, wohl aber auf das Seinsgeschehen beim späten Heidegger zutrifft. Die Affinität beider Philosophen war zunächst groß, was die HeideggerMappe von Jaspers zeigt, die durch Jahrzehnte auch in Phasen der politischen Entfremdung weitergeführt wurde (ed. Hans Saner, München, Piper 1978).335 Es gibt einen wohl nicht abgesandten Brief aus den dreißiger Jahren, der einiges über die Intensität ihrer Zwiesprache zu erkennen gibt: „Lieber Heidegger […] ich war wieder betroffen von zwei Wirklichkeiten: Einmal von meinem Einverständnis, — Sie sind vielleicht der Einzige unter den Philosophieprofessoren, bei dem ich Sätze lese, die in jene Verborgenheit treffen, von der Sie mir neulich schrieben, dann kann mir sonderbar zumute sein, als ob wir im Bunde wären, — keiner der anderen Lebenden kann mich interessieren (wenn das auch recht hochmütig klingt – aber es ist nicht hochmütig gemeint, sondern bloß ein Faktum) – dann aber war ich nicht weniger betroffen in meinem Erschrecken über das andere, das mich anmutet wie Wahn. Beides je ineinander zu sehen, gelingt mir noch nicht. Ich möchte es trennen, und das gelingt mir […] nicht“ (Notizen, Nr. 93, S. 111).336 Damit ist vieles, vielleicht das Wesentliche über die wechselhafte Korrespondenz gesagt. 2. Hannah Arendt: mehr als ein Exkurs Wie man heute weiß, war Heideggers Leben von Affairen und Beziehungen durchzogen. Die Begegnung und Entfernung zwischen Heidegger und Hannah Arendt ragt dabei als eine exemplarische Schicksalsbegegnung heraus;

333 E. Bloch, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Frankfurt/Main 1985, S. Bloch verbindet diese unterschiedliche Wertschätzung für das philosophische Format mit dem Urteil, dass Jaspers in allen wesentlichen Belangen unkorrumpierbar geblieben sei, im Unterschied zu Heidegger. 334 Diese Aussage wird in einer sehr bedenkenswerten Weise in Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, hg. von Hans Saner, München, Zürich 1978, durchgeführt.Vgl. insbes.S. 77 ff. und S. 165 ff. 335 Dazu auch das Vorwort von Hans Saner, a.a.O., S. 7 ff. 336 So Jaspers, Notizen, Nr. 93, S. 111.

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2. Hannah Arendt: mehr als ein Exkurs

es war zugleich eine Überkreuzung deutsch alemannischer und jüdischer Lebenslinien. Heidegger bleibt zu Anfang lange konventionell, vielleicht auch aus Selbstschutz und um dem Skandal zu entgehen. Die äußersten Mitteilungen, die er ihr macht, sind etwa dieser Art, 10. Januar 1926: „Ich habe Dich vergessen – nicht aus Gleichgültigkeit, nicht weil äußere Umstände sich dazwischen drängten, sondern weil ich dich vergessen musste und vergessen werde, so oft ich auf den Weg der letzten konzentrierten Arbeit komme“. Das wird als ein Prozess beschrieben, der sich über Wochen und Monate vorbereitet und wieder abklingt. Und dieses Weg-Kommen von allem Menschlichen und Abbrechen aller Bezüge ist im Hinblick auf das Schaffen das Grandioseste, was ich an menschlichen Erfahrungen kenne – im Hinblick auf die konkreten Situationen das Verruchteste, was einem begegnen kann. Es wird einem bei vollem Bewusstsein das Herz aus dem Leibe gerissen“.337 7. 12. 27, mit Augustinus: „Volo ut sis! Das ist die einzige Antwort, die ich […] finde. Dein Brief hat mich so erschüttert wie Deine erste Nähe. Dass jene Tage so elementar wiederkehren, danke ich Deinem heutigen Wort von Deiner Liebe“.338 Es gibt außerdem (und auch das ist nur ein unzureichender Schutz) bei dem siebzehn Jahre Älteren väterliche Floskeln: „Und Deine Nähe ist Sonnenschein“, wie sich Berichte über Kinder, Frau, Erkältungen und tägliche Nöte mit solchen Worten abwechseln: „Also, Du neckische Waldnymphe, das gibt es nicht ein ‚verlorenes Semester’, sondern nur ein Stück gelebten Lebens – d.h. gewonnenes Sein“.339 Im April 1925 schreibt sie in Königsberg eine Prosaskizze namens ‚Schatten’, die ihren Zweifel, den Umschwung von Sehnsucht in Angst beleuchtet. Sie wehrt sich in der maskenhaften Prosa, setzt Grenzen. „So hatte sich ihre Radikalität, die ihr einst das Äußerste noch zu tragen und zu halten gab, gewandelt, dass ihr jetzt alles zerrann und zerstob, es sei, sie versuchte in gefügiger Freundlichkeit sich anzuschmiegen, blass und farblos und mit der versteckten Unheimlichkeit eines über den Weg huschenden Schattens“ (April 1925).340 Er wich dieser Confessio aus, wie er meist der Andersheit der anderen, des „Mädchens aus der Fremde“, als das sich Arendt noch im Alter charakterisierte, auswich. Am 24. April 1925 antwortet er als Älterer und

337 Hannah Arendt, Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, aus den Nachlässen herausgegeben von U. Ludz, Frankfurt/Main 42013, S. 54. Aus solchen intimsten Zeugnissen zu zitieren, sie überhaupt zum Gegenstand philosophiehistorischer Erwägungen zu machen, ist in einer gewissen Weise immer prekär. Leser und Leserin sollten ebenso wie der Verfasser gegenüber diesen Zeugnissen „von ferne“ treten. 338 Ibid., S. 59. 339 Ibid., S. 42. 340 Heidegger, Arendt, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hg. von Ursula Ludz, Frankfurt/Main 1998, S. 26 f..

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einstiger Lehrer: „Ich würde dich nicht lieben, wenn ich nicht glaubte, dass Du das nicht bist […]. Mir wird Dein erschütterndes Bekenntnis nicht den Glauben nehmen an die echten und reichen Antriebe Deiner Existenz“ (24. 4. 1925).341 Der Brief endet aber mit einem Satz, der alle Masken hinter sich lässt. „Ich lese wieder in 11 (Hörsaal) weißt Du, was das heißt. Gute Nacht liebste Hannah!“.342 Es ist der Hörsaal, in dem sein Blick ihrem begegnet war und ihn gesucht hatte. Sie sandte ihm nach Jahrzehnten eine Fotographie und er antwortete: „wenn Dein liebes Bild mir mitten ins Herz blickt. Du weißt (dann) nichts davon, dass es der selbe Blick ist, der am Katheder mir zublitzte – ach es war und ist und bleibt die Ewigkeit, weiter in die Nähe“. Mit Hannahs Heirat mit Günther Stern, der unter dem Pseudonym Anders Weltruhm erreichen sollte, bricht auch der Briefwechsel mit einem Brief Heideggers ab, der das Ressentiment und die Entfernung am neuralgischen Punkt des Antisemitismusproblems zeigt und sogar inszeniert: „Im übrigen bin ich heute in Universitätsfragen genauso Antisemit wie vor 10 Jahren und in Marburg, wo ich für diesen Antisemitismus sogar die Unterstützung von Jacobsthal und Friedländer fand. Das hat mit persönlichen Beziehungen zu Juden (z.B. Husserl, Misch, Cassirer und anderen) gar nichts zu tun. Und erst recht kann es nicht das Verhältnis zu Dir berühren. Dass ich mich seit längerer Zeit überhaupt zurückziehe hat einmal seinen Grund darin, dass ich mit meiner ganzen Arbeit doch einem trostlosen Unverständnis begegnet bin, sodann aber in wenigen schönen persönlichen Erfahrungen, die ich bei meiner Lehrtätigkeit machen musste. Ich habe mir allerdings schon längst abgewöhnt, von den sogenannten Schülern irgendwelchen Dank oder auch nur anständige Gesinnung zu erwarten“.343 Der Wieder-Blick (so treffend die Arendt-Herausgeberin Ursula Ludz) geschah fast zwei Jahrzehnte später im Frühjahr 1950 in einer anderen Zeit. Er schreibt ihr Zeilen, die die Einkehr des Endes in den Anfang markieren, eine zentrale Geschichtsfigur des seinsgeschichtlichen Denkens der ‚Beiträge’. „Wesentliches geschieht immer jäh. Blitz sagt in unserer Sprache eigentlich Blick. Das Jähe bedarf im Guten wie im Bösen einer langen Zeit, um ausgetragen zu werden. Darum bin ich traurig, dass die Stunden so kurz waren. Darum hoffe ich erfreuter noch auf Dein Wiederkommen, liebe Hannah. Es wird das schönste sein; denn nun ist das Frühe und das Späte gleich rein ins Offene gebracht. Ich weiß, dass Du selbst aus diesem Reinen freudiger freust und zu uns gehörst“.344 Am 9. 2. 1950 antwortete sie in einer Confessio, 341 Heidegger, Arendt, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, a.a.O., S. 27. 342 Ibid. 343 Dieses Zeugnis zeigt bereits in der Grundhaltung alle die neuralgischen Punkte, die in den ‚Schwarzen Heften‘ explizit wieder aufbrechen. 344 Martin Heidegger an Hannah Arendt, 19. III. 50, in: Heidegger, Arendt, Briefe, a.a.O., S. 89 ff.

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3. Heidegger-Jaspers: Das Antipodenverhältnis noch einmal

die zu dekonstruieren die menschliche Achtung verbietet: „Dieser Abend und dieser Morgen sind die Bestätigung eines ganzen Lebens. Eine im Grunde nie erwartete Bestätigung. Als der Kellner Deinen Namen sagte (ich hatte Dich nicht eigentlich erwartet, hatte ja den Brief nicht bekommen), war es als stünde plötzlich die Zeit stille“.345 Bestätigung muss man freilich in der ganzen Ambivalenz lesen: „Der Confessio zu einer Lebensliebe und dazu, weitergegangen zu sein, sie sagt es drastischer: dass mich der Zwang des Urimpulses […] gnädig bewahrt hat, die einzig wirklich unverzeihliche Untreue zu begehen und mein Leben zu verwirken“ (S. 76). In dem Brief ist auch die ganze Ambivalenz zur Elfride Heidegger markiert, der ‚deutschen Frau’, die sie bei jener späten Begegnung ‚stellen’ wollte (Ina Seidel im Bücherschrank). „Bitte missversteh nicht; mir persönlich ist das ganz gleich. Ich habe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufgehört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, was ich nun eben einmal bin, das Mädchen aus der Fremde“.346 Mit Arendts eigenständigem Denken setzte sich Heidegger dagegen niemals auseinander. Politisches Denken war aus seiner Sicht gar nicht philosophisches Denken. Für ihren höchst ambivalenten Weg hatte er letztlich kein Verständnis. Er räsoniert in der Spätzeit mit der immer wieder kehrenden Widmung: „Nur Dir“ in einer Reihe von ‚Gedichten’. Doch er hatte keine eigenständige lyrische Sprache, eine Kongenialität zu Hölderlin, Rilke, Trakl, sei es auch von der Gegenküste des Denkens ist in keiner Weise erkennbar. Es entsteht Jugendstilkitsch, eine Biedermeier-Fassung des Seinsdenkens. „WELLEN. Eingestillt in das Geläut der Glocken, die das Meer zu seinen Wellen prägt, streift die Hand durch das Gedicht der Locken, deren Duft in hohe Hellen trägt“. 3. Heidegger-Jaspers: Das Antipodenverhältnis noch einmal Jaspers setzte sich lebenslang mit Heidegger auseinander. Diese Debatte zeitigte bedeutsame und bis heute bedenkenswerte Urteile, auch Einwände, die nach wie vor als Gegenblick zu Heidegger aufschlussreich sind. Dies war umgekehrt nicht in derselben Weise der Fall. Die Asymmetrie zeigt sich ähnlich auch in der Relation zu Arendt. Sie nimmt Heideggers späteres Werk differenziert auf, er dürfte kaum etwas von ihren Bahn brechenden

345 Heidegger, Arendt, Briefe, a.a.O., S. 75 f. 346 Ibid., S. 76.

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politisch philosophischen Studien gelesen haben. Auf der seinsgeschichtlichen Wegbahn weist Heidegger Jaspers einzig die Bedeutung zu, eine Variation in der Nachgeschichte der Metaphysik zu bilden: er gehört in die Nachgeschichte Kierkegaards. Heidegger schrieb 1919/20, als sich seine Auseinandersetzung mit Husserl und der Aufriss der Phänomenologie des am-Leben-seins Bahn brach, ‚Anmerkungen zu Karl Jaspers ‚Psychologie der Weltanschauungen’‘. Heidegger hat diese Arbeit seinerzeit nicht publiziert, ist ein Manuskript von fast 50 Seiten, das erst 1973 in die ‚Wegmarken‘ aufgenommen wurde.347 Die Kritik trifft das methodisch Prinzipielle, nämlich den ästhetisch betrachtenden Ansatz im Denken von Jaspers. Dabei weist Heidegger auf die zentrale Bedeutung der Temporalität hin, den Phänomenzusammenhang des Lebens, den seine frühen phänomenologischen Arbeiten entfalten sollten. Seine Kritik folgt der eigenen fundamentalontologischen Linie. „So sehr Jaspers nur sammelt, was ‚da ist’, und darstellt, so ist er doch über das bloße Ordnen hinausgekommen zu einer neuen Konzentration des Verfügbaren, die als positive Weiterführung eingeschätzt werden muss. Um als Stoß gegen die gegenwärtige Philosophie wirken zu können, muss das bloße Betrachten fortgehen zum ‚unendlichen Prozess’ eines radikalen Befragens, das sich selbst in der Frage hält“ (GA 9, S. 43). Jaspers hält in seinen Notizen lange vor der großen politischen Enttäuschung unter anderem fest: „Sein Trick: Versprechen und Nichthalten. Das ‚Schreien’ de profundis“ (Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, S. 29); Das dunkle Raunen „noch nicht“ – „Von vornherein Verborgenheit?“ (S. 30). Es stelle sich bei Heidegger von Grund auf die Frage, an wen sich ein Philosoph wendet: „an die Vernünftigkeit – Augenmaß – an das ursprüngliche Selbstsein des Einzelnen – an die Unabhängigkeit den freien Sinn für Gehalte, Rangordnung, Weite des Horizonts, gegen Täuschung, Dogmatik“ (S. 58). Er konstatiert, vor dem Hintergrund von Heideggers Rede vom europäischen Nihilismus, dass Heidegger sich selbst in eine manichäische Zweiwelten-Kontruktion verstricke. Der Rückgang in den Ursprung, der Sprung in die Seinsgeschichte mache dies offensichtlich. Dies verfolgt Jaspers auch in die Spätphilosophie, etwa in die Zwiesprache von Denken und Dichten: „Gegenüber der Dichtung – Hölderlin, Rilke – macht er sich zum Herrn, indem er sich ihr unterwirft. Denn er ‚denkt’, d.h. er weiß, er hat Einsicht,- zwar sagt er: die Dichter denken – es ist eins – aber es zeigt sich durch Heideggers Interpretation – 1. was sie eigentlich gedacht haben – ohne es zu wissen – 2. wo sie gebunden

347 Die Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf die Seitenangaben in Jaspers’Heidegger-Notizen. Im Vergleich mit den immens dichten Grunderfahrungen und der Weggemeinschaft in der Frühphase des Briefwechsels wird die Entfremdung im Lauf der Zeit überdeutlich. .

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4. Anthropologie, Metaphysik und Fundamentalontologie: Max Scheler

bleiben durch Mangel an Denken – 3. wo H. im Wissen von der Geschichte des Seins einen höheren Standpunkt – eine weitere Aussicht gewonnen hat“ (S. 63). Und er notiert nicht ohne Bitterkeit: „1920−33, als Heidegger und ich in häufiger und in die Tiefe gehender Beziehung standen, habe ich doch nie ihn einen Freund genannt. Wenn ich es jetzt nachträglich tue, so gilt: er war der einzige meiner Freunde, mit dem ich 1933 nicht einmütig blieb, der einzige, der mich verriet“ (S. 92). Zusammengeführt auf zehn Jahre, so im Rückblick, ergibt sich ein zuweilen schönes, zuweilen verwirrendes Gesamtbild. Heidegger überspringe die Gehalte von Welt. Und diese Tendenz zu Totalurteilen entbinde ihn offensichtlich vom „Konkreten, dem Hier und jetzt, dem Ethos von privatem Dasein, Gemeinde, Staat“ (S. 34). Nicht ohne Bosheit vermerkt Jaspers auch: „Wie Zeus aus den Wolken seine Blitze schleudert, so Heidegger seine Machtsprüche. Aber es ist nur Rauch und Feuerwerk“ (S. 92). Und dann: „Heidegger geht in Gebärde, als einsamer gegen die Zeit zu stehen, in der Tat mit Stimmungen, Mächten, Bewegungen der Zeit, als deren Echo oder Repräsentant“ (S. 92). Der sei also gerade nicht ein Unzeitgemäßer. „Die Macht, vor der er sich beugt, ist eine Weise modernen Daseins, deren Wortführer er ist, in der Form, dass er sagt, was ihr wohltut, und dass er sie zugleich verachtet. Er verhält sich zu ihr wie Hitler zu der Masse“ (S. 93). Jaspers entwickelt einen hohen Sensibilitätsgrad für Heideggers. Arbeitsweise. Er zitiere, was ihn gar nicht wesentlich betreffe, „als ob sein Instinkt ihn ablenken wollte von den wirklich ihn Bestimmenden, z.B. Kierkegaard, Schelling- nur Yorck stimmt“ (S. 62). Das Trauma von 1933 hält Jaspers’ Heidegger-Notizen bis zum Ende in Atem, er denkt sie mit Heideggers Verkennung von Freiheit und dem Überspringen des konkreten Lebens in der ‚formalen Anzeige’ zusammen. „Sich verbergen ist an sich unphilosophisch“ (S. 260). Philosophieren geschehe bei Heidegger hinter verschlossenen Türen. Die Notiz 249 (S. 261) ist besonders treffend: „Die großen Fragen nicht berühren: Geschlechtlichkeit, Freundschaft, Ehe,- Lebenspraxis – Beruf, Staat, Politik, Erziehung usw. Und dann plötzlich ausbrechen 1933, geblendet von Realitäten der Macht und selbst ergriffen von der Massenhysterie“- (S. 261). 4. Anthropologie, Metaphysik und Fundamentalontologie: Max Scheler Max Scheler 1874 geboren, 1928 unmittelbar nach seiner Berufung an die Universität Frankfurt plötzlich und unzeitig verstorben, ist ein ingeniöses und ungestilltes Temperament, er nimmt die Erschütterungen seiner Zeit auf: Affairen, Skandale, auch Liebesaffairen, die nicht unter dem Schleier der Bürgerlichkeit sublimiert wurden, begleiten seinen Weg.

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Scheler konkretisiert die Phänomenologie zu einer materialen, dabei aber apriorischen Werteethik, auf der Höhe der Diagnose der Moderne, mit zunehmenden Tendenzen zu einer Philosophie des Absoluten. Das ‚juste milieu’ des Katholizismus durchbrach Scheler allerdings. Heidegger schätzt Scheler zu Recht sehr hoch, namentlich in der Phase nach ‚Sein und Zeit‘. Denkt Scheler doch den Menschen als die offene Stelle, die exzentrische Mitte im Kosmos, zu dem aus den Kausalzusammehängen der Natur kein Weg führe. Niemand könnte im Affen den Menschen voraussagen, auch Gott nicht, hat Scheler gelegentlich bemerkt.348 Heideggers Rede von Transzendenz war von Scheler deutlich inspiriert. „Das eben ist der eigentliche Wesensbegriff des ‚Menschen’: Er ist ein Ding, das sich selbst und sein Leben und alles Leben transzendiert“.349 Dabei ist es Schelers Auffassung, dass biologisch eine strikte Grenze zwischen Mensch und Tier gar nicht festzuschreiben ist. Der biologische Begriff fasst das fragile Gleichgewicht menschlichen Lebens aber überhaupt nicht. Scheler hat ‚Sein und Zeit’ noch intensiv zur Kenntnis nehmen können. Dabei bemerkt er deutlich den Hiat zwischen Heideggers Dasein und dem Personsein, um das es ihm selbstgeht. Auch Scheler formuliert eine Metakritik. Er wendet ein, dass die Formalität des Daseins nicht unterscheiden könne zwischen Wesen und zufälligem Dasein des Menschen (Duplizität von Drang und Geist in seinem eigenen Denken, die mitten durch den Eros hindurchverläuft).350 Er bemängelt aber auch, im Sinne des unvordenklichen In-der-Weltseins bei Heidegger, dass „in dieser Philosophie […] die Welt ohne jeden Selbst-sinn, Selbst-wert, ohne jede selbständige Realität im Verhältnis zum Menschen“ sei. 351 Scheler insistiert gegenüber Heideggers Daseins-Verständnis auf geistigem Personsein, das nicht in die Zeit fällt, sondern ‚überzeitlich zeitbezogen’ bleiben müsse. Randbemerkungen in Schelers Exemplar von ‚Sein und Zeit’ sind, ohne schon wirklich ausgeschöpft zu sein, in dem Band ‚Späte Schriften’ seiner Gesamtausgabe präsent. Schuld und Gewissensruf kann nach Scheler nicht als Konstituierung des Daseins in seinem Ganz-sein-können aufgefasst werden. Er schließt seine kritischen Bemerkungen: „Trotzdem verspreche ich mir sehr viel von Heideggers Fortarbeit. Sein Buch ‚Sein und Zeit’ ist das originalste und von bloßen philosophischen Traditionen unabhängigste und freieste Werk,

348 Max Scheler ist gleichermaßen Phänomenologe, Metaphysiker und Ontologe. Grundlegend ist seine Intention, dass die Metaphysik eine auf den Aktcharakter des Menschseins bezogene Meta’Anthropologie sein werde. Vgl.Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: ders., Späte Schriften, hg.von Manfred S.Frings, Bern und München 1976, S. 7 ff. 349 Ibid., S. 69. 350 Ibid., S. 56 f. Siehe auch ders., Philosophische Weltanschauung, a.a.O., S. 85 ff. 351 Ibid., S. 295.

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das wir in der deutschen Philosophie der Gegenwart besitzen – ein radikales und doch streng wissenschaftliches Angreifen der höchsten Probleme der Philosophie“.352 Wie dieses Urteil in Schelers eigenem Lebenswerk verankert ist, muss man fragen. Der Sohn eines zum Judentum konvertierten Protestanten und einer orthodox-jüdischen Mutter studiert Medizin, Psychologie und Philosophie in München und Berlin, u.a. noch bei Dilthey, promoviert in Jena und habilitiert sich 1899 an der Universität Jena mit einer Arbeit über die ‚transzendentale und psychologische Methode’, ganz im Kontext der philosophischen Debatten der Zeit.353 Er ist fünf Jahre lang Privatdozent in Jena und trifft in dieser Phase, im Jahr 1902 Husserl in Halle. Dann folgt seine Umhabilitation nach München. 1910 kommt es zu engen Kontakten mit dem einstigen Göttinger Kreis der Phänomenologen um Husserl: Pfänder, Geiger, Hedwig Conrad-Martius. Es ist die Zeit einer tiefen Schaffens- und Existenzkrise. Scheler, nun außerordentlicher Professor, lässt sich von seiner Frau Amélie scheiden und verbindet sich schon wenige Wochen später mit der jüngeren Märit Furtwängler, Schwester des Dirigenten, während er die Alimente für den Sohn nicht bezahlt. Diese seinerzeit skandalösen Umstände spitzen sich durch Schelers Konversion zum Katholizismus noch zu. Es kommt zu einem öffentlichen üblen Skandal, er wird einem höchst unangenehmen Prozess über die ‚Würde eines Hochschullehrers’ unterzogen und muss auf seine Dozentur verzichten. Es folgen produktive, aber schwierige Jahre als freier Schriftsteller. Erst 1918 wird er wieder berufbar: immerhin in einem Alter von deutlich über vierzig Jahren. Er erhält zunächst den Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie in Köln. Noch einmal wiederholt sich das Tremblement, Scheidung und Eheschließung mit Maria Scheu (1892−1969) im Jahr 1923. Schelers Texte spiegeln seismographisch diese Lebensbewegung, höchst gedankenreiche Entwurfsskizzen, rasch konzipierte Bücher. Von früh an vertritt Scheler die Auffassung, dass die Philosophie weder den psychologischen Varianzen faktischer Gedankenbildung unterliegt noch der Geschichte, sondern vielmehr einem überhistorischen Gesetz, dem Pleroma geistigen Lebens folgt. Scheler macht sich die Husserlsche Epoché als Grundhaltung zu eigen, er deutet sie aber im Horizont der alteuropäischen Tugendlehre. Die eidetische Reduktion erfordert deshalb Demut und Selbstbeherrschung. Letztere, weil sie von dem Eingriff in faktisches Leben abhalte, erstere weil sie „in die Richtung zum Wesen, zum puren Wasgehalt der Welt“ führe. Wie aus der

352 So Scheler, a.a.O., S. 304. 353 Vgl. zum Biographischen: H. Lützeler, Der Philosoph Max Scheler, Bonn 1947, W. Henckmann, Max Scheler, München 1998; sowie grundsätzlich P. Good, Max Scheler. Eine Einführung, Düsseldorf u.a. 1998.

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Konfrontierung zwischen Husserl und Dilthey und der Problemarbeit des jungen Heidegger deutlich wurde, klafft in der philosophischen Debatte um 1900 der Hiat zwischen Weltanschauung und Phänomenologie. Scheler ist der Auffassung, dass beide Seiten in einer vollständigen philosophischen Denkform zusammengeführt werden müssten. Erst die Metaphysik kann den Schritt von Denkformen zur Materialität der Wasgehalte vollziehen. Schelers Anthropologie wird daher durchgängig im metaphysischen Horizont entwickelt. In seinen Versuchen zu einer Begründung der ersten Philosophie suchte Scheler auch die Metaphysik noch einmal in einer übergreifenden Ideenordnung zu fundieren. Sehr im Unterschied zu Heidegger geht es ihm nicht um die Destruktion, sondern um die Restituierung der Metaphysik. Dabei verbindet sein Ansatz einer Ersten Philosophie antike, vor allem aristotelische, durch Thomas von Aquin vermittelte Züge mit den Strukturen neuzeitlicher Philosophie. Grundzug metaphysischen Erkennens ist für Scheler ein intelligibler Eros, eine zur Vergeistigung getriebene Liebe.354 Seine Erste Philosophie umreißt, wie er in seinem späten Aufsatz ‚Idealismus-Realismus’ (1928) zeigte, verschiedene ‚Sphären’, letzte Wesensregionen des Wirklichen, in dem sich im Sinn eines „Ordo amoris“, einer umgreifenden Liebe realistische und idealistische Positionen verbinden‚ das ens a se der Substanz, im Unterschied zu allem relativen Sein, die Außen- und Innenwelt, die Sphäre der Lebewesen, des Ich-Du und der Gemeinschaft.355 Dabei wird deutlich, dass es nicht um eine fundamentalontologische Freilegung des grundlegenden Seins geht, sondern vielmehr um die Erörterung der Varianzen des Seinsbegriffs: um Seinsrelativität. Für Scheler stellt sich die Frage, was das Sein des Ich gegenüber jenem einer Gruppe, Nation, übergeordneten Sozialität ausmacht? Zugleich hat Scheler versucht, verschiedene Wissensformen zu analysieren und gleichermaßen wissenssoziologisch und normativ zu fassen. Er unterscheidet grundsätzlich ekstatisches Wissen von der Einsfühlung, wie sie etwa im Mythos begegnet (Man vergleiche damit Ernst Cassirers Philosophie des Myhos), sodann von einem reflexiven, Abstand nehmenden Wissen, das seinerseits vielfache Spielarten annehmen kann. Weitere Wissensdifferenzen setzten hier an. Mystisches Wissen hat eine andere Rationalitätsverfassung als philosophisches oder technologisches. Wissenschaftshistorisch und -soziologisch sind diese Differenzen besonders rezipiert wurden. Sie legen nahe, in der Antike einen anderen Wissenstypos als grundlegend aufzuweisen als in der Neuzeit,

354 Vgl. hierzu grundsätzlich: Scheler, Werke Band V, Bonn 21968: Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens (1917) und ders., Vom Ewigen im Menschen. Erue und Wiedergeburt (1917); sowie Schriften aus dem Nachlaß Band 2: Erkenntnislehre und Metaphysik, Bonn 1979. 355 Scheler, Idealismus-Realismus, in: Ders., Späte Schriften, a.a.O., S. 183 ff.

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nämlich eher ein Contemplations- oder Anschauungswissen und Bildungswissen, im Unterschied zu neuzeitlichem Herrschafts- und Beherrschungswissen. Dazwischen tritt im Mittelalter eine Form, die Scheler als ‚Erlösungswissen’ beschreibt.356 Dabei hat Scheler auch versucht, zwischen Maßstäben der Erkenntnis, die immer relativ zu ihrem Bereich ihre Berechtigung haben, zu unterscheiden. Hier folgt er durchaus der Husserlschen Epistemologie. Wie es nur kennzeichnend ist für einen Phänomenologen, steht an erster Stelle die Selbstgegebenheit (Evidenz) als vollständige Übereinstimmung von Bild und Gedanke. Im Blick auf Heidegger ist festzuhalten, dass solche Evidenz und die immer fallweise nur entborgene A-letheia geradezu gegenläufig zueinander verlaufen. Einsichtiges Wahrsein aber hat eine andere Evidenzstruktur als ‚materiales‘. Im ersteren geht es nur um Deckungsgleichheit zwischen dem in einem Urteil bezeichneten und dem bestehenden Sachverhalt, im letzteren dagegen zwischen einem wahren Satz und dem Gegenstand des Urteils. Schelers Interesse richtete sich dabei essentiell auf Weltanschauungslehre und Kulturphilosophie: ideologische und sinn-deskritptive Annäherung müssten daher ineinandergreifen. Die „idealaltypischen geistigen Aktzusammenhänge“ müssen zunächst nachgelebt und dann dargestellt werden, „in denen Weltanschauungen in Personen und Kulturgemeinschaften ursprünglich geboren wurden“ (Schriften VI, S. 23).357 Von besonderer Bedeutung für die Praktische Philosophie ist Schelers ‚materiale Werteethik’. Im Jahr 1914 hält er in einem ‚Ethik-Bericht’, einer Art von Forschungsprogramm, die Absicht fest, „die Idee einer Ethik, und zwar materialer Art, neu zu begründen“. Eine absolute, materiale Werteethik (Schriften I, 386), sehr im Unterschied zu der gleichfalls apodiktisch absoluten aber rein formalen Metaphysik der Sitten bei Kant. Jene Werte sollen in einer strikten, durchaus phänomenologischen, Korrelativität von Akt und Gegenstand aufgewiesen werden. Beide, Akt und Gegenstand, sind nicht voneinander zu trennen und sie spielen sich auf unterschiedlichen Ebenen ab: 1. vitale Gefühle, der Gesamttätigkeit des Organismus (Gesundheit oder Müdigkeit) sind Werte zuzuweisen, 2. seelische Gefühle, die nicht mehr leibgebunden sind: Wehmut, Trauer, Freude bringen einen eigenen Wertekanon hervor und 3. geistige Gefühle: Achtung, Seligkeit, als Akte der geistigen Person haben einen ihnen zugewiesenen höchststufigen Wertekosmos zum Korrelat. Eine abstrakte Sollensethik kann die erforderliche Bindekraft niemals entfalten, sie ist, weil sie die Materialität des Lebens überschreitet, gleichsam eo ipso nihilisitisch. Dies erinnert an Hegels harte

356 Einschlägig ist hier Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), in: Gesammelte Werke Band VIII, S. 196 ff. 357 Vgl. dazu Henckmann, Max Scheler, a.a.O., S. 179 ff.

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Kritik an der Kantischen formalen Sittlichkeit und der dagegen gesetzten konkreten Moralität.358 Scheler setzt sich dabei differenziert vor allem mit dem Pflichtethos auseinander. Allerdings – dies wird man wohl in jedem Fall kritisch einzuwenden haben – trägt er dem Umstand nicht Rechnung, dass Kant von Pflichten sprach, die zugleich Zwecke sind (Metaphysik der Sitten) und dass er damit in der Folge der rationalistischen, „dogmatischen“ Philosophie von Christian Wolff steht.359 Scheler wendet gegen den kantischen Formalismus ein, dass Pflicht Nötigung oder Zwang sei; also darauf beruhe, einem Menschen seine Seinsgesetzlichkeit abzuschneiden; zudem werde der Gang der Einsicht (im Sinn der Aristotelischen „Phronesis“) abgeschnitten, dann nötige Pflicht zu einem ‚blinden Gehorsam’; sie ist einschränkend und wirkt nicht so sehr gebietend, als vielmehr verbietend. Schelers Ethik nimmt die Nietzschesche Erschütterung, die Diagnose des europäischen Nihilismus, auf, um sie durch die materiale Werteethik zu konterkarieren. Bei Scheler ebenso wie bei einer ganzen Reihe bedeutsamer Denker im 20. Jahrhundert, namentlich nach der Krise des Ersten Weltkriegs, deutet sich ein Schritt hinter die unbefragten Selbstverständlichkeiten der Moderne an, der keinesfalls damit verwechselt werden darf, dass sie nicht erkannt würde und eine Flucht in die Vormoderne einsetzte. Nichts wäre verfehlter. Scheler begreift den ‚desordre du coeur’, diese umfassende ethische Verwirrung in der Moderne und mithin den Blick des Moralgenealogen, gerade als Indiz einer Zeitenthobenheit des Ethos. Dieses werde, durch den Engpass von Einseitigkeiten hindurch in eine immer reichere Entfaltung geführt. Auch dort, wo konventionelle Moralen dementiert werden. Der Höhepunkt der Moral wäre am ehesten auf einer höchsten, transzendenten Wertebene erreicht, der Ebene des Heiligen, in deren All-Liebe sich das Göttliche personal zusagt. Es ist also unverkennbar, dass Schelers ethische Phänomenologie in eine Phänomenologie des religiösen Aktes mündet. Dabei ist niemals vom Da-sein die Rede, sondern von der menschlichen Person, in der wie ‚symphonisch’ die Vielheit ihrer Akte zusammengeschlossen sei. Der Mensch ist nach Schelers metaphorischen, fast literarischen Topoi, theomorpher ‚Einfall’ Gottes, er ist ‚Exzentriker des Lebens’, übernatürlicher Kosmozentriker, auch ist er ‚sorgenvoller Protestant’, insofern sein Wille in der Zweiheit von Drang und Geist die kosmische Ordnung durchbricht. Aus den Notizen zum Anthropologiekongress, Salzburg 1926: „Der Mensch ist das ‚unwahrscheinlichste’ Ergebnis der vitalen Evolution. In keinem Affen

358 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe Band III, S. 345 ff. Die tektonische Unterscheidung durchzieht Hegels Philosophie des objektiven Geistes. 359 Dies ist nur eine Andeutung der m.E. erforderlichen Metakritik von Schelers Ansatz, in: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Werteethik (1913/16 und 21927), Gesammelte Schriften Band II.

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hätte man Goethe vorhersagen können. Auch – Gott nicht“.360 In bewusstem Anschluss an Nietzsche formuliert Scheler: „Was bedeuten asketische Ideale? Den Menschen selbst“,361 er „ist viel mehr und viel weniger, als er wusste. Aber man muss Gott erfassen, um zu wissen, was er ist – Ein zwischen Zeit und Ewigkeit unsicher Schwankender“. Menschliches Leben bleibt ex-zentrisch. Die jeweiligen determinierenden biologischen anthropologischen Verhaltungsweisen hängen von durchdringenden Grundkräften, Drang und Geist, ab. Geist ist „ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip“, letztlich der Grundhabitus der „Sachlichkeit, Bestimmtheit durch das Sosein von Sachen selbst“ (IX, S. 32). Scheler hat gerade in seinen letzten Lebensjahren diesen philosophischen Grundriss einerseits in die Metaphysik und die Lehre vom Absoluten, andererseits in die politische Philosophie (Umbruchsjahre nach dem Ersten Weltkrieg) hinein verfolgt. Das Absolute entfaltet sich prozessual, und daher ist es „mit dem Ganzen der Welt zwar nicht daseins-, wohl aber wesensidentisch, und das Ganze der Welt im Menschen als einem Teile der Welt (ist) voll enthalten. Die Wesenheiten aller Dinge schneiden sich im Menschen und alle sind im Menschen solidarisch“ (IX, S. 90). Der Mensch ist Mitbildner, Mitvollzieher einer „im Weltprozess und mit ihm selbst werdenden ideellen Werdefolge“ (IX, S. 83). Das Ens a se konzipiert Scheler so, dass man bei aller unüberbrückbaren methodischen Differenz einen Sachzusammenhang mit der Whiteheadschen Metaphysik nicht übersehen kann: Das Ens a se ist reines Akt-Sein, einerseits als Geist, andererseits als Lebensdrang. Sich-versenken und ekstatisches Einsfühlen mit dem Triebleben der Natur sind also zwei gleichberechtigte Wegbahnen, was mit Schellings Freiheitsschrift (1809) auch darauf verweist, dass Grund und Existenz gleichermaßen in Gott sind. „In seinem Menschsein, das ein Sein der Entscheidung ist, trägt der Mensch die höhere Würde eines Mitstreiters, ja Mitwirkers Gottes, der die Fahne der Gottheit, die Fahne der erst mit dem Weltprozess sich verwirklichenden ‚Deitas’, allen Dingen vorzutragen hat im Wettersturm der Welt“ (IX, S. 84). Schelers politisch philosophischer Ansatz geht vor dem Hintergrund dieser Anthropologie von einer soziologischen Perspektive aus. Er unterscheidet die Gemeinschaft, die vor allem vitalseelisch verbundene Sozialverbände kennt, von der Gesellschaft als der auf Verträgen und Institutionalisierungen beruhenden objektivierten Sozialform. Über beiden Typen setzt Scheler eine geistige ‚Gesamtperson’, als Verbindung von Lebensgemeinschaft und Gesellschaft an, die im Sinn von Schelers katholischer Wendung im christlichen Mittelalter vollständig realisiert gewesen sei. „Die Einheit ist zugleich diejenige, von

360 Hier nach M. Scheler, Schriften zur Anthropologie, Stutgart 2001, S. 119. 361 Ibid., S. 117.

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der wir behaupten, dass sie und sie allein den Kern und das ganz Neue des echten altchristlichen Gemeinschaftsgedankens ausmache und damit im Lauf der Geschichte auf einen Gemeinschaftsgedankens, der Sein und unaufhebbaren Selbstwert der individuellen (kreationistisch gefassten) ‚Seele’ und Person […] in ganz einzigartiger Weise mit dem auf die christliche Liebesidee gegründeten Gedanken der Heilssolidarität Aller im corpus christianum vereinigt“ (II, S. 522). Hier nähert sich Scheler ständestaatlichen Ideen (Othmar Spann), ohne dass er dieses vormoderne und atavistische Konzept normativ weiter getrieben oder aber in einem grundsätzlichen demokratietheoretischen Sinn konterkariert hätte.362 Scheler gibt indessen dem Nietzscheschen Gedanken des Übermenschen eine andere Wendung in der von ihm explizierten Figur des ‚Allmenschen’, der – so die spezifisch pazifizierende Zielrichtung seines Gedankengangs – einen umfassenden Ausgleich schaffe (Weltalter im Zeitalter des Ausgleichs 1927, IX, S. 145−170), den Ausgleich von Kapitalismus und Sozialismus, Fachwissenschaft und universaler Bildung in der Richtung auf eine zivilisatorische Weltkultur. Intendiert ist damit auch eine Verbindung von männlichem und weiblichem politischem Typos. Scheler hat vor diesen Grunddifferenzen des Menschseins tiefgehend über Politik und Moral nachgedacht. Politik unterliegt nicht (was übrigens Kant in seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden’ ganz ähnlich sagt) unmittelbarer Beurteilung durch moralische Maßstäbe. Ein Politiker oder ein Parlament handeln dann „objektiv recht“, wenn sie „die für diesen Staat gültige ‚Forderung der Stunde’ richtig erkenn(en), und zwar auf Grund einer möglichst vielseitigen und tiefen Hineinversetzung in die allgemeine historische Weltsituation und die Stellung ihres Staates in ihr“ (XIII, S. 43). Als einer der wenigen deutschen Intellektuellen griff Scheler seinerzeit die Völkerbundidee auf und bemerkte, dass die Interessenrealisierung eines Staates im Sinn klassischer Machtpolitik am ‚Gesamtheil der Menschheit’ eine Grenze findet, so dass ein Staatsmann nicht nur für das ‚bonum commune’ seines Staates, sondern auch „für das Gesamtheil der Menschheit im Stande ihrer jeweiligen Art der Gliederung“ einzutreten habe (XIII, S. 44). Gerade als politischer Philosoph unterliegt Scheler allerdings den Vorurteilen und Meinungen seiner Zeit. Zweimal denkt er markant über Krieg und Frieden nach: während der Zeit des Ersten Weltkriegs und in den mittleren Zwanzigerjahren. Zuerst in Weltkriegsschriften in dem Sinn, dass Krieg aus dem Geist entspringt und der Geist in seiner 362 Vgl. M. S. Frings, Zur Idee des Friedens bei Kant und Max Scheler, in: Kant-Studien 66 (1975), S. 85 ff. Diese Antizipation des Weltalters des Ausgleichs ist bemerkenswert, zumal Scheler in der Zeit des Ersten Weltkriegs sich tief in den nationalen Zerklüftungen verloren hatte.Vgl. K. Flasch, Die geistige Mobilmachung der deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, sowie aus stärker historischer Perspektive P. Hoeres, Der Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004.

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5. Vertauschte Fronten“, Jüdisches Antidotum oder: Gestörte Zeitgenossenschaft?

„Tendenz zur Steigerung“ der Kriege bedürfe. In der Natur des Menschen als intelligiblen Lebewesens sei der Krieg tief verankert, man habe ihn mithin als „dauernde Welteinrichtung“ (IV, S. 44) zu verstehen. Ein gutes Jahrzehnt später war Scheler dann der Auffassung, dass sich ‚ewiger Friede’ durchaus konstituieren könne und dass das Weltalter des Ausgleichs auf ihn zutreibe: ausgehend von Recht und Wohlfahrtsstaatlichkeit. Das Ethos der Politik sei „von Haus aus wesentlich unmilitaristisch“ zu verstehen (VI, S. 191). Die Frage muss offenbleiben, wie Scheler den politischen Wahn der dreißiger Jahre wahrgenommen haben würde? Eines ist hier noch ins Feld zu führen: Auch bei Scheler spielt, in der Folge Diltheys, die ‚Weltanschauung’ eine entscheidende Rolle. Weltanschauungen sind für Scheler gleichsam schicksalhafte Elementarmächte. Sie tauchen aus dem Dunkel der Geschichte auf, bestimmen alles Handeln der unter ihrer Ägide Lebenden und sterben irgendwann ab. Sie werden nicht ‚gemacht’ und lassen sich nur sehr begrenzt beeinflussen. Als solche alles bestimmende Weltanschauung, die die anderen Koordinaten wie ein seismisches Beben überlagert, begreift er den Kapitalismus. Die Sinnhaftigkeit der Arbeit im christlichen Mittelalter, der ‚homo faber‘ als Sinndimension werden in Frage gestellt. Scheler scheint dazu zu tendieren, den Kapitalismus als irreversibel zu verstehen. Tendenziell wird die Sinndimenion von Arbeit vernichtet. Subjektivität wird in einem ökonomisch rechnenden Sinn verstanden und gegen Gemeinschaft und Gesellschaft ausgespielt, eine scharfsichtige Diagnostik, die weit entfernt ist von Cassirers Erwartung einer zunehmenden Kultivierung der Ökonomie. 5. „Vertauschte Fronten“, Jüdisches Antidotum oder: Gestörte Zeitgenossenschaft? Bemerkungen zu Franz Rosenzweig Franz Rosenzweig wurde zuerst von Karl Löwith in Arbeiten aus dem Exil des Jahres 1941 in einen besonderen Gesprächszusammenhang zu Heideggers ‚Sein und Zeit’ gerückt, spätere Forschungen meinten sogar eine noch größere innere Affinität zu dem späten Seinsdenken der Kehre ausmachen zu können.363 Rosenzweig selbst war jene Affinität nicht entgangen. Die phänomenologische Matrix seines Denkens, der Kultus im Zusammenhang jüdischer Überlieferung, ist indessen in der Sache und der Position denkbar weit

363 K. Löwith, M. Heidegger und F. Rosenzweig.Ein Nachtrag zu ‚Sein und Zeit‘, in: ders., Heidegger-Denker in dürftiger Zeit, Sämtliche Schriften Band Band 8, Stuttgart 1984, S. 72 ff.

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entfernt von Heideggers Fundamentalontologie.364 Dies konnte man schon immer wissen. Unüberschreitbar wird die Grenze im Licht der peinlichen und quälenden Zeugnisse von Heideggers Antisemitismus.365 Noch in seinen letzten Lebenswochen, schon schwer durch eine Lähmung beeinträchtigt, hatte Rosenzweig 1929 eine kleine Skizze mit dem Titel „Vertauschte Fronten“ verfasst. Sie reagiert auf die Zeitungsberichte von der epochalen Disputation zwischen Heidegger und Cassirer in Davos. Auch wenn er nicht vor Ort gewesen war, war Cassirer vielleicht der schärfste zeitgenössische Beobachter der Kontroverse. Cassirer habe dort das „alte Denken“ des Marburger Neukantianismus vertreten, Heidegger aber eines „neuen Denkens“ auf seine fundamentalontologische Weise exponiert. Bei aller Differenz konstatiert Rosenzweig seine Nähe eher zu Heidegger als zu Cassirer, war sich aber zugleich des Bruches dieser Konstellation deutlich bewusst.366 Rosenzweig beruft sich auf die Signatur der Krise der Zeit und den Abbruch tradierter Kulturkonzepte. Ähnlich hatte Cohen nach dem Ersten Weltkrieg immerhin von den „Trümmer(n) einer ehemaligen Vernunft“, den „Vogelscheuchen des Sittengesetzes“ gesprochen und eine autonome Vernunft überaus kritisch gewichtet. Dies unterscheidet ihn bei aller grundlegenden Affinität auch fundamental von Hermann Cohen.367 Franz Rosenzweig wurde 1886 in großbürgerlicher, assimiliert jüdischer Familie geboren, seine Vettern sind Hans und Rudolf Ehrenberg, sein enger Freund ist Eugen Rosenstock-Huessy, gewichtige Figuren einer neu erwachenden Philosphie der Sprache. Sie alle waren jüdischer Herkunft und konvertierten zum Christentum, was für Rosenzweig Anlass genug war, sich sehr bewusst über sein Jüdischsein Rechenschaft abzulegen: „Ich bleibe also Jude“.368 Rosenzweig studiert zuerst Medizin, dann Geschichte und Philosophie und promoviert bei dem Ideenhistoriker des Historismus, Friedrich Meinecke, mit einer Arbeit über ‚Hegel und der Staat‘, sein Abschied vom deutsch-idealis-

364 Vgl. weiter unten Vierter Teil, zum spezifischen jüdischen Denkprofil in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. 365 Diese Problematik wird durch die sogenannten ‚Schwarzen Hefte‘ weiter vertieft. Es gehört zu den Paradoxien, dass Heideggers Denken einerseits ganz im Licht eines von jeder religiösen Bindung befreiten Formalitätsich definiert, andererseits aber gerade in seinen korrelativen Denkformen jüdische Schülerinnen und Schüler anzog. Über die Strukturisomorphie bliebe tiefer gehend nachzudenken. Vgl. die Andeutungen Seubert, Heidegger- Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens, a.a.O., S. 507 ff. 366 Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Fanz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/Br. 1991, S. 45 ff. 367 M. Bienenstock, Cohen face à Rosenzweig. Débat sur la pensée allemande. Vrin, Paris 2009. 368 Rosenzweig, Brief an Rudolf Ehrenberg, 31. Oktober 1913.

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tischen Denken369 Rosenzweig ist es auch, der einen der wirkmächtigsten Texte aus der Frühgeschichte des deutschen Idealismus nach langen Jahren der Verschollenheit wiederentdeckt und ediert: ‚Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus’ (1917). Ab März 1916 ist er als Kriegsfreiwilliger an der Balkanfront. In den Schützengräben von Makedonien entsteht im Grundriss sein Hauptwerk ‚Der Stern der Erlösung’. Der Freund Rosenstock-Huessy notiert, dies Werk verwahre „unser (deutsch-jüdisches) Sparguthaben für einige Jahrhunderte“. Das Spätwerk Rosenzweigs ist nahezu ausschließlich der Übersetzung gewidmet: mit Buber zusammen betreibt er die ‚Verdeutschung’ der Hebräischen Bibel, eine deutsche Zweitschrift, der Sache nach so wie Schleiermachers Platon-Übersetzung eine Zweitschrift in der Zielsprache. Es geht hier allerdings zugleich um eine Transformation der jüdischen Zweitschrift der jüdischen Bibel in den deutschen Kulturzusammenhang. Erst um 1960 kann Buber das Werk alleine fertig stellen. Aus diesem denkwürdigen Anlass hielt Gershom Scholem in Bubers Haus in Jerusalem eine große Rede:370 das europäische, deutsche Judentum, das Adressat dieser Übersetzung hätte sein sollen, sei ausgelöscht. Zum Zeitpunkt ihrer Vollendung hat die Buber-Rosenzweigsche Übersetzung keine Leser mehr. Rosnenzweig wollte nach dem ‚Stern der Erlösung’ vom Buch zum Nicht-mehr-Buch aufbrechen, nicht mehr schreiben, sondern ganz in mündlicher jüdischer Tradition lehren. „Nur im Leben, nicht mehr im Schreiben, sehe ich noch Zukunft vor mir“, notierte er seinerzeit. Jene Lehrform ist die der Antwort des Lehrers, wenn er nach seinem Rat gefragt wird. „Von Menschen, nicht von Gelehrten“ (Rosenzweig, Gesammelte Schriften: Der Mensch und sein Werk, I, S. 681). Er verfasst noch ein Buch ‚Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand’, Abbreviatur des ersten Teils des ‚Sterns der Erlösung’ und zugleich Ausgriff in das ganz andere Genus des Nicht-mehr-Buchs. „Der kranke Menschenverstand [gemeint ist die bloße Reflexion, die der junge Schelling schon 1797 als eine „Geisteskrankheit des Menschen“ begriff], gleicht einem Gelähmten, der alles sieht, aber nicht eingreifen kann in die Wirklichkeit“.371 Rosenzweig indes befällt auch physisch eine Lateralsklerose, die ihn zunehmend lähmt, bis er ab Mitte der Zwanzigerjahre nicht mehr sprechen und am Ende nur noch einen Finger bewegen kann. Der Geist bleibt luzide klar. Seine Frau fügt nach seinen Andeutungen die Texte zu Briefen, Abhandlungen, Übersetzungen kongenial zusammen. Am 10. Dezember 1929 stirbt Franz Rosenzweig in Frankfurt/Main.

369 Rosenzweig, Hegel und der Staat, Neudruck Aalen 1962. 370 G. Scholem, An einem denkwürdigen Tage, in: ders., Judaica Band I, Frankfurt/Main 1986, S. 207 ff. 371 Dazu die tiefsinnigen Auslotungen von W. Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig: Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/Br., München 1991 u.ö.

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Die Rückkehr Rosenzweigs zum Ursprung, den jüdischen Quellen, aus einer außerordentlichen Vertrautheit mit dem deutschen Geist, zugleich aber in Gegenstellung zu ihm, konnte erst mit großer Verzögerung angemessen rezipiert werden. Die Genese von Rosenzweigs Hauptwerk gehört einerseits in den Umkreis von Cohens später jüdischer Lehre, andrerseits in den Umkreis der Zuwendung zur Sprache und zum Dialog in seinem Freundeskreis: Bubers Dialogisches Prinzip, insbesondere die gewichtige Schrift ‚Ich und Du’, steht Pate. ‚Ich und Du‘ stehen als personale Korrelation dem Verhältnis ‚Ich und Es’ gegenüber: „Und in allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch“ – Rosenzweig konstatiert, dass mit Hegels System die große Denkbewegung von ‚Ionien bis Jena’ ihren wirklichen Abschluss gefunden hab. „Weiter scheint das Denken nicht mehr gehen zu können, als dass es sich selber als die innerste Tatsache, die ihm bekannt ist, nun als einen Teil des Systembaus, und natürlich als den abschließenden Teil, sichtbar hinstellt“. Die Crux jener umfassenden Logifizierung ist nun aber, dass nach ihrem Ende ‚plötzlich’, der Mensch entdeckt, „dass er noch da ist […] Ich- Staub und Asche, Ich bin noch da!“.372Und diese schutzlose, existentielle Individualität wird zum zentralen Gehalt von Rosenzweigs Denken: „Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein, trat aus der Welt, die sich als die denkbare wusste, dem All der Philosophie heraus“ (GS II, S. 10). Aus dem Angeredetsein erst ‚wird’ dieses Ich. Die Linie ‚In Philosophos’, gegen Ionien und Jena; und ebenso gegen die andere ‚In Theologos‘, führt also auf das in der Anrede erschlossene Ich, das in das ‚Wort’ gestellt ist. „Das eigentliche Wunder, das meine Ich, entsteht gar nicht im Ich, sondern das Ich als die Substanz ist durchaus nicht mein Ich, sondern eben ich überhaupt (...) Sondern mein Ich entsteht im Du. Mit dem Du – sagen begreife ich, dass der andere kein ‚Ding’ ist, sondern, wie ich. Weil aber demnach ein Andrer sein kann wie ich, so hört das Ich auf, das einmalige ‚transzendentale’ ante omnia festa zu sein und wird ein Ich, mein Ich“ (GS I, S. 471). „Das Denken ist stumm in jedem Einzelnen für sich und doch allen gemein; durch diese Gemeinsamkeit begründet es die wirkliche Gemeinsamkeit des Sprechens... Statt der Sprache vor der Sprache steht die wirkliche Sprache vor uns... Das Wort des Menschen ist Sinnbild: jeden Augenblick wird es im Munde des Sprechers neu geschaffen, doch nur, weil es von Anbeginn an ist und jeden Sprecher, der einst das Wunder der Erneuerung an ihm wirkt, schon in seinem Schoße trägt“ (GS II, S. 121, 123). Was vollzieht sich nun in ‚Vom Stern der Erlösung’? Es ist ein ungeheuer reiches, verwebendes Geflecht von Strömen jüdischer Liturgie, der hebräi372 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Gesammelte Schriften Band II, S. 6.

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schen Bibel und ihrer Kommentierung, des Kultus mit Schelling, Goethe und Hölderlin. Gerade diese Verwobenheit dürfte von heute her, im Zeichen des Abschieds, signifikant sein. Es ist ein ganz jüdisches Buch, das die deutsche Kulturprägung nicht übersehen lässt. Nur der Grundriss kann hier angedeutet werden. Der erste Teil ‚Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt‘ wird eröffnet durch eine Meditation. ‚Über die Möglichkeit das All zu erkennen – in philosophos!’ schließt als Teiltektonik an Schellings Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie an. Ausgegangen wird gegen die Hegelsche Logifizierung des Seins des Seienden von der untilgbaren „Nichtidentität von Sein und Denken“. Gott und das Sein, das Verhältnis von Welt und Mensch führen auf das Grundverständnis der Ersten Philosophie als Erste Philosophie, als Theologie-Kosmologie. Die Korrelation von Gott und Mensch und von Mensch und Mensch erweist sich im Begriff als nicht-erkennbar. Dennoch sind sie nicht nur denkmöglich, sondern denknotwendig. „Von Gott wissen wir nichts“ (GS II, S. 25), „von der Welt wissen wir nichts“, „vom Menschen wissen wir nichts“. Doch aus diesem Nein kommt die Bewegung in das Ja des Wortes. Rosenzweig entwickelt also eine Kategorienlehre aus dieser Bejahung des Wortes, indem Metaphysik, Metalogik, Metaethik als dreifache Negierung dieser Bejahung zugeordnet werden.373 Der zweite Teil des Werkes „Die Bahn oder die allzeit erneuerte Welt“ tritt in das Ja ein, am Leitfaden der in der negativen Philosophie unterbundenen Sprache: ihrem Gesprochensein und ihrer Grammatik. Für Rosenzweig ist Sprache das Medium, in dem sich Welt zeigt. Rosenzweig suspendiert dabei das Denken nicht. Vielmehr hält er fest: „Wir machen den Glauben ganz zum Inhalt des Wissens, aber eines Wissens, das selber einen Grundbegriff des Glaubens sich zugrunde legt“ (GS II, S. 115). Es geht in der Trias von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung ganz „um Sichtbarmachung und Lautwerdung der ursprünglich in der stummen Nacht […] verborgenen Vorsehung – ganz (um) Offenbarung“ (GS II, S. 123). Rosenzweig geht dabei von der hebräischen Bibel aus, die er als eine eigentümliche Philosophie begreift. Dieser philosophische Charakter reinigt die Offenbarung. Dennoch hat er auch den Neuen Bund vor Augen. Schöpfung ist nur als Geschehen, als Erzählung des ins Leben gerufenen wirklichen Daseins fassbar. Darin zeigt sich auch schon Offenbarung. Gott tritt aus dem originären Wir, dem Ich und Du von JHWH und ELOHIM hervor und aus ihm generiert sich die Welt: ‚Lasst uns den 373 Mittlerweile liegt eine große und auch beachtliche Zahl von Interpretationen und Auslegungen zum ‚Stern der Erlösung’vor, auf deren Varianzen ich hier nicht weiter eingehen kann. Sie reichen, im Schelling-Anklang von der Deutung als Rosenweigs Philosophie der Offenbarung bis zu existenzphilosphischen Mustern. Hiat und Konnex mit der Bruchlinie und der Korrespondenz zwischen Athen und Jerusalem sind dabei mitzubedenken.

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Menschen machen!’ Er wird zum Ich, wenn er den Menschen anredet, gerade indem er ihn auf seine Schuld hin anruft. Und der Mensch wird darin auch zum ‚Ich’: „Hier bin ich!“. „Denn das Sein, das er (Gott) jetzt zu erkennen gibt, ist kein Sein mehr jenseits des Erlebens, kein Sein im Verborgenen, sondern es ist ganz in diesem Erleben großgewachsen, es ist ganz im Offenbaren“ (GS II, S. 203). Hier hat das Gebet seinen Rechtsgrund, das vorausweist in die Erlösung, in der die Verheißung „Wie Er dich liebt, so liebe du“ eingelöst wäre. Höchst eindrucksvoll wird dies in der Narration der Liturgie des JOM KIPPUR-Tages, des Versöhnungstages verdeutlicht. „In Gott wird die Einheit, die alles vollendet […] für ihn ist die Ewigkeit seine Vollendung (...) Ist sie das auch für die Welt, für den Menschen? Mitnichten. Um ewiges Leben zu erlangen, müssen sie freilich in den Welttag des Herrn eingehen. Die Unsterblichkeit wird ihnen erst in Gott“ (GS II, S. 287 f.). Es ist signifikant, dass der der dritte Teil „Die Gestalt oder die ewige Überwelt“ „in Tyrannos“ überschrieben ist. Rosenzweig geht es dabei um den Zusammenhang von Gebet und Liebeswerk, jenem Werk, das Richtung gibt auf einen umfassenden reifenlassenden Bundesschluss. Rosenzweig hat in diesem Zusammenhang die Scheidung der Wege zwischen Juden und Christen thematisiert, aber zugleich in einer wunderbaren Weise ihre Tiefenkonvergenz, jenseits von Assimilation und bloßer Kultursynthese vor Augen geführt. Zur Differenz hält er fest: „Der als Jude Gezeugte bezeugt seinen Glauben, indem er das ewige Volk fortzeugt. Er glaubt nicht an etwas, er ist selbst Glauben […] Dagegen: Ein Glaube, der die Welt gewinnen will, muss Glauben an etwas sein […]. Indem der Christ an den Weg glaubt, bahnt er ihn in die Welt. So ist der Zeugnis ablegende christliche Glaube erst der Erzeuger des ewigen Weges in die Welt, während der jüdische Glaube dem ewigen Leben des Volks nachfolgt als Erzeugnis“ (GS II, S. 380). Doch „Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren. Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs engste wechselseitig gebunden. Uns gab er ewiges Leben, indem er uns das Feuer des Sterns seiner Wahrheit in unserem Herzen entzündete. Jene stellte er auf den ewigen Weg, indem er sie den Strahlen jenes Sterns seiner Wahrheit nacheilen machte in alle Zeit bis hin zum ewigen Ende ... Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns“ (GS II, 462). Man bemerkt deutlich, dass es Sprache und Zeit sind, die den Leitfaden dieser Reflexion bilden: Zeit, in der sich nicht Schöpfung, Offenbarung und Erlösung abspielen, sondern ‚als’ die sie sich ereignen. Zumindest dieses hermeneutisch-phänomenologische „als“ teilt Rosenzweig mit Heidegger. Philosophie ist ‚Sprachdenken’, das nicht ‚über’ Sprache philosophiert, sondern, das Philosophie als auf Sprache angewiesen vollzieht. Eben hier liegt auch die

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tiefe Affinität zu Heidegger. Charakteristisch ist es dabei, dass Rosenzweig die Sprachform in den drei Teilen seines Hauptwerks variiert hat; der erste ist monologisch: ‚die Sprache der ‚zeitlosen mathematischen Symbole’, der zweite dialogisch: Anrede, Gebet, der dritte aber chorisch, hymnisch: ausgestreckt nach der Erlösungserwartung. Anders als Heidegger, hält Rosenzweig aber eine tradierte philosophische Tektonik aufrecht, so wie sie sich im Anschluss an Platon ausformte. Sie besteht aus Logik, Ethik, Ästhetik. Sie wird in jedem der drei Teile alludiert. Dagegen lässt Heideggers fundamentalontologische Fragerichtung solche Unterscheidungen konsequent hinter sich. Die Verbindung und Zeitgenossenschaft wurde mit Recht nicht nur in der radikalen Rückwendung auf Temporalität erkannt, sondern auch in der Bindung an die ‚Tatsächlichkeit’, ‚Faktizität, die Geworfenheit, in dem Sinn, dass Dasein nicht anders als ‚Auslegung’ ist. Karl Löwith hat die Affinität sehr weitgehend festgehalten: „dem ‚geworfenen Entwurf’ in ‚Sein und Zeit’ entspricht im ‚Stern’ die ‚Schöpfung und Erlösung’; der ‚Freiheit zum Tode’ die Gewissheit des ewigen Lebens; dem ‚Augenblicklichsein für seine Zeit’, das allezeit Bereitsein für das Kommen des Reiches am Ende der Zeiten; der jeweiligen Wahrheit die ewige Wahrheit des Stern. Hier bleibt aber auch zu fragen, was ‚Entsprechen’ unter solchen Voraussetzungen heißen kann. Rosenzweig stellt sich explizit unter die jüdische Offenbarungs- und Tradierungssignatur, Heideggers unabstreitbar tiefreichenden theologischen Aspekte und Inventionen dagegen haben sich in ihrer äußersten Formalität (‚formal anzeigend’) weitgehend von der zugrundeliegenden Substanz gelöst. Sie brachten sich in eine Gegenüberstellung zu religiösen Formen. Rosenzweig ist daher einer der bedeutendsten Exponenten einer Denkrichtung und Tendenz mitten auf dem Höhenweg der Moderne, die die Dogmata der Säkularisierung nicht fortschreibt, sondern sich unter ein Gesetz rückt, ein ältestes Altes des Kultus. Karl Barths Biblische Dogmatik, Erik Petersons Römerbrief gehören hier hin, nicht zu reden, von den Tendenzen der Kunst, die sich nicht in einer Sukzession des ‚Projektes der Aufklärung’ verstehen, sondern in einer Rückwendung und Rückkehr, ein Zug, der bei Heidegger erst lange nach jener Phase voll zum Tragen kommt, in der Rosenzweig sein Zeitgenosse gewesen ist. Die Entsprechung Rosenweigs ist zugleich eine Infragestellung und Aufsprengung Heideggerschen Denkens.

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Zweiter Teil: Analysis und die logische Form der Welt

I. Freges Neubegründung der Logik

Mit Gottlob Frege (1848-1925) beginnt ein starker und unhitergehbarer Ansatz, der aus der Genesis von Denkvorgängen im Psychologismus zur Geltung des Denkens durchzudringen versucht. Seine Begriffs-schrift nimmt das Projekt einer Formalsprache auf, einer ‚Characteristica universalis‘, wie es in der Intention Leibniz bereits umrissen hatte. Bereits die Begriffsschrift führt eine neue Notation in die Logikgeschichte ein. Die Zeitgenossen kritisierten den statutarischen Charakter, der ähnliche Unternehmungen, etwa von Boole, nur streifte, sich mit ihnen aber nicht differenziert auseinandersetzte. Frege entwickelt einen klaren Bruch zwischen der „Sprache des Lebens“ und der formalen Sprache, den er in das plastische Profil brachte, die erstere sei wie das Auge, die letztere dagegen wie ein Mikroskop. Ziel ist es, die natürliche Sprache einer Katharsis zu unterziehen und von Ungenauigkeiten zu befreien. Mit Emphase beschreibt er die Zielsetzung so, dass es „eine Aufgabe der Philosophie […] sei, die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt, die durch den Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen, indem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit des sprachlichen Ausdrucks behaftet“.374 Wörter und unterschiedliche Sprachen seien Setzungen. Das Problem des platonischen Dialogs ‚Cratylos‘ wird damit aufgenommen und beantwortet: die natürliche Sprache ist Thesis. Man sollte ihr daher keine Macht über die Dinge der Welt zuweisen, die nur magischen Charakter haben könne. Mit Husserl stimmt Frege darin überein, dass er jedem Psycholoigismus eine strikte Absage erteilt. So stellt er den Grundssatz auf: „Es ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjektive von dem Objectiven scharf zu trennen“.375 Ein dritter Grundsatz besagt: „Der Unterschied zwischen Begriff und Gegenstand ist im Auge zu behalten“.376 Konfundierungen zwischen Logik, Psychologismus und Erkenntnistheorie, die in den gängigen logischen Grundlagenstudien, etwa von Lotze und Trendelenburg, gängig waren, löste Frege grundsätzlich auf. Damit wird ein reines Reich der geltenden Ideen wieder374 G. Frege, Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildeten Formelsprache des reinen Denkens. Louis Nebert, Halle a. S. 1879, Nachdruck Hildesheim 1998, S. VI f. 375 Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1884, Nachdruck hg. von Chr. Thiel, Hamburg 1988, S. X ff.. 376 Ibid.

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I. Freges Neubegründung der Logik

gewonnen, was gegenüber den verschiedenen Leitkonzeptionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist: namentlich des Historismus, der bleibende geschichtsinvariante Wahrheiten auflöst. Ähnlich verhält es sich mit der Evolutionslehre Darwins, die Kategorienentwicklung auf biologische Enwiklungsschritte zurückbezieht. Dies bedeutet auch, dass Begriffe von Vorstellungen unterschieden werden. Vorstellungen sind gleichsam die Umhüllungen, hinter denen der eidetische Kern hervortreten muss. Der reine Gedanke sollte von der kontignenten Form gelöst werden, und damit sollte eine Formalsprache gewonnen werden, die in logischer Reinheit wissenschatliche Inhalte präsent machen würde. Kant bemerkte, dass die Logik seit Aristoteles keinen Schritt nach vorne gemacht habe;377 Frege nimmt genau diese Problematik auf und unterscheidet zwischen dem Inhalt (dargestellt im horizontalen Inhaltsstrich) und dem Urteil (dargestellt im vertikalen Urteilsstrich). Während das Urteil die Grundform hat: „Es ist wahr, dass f“, bezeichnet der Inhalt „den Umstand, dass f“, bzw. die Vorstellungsverbindung. Die aristotelische Grundform des Urteils „S ist P“ und die daraus abgeleiteten möglichen Arten von Urteilen werden durch die Fregeschen Unterscheidungen unterlaufen. Die tautologischen Modalitätsurteile von Möglichkeit, Notwendigkeit, Wirklichkeit erweisen sich gerade nicht als fundamenal für den propositionalen Sinn. Sie sind strictu sensu überflüssig. Noch graviereneder ist es, dass die Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat nicht festgehalten wird. Subjekt und Prädikat wären für Frege grammatische Begriffe, die psychologisch motiviert sind und die eidetische Erfassung des Inhaltes verstellen. Inhalte bilden eine komplexe Gesamtheit, die dann in ihre Einzelbestandteile zu zerlegen ist. An die Stelle der Subjekt-Prädikat-Struktur setzt Frege die aus der Mathematik entnommene Gliederung von „Funktion“ und „Argument“. Jeder Satz lässt sich in diesem Sinn zerlegen, auch wenn es mehrere Arten möglicher analytischer Zerlegungen geben kann. Der Beispielsatz „Wasserstoffgas ist leichter als Kohlensäuregas“ lässt sich im Verhältnis von Funktion und Argument unterschiedlich zergliedern.378 Diese Unterschiede sind zuzulassen. Sie sind logisch nicht relevant. Wesentlich ist, dass die Unterscheidung möglich ist und die Gesamtheit von inhaltlich bestimmten Sätzen ohne zurückbleibende Variablen zugewiesen werden kann. 377 G. Frege, Der Gedanke, in: ders., Logische Untersuchungen, hg. von G. Patzig, Göttingen 1993, S. 30−54; siehe auch das hinzukommende Material G. Gabriel (Hg.), Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, aus dem Nachlass hg.von G. Gabriel, Hamburg 42001. 378 Vgl. dazu W. Künne, Die philosophische Logik Gottlob Freges, Frankfurt/Main 2010.

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I. Freges Neubegründung der Logik

Ein nervus probandi war für Frege die Frage nach dem Begriff der Zahl und dem Status der Arithmetik. Hier berührt sich sein Ansatz besonders eng mit Husserl. Zahlen lassen sich gerade nicht mit Kant als „synthetisch-apriorische Erkenntnisobjekte im Medium von Raum und Zeit“ bestimmen.379 Vielmehr hängen Zahlbegriffe und Mathematik ganz und gar von der Logik ab. Frege zeigt zunächst einmal in einer destruktiven Schrittfolge, dass Zahlen weder psychische noch physische Gegenstände sind, auch nicht Mengenaggregate noch Pluralisierungen von Eins und Einheit. Maßgeblich ist das zweite Leitprinzip, das auf den Satzkontext verweist: „Nach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden“ (GLAX). Da Zahlbestimmungen in diesem Sinn im Ganzen des Satzes bestimmt werden, beziehen sie sich nicht auf Eigenschaften von Gegenständen, sondern von Begriffen. Beispielhaft erläutert Frege dies an dem Satz: „Die Venus hat 0 Monde“. Dies bedeute, dass dem Begriff „Venusmond“ die Eigenschaft beigelegt wird, keinen Rerenten in sich zu fassen (S. 59). Freilich, eben an dem heroischen Versuch, die Arithmetik ganz und gar aus logischen Grundsätzen abzuleiten, ist Frege in gewisser Weise auch gescheitert. Während der Drucklegung des zweiten Bandes erreicht ihn die Nachricht des Russellschen Unvollständigkeitsaysion, die er nüchtern quittiert: „Herr Russell hat einen Widerspruch aufgedeckt“. Widerspruchsfrei lässt sich der Begriff einer Klasse der Klassen, die sich selbst nicht angehören, gerade nicht bilden“.380 Der gravierende Charakte dieses Widerpsruchs ist Frege nicht entgangen. Konstastiert wird damit ein Fehlschlagen des Logizismus als geschlossenes System. Am Rang und an dem Neueinsatz in Freges Denken ändert dies nichts. Er bemisst sich nicht zuletzt in der Verbindung von äußerster Präzision und der Einsicht in die philosophische Entzogenheit gerade der Grundbegriffe der Logik. Diese seien nicht in jedem Fall zu „definieren“ und zu zerlegen, denn „was logisch einfach ist, kann nicht eigenlich definiert werden“ (KS 167). Auch der Chemiker könne nicht alle Stoffe zerlegen, umso weniger, je mehr er zu den Grundelementen vordringt. Dann bleibe nichts anderes, „als den Leser oder Hörer durch Winke dazu anzuleiten, unter den Worten das Gemeinte zu verstehen“ (ebd.). Diese letztliche Entzogenheit gilt auch für den Grundbegriff der „Wahrheit“. Dabei hat Frege einmal hervorgehoben: „Das Wort ‚wahr‘ gibt das Ziel an“. Schon in seinen frühen ‚Kernsätzen zur Logik‘ bemerkte er aber: „Was wahr sei, halte ich für nicht erklärbar“ (Ebd., S. 189). Eine Einsicht, der je spezifisch Wittgenstein und Heidegger zustimmen würden.

379 Dazu auch die umfassende Biographie: L. Kreiser, Gottlob Frege -Leben-Werk-Zeit, Hamburg 2001, S. 25 ff., S. 68 ff. 380 Grundlgend heute, W.Künne, Die philosophische Logik Gottfried Freges, Frankfurt/Main 2010, S. 27 ff.

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I. Freges Neubegründung der Logik

Wahrheit ist selbst nicht ein Gegenstand der Logik, sondern eine Beziehung. Als ‚wahr‘ erweist sich ein Satz, wenn der von ihm bezeichnete Gegenstand unter einen Begriff fällt, bzw. den Begriff erfüllt. Anders gesagt, ist der Begriff dann durch den Gegenstand „erfüllt“ und damit „verifiziert“. Es spannt sich also der Problemhorizont von „Verheißung“ und „Erfüllung“ auf, der, wie wir sahen, auch in der Husserlschen Phänomenologie eine prominente Rolle spielt. Frege setzte Maßstäbe in dem reinen eidetischen Denken, auch wenn diesen Bahn brechenden Einsichten zu Freges Lebzeiten die flächendeckende Anerkennung eklatant versagt blieb. Der Universitätskurator der Universität Jena begründete gegenüber einer höher besoldeten Stelle, Herr Frege komme für eine Auszeichnung nicht in Frage, da „seine Lehrtätigkeit untergeordneter Art und für die Universität ohne besonderen Vorteil“ sei. Ein Netz von Korrespondenzen mit führenden Forschern, wie mit Russell oder dem Mathematiker Zsigmondi machten Frege außerhalb der eigenen Alma mater bekannt, und in seinem kleinen Seminar waren spätere Zelebritäten präsent. Die bedeutendsten Errungenschaften eines Denkens liegen oftmals im Bereich des Kontrafaktischen. Dies gilt auch für die Grenzbetrachtungen, die Frege anstellt: besonders exemplarisch für seine Reflexion auf ‚ich‘, das uneliminierbar sei. Einer der, in der dogmatischen Frühphase analytischer Philosophie standardisierten Thesen der Überführbarkeit der 1. Person singular in die 3. Person,381 widersprach Frege von Grund auf: Es sind nicht „Schwankungen des Sinnes“, die die 1.Person singular auszeichnen. Das Problem besteht darin, dass jeder „sich selbst in einer besonderen und ursprünglichen Weise gegeben [ist] wie er keinem anderen gegeben ist“ (KS S. 350). Mit der Unterscheidung zwischen einem auf verständliche Mitteilung zielenden und einem „idiosynkratischen“ Gebrauch versucht Frege zwar eine Grenzziehung des sinnvollen Gebrauchs vom ‚Ich‘, eliminiert die eigentliche Problematik aber keinesfalls.

381 Vgl. hierzu V. Mayer, Gottlob Frege, München 1996, S. 24 ff.

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II. Basissätze. Oder die Geschichtlichkeit der analytischen Philosophie

1. Russell und die Husserlsche Phänomenologie: Indirekte Annäherungen 1. Russells Denkansatz Während die Revolution der kontinentalen Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem bei Frege und dem frühen Husserl, darin besteht, vom Psychologismus und seiner Betonung der Genesis der Gedanken wieder zur Geltung vorzudringen und Philosophie als eine strenge Wissenschaft zu begründen,382 vollzieht sich der wesentliche Schritt Russells Ende 1898 genau umgekehrt. Er findet an dieser entscheidenden Wegscheide zu einer „Rebellion“ gegen den Idealismus.383 Nicht die internen Relationen interessieren ihn künftig, sondern die externen. Russell beschrieb dies im Rückblick wie eine Befreiung, die ihm den Bereich der Wahrnehmung und die Erfahrung der Außenwelt neu eröffnet habe. „Ich hasste die Stickigkeit des Gedankens, dass Raum und Zeit nirgendwo anders als im Inneren meines Bewusstseins wären. Ich liebte den bestirnten Himmel über mir mehr als das moralische Gesetz in mir […]“.384 So sei er zunächst zum naiven Realisten geworden, entgegen aller philosophischen Methodenlehren seit Locke. Erst allmählich habe er wieder den Ockhamschen Razor angesetzt und diesen Realismus seinerseits am Konzept des logischen Atomismus überprüft.385 Bei allen methodischen Unterschieden könnte auch Russells Ansatz als ein „Zu den Sachen selbst!“ charakterisiert werden. Die Berührungen zur Husserlschen Phänomenologie sind unverkennbar: Eine sachliche Nähe zu der Abschattungstheorie der Phänomenologie ist etwa offensichtlich, wenn Russell die Deformationen eines Gegenstandes im Beschreibungskontinuum abhandelt. Zwar bleibt der Tisch ein Tisch, auch wenn ihn gerade niemand wahrnimmt, bzw., wenn sich die Perspektiven

382 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, hg. von E. Marbach. Hamburg 2009. 383 B. Russell, Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens. München 1973, S. 55, Original: My Philosophical Development. London 1955. 384 B. Russell, Philosophie, a.a.O., S. 63. Dazu ders., The Elements of Ethics, in: ders., Philosophical Essays. London 1966, S. 13 ff. 385 Dazu A. J. Ayer, Bertrand Russell. München 1973, S. 55 ff., sowie Chr. Müller-Goldingen, Bertrand Russell. Studien zu seinem philosophischen Werk. Berlin 2013, pass.

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II. Basissätze. Oder die Geschichtlichkeit der analytischen Philosophie

verschieben, doch sein an-sich-Sein ist niemals unabhängig von der Wahrnehmungsperspektive. Damit verwandelt sich der eine Tische in eine „Reihe allmählich sich ändernder sichtbarer Gegenstände“,386 die in der Wahrnehmung erscheinen. Die Tatsächlichkeit ist nicht, wie in der gewöhnlichen Herangehensweise, als eine Art ‚Ding an sich‘ konstituiert. Jede Modifikation des Gegenstandes in der Wahrnehmung ist letztlich als Gegenstand zu bestimmen. Veränderungen der Umstände bringen veränderte Dinge, unterschiedliche Tatsachen, hervor. Wenn aber Husserl den Anspruch der Sachlichkeit auf die Epoche jeder Weltanschauung und sonstigen Voraussetzung gründete, so geht es Russell darum, das unverfälschte Bild wahrgenommener Wirklichkeit zu gewinnen, das gerade nicht durch ungeprüfte Vorannahmen getrübt ist. Zugleich vertritt Russell die Auffassung, dass Tatsachen unabhängig von Erfahrung und Erfahrenwerden sein können.387 Nur ein geringfügiger Teil der tatsächlichen Wirklichkeit sei überhaupt Erfahrungen zugänglich. Auch Husserl legte in seinem „Prinzip der Prinzipien“ dar, wie sich das Wesen in der phänomenalen Erscheinung zeigt, allerdings nur in den Grenzen, in denen es erscheint. Russell formuliert schließlich durchaus eine Entsprechung zum Husserlschen Bewusstseinsstrom, auch wenn er der egologischen Spur der Philosophie seit Descartes nicht folgt. Er geht von den drei verschiedenen Örtern aus, die in jeder Wahrnehmung eine Rolle spielen: (1) Dem Ort im physikalischen Raum, an dem sich die zu erfassenden Dinge befinden (2) Dem Ort, an dem sich das Ich befindet (3) dem Ort jener Wahrnehmung in der eigenen Perspektive. Die jeweiligen Perspektiven bilden jeweilige Welten aus. Diese Perspektiven seien aber qua Kontinuum aufeinander bezogen, so dass sich das Allgemeine als „Kontinuum der Perspektiven“ und das Objektive als „Invarianten in diesem Kontinuum“388 erweisen. Beschrieben wird damit, was sich mit den Husserlschen Abschattungen berührt, der Übergang von Dingen zu kontinuierlichen Übergängen der Perspektiven auf diese Dinge. Die Relationen erweisen sich daher als wesentlicher als die Relate. Die Identität lässt sich, wie Russell in der Begrifflichkeit der mathematischen Logik formuliert, als Übergänge der einen Gegenstandsperspektive in eine andere darstellen, exemplarisch des Kreises in die Ellipse, die im Kegelschnitt dargestellt werden kann.389 Im Verhältnis zur Psychologie kommt allerdings ebenso eine klare Differenz zwischen Russell einerseits, Frege und Husserl andrerseits zum Ausdruck. Denn mit der Zuwendung zur Erfahrung verbindet sich, dass Psychologie in

386 Russell, Philosophie, a.a.O., S. 257. 387 Ibid., S. 66, vgl. ders., An Outline of Philosophy. London, New York 1993, S. 77 ff. 388 Russell, Unser Wissen von der Außenwelt, Neueition M. Otte u.a. Hamburg 2004, S. XI. 389 Ibid., S. 113 ff. und S. 147 ff., dazu auch Russell, An Outline, a.a.O., S. 120 ff.

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ihren Gesetzmäßigkeiten und als Anwendung einer präzisen Moralistik für Russell, diametral entgegengesetzt zu Husserl, ein wesentliches Moment der Philosophie bleibt. 2. Zum Philosophiebegriff des Logischen Atomismus Russells philosophische Grundhaltung ist exemplarisch und für philosophische Forschung, welcher methodischen Ausrichtung auch immer, in ihrer Haltung vorbildlich. Er geht nach eigenem Zeugnis bei seiner philosophischen Arbeit von dem Eindruck zunächst vage bleibender Irritationen aus. Sie entspringen dem Eindruck, eine Auffassung, die man zunächst für richtig gehalten habe, nicht begründen zu können. Wie in einer Versuchsanordnung fokussiere er diese Tatsache und nehme sie unter einen gleichsam mikroskopischen Blick. Dies führte nach Russells Selbsteinschätzung zu gravierenden Revisionen seiner philosophischen Thesen. Aus der Fähigkeit zur Selbstkritik resultieren zahlreiche Veränderungen und Modifikationen von Russells philosophischer Theoriebildung. Er unterstreicht in seinen Rückblicken aber zugleich die bleibenden Kontinuitäten.390 Eine der sympathischsten Eigenheiten Russells besteht darin, dass er nach eigenem Zeugnis in seinen Untersuchungen „von keinen ein für alle Mal feststehenden Überzeugungen“ ausging,391 wohl aber bestimmte Vorurteile zugrunde legt, die er dann überprüft: ein Motiv, wie es ähnlich im kritischen Rationalismus begegnet. Hierher gehört eine Neigung zum Behaviorismus, die Russell übrigens auch dazu führt, die psychische Kontinuität zwischen Mensch und Tier sehr deutlich zu betonen. Auf spätere frappante Forschungen von Tomasello und anderen vom Anfang des 21. Jahrhunderts392 greift er voraus, wenn er annimmt, dass Tiere in den Bereichen, die ‚Wissen‘, ‚Denken‘ oder ‚Schlussfolgern‘ betreffen, weit mehr leisten könnten, als gemeinhin angenommen werde. Er erprobt vor diesem Hintergrund sogar eine Kulturgeschichte und Geographie tierischen Verhaltens. Im Blick auf die Theoriebildung neuzeitlicher Philosophie hält Russell als weiteres Vorurteil fest, dass die Begriffssphäre von „Erleben“, „Erlebnis“ oder „Erfahrung“ überbetont worden sei. Dies rühre daher, dass der Erlebnisbegriff selbst schon mit einer solchen Vagheit verwendet wird, dass er begrifflich nicht einholbar ist.393 Mit dieser Vagheit des Erlebnisbegriffs verbindet die

390 So die Tendenz bei Russell, Philosophie, S. 55 ff. 391 Ibid., S. 130. 392 M. Tomasello, Warum wir kooperieren. Berlin 2010; ders., Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Berlin 2014. 393 Russell, An Outline, S. 129 ff.

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philosophische Tradition die Suggestion, dass man sich gleichsam auf der Ebene des Stoffes, nicht der Form bewege. Dieser Deutung widerspricht Russell. Ein Zugang zur Wirklichkeit, u.a. über „forms of probable inference“,394 wird von ihm demgegenüber ausdrücklich als wahrscheinlich angenommen, mit dem Zusatz, „dass jedes Wissen, das nicht unmittelbar Wahrnehmungs- oder Gedächtnisinhalte wiedergibt, aus Prämissen abgeleitet sein muss, von denen wenigstens eine einen Wahrnehmungs-bzw. Gedächtnisinhalt wiedergibt“.395 Dadurch wird mit dem cartesischen Dualismus auch die Berechtigung des vermeintlich radikalen cartesischen Zweifels eingeschränkt. Zweifel sowohl an den einzelnen Sachverhalten der Sinne als auch den allgemeinen Wahrheiten der Logik nennt Russell schlicht pathologisch.396 Der logische Atomismus klärt den Begriff der ‚Sinnesdaten‘ dahingehend, dass es sich dabei um „einzelne Dinge“ handelt, „denen wir in der Wahrnehmung begegnen“.397 Oder nochmals anders formuliert: Dasjenige, dessen wir gewahr sind, sind die Dinge, die in der Wahrnehmung gegeben sind“.398 Wolfgang Carl hat pointiert und alles in allem zutreffend darauf hingewiesen, dass Russell nicht begründet zeigen könne, wie eine Verständigung zwischen verschiedenen Menschen und Perspektiven möglich sind. Denn das Gemeinsame, den Referenten der unterschiedlichen Perspektiven, der wahr ist, und von dem die Vertreter der verschiedenen Perspektiven übereinstimmend wissen, dass er wahr ist, kann man keinesfalls in jedem Fall voraussetzen.399 Der Bereich der Probleme, die als philosophisch gelten können, wird von Russell eingeschränkt. Bei jedem zu analysierenden philosophischen Problem muss geklärt werden, ob es (1) überhaupt ein philosophisches Problem ist; wenn dies aber zutrifft, lässt es sich(1) auf ein logisches Problem zurückzuführen.400 Die Schrittfolge, die Russell dabei einschlägt, geht, in einer konsequent anticartesianischen Wendung, nicht vom Bezweifelbaren aus, sondern

394 Ders., Philosophie, a.a.O., S. 130 ff., und An Outline, S. 161 ff. 395 Ders., Philosophie, S. 134. 396 Russell, Human Knowledge. London 1948, S. 78. Dazu P. Strawson, On Referring, in; Mind 59 (1950), S. 320 ff. 397 W. Carl, B. Russell: The Theory of Descriptions. Ihre logische und erkenntnistheoretische Bedeutung, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart 1. Göttingen (1979), 216 ff., hier S. 252, dazu auch R. Chisholm, Russell on the the Foundations of Empirical Knowledge, in: P. A. Schilpp (Hg.), The Philosophy of Bertrand Russell. New York 1963, S. 421 ff. 398 Russell, Philosophie, a.a.O., S. 130. 399 Carl, a.a.O., S. 218 ff. 400 Ibid., S. 219. Siehe auch G. Imaguire, Russells Frühphilosophie. Propositionen, Realismus und die sprachontologische Wende. Hildesheim, Zürich, New York 2001, S. 175 ff.

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vielmehr von den „absolut unbestreitbaren Fakten“.401 Die Analyse geht von den offensichtlichen, aber zugleich mehrdeutigen Dingen, bzw Sachverhalten aus und gelangt so „zu etwas Präzisem, Klarem und Bestimmten […], von dem wir durch Reflexion und Analyse feststellen, dass es in dem Vagen, von dem wir ausgehen, enthalten ist und sozusagen die eigentliche Wahrheit ist, von der dieses Vage nur eine Art Schatten ist“.402 Knowledge by description, die Wissensform des nicht in unmittelbarer Wahrnehmung und Präsenz Gegebenen, bedeutet, dass die Bekanntschaft mit Gegenständen auch durch eine Beschreibung (description) gewonnen werden kann, die für das Verstehen verlangt, dass jeder Satz „vollständig aus Konstituenten zusammengesetzt (ist), mit denen wir bekannt sind“.403 Dieses epistemologische Leitprinzip des logischen Atomismus vollzieht Wittgenstein in seinem ‚Tractatus‘ noch in der Aussage mit: „Man versteht einen Satz, wenn man seine Bestandteile versteht“ (4.024). 3. Umbau und Gehalt der Philosophie nach Russell (1) Russell selbst datiert die große anti-idealistische Zäsur seiner erkenntnistheoretischen Auffassungen in das Jahr 1918, als er die (auf Franz Brentano zurückgehende) Struktur von Sinneseindrücken (sensations) (Bewusstseinsakt – Inhalt des Aktes – Gegenstand) aufgab. Damit verbindet sich bei Russell die Preisgabe der Subjekt- und Bewusstseinstheorie. Unter den Begriffen „Subjekt“ und „Bewusstsein“ versteht er mit William James nichts anderes als eine Fiktion, ein bloßes Geräusch.404 Dies hat Konsequenzen: Mit dem Subjektbegriff gibt Russell auch die Rede von Sinnes- oder Wahrnehmungsdaten auf.405 Er betonte rückschauend, dass es sich dabei nicht um einen reduktionistischen Schritt handelt. Vielmehr ergäben sich auf diesem Weg „komplizierte Strukturen“, wo zuvor einfache waren. Ockhams razor, das Prinzip der optimalen Schlankheit einer Theorie, ist also keineswegs in jedem Fall erfüllbar, im Ganzen aber kommt er darin zur Anwendung, dass mit dem Dualismus auch die Komplikationen aufgelöst werden, die er mit nach sich zieht. Dies führt Russell bekanntlich auf die Konzeption eines „neutralen Monismus“, der keine grundsätzliche qualitative Differenz zwischen „Natur“ und „Geist“ annimmt. Dies ermöglicht eine komplexe Lernfähigkeit, die durch organische 401 Vgl. Russell, Human Knowledge, a.a.O., S. 73 ff. und ders., Philosophy, a.a.O., S. 175 ff. 402 Russell, Philosophy, S. 179 f. 403 Russell, Knowledge by Acquaintance and Knowlegde by Description, in: ders., Mysticism and Logic. London 1963, S. 152 ff., hier S. 159 und Carl, a.a.O., S. 237. 404 Russell, Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens, a.a.O., S. 138. 405 Vgl. ibid., S. 55 ff. mit Bezug auf Brentano und den amerikanischen Pragmatismus.

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Reiz- und Reaktionsverlagerungen initiiert wird, bei denen Sinneseindrücke mit anderen physiologischen Vorgängen gepaart auftreten. Russell gab den, subjektphilosophische Impulse anklingen lassenden Terminus „acquaitance“ auf und sprach stattdessen von „notice“: „bemerken“ als elementarem Begriff von Wissenserwerb. Neben anderen emphatischeren Begriffen für ‚Wissen‘, deren Vorkommen und Gebrauch Russell zugibt, ist die Elementarform von Wissen dann, dass sinnliche Vorgänge zusätzlich auch bemerkt werden.406 Dieser realistische Holismus führt dazu, dass die Trennung zwischen Innenwelt und Außenwelt, die Cartesianische Differenz keine Rolle spielt. Von hier her bestimmt sich Wahrnehmung nach Russell gerade nicht mehr als bloßer Besitz von Sinneseindrücken, sondern als Ausschneiden und Fokussierung auf einzelne Eindrücke innerhalb eines Gesamterlebens. Als Kriterium für den Besitz von Bewusstsein nennt Russell dann einerseits, dass beobachtbare, aus der 3. Person-Perspektive zugängliche Handlungen vorliegen müssen, die z.B. einen Lernvorgang durch eine Verhaltensänderung verdeutlichen. In diesem Sinn würde auch Tieren Bewusstsein zukommen.407 Auch ein zweiter Bewusstseinsbegriff wird benannt: Er führt wieder auf das Bemerken (notice) zurück, dass sich in der Umgebung etwas verändert. (2) Russells Konzeption von Sprache ist eine Folge aus diesem Ansatz. Den richtigen Gebrauch von Worten kann man kriteriologisch daran erkennen, dass das Wort „beim Durchschnittshörer die beabsichtigte Wirkung hervorruft“.408 Zwischen Wort und Bedeutung besteht nach Russell eine Art Kausalzusammenhang, so dass das Verhalten beim Hören dieses Wortes in gewisser Weise festgelegt ist: Das Wort ruft unter Normalbedingungen und im Normalfall ein bestimmtes Verhalten hervor. Dies ist jedenfalls bei Objektwörtern der Fall, wobei Russell als das entscheidende Kriterium angibt, dass das Objekt ‚bezeichnet’ werden kann. Wo diese alltagstaugliche Demonstrabilität nicht gegeben ist, kompliziert sich die Sachlage. Es müssen zusätzliche Kriterien zur Kennung von Bedeutung eingeführt werden. Vor allem kommt er nicht umhin, die Kausalität indirekter zu fassen und von Erinnerungs- bzw. Vorstellungsbildern zu sprechen. Die Bedeutung von Worten versteht man, wenn man (1) das Wort richtig, auf Anlass und Situation hin stimmig gebraucht; (2) sich angemessen verhält, wenn man das Wort hört; (3) es Synonymen oder bedeutungsadäquaten fremdsprachlichen Ausdrücken zuordnen kann; (4) dass man damit bestimmte Vorstellungs- oder (5) Erinnerungsbilder verwendet.409 406 Russell, Philosophie. Die Entwicklung, a.a.O., S. 145 und ders., An Outline of Philosophy, a.a.O., S. 145. 407 Vgl. ibid., und nochmals die einschlägigen Arbeiten von Tomasello als Belege aus der gegenwärtigen Ethologie. 408 Russell, Philosophie, a.a.O., S. 150. 409 Vgl. u.a. Russell An Outline, a.a.O., 150 ff., siehe auch W. Stegmüller, Der Phänomenalismus und seine Schwierigkeiten. Darmstadt 1969.

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Wenn Wörter nur im Satzzusammenhang und nur zur Bezeichnung komplexer Sachverhalte begegnen, so ist die Bedeutung nur innerhalb der Struktur eines Ganzen analysierbar. Jedem Linguistizismus und jedem Versuch einer agnostischen Skepsis, der Tendenz, einen realistischen Weltzugang durch Sprache zu bestreiten, erteilt Russell eine klare Absage. Ein elementarer metaphysischer Realismus, die Voraussetzung der Außenwelterkenntnis muss deshalb schon in der Bedeutungsanalyse des logischen Atomismus mit vorausgesetzt werden. Der neutrale Monismus führt zur Immunisierung gegenüber jedweder Tendenz, die Philosophie von Sach- auf Sprachprobleme umzustellen, die Russell mit befreiender Klarheit als Aberglaube und Mystizismus versteht. Wörter sind seinem Monismus gemäß Tatsachen in der Welt, und Sprechen ist nichts anderes als die Herstellung eines Kontaktes mit der Außenwelt. (3) Noch offensichtlicher wird die Grundhaltung des logischen Atomismus am Nervus probandi des Wahrheitsbegriffs. Russell weist ausdrücklich die pragmatistische Auffassung zurück, dass die Wahrheit von Meinungen oder Überzeugungen auf bestimmten wünschenswerten Wirkungen und eine praktische Bewährung zurückzuführen wäre.410 Auch dem pluralen, bzw. pluralistischen Wahrheitskonzept erteilt Russell mit seiner vernichtenden, von den Pragmatisten wie William James zurückgewiesenen Paraphrase eine entschiedene Absage: „Etwas ist wahr, wenn es sich auszahlt, dass man es für wahr hält“.411 Die petitio principii, die in dem (auch heute wieder en vogue seienden) pragmatistischen Wahrheitsbegriff unweigerlich vorkommt, benennt Russell als theoretisches Sinnkriterium für die Unhaltbarkeit des pragmatistischen Wahrheitsbegriffs: bevor man den Wahrheitswert einer Meinung kennt, beansprucht man die Auswirkungen zu kennen und diese Auswirkungen in die moralische Leitdifferenz von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ einzuordnen. Dem tritt bei dem ethisch und politisch so engagierten Russell auch ein universalistisch praktischer Grund an die Seite: Der Pragmatismus beansprucht zwar, einen Standpunkt von Freiheit und Toleranz, de facto kann er jedoch keine übergreifende Konzeption von Gerechtigkeit oder Frieden entwickeln, kein, wie der späte Husserl sagen würde, „Ideal einer geeinten Menschheit“.412 Deshalb bleibe der Pragmatismus auf seine eigene europäische Herkunftskultur fokussiert und folge im Konfliktfall dem Sieg der stärkeren Bataillone. Für Russells eigenen Wahrheitsbegriff ist dann ein Zweifaches entscheidend: 410 Russell, An Inquiry into Meaning and Truth. London 1965, S. 45 ff., und ders., Unser Wissen von der Außenwelt, a.a.O., S. 71 ff. 411 Russell, Philosophie, a.a.O., S. 181. 412 Dazu E. Husserl, Husserliana Band XXVIII, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre 1908−1914, hg. von U. Melle. Den Hag 1988, S. 20 ff. im Kontext der späten Kaizo-Artikel. Dazu Chr. Spahn, Phänomenologische Handlungstheorie. Edmund Husserls Untersuchungen zur Ethik. Würzburg 1996, S. 198 ff.

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erstens, dass er sich primär auf Meinungen und Überzeugungen bezieht, und erst sekundär auf Sätze.413 Russells sprachtheoretischer Realismus lässt diesen Unterschied allerdings nicht kategorial, sondern eher graduell sein. Eine Behauptung oder Meinung braucht einen Verifikator, um in Wahrheit wahr zu sein. In den seltensten Fällen wird es jedoch bei einem einzigen Verifikator bleiben. Ob hier eine Pluralität von Fällen oder ein singulärer Fall vorliegen, Behauptungen, die wahr sein sollen, müssen auf Tatsachen zurückgeführt werden können, die mit der Behauptung oder Empfindung in einer kausalen Weise verbunden sind. 4. Der Ort der Psychologie: Neutraler Monismus (1) Die starke Bedeutung der Psychologie in Russells Denken überrascht, wenn man den Ansatz des logischen Atomismus nochmals explizit in den Blick nimmt. Russell vertritt dabei die Ansicht, dass das physische Leben gänzlich aus Empfindungen und Vorstellungen besteht, die ihrerseits in ein System eingegliedert sind, das selbst als physischer Gegenstand verstanden werden muss. Für die psychologisch informierte Kritik an den Fiktionen des Bewusstseins und der Dualität von Subjekt und Objekt greift Russell wie selbstverständlich auf die Entdeckung des Unbewussten bei Nietzsche und Freud zurück. Doch bemüht er sich um eine Entmythologisierung des Unbewussten, das er gleichsam renaturalisiert. Im vermeintlich Unbewussten zeigen sich kausale Verhaltensgesetze des Monismus, „nämlich, dass wir solange eine ruhelose Tätigkeit entfalten, bis ein gewisser Zustand der Dinge verwirklicht ist, der uns ein zeitweiliges inneres Gleichgewicht verschafft“.414 Das Gesamtkonzept des „Geistes“ erweist sich selbst als eine Konstruktion, die Russell zunächst in der Untersuchung der Phänomene außer acht lässt. Er wendet sich vielmehr zunächst psychischen Akten wie „Instinkt und Gewohnheit“ zu, welche hypothetischen Gesetzen über Lernen und Verhaltenserwerb unterliegen.415 Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist dabei nicht absolut, sondern fließend. Menschen unterliegen denselben Gesetzmäßigkeiten, und bei Mensch und Tier erweist sich der Instinkt gleichermaßen als eine nur grobe Richtungsanzeige, die durch Wiederholung und Ausbildung eines Habitus, also durch „Lernen“ erst geschärft wird. Am Begehren, das er ebenfalls entmystifiziert, zeigt Russell, wie jeder psychische Vorgang (von der Empfindung, über Vorstellung und Glaube) „die Ursache einer Reihe von Handlungen werden [kann], die, wenn

413 Russell, An Inquiry into Meaning and Truth, a.a.O., S. 54 ff. 414 Russell, Die Analyse des Geistes. ND. Hamburg 2000, S. 39 ff. 415 Ibid., S. 59 ff.

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sie nicht unterbrochen wird, solange fortgeht, bis ein mehr oder weniger bestimmter Zustand erreicht ist“.416 Russell nennt dies einen jeweiligen „Zyklus des Verhaltens“, wobei die psychischen Initiierungen des Zyklus unterschiedliche Grade der Klarheit und Explizitheit annehmen können. Ein Zyklus wird jeweils durch eine Empfindung der Unlust hervorgehoben und sein Ende wird durch einen Zustand der Lust, bzw. der Befriedigung angezeigt. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Prägekraft der Vergangenheit für den lebendigen Organismus. Es gibt eine Art Leib- oder Organismusgedächtnis, das sich in erworbenen Gewohnheiten, in Vorstellungen von vergangenen Ereignissen manifestiert, die einen „mnemischen Charakter“ haben und auf Abbilder früherer Empfindungen hinweisen. Auch Assoziationen spielen dabei eine Rolle. In ihnen kann die Erinnerung an eine vergangene Empfindung denselben Zustand wieder hervorrufen, der während dieser Empfindung bestand.417 Russell wird hier nicht nur durch psychologische Theoriebildungen bestätigt. Auch die fiktionale und nicht-fiktionale Erinnerungsliteratur ist voll von solchen Zusammenhängen; man denke nur an Prousts Madeleine-Beispiel aus der ‚Suche nach der verlorenen Zeit‘. Die mnemische Verursachung von Erinnerungen oder Assoziationen versteht Russell, ganz im Sinn der Ontologie des logischen Atomismus, als Kausalitätsverhältnis. Diesen Anspruch betont er auch, u.a. gegenüber Bergson.418 Man muss aber sehen, dass er dabei einen sehr schwachen Kausalitätsbegriff zugrunde legt. Ganz in der Humeschen Tradition hält er fest, dass „die kausalen Gesetze lediglich als beobachtete Gleichförmigkeiten der Abfolge anzusehen“ sind.419 Seine Kausalitätskonzeption plausibilisiert Russell im Blick auf die Quantenmechanik, die in tradierten Theorien konstatierte Ursache-Wirkungszusammenhänge in Frage stellt. Konstatiert werden kann und muss, dass die Natur im Prozess ständiger Veränderungen begriffen ist. Es kann daher nur Annäherungen an Kausalgesetze geben. Denn „von den exakten Gesetzen, wie die Physik sie annimmt, wissen wir zwar, dass sie irgendwie der Wahrheit nahe kommen, aber wir wissen nicht, ob sie so, wie sie dastehen, wahr sind“.420 Der Tendenz nach ist diese, die Möglichkeit von Falsifikation einschließende schwache Form des Kausalgesetzes in Physik und Psychologie gleichermaßen gegeben. Strenge Kausalgesetze können zwar formuliert werden, empirisch bestätigt ist es aber nur durch Annäherungen. Deshalb gehen die auf Empirie

416 417 418 419 420

Ibid., S. 87. Ibid., S. 93 f. Ibid., S. 207 f. und S. 215 f. Ibid., S. 105. Ibid., S. 113.

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bezogenen Wissenschaften, wie die Psychologie, von Sätzen der Form aus: „Auf A folgt gewöhnlich B“.421 Auf die weitergehende Warumfrage könne es keine belastbaren Auskünfte geben. Hoch interessant für die neurowissenschaftlichen Erkenntnisexplosionen im 3. Jahrtausend n.u.Z ist Russells Hinweis, er sehe keinen schlüssigen Beweis dafür, „dass jedem Unterschied zwischen dem Wissen des A und des B irgendein Unterschied zwischen ihren Gehirnen entspricht“.422 Deshalb spreche viel dafür, es bei der Hypothese zu belassen, dass die mnemische Erscheinungen die letzte Erklärung bilden, zu der man gelangen kann. (2) Ebenso wie Russell den selbständigen Geist für eine Fiktion erachtet, so auch die Materie. Die Differenzen zwischen Physik und Psychologie werden einerseits von Russell als minimal charakterisiert. Die Physik verknüpfe verschiedene Elemente zu einem Stück Materie, die Psychologie dagegen verbinde dieses eine Element mit anderen zu einer jeweiligen Perspektive. Gleichzeitig betont Russell einen radikalen Unterschied, der sich darin zeige, dass in der Philosophie die zugehörige Elementengruppe aufgelöst werden muss. „Die Psychologie beschäftigt sich unter anderem mit unseren Empfindungen, wenn wir ein Stück Materie sehen, im Gegensatz zu dem Stück Materie, das wir sehen“.423 Ein besonderes Gewicht in Russells ‚analysis of Mind‘ gehört den Emotionen. Eigenständig im Gegenüber zu der umfangreichen Literatur, die er konsultiert (v.a. James und Sherrington) ist die Einsicht in die Komplexität von Emotionen. Sie seien viel komplizierter als bloße Wahrnehmungen. Sie seien als Prozesse zu verstehen. Gemäß Russells Verständnis des Teil-GanzesVerhältnisses sind solche Prozesse nicht selbständige Elemente, sondern haben ihren Ort und ihre Funktion nur innerhalb des Prozesses im Ganzen.424 Von Emotionen unterscheiden sich Volitionen, Willensakte, die Russell als willkürliche Bewegung definiert,425 im Unterschied zu den unwillkürlichen Bewegungen der Physis wie dem Herzschlag. Im Willensakt kommt zu der Willkür noch ein Entschluss: „ich werde das tun“. Und: An der Ausbildung des Willensprozesses sind in der Regel widerstreitende Begierden beteiligt, die zeitgleich in verschiedene Richtungen verweisen. Augenfällig ist, dass Russell damit einerseits die Aristotelische Konzeption der von Willen und Vorzugswahl (Prohairesis) unterstreicht, andererseits aber eine Tendenz der jüngeren philosophisch-ethischen Forschung vorbereitet, die sich wieder vermehrt dem Gefühlswert der Ethik zuwendet.

421 422 423 424 425

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Ibid., S. 113. Ibid., S. 108. Ibid., S. 386. Dazu Imaguire, Russells Frühphilosophie, a.a.O., S. 107 ff. und S. 200 ff. Russell, Die Analyse des Geistes, a.a.O., S. 364 f.

1. Russell und die Husserlsche Phänomenologie: Indirekte Annäherungen

Damit hängt es zusammen, dass, wie Russell immer wieder betont, Physik und Psychologie nicht durch ihren Stoff unterschieden sind, sondern eben durch ihre unterschiedliche methodische Zugänglichkeit;426 zu den Kausalgesetzen, die die Psychologie untersucht, gehören prominent Subjektivität und mnemische Verursachung. Subjektivität sei dabei nichts anderes als die Gruppierung dieser mnemische Verursachung (II). Die großen psychischen Phänomene: Gewohnheit, Erinnerung, Denken seien zunächst auf die mnemische Verursachung zurückzuführen. Wie gesagt, lässt es Russell offen, ob ihnen noch eine physiologische Verursachung zuzuschreiben ist. Damit erweisen sich (IV) Bewusstsein und (V) Geist als Merkmale der psychischen Erscheinungen, die sich nach deren Komplexität bemessen. 5. Psychologie und Moral (1) Ihren dauerhaft präsenten prominenten Ort hat eine Psychologie der Leidenschaften und Affekte in allen ethischen und moralischen Schriften Russells, die einen Teil seines Ruhms ausmachen und in ihrem pazifistischen,427 sozialen, aufgeklärt hedonistischen Engagement ihn tatsächlich als eine der wichtigen Aufklärungsgestalten des irrationalen, vom Verrat der Intellektuellen geprägten 20. Jahrhunderts ausweisen. Ähnlich wie Thomas Mann, propagierte er ein Konzept von Aufklärung, die in „die Tiefen der Hölle“ schaut und sich nicht fürchtet.428 Mit dieser „Erziehung ohne Dogma“ hängt es zusammen, dass Russell den Menschen als Staubkorn im All sieht, dem aber in seinem Denken zugleich höchste Würde zukommt, als stets gefährdet, gerade dann, wenn er sich den höheren evolutiven Gipfeln nähert.429 Der Psychoanalytiker Josef Rattner verweist zu Recht darauf, dass dieses Erziehungsmodell in seinem Kern psychoanalytisch geprägt ist, obgleich es die Mystifikationen und die Fixierungen auf Libido und Todestrieb vermeidet, die der Freudschen Psychoanalyse eingeschrieben sind. Prominent bleibt die Psychologie vor allem im ethischen Rayon. Denn die Fragen der Ethik sind für Russell konsequent ein „Derivat der Leidenschaften“,430 weshalb es keine bündige Methode gibt, von den Leidenschaften aus

426 Ibid., S. 394. 427 Vgl. dazu E. R. Sandvoss, Russell. Reinbek 1980, S. 94 ff. und jetzt die magistrale Biographie R. Monk, Bertrand Russell: 1921−1979. The Ghost of Madness. London 2000. 428 Dazu J. Rattner, Bertrand Russell. Ein Essay. Berlin 2016, S. 79 ff. Siehe auch programmatisch Th. Mann, Freud und die Zukunft (1936), in: ders., Reden und Aufsätze. Band 1. Frankfurt/Main 1990, S. 478 ff. 429 Russell, Autobiographie. Band III 1944−67. Frankfurt/Main 1972, S. 43. 430 Ibid., S. 36 ff.

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zu einer ethischen Erkenntnis zu kommen. Russell gesteht zwar selbst ein, dass ihn David Humes Maxime, wonach die Vernunft nur der Sklave der Leidenschaften sei,431 selbst nicht befriedige, doch sehe er auch keine Möglichkeiten, darüber mit guten Gründen hinauszukommen. Glückserwartung kann dann nur auf eine möglichst gut abgestimmte hohe Kompossibilität von Wünschen gegründet werden und das ethische Prinzip, dass Glück dem Leiden vorzuziehen ist, kann als Prinzip der Ethik gelten, ist aber selbst unbeweisbar. Bei der Wahl der ethischen Zwecke und Lebensformen spielt demgemäß weder die Philosophie noch die Vernunft die konstitutive Rolle.432 Vernunft kann aber dazu beitragen, dass die Unvereinbarkeit verschiedener Ziele oder auch ein politischer Missbrauch eigener Ziele und Zwecke erkannt wird. Leidenschaften sollen nicht sublimiert, sie sollen aber in eine größte mögliche Harmonie gebracht werden, was umso dringender geboten ist, je enger Menschen zusammenleben.433 Ein glückliches Leben schließt daher einen richtig verstandenen Hedonismus ein, den Russell mit Menschenkenntnis und Erfahrungswissen erfasst und aus der Harmonie zwischen Instinkt, Verstand und Geist komponiert denkt, wobei mit Verstand die objektivierte Fähigkeit des Denkens, mit Geist diejenige eines umfassenden Gefühls, „die Ahnung einer tiefsten Wahrheit der Welt“, gemeint ist.434 Russell evoziert dabei als sinnvoll gerade Zwecke und Ziele, die einen zweckfreien Überschuss bezeichnen und eben darin erst das vollständige und transzendente Leben des Geistes ausmachen. Vom Unpersönlichen und Universellen ist die Rede, das sich in Werten wie Gott, Wahrheit und Schönheit dokumentiere. Russell kommt damit dem über-epistemischen Verständnis nahe, das Wittgenstein der Ethik zuwies. Ein Buch, das wirklich ein Buch über Ethik sei, mache alle anderen Bücher überflüssig, formulierte Wittgenstein provozierend.435 Doch für Russell ist der ethische Gesichtspunkt nicht ein gleichsam religiös-mystischer Grenzwert. Er soll vielmehr in concreto menschliches Handeln in einer zutiefst zerrissenen Welt anzeigen. Dies ist unabhängig von der Psychologie gar nicht zu erfassen. (2) Psychologie löst sich in ihrem ethischen Gebrauch aus der funktionalistischen Begriffssprache der Theoriebildung, sie wird, je mehr Russells Werk, auch im moralischen Gewicht seiner Person von einer Weltöffentlichkeit rezipiert wurde, zu einer über-pragmatischen scharf beobachtenden Moralistik.

431 Ibid., S. 37. 432 Russell, Eroberung des Glücks, Frankfurt/Main 1977, S. 7 ff., dazu F. Decher, Auf der Suche nach dem guten und glücklichen Leben. Cuxhaven und Dartford 1996, S. 13 ff. 433 Russell, Eroberung des Glücks, a.a.O., S. 167 ff. 434 Ibid., S. 167 f. Vgl. ders., Neue Hoffnung für unsere Welt. Wege in eine bessere Zukunft. Darmstadt 1952. 435 L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Frankfurt/Main 1989, S. 13 und S. 19.

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Dies zeigt sich etwa an der Beschreibung von Lebensformen, die geradezu zwingend ins individuelle Unglück führen müssen: worunter Russell unter anderem den Typus des Sünders summiert, der sich ständig ein Bild entgegenhält, das gegen sein faktisches Sein steht. Er bleibt in einem Circulus vitiosus zwischen scheiternden Lebensplänen und eingebildeten Sünden befangen, während der Größenwahnsinnige, sein Gegenbild, schließlich nach unbegrenzter Macht strebt, die zum einzigen Lebenszwecke wird und damit ins Pathologische umschlägt. „So gehen politische und seelische Verdrängung Hand in Hand. Und wo eine seelische Verdrängung in ausgesprochener Weise stattfindet, kann wahres Glück nicht gedeihen. Macht, die in ihren Grenzen gehalten wird, kann viel zum Glück beitragen, als einziger Lebenszweck aber führt sie, wenn nicht äußerlich, so doch innerlich zum Unheil“.436 Dies sind moralistische Eisichten in den Seelenhaushalt, die gleichermaßen an der antiken und aufklärerischen Moralistik geschult sind und einen unmittelbaren Zugriff auf das menschliche Leben wagen. Dieser Ansatz findet ein weiteres markantes Betätigungsfeld, wenn Russell die emotionale Lethargie beschreibt, die in einer desorientierenden Massengesellschaft den Einzelnen erfassen könnte. Relevant bleibt dies vermutlich auch in der globalen Gesellschaft des „Weltinnenraums des Kapitals“.437 An diesem Punkt scheut sich der psychologisch aufmerksame Aufklärer auch nicht, eine Methode anzuwenden, die in der Ethik immer wieder erfolgreich appliziert wurde: den Ratschlag. Dabei kann eine Maxime, inter alia, hervorgehoben werden: „Vergiss nicht, dass deine Motive nicht immer so selbstlos sind wie dir scheint“.438 In dem glänzenden Essay über ‚Ehe und Moral‘, der Russell wesentlich den Nobelpreis für Literatur eintrug, formuliert er den Ratschlag einer Umkehrung des Gesichtspunktes gegenüber ethischen Formen, die mit schwarzer Psychologie und Gewissensqualen arbeiten: „Die Selbstbeherrschung wird mehr darauf verwendet werden, sich der Einmischung in die Freiheit anderer zu enthalten, als die eigene Freiheit, wie es oft geschieht einzuschränken“.439 Durch eine sensibilisierende, einschlägige Erziehung werde die Einnahme dieses Standpunktes wohl verhältnismäßig leicht fallen. Doch „die angenehme Form der Verfolgung sich zu versagen, das primäre Veto gegen die Handlungen anderer im Namen der Tugend,“440 sieht Russell gleichwohl als nicht einfache Aufgabe an. Der Hedonismus, den Russell vor Augen hat, ist alles andere als hemmungslos. Er degradiert bei allem emanzipatorischen Impetus 436 Russell, Eroberung des Glücks, a.a.O., S. 18. 437 So in Anspielung auf P. Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung. Frankfurt/Main 2005. 438 Russell, Eroberung, a.a.O., S. 87, dazu Decher S. 39. 439 Russell, Ehe und Moral. Darmstadt 1984, S. 212. 440 Ibid.

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konventionelle Formen wie die Ehe nicht und zielt vielmehr auf „die tiefe körperliche, geistige und seelische Intimität,441 die jeweils eine eigene individuelle Austarierung der Moral fordere. Psychologische Kenntnisse und eine Auslotung des Glücks werden diese Moral anleiten, bei der es für Russell entscheidend ist, dass die Ehe dort, wo nicht Kinder mit involviert sind, Privatheit und Autonomie genießen sollte. Dass ein solches gelingendes Leben auch wechselseitige Opfer verlangt, aber eben Opfer, die in Freiwilligkeit erbracht werden, weiß Russell. (3) Begriffe, die Russell in der theoretischen Philosophie nicht zulassen würde, haben im Spannungsfeld von Psychologie und Moral durchaus ihre Berechtigung. Dies gilt insbesondere für ein so ominöses Feld wie die Einheit des Ich. Unglück nämlich, so hält Russell fest, „beruht auf irgendeiner Art Zerfall des Ichs oder auf Mangel an Ganzheit“ –442 und im Gebrauch einer Begrifflichkeit, die in einer „morale provisoire“443 ihren leitenden Sinn hat, aber erkenntniskritisch gerade nicht einzuholen ist, wird der fehlende Zusammenhang zwischen Bewusstem und Unbewusstem, und zwischen Ich und Welt als Grund dieses Ganzheitsmangels bemerkt. Inbegriff des Glücks ist daher ein Zustand der umfassenden Daseinsbejahung, in der sich der Mensch als „Bürger des Alls“ versteht, „der ohne Hemmung das Schauspiel“ genießen kann.444 Nietzsche oder Freud werden von Russell in ihrer abgründigen Aufschlüsselung der psychischen Mechanismen und Abgründigkeiten aufmerksam registriert. Sie werden jedoch im besten Sinn liberal rezipiert: Auch darin würde ich eine gewisse Vorbildhaftigkeit sehen. Würdigend sei nur angemerkt, dass dieser freie, kooperative Blick ohne die ehernen Bande einer alles erklärenden Sozialmetaphysik oder -physik und eines weltbürgerlichen Engagements in hedonistischer Absicht zu den befriedendsten und erhellendsten Aspekten von Russells Lebenswerk gehört. Es ist zugleich eine angelsächsische Perspektive, aus der sich institutionell und persönlich lernen lässt. Russell ist ein freier Geist, der sich nicht in die metaphysische Einsamkeit verkapselt und zwischen Institution und Einzelnem gerade nicht den großen Bruch der Entfremdung und Entzweiung sieht, sondern die Brücke der Kooperationen und Zugehörigkeiten im Common Sense schlägt, wie sie sich beim Ineinandergreifen der abgestimmten Ruderbewegungen in Cambridge oder Oxford bewährt. Was Russell über manche Zukunftsaussagen, wie ein faires Wirtschaftssystem sagt, ist unzureichend und kann gewiss nicht die ökonomietheoretischen Untiefen der Allokation in der

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Ibid., S. 213. Russell, Die Eroberung des Glücks, a.a.O., S. 171, dazu Rattner, S. 94. So möchte ich Russells Konzeption in Anspielung auf Descartes nennen. Russell, Eroberung, S. 171.

1. Russell und die Husserlsche Phänomenologie: Indirekte Annäherungen

Globalisierung lösen, doch es zielt auf eine Verbindung von Freiheit und Sicherheit, auf die Inspiration und Stärkung von Kreativität und gibt insofern aufgeklärte Maßstäbe vor, die auch in der globalen Welt zu berücksichtigen sind. Besonders tieflotend sind Russells Überlegungen zur Macht, er Liebe zu ihr und zur Möglichkeit ihrer Begrenzung. Russell versteht sie als Ausdruck der menschlichen Zwecksetzung, zur Befriedigung und Erfüllung der eigenen wesentlichen Wünsche zu gelangen. Macht ist erforderlich, um einen Anderen glücklich zu machen, sie sollte indessen immer Mittel bleiben, niemals zum letzten Zweck verabsolutiert werden. Machtliebe ist aber nicht eo ipso verwerflich. Aus der Finalität des Glücks folgert er aber, dass auch die Wohltätigkeit die eigenständigen Zwecke des Empfängers und nicht nur des Wohltäters verfolgen solle. So resultiert aus dem psychologischen Zugriff auf die ethischen Phänomene eine Grundlinie des wohlverstandenen Altruismus, die nicht auf Regeln, sondern auf Klugheit und Urteilskraft orientiert ist, also im besten Sinn der Phronesis folgt.445 Ich will hier nur andeuten, dass auch das politische Engagement Russells bei all seiner Radikalität diese common sense-Wohltemperiertheit nicht verlor, die in den Rahmen der offenen Gesellschaft gehört und Revolution ebenso wie Diktatur als nicht zu rechtfertigende Eingriffe in das Leben des Einzelnen ablehnt. 6. Russell und Husserl noch einmal: Für eine selbstbegrenzte und moralisch sensible Aufklärung (1) Die Verhältnisbestimmung von Philosophie und Psychologie, die sich als Grundkonstante aus Russells Werk ergibt, führt abschließend zu einer bestimmten Bauform von Russells Denken: Der logische Atomismus legt eine relativ enge Begrenzung der eigentlich philosophischen Probleme und ihre Rückführung auf logische Strukturen nahe. Daraus ergibt sich, dass aus der Philosophie für die bewegende Frage, wie man leben soll, wenig Belastbares zu folgern ist. Russells anti-idealistische, realistische Wendung gegen Ende der zwischen 1905 und 1919 datierenden produktivsten Phase seines Denkens ermöglicht aber einen erweiternden Blick auf das Themenfeld von Ethik und Politik. Hier kommt der Psychologie und ihrer Argumentation die bestimmende Rolle zu. Auch in Russells Theoretischer Philosophie wird die Psychologie nicht einfach gebannt und Annahmen der Ontologie des logischen Atomismus gehen in das psychologische Setting ein. Der Behaviorismus

445 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik Buch VI., hg. von H.-G. Gadamer und D. Di Cessare. Frankfurt/Main 1998.

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gehört zu den bewusst eingestandenen Vorurteilen, an deren Leitfaden Russell seine philosophische Problemarbeit orientiert. In der Philosophie können, Russell zufolge, die psychologischen Probleme aber nicht eine eigene argumentative Dignität beanspruchen. (2) Abschließend erweist sich die Vergleichsperspektive auf Husserls phänomenologischen Ansatz und den Weg „zu den Sachen selbst“ noch einmal als instruktiv: Der Ansatz zu einer Philosophie als strenger Wissenschaft, die die Sache selbst erfasst und zugleich eine hohe ethische Sensibilität aufweist, wird in beiden Fällen gewagt, bei Russell allerdings in einem Monismus, der die Subjektperspektive gänzlich preisgibt. Zwischen Russell und Husserl könnte insofern das Gespräch um moderne ‚kontinentale’ und ‚angelsächsisch-analytische‘ Traditionsbildung noch einmal einsetzen. Denn beide folgen in ihrer philosophischen Arbeit der Maxime, dass der Cartesianisch/Kantische Dualismus von Erscheinung und Wesen, Realismus und Idealismus aufzugeben sei. Zwei Fragen sind daher weiterführender und neuer philosophischer Reflexion aufgegeben: (1) Was bedeutet die methodologische Differenz zwischen transzendental-egologischer Phänomenologie und logischem Atomismus für die Überzeugungskraft des realistischen Holismus?446 (2) Ist der Husserlsche Weg eines Anti-Psychologismus oder ist vielmehr der Russellsche einer kritischen Integration weiterführend? Die psychologische Problematik hat offensichtlich weitreichende Folgen für die Tektonik beider Ansätze und insbesondere für den Ort der Ethik. Während Husserl die Ethik innerhalb der bewusstseinsphilosophischen Monadologie als Verantwortungs- und Einigungsethos für die Menschheit gegenüber dem Zerfall und der Rebarbarisierung Europas in den späten zwanziger und dreißiger Jahren zur Geltung bringt,447 etabliert Russell die ethische Problematik außerhalb der Philosophie, in einer moralistisch wachen, intellektuellen Zeitgenossenschaft! Ethik ist eine Frage der Beratung und des gelebten Common sense: Unstrittig scheint hier eine deutliche Differenz zwischen angelsächsischem und deutschem Philosophiestil auf. Husserl folgt letztlich einer durchgängigen philosophischen Systematik, während Russell einzelne irritierende Sachverhalte in den Blick nimmt und unter das Vergrößerungsglas der Analyse hält. Dies hat, wie immer man den Ertrag und die Schlüssigkeit der theoretischen Philosophie beurteilt, ethisch den Vorzug, dass mir der andere nicht nur als „Anderer meiner selbst“ im Bewusstseinsstrom vor Augen gestellt wird, sondern in der konkreten, frei und inspirierend interpretierten 446 Eben hier eröffnen sich m.E. neue Forschungswege, die von Russell her geeignet wären, analytische und kontinentale Tradition neu in ein Gespräch zu bringen. Vgl. dazu auch die weiterführenden Arbeiten von U. Meixner, Defending Husserl. A Plea in the Case of Wittgenstein & Company Versus Phenomenology, de Gruyter, Berlin-Boston 2014. 447 Dazu der schöne Überblick bei Sandvoss, Russell, S. 82 ff.

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Begegnung. Ethik und Kommunikation verlieren in diesem Horizont die geharnischte Begrifflichkeit. Sie werden, was sie in den verschiedenen antiken Traditionen praktischer Philosophie immer waren: konkret betätigte Urteilskraft im Lebensvollzug. In dieser Verbindung von Psychologie und Philosophie gewinnt Russell sein aufklärerisches, mäßigendes und mutiges Profil, das in einer Zeit wiederkehrender Zerstörung der Vernunft und populistischen Furors neue Überzeugungskraft entfalten kann. Von der großen Mitteleuropäerin Agnes Heller, die im Sommer 2019 starb, kann man lernen, dass die moralischen und politischen Fragen direkt und einfach sind: Es geht um Verständigung und um eine wache politische Haltung zur Welt. Dass Bertrand Russell bereits in diesem Geist dachte, kann ihm die Nachwelt bis heute danken! 2. Wittgensteins Welten 1. Das andere „Zu den Sachen selbst“ Ludwig Wittgenstein teilt mit Heidegger – und übrigens auch mit der schlechthin negativen deutschen Schicksalsfigur Adolf Hitler – das Geburtstjahr 1889. Seine Wirkungsgeschichte beginnt, vermittelt über Wittgenschüler wie George D. Moore, Georg von Wright und viele andere in der angelsächsischen Welt. Dort wurde Wittgenstein für die analytische Philosophie normativ schon unmittelbar nach seinem Tod prägend. Wittgenstein erahnte indessen früh das Gefälle zwischen eine schulhaften Ausbuchstabierung sprachphilosophischer Bedeutungsgehalte und der Zielsetzung seiner eigenen philosophischen Untersuchungen. Es müsse noch sehr viel „Dreck“ geschrieben werden, notierte er einmal – und er charakterisierte damit die „Ordinary Language Philosophy“, ehe der erforderliche Schritt zur Klarheit getan werden konnte. Kennzeichnend für Wittgenstein ist die weitgehende und bewusste Ignoranz der Ideen- und Problemgeschichte der Philosophie. Man kann offenlassen, ob Wittgensteins philosophische Bedeutung nicht noch erhöht worden wäre, hätte er sich stärker mit vergangenen Denkformationen befasst. Den Neubeginn „zu den Sachen selbst“ und die konsequente Abwendung vom Psychologismus teilt Wittgenstein mit Husserl und Frege. Der Zusammenhang reiner eidetischer Logik und Sprachphiolosophie führt zu diesem Sachgehalt. Gegenüber vielfachen Missverständnissen, die Wittgenstein lange anhingen, ist festzuhalten, dass er sich gegenüber dem Positivismus und Szientismus in einer ähnlich konsequenten Weise positioniert, wie Heidegger dies getan hat.

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Dies ist ein, wenn auch nicht der einzige Grund, weshalb mit guten Argumenten Verbindungen oder Analogien zwischen Heidegger und Wittgenstein gezogen werden. Bereits im ‚Tractatus‘ hielt er in kristalliner Klarheit fest, dass die Sätze der Naturwissenchaften mit Philosophie nichts zu tun hätten (Tractatus 6.53). Philosophie ist den Naturwissenschaften allerdings so benachbart, dass sie deren Gebiet begrenze. Den Ersten Weltkrieg machte er vier Jahre lang mit. Während der Fronterfahrung notierte er wesentliche Kerngedanken seines späteren ‚Tractatus‘ skizzenhaft, in derselben Zeit, in der Rosenzweig seinen ‚Stern der Erlösung‘ in den makedonischen Schützengräben zu Papier gebracht hatte. Der Sohn aus bestem Haus erprobt sich in den Nachkriegsjahren selbst. Er absolviert die Lehrerbildungsanstalt in Wien und wird Volksschullehrer in Wien. Ingeborg Bachmann, Denkerin ganz aus Wittgensteinschem Geist, schrieb eine Erzählung mit dem Titel ‚Alles‘: Evokation eines Vaters, der mit seinem Kind die Welt neu werden lassen möchte, in einer Reinheits- Schönheits- und Klarheitsrigorosität, an der man nur scheitern kann.448 Ähnlich absolut und unnachgiebig scheint Wittgenstein als Lehrer und Erzieher gewirkt zu haben: im Willen, die Schüler zur Anschauung und Wahrhaftigkeit zu bringen und zugleich, wie es nicht anders sein konnte, scheiternd an der Unfähigkeit der menschlichen Natur. Die Schüler, deren Denken er zu höchster Achtsamkeit zu bringen suchte, traktierte er mit Hieben: Ambivalenz eines Ringens mit sich selbst und der Suche nach Reinheit, das vielleicht seit Kierkegaard und Nietzsche zu den existenziellsten Ausprägungen philosophischen Denkens führte. Wittgensteins Denken ist keineswegs nur aus dem philosophischen Milieu von Wien und Cambridge und den Binnendiskursen zu erklären. Ray Monk hat in seiner magistralen Biographie wesentliches erfasst, wenn er Wittgenstein in die Nähe einer „Verpflichtung zum Genie“ brachte. Das Wien des Fin de siècle, Adolf Loos‘ und Karl Kraus‘ Kritik am Ornament und den unreinen Inszenierungen der Kultur beeinflusst die apodiktisch klare Einheit von Ethik und Ästhetik, an der Wittgenstein festhielt. Wittgenstein selbst entwarf 1926 ein Haus für seine Schwester in diesen perfektionierten Proportionen, bis in die Formgebung der Türgriffe hinein kompromisslos. In Variation einer Aussage von Kierkegaard über die große Systemphilosophie des 19. Jahrhunderts könnte man sagen, dass dieser in seinen Proportionen einzigartig eindrucksvolle Bau zu vollkommen gewesen sei, um darin zu leben und dass man eine Hundehütte daneben hätte beziehen müssen. Das geistige Klima Wiens brachte Wittgenstein in die Nähe zu einem Philosophieverständnis, das zwischen Schopenhauers Lebenspessimismus und dem misogynen Programm

448 R. Monk, Wittgenstein. Das Hanedwerk des Genies, Stuttgart 21992, S. 187 ff., siehe auch M. Nedo, Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album, München 2012.

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von ‚Geschlecht und Charakter‘ von Otto Weininger changierte, der sich im Alter von nur 23 Jahren in Beethovens Sterbehaus selbst umgebracht hatte.449 Wittgenstein floh aus dem Kosmos der Geburtsstadt und ging nach Berlin. Er bezog die Technische Hochschule in Charlottenburg und vertiefte sich in die Theorien von Heinrich Hertz und Ludwig Boltzmann. Fasziniert ist er von Hertz‘ Verfahren, den Begriff der Kraft zu erklären, ohne ihn selbst zu verwenden. Auch dies dürfte eine wichtige Vorübung für Wittgensteins lebenslange philosophische Beschäftigung mit der Sprache gewesen sein. Wärend der Fortsetzung des Studiums in Manchester entwickelt er das Interesse an Flugtechnologien, er lässt einen Propeller patentieren und stellt Drachenflugexperimente an. * Irritierbarkeiten in menschlicher Gesellschaft und ein ethischer Rigorismus und Purismus treten bereits in Wittgensteins Jugend auf. Diese Ansätze führen ihn zu einer intensiven Lektüre der Bibel. Wenn er sich den Evangelien moralisch nicht gewachsen fühlt, greift er zu den Psalmen. Diese Erwägungen lassen sich in einen ‚Geheimen Tagebücher‘ detailliert verfolgen. Sie bilden eine komplexe Einheit aus Reflexion und Existenzialität, angestellt auf langen Wanderungen durch norwegische Fjorde. Die homoerotischen Empfindungen und ihre Abwehr gehen in Wittgensteins Aufzeichnungen und Lebensgestaltung ein. Auch das Denken folgt diesem Furor der Genauigkeit und Reinheit. Ein kongenialer Österreicher, Thomas Bernhard, schilderte in seiner Erzählung ‚Wittgensteins Neffe‘, aber auch in anderen seiner Texte einen Furor der Denkklarheit und kristallinen Gedankenzusammenhänge, der sich wesentlich an der Wittgensteinschen Einheit von Denken und Leben orientiert. Der Weg nach Cambridge, in die britische Philosophiekultur, führte Wittgenstein in den Umkreis von Russels ‚Principles of Mathematic‘ und brachte ihn auch mit Freges Denken in Verbindung. Es ist ein logisch noetischer Kosmos, die Fundierung der Logik in der Mathematik, der Wittgenstein zunächst bestimmt und zu dem er seinen unverwechselbaren philosophischen Beitrag erbringt. Zeitlebens werden für Wittgenstein die Anordnung der Gedanken, aber auch die Selbstzweifel eine entscheidende Rolle spielen. Eine weitere Analogie zu Heidegger bricht sich hier Bahn: auch Wittgenstein ist ein ähnlich fragen-

449 O. Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, hier nach München, Berlin 21997.

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der Philosoph, der von sich hätte sagen können: „Wege nicht Werke“.450 Beide operieren stark mit dem Medium der Selbstkritik und -transformation. In Abwandlung eines Diktums von Thomas Mann könnte man von Wittgenstein ebenso wie von Heidegger bemerken, Philosophen seien Menschen, denen das Denken schwerer fällt als anderen. Es sind Fragen, die allerdings nicht zu einer endgültigen Antwort in Theorie- oder gar Systemform führen, sondern, in der Struktur ähnlich wie in den aporetischen Frühdialogen Platons, an einem Punkt des Nicht-ein-noch-aus-Wissens münden. Daraufhin setzt aber nicht ein noetischer Ideenflug an, vielmehr muss die Fragebewegung neu in Gang gesetzt werden. Wittgensteins Abgrenzung gegenüber jedem Schulbegriff, auch der analytischen Schulrichtung der Philosophie, die er selbst contre coeur auf den Plan rufen sollte, dem „Dreck“, der in seiner Folge bis heute geschrieben werden sollte,451 zeigt sich schon daran, dass man Wittgensteins Denken verfehlt, wenn man ihm unterstellt, dass es „Theorien“ über die Sprache oder über andere Sachverhalte skizzieren würde. Damit wird ein methodisch selbstgewisser Dogmatismus suggeriert, der Wittgensteins Ordnung von Argumenten und Fragen geradewegs zuwiderläuft. Auch bei Wittgenstein entfaltet sich eine reichhaltige Konzeption von Grundfragen: Vor allem ist die grundlgende Frage nach dem Handeln in und durch Sprache lebenslang bestimmend. Da Fragen für Wittgenstein eine Form von Kartographie des Wirklichen ist, Kartografien aber immer Einzeichnungen von Grenzen sind, entwickelt er im Nachdenken über Sprache die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen. Das Logische kann selbst nicht Gegenstand von Fragen sein, weil es den Frage-Antwort-Strukturen zugrundelieegt. Der Inhalt von Fragen kann dagegen die Weise des Regelgebrauchs sein, ebenso wie die Frage nach den vielfältigen Zusammenhängen von Denken und Sprache selbst. Darauf hat sich Wittgenstein in der Fokussierung auf die Grenzen der Sprache und die Modellierung des Denkens bezogen. So vermerkt Wittgenstein in seiner für diese Grenzbetrachtung grundlegenden Abhandlung ‚Über Gewissheit‘ in einem Diktum, das für seine Grundhaltung exemplarisch ist: „Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze

450 So der Vorspruch Heideggers zur Gesamtausgabe, die den Charakter einer „Ausgabe letzter Hand“ haben sollte und in wenigen Jahren abgeschlossen sein wird. Vgl. R. Mehring, Heideggers „große Politik“. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2013, S. 7 ff. 451 Dazu P. Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/Main 2009, S. 210 ff., vgl. dazu ders., Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass, hg. von G.H. von Wrioght, Frankfurt/Main 1994, S. 74 f. und S. 145.

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denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt)“. „Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein“.452 Eben diese Begrenzung geht auch in den ‚Tractatus‘ an zentraler Stelle ein. Unter Nummer 5.6. notiert er: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. 5.61: „Die Logik erfüllt dieWelt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen“. Es wäre verfehlt und zu kurz gegriffen, Wittgenstein einfach dem „nachmetaphysischen Paradigma“ zuzuweisen. Metaphysisch in einem platonischen Sinn ist bereits dieser apodiktische Grenzbegriff, der sich selbst keineswegs auf empriisch überprüfbare Behauptuungen stützen kann. 2. Sagen, was der Fall ist Der ‚Tractatus‘ intendiert nicht weniger als eine vollständige Darstellung der Welt als dessen, was in der Welt der Fall ist.453 Das propositionale Gefüge der Satzaussagen verhält sich wie ein Modell, ein Abbild zum Abgebildeten, etwa eine Unfall- oder Mordrekonstruktion mit Puppen und Modellautos. Das abbildende Modell kann selbst nicht Teil des Bild- und Modellzusammenhangs sein. Deshalb ergibt sich eine strikte Komplementarität zwischen Sagen und Zeigen. Was gesat werden kann, kann nicht gezeigt werden, und umgekehrt. An dieser Stelle begegnet wiederum die metaphysische Grenzsetzung durch die logischen Formen. 4.121: „Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen“. Diese Spiegelmetaphorik ist differenzierend so zu verstehen, dass sich die Wirklichkeit durch ihre logische Form hindurch im Satz spiegelt. Der Satzsinn ist verstehbar, auch ohne die Kenntnis der logischen Form. Diese beschreibt Wittgenstein geradezu evokativ als „allumfassende, weltspiegelnde Logik“, ein Netzwerk, als den großen Spiegel, der alle Weltkomponenten in sich schließt. Entscheidend ist nun, dass die Logik im Sinn Wittgensteins immer transzendental ist, in einer letztendlichen, nicht weiter grundzulegenden Weise sich auf das Grundgerüst der Welt bezieht. Dabei sind die logischen Formen ihrerseits tautologisch. Sie zeigen nichts anderes an, als das, was sie sind. Es können bei verwickelten Aussagen langwierige Analysen erforderlich sein, bis jener tautologische Kern herausgeschält ist. Doch ähnlich, wie schon Leibniz

452 Wittgenstein, Tractatus, Vorowort, dazu auch Vossenkuhl, Wittgenstein, München 1995, S. 50 f. 453 Wittgenstein, Tractatus, 1.1.

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erkannte: am Grund der logischen Aussage zeigt sich die Tautologie. 6.124: „Die logischen Sätze beschreiben das Gerüst der Welt, oder vielmehr, sie stellen es dar. Sie ‚handeln‘ von nichts. Sie setzen voraus, dass Namen Bedeutung und Elementarsätze Sinn haben. Und dies ist die Verbindung mit der Welt“. Die logisch-philosphische Welt-beschreibung zeigt eine Weltstruktur, die so ist, wie die logischen Tautologien es anzeigen. Nur das nackte „Dass“ einer Verbindung von Logik und Welt ist konstatierbar. Was zur vollständigen Weltbeschreibung erforderlich ist, bleibt als logische Form tautologisch, also inhaltsleer. Die systematische Korrelation wurde von Wilhelm Vossenkuhl treffend bestimmt: „Das Zeigen weist auf die Wirklichkeit hin; es macht evident und ohne weiteres Zutun von sich aus einsichtig, was wirklich ist. Auf seiner Grundlage können wir dann erst sagen, was wahr oder falsch ist. Sagen ist nur innerhalb der Domäne des Zeigens möglich. Wahrheit setzt also im Tractatus Evidenz voraus“.454 Der „Sinn“ dieser Welt und damit die Berechtigung eine Präsupposition der Sinnsrukturen anzunehmen, ist der Welt gegenüber transzendent. Vor diesem Horizont wird der bedeutsame Grundsatz ausgesprochen: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“ (6.41). Dieses „Dass“ rührt in jene Bereiche, die eben nicht satzprädikativ klar auszusagen sind, und über die zu schweigen ist. Gerade das „Dass“ führt deshalb zu der für die Philsoophie elementaren Verwunderung, bzw. dem Erschrecken im Gegenüber zur Welt. Mittels der logischen Tautologien und in ihrer Symbolik ist lediglich das „Wie“ der Weltinhalte zu erkennen, das immer in einem kontingenten Rahmen bleibt. Der ‚Tractatus‘ zieht eine enge Verbindung zwischen Ontologie und Logik, wobei als wirklich nicht eine „omnitudo realitatis“ aufgefasst wird, sondern alle Sachverhalte, die in den logischen Raum gehören. Es ist offensichtlich so, dass Wittgenstein ein „logischer Rationalist“, nicht ein „logischer Realist“ ist. Er geht in der Kontingenzbehauptung der Wirklichkeit so weit festzuhalten, dass die „Logik nichts mit der Frage zu schaffen [habe], ob unsere Welt wirklich so ist oder nicht“ (TLP 6.1233). Entscheidend ist dabei, dass es in Sätzen nicht um Referenz auf die Außenwelt geht, sondern vielmehr um das analytisch zu klärende logische Erhältnis der Elemente des Satzes zueinander. Der logische Raum zeichnet sich gegenüber empirischen Verhältnissen eben dadurch aus, dass jede wahre Beschreibung einer Sachlage sich in genau einer Struktur manifestiert. Die sachverhaltliche Wirklichkeit wird auf Elementarsätze zurückgeführt, die nicht durch Junktoren von anderen Sätzen abhängen, sondern in sich sui-subsistent sind. Namen sind in diesem Horizont „Urzeichen“. Sie sind gerade nicht referentiell aufzufassen. Ein Name zeigt letztlich nur, dass er einen Gegenstand 454 Vossenkuhl, Ludwig Wittgenstein, a.a.O., S. 114.

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bezeichnet. „Gegenstand“ oder „Sache“ dagegen wären Scheinbegriffe, unter die kein Konkretum fällt. Deshalb formieren solche Scheinbegriffe auch nur Scheinsätze. Substituierbar sind sie durch konkrete variable Gegenstandsnamen. Der logische Raum beruht weitgehend auf Modalkategorien. Konstituiert wird er durch die logische Tautologie als Begrenzung: Sie „lässt der Wirklichkeit den ganzen unendlichen – logischen Raum“ (4.463). Damit folgt Wittgenstein grundsätzlich der logischen Bestimmung, wonach das, was logisch möglich ist, auch wirklich sein kann und dass das Wirkliche in einem unendlichen logischen Möglichkeitsraum situiert ist. Die Welt als das, was der Fall ist, ist endlich, die Mofidizierungen des Wieseins der Welt ist hingegen unendlich. Die Kontraditkion hingegen „ist die äußerste Grenze der Sätze“ (5.143). Sie setzt den Limes des Wirklichen gegen das Unwirkliche, des Möglichen gegen das Unmögliche. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass schon in der kristallinen Form des ‚Tractatus‘ der einzelne Satz in sich zu verstehen ist. Er nimmt zwar nur einen spezifischen Ort in der Gesamtheit dessen, was der Fall ist ein, doch zugleich „muss durch ihn schon der ganze logische Raum gegeben sein“ (3.42). Wittgenstein formuliert damit einen Holismus gemäß dem Kontextprinzip aus, in das jeder einzelne Satz ausgreift und aus dem er sich allererst bestimmt. Mit dem Versuch, zu den Elementarsätzen vorzudringen, nähert sich Wittgenstein seinem Selbstverständnis nach einem Einfachsten an, das „nicht ein Gleichnis der Wahrheit, sondern die volle Wahrheit selbst“ sei (5.5563). Dieser Anspruch begründet das holisitsche Gesamtkonzept des ‚Tractatus‘, demzufolge „der Satz […] eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze“ ist, der „Elementarsatz“ aber „eine Wahrheitsfunktion seiner selbst“. Die logische Form ist es, die der sachverhaltlichen Wirklichkeit und den Verbindungen der Elemenarsätze gemeinsam ist. 3. Bedeutung und Lebensform. Wie meinst Du das? Von diesem Primat der logischen Form entfernte sich Wittgenstein schrittweise in der Phase nach dem ‚Tractatus‘. Als Irrtum kritisiert er die Annahme, dass die logische Analyse „verborgenste Dinge an den Tag bringen“ müsse, so wie die chemische und die physikalische Analyse in ihrem Feld auch verfahren (PhG 210). Gerade in dieser Selbstauseinandersetzung folgt Wittgenstein dem eigenen Diktum , dass der, der am langsamsten gehe, am schnellsten vorankomme. Der Schwerpunkt verlagert sich in jedem Fall von der Logik in die Grammatik in den konkreten Verwendungsformen im Sprachgebrauch. Es soll die Grammatik sein, in der „die Harmonie zwischen Gednaken und

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Wirklichkeit“ aufzufinden ist (PhG 162), und eben nicht mehr die logische Form. Im Zusammenhang jener „Autonomie der Sprache“ verwendet Wittgenstein auch in vermehrtem Maß die Spiel-Metaphorik. Dies bedeutet, dass nicht nach dem logischen Fundament der Sprache zu fahnden ist, das ihr vermeintlich zugrunde liege. Sprache ist in Analogie zu einem Spiel zu erfassen, das nach Regeln vonstattengeht. Die metaphyische Hinterwelt, oder der „doppelte Boden“ der logischen Struktur, die der ‚Tractatus‘ festgehalten hatte, werden preisgegeben. Einzig die gesprochene und in Sprechakten verwendete Sprache sei das „Vehikel des Denkens“ (PhG § 112). Die Bedeutung eines Wortes erkläre sich aus dessen Ort „in der Grammatik“. Eine Linie aus dem ‚Tractatus‘ wird damit unmittelbar weitergeführt, nämlich die Abständigkeit Wittgensteins zu Referenztheorien der Bedeutung. Solche Referenzen zu suchen, ergäbe eine verdoppelte Welt. Wittgenstein gebraucht in diesem Zusammenhang ein anderes Sinnbild: Sprache sei ein Maßstab, der an die Wirklichkeit angelegt werde. Doch Messen ist nicht als Ausprägung einer unhintergehbaren Norm misszuverstehen. Es ist vielmehr „Vergleichen (und muß heißen, Übersetzen)“ (Big Typoscript 88).455 Auch für den späteren Wittgenstein stellt sich die Frage der Verifikation. Sie realisiert sich aber in der innersprachlichen Rückfrage: „Wie meinst du das?“ Dies führt zu einer konsequent antimentalistischen Konzeption. Die Regeln der Sprache müssen gelernt werden. Keine mentalistische Konzeption geht dem voraus, keine „ideae innatae“, die die Sprachstrukturen abbilden. „In der Sprache wird alles ausgetragen“ (PhG 143, BT 379 u.ö.). Was also mit der Zuwendung zur Grammatik geschieht, ist nicht weniger als das Verbot, in einen außersprachlichen Zusammenhang auszuweichen. Ein reflexionstheoretisch aufzusuchender außersprachlicher Grund der sprachlichen Verständigngsverhältnisse ist versagt. Sätze können andere Sätze beschreiben und einander wechselseitig erhellen. Doch ein logisches, oder reflexives Fundamentum inconcussum wird nicht in den Blick genommen und es soll nicht aufgesucht werden. Für Sprachverstehen und Sprachlernen ist es gleichermaßen eine tiefgehende Restriktion, dass Wittgenstein das Modell der Abrichtung verabsolutiert – ein hoher Preis für das antimentalistische Konzept. Innersprachliche Verifikation bedeutet dann: „Wenn ich die Wirklichkeit daraufhin prüfen will, ob sie mit dem Satz übereinstimmt, so kann ich das auch so machen, dass ich sie nun beschreibe und sehe, ob der gleiche Satz herasukommt“ (BT 204). Dass daraus auch eine Verklammerung in Sprach-

455 Dazu P. M. S. Hacker, Wittgenstein im Kontext der analytischen Philosophie, Frankfurt/Main 1997, S. 132 ff.

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problemen resultieren kann, die sich in Sprachgittern verfängt und keinerlei Wirklichkeitsbegriff gewinnen kann, erkennt Wittgenstein als eine unübersehbare Gefahr. Methodisch richtet sich die Wendung des späteren Wittgenstein ganz und gar auf die Methode des Regelfolgens. Um Bedeutung zu erkennen, ist es erforderlich, dem Gebrauch der Sprache nachzugehen, und dies heißt auch, die dabei in Anschlag gebrachten Regeln zu berücksichtigen. Regelfolgen ist damit eine Technik, die per se nicht in den Bereich von Innenleben und Innenwelt gehört. Wittgenstein betont den Mechanismus und die Unbefragtheit des Regelfolgens. Man tut es einfach, und folgt dabei sozialen Praktiken und Konventionen. Dieses Motiv Wittgensteins hat bekanntlich nicht nur in der Philosophie, sondern mehr noch in Kultur- und Sozialwissenschaften eine große Karriere gemacht. Zum methodologischen und ontologischen Dogma sollte man es gleichwohl nicht erheben. Große sprachphilosophische Linien, etwa die dynamisch-energiehaften Einsicht, dass Sprachansichten Weltansichten sind, Sprache nicht Medium oder Werkzeug ist, sondern am-Werk-sein, durchaus im Sinne Wilhelm von Humbolts, werden durch Wittgensteins grammatikalisches Instrumentarium und sein Regelfolgen in keiner Weise außer Kraft gesetzt, wenn man denn nicht einen Reduktionismus affirmieren will, den Wittgenstein sonst vermeidet. Interessant und vielfach debattiert wurde vor allem das Privatsprachenargument. Die antimentalistische Position erweist sich hier gerade als Remedium: Regelfolgen schließt immer Verallgemeinerbarkeiten und Kommunikationen ein. Dies kann nicht ein einmaliger Akt sein, den ein einzelner Mensch zu vollziehen hätte: „Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein“.456 Entscheidend ist, dass die Regel mit ihrer Befolgung konvergiert. Deshalb ist (PhU § 22) „der Regel zu folgen glauben“, gerade nicht schon der Regel auch tatsächlich zu folgen. „Und darum kann man dicht der Regel ‚privatim’ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen“. Das Regelfolgen ist nach Wittgenstein wiederum an keinen Anker zwischen Himmel und Erde geheftet. Der Unterschied zwischen Regelfolgen und Regelfolgen-Meinen ist insofern kaum klar zu definieren: denn weder anthropologisch psychologische Dispositionen noch innere Wahrnehmungen noch eine platonisch noetische Entität kann dieses Kriterium sein.

456 Dazu Vossenkuhl, Witttgenstein, a.a.O., S. 286 f., siehe auch E. von Savigny, Wittgensteins philosophische Untersuchungen, Band 1, Frankfurt/Main 1988, S. 257 ff., und ders., Der Mensch als Mitmensch, München 1996.

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Denken ist Handeln, Vollzug: An dieser Stelle wird erneut die Verbindung zwischen Wittgenstein und Heidegger deutlich. Hatte Heidegger doch in seiner Verweigerung einer eigenen philosophischen ‚Ethik‘ in seinem Brief über den Humanismus genau dies festgehalten: dass das Denken selbst schon ein Handeln sei. Wittgenstein selbst setzt an dieser Stelle mit dem Primat des Handelns vor aller Theoriebildung, aller Suche nach Evidenzgewissheit, einer platonischen Schau des Wahren, die Fermata. In diesem Sinn hält er an dem Diktum aus Platons VII. Brief fest, dass es Unerzogenheit (apaideusia) sei, wenn man nicht unterscheiden könne, in welchen Belangen Begründungen erforderlich sind und in welchen eben nicht. 4. Das tief geheimisvolle Ich Es ist an dieser Stelle nicht mehr die Gelegenheit, genealogisch auf Wittgensteins Denken zu rekurrieren, wozu auch dessen Kontext zwischen logischem Empirismus, dem Wien der Jahrhundertwende und dem ‚Tractatus’ in Rechnung zu stellen wäre. Ich fokussiere mich daher nun auf den späten Wittgenstein, denn ich möchte den analytisch, semantischen Sinnhorizont von seinem vielleicht tiefsten, äußersten Punkt aus erläutern: der Befragung, keinesfalls Ausschaltung, des ‚Ich’, des Fundamentum inconcussum neuzeitlicher Philosophie. Wittgensteis spätere Philosophie fragt nach Lebensformen, den Regeln und Spielen, in denen sie auftreten. Mit dem frühen Heidegger könnte er sagen, dass die Bedeutung das Primäre ist. Ein Sprachspiel, so hat Wittgenstein betont, hat nicht in der Überlegung seinen Ursprung. Vielmehr ist die Überlegung Teil des Sprachspiels. Den großen metaphyischen Begriffen, auch jenem, der Subjektivität, versagt sich Wittgenstein. Dies wird unter anderem daran offensichtlich, dass er notiert, „eine ganze Wolke Philosophie“ sei „zu einem Tröpfchen Sprachlehre“ zu kondensieren. Schon der fünfundzwanzigjährige Wittgenstein hielt fest: „Das Ich, das Ich ist das tief Geheimnisvolle“ und: „die Atmosphäre, die diesen Punkt umgibt, ist schrecklich“.457 Es dauerte Jahrzehnte, bis er diesen Anspruch einlöste. In seiner Spätphilosophie insistiert Wittgenstein darauf, dass Selbstkenntnis so wenig wie jede andere Erkenntnis durch Introspektion zu gewinnen ist. „Nicht, was Vorstellungen sind, oder was da geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, muss man sich fragen, sondern wie das Wort: Vorstellung’ gebraucht wird“. Das Wesen eines Seienden, auch unserer selbst, liegt nicht jenseits der Sprache, es ist vielmehr „in der Grammatik ausgesprochen“ (PhU, § 371).

457 Dazu R. Enskat, Ontologische Geheimnisse des Ich? Eine philosophische Untergrundgeschichte, in: Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie. Festschrift für Klaus Giel zum 70. Geburtstag, Würzburg 1997, S. 67−80.

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Daher ist die Grenze meiner Sprache die Grenze meiner Welt. So sehr die Annahme eines unmittelbaren Zugangs in eine Innenwelt als Illusion gelten muss, als Traum, an dem sich alle Kriterien verwischen, so sehr wird doch jene Sphäre nicht einfach ausgelöscht. In seinen Untersuchungen, nach Wittgenstein: Therapien des metaphysischen Denkens als einer Sprache, die feiert,458 kommt er zu der Einsicht: das Wesen des Seelischen sei nicht etwas, das aufgezeigt werden könne. Es kann nur beschrieben werden. Verstehbar ist ein Wort in der Sprache nur, insofern es in einem Lebensformen- und damit Regelzusammenhang steht. Entscheidend ist hier das Regelfolgen. Es ist eine Technik, weshalb es unmöglich wäre, einem Sprachspiel nur einmal zu folgen. Deshalb, so die Crux von Wittgensteins vielberufenem Privatsprachenargument, ließe sich auch die Vorstellung einer Privatsprache nur entwickeln, weil eine Sprache gelernt ist und ich in der Lage bin, ihren Regeln zu folgen. „Und der Regel zu folgen glauben ist nicht der Regel folgen“ (so notiert er in Phil Untersuchungen § 202). Eben deshalb kann man der Regel nicht ‚privatim’ folgen, weil sonst eben der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen“. Vernunft ist also an Sprache zurückverwiesen. Die Einheit der Sprache sei aber immer bloße Fiktion. Sprache, „das sind doch die Sprachen“. Gleichwohl gibt es Beziehungen zwischen solchen Sprachen: Wittgensteins Rede von ‚Sprachspielen’, eine Verflechtung von Tätigkeit und grammatikalischem Regelsystem indizierend, setzt voraus, dass zwischen unterschiedlichen Sprachspielen Gemeinsamkeiten bestehen. Dies ist aber am Vollzug des Sprachspiels zu ‚erschauen’, nicht im Vorhinein apriorisch zu dekretieren. Mehr noch, es entzieht sich eigentlich der propositionalen Ermittlung.459 Wittgensteins Nachsinnen über Familienähnlichkeit entgeht gerade dem Zwang, kriteriologisch gemeinsame Elemente zu fixieren. Familienähnlichkeiten bestehen zwischen Gliedern einer Familie. Sie aktuieren sich in den Spielen. Sie sind herauszusehen, in einer Evidenz, für die sich nicht ohne weiteres ein propositionales Tertium comparationis finden lässt. Familienähnlichkeit umgibt ein gewisses „Je ne sais quoi“: Ich weiß nicht genau, was es ist und wodurch es wirkt.

458 Dazu E. Ammereller, Eugen Fischer (Hrsg.): Wittgenstein at work. Method in the philosophical investigation, London 2004, vgl. auch A. Badiou, Wittgensteins Antiphilosophie, Zürich 2008. 459 Vgl. dazu R. Teuwsen: Familienähnlichkeit und Analogie. Zur Semantik genereller Termini bei Wittgenstein und Thomas von Aquin. 1988, K.Buchholz, Sémantique formelle et ressemblances de famille. In: Logique et Analyse. 43 (2000), S. 345–356 und grundsätzlich orientierend Gottfried Gabriel: Familienähnlichkeit. In: Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. [2005], S. 473 f. .

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Wittgenstein gebraucht auch das schöne Bild vom verbindenden Faden. Stark ist ein Faden nicht, indem eine Faser ihn in seiner ganzen Länge durchzieht, sondern dadurch, dass viele Fasern in ihm ineinandergreifen. Die Sprachspiele sind freilich eingefügt in Lebensformen, die von Wittgenstein gleichgesetzt sind mit dem ‚Hinzunehmenden’, ‚Gegebenen’ – gleichsam einer immer schon vorfindlichen Welt (auch hier können sich Vergleiche zu Heidegger knahelegen!). Wittgenstein verwendet für den Aufweis der Lebensform das andere Sinnbild vom harten Felsen, an dem der Spaten sich zurückbiegt, (PhUnters., 217), was nichts anderes bedeutet, als dass sich die Begründungen erschöpft haben. „Ich meine: so machen wir es eben. Das ist so bei uns der Brauch, oder eine Tatsache unserer Naturgeschichte“: ein Schlusspunkt, der fast die Wucht griechischer Ananke zu beanspruchen scheint.460 All jene privatsprachliche und lebensweltorientierte Aufbrechung des egologischen Fokus auf ein „Ich denke“ kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wittgenstein das irreduktiblen Phänomen der (Selbst-)Erfahrung keinesfalls tilgt. Die Selbsterfahrung ist freilich nicht in ein propositionales Wissen einholbar. So wäre es unsinnig zu sagen, ich wisse, dass ich Schmerzen habe. Ich habe sie.461 Es besteht also eine ummittelbare, gleichsam eidetische Evienz, wohingegen von Wissen dort die Rede ist, wo zwischen Wahrheit und Irrtum unterschieden werden muss. Worüber man nicht reden könne, darüber müsse man schweigen: In diesen selbst mythisch gewordenen Schlussatz mündete der ‚Tractatus’. Wittgensteins späteres Denken bricht diesen Satz auf. Entscheidend ist dabei, dass sich für ihn Glaube und Ethik, die mit der Ästhetik letztlich eins ist, nicht in ein System von Sätzen über das, was in der Welt der Fall ist, einordnen lassen und daher schlechterdings außerweltlich (extramundan) sind. Hier konstiuiert sich für Wittgenstein ein ‚absolutes Gutes’, ein ‚ethischer Wert’, kurz, jener Erlebniszusammenhang, „bei dem man die Welt als ein Wunder sieht“: sei es in der unbedingten Sicherheit des Glaubenden (etwa Dostojevskijs heiligen Narren, denen Wittgenstein zu einem Teil glich), sei es im Einklang mit sich, sei es Schuldgefühl. „Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefasst. Nur das Übernatürliche kann das Übernatürliche ausdrücken“.462 Der messerscharfe Übergang zwischen Philosophie und Handeln führt für Wittgenstein auf

460 Eine tiefensemantische Verbindung besteht in jedem Fall darin, dass auch Wittgenstein die Begründungen abbricht und zu einer Art von Nemesis gelangt. Vgl.dazu W. Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/Main 1995, S. 860 ff. und S. 902 ff. 461 Vgl. S. Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, Frankfurt/Main 1987. 462 Vgl. Wittgenstein, Vortrag über Ethik, Frankfurt/Main 1990, S. 9−20, vgl. auch G. H. von Wright, Wittgenstein, Frankfurt/Main 1986, S. 170 ff., sowie für die Gewiss-

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die Evidenz: die die Grenzen der Welt überschreitende Augenscheinlichkeit. Evidenz bedeute freilich nicht, dass uns bestimmte Sätze als unmittelbar einleuchten, und auch nicht primär eine Art des Sehens, „sondern unser Handeln, welches am Grund des Sprachspiels liegt“ (Über Gewissheit, Nr. 204).463 Wittgensteins Weg verbindet sich gewiss mit dem Weg anderer Denker des 20. Jahrhunderts darin, dass er die metaphysischen Problemata nicht mehr direkt angeht, sondern sein lässt und die Sprache befragt, ja dass er sich als Therapeut der tradierten spekulativen Philosophie als einer Krankheit versteht. Von dieser Denkkrankheit darf aber nichts ‚abgeschnitten’ werden. „Sie muss ihren natürlichen Lauf gehen, und die langsame Heilung ist das Wichtigste. (Daher die Mathematiker so schlechte Philosophen sind)“ (Zettel 362). 5. Kontuinuitäten und die Grenzen der Sprache Ähnlich wie bei Heidegger wäre es auch bei Wittgensein eine unzulässige Verkürzung, statutarisch zwischen einem Wittgenstein I und Wittgenstein II zu unterscheiden. Denn es sind ähnliche Problemhorizonte, die hier und dort thematisiert werden. Heidegger brachte dies bekanntlich auf den Topos der „Kehre“. Am Beispiel kann man es sich verdeutlichen: Zur Zeit des ‚Tractatus‘ folgt Wittgensein einem metaphysischen Solipsismus, der sich auf den Grundsatz: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (5.6) berufen kann. Er führt in der Satzfolge zu der Aussage: „Dass die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten. (5.63) Ich bin meine Welt (der Mikrokosmos)“. Damit ist, auch dies ein weiteres Analogon zu Heidegger, die in der neuzeitlcihen Philosophie stricitissime gezogene Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt, übeschritten oder zumindest transparent gemacht. Dies fokussiert sich gerade bei der 1. Person singular und im Umgang mit ihr zeigt Wittgenstein ein Problembewusstsein, das lange Zeit in der sprachanalytischen Philosophie verschüttet blieb. Schon der metaphysische Solipsist hält fest, dass die Vorstellung „von dem Ich, das in einem Körper wohnt“ (Aufzeichnungen 55), abzuschaffen sei. Besonders deutlich wird dies in dem grammatischen Solipsismus. Der grammatikalische Solispsist geht von einer Grammatik des Wortes Personalpronomens ‚ich‘ aus, zu der gehört, dass dieses ich keinen Nachbarn hat. Dies gilt

heits- und ethische Fragestellung Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914−1916, hg. von W. Baum, Wien, Berlin 31991. 463 Vgl. dazu Th. Rentsch, Gott, Berlin, New York 2005, S. 45 ff.

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auch für die privaten Zustände jenes ich. Sprache ist aber immer geteilte, gemeinsame Sprache, so dass es gerade nicht darum geht, das Fremdpsychische in seiner Existenz zu leugnen. Wittgensteins eigene Vorlesungen und Ausarbeitungen über die Psychologie zeigt, wie fern ihm dies läge. Vielmehr kann für solche inneren Erlebnisse keine Wiedererkennbarkeit durch Einfühlung und Mit-präsentation angenommen werden. Die Sprache feiert also und täuscht diejenigen, die sich ihr anvertrauen. Es ist gerade nicht so, dass ich dem Binnenverständnis eines ‚Ego‘ die Welt hinzufügen müsste und ebensowenig meiner Sprache (Aufz 73). Sehr deutlich markiert Wittgenstein die Täuschungen der Sprache, denen nur eine umsichtige Therapie begegengen kann, wobei es bezeichnend ist, dass er dieses „grammatische Monstrum“ „in gewissem Sinne der Tautologie und der Kontraditkion“, also den bestimmenden logischen Formen im Sinn des ‚Tractatus‘ vergleicht (Aufz. 93). Das eigentlich Narrende zeigt sich darin, dass der Versuch der Tilgung der privaten Erlebnisse den Anschein erweckt, „als bestritten wir das Vorhandensein eines Erlebnisses, etwa der Zahnschmezen“ (Aufz. 93). Dies liegt dem grammatischen Solipsisten im Sinne Wittgensteins fern: „Er sagt nicht, dass wir simulieren, wenn wir über Schmerzen klagen, er bemitleidet uns ebenso wie jeder andere, und gleichzeitig will er den Gebrauch des Titels ‚wirklich‘ auf das einschränken, was wir die genuinen, nicht teilbaren Erfahrungen nennen würden“ (BIB 96). Im grammatikalischen Sinn, der grundlegend ist, insofern alles Denken stets ein Denken in Wörtern und ihren Verknüpfungen ist, kann die 1.Person singular keinen bevorzugten Welt-und Wirklichkeitszugang beanspruchen. Wittgenstein unterscheidet vom Subjekt- den „Objekt“-Gebrauch des Ich. Dieser ist wahrheits- und irrtumsfähig. Bezieht er sich doch auf einen konkret gegebenen Körper und dessen Zustände. Das, was das Ich im Subjektgebrauch von sich sagt, entzieht sich hingegen der nachvollziehbaren Mitteilbarkeit. Damit aber ist das, was das Ich im Subjektstatus von sich aussagt, weder zu verifizieren noch zu falsizifizieren. Die Unterscheidung beider Gebrauchsweisen der ‚Ich‘-Rede gibt Wittgenstein nach seinem ‚Blauen Buch‘ preis. Stattdessen versetzt er den Terminus ‚Ich‘ in verschiedene Kontexte und befragt dessen Bedeutung. Man hat den Eindruck, dass er die Ich-Stelle in ähnlicher Insistenz umkreist wie es die großen atheistischen Denker mit der Gottesfrage tun. Zu berücksichtigen ist stets, dass Wittgenstein kein reduktionistisches Proramm verfolgt, wie es etwa Rudolf Carnap und anderen Vertretern des Logischen Positivismus vor Augen stand: War es doch seine Grundauffassung,

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dass die physikalische Sprache die Universalsprache sei.464 Ursprünglich hatte Carnap einem Phänomenalismus zugeneigt, der auf elementare Erlebnisse zurückgriff und als einzige Möglichkeit, zu höherstufigen Erkenntnissn zu gelangen, die Ähnlichkeitsrelationen zwischen jenen Elementarerlebnissen anerkannt. Der Einfluss Neuraths führte zu der physikalistischen Grundauffassung, wonach philosophische Aussagen nur dann sinnvoll sind, wenn sie sich empirisch überprüfen und damit verifizieren lassen. Bleibt dies aus, so entstehen Scheinprobleme und Scheinaussagen, die in einer als wissenschaftlich auftreten könnenden Philosophie keinen Ort haben dürfen. Philosophische Grunddifferenzen, die im Design von Schulrichtungen angegeben werden, wie jene zwischen Idealismus und Realismus, oder Begriffe wie „Gott“, „Prinzip“, „Absolutheit“ gehören nach Wittgenstein selbst in diesen Bereich der Scheinfragen und Scheinprobleme. Es ist längst klar, dass sich ein solcher Ansatz vom überlieferten Strom philosophischen Denkens abschneidet. Ignoriert wird auf diese Weise auch, was Kant die Naturanlage des Menschen zur Metaphysik nannte. Es entsteht die plane Konzeption, in der der Mensch selbst auf seine Körperfunktion reduziert wird. Auch die logisch analytische Philosophie konnte daher keinesfalls, jedenfalls dort, wo sie sich den Kern- und Grundfragen widmet, in dieser Richtung weitergehen. Schärfen Denker wie Wittgenstein oder Frege in höchster Subtilität die denkenden Weltzugänge, so werden sie durch eine physikalistische Parteinahme abgeschnitten, die wieder zu dem trüben Strom führen, den Wittgenstein als „Dreck“ bezeichnete: Zum Beispiel durch die eines neuen Dogmatismus, wie er aufgrund verspäteter und oftmals vordergründiger Rezeptionen gerade in der deutschsprachigen Philosophie lange Zeit dominierte. * Hier öffnen sich von Wittgenstein her, Kraftfelder und Linien analytischer Philosophie zwischen Moore, Quine, Strawson, Davidson, von Wright und Putnam (vgl, weiter unten VIII, 1–4), die im 20. Jahrhundert auf die Initiierungen Wittgensteins zurückkamen, sich zugleich aber methodisch weitgehend von ihm absetzten. Von hier her und in einer kritischen Analyse des Szientismus, der weite Teile jener Philosophie ausmacht, wird der Bogen auf die Zäsur des Philosophierens nach 1945 zurückzuschlagen sein.

464 Exemplarisch dazu R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit. Berlin-Schlachtensee 1928. Neuauflage Hamburg 2004, S. 7 ff. Siehe dazu grundsätzlich F. Thron, Subjekt und Gegenwstand. Die Konstitution der Außenwelt im Anschluss an Husserl und Carnap, Freiburg/Br., München 2013.

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Der Blick auf die Leitmotive von Wittgensteins Denklandschaft zeigt einen konsequenten Primat der Handlung, eben des Regelfolgens in Sprachspielen und Lebensformen. Dieser Handlungsprimat lag nach dem strikten Logizismus, in dem Husserl und Frege übereinkommen, durchaus im Denkhorizont der ZwanzigerJahre. Heidegger begann im Fokus seiner frühen phänomenologischen Aristoteles-Interpretationen ebenso bei den praktischen Denkvollzügen, die zu Regularitäten und dann zu Prinzipien führen würden. Michael Polanyi sollte dem „Wissen, wie“ vor dem „Wissen, dass“ den Vorrang zuweisen.465 Dennoch bleibt die Frage einer Metaphilosophie, einer Philosophie der Philosophie, und ihrer Grundorientierung ein bleibendes Thema, – wobei offengelassen werden sollte, ob der Ausweg des späteren Witgenstein wirklich Überzeugungskraft hat. Er äußerte selbst: „Ich mache es mir in der Philosophie immer leichter und leichter. Aber die Schwierigkeit ist, es sich leichter zu machen und doch exakt zu bleiben“ (BT 70). Dies mag die Schwierigkeit, schon des Prinzips von Ockhams Razor gewesen sein; indes ist einer solchen Aussage eo ipso nicht philosophische Subtilität zuzuerkennen, sofern nicht geklärt ist, was denn philosophische Präzision bedeuten soll. Denn Wittgenstein ist hier zutiefst ambivalent, und gerade diese Ambivalenz macht zu einem guten Teil seine Tiefe aus, seinen Beitrag zu dem Vernunftlicht, das in die Abgründe steigt. An anderem Ort bemerkt er nämlich: „Beim Philosophieren muss man in’s alte Chaos hinabsteigen und sich dort wohlfühlen“ (VB 542). Müsste man dann nicht dem Leichter-machen-Können, der Suggestion des Hans im Glück, der Ballast abwirft und so zum Ziel zu kommen meint,466 doch misstrauen. Wittgenstein sucht nach einer Ruhe und einem Frieden im Denken, dessen Fragilität ihm doch zugleich eine beständige Grunderfahrung war. So behauptet er: „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. ‚Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so dass sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen“ (PhU § 133). Zugleich spricht er aber völlig zu Recht davon, dass man beim Philosophieren „in’s alte Chaos hinabsteigen, und sich dort wohlfühlen“ müsse (VB, 52). An einer anderen, höchst prägnanten Stelle formuliert Wittgensein: „Wir sind, wenn wir philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie missdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen“ (PhU § 144). Die Rede vom „Wilden“ folgt bei Wittgenstein freilich keineswegs eindeutigen Standards des Kolonialismus. Es muss nämlich auffallen, dass sich Wittgenstein in seiner Detailkritik von Frazers ‚Golden Bough‘ entschieden einer

465 M. Polanyi, Implizites Wissen (The tachit Dimension, 1966), Frankfurt/Main 1985. 466 So das treffende Bild von J. Ratzinger, Einführung in das Christentum (1968), München 2005, S. 27 f.

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solchen Pseudoaufklärung der „Arm Chair“-Ethnologen467 entgegengesetzt, die sich aus dem vermeintlichen Dunkel vergangener mystischer Weltsichten herausgelöst haben und „uns“ insofern nicht mehr tangieren müssen. Wenn er vom „Wilden“ spricht, wird nicht in eine Vorgeschichte verwiesen, sondern ein Zusammenhang angezeigt, der „uns“ sehr wohl noch tangiert. Der vermeintlich Wilde sollte nicht voreilig meinen, den Abgründen entgehen zu können, die wir aus den Untiefen der Philosophie schöpfen. „Warum soll es aber nicht wirklich nur (oder doch zum Teil) der Gedanke sein, der mir den Eindruck gibt? Sind denn Vorstellungen nicht furchtbar? Kann mir bei dem Gedanken, dass der Kuchen mit den Knöpfen einmal dazu gedient hat, das Todesopfer auszulosen, nicht schaurig zumut werden? Hat nicht der Gedanke etwas Furchtbares? – Ja, aber das was ich in jenen Erzählungen sehe, gewinnen sie doch durch die Evidenz, auch durch solche, die damit nicht unmittelbar verbunden zu sein schein; durch den Gedanken an den Menschen und seine Vergangenheit, durch all das Seltsame, das ich in mir und in den Andern sehe, gesehen und gehört habe“.468 Wittgensteins Sprachspieltheorie ist von hier her aus dem Rückblick als eine Art Denkkampf zu verstehen, als Exposition einander entgegenlaufender Grundhaltungen, Teile des Selbst- und Denkgesprächs, das Wittgenstein mit sich selbst führte. Einen billigen Frieden wird man zwischen solchen gegenläufigen Tendenzen nicht herstellen können. Denn die Therapeutiken, die Wittgenstein sich verordnete, wollen die Krankheit gerade nicht abschneiden, sondern der Heilung den Raum geben, den sie braucht. Mit dem Vergangenen, auch mit den Denk-Irrwegen, nicht allzu rasch fertig zu werden, ist ein Momentum, das Wittgenstein wieder mit Heideggers Destruktion und „Verwindung“, eben gerade nicht „Überwindung“ der Metaphysik vebinden kann. Die ‚Verwindung‘ schloss eben auch ein rasches Ende des Irrtums aus. „Wenn die Menschen nicht manchmal Dummheiten machten, geschähe überhaupt nichts Gescheites“ (VG 521). Darin zumindest hätte die feiernde Sprache auch ihren Sinn. In den vielfachen dogmatischen Hans-im-Glück-Varianten, in denen Wittgenstein nutzbar gemacht wird liegt nicht sein denkerisches Eigengewicht, sondern eben in den Intermedien, in die er eintaucht, dem humanen denkenden Selbstversuch.

467 Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: Ders., Vortrag über Ethik, a.a.O., S. 29 ff. 468 Wittgenstein, Vortrag über Ethik, a.a.O., S. 46.

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II. Basissätze. Oder die Geschichtlichkeit der analytischen Philosophie

6. Wittgensteins Fermata Wenngleich die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind, so konstatiert Wittgenstein doch in dem Vorrang, den er der Ethik zuweist, den unaufgebbaren Drang, „gegen die Grenzen der Sprache anzurennen“. (18 f.). Dies sei die Grundtendenz aller Menschen, die je versuchen, sich den Fragen von Ethik und Religion zu widmen. Auf theoretischem Weg ist hier kein Weiterkommen. Der Versuch solchen Anrennens sei ganz und gar aussichtslos. Denn ein Buch über Ethik, das wirklcih aus der Ethik handle, würde jedes weitere Buch überflüssig machen. Als sinnlos charakterisiet Wittgenstein bereits die sprachliche Dokumentation des Grundes von Ethik, des „absolut Guten“, das in keine Güterlehre oder kasuistische Schrittfolge einzubeziehen ist.469 Eben diesem Absolutum aber schließt er sich an. Für Wittgenstein ist das Ethische ein Absolutpunkt, der alle Relativitäten übeschreitet: es zeigt sich als unmittelbare Evidenz, als Erstaunen über die Existenz der Welt. Nicht das Wie-sein löst dieses Erstaunen aus, sondern die Existenz, das Dass-sein. Und als ebenbürtige Grundempfindungen benennt Wittgenstein die intuitive Einsicht in unbedingter Sicherheit („mir kann nichts passieren“) (15 f.), zugleich aber an dritter Stelle das ebenfalls unhitergehbare Momentum der Schuld (16). Diesen Dimensionen ist nicht sprachlich beizukommen. Mehr noch: Wittgenstein betont gerade, dass sie sprachlich unsinnig seien. Doch gleichwohl – und gerade deshalb werde er in keiner Weise schlecht darüber denken.

469 Dieses Absolutum ist freilich keine Frage einer innerphilosophischen Rekonstruktion, es führt aus den Denkabstraktionen in den Anspruch des Lebens zurück und transzendiert die Begriffsformen fundamental.

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Transatlantische philosophische Konstellation: Peirce, Whitehead und der amerikanische Pragmatismus470 1. Zeichenhandeln und -denken: Ch. S. Peirce Die US-amerikanische Gegenküste europäischen Philosophierens spielt im 20. Jahrhundert zunehend eine maßgebliche Rolle. Es ergeben sich vielfache transversale Verbindungslinien zu kontinentalen Denkformen, etwa zu Husserls Phänomenologie. Wenn man auf die Anfänge der Zeichenphilosophie von Charles Sanders Peirce blickt, wird deutlich, dass auch bei ihm von Anfang an Denken als Handlung verstanden wird. So vollzieht sich der Übergang von einem Zustand der Überzeugung, der keine Erkenntnisanstrengung erlaubt, eben damit aber Handeln störungsfrei ermöglicht, zum Störungszustand des Zweifels, der Erkenntnisbemühungen weiterer Art auslöst und in einen neuen Sicherheitszustand zurückgeführt werden sollte. Geist ist also für Peirce nur im Prozess solcher Übergänge seiner selbst mächtig. Dies kann man durchaus in Fortsetzung einer Linie des deutschen Idealismus verstehen; zugleich verbindet es sich mit der der evolutionstheoretischen Sicht von Organismen als adaptiver Systeme. Das pragmatische Grundmotiv belehrt aber darüber, dass wir eben nicht mit einem vollständigen und radikalen Zweifel an unseren Überzeugugnen beginnen können, so wie Descartes es nahelegte. Der Zweifel muss spezifisch sein, das Grundvertrauen in den Bestand der Welt dominiert. Ein universaler Zweifel führt gerade nicht zum Ziel. Dahin gehört auch: „Wir sollten nicht vorgeben, in der Philosophie etwas zu bezweifeln, was wir in unserem Herzen nicht bezweifeln“.471 Daher muss auch nicht cartesisch, oder in strengerer cartesischer Folge, nach einem ‚fundamentum

470 Dieser Abschnitt greift dankbar auf Entwürfe von Jean R. Strepp und gemeinsame Seminare mit ihm in Halle/Saale 2000−2003 zurück. 471 Vgl. Ch. S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pramatizismus, hg.K.-O. Apel, Frankfurt/Main 1991, S. 40 f. Siehe auch H. Pape, Ch. S. Peirce zur Einführung, Hamburg 2004, S. 35 ff., und ders., Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß.

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III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik

inconcussum’ gesucht werden. Nicht absolut unbezweifelbare Aussagen sind zu gewinnen, wir bedürfen nur solcher Aussagen, die wir tatsächlich nicht bezweifeln. Dies ist vollkommen hinreichend. Auf diese Weise wird ein Begriff der Wirklichkeit gewonnen, der nicht auf eidetische Apodiktizität angewiesen ist. „Wirklichkeit“ bezeichnet, „was von unseren Meinungen unabhängig ist und was außerdem geeignet ist, Gegenstand intersubjektiver und dauerhafter Überzeugungen zu sein“.472 Vor allem Peirce legt daher nahe, dass ‚schwache Methoden’ zur Festlegung von Überzeugungen in den meisten Fällen vollständig hinreichend sind: Die ‚Method of tenacity’, die Methode der Beharrlichkeit oder Ausdauer; die Methode der Autorität (Festlegung durch konventionelle Institutionen wie Kirche, Partei oder Familie); und schließlich eine Apriori-Methode, die aber nicht dem Begründungswissen, sondern dem ‚guten Geschmack’ und seinen Analogiebildungen unterliegt. Man könnte daher vor allem im Blick auf Peirce den amerikanischen Pragmatismus, so wie es etwa Helmut Pape getan hat, als einen ‚alltäglichen Idealismus’ beschreiben. 473 Die Akzente sind durchaus unterschiedlich: Peirce, der ungleich in erster Linie ein Logiker ist, ist orientiert an einer Vernunftkonzeption, die Konkretion und damit auch Kontingenz in sich schließt. William James, ungleich stärker Psychologe, ist eher an dem ethischen und individuellen Lebenssinn interessiert. Dennoch stimmen beide hinsichtlich der „Regel des Pragmatismus“ überein, die Peirce einmal so formulierte: „Die intellektuelle Bedeutsamkeit (significance) von Überzeugungen liegt völlig in den Konklusionen, die aus ihnen gezogen werden können, und letztlich in ihren Wirkungen auf unser Verhalten. Denn es scheint keine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Aussagen zu geben, die niemals unterschiedliche praktische Folgen haben kann. Es scheint also, dass die intellektuelle Bedeutsamkeit aller Gedanken letztlich in ihren Wirkungen auf unsere Handlungen liegt. Also ist Denken nur insofern rational als es sich einem künftigen Denken empfiehlt. Oder, anders gesagt, die Rationalität des Denkens liegt in seiner Beziehung auf eine mögliche Zukunft“ (Peirce 7, S. 360 f.).

Charles S. Peirces Entwurf einer Spekulativen Grammatik des Seins. Suhrkamp, Frankfurt 1989. 472 Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung, in: ders., Schriften zu Pragmatismus und Pragmatizismus, S. 293 ff. Dazu auch G. Schönrich, Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce, Frankfurt am Main 1990. 473 Pape, Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles Sanders Peirce und William James, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002, S. 23 ff. und ders., Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozess, a.a.O., S. 35 ff.u.ö.

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1. Zeichenhandeln und -denken: Ch. S. Peirce

Das Modalgefälle zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit wird auf die Relation zwischen logischen Begriffen und pragmatischer Verifikation bezogen. „Logik und exaktes Denken sind weitaus nützlicher, als Du denkst“ (so Peirce an James in einem Brief vom 25. 12. 1909). „Nur das Denken ist exakt, und die Wissenschaft der Logik handelt insbesondere von Möglichkeiten. Dein Geist aber richtet sich auf Tatsächlichkeiten474 (actualities), und die Möglichkeit weißt du nicht richtig zu schätzen. Aber das Fundament, die Mutter und das Wesen der Möglichkeit ist Subjekt, in uns selbst, Träume“. Den pragmatistischen Grundansatz hat Peirce später in die Gestalt einer ausgearbeiteten Semiotik gebracht: Denken wird selbst als Zeichenprozess aufgefasst. Das Zeichen, Sema, wird zum Leitmedium der Philosophie. Seit Nietzsche ist es ein in unterschiedlichen Metamorphosen begegnendes Kennzeichen der Philosophie der Moderne, zeichenhaft auf Grundfragen zu zielen: Das Zeichen „stundet“ Zeit, es setzt Differenzen und den Aufschub. Im Intervall zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Bedeutetem wird der Denkraum eröffnet. „Ein Zeichen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, dass es fähig ist, ein Drittes zu bestimmen, das sein Interpretant genannt wird“.475 Diese Dreistelligkeit geht ins Unendliche fort. Deshalb ist der Zeichenprozess, den Peirce vor Augen hat, Ansatz zu einer Prozessphilosophie. Wir werden eine ingeniöse Fortschreibung auf ganz eigenen Spuren bei Whitehead finden: Eine Prozessphilosophie bestreitet, so will Peirce sagen, dass Einzeldinge und Substanzen elementar sind, die ersten Wesenheiten. Vielmehr müssen komplexe dynamische Wirklichkeiten herangezogen wreden, um nur ein einziges Faktum zu erfassen. Einer solchen semiotischen Linienführung folgte William James im Unterschied zu Peirce nicht. Er geht dagegen, ganz in der Tradition Brentanos (der auch für Husserl maßgeblich ist), von der Intentionalität aus, von der Einsicht, dass bewusstseinsexterne, nicht-mentale Bedingungen erforderlich sind, um geistige Prozesse ihrerseits identifizieren zu können. Helmut Pape hat in jüngerer Zeit gegen eine Deutungslinie in der amerikanischen Philosophie selbst zeigen können, dass der Pragmatismus nicht auf einem Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, der Solidarität vor der Objektivität errichtet ist (allesamt Aussagen von Richard Rorty).476 Dies ist letztlich eine Scheinalternative. Wenn auch immer mit vorläufigen Begründungen, kommen auch die Pragmatisten zu einem Zusammenhang von Wissenschaft und Leben/Alltag, der untrennbar sein sollte. Wissenschaft ist „eine 474 Da im englischen Originaltext ‚actualities‘ steht, könnte man präzise von „tasächlichen Sachverhalten“ sprechen. 475 Dazu Pape, a.a.O., S. 250 ff. und Schönrich, S. 24 f. 476 R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/Main 1989, ders., Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: ders., Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988.

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III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik

Lebensweise, die gänzlich von der Absicht beseelt ist, die wirkliche Wahrheit herauszufinden, die diese Absicht mit einer wohlüberlegten Methode verfolgt und nach Kooperation strebt in der Hoffnung, dass die Wahrheit gefunden werden kann“ „Der pragmatische Idealismus besagt, dass die Wirklichkeit in der Zukunft besteht, Sie geschieht durch Reifung (meollonization). Ich denke an jene logische Operation, mittels welcher das, was als gewesen begriffen wird, als wiederholt aufgefasst wird (oder was eines Tages sein wird, das heißt dessen Abwesenheit nicht immer sein wird, was gleichermaßen Reifung einschließt“.477 2. Whiteheads kosmologischer Monismus Alfred North Whitehead bildet Kontrapunkt und Korrespondenz zu der semiotischen Philosophie. Auszugehen ist von seinem Hauptwerk ‚Prozess und Realität‘. Auch dieses Werk ging aus einer Vorlesungsreihe hervor, den berühmten Gifford Lectures für natürliche Theologie, die an 4 schottischen Universitäten seit 1888 jährlich stattfinden. In den Listen der Gifford Lecturer findet man Namen wie W. Heisenberg (Physik und Philosophie), C.F. v. Weizsäcker, H. Putnam usw. Whitehead hat später drei seiner Bücher ‚Wissenschaft und moderne Welt‘, ‚Prozess und Realität‘ und ‚Abenteuer der Ideen‘ zusammenfassend als sein Hauptwerk bezeichnet. Sie würden sich für das Verständnis gegenseitig ergänzen und das darstellen, was er philosophisch in die Waagschale zu werfen gehabt habe. Der Zugang zu ‚Wissenschaft und moderne Welt‘ geht von Whitheads Rekonstruktion der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft aus. ‚Prozess und Realität‘ ist demgegenüber das Buch für Philosophen, das die Kosmologie als spekulative Metaphysik in ihrer eigenen Sprache entwickeln will, Abenteuer der Ideen versucht dann das System mit kulturhistorischen Entwicklungen und außerdem den Systemen der Religion in Beziehung zu setzen. Whiteheads Gifford Lectures fanden im Wintersemester 1927/28 an der Universität Edinburgh statt. Man kann nicht behaupten, dass die Vorlesungsreihe äußerlich und prima facie ein Erfolg gewesen wäre. Bei der Antrittsvorlesung war der Saal voll, geschuldet dem prominenten Duktus der Vorlesungsreihe, aber im weiteren Verlauf ist es keineswegs sicher, ob Whitehead in jedem Plenum eine Hand voll Hörer hatte. Er las 10 Vorlesungen und nach

477 A. N. Whitehead, Prozess und Realität, Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt/Main 1987, siehe auch das Original: Process and Reality.Corrected Edition, New York 1985, zur Diskussion grundlegend M. Hampe und H. Maaßen (Hg.), Die Gifford Lectures und ihre Deutung. Materialien zu ‚Prozess und Realität‘ 2, Frankfurt/Main 1991. Das Werk wird im Folgenden im Fließtext abgekürzt als PR.

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2. Whiteheads kosmologischer Monismus

Ende des Semesters erweiterte er das Textcorpus beträchtlich, große Teile des dritten und vierten Teils sind vermutlich ganz neu geschrieben worden. Es war eine in seinem philosophischen Leben einmalige Denkanstrengung und er zog sich phasenweise ganz zurück, was sonst nicht seine Gewohnheit war. Das Werk erschien 1929 zeigtleich transatlantisch an zwei Orten: in England bei der Cambridge Univ. Press und in New York bei Macmillan Publishing. Diese beiden Ausgaben weichen im Einzelnen des Öfteren voneinander ab und die beiden Erstausgaben eines der Hauptwerke der Philosophie des 20. Jahrhunderts sind natürlich unterschiedlich paginiert. Die Textgrundlage für die Forschung verbesserte sich wesentlich, seit im Jahr 1978 die sog. Corrected Edition herauskam, die eine Rekonstruktion des besten Textes auf der Grundlage der beiden Erstausgaben versucht. Diese ‚Corrected Edition‘ liegt auch der deutschen Übersetzung, Frankfurt 1987, zugrunde, die im Folgenden ab und an zitiert werden soll. Das Werk ‚Prozess und Realität‘ besteht aus 5 Teilen: Der erste Teil bestimmt Whiteheads Begriff der spekulativen Philosophie und gibt damit zugleich systematisch an, unter welchen Anspruch sich das Unterfangen selbst stellt. Whitehead gibt hier zu verstehen, was für eine Aufgabe Philosophie übernehmen soll. Weiterhin wird im ersten Teil das Kategorienschema angegeben, das den Anspruch methodisch einlösen soll. Ein grundlegendes Problem zeigt sich eben hier: Whitehead liefert keine Herleitung der im Kategorienschema verwendeten Begrifflichkeit. Der innere Zusammenhang der Kategorien soll ja für die Bedeutung der in ihrer Formulierung verwendeten Begriffe zumindest mitverantwortlich sein. Whitehead betont in diesem Zusammenhang auch, dass die Verwendung der natürlichen Sprache notwendig, aber nicht unproblematisch ist. Whitehead verwendet etwa das im Kategorienschema entwickelte Konzept einer „Proposition“ zur Kritik an der natürlichen Sprache: Eine Konturierung seines Denkens, die sich systematisch mit der Suche nach einer Begriffssprache bei Frege und Russell verbindet. Nach der Diskussion einiger grundlegenden Begrifflichkeiten, die nicht direkt im Kategorienschema vorkommen, aber sozusagen erste Ableitungen darstellen, u.a. „Gott“, folgt dann der zweite und längste Teil des Werkes. Er besteht aus 10 Essays, die das Kategorienschema, den Entwurf der Philosophie der Organismen, anwenden, auf Adäquatheit prüfen und traditionelle philosophische Problemkonstellationen auf das metaphysische Schema abbilden, um anzuzeigen, wie das Begriffsschema seinem Fundierungsanspruch noch gerecht werden können soll. Der dritte und vierte Teil entwickelt dann die Kosmologie in der Begrifflichkeit der organismischen Philosophie selbst, wobei die Scheidung in einen dritten und vierten Teil einem Grundgedanken des Systems geschuldet ist. Mit dem zweiten Teil ist deutlich genug geworden, dass die Theorie, um die es geht, quasi zusammenfällt mit der Theorie wirklicher Ereignisse(actual entities), bis hin zu der in kausaler Hinsicht minimalen

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III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik

Raum-Zeit-Zelle, da jegliche Weltstruktur in solche sog. aktuale Entitäten zerlegt werden kann. In kausaler Hinsicht sind diese aktualen Entitäten als unteilbare Atome zu interpretieren, weil sie immer nur in ihrer vollen Komplexität auf Ereignisse einwirken, die in ihrer Zukunft liegen. Aber sie sind selbst Gewordene, sie haben eine Syntheseleistung ihrer Vergangenheit vollbracht, sie stellen Prozesse dar, die ihr Ergebnis an die Zukunft weitergeben und sich selbst in irgendeiner Gestalt in der Raum-Zeit (im extensiven Kontinuum) manifestieren. Dieser Prozess ist in der Theorie bis zu einem „atomon eidos“ teilbar; es werden also die Voraussetzungen dieses Prozesses sichtbar gemacht und die Stufen, die er vollzieht. Dies geschieht im 3. Teil von PR (Der „Theorie des Erfassens“). Die Gestalt im extensiven Kontinuum ist ihrerseits teilbar in morphologischer Hinsicht: dies ist das Thema der geometrischen und mess-theoretischen Betrachtungen im 4. Teil. Der Grundgedanke, der zur Scheidung zwischen dem 3. und 4. Teil führt, besagt nun, dass die kausalen, diskreten Begrifflichkeiten der Theorie des Prozesses einer jeweiligen aktualen Entität, seine sog. genetische Teilung, nicht direkt zu vermitteln sind mit den kontinuierlichen Begrifflichkeiten der Theorie der Ausdehnung. Die Ausdehnungstheorie wird dann im 4. Teil behandelt. Der Prozess läuft nicht kontinuierlich ab, sondern diskret, entsprechend der kausalen Relationen und in Rücksicht auf die Sachverhalte, die zu integrieren und zu verarbeiten sind. Es ist ein Ergebnis dieses Prozesses, dass er sich morphologisch in Raum und Zeit als Muster abbildet, aber dieses Muster bietet in seiner Struktur keine der kausalen Bedingtheit des Ereignisses entsprechende Information ab. Der Aufbau der Theorien der Teilungen, der genetischen und der morphologischen Teilung einer aktualen Entität, verhalten sich also „komplementär“, analog der Komplementarität von Welle und Teilchen in der Quantenphysik nach dem Kopenhagener Modell. Komplementarität bedeutet, dass die diskrete kausale Begrifflichkeit der Theorie des Erfassens und die entsprechenden Aussagen über die inner Struktur des Ereignisses nicht direkt mit der kontinuierlichen, geometrischen Begrifflichkeit der Theorie der Ausdehnung und ihrer Aussagen über die Gestalt der Ereignisse zu vermitteln sind. Trotzdem sind beide Theorieformationen nötig, um das Ereignis in seiner vollen Komplexität zu fassen. Diese komplementäre Tektonik von PR steht genetisch ebenso wie systematisch in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Quantentheorie, die im Jahr 1927 ihre ‚Kopenhagener Deutung‘ fand, bis heute die Standarddeutung. Niedergelegt ist sie in zwei grundlegenden Arbeiten: Werner Heisenbergs ‚Über den anschaulichen Inhalt der quantenmechanischen Kinematik und Mechanik‘ (Z. f. Physik 43, S. 172–198, 1927) und N. Bohrs ‚Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomistik‘.

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2. Whiteheads kosmologischer Monismus

(Naturwissenschaften 1928, Como Vortrag vom 16.9.1927).478Ich gebe an dieser Stelle nur die Andeutung jener Deutung ausgehend von einem Zitat aus der Arbeit von Bohr: „Nach dem Wesen der Quantentheorie müssen wir uns also damit begnügen, die Raum – Zeit – Darstellung und die Forderung der Kausalität, deren Vereinigung für die klassischen Theorien kennzeichnend ist, als komplementäre aber einander ausschließende Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzufassen, die die Idealisation der Beobachtungs – bzw. Definitionsmöglichkeiten symbolisieren“. (Festschrift: Niels Bohr, Der Kopenhagener Geist in der Physik (Hgg. Meyenn, Stolzenburg, Sexl) Braunschweig 1985, S. 159).479 Whitehead hat in der Tat als einer der ersten Philosophen der Zeit den Versuch unternommen, diese avancierteste Form der modernen Physik philosophisch zu reflektieren. Der 5. Teil bietet dann die „abschließende Interpretation“. Dieses Schlusskapitel geht den idealen Gegensätzlichkeiten nach, die in der Kosmologie bestehen: Freude und Leid, Gut und Übel, Freiheit und Notwendigkeit. Whitehead liest sie als Pointierungen der Metaphysik und wendet sich dann zum Ende der idealen Gegensätzlichkeit – Gott und die Welt – zu. Dabei geht es im Wesentlichen um die metaphysische Abschlussfrage, wie Gott, der in seiner Urnatur die ewigen Objekte in eine Relation gefügt hat, die jeglicher Erfahrung ihre Abgegrenztheit verleihen, die Welt in ihrem prozessualen Verlauf begleitet. Er spricht dabei von der sogenannten Folgenatur Gottes, die den organismischen Strukturen in der Raum- Zeit, in ihrer jeweiligen Einheit, diejenige gemeinsame Einheit stiftet, auf die sie sich alle beziehen können. Beginnen wir nach dieser Skizze der Tektonik des Gefüges von PR mit Whiteheads Begriff der spekulativen Philosophie.Whitehead hält dabei einen stringenten Kohärenzbegriff fest. Kohärenz bedeute, „dass die grundlegenden Ideen, anhand derer das Schema entwickelt wird, einander voraussetzen und isoliert betrachtet sinnlos wären“.480 Dies heißt freilich nicht, dass sie in einem „mos geometricus“ auseinander ableitbar wären. Die Grundbegriffe sind aber immerhin nicht voneinander abstrahierar zu denken, so dass „kein Einzelwesen in vollständiger Abstraktion vom System des Universums gedacht werden kann“.481

478 Vgl. hierzu C.Held, Die Bohr-Einstein-Debatte.Quantenmechanik und physikalische Wirklichkeit, Paderborn 1998. 479 Vgl. dazu H. Holz, E Wolf-Gazo (Hrsg.): Whitehead und der Prozeßbegriff/Whitehead and The Idea of Process. Beiträge zur Philosophie Alfred North Whiteheads auf dem Ersten Internationalen Whitehead-Symposion 1981. Alber, Freiburg/München 1984, F. Rapp und R. Wiehl (Hg.), Whiteheads Metaphysik der Kreativität. Internationales Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983. Alber, Freiburg/München 1986. 480 Whiehead, Prozess und Realität, Frankfurt/Main 1995, S. 31 f. 481 Ibid., S. 31.

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III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik

Für den Überschritt von konkreter Erfahrung zur kohärenten Theoriebildung ist Whiteheads Sicht der Induktion sehr interessant. Induktion erfordert nach Whitehead zugleich das Spiel der Phantasie: „Sie hebt ab von der Grundlage einzelner Beobachtungen, schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschärft sind“.482 Damit ist ein Hintergrund der Induktion benannt, der in der klassischen Induktionsarchitektur, etwa bei Francis Bacon nicht berücksichtigt wurde. Jene Flugbahn der wahren Forschungsmethode beschreibt natürlich auch das von Whitehead verfolgte Unterfangen, allerdings geht es ihm nicht nur um die Fassung dieses oder jenes Phänomens unter diese oder jene Abstraktionen, sondern um den Gesamtzusammenhang unserer Erfahrung überhaupt, die im System zusammengestellt werden soll.483 Whitehead erkennt als Aufgabe der Philosophie die Kritik der Abstraktionen, die in den Fakultäten der Einzelwissenschaften ihre Bedeutung haben und setzt als Kriterium die kohärente Systematisierung von Erfahrung überhaupt an. Damit bietet das System Grundlagen einer Urteilkraft, um die Reichweite von Theorien überhaupt einzuschätzen und zu kritisieren: nach Whitehead Kernaufgabe der Philosophie. Diese Leistung des Systems hat allerdings möglicherweise ein Verfallsdatum, an dem das System nicht widerlegt, wohl aber aufgegeben wird. Dann zeigt die Erfahrung einen Erkenntnispunkt an, der von der Systematisierung nicht mehr gefasst werden kann. Sobald dies auftritt, ist der Zeitpunkt für einen neuen spekulativen Entwurf gekommen – Whiteheads Denken fügt sich so ins Konzept der sogenannten evolutionären Metaphysik, wie sie Peirce federführend entwickelt hat.484 Die Kritik des Systems richtet sich gegen die Abstraktionsleistungen der wissenschaftlichen Modelle seiner Gegenwart, sie macht aber nicht einmal vor den elementaren Ausdrucksformen der Sprache halt. Whitehead kritisiert insbesondere die Subjekt-Prädikat-Form von Aussagen, wenn sie zu unmittelbar als Ausdruck eines metaphysischen Zusammenhangs gedacht wird, etwa wenn vom grammatikalischen Subjekt auf eine Substanz geschlossen wird, die Erkenntnisobjekt des Subjektes sein soll. In Whiteheads Analyse sind etwa die Sätze: „Das Gras ist grün“ und „Das Haus ist groß“ zwar von gleichem, isomorphem, Bau, doch darüber hinausgehend sind sie völlig verschieden zu lesen. Man sieht hier schon, dass es Whitehead um die Konzeption einer Ontologie geht, die jeglicher analytischen Betrachtung ihr Fundament gibt. Die Exposition des Begriffs der spekulativen Philosophie mündet dann in die folgenden 482 Whitehead, a.a.O., S. 34. 483 Ibid., S. 44 f. 484 Vgl. dazu M. Otte, Th. Mies, M. Hoffmann, Die Symmetrie von Subjektbezug und Objektivität wissenschaftlicher Verallgemeinerung. Untersuchungen zur Begründung wissenschaftlicher Rationalität im Anschluss an die mathematische Philosophie von Charles S. Peirce, Occasional Paper 162, Februar 1997.

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3. Platons Chorá und Whiteheads Begriff des extensiven Kontinuums

Sätze: „Der Nutzen der Philosophie besteht darin, die allgemeine Systematisierung des zivilisierten Denkens zu fördern“.485 Zwischen Spezialistentum und Common sense müsse daher ein Ausgleich gefunden werden, eine Verschweißung „von Phantasie und gesundem Menschenverstand“, so dass Philosophie gerade durch die Bildung eines umfassenden Theorierahmens auch die Einzelfälle in ihrer Vielfalt erst bestimmen kann, „die unrealisiert im Schoß der Natur ruhen“.486 Whitehead gibt im Folgenden das Kategorienschema an, das die Essenz seines kosmologischen Entwurfs darstellen soll. Es ist gegliedert in 4 Typen von Kategorien: Die Kategorien des Ultimativen, die 8 Kategorien der Existenz, die 27 Kategorien der Erklärung und die 9 kategorialen Verbindlichkeiten. (Kat des Ultimativen lesen und interpretieren) Hier kann nur, ohne dass das Kategorienschema im Einzelnen rekonstruiert werdenkann, anhand von Grundmotiven versucht werden, deutlich zu machen, wie Whiteheads System verfasst ist.487 Es ergibt sich eine gleichsam parataktische Zugangsart, deren Einzelschritte nicht direkt aufeinander aufbauen. Die Problematik der Erläuterung eines solchen Systems mit einer solchen inneren Anforderung nach Kohärenz besteht darin, dass mit jeder Einzelaussage auch alles andere, was damit im Zusammenhang steht, mit gesagt werden müsste, so dass in jeder Einzelbestimmung das System als ein Ganzes mit zur Sprache käme. Dies ist indes eine Herausforderung, die alle großen Systeme, auch das Hegelsche, an den Leser richten, auch wenn in jenen Systemen der Zusammenhang der Aussagen methodisch stärker expliziet wird. 3. Platons Chorá und Whiteheads Begriff des extensiven Kontinuums Der platonische Dialog ‚Timaios‘ hat zwei Anfänge. Nach einer Exposition, in der die Erschaffung des Kosmos in einer Polarität von zwei Gattungen exponiert wird, von der die eine als Notwendigkeit eine Konkretion darstellt, die an die Vernunft (nous) gebunden wird und der ein Gegenhalt in der Idee gegeben wird. Im zweiten Anfang des ‚Timaios‘ (47e ff) wird dann aber eine dritte Gattung eingeführt, deren Beachtung einen anderen Anfang anzeigen soll, also eine neue Sicht auf das ganze Gefüge. Diese dritte Gattung ist die

485 Ibid., S. 56. 486 Ibid., S. 56. 487 Vgl. dazu bereits Ch. Hartsthorne, Whitehead’s Philosophy: Selected Essays, 1935−1970, Lincoln: University of Nebraska Press 1972; vgl. jetzt auch S. Rohmer, Whiteheads Synthese von Kreativität und Rationalität, Reflexion und Transformation in Alfred North Whiteheads Philosophie der Natur, Freiburg/München 2000.

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III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik

Chorá, kein Begriff, sondern ein bildhafter Ausdruck.488 Man kann dieses Wort unterschiedlich übersetzen, etwa als: Amme des Werdens, Worin des Werdens, Notwendigkeit (im Sinne der Einschränkung der abstrakten Möglichkeit) und als Raum (Tim. 48e f.; 49e f.). Whiteheads Kosmologie bewegt sich in einem ganz ähnlichen Sinn in der fundamentalen Polarität von Abstraktion und Konkretion, von ewigen Objekten und aktualen Entitäten, die das Fundament der Ontologie ausmacht. An folgendem Zitat aus dem Abstraktionskapitel von ‚Wissenschaft und moderne Welt‘ wird schon deutlich, dass für Whitehead das raumzeitliche (bzw. das extensive) Kontinuum die Rolle der dritten Gattung übernimmt.489 Das raumzeitliche Kontinuum ist es also, das dem abstrakt Möglichen seine Einschränkung auferlegt, eine Bedingung dessen, was überhaupt konkret werden kann, insofern es raumzeitlich realisiert werden kann. Entsprechend dem Charakter seiner Kosmologie, findet sich dieser Gedanke im Zusammenhang des Begriffs der Personalität wieder.490 Whitehead sieht also eine direkte Beziehung zwischen der fundamentalen Bedingtheit jeglicher Konkretion als raumzeitliche Konkretion und unserem Personalitätsgefühl, das auf die Einheit und Eingeschränktheit unseres Erlebensstandpunktes Bezug nimmt. Was unser Erlebensstandpunkt eigentlich ist, illustriert Whitehead etwa auch im Blick auf Descartes‘ Meditationen.491 Hier wird deutlich, wie konsequent Whitehead das menschliche Wesen bis hin zum ‚atomon eidos‘ in Ereignisse zerlegt und Kontinuitäten dann ex post ableitet. An Descartes beachtet Whitehead vor allem die „enge Verbindung mit der unmittelbaren Erfahrung“, die für die leibliche Präsenz in Anspruch genommen werde.492 Es ist die organische Repräsentanz, für die die wirkliche Welt erst in Präsenz gegeben ist.493 Eine Analyse muss Whitehead zufolge wirklich zu letzten Elementen kommen, die raumzeitlich ausgedehnt sein müssen. Er erläutert dies in einer eigenen Version des Zenonischen Paradoxons.494

488 Vgl. Platon Timaios 47 d ff. Vgl. dazu auch Seubert, Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, Freiburg/Br., München 2017, S. 507 ff. 489 Dazu A. Berve, Spekulative Vernunft, symbolische Wahrnehmung, intuitive Urteile – Höhere Formen der Erfahrung bei A. N. Whitehead. Freiburg/München 2015. 490 Vgl.Whitehead, Das Abenteuer der Ideen, a.a.O., S. 342 f. Dazu R. Wiehl, Metaphysik und Erfahrung.Philosophische Essays, Frankfurt/Main 1996 mit einem starken durchgehenden Bezug auf die Möglichkeiten einer Subjektivitätstheorie ausgehend von Whitehead. J. Strepp hat seinen Plan der Realisierung einer subjekttheoretischen Ausarbeitng zu Whitehead zu meinem Bedauern nicht realisiert. Dazu auch Chr. Kann, Fußnoten zu Platon. Philosophiegeschichte bei A. N. Whitehead, Hamburg 2001. 491 Whitehead, Prozess und Realität, S. 153 f. 492 Ibid., S. 153. 493 Vgl. ibid., S. 120. 494 Ibid., S. 142.

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5. Die Bestimmungen des Lebens und des Bewußtseins

4. Die zweifache Wahrheit: Whiteheads Konzept der Proposition und die Wahrheitstheorien der Kohärenz und Korrespondenz Die Wahrheitstheorie spielt in Whiteheads Begriffsrahmen eine wichtige Rolle. Zwischen „Urteil“ und „Aussage“ wird strikt unterschieden: Während das Urteil auf Empfindung des Einzelwesens bezogen ist und in dessen Beschaffenheit eingeht, ist die Aussage im Sinn propositionaler Richtigkeit zu erfassen und zu kritisieren.495 Urteile dagegen können nur in Bezug auf die Zukunft der jeweiligen aktualen Entitäten kritisiert oder gar korrigiert werden. Anders als Aussagen sind Urteile im Universum selbst situiert. Aussagen (Propositionen) verweisen dagegen auf das Datum des Erfassens. Propositionen sind in Whitheads metaphysischem Sprachgebrauch Anreize für das Empfinden, Er nähert sich damit der Struktur der Urteilsenthaltung (Epüoché) in der Husserlschen Phänomenologie. Whitehead formuliert: „Oder man stelle sich ein starkes religiöses Gefühl vor – etwwa eines Christen, der sich in die Evangelien vertieft. Er urteilt nicht ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, er entühllt ihren Wert als Elemente des Empfindens.“496 Verifikationsbedingungen und Wahrheit werden bei Whitehead nicht einfach miteinannder identifiziert, er versteht vielmehr die Korrespondenztheorie als potentielle Kritik der Kohärenztheorie; auch hier besteht ein Komplementaritätsverhältnis, so dass erst aus beiden Seiten des Verhältnisses die Verknüpfung zu gewinnen ist. 5. Die Bestimmungen des Lebens und des Bewußtseins Leben wird bei Whitehead im Rahmen einer evolutionären Metaphysik verstanden. Hohe Spezifizierng und Differenzierung gefährdet indes die Überlebens- und Anpassungsfähigkeiten. Zugleich bedeutet die Differenzierung eine Steigerung von Intensität und Perzeptionsfähigkeit, letztlich auch von Kultivierung.497 Zwischen sozialen und natürlichen Gebilden unterscheidet Whitehead nicht grundlegend. Sie bedürfen beide eines Umgangs mit dem Differenzierungsvermögen: Einerseits können sie Einzelereignisse, die das System sprengen, ausschließen, damit eine Durchschnittsobjektivierung in dem jeweiligen Nexus erreicht wird; dann macht sich die Gesellschaft „diese der Objektivierung inhärente Abstraktion zunutze, die destruktiven Elemente eines Nexus abzuweisen“.498 Andererseits kann durch die Bildung fester Nexus in der Umgebung eine

495 496 497 498

Dazu zentral, ibid., S. 355. Prozess und Realität, S. 344. Ibid., S. 197. Ibid., S. 197.

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III. Transatlantische Diskurse: A.N. Whiteheads Prozessphilosophe und Ch. S. Peirce Semiotik

höhere Stabilisierung erreicht werden. So wird Einheit in den Nexus etabliert, in dem sie nicht in Vielheiten dissoziiert.499 Ein nicht kompensatorischer, sondern kreativer Umgang besteht hingegen in der Reflexivität und dem bewussten Erfassen der neuen Elemente und Empfindungen. Leben steigert sich mit diesem Bewusstwerden, das in der Lage ist, die neuen Erfahrungen zu integrieren und die Einzelereignisse zu transzendieren.500 Vor diesem Hintergrund entwickelt Whitehead seine Genealogie des Bewusstseins, die bei elementarsten Formen der anorganischen Materie und des bloßen Lebens ansetzt. Während eine erste Phase die Empfindungen nicht in sich integriert, geschieht in einer zweiten Phase dieIntegration. „Die Ursprünge werden der individuellen Erfahrung untergeordnet“ in einem privaten Ideal, oder Strebenszusammenhang, wie Whitehead es nennt.501Auf eine Hegelsche Matrix übertragen, könnte man von einer Erhebung der Substanz in das Subjekt sprechen, einer Selbstreflexivität des Geistes. 6. Gottes Gedanken in der Schöpfung und die zwei Naturen Gottes Whietheads Konzeption mündet in den Gottesgedanken ein. Seiner Anfangsnatur nach ist Gott Eines, das vom Uranfang her gewesen war. Er tritt dann in Vielheiten und prozessuale Differenzierungen ein. Demgegenüber sei die Welt als Korrelat Gottes umgekehrt angelegt. Ursprünglich ist sie vieles, sammelt sich aber immer wieder zur Einheit.502 Die Erweiterung auf die Folgenatur Gottes fasst Whitehead so auf, dass seine Realisierung als begriffliche Einheit der Vielheit der actual entities, „die einander brauchen und vernachlässigen, ausnutzen und abweisen, vergehen und doch als eigensinnige Tatsachen Leben beanspruchen“,503erst ihre Dauer und Form geben. Der Gottesgedanke wird für Whitehead mithin auch Entsprechung einer permanenten Erneuerung und Auffrischung, einer nicht ins Verlorene gehenden beharrlichen Sehnsucht, die auf Existenz drängt und daraus einen wohlbegründeten Trost zu ziehen vermag.504 Whiteheads Denken steht, so meine ich, seine Zukunft noch bevor, nicht zuletzt, weil es über die statischen Gegensätze zwischen Natur- und Geistesoder Kulturwissenschaften hinausblickt und einen kühnen Bogen von der

499 Vgl. R. Wiehl, Aktualität und Extensivität in Whitheads Kosmo-Psychologie, in: M. Hampe und H. Maaßen (Hg.), Die Gifford Lectures und ihre Deutung.Materialien zu Whiteheads ‚Prozess und Realität‘, Frankfurt/Main 1991, S. 313 ff. 500 Ibid., S. 199. 501 Ibid., S. 392. 502 Ibid., S. 323 f. 503 Ibid., S. 624. 504 Ibid., S. 626 f.

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6. Gottes Gedanken in der Schöpfung und die zwei Naturen Gottes

modernen Physik bis zu Ontologie und Theologie spannt. Whitehead durchbricht damit auch die herkömmlichen cartesischen Differenzen zwischen Materie und Geist, und sieht die Materie als verkörperten Geist an. Dies bedeutet auch, dass Whitehead unschwer die Standards of art der Relativitätstheorie und Quantenphysik aufnehmen und in einer Ontologie beantworten kann, die weder ignorant noch arbiträr zu ihnen sind. Ideen sind, wie er in seinem großen späteren philosophiehistorischen Werk gezeigt hat,505 Prophezeiungen, die nach einer Realisierung fragen und auf Erfülllung zielen. Platon und Aristoteles formulierten den Begriffsrahmen der europäischen Ideen- und Realgeschichte. Die durch sie gewonnenen Begriffe ermöglichten es, Verknüpfungen herzustellen und Perspektiven zu eröffnen, in denen sich dann ein Fortgang und eine Veränderung der Welt ereignen konnten. Obwohl Whiteheads Horizont zunächst eher durch Logik und mathematische Philosophie einerseits, die Traditionen Lockes und des Pragmatismus andererseits gekennzeichnet ist, nähert er sich mit der Gesamttektonik seines Denkens dem Hegelschen Diktum an, wonach das Wirkliche vernünftig wird, das Vernünftige aber wirklich.

505 Whitehead, Abenteuer de Ideen, Frankfurt/Main 2000.

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Dritter Teil: Zwischenwelten Max Weber und Sigmund Freud, oder: Ob Philosophie an ihr Ende gekommen ist

I. Max Weber und die Conditio moderna

1. Die strenge Wissenschaft von Geschichte und Gesellschaft Mit der Gestalt Max Webers, geboren 1864, gestorben 1920 in München an der damaligen verheerenden Pandemie der spanischen Grippe, betritt ein Mann die Bühne des europäischen geistigen Lebens, der gleichermaßen Historiker, Nationalökonom und in gewissem Sinn Begründer der modernen Soziologie ist, während er zugleich die Kategorien prägt, die aus dem philosophischen Diskurs nicht mehr wegzudenken sind. Webers Vita ist bewegt, in seiner komplexen Persönlichkeit umspannte er ein breites Spektrum von Realiäten. Er war nach vielfachen Testimonien eine gleichermaßen faszinierende und gefährdete Persönlichkeit. Manische und depressive Phasen wechseln sich ab. In den Jahren von 1898 bis 1902 ist er nach einer glänzenden Karriere praktisch unfähig zu aller Arbeit, er nennt die Zeit seiner psychischen Verwundungen und Apathien den ‚Höllensturz’, mitbedingt durch familiäre Zerwürfnisse, vor allem den endgültigen Bruch mit dem Vater, der auch dem calvinistisch protestantischen Erbe gilt und der in einer gewissen Tragik ohne Versöhnung bleibt, weil der ältere Weber wenige Wochen später stirbt. Es folgen schwere Nervenleiden, Überspannungen, die dem jungen Professor in Heidelberg zunehmend die Lehre erschweren, ja unmöglich machen. Weber bewegt sich in der folgenden Zeit immer auch in der Sogkraft der Politik, etwa im Umkreis des politischen Liberalismus von Friedrich Naumann. Hinzukommen die Heidelberger Kreise, die er in seiner Sonntagsgesellschaft um sich sammelt: Der Theologe und Philosoph Ernst Troeltsch, der im selben Haus lebt, Karl Jaspers, Friedrich Gundolf, aber auch Vertreter einer neuen Generation. Durch die Gattin Marianne Weber und Max Webers Bruder Alfred werden vor allem die Sonntagsmatineen weit über Webers Tod hinaus fortgeführt werden: Stefan George ist zeitweise zu Gast, Georg Lukács, Ernst Bloch sind dann die jüngeren Exponenten dieses Kreises. Gerade in späteren Jahren kommt es auch zu Kontakten Webers mit der äußersten, anarchistischen Linken. Auf der Burg Lauenstein in Thüringen diskutiert er mit Erich Mühsam und Ernst Toller, Marianne Weber spielt eine zentrale Rolle im Bund der Deutschen Frauenvereine. Doch erst nach einem Interludium in Wien und mit der Berufung in München ist Weber wiederum zu regelmäßiger intensiver wissenschaftlicher Arbeit in der Lage. Eine zumindest episodisch wichtige historische Rolle spielt Weber, als er Ludendorff im Jahr 1919 aufsucht, um ihn zur Selbstauslieferung an die Siegermächte aufzufordern.

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I. Max Weber und die Conditio moderna

In seinen letzten Lebensmonaten entwickeltMax Weber noch einmal eine irritierende Aktivität. Dazu gehören die große programmatische Rede über ‚Wissenschaft als Beruf‘, die Redetätigkeit vor den Münchner Studenten und eine fulminante Vorlesungstätigkeit. Der letztlich überraschende Tod ereilte ihn am 14. Juni 1920. Weber ist wohl neben Nietzsche der Theoretiker, von dem man am meisten und grundsätzlichsten über die Conditio moderna lernen kann. Von epochaler Durchlagskraft ist sein Diktum von der ‚Entzauberung der Welt’.506 Weber zeigt mit machtvollen Begriffen auf, dass „das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und die damit ihre Unschuld verlor, darin besteht, wissen zu müssen, dass wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, dass ‚Weltanschauungen’ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können“.507 Wenn Husserl den Hiatus zwischen Wissenschaft und Lebenswelt in seiner späten Vernunft-Theorie fast zur selben Zeit noch einmal schließen wollte, so ist das Fazit von Weber dem gerade diametral entgegengesetzt – die Einsicht in die Unüberbrückbarkeit jener Kluft. Dabei ist bei Weber, seit seiner fulminanten Soziologie des ‚Geistes des Kapitalismus‘, ausgehend von ‚Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus’ 1904/05, entscheidend, dass er der rationalisierten Lebensform im welthistorischen Kontext nachgeht und in ihr eine Zäsur erkennt, die die alteuropäische integrative Kraft großer Sinn- und Sittensysteme auflöst. Damit beginnt ein Zerspaltungsprozess bestimmend zu werden, der zu dem folgenden Resultat führt: , half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch, maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen mit überwältigendem Zwange bestimmt, und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“.508 Webers soziologische Konzeption, die aus Nationalökonomie und alter Geschichte hervorgeht, beruht auf einer spezifischen Erkenntnis- und Wissen-

506 Biographisch vgl. zu Weber: D. Kaesler, Max Weber: Preuße, Denker, Muttersohn, München 2014 und in der psychologischen Linie provozierender aber anregender W. Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005. 507 M. Weber, Wissenschaft als Beruf; dazu: H. Lehmann, Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen 2009, siehe auch als Antwort auf den wirkmächtigen Topos Webers: H. Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt/Main 2017. 508 Weber, Der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Band !, Tübingen 1988, S. 203

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1. Die strenge Wissenschaft von Geschichte und Gesellschaft

schaftstheorie. Weber hat darin von Grund auf auch der vielfach naiv vertretenen Auffassung widersprochen, wonach Wissenschaft und Weltanschauung unabhängig voneinander sind und in zwei Welten schiedlich-friedlich nebeneinander betrieben werden können.509 Wissenschaft ist Weber zufolge vielmehr selbst eine Weltanschauung. Weber stellt sich die Frage von Realund Erkenntnisobjekt, ein durchaus neukantianischer Horizont (im Rückgriff auf Heinrich Rickert). Damit ist auch das Problem aufgeworfen, was in den Kulturwissenschaften, die nicht messend verfahren, der Objektvititätsbegriff bedeuten kann. In den Kulturwissenschaften muss ein Wissenswert die Frage anleiten. Insofern geht allem Erkennen eine Vorurteilsstruktur voraus. Weber insistiert auf Werturteilsfreiheit der Wissenschaft. Wissenschaft wertet nicht, sie bezieht sich aber auf Werte. Die Wertebezüge eines vergangenen Systems können nur ans Licht gehoben werden, wenn der rekonstruierende Kulturwissenschaftler ihnen gegenüber neutral bleibt: hier besteht eine Analogie zu der von Max Weber eingeforderten Epoché. Werturteilsfreiheit meint daher essentiell auch, dass nicht weltanschauliche oder sonstige Vorlieben so generiert werden dürfen, als seien sie ‚beweisbar’. Der akademische Lehrer kann zwar Werturteile abgeben; gerade in krisenhaften Zeiten kann es dazu geradzu eine Verpflichtung geben und ein so charismatischer, ja explosiver, unter ständiger neurologischer Anspannung stehender Lehrer wie Weber einer gewesen ist, konnte gar nicht anders. Wenn er von der Gefährdung des „Kathederpropheten“ spricht, so spricht er immer auch von sich selbst. Das Francis Baconsche Diktum: „Von uns selbst aber schweigen wir“, wäre selbst ein Reduktionismus.510 Dies weiß Weber. Gerade er ist ein charismatischer Lehrer gewesen, allerdings fügt er hinzu, er müsse sie als subjektive Urteile ausweisen und seine Hörer sollten in ihm nicht den ‚Führer’ misskennen. 1917 hat Weber in seinem Münchener Vortrag von ‚Politik als Beruf’ gehandelt- In dem von der Räterepublik geschüttelten München gab er unter dem Rubrum ‚Politik als Beruf‘ im Januar 1919 eine Ergänzung und eine Art späte Confessio ab. Er expliziert darin in harten Konturen den Hiatus zwischen antiker Lebenswelt und dem Horizont der Moderne. Wissenschaft hat entscheidend Anteil an der Rationalisierung der modernen Welt, einer radikalen Aufklärung im Sinn von Berechnung und Beherrschen, eben dem Syndrom der „Entzauberung der Welt“. Die Crux ist, dass Wissenschaft eine höchst radikale Form von Bewusstmachung ist. Sie verlangt von jedem, der sie betreibt, „sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines 509 Die Zäsursetzungen moderner Existenz macht eine solche schiedlich-friedliche doppelte Amphibienexistenz, wie sie bereits Hegel sah, zu einer Illusion. 510 Diese persönliche Grundinvolviertheit als Ethos Webers zeigt vor allem Radkau, a.a.O. S. 349 ff., S. 550 ff. et al. sehr eindrücklich und plastisch, wenn auch vielleicht mit einer gewissen Überakzentuierung. Siehe auch J. Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Rowohlt, Berlin 2014.

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eigenen Tuns“.511 Charisma heißt deshalb in der zersplitterten Moderne nichts anderes als Dienstbarkeit der Sache, die freilich in Zeiten der spezialisierten Wissenschaften in keiner Weise mehr das Hou heneka, die Zweckhaftigkeit menschlichen Lebens im Ganzen betreffen kann. Der Enthusiasmus am Logos, den die Platonische ‚Politeia’ erkennen lässt, wird von Weber als Urszene von Wissenschaft begriffen. Wissenschaft im tiefsten Sinn scheint „den Weg an die Hand zu geben, zu wissen und zu lehren: wie man im Leben richtig handle“. In dieser radikal modernen Typik bezeichnet Weber ein starkes Antidotum zu der wiedereröffneten Querelle des anciens et des modernes bei anderen Philosophen des 20. Jahrhunderts, die wie Leo Strauss oder Hannah Arendt mehr als eine Generation später aus der Antike Orientierung zu gewinnen suchen. Nietzschesche Motive sind in Webers Überlegungen durchaus eingegangen, der letzte Mensch, die Tiere, die die Vernunft erfanden – leben auf einer entlegenen Hemisphäre des Alls. Wer Wissenschaft treibt, ist an der Weltentzauberung beteiligt. Ein Wissenschaftler, der sich dessen nicht bewusst ist, wäre ein „staatlich besoldeter oder privilegierter kleiner Prophet“, letztlich eine lächerliche Gestalt. Bei all ihrer strengen Sachgemäßheit steht Wissenschaft „im Dienst sittlicher Mächte: der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen“. Wenn der moderne Mensch nicht zu einem selbstvergessenen Fellachen werden soll, so ist er verpflichtet, dass ihm das Leben „nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewusst geführt werden soll“.512 Weber sieht selbstredend auch, dass die Reichweite, sein eigenes Sachfeld zu formen, für den Wissenschaftler immer geringer wird: Der Massenbetrieb wissenschaftlicher Großorganisation macht ihn zu einem Zuarbeiter (nicht nur in den Laborwissenschaften, sondern auch in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen, durch Editionen und Großprojekte). Umso mehr hält er in einem kontrafaktischen Sinn fest, Wissenschaft sollte man nicht ergreifen, mangels eines Besseren: Gabe kommt aus Hingabe. Dies bedeutet, dass der Wissenschaftler, gerade wenn er in einer späten Phase wie ein letztes Mal den synoptischen Anspruch erhebt, nicht einfach Weltmann und ‚uomo universale’ sein kann. Äußerste Selbsteinschränkung bis zur Besessenheit gehört zu seiner Profession. Man müsse die Fähigkeit haben, sich „sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, dass das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an 511 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, Suttgart 1992. Hier zeichnet sich eine enge Affinität ab zu der Selbstbestimmung und -besinnung der Wissenschaft in Husserls Cartesianischen Meditationen. 512 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, E. A. Stuttgart 1992, S. 37. Die Frage des bewussten Lebens und der Existenzialität ist also durchaus ein unaufgebbarer Weberscher Impuls, vgl. dazu die frühe Arbeit von D. Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952.

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2. Idealtypen

dieser Stelle dieser Handschrift richtig mache […] wer dies nicht hat, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern“.513 Dies bedeutet auch, was in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Zuspitzung der Zeitsignatur bedeutet, dass Standort- oder Nationalgebundenheit in der Wissenschaft jedes Recht verloren haben. Weber hat festgehalten: Der radikalste Zweifel sei der „Vater der Erkenntnis“. Ein archimedischer Punkt ‚außerhalb’ der Bindungen und Verortungen, auch der Nationalen, lässt eigentlich erst klar sehen. Auch der Typus des Politikers ist in der gleichnamigen Rede ähnlich rücksichtslos aus dem ‚kalten Blick’ in die Realitäten des Lebens charakterisiert. Aus dieser Rede ist die Differenz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik besonders prominent gewordenn. Der Politiker hat nicht das Recht, in romantischer Schwärmerei seine schöne Seele rein zu halten. Die Verabsolutierung der Gesinnung führt entweder zum Gesinnungsterrorismus oder zum Rückzug. Verantwortungsethik bedenkt dagegen die Folgen des Handelns und Nicht-Handelns Sie ist eine entzentrierte Moral zweiter Stufe.514 Das beharrliche Bohren harter Bretter zeichnet den Homo politicus aus, der sich der Verantwortung verpflichtet. Dennoch sind auch dies Idealtypen: Man wird meistenteils Mischungen zwischen Gesinnung und Verantwortung finden.515 Und bei aller Rationalität spielt die Nemesis, das Gesetz, nach dem der Politiker angetreten ist, eine entscheidende Rolle. Es waren keineswegs die schlechtesten Politiker, die sich in der Folge Max Webers verstanden. Für den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt war Weber neben Kant und Karl Popper die zentrale Autorität: Dies ist etwas anderes als nur pragmatisches Auf-Sicht-Fahren. 2. Idealtypen Die Historische Sozialwissenschaft, um die es Weber geht, soll ‚Wirklichkeitswissenschaft’ sein. „Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer Eigenart verstehen, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nichtanders-Gewordenseins“.516 Ein wesentliches Erkenntnis-instrument sind die Idealbilder, die keineswegs zu verwechseln sind mit dem Subordinationsverhältnis von Gattung und Art. Idealtypen sind Steigerungen, herausgetriebene 513 Weber, Wissenschaft als Beruf, Einzelausgabe, a.a.O. 514 Daran knüpft D. Henrich in der Evokation einer „Ethik zweiter Stufe“ an mit seiner Monographie Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt/Main 1990. 515 Zur starken Bedeutung der Urteilskraft bei Weber vgl. W.Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks. Mohr, Tübingen 1998. 516 M. Weber, Wissenschaftslehre, hg. von J.Winckelmann, a.a.O., S. 172.

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Hauptzüge, in denen die atomistische, vieldimensionale Wirklichkeit gleichsam verdichtet und kondensiert zu erkennen ist. Der Idealtypus ist eine eidetische Überhöhung (auch darin liegt eine Verbindung zur Phänomenologie), der so der Realität nicht abgelesen werden kann. So ist etwa der Markt der Idealtypus für das Chaos ökonomischer Interaktionen, das sich zwischen Tausch und Konkurrenz bewegt. Weber hat die Idealtypen selbst in der folgenden Weise bestimmt: „Es ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ‚ist’, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen […], sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem verglichen wird“.517 Weber trägt durch die Idealtypik nicht zuletzt der Einsicht des Historismus in das Chaos und das Hingerissensein in den Fluss der Geschichte Rechnung, in dem es kein Absolutum für alle Zeit geben kann. Idealtypik ist auch deshalb erforderlich, weil wir Handeln oder Erleiden immer nur von einzelnen Individuen kennen, sie aber auch größeren sozialen und politischen Entitäten abgelesen werden müssen, ohne die individuellen Züge in einen Gattungsprozess aufzulösen. Des individuierenden ins Relief Treibens der Idealtypik und des Abstraktionsprozesses bedarf es in jedwedem Schritt zu einem historischen Urteil. Dabei ist es eine berechtigte Einsicht, mit den wichtigen Studien von Wilhelm Hennis518 und vorgängig Friedrich H. Tenbruck dokumentiert,519 die Frage einer Wissenschaft vom Menschen als Max Webers genuinen, vielleicht letzten Fragehorizont zu erkennen. Er trägt die soziologische Typen- und Begriffsbildung. Hinter dem Verhalten eines Subjekts steht seinerseits der ‚Sinn’, den es seinem Verhalten gibt bzw. in dieses hineinlegt. Und es ist ein ‚Dämon’, der seines Lebens Fäden hält. 3. Die Okzidentale Rationalität als Sonderweg Weber hat einen Fokus seiner Weltsoziologie auf den Typus okzidentaler Rationalität gelegt. Man darf vermuten, dass dies auch im Sinn einer Selbstthe-

517 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 194 f. 518 W. Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, a.a.O., sowie ders., Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werks, Tübingen 2003. 519 F. H. Tenbruck, Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, Tübingen 1999, siehe such meine knappe Monographie: Max Weber -interkulturell gelesen, Nordhausen 2006.

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3. Die Okzidentale Rationalität als Sonderweg

rapie, eines Ausgangs aus den „Verließen“ seiner eigenen Nervenkrankheit, gemeint war.520 Sein Ausgangspunkt war dabei zunehmend auf die großen Religionsssyteme fokussiert. Weber macht also darauf aufmerksam, was zum Selbstverständnis der Moderne die Religion unabdingbar notwendig ist. Er sieht den Monotheismus verblassen. Doch dies bedeutet nicht Entgötterung der Welt, sondern Wiederkehr der alten, atavistischen Götter. Dabei tritt zunächst eine globale, weit über Europa hinausführende, Kultur vergleichende Sinnlinie zutage: Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, antikes und mittelalterliches Judentum, älteres und neueres Christentum und Islam kommen alle darin überein, die Religionen zu ‚kohärenten Systemen der Lebensreglementierung ausgeprägt zu haben. Weber weist darauf hin, wie sich auf diesem gemeinsamen Fluidum die Spezifik des judaeo-christlichen Monotheismus herauskristallisierte: als Sonderfall, nicht als Normalität. Die religionswissenschaftlichen Einzelheiten, die er vor damaligem Horizont ausmachte, bleiben studierenswert und sind bis heute in der Diskussion. Sie können uns hier nicht im Detail beschäftigen.521 Wesentlicher noch als die Diagnose ist die von Weber zugrundegelegte Methode: Weber versucht, objektive und subjektive Antriebe miteinander zu verbinden: die Sinngewinnung ist einerseits immer an äußere Bedingungen gebunden, andererseits spielt in ihnen die Freiheit subjektiver Verständigung eine wesentliche Rolle, so dass zu Recht bemerkt werden kann, Weber verfahre objektivierend, ohne entlarvend zu sein, subjektivierend aber ohne Selbstaussagen der Gläubigen mehr oder minder unbefragt beim Wort zu nehmen. Die Entwicklungslinien des Rationalismus sind nicht in harter Monokausalität, sondern in weichen Kausalitätslinien zu begreifen. Es geht um wohlbegründete Wahrscheinlichkeitsannahmen, wenn Genealogien rekonstruiert werden sollen, um nicht weniger und nicht mehr. Genauer spricht Weber, mit dem faszinierenden, aus der Chemie des 18. Jahrhunderts entnommenen, in Goethes gleichnamigem Roman rezipierten Begriff von Wahlverwandtschaften.522 Die Relation, um die es ihm essentiell geht, ist immer jene zwischen religiösen Ethiken und Systemen einerseits und Formen von Lebensführung andrerseits.

520 Vgl. hierzu insbes. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I−III, hier nach Weber, Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1987, zu der kulturvergleichenden Perspektive W. Schluchter, Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, 2 Bände, Frankfurt/Main 1991. 521 Nach wie vor ist die vergleichende Religionssoziologie bei allen Veränderungen im Sand der Einzelforschungen ein großer, unhintergehbarer Bogenschlag, dazu neben Schlucher Seubert, Max Weber interkulturell gelesen. 522 Vgl. dazu auch G. Wagner und H. Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/Main 1994.

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Wahlverwandtschaft (ein aus dem Magnetismus stammender Terminus, der in Goethes glühendem Altersroman seine Dignität gewann) bedeutet einen Entschluss, der auf einer Notwendigkeit beruht, der schwerlich zu entkommen ist. Aus der Religionssoziologie bildet sich die Herrschaftssoziologie Webers als eine Differentia specifica heraus. Sie hat freilich, so will Weber sagen, nur eine ‚dienende Funktion’. Herrschaft lässt Institutionen, namentlich den Staat, einerseits als Apparat, andererseits aber als „Komplex menschlicher Beziehungen“ verstehen. Wenn nach der Legitimität von Herrschaftsformen gefragt wird, so greifen deskriptive und normative Aspekte ineinander. Wenn zwischen Typen rationaler Herrschaft unterschieden wird, dann vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Legitimierungen.523 Hier exponiert Weber vor allem drei Grundtypen, worin sich sein Denken in Idealtypen wieder glänzend bewährt: 1. die rational-positive Herrschaft, „auf dem Glauben an der Legalität gesatzter Ordnungen beruhend“, 2. Die traditionelle Herrschaft, auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jener Tradition beruhend, 3. Die charismatische Herrschaft, deren Spektrum sich zwischen Amtscharisma und der einzigartigen, exempten Führungsgestalt eröffnet. Weber denkt Herrschaft – dies muss man zur Unterscheidung von politisch philosophischen Vertragstheorien festhalten! – vom ‚Extremum’ her, der rechtlich ungeordneten, in Krieg und Krise aufbrechenden Situation. Darin bilden sich erst jene Ligaturen, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Carl Schmitt wird notieren, die Freund-Feind-Unterscheidung sei die eigentlich politische Unterscheidung. Diese politisch fragwürdige Zuspitzung steht durchaus in der Fluchtlinie Max Webers. „Die politische Gemeinschaft gehört […] zu denjenigen Gemeinschaften, deren Gemeinschaftshandeln, wenigstens normalerweise, den Zwang durch Gefährdung und Vernichtung von Leben und Bewegungsfreiheit sowohl Außenstehender wie der Beteiligten selbst einschließt. Es ist der Ernst des Todes, den eventuell für die Gemeinschaftsinteressen zu bestehen, dem Einzelnen hier zugemutet wird. Er trägt der politischen Gemeinschaft ihr spezifisches Pathos ein“.524 Die Deutung des okzidentalen Rationalismus ist vor diesem Horizont erst auf ihre Pointe hinzuführen. Weber zeigt, dass die innerweltliche Askese des Puritanismus den Geist des Kapitalismus zutiefst bestimmt, und sogar die Klassenschranken, die Differenz zwischen Unternehmern und Arbeitern überwölbt. Ein zentraler Passus sei zitiert: „Das ‚methodische’ Leben: die rationale 523 Vgl. hierzu M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von J. Winckelmann, postum Tübingen 1921/22, S. 7 ff. 524 Vgl. zu den politischen Implikationen W. Schluchter, Max Webers späte Soziologie, Tübingen 2016, siehe auch die auf Affinitäten mit dem Georgekreis kritisch bezogenen Darlegungen von S. Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 35 ff.

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4. Askese und Eros

Form der Askese, wird […] aus dem Kloster in die Welt übertragen. Die asketischen Mittel sind im Prinzip die gleichen: Ablehnung aller eitlen Selbst- oder anderen Kreaturvergötterung, der feudalen Hoffart, des unbefangenen Kunstund Lebensgenusses (adiaphora, Pietismus), der ‚Leichtfertigkeit’ und aller müßigen Geld- und Zeitvergeudung, der Pflege der Erotik oder irgendwelcher von der rationalen Orientiertheit auf Gottes Willen und Ruhm, und das heißt: auf rationale Arbeit im privaten Beruf und in den gottverordneten sozialen Gemeinschaften, ablenkenden Beschäftigung“.525 Die Effizienz des Kapitalismus zeigt zugleich die Konturen einer KostenNutzen-Rechnung ad infinitum: wenn alles einen in der Wertehierarchie kalkulierbaren ‚Wert’ hat, so hat nichts eine darüber hinausweisende Würde, nichts ist Ziel und Zweck an sich selbst. Die Crux der kapitalistischen Moderne, in der das religiöse Fundament aufgelöst wird, besteht darin, dass das Gehäuse und die Praktik bleiben, der Sinngehalt aber verschwindet. 4. Askese und Eros Weber sieht als eine spezifische Signatur des ‚großartigen Rationalismus’, der in der kapitalistischen Welt der Neuzeit kulminiert, den Verlust der Freiheit. Dies spitzt sich auf die Diagnose moderner Fellachen zu, in der sich Weber mit seinem irrationalen Antidotum Oswald Spengler berührt. Vorspiel dieser sich nur noch um Lebenserhaltung und ein kleines Glück kümmernden Fellachen ist die Trennung des Humanum in departmentalisierte Bereiche, so dass unmvermittelt „Fachmenschen ohne Geist“ den „Genussmenschen ohne Herz gegenüberstehen. Unentrinnbarkeit kennzeichnet jene Welt vor allem aufgrund ihrer enge eiserne Netze knüpfenden Bürokratie. Im Verein mit der toten Maschine ist sie „an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen, im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt eine rationale Beamtenverwaltung und -versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll“.526 Nicht also die atomisierten Individuen und auch nicht die institutionellen Ligaturen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern jenes bürokratische Gehäuse wird in der Moderne bestimmend. Der alte, asketisch protestantische Geist des Kapitalismus wird nicht mehr benötigt. Die Bürokratie sichert die rationa-

525 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 52002, S. 719. 526 Weber, Politische Schriften, a.a.O., S. 332. Zu den späten hektischen Umbrüchen in Webers politischem Denken vgl. Schluchter, Max Webers späte Soziologie, a.a. O., S. 220 ff, biographisch siehe dazu Radkau, Max Weber, S. 545 ff.

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len Bande in einer unsichtbaren Macht ab. Im Sinn von Nietzsches Lenzer Heide-Fragment könnte man sagen, Gott ist eine viel zu starke Hypothese geworden.527 Jener Bürokratismus ist alles andere als anziehend. Eine Welt von Professoren ist nach Weber das zweitschlimmste, das schlimmste eine Welt von kleineren und mittleren Beamten. Sie verdichtet sich ihm zu einem „ägyptischen Gräuel“. Von früh an hat er die geschichtsphilosophische Auffassung, dass „zeitweise gänzlich versunkene Erscheinungen der antiken Kultur später in einer ihnen fremden Welt wieder aufgetaucht“ seien.528 Weber hatte dabei die durchaus noch immer originelle und bedenkenswerte Auffassung, dass Bürokratie und Kapitalismus keinesfalls Widersacher seien, der Kapitalismus sei vielmehr Schrittmacher der Bürokratie, bis diese ihn irgendwann einmal aufzehre. Weber sieht, auch dies ist keinesfalls trivial, die Tendenz der Bürokratie, ‚berufsgliedernde Verbände’ in Staatsaufgaben einzubeziehen. Er erkennt die Tendenz, dass der Beamtenstaat sich immer weiter ausdehnt und die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft aufgegeben wird. Weber diagnostizierte (Fernwirkungen reichen bis zu Heideggers Analyse des ‚Gestells’ und bis zu Niklas Luhmann) eine Unentrinnbarkeit dieser eisernen Bande der instrumentellen Rationalität. Seine These besagt: ‚similia similibus curantur’: ‚Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt werden’. So kultiviert er eine freundliche, doch zugleich sehr distanzierte Position zu der starken, von links wie von rechts kommenden, Tendenz zu Gemeinschaft und Brüderlichkeit. Hier nahm Weber Impulse der Jüngeren auf, von Georg Lukács oder Ernst Bloch. Der Diagnose, dass die Positionen der Moderne gleichermaßen rational und amoralisch seien, führt offensichtlich die Gegen-Idee einer Lebensform ins Feld, die moralisch aber arational ist, bzw. die Rationalität transzendiert. Gerade die Maschinenbande der Modernität könnten auch eine ihnen kontrafaktische Lebensform entbinden, eine „subjektivistische Kultur“. Sie kann offensichtlich nach den erörterten Diagnosen und normativen Bestimmungen weder in der Wissenschaft noch in der Politik einen Ort haben, allenfalls in einer Sphäre, die Weber mit Nietzsche ‚dionysisch’ nennt und der er sich erst gegen Ende seines Lebens annähert. Die Linie, die der neuzeitliche Protestantismus ausschließen wollte, hat letztlich einen doppelten Brennpunkt: einen ästhetischen und erotischen. Beides steht für Weber in einem engen 527 Nietzsche folgt damit dem Diktum von La Place, doch es wird zugleich in einen anderen Aggregatzusand der Moderne-Theorie versetzt, vgl. M. Riedel, Nietzsches Lenzerheide-Fragment über den europäischen Nihilismus, Zürich 2000. 528 M. Weber, Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Aus den nachgelassenen Vorlesungen hrsg. von Siegmund Hellmann und Melchior Palyi. München/Leipzig 1923Vgl. H. Bruhns, Max Weber und der Erste Weltkrieg, Tübingen 2017, sowie Hennis, Max Weber und Thukydies, a.a.O.

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4. Askese und Eros

Zusammenhang. Das eine wie das andere steht für ‚innerweltliche Erlösung’ und für ein verantwortungsloses Genießen. „Abstand zu wahren zu dem, was unschön und voller quälender Probleme ist“, so nannte es die Frau, ohne die jene Tendenz bei Weber kaum denkbar ist: Else Jaffé- Richthofen. Er kannte sie aus der Heidelberger Zeit, aber erst im letzten Lebensjahr kam es zu der leidenschaftlichen Liebesbeziehung mit ihr. Webers Umzug nach München hat auch damit zu tun. Ort der Handlung ist das Isartal, namentlich Ebenhausen. Orte der Leidenschaft können nicht Institutionen sein, es sind Fokussierungen kleinerer Kreise, in denen Eros-Ideen-Poleis entstehen. An den Rändern bevölkerten Gestalten wie der Psychoanalytiker Otto Groß jene Lebensräume, den Weber freilich nur einen ‚Konfusionsrat’ nannte. Elses Schwester Frieda war mit ihm liiert. Sie wurde später die Frau des britischen Schriftstellers D. H. Lawrence, Lady Chatterly. Weber wird immer wieder zu zeigen versuchen, dass der Ästhetiszismus den eisernen Banden moderner Rationalität nicht entkommen kann. So blickt er auch auf die Dichtung seiner Zeit, namentlich den Sinnstifter und Dicher Stefan George: „Eine Lyrik wie etwa die Stefan Georges [hätte] gar nicht errungen werden können, ohne dass der Lyriker die Eindrücke der modernen Großstadt, die ihn verschlingen und seine Seele zerrütten und parzellieren will […], dennoch durch sie hat hindurchgehen lassen“.529 Es ist der Eros, der durch die moderne Lebensform hindurchgeht. Weber typisiert den Eros seinerseits: Es gebe neben dem Eros Platons, einem „stark temperierten Fühlen“, das, wie er im Blick auf Marianne Weber, seine langjährige Lebensgefährtin, notiert: „bis in das Pianissimo des höchsten Alters reicht“, einen bachhantischen Eros. Beide können zusammenklingen – zumindest in Dedikationen. Weber widmet seinen nicht vollendeten Band ‚Wirtschaft und Gesellschaft’, eine Summe seines Denkens, dem „Andenken meiner Mutter Helene Weber geb. Fallenstein“, den ersten Band seiner Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie dann Marianne Weber – mit eben jenem Zusatz „bis ins Pianissimo des höchsten Alters“, den zweiten Band Mina Tobler, einer von ihm lebenslang zart bewunderten künstlerischen Natur und Pianistin, zu der er ein teils ästhetisches, teils erotisches, wohl temperiertes Verhältnis unterhielt, den dritten aber Else Jaffé-Richthofen, der erotisch-ästhetischen Erschütterung. Gerade beim späten Weber findet man eine Haltung, von der man fragen kann, ob sie überhaupt modernen Lebensvollzügen affin ist: Die Haltung eines Heroismus, der sich der Signatur eigener Lage inne ist, also weiß, dass er 529 Vgl. M. Weber, Zu Werner Sombarts Vortrag über Technik und Kultur (1910), in: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 453, siehe dazu auch M. Riedel, Geheimnes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 83 ff., sowie W. Lepenies, Stefan George und Max Weber, in: ders., Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt/Main 2002, S. 340 ff.

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I. Max Weber und die Conditio moderna

sich nur mit „Beelzebub verbünden kann, um den Teufel auszutreiben“. Heroismus, das heißt, sich Perspektiven zu stellen, denen man nicht entfliehen kann. Im Horizont jenes stählernen Gehäuses der Moderne gelangt Weber zu der pointieten Diagnose, der zufolge die Moderne die „unnatürlichsten Phänomene hervorbringt, die zuletzt umschlagen“. Nämlich die Freiheit des Puritaners in die Hörigkeit, das freie Unternehmertum in die Bürokratie. „Ich möchte, ohne das weiter auszuführen nur gegen den Ausdruck, dass irgend etwas […] die ‚letzte’ oder ‚endgültige’ oder ‚eigentliche Ursache von irgend etwas sei, Protest einlegen. Wenn wir uns die Kausalkette vorlegen, so verläuft sie immer bald von technischen zu ökonomischen und politischen, bald von politischen zu religiösen Dingen. An keiner Stelle haben wir irgendeinen Ruhepunkt“.530 Dieter Henrich hat seine frühe, Max Webers Wissenschaftslehre gewidmete Dissertation mit den folgenden Worten beendet: „Die Idee des Menschen unter der Selbstbestimmung der Vernunft erhält durch Max Weber in gefährdeter Zeit eine neue Mächtigkeit. Methodenlehre und Ethik sind eines mit dem Wesen des Menschen in der Forderung, dem Gebot der Vernunft zu gehorchen, um in Wahrheit Mensch sein zu können. Sie ist ‚der Geist‘, der allem Bewusstsein zuruft: seid für euch selbst, was ihr alle an euch selbst seid, vernünftig“.531 Karl Jaspers indes, der mit Weber zeitweise in einem engen Gesprächszusammenhang stand und dessen strenge Wahrheitssuche von Weber geprägt wurde, auch wenn die psychopathologischen Züge Webers für den ausgebildeten Seelenarzt Jaspers nicht übersehbar waren, hielt fest, dass in Webers Wesen zugleich eine Atmosphäre des Scheiterns gewesen sei. Dies Scheitern sei der Appell an die Wahrheit, so Jaspers.532 Bei allen Differenzen der Weber-Deutung, vor allem der Frage, ob es erforderlich und möglich ist, das eine wesentliche Anliegen, die eine Frage aus seinem Werk herauszupräparieren, bleibt doch in jedem Fall zu konstatieren, dass es ihm vor dem Horizont der entzauberten Welt der Moderne um die Richtung des Menschentums ging, darum, was aus dem Menschen wird. Dabei hat er Fragen gestellt und Begriffe geprägt, über die man sich nicht hinwegsetzen kann.

530 M. Weber, Schriften zu Soziologie und Sozialpolitik, hg. J. Winckelmann, Tübingen 1988, S. 456. 531 D. Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, a.a.O., S. 89 f. Dabei spielt die Selbstgewinnung des Geistes aus seiner Entzweiung heraus die entscheidende Rolle. 532 Vgl. K. Jaspers, Max Weber, München 1988, S. 112.

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II. Sigmund Freud und das „innere Afrika“533

1. Zwischen Hypnosetechnik und psychoanalytischem Imperativ Wie kaum eine andere geistige Potenz hat Freud das Erfahrungs- und Wahrnehmungsfeld der Künste und Wissenschaften mitgeprägt. Er ist Entdecker neuer Erdteile, der Welten des Es und des Unbewussten, der in Tiefenbohrungen das ‚innere Afrika’ (Jean Paul) erschloss,534 das seiner selbst bewusste ‚Ich denke – ich bin’ als Nadelspitze aufzufassen lehrt, die auf einer Magma über einem Abgrund tanzt. Freud wurde 1856 in Freiberg, Mähren geboren, als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers. Das eigene Judesein charakterisiert er als 70-jähriger Mann rückblickend und aus der Perspektive der Desillusion angesichts eines heraufziehenden düsteren Zeitalters mit den folgenden Worten: „Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränken, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ‚kompakten Majorität’ zu verzichten“ (Freud, GW XVII, S. 52).535 Jugend und entscheidende Bildungsjahre verbringt er in Wien. Seine Vita entfaltet sich untrennbar von dieser Stadt, wie Peter Gay und andere Biographen der Stadt und Freuds gezeigt haben.536 Wien war damals eine Metropole, deren Antisemitismus (Karl Lueger) allen gebildeten jüdischen Einwohnern zutiefst zuwider war, der aber in die Atmosphäre unlösbar verwoben war. Freud war von Haus aus ein streng naturwis533 Der Jean Pauleske Topos begleitet mein Nachdenken über die Tiefenpsychologie und ihre Verwerfungen. Er mag in heutigen ethno-Diskursen der politischen Korrektheit und damit der Entschuldbarkeit entbehren. Ich beharre darauf, dass Selbstgerechtigkeit in Idiotie umzuschlagen droht. Daher verwende ich ihn weiter, gerade aufgrund meiner Liebe zu den afrikanischen Landschaften und Gliederungen. So danke ich besonders den Freunden und Freundinnen, die mir die Psychoanalyse erschließen halfen: vor allem meiner langjährigen, mit bis heute lieben einstigen Lebensgefährtin Judith Gastner, Elke Metzner, Camillo Schrimpf. 534 Jean Paul, Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele, Werkausgabe Band 12. München 1975, S. 1179 f. Vgl. dazu auch L. Lütkehaus, Dieses wahre innere Afrika.Texte zur Entdeckung des Unbewussten vor Freud, Frankfurt/Main 1992. 535 Im Folgenden steht die Abkürzung GW für Freud, Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1972. Zur Biographie siehe nach der materialreichen Studie von E. Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud 3 Bände, Bern, Stuttgart, Wien 1978 vor allem P. Gay, Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt/Main 1989. 536 Siehe ibid., S. 255 ff., vgl. auch E. G. Baur, Freuds Wien. Eine Spurensuche, München 2008.

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senschaftlich und materialistisch ausgebildeter Neurologe, der 1885 zum Privatdozenten für Nervenkrankheiten ernannt wird. Studien in Gehirnanatomie stellt er seit seiner Oberschulzeit an. Wichtig ist die Lehrzeit bei dem Pariser Psychiater Jean-Martin Charcot, dem Begründer der Hysteriebehandlung. Es kommt zu einer engen Kooperation mit dem Arzt Josef Breuer und gemeinsamen Hypnosetherapien, bei denen Freud den Unterschied bewusster und unbewusster seelischer Zustände tiefer erkennt. Freud geht freilich insofern über Breuer hinaus, als er einen sexuell-libidinösen Ursprung hysterischer Erkrankungen auszumachen versucht. Dies kulminiert in der Traumdeutung. Die Einsicht in die Traumstrukturen entwickelt Freud in einer Reihe von Vorlesungen an der Universität Wien im Jahr 1900: die vermeintlich unsinnigen Evokationen des Traumes haben einen Sinn, in ihnen eröffnet sich die menschliche Tiefensemantik, nicht anders als an Fehlleistungen wie Vergessen, Versprechen, Verschreiben. Nach einem Jahrzehnt weitgehender Wirkungslosigkeit kommt Freuds Psychoanalyse zu zunehmender Strahlkraft – mit einer bedeutenden Anhängerschaft. Zu seinen Adeptinnen und Adepten gehörten u.a C.G. Jung, Karl Abraham und Lou Andreas-Salomé und mit ihm der für manche Psychoanalytikerkreise bis heute kennzeichnenden Neigung zu Sektenbildungen und Abspaltungen. Das Spätwerk Freuds ist durch den Schock des Ersten Weltkriegs, der Jahrhundertkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wesentlich präformiert. Entscheidend ist hier die Schrift ‚Zeitgemäßes über Krieg und Tod’ (1915). Die Folgeschrift ‚Jenseits des Lustprinzips’ (1920) dringt in eine neue Tiefendimension vor, sie nimmt neben dem Grundtrieb der Libido den Todestrieb an, die Feder einer Aggression, die nach Zeiten der Saturierung das Gehäuse einer Kultur aufbricht und destruiert. Darüber reflektiert Freud vor allem in seinem Briefwechsel mit Albert Einstein: Freuds späte Jahre sind überschattet durch den heraufkommenden Nationalsozialismus, dessen Zeuge er noch wird. Seine Schriften werden verbrannt, 1938, nach dem Anschluss Österreichs, muss Freud emigrieren. Die neue Heimat wird London. Dort begründet und führt er noch einmal ein Haus und führt seine Schreibtätigkeit weiter bis zu seinem Tod, obwohl er schwer an Kehlkopfkrebs erkrankt ist; buchstäblich bis zum letzten Atemzug festhaltend an der Kulturarbeit, vergleichbar der ‚Trockenlegung der Zuydersee’, dem psychoanalytischen Imperativ, ‚wo Es war, soll Ich werden’ in Texten und Therapien. Auch Schmerztherapien, wenn sie wie die Verabreichung von Morphium das Bewusstsein getrübt hätten, lehnt Freud konsequent ab. Zunächst wende ich mich vier vier zentralen Freudschen Topoi zu, die es rechtfertigen, ihn in der Genese der Philosophie im 20. Jahrhundert zu verorten.

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2. Psychoanalyse als eine spezifische Form der Hermeneutik des Gesprächs

2. Psychoanalyse als eine spezifische Form der Hermeneutik des Gesprächs Von der Theoriebildung ist die Lebensform der psychoanalytischen Praxis nicht zu trennen. Freud hält als psychoanalytische Grundregel, gleichsam die transzendentale Konstitutionsbedingung der Psychoanalyse, die Maxime fest, der Patient solle offen, und ohne Auslassungen aussprechen, was er denkt oder empfindet.537 Eben dies ist keinem Patienten, keiner Patientin, aber uneingeschränkt möglich. Es melden sich Widerstände und Verschiebungen. Ausgangspunkt ist, dass der Seelenzusammenhang grundsätzlich und in Normalform einer sinnvollen Gliederung unterliegt. „Die Aufgabe stellt sich dann geradezu, für eine sinnlose Idee oder eine zwecklose Handlung jene vergangene Situation aufzufinden, in welcher die Idee gerechtfertigt und die Handlung zweckentsprechend war“ (Freud GW, IX, S. 278). Abwehr indiziert eine ‚verborgene Intention’ – ebenso wie der Sinnabbruch einen verborgenen Sinn. Sie sind in einer Archäologie jenseits der Störungen aufzufinden. Dazu bedient sich die Analyse der Verfahrungsweise der ‚Regression’, nämlich des Rückgangs in die Kindheit des Analysanden. Konstitutiv für das Analysegeschehen ist allerdings die Beziehung zwischen Analytiker und Analysand. In ihnen ‚wiederholt’ der Patient die traumatisierende Situation in positiven oder negativen Übertragungen. Dies fordert dem Analytiker das Höchste ab, was zwischen Menschen in einem Gespräch möglich ist. Freud spricht von ‚gleichschwebender Aufmerksamkeit’ im Unterschied zu jeder ‚Suggestion‘. Er hat gleichermaßen den bewussten Intentionen zu folgen und ihre unbewussten begleitenden Schattenstimmen mitzuhören, gleichsam in die Höhlungen der Rede einzutauchen. Auch den affektiven Übertragungen muss er als aufmerksamer Beobachter standhalten. Freud spitzt das Therapiegespräch auf zwei Regeln zu: (1) der Analytiker hat Neutralität zu wahren, also Aussagen des Patienten keinesfalls vorschnell zu klassifizieren oder aus einem moralischen und religiösen Wertekanon zu beurteilen; Zum anderen besteht (2) die ‚Abstinenzregel’. Das Übertragungsspiel muss der Arzt in gewissem Sinne mitspielen, ohne sich darauf einzulassen (erotische Neigungen: freundliche Übertragung). Es gibt aber auch feindselige Übertragungen, in denen äußerste Aggressionen zu ertragen sind, ohne dass der Therapeut sie weitergeben dürfte. Der Traumdeutung kommt damit eine Schlüsselbedeutung für die ‚Archäologie des Unbewussten’ zu. Die freie, sich gesprächsweise entfaltende Assoziation über Träume ist Freud zufolge die ‚via regia’ der Analyse.538 Sie führt zu dem

537 Vgl.dazu A. Schöpf, Sigmund Freud, München 1982, S. 67 ff., sowie P. Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/Main 1993, S. 73 ff. 538 Vgl. Freud GW IX, S. 103 ff.

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Punkt, an dem die bewusste Erinnerungskraft versagen muss, weil die Traumzensur eingegriffen hat. Im Traum artikuliert sich ein unbewusster Wunsch, der nicht ins Erleben eingehen darf, sonst würde er den Schlaf stören und die Erregung durch ihn wirkte paralysierend. Der Therapeut muss auf all diese Intentionen achten und den Patienten zu seiner Selbstartikulation zu bringen versuchen. „Die Psychoanalyse“, so notiert Freud, „ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll“.539 3. Archäologie und Topologie der Seele Vor der klassischen Topologie der Seelenhinsichten von Ich – Über-Ich – Es, die nicht deckungsgleich ist mit der Demarkatioinslinie zwischen Unbewusst -Vorbewusst – Bewusst vollzieht sich der Rückgang in die Seelenschichten als eine Art Archäologie. Geht man nicht von departmentalisierten Seelenteilen aus, sondern von fluiden Seelenhinsichten (eine Analogie zu der Seelenlehre Platons), so wird allerdings zugleich deutlich, dass der therapeutische Gesprächspartner, zumindest temporär, die Autorität des Über-Ich übernehmen muss. Normativ sollte nur im Prädikatssinn von ‚unbewusst’ die Rede sein, nicht aber von ‚dem Unbewussten’ als einer hypostatischen Instanz.540 Man muss sich nun in aller Kürze klar machen, dass Freud die Seelenstruktur und ihre Dynamik in unterschiedlichen Anläufen begriffen hat. Grundlegend ist dabei die Schrift ‚Das Ich und das Es’ von 1923.541 Aus dem „Es“ bildet sich die Seelenlehre und vor allem die Klärung der Psychodynamik erst heraus. Das Über-Ich ist dem Ich in der Weise des Ich-Ideals zugänglich, das man sich etwa wie die Stimme des Gewissens denken kann. Die philosophischen Leserinnen Leser könnensich bei aller Distanz an Heideggers Gewissens-Deutung erinnern, wonach das Gewissen aus mir und zugleich über mich kommt. Zugleich hat das Über-Ich eine dem Ich dunkel bleibende dynamische und voluntative Kraft, die es aus dem Unbewussten bezieht. Die Unmöglichkeit, dem Ideal, das immer auch Residuen aus der ödipalen Konstellation hat, gemäß zu werden, schöpft aus jener Kraft. Man wird also von einer Grundeinteilung Ich und Es auszugehen haben, die als zunehmende, schrittweise Eroberung der Terra incognita des Es durch das Ich 539 Freud, GW XVI, S. 43 ff. Siehe auch W. Mertens, Neue Perspektiven der Psychoanalyse, Stuttgart, u.a. 1981. 540 Vgl. Freud, GW XIII, S. 246 f., siehe dazu auch Schöpf, Sigmund Freud, a.a.O., S. 85 ff. 541 Vgl. vor allem GW XIII, S. 246 ff. Dazu und zur Wissenschaftstheorie wieder Schöpf, a.a.O., S. 113 ff.

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3. Archäologie und Topologie der Seele

zu denken ist.542 Das Über-Ich aber hat Anteil am Ich und am Es, sofern dieses nicht-Ich ist: in einer Widerständigkeit des Unbewussten. Diese Verbindung ist privativer, nicht positiver Art. In der ‚Neuen Folge‘ der Vorlesungen zur Traumdeutung ist die Tektonik und Aufeinanderfolge erkennbar eine andere.543 Nun führt Freud nämlich das Es im Anschluss an Ich und Über-Ich ein. Dabei bezieht er sich erstmals auch explizit auf Nietzsche, den ohne ihn eingehend gelesen zu haben, er immer wieder, in einer gewissen Selbstgefälligkeit, oder psychoanalytisch gesprochen Selbstverdrängung, betonte.544 Wichtig ist dabei, dass die Topik der Seelenteile eine von drei Streben der Freudschen Meta-Psychologie ist. Aufgabe der Metapsychologie ist es, „einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben“ (X, S. 281).545 Im Sinn der Psychodynamik ist das psychische Geschehen immer in Konflikte verstrickt, die Diagnose muss die Ökonomie der verschiedenen Mächte und Kräfte in diesem Geschehen fassen: etwa, wenn es in depressiven Konflikten gleichermaßen und völlig divergierend um Trennungsangst und Abgrenzungswünsche geht. Vor allem aber muss man sich über den Status jener Topik selbst Rechenschaft ablegen. Man stößt hier auf ein nächstes Fremdes, ein Schatzhaus der Memoria und den Sammelpunkt von Schrecken in den Unterkellerungen des Daseins: Wir betrachten unser Seelenleben phänomenologisch, und konstatieren, dass uns manche Bereiche unschwer zugänglich sind, andere sich solcher Zugänglichkeit aber radikal versagen. Es gibt auch hier gewisse tiefe Analogien zu der Exposition der Seelen-Eidetik bei Platon. So legt Freud großen Wert darauf, dass die Grenzen nicht wie in sistierten Teilbeziehungen festgeschrieben sind: „Und nun zum Abschluss dieser gewiss anstrengenden und vielleicht nicht einleuchtenden Ausführungen noch eine Mahnung! Sie denken bei dieser Sonderung der Persönlichkeit in Ich, Über-Ich und Es gewiss nicht an scharfe Grenzen, wie sie künstlich in der politischen Geographie gezogen worden sind. Der Eigenart des Psychischen können wir nicht durch lineare Konturen gerecht werden wie in der Zeichnung oder in der primitiven Malerei, eher durch verschwimmende Farbenfelder wie bei den modernen Malern. Nach-

542 Dazu auch Ricoeur, a.a.O., S. 318 ff., und S. 429 ff. 543 Vgl. W. Mertens, B. Waldvogel (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Kohlhammer, Stuttgart, 3., überarbeitete und erweiterte Ausgabe, 2008. 544 Dazu Schöpf, Freud, a.a.O., S. 95 ff., siehe auch Ricoeur, a.a.O., S. 441 ff. 545 Dazu Schöpf, ibid., S. 97 ff. Klassisch J. Lacan, Freuds technische Schriften. In: Walter-Verlag AG Olten (Hrsg.): Das Seminar von Jacques Lacan. Buch I (1953−1954), Olten 1978, I – Einführung in die Kommentare zu den technischen Schriften von Freud.Siehe auch M. Kaiser-El-Safti: Der Nachdenker. Die Entstehung der Metapsychologie Freuds in Abhängigkeit von Schopenhauer und Nietzsche. Bonn 1987.

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dem wir gesondert haben, müssen wir das Gesonderte wieder zusammenfließen lassen“ (I, S. 516). Diese mit der Psychoanalyse angezeigte Struktur von Subjektivität und Selbstheit erschüttert ganz offensichtlich das Fundamentum inconcussum neuzeitlicher Philosophie: den festen Grund des ‚Ich’, auf den sich die Transtendentalphilosophie, seit Cartesius beziehen wollte. Freud greift zurück auf älteres Wissen von der Psychodynamik von Affekten in der Medizin seit Spätantike und früher Neuzeit; vor allem aber betreibt er eine Archäologie, die zeigt, dass mythische Urbilder, Ödipus, im antiken Epos und der Tragödie uns überkommen, unser bewusstes und nicht-bewusstes Leben bestimmen. Sein anfänglicher Schweizer Meisterschüler C.G. Jung wird daraus, in einem stärkeren Abtauchen in die Abgründe der Vorrationalität und des Alogoshaften seine Archetypenlehre gewinnen.546 Jungs Wege zu den Müttern waren Freud freilich eher suspekt. Mythen sind aber nicht abgetane Geschichtserzählungen mit einer historisch rekonstruierbaren Genealogie. In ihnen werden vielmehr virulent bleibende Grundmuster namhaft gemacht Daher ist Mythen eine Wiederholungsstruktur eigen. Sie können mehr oder minder nachgelebt werden. Die ödipale Konstellation: Mutterinzest und – unwissentlicher – Vatermord als Formen schuldloser Schuld charakterisierte Freud in den Überlegungen zu Archaik und Infantilismus des Traums in der folgenden Weise: „Der Sohn beginnt schon als kleines Kind eine besondere Zärtlichkeit für die Mutter zu entwickeln, die er als sein eigen betrachtet, und den Vater als Konkurrenten zu empfinden, der ihm diesen Alleinbesitz streitig macht, und ebenso sieht die kleine Tochter in der Mutter eine Person, die ihre zärtliche Beziehung zum Vater stört und einen Platz einnimmt, den sie sehr gut selbst ausfüllen könnte“ (I, S. 211). Freud weist im selben Zusammenhang darauf hin, dass das hoch komplexe familiäre Geflecht zwischen Eltern und Kindern nicht auf die ödipale Konstellation eingeschmolzen sei. Er betont aber auch, dass die ödipale Besetzung, nicht zuletzt aus Schamgründen, eher unter- als überschätzt würde. „Übrigens reagieren die Kinder mit der Ödipuseinstellung häufig auf eine Anregung der Eltern, die sich in ihrer Liebeswahl oft genug vom Geschlechtsunterschied leiten lassen, so dass der Vater die Tochter, die Mutter den Sohn bevorzugt oder im Falle von Erkaltung in der Ehe zum Ersatz für das entwertete Liebesobjekt nimmt“ (ibid.). 546 . Vgl. D. Bair, C. G. Jung. Eine Biographie, München 2005, sowie H. Barz und V. Kast, Heilung und Wandlung. C. G. Jung und die Medizin, Zürich/München 1986. Die Erweiterung des Spektrums, die Jung gegenüber Freud leistet, gerade im religionswissenschaftlichen Material, bedeutet aber zugleich eine Verdunkelung und einen realen Gang zu den Müttern, der auch mit politischen Regressionen erkauft war. Vgl. Klaus Heinrich, Psychoanalyse Sigmund Freuds und das Problem des konkreten gesellschaftlichen Allgemeinen, Frankfurt/Main, Basel 2001.

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3. Archäologie und Topologie der Seele

Zu seiner ersten Zeichnung über die Seelenkräfte, in den ‚Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse‘, hat Freud selbst die folgende Erläuterung gegeben: „Sie sehen hier, das Über-Ich taucht in das Es ein; als Erbe des Ödipuskomplexes hat es ja intime Zusammenhänge mit ihm; es liegt weiter ab vom Wahrnehmungssystem als das Ich. Das Es verkehrt mit der Außenwelt nur über das Ich, wenigstens in diesem Schema. Es ist gewiss heute schwer zu sagen, inwieweit die Zeichnung richtig ist; in einem Punkt ist sie es gewiss nicht. Der Raum, den das unbewusste Es einnimmt, müsste unvergleichlich größer sein als der des Ich oder des Vorbewussten [sc. diese halten sich gleichsam im Ich auf, schwimmen in ihm H.S.). Ich bitte, verbessern Sie das in Gedanken“ (S. 515). Und dann folgt darauf die Warnung, die Konturierungen und Begrenzungen lediglich hypothetisch und nicht fixierend und ausschließend aufzufassen. Die zweite Zeichnung, ein früheres Stadium der Darstellung der Seelenlehre, hat Freud ausdrücklich nur als Oberflächendifferenzierung gelten lassen wollen. Er bemerkt dazu in einer Aussage zum Verständnis: „Es ist leicht einzusehen, das Ich ist der durch den direkten Einfluss der Außenwelt unter Vermittlung von W-Bw (Wahrnehmungsbewusstsein) veränderte Teil des Es, gewissermaßen eine Fortsetzung der Oberflächendifferenzierung. Es bemüht sich auch, den Einfluss der Außenwelt auf das Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält. Dies alles deckt sich mit allbekannten populären Unterscheidungen, ist aber auch nur als durchschnittlich oder ideell richtig zu verstehen“ (III, S. 293 f.). Er spricht weiter davon, dass das Ich wie ein Reiter ist, (ein Bild, das auch den platonischen Seelenmythen entnommen ist) doch mitunter muss der Reiter der Schrittfolge des Pferdes folgen. Systematisch wichtig an jenem Schema ist, dass es Zensur und Abwehr erklären kann. An einem neurotischen Konflikt ist der unbewusste Wunsch des Es beteiligt, der verdrängt, nicht aber bewältigt werden kann. Auch der Gegenpol spielt hinein: die unbewusste Abwehr des Ich – im Zeichen unbewusster Über-Ich-Anforderungen. Sehr differenziert, bei aller von Freud eingestandenen Oberflächlichkeit und Vordergründigkeit, ist die Einsicht, dass das Wahrnehmungssystem einerseits auf äußerliche Perzeptionen in der bewussten Ausübung der Realitätsfunktion offen ist, aber zugleich als ‚innerer Sinn’ auf die unbewussten Seiten des Ich zurückverweist. Es folgt Schema 3, die älteste Version, die Apparatevorstellung: Der Apparat ist in einer Linie dargestellt. Das Wahrnehmungsende (W) wird dabei vom motorischen Ende unterschieden (M). Die Wahrnehmung hinterlässt Spuren in der Erinnerung (‚Er-Er’: retentionales Absinken), sie münden in einen un-

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II. Sigmund Freud und das „innere Afrika“

bewussten Zustand. Schon in die Wahrnehmung geht eine massive Selektion ein, die weiteste Teile des Wahrnehmungsfeldes nur unterschwellig, subliminal anzueignen erlaubt. Was sich im Unbewussten sedimentiert hat, kann nur noch selektiv in das Vorbewusste und dann in das Bewusstsein eintreten. Die Motorik hängt mit diesem Eintritt des Unbewussten zusammen. Der Status von Wahrnehmung kann nicht eindeutig expliziert werden. Sie ist offensichtlich doppeldeutig, nimmt Stoff auf, der im Unbewussten verarbeitet wird und ist in der Lage, die Auseinandersetzung mit der Realität durchzuführen, die bewusstes Seelenleben erst konstituiert. Man muss diesem Schema aber auch nicht zu viel aufbürden: Freud hat es zunächst auf den Zusammenhang der Traumdeutung bezogen, hat sich dann aber von dieser Einschränkung gelöst. Dabei kann die ‚Maschine’ in zweierlei Richtungen ins Spiel kommen: progredient, auf Handlungen hin im psychischen Vorgang, und regredient, im Traum in Prägung der Wahrnehmung, bis zur Zuspitzung im halluzinatorischen Traum. 4. Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Freuds portatives Vaterland547 In Freuds Spätwerk, das in den dreißiger Jahren entsteht, weitet sich die Methode von der archäologischen Tiefenschürfung im einzelnen Menschen auf eine Grundfrage abendländischer, europäischer, Kultur, namentlich auf die Genese des Monotheismus aus. Den medizinisch-therapeutischen Aspekt hielt Freud allerdings immer fest. Gegenüber C.G. Jung notierte er die Maxime: „Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben“.548 Dabei geht Freud von zwei Konstruktionen aus, die beide ihre intellektuelle Faszinationskraft haben, aber dennoch nicht empirisch begründet einzuholen sind. Freud sprach deshalb selbst davon, er habe einen Koloss auf tönerne Füße gestellt.549 Ausgangspunkt ist die Einsicht, Mose sei ein Ägypter gewesen, Indiz ist etwa die biblisch überlieferte Rede von Moses’ ‚schwerer Zunge’, die auf eine Schwäche im Hebräischen und anderssprachige Herkünfte hinweisen

547 Hier nehme ich eine Formulierung von Heinrich Heine auf, der sie Sprache als portatives, also im Exil mitzunehmendes, tragbares Vaterland auffasst, was vor dem Hintergrund der jüdischen Diaspora und einer Exil-Intelligenz von besonderer Bedeutung ist: Heine, Sämtliche Schriften, hg, von Klaus Briegleb, Band IV, S. 4. 548 Dieser Einwand, der ein mündliches Odium war, galt in erster Linie Otto Gross in zweiter aber auch C.G. Jung, wegen der Überschreitung der strikt medizinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive. 549 Vgl. zu der Mose-Symptomatik: J. Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2019 und ders., Moses Tragicus. Freud, Schönberg und der scheiternde Moses. Sigmund Freud Vorlesung 2019, Wien/Berlin 2020.

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5. Jenseits des Lustprinzips: Der Todestrieb

kann. Mose sei Anhänger des Echnaton, der einen monotheistischen Kult ausprägte und die Juden als Religions- niemals als Rassengemeinschaft geformt habe. Schon früher, nämlich in ‚Totem und Tabu’ 1912/13 hatte Freud das Theorem von der Urhorde aufgebracht, die dadurch konstituiert ist, dass sich alle ihre Mitglieder gleichursprünglich zu der großen Vaterfigur hingezogen fühlen. Die Vaterfigur konnte jedoch die hohen Erwartungen, die an sie gerichtet wurden, nicht einlösen und deshalb sei Mose ermordet worden. In der eigenen Gründungserzählung sei dieser Abgrund ausgetilgt und die gescheiterte Urvaterfigur geradezu vergottet worden. Der von Moses gelehrte Monotheismus sei mit seiner Ermordung in eine jahrhundertelange Latenz eingetreten, bis er in der prophetischen Bewegung wieder virulent wurde. Zugleich sei die Ermordung des Moses nur eine Exemplifizierung der Ermordung des Urvaters seit Beginn der Phylogenese. Moses habe, so Freuds Auffassung, das „neue Reich der Geistigkeit“ eröffnet, dies aber sei ihm, wie den meisten, die es eröffnen (Freud mag hier auch an die Rezeption der Psychoanalyse gedacht haben), schlecht gedankt worden. Diese Konzeption ist eher Konstruktion als historisch verifizierbare Rekonstruktion. Sie ist aber darin aufschlussreich, dass sie die ethisch-geistige, intelligible und die gewalttätige Eröffnung des monotheistischen Denkraums aufs engste ineinander verschränkt. Die entscheidende Zäsur wird dabei durch das Bilderverbot gesetzt, das Korrelat des Triebverzichts ist. Auch wenn Freuds Rekonstruktionsmodell historisch obsolete Züge haben mag, die vielfach betont und überbetont wurden, ähnlich wie Nietzsches Konstruktion der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ nicht empirisch nachweisbar ist, so ist sie doch zum Anfangspunkt nicht endender Debatten über den Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt geworden. 5. Jenseits des Lustprinzips: Der Todestrieb Zu dem letzten, äußersten Punkt, dem sich Freud nähert, der Sphäre jenseits des Lustprinzips, will ich hier nur eine abschließende kurze Bemerkung anfügen. Freud sieht das ungeheure Paradoxon, dass immer wieder in Zeiten hoher kultureller Invention das Gehäuse der Kultur von dem Welt- und Kulturbürger zerstört werde, dass Unbehagen in der Kultur und deren Selbstzerstörung ans Licht treten. Gegen die Annahme eines derart tiefdringenden Destruktionstriebes habe er sich selbst, so Freud, lange Zeit zu verwahren ver-

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II. Sigmund Freud und das „innere Afrika“

sucht. Dennoch bleibt „das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften ein dringendes Desiderat.550 Hinsichtlich Tektonik und Gesamtsystematik bleibt die Freudsche Psychoanalyse tief ambivalent. Freud will einerseits den Aggressions- und Destruktionstrieb als Nebenform des Eros und der Libido exponieren, andrerseits deutet sich auch an, dass Eros nur eine Nebenform, vielleicht Verkleidung, dieses originäreren zugrundeliegenden Stroms sein könne. Hier wird man auch die Frage eines Verhältnisses der Psychoanalyse zur Ethik wahrnehmen müssen. Bei Freud verliert die normative Ethik ihre Autonomie, sie bleibt an die Triebstruktur zurückgebunden. Nur was auf Wunsch und Affekt hin durchlässig ist und beide Dimensionen formt, kann menschliches Leben orientieren. Der Anspruch des unbewussten Wunsches, der unbewussten Schuldgefühle, und von hier her der Realität müssen allesamt in die Moral integriert werden. Gefordert ist eine Einsichtsfähigkeit, sich selbst und anderen gegenüber, die das innere Afrika stets mit bedenkt.551 Dies eröffnet aber umgekehrt die Möglichkeit, sich von den Sündenbockprojektionen zu lösen und zu einer therapeutisch, selbst Gesetz gebenden Ethik zu gelangen. In einer kontradiktorischen Ethik zeigen sich die Affinitäten und gemeinsamen Horizontlinien zwischen Freud und Nietzsche. Der später in Israel wirkende Psychoanalytiker Erich Neumann führte diese Linie ingeniös in der Schrift ‚Von alten und neuen Tafeln‘ weiter.552 Der Vernunft kommt nach Freud deshalb hohes Gewicht zu, einer Vernunft freilich, die sich nicht zur Identität mit sich selbst geschlossen hat, sondern in die Nicht-Identisches eingegangen ist. Thomas Mann hat in einer für Freuds Wirksamkeit wichtigen Rede zu Freuds achtzigstem Geburtstag 1936 bemerkt: „Freuds Forscherinteresse fürs Affektive artet nicht in die Verherrlichung seines Gegenstandes auf Kosten der intellektuellen Sphäre aus. Sein Antirationalismus bedeutet die Einsicht in die tatsächlich-machtmäßige Überlegenheit des Triebes über den Geist; er bedeutet nicht das bewunderungsvolle Auf-dem Bauch-Liegen vor dieser Überlegenheit und die Verhöhnung des Geistes“.553 Das Volk einer angstund hassbefreiten, zum Frieden gereiften Zukunft halte die Freudsche Psychoanalyse vor Augen, so hat Thomas Mann seine Rede beendet, und er hat

550 S. Freud, Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/Main 1986, S. 120. 551 Dazu M. Schur, Sigmund Freud -Leben und Sterben, Frankfurt/Main 1973. 552 E. Neumann, Tiefenpsychologie und Neue Ethik, Zürich 1949, siehe auch zu Erich Neumann A. Loewe, „Auf Seiten der inneren Stimme.“ Erich Neumann Leben und Werk, Freiburg/Br., München 2014. 553 Th. Mann, Freud und die Zukunft (1936), T. M., Reden und Aurfsätze I, Frankfurt/Main 1990, S. 500 f.

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5. Jenseits des Lustprinzips: Der Todestrieb

Freud mit dem alten, 100jährigen Faust aus dem zweiten Teil der Tragödie zusammengesehen: „Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. Solch ein Gewimmel möchte’ ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“.554 Das ist freilich sehr ambivalent, weil man weiß, dass Graben und Grab hinter dem derart triumphierenden Faust lauern. Auch die kulturmedizinische Wirksamkeit der Psychoanalyse ist alles anders als ausgemacht.

554 Goethe, Faust II, Vers 11570 ff.

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Vierter Teil: Philosophie nach 1945 – Abbrüche und Kontinuitäten – Brückenschlagen über Ströme, die vergehen

Eine tiefere Zäsur als jene zwischen erster und zweiter Jahrhunderthälfte, markiert durch die Auslöschung der Shoah, lässt sich nicht denken. Dennoch gibt es Fortsetzungen, im exilischen Zustand, gerade eines aus dem jüdischen Geist schöpfenden Denkens. Dafür steht, was allzu erratisch die ‚Frankfurter Schule‘ mit ihren Neben- und Gegenwegen genannt wird. Gegenüber scholastischer Verhärtung, Epigonalität, Verdrängung und allmählichen Neueinsätzen in Westorientierung bildet sie zwar kein Kontinuitäts-, aber doch ein Erinnerungs- und Alteritätsmoment. Deshalb kommen ihre großen Exponenten, auch die, die das Ende der Shoah nicht überlebten, an dieser Stelle erst zur Sprache.

I. Messianität und Neomarxismus: Jüdisches Denken zwischen den Zeiten

1. Ernst Bloch: Die philosophische Prophetie des messianischen Zeitalters Ernst Bloch (1885−1977) war mit dem ungarischen Denker Georg Lukács jahrzehntelang in enger Freundschaft verbunden. Dennoch ist seine Vita im Strudel marxistischer Theorie und Praxis eher ein großer philosophisch-literarischer Freiheitsakt, des Ou-Topischen, niemalsfrei von Ironie, gegenüber Lukács erbitterter (in Thomas Manns Naphta-Gestalt figurierten) Verstrickungen, die Lukács vom geschichtsphilosophischen Ästhetiker zum Philosophen der orthodoxen Parteilinie haben werden lassen.555

555 Auch wenn man über sich selbst in solchen Zusammenhängen schweigen oder nur diskret reden soll: Bloch war meine erste philosophische Liebe mit 15 Jahren. Der Furor und die Hingabe seiner Diktion schlugen die Brücke von Kunst und Literatur in den Begriff. Dann erst kamen Hegel, Heidegger, Platon. Davon kann ich nicht absehen. Denn diese Liebe ist mir noch heute nachvollziehbar, wie meine erste physisch erotische Liebe auch. Mit sich selbst einstimmig denken zu können, ist eine Gnade eigener Art. Dass mein Doktorvater, langjähriger Dienstvorgesetzter und auch im Strittigen enger philosophischer Mentor Manfred Riedel Bloch-Schüler gewesen ist, sehe ich nicht als reine Kontingenz an. Vgl. M. Riedel, Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung, Frankfurt/Main 1994.

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I. Messianität und Neomarxismus: Jüdisches Denken zwischen den Zeiten

1. Mangel und „unendliche Fahrt“ Versucht man sich Blochs Denkansatz in einer einfachen Chiffre zu verdeutlichen, so richtet sie sich auf das Noch-Nicht der konkreten Utopie aus. „Das Nicht ist der Mangel an Etwas und ebenso Flucht aus diesem Mangel; so ist es Treiben nach dem, was ihm fehlt“.556 Wie in einer leidenschaflichen idée fixe referiert Bloch dabei auf die (schon von ihrem Ort her fragwürdige) Hegelsche Sentenz: umso schlimmer für die Tatsachen. Jene konkrete Utopie ‚richtet’ schlechte Faktizität. In den Tagträumen, nicht wie in der Psychoanalyse in Nachtträumen kommt zur Kenntlichkeit, wer wir sind und wer jeweils ich sein kann. Sich zur Kenntlichkeit verändern, ist ein Grundzug der Blochschen Ontologie.557 Sie mögen sich dabei auch an Brechts Herrn K erinnern, dem jemand sagt, er habe sich gar nicht verändert und der darüber erschreckt erbleicht. Ausgangspunkt dieser Gedankenlinie bei Bloch ist ein Sich-selbst-Suchen und Nicht-Finden seiner selbst. Fast alle Bücher Blochs beginnen mit der Ausmessung jener Differenz, die in leichter Variation lautet: „ich bin aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“.558 Dieses, sich nicht zu haben, verbindet er mit dem unglücklichen Bewusstsein, der Anatomie der Melancholie des unerträglichen Augenblicks. Erst in einem ‚Wir’ kann die verweifelt existentielle Suchbewegung des Ich in ein Ziel geführt werden. Als der junge Bloch in den Heidelberger Sonntagszirkel der Marianne Weber eingeführt wurde (von Georg von Lukács), schrieb die Witwe über das neue Enfant terrible: „Gerade war ein neuer jüdischer Philosoph da, ein Jüngling mit enormer schwarzer Haartolle und ebenso enormem Selbstbewusstsein, er hielt sich offenbar für den Vorläufer eines neuen Messias und wünschte, dass man ihn als solchen erkannte“. Dies ist nicht weit entfernt von Blochs eigenen, die Grenze zur Hybris und bewusser Selbstübeschätzung überschreitenden ungeheuren Selbstprädikationen in seinen Briefen an den Freund Lukács. Er ist sechsundzwanzig Jahre alt und hat noch nichts Nennenswertes veröffentlicht, aber er dekretiert: „Ich habe mich jetzt, nachdem es mir sachlich erlaubt ist, entschlossen, den Ruhm […] sukzessive zu inszenieren […] Georg, ich versichere Dir, alle Menschen, in Russland und bei uns im Westen, werden sich wie an der Hand genommen fühlen, sie werden weinen müssen und erschüttert und in der großen bindenden Idee erlöst sein; und nicht nur einmal, wie man schwach vor Tannhäuser und Wagners heiliger 556 Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung Band I, Frankfurt/Main S. 356. 557 Dies zeigt sich noch einmal in seiner späten Kategorienlehre: E. Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Frankfurt/Main 1975. 558 Vgl. Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1982, S. 13, siehe auch bereits E. Bloch, Geist der Utopie, Werkausgabe Band III, Frankfurt/Main 1980, S. 11 f.

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Kunst erschauert, sondern in allen Stunden; und das Irren hört auf, alles wird von einer warmen und zuletzt glühenden Klarheit erfüllt […]. Ich bin der Paraklet und die Menschen, denen ich gesandt bin, werden in sich den heimkehrenden Gott erleben und verstehen“.559 Ein Zug der Hochstapelei und des ‚Hans im Glück’ ist bei Bloch von Anfang an präsent. Doch daraus wird, meine ich, große Philosophie, die in der Gegenwart auch unter dem Eindruck einer Selbstreduktion philosophischen Denkens, nicht angemessen gewürdigt wird. In einem seiner ‚Denkbilder’, kürzesten, bis ins Aphoristische hinein gesteigerten Aperçus notiert er über Beethoven: Er, der plötzlich wusste oder behauptete, „ein Genie zu sein, wie es noch kein größeres gab, trieb Hochstapelei skurrilsten Stils, als er sich Ludwig van Beethoven gleich fühlte (sc. einer Gestalt, die noch gar nicht existiert!), der er doch noch nicht war. Er gebrauchte diese durch nichts gedeckte Anmaßung, um Beethoven zu werden, wie denn ohne die Kühnheit, ja Frechheit solcher Vorwegnahmen nie etwas Großes zustande gekommen wäre […]. Die Hochstapelei bleibt etwas Merkwürdiges: sie zeigt Glanz, den alle meinen und der allen zukommt“.560 Daher habe sie vielleicht auch etwas von einer Selfulfilling Prophecy. Man kann nur darauf verweisen, dass dieser Gestus denkbar weit entfernt ist von der tastend, sich selbst befragenden Gestik, die etwa dem Philosophieren eines Wittgenstein eigen ist. Bloch gehört in seiner geistigen Physiognomie eng in das Wirkfeld des Expressionismus (v. a. in der Malerei: Marck, Macke, Blauer Reiter; in den Geist der Murnauer Landschaft), der literarisch seltsam amorph blieb (Döblin schreibt mit Verzögerung in ‚Berlin Alexanderplatz‘ einen expressionistischen Roman), aber auch des musikalischen Neuaufbruchs zwischen Gustav Mahler und der neuen Musik der zweiten Wiener Schule. Es ist klar, dass man dem sich selbst unergriffenen „Ich bin“, dem Noch nicht, das sich an der Materie zeigt, ontologisch aber auch subjektivitätsphilosophisch einiges entgegenhalten könnte: Ist es denn nicht ein berechtigter Grundzug der phänomenologisch eidetischen Philosophie seit Husserl, aus dem jeweils Wirklichen in die Möglichkeit hinauszuphantasieren in einer Eidetik, der auch Heideggers Perspektivierung auf das ‚Sein- zum-Tode’ noch Rechnung trägt. Und hat demgegenüber die Möglichkeit bei Bloch nicht nur eine heuristische Funktion, so dass sie letztlich in vollständiger Realisierung

559 Jetzt dazu auch auch H. Gekle, Der Fall des Philosophen. Eine Archäologie des Denkens am Beispiel von Ernst Bloch, Frankfurt/Main 2019, S. 235 ff. u.ö. Die Freundschaft zu Lukács spielt in ihren existentiellen Abgründen dabei eine besondere Rolle. 560 Ernst Bloch, Spuren, Frankfurt/Main 1969, S. 43 f.

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aufgehoben werden soll? Zu diesen Einwänden hätte man umso mehr Grund, als Bloch diese mythische Grundstruktur zum Ausgangspunkt seiner Analysen macht. Bloch lebt nach Studium und Promotion, unter anderem in engem Kontakt mit dem Hermeneutiker und Phänomenologen Hans Lipps und mit dem Kulturphilosophen Georg Simmel zunächst als freier Schriftsteller in Berlin. 1913 kommt es zur ersten Eheschließung mit Else von Stritzky, einer Bildhauerin aus Riga; sie stirbt 1921 und wird für Bloch eine nachgerade verklärte, ideale Gestalt, auch wenn die Beziehung keineswegs konfliktfrei gewesen zu sein scheint. Das letzte Buch, das der über neunzigjährige Bloch für seine Gesamtausgabe fertigstellt, wird ‚Tendenz-Latenz-Utopie’ sein, dessen erster Teil ein Gedenkbuch für Else Bloch von Stritzky ist. „Sie lächelte. Oft wusste ich nicht, warum. Sie freute sich, war grundlos froh. […] Niemand, der ihr Lächeln sah, konnte es je vergessen“.561 Bloch erinnert sich auch daran: „Else glaubte fest an die absolute Wahrheit meiner Philosophie. Sie kam ihr aus dem gleichen Blut und aus der gleichen Region wie die Bibel […]. Durchstrich ich eine Stelle im Manuskript oder im gedruckten Buch, so schauerte sie leise zusammen“.562 Mit ihr lebt er im Isartal, 1914−1917, und im Zeichen dieser Lebens- und Liebesgemeinschaft entsteht Blochs erstes großes Werk: ‚Geist der Utopie’ 1918, Zweitfassung 1921, ein dithyrambischer Aufbruch der Philosophie, großer Gedanke im Ausgang, so wie Bloch selbst Hegels ‚PhdG’ charakterisiert hatte. Bloch wendet sich im Umbruch von den zwanziger zu den dreißiger Jahren der kleinen Form der Denkbilder zu; ähnlich wie Walter Benjamin. Sein Band ‚Spuren’, aber auch die scharfen Diagnosen der Krisis’ ‚Erbschaft dieser Zeit’ entstehen in jenen Jahren.563 Das ausgehöhlte Bürgertum und das Lumpenproletariat, eine Linke, die in blutleerem Universalismus die Kraft des Chthonischen, Mythos der faschistischen Rechten ganz und gar überlassen hatte, erfahren eine deutliche Selbstkritik. In derselben Zeit arbeitet Bloch sein großes, erst 1999/2000 ediertes Manuskript aus: ‚Geschichte und Gehalt des Begriffs Materie’. Nach Elses Tod und einer kurzen Mesalliance mit Linda Oppenheimer heiratet er 1928 Karola Piotrokowska, eine Architektin aus Lodz, die seine

561 Ernst Bloch, Tendenz-Latenz-Utopie, Ergänzungen zur Gesamtausgabe Frankfurt/Main 1980, S. 13. Die auch tiefenpsychologisch schürfende Biographie von Gekle zeigt indessen, dass zu deren Lebzeiten das Verhältnis zu Else keineswegs so bruchlos emphatisch war, wie es sich Bloch im Rückblick nach deren Tod darstellte. 562 Ibid., S. 13 f. 563 Bloch, Erbschaft dieser Zeit, E. A. Zürich 1935. Bloch arbeitet in ‚Erbschaft dieser Zeit‘ vor allem die Diskontinuitäten und Brüche der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen heraus.

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Lebensreise bis zum Ende im August 1977 begleiten wird. (Ich besuchte sie als Schüler mehrfach in Tübingen). Dass sie Mann und Werk vor den Nazis gerettet habe, hat Bloch immer wieder mit tiefer Dankbarkeit wiederholt.564 Denn in der Tat während der Emigration in Amerika musste sie ihn über Wasser halten. Das Exil ist die Zeit äußerster Isolation, in der Blochs monumentales Hauptwerk ‚Das Prinzip Hoffnung’ in drei Bänden entsteht. Bloch bleibt sehr viel stärker noch als die Exponenten der Frankfurter Schule, Adorno, Horkheimer u.a. in Amerika, der Neuen Welt, ein Fremdling. 1948 wird er in der beginnenden DDR auf den Lehrstuhl für Philosophie in Leipzig berufen. Neben ihm lehrt Hans Mayer, Germanistikordinarius im Leipzig jener Zeit, der in seinem Erinnerungsbuch ‚Der Turmbau zu Babel‘ nach 1990 die Entstehungsjahre der DDR schildert. Er berichtet von Bloch als dem Weltbürger im kleinen, spießbürgerlichen Ulbricht-Sozialismus, ein von weither Kommender, wie ihn alle seine Schüler (Zwerenz, Riedel) beschrieben. Ein Hauch von großer Welt aber auch jüdischer exteritorialer Existenz verband sich mit Blochs Habitus. Später Epoche machende Schriftsteller wie Uwe Johnson und Christa Wolf saßen in seinem Hörsaal. In einem Alter, in dem andere sich auf die Emeritierung vorbereiten, tritt Bloch erstmals ein regelmäßiges universitäres Lehramt an. Die Umstände sind alles andere als gewöhnlich. Es kommt sehr früh zu Verwerfungen mit den SED-Kadern. Seine Schüler, hochbegabte darunter, werden relegiert. Wolfgang Harich, der später seine dissentierende Haltung widerruft, Jürgen Teller, der in die Produktion geschickt wird und einen Arm verliert, gehören in Blochs Umkreis.565 Die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, so wie es Blochs Begriff des Sozialismus intendierte, war unter den ‚roten Preußen, Sachsen und Saarländern’ nicht möglich. Brechts Bonmot von den „Murxisten“, statt Marxisten, und Blochs eigene Reminiszenz, es wäre Zeit, Schach zu spielen statt Mühle, drücken die Atmosphäre jener Jahre aus. Eine wichtige Rolle spielte auch die Zeitschrift ‚Sinn und Form’ unter ihrem Redakteur Peter Huchel, die fortgesetzte Erbe- und Modernediskussionen gegenüber sozialistischem Realismus (Bitterfelder Konferenz) ermöglichte und eine subkutane Unterstimme bildet. Dauerhaft blieb der Murxismus der Parteikader stärker. Bloch wurde der Aufweichung des Klassenstandpunktes bezichtigt – nicht nur seine Klasse,

564 Vgl. dazu vor allem die späteren Interviewäußerungen von E. Bloch, u.a. Ernst Bloch im Gespräch mit I. Fetscher. Gespräch, BR Deutschland, 1967, 43:46 Min., Regie: Günter Andreas Pape, Produktion Hessischer Rundfunk; siehe auch E.Bloch, Tagträume vom aufrechten Gang, Frankfurt/Main 1977. 565 Vgl. dazu das Erinnerungsbuch von M. Riedel, Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land, Berlin 1990. Mit Kristina Schippling arbeite ich an einer, wie wir meinen, dringend erforderlichen Neu-Explikation der DDR-Philosophie. Sie wird in einem Digital-Publikationsprojekt und in Buchfassung 2022 erscheinen.

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auch der einzelne Mensch habe, so Bloch in einer Diskussionseinlassung 1956, nicht gerne den Stiefel im Gesicht. Dies trug ihm das Sokratische Epitheton ein, ‚Verführer der Jugend’ zu sein. Bloch wird 1957 zwangsemeritiert. Er darf nicht mehr lehren und lebt im Verborgenen seines Leipziger Hauses. Es folgen mehrere Vortrags- und Gastvorlesungsreisen in den Westen der Republik. Der liberale Rektor und Politologe Theodor Eschenburg überwindet alle institutionellen Hürden, so dass Bloch in Tübingen in seinen späten Jahren eine Professur mit erträglicher Versorgung finden kann. Dies geschieht, nachdem er 1961 im August auf einer Sommerreise in Bayreuth vom Mauerbau überrascht wurde. Bloch wollte darin kein zweites Exil sehen. Der Titel der Tübinger Antrittsvorlesung 1961 im Herbst ‚Kann Hoffnung enttäuscht werden?‘ erhielt die Antwort: natürlich kann sie das, wobei sie dadurch nicht entkräftet werden wird. Bloch, der Denker aus einer anderen Zeit, den in seiner Leipziger und auch noch seiner Tübinger Zeit nach Wahrnehmung jüngerer Freunde der Gestus des alttestamentlichen Propheten umgab, , wird, als er selbst längst hochbetagt ist, ein wesentlicher Spiritus rector der Studentenbewegung von 1968. Ein Foto mit der nach oben gereckten Faust im Rektorat anlässlich der Feiern zum 90. Geburtstag zeigt den bleibenden revolutionären Impetus des ‚Geist der Utopie‘. Dies alles ist, zumal wenn man seine frühen politischen Orientierungen aus der Freiheitsbewegung des deutschen Südwestens (im Geist von Cohens kantianischem, ethischen Sozialismus) mit in Rechnung stellt, nicht frei von anachronistischen Zügen, aber auch von der Würde des Patriarchen gegenüber der bundesrepublikanischen Unifizierung. Bloch stirbt wenige Wochen vor dem bleiernen Terrorherbst am 4. August 1977. Aufgereckte Fäuste am Grab am Tübinger Waldfriedhof. Unter den Rednern bildet Rudi Dutschke, aber auch Walter Jens, ein Segel in eine andere Welt. Es ist ein seltsames Missverhältnis, dass Bloch seit dem Niedergang von 1989 kaum mehr wahrgenommen wird. Der Häme über den Tod von Utopie und die Affirmation des sich selbst regulierenden Marktes und der feuilletonistischen Konstatierung eines „Endes der Utopie“ gegenüber ist sein Oeuvre und Denken aber resistent.566 Ein großer noch immer ‚unaufgearbeiteter Steinbruch des Nocht-Nicht‘.

566 J. C. Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991, auf die seinerzeit gängige Verabschiedung alles und jedes Utopischen antwortete Manfred Riedel mit seiner Studie über Tratiditon und Utopie 1994, die Bloch wieder ins Recht setzen sollte.

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2. Eschatologie und Chiliasmus Der Grundimpuls Blochs ist nicht eine marxistische, sondern messianisch-chiliastische Hoffnung, in der innerweltliche und transzendente Eschatologie ineinandergreifen, erfüllt von der Voraussicht auf das Reich Gottes. Anders als bei Benjamin und Adorno reicht der Pfeil dieses Messianismus bei Bloch chiliastisch in die Zukunft. „Wir haben“, schrieb Bloch an den Freund Joachim Schumacher, „unsere Zeichen in die Ewigkeit zu ritzen, nicht in den Tag“. Marxismus begreift er deshalb nur als „Durchgangsstadium“, als ‚erste Tür zu einem Sein wie Utopie“.567 Blochs Philosophie beginnt bei aller Differenz mit einem Existenzial, dem Dunkel des unerlösten Augenblicks, des Noch-Nicht. In einem Vortrag 1961: ‚Philosophische Grundfragen. Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins’ legte er sich über dieses Grundmotiv, das schon die Denkversuche des kurz über Zwanzigjährigen anleitete, Rechenschaft ab: „NichtHaben, Mangeln also ist die erste vermittelte Leere von Jetzt und Nicht. Mit Hungerndem als erstem bezeichneten Melden des Nicht, mit Fragendem als erstem bezeichneten Scheinen des X, des Rätsels, des Knotens im Nicht, das es nicht bei sich aushält. Wir leben nicht, um zu leben, sondern weil wir leben, doch gerade in diesem Weil oder besser: diesem leeren Daß, worin wir sind, ist nichts beruhigt, steckt das nun erst fragende bohrende Wozu. Dergestalt, dass es das Nicht des unausgesuchten Bin oder Ist nicht bei sich aushält, darum ins Noch-Nicht sich entwickelt, das es vor sich hat […]. Der Hunger wird so zur Produktionskraft an der immer wieder aufbrechenden Front einer unfertigen Welt […]. Ja die gesamte Versuchsreihe der Weltmanifestationen ist noch eine unabgeschlossene Phänomenologie unserer wirklichen Materie, als eines Ultimum, nicht eines Primum“568 Sie sehen, dass hier von der Auslangung in das ausstehende, aufdämmernde Reich, nicht von einem abstrakten Prinzip her gedacht wird. Es geht um Konkretionen, die auch die Sozialverhältnisse mit umfassen. Das Nicht ist der Mangel, Hunger, die Sehnsucht, der Schmerz des Dass, das nach dem Was, und dem Wozu seines Wesens tendiert. Dies schließt die noch unerlöste Natur in sich (Römer 8, 19 ff), die zu ihrem Logos erwachen muss. Schmerz, Stachel, Verlangen, Unruhe sind für Bloch, wie für Schelling, Ausgangspunkt der Philosophie. Jürgen Habermas nannte Bloch einmal nicht

567 Ernst Bloch, Brief an Joachim Schumacher, Briefe Band II, Frankfurt/Main 1985, S. 23 f. Vgl. P. Zudeick, Der Hintern des Teufels.Ernst Bloch – Leben und Werk, Baden-Baden 1985, S. 132 f. 568 E. Bloch, Philosophische Aufsätze, S. 71 und ibid., S. 74.Siehe auch ders., Experimentum Mundi, Werke Band 15.

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ohne Berechtigung einen ‚marxistischen Schelling!569 Bloch begreift diesen Ansatz des Noch-Nicht als eine ‚neue Metaphysik’, sie sucht das Sein des Noch-Nicht-Seins als eine neue Seinsweise zu exponieren, die niemals in der philosophischen Tradition gedacht worden sei. Auch in diesem Anspruch zeigen sich in der philosophischen Substanz starke Affinitäten zu Heidegger. Zugleich aber folgt er einer aristotelischen letztlich schon bei Platon angelegten Linie, wonach das Wesen in Identität mit dem materiellen Einzelfall stehe. Bei Bloch vollzieht sich allerdings jederzeit der Übergang oder das Umspringen von theoretischen in praktische, also revolutionäre, weltverändernde Kategorien. Bei Benjamin und Adorno wird unter den Vorzeichen der Negativität eine gänzlich andere Stellung zu jener Praxeologie begegnen. Es kommt das weitere entscheidende Momentum hinzu, dass solche Praxis für Bloch – geradezu poietisch, nach Maßgabe des ‚Faust‘ als herzustellender Bereich gedacht wird, fokussiert auf den „arbeitende(n), schaffende(n), die Gegebenheiten umbildende(n) und überholende(n) Menschen“.Dass die Welt als Bild und möglicher Entwurf begriffen wird, dies ist vor allem im Versuch einer Kategorienlehre des Noch-Nicht angelegt. Bei Heidegger, dem Antipoden und Nachbarn, ging es bekanntlich um eine Kategorialität desdes zeithaften Daseins, im ‚Experimentum mundi’ greifbar. Der genuin aristotelischen Unterscheidung von Poiesis und Praxis versicherte sich Bloch nicht wirklich. Handlung und Werk verschmelzen letztlich in eins: „Gelingende Praxis enthält eben im immer erneut Insistierenden des Daß den Durchbruch eines nicht nur zu Bestimmenden, sondern eines zu Verwirklichenden. Worin über das Was des Dass schon ausgesprochen ist, „dass es kein vorhandenes Wirkliches darstellt […]. Vielmehr ist es noch erst herausbringbar, muss erst bestimmt herausgeschafft werden, damit es ein nun vollständig zu Bestimmendes sei“.570 Dabei hat Bloch unterstrichen (politisch ist darin seine Ketzerei gegen die dogmatische These vom historischen Fortschritt ausse der II. und der III. Internationale eindeutig formuliert), dass eine Einsicht in objektiv reale Möglichkeiten eines Dass, sei es geschichtlich, sei es naturhaft verfasst, nicht hinreichend sind. Der ‚subjektive Faktor müsse vielmehr kräftig eintreten.

569 J. Habermas, Ein marxistischer Schelling. Zu Ernst Blochs spekulativem Materialismus (1960), in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/Main 1987, S. 141 ff. 570 E. Bloch, Geist der Utopie, GW 3, S. 16 f.

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3. Kunst als die „eigentlich metaphysische Tätigkeit“: Die Stimmung des ‚Geist der Utopie‘ Bei einem Denker, der wie Bloch durch und durch aus ästhetischer Anschauung und Anhörung, aus den Welten der Literatur und Musik heraus denkt, nicht zuletzt auch aus der Sprache, ist in fast lyrisch epigrammatischen Zuspitzungen die Anzeige des ontologischen Ausgangspunktes nicht nur propositional, sondern immer auch metaphorisch-metonymisch verfasst, mit einem immer wieder durchbrechenden prophetischen Gestus. Sein erstes Werk, ‚Geist der Utopie‘ formulierte er deshalb als Figur der „Unkonstruierbaren Frage“. Hier bricht sich eine Philosophie der Musik Bahn, eine spekulative Ästhetik des Tons und des Rhythmus, in der die Philosophie selbst in den Sog der Musikalität kommt. Kunst ist für Bloch Vorschein des Noch-Nicht. Doch während bildende Kunst „inselhaft“ bleibt, „aufregend, die Menschen anziehend und wieder entlassend“, nötigt die Tonkunst zu einem Mitvollzug, sie führt in das werdende Vaterland in der Zeit. Die Leonoren-Ouvertüre Beethovens, Lied der Seeräuber-Jenny waren für Bloch Paradigmen, aber der Gedankenzug geht darüber hinaus ins Grundsätzliche. „Wo dieses letzte ästhetische Bemühen nicht ermattet“ (Bloch meint: ein Zug zur Vollendung der Dinge: dem Telos, der Apokatastasis, dem die Apokalypse eingebrannt ist), wo es nicht „derart absperrend, verblendend, heidnisch immanent gerät, wird das große Kunstwerk ein Abglanz, ein Stern der Antizipation und ein Trostgesang auf dem Heimweg durch Dunkelheit“.571 Der ‚Geist der Utopie’ sammelt sich an einer wiederum besonders prominenten Stelle auf ein merkwürdiges Stück, eine Dingbeschreibung, an der Adorno wie kaum irgendwo sonst Blochs Denken zur Kenntlichkeit kommen sah.572 Mikrologie und großer Bogenschlag schließen einander keineswegs aus. Denn jenes frühe Werk endet mit einem Blick auf die Apokalypse und den Tod, der für Bloch gerade nicht äußerstes Ganzseinkönnen des Daseins signiert, sondern die radikale Gegenutopie ist. Kontrafaktisches Erbe der hebräischen Prophetie zu dem Seinsdenken. Unverhohlen mündet der ‚Geist der Utopie‘ in die Aussicht in ein ‚ewiges Reich’ ein. Hier ist der Geist von Joachim von Fiore unverkennbar. Denn nur in einem solchen Reich wäre die umfassende, unentfremdete Selbstbegegnung des Ich und Wir möglich. Die Parallelarchitektur zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ und dem frei zitierten Schillerwort: „Im Kelche jenes Geisterreiches, schäumt uns die

571 Bloch Geist der Utopie, Endfassung, a.a.O., S. 152. 572 Dazu Th. W. Adorno, Henkel, Krug und frühe Erfahrung, in: ders., Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften Band 11, Frankfurt/Main 1970, S. 556 ff.

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Unendlichkeit“ ist unverkennbar.573 Dabei geht es darum, dass das Inwendige auswendig und das Auswendige wie das Inwendige werden kann. Dies sei etwas ausführlicher zitiert, da sich der Bloch-Sound nicht referieren lässt, der hier den Gedanken trägt: „Unser Haupt, das ewige Leben, das erschlossen gegründete Ingesinde, die auch transkosmologische Unsterblichkeit, die alleinige Realität des Seelenreiches, das Pleroma des Heiligen Geistes, die Stiftung in integrum aus dem Labyrinth der Welt“.574 Mit prophetischem Gestus folgt die Fermata: „Denn wir sind mächtig; nur die Bösen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten – da besteht Gott durch sie und in ihre Hände ist die Heiligung des Namens, ist Gottes Ernennung selber gegeben, der in uns rührt und triebt, geahnte Tor, dunkelste Frage, überschwängliches Innen, der kein Faktum ist; sondern ein Problem, in die Hände unserer gottbeschwörenden Philosophie und der Wahrheit als Gebet“.575 Dies ist ein Werk, zu dem man immer wieder zurückkommen muss, in seiner Tiefenschärfe zwischen jüdischer Prophetie, philosophischer Ästhetik der Avantgarde und dem marxistischen Umschlag solcher Träume in Realität. 4. System als Kaleidoskop: ‚Prinzip Hoffnung‘ und späte Gedanken Das monumentale, weit ausgreifende Hauptwerk, Blochs ‚Prinzip Hoffnung‘ ist demgegenüber ein symphonisches Gefüge aus membra disiecta, ein geschichtsphilosophisches, die große Sozialutopien in sich aufnehmendes und verarbeitendes System eines antizipierenden Bewusstseins. Die Systemform ist freilich ein performativer Selbstwiderspruch, da der utopische Gestus eo ipso unabschließbar ist. In jener Widersprüchlichkeit zeig sich zugleich eine Kritik der Hypostasen und Einseitigkeiten jeweiliger Utopien, medizinischer, sozialer, technischer Art. Unter anderem enthält Blochs Hauptwerk Phänomenologien der Kolportage, des Abenteuerromans, der Schaubühne, der Trivialkunst, insofern gerade in ihr solche Träume bewahrt waren. Das ‚Prinzip Hoffnung‘ ist aber auch Mo-

573 So der Schlusssatz Hegel, Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe Band III, a.a.O., S. 591. 574 Bloch, Geist der Utopie, a.a.O., S. 342. Ästhetik und ein geradezu prophetisch theologischer Ton konvergieren. Es ist nicht ganz zufällig, dass eine spätere Generation mit Ernst Bloch wenig anfgangen konnte. D. Henrich bekundet in seiner Autobiographie: Ins Denken ziehen, München 2021, S. 200 f. sogar ausdrücklich, dass Bloch ihm unsympathisch gewesen und geblieben sei. Hier deutet sich die Divergenz zweier Temperamente ser deutlich an. 575 Bloch, Geist der Utopie, a.a.O., S. 346. Hier kommt ein jüdisch-messianisches Element, zugleich der Gestus des ‚Ältesten Systemprogramms‘ und des Freundschaftsbundes zwischen Schelling und Hegel zum Ausdruck.

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1. Ernst Bloch: Die philosophische Prophetie des messianischen Zeitalters

numentum: Das Gedächtnis geschlagener Aufstands- und Revolutionsbewegungen, in denen der Überschuss bewahrt bleibt. Die Bauern von Frankenhausen und Thomas Müntzer rezitierten das von Bloch immer wieder zitierte: „Geschlagen ziehen wir nachhaus/unsre Enkel fechten’s besser aus“.576 Für Bloch sind Symbole, diese überlieferten Ausgestaltungen des Tagtraums Leitfaden seines Denkens: Man kann von der Symbolintention als einer grundlegenden Verfahrungsart sprechen, die das Verstehen des Gemeinten ans Licht bringt. Solche Bildauslegung, nicht aber die Dialektik des sich selbstbewegenden Begriffs, bezeichnet die Schrittfolge Blochschen Philosophierens. Jene Analyse des Tagtraums, des qua seines Noch-Nicht, zu sich selbst in Abstand sich Verhaltenden, antizipierenden Bewusstseins ist auch ein großes Antidotum zu der Freudschen Aufdeckung des Unbewussten, dieses speist sich aber aus dem Thesaurus einer Sehnsucht, die weitertreibt und zugleich ans Licht drängt. Man kann von hier aus zwei Denkformen Blochs elementar fassen: Den aus Hegels Lehre vom ‚spekulativen Satz’ (Vorrede der Phänomenologie des Geistes) entnommenen Identitätssatz: S ist nicht P, das heißt, jedes Subjekt hat potentielle Möglichkeiten, die nicht verwirklicht sind. Im Prädikat soll das Subjekt in sich eingehen und zu seinem Wesen kommen. Die Konkreszenz des Subjektes zum Prädikat ist aber ein offener Werde-Vorgang.577 Zum anderen folgt Bloch einer Progression des Heraus-Bringens, die aber zugleich eine Rückkehrbewegung ist. Was Seiendes je schon war, verändert sich zur Kenntlichkeit. Man könnte geradezu Nietzsches ‚werde der/die du bist’ aber auch die Platonische Grundfigur der Rückkehr zum Ausgang und Grund, dem Einen, hier eingelöst sehen.578 Das Hauptwerk schließt mit der Evokation von Heimat, als dem Ou-Topos, von dem jeder von Kindheit an weiß und nach dem er strebt, worin aber noch niemand war. Ich kann Sie nur auf wesentliche weitere Stücke des Spätwerks verweisen, die Ihnen anzeigen sollten, dass sich ein grundlegendes Studium Blochs noch immer lohnt, auch wenn der Geist der Revolution müde und zynisch geworden sein mag und Bloch kaum mehr auf den Stundenplänen der Seminare steht. Dem späten Bloch verdankt sich eine Rechtsphilosophie, ‚Naturrecht und menschliche Würde‘, als Lehre von der „Orthopädie“ des aufrechten Gangs,579 eine grandiose Arbeit zum Materialismusproblem, wobei Bloch, mit

576 Wesentlich war für Bloch der Blick auf die „deutsche Misere“ als einen Grundton der Geschichte und auf die wenigen, die ihn aufbrechen konnten. Vgl. E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Schriften Band III, S. 100 f. 577 Vgl. dazu Tübinger Einleitung in die Philosophie, Werkausgabe Band 13, a.a.O., S. 20 ff. und S. 150 ff. 578 Das Nietzschesche Moment ist im Denken Ernst Blochs sehr virulent. Vgl. dazu auch Riedel, Tradition und Utopie, a.a.O. 579 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Werkausgabe Band 6, S. 11 ff. u.ö.

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der Schellingschen Identitätsphilosophie den Logos in der Materie, und die Natur in der Vernunft befragt. Bloch neigt zu keinem „dialektischen“ Materialismus, keinem naturwissenschaftlichen Glauben an die Materie. Vielmehr schwebt ihm eine spekulative Naturphilosophie des Geistes vor. Auch darin ist der spekulative Geist Schellings präsent. Sodann ist eines der schönsten und wichtigsten Hegel-Bücher bis heute aus seiner Feder ‚Natura naturata nos ipsis erimus’ hervorgegangen: Subjekt-Objekt Erläuterungen zu Hegel. Auf einen Topos Blochs muss hier noch verwiesen werden: Die Topologie von Wärmestrom und Kältestrom. Sie hat sowohl politische wie auch philosophische Bedeutung. Es bedarf des kalten Blicks in das entzauberte Diesseits, eines Blicks, der sich sowohl ökonomisch soziologischer Kategorien bedienen wird als auch naturphilosophischer Durchtrennungen vermeintlicher Kausalität und foederae naturae durch eine rigide Atomistik. Erforderlich ist aber zugleich die Ergänzung durch den Wärmestrom, der auf den leiblichen Schmerz und die Erlösungsbedürftigkeit bezogen ist, zugleich aber und „erst recht unbetrügliche(n), eingedenkende(n) Blick auf die echten Angelegenheiten des Überbaus, die keine falsche Ideologie mehr enthalten, sondern Überschuss darüber“ freilegt.580 5. Tradition und Utopie Man muss Bloch, worauf der Bloch-Schüler Manfred Riedel in dem Buch ‚Tradition und Utopie’ besonders eindrücklich hingewiesen hat,581 auch vor dem Hintergrund alteuropäischer Traditionen verstehen. Einige dieser Züge sind zu erinnern: Der junge Bloch blickte von Deutschland aus nach Westeuropa aber auch auf den transatlantischen Verfassungszusammenhang. Utopie ist ihm daher kein Handlungsprinzip, sondern Reflexionsbegriff, nicht konstitutive, sondern regulative Idee. Mithin war auch die Confessio zur russischen Revolution 1917 „Hic Lenin hic ibi Jerusalem!“ bei Bloch nie als ungebrochenes Revolutionsfanal zu verstehen.582 Früher und emphatischer als auf Lenin

580 E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Werkausgabe Band 7, S. 376. 581 Vgl. Riedel, Tradition und Utopie, op cit., S. 23 ff. 582 E. Bloch, Politische Messungen. Pestzeit, Vormärz, Frankfurt/Main 1970, passim. Dies ist vor allem der Gestus der frühen politisch publizistischen Arbeiten. Retuschen, die Bloch im Rahmen der Arbeit an der Gesamtausgabe, assistiert von Gert Ueding, an seinem Frühwerk vornahm, sorgten zeitweise für Aufsehen. Dazu Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch – Leben und Werk, Baden-Baden 1985, S. 320 ff.

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war Bloch auf das Heilige Russland der Dostojewski und Tolstoi bezogen. Anders als es in marxistischer, revolutionärer Theoriebildung gängig ist, hat für Ernst Bloch die Verständigung über Ethik als gutes Leben ihre Bedeutung nie verloren. Darin ist und bleibt er Cohen-Schüler. Er denkt den intendierten Zustand als ein Gottesreich (Kant) zugleich als Reich der Zwecke und skizziert neben dem – sicher überwiegenden – poietisch herausbringenden (produzierenden) Weltverhalten auch ein umgehendes, kommunizierendes. Nach Blochs ursprünglicher Einsicht kann sich der gute Wille in der Welt nicht verwirklichen, wenn ihm nicht göttliche Gnade, wie immer metaphorisch und durch den Blick der Kunst verändert, entgegenkommt und ihn in einem Kairos zum Ziel bringt.583 Dabei wird man zugeben müssen, dass Blochs utopisches Denken selbst Topoi, Orte der Einrichtung des Noch- Nicht-Seienden unterscheidet: „Das Reale enthält in seinem Sein die Möglichkeit eines Seins wie Utopie, das es gewiss noch nicht gibt, doch es gibt den fundierten, fundierbaren Vorschein davon und dessen utopisch-prinzipiellen Begriff“.584 Diesen Begriff hat das Spätwerk ‚Experimentum mundi’ darzulegen. In Rahmenkategorien, wie Hier und jetzt: Transmissionskategorien wie Kausalität oder Finalität, Auszugsgestalten im Sinn der Exilerfahrung und des jüdischen Momentums, wie Messung, Auseinandersetzung entwickelt er ein fließendes Kategoriensystem, das nicht auf ordnende Verstandesbegriffe im Kantischen Sinn bezogen sein soll, sondern die Dynamik der Aufhebung des „Jetzt“ ins „Noch nicht“ intendiert. Leitkategorien sind deshalb Drehung und Hebung. 2. Georg Lukács: Naphta im 20. Jahrhundert Bei allen philologischen Relativierungen: wenn man eine geistige Physiognomik zu entschlüsseln versucht, kann man noch immer zuerst auf die die Figur des Naphta in Thomas Manns Zauberberg Bezug nehmen. Die Romangestalt Naphta, die natürlich niemals ein 1:1-Abbild des historischen Lukács ist, ist Jesuit, Denker des Extremums, bei dem sich äußerste Linke und Rechte berühren und in jedem Fall der Antipode des in Settembrini kulminierend humanistischen Zeitalters. Naphta weist voraus in das Zeitalter der Extreme und zurück in das Mittelalter, die Religionsgrausamkeiten der Gotik. Anders als Bloch schöpft er explizit aus der Marxschen Theorie. Die

583 Zu Blochs Lehre von den Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen, einer Konzeption der Verschränkung der Zeiten vgl. auch Tübinger Einleitung in die Philosophie, Werkausgabe Band 13, S. 23 ff. und Atheismus im Christentum, Band 14, S. 7 ff. 584 Vgl. dazu ibid., S. 34 f., sowie Riedel, Tradition und Utopie, a.a.O., S. 35 ff.

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Beziehung zu Marx sei, so hat Lukács betont, der nervus probandi für einen Intellektuellen in der Zeit.585 Sehr viel stärker als Bloch verfing sich Lukács in dem Labyrinth marxistischer Parteistrategien und der Rituale der Selbstkritik. Er machte sich selbst zum Parteiphilosophen, obwohl er ursprünglich als ungarischer Aristokrat die Bühne betreten hatte und aus dem Umkreis des Ästhetizismus von Stefan George und der Heidelberger Kreise um Max Weber oder Heinrich Rickert kam.586 Er beginnt als Literarästhetiker (‚Theorie des Romans‘) und entwirft eigenständig seine frühen (Heidelberger) Ästhetiken. Der junge Lukács folgt zunächst wesentlichen Momenten der romantischen Kunstphilosphie, insbesondere Friedrich Schlegels und dem subjektiven Idealismus des frühen Hegels. Kunst sei, so formuliert Lukács: „Heimweh, Produkt des Triebes überall zuhause zu sein“.587 In der Kunst nur gewinnen die Dinge ihre ihnen eigene Wesenheit als reines Sein. Lukács vollzieht, eigener Auffassung gemäß, nach und nach schon in jener Heidelberger Zeit den Übergang von einem subjektiven zu einem objektiven Idealismus, angestoßen von Max Weber und der Frage, wie eine vergangene, bedingte Kunstform, etwa jene der Griechen, für uns noch unmittelbaren ästhetischen Gefallen und normative Bedeutung gewinnen kann. Der Erste Weltkrieg erst politisiert Lukács. Er sieht mit dem magischen Jahr 1917 das Ende des Alten Europa heraufziehen. Der Krieg ist nicht mehr deutbar nach der Typik des alten Heroismus, der Schlachtenreihe von ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘, und auch nicht als Vitalitätsexplosion. Sie ist Bruch der Zeiten, Niedergang der alteuropäischen Ordnung. Ernst Jünger machte als Autor seiner ‚Stahlgewitter‘ auf der rechten Seite des politischen Spektrums eine ähnliche Entdeckung.588 Lukács kämpft auf der Seite der ungarischen Revolution, wird Volkskommissar für Kultur, zeitweise ist er auch Kommissar in der Roten Armee. Aus dieser Situation heraus entsteht sein frühes Hauptwerk ‚Geschichte und Klassenbewusstsein’. Lukács greift dabei auf dezidiert Marxsche Kategorien zurück. Verdinglichung und Warenfetischismus prägen den modernen Kapitalismus, dessen Räderwerk den Menschen in eine Ware verwandelt. Dieser

585 Vgl. H. Seubert, Rechter und linker Antiaristokratismus im 20. Jahrhundert – Die Paradigmen Heidegger und Lukács, in: Jahrbuch für politisches Denken 29 (2019), S. 35 ff. 586 Vgl. F. J. Raddatz, Georg Lukács in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1972, S. 15 ff. 587 Lukács, Theorie des Romans.Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen großer Epik, Neuwied 1974, S. 21, im Anschluss an ein Zitat von Novalis. 588 Auch in diesem Sinn ist der I. Weltkrieg nach dem berümten Wort von George F. Kennan die Jahrhundertskatastrophe des 20. Jahrhunderts. Stärker noch markiert er eine grundlegende Krisis der Moderne.

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fixierende, bannende Schein, dieser wirklichkeitserzeugende Wahn könne einerseits in der Erkenntnisweitung von Wissenschaft und Kunst aufgebrochen werden; andrerseits aber ist er praktisch zu überwinden, indem sich die „Masse Mensch“, das Proletariat, revolutionär zum Subjekt der Geschichte macht. Die II. Kommunistische Internationale lehrte, dass die revolutionären Parteien sich dem jeweiligen Bewusstsein in einer Gesellschaft in ihrer Strategie und Taktik anzupassen haben. Dies ist nicht Lukács Auffassung: „Klassenbewusstsein ist nicht das psychologische Bewusstsein einzelner Proletarier, sondern der bewusst gewordene Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse“.589 Dieses Bewusstsein antizipiert bereits die Zielvorstellung, dass die Gesellschaft klassenlos sein solle. Lukács lässt sich dabei auf tiefe Differenzen in der Strategie ein, zwischen Rosa Luxemburgs Auffassung, dass auf die spontanen Massenbewegungen zu setzen sei, und Lenins These von der notwendigen Organisation der Revolution in striktem Parteiapparat mit seinen Sanktionen. Im Dienst der Taktik geht es ihm um eine deren Mechanismen aufdeckende Analyse der Gesellschaft, die in revolutionäres Handeln umschlagen muss. Lukács ist dabei primär an der politischen Sphäre interessiert, im Rückgriff auf Hegels Rechtsphilosophie und den jungen Marx, und so, dass der Marx des ‚Kapital’ und der ökonomischen Analyse kaum eine Rolle spielt. Dialektik ist nicht mehr eine logische, sondern ausschließlich eine real-geschichtlich nutzbare Kategorie. In dieser Zeit entstehen erst Studien zum bürgerlichen Realismus in der Literatur des 19. Jahrhunderts (für Lukács das ästhetische Paradigma schlechthin), auf der Linie von Goethe, über Balzac, Stendhal den großen russischen Roman bis hin zu Thomas Mann, dem letzten Exponenten dieser Kunstepoche. Dies markiert wieder eine Mittelposition: Lukács redet an keiner Stelle der damals gängien AGITPROP-Kunst und dem PROLETKULT das Wort, seine Klassizitätsannahme versagt sich aber auch ästhetischer Avantgarde, die in der Frühzeit der Revolution (Majakovskij, Eisenstein u.a.) eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Während bei Bloch das Erbe der Avantgarden vom Expressionismus bis zum Surrealismus philosophisch erwogen wird, wehrt Lukács dieses Erbe ab. Obgleich die großen Vertreter des Realismus ganz und gar Bürger sind, diesseits des Klassenstandpunktes, decouvriert ihr narrativer Blick jene Gesellschaft der Bourgeoisie, ihre Märkte und ihre Bewusstseinszustände. Lukács wurde mehrfach vor Partei-Tribunalen zur Selbstkritik genötigt. Insofern wird der Stalinismus sein Schicksal. Die Konfrontierunen durchziehen die gesamte Stalin-Zeit, so dass sich Lukács als ‚Partisan’ im sozialistischen Weltgehäuse sehen muss, sie kulminieren im Ungarnaufstand 1956, als Lukács an der Seite von Imre Nagy steht, mit der Tendenz zu einem Bündnis „der de589 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S. 86.

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mokratischen Kräfte, ob sozialistisch oder bürgerlich, gegen die Reaktion“.590 Hausarrest und Verbannung nach Rumänien sind für ihn selbst die schmerzhaften Folgen, als der Ungarnaufstand 1956 niedergeschlagen wird. Vor diesem unmittelbaren Zeithintergrund ist eine erst 1985 aus dem Nachlass erschienene Arbeit von Lukács besonders interessant: ‚Demokratisierung heute und morgen’, in der er die langen Linien russisch sowjetischer Staatlichkeit auszieht (ähnlich sah es ein Antipode, der amerikanische Chefstratege George F. Kennan), den Imperialismus und die politische Rückständigkeit, die die marxistische Theorie zum Dogma verfestigt habe. Lukács rüttelte zumindest in unpublizierten Arbeiten ernsthaft an der Parteidoktrin, ohne sie doch abstreifen zu können.591 Sein Spätwerk wendet sich noch einmal der Ästhetik zu; doch nun ist das Unterbau-Überbau-Modell fest sanktioniert. Zudem entwirft der alte Lukács eine ‚Ontologie gesellschaftlichen Seins’, gleichsam eine Kategorienlehre realer Verhältnisse. Bei Lukács ist nichts von der chiliastisch messianischen Grundstimmung seines Lebensfreundes Ernst Bloch zu erkennen, kein offengehaltenes Nichts. Vielmehr verstärken sich die Tendenzen auf eine Philosophie der Aktion, die in der Theoriebildung von Gramsci und anderen Neomarxisten aus dem bürgerlichen Lager ein Nachleben haben sollten. So ist bei aller hohen ästhetischen Sensibilität, über die Lukács als Person gebot, bei ihm das Überbau-Unterbau-Modell an keiner Stelle in Frage gestellt. Das dunkelste, unheilvollste, der Zensur Vorschub leistende, kurz stalinistische Werk von Lukács erscheint 1954 unter dem Titel ‚Die Zerstörung der Vernunft’.592 Es ist das Gegenbild zu Karl R. Poppers ‚Offener Gesellschaft und ihre Feinde‘. Er zeigt dort in einer linearen Schattenlinie, dass bürgerliche Philosophie, Wissenschaft und Kunst im 19. Jahrhundert Reaktionen auf die sich verschärfenden imperialistischen und Klassengegensätze waren. Der Aufklärungsimpetus sei bei jenen Philosophen preisgegeben, oder – in dieser Nomenklatur – verraten worden, bis hin zu Nietzsche, Carl Schmitt, Heidegger. Philosophie schmilzt in einem intellektuellen Gewaltakt auf Ideologie ein. Sie verfängt sich damit in die Logik, die sie gerade aufdecken und destruieren möchte. Solche vermeintlichen ‚Irrationalisten’ sind zu verbieten, womit Lukács die Auseinandersetzung durch den Ruf nach Zensur ersetzt. Beklagenswert ist dies auch deshalb, weil man es beim jungen Lukács so gründlich anders lesen konnte. Ich möchte deshalb auf einige Grundlinien sei590 Vgl. dazu Seubert, Rechter und linker Antidemokratismus, a.a.O., vor allem S. 50 f. 591 Vgl. ibid. Siehe die überaus kritische Sicht auf Lukács bei Theodor W.Adorno, Erpresste Versöhnung, in: ders., Gesammelte Schriften Band 11, S. 251 ff. 592 G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, insbesondere S 12 ff. Die Aufdeckung der Irrationalitätsgeschichte in den Traditionen zumal des deutschen spekulativen Geistes bringt ungerechte Genealogien und Damnationes memoriae hervor, sie ist aber keineswegs gegenstandslos.

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ner frühen Ästhetica verweisen, die ein bleibendes Erbe sind. Mit Max Weber, auch mit Diltheys Diagnosen sieht der junge Lukács, dass sich in der Moderne die menschliche Lebenswelt nicht mehr zum Ganzen fügt. Die Natur bleibt dem Menschen fremd, der Mensch ist der Welt fremd; deshalb ist das moderne – sentimentale – Naturgefühl nur die „Projektion eines Erlebnisses“, die „selbstgeschaffene Umwelt“ aber sei „für den Menschen kein Vaterhaus mehr, sondern ein Kerker“ .593 Ihm bleibt nur der Rückgriff auf Gefühl und Stimmung, in die das ‚allein reale Subjekt’ seine Außenwelt auflöst. Dabei aber wird jenes kontemplierende bürgerliche Subjekt „selbst zur Stimmung; und das reine Erkennenwollen verwandelt das Subjekt zum asubjektiven, konstruktiven und konstruierten Inbegriff erkennender Funktionen“ .594 Dem Kunstwerk erkennt Lukács indessen Autonomie zu und das heißt über-geschichtliche Macht: es gebe „gewisse von Menschen geschaffene Gebilde, die, obwohl sie den Stempel der hervorbringenden Persönlichkeit tragen, unabhängig von ihr und rein durch sich, durch die eigene Kraft ihres immanenten Form-Material-Komplexes unmittelbare Wirkung auszuüben fähig sind“.595 Dabei greifen Lukács Heidelberger Ausarbeitungen zur Ästhetik auf den alten Topos zurück, wonach in der Kunst die Natur „ausgelegt“ wird, ohne dass ihr ihr Geheimnis entzogen würde. Kunst ist, nach dem bekannten Wort Goethes, Auslegerin der Natur.596 Die Vernunft wird sich deshalb für sie interessieren. Mit Goethe hält Lukács fest: „Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben“. Jene Natur-Wahrheit aber, wie sie die Kunst enthüllt, macht auch den Menschen selbst sich erst fassbar. Erlebnisse seien ‚einzeln’, so hat Lukács bemerkt. Dieser Individuierung wird nur die Kunst gerecht in Farben,Tönen, Worten. Das Kunstwerk hat „eine normative und allgemeine Unmittelbarkeit […]; einen objektiven überindividuellen Wert […], der einerseits mit den subjektiven Prozessen seiner Realisation notwendig verbunden ist, andrerseits aber von ihnen nie in seinem Wesen getroffen wird“. Als Schöpfer oder kongenialer Interpret kann der Mensch im Gegenüber zur Kunst ganz werden; Kunst erinnert ihn an die Natur im Sinn des Kantischen Diktums von

593 Vgl. Lukács, Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen großer Epik, Neuwied 1963, S. 55. 594 G. Lukács, Die Theorie des Romans, a.a.O., S. 62 f., vgl. dazu M. Riedel, Ästhetik und Hermeneutik der Natur. Zur Stellung des Naturschönen bei Dilthey und beim jungen Lukács, in ders., Hören auf die Sprache. Die akroramatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt/Main 1990, S. 179 ff. 595 Georg Lukács, Heidelberger Philosophie der Kunst (1912/14), hg. von G. Márkus, F. Benseler et al., Lukács, Werke Band16, Darmstadt, Neuwied 1974, S. 11. 596 Vgl. dazu H. Seubert, Ästhetik − Die Frage nach dem Schönen, München, Freiburg/Br. 2015, S. 212 ff.

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der ‚Kunst des Genies’, die wirkt, als ob es ein Produkt der Natur sei (Kant, KU § 45).597 Übergeschichtlichkeit der Kunst bedeutet beim jungen Lukács einen „ununterbrochenen und nicht durchbrechbaren Strom der geschichtlich erlebten Kontinuität“.598 Hier besteht eine Klarheit und Mitteilbarkeit, die in der zerrissenen geschichtlichen Welt und ihrer Fragwürdigkeit schlechterdings versagt ist. Lukács’ ästhetisches Spätwerk ist bei all seiner Monumentalität nicht zu unterschätzen. Es ist ein wichtiges Zeitsymptom, obwohl über ihm die Tragik des Scheiterns, der Aufgezehrtheit originär philosophischer Kraft durch die geschichtliche Welterfahrung, liegt. Die Schülerin und Vertraute Agnes Heller hat darauf hingewiesen, dass er sich nach dem Ungarnaufstand zunehmend von dem Bann der Parteiphilosophie, von ‚Geschichte und Klassenbewusstsein’ gelöst habe.599 Er sucht bei aller Desillusionierung unverkennbar mit dem Entwurf einer dreibändigen Ästhetik (nur der ersten Band: ‚Die Eigenart des Ästhetischen’ ist realisiert worden) zu den Impulsen seiner frühen Heidelberger Kunstphilosophie zurückzukehren.600 Doch nun geht es ihm nicht mehr um die transzendentale Frage, wie Kunstwerke möglich seien, er konstatiert deren Faktizität, und in Orientierung an Nicolai Hartmann, ihren ontologischen Status. Kunstwerke durchbrechen den Warenfetisch. In der „Besonderheit“ (ein Begriff, den er von Goethe übernimmt) zeigt sich in den Werken die Vermittlung von Subjekt und Objekt. Das zur Gattung erhobene individuelle Erlebnis wird zur Form objektiviert. Lukács spricht in jener späten Ästhetik zentral von der ‚Mimesis’, in der sich ein Gattungsethos, der geschichtlich vergesellschaftete Mensch einer Zeit in indviduo verkörpere. Daher ist die Ästhetik für ihn auch das Organon der Geschichtsphilosophie, im Sinne der Manifestation der Wahrheit in der Geschichte. Jener Faden muss aber zerbrechen in einer Zeit, der eigenen Gegenwart, in der die Weltgeschichte in ihre entscheidende Umbruchsphase tritt. Das Eigenrecht einer von der Mimesis abgelösten Moderne konnte Lukács nicht erkennen und anerkennen. Diese gänzliche Unmusikalität gegenüber der Kunst der Moderne und ihrer zerbrechenden Formen macht die gesamte Konzeption fragwürdig, die doch

597 Dazu auch Lukács, Heidelberger Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 88 ff. 598 Vgl. seine Essays Lukács, Die Seele und die Formen, Neuwied 1971, ferner Lukács, Ästhetik Band I, a.a.O., S. 532 ff., wo die Mimesis freilich in ein enges Korsett genötigt wird. 599 Vgl. die sehr wichtigen Ausführungen A. Heller, Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács, Frankfurt/Main 1977, S. 54 ff. 600 Ulrich von Bülow und Stephan Schlak (Hrsg.): Kommissar Lukács. Zeitschrift für Ideengeschichte Heft VIII/4, Winter 2014.(Themenheft Lukács mit Beiträgen von A. Heller, F. J. Raddatz, M. Bormuth u.a.).

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implizit nicht auf den mimetischen Realismus, sondern auf die Moderne hintrieb. Lukács gab sie auf und versucht noch einmal, jenseits der achtzig, einen Neuansatz, bei einer ‚Ontologie des gesellschaftlichen Seins’, die der nie geschriebenen Ethik vorausgehen sollte, einer Ethik, die zwar auf die gesellschaftlichen Vermittlungen eine Resonanz geben, sich aber nicht in der Rolle des Menschen als Exponenten im Klassenkampf reduzieren lassen wollte. Die Vertraute Agnes Heller nennt jene ‚Ontologie’ ein ‚Fiasko’. Das Paradox des Lebens, sich, wie Lukacs es selbst nannte, von der großen Philosophie, um der Politik und parteilichen Strategien willen, zurückgezogen zu haben, rächte sich letztlich am Werk. Die Ontologie war bis zu seinem Tod auf 2000 Seiten angewachsen, Lukács selbst meinte mit ihr erst seinen philosophischen Standpunkt bestimmen zu können. Dies sei den ‚normal Sterblichen’ in der Philosophie oftmals noch nicht einmal am Ende ihres Lebens möglich, während höchste Begabungen im Alter von zwanzig Jahren bereits ins Offene hindurchdringen. Lukács bewegt sich in der Marxschen Antithetik von Sein und Bewusstsein, er versucht zu zeigen, wie sich aus Natur- Materiekausalität am entscheidenden Punkt des teleologischen Aktes immer komplexere Formen der Tätigkeit und ihr entsprechende gesellschaftliche Objektivationen ergeben. Leitfaden für Lukács ist freilich an keiner Stelle die Handlung, sondern immer nur die ‚Arbeit’. Es kommt hier zu originären Aneignungen der Hegelschen Subjektivitätsstruktur qua Entfremdungsstruktur und der frühen Jenenser Realphilosophie Hegels als ‚Entfremdung in das andere seiner selbst’, aber auch zu der Aneignung von Denkformen, die aus der Subjekt-Engführung hinausweisen. Dies führt nicht nur zu Anleihen bei der Aristotelischen und der Spinozanischen Substanz, sondern auch bei Heideggers Fundamentalontologie.601 Kritiker waren der Auffassung, Lukács gehe in eine dogmatische, vorkritische, letztlich an den großen Systemen des Rationalismus geschulte Auffassung zurück. In einem Gespräch mit Frank Benseler jedenfalls legte er kurz vor seinem Tod die Gesamtkonzeption dar.602 Das Fazit ist bitter: kaum irgendwo sonst im philosophischen Panorama des 20. Jahrhunderts zeigt sich solche Höchstbegabung verbunden mit dem selbst erbrachten ‚sacrificium intellectu’. Adorno hat, nicht frei von Bosheit, aber gleichwohl sehr treffend einmal über Lukács eine Sentenz notiert, der man schwer widersprechen kann. Er zerre „hoffnungslos an seinen Ketten und (bilde sich ein), ihr Klirren sei der Marsch des Weltgeistes“.603 601 Unverkennbar orientierte sich der späte Lukács vorzugsweise an der Schichtenontologie Nicolai Hartmanns. 602 Vgl. dazu F. Benseler, Zur ‚Ontologie‘ von Georg Lukács, in: U. Bermbach und G. Trautmann (Hg.), Georg Lukács. Kultur – Politik – Ontologie, Opladen 1987, S. 253 ff., siehe auch die anderen Aufsätze dieses Sammelbandes. 603 Adorno, Erpresste Versöhnung, a.a.O., S. 276.

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Lukács gehört in die tragische und farcehafte Geschichte des Verrats der Intellektuellen am Geist: ein großes Kapitel des 20. Jahrhunderts. Zu erkennen ist freilich, dass dieser Verrat wesentlich Selbstverrat ist. 3. Messianität und Welterlösung, Revolution und Theologie: Walter Benjamin Der junge Gelehrte beginnt mit einer bedeutenden Abhandlung ‚Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen’ (Benjamin GS II, S. 140 -157),604 die an jüdisches Sprachdenken, die geradezu magische Macht des anfänglichen Wortes, anschließt. Das Sprachdenken des frühen Benjamin erinnert an Denkbewegungen Franz Rosenzweigs, aber auch an die Sprachphilosophie von Hamann, Herder oder Humboldt. Sprache verweist zurück auf ihre Nennkraft, auf einen mythischen Urtext, dessen Sagen, wie in der göttlichen Schöpfung, zugleich Sein hervorruft. Derart sind Wort und Sache (das Problem des Platonischen ‚Cratylos‘) untrennbar miteinander verbunden. Der geistige Gehalt partizipiert an der Sprache. Sprache ist in einer spezifischen Weise Medium, nicht als Zeichen, nicht arbiträr, sondern unmittelbar, sie ‚bedeutet’, insofern sie sich selbst zu verstehen ausspricht und damit die Dinge benennt. „Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung […] und so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie“ (Benjamin, GS II, S. 142 f).605 Dabei geht Benjamin auf JHWHS ursprüngliches Schöpfungswort im ersten Buch der Bibel, dem Buch Genesis zurück. „In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist“. Menschliche Worte haben an dieser Schöpferkraft Anteil. Deshalb kann der Abfall von ihr als Sündenfall bestimmt werden. Er liegt in der Reduktion auf den apophantischen Logos, darauf, dass Sprache „Sprache von ‚etwas’“ ist.606 In jenem Sündenfall wird die Sprache erstmals zum bloßen Zeichen und Mittel degradiert. Die verletzte – verlorene Unmittelbarkeit geht aber als Spur und Schatten nach wie vor in die Sprache ein, ein Topos, der bei weit geringerer Prägekraft der jüdisch messianischen Tradition auch bei Adorno eine maßgebliche Rolle spielen wird. Die Erfahrung des Abfalls schlägt aber um in den Versuch einer Restitution, die niemals den Urzustand wiedergewinnen kann.

604 Die unmittelbaren Nachweise im Text beziehen sich im Folgenden auf Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1974. 605 Dazu W. Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, in: B. Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart, Weimar 2011, S. 175 ff. 606 Ibid., siehe auch P. Fenves,‘Über das Programm der kommenden Philosophie‘, in: Benjamin-Handbuch, a.a.O., S. 134 ff.

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Ersatzmoment ist die Urteilslogik, die eine eigene rationale Magie ausübt, aber nicht in vergleichbarer Weise in sich selbst ruht wie die originäre Nennkraft; und schließlich resultiert aus jenem Sündenfall nach Benjamins Überzeugung jede Abstraktion. Benjamin greift hier auf Genealogien der hebräischen Bibel zurück: Der Turmbau zu Babel manifestiert den ersten Ausgang aus jener Unschuld, Zweifel, Verwirrung, Chaos, aus denen sich die in den Sog vieler Sprachen versetzte Menschheit nur retten kann durch das Urteil.607 Dieser Zug durchgreift aber auch die Natur, die umdunkelt ist von Trauer und Stummheit, weil das treffende Wort nicht gefunden werden kann. In der Nennung der Sprache, in Dichtung, aber auch der schweigenden Gebärde bildender Künste gewahrt Benjamin einen Gegenhalt. In jener frühen Zeit, als Benjamin mit der Übersetzung eines der bedeutendsten Werke der klassischen Moderne, den zwei Bänden aus Prousts ‚A la recherche du temps perdu’, befasst war, entwarf er mit seinen BaudelaireÜbertragungen eine Theorie des Übersetzens: Übersetzung ist das Verhalten zur Sprachlichkeit unter dem Zeichen des verlorenen Paradieseszustand. Es kann eine vollständige treue Übersetzung niemals geben, weil die Ursprache selbst verlorengegangen ist. Der Übersetzer bewegt sich immer in einem sekundären Modus. Er ist darauf verwiesen, das Wie des Meinens nachzubilden, in „Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke“ aufeinander beziehend, sondern in der „Überführung der einen Sprache in die andere“ (GS II, 151). Derart sind Sprachen einander niemals völlig fremd, „sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen in dem verwandt […], was sie sagen wollen“ (IV, S. 12). Erstmals im Zusammenhang der Übersetzungsproblematik wird die mikrologische Struktur deutlich; der Übersetzer wird, „liebend vielmehr und bis ins einzelne hinein dessen [des Originals H.S.] Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstücke eines Gefäßes, als Bruchstücke einer größeren Sprache (thessera hospitalis) erkennbar zu machen“ (IV, 18). Die Übersetzung erreicht niemals die Konkretion und zwingende Nennkraft der Erstschrift. Eine gute Übersetzung wird sie aber als uneinholbares Ideal vor Augen haben. Sie darf deshalb weder Wort-für-Wort-Übersetzung noch freie Übertragung sein, sondern sie muss gleichsam „das Echo des Originals“ zu wecken wissen (IV, 16), wodurch auch die eigene Sprache aufgeraut, sich selbst ‚fremder’ wird. Damit stellt sich eine ‚Sehnsucht auf Sprachergänzung’ ein, gleichsam auf einen Zustand, in dem die originäre Nennkraft der Sprache wiederhergestellt werden könnte. Anders als Bloch, versagt es sich Benjamin freilich in jenes ‚ewige Reich’ Einblicke zu geben.

607 Vgl. dazu S. Weigel, Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt/Main 2008.

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Solche Sprachergänzungen antzipieren wir auch lesend. Lesen ist nicht nur Erweckung einer Spur, die in den Text implizit und ungesagt eingelegt wurde, sondern vielmehr jeweils Neuausdeutung, Anverwandlung, die den Text weitergehend fortschreibt in Richtung auf eine tendenziell unabgeschlossene und unabschließbare Realisierung. Benjamin prägt in jenen frühen Arbeiten den zentralen Begriff der ‚Mimesis’ kreativ um. Mimesis ist Vollzug, Ähnlichkeit und Anähnlichung. Es ist ein Grundzug des Menschen und seiner Weltorientierung, nicht ganz unähnlich Cassirers symbolischen Formen, dass er durch Ähnlichkeitsbildungen sich die Welt verwandter macht, wobei keinesfalls alle diese Ähnlichkeitsrelationen bewusst sein müssen.608 Benjamin spricht auch von magischen Praktiken, etwa den Orakeln und der Ablesung von Himmelsbewegungen, die die irdischen Geschicke und ihre Geschichte wiederum mitbestimmen. In der semiotisch korrekten Sprachverwendung ist jener magische Zug weitgehend ins Abseits geraten. Am manifestesten zeigt er sich im Sprachverstehen und -missverstehen, den Sprachentstellungen, die in der Kindheit aus Missverständnissen hervorgehen. Etwa in der Litanei das „Bet für uns“ als „Bête feroce“,609 oder, ein Benjaminsches Beispiel, der Mumme Rehlen im Kinderlied. Solches Missverstehen verstellt zwar die Welt, „jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führten“ (IV, S. 260 f.). Man bemerkt hier eine starke Tendenz zur Rückwendung in die Kindheit, deren Glücksversprechen vielleicht das Glück sind, das wir überhaupt nur erreichen können. Bei Adorno werden diese Züge wiederkehren. 1. Diametrale Freundschaften Benjamin hat großen Wert darauf gelegt, dass in der „Ökonomie seines Denkens“ einige wenige zählende Beziehungen eine zentrale Rolle gespielt hätten. Freunde und Freundinnen bilden die Pole, um die sich Benjamins Denken verknotet und an denen es sich entzündet. Dabei überwiegt unstrittig ein Zug zur Theologie einerseits und zur marxistischen Aktion andrerseits. Die Jugendfreundschaft mit dem bedeutenden Erforscher jüdischer Kabbala Gershom Scholem gab Benjamins Denken diesen starken Zug ins messianisch Theologische. Er notierte im Rückblick, in der Arbeit an seinem Passagen-Werk: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz

608 Vgl. weiter oben zu Cassirer, die Ähnlichkeits-Epistemologie von Benjamin wird prägnant hervorgehoben von S. Kramer, Walter Benjamin zur Einführung, Hamburg 3 2010. 609 Dies geht auf eine mündliche Erzählung von Albert von Schirnding zurück, die mir solche semantischen Verschiebungen sehr prägnant verdeutlichte.

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von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben“ (V, S. 588). Nun war es der Reiz, vielleicht aber auch die Tragik in Benjamins Denken, dass die Personenkonstellationen, die ihm am wichtigsten sind, zwischen Menschen bestehen, die untereinander kaum Kontakt hatten oder bitter verfeindet waren. Ein solcher Hiatus bestand etwa zwischen dem Kabbala-Forscher Gershom Scholem und Brecht.610 Benjamin bemühte sich, diese Personenkreise auseinanderzuhalten. Scholem selbst griff ihn wegen seiner vermeintlichen Abwendung von der jüdischen Tradition und seiner Hinwendung zum Marxismus später scharf an. Man wird aber kaum annehmen dürfen, dass damit eine Art von Konversion einherging. In seinem bedeutenden Theologisch-politischen Fragment 1923 macht Scholem vielmehr deutlich, wie er die Lineaturen sieht: „Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen lässt. Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches […]. Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt […]“ (GS II.1, S. 203)611 Jener Ansatzpunkt ist noch in den späten ‚Geschichtsphilosphischen Thesen‘ Benjamins erkennbar. Der innere Wendepunkt ergibt eine hoch bedeutsame Kontrapunktik, etwa gegenüber der Blochschen Progressionsidee. Linearer Fortgang bereitet nicht auf das Kommen des Messias vor, sondern die jähe Rückwenddung, die Einkehr beim Vergangenen, ein ‚Eingedenken’; es ist gleichsam die enge Pforte, durch die der Messias in der Nacht eintreten kann. 2. Aisthetica Der enge Zusammenhang, den Benjamin zwischen Sprach- und Kunstphilosophie herstellt, ist auch deshalb einer näheren Untersuchung zu unterziehen,

610 Vgl. hierzu G. Scholem, Walter Benjamin. Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main 1975, vgl. auch Scholem, Walter Benjamin und sein Engel. 14 Aufsätze und kleine Beiträge, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1983. 611 H. J. Vermer, Übersetzen als Utopie. Die Übersetzungstheorie des Walter Bendix Schoenflies Benjamin, Heidelberg 1996.

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weil ohne ihn Adornos Konfigurationen ‚Ästhetischer Theorie’ kaum möglich gewesen wäre.612 Im Umkreis von Benjamins Dissertation: ‚Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik’ fokussieren sich diese Überlegungen auf die Begriffe von Kritik und Reflexion, einer Reflexion, die bei den Brüdern Schlegel oder Novalis, wie Benjamin zu zeigen versucht, über die – Fichtesche – ‚Reflexion im Ich’ hinausgehe. Die frühromantische Kunstkritik versteht Reflexion als eine Spiegelung zwischen dem Erkennen eines jeweiligen Seienden und dem Erkennen des Erkennens selbst. Diesen Benjaminschen Überlegungen liegt, wie man unschwer erkennen kann, eine tiefe Aneignung platonischer Ideenlehre zugrunde, wie er sie in der ‚Erkenntniskritischen Vorrede’ seines Trauerspielbuches, der geplanten und gescheiterten Frankfurter Habilitationsschrift dann tiefdringend entfalten sollte. Er spricht, zur Unterscheidung von der Reflexion im Ich auch von einer Reflexion des Selbst: „Demnach ist alles, was sich dem Menschen als sein Erkennen von einem Wesen darstellt, in ihm der Reflex der Selbsterkenntnis des Denkens in demselbigen. Ein bloßes Erkanntwerden eines Dinges gibt es also nicht, ebenso wenig aber ist das Ding oder Wesen beschränkt auf ein bloßes durch sich allein Erkannt werden. Die Steigerung der Reflexion in ihm hebt vielmehr die Grenze zwischen dem durch sich selbst und durch ein anderes Erkanntwerden in dem Dinge auf und im Medium der Reflexion gehen das Ding und das erkennende Wesen ineinander über“ (GS I, S. 57 f.). Beides sind nur relative, relationale Reflexionseinheiten, womit die Erkenntnis nicht dem Modell der Subjekt-Objekt-Relation folgt. Kritik setzt den Gestus der Reflexion voraus. Man weiß, dass die Romantiker die Kritik und als ihr Instrumentarium den Essay als eigene literarische Gattung neben den „Naturformen“ Epik, Lyrik, Dramatik gelten lassen wollten. Diese Intention schreibt Benjamin mit dem Plan einer Zeitschrift ‚Angelus novus’ fort, die nach dem für sein Leben schicksalhften Bild von Paul Klee benannt worden wäre, das sich in seinem Besitz befand. Genau genommen, bedeutet Kritik damit Reflexion des Geistes in Gebilden der Kunst. Sie ist „in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werkes, andrerseits seine Auflösung im Absoluten“ (GS I, 78), wozu das Werk, zumindest in dem Fragmentcharakter, den die Frühromantik ins Relief trieb, auch seinerseits die Tendenz hat. Jene kritische Reflexion entzündet sich idealiter am Werk, eben dort, wo dieses über seine Gegebenheit auf seine Idealität hinaustreibt. Sie ist durch imma612 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, hg. von G. Adorno, Frankfurt/Main 1970, das persönliche Verhältnis zeigt vielfache Brechungen, die mit den Komplexitäten der Frankfurter Schule und den „finsteren Zeiten“ eng verzahnt sind. Dazu Th. W. Adorno und W. Benjamin, Briefwechsel 1928−1940, hg. H. Lonitz, Frankfurt/Main 1940. Vgl. jetzt auch die neue magistrale Biographie H. Eiland und M. W. Jennings, Walter Benjamin. Eine Biographie, Berlin 2020.

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nente Versenkung in dessen Innerstes (Adorno wird von der Faktur sprechen) konstituiert und wird damit zu einer Reflexion des Werkes in sich selbst. Die Subjektivität des Interpreten, der sich jeweils neu die Deutung aneignen muss, ist dann nur Medium solcher Anverwandlungen. Jene Immanenz-Hermeneutik, geschult am rabbinischen Lesen des heiligen Textes, hat Benjamin in großen Interpretationsessays an Proust, Kafka, aber auch an Brecht demonstriert. Die Lektüren spielen sich in der Spannung zwischen Sach- und Wahrheitsgehalt ab. Der Wahrheitsgehalt ist nur im konkreten Sachgehalt, das heißt: in der Form auffindbar. Idealiter konvergieren Sach- und Wahrheitsgehalt für zeitgenössische Rezipienten, umso dramatischerr gehen sie aber für die Nachwelt auseinander. „Mehr und mehr wird für jeden späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehaltes, demnach zur Vorbedingung […]“ (GS I, S. 125). Es kommt eine Alterität und Abgelebtheit zum Tragen, aus der aber der Wahrheitsgehalt, obgleich die früheren Reize sich gemindert haben, wie in einer Neugeburt wieder ans Licht treten kann. Insofern tritt die Reflexions-Kritik in eine geschichtliche Dimension ein. Sie ist, wie Benjamin einmal prägnant bemerkt, „Mortifikation der Werke“, ‚vernichtende Kritik’, und kann nur als solche in ‚rettende’, nämlich die Wahrheit rettende Kritik umschlagen.613 Sein zweites großes Buchmanuskript, die Ausarbeitung der Habilitationsschrift, ‚Ursprung des deutschen Trauerspiels’, das auf Entwürfe bis in das Jahr 1916 zurückgeht, führt diese Linie weiter. Den Anfang markiert die fulminante ‚Erkenntniskritische Vorrede’, die Benjamin selbst als Ausdruck ‚maßloser Chuzpe’ charakterisierte. Für die germanistischen Gutachter war sie schlechterdings nicht verständlich, und wäre es, ad fontes genommen, auch heute nicht. Benjamin orientiert sich in tiefem Verständnis an der platonischen Einsicht, dass die Ideen zu einem ‚sozein ta phainomena’, zu einer Rettung der Phänomene führten. Platonische Ideen sind keinesfalls Allgemeinbegriffe, sondern sie spannen ein feinmaschiges Netz auf, das die Phänomene zu erfassen erlaubt. „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze […]. Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfasst werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich“ (GS I, 214 f.) Sie lassen die zu erkennenden Phänomene also in ihrer jeweiligen Konstellation erscheinen, namentlich in Konstellationen der Extreme und äußersten Möglichkeiten jener Phänomene. Dies wird für die Dialek-

613 Vgl. dazu im Einzelnen Th. Dürst, „Diekleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“: dekonstruktivistische Lektüre zum Verhältnis von Sprache, Bewusstsein und Erinnerung bei Walter Benjamin, Würzburg 2014. Meinem Baseler Assistenten Dr. Dürst danke ich sehr für intensive Gespräche zu Benjamins Denken.

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tikkonzeption Benjamins von entscheidendem Gewicht sein. „Als Gestaltung des Zusammenhanges, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben“ (GS I, S. 215). Von der Idee ist der Begriff strictu sensu zu unterscheiden. Im ideehaften Kosmos ruht prästabiliert „die Repräsentation der Phänomene als in deren objektiver Interpretation […]; so könnte die reale Welt in dem Sinne Aufgabe sein, dass es gelte, derart tief in alles Wirkliche zu dringen, dass eine objektive Interpretation der Welt sich darin erschlösse“ (GS I, S. 228). Organon dieses Eindringens in den Kern der Wirklichkeit, ein Ausschöpfen von vieldimensionierter Erfahrung, sind die Begriffe. Benjamins Erkenntniskritik operiert, könnte man sagen, mit der ‚Leuchtkraft starker Gegenbegriffe’ (Nietzsche), denn „die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist“ (GS I, S. 227). Wesentlich ist dabei, dass Benjamin die Idee als ein sprachlich dokumentiertes Geflecht auffasst. Die Idee führt zurück auf den „symbolischen Charakter des Wortes, in welchem (sie) zur Selbstverständigung kommt, die das Gegenteil aller nach außen gerichteten Mitteilung ist“ (GS I, S. 216f.). Im ersten Hauptstück des Trauerspielbuches ‚Trauerspiel und Tragödie’, sucht Benjamin dies einzulösen, indem er die Konfigurationen des Trauerspiels in ihren Extremen aufsucht: Darin konfiguriert sich der Held als Tyrann oder als Märtyrer. Im Unterschied zur klassischen Tragödie vollzieht das neuzeitliche Trauerspiel keine Katharsis, es ist von vorneherein der Verlauf einer in die Katastrophe mündenden Geschichte, die auf eine Trümmerstätte hinführt, unaufhaltsam, ein Spiel ‚vor Traurigen’, die ihre eigene katastrophische Fatalität gewahren. Ein wichtiger und widerständiger Kontext des Trauerspielbuches ist die ‚Politische Theologie’ des Staatsrechtslehrers Carl Schmitt, auf den Benjamin vor allem im Blick auf den Souveränitätsbegriff zurückgriff. In Benjamin und Schmitt berühren sich offensichtlich Rechte und Linke der Weimarer Republik im gemeinsam geführten Disput um Souveränität. Dabei besteht, wie vor allem Jacob Taubes zeigte,614 eine erstaunliche Übereinstimmung in grundlegenden Positionen und Begriffen. Denn auch Benjamin ist der Auffassung, dass in der Neuzeit alle politischen Begriffe säkularisierte theologische/religiöse Begriffe seien. Und er denkt, mit Schmitt, nicht vom Normal-, 614 Der von Jacob Taubes angestoßene Diskurs ist längst selbst kanonisch geworden, vgl. ders., Die politische Theologie des Paulus, hg. von A. Assmann u.a., München 32003. Die Differenz zwischen Carl Schmitt als dem Theoretiker der katholischen Verschärfung und dem „Kronjuristen des NS-Reiches“ und Walter Benjamin ist allerdings eine fundamentale. Sie überspannt das Verhältnis von Freund und Feind noch, weil jene in einer Vergleichbarkeit positioniert sind, die hier nicht greifen kann.

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sondern immer vom Ausnahmezustand her, wenn auch in diametral anderer politischer Orientierung. Im zweiten Teil wendet er sich von der Mikrologie dem zentralen tektonischen Prinzip des Trauerspiels zu, das er in der Allegorie erkennt. Dies wird im berühmten Essay zu Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ weiterverfolgt. Im Wahlverwandtschaften-Essay (1921–22 entworfen) wird als Korrelat zur Allegorie das Symbol exponiert. Benjamin zeigt, dass eine unmittelbare Umsetzung von Symbolik in einem Kunstwerk dieses in Mythos regredieren ließe. Symbolik in der Kunst muss deshalb am Scheincharakter der Kunst partizipieren. Die im Symbol sich vollziehende Versöhnung (womit auf das symballein und die Praktik des Vorzeigens der Bruchstücke „thessera hospitalis“615 erinnert ist) kann nur in dem Augenblick vor Augen treten, da sie verglimmt. Es kann nicht zu einem mythischen Ausgleich oder zu etwas wie poetischer Gerechtigkeit kommen. Negation muss das Symbol durchkreuzen, damit sie Bestand hat. Die kritische Gewalt des Ausdruckslosen, die Aufhebung des Anscheins müssen ausgelöscht werden. Dies zeigt der Wahlverwandtschaften-Essay im Blick auf den Tod der Ottilie: „Jener Satz, der […] die Cäsur des Werkes enthält und in dem, da die Umschlungenen ihr Ende besiegeln, alles inne hält, lautet: ‚Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg’. Sie gewahren sie freilich nicht und nicht deutlicher konnte gesagt werden, dass die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird’“ (GS I, S. 199 f.). Man denke an Kafkas, Benjamin stets besonders kostbares Wort: es gebe unendlich viel an Hoffnung, aber nicht für uns. Allegorie ist nicht einfach ‚Konvention’, sie verweist auf einen Abgrund des Bedeutungsspiels. „Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten“ (GS I, S. 350). Das Symbol hat letztlich eine regrediente Zielrichtung, auf die Heilung der Natur. Unverlierbar ist ihre Nähe zum Mythos, wohingegen die Allegorie auf die „erstarrte Urlandschaft“ der Geschichte verweist. Sie „in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopfe aus […]“ (GS I, S. 342 f.). Allegorie ist für Benjamin ein Tiefenblick, der Vergangenes als Schrift lesbar macht, wohingegen das Symbol auf Realpräsenz zielt und deshalb überhaupt nur gebrochen erträglich ist.

615 Vgl. G. Stumpf, Tessera, in: Der Neue Pauly. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 12/1, Metzler, Stuttgart 2002, Sp. 178 f.

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3. Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und die Aura Benjamins Leben als ‚ecrivain libre’, eine Lebensform, die zumal im Exil alles andere als bequem war, hat eine Vielzahl von Erprobungen in verschiedenen Medien mit sich gebracht, das Denk-Bild, kurze deskriptive Prosatexte, an denen jeweils ein Zeit- und Weltsymptom exemplarisch sichtbar wird: etwa ‚Berliner Kindheit um 1900, ‚Einbahnstraße‘, dann die Reisebilder, jedoch auch Hörspiele, unter anderem solche, die sich explizit und in einer schönen, hellen Pädagogik an Kinder richteten.616 Aus diesen essayistischen Zusammenhängen geht, als eine der wichtigsten Einsichten Benjamins im Zusammenhang der Ästhetik der Blick auf Wort und Bild hervor. Bilder sind jeweilige Augenblicke, niemals sind sie Abbilder der Wirklichkeit. Sie bringen das Wirkliche in augenblickshaften Fulgurationen zur Erscheinung und halten stets den Abstand zu ihm. Wie aber können Bilder in Worte transponiert werden? „Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat – wie schwer kann das sein. Wenn sie dann aber kommen, stoßen sie mit kleinen Hämmern gegen das Wirkliche, bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben haben“ (IV, S. 364). Sie stellen es still, heben es in ein Bewusstsein, dem sich die assoziierende Bilderproduktion entzieht. Im Jahr 1936 hat Benjamin einen seiner berühmtesten Aufsätze in der ‚Zeitschrift für Sozialforschung‘, unter der Ägide von Horkheimer und Adorno, vorgelegt: ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit’. Er formulierte mehrere, teilweise deutlich voneinander abweichende Versionen dieser Abhandlung. Im Zentrum steht die Exposition des Begriffs der Aura. Benjamin versuchte zu zeigen, dass sich die Aura jedweder technischen Reproduktion, in deren Weltalter die Kunst freilich eingetreten ist, entziehen muss. Aura ist Abdruck von Echtheit: Authentizität, oder, wie es Benjamin einmal schön umschreibt: „Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit; einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag […] Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach ‚Ferne so nah es sein mag’“ (GS VII, S. 355). Man kann aus den Äußerungen Benjamins den Eindruck gewinnen, als wäre die Grundform des Auratischen in der Kunst grundsätzlich angelegt (Wir werden auf die Kategorie des rehabilitierten Naturschönen bei Adorno zurückkommen). „An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen […]“ (GS I,

616 Vgl. zu den Hintergründen mit weitergehenden Belegen Eiland und Jennings, Walter Benjamin, a.a.O., S. 107 f.

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S. 479). Benjamin bejahte emphatisch jene technische Reprodozierbarkeit, sie war ihm, seit der Allianz mit Brecht und seit seinen Affinitäten mit sozialistisch kommunistischer Agitationskunst auch durch die Freundschaft zu Asja Lacis, in Medien wie Rundfunk oder Film, ein unverzichtbares Aufklärungsinstrument. Gleichwohl hält er auch die Defizitbilanz fest. Die Aura verkümmert in technischer Reproduzierbarkeit. Ihre Einmaligkeit wird eben, indem sie im Begriff ist zu verschwinden, erst ganz – und emphatisch – fassbar, so wie er es in in Referenz auf Marcel Prousts Evokation der Daguerrotypie einmal verdeutlicht. Damit gewinnt das menschliche Antlitz erst vollständig seinen Appellcharakter. „Die Runzeln und Falten im Gesicht, […] die Eintragungen der großen Leidenschaften, der Laster, der Erkenntnisse, die bei uns vorsprachen, doch wir, die Herrschaft waren nicht zu Hause […]“ (GS II, S. 321). Jene Ambivalenz zeigt sich an Benjamins Theorie der Fotografie. Das fotografierte Portrait, zumindest am Beginn der Geschichte dieser neuen Gattung, beschwört den Bann der Persönlichkeit sehr viel mehr als es das bewusst inszenierte, durch Vordergrund- und Hintergrundansichten perspektivisch gebrochene gemalte Portrait je könnte. Der Bildcharakter ist, wie er in wunderbarer Formulierung sagt, durch die Wirklichkeit „gleichsam durchgesengt“. Das Antlitz blickt uns an, zumal in der Großaufnahme wird in Lineaturen und Poren eines Antlitzes in einer Weise eingedrungen, die sonst versagt bleibt. Es ergibt sich eine unmittelbare Präsenz. Jene grundlegenden Raisonnements zum Verhältnis von Kunst und Technik finden gleichsam ihre zeitorientierte Zuspitzung in Benjamins Zwiesprache mit Brecht. Benjamin interessiert an Brechts epischem Theater der Inferenz-Spielraum zwischen Person und Rolle, anders gesagt, dies, dass dessen Theater Handlungen, Gesten ‚wie eingefroren’ zu Bildern verdichtet zeigt. Ob dabei der V-Effekt für Benjamin tatsächlich eine normative Bedeutung gewinnen muss und ob sich nicht andere, dezidiert nicht dem epischen Theater folgende, aber jenen Abstand generierende Inszenierungsformen denken ließen, kann man mit Recht fragen. Benjamin gebraucht den Verfremdungsbegriff jedenfalls selbst nicht in der Brechtschen Weise. Er zeigt sich vom Film gerade dadurch fasziniert, dass dieser die Grenzen zwischen dem ästhetischen und dem profanen Raum auflöst und beispielsweise die Handelnden und Leidenden der Geschichte selbst vor Augen führt. Man denkt an Revolutionsfilme und die in ihnen agierenden Massen bei Eisenstein und anderen. Potentielle Zuschauer firmieren als Mitwirkende, der Film hat Benjamin zufolge Potenzial nicht nur als Warenwert, sondern zuerst organisierend. Man denkt auch an die Gleichzeitigkeit im Film. So notiert er, bezogen auf den Film ‚Ein Sechstel der Erde’: „In Bruchteilen von Sekunden folgen einander Bilder aus Arbeitsstätten (kreisende Kulis

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bei der Ernte, Transportarbeiten) und aus Genussstätten des Kapitals (Bars, Dielen, Klubs“. (GS II, 748). Dabei hat es zeitweise sogar den Anschein, dass Benjamin im Film etwas wie die Tragödie der Zukunft erblickt, mit einer in anderen Medien gar nicht zu erreichenden Sogkraft und Katharsis: der Film vermag unbewusste Fantasien hervorzurufen, Gewaltbilder, um sie danach zu verlachen, so dass in jener Verflechtung der Tragödie mit dem Satyrspiel etwas vollzogen wird wie eine Immunisierung. Grundsätzlicher noch: „In der Tat wird der Asszoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Filmes […]“ (I, S. 503). Der Film hat auch die Fähigkeit zur Aufsprengung gewohnter raum-zeitlicher Relationen, zur Kontraktion räumlicher Folge, zur dynamitartigen Aufsprengung jahre- und jahrzehntelangen Lebens in den Kerkerlabyrinthen der Bahnhöfe, Fabriken, Büros. Filme können die Seh- und Denkgewohnheiten durchbrechen, nicht durch Entfremdung, sondern durch Hineinnahme und Erschütterung.617 Benjamin war fasziniert von neuen Techniken, Montage, Collage, für die der Film ein Laboratorium war. In seinen Sequenzen über den Autor als Produzenten (1934) bedient er sich zwar Marxscher Warenanalyse-Topoi. Der Intellektuelle (es steht bezeichnenderweise nicht: Künstler!) habe den Produktionsapparat nicht zu beliefern, sondern zugleich zu verändern.618 Dies exerzierte Benjamin selbst eben in seinen Rundfunksendungen für Kinder, in denen jene Abstandnahme als eine Form von Aufklärung durchgespielt werden sollte. Durch Diskussionsrunde wurden jene Sendungen um ‚didaktisch pädagogische Modelle’, ergänzt. Allerdings meinte Benjamin, und hier liegt eine gewisse Naivität, dass es eine Konvergenz zwischen avantgardistischer Aneignung solcher neuen faszinierenden Techniken und der Revolution geben werde. Man weiß, dass Stalin die bedeutende russische Avantgarde schnell auslöschte, während der Faschismus eine solche Kunstbewegung niemals zu sich kommen ließ. Kurzzeitig brandete dergleichen in der sowjetischen Revolution 1927 tatsächlich auf. Die (Selbst-)Unterscheidung der beiden totalitären Systeme in ästhetischer Hinsicht ist keineswegs immer umstandslos möglich, vor allem dort nicht, wo die großen dynamischen Inszenierungen ein Kollektivempfinden erzeugen. Benjamin versucht sie mit dem Hinweis zu treffen, der Faschismus betreibe eine ‚Ästhetisierung der Politik’ (Leni Riefenstahl, Olympiade 1936, die Nürn-

617 Eine Philosophie des Kinos und seiner Ästhetik der Schnitte und raschen Bildwechsel deutet sich bei Benjamin in nuce an. Sie wird vielfach weiterfiguriert bis zu Deleuze und Baudry, dazu in Vorbereitung K. Schippling und H. Seubert, Literatur Kino. Ein Gespräch (Arbeitstitel). 618 Vgl. S. Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt/Main 1993, S. 7 ff.

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berger Reichsparteitage), wohingegen der Kommunismus einer „Politisierung der Kunst“ folge. Die Formel ist indes zu glatt, um aufzugehen. Auch die Politisierung des Ästhetischen kann möglichem avantgardistischem Formenreichtum aus taktischen Gründen schnell den Garaus machen; eine Dimension, der sich Benjamin zu wenig bewusst war. In der Literatur schien die Kunst der Avantgarde am reinsten auf, auf einer Linie von Baudelaire über Proust zu Kafka. Adorno führte hier die Linien Benjamins weiter. Während des Exils kam es freilich immer wieder zu erheblichen Verwerfungen zwischen dem Institut der für Sozialforschung und Benjamin, der nur partielle Forschungsaufträge erhielt. In dem Briefwechsel im Zusammenhang der Arbeit an der ‚Zeitschrift für Sozialforschung’ fordert Adorno, einerseits als Vertreter neomarxistischer Theorieansprüche, andrerseis aufgrund eines elitären ästhetischen Kanons, Benjamin eine „Dialektisierung der Gebrauchskunst in ihrer Negativität“ ab.619 Gebrauchskunst folge einer Logik jenseits der Logik des Werks, weshalb sie auch nicht die Wahrnehmung zu verfeinern geeignet sind, sondern in die Regression führe – offensichtlich auch ein Streitfall um die Rolle politischer Praxis und Agitation. Adorno folgte dieser Linie auch nach 1945. Sprichwörtlich sind etwa seine Invektiven gegen den Jazz, in dem er Falsches, unwahres Bewusstsein und Kulturindustrie vermutete. Benjamin folgte einem anderen Interesse. 4. Passagen-Werke und -Wege Benjamins „Unvollendete“, Großentwurf, Bruchstücksammlung und Probe der mikrologischen Vernunft: All dies ist sein ‚Passagenwerk‘, an dem er zwischen 1929 und seinem Tod in verschiedenen Phasen arbeitete. In diesem Bruchstück wird die ästhetische und theoretische Konzeption nochmals auf die Probe gestellt. Fokus ist Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. In dieser Wahl, einer gewissen Kaprizierung auf das unmittelbar vorausgehende Zeitalter, liegt eine Pointe: es geht um die Passagen, überdachte Ladenfluchten in Paris, in denen Waren, einschließlich der Prostitution dem Bürger und Adel des Empire geboten wurden, in denen der Takt des zweckfreien Flanierens gelebt wurde und die Architektur sich wie um jenen Lebensvollzug herum gruppierte. Diese Welt ist schon Vergangenheit, die ungeheure Beschleunigung, rapide Technisierung, Industrialisierung im frühen 20. Jahr-

619 Beide Seiten dieser Auratisierung lotet Benjamin bis auf das Äußerste aus, in einer dialektisch nicht sistierbaren Konfiguration der Gegenbegriffe. Vgl. J. Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/Main 1997, S. 119 ff.

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hundert macht sie zum Anachronismus, als Benjamin seine Bestandsaufnahme schreibt. Viele der Passagen wurden abgerissen. Sie sanken dadurch ins Gedächtnis hinab und lebten in ihm fort, wurden teilweise zum Mythos. Bei den Surrealisten, namentlich in Louis Aragons Prosa: „Le Paysan de Paris“, von dem Benjamin so sehr berührt war, dass er nach eigenem Bekunden „Nie mehr als zwei bis drei Seiten lesen konnte, weil mein Herzklopfen dann so stark wurde, dass ich das Buch aus der Hand legen musste“.620 Benjamins Ansatzpunkt besteht darin, ist, im Veralten des Jüngstvergangenen anzusetzen, das ‚lesbar’ wird, weil es nicht mehr unmittelbar gelebt werden kann. Benjamin sieht, dass im Veralteten „die revolutionären Energien“ erscheinen. Zunächst hat sich Benjamin in der Arbeit am Passagenwerk einer Mikrologie des Surrealen anvertraut. Erst später hat er an dem Pariser Mythos der Moderne, in Kontrapunktik zum Historiker des Historismus, das Profil einer materialistischen Geschichtswissenschaft und seinen bis heute unabgegoltenen faszinierenden Begriff des Erinnerns und Eingedenkens entwickelt. Dabei wuchs der Materialien- und Exzerpteberg unter den prekären Umständen der Emigration immer weiter an. In einer dritten Phase, im Exil in der Bibliothèque nationale in Paris fokussiert Benjamin seine Forschungen auf Baudelaire, den Dichter der ‚Fleurs du mal’ und exemplarischen „poète maudit“. Die Eintragungen in ihrer, einer Logik der Kombinatorik folgenden Reihenfolge weisen auf das digitale Zeitalter voraus, ähnlich wie der gleichermaßen unabschließbare ‚Mann ohne Eigenschaften’ Musils. Benjamin unterlegt oftmals nicht die ökonomischen Analysen, die Standard of art der marxistischen ‚Kritischen Theorie‘ des Instituts hätten sein müssen seinen hochdifferenzierten Beobachtungen. Vielmehr öffnet er den Einblick in Aura und Mythologien, etwa bezogen auf die Warentempel, in denen der Puls der Metropolen der Moderne schläft. Eindringliche Abschnitte gelten der Prostitution und der mit ihr verflochtene Liebessugestion, einem Amalgam von grenzenlosem Kapitalismus und einem nachklingenden Traum von Romantik. Die Passage ist ein Übergangsbereich, in dem Grenzen verflüssigt werden. Mithin geht es um eine Verlaufsfigur, in der aus dem Vergangenen „die Linien des Kommenden“ (VI, S. 471) hervortreten. Im Blick auf den Vollzug des Erinnerns hat Benjamin das monumentale Werk von Proust vor Augen, die Vergegenwärtigung bis in kleinste mirkologische Züge hinein, einen freigesetzten Gedächtnisstrom, bei verschlossenen Fenstern und Türen, einer Tilgung der gelebten Gegenwart. Proust zeigt, wie gefährlich Erinnerung ist: „Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, […] kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche, jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir 620 W. Benjamin, Briefe, Gesammelte Briefe Band II, Frankfurt/Main 1996, S. 662 f.

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dies alles […] entfaltet (die Falte: le pli) entfaltet haben; und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste und immer gewaltiger wird, was ich in diesen Mikrokosmen entgegentritt“ (VI, S. 467). Erinnerung löst das Vergessene und Verdrängte wieder aus und gibt ihm Gegenwart. Benjamin beschreibt dies im Bild vom bucklicht Männlein in seinen Kafka-Essays als die Last auf dem Rücken. Dabei kann jenes Vergessene (Mit Freud müsste man mitdenken: Verdrängte) nicht wirklich abgeschlossen werden. Es reicht weit über die Grenzen der Individualität hinaus. Jedes Vergessen „mischt mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein“ (II, S. 430). Der materialistische Historiker muss zugleich ein Eingedenkender sein; Dogmatiker oder Ideologe ist er niemals. Er wird deshalb die Zukunft in der Vergangenheit aufzusuchen haben, aber nicht mit einem Blochschen Fanfarenstoß, sondern eben in der Mikrologie des Vergangenen selbst. Insofern formuliert Benjamin auch die Maxime, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ (I, S. 697). Gegenüber der Einfühlung in den Sieger, die Historismus und Nationalgeschichte eigen gewesen sind, eine Inversion zu vollziehen. 5. Geschichtsphilosophie und Dialektik im Stillstand Zu den gewichtigsten Erbschaften in Benjamins Denken gehört seine Geschichtsphilosophie, die sich dem linearen Fortschrittsprogramm und seinen ihm immanenten Zerstörungen entzieht. Nirgends ist sie eindrucksvoller formuliert als in der neunten seiner Geschichtsphilosophischen Thesen unter dem Signum eines kleinen Gedichtes und der folgenden, berühmten Bildbeschreibung: „Mein Flügel ist zum Schwung bereit / Ich kehrte gern zurück Denn blieb’ ich auch lebendige Zeit Ich hätte wenig Glück“ (I, 697). Verfasser ist Gershom Scholem. Daraufhin beschwört Benjamin das Bild ‚Angelus novus’, aus dem Besitz Benjamins und formt daraus den Kern seiner nicht-utopistischen Geschichtsphilosophie: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das

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Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm […]“ (I, S. 697 f.). Das Denkbild erwidert offensichtlich Hegels Lesart der übergriffenen, aufgehobenen Individualität – im ‚Golgatha der Individuen’ der Weltgeschichte. Zugleich ist es Resonanz auf die eigene Erfahrung eines Lebens in ‚Augenblicken der Gefahr’. In jenen ‚Geschichtsphilosophischen Thesen’ durchbricht Benjamin von Grund auf die Fortschrittsmaximen, die im Marxismus leitend waren. Er greift in diesem Zusammenhang auf Marx’ Diktum zurück: „die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte“. Benjamin kontrafasziert diese Lesart: „Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse […]“ (I, S. 1232). Revolution ist für Benjamin daher immer Bemächtigung (in der etymologischen Spannung von Walten und Gewalt: der Name Walter war Derrida zufolge ein Omen621) des Gewesenen. Sie wirkt prima facie zerstörend. Doch Geschichtsphilosophie und Theologie verhalten sich invers zueinander, wie Löschblatt und Tinte. Eben deshalb kann die Revolution auch eine Insistenz auf der punktuellen Vergangenheit freisetzen. Sie schlägt auf diese Weise in einer „Dialektik im Stillstand“ in messianische Rettung um. Die Utopie dagegen tilgt das Vergangene und neigt zur Komplizenschaft mit einem Unrecht im Namen des Neuen. Sie häuft deshalb den Kavarienberg von Leiden und Tod weiter auf. Jene geschichtsphilosophische Insistenz weist in zwei Horizonte: einerseits auf Benjamins Dialektikbegriff, andererseits auf seine Biographie, der man sich zumindest an diesem Punkt kurz zuwenden muss. Benjamin denkt die „Dialektik im Stillstand“ als Kristallisation von Eschaton und Gedächtnis, in einer Weise, die sich Adorno später im Konzept einer ‚Negativen Dialektik‘ zu eigen machen wird. Diese Korrespondenz beider war anfangs keineswegs klar. So ist noch einmal daran zu erinnern, wie in beider Briefwechsel aus den späten dreißiger Jahren, namentlich im Herbst 1938, um einen Baudelaire-Aufsatz Benjamins eine tiefe Differenz aufbricht. Adorno hielt Benjamin seinerzeit ein Defizit an begrifflicher Vermittlung vor.622 Dies bedeutet, dass er in der „staunende(n) Darstellung der bloßen Faktitzität“ verharre. Eben darin vermag Benjamin aber keinen Vorwurf zu erkennen. Er nennt jene mikrologisch detaillierte Faktizitäts-Orientierung vielmehr die „echt philologische Haltung“. Die mikrologische Faktizität enthieht sich begrifflicher Vermitt-

621 Dazu R. Tiedemann, Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt/Main 1983. 622 Adorno, Benjamin, Briefwechsel, a.a.O., S. 330 ff. und öfter.

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lung. Man wird eine tiefdringende Beeinflussung Adornos durch Benjamin gerade an diesem Differenzpunkt wiederfinden, wobei Adorno aber an einer Begriffsvermittlung festhalten wird, die seiner Grundkategorie der Negativität und des Nicht-Identischen den Begriff mit Mitteln des Begriffs transzendiert. Dass mit jener Differenz auch biographisch prekäre Probleme verbunden sind, Benjamins Elend etwa daraus resultierte, dass er nicht im Zentrum der Forschungen des Instituts und der ‚Zeitschrift für Sozialforschung’ sich positionieren konnte, ist ein tragisches Exilschicksal. Jene Negativitätserfahrung fand nach Adorno durch Auschwitz, die Shoah und damit in der Erfahrung verspielter und verlorener Humanität im Umkreis des Zweiten Weltkriegs ihre äußerste Zuspitzung des falschen Lebens, in dem es kein richtiges geben könne. Der ‚transzendente Eingriff’, das messianische Eindringen theologischer Kategorien in den Immanenzraum der Geschichte ist bei Adorno nur noch als ferne Ahnung erkennbar. Bei Benjamin leuchtet diese Dimension aus dem Geist der Kabbala deutlicher und existenzieller auf. Rolf Tiedemann hat deshalb zutreffend formuliert: „Nur um der Immanenz willen hat Adorno den Gedanken von Transzendenz sich erlaubt, um des Bedingten willen das Absolute nicht opfern wollen“.623 In eine negativ-dialektische Vernunftkonzeption ist deshalb auch der ‚theologische Glutkern’ mit einzuschmelzen.624 Benjamins Konzept der „Dialektik im Stillstand“ belässt die Individualitäten und Extrempunkte in ihrer monadischen Verfassung. Sie sind nicht in einen Geschichtsprozess und in gesetzliche Kontinuitäten hinein aufzulösen.625 Es geht im dialektischen Akut um eine Konfrontation des Gewesenen in ein Jetzt, ein Verhältnis, das Benjamin aufs schärfste von dem linearen Übergang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet. An der Bruchstelle der Diskontinuität entsteht das ‚dialektische Bild’, in dem „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“.626 Jenes Bild vollzieht realiter die ‚Dialektik im Stillstand‘. An solchen Bildern entzündet sich die verschüttete Nennkraft der Sprache wieder, nicht in einer Flucht ins Archaische, wie man sie Heidegger vorhalten könnte, sondern im jeweiligen Akut der Gegenwart. Zentral wird in jenem Zusammenhang das 623 Tiedemann, a.a.O., vergleiche dazu auch J. Habermas, Glauben und Wissen. Rede anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001, Sonderdruck, Frankfurt/Main 2001, S. 14 f. 624 Vgl. dazu Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/Mai 2005, S. 187 ff. 625 Dazu Tiedemann, Dialektik im Stillstand, a.a.O., S. 35 ff. Vgl. auch J. Habermas, Bewußtmachende oder rettende Kritik. Die Aktualität Walter Benjamins. (1972). In: Jürgen Habermas: Politik, Kunst und Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen. Reclam, Stuttgart 1978 (aktuelle Neuauflage 2006), S. 48–95. 626 Dies ist der Grundgestus der ‚Erkenntniskritischen Vorrede‘ zum Trauerspielbuch, dazu Buck-Morss, a.a.O., S. 21 ff.

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Phänomen des Erwachens, ist es doch weder Wachsein noch Schlaf, sondern der jähe Moment des ‚Jetzt der Erkennbarkeit’, in dem die Dinge ihre wahre – surrealistische – Miene aufsetzen“ (V, S. 579). „Das kommende Erwachen steht wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traumes“ (V, S. 495). Diese Weise, wie Benjamin zu dem Denker des Eingedenkens, jenes Umschlags des Gewesenen in ein Jetzt werden konnte, fügt die jüdische Identität wie in einer Codierung in sein Denken ein. Die Fremde begleitete sein Leben bis zum Ende: Die Habilitation in Frankfurt scheiterte, wie man weiß, nicht aus offen antisemitischen Motiven. Zentral war ein Nichtverstehen-können des bürgerlichen Gutachterausschusses und zumal der Germanisten. Die Unruhe der Lebensform des freien Publizisten, bei einem Mann, der eigentlich wie wenige andere (nach dem Zeugnis seiner Freunde) zum Ordinarius geboren schien, führt ihn an den Rand der kommunistischen Agitation. Nach seiner Ehe mit Dora Pollak, mit der er einen Sohn Stefan hat, lernt er 1924 in Capri die junge Kommunistin und Agitatorin Asja Lacis kennen, eine leidenschaftliche zugleich schmerzliche und nicht lebbare Liebe.627 Sie berichtet im Rückblick auf eine Wiederbegegnung in Riga, wo sie ein agitatorisches Kindertheater leitete: „Er liebte zu überraschen, aber diesmal gefiel mir seine Überraschung nicht. Er kam von einem anderen Planeten – ich hatte keine Zeit für ihn […]Benjamin wollte natürlich eine Aufführung von mir sehen […] Ihm hat nichts gefallen, mit Ausnahme einer Szene: Ein Herr im Zylinder unterhält sich unter einer Laterne mit einem Arbeiter“.628 Er seinerseits spiegelt jene Beziehung, die in viel zu seltenen, sporadischen Begegnungen besteht, nicht ohne Bitterkeit: „politische Begriffe Schlagworte der Partei, Bekenntnisse und Befehle“ hätten sich in ihr festgesetzt. Sie sei geistesabwesend, nicht gegenwartsfähig gewesen. Immerhin unternimmt er mit ihr eine große Moskaureise, angezogen wie viele Intellektuelle in jener Zeit der dreißiger Jahre von dem Mutterland der Revolution, in dem die Außenseiterstellung des Intellektuellen der Vergangenheit anzugehören schien. Freilich war auch dies nur ein Schein. Denn die russische Revolution geht im Terror der Säuberungen unter, der Stalinismus etabliert sein stählernes Gehäuse, und die Intellektuellen werden erst recht zensiert und verfolgt. Benjamin verbringt die Sommer in den folgenden Jahren im Süden, den Rest des Jahres zumeist in Paris. Schon 1932 denkt er über Freitod nach. 1939 wird er in Frankreich, als deutscher Staatsbürger, wiewohl Emigrant und Jude,

627 Zu Benjamins Beziehung mit Asja Lacis vgl. Eiland, Jenner, Walter Benjamin, a.a.O., S. 273 ff. und S. 322 ff. 628 A. Lacis, Revolutionär im Beruf: Berichte über proletarisches Theater, Meyerhol, Brecht, Benjamin und Piscator, München 1971, S. 57, hierzu auch Eiland, Jennings, Benjamin, a.a.O., S. 330 ff.

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in dem Lager Clos St. Joseph interniert. 1940 erhält er durch Horkheimers Vermittlung ein Einreisevisum in die USA und im September erreicht ihn ein Transitvisum für Spanien und Portugal. In dem Pyrenäenort Port Bou erfährt er am 26. September 1940 durch ein irrtümlich gestreutes Gerücht, dass er am nächsten Tag an die französischen Collaborateurs und damit mittelfristig an Nazi-Deutschland ausgeliefert werden sollte. Dies hätte das Ende bedeutet. Er tötet sich mit einer Überdosis Morphium., Brecht ruft ihm zwei Portraitgedichte nach, die einiges über die Positionierung von beiden im politischen Kampf, aber auch über die darüber hinausreichende freundschaftliche Bindung bis hin zum Schachspiel aussagen: „An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte Ermattungstaktik war’ s, was dir behagte Am Schachtisch sitzend in des Birnbaums Schatten Der Feind, der dich von deinen Büchern jagte Lässt sich von unsereinem nicht ermatten“. Und: „Zum Freitod des Flüchtlings W.B. Ich höre, dass du die Hand gegen dich erhoben hast Dem Schlächter zuvorkommend. Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten. / Reiche stürzen. Die Bandenführer Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen. So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte Sind schwach. All das sahst du Als du den quälbaren Leib zerstörtest. 4. Theodor W. Adorno: Das richtige Leben im falschen: 1. Jenseits des „Projekts Aufklärung“ Dass Adorno Benjamins Denkbewegung aufnimmt und gleichsam in die Nachkriegskonstellationen hinein fortsetzt, wird sehr deutlich an dem gemeinsam mit Max Horkheimer vorgelegten, 1944 in der Emigration zunächst als Manuskriptreproduktion, dann 1947 bei Querido in Amsterdam erschienenen epochalen Buch ‚Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente’. Erst 1969, im Jahr von Adornos Tod, wird dieses Werk wiederaufgelegt. In den Nachkriegszeiten waren auch am Hot Spot in Frankfurt die Jahrgänge der Zeitschrift für Sozialforschung unter Horkheimers Ägide als Institutsdi-

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rektor im „Giftschrank“ verschlossen. Das mittlerweile arrivierte Schulhaupt fürchtete, wohl nicht ohne Grund, Marxismusvorwürfe in der alten Bundesrepublik.629 Die Rede von der „kritischen Theorie“ war insofern ein Codewort und Kürzel. In der ‚Dialektik der Aufklärung‘ ist, vor dem Akut der totalitären Erfahrung, eine grundlegende geschichtsphilosophische These angelegt: Dass die zivilisatorische Naturbeherrschung, gegen ihre eigene Intention, die Naturverfallenheit des Subjekts nach sich gezogen hätte. Der Mensch versucht in einer methodischen und zugleich gewalttätigen Naturaneignung und Eroberung sich die Natur vom Leib zu halten. Doch er wird des blinden Naturzusammenhangs nicht Herr. Dieser schlägt zurück und so regrediert der Mensch. Dabei wird, ähnlich wie in der Kulturdiagnostik Freuds auch bei Adorno/Horkheimer eine Genealogie gezeichnet. Aus der ‚Vorwelt’ bloßer Natur tritt der Mensch durch Denken und Akte der Abstandnahme heraus. Innere und äußere Natur, Subjekt und Objekt werden voneinander geschieden. Doch ist der sozialdisziplinierende Weg im Blick auf innere wie äußere Natur ein Weg der Reduktion; eine Verschließung des Eigen-Natürlichen im Menschen selbst, von Angst nicht minder als von Lust, was sich in der ontogenetischen Schrittfolge der Erziehung spiegelt. Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen kreiert und definiert war, „und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart“.630 Bestimmend ist die Angst, das eigene Selbst zu verlieren, die Grenze zwischen sich und anderem Leben, oder zwischen sich und dem Tod aufzuheben. Es ist deutlich, dass der Mythos schon als protologische Form von Aufklärung und als zweckerationaler Welterklärung firmiert, ebenso wie spätere reduktive Rationalitätsformen am Fetischcharakter des Mythos partizipieren, bzw. jählings in ihn umschlagen. Die ‚Dialektik der Aufklärung’ deutet in ihrem ersten Exkurs den Homerischen Odysseus als „Urbild des bürgerlichen Individuums“. Wir müssen uns Odysseus denken, wie er seinen Gefährten befiehlt, an den singenden Sirenen mit ausgestopften Ohren in voller Kraft vorbeizurudern, Odysseus lässt sich von ihnen am Mast festbinden, er hört die bezaubernd hinreißenden, betörenden und zugleich gefährdenden Stimmen. Was Odysseus betrifft, so hat er, 629 Aufschlussreich für den Samisdat in der Bundesrepublik ist der Briefwechsel Horkheimer-Adorno, der sich die tierhafte Spielfreud zwischen Mammut und Nilpferd gab, einer Affinität bei großem Unterschied der Gewichtung. Horkheimer/Adorno, Briefwechsel, Band III 1945–1949, siehe auch W.Müller-Dohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt/Main 2003. 630 Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1969, S. 40.

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dies eben ist seine List, was nicht zufällig griechisch mechané heißt, dadurch einzulösen gesucht, dass er seinen Traum sublimiert und verzichtet. „Er kann eben nie das Ganze haben, er muss immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des Heiligen Hyperion. Er windet sich durch, das ist sein Überleben, und aller Ruhm, den er selbst und die anderrn ihm dabei gewähren, bestätigt bloß, dass die Heroenwürde nur gewonnen wird, indem der Drang zum ganzen, allgemeinen ungeteilten Glück sich demütigt“.631 Der nicht zuletzt von sich selbst Unterdrückte wird aber zugleich selbst zum Unterdrücker, der seine Untergebenen für die ihm immerhin noch gegebene begrenzte Glücksbefriedigung arbeiten lässt, von der sie nichts wissen. Sie binden ihn am Mast fest und verstopfen ihm die Sinnesorgane. Zugleich führen sie die Reise durch die effizienten Ruderbewegungen zum erwünschten Ziel. Odysseus wird damit archaische Urgestalt des kapitalistischen Unternehmers, von dem Max Weber gesprochen hatte. Der Ausgangspunkt wird in der einleitenden Sequenz der Dialektik der Aufklärung eindrucksvoll formuliert, die auch diesem Buch den Untertitel gibt: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils“. Und: „Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe“ .632 Nun verfolgt die ‚Dialektik der Aufklärung’ einige der Engpässe, in denen der Weltzustand des Umschlags von Aufklärung in Naturgebanntheit sich vollzieht. Besonders eindrücklich ist dabei Exkurs II: Juliette oder Aufklärung und Moral, in dem gezeigt wird, dass das bürgerlich zivilisatorische Unterfangen einer vollständigen Systematisierung und Organisation des Lebens zu der Frage nach gutem Leben, moralischer Selbstbesinnung keinen primären Zugang mehr finden kann. Adorno/Horkheimer spitzen zu: Formalistische Vernunft kann gleichermaßen zum Kantischen Sittengesetz und zu den mit äußerster Kühle ins Werk gesetzten Orgien des Marquis De Sade führen.633 Es sind die dunkel, tiefenanalytischen Schriftsteller des Bürgertums, bis hin zu Nietzsche, die diese Züge ans Licht bringen, die auf den lizenzierten Höhenwegen geleugnet werden.

631 Ibid., S. 86. 632 Ibid., S. 314. 633 Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 88 ff. Vgl. auch Adorno, Nachgelassene Schriften, Abteilung IV. Probleme der Moralphilosophie (Vorlesung 1963), Frankfurt/Main 2003.

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In dem Kapitel ‚Kulturindustrie’ wird dann mit einer scharfen Klarsicht (auch unter dem Einfluss der US-amerikanischen Erfahrung) skizziert, wie mit avanciertesten technologischen Verfahrensweisen letztlich mythologische Muster und atavistische Grundhaltungen bestätigt werden. Der circulus vitiosus, die ewige Wiederkehr des Gleichen (man denke an Nietzsche und die Analyse technologischer Reproduktion ), reproduziert sich. Dadurch wird ein Bann um den Konsumenten gelegt. Er wird als Subjekt in den Reproduktionsabläufen weitergehend standardisiert. „In der Kulturindustrie ist das Individuum illusionär nicht bloß wegen der Standardisierung ihrer Produktionsweise. Es wird nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht. Von der genormten Improvisation im Jazz bis zur originellen Filmpersönlichkeit, der die Locke übers Auge hängen muss, damit man sie als solche erkennt“.634 Anders als Benjamin, ist Adorno keineswegs der Auffassung, dass die entauratisierte, massenhaft reproduzierte Kunst ein Hebel zu Praxis und Aufklärung sein könne. Während Benjamin Konturen einer „Ästhetik des Widerstandes“ skizziert, ist für Adorno ein auratischer und elitärer Kunstbegriff unverzichtbar.635 „Die Abschaffung des Bildungsprivilegs durch Ausverkauf leitet die Massen nicht in die Bereiche, die man ihnen ehedem vorenthielt, sondern dient, unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen gerade dem Zerfall der Bildung, dem Fortschritt der barbarischen Beziehungslosigkeit“.636 Jene Engführung der Dialektik der Aufklärung kulminiert im Antisemitismus, an dem sich wissenschaftlich rationalistisch eingerichtete Maschinerien bis zum Pogrom mit der Freisetzung archaisch gewalttätiger Impulse verbinden, die kalkuliert ins Werk gesetzt werden. Adorno spricht treffgenau vom „reaktionären Ticket“. Das Räderwerk des totalitären Systems ist perfektioniert worden. „Der Schein hat sich so konzentriert, dass ihn zu durchschauen, objektiv den Charakter der Halluzination gewinnt“.637 Nur eine indirekte moralphilosophische Lektion ist daraus zu ziehen: In ihrer Dialektik bricht sich der Begriff von Aufklärung und in der Urgeschichte von Subjektivität fragmentiert sich der Gehalt eines autonomen, selbst bestimmten Subjektes. Allerdings werden beide eidetische Bedeutungen nicht preisgegeben, da dies in die Komplizenschaft zur Reaktion führen müsste. In seinem zwei Jahrzehnte späteren philosophischen Hauptwerk, ‚Negative Dialektik’ (1966), umreißt Adorno Grundlinien einer ins Nicht-Identische führenden Subjekt-Objekt-Relation, die auch Antwort auf die – notwendige 634 Ibid., S. 163. 635 Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands, Frankfurt/Main 1983, S. 54 ff. . Weiss Fiktion ist von singulärer Eindrücklichkeit, sie streift aber nicht im Entfernten die negativ-dialektische Dimension. 636 Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 196. 637 Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 214.

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– Frage sein können, ob die am Tiefstpunkt des 20. Jahrhunderts formulierte Diagnose unaufhaltsam sei. Jenes Nicht-Identische wird zunächst am Verhältnis von Natur und Geist, Subjekt und Objekt wach, aber eben auch an jeder eminenten Fremdheitserfahrung. Das relationale Verhältnis an, in und außer uns konzipiert Adorno phänomenologisch im Sinn des Husserlschen Korrelationsapriori von Noesis und Noema, wenn er einen ‚Vorrang des Objekts’ einklagt, was zugleich ein ‚Mehr an Subjekt’ in der Erkenntnis verlange. In vielen Bereichen können wir „nur dann wirklich etwas wahrnehmen, etwas erkennen, wenn wir uns dabei als ganze Menschen, mit allem was wir an Erfahrung, an Trieb, an Regungen haben, in diese Erkenntnis selbst einsetzen, anstatt dass wir von uns abstrahieren und uns zu solchen allgemeinen Subjekten überhaupt machen“.638 In der ‚Dialektik der Aufklärung‘639hatte Adorno das Grundverhältnis des Subjektseins, in dem sich der doppelte Bann von Naturbeherrschung und Naturverstrickung lösen könnte, nur e conctrario bestimmt: „Nur in der Vermittlung, in der das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die ganze Natur befangen ist. Die Unterscheidung geschieht im Subjekt, das die Außenwelt im eigenen Bewusstsein hat und doch als anderes erkennt“.640 Von hier her wird auf eine, in den Denkbildern der ‚Minima Moralia’, , diesen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ auf die uneingelöste Rettung der Phänomene und eine Zärtlichkeit zu den nächsten Dingen und dem Erfahrungszusammenhang verwiesen. Die Wahlverwandtschaft zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennenden Phänomenen erinnert nicht von ungefähr an Husserls noetisch-noematische Korrelation. Das Subjekt hat sich dem anderen gegenüber nicht zu behaupten, sondern zu entgrenzen: und kommt gerade darin, in einer unreduzierten Erfahrung doch zu sich. Es muss, so heißt es andernorts auch bei Adorno, den Dingen mehr zurückgeben, als es von ihnen erhielt. In diesem Kontext schließt Adorno an die Benjamnische Kategorie der Aura an, die sich in der Prolepsis auf einen „versöhnten Zustand“ einstellt. Er „annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen“.641

638 639 640 641

Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 50. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 222 ff. Ibid. Adorno, Minima Moralia.Reflexionen aus dem beschädigten Leben, GS Band IV, S. 192.

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Um der Erfahrung mit solcher Andersheit willen setzt sich das Subjekt aufs Spiel und gewinnt sich dadurch selbst wieder. Adorno versuchte wohl auch so zu leben.642 Seine ‚Minima Moralia’ sind ein Spiegel der Kultivierung der Perzeption und Urteilskraft gegenüber der technischen Überrationalisierung und jederzeit drohenden Dehumanisierung. Dass es ein richtiges Leben im falschen geben könne, wurde von Adorno zwar im Grundsätzlichen bestritten. In kritischer Kultivierung der Urteilskraft in einer Art Lebensübung wurde dieses Leben aber zugleich vollzogen. „Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, dass die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine From annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuss sei’ an Freiheit des Verhaltens, sei’ s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion“. 2. Dialektik und Negativität Es ist unstrittig, dass Adorno in seiner späten ‚Negativen Dialektik’, neben der fragmentarisch gebliebenen ‚Ästhetischen Theorie’, das Werk, das dokumentieren sollte, was er philosophisch in die Waagschale zu werfen hätte, die begriffliche Summe seines Denkens zieht. Den zentralen topischen Terminus ‚negativer Dialektik’ hat Adorno bereits Ende der dreißiger Jahre in einer Diskussion mit Horkheimer, einer Debattte um Hegel, klar konturiert. Adorno fragte sich seinerzeit, „ob nicht unser Ansatz vom Hegelschen wirklich ‚ontologisch’ verschieden ist, nämlich ob nicht bei Hegel der Begriff des Faktischen bereits eine ganz andere Bedeutung hat als bei uns, ob nicht bereits die Elemente der Hegelschen Philosophie so präformiert vom Ganzen sind, dass bei ihm der faktische Gegenpart von Anbeginn an im Bann des Identitätsprinzips steht. Wenn wir vom Unmittelbaren sprechen, dann ist es wirklich nicht identisch. Bei Hegel ist es nur insoweit nicht identisch, als nicht der ganze Prozess im Unmittelbaren selbst entfaltet ist“.643 Der Unterschied liege daher tiefer als in der Unterscheidung von Totalität bzw. Unabgeschlossenheit oder Unendlicheit, die eine Fragmentierung eröffnet, wie sie auch die heutige Postmoderne geltend zu macht. Er konzentriere sich vielmehr auf die Frage, ob alles, „was in den Kreis des Denkens hereinfällt, als nur Gedanke erscheint oder ob es als wirklich etwas angesehen

642 Vgl. Müller-Dohm, a.a.O., S. 345 ff. 643 Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 12, Nachgelassene Schriften 1931–1949, Frankfurt/Main 1985, S. 488.

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wird, was nicht hereinfällt, was aber zugleich doch nur in der Relational auf den Gedanken verstanden werden kann“.644 Adorno wendet also die Verfahrungsweise der Dialektik gegen jene Erste Philosophie und Metaphysik, deren Urstiftung selbst aus der Dialektik der großen Kategorien bei Platon hervorging und die im Hegelschen System dialektisch ihre vielleicht höchste Affirmation und umfassende Explikation erfuhr. Auf der Linie der ‚Dialektik der Aufklärung’ geht Adorno davon aus, dass eine identitäre Vernunft ihrerseits identitäre und daher Differenz vernichtende Wirkungen tun wird. Dahinter steht selbstredend die Überzeugung, dass der spekulative Begriff und ihm entsprechende gesellschaftliche Verhältnisse in komplexer Weise ineinander vermittelt sind. Adorno ist sich damit auch der geschichtlichen Vermitteltheit negativer Dialektik bewusst, so wie es in grundlegenden philosophischen Zusammenhängen in ähnlicher Weise nur Hegel in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ gewesen war. Die ‚Negative Dialektik‘ zeigt ein Denken nach Auschwitz an, also im Zeichen des Urdatums, das „das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen“ habe.645 ( Eine scharfe, die Komplizenschaften im 20. Jahrhundert benennende, Kulturkritik ist für Adorno die unumgängliche Folge daraus. Er hält fest, dass alle Kultur nach Auschwitz, „samt der dringlichen Kritik darin, Müll“ sei.646 Man erinnert sich an den ‚Prismen‘-Aufsatz mit Adornos Diktum, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch, was er später nicht widerrief, wohl aber radikalisierte im Blick auf die Unmöglichkeit eines guten Lebens nach Auschwitz.647 Gemeint war, barbarisch sei ein Schreiben im Zeichen von Auschwitz, das die Shoah vedränge. In den ‚Minima Moralia’ findet sich ein Text ‚Zum Ende’, der verdeutlicht, dass Adorno seine Philosophie als eine letzte begriff, worin er Heidegger unähnlich war. Den ‚Endspielen‘ Samuel Becketts widmete er nicht ohne Grund einen ingeniösen Verständigungsversuch. „Philosophie, wie sie im Antlitz der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück

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Ibid., siehe auch Negative Dialektik, a.a.O., S, 343 ff? Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 357. Adorno, Prismen, a.a.O.. Damit hängt auch das vielberufene Diktum zusammen, dass es nach Auschwitz barbarisch sei, Gedichte zu schreiben. Vgl. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft (1951), in: Ders., Gesammelte Schriften 10.1, Frankfurt/Main 1980, S. 11 ff. Nicht zuletzt vor dem Eindruck der Gedichte Paul Celans, gegen die der Bann ästhetisierenden Verschweigens zu allerletzt positionierbar war, revidierte Adorno später diesen Eindruck. Vgl. K. Reichert, Paul Celan – Erinnerungen und Briefe, Berlin 2020.

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Technik. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird“ .648 Dies Licht ist, stärker als Benjamins Messianismus ins Säkulare gewendet, verbunden mit einer Perspektive auf das enthüllte Leid, die Nichtigkeit, wie sie auch in den Dramen Becketts sichtbar wird. Eine nähere Analyse kann zeigen, dass die ‚Negative Dialektik’ in Resonanz auf den onto-theologischen Höhenweg der philosophischen Überlieferung, dem das Wahre das Ganze sei, orientiert ist. Die Dialektik konstituiert sich durch eine beständig negierende Bewegung. Dies trifft zunächst in Adornos Blick auf Hegel zu. Man könnte dabei aber auch weit in die neuplatonische Tradition zurückgehen, gerade auf die Nicht-selbst-ständigkeit des Einzelnen, das seinen Grund nicht in sich selbst hat, sondern übergriffen werden muss auf die in der Totalität sich findende Absolutheit des Geistes und des Begriffes hin. Dieser Gestus findet bei Adorno eine spekulative Inversion: Dialektik wird zum konsequenten Bewusstsein von Nichtidentität. Dies aber rettet Individualität in ihrer endlichen Signatur; es könnte sie, sofern sie in die Lage kommt, sich selbst der Allgemeinheit und dem Identifizierungszwang zu entziehen, zuallererst zu freiem Atmen bringen. Dialektik als Aufweis von Nicht-Identität hat die Widerständigkeit in sich, um dem opprimierenden, zerstörenden Bann von Ursprung und Identität zu entgehen und sich so der Magie eines Prinzips zu entreißen. Insofern wird sie von Adorno in Radikalisierung der Hegelschen ‚Verflüssigung’ des Begriffs geradezu kontrapunktisch zu ihrer Indienstnahme in der spekulativen Geistphilosophie exponiert. In der ontotheologisch-metaphysischen Tradition begegnet Negation freilich nicht nur als aufhebende Negation des Einzelnen im Namen von Allgemeinheit. Sie begegnet noch an einem anderen Systempunkt, gleichsam dem letzten im System: als Negatio negationis verweist sie auf das Absolute, das Eine, den selbstseienden Geist. Adorno nimmt an einerwichtigen Stelle dieses Problem in den Blick, wenn er seine eigene Konzeption dialektischer Vernunft noch einmal gegen jene Hegels ins Feld führt: „Den dialektischen Widerspruch, Ausdruck des unauflöslich Nicht-Identischen, wiederum durch Identität glätten heißt soviel wie ignorieren, was er besagt, in reines Konsequenzdenken sich zurückbegeben. Dass die Negation der Negation die Positivität sei, kann nur verfechten, wer Positivität, als Allbegrifflichkeit, schon im Ausgang präsupponiert […]. Die Qualifikation der Wahrheit als negatives Verhalten des Wissens, welches das Objekt durchdringt – also den Schein seines unmittelbaren Soseins auslöscht – klingt wie ein Programm negativer Dialektik als des mit dem Objekt übereinstimmenden Wissens; die Etablierung 648 Adorno, Minima Moralia, GS Band 4, S. 283.

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dieses Wissens als Positivität jedoch schwört jenes Programm ab“.649 Nicht in einem Prinzip und nicht in einer wiederholbaren Vernunftsstruktur, sondern jeweils in der Offenhaltung der Differenz konstituiert sich die Vernunft des Nicht-Identischen. Dem obersten Abstraktum aller Tätigkeit, der transzendentalen Funktion des Geistes, gebühre deshalb, so Adorno, keine Suprematie (wie etwa im kantischen ‚Ich denke’). „Geist ist auf Dasein so wenig zu nivellieren wie dieses auf ihn“.650 Eben hier ist der Punkt, an dem Denken qua Begriff über sich hinausgeht: „Einzig sofern es seinerseits auch Nichtich ist, verhält das Ich sich zum Nichtich tut etwas, und wäre selbst das Tun Denken. Denken bricht in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Anderes, weil es Anderes immer in sich schon ist“.651 Es ist deutlich, dass dann auch Einzelheit und Andersheit keine Letztpunkte, kein seinerseits nicht weiter zu befragendes Schibboleth sein können. Adorno entwirft vielmehr das subtile Bild einer Kommunikation des Unterschiedenen. Damit erst kommt der Zustand der Versöhnung ins Spiel. Dieser Zustand kann weder die „ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre Antithetik sein“, sondern verweist auf die Kommunikation des Unterschiedenen. „Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander“. So ist die Rede von einer Kohärenz des Nicht-identischen, in der Tat Anzeige eines subtilen Friedenszustands, der Differenz nicht verleugnet. Die Transzendenz des Einzelnen ist dabei offen gehalten, als eine ‚Transzendenz’ der Sehnsucht (am Ende des Thomas Mannschen Doktor Faustus, als dessen musik-philosophischer „Geheimer Rat“ Adorno funigerte, ist sogar von einer Transzendenz in der Verzweiflung die Rede 652). Adorno legt nahe, dass das „in keinen vorgedachten Zusammenhang Auflösliche“ als Nichtidentisches von sich aus seine Verschlossenheit aufbreche, in eine „Affinität“ mit anderem trete; denn „das Differenzierte erscheint so lange divergent, dissonant, negativ, wie das Bewusstsein der eigenen Formation nach auf Einheit drängen muss; solange es, was nicht mit ihm identisch ist, an seinem Totalitätsanspruch misst“.653 Die überlieferten Systeme der Metaphysik geben, Adornos zuspitzender Aussge zufolge, davon nichts zu erkennen. Sie haben davon nichrt einmal eine Ahnung. Insofern laufen sie Gefahr, die Differenz in einem Vereinheitlichungszwang preiszugeben. Adorno nimmt dabei das Benjaminsche Diktum von der Konstellation auf: „Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache 649 Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt/Main 1963, S. 192 f. 650 Ibid., S. 202. 651 Ibid., S. 201. Im Gegenüber zu Hegel wird die Konstellation zwischen Negativer Dialektik und der Einnahme eines transdifferenziellen Punktes, an dem die Hegelsche Dialektik eine Systemform zu tragen hat, offensichtlich. 652 Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. 25 ff. 653 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 17.

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steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt“.654 Hier läge die Antwort auf den Einwand, den Werner Beierwaltes gegen Adorno formulierte: Zu fragen sei, so dieser hervorragende Kenner spekulativer Metaphysik zwischen Platon und Hegel, „ob eine rein negativ verfahrende Dialektik, obgleich sie einem absolut Ersten sich zu entziehen beansprucht, nicht doch im ‚Banne der Identität’ bleibt, sofern sie sie das Nichtidentische zu konturieren und ihm zu seinem Dasein zu verhelfen sucht. Ist nicht Negativität als Verkehrung oder Destruktion des immer vorausgesetzten ‚schlechthin’ Identischen‘ das kryptogam hypostasierte ‚Erste’ dieses Denkens, das ins radikal Böse verkehrte Hegelsche Absolute? Gibt es überhaupt Kriterien, die Nicht-Identisches von sich her deutlich zu machen imstande sind?“.655 Zu letzterem wäre zu sagen, dass die letzte Frage sich von Adornos Sachgehalt weitgehend getrennt hat und identifikatorische Erwartungen nahe legen würde die Adorno gerade zurückweist. In jeweiligen glückenden Vermittlungsformen allein kann die nicht-identische Vernunft Gestalt gewinnen. Die ‚Negative Dialektik‘ zeichnet ihr nur gleichsam ein Typos-Wissen vor. Gewichtiger ist Beierwaltes‘ weiterer Einwand. Es wäre, so scheint mir, ein Irrtum, Negativität bei Adorno als Erwiderung oder Affekt gegen das Unum Principium der Metaphysik zu verstehen. Negativität wird zur Anzeige von Differenz, Nicht-Übereinstimmung, einer niemals unmittelbar zu gewinnenden Rettung richtigen Lebens im Falschen. Es ist deshalb deutlich, dass er der Freiheit im Nicht-Identischen leidenschaftlich nachgedacht hat. Davon zeugt eine sehr ambivalente Auseiandersetzung mit Kants praktischer Philosophie. Dass Auschwitz sich nicht wiederhole, dies wollte er in einer Ethik, zu der er in seinen letzten Lebensjahren ansetzte und die er nicht mehr abschließen konnte, als Transformation des Moralpinzips des Kategorischen Imperativs begründet sehen. Dies ist umso bemerkenswerter als Adorno in der Apodiktizität des Sittengesetzes den Sadeschen Zwang sah. Die Stellung Adornos zur metaphysischen Überlieferung ist also nicht nur abweisend und schon gar nicht affirmierend gegenüber einem nurmehr „nachmetaphysisches Denken“. Es ist vielmehr deutlich, dass Metaphysik, wie sonst vielleicht nur die Kunst, die Möglichkeiten eines anderen, besseren Lebens festhält, die in der Positivität gesellschaftlicher Mechanismen sonst verschüttet würde. Sie ist jenes Kriterium, dessen wir bedürfen – in Ermangelung eines anderen, gewiss, und weil das Schöne, wie Nietzsche mit Stendhal

654 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 155 f. 655 W. Beierwaltes, Adornos Nicht-Identisches, in: ders., Identität und Differenz, Frankfurt/Main 1980, S. 369 ff.

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wusste, „une promesse de bonheur“ ist.656 Doch darin liegt noch mehr: Allein der Umstand, dass nach Adornos Diagnose Metaphysik in den Augenblick ihres Sturzes treibt, legt die Erwartung einer gedanken-losen und sich immer weiter bestialisierenden Weltentwicklung nahe. Deshalb bedarf nicht nur die Metaphysik, sondern auch die selbst-depravierte Kultur einer Solidarität. So verdankt sich Adorno eine der schönsten Aussagen über vergangenes Denken. „Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es lässt sich nicht ausreden, dass etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Ein Residuum von Glück bedeutet es, wenn das Unglück bestimmt werden kann, indem es ausgesprochen wird. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert“.657 3. Kunst als Methexis am Absoluten Die Grundlinie der ‚Negativen Dialektik‘ setzt sich in die ‚Ästhetische Theorie’ hinein fort. Denn es ist unstrittig, dass gerade im Fokus Ästhetischer Theorie die Kategorie des Nicht-Identischen weiter Kontur gewinnt. Dabei hält Adorno auch die gesellschaftliche Vermitteltheit von Kunst fest. Sie ist aber nicht in den marxistischen Schemata von Überbau und Unterbau einzufangen. Schon 1930 prägt er seine Formulierung für die Relation: „Im fensterlosen dichten Werk wird der Autor der Geschichte gewahr“ .658 In der Art von fensterlosen Monaden, so in der ‚Ästhetischen Theorie‘, stellen die Kunstwerke vor, was sie nicht selbst sein können. Dies gibt die Möglichkeit, das Kunstwerk als „geschichtsphilosophische Sonnenuhr“ zu begreifen, der der geschichtliche Stand des Geistes abgelesen werden kann. Wir können hier nicht im Einzelnen auf Adornos ästhetischen Kanon Bezug nehmen, einen Kanon der Moderne, musikalisch namentlich von Schönberg und seiner Zwölftonkunst geprägt und von Alban Berg, literarisch von Proust, Valéry, Joyce und Beckett. Am präzisesten lässt sich aber an der ‚Philosophie neueren Musik’, der Art wie Adorno die Innovation Schönbergs beschreibt,

656 So die berühmte inkunabelhafte Formulierung von Nietzsche im Blick auf Stendhal. 657 Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 198 f. 658 Adorno, Reaktion und Fortschritt, in: GS. XVII, Moments musicaux, Impromptus. Eine starke Resonanz darauf, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 15.

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die Realisierung des Nichtidentischen erkennen. Der avancierte Komponist arbeitet sich an der Tradition ab und bildet von hier her die „Spontaneität des kritischen Ohrs“.659 Schon Robert Schumann wusste, weitgehend verkannt in den ästhetischen Maßstäben seiner Zeit, dass das wichtigste für den Musiker sei, sein inneres Ohr zu klären.660 Er kodifiziert nicht neue Regeln. Er gelangt zum Wissen, „wovor man sich zu hüten habe, nicht aber wie es zu halten sei“.661 Nun folgt Adorno einer Bewegungsrichtung, die exakt gegenläufig ist zu der Aufstellung eines wie auch immer begründeten Klassizitätsideals und einer hermeneutischen Horizontverschmelzung. Methodisches Prinzip ist vielmehr in einer Umkehrung des Zeitstrahls, „dass von den jüngsten Phänomenen her Licht fallen soll auf alle Kunst anstatt umgekehrt nach dem Usus von Historismus und Philologie, die bürgerlichen Geistes zuinnerst nicht möchten, dass etwas sich ändere. Ist Valérys These wahr, das Beste im Neuesten entspreche einem alten Bedürfnis, so sind die authentischen Werke Kritiken der vergangenen. Ästhetik wird normativ, indem sie solche Kritik artikuliert. Das aber hat rückwirkende Kraft; von ihr allein wäre einiges von dem zu erwarten, was allgemeine Ästhetik bloß vorspiegelt.662 Dabei begreift Adorno die Moderne als eine unhintergehbare Zäsur: „Die Male der Zerrüttung“ sind ihr Echtheitssigel, in ihr artikuliert sich, und dies höchst bewusst!, dass es keine Herrschaft des Allgemeinen über das Einzelne geben könne“. Deshalb klaffe auch zwischen der naturbeherrschenden – naturverfallenen Gesellschaft und solchen Kunstwerken ein nur umso dramatischerer Hiatus auf. Solche Kunst ist, niemals unvermittelt freilich, in eminenter Weise ‚promesse de bonheur’ (ein schon Nietzsche sehr beschäftigender Gedanke). „Die ästhetische Einheit des Mannigfaltigen erscheint, als hätte sie diesem keine Gewalt angetan, sondern wäre aus dem Mannigfaltigen selbst erraten. In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden. Dadurch dass Kunst ihrer eigenen Identität mit sich folgt, macht sie dem Nichtidentischen sich gleich: das ist die gegenwärtige Stufe ihres mimetischen Wesens“.663 Solches Glück wird aber in der modernen Kunst nurmehr durch die Erkaltung des Materials oder in der Dissonanz erfahren werden können. Die Inver-

659 Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. 110. 660 Im Fokus der Musiktheorie entfaltet diese gleichsam absolute Metapher ihre besondere Strahlkraft. Sie reicht jedoch deutlich darüber hinaus. Richard Klein, ClausSteffen Mahnkopf (Hrsg.): Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 1998. 661 Zit. nach R. Wiggershaus, Theodor W. Adorno, München 1998, S. 109, Vgl. auch Ästhetische Theorie, a.a.O., S. S. 15, wo die fensterlose Monadizität sinnbildlich auf das Kunstwerk bezogen wird. 662 Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 533. 663 Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 202.

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sion von der Harmonie in die Dissonanz ist eine dramatische Zäsur, gleichsam das Äquivalent zur Methodizität negativer Dialektik: „Die Dissonanz, Signum aller Moderne, gewährt, auch in ihren optischen Äquivalenten, dem lockend Sinnlichen Einlass, indem sie es in seine Antithese, den Schmerz transfiguriert.“664 Damit wird die Erwartung einer Transfiguration des Schmerzes in die Glättung der Züge, die noch Nietzsche beschwor, zurückgenommen. Das Nicht-Identische jenseits des Begriffs ist im Kunstwerk immer nur im Zeichen der Dissonanz bewahrt. Adorno diagnostiziert, aus der Erfahrung der Moderne, die Nicht-Selbstverständlichkeit der Kunst mit äußerster Schärfe. Aber, „dass die Kunstwerke überhaupt da sind, deutet darauf, dass das Nicht-Seiende sein könnte. Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen“.665 Dabei zeigt sich bei Adorno gerade, dass die nicht mehr selbstverständliche Kunst, ihrerseits auf Reflexion hindrängt. Der Wahrheitsgehalt von Kunst ist trivialerweise nicht in einer propositionalen Aussagewahrheit zu bannen. Adorno, darin an einem der tiefsten Bezugspunkte zwischen Wahrheit und Kunst Heideggers Aletheia-Struktur von Wahrheit nicht ganz unähnlich, spricht vom Rätselcharakter solcher Wahrheit. Dieser „blickt aus jedem Kunstwerk verschieden, doch so, als wäre die Antwort, wie der Sphinx, immer dieselbe, wenngleich einzig durchs Verschiedene, nicht in der Einheit, die das Rätsel täuschend vielleicht verheißt. Ob die Verheißung Täuschung ist, das ist das Rätsel. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen“.666 Ästhetische Erfahrung und die Fakturleistung des Künstlers muss insofern zur Philosophie werden. Philosophie aber, die Kunst nachahmte, würde sich selbst durchstreichen. Zu einer Zentralkategorie wird bei Adorno, wie bei Benjamin, die Mimesis:667 Dies mutet eher konventionell an; zudem kann man an Hegels Begriff der ‚Mimesis des Absoluten‘, den Schlusspunkt der Kunst-Religion, denken. Mimesis ist aber auf die innere Verfasstheit des Kunstwerkes selbst bezogen. Sie meint soviel wie ‚Gleichheit seiner selbst mit sich’, eine Art Formgewordener Ausgleichung im Nicht-Identischen, dem das Kunstwerk verschrieben bleibt. Jene Mimesis ist daher, im Sinn der Grundlinien aus der ‚Negativen Dialektik’ auch eine Mimesis an Natur. Gleichsam die Erlösung ihrer Chif-

664 Ibid., S. 29 f. 665 Ibid., S. 200. 666 Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 193. Die Unaufgebbarkeit und Unaufgehobenheit des widerständigen Einzelnen spielt dabei die entscheidende Rolle in einem mikrologischenusammenhang, der eng mit Benjamins Ansatz der Detailversenkung bis ins Passagen-Werk und die Bricolage-Verfahren verflochten ist. 667 Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 38 ff., 174 ff., 226 ff. u.ö. Vgl. dazu J. Früchtl, Mimesis, Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adornno, Würzburg 1986.

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frenschrift. Adorno ist nach Kants dritter Kritik derjenige gewesen, der systematisch die Kategorie des Naturschönen rehabilitiert hat. „Tatsächlich hat die Kunst durch die Spiritualisierung, die ihr während der letzten zweihundert Jahre widerfuhr und durch die sie mündig ward, nicht, wie das verdinglichte Bewusstsein es möchte, der Natur sich entfremdet, sondern der eigenen Gestalt nach dem Naturschönen sich angenähert. Kunst möchte mit menschlichen Mitteln das Sprechen des Nicht-Menschlichen realisieren. Die subjektive Durchbildung der Kunst als einer nicht begrifflichen Sprache ist im Stande von Rationalität die einzige Figur, in der etwas wie die Sprache der Schöpfung widerscheint, mit der Paradoxie der Verstelltheit des Widerscheinenden. Kunst versucht, einen Ausdruck nachzuahmen, der nicht eingelegte menschliche Intention wäre“.668 4. Kritische Theorie der Gesellschaft im Kontext Der Abschluss seiner ‚Ethischen Theorie‘ blieb Adorno versagt. Die ‚Minima Moralia‘ deuten in die Richtung, die diese Studien genommen hätten. Die gesellschaftliche Vermittlung hätte vermutlich auch hier eine wesentliche Rolle gespielt. Nur einige wenige Hinweise sind zu dem Arbeitszusammenhang, dem Kreis um das Frankfurter Institut für Sozialforschung zu geben: Ein Erprobungs- und Forschungsort, der mit dem Jahr 1933 zunächst nachhaltig zerstört wurde. Begründet wurde das Institut in der neugegründeten Frankfurter Universität, einer vom Stadtbürgertum geprägten Institution, durch Carl Grünberg. Die Arbeitsweise wurde durch die Institutionalisierung nach Stiftungsrecht wesentlich gefördert. Dadurch war der Geist der Neugründung der Frankfurter Universität und des Republikanismus in dem Institut präsent, eher als es in einer klassischen Ordinarienuniversität alten Zuschnitts möglich gewesen wäre. In der Emigraton wurde das Institut mühevoll zusammengehalten. Als Max Horkheimer das Direktorat von Grünberg übernahm, pointierte er seine Konzeption programmatisch in die Differenz zwischen traditoneller und kritischer Theorie. Was Adornos negative Dialektik mit höchster spekulativer Kraft entfalten sollte, das hatte Horkheimer zunächst nur skizziert als Programm einer ‚unabgeschlossenen Dialektik’.669 Horkheimers Dialektikbegriff bezieht sich zwar auf Hegel, aber im deutlichen Bewusstsein, dass zwischen Sein und Denken in hochtechnisierten, spätkapitalistischen Gesell668 Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 121. 669 Dazu A. Schmidt, A. Schmidt: Die ursprüngliche Konzeption der Kritischen Theorie im frühen und mittleren Werk Max Horkheimers, in: A. Honneth und A. Wellmer (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10.-15. Dezember 1984 in Ludwigsburg. Walter de Gruyter, Berlin, New York 1986, S. 89–112.

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schaften keine Konsistenz bestehen könne: „Der Widerspruch erweist sich noch heute als treibende Macht; und zwar nicht bloß zwischen Mensch und Natur, vielmehr zwischen den Menschen selbst mit ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten und der Gesellschaft, die sie hervorbringen“.670 Die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Leben könne sich daher nicht nur in der Theorie vollziehen, sie erfordere uno actu Schärfe des Verstandes und – vielleicht – den Einsatz des eigenen Lebens. Diese aktivische Realisierung wird später, im Umkreis der Studentenrevolte von 1968, gerade nicht mehr Sache der Kritischen Theorie sein. Mit der Emphase auf der „kritischen Theorie“ verbindet sich bei Horkheiner eine deutliche Kritik an einem positivistisch linearen Szientismus, allerdings findet man gerade bei dem frühen Horkheimer Affinitäten zu den Tendenzen des amerikanischen Pragmatismus und die Tendenz zu einer schrittweisen Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse.671 Diese kann allerdings nicht anders denn durch den Aufweis von Entfremdung, Leid und Schmerz Gestalt gewinnen. Deutlich ungebrochener als Adorno, expliziert Horkheimer den Zusammenahng von gesellschaftlicher Vermittlung, materialistischen Umständen und der Suche nach einem anderen, besseren Zustand. Der Materialismus bricht die „höchste Stufe des Glücks“ in vergangener idealistischer Philosophie, eben die Selbstanschauung der Vernunft, in reale Gesellschaftszusammenhänge hinein um. „Vom Idealismus bleibt dabei übrig, dass die Möglichkeiten des Menschen noch andere sind, als im heute Bestehenden aufzugehen, andere als die Akkumulation von Macht und Profit“.672 Horkheimer war als Soziologe ein scharfsichtiger Diagnostiker gesellschaftlicher Entwicklungen. Er hatte als Generaldirektor des ererbten väterlichen Unternehmens, einer Textilfabrik in Stuttgart, begonnen. Konkrete ökonomische Denkformen waren ihm nicht fremd. In den späten dreißiger Jahren kulminierte in seinen Augen einerseits die Diskrepanz zwischen real ökonomischen Möglichkeiten, einer allgemeinen Wohlfahrt und faktischer Massenverelendung; andrerseits erkannte er gegenüber dem orthodoxen Marxismus, dass sich daraus keinerlei Hinweis auf eine revolutionäre Situation ergab. Ähnlich wie Marx zeichnet auch Horkheimer das Bild eines arbeitsvernichtenden kapitalistischen Moloch: Die ökonomischen Programme der (links-)liberalen Regierungen seien, so schließt der frühe Horkheimer, der Unternehmer-Marxist, der seine Sekretärin heiratet, illusionär.

670 M. Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 4, S. 292 f. 671 M. Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. In: Gesammelte Schriften. Band 6: „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ und „Notizen 1949–1969“, Frankfurt am Main 1991, S. 63. In diesem Zusammenhang ist ein starker Einfluss von Max Scheler auf den frühen Horkheimer unverkennbar. 672 Horkheimer, Gesammelte Schriften Band IV, S. 220.

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Deren Interesse liegt in Kapitalakkumulation und Automatisierung, nicht in der anachronistischen Methode der frühkapitalistischen Unternehmer, Arbeit bereitzustellen. Arbeitskräfte erscheinen vor dieser neuen, aber kalten Optik geradezu als die Flanke des Kapitalismus, weil durch Streiks die Effizienz jederzeit gestört werden kann. Dies prägt Horhkeimers Konzeption vom Nationalsozialismus als einem integralen Etatismus von Gunsten des Kapitals. In einer totalitär autoritären Gesellschaft werde diese irrationale Rationalität (des Privatkapitalismus) zur (staatskapitalistischen) Verrücktheit mit Methode: „Es triumphiert der abstrakte Fortschritt […]. Dynamik ist die Seele des Faschismus. Moralische Tabus und Ideale werden verabschiedet; wahr ist, was sich als nützlich erwiesen hat. Kann es irgendwer wagen, die Nützlichkeit der Geheimpolizei, der Konzentrationslager, der Euthanasie, des Antisemitismus und der gnadenlosen Mobilmachung des Volkes zu bezweifeln“. Der moderne Kapitalismus markiert Horkheimer zufolge schon vor der faschistischen Bestialisierung den Ansatz zum tiefen Zivilisationsbruch. Horkheimers Beitrag zu der ‚Dialektik der Aufklärung’, die primär Geist und Stil Adornos atmet, liegt nicht zuletzt in dem, was er „Rackettheorie“ nannte – des Musters einer Rivalisierung zwischen verschiedenen Cliquen und Parteiungen als der bestimmenden sozialen Ordnung. Dieses Verhalten, „so wie es für das Verhalten der Herrschenden gegenüber den Beherrschten typisch war, ist jetzt repräsentativ für alle menschlichen Beziehungen, selbst für jene innerhalb der Arbeiterschaft“.673 Vereinheitlichungszwang und jene selbstzerstörende Cliquenwirtschaft verbinden sich zu einem Syndrom. In seinen Essays ‚Zur Kritik der instrumentellen Vernunft’ (‚Eclipse of reason‘) hat Horkheimer die Diagnosen konsequent fortgeschrieben, im Blick auf eine Selbstzerstörung der Vernunft, die sich des Überschusses über Zweckrationalitäten hinaus nicht mehr bewusst ist. Jener transzendente Überschuss geht auf mythische Zeiten zurück. Das Voltairesche Vergnügen, einen Garten zu pflegen, notiert er dort, „geht auf alte Zeiten zurück, in denen die Gärten den Göttern gehörten und für sie bebaut wurden. Der Sinn für Schönheit in der Natur wie in der Kunst ist durch tausend zarte Fäden mit diesen abergläubischen Vorstellungen verknüpft […]“. Solche Fäden seien in einer in Irrationalität umschlagenden, fehlgeschlagenen Zivilisation abgeschnitten worden. An ihre Stelle tritt ein äußerlich oberflächliches Prunken. Das Vergnügen sei schal geworden. Und nicht anders sei es mit Ideen oder Idealen wie Freiheit, Humanität oder Gerechtigkeit. Sie „müssen das negative Element bewahren als die Negation der alten Stufe der Ungerechtigkeit oder Ungleichheit und zugleich die ursprüngliche, absolute Bedeutung konservieren, die in ihren grauenhaften Ursprüngen wurzelt. Sonst werden sie nicht nur gleichgültig, sondern unwahr“.674

673 Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 12, S. 101. 674 Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 6, S. 5.

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Aufschlussreich und unerhört klarsichtig sind die skeptischen Einsichten, die Horkheimer nach der Rückkehr aus der Emigration nach Deutschland in den späten vierziger Jahren formuliert. Diejenigen, die wirklich gegen den Nazismus gewesen waren, seien wieder im Hintertreffen, während die Mehrheit der Deutschen nachgerade wahllos zu Stalin und zu General Motors übergelaufen seien.675 Über seinem späten Denken in den späteren Jahren, nur noch in kürzeren Vorträgen und Interviews dokumentiert, liegt ein tiefer Pessimismus. Schopenhauer, nicht mehr Hegel wird zu seinem philosophischen Mentor. Dahinter aber akzentuiert sich, bei dem ganz und gar assimilierten deutschen Juden Max Horkheimer die ‚Sehnsucht nach dem ganz Anderen’, ein ambivalenter Gottesbegriff. Von Horkheimers Mimikry im Establishment der Bundesrepublik war andeutungsweise bereits gesprochen worden, als es um die Selbstzensur der Frühschriften der „Kritischen Theorie“ ging. Diese sollte in keiner Weise mit Marxismus verwechselt werden. Horkheimer war in der bundesdeutschen Öffentlichkeit aus guten Gründen darauf bedacht, nicht in das Ansehen einer marxistischen Unterwanderung zu geraten. Auch hier zeigte sich seine diplomatisch politische Umsicht, aber auch eine Blockierungstendenz des Arrivierten, etwa gegenüber Jürgen Habermas und der Untersuchung ‚Student und Politik’. Adorno konnte seinen Assistenten gegen den Freund nicht schützen, Habermas kündigt nach einiger Zeit eines schwierigen Comments unter dem Institutsdirektor Adorno freiweillig. Die Entfremdung gegenüber der nachkommenden Generation hatte Adorno in seinem Todesjahr 1969 am eigenen Leib zu erfahren. Die Antworten und Anwendungen zur revolutionären Handlung, die die junge Generation erwartete, konnte und wollten die Väter Kritischer Theorie nicht geben. Das Institut für Sozialforschung wurde besetzt, Adorno ließ die Polizei rufen, um den Betrieb sichern zu können, fragte dann aber besorgt die aus dem Gewahrsam Entlassene, ob sie gefoltert worden seien. Ein schmerzlicher Endpunkt.676 Resümiert man die bewegte Geschichte des Insituts für Sozialforschung und der Frankfurter Schule, so wird Horkheimer als ‚Spiritus rector’, zugleich aber als Diplomat, als graue Eminenz zwischen den verschiedenen Personen und Konzeptionen sichtbar, dem Machtspiele und Intrigen nicht fremd sind. Er wurde Rektor der Frankfurter Universität und war bis in die damalige Bundesregierung hinein einflussreich. Das Verhältnis zu Adorno war eine prekäre Mixtur aus zärtlicher Freundschaft (in den Briefen dokumentiert: „Max-Teddy“, Horkheimer als „Mammut“ Adorno als kleines „Nilpferd: „Bauchschleifer“), die erst spät zum Du überging einerseits und einer Herr-Knecht-Bezie-

675 Ibid., S. 10 ff. 676 Vgl. zur Genealogie der Entfremdung mit der jüngeren Generation W. Kraushaar, Die blinden Flecken der 68er-Generation, Stuttgart 2018.

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hung andrerseits, wie sie Hegel nicht besser hätte ausmalen können.677 Adorno, der Horkheimers Nachfolger als Institutsdirektor geworden war, traf bis zuletzt wesentliche Entscheidungen nicht ohne Horkheimers Einwilligung, als der sich schon lange ins sonnige Tessin zurückgezogen hatte. Die Erfahrungen der Emigration (etwa gegenüber Benjamin die Mahung: ‚Sie hätten Ihrerseits den Kontakt zu uns halten müssen’) wirkten nach. Flankiert war dieser Zusammenhang von anderen, teilweise für die intellektuelle Szenerie außerordentlich wichtigen Exponenten, darunter Friedrich Pollock, mit dem Horkheimer eine lebenslange Haus- und Denkgemeinschaft pflegte, obgleich Pollock kaum etwas schrieb. Höchste Prominenz erreichte aus dem weiten und ganz und gar nicht statischen Komplex der Frankfurter Schule heraus in späten Jahren Herbert Marcuse. Von Heidegger geprägt und in den späten Zwanzigerjahren nach Franfkurt gekommen, unternahm er den Versuch, die Hegelsche Ontologie und ihre Marxsche Inversion „vom Kopf auf die Füße“ mit Heideggerscher Existenz-Ontologie zu verbinden.678 Die negative Dialektik bleibt Marcuse, bei vergleichbaren gegenwartsanalytischen Anliegen, lebenslang fremd. In seinen späteren Werken diagnostiziert er den ‚one dimensional Man’ des modernen industriellen Prozesses und der Kapitalmärkte. Er stellt zugleich fest, dass die selbst deklarierte offene westliche Gesellschaft zu einer ‚repressiven Toleranz’ neige. All dies ist in der Grundgeste der von Horkheimer konstatierten ‚Verwalteten Gesellschaft nicht unähnlich.679 Im Einzelnen votiert Marcuse freilich, der in den USA bleiben und in San Diego lehren sollte, vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung für eine Selbstbefreiung des Menschen, die den Verblendungszusammenhang durchbrechen soll. Er rezipiert Freud, namentlich in seinem Buch ‚Eros and Civilization’ und verbindet ihn mit dem Gedanken an den Menschen als sich befreiendes Gattungswesen in Marx’ ‚Pariser Manuskripten’.680 Gegen Prometheus, den Kulturhelden der Mühsal (ponos) müsse man Orpheus und Narziss setzen: „Ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern singt; die Geste, die gibt und empfängt; die Tat, die Freude ist und das Ende der Mühsal der Eroberung, ist die Befreiung von der Zeit, die

677 Vgl. zu diesen Konstellationen auch die umfassende Biographie von S. MüllerDohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt/Main 2003, S. 234 ff., S. 523 ff. u.ö. 678 Dazu H. Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geshichtlichkeit, Frankfurt/Main 31975. Die Verbindung zu Heidegger ist hier unverkennbar. 679 Vgl. dazu Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt/Main 1973, in: Schriften, Band 9. 680 H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft a.a.O., amerikanisches Original Eros and Civlization, 1955.

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den Menschen mit Gott, den Menschen mit der Natur eint“.681 Dies hat sein Vorbild in Marx’ Auslegung des Naturprozesses: „Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen“.682 Im natürlichen Gattungsverhätlnis der Geschlechter ist sein Verhältnis zur Natur unmittelbar eins mit jenem zum Menschen, dekretiert Marcuse. Hier spielt ein Feuerbachscher Impetus hinein. Wenn derart eine hedonistische Verheißung am End- und Zielpunkt steht, kann die Kritische Theorie auch unmittelbar zur Aktivität werden. Dies kam der rebellischen Jugendbewegung und sogar dem Hippie-Zeitalter entgegen. Originär ist auch Marcuses Einsicht, dass die ‚psychischen Atome der gegenwärtigen Gesellschaft’ selbst so explosiv seien wie die gesellschaftliche Produktivität. Er sucht nach einer ‚höheren Form der Kultur’, in der dem ‚homo ludens‘ sein Recht zuteil wird, nicht als Elite-, sondern als Massephänomen. Allerdings entgeht Marcuse nicht der Gefahr, dass jenes glückende Leben, das von Benjamin und Adorno her nur in der Schwebe eines negativ-messianischen Vorbehalts in Allegorie oder Symbolik der Kunst und damit gebrochen seine Authentizität entfalten konnte, in einer unmittelbaren gattungs-bezogenen Selbstrealisierung des Menschen aufgehoben wird. Er legt nahe, es könne eine Auflösung der Entfremdung, des Unglücks und der Zeitverstricktheit geben, wenn bestimmte emanziaptorische Parameter erfüllt sein. Daraus kann im schlechtesten Fall ein platter Aktionismus hervorgehen, oder eine psychedelisch sexuelle Befreiungsillusion. Der späte Marcuse engagiert sich so, wie es die Studentengeneration von 1968 von ihren Mandarinen gewünscht hatte. Er wendet sich der Frauenbewegung zu und gehört den Komitees zur Befreiung von Angela Davies an. Seine Einlassungen im Umkreis des Jahres 1968 sind von Peinlichkeit und einer gewissen Anbiederung an die junge Generation nicht frei. Feministischer Sozialismus, Androgynismus: in solchen Schlagworten wird man aus dem Rückblick weniger eine Reminiszenz des gleichermaßen Politischen und Privaten der Jenener Frühzeit der Romantik sehen, als vielmehr die Aura der Lebensreformbewegungen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Im ‚Grand Hotel Abgrund’, wie Lukács die Lebenswelt der Frankfurter Schule mit sardonischer Ironie bezeichnete, war Marcuse nicht zu Hause, ebenso wenig wie Leo Löwenthal, dessen literatursoziologische Studien vor allem an der Trivialkunst und ihrer Übergängigkeit in den Faschismus (bei Knut Hamsun) Interesse

681 Ibid., S. 25. 682 Die Verbindungen zum Marxschen Naturbegriff zog früh Alfred Schmidt weiteraus, vgl. ders., Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx, Frankfurt/Main Nachdruck 41993, siehe jetzt auch ders., Marx als Philosoph. Studien in der Perspektive Kritischer Theorie. Hrsg. von Michael Jeske und Bernard Görlich, Springer 2018.

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zeigten. Die ‚Permanenz der Kunst’ sah er als ein Welt- und Todesbewusstsein in der eigenen Zeit, ohne sich den Negativitäten der Kunst der Moderne auszusetzen. Das ‚Grand Hotel Abgrund’, so despektierlich von einem Philosophen der Aktion wie Lukács jenes Epitheton gemeint war, verweist darauf, dass Kritische Theorie sich eine Unabhängigkeit auch und nicht zuletzt durch die Kontrapunktik zur großen Philosophie zwischen Kant und Hegel sicherte. In einem Brief an Adorno, in dem die Rückkehr aus dem Exil erstmals erwogen wird, hat Horkheimer in der unmittelbaren Nachkriegszeit das Folgende höchst treffend notiert: „die Tatsache, dass die große deutsche Philosophie weniger und mehr war als nur politische Philosophie, bringt eine Ambiguität der Deutschen selbst zum Ausdruck. Wenn sie niemals wirkliche Citoyen wurden und so teilweise unzivilisiert blieben, wurden sie doch auch niemals völlige Bourgeois, söhnten sich also nicht selbstgefällig mit dem intellektuellen und politischen status quo aus“,683 eine Gefahr, die Horkheimer und Adorno übereinstimmend gegenüber der Nützlichkeitsorientierung angelsächsischer Völker kritisierten. Hier her gehört eine gewisse Weltfremdheit, das artistische Lebensspiels, Adornos höchst liebenswürdige Rückwendung in die Kindheit, jenes Glücksversprechen, das wir wohl als das eigentlich mögliche Glück zu identifizieren haben; Amorbach, das Hotel Post, das Adorno als den einzigen Ort auf diesem fragwürdigen Planeten egriff, an dem er zuhause sei: All dies weckt Sympathie, doch die Zeit war danach, dass sie aus allen Paradiesen vertreiben konnte.684

683 Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 12, S. 192 f. 684 Th. W. Adorno, Kindheit in Amorbach. Bilder und Erinnerungen, Frankfurt/Main 2003.

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Der Kritische Rationalismus ist neben der Kritischen Theorie die zweite Hauptrichtung der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die über den Bruch von 1945 hinweg lebendig bleibt. Beide erwiesen sich nich erst im Positivismusstreit der sechziger Jahre als Antipoden. Der Rang des Klassikers ist dem 1902 geborenen Popper sicher – und dies in einem solchen Maß, dass zentrale Sätze und Aussagen Karl Poppers gar nicht mehr des Nachweises der Autorschaft bedürfen. Doch wer in diesem Sinn in das allgemeine Bewusstsein eingegangen ist, der wird, wie schon Goethe wusste, häufig zitiert, doch nicht mehr so gelesen, wie er es verdienen würde. So muss es nicht wundernehmen, dass Popper in Philosophischen Seminaren und der allgemeinen philosophischen Debatte heute längst nicht so präsent ist, wie es sinnvoll wäre. Die in solchen Fällen gängige Frage, was von Poppers Denken bleibt, kann die Antwort nach sich ziehen, dass erstaunlich viel bleibt und manches an Poppers Vermächtnis überhaupt erst noch zur Rezeption ansteht. In diesem Sinn besteht auch ein beachtliches Potential, um mit Popper gegen ihn und über ihn hinaus zu denken. Deshalb räume ich ihm im Denkzusammenhang des 20. Jahrhunderts eine zentrale Position ein, auch wenn ich selbst sicher nicht die Position des „Kritischen Rationalismus“ einnehme, die teilweise selbst zu einem neuen Dogmatismus geworden ist. Im Sinn eines rationalen Verständnisses von Philosophie und Wirklichkeit halte ich es indes für unerlässlich, vom Kritischen Rationalismus zu lernen. Gerade für eine spekulativ hermeneutisch orientierte Philosophie kann der Kritische Rationalismus eine Art Gegengeift sein. Es mag sein, dass ich gerade Akzente hervorhebe, die in der Schule des Kritischen Rationalismus selbst weniger hoch im Kurs stehen. Unstrittig ist Popper ein exemplarischer Geist des 20. Jahrhunderts wie wenige, geboren im Wien nach der Jahrhundertwende, das neben Paris wohl die zweite Hauptstadt Europas war. Der Vater war ein zum Protestantismus konvertierter jüdischer Rechtsanwalt. Ein bildungsbürgerlicher Habitus des Elternhauses prägte die Anfänge. In seiner schönen Autobiographie ‚Ausgangspunkte‘ hat Popper geschildert, wie er Spinoza, Locke, Kant, Schopenhauer, aber auch schon Mach in der Bibliothek des Vaters fand und studieren konnte. Als junger Mann näherte er sich der kommunistischen Linken in Wien –

685 Der Text dieses Kapitels greift auf einen Aufsatz zurück, der ursprünglich in: Aufklärung und Kritik (1 2016), S. 7 ff. veröffentlicht wurde.

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und war von jener ideologischen Verführung damit ein für alle Mal frei. Als mit der Publikation der Epoche machenden ‚Logik der Forschung‘ (1934) der frühe Ruhm in greifbarer Nähe schien, endeten in Austrofaschismus und Annexion jäh alle Möglichkeiten in Österreich. Popper ging nach England, tief beeindruckt von Geist und Institutionen einer tatsächlichen Offenen Gesellschaft mit langer Tradition. Der Weg führte ihn weiter auf die andere Seite des Erdballs, nach Neuseeland, wo er seine groß angelegte Abrechnung mit den Feinden der Offenen Gesellschaft formulierte. 1946 erfolgt die Berufung an die London School of Economics, zunächst als Dozent, dann seit 1949 als Ordentlicher Professor für Logik und wissenschaftliche Methode. In Penn außerhalb von London, gerade noch im Radius der Residenzpflicht, nimmt er seinen Wohnsitz und lebt als einer der wachsten Geister und Zeitgenossen seiner Epoche, doch ohne Radio und Fernsehapparat. 1984–86, nach dem Tod seiner Frau, versucht er noch einmal, sich dauerhaft in Wien niederzulassen – und sieht sich erneut von der österreichischen Heimat und ihren Kontexten tief enttäuscht. Der weltberühmte über achtzigjährige Denker wird keineswegs in der Weise willkommen geheißen, wie dies angemessen gewesen wäre. In seinem englischen Alterswohnsitz empfängt er bis in die letzten Lebensjahre hinein internationale Besucher aus aller Welt, u.a. Helmut Schmidt oder den Dalai Lama. Ein Weltdenker in Zurückgezogenheit. Seine Londoner Seminare waren berühmt, doch zugleich waren sie angesichts der Ansprüche, die Popper stellte, gefürchtet. Man sollte nicht vergessen, dass Popper nie Teil der akademischen englischen Philosophie war. Gegenüber Wittgenstein machte er früh seine starken Vorbehalte deutlich, zumal gegenüber der Reduktion von Sachproblemen auf das berühmte Tröpfchen Sprachlehre. Gerade darin dürfte ein nicht unwesentlicher Teil von Poppers Bedeutung zu sehen sein, dass er die Sachfragen der Philosophie ins Zentrum stellte und an einem objektiven, ja absoluten Wahrheitsbegriff als Horizont festhielt, dem man sich freilich nur annähern könne.686 So maßgebend sein Denken ist, es ist zeitlebens in einem markanten Abstand zum akademischen Mainstream entstanden. Diese Distanz erwies sich als sehr fruchtbar. Popper promoviert 1928 bei dem großen Sprachtheoretiker Karl Bühler mit einer Untersuchung ‚Zur Methodenfrage der Denkpsychologie‘. Dennoch hat Popper sich im Sinn seines klassischen Understatements nie als einen profes-

686 Vgl. dazu M. Geiger, Karl Popper. Reinbek 1994, siehe auch Poppers eigene Autobiographie: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung. Hamburg 1979, sowie in sehr geschickter Verbindung von Denken und Leben A. Zimmer und M. Morgenstern, Karl R. Popper. Eine Einführung in Leben und Werk. Tübingen 22015.

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sionellen Philosophen verstanden. Der junge Realschullehrer wurde in die philosophischen Debatten um den Logischen Positivismus hineingezogen und er profilierte sich als scharfer Kritiker dieser Schule und ihrer Reduktionismen. Schon in seinem Frühwerk ist der ganze Popper in Umrissen erkennbar. Bei aller Lernfähigkeit, bei allen eventuell strittig bleibenden Ansätzen seines Denkens, ist es von einer hohen Stringenz und beeindruckenden Konsequenz geprägt. 1. Wissenschafts- und Erkenntnistheorie Karl Poppers Auseinandersetzung mit dem Logischen Positivismus und seinem Versuch einer Fundierung von Erkenntnis auf reine Empirie, Induktion und deren Dokumentierung in Basissätzen wird in einem Manuskript niedergelegt, das 1930−33 entsteht. Popper präpariert dabei zwei zentrale Probleme heraus: nämlich (1) das Induktionsproblem und (2) das Problem einer Abgrenzung von positiver Wissenschaft und Metaphysik, ohne dass die metaphysischen Fragen deshalb als ‚sinnlos‘ bezeichnet würden.687 Das Design der frühen Auseinandersetzung ist in der später veröffentlichten Monographie ‚Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie‘688 fassbar. Popper lässt seinerzeit einen dezidiert und bewusst eingenommenen kantischen Standpunkt erkennen. Er verweist darauf, dass die beiden gegenüber dem Positivismus zur Geltung zu bringenden Fragen genau die Fragen sind, denen Kant sein kritsches Projekt widmete. Die ‚Transzendentale Analytik‘ galt dem Induktionsproblem; die ‚Transzendentale Dialektik‘ dem Abgrenzungsproblem.689 Vom Humeschen Skeptizismus aus habe Kant, im Licht dieser beiden Probleme auf die Newtonsche Physik geblickt und in diesem Setting die Frage, wie apriorische Erkenntnis möglich sei, entwickelt. Damit ist für Popper ein Standard für die Erkenntnistheorie gesetzt, der nicht unterschritten werden darf. So wie Kant auf Hume, bezieht er sich auf die Positivisten des Wiener Kreises. Jene Metakritik ist von der Art, dass sie in jeder Generation vor dem veränderten wissenschaftlichen Standard neu zu entwickeln ist. Denn solange es Wissenschaft gibt, wird es die Faszination durch reduktionistische Theorieformen geben. Um in die heutige Aktualität zu blicken, dürfte die Kantisch Poppersche Kritik in der Epoche neuer Leitwissenschaften, Neuro- und Biowissenschaften

687 Karl Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, hg. von T. E. Hanssen. Tübingen 1979, S. 17 ff. 688 Vgl. zur Geschichte der frühen Monographien auch: L. Schäfer, Karl R. Popper. München 1988, S. 35 ff. 689 Popper, Grundprobleme, a.a.O., S. 17 f. und S. 57 ff. Man wird stärker eine originär Kantische, als eine neukantianische Struktur bei Popper identifizieren können.

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neue Aktualität gewinnen. Ein Wissenschaftstheoretiker und Philosoph seines Ranges ist aber bislang nicht im Blick. Poppers zentrale Einsichten in dem frühen Manuskript seien knapp resümiert: – (1) Wissenschaft und Erkenntnis sind nicht allein von der formalen Logik aus zu gewinnen. Es bedarf dazu auch der „Tatsachen der empirischen Wissenschaften“ und ihrer faktischen Erkenntnis. – (2) Weiter formuliert er eine grundlegende Kritik an der positivistischen Erwartung, aus Sinnesdaten die Basis für Erkenntnis zu beziehen. Popper formulierte eine „Theorie der Darstellung“, die über den experimentell fassbaren Bereich hinausgeht und Prognosen erlaubt. In diesem Zusammenhang bestreitet Popper mit Hume die Möglichkeit von Induktionsschlüssen.690 Induktionsschlüsse sind nicht nur Allgemein- oder gar Universalerkenntnis, sondern auch für Einzelerkenntnis unmöglich oder unzureichend. – (3) Die bloße Existenz von Erfahrung berechtigt deshalb zur Annahme deduktiver Naturgesetze. Damit ist die Berechtigung der Kantischen Frage nach der Bedingung der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori eingeholt. Popper versteht Naturgesetze als „heuristische Fiktionen“.691 Ihrer apriorischen Begründbarkeit widerspricht er und nimmt insofern geringere Voraussetzungen in Anspruch als Kant. Insofern die Naturgesetzfiktionen den Erfahrungen vorausgehen, sind sie ‚apriorisch‘, wenn auch nur in einem funktionalen Sinn. – Popper weist in einer brillanten immanenten Kritik den positivistischen Grundwiderspruch nach: Der Positivismus beschränkt sich einerseits programmatisch auf bloße Beobachtung und erhebt andrerseits einen totalisierenden Anspruch. 692 So müssen sich innerhalb des Positivismus Antinomien wie jene zwischen Konventionalismus und Empirismus, Optimismus und Skeptizismus ergeben, die empirisch nicht widerlegbar sind. Die ‚Logik der Forschung‘, die in dem Schicksalsjahr 1934 erscheint, setzt eben hier an. Sie ist ja im Grunde eine stark gekürzte und prägnant fokussierte Version des großen frühen Projektes. Zunächst ist sie ihrer Intention nach eine Logik des Entdeckens („discovery“) oder der Genese von Einsicht.693 Doch dabei bleibt sie nicht stehen. Vielmehr geht es um die Geltung von Er-

690 Ibid., S. 66. 691 Ibid., S. 78 ff. Dies bedeutet auch eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem ‚Fiktionalismus‘ der Als-Ob-Philosophie Vaihingers, der Popper aber nicht folgt und das Problem auf die „Heuristik“ zurückführt. 692 Dazu ibid., S. 59 und S. 310 ff. 693 Vgl. zum Problem einer Logik der Entdeckung R. Enskat, Wahrheit und Entdeckung. Logische und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagenkontexte. Frankfurt/Main 1986.

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kenntnis und deren Rechtfertigung („justification“). Insofern bewegt sich der frühe Popper, was zu wenig beachtet wird, in einem ähnlichen Interessensfeld wie Husserl und Frege – auch ihnen geht es um die Wiedergewinnung des Ranges und des Begründungsraums der Logik und ihrer Geltungsansprüche, die nicht auf eine Psychologie der Denkakte und auch nicht auf eine historische Rekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis zurückzuführen sind. In der ‚Logik der Forschung‘ wird nochmals explizit gezeigt, dass es gar kein Induktionsprinzip gibt. Denn ein solches Prinzip kann nicht in der formalen Logik liegen. Es wäre daher nur im Bezug auf außerlogische Realität zu gewinnen. Doch hier stellt sich die andere Seite des Dilemmas, dass es auch erfahrungswissenschaftlich nicht zu ermitteln ist. Die Crux besteht dann in der Frage, wie überhaupt wissenschaftliche Erkenntnis möglich sein soll. Hier greift Popper zunächst zu einer ‚Logik der Entdeckung‘, die auf eine konsequente Anwendung des „modus tollens“ (des Schlussmodus des Aufhebens) bezogen ist: Wenn p dann q, nun aber nicht q, also nicht p. Das heißt in Poppers Interpretation und erkenntnistheoretischer Applikation: ein einzelner, singulärer Fall kann einen Allsatz widerlegen. Eine jede solche Falsifikation erfordert dann die Eliminierung einer einmal gewonnenen Theorie und die Suche nach einer anderen, besseren, wiederum hypothetisch geltenden Theorie. Theoriebildung verlangt die Suche nach dem Einzelfall, der nicht unter die Allgemeintheorie fällt. Von hier her ist die ‚Logik der Forschung‘ ein eigenes „Lob des Zweifels“; kongenial zu Brechts so benanntem Gedicht. Ohne ins Detail zu gehen, wird man sagen können, dass die radikale Infragestellung der klassischen Physik durch Bohr und Einstein diese Überlegung stark in Gang gebracht hat. Popper ging am Paradigma der neuen Physik auf, dass Theorien an Beobachtungen und ihrer hypothetischen theoretischen Fassung scheitern können.694 Dies ist geradezu die Voraussetzung von wissenschaftlicher Fortentwicklung. Jener Ansatz führt auf ein ethisches Postulat, das direkt in der Forschung realisiert werden muss: Die Gedanken oder Versuche führen weiter, die wir gegen uns selbst denken bzw. anstellen. Alle sogenannten Gesetze sind letztlich nur Gesetzeshypothesen mit vorläufiger Geltung. Die Bedeutung für die Naturwissenschaften und den Zusammenhang zwischen Experiment und Theoriebildung liegt auf der Hand. Doch auch innerhalb einer objektiven Hermeneutik von Geistes- und Gesellschaftswissenschaften empfiehlt es sich, seinen Grundlinien zu folgen.

694 Karl R. Popper, Logik der Forschung. Tübingen 81984, S. 47 ff., siehe auch den Anhang S. 229 ff., sowie ders., Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg 1973, S. 229 ff. (‚Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft‘).

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Man muss sehen, dass für Popper mit dem Induktionsglauben des logischen Positivismus auch dessen antimetaphysische Ausrichtung unglaubwürdig geworden war. Metaphysische Sätze unterliegen in der Tat nicht der empirischen Überprüfbarkeit. Dennoch können nach Popper die spekulative Weite, das Ins Relief-Treiben von Gedanken, wie beispielswiese der Atomismus, dann wieder die wissenschaftliche Evolution befördern.695 Diese spekulativ deduktive Offenheit Poppers scheint mir eine seiner bedeutendsten Einsichten – auch für die Zukunft. Die Analytische Philosophie hätte sich manche Engführungen erspart, wenn sie ihm darin grundlegend gefolgt wäre.696 Hypothesen- und Theoriebildung mit hypothetischem Geltungsanspruch sind für Erkenntnis unerlässlich. Da auch Beobachtungen und Messungen theoriegeleitet sind, implizieren auch sie Hypothesen, die sich ihrerseits notwendigerweise an der Empirie zu bewähren haben. Eben deshalb müssen bei der Falsifikation nicht nur weitere empirische Beobachtungen, sondern immer auch Theorien beteiligt sein. Daraus geht die Forderung einer Pluralität von Theorien hervor, die miteinander in Falsifikation bzw. Verifikation konkurrieren. Von einer alternativen Theoriekonstellation kann man aber nur dann sprechen, wenn die Ersatztheorien zumindest teilweise das Explikationspotential jener Theorien in sich enthalten, die sie verdrängen möchten. Der einzelne beobachtete Fall, der gegen eine Theorie spricht, ist insofern nur der Beginn der Falsifikation. Sie muss sich dann um elaborierte Alternativtheorien bemühen. Dass Beobachtung selbst theoriegeleitet ist, wäre an sich noch kein Mangel. Man sollte nur darum wissen. Die Verlässlichkeit von Beobachtungen wird weiter dadurch getrübt, dass man, wenn man einem bestimmten Theorieparadigma anhängt, vermutlich gar nicht sehen kann oder sehen will, was gegen es spricht. Popper verweist deshalb deutlich auf die Konventionen und den impliziten Dezisionismus, der jede Theorie, auch die vermeintlich voraussetzungslose der Positivisten, leitet. Dies berührt sich übrigens bemerkenswert mit den Arbeiten von Ludwik Fleck und seiner Präparation verschiedener ‚Denkstile‘.697 Umgekehrt erlegt Popper damit der Falsifikation eine hohe Beweis- und Begründungspflicht auf: Sie muss „unabhängig“ überprüfbar sein, auf möglichst stabilen Hintergrundannahmen beruhen und bei einem „ceteris paribus“, also bei sonst gleichen Umständen, gewonnen werden.

695 Dazu Popper, Logik der Forschung, a.a.O., S. 9−20, S. 159 und S. 255 ff. 696 Zu deren Genese vgl. die gute Übersicht bei W. Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne. Weilerswist 2012, 342 ff. 697 L. Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Berlin 2011.

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Für den Geltungsaspekt der ‚Logik der Forschung‘ ist deren Wahrheitskonzeption von entscheidender Bedeutung. Popper zeigt, dass die Verifizierbarkeit mit anzugeben ist, wenn man einen Satz mit Wahrheitsanspruch behauptet. Verifizieren lassen sich freilich nur einzelne Theorien, eine Wissenschaft als Ganze lässt sich weder überprüfen oder falsifizieren. Bedeutsam bleibt deshalb das „Abgrenzungsproblem“ von empirischer Wissenschaft und Metaphysik. Metaphysik ist eben nicht eo ipso die Pseudowissenschaft, zu der sie im Logischen Positivismus erklärt wurde. Mit dem Positivismus bringt Popper mithin auch die Identifizierung von „nicht empirisch“ und „unwissenschaftlich“ zu Fall. Er widmete sich nicht erst am Ende seines Lebens kosmologischen und ontologischen Fragen von größter Reichweite.. Er geht vielmehr schon in der ‚Logik der Forschung‘ davon aus, dass wissenschaftliche Forschung wohl gar nicht möglich sein könne, ohne einen Bezug zu „rein spekulativen theoretischen Ideen“, die er später als „Welt 3“ kodifizieren wird. Metaphysische Aussagen lassen sich als Forschungsprogramme rekonstruieren. Bekannte Poppersche Beispiele sind die Atomistik, aber auch, wohl in einer Erinnerung an gemeinsames Wiener Erbe, die Freudsche Psychoanalyse. Zu nennen wäre auch die Keplersche Konzeption einer Symmetrie und Harmonie des Weltalls, die auf Platon und den Neuplatonismus zurückgeht. Empirische Wissenschaft kann aus den extrapolierten metaphysischen Großtheorien Inspiration für ihre Heuristik gewinnen. Insofern wurzelt sie in der Metaphysik. Es sind weiter metaphysische Annahmen oder Vermutungen, die Zweifel und Falsifikationen auslösen können, jedenfalls wenn der Zweifel nicht auf kontingente Umstände zurückgeht (wie Flemmings Entdeckung des Penicilins durch Verunreinigungen).698 „Normalwissenschaft“ sollte gerade nicht der Normalzustand sein. Noch ganz im Geist von Popper hat daher der frühe Paul Feyerabend konstatiert: „Ein guter Empirist muss ein kritischer Metaphysiker sein“.699 Metaphysisch ist sodann der Realismus, mit dem Popper seinen Anspruch an Wissenschaft eng verbunden hat. In diesem Sinne formulierte er: „Die Aufgabe der empirischen Wissenschaft, die darin besteht, befriedigende Erklärungen zu finden, kann kaum verstanden werden, wenn wir nicht Realisten sind“.700 Diesen Realismus formulierte von ihren Anfängen an die Husserlsche Schule der Phänomenologie mit ihrem Votum: „Zu den Sachen selbst!“. Der 698 Vgl. dazu insbesondere Logik der Forschung, a.a.O., S. 31 ff. (‚Theorien‘), sowie S. 198 ff. (‚Bewährung‘). Sehr aufschlussreich ist auch die Exemplifizierung S. 167 ff. (‚Bemerkungen zur Quantenmechanik‘). 699 Hier zit. nach L. Schäfer, Karl R. Popper, a.a.O., S. 71, original P. K. Feyerabend, „How tob e a Good Empiricist“, deutsch in: L. Krüger (Hg.), Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Köln, Berlin 1970, S. 302−335. 700 Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., S. 227.

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wissenschaftliche Erkenntnisprozess stand freilich nicht zentral im Interesse der Phänomenologie. Sie suggeriert ein phänomenologisches Evidentmachenkönnen des Gesuchten.701 Eine solche eidetische Erfassung sieht Popper nicht vor. Deshalb hält er an der Auffassung fest, bei allem Realismus könne der Forscher nicht erwarten, mehr als ein Vermutungswissen zu gewinnen. Die Bedeutung von Alfred Tarski als Eye Opener für Poppers Wahrheitskonzeption kann kaum hoch genug gewichtet werden.702 Popper betonte nicht ohne Grund, dass Tarski sein eigentlicher philosophischer Lehrer sei.703 Tarski durchbrach das Grundproblem der Wahrheitstheorie, dass Sätze nur mit Sätzen verglichen werden und nicht mit einer Realität außerhalb der Sätze. Er immunisierte sich dagegen, indem er zwischen „Objekt“- und „Metasprache“ streng unterschied. Zwischen Aussagen der Objektsprache, die unmittelbar auf die Tatsachen und Sachverhalte rekurriert, und der Metasprache, die diese Ebene der Realität reflektiert und in theoretische Sätze fasst, besteht eine grundlegende Inkommensurabilität. Sein Werk ‚Objektive Erkenntnis‘ hat Popper deshalb auch Tarskis Andenken gewidmet. Übrigens ist nicht zu verkennen, dass der Realismus in der jüngeren Analytischen Philosophie, u.a. bei Davidson, Putnam oder Nagel, sich auf Tarski als Locus classicus, weniger auf Popper bezieht. In Tarskis Wahrheitskonzeption sah er schon bei der ersten Begegnung in Wien 1935 eine Theorie der Wahrheit, die letztlich unmittelbar vom ‚Gesunden Menschenverstand‘ akzeptiert werden könne. Die absolute Idee der Wahrheit können wir uns indes nach Popper nur approximativ versichern. Deshalb formuliert er: „Das Ziel der Wissenschaft ist also die Wahrheit; Wissenschaft ist Wahrheitssuche“. 704 Doch können wir nicht hoffen, zur Wahrheit selbst zu gelangen: Dies bedeutete die Erwartung einer Mega- und Hypertheorie, wie sie die Heisenbergsche Erwartung einer „Weltformel“ oder der „Singularitarianismus“ der Posthumanisten in einer universalen Überintelligenz impliziert. Popper gebraucht deshalb den Begriff der Wahrähnlichkeit, der Verisimilitudo.705 Man sollte diesen Begriff von dem rhetorischen Beiklang trennen, 701 Vgl. zur ersten Einsicht B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie. München 1992. 702 Vgl. A. Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, in: Studia Philosophica 1 (‚1935), S. 261 ff., siehe dazu auch Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., S. 350 ff. 703 Popper, Philosophische Bemerkungen zu Tarskis Theorie der Wahrheit, in: ders., Objektive Erkenntnis, a.a.O., S. 377 ff. Dass Tarskis Wahrheitstheorie nicht leisten könne, was Popper ihr aufbürden wolle, ist dagegen die These von H. Keuth, Die Philosophie Karl Poppers. Tübingen 22011, S. 167 ff. und 377 ff. 704 Karl R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. München 1984, S. 51. 705 Dazu Karl Popper, Conjectures and Refutations, The Growth of Scientific Knowledge. London 21965, insbesondere S. 240 ff.

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den er aus der Begriffsgeschichte der Topik hatte. Theorien können im Sinn der Wahrähnlichkeit nach einem relativen und relationalen Maßstab miteinander in Verbindung gebracht werden. Dabei zeigt sich auch ihre jeweilige Schlüssigkeit und Explikationskraft. Sie sind nicht unverbundene hermetische Gebilde. Es ergibt sich also eine relative und relationale Wahrähnlichkeit; und auch falsifizierte Theorien formieren sich in einer ‚hierarchia veritatum‘. Newton etwa ist zwar durch Einstein widerlegt, seine Theorie eignet aber eine höhere Wahrähnlichkeit als vorausgehenden Theorien wie jenen von Kepler oder Galilei. In den ‚Conjectures and Refutations‘ von 1963 betont Popper vor allem die pragmatische Verifizierung von Theorien. „Denn es ist allein der Erfolg, der zeigt, dass die neue Theorie wahre Konsequenzen hat, wo die alten Theorien falsche Konsequenzen haben“.706 Metaphysisch und epistemologisch hoch interessant ist für Poppers Spätwerk die Entwicklung einer weitergehenden Wahrscheinlichkeitstheorie, die an die Verisimilitudo-Konzeption anschließt. Dabei geht es um die Tendenz von Sachverhalten und Zuständen, sich in einer gewissen Weise zu verwirklichen. Nicht die subjektive Wahrscheinlichkeit, sondern die Ereignis-Wahrscheinlichkeit selbst möchte Popper auf diese Weise bestimmen. Man muss wissen, wie Ereignisfolgen entstehen, ob es Zufallsfolgen sind und wie sich eine Entität in bestimmten Situationen voraussichtlich entwickeln bzw. verhalten wird. Popper hält auch hier am Realismus fest. Doch weiß er zugleich, dass Wahrscheinlichkeiten eigentlich nicht empirisch zu erheben sind, sondern wiederum nur mit Wahrähnlichkeit an Voraussetzungen und Bedingungen. Dies hat dann noch weitere Implikationen: Popper gelangt zu einem nichtdeterministischen Wahrscheinlichkeitsansatz. Wahrscheinlichkeit wurde in der Tradition seit Laplace, der als erster Gott eine zu starke Hypothese nannte, auf deterministischer Grundlage konzipiert. Popper interpretiert Naturgesetze als Wahrscheinlichkeitsgesetze im Sinne von Wahrscheinlichkeitsaussagen über das zu erwartende Verhalten von Entitäten in einem offenen Kosmos. Insofern nähert er sich dem dem Leibnizischen ‚nisus‘ (der Neigung) oder der Aristotelischen ‚dynamis‘. Im Sinn dieser Wahrscheinlichkeitsgesetze interpretierte der späte Popper auch die Kernansichten der Quantenmechanik. Obwohl wir vorausgriffen, ist doch in der ‚Logik der Forschung‘ – bei aller Differenz ähnlich wie bei einem seiner weltgeschichtlichen Hauptgegner Hegel in dessen ‚Phänomenologie des Geistes‘ – in nuce bereits das gesamte Denken Poppers angelegt. Frühe Erfolge und Begegnungen eröffneten sich bald nach der Publikation. Einstein nahm auf das Werk Bezug, Heisenberg

706 Ibid., S. 246. Wie Schäfer zu Recht bemerkt, zögert Popper lange, diese pragmatischen Parameter mit in seinen Verifikationismus aufzunehmen. Sie sind bekanntlich die dominierende Instanz für die pragmatistischen Wahrheitskonzeptionen.

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II. Karl R. Popper und der Kritische Rationalismus

lernt er kennen, für einige Geister des Wiener Kreises wie Carnap hatte die Kritik an ihrem positivistischen Credo tiefreichende Folgen. Karl Popper, der Realschullehrer und Externe, wurde nun ein wichtiger Teil der Scientific Community, Reisen nach Kopenhagen, Gespräche mit Niels Bohr schließen sich an. Dann bleibt nur die Emigration. 2. Politische Philosophie: Zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft Kommt Popper der Klassikerstatus, den er in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie unstrittig einnimmt, auch im Bereich der Politik und Politischen Philosophie zu?707 So hat Henning Ottmann mit Recht gefragt. Sehr berechtigt ist jedenfalls die durch das totalitäre Weltalter geschärfte Grundforderung einer Offenheit für Kritik und rationale Lernfähigkeit auch im Feld von Politik und Gesellschaft. Popper fasst dies geradezu als Ummünzung der kantischen Mensch-Würde-Konzeption in das Kleingeld lernfähigen politischen Handelns. „Wir sollten jeden Menschen, mit dem wir uns verständigen, als potentielle Quelle von Argumenten und von vernünftiger Argumentation betrachten“.708 Es mag sein, dass der Grundmaßstab des Kritischen Rationalismus in der Politik „eine Einstellung [ist], die zugibt, dass ich mich irren kann und dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden“.709 Man kann freilich annehmen, dass die kratischen und außerrationalen Elemente der Politik zu gering gewichtet werden, und ebenso die ökonomisch strukturellen Probleme der kapitalistische Weltgesellschaft. In keinem Fall ist Poppers Konzept einer allmählichen Verbesserung der Offenen Gesellschaft deshalb falsch. Man mag ihn „kontrafaktisch“ nennen, ähnlich wie Habermas seine Diskursethik tituliert. Doch ist die Poppersche Konzeption rationalen und eben gerade darin moralisch verantwortlichen politischen Handelns eindeutig näher an den Realitäten als die Utopie einer herrschaftsfreien Kommunikation. In diesem Sinn ist die kleine Schrift über das ‚Elend des Historizismus‘ von 1944 ein bemerkenswerter früher Meilenstein. Große Geschichts- und Gesellschaftsphilosophien und -utopien von Marx, aber auch Comte oder Mill, erkennt Popper als gefährliche holistische Extrapolationen.710 Ähnliches wür-

707 H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung. Band 4/2. Stuttgart, Weimar 2012, S. 131. 708 K. R. Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen 71992, S. 177. 709 Ibid., S. 276. 710 Karl Popper, Das Elend des Historizismus. Tübingen 61987, S. 5 ff. Differenzierend werden hier schon „pro“- und „antinaturalistische“ Doktrinen in den Blick genommen. Bemerkenswert ist auch die Aussage im Vorwort, ibid. IX: „Die Demokratie

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2. Politische Philosophie: Zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft

de auch für einen Ansatz wie jenen Francis Fukuyamas gelten, der nach der bipolaren Konfrontation 1989 mit Hegel ein „Ende der Geschichte“ prognostizierte. Mit Nestroy könnte man sagen: „Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie schon einmal war“. Alle universalen Konzepte, die auf ein Geschichtsziel hinauslaufen, suggerieren nach Popper die Kenntnis eines Bau- und Verlaufsplan von Geschichte im Ganzen, in dessen Besitz aber niemand ernstlich zu sein behaupten könne. Deshalb bleibe für das konkrete politische Handeln nur ein „piecemeal engineering“, ein Stückwerk kleiner Schritte, die revidierbar sein müssen. Im Zeitalter totalitärer Hyperutopien, denen massenhaft menschliches Leben geopfert wurde, hatte dieser Ansatz viele Gründe für sich. Dahinter steht, dass Popper von der Einmaligkeit der jeweiligen Geschichtsereignisse überzeugt ist. Einzelereignisse sind, wie man mit Windelband und Rickert sagen könnte, immer „ideographisch“. Allein wegen dieser Einmaligkeit lassen sich keine allgemeinen Gesetze des Geschichtsverlaufs behaupten, die Prognosen erlauben würden. Popper hat selbst sein Modell von Erklärung und Prognose, das von Hempel und Oppenheim später weitergehend ausgearbeitet, aber im Wesentlichen übernommen wurde, dezidiert nicht auf Geschichtsverläufe bezogen sehen wollen.711 Es besagt, dass jedes Explanandum mindestens ein Gesetz erfordert und Sätze, die dessen Antecedens-Bedingungen umschreiben. Da Geschichte nicht auf Gesetze zurückzuführen ist, fällt die Möglichkeit solcher Erklärungen weg. Wesentlich für den Historizismus ist Poppers Axiom, dass wir manches von dem wissen und daher auch prognostizieren können, was in Zukunft sein wird. Doch wir wissen nicht, was wir wissen werden. Die Dimension des Erfindens und der Handlungsfreiheit ist durch keine Prognose zu erfassen. Deshalb sind solche vermeintlichen Prognosen nur Extrapolationen der Gegenwart. Problematischer ist es mit der kritisch-abwehrenden Komponente der ‚Offenen Gesellschaft‘:712 Das Werk ist erkennbar ein Exilbuch, ein Buch der großen Bögen, das verstehen will, wie es zu dem doppelten Totalitarismus kam und das in Neuseeland eine großzügige Genealogie (weitgehend ohne die Originalquellen vor Augen zu haben) entwickelt. Platon firmiert dabei als Vorläufer des Rasse-Totalitarismus, während Popper eine Sokrates-Nähe festhielt, vor allem aufgrund des wissenden Nichtwissens. Diese Platondeutung, mit dem sogenannten Glaukontischen Edikt und der Legitimierung ist keine Heilslehre, sondern nur eine der notwendigen Voraussetzungen, die es uns möglich machen, zu wissen, was wir tun“. 711 Das betont sehr zu Recht Ottmann, a.a.O., S. 136 f. Hempel und Oppenheim, die aus Poppers Ansätzen das H-O-Schema der Erklärung ausarbeiteten, haben sich diese Zurückhaltung im Blick auf geschichtliche Erklärungen nicht auferlegt. 712 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bände, Tübingen 71992.

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II. Karl R. Popper und der Kritische Rationalismus

einer Manipulation der nicht-wissenden Vielen durch die wenigen wissenden Philosophen, verkennt indes gründlich Stil, Denk- und Bauform der Platonischen ‚Politeia‘.713 Sie kapriziert sich überdies nur auf das V. Buch, das im Platonischen Text als „neuer Wogenschwall“ klassifiziert und separiert wird. Sokrates muss im Dialogverlauf regelrecht gezwungen werden, sich auf jene Einzelbestimmungen einzulassen, die in der Tat mit einer Verfassung der Freiheit nichts zu tun haben und unter anderem von Zwangsverheiratungen nach dem Geheimwissen der herrschenden Philosophen, von Kommunismus und kollektiver Aufzucht der Kinder sprechen. Die modellhafte Bedeutung der ‚Politeia‘, ihre Kultivierung des Zusammenhangs von Polis und Seele setzt dagegen wesentliche Kontrapunkte. Deshalb meine ich, dass die Poppersche Platon-Deutung nicht zu retten ist. Man sollte dies auch nicht versuchen. Etwas besser mag es mit der Hegel-Interpretation bestellt sein. Popper sucht Hegel eben dort auf, wo er zur Ideologie wird – und dies war in den beiden Fortentwicklungen der rechts- und der linkshegelianischen gleichermaßen der Fall. Popper sieht zutreffend einen neuralgischen Punkt Hegelschen Denkens: Die Prognostizierbarkeit und den Anspruch eines „Absoluten Wissens“. Dass dieses Wissen im Rücken den „sich vollbringenden Skeptizismus“ haben muss, dass Hegel also zumindest in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ den Zweifel operationalisiert, müsste demgegenüber aber viel stärker zur Geltung gebracht werden, als es bei Popper geschieht. Auch dass Hegel emphatisch eine Philosophie der Freiheit vertritt, unterschätzt Popper. Die Rekonstruktion der eigenen Rationalität Hegels, des nicht-Ideologischen Kerns seiner Philosophie wird man im Gegenüber zu Poppers Hegel-Bild klarer fassen und sich von Popper ebenso provoziert wie inspiriert sehen können. Popper lehnte die Dialektik von Grund auf ab, ist sie aber nicht ein spekulativer Zweifelsund Lernvollzug, dessen Elementaranforderung auch der Kritische Rationalismus folgen muss? Auch im Blick auf Marx ist Poppers Lesart nicht erschöpfend, aber keineswegs abstrus. Popper lehnt dabei nicht jedwede ökonomische Erklärung gesellschaftlicher Mechanismen ab, wohl aber einen Reduktionismus oder „Essentialismus“, der alles, was geschieht, auf die Ökonomie zurückführt.714 Dennoch behält Marx mit dem Anspruch, die Relationen der Ökonomie in der Totale auszumessen und seinen Entfremdunsanalysen in gewisser Hinsicht auch gegenüber Popper Recht. 713 Vgl. meinen Versuch einer differenzierten Deutung der ‚Politeia‘, ohne die gewaltsamen, Freiheit unterdrückenden Dimensionen und Ansätze zu verschweigen in: H. Seubert, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005, S. 216 ff. und S. 269 ff. 714 Popper, Offene Gesellschaft II, S. 134 f. Vgl. dazu auch die abwägende Darstellung bei L. Schäfer, Karl R. Popper, a.a.O., S. 112 ff. Wenn Popper von „Essentialismus“ spricht, meint er in der Regel die Rückführung auf einen einzigen letzten Grund.

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2. Politische Philosophie: Zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft

Im Blick auf Poppers eigene, spätere metaphysische Versuche kann man bemerken, dass es Anleihen an einen platonischen „noetischen Kosmos“ der Ideen gebe, ebenso wie an Hegel, zumindest im Begriff des „objektiven Geistes“. Dies scheint mir für Popper zu sprechen, der für den berechtigten philosophischen Kern seiner Gegner nicht blind wurde. Doch was ist die positive Essenz des politischen Denkens in den Zeiten der totalitären Verführung? Politik und Demokratie sind für Popper nüchterne Unterfangen. Er entwickelt letztlich die Maxime eines negativen Utilitarismus. Nicht das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl, sondern das geringstmögliche Maß an Leid für alle Beteiligten sei Ziel politischen Handelns. Damit ist keine Utopie verbunden, auch kein Ideal des umfassend guten Lebens, wohl aber die Vorstellung von am wenigsten schlechten politischen Verfahrensweisen und Regierungsformen. Sehr bemerkenswert für seine politische Urteilskraft ist auch, dass Popper, anders als die sogenannten neoklassischen politischen Philosophen nach 1945 (Hannah Arendt, Eric Voegelin, Leo Strauss), sich keinen Rückgriff auf alteuropäische geschlossene Gesellschaftsformen erlaubt. „Unser Traum vom Himmel lässt sich auf Erden nicht verwirklichen. Für die, die vom Baum der Erkenntnis gekostet haben, ist das Paradies verloren. Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand“.715 Aus diesem Geist formuliert er auch sein Schibboleth gegenüber jeder politischen Romantik und allen Träumen konservativer Restituierung. „Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg gehen – wir müssen zu Bestien werden“.716 Selbst, wenn man ihm in dieser Skepsis nicht vollständig folgen will, sollte man seine Warnungen beachten. Als politischer Denker ist Popper nicht an der Frage, wer regiert, interessiert, auch nicht an der Frage nach der Macht des Souveräns oder der Einhegung des menschlichen Raubtiers durch Institutionen. Ihn beschäftigt, wie regiert werden solle, im Sinn von Verfahren und Absicherungen vor ideologischen Gefährdungen. Zu Recht bekannt und vielzitiert ist sein Diktum: „Lasst Regierungen sterben nicht Menschen“. Pluralismus, Toleranz, Chancengleichheit sind die Grundwerte der neuzeitlichen, vor allem angelsächsisch geprägten Open Society, auf die sich Popper immer wieder bezogen hat. Letztlich verfolgt er die Zielsetzung, dass eine Offene Gesellschaft, die durchaus ein konkretes Ideal ist, dem Individuum und seinem zum-Wissen-Kommen, der freien Rede und Gegenrede einen Raum öffnet. Auch Moral muss systematisch geöffnet und auf Freiheit bezogen sein. Vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts und auch dem Beginn des 21. spricht viel dafür, mit Popper zu sagen, dass „die Kontrolle der physi-

715 Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen 81980, Band I, S. 268. 716 Ibid.

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schen Gewalt und der physischen Ausbeutung das zentrale Problem ist und bleibt“.717 Auch die idealtypische Identifizierung von Demokratie und Offener Gesellschaft hat darin ihre Wurzel. Popper fundiert sie durchaus nüchtern im Sinn des negativen Optimums: Veränderung und Verbesserung seien eben in der demokratischen Regierungsform am ehesten möglich, „im Lichte von Diskussion und Erfahrung“, Trial und Error. Churchills Diktum von der Demokratie als der am wenigsten schlechten Regierungsart würde Popper sich ohne weiteres zu Eigen machen. Dies rückt die politische Verfahrensart nahe an die wissenschaftliche heran, aber ohne die Planungshybris, die oftmals philosophische Politikberater seit Platon erfasst. Auch für Politik gilt die Aussage aus den Aristotelischen Analytica posteriora über Wissenschaft, dass sie „in der Modifikation früherer Erkenntnisse“ besteht.718 Von hier her kann noch einmal Licht auf den Positivismusstreit der Sechziger Jahre geworfen werden, der Popper in Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule brachte. Das von Adorno vergebene Etikett des „Positivismus“ ist freilich von Grund auf irreführend, wenn es auch bestimmend wurde. Denn das Heraustreten aus dem Schatten des Logischen Positivismus war für den frühen Popper gerade entscheidend. Die Grenze zum Positivismus hatte er einmal, resümierend, prägnant so bestimmt: „Insbesondere bin ich ein Anti-Induktivist; ein Anti-Sensualist; ein Vorkämpfer des Primates des Theoretischen und des Hypothetischen; ein Realist; meine Erkenntnistheorie besagt, dass die Naturwissenschaften nicht von ‚Messungen‘ ausgehen, sondern von großen Ideen; und dass der wissenschaftliche Fortschritt nicht in der Anhäufung oder Erklärung von Tatsachen besteht, sondern in kühnen revolutionären Ideen, die dann scharf kritisiert und überprüft werden“.719 Gewiss hatte dieser Streit einen sachlichen Kern, und gewiss spielte er sich auf mehreren Ebenen ab. Der Kern ist die Frage, ob sich nur vom Totalitätsanspruch einer Theorie her eine Gesellschaft im Ganzen kritisieren lasse. Adorno und Habermas vertraten seinerzeit im Licht neomarxistischer Kritischer Theorie die Auffassung, dass die Einzelmomente einer Gesellschaft nur erfasst werden können, wenn ihre Gesamtsicht schon gewonnen sei. Dies aber impliziert wiederum, dass man einen Generalschlüssel anlegt, eben die sogenannte ‚Kritische Theorie‘. Mithin ging es auch um zwei verschiedene Modi von Kritik und zwei Kritikbegriffe. Für die Vertreter der Frankfurter Schule war ‚kritisch‘ ein Anspruch, den ihre dialektische neomarxistische Konzeption erhob, für Popper

717 Popper, Offene Gesellschaft II, S. 159. 718 Analytica posteriora 71 b1. 719 Karl R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. München 81995, S. 107.

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2. Politische Philosophie: Zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft

war es die Selbstverpflichtung des Kritischen Rationalismus. Wie fast immer bei solchen Debatten spielen weitere Motive hinein, wissenschaftspolitische und politische Zielsetzungen, ein Streit des Liberalismus gegen den Neomarxismus, akademische Machtansprüche. Letztlich aber folgte Popper dem alten Diktum der Werturteilsfreiheit und damit Max Weber, gegen eine deutlich emanzipatorische Imprägnierung von Politik, die er selbst als ‚ideologisch‘ ansah. In die Falle, die Habermas meinte, ihm gestellt zu haben, ging er freilich nicht. Er musste nicht auf einen „Dezisionismus“ und letztlich einen „Sprunges ins Dunkle“ verfallen. Von großer Bedeutung für eine über-positivistische Normativität ist schließlich auch das Poppersche Paradox der Demokratie: Demokratien können sich mit eigenen Mitteln, vor allem dem Mehrheitsprinzip, selbst entmächtigen und in Tyranneis umschlagen.720 Dies ist für Popper in Österreich und zeitparallel in der Weimarer Republik eine wirkliche, ihn belastende und bewegende Generationenerfahrung gewesen. Ob man die Paradoxiegefahr so leicht durch Verfahren korrigieren und aushebeln kann wie Werner Becker und Henning Ottmann meinen,721 würde ich bezweifeln. Und eben hier schließen sich die eigentlich bewegenden politisch philosophischen Fragen von heute an Poppers politisches Denken an: Demokratie und One World Capitalism sind keineswegs mehr minimalinvasiv. Sie erfüllen kaum die Charakteristika der Offenen Gesellschaft und zeigen vielmehr eine Destruktion von Herkunft und Tradition, die für die Moderne insgesamt geradezu signifikant ist. Darauf hat Peter Sloterdijk zu Recht verwiesen.722 Dies nicht gesehen zu haben, war der Grundmangel der These vom Posthistoire, vom Ende der Geschichte. Die neuen Enhancements, Spieltheoretischen Computermodelle, die mögliche technomorphe Unterminierung des gewaltenteiligen Diskurses bedeuten tiefreichende Eingriffe bis zu einer anthropologischen Revolution, die die Rolle des Menschen als Bürgers gefährden oder zumindest umdefinieren dürften. Dies alles konnte Popper noch nicht vor Augen haben. Doch seine Theorien stellen Einsichten bereit, wie dem zu begegnen ist. Man unterschätzt leicht, dass Popper vor allem in seinem Spätwerk, etwa in dem Aufsatz ‚Bemerkungen zur Theorie und Praxis des demokratischen Staates‘ (1988), Präzisionen vorgebracht hat, nicht apriorisch, normativ, sondern im Blick auf konkrete Vorbilder, namentlich der britischen Verfassungswirk-

720 Offene Gesellschaft Band II, S. 173 ff. 721 Siehe dazu Ottmann, a.a.O., S. 140, sowie W. Becker, Karl Popper und die Demokratie, in: D. Aleksandrowicz und H. G. Ruß (Hg.), Realismus, Disziplin, Interdisziplinarität. Amsterdam, Atlanta 2001, S. 307 ff. 722 P. Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das antigenealogische Experiment der Moderne. Berlin 2014.

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lichkeit, aber auch der Amerikanischen Revolution.723 Hier kehrt nochmals eindrücklich die Wertschätzung für das angelsächsische System wieder, die der junge Emigrant bereits bezeugte. Das britische Zweiparteiensystem mit dem klaren Wechsel von Regierung und Opposition, einschließlich der relativen Unabhängigkeit des Abgeordneten vom Parteikonsensus bestimmten seine Vorstellung von Demokratie. Zentral ist die Aufgabe, die Freiheitsräume des Individuums zu schützen. Er sah und wusste, dass eine nur „gesinnungsethische“ Haltung nicht tragfähig sei, dass Verantwortungsethik unabdingbar wäre. Daher äußerte er sich 1991 im ersten Golfkrieg bejahend zur Idee einer Eingreiftruppe.724 Vorausgesetzt ist, dass Verfassungen der Freiheit auch einen hohen Verantwortungsgrad haben. Ebenso klar würde Popper wohl gegen Selbst-pervertierungen dieser Verfassung durch Lüge und Demagogie, durch NSA-Spionage und andere Faktoren das Wort ergreifen. 3. Welt 3 – Kritisch-rationale Rekonstruktionen der Metaphysik In seinem Spätwerk formuliert Popper eine Konzeption des objektiven Geistes, die sich gegen den Subjektivismus in Logik, Wissenschaftstheorie richtet. In diesen Zusammenhang formuliert er seine Dreiweltentheorie: Welt 1 ist die Welt der physischen Gegenstände und Zustände. Welt 2 die Welt der Bewusstseinszustände, der Absichten, Hoffnungen, Wünsche, Welt 3 dagegen die Welt des Objektiven Geistes, der Hervorbringungen der Kultur, der Denkinhalte und Ideen, Gedanken im strengen Sinn. Zwischen W2 und W3 akzentuiert Popper noch einmal eindrücklich die Differenz von Genesis und Geltung, die der Psychologismus preisgeben wollte. Dabei anerkannte er auch explizit, dass Platon der Entdecker der Welt 3 sei.725 Dies führt ihn zu einem überzeugenden Indeterminismus und zu einer Offenen Kosmologie. Eine wesentliche Rolle spielt für Poppers späten philosophischen Weg die Eröffnung einer Art von kosmologischer Metaphysik, konzentriert auf eine neuartige Interpretation der Darwinschen Evolutionstheorie. An der Evolutionstheorie faszinierte ihn von jeher, dass sie die Entstehung zweckmäßiger, zielorientierter Strukturen zu erklären suche, ohne teleologische Modelle oder Kausalitäten bemühen zu müssen. Sie greift vielmehr auf die Zufallsfaktoren der Variation im Erbgut zurück. Die Testbarkeit des Darwinismus hat Popper

723 Karl R. Popper, Bemerkungen zu Theorie und Praxis des demokratischen Staates, in: ders., Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München 21996, S. 215 ff. 724 So das Interview: Kriege führen für den Frieden, in: SPIEGEL April 1992 (Heft 13), später in: ders., Alles Leben ist Problemlösen, a.a.O., S. 283 ff. 725 Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., S. 140.

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3. Welt 3 – Kritisch-rationale Rekonstruktionen der Metaphysik

indes sehr kritisch beurteilt. Er sah deshalb auch in Darwins Ansatz primär ein metaphysisch grundiertes Forschungsprogramm.726 Den Begriff der Emergenz verwandte der späte Popper gleichermaßen für die Kennzeichnung von Theorien wie für die natürliche Evolution der Arten. Bewusstsein ist eine sehr späte Form menschlichen Lebens. Dies zeigt sich unter anderem an der Komplexität von Wahrnehmungen. Popper bemerkt, „dass unsere Beobachtungen hochkomplexe und nicht durchwegs verlässliche, wenn auch erstaunliche gute Entschlüsselungen der Signale sind, die uns aus der Umwelt erreichen“727 – und noch mehr: „Es gibt kein Sinnesorgan, in das nicht antizipierende Theorien genetisch eingebaut wären“.728 Statik ist also weder in der Kosmologie noch in der Ideenwelt codiert. Auch die Hervorbringungen der Welt 3 entwickeln sich weiter, doch nach ihrer eigenen Logik. Die Gebilde sind indes von ihren Schöpfern relativ unabhängig. So können an den Theorien oder Kunstwerken Fragen aufkommen, die die Autorinnen und Autoren gerade nicht voraussehen konnten oder wollten. Weiter ist für das Verständnis entscheidend, dass die drei Welten in einem Interaktionsverhältnis zueinanderstehen. Damit legt sich das Emergenzkonzept nahe: Denn Welt 1 war lange bevor Welt 2 wurde. So können bestimmte Emergenzsstufen voneinander unterschieden werden: – Beginn des Lebens,Emergenz des Bewusstseins,- Emergenz der Sprache und des Selbstbewusstseins. Popper konstatiert ein Emergieren der Welten aufeinander hin. Welt 3auf Welt 2: Dies zeigt sich in Bildung und Schulung des Urteilsvermögens. Welt 3 wirkt auch auf das Verstehen und Erkennen von Welt 1, aber vermittelt durch Welt 2. Sprachenlernen, Aneignung von Kulturen ist ein Interagieren von Welt 2 mit Welt 3. Es wirkt aber seinerseits auch auf Welt 1 zurück. Es gibt eine Abwärts- und eine Aufwärtskausalität. Die Transzendenzbewegung läuft in verschiedenen Richtungen. Welt 3 wirkt vermittels Welt 2 auf Welt 1 ein: Durch Planungen, Ideen und kulturelle Veränderungen wird auch das Gesicht der physischen Welt verändert. Dabei hält Popper konsequent den Vorrang der kulturellen Faktoren vor Physik und Physiologie fest. Von Bedeutung und Aktualität, auch von heutiger Hirnforschung her dürfte die Anwendung auf das Leib-Seele-Problem sein. Dies dokumentiert sich in dem gemeinsam mit John Eccles verfassten Werk: ‚The Self and ist brain‘ 1977.729 Der indeterministische und dualistische Ansatz steht gleichermaßen gegen einen bloßen Materialismus, einen Reduktionismus, der alles, was man

726 727 728 729

Ibid., S. 86 ff. und S. 280 ff. Ibid., S. 87. Ibid., S. 86. Deutsch: K. R. Popper und J. Eccles, Das Ich und sein Gehirn. München, Zürich 61987.

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II. Karl R. Popper und der Kritische Rationalismus

„Geist“ nennt, letztlich auf „Epiphänomene“ des physiologisch Physikalischen zurückführt und der auch in den Bahn brechenden experimentellen jüngeren Entwicklungen der Neurowissenschaften fröhliche Urständ feierte. Die Konzeption steht aber auch gegen einen unverbundenen Parallelismus von Natur und Geist.730 Deshalb kann die Rede vom „Dualismus“ wohl nicht das letzte Wort sein. Dies bedeutet eine indirekte, aber sehr entschiedene Verteidigung von Freiheit. Determinismus und Interaktion können nämlich nicht miteinander verbunden werden. Popper hat deshalb formuliert: „Die Einwirkung des Bewusstseins auf das Gehirn könnte darin bestehen, bestimmte Schwankungen zuzugestehen, die Neuronen zum Feuern bringen, während andere bloß zu einem geringen Temperaturanstieg führen“.731 Minimale Veränderungen des Energieerhaltungssatzes werden hier zugestanden; ebenso Öffnungen von Welt 1 auf die Eröffnung eines letztlich monistischen Grundes.732 Mithin ist die Drei-Welten-Theorie ein bedeutendes Konzept für den „Homo humanus mundanus“, das zeigt, dass die Reduktion auf den Menschen als Maschine und Mechanismus keineswegs zwingend und auch nicht wohlbegründet ist. Letzte Fragen kamen dabei wie von selbst im Gang seines Philosophierens auf. Popper blieb indes Agnostiker, der der Annahme einer Unsterblichkeit der Seele misstraute. Sein Credo in den Gesprächen mit John Eccles entnimmt gerade der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Lebens seine spezfische Würde: „Ich glaube, wir könnten das Leben nicht wirklich schätzen, wenn es immer weitergehen würde. Gerade die Tatsache, dass es gefährdet ist, dass es endlich und begrenzt ist, dass wir seinem Ende ins Auge sehen müssen, erhöht meiner Meinung nach, den Wert des Lebens und damit sogar den Wert des Todes“.733 Der Indeterminismus hat indes auch weitreichende kosmologische Konsequenzen.734 In diesem Sinn grenzt sich Popper von der standardwissenschaftlichen Rede vom „Blockuniversum“ ab und setzt an ihre Stelle die Konzeption des „Offenen Universums“. Nur wenn die Wahrscheinlichkeiten (Propensitäten) auf der Skala zwischen 0 und 1 sind, dann liegt eine „strenge Kausalität“ vor. Übergänge von einem Zustand zum nächsten sind durch Übergangswahr-

730 Dies wiederholt Eccles in seinem späten Werk: Wie das Selbst sein Gehirn steuert. München 1994 nochmals eindrücklich. Es könnte sein, dass die allzu starke Fokussierung auf den Dualismusbegriff die Rezeption in den neueren neurowissenschaftlichen Diskussionen eher gehindert hat. 731 Popper, Eccles, Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 638. 732 Vgl. dazu auch die Arbeiten in Band 12 der Gesammelten Werke: Wissen und das Leib-Seele-Problem. Tübingen 2012. 733 Popper, Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 654. 734 Vgl. dazu Gesammelte Werke in deutscher Sprache. Band 8. Tübingen 2001: Das offene Universum. Aus dem Postskript zur Logik der Forschung III.

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3. Welt 3 – Kritisch-rationale Rekonstruktionen der Metaphysik

scheinlichkeiten auf einer Skala zwischen 0 und 1 bestimmt und weisen gerade keine ‚strenge Kausalität‘ auf. Seine kreative Interpretation des Darwinismus hat Popper schließlich 1986 in seiner Medawar-Vorlesung von 1986 vorgelegt, die erst mit dreißig Jahren Verspätung publiziert werden konnte.735 Er profiliert damit eine neue Biologie, die als Grundsatz der „Theorie der Emergenz“ formuliert, es komme dabei mehr heraus, als man hineingegeben hat.736 Seine Neudeutung hebt Popper von einem traditionellen „passiven Darwinismus“ ab, dem zufolge Evolution durch zwei Faktoren vollständig erklärt werden könne: durch (1) die Variabilität des Genoms als Zufallsprodukt und durch (2) die physikalische Umwelt. Dem steht die Auffassung des „aktiven Darwinismus“ entgegen, wonach Organismen von Anfang an nach einer besseren Umgebung gesucht haben. Popper formuliert dessen Grundsatz so: „Organismen, die besser angepasst sind als andere, haben mehr Aussichten Nachkommen zu erzeugen“.737 Der aktive Darwinismus versteht Evolution selbst als Lernprozess und als Präferenzenwahl. Die Annäherung an genügende Anpassungsprofile erweist sich freilich als langsamer Prozess. Popper geht davon aus, dass Leben gar nicht so selten entstehe, wie etwa Jacques Monod meinte.738 Die eigentliche Frage ist aber, ob dieses Leben überlebensfähig ist. Popper räumt ein, dass mit Darwin die Natur keineswegs als Hypersubjekt dieses Vorgangs zu verstehen ist und er notiert: „Anthropomorphismen und die Teleologie sind nicht per se gerechtfertigt“.739 Hypothetisch heuristische Rechtfertigungsgründe weist er ihnen aber durchaus zu. Und schließlich artikuliert sich sein Indeterminismus nochmals eindrücklich in der Aussage der Nicht-reduzierbarkeit von Leben auf Nicht-Leben, von Biochemie auf bloße Chemie. Die kosmologische Perspektive führte Popper in den letzten Jahren wieder in vermehrter- und vertiefter Weise zu den Vorsokratikern, vor allem zu Xenophanes und Parmenides. Xenophanes liest er als Begründer einer griechischen Aufklärung; ebenso hatte dieser Grieche gelehrt, dass alles Wissen Vermutung sei. Xenophanes wird ihm zum Prototyp des Fallibilismus, Parmenides aber zum Typus des deduzierenden Philosophen, der eine zugrundeliegende 735 Karl R. Popper, Eine Neuinterpretation des Darwinismus. Die erste Medawar-Vorlesung 1986, in: ders., Aufklärung und Kritik 20 (2012/13), S. 7 ff. dazu auch H.-J. Niemann, Alle Lebewesen steuern ihre Evolution. Bemerkungen zu Karl Poppers Medawar-Vorlesung, Teil I, S. 21 ff. und ders., Karl Popper, die Mühle bei Hunstanton und die Anfänge der Molekularbiologie, in: Aufklärung und Kritik 20 (2012/13), S. 7 ff. 736 Popper, Eine Neuinterpretation, a.a.O., S. 10 f. 737 Ibid., S. 11 f. Hervorhebungen im Original. 738 J. Monod, Zufall und Notwendigkeit. München 1971. 739 Die Argumentation findet sich Popper, Eine Neuinterpretation des Darwinismus, a.a.O., S. 14 f.

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II. Karl R. Popper und der Kritische Rationalismus

Wirklichkeit als Voraussetzung der erscheinenden Dinge begreife. Aus beiden formuliert sich eine „vorsokratische“ Aufklärung.740 Darin könnte man eine exakte Gegenkonzeption zu Heideggers Bild der Vorsokratiker sehen, aber auch eine Confessio Poppers, die er im „ältesten Alten“ der Philosophie findet. Mit Xenophanes mag Popper schließlich eine seiner tiefsten Überzeugungen vorgeprägt gesehen haben: „Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles. Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bessere“.741 4. Was bleibt? Poppersche Erbschaften Wenn man sich fragt, was von Popper bleibt, so ist es das Festhalten an einem klaren, unkorrumpierbaren und nicht-reduktionistischen Aufklärungsprogramm. Unvergessen, wie Popper Habermas- und Adorno-Sätze ins Deutsche brachte und zeigte, dass die Kaiser annähernd nackt sein können, das Grundvertrauen zum Alltagsverstand, der Korrektiv von Philosophie sein muss, die philosopische Haltung der Kritik, die Selbstbegrenzung und Selbstverpflichtung bedeutet. Auch dies ist eine particula veri, kein Verdikt gegen die ‚Kritische Theorie‘. Exemplarisch und für Philosophierende auch anderer Schulrichtungen durchaus vorbildlich scheint mir Poppers Auffassung: „Wir müssen dauernd nach unseren Fehlern Ausschau halten. Wenn wir sie finden, müssen wir sie uns einprägen; sie nach allen Seiten analysieren, um ihnen auf den Grund zu gehen. Die selbstkritische Haltung und die Aufrichtigkeit werden damit zur Pflicht“.742 Ähnlich wie Kant, war auch Popper gegen einen „vornehmen Ton“ in der Philosophie geradezu allergisch. Nun kann man aber spezifizieren: 1. Philosophisches Denken, aber auch wissenschaftliches Ethos stehen und fallen mit dieser von Popper eindrücklich vor Augen geführten Wahrheitssuche. Und damit auch mit einer Grundrationalität, einer Bemühung um Klarheit ohne Verkürzung und Abschneiden der wesentlichen Fragen. Hier zeigt sich bei ihm – und darin ist er wirklich ein Erbe Kants in der jüngeren Entwicklung der Philosophie – ein dritter Weg, sowohl gegenüber den Dekonstruktivisten und ihrer Preisgabe des Wahrheitsbegriffs, als auch gegenüber einer Tendenz analytischer Philosophie auf klinisch reine Sprachdefinitionen. Popper ging es zeitlebens in hoher Konsequenz und einer Wahrheits- und Erkenntnissuche um die Sache. . Die Analytische Philosophie hat seit der legendären Begegnung zwischen Popper und Wittgenstein am 26.

740 Karl R. Popper, Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. München 2001. 741 Zit. nach Popper, Die Welt des Parmenides, a.a.O., S. 73. 742 Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, a.a.O., S. 228.

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4. Was bleibt? Poppersche Erbschaften

10. 1946 im Moral Science Club einen weiten Weg zurückgelegt; zumindest ansatzweise wird dies noch begegnen. Sie kam letztlich in ihren besten realistischen Vertretern, selbstredend mit neuen Methodeninventionen, dort an, wo Popper schon früher war, und sie stattete ihm ihre Dankschuld nur sporadisch ab. Philosophie ist bei Popper nach wie vor Erste Wissenschaft, zugleich aber vertieft er sich – aus einem philosophischen Metagesichtspunkt – in dem erforderlichen Maß in die wissenschaftliche Forschung, so dass er zumindest in drei Bereichen, Physik, Kosmologie und Biowissenschaften, eigenständige philosophische Forschungsbeiträge erbringen konnte. Auch dies ist für Philosophie im wissenschaftlichen Zeitalter eine Leistung von herausragender Bedeutung. Wenn man das 20. Jahrhundert als Zeit des „Verrats der Intellektuellen“ (trahision des clercs, Julien Benda) – Heidegger von der rechten, Sartre oder Lukács von der Linken – und als Paradigmata begreift, dann ist die außergewöhnliche Ideologiefreiheit von Popper hervorzuheben. Dies sichert auch seinen Politisch-philosophischen Einlassungen ihre Bedeutung. Dabei ging es ihm nicht darum, einen politischen Status quo festzuschreiben; und zugleich verfiel er nie in einen abstrakten Utopismus und Konstruktivismus. Er war nicht Künder; sondern Forscher und Selbstdenker, und darin ein Intellektueller anderer Art. Popper anerkannte sehr wohl, dass es Unrechtszustände geben kann, gegen die man nur mit Gewalt vorzugehen vermag. Wenn man überdies mit Popper die „kühnen, revolutionären Ideen“ zulässt, um sie dann „scharf kritisieren und überprüfen“ zu können, so wird man, um der intellektuellen Redlichkeit willen, sein Konzept auch akzeptieren können, wenn man einer anderen Grundphilosophie folgt. Es scheint, beim Wiederlesen von Popper – mit den Retraktationen, Ergänzungen, Erweiterungen, Einlassungen auf, dass er einerseits mit großer Konsequenz sein Fragenprogramm verfolgte, und sich zugleich immer wieder selbst in Frage stellte. Mögen die Begriffe Kritik und Rationalität zeitweise zur Dorfreligion von Alpach geworden sein, zeitweise sich so verbraucht haben, dass Helmut Spinner schon 1974 schreiben konnte: „Ich koche, liebe, singe, putze gemäß Theorien, die den methodischen Prinzipien des kritischen Rationalismus entsprechen“743 – die Zeiten jener Überpräsenz sind vorbei und noch immer geht von Poppers Denken eine Klarheit aus, die gerade angesichts einer Orientierung an Moden zu philosophischer Sachlichkeit zurückführt. Ähnlich wie die Phänomenologie liegt die Crux nicht in einem Dogma, sondern in einer Grundhaltung des Forschens, Fragens und Argumentierens. Wer Popper auf der Spur bleiben möchte, sollte am homo humanus und an der Verbesserbarkeit der Welt – bis zu einem gewissen Grad – festhalten. In einem Brief vom März 1993 hatte er an seinen Biographen Manfred Geier geschrieben:

743 H. Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell. Studien zum Popperschen Erkenntnis- und Gesellschaftsmodell. Frankfurt/Main 1974, S. 127.

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II. Karl R. Popper und der Kritische Rationalismus

„Was mich betrifft, so habe ich nie etwas geschrieben, das nicht einem letzten, drängenden Problem gewidmet war – in letzter Linie dem Problem des Totalitarianismus und des Krieges: Der Violence (unterstrichen) das englische Wort passt besser als ‚Gewalt‘; aber das ist kein Problem der Sprachanalyse – nur der praktischen Kommunikation“.744 Tief human und von einer nicht selbstverständlichen Selbstverständlichkeit ist auch die Leitmaxime Poppers, im Zweifel solle man Theorien sterben lassen, nicht aber Menschen.

744 Zitiert nach M. Geier, Karl Popper in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek 1994, S. 130 f.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

1. Sartre und Camus: Eine Jahrhundert-Konstellation Selbst in Deutschland gibt es nach dem Bruch Kontinuitäten. Karl Jaspers, für den das Leben und die Publikationen zwölf Jahre lang erzwungenermaßen stillstanden, nahm, wie wir sahen, nach jenem selbst ernannten tausendjährigen Reich den Faden dort wieder auf, wo er gerissen war. In den Jahren nach 1945 wandte er sich allerdings weniger der Existenzerhellung und vielmehr politisch philosophischen und ethischen Fragen zu. Die Traditionslinien der Phänomenologie setzten sich zumindest bis auf weiteres produktiv und hörbar eher in Frankreich als in Deutschland fort. Dazu trägt wesentlich bei, dass es in Frankreich faszinierende Doppelkonstellationen zwischen Literatur und Philosophie gibt, wie sie in Deutschland selten waren und sind. Eine solche Konfiguration ergibt sich sowohl bei Jean-Paul Sartre als auch bei Albert Camus. Sartre fand zu der Doppelkonstellation hoher philosophischer Reflexion und eines weltbekannten literarischen Werkes, die die eigene Zeit in Gedanken spiegelte, außerhalb der Universitäten: Eine für die französische Intellektualität lange Zeit paradigmatische Form des Großintellektuellen. Sartres übermächtiger Gestalt wurde die jüngere Generation offensichtlich erst Herr, als sie die „grands récits“ dekomponierte und in kleine Erzählungskristalle auflöste. Sartres Bedeutung besteht nicht zuletzt darin, dass er noch einmal vielleicht neben Heidegger als letzter, Philosophie auch als Lebensentwurf verstand: Dazu gehörte je länger je mehr das politische Engagement, eine Art exemplarischen Lebens, das er mit Simone de Beauvoir als öffentliche Inszenierung eines gemeinsamen Intellektuellelebens zelebrierte. In diesem Gestus lag etwas von ‚épater le bourgeios“.745 Dass Sartre als Philosoph die Traditionslinie der Phänomenologie fortsetzt, dokumentiert sich zunächst in seinem frühen philosophischen Hauptwerk ‚Das Sein und das Nichts‘ (L’Etre et le néant), mit dem er an ‚Sein und Zeit‘ anschließt; aber von dem fundamentalontologischen in-der-Welt-Sein auf eine explizite und überbetonte Subjektivitätskonzeption zurückgeht.. Die Negations- und Modallogik bleibt Heidegger verpflichtet: Auch Sartre geht es nicht um Essenz, sondern Existenz, in ihrem Wie-sein, ein Etre néant (seiendes Nichts) konkreten Existierens. Das menschliche Dasein (être humain) kann 745 Vgl. zur Biographie A. Cohen-Solal, Sartre 1905–1980, Reinbek 2002.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

sich durch seine Entscheidung von allen fixierten Dispositionen und Bedingtheiten durch Faktizität lösen. Dieses Freisein steht ihm aber nicht aufgrund seiner Existenz zu Gebote. Er ist vielmehr dazu verurteilt, frei zu sein. Gegenpol ist diese kompromisslose Freiheit zu der bedrängenden Fixierung eben durch die Faktizität.746 Hieraus konstituiert sich Transzendenz qua Freiheit, die das Cartesische Cogito in einer Radikalität, die an die „Tathandlung“ der ersten Fichteschen ‚Wissenschaftslehre‘ erinnert, aufnimmt und gleichsam noch übertrifft. Der Selbstentwurf ist in jeder Weichenstellung und in jedem Augenblick der Existenz möglich. Nicht in dieser Freiheit zu sein, dagegen ist eine Flucht: in jenen Zustand, den Sartre dem philosophischen Repertoire hinzugefügt und den er als „mauvaise foi“ charakterisiert hat. Es ist eine Existenzform, die von der inkorporierten Konvention bis zur Heuchelei reicht. Die Beispiele prägen sich auch, weil sie von einer, in philosophischen Diskursen sonst seltenen Sprachmacht sind, mitunter tiefer ein als die argumentative Konstruktion. Alle Exponenten in Sartres Konzeption spielen sich selbst oder andere, als sie sind: so der Kellner, der einen Kellner spielt, oder die Frau, die ins Rendezvous geht und die Schritte des potentiellen Partners bereits exakt antizipieren kann. Sie sind von einer „mauvaise foi“ durchzogen.747 Sartres Überzeugung, dass der Mensch zur Freiheit verdammt ist, hängt mit dem Konzept der Intersubjektivität eng zusammen. Dies manifestiert sich auch in seinem Drama: ‚Geschlossene Gesellschaft‘ (Huis clos), das im existenziellen Blick die Résistant-Thematik exponiert, und in den verdichtenden Satz kulminiert: „ihr entsinnt euch: Schwefel, Scheiterhaufen, Bratrost (...) Ach ein Witz... Die Hölle, das sind die anderen“.748 In der Tat: Intersubjektivität zeigt sich bei Sartre zunächst als eine gesteigerte Form der Faktizität, denn in den Blicken suchen die ‚Anderen‘ eine jeweilige Person nicht in ihrer Personalität zu fassen, sondern sich ihre Bilder von ihm zu machen und sie in einen objektivierten Fetisch zu verwandeln.749 Nur in einer Zurückweisung, oder einer umgestaltenden Aufnahme des Seins für andere in die eigene Selbst-Kontur kann Ich dergleichen hinter mir lassen.Selten ist die Abgründigkeit von Intersubjektivität in der Philosophie so kristallin und schonungslos durchmessen worden. Eher gelingt dies der großen Literatur, den nächtlichen Beichtgesprächen in Dostoiewskis Romanen etwa. Ein Pendant findet man vielleicht in der

746 Vgl. zur Rekonstruktion des Cogito Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1991, S. 17 ff., zum Charakter des präreflexiven Cogito. 747 Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 154 ff. 748 Sartre, Geschlossene Gesellschaft, Reinbek 1988, S. 97. 749 Daraus ergibt sich ein Verständnis von Intersubjektivität, die nicht in einer Hermeneutik von Gegebenheiten einzuholen ist, Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 752. ff.

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1. Sartre und Camus: Eine Jahrhundert-Konstellation

grundlegenden Konzeption des Hiob-Ich, das im Staub übriggeblieben sei, wie sie Franz Rosenzweig an den Anfang des ‚Stern der Erlösung‘ rückt. Wenn Intersubjektivität in der Philosophie heute normativ nobilitiert wird, sollte man Sartres kristallklare Analyse ihrer Nachtseite im Blick behalten. Die Normativität des Intersubjektiven verliert sonst einen wesentlichen Teil ihrer deskriptiven Horizonte, einer Ontologie von Ego und Aller Ego, auf die Sartre gerade den Akzent legt. Das Intersubjektivitätsverhältnis ist Sartre zufolge Teil der wählenden Existenz, die buchstäblich an jeder Wegkreuzung zur erneuten Bestimmung ihrer wesentlichen Ziele genötigt ist.750 Essentielle Kontinuitäten gibt es nicht, jederzeit steht der Selbstentwurf neu an. Freiheit zeigt sich dabei jeweils als ein Sprung, wobei Heideggersche und Kierkegaardsche Motive ineinandergreifen. In der Wahl brechen alle Fixierungen auf, so dass der Impetus von Freiheit aus Verzweiflung und Angst hervorgeht. In seinen, in den Jahren 1947/48 skizzierten ‚Cahiers pour une morale‘, expliziert Sartre diese Situation weiter auf ein sich selbst wählendes Leben, das den Erstarrungen falscher Faktizität einerseits und falscher Transzendenz andererseits zu entgehen versucht. Sartre formuliert hier, ungeachtet der extremen Bedrohtheit, die seine Intersubjektivitästheorie bündelt, doch auch seinerseits eine ins Positive gleitende Intersubjektivitätskonzeption. Es ist möglich, sich am Blick des anderen zu erfreuen und so eine Reformulierung des Reiches der Zwecke zu gewinnen, einen Gesamtraum der Subjektivität. Erforderlich ist dazu eine Variante des Bilderverbots, dass ich mir von der Existenz und der Wahl des Anderen kein Bild mache: ein später biblischer Nachhall bei Sartre. Eben dies ist mit dem Vorrang der Existenz vor jedweder Essenz eng verbunden.751 Denn die jeweilige Selbstwahl kann auf keine Wertehierarchien oder vorfindlichen Wertstrukturen rekurrieren.752 Dass Sartre Mitte der vierziger Jahre seinen Existenzialismus in einen Marxismus hinein transformierte, erfordert einen Spagat: Indem der Einzelne sich selbst wählt, wählt er den Gesichtspunk der gesamten Menschheit, und in seiner radikalen Selbstverantwortlichkeit ist er zugleich für die gesamte Menschheit verantwortlich.753 In der eigenen Existenzwahl wird die Menschheit mit

750 Vgl. dazu R. Berlinger, Sartres Existenzerfahrung, Würzburg 1982. 751 Vgl. dazu auch K. Hartmann, Sartres Sozialphilosophie, Berlin 1966. 752 Hierzu Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.P., S. 1055 ff., vgl. auch ders., Entwurf einer Moralphilosophie, Reinbek 2005. 753 Der Welt-Intellektuelle entwirft sich in eine Totalität des Gewissens hinein, das zugleich an spezifischen Kampforten steht. Vgl. E. M. Vogt, Jean-Paul Sartre und Frantz Fanon. Antirassismus – Antikolonialismus – Politiken der Emanzipation, Wien/Berlin 2012. Es ist augenfällig, dass die hoch komplexe und in Krisen gerissene Welt im frühen 21. Jahrhunderts unter den Signaturen struktureller Gewalt auf Sartres Problemstellungen zurückkommt.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

gewählt: Auch wenn dies mit der Talmud-Weisheit übereinstimmt, wonach, wer einen Menschen rettet, die Welt rettet, ist zu Recht die grundsätzliche Frage gestellt worden, wie viel Sartre von seinem Existenzialismus in die marxistische Matrix integrieren könne. Die logische Schlüssigkeit von Sartres Gleichsetzung ist in keinem Fall plausibilisierbar. Dennoch hat er auch umgekehrt das Arsenal marxistischer Theoriebildung beträchtlich erweitert, indem er dem Determinismus marxistischer Dogmatik entgegentritt und auch ihn durch die Aktion und Willensentscheidung des Subjektes bricht. Die Hobbesiansiche Intention des ‚bellum omnium contra omnes‘ nimmt Sartre beim Wort, ebenso wie den alten scholastischen Grundsatz ‚Omnis determinatio est negatio‘. Wo etwas, bzw. eine Person ist, dort kann eine andere nicht sein. Die Relation zwischen der menschlichen Existenz und der Faktizität erweist sich als höchst prekär: Die faktische Welt setzt Widerstände entgegen. An ihr begegnet das Subjekt dem „praktisch Inerten“, jener Trägheit, die seine Pläne und Konzeptionen verfälscht. Verflüssigung des Weltlaufs wird nicht in der Theorie geleistet, so wie Hegel dies gedacht haben mochte; sondern in der Praxis, in der es zu fusionierenden Homogenitäten kommen kann.754 Paradigmatisch ist für Sartre hier der inszenierte revolutionäre Augenblick, als Vermittlung „zwischen mir und jedem anderen Dritten“.755 Es ist unerkennbar, dass damit die menschheitliche Perspektive der Moralphilosophie geklärt werden sollte und dass Sartre sich bemüht, der Individualität der einzelnen im Bezug auf die Menschheit Rechnung zu tragen, ähnlich wie er dies selbst an den Brennpunkten des Unrechts im persönlichen Engagement realisierte. Dass auch in einer revolutionären Gruppe Potenziale zur strukturellen Gewalttätigkeit liegen, überging Sartre. Ähnlich wie andere marxistische Theoretiker, etwa bei Georg Lukács, ist hier die Tendenz, sich durch den Glanz der Revolutionen auf ein allgemeines Humanum zu orientieren und die konkrete Humanität aus dem Blick zu bekommen, bis zur Sympathie mit Terrorgruppen wie der RAF, ein höchst ambivalentes Kapitel. Es spitzt sich in Sartres Rechtfertigung der Gewalt zu.. In der Solidarität mit den Verdammten der Erde konstatierte er, dass Gewalt zwar immer schlecht sei, dass sie aber als aufständische Gegengewalt ihre Rechtfertigung hat. Das totalisierende Gesamtbild, das Sartre entwirft, musste Einwände und Gegen-stimmen provozieren. Es war noch einmal Paradigma einer der großen, geschlossenen Erzählungen, die im Dekonstruktivismus pulverisiert und im Denken der Differenz zwischen Derrida und Lyotard aufgelöst werden sollten. Sein eigentliches Pendant und seinen Contrepart fand Sartre indes in Albert Camus‘ Einsicht in die Absurdität der Welt. Camus ist kein systematischer

754 Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 79 ff. 755 Vgl. B.-H. Lévy, Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München 2002, S. 34 ff.

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2. Merleau-Ponty: Die Opazität und Medialität des Leibes

Philosoph, vielmehr erkundet er den Schwebezustand des Menschen, der in einer absurden Welt sein Leben zu leben hat. Die Absurdität kann nicht geändert, deshalb sollte sie anerkannt werden, so wie dies der glückliche Sisyphus tut, bevor der Stein erneut den Berg hinunterrollt. An diesem Ausgangspunkt und der Sicht auf eine Welt ohne Gott finden sich deutliche Berührungspunkte zu Sartre. Sartres marxistische Reideologisierung hat Camus indes konsequent abgewehrt. Sie findet bei ihm keinerlei Entsprechungen; Camus hält in einer mediterranen Welthaltung dem Schwebezustand einer absurden Welt stand. Er sucht nicht nach dem Gesamtbild der Revolution, sondern evoziert die Revolte als den Zustand, über den das Ich sich nicht täuschen kann. Weit weniger elaboriert als bei Sartre, ist doch auch bei Camus ein unterschwelliger Cartesianismus zu erkennen, der aber eher ein ‚De profundis‘, einen Schrei aus der Tiefe abbildet. „Die erste und einzige Gewissheit ist die Revolte […]. Die Revolte keimt auf beim Anblick der Unvernunft, vor einem ungerechten und unverständlichen Leben“.756 Von ihr gehen gleichsam ein Appell und ein Imperativ der Umformung aus. Paradgigma ist der stets scheiternde Sisyphus, den man sich als glücklichen Menschen vorstellen muss und der keine teleologischen oder theodizeehaften Fragen mehr an sein Scheitern richtet und das mediterrane Licht, das alles Seiende größer erscheinen lässt und den Menschen überwältigt. Diese mediterrane Existenz evoziert nicht nur eine Welt ohne Geschichte, sondern ohne den Menschen. Die Einwilligung in jene Natur ohne Menschen ermöglicht dann aber indirekt eine Humanität, die sich nicht den großen Gesamtplänen eines Historizismus, also einer Welterklärung, unterstellt: „Diese Welt vernichtet mich. Sie führt mich bis ans Ende. Sie leugnet mich ohne Zorn. Ich aber schreite willig und besiegt einer Wahrheit entgegen, in der schon alles erobert ist“.757 2. Merleau-Ponty: Die Opazität und Medialität des Leibes Für die Fortsetzung der Phänomenologie nach 1945 bedeutet das Werk von Maurice Merleau-Ponty eine wichtige Initiation. . Bei ihm setzt sich zunächst der Husserlsche Weg der Phänomenologie fort; Merleau-Ponty folgt Husserls Votum ‚Zu den Sachen selbst!‘, wobei er diese Sachen zugleich als jene der Humanwissenschaften, der Biologie und der Anthropologie identifiziert. Phä-

756 A. Camus, Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1953, hier 1985, S. 17. Vgl. zur Biographie auch prägnant I. Radisch, Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie, Reinbek 2013. 757 Camus, Tagebücher 1935−1951, Reinbek 1972, S. 38. Diese Abgründigkeit zwischen Licht und Dunkel durchzieht auch Camus‘ Romanwerk, etwa in ‚Der Fall‘.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

nomenologie ist wie für Husserl eine Haltung, die Merleau-Ponty pointiert und treffend als „geglückte Verbindung äußersten Subjektivismus und äußersten Objektivismus“ charakterisiert. „Die phänomenologische Welt ist nicht reines Sein, sondern Sinn“.758 Eine markante Veränderung gegenüber Husserls Epoché und phänomenologischer Reduktion zeigt sich aber darin, dass für Merleau-Ponty der Schritt zur phänomenologischen Haltung immer wieder in die Lebenswelt und die Zugehörigkeit zu ihr zurückführen muss. Der Phänomenologe nimmt immer wieder neue Anläufe in der Interaktion zwischen Lebenswelt und phänomenologischer Grundhaltung. Die Intentionalität ist, Merleau-Ponty zufolge, auf die Welt bezogen, das Subjekt versteht sich als „zur-Welt“ seiend.759 Für Merleau-Ponty wird deshalb das Phänomen der Ambiguität zum Schlüssel, um menschliches „zur-Welt-sein“ fassen zu können. In den Fokus tritt damit eine Philosophie der Leiblichkeit, denn zur Welt sind wir erst vermittels des Leibes. Der Leib selbst ist ein Zwischen-Phänomen, biophysisches Ding eben und Träger des Ich. Merleau-Pontys Anspruch, eine Position zu gewinnen, die der Bifurkation zwischen Intellektualismus und Empirismus ihrerseits nochmals vorausliegt, verbindet sich mit dieser Leibphänomenologie, die auch auf eine differenzierte Phänomenbeschreibung von Wahrnehmung und Wahrnehumungsstörungen bezogen ist. Der Eigenleib erweist sich insofern als Ursprungsort von Subjekt und Objekt, bzw. der Trennung zwischen beiden. Merleau-Ponty hat sich, ungeachtet von Husserls Verdikt gegenüber allem Psychologismus an psychologischen Untersuchungen von Pathologien, u.a. von Goldstein, orientiert. Merleau-Pontys Untersuchungsinteresse ist dennoch genuin philosophisch. Der Leib sei das Medium, durch das Gegenstände überhaupt erst gegeben sind, und deshalb kann der Leib selbst niemals als Gegenstand konstituiert werden. Er, das Transparenzmedium kat’exochen, bleibt sich selbst opak. „Wenn ich Ereignissen bewohne, so bin ich mir kaum der fortwährenden Zäsuren bewusst, die der Lidschlag dem Schauspiel aufprägt“.760 Inwieweit die pathologischen Phänomene, auf die Merleau-Ponty in starkem Maße rekur-

758 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmng, übers. von R. Boehm, Berlin 1966, S. 17. 759 Ibid., S. 125 ff., siehe auch Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 31994, S. 23 ff. Zu Merleau-Ponty, B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/Main 1994. 760 Melreau-Ponty, Die Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, S. 18, siehe auch dazu Ulrich Melle: Das Wahrnehmungsproblem und seine Verwandlung in phänomenologischer Einstellung. Untersuchungen zu den phänomenologischen Wahrnehmungstheorien von Husserl, Gurwitsch und Merleau-Ponty, The Hague u. a. 1983, Nijhoff, The Hague u. a. 1983.

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2. Merleau-Ponty: Die Opazität und Medialität des Leibes

riert, für die Strukturen menschlichen Selbstseins hinreichend aussagekräftig sind, bliebe weiter zu bedenken. In seiner ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ (1945) nutzt er die Pathogenesen gerade zu einer indirekten Annäherung an das phänomenale Feld. Ist dieses doch, wie Merleau-Ponty zeigt, nicht in der intentio recta gegeben. Es ist das Überspringen dieses Feldes zur Objektwelt, das den Menschen von sich selbst und seinesgleichen entfremdet. Zentral wird dabei das Phänomen des Empfindens, das sich in „virtuellen Bewegungen“ erstreckt, die sowohl die Eigenwahrnehmung im Strom der Zeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als auch die Möglichkeit von Fremdwahrnehmung erfassbar machen. Auch Merleau-Ponty geriet als Resistant in den Sog der Zeitgesichte. 1947 formulierte er seine politische Haltung in der Schrift ‚Humanismus und Terror‘ eine eher zurückhaltende Positionierung zu Kommunismus und Stalinismus. Er wollte abwarten, wohin sich Stalins Taktik und Strategie entwickle und auch mit dem Primat der Kommunistischen Partei nicht brechen. In einer nachfolgenden Schrift ‚Die Abenteuer der Dialektik‘ (1955) revidiert Merleau-Ponty diese abwartende Haltung; der hauptsächliche Angriff richtet sich allerdings nicht gegen den Stalinismus, sondern gegen Sartre. Damit kam es zu einem weiteren Bruch in der französischen Intellektuellenszenerie, der allerdings durch Kontroversen über Subjektivität und Menschsein im Umkreis der Redaktion von ‚Les temps modernes‘ bereits vorbereitet war. Merleau-Ponty, der mit nur 53 Jahren starb, hinterließ ein Oeuvre, das die Verbindung von Phänomenologie und realen Wissenschaften mustergültig und konsequent ausarbeitet. Dies sichert ihm bis heute zu Recht eine hohe Aufmerksamkeit. In seiner letzten Lebenszeit wandte er sich dann verstärkt zeichentheoretischen Überlegungen in Anschluss an Ferdinand de Saussure zu. Diese semiotischen Untersuchungen, die sowohl die Phänomenolgoie des Leiblichen als auch die politischen Zielsetzungen in eine Distanz bringen, blieben indes Fragment.761 Wir näherten uns, am Leitfaden der Kritischen Theorie, der großen Zäsur von Auschwitz, dem Tiefstpunkt abendländischer und erst recht neuzeitlicher Zivilisationsgeschichte, dem Nullpunkt im Jahr 1945.762 Wie diese Zäsur in einem tief von phänomenologischen Prägungen bestimmten Horizont, dem französischen, thematisch geworden ist, bleibt im Folgenden zu bedenken. Ich 761 Vgl. dazu jetzt die Edition: Merleau-Ponty, Zeichen, hg. und mit einer Einleitung versehen von Chr. Bermes, Hamburg 2007. 762 Der unbedingte Zäsurcharakter des Jahres 1945l wird pointiert deutlich bei D. Diner, Zeitschwelle Gegenwartsfragen an die Geschichte, München 2010, ders., Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007 und Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

nehme zunächst Bezug auf drei herausragende Autoren: Lyotard (Deleuze im Hintergrund), Lévinas und Foucault, um einiges über die Genealogie französischer Philsophie im 20. Jahrhundert, aus einem von Husserl und Heidegger inspirierten Kontext zu skizzieren. 3. Jean-François Lyotard: Differenz zwischen Archipelen In seinem ersten philosophischen Hauptwerk ‚Le différend‘: Der Widerstreit (1983) legte Lyotard eine sprachphilosophische Explikation von Differenz vor. Wie sehr auch in bestimmten geregelten Diskursen die Sprache insgesamt in ein Ordnungsraster eingefügt ist, vollzieht sie sich doch in singulären Satzereignissen. Von den Einzelsätzen her gesehen, ist Sprache jeweils im Ausnahmezustand, der allerdings in den Ordnungsregularien der Diskurse zumeist verdeckt bleibt. Der Satz (phrase) setzt (phrasé) sich selbst. Es liegt auf der Hand, dass Lyotard mit der Rede vom Widerstreit an Kant, vor allem an die Amphibolie der Reflexionsbegriffe (K. r.V. B 320), aber auch an eine Linie anschließt, die von Locke herrührt: repugnantia (repugnancy of ideas). Nun ist freilich die Crux, dass (von Heidegger bereits erkannt) zwischen Sätzen Sprünge (saltus) bestehen, die vollzogen werden müssen. Die deutsche Doppelsinnigkeit von „Satz“ drückt das aus. Ein Satz zieht gleichwohl andere nach sich, das „Dass“ der Verknüpfung ist unvermeidlich, das „Wie“ hingegen bleibt zufällig oder höchst individuell. Nun ist es offensichtlich, dass ein sich in der Übersetzung in einen anderen Kontext ereignender Widerstreit für Lyotard nicht nur ein elementar sprachliches und daher ontologisches Problem, sondern ein Rechtsproblem markiert. Ein solcher Widerstreit zwischen Sätzen evoziert Unrecht, insofern von zweien oder mehreren von ihnen jeweils nur einer aktualisiert werden kann. Grundlage des Differenzproblems ist der metaphysische Grundsatz „omnis determinatio est negatio“: Jede Bestimmung ist eine Verneinung. Die zeitgenössische Zuspitzung von Lyotards Differenzdenken darf man dabei niemals übersehen. Es geht darum, die Ehre und Möglichkeit eines Denkens nach Auschwitz zu retten, insbesondere auch (ein nach wie vor aktuelles Phänomen) angesichts der Verdrängungen oder Leugnungen von Auschwitz.763 Der Widerstreit (différend) ist dabei das Extremum einer genuinen richterlichen Unentscheidbarkeit, in der es keine Meta-diskursregeln gibt, die auf beide Seiten gleichermaßen anwendbar wären. Solche Regeln könnten die grand récits der überlieferten Metaphysik sein, die aber ihre Bindekraft verloren haben. Es wären die récits vom Sein, aber

763 Vgl. hierzu D. Diner, Das Jahrhundert verstehen 1917−1989. Eine universalhistorische Deutung, München 2015.

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3. Jean-François Lyotard: Differenz zwischen Archipelen

auch die Doktrinen der neuzeitlichen Moderne von Fortschritt, Aufklärung, Wissen. Wir bewegen uns also offensichtlich hier in einem Panorama, das durch die Diagnose fehlgeschlagener Zivilisation hindurchgegangen ist, wie sie von der Kritischen Theorie bei Horkheimer und Adorno disponiert wurde.764 Ebenso nimmt Lyotard die Müdigkeit und Abgelebtheit dieser Zeit in den Blick. Die „elende Erschlaffung“, die ausgeht von der Konstatierung von NeoDies-Neo-Das, bedeute, paradoxerweise, gerade die Stunde des Philosophierens.765 Der Widerstreit findet seine exemplarische Zuspitzung in der Konstellation zwischen Opfer und dem Täter. Das Opfer ist in harschester Differenz zu einem neutralen Kläger jene Partei, die nicht nachweisen kann, dass sie einen Schaden erlitten hat. Strictu sensu bleiben die Überlebenden von Auschwitz in dem prekären Sinne Opfer, dass sie nur durch ihren Tod hätten demonstrieren können, dass ihnen tatsächlich Unrecht angetan worden ist.766 Nicht wenige zerbrachen daran und an der Unerträglichkeit des Überlebens, das Schuldgefühle evozierte. Lyotard hält, gerade im Gegenüber zu diesen Prämissen, an der Forderung der Ethik fest. Die ethische Dimension ist aber schlechthin nicht aus Begründungs- und Satzstrukturen abzuleiten. Sie muss ihnen phänomenologisch vorausgehen. Ihre Forderungen müssen sich gezeigt haben; vielleicht in dem Sinn, in dem vom Antlitz des anderen wie von einem bedrohlichen, sprachlicher Deliberation nicht zugänglichen Engel der Appell ausgeht: ‚Töte mich nicht!’.767 Eben dies war bekanntlich der Kerngedanke von Emmanuel Lévinas. Die ethische Sphäre ist deshalb nicht ein Diskurs neben anderen, sie ist Störung eines Satzuniversums, „indem die Ichheit Störung des Satz-Universums ist, das im Sinn der Subjektivitätsmetaphysik die Identität des Subjektes festzuschreiben versucht, in dem ich also gemäß einer propositionalen Aussage ‚ich‘ bin wenn ich diese Selbstidentität konstatiere.768 Die Heterogenität der Diskursarten ist so weitgehend radikalisiert, dass die Suche nach einem gemeinsamen Idiom unmöglich ist. Unmöglich und ins Leere gehend ist daher

764 J.-F. Lyotard, Heidegger und die Juden, Wien, Berlin 1999. 765 Vgl. z.B. Lyotard, der schalltote Raum, München 2001, siehe auch ders., das postmoderne Wissen, a.a.O., und ders., Politik des Urteils, Zürich 2011, S. 15 ff. 766 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 1989, S. 54 f. Dazu die Bemerkungen bei Welsch, Transverale Vernunft, a.a.O., s. 15 ff. 767 Vgl. E. Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie der Sozialphilosophie, Freiburg/Br., München 1987, S. 220 ff., vgl. auch ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/Br., München 1992. 768 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 60 f. Siehe auch Lévinas, Totalität und Unendlichkeit.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

auch eine Metakritik wie jene von Manfred Frank, die mit einem gewissen Interesse an einem Gesprächszusammenhang mit der Hermeneutik und der Diskursethik den Widerstreit in eine Art von Dialog zurückführen möchte, innerhalb dessen verhandelbare Positionen mit Geltungsansprüchen einander entgegentreten. Der Widerstreit wird dann zu einem „Typ von agonaler Konfrontation im Gespräch“,769 eben dies ist er aber von Lyotard her nicht. Er ist vielmehr der Hiatus, der allem Dialegesthai zugrunde liegt und von dem her auch auf die Platonische Grundlegung des philosophischen Dialogs ein unheimliches Licht fällt. Denn ist das Eintreten in freie Rede und Widerrede bei Platon wirklich begründet eingelöst? Ist es nicht vielmehr der Zwang der Notwendigeit (ananke), der einen jeden Widersacher des Logos überwältigt? Nicht der Dissens, wie Manfred Frank meinte, formt bei Lyotard einen äußersten Extrempunkt, sondern die Para-logie: die prägnante Abweichung vom Logos. Ein gemeinsames Idiom im Widerstreit erweist sich im Letzten als unmöglich. Ein Gespräch ist zwischen diesen extremalen Parteien nicht möglich. Doch deren Exklamationen lassen sich idealiter in jeweilige spezifische Idiome fassen. Dass dies möglich ist, gründet darin, dass jederzeit auch surreal Verkettungen – enchaînements – zwischen Diskursarten und Sätzen möglich sind, sebst dort, wo das Gespräch versagt ist – wie bei dem berühmten Beispiel Lyotards von dem Hauptmann, der mit Kampfrufen in die feindliche Phalanx eindringt und seine Soldaten bleiben in Deckung und rufen ‚Bravo!’. Keine hat allerdings hinreichende Begründungen auf ihrer Seite. Die möglichen Verknüpfungen brachte Lyotard ins Bild von einem „Archipel“, eine Metapher, die sich im Verhältnis zu Kants Bild von der Insel des Wissens im Meer der Unwissenheit begreift. „Jede der Satzfamilien wäre gleichsam eine Insel; das Urteilsvermögen wäre, zumindest zum Teil, gleichsam ein Schiffsreeder oder Admiral, der von einer Insel zu anderen Expeditionen unternähme, die dazu bestimmt wären, das eine zu präsentieren, was man auf der anderen gefunden hat und das der ersten als ‚Als ob’-Anschauung dienen könnte, um sie für gültig zu erklären. Diese Macht zu intervenieren, durch Krieg und Handel, hat keinen Gegenstand und hat keine eigene Insel, aber sie erfordert ein Medium: das Meer, den Archipelagos, das Hauptmeer, wie man früher das ägäische Meer nannte“.770 Das Bild vom Reeder oder Admirnal verweist unverkennbar auf eine Form von Ermächtigung innerhalb der Differenzen. Diese ist freilich, wenn das Sinnbild erschließend sein soll, nicht gewalttätig, sondern sie speist sich aus der eigenen Urteilsfähigkeit, die im fluiden Medium den Übergang zu vollzie-

769 M. Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt/Main 1988. 770 J.-F. Lyotard, Der Enthusiasmus.Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988, S. 33.

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3. Jean-François Lyotard: Differenz zwischen Archipelen

hen vermag. Dagegen ist, etwa von Wolfgang Welsch, eingewandt worden, dass die Übergänge und brüchigen Ligaturen, die auch in der Landschaft des Widerstreits möglich sind, von Lyotard zu wenig bedacht seien. Wie Lyotards Ansatz zeigt, verweist der Widerstreit auf eine Kategorie der äußersten Sphäre (so dass in ihm niemals bestritten wird, dass es auch die Überblendungen und Zwischenformen gebe), die man entschärfte und um ihr eigenes brächte, wenn man sie auf eine immanente Regel bezogene ‚transversale Vernunft‘ bezöge. Wolfgang Welsch unterschied vor diesem Hintergrund Vernunft von Rationalität. Die gesamte Problemlage würde jedenfalls gründlich verkannt, wenn man unterstellt, Lyotard eskamotiere die Vernunftkonzeption aus der Philosophie.771 Lyotard hat das große Verdienst, die Kluft des Nicht-Identischen in die größt mögliche Sinnklarheit, nämlich die historisch-ethische Bruchlinie, hinein offengelegt zu haben. Die Differenz, die eine Ethik-Begründung im Horizont der Nahelegung guten Handelns als sehr problematisch erscheinen lässt, wird dabei klar herausgearbeitet. Es bleibt eine Kluft zwischen dem ‚Ich bin, ich will’ und dem ‚Du sollst’, die vor einer begrifflichen Allgemeinheit schlechterdings nicht zu schließen ist. Bernhard Waldenfels hat deshalb sehr treffend notiert: „Ob die weiche Form einer ‚transversalen Vernunft’, die sich in diesen Reflexionen zur Moderne und Postmoderne abzeichnet, nicht die Gewaltsamkeiten, die jeder begrenzenden und begrenzten Ordnung unweigerlich anhaften, verharmlost und ob nicht die Gefahr besteht, dass durch die Propagierung eines Ideals der Übergängigkeit Grenzen mehr überspielt als bearbeitet werden, mag hier offen bleiben“.772 Der Lyotardsche Widerstreit ähnelt dem, was Heinrich Rombach das ‚hermetische’ Gespräch zwischen Welten genannt hat, das jedem ‚hermeneutischen’, auf Tiefenverständigung bedachten Gespräch zugrunde liege. „Alle Gemeinsamkeiten zwischen Menschen werden auf diese Weise, nämlich gesprächshaft erreicht, wobei das Gespräch nicht immer im Medium der Sprache stattfinden muss. Auch die Verhaltensweisen der Menschen stehen dialogisch zueinander. Eine bestimmte Handlung hat den Wert einer Frage und provoziert dadurch eine partnerschaftliche Handlung, die den Wert einer Antwort hat. In diesem Handlungsprozess werden auch die Grundhandlungen aufgerufen und zur Debatte gestellt. So entstehen im Handlungsgespräch gemeinsame Haltungen, gemeinsame Einstellungen, und auch dort, wo sich die Menschen durch ein Gespräch eher trennen, geschieht dies im Sinne der Gewinnung höherer Klarheit und damit eben doch auch einer größeren Gemeinsamkeit. Die Gemeinsamkeit

771 W. Welsch, Transversale Vernunft, a.a.O., S. 353. 772 B. Waldenfels zu, W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, in: Philosophische Rundschau 35 (1988).

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

kann durchaus eine solche der Auseinandersetzung sein, diese ist aber nur dann gesprächshaft, wenn die Differenzierung eine höhere Dimension gewinnt“.773 Lyotard selbst, 1924 geboren, 1997 verstorben, gehörte in den Jahren nach 1968 der radikalen Linken an, einer marxistsichen Gruppe unter dem Namen ‚Socialisme ou Barbarie’, in der auch der Soziologe und Philosoph Cornelius Castoriadis federführend war. Er ist, seit seiner frühen tief greifenden Auseinandersetzung mit Freud und Marx, mit dem Konzept einer ‚L’economie libidinale’774 vom Ende des traditionellen, Weltdeutungen generierenden Intellektuellenprofils überzeugt, dessen Garant wie kein zweiter Sartre war. 1984 schreibt er sein ‚Tombeau de l’intellecutel’, nämlich das Epitaph auf den idealtypischen Großintellektuellen, der sich einer großen übergreifenden Emanzipationsidee verpflichtet sieht. Ideologielosigkeit und tief liegender philosophischer Skeptizismus wird zunehmend Lyotards Grundhaltung. Man mag dabei als ausschlaggebend seine Erfahrung im Algerienkrieg und -widerstand mit in Rechnung stellen. Kritisches Durcharbeiten, ‚ré-ecrire‘ philosophischer Tradition, wird zu seinem programmatischen Ansatz, auf der – unvollendbaren – Suche der Vernunft nach der Regel ihres Denkens. Dabei hält er an Kritik, Aufklärung, aber auch spezifisch ethischen Problemlagen wie der Frage nach der Gerechtigkeit fest – in einem Horizont, in dem offensichtlich die Metadiskurse außer Kraft gesetzt sind. Wie Heterogenitäten verknüpft werden können, ohne ihre Heterogenität zu tilgen, dies bleibt jeweils Aufgabe vollzogener Urteilskraft. Signum ist dabei aber nicht zuerst das Signum des Schönen, sondern die Diskontinuität des Erhabenen im Anschluss an den Kantischen Begriff. Für Kant eröffnete sich am Erhabenen der Übergang zwischen phänomenaler und noumenaler Welt.775 Wenn Lyotard daher von Postmoderne spricht, so verweist er damit auf eine Radikalisierung von in der Moderne angelegten Latenzen, die namentlich vor allem im Bereich der ästhetischen Moderne eindrücklich ans Licht kamen und keineswegs einen Abschluss der Moderne nahelegen. Nicht nur die Denkbarkeit, auch die Frage der Darstellbarkeit in der Hermeik eröffnen an dieser Stelle die möglichen Optionen.

773 H. Rombach, Drachenkampf, Drachenkampf. Der philosophische Hintergrund der blutigen Bürgerkriege, Freiburg/Br. 1996, S. 142 f. 774 Deutsche Ausgabe heute Lyotard, Libidinöse Ökonomie, Zürich, Berlin 2009; vgl. auch Lyotareds frühes Hauptwerk: Discours, figure, Paris 1971, das medienphilosophisch und medienkritisch avantgardehafte Pespektiven eröffnete. 775 Kants Erhabenheitstopologie ist deshalb für das Gesamtwerk und den Denkansatz von Lyotard von immenser Bedeutung.Vgl. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München 1994. Dazu R.Clausjürgens, Sprachspiele und Urteilskraft. Jean-François Lyotards Diskurse zur narrativen Pragmatik, in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 95 (1988), S. 107 ff.

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3. Jean-François Lyotard: Differenz zwischen Archipelen

Es kann sinnvoll sein, hierin würde ich Welsch folgen, die Lyotardsche Differenzkonzeption in einer anderen zu spiegeln, wie sie Gilles Deleuze im Verlauf von Jahrzehnten entwickelt hat. Dabei ist Deleuze derjenige der neueren französischen Philosophen, der sich am tiefsten mit der metaphysischen Überlieferung auseinandersetzte (großartige Bücher über Leibniz, Le pli, Spinoza und Nietzsche schrieb er). Deleuze konstatiert (in einem erstmals 1968 erschienenen, in deutscher Übersetzung erst 1992 publizierten Werk: ‚Differenz und Wiederholung‘), dass die platonisch ontologische Grundunterscheidung von Identität und Differenz qua Negation in der Moderne in jene von Differenz und Wiederholung zu überführen sei. Damit verbindet sich die Konzeption einer ‚Philosophie der Differenz’, die diese nicht nur an etwas Identischem und nicht nur in Vermittlungen zur Geltung bringt.776 Deleuze fragt deshalb profund: „War die Differenz tatsächlich ein Übel an sich? War es nötig, die Frage in diesen moralischen Begriffen zu stellen? Musste die Differenz ‚vermittelt’ werden, um sie erträglich und denkbar zugleich zu machen? Musste die Selektion in jener Prüfung bestehen? Musste die Prüfung auf diese Weise und mit diesem Ziel begriffen werden?“777 In der zersplitterten Welt der Moderne, so die Grundauffassung, ist Identität, die das Wesen, einen logos tes ousias, selbst zur Ansicht bringen kann, nicht zu gewinnen. Identisches stellt sich aber indirekt im Widerspiel seiner verschiedenen Erscheinungsweisen, in Wiederholungen ein. Wie in ähnlicher Weise Derrida, geht auch Deleuze davon aus, dass es keine Urbilder mehr gebe, sondern Simulacren, die auf andere Simulacren bezogen sind. Dies ist für die Gegenwartsphilosophie ein charakteristischer Zug: Abschied vom Prinzipien- und Ursprungsdenken, ein Durcharbeiten in Wieder-holungen, die Destruktionen in sich schließen, prägt diese Denkart fragmentierter Weltsichten, in denen Bewusstsein und Nicht-Bewusstes einander durchkreuzen.778 Mit Felix Guattari zusammen entwickelte Gilles Deleuze eine Vernunftkonzeption des Rhizoms, also der undurchdringlichen Wurzelwerke. Gehe die alte klassische Metaphysik von einer Wurzel aus, einer ARCHE, und verzweige sich von hier her (bei näherer Kenntnis Platons oder Hegels wird man freilich an diesem behaupteten Schematismuss Modifikationen anmelden müssen!),779

776 Wichtige Anregungen zum Thema verdanke ich Münchner Oberseminaren von Stephan Otto in den neunziger Jahren. Vgl. zu Ottos Darstellungsdenken auch ders., Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewusstseins, Hamburg 2007, S. 269 ff.und S. 383 ff. 777 G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 51. 778 Ibid., S. 67 ff., vgl. auch ders., Logik des Sinns, Frankfurt/Main 1989. 779 Vgl. M. Stingelin, Das Netzwerk von G. Deleuze, Berlin 2001. Dass eine inventive Neudeutung eine intentio obliqua und nicht immer die intentio recta verfolgt, ist keineswegs ein grundlegender systematischer Einwand.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

so kennt die Moderne immer schon eine Vielheit von Ursprüngen, ein System kleiner, sich mikrologisch weiter verästelnder Wurzeln, die aber durch die Einheit eines, das viele machenden Subjektes gehalten wird. Die ästhetische Moderne ist auch nach Guattaris Auffassung die nachhaltige Avantgarde dieser Tendenz. Gänzlich neu ist freilich der Zusammenhang von Konnexion und Heterogenität, die eben die Vernunftform des Rhizoms ausmacht. In ihr kann jeder beliebige Punkt mit jedem anderen verknüpft werden, wie wohl sie untereinander divergieren.780 Dafür gibt es – etwas merkwürdige – Analogien, die die Konnexion im Zeichen des Heterogenen benennen, etwa das Bild der Viren, die sich in das Genom anderer Spezies einschleichen. Indes lebt jene Vernunftkonzeption davon, dass der Einheitssinn zu einem Teil der Vielheit, des nicht-zentrierten Pluriversums herabgesetzt werden soll. Die Rollen von General und Admiral, von denen Lyotard fallweise als von dem urteilsfähigen Subjekt gesprochen hatte, das zwischen den Archipelen fährt, ist in der DeleuzeschenVernunftpräsentation nicht mehr präsent. Dass das Rhizom von den Aporien einer absoluten Differenz befreien sollte, ist eine Hoffnung auf mögliche Kontakte. Dies könnte auch eher eine Versicherung als eine eingelöste Einsicht sein. Die Verbindung mit Guattari gibt jenem Ansatz etwas Clowneskes, Luftkutscherisches, der mich immer wieder auf ‚Differenz und Wiederholung’ zurückgreifen lässt. Was ist etwa gewonnen mit dem Fanal: Pluralismus ist Monismus, wo das „monon“ seinen Sinn verloren hat. Deshalb haben wir uns das Rhizom zu denken als ein „nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert“.781 4. Foucault: Parrhesia, in Diskurse verstrickt Für die Situierung der Conditio moderna ist von größter Wirkung, ebenso in der Philosophie wie einer archäologischen Geschichtsschreibung, das Oeuvre von Michel Foucault (1926−1984). Foucault verstand sich weniger als Philosoph, denn als Historiker von Wissens- und Zivilisationsformationen, wodurch er zugleich die Verbindungen zwischen Wissens- und Machtformen thematisch machen wollte. Er debütiert mit einer Reihe von Arbeiten, die zeigen, wie die Legitimät der modernen Welt wesentlich durch den Ausschluss des ‚tragischen Wahnsinns’ an ihrem Grund mit erkauft ist. Jenes Andere der Vernunft wird aus der Tageskultur der zähmbaren Gesellschaften getilgt. Es

780 Vgl. G. Deleuze und F. Guattari, Rhizom, Berlin 1977, dazu S. Heyer, Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept. Ein Wegweiser durch tausend Plateaus, Wien 2001. 781 Deleuz, Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 35.

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4. Foucault: Parrhesia, in Diskurse verstrickt

wird in Halb- und Hinterwelten abgedrängt. Foucault folgt dabei, ähnlich wie Freud eher uneingestandenermaßen, Nietzsche, der das andere der Vernunft als Grund und Anstoß abendländischer Kultur freigelegt habe. In dem Werk, das ihn berühmt gemacht hatte: ‚Folie et déraison: Histoire de la folie à l’ âge classique‘ (Deutsch Wahnsinn und Gesellschaft)782 konstatiert er eine Parallele zwischen dem Ausschluss des Wahnsinns aus der Konstitution von Cogito und Bewusstsein bei Descartes (1641) und der Verlagerung der ‚großen Gefangenschaft des Wahnsinns’ in eigens dafür angelegten Irrenhäusern, beginnend mit der Begründung des Hôpital général in Paris. Hauptzweck des Hôpital war es, den irrationalen Schatten der Gesellschaft aus deren Blickkreis zu entfernen, weshalb wahllos Aufsässige, Arme kaserniert wurden. Die Französische Revolution führt demgengenüber zu einer Wahnsinnsdiagnostik, mit einer kaum weniger rigiden Aussonderung und Überwachung der Betroffenen. Wahnsinn gilt als eine ‚Entfremdung’ (alienation), aus der der Patient in die normative Vernunft zurückzuführen ist. „Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des 18. Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialoges, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und lässt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, die ein wenig an Gestammel erinnerten und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen konstituieren können“.783 Die Archäologie dieses Schweigens zu beschreiben, ist Foucaults Projekt. Er geht dabei von der Auffassung aus, dass eine Vernunft, die das Andere ihrer selbst eliminiert oder abdrängt, sich selbst destruieren muss. In Werken der Dichtung – exemplarisch werden Hölderlin, der schwarze französische Romantiker Nerval, aber auch Nietzsche und Artaud genannt – flirrt in unendlichen Alienationen eine andere, größere Vernunft.. Die Entfremdung wird also zum Verfahren dieser entgrenzten Vernunft, die in Nietzsches Dionysischem kulminiert. Solches Denken ist heilend, weil es „durch eigene Kraft jenem gigantischsten moralischen Gefangenendasein [widerstehe]“.784 Auch Foucault verweist als Antidotum zu den massiven und unmittelbar einleuchtenden Formen der Verletzung auf Formen der Ermächtigung. Diese ist freilich nicht gewalttätig, sondern sie speist sich aus der eigenen Urteilsfä782 Vorausgeht M. Foucault, Maladie mentale et personnalité. Presses universitaires de France, Paris 1954; ab 2. Auflage 1962: Maladie mentale et psychologie. Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt am Main 1968, vgl. auch Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/Main 1969. 783 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O. S. 8. 784 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., S. 536.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

higkeit, die im fluiden Medium den Übergang zu vollziehen vermag. In seinen nächsten Büchern ‚Die Geburt der Klinik’ (Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical’ 1963), sodann vor allem ‘Les mots et les choses’, ‘Une archéologie des sciences humaines‘, 1966, (Deutsch : Die Ordnung der Dinge) ging Foucault nicht mehr von einer Genealogie von Machtpraktiken aus, die eine lineare Rationalitätskonzeption sichern wollen. Er griff vielmehr zurück auf eine Art Grundphilosophie (Episteme), die verschiedenen Epochen unterliegt und zwischen ihnen deutlichen Brüchen ausgesetzt ist. Foucault zeigt dabei, dass die Renaissance-Epoche in der Genealogie der Neuzeit eine immer meist übersehene Sonderstellung einnimmt, insofern sie auf der Episteme der Ähnlichkeit beruht. Wörter, Dinge und Zeichen, Zeichen untereinander, Mikro- und Makrostrukturen seien durch Ähnlichkeit miteinander korreliert. Ähnlichkeit, natürliche Nachbarschaft, ist das Tertium, das den Zusammenhang herstellt. Demgegenüber zielte das 18. Jahrhundert auf eine universale zweistellige Repräsentations-Konzeption, repraesentatio in einer ‚zweistelligen’ logischen Universalsprache. Fulminant und damit gleichermaßen ein Beitrag zur philosophischen Genealogie der Moderne und zu der Frage nach dem Subjekt ist die Diagnose, dass jene Moderne erst das eigentliche, von hypostatischen Jenseitsvorstellungen entlastete „Zeitalter des Menschen“ sei.785 Dies bedeutet bei Foucault sehr präzise (in einem etwa von Heidegger ähnlich exponierten Verständigungszusammenhang), dass die Vorstellung nicht nur auf ein Objekt verweist, sondern selbst-reflexiv zugleich auf das sie vorstellende Subjekt. Es kann nicht Grund sein, sondern ist jederzeit mitthematisiertes Subjekt. Jene Vorstellung seines Vorstellens ist aber noch nicht Selbst-vorstellung und Vertrautsein mit sich selbst. . Das unmittelbare Vertrautsein ist Voraussetzung der Cogitatio innerhalb ihrer aber nicht einholbar, ähnlich wie sich das sehende Auge selbst nicht sieht. Die Repräsentationsmetaphysik kann also einerseits ihren Grund oder Abgrund nicht einholen, andrerseits bindet sie empirische Erkenntnis an den transzendentalen Grund. Der Mensch kommt in dieser Doppelperspektive vor, die aber – es ist deutlich, wie sehr Kants: „Ich denke“ auch hier noch die Gegenfolie abgibt – Heterogenes, ineinander nicht Zurückführbares verbindet.786 Er wird zur Dublette seiner selbst, zur konstituierenden Grenze der Welt, ein Wesen, „dessen Natur es wäre, die Natur und infolgedessen sich selbst als natürliches Wesen zu erkennen“.787 Zugleich lässt sich zeigen, dass die Humanwissenschaften implizit auf diese Konzeption Bezug nehmen. 785 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main 1971, S. 12 ff. 786 Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 54 ff. 787 Vgl. dazu P. Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt/Main 2004, siehe auch H. L. Dreyfus und P. Rabinow. Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1987.

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4. Foucault: Parrhesia, in Diskurse verstrickt

Am Zielpunkt, in seiner Exposition des „Verschwindens des Subjekts“ zielt Foucault auf ein Denken jenseits des Subjektes. Man mag an Analogien aus der Dichtung denken: Paul Celans, es seien „noch Lieder zu singen jenseits des Menschen“.788 Denken öffnet sich an der Leerstelle, die das menschliche Subjekt offen lässt: „In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist zu denken“.789 Dies führt ihn in der mittleren Phase seiner kurzen, aber ungemein intensiven Werkgeschichte, dem Methodenbuch seiner bisherigen Tiefengeschichtsschreibung ‚L’ archéologie du savoir’ (Archäologie des Wissens), 1969 zu einem Begriff des Diskurses, der selbst der externen Registratur bedarf.. Die Materialität des Gesagten, in einer Zeitepoche, an einem jeweiligen Ort, muss vom Denken registriert werden. Eine weitgehende Abstandnahme setzt voraus, dass sie für ihn nicht mehr in Geltung sind; sie ermöglicht zuerst diese Reigstratur. Bezogen auf Lyotard wäre wohl festzuhalten, dass in dieser äußersten Katharsis und Selbstneutralisierung eine Differenz zwischen Eigenem und Fremdem, Selbst und Anderem gar nicht mehr einholbar ist. Der Historiker wird Ethnologe jedweder Kultur. Man könnte den Eindruck haben, hier erfahre Max Webers Diktum von der Wertfreiheit seine äußerste Zuspitzung. Andrerseits ist auch die Auffassung nicht ohne Grund, dass Foucault Nietzsches Denkweg zu einem Positivismus ‚fröhlicher Wissenschaft’, nach seinem tragischen Frühwerk, nachvollziehe.790 Foucault war von dieser Konstellation langfristig nicht befriedigt. Eine weitere Zäsur in seiner Denkentwicklung ist die vielbeachtete Antrittsvorlesung am Collège de France: ‚L’ordre du discours’: Die Ordnung des Diskurses (2. 12. 1970).791 Sie legt die Spur von Macht frei, die unterschwellig im Diskurs manifest werde. Jene Macht sucht Diskurse zu kontrollieren. Und gegen Derridas Grundeinsicht eines Logozentrismus gerichtet, wirft Foucault die Frage auf, ob nicht Diskurse an ihrem Grund von einer Logophobie, die das

788 Paul Celan, Fadensonnen, in: Gesammelte Werke Band 2, Frankfurt/Main 1986, S. 26. Das Gedicht ‚Fadensonnen’ gibt dem Gedichtband Celans den Titel. 789 Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 412. Vgl.dazu P. Mazumdar (Hg.), Foucault und das Problem der Freiheit, Baden-Baden 2015. 790 Zu Focuaults Biographie: D. Eribon, Michel Foucault und seine Zeitgenossen, München 1998. 791 M. Foucault, L’ordre du discours: Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970. Gallimard, Paris 1972, deutsche Übersetzung: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970. Hanser, München 1974.

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diskursive Eigenrecht jederzeit in den Bannstrahl seiner Kontrolle zu nehmen versuche. Foucault folgt dabei freilich mit bisher ungeahnter Konsequenz den Nietzscheschen Moralgenealogien aus dem Horizont des Willens zur Macht. Diskurse sind auch in ihrem eigenen Inneren Formen des Willens zur Macht, der selbst die subtilste Wahrheitsannäherung durchdringt und prägt. Nun wird deutlich, dass das andere, das zunächst in der ausgeblendeten Dimension des Wahnsinns gesucht wurde, in einen ungehinderten Diskurs verlagert wird. Dieser kann nicht zu sich selbst kommen, je mehr mit Ausblendungen, Abstraktionen zu arbeiten ist. Es sind diese Überlegungen, die Foucault in der Folgezeit zu einer subtilen Macht-Analytik führen. Macht zeigt sich nicht mehr stratifikatorisch, sondern in verschiedenen, untereinander durchaus disparaten Manifestationen als Ausschließungsmechanismus. ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘ hatte vor allem dieses Phänomen untersucht.792 Es gibt aber auch einen Machttypus, der in Integration kulminiert. Macht kann dadurch, je nachdem, Individualität unterdrücken und in ihren Dienst stellen, so dass solche Individualität sich ihr wesentlich verdankt. Dualismen werden auf diesem Weg zurückgedrängt, Subjektivierung, aber auch die integrierenden Ligaturen einer Gesellschaft, verdanken sich zuallererst solcher Macht. Sie wird gerade dadurch unausweichlich, der Tendenz nach ist sie total, man kann sich ihr nicht entziehen. Dies führt Foucault zu einer subtilen Selbstrevision seines Ansatzes. Macht in das Schema der Repression zu bannen, greift zu kurz. Sie wird vielmehr dort am wirksamsten sein, wo sie ihre Dispositive in einzelne Manifestationen des Selbst verankert, etwa in den tendenziell unendlichen Diskursen über die Freiheit der Sexualität. Es kommt jedoch eine weitere Zuspitzung hinzu, die Nietzsche, obwohl bereits er im Plural von ‚den’ Willen zur Macht im Plural sprach, nicht mit in Rechnung stellte. Macht ist eben nicht Vermögen, verankert in einem souveränen Herrschaftszentrum, in ihr manifestiert sich der auch im Gesellschaftszustand nur unzureichend gebündelte Krieg aller gegen alle: alles ist Macht, die jeweils auf eine Gegenmacht stößt. Solche Macht kann sich zerstreuen und sie kann sich bündeln, bis sie in eine umfassende Globalmacht, wie den Staat, übergeht. Diese Analysen greifen wohl am weitesten und radikalsten in die Destruktion des Subjektes ein. Auf Foucault geht eines der eindrücklichsten und berühmtesten Bilder von jenem Verschwinden, jenem „Tod“ des Subjekts zurück. Es verliere sich wie ein in den Sand gezeichnetes Antlitz. Umso erstaunli-

792 Vgl. dazu Ph. Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 52013, der die Logiken von Inklusion und Exklusion treffsicher herausarbeitet. Vgl. dazu die herausagende Untersuchung von P. Mazumdar, Der archäologische Zirkel: Zur Ontologie der Sprache in Michel Focuaults Geschichte des Wissens, Bielefeld 2008.

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4. Foucault: Parrhesia, in Diskurse verstrickt

cher ist es, dass Foucault in seinem Spätwerk, einer auf sechs Bände angelegten Untersuchung über ‚Sexualität und Wahrheit‘ eine Rückwendung umreißt. Sie führt zwar nicht zurück auf neuzeitliche Subjektivität, wohl aber auf den zentralen Topos antiker Philosophie von der Sorge um die eigene Seele: „Epimeleia tes psyches“. Es geht um die Aufsuchung und Kultivierung solcher Praktiken und letztlich Lebensformen, in denen es dem Selbst möglich wird, sich zu sich selbst in einer gewissen Abständigkeit, also nicht vollständig von sich und den Machtdispositiven eingenommen, verhalten zu können.793 Dies ist zugleich eine Rückwendung zur Unhintergehbarkeit eines Ethos der Selbstsorge gegenüber allen Destruktionen. Unter Foucaults Blick ergeben sich Konturen einer spezifischen Asketik, im Sinn von Lebenskunst und Lebenszucht, die auf eine erhöhte und gesteigerte Selbsterfahrung, nicht eine Selbstnegierung zielen. Selbstsorge ist Lebensbejahung und autonome -formung. Sie zentrieren sich auf den Grundsinn der „Parrhesia“, der Aufrichtigkeit, Selbsterhellung im Lebensvollzug als des Grundsinns des Philosophierens, das sich selbst Kennen,794 „Gnothi seauton“ gemäß dem delphischen Wahrspruch.. Gegenüber Nietzsche macht Foucault auch darauf aufmerksam, dass die christliche ‚Pastoralmacht’, namentlich in der Praktik in den Orden, auf die philosophische Lebenskunst der antiken Philosophenschulen zurückgehe. Insofern macht auch Foucault die ‚Querelle des anciens et des modernes‘ auf. Daher kann nicht gesagt werden, dass das Christentum die ‚herrlichen’ antiken Möglichkeiten des Menschentums unterdrückt habe. Freilich besteht eine tiefdringende Distinktionslinie, während sich das Selbst philosophisch in der Sorge um sich erst gegeben wird, ist es christlich immer schon als creatura, als Geschöpf, gesetzt. Eros ist einerseits das Analogon sui generis für den „Anhodos“, den Aufstiegsgang zur philosophischen Weisheit. Dies setzt selbstverständlich Sublimierung, Askese im Sinn einer Lebensgestaltung des Selbst voraus. Andrerseits aber bleibt der philosophische Logos vom Eros durchdrungen und durchstimmt. Aus ihm nimmt er seine Macht. Zuletzt gilt Foucaults Interesse im Sinne der Stoa und in der Linie des platonischen ‚Philebos’ der weisheitlichen Erprobung menschlichen Selbstseins und einer bezeugten Wahrheit, in der es darum geht seine jeweilige Sinnliche und seine

793 Erste deutsche Veröffentlichung: M. Foucault, Diskurs und Wahrheit: Die Problematisierung der Parrhesia. 6 Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität von Berkeley, Kalifornien, Berlin 1996; die weitere Entfaltung in den Collège de France-Vorlesungen: Le Gouvernement de soi et des autres (1982–1983) – (Die Regierung des Selbst und der anderen. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Frankfurt am Main 2009). Le Gouvernement de soi et des autres: le courage de la vérité (1983–1984) – (Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Frankfurt am Main 2010). 794 Dazu Der Mut zur Wahrheit Band II, S. 340 ff. Vgl. auch den letzten Band von Foucault, Sexualität und Wahrheit, Die Geständnisses des Fleisches, Berlin 2019.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

intelligible Existenz gleichermaßen zu sein, also zu ‚verantworten’, auch wenn solches Leben zu sich selbst in einer unlösbaren Distance steht. 5. Lévinas: Lehre als Gespräch oder: Der Andere als die Sache selbst Eigener Akzentuierung bedarf in diesem Zusammenhang das Denken von Emmauel Lévinas, 1912 in Kaunas Litauen geboren, in den Jahren 1928/29 gleichermaßen Schüler von Heidegger und Husserl, dem Russischen und dem Hebräischen verwachsen, ehe er in der deutschen Sprache die Sprache des phänomenologischen Denkens als erstes Fremdes erlernte.795 Lévinas verbringt in der NS-Zeiteinige entwürdigende Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft, viele Glieder seiner Familie wurden in Kaunas erschossen. Lange Jahre ist er Direktor der ENIO, einer jüdischen Eliteschule in Paris. Sein Oeuvre ist einerseits in exemplarichen Büchern niedergelegt, etwa ‚Totalität und Unendlichkeit’, ‚Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht’, die die Auseinandersetzung mit dem griechischen Logos und den Fundamenten der abendländischen Ontologie suchen, dabei aber ihren Denkort und Akut von Heidegger und Husserl beziehen. Diese Korrelation zeichnet gleichermaßen Nähe und insistente Abarbeitung aus. Lévinas ist vor diesem Hintergrund in besonderer Weise zum Denken der Differenz disponiert und von der Vorgängigkeit des anderen her inspiriert. Es ist die in keine Allgemeinform einzupassende Individualität, an der sich sein Denken auszuweisen hat. In einer späten Notiz hält er fest: „Alles, was ich versucht habe, ist ein Verhältnis zu finden, das nicht Addition ist. Wir sind so an den Begriff der Addition gebunden, dass es uns oftmals erscheint, als sei eigentlich die Zweiheit ein Verfallen“.796 Man kann hier, wie an vielen Punkten in Lévinas‘ Denken, platonische Textformen heraushören, ein ursprüngliches philosophisches Athen, das aber in die Begriffswelt von Jerusalem überführt wird; insbesondere zeigt sich dies am Hinweis auf die „unbestimmte Zweiheit“. Die vorphilosophische, sogar strictu sensu vor-sprachliche Erfahrung des Anderen trägt Lévinas zufolge alle Philosophie. Sie werde aber in einem Selbstbekümmerungsverhältnis, wie der Heideggerschen Sorgestruktur, der Bestimmung des Daseins als des Seienden, dem es in seinem Sein einzig um dieses Seins selbst geht, verschüttet. Auch in der Monadizität, in der der späte Husserl Einfühlung in den anderen zu fassen versucht, erst recht in seiner Einbeziehung in den Bewusstseinsstrom von

795 Vgl. Chr. v.Wolzogen, Emmanuel Lévinas. Denken bis zum Äußersten, Freiburg/Br. u.a.2005; siehe auch W. Stegmaier, Emmanuel Lévinas zur Einführung, Hamburg 2009. 796 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/Br., München 1987.

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5. Lévinas: Lehre als Gespräch oder: Der Andere als die Sache selbst

Noesis und Noema jenes radikale Angerufensein im Blick erkennt Lévinas , das ‚Töte mich nicht!’ als Schlüssel, die Anrufung, die allen Worten und Begründungen vorausgeht.797 Am anderen erst wird das in sich verschlossene ‚Ich’ (‚Moi‘), eine Raum-Zeit-Stelle, zu dem erwachten ‚Je’, das sich selbst in seiner konkreten Individualität erkennt. Urform solcher Berufung in das Sein aus der Anrede heraus ist die alttestamentliche, hebräische Gotteserfahrung, aber nicht im Allgemeinen, sondern spezifiziert auf die Verantwortung des Einzelnen und den fragenden Appell: ‚Wo warst du Adam?’. Erst aus dem Angerufensein konstituiert sich Freiheit, aus der Ananke des Blickes werden wir gleichsam in einer Investitur mit ihr bekleidet.798 Damit verbindet sich bei Lévinas die Denkfigur, dass erst in der Ethik, dem, jeweils uneinholbaren Versuch, dem ‚Dire’, ‚Dictamen’ und ‚Dictum‘ durch den anderen zu entsprechen, der Sinn von Sein gewonnen werden kann.799 Insofern geht Ethik jedweder Ontologie, auch der Heideggerschen Fundamentalontologie voraus. Die Spur des Anderen: dies Mich-Anrufen durchreißt meine Gegenwart, es ist Krisis des Ich und nicht in die Intentionalität seines Bewusstseinsvollzugs einzubeziehen. Auch Theophanie, Transzendenz, ist nur in der Präsenz des anderen zu versinnbildlichen, als die Stimme eines Dritten. „Die Nähe des Anderen ist Bedeuten des Antlitzes. Bedeuten, das von vornherein von jenseits der plastischen Formen her bedeutet“.800 Das Antlitz durchbricht vielmehr jederzeit die gegebenen Formen in der „Geradlinigkeit der Ausgesetztheit an den unsichtbaren Tod, an eine geheimnisvolle Verlassenheit. Sterblichkeit – jenseits der Sichtbarkeit des Enthüllten – und vor jedem Wissen über den Tod. Ausdruck, der die Gewalt des erstens Verbrechens herausfordert […]. Der Tod des anderen Menschen stellt mich vor Gericht und in Frage, als ob ich durch meine eventuelle Indifferenz der Komplize dieses für den Anderen, der sich ihm aussetzt unsichtbaren Todes würde“.801 Auch diese Perspektive ist, ähnlich wie Celans große Gedichte, erst aus dem Dunkel von Auschwitz, der Shoah, als inkommensurabler Vernichtung solcher Freiheit und solchen Geboten die Andersheit zu einer uneinholbaren geschichtlichen Gestalt geworden. Signifikant ist noch ein anderer Zug dieser Intersubjektivität: „énigme ou ex-ception du visage, juge et parti“, das „Rätsel

797 Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/Br., München 21987, S. 221 ff. 798 E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit.Versuch über Exteriorität, Freiburg/Br., München 1987, S. 267 ff., siehe auch der., Die Spur des Anderen., a.a.O., S. 225 ff. 799 Prägnant dazu E.Lévinas, Ethik und Unendliches.Gespräche mit Ph.Nemo, Wien31996 und ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989. 800 Lévinas, Die Spur des Anderen, a.a.O. 801 Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, a.a.O., S. 251 f.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

der Ausnahme des Gesichtes, das Richter ist und zugleich derjenige, für den ich Partei ergreife“.802 Zwischen der ontologischen Grundkonstellation von Sein und Nichts öffnet sich mithin das Dritte, die Spur des Anltitzes in das entzogene Absolute. Dem eignet die Apodiktizität des Gewissensrufes, der apodiktisch unwidersprechlich ist. Seine grundsätzliche Existenz hat er im Antlitz des anderen Menschen. Das Absolute grundiert die Ethik. Selbst ist es als Spur, ein wesentlicher Begriff auch in der ästhetischen Moderne zwischen Sichtbarkeit und Entzogenheit, aber immer unthematisch. In ihm manifestiert sich daher auch ein Drittes, eine mögliche Spur Gottes.803 Aus ihm konstituiert sich Zeit, wobei die Ekstasen der Zeit im Augenblick des Angerufenseins gebündelt werden. Sie verdichten sich zu einem Futur perfectum, einem Mehrdenken als propositional und verbatim gedacht werden kann, indem solches Denken, wenn es denkt, „besser handelt als wenn es dächte“.804 Der Sinn des ‚sich-verantwortenden’ „je“, wird an einer Stelle von ‚Jenseits von Sein’ so umrissen: „Die Offenheit des Raumes als Offenheit des Sich-ohne Welt, ortlos, die Utopie, das Nichteingemauertsein, die Inspiration bis zum Ende, bis zum Aushauchen – genau das ist die Nähe des Anderen, die nur möglich ist als Verantwortung für den Anderen, welche wiederum nur möglich ist als Stellvertretung für ihn“.805 6. Derrida: Jenseits der Differenz von Metaphysik und Nicht-Metaphysik 1. Grammatik, Stimme, Idee An dieser Stelle kann auf einen Akut französischer Philosophie im 20. Jahrhundert, den Denkansatz von Jacques Derrida umgeblendet werden. Biographisch schon deshalb, weil Derrida wesentliche philosophische Impulse von Lévinas empfing und immer in Spannung zu Foucault stand. Bei Derrida kulminieren viele der benannten Motive. Seine herausragende Bedeutung wurde an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert auch in einem globalen Rezeptionsvorgang offensichtlich. Sein erstes maßgebliches Hauptwerk legt Derrida im Jahr 1967 unter dem Titel ‚De la Grammatologie’ als Wissenschaft von der Schrift vor. Wesentliche Motive sind damit schon skizziert: Schrift verweist auf die hinterlassene, lesbare Spur. In der Schrift wird das ‚Eigentliche’ ausgesetzt, es wird in Wie-

802 803 804 805

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Lévinas, Jenseits des Seins, a.a.O., S. 44. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, a.a.O., S. 193 f. Lévinas, Die Spur des Anderen, a.a.O., S. 227 f. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 419 f., siehe auch ibid., S. 274.

6. Derrida: Jenseits der Differenz von Metaphysik und Nicht-Metaphysik

derholungen lesbar, die Unmittelbarkeit wird auf diese Weise überschritten. Schrift ist daher der Raum, in dem sich Differenzen eröffnen, sie ließe sich auch als Sphäre der Lichtung erklären. Zugleich aber ist das Supplement „Substitut, das schwächt, versklavt, tilgt, trennt“. Man kann, wenn man die Grammatologie zugrunde legt, die zu weiten Teilen ein Rousseau-Kommentar ist, nicht feststellen, dass Derrida geschriebener Sprache nun einen Vorrang vor dem gesprochenen Wort einräume. Beide ergänzen sich wechselseitig. Die Denkbewegung gelangt daher niemals zu einem Ursprung, auch nicht zu der höchsten möglichen Sinnklarheit der Phänomene, sondern nur zu einem in sich differenten Ursprungsgeschehen. Die Bekenntnisse Rousseaus insinuieren dies, indem sie einerseits auf das gelebte Leben und das gesprochene Wort verweisen. Schreiben ist aber, wie Derrida zeigt, nicht nur Gegenbegriff zum Leben, es muss auch zum eigentlichen Leben verwandelt werden. In der Schrift erst ist das Leben supplementiert: vervollkommnet.806 Nicht anders ist es mit Rousseaus Genealogien der Sprache, denen der frühe Derrida ebenso subtil nachgeht. Sprache soll zwar originär als gesprochenes Wort verstanden sein, dem die Verschriftlichung nur sekundär sei. Allerdings kann die Beschreibung von Sprache auf Artikulation, Gliederung in bleibende Strukturen nicht verzichten. Die Ambivalenz, die in der Grammatologie evoziert wird, exponiert Derrida im selben Jahr in dem Essay ‚La voix et le phenomène’, im Wesentlichen eine Deutung des § 124 der Ideen I und der 1. Logischen Untersuchung. .807 Die Schlüsselthese verweist allerdings auf einen übergreifenderen und nicht selbstverständlichen Zug der abendländischen Philosophie. , deren Logozentrismus zugleich ein Phonozentrismus ist. Anders als in der metaphysisch phonzentrischen Traditionslinie ist es für Derrida nicht die Visibilitätsperspektive der Lichtmetaphysik, sondern die in der Zeit verlautbarte Sprache ein Verweis auf den bevorzugten, esoterischen Zugang zu phänomenaler Sache und dem sie erforschendem Selbst durch die Stimme. Platons VII, Brief und der ‚Phaidros‘ bieten subtile Ausblicke auf den europäischen Zusammenhang jenes Logozentrismus.808 Von diesem sprachphilosophischen Ausgangspunkt her kommt Derrida auf die Phänomenologie zurück. Bei Husserl zeigt sich dies in besonderer Manifestation: Der ideale Gegenstand kann sich in einem Medium konstituieren, in dem gleichermaßen Noesis und Noema, die Präsenz des Gemeinten und 806 J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt/Main 1988, S. 7 ff. (Paris 1967). 807 J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage 3 der „Krisis“. Übers. Rüdiger Hentschel, Andreas Knop. Wilhelm Fink, München 1987. 808 Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 67 ff. und vor allem ders., Die Stimme und das Phänomen.Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/Main 1979.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

die Selbstpräsenz erfasst. Erschließenedes Urphänomen ist daher die Stimme, die sich selbst vernimmt. Sie hört sich sprechen, verhält sich also in einer Selbstaffektion zu sich.809 Der Vergleich mit dem geometrischen Gegenstand, an dessen Konstitution durch die Phänomenologie Derrida sich zuvor abgearbeitet hatte, bringt dieses Proprium deutlich zum Ausdruck. Wenn ideale Gegenstände auf eine materialisierende Darstellung angewiesen sind (wie die Schrift, wie aber auch die Zeichnung), so ergibt sich notwendigerweise eine Zweideutigkeit. Sie werden in die Präsenz gehoben, diese wird aber zugleich wieder verdunkelt. Die sich-sprechen-hörende Stimme (für den Freudkenner Derrida freilich zugleich ein eminent narzisstisches und letztlich auto-erotisches Phänomen, was in der ‚Grammatologie’ aber erst ganz deutlich wird), scheint demgegenüber eine reine Phänomen- und Selbst-präsenz zu ermöglichen, die ihrerseits nicht ‚mundan’, nicht raum-zeitliches Seiendes in der Welt ist.810 Dekonstruktion indiziert, wie sich an diesem Text besonders deutlich zeigt, eine reduktive Begrifflichkeit auf die in ihr spielende Differenz zu öffnen. Derridas Denkform wäre also von Grund auf verkannt, wenn man sie als eine Tieferlegung von Ursprüngen oder Begründungen fassen wollte, so als läge unter der der Heideggerschen ontologischen Differenz nun ihrerseits jene der Schriftlichkeiten und ihrer Masken. Vielmehr wird in ‚Die Stimme und das Phänomen’ ein Spalt eröffnet, der eben dadurch entsteht, dass dieses sich-Sprechen-Hören in der Zeit verortet ist. „Ich höre mich in der Zeit, in der ich spreche“.811 Das meint, dass die Präsenz nicht real ist, sondern der Repräsentanzen und Ergänzungen bedarf, so dass eben hier nicht nur ein Verweis auf Schrift, sondern auf die metaphysisch zumeist übersprungene Apousia, das Nichtpräsentsein eintritt.812 Die wechselseitige Supplementierung von Schrift und gesprochener Sprache ist ihrerseits höchst komplex verfugt. Dies zeigt sich in frühen Auseinandersetzungen mit der Ethnologie, namentlich mit den ‚Tristes Tropiques’ von Lévi-Strauss. Schrift verallgemeinert, sie durchstreicht den Eigennamen, sie tut daher der gesprochenen Sprache Gewalt an, zugleich aber rettet sie Präsenz-Erwartung gesprochener Sprache in den Aufschub des Differenzgeschehens. Die Präsenz-Illusion, die an Husserl eindrücklich demonstriert wird, wird Derrida allerdings, in modifizierter Gestalt, auch auf Heidegger beziehen. Das Hören auf die Stimme des Seins löst sich seinerseits aus der Differenz: Es hört 809 Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 63 f. 810 Über den Schritt aus dem reflektierenden Bewusstsein heraus vgl. Schippling, Seubert, Bewuwsstseinssprung, a.a.O. 811 Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1972. 812 Jean Strepp und Franziska Thron danke ich für instruktive Gespräche zum Thema in den Jahren 2004−06, als die Gedanken und Überlegungen dieses Buches in Vorlesungsform Gestalt gewannen.

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auf die sich sprechende Sprache, die aber zum monolithischen Block wird: Geläut der Stille im Anklang an Heidegger, „stumm, lautlos, wortlos“ soll sie sein; womit in der Tat das ‚aneu phone’ des inneren Sprechens bei Platon revoziert wird.813 2. Differenz-Bedeutungen Dem Begriffssinn des für Derrida maßgeblichen Differenz-Verständnisses ist näher nachzugehen. In einem Vortrag ‚Die Différance’, das Derrida an die Stelle des deutschen „différence“ setzt (in deutschen Übertragungen wurde der Versuch unternommen, das Schriftbild aufzunehmen mit „Differänz“), wird dies thematisch: Derrida verweist darauf, , dass es ausschließlich um einen Buchstaben gehe, der gelegentlich in die Schreibung eingeführt werden müsse. Bei Derrida ist es der erste Buchstabe des Alphabets: ALEPH, A: nach jüdisch kabbalistischer Überlieferung liegt die ganze Offenbarung Gottes in diesem fragilen, vieldeutigen Zeichen. Darauf deutete Derrida, dessen eigene jüdische Herkunft ihm erst selbst nach und nach als Konstitutivum bewusst wurde, hin..814 Tatsächlich verweist er in der nuancierenden Schreibung auf andere Spuren: das A hat die Gestalt der Pyramide, womit an Hegel zurückerinnert ist, an den „nächtlichen Schacht“, in dem das Gedächtnis seine Bilder verwahrt, die – allenfalls einmal – zu Bewusstsein kommen sollen. Und darin lagern auch Zeichen kollektiver Vergangenheit, die mittlerweile längst schon unlesbar geworden sind. Différer verweist in Derridas subtilen Lesarten niemals nur auf ‚anders-sein’, ‚nicht-identisch sein’, sondern immer zugleich auf ‚aufschieben’, ‚verzeitlichen’. Mit dem Begriff von „Différance“ ist einerseits die Differenz, der Widerstreit evoziert, den Lyotard dann ins Relief treiben wird. Durch die Partizip Präsens-Endung ‚ance’ (man vergleiche: mouvance, résonance) ist aber zugleich eine in Konstellationen tretende „Unentschiedenheit zwischen dem Aktiv und dem Passiv“, eine Modifikation des Medialen evoziert. Différ(e)(a)nce, jener Grundtopos Derridaschen Philosophierens ist also selbst konstituiert durch Polysemie. Es ergibt sich so ein loses Linienbündel, das andeutet, wie an der Ursprungsorientierten Metaphysik entlang und gegen sie angedacht werden kann. „Differänz“ kann jeweils nur eine Spur bahnen. Diese aber ist „kein Anwesen, sondern das ‚Simulacrum‘ (Trugbild) eines Anwesens, das

813 Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 45 f. 814 Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 9 f. u.ö. Siehe zur Biographie Derridas auch B. Peters, Derrida. Eine Biographie, Frankfurt/Main 2013, S. 23 ff. und S. 564 ff.

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sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet“815 – Heideggers Exposition der Seinsfrage, die sich in jener Geschichte des Seins, in der es mit dem Sein nichts ist, entfaltet, kann man als Vorgestalt dessen begreifen. Die Differenz von Sprache und Schrift entzieht sich auch der Orientierung auf eine Normalsprache, das Spiel von Bedeutungen in der Schrift ist, wie uns auch die Hermeneutik lehrt, tendenziell unabschließbar. Die weitere Genese von Derridas Philosophie, oftmals orientiert an zu dekonstruierenden Texten und Funden und dokumentiert in kurzen Essays ist nicht leicht auf Thesen und Behauptungen zu beziehen. Nur einzelne Grundzüge lassen sich an einigen wenigen Topoi markieren: Im Sinne der „Différance“: „Differänz“ gewinnt die dritte Gattung des Platonischen ‚Timaios’, die CHORA, Mutter und Amme des Werdens, eine zentrale Bedeutung. Sie ist selbst proteushaft formübergreifend, formverlierend und kann gerade deshalb jede Form an- und aufnehmen. Sie spielt sich dabei in der Mitte zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Selbem und anderem, Logos und Mythos ab. Indes gehört zum Denken der Differenz auch die bis ins Unendliche gehende Tendenz, selbst durch weitere Differenz-Akte eingeholt zu werden. Letztlich bleibt Derrida konsequent dem Husserlschen ‚Zu den Sachen selbst!’ verpflichtet. Eine Dekonstruktion ergibt niemals den heiligen Text. Das Differenzdenken führt mithin, wie auch deutlich gemacht wurde, in einen Bereich, der Metaphysik und Metaphysikkritik gleichermaßen bis zur Ununterscheidbarkeit verbindet.816 3. Derridas spätes Denken: Recht und Politik Im Wesentlichen sind es drei Felder, in denen sich Derridas Spätphilosophie weitergehend und klarer abzeichnet: 1. Durchaus überraschend auf Rechtund Polik; 2. Die Ethik der Gabe und 3. die Frage nach dem Göttlichen und der Religion. Man sollte zuvor eine Klarstellung treffen. Das Differänz-Denken richtet sich bei Derrida selbst nicht auf die Kunst, sondern auf philosophische, metaphysische Überlieferung. Kunst ist, in einer Weiterwirkung Heideggers und in der Folge der Heideggerschen Bestimmungen in ‚Vom Ursprung des Kunstwerkes’ auch für Derrida ‚Ins Werk setzen der Wahrheit’, einer Wahrheit freilich, die uns entzogen bleibt. Für seine späte Zwiesprache über die emi-

815 Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O. 816 Vgl.dazu auch S. Kofmann, Derrida lesen (Lectures de Derrida), Wien 32012. Hier orientiere ich mich stark an J. Derrida, Die differance, in: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Destruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 76 ff.

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nente Dichtung mit Hans-Georg Gadamer ist dieses Begriffsverständnis von Kunst nicht unwichtig. In der Kunst komme es zu einem ‚nunc stans’, dem erfüllten Augenblick. Kunst im eminenten Sinn ist niemals Repräsentation. Dies zeigt sich in der bildenden Kunst zwischen van Gogh und Magritte, der er wichtige Studien widmet. Auch das Theater kann ebenfalls eine solche nahezu mystische Präsenz haben, wobei Derrida sich an Artauds ‚Theater der Grausamkeiten’, einem Theater der absoluten Inszenierung orientiert, in dem es keine Hinterwelt und keinen zensierenden, Distance nehmenden Logos mehr gibt. Im Blick darauf formulierte er: „Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist“.817 Derrida versteht die Kunst gerade nicht als Nachahmung des Lebens, während er dennoch hinzufügt: „aber das Leben ist die Nachahmung eines transzendenten Prinzips, mit dem uns die Kunst wieder in Kommunikation bringt“. Es werde durchlässig auf ein Leben, das „menschliche Individualität beiseite fegt und in dem der Mensch nur noch ein Widerschein ist“.818 Über diese Theaterauffassung, die natürlich mit Nietzsches Dionysischem in Zusammenhang steht, müsste gesprochen werden. Die ‚Reine Inszenierung’ bezeichnet im Sinne Derridas jedenfalls eine Epiphanie, die an der okzidentalen Krankheit des Übergangs von Text in ihn reproduzierende Reproduktion nicht teilhat, sondern in der Inszenierung einen Körper erzeugt, der anders gar nicht ist. Derrida hat sich wie andere, vor allem französische, Denker mit Heideggers auf die eigene Komplizenschaft bezogenem Schweigen nach 1945 als einem philosophischen Problem und einer Krise der Philosophie auseinandergesetzt. Dieses Schweigen ist nicht allein auf die opportunistischen und karrieristischen Deformationen zu beziehen, die Heidegger mit dem Jahr 1933 vollzog. Es richtete sich in den Diskursen lange vor der Publikation von Heideggers ‚Schwarzen Hefte[n]‘ seit 2014 auch auf das düstere Telos des Nationalsozialismus, das Schibboleth der Shoah. Für Derrida hat dieser Fehlgang mit der Monomanie des Seinsdenkens als letzter Position innerhalb der Monomanie der Metaphysik zu tun, auch damit, dass ein derart monomanisches Denken nicht von sich selbst sprechen kann. Derridas bedeutendste Reaktion auf Heideggers Schweigen angesichts der Shoah wird man daher in seinen ‚Circonfessions’, einer Art sich selbst umkreisenden Sprechens von sich, zu erkennen haben, in der die jüdische Spur der Beschneidung (circoncision), der Differenzschrift, die in den eigenen Leib

817 J. Derrida, Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1976, S. 354. 818 Ibid. S. 353 f., siehe zum Kontext auch A. Artaud, Das Theater und sein Double, Berlin 2012.

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geritzt ist, thematisiert wird.819 Eine andere Reaktion liegt möglicherweise in dezidierter Wendung von Derridas Denken auf Recht und Ethik.. In einer schon 1985 vorgelegten Abhandlung über Kafkas Parabel ‚Vor dem Gesetz’: ‚Préjugés- Devant la loi’ wendet er sich der grundlegenden Aporie des Rechts zu, dass das Gesetz im Urteilsakt selbst zuallererst im Kommen ist, aber eben nicht präsent. Das verdichtet sich in die Konstellation, dass der Urteilende das Gesetz nicht kennt, sondern es erst, in seinem Urteilen in präsentischer Konstellation konstituiert. In der Abhandlung ‚Gesetzeskraft’ 1992 präzisiert Derrida diesen Ansatz:820 Die Gerechtigkeit muss in einem „Augenblick der Entscheidung“, einer „Nacht des Nicht-wissens und der Nicht-Wahrheit“ hindurchgehen, und gleichwohl der Eidetik von Gerechtigkeit zu entsprechen versuchen. Dem ist die Konstruktion eines rationalen Diskurses (in der Art von Habermas) der Rechtssphäre gerade nicht angemessen. Derrida denkt vielmehr vom Ausnahmezustand her, in der Folge von Walter Benjamin aber auch Carl Schmitt. So wie Recht im Kommen ist, so versteht Derrida auch die Demokratie als eine Zukunftsgestalt ‚en avénir’: in der Ankunft. Sie kann gerade nicht, wie Richard Rorty einmal wollte, gegen Philosophie ausgespielt werden, jedenfalls insofern Philosophie eine unerhörte Verschärfung und Differenzierung von Erfahrung einschließt.821 Demokratie und Recht verweisen auf das Ethos Europas, dessen Realisierung gleichfalls noch aussteht. Europa ist, wie Derrida mit dem späten Husserl konstatierte, in seinem Wesenskern Einsicht.822 Daher ist es, vor dem Fokus der Polis, ein ‚einzigartiges Versprechen’, das aber mit der Denkerfahrung „des Nichtbestehens oder des Nichts“ oder wie Derrida sagt: endurance non-passive, zusammenhängt. Politik denkt Derrida als freundschaftliches Ertragen solcher Differenzverhältnisse. In seinem großen Spätwerk ‚Politiques de l’amitié’ (‚Politik der Freundschaft‘) wird dies eindrücklich verdeutlicht. Dabei liegen die Dinge aber noch komplexer. Derrida knüpft an eine dissidentische Erfahrung, an Jan Patočkas Deutung des Todes des Sokrates an.823 Dieser kann der Polis die Treue halten und zugleich sein eigenes Denkethos nicht verraten, weil er sich, im philosophischen Glauben 819 Dazu J. Derrida, Über den Namen, Wien 2000 und mit G.Vattimo, Die Religion, Franfkurt/Main 2001. 820 J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt/Main 1990. 821 Vgl. R. Rorty, Solidarität oder Objektivität?, a.a.O. Diese Konzeption ist in einem pragmatistischen Kontext sinnvoll. Sie berührt aber nicht, worum es in den dekonstruierenden Ansätzen Derridas und seinem eigenen Spätwerk geht, das weitgehend der Politischen Philosophie gewidmet ist. 822 Daran schließt Derrida, Vom Geist, a.a.O., S. 45 ff an. 823 Jan Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte. Mit Essays von Paul Ricoeur, Jacques Derrida und einem Nachwort von H. R. Sepp, Frankfurt/Main 2010.

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an die Seele nicht irritieren lässt. Aus solchem Geheimnis schöpft die – im Kommen seiende – Philosophie der Freundschaft. Indes ist es die unerhörte Engführung der europäisch okzidentalen Philosophie, dieses Geheimnis ausgeschlossen zu haben. Sie hat damit suggeriert, die Politik bedürfe des Vorbehaltes eines Arkanum nicht. Dann aber droht der „unvermeidliche Übergang vom Demokratischen (im griechischen Sinn) zum Totalitären“. Nach Derridas Auffassung ist es ein einziger Schritt. 4. Die Gabe und die Verzeihung Man mag sich hier wieder an Heidegger erinnern, an die Formulierung des Seinsgeschehens als ‚Es gibt’. Die Gabe sieht Derrida damit aufs engste verbunden. Seit Marcel Mauss spielen Logik und Struktur der Gabe im französischen philosophischen Diskurs eine wichtige Rolle.824 Derrida fokussiert sich auf ein Phänomen: Wann immer wir eine Gabe geben, geben wir Zeit – Zeit des Aufschubs, der Differenz, bis zu einer Gegengabe. Geben ist reines Geben, ohne Erwartung einer Revanche. Tauschzirkulationen unterscheiden sich daher vom eminenten Sinn des Gebens. Derrida spricht in diesem Zusammenhang in Anspielung auf das englische Wort ‚gift’ (mehrsprachig, Sprachmasken durchleuchtend) von ‚vergifteter Gabe‘.825 Die Gabe hat einen Zug ins Paradoxe. So überschreibt Derrida sein Buch mit einem Bekenntnis der Mame de Maintenon (maintenant; jetzt), die als Maitresse von Louis XIV an eine Freundin schreibt: „Der König nimmt meine ganze Zeit, und wie gern würde ich sie Saint Cyr (einer Stiftung für junge Mädchen) geben. Das Ganze scheint doch den Rest restlos mit aufgezehrt zu haben, was soll dann noch gegeben werden?“.826 In dieser Spannung eben ereignet sich die ‚Gabe’. Gabe ist mithin auch ein Sich-Geben in aller Ambivalenz. Vielstimmig und in Rettung der einzelnen Stimmen betätigt sich daher die Freundschafts-Politik. Sie wird dort abgebrochen, wo ein endgültiger Abbruch, in Form der Todesstrafe geschieht. Deren Bekämpfung widmete Derrida zu einem beträchtlichen Teil sein Spätwerk. Auch die Konstellation der totalen Feinschaft, die Erklärung des anderen zum Schurken durchbricht die Freundschaftsbindung des Politischen.

824 Dazu die Edition: M. Gabel und H. Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg/Br., München 2007, siehe auch H.-B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Jean-Luc Marion.Studien zu Leben und Werk, Dresden 2013. 825 Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. 826 Ibid., S. 7.

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5. Religion Der Frage der Religion wandte sich Derrida in einer Fokussierung auf die Transzendenz gegenüber allen Namen, eine Sphäre außerhalb der Benennung („Sauf le nom“) zu. Er schließt damit bemerkenswerterweise an das mystische, etwa für Schelling wichtige Feld einer Unnennbarkeit des Einen an, von dem allenfalls absprechend, nachgerade verschweigend, gesprochen werden kann: ein Grundmotiv negativer Theologie, das gleichermaßen im Judentum und im Platonismus begegnet. Dies bedeutet, über Gott hinaus in die Wüste zu gehen. Derrida markiert andeutend zwei Formen der Religionen, eine Onto-theologie, die in Wissen überführte Form des Offenbarungsglaubens (Hegel) und ihr gegenüber die enphatische, existenziell jäh begegnende und sich wieder entziehende Spur des Heiligen. Derrida dachte in diesem Sinn seinen letzten Lebens- und Denkjahren sehr viel über den Ort des aufschiebenden Diskurses nach, den er in der Universität findet. In ihr spielt sich ein unabschließbares, nicht tabuiertes Gespräch ab. Daraus lebt sie. Wie manche andere Denker der Moderne verbindet auch er seine Reflexionen mit der universitären Selbstbesinnung, namentlich in Krisenzeiten. Um die Form der Universität ging es nach dem Ersten Weltkrieg, in dem ideologischen Gewirr von 1933 schließlich einschließlich Heideggers Rektoratsrede, und wieder bei Jaspers 1945. Der späte Derrida hat diesen Diskurs zugespitzt auf die Gegenwart am Beginn des 21. Jahrhunderts: „Ich wäre versucht, die Profession des Professors im strengen Sinne – als Lehrberuf mit Gelübde – in jenem hochsymbolischen Augenblick der Verpflichtung auszumachen, in dem Abälard zum Beispiel die Verantwortung dafür übernimmt, der Weisung oder dem Ausruf ‚tu eris magister in aeternum’ Folge zu leisten“.827 Daraus wird die Folgerung gezogen, dass die Universität eigentlich exterritorial sein muss, ein geschützter Ort ungehinderter Rede und Gegenrede. 6. Gadamer und Derrida: Späte Gespräche Im Jahr 1981 kam es in Paris dann zu einer Begegnung zwischen Derrida und Hans-Georg Gadamer, dem weltweit bekanntesten Exponenten der philosophischen Hermeneutik im 20. Jahrhundert, Gadamer entwickelte dort in einem großen Vortrag den Grundzug seiner Hermeneutik, die wesentlich auf den Satz zuläuft: ‚Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache’.828 ‚Wahrheit

827 J. Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt/Main 2001, S. 7 f. 828 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Gadamer, Gesammelte Werke Band I, Tübingen 41986, S. 478.

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und Methode’, Gadamers Hauptwerk aus dem Jahr 1960 versuchte, in einer Spannung zwischen der platonischen Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Dialoges für die Gedankenerzeugung, den ontologischen Richtungssinn des Verstehens wiederzugewinnen. Heideggers frühe hermeneutische Phänomenologie ist u.a. auf einer Aristoteles-Interpretation, der Freilegung der Klugheits- und Phronesis-Struktur, errichtet. Dasein in seinem in-der-Welt-sein eröffnet den Grundcharakter des Verstehens. Der fundamentalontologische Ansatz Heideggers wird von Gadamer auf das Überlieferungsgespräch bezogen. Dabei vollzieht er im Sinn des dialektischen Pros Allelas Platons eine bemerkenswerte Wendung, indem er das Vorurteil als ebenso unvermeidlich wie konstitutiv für Verstehen namhaft macht. An Vorurteilen, an denen sich der Zeitenabstand ausweist, kommt ein vergangenes Gesagtes, etwa überlieferte Werke, in immer neuen Aktuierungen des ihnen implizierten Sinnes erst in Gang. Fokussierendes Medium solcher Hermeneutik ist die Sprache. Überlieferungsgeschichtliches Bewusstsein, in der Sprache, macht deutlich, dass in keinem Verstehen je die Sache im Licht der Ewigkeit erscheinen kann.829 „Ein und dasselbe und doch ein anderes zu sein, dieses Paradox, das von jedem Überlieferungsinhalt gilt, erweist alle Auslegung als in Wahrheit spekulativ“ (im Sinn von Specus: Spiegel, Spiegelung). In solcher Spiegelung drücke sich aus, „dass die Aneignung kein bloßer Nachvollzug oder gar ein bloßes Nachreden des überlieferten Textes ist, sondern wie eine neue Schöpfung des Verstehens“.830 In dem Pariser Vortrag des Jahres 1981 hatte Gadamer wie im Resümée seines Ansatzes bemerkt: „Für die hermeneutische Betrachtung dagegen ist das Verständnis des Gesagten das einzige, worauf es ankommt. Dafür ist das Funktionieren von Sprache eine bloße Vorbedingung“.831 Der verschriftlichte Text „soll die ursprüngliche Kundgabe so fixieren, dass ihr Sinn eindeutig verständlich wird“,832 was auch bedeutet, dass die hörend-sprechende Anverwandlung eigentlich keine Grenze hat. Denn selbst wer in einer Hermeneutik des Verdachts (Ricoeur) und der Bezweiflung sich artikuliert, kann sich aus dem Verständigungsgespräch nicht lösen. Vor diesem Hintergrund sind die drei Fragen zu verstehen, die Derrida 1980 an Gadamer adressierte: (1) Die Tendenz zur Verständigung habe etwas Unbedingtes, Apodiktisches an sich, eine Zuspitzung, die der hermeneutischen Eirenik zunächst fern zu

829 Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 478. 830 Vgl. ibid., Verstehen ist für Gadamer stets Anders-Verstehen. Siehe dazu M. Wischke, Die Schwäche der Schrift und das Widerfahrnis des Denkens. Eine Untersuchung über die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, Köln, Weimar, Wien 2001. 831 Ph. Forget (Hg.), Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte, München 1984, S. 35. 832 Gadamer, ibid., S. 39.

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liegen scheint. Derrida bezieht diese Apodiktizität auf die ‚Würde’, ‚Dignität’ des zu verstehenden Anderen. Derrida erkennt diese Spur bei Gadamer und unterlegt ihm eine im Kantischen Sittengesetz der Moralmetaphysik verankerte Zielrichtung. Eben dagegen wendet er dann aber kritisch ein, ob „eine solche Redeweise – bis in ihre Notwendigkeit hinein – (nicht) einer vergangenen Epoche an(gehöre), nämlich jener der Metaphysik des Willens?“833 Gadamer machte es sich in seiner Antwort auf diesen Punkt eher leicht. Der gute Wille ist für ihn eins mit dem Platonischen ‚eumeneis elenchoi’: der Sokratischen anti-sophistischen Tendenz, nicht die Schwächen des anderen aufzuspüren, sondern umgekehrt ihn und seine Auffassung so stark zu machen wie nur irgend möglich.834 Dies „habe mit Kants gutem Willen nicht das geringste zu tun“.835 Ist das wirklich der Fall? (2) Derridas zweite Frage bezieht sich kritisch auf die in der Hermeneutik vorausgesetzte ‚Kohärenz’. Der Fluss des Verstehens gibt die Frage auf, was Zusammenhang ist und was Bruch? Eben dies bliebe an Phänomenen aufzuweisen, wie der Psychoanalyse, die zu einem kontra-faktischen ‚Verstehen’ nötigen. In Gadamers Antwort zu diesem Punkt wird sehr deutlich, dass er von einem letztlich unzerreißbaren Band des ‚Mitgeteilten’ und ‚Miteinander Geteilten’ ausgeht, das zwar zu Sprüngen nötigen, nicht aber vollständig zerreißen kann. „Nun will ich wirklich nicht sagen, dass die Solidaritäten, die Menschen miteinander verbinden und zu Gesprächspartnern machen, jeweils ausreichen, um über alle Dinge zur Verständigung und zum totalen Einverständnis zu gelangen. Zwischen zwei Menschen würde es dazu eines nie endenden Dialogs bedürfen, und für sich selber wieder, für den inneren Dialog gilt das gleiche“.836 Ein solcher unendlicher Dialog würde offensichtlich nicht das Ziel haben, zu vollständigem Einvernehmen zu kommen, dies wäre Differenz-Tilgung, Tod der Zwiesprache. (3) Derridas dritte Frage bringt die Divergenz zwischen beiden und damit möglicherweise auch die Crux der Sache, die zwischen ihnen in Rede steht, am schärfsten zum Ausdruck. Ist Verstehen, so Derrida, ein „sich kontinuierlich entfaltender Bezug“ oder stellt es sich in der ‚rupture’, dem Bruch des Bezuges, „einer Aufhebung aller Vermittlung“ ein? Und Derrida wirft eine bewegende Frage auf, der sich Gadamers Hermeneutik in der Tat nicht wirklich aussetzte, nämlich ob wir die Erfahrung, dass im Dialog Einvernehmen zustande komme, überhaupt je machen.837 833 Ibid., S. 257. 834 Dies ist der tief platonische Impuls in Gadamers Hermeneutik, vgl. ders., Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 378 ff. 835 Gadamer, in: Forget, a.a.O., S. 59. 836 Ibid., S. 61. 837 Ibid., S. 58.

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Hierauf gibt Gadamer eine bemerkenswerte Antwort mit dem Hinweis, dass jedes große Kunstwerk wie ein Stoß sei, der ein Verstehen initiiert, das selbst unabschließbar ist, Beginn eines nicht zu Ende zu bringenden Weges. Die Differenz-Anzeige wird auf die Kunst, das bevorzugte Paradigma von Gadamers Hermeneutik und eben nicht auf Gesprächsverstehen bezogen. „Wenn ein dichterischer Text ihn (sc. den Leser) so angerührt hat, dass er ihm am Ende ‚eingeht’ und er sich darin erkennt, setzt das nicht Einvernehmen und Selbstbestätigung voraus. Man gibt sich auf, um sich zu finden“[…] Ich glaube mich gar nicht so fern von Derrida, wenn ich unterstreiche, dass man nicht vorher weiß, als was man sich findet“.838 Eben in diesem Sinn setzte sich die Zwiesprache in eminenter Weise fort. Zunächst freilich konnte Beobachtern das Gespräch nicht zu Unrecht misslungen scheinen, trotz Gadamers 1985 nachgetragener Bemerkung in ‚Destruktion und Dekonstruktion’, einem seiner bedeutenden Aufsätze: „Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines Gespräches, nicht an seinem Ziele“.839 Die Zwiesprache nahm, ehe sie mit deutlicher Verspätung noch in ein Offenes kam, einen Umweg über das Ende der Metaphysik, und damit über Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche. Entscheidend scheint hier zu sein, dass Derrida Nietzsche ganz auf die Lesbarkeit seiner Textspuren hin interpretiert. Nietzsches Philosophie ist ein Denken in der Schrift, in Masken und Spuren, im Selbstwiderstreit der Perspektiven und Zeichen, unter denen der Einheitssinn eines Vernunft-Logos aufgegeben wird und verdampt. „Das Legein dieses logos, ja die Versammlung dieser Logik ist es wohl, was durch Nietzsche in Frage gestellt wird. Dieser Plural fängt an, den Familiennamen von Gauklern und Seiltänzern zu ähneln. Er verführt zum Fest“.840 An Nietzsche kann dieses Verhältnis exemplarisch sichtbar werden. Die Lebens-Spuren gehen in die Textur ein, Orte, wie Venedig oder Nizza, an denen Nietzsche nach seinem Selbstzeugnis denken konnte und in deren Zusammenhang seine Grundlehren wie jene vom Willen zur Macht erstmals formuliert worden sind, schreiben sich in den Gedanken ein. Es ist deutlich, dass dies in klarstem denkbaren Gegensatz zu den Sätzen von Heidegger am Beginn seines Nietzsche-Werks steht: „Nietzsche, der Name des Denkers steht für die Sache seines Denkens“.841 Heidegger sucht also jede Lebensund Biographiespur zu tilgen, was seinerzeit auch eine Wendung gegen die Ummünzung von Nietzsche in die Beliebigkeit des Dichter-Philosophen sein konnte.

838 839 840 841

Ibid. Gadamer, Gesammelte Werke Band 2, Hermeneutik II, Tübingen 19986, S. 372. Gadamer, in: Forget, a.a.O., S. 73. Heidegger, Nietzsche Band I, Pfullingen 1989, S. 9.

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Nietzsche habe seinerzeit842 geschrieben, was er geschrieben hat (die Berufung auf Pontius Pilatus mögen Sie mithören!). Gerade damit setzt er in seiner Textur die „Conditio moderna“. Gadamer antwortet darauf nicht mit den Mitteln eines Nietzsche-Diskurses. In seinem bemerkenswerten Aufsatz über ‘Destruktion und Dekonstruktion’ deutet er an, dass Derrida Heideggers Phänomenologie allzunahe an die Husserlsche Eidetik, die Präsenz des im Gedanken Gedachten, heranführe, so dass nahegelegt sei, dass Rede oder Stimme in ihrem Vollzug Präsenz gewinnen könnten, wo sie doch tatsächlich „das Verschwinden selbst wäre(n).843 Die Crux von Heideggers Freilegung der letzten Metaphysik Nietzsches erkennt Gadamer darin, dass Heidegger habe zeigen wollen, dass „hinter den spiegelnden Facetten“ Nietzschescher Denkbilder ein solcher Einheitssinn nicht mehr erkennbar sei. Heideggers Nietzsche-Lesart falle also nicht in eine alte Metaphysik zurück, wie Derrida suggeriere. Wäre es so, wäre also eine solche Tendenz in Metaphysik nach dem Ende ihrer Möglichkeiten Heidegger vorzuhalten, so würde das Denken sich in ungangbaren Wegen verlieren. Dies hat Gadamer als die Tendenz des späten Heidegger gesehen, und die Rückkehr auf die frühen Griechen, die Suche nach einem anderen Anfang in der Physis des Heraklit und der THEIA, dem göttlichen Blick bei Parmenides als Tendenz des Wanderers vermutet, hinter jedem Küstenvorsprung ein neues Kap zu sehen.844 Indes: der ununterbrochene Dialog zwischen Gadamer und Derrida manifestierte sich, für Derrida, wie er im Rückblick sagte, ‚unheimlich’ in einem Fortgang als Gespräch über Dichtung. Zum Abschluss kam dieses Gespräch in Derridas Gedenkrede zu Gadamers erstem Todestag als Derria selbst schon um seine schwere Krankheit wusste. Anlass war die Zwiesprache zu einem Celan-Gedicht. Gadamer hatte selbst Celans Zyklus ‚Atemwende’ eine gewichtige Interpretation gewidmet, unter dem Leitfaden, wer hier sagt, er verstehe, mit dem sei ein Gespräch gar nicht zu beginnen. Hegel und Derrida werden in der Regel und gemeinhin als Antipoden gelesen. Hier der letzte Metaphysiker, der „Vollender“ der Metaphysik, dort der Philosoph der Lektüren und Relektüren, der Differenz und des Nachoder gar Antimetaphysischen. Der nunmehr mehrere Jahrzehnte alte, aber immer wieder reproduzierte Habermas’sche Topos vom „nachmetaphysischen Denken“ hat diesen Deutungsperspektiven eine gewisse Stabilität gegeben. In

842 Hierzu Derrida, Sporen. Die Stile Nietzsches, in: W.Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin, Frankfurt/Main 1986, S. 129 ff. 843 Gadamer GW II, S. 373. 844 Gerade gegenüber Heideggers genialer Parmenides-Vorlesung (GA Band 54) hielt Gadamer seine Vorbehalte fest.

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seiner herausragenden, auf einer Bochumer Dissertation beruhenden Monographie von Johannes Georg Schülein, die in souveräner Weise philologische Rekonstruktion und systematische Fragestellung miteinander verbindet, wird demgegenüber gezeigt, wie die Begegnung von Derrida und Hegel, auf die Grundbegriffe Identität und Differenz bzw. Negativität fokussiert, den Unterschied zwischen Metaphysik und Nicht- oder Nach-Metaphysik selbst hinter sich lässt. Dabei ist es eine der pointierten Thesen des Verfassers, dass Derrida ebenso wie Hegel von einem naiven Realismus Abstand nimmt. Entscheidend ist vor allem, dass eine nicht begriffsgeleitete Realität für beide nicht denkbar ist und sie gerade damit auch ein Widerlager zu den neuen, in Deutschland etwa von Markus Gabriel favorisierten Konzepten eines ‚neuen Realismus‘ bilden. Schülein liest Derrida dezidiert nicht nur als Sprachphilosophen oder Philosophen der Lektüre, sondern als Vertreter eines differenzierten ontologischen Konzepts. Die klare und der Sache angemessene Tektonik der Untersuchung besticht ebenso wie eine genaue Kenntnis der Literatur, sowohl im angelsächsischen als auch im deutsch- und französischsprachigen Zusammenhang. In Klarheit, systematischer und problemgeschichtlicher Präzisierung setzt diese Arbeit Maßstäbe; sie kann freilich an vereinzelte Vorgänger, wie Manfred Franks frühe Studien über Neostrukturalismus, anknüpfen.845 Entscheidend ist als Schlüssel zum Derrida-Verständnis, dass die outre-clôture der Dekonstruktion nicht aus der Philosophie hinausführt, wie der zeitweilig beliebte Terminus vom „Ende der Philosophie“ suggeriert, sondern sich vielmehr im Sinn einer „unerhörten Graphik“ in sie einschreibt. Wie beim frühen Derrida die Différance-Konzeption in Abhebung der Husserlschen Präsenz-Metaphysik in der Phänomenologie dargelegt wird, ist eine der paradigmatisch eindrücklichsten Facetten von Derridas Denken Différance und die höchst mehrdeutige Formulierung der Spur werden von Derrida als „ursprünglicher“ als der Ursprung charakterisiert, freilich nicht im Sinn einer prinzipienhaften Überbietung, sondern des „nicht-volle[n], nicht-einfache[n] Ursprung[s]“, der den Begriffstitel von „Ursprung“ selbst ad absurdum führt. Zwei Konklusionen dieser ersten Etappe erweisen sich als besonders eigenständig, worauf Schülein die Aufmerksamkeit gelenkt hat: 1. betont er, dass Derrida „im Namen der Entgrenzung keine Kritik an Metaphysik heran[trägt], die sich auf einen externen Standpunkt zurückführen ließe“.846 Ein solches Außerhalb der Philosophie akzentuiert Derrida gerade nicht, vielmehr deutet er immer wieder an, dass jene Präsenz gerade nicht gegeben sei und die Texte der Metaphysik deshalb stets der Relektüren und Revisionen bedürften. 2.

845 Vgl. zum Folgenden J.-G. Schülein, Metaphysik und ihre Kritik bei Hegel und Derrida, Hamburg 2016 (Hegel-Studien Beiheft 65). Diese Interpretation ist so wichtig, dass ich sie hier etwas ausführlicher aufnehme. 846 Ibid., S. 134.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

sollte Derridas innere Systematik der Entgrenzungen nicht ausschließlich auf Sprache und Schrift fokussiert werden. Derrida lege in vielfachen, unter anderem auch praktisch philosophischen Annäherungen, ein vielfaches offenes System von Grenztranszendierungen vor. Der Versuch, in dem Aufsatz ‚Der Schacht und die Pyramide‘ Hegel in Analogie zu Husserl einer Metaphysik der Präsenz zu überführen, greift demnach nur einen Aspekt heraus und zielt deshalb zu kurz. Er kann an das Hegelsche Sinnbild für das Zeichen, die Pyramide, anschließen, in dem ein dem Zeichen selbst fremder Inhalt bewahrt bleibe: wie Schülein zurecht bemerkt, ist damit schon de Saussures Auffassung von der „Arbitrarität des Zeichens“ vorweggenommen. Die peniblen Einzelstudien zeigen weiter: Die Hegel- und die Husserl-Interpretationen Derridas verlaufen zunächst nach einem analogen Schema, dem Aufweis des Vorrangs des stimmlichen, also präsentischen Zeichens. Bis zu diesem Punkt kann Hegels Philosophie als Paradigma eines absoluten Präsenzdenkens und mithin als denkbar konsequenter Gegenentwurf zu Derridas eigenem Denken firmieren. Schülein ist es zu danken, dass er sich nicht mit diesem Standardargument begnügt, sondern mit Hegel eine Metakritik des Derridaschen Argumentes zu führen versucht. Seine Tendenz ist dabei nicht, wie in Teilen der neueren angelsächsischen Hegel-Aneignung, dass Hegel auf nachfolgende, vordergründig nachmetaphysische philosophische Konzeptionen der Moderne bezogen wird, sondern vielmehr, dass er der immanenten Metaphysikkritik der Hegelschen spekulativen Denkform nachgeht. Methodisch und philologisch differenzierend, führt er damit die von Michael Theunissen inaugurierte Lesart Hegelschen Denkens als einer „kritischen Darstellung der Metaphysik“ weiter. Die metaphysikkritische Pointe liegt darin, dass Einzelnes und Allgemeines im Urteil in ihrer – unmittelbaren – Identität und ihrer unmittelbaren Differenz expliziert sind, nicht aber im Sinn ihrer Vermittlung. Erst im Schluss weist Hegel diese Vermittlung auf, erst in ihm könne mithin ein Darstellungsdefizit überwunden werden, das in der Verstandesform prädikativer Sätze immer bestehen bleibt. Schülein versucht aber zu zeigen, dass Defizit- und Differenzanzeige bei Hegel nicht nur das Urteil, sondern auch den Schluss mitbestimmen. Der Schluss erlaubt nach Hegel ein „Dreifachsehen“ der in ihm involvierten Glieder des Einzelnen, Allgemeinen und Besonderen. Doch auch der Schluss kann die Einheit gerade nicht als Einheit, er muss sie vielmehr in entzweiter Form darstellen. Diese Hegeldeutung wird auf die Waagschale der Forschungsdiskussion geworfen werden müssen. Sie basiert auf der Differenz zwischen dem Gedanken und seiner sprachlichen Darstellungsweise. Hier wurzelt, was Schülein pointiert Hegels „eigene Metaphysikkritik“ nennt. Sie manifestiert sich greifbar im Distanz- und Differenzverhältnis der objektiven Logik zur Metaphysik.

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6. Derrida: Jenseits der Differenz von Metaphysik und Nicht-Metaphysik

Schülein fasst das Paradoxon so zusammen: „Sie [sc. die Logik] muss ihr Anliegen in Prädikationen vortragen, obwohl ihr Anliegen sich in Prädikationen nicht angemessen vortragen lässt“.847 Eine Kritik an dem vermeintlichen Phonozentrismus und der Präsenzmetaphysik Hegels muss also Hegel in einer Position aufnehmen, die dieser selbst nicht einnimmt. Hier kann die vorläufig abschließende vierte Etappe einsetzen, die das innere Verhältnis zwischen Derrida und Hegel pointiert zur Darstellung bringen soll. Es zeige sich, dass beider Denkansätze insofern verwandt seien als sie eine „differente Identität“ annehmen, und eben darin zeigt sich auch die Nicht-Dekonstruierbarkeit der Hegelschen Denkform für Derrida. Schülein nimmt erstmals differenziert und im Zusammenhang auf die verschiedenen Aussagen Bezug, in denen sich Derrida zu Hegels Differenzdenken in ein Verhältnis setzt. Derrida hat, etwa in seiner Programmschrift ‚La différance‘ darauf hingewiesen, dass das Différance-Denken mit Hegel „in einem gewissen Punkt nicht etwa brechen kann, da dies weder sinnvoll noch möglich wäre“. Zugleich scheint Derrida lange Zeit an einer Dekonstruierbarkeit festgehalten zu haben, so wenn er von der leichten Verschiebung spricht, die gegenüber Hegel erforderlich sei. Allerdings habe Derrida die Anzeige dieser Verschiebung nur angekündigt, aber letztlich nicht konzeptionell entwickelt. Vermutlich hätte dies eine destruierende Lesart vorausgesetzt.. Von Derrida her könnte selbstverständlich konstatiert werden, dass das Hegelsche absolute Wissen im Gegensatz zu den Übergängen und Nuancen des Differenzdenkens steht. Doch so leicht macht er es sich nicht, erkennt er doch: „Alles, auch das Entscheidendste, spielt sich hier in ‚subtilen Nuancen‘ […] ab“.848 Schülein konstatiert durchaus zu Recht eine Ambivalenz, in der Derrida sich selbst gegenüber Hegel positioniert. Man kommt dann auf Modelle der Art, dass die Différance in unreduzierbarer Weise differenzierend bleibe, wohingegen Hegels Widerspruchskonzeption doch auf eine gewisse Linearität reduziert werde. Auch das Oxymoron „vermittelter Unmittelbarkeit“ hat hier seinen Ort. Schülein zeigt nun, dass immerhin in der Reflexionseinheit des Wesens Hegel eine fundierte und fundamentale Kritik an Unmittelbarkeit übe. Dies bedeutet wiederum, dass jene Reflexionseinheit durch eine Art absoluter Negativität gekennzeichnet ist. Auch in der praktischen Philosophie hat Hegel diesen Differenztopos kultiviert. Denkt er doch Demokratie unauflösbar als different gegenüber ihren möglichen Realisierungen. Was sie sei, sei die nur in ihrem Ankünftigsein denkbare Demokratie einzig in der „différance“, „in der sie [sich] von sich unterscheidet“.849 So gehört es zum Wesen der Demokratie, dass sie nur im Abstand von sich selbst ist.

847 Schülein, a.a.O., S. 241. 848 Zit. nach ebd., S. 256. 849 Ibid., S. 275.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

Bei aller erkennbaren Nähe bleibt eine Differenz unaufgelöst: Hegel hebt die Differenzen in den absoluten Grund hinein auf, der freilich nicht als statisches Fundament aufgefasst wird, sondern sich zu der Reflexionsbewegung seinerseits in ein Verhältnis setzt. Jene Reflexionsbewegung bestätigt Derrida nicht. Dennoch bleibt Hegels Differenzauffassung undekonstruiert, weil sie sich nicht immanent eines Widerspruchs überführen lässt. Gerade darin zeigt sich die Geschlossenheit der Hegelschen Systematik. Erstmals in der deutschen Forschung unterzieht Schülein Derridas polyphonen Text ‚Glas‘, in dem die Hegel-Lektüre neben einer Genette-Lektüre positioniert wird, einem philosophischen Close-Reading. Damit wendet sich Schülein der real-philosophischen Implikation des Differenz-Problems zu. Der elliptische Anfang und das elliptische Ende der Textur korrespondieren gleichsam einem Hegelschen ‚Rest‘, der auf die Unmöglichkeit verweisen könnte, Hegel zu dekonstruieren, und auf die, einst von Dieter Henrich konstatierte, bleibende Kontingenz des Übergegangenseins von Sein und Werden am Beginn der ‚Logik‘. In concreto wendet sich ‚Glas‘ der Bruder-Schwester-Konstellation in Hegels ‚Antigone‘-Deutung zu, und versucht zu zeigen, dass sich das Verhältnis von Bruder und Schwester dem üblichen Anerkennungsverhältnis entzieht. Die sonstigen Konstituentien von Begierde, Kampf und wechselseitiger Konstitution fallen im Bruder-Schwester-Verhältnis jedenfalls aus. Wie Schülein zeigt, ist Derridas Lesart gerade nicht als Dekonstruktion, wohl aber als Freilegung eines „untypischen“ Momentes Hegelschen Denkens erinnernswert. Hier bleibe ein unaufgelöster Rest im hegelschen System, der für Derridas Lesart in dem realen biographischen Verhältnis Hegels zu seiner Schwester seine Entsprechung hat. Darin wird auch eine Unersetzlichkeit, eine einzigartige Liebesrelation zwischen Bruder und Schwester problematisiert, die die Analogie im Verhältnis Hegels zu seiner Schwester zu dem Verhältnis Antigone-Polyneikes nahelegen soll. Schülein betrachtet diese ‚Erweiterung‘ mit der notwendigen Skepsis, die die Suggestionen durchschaut. Sie kann anhand des vorhandenen Quellenmaterials jedenfalls nicht belegt werden. In dieser Erweiterung ebenso wie in dem Parallelblick auf Jean Genet. Hier wie dort werde freilich deutlich, dass Derrida es nicht unternehme, Hegel zu dekonstruieren, sondern einen Einspruch gegen das System erhebe. Ob dieser scharfe Kontrast nicht doch das Dekonstruktionsverständnis zu eng fasst und ob tatsächlich konstatiert werden kann, dass systematisch eine HegelDekonstruktion unmöglich sei, kann offengelassen werden. In einer abschließenden Betrachtung werden noch einmal zwei der Grundthesen der herausragenden Abhandlung zum Leuchten gebracht: Bei Hegel wie bei Derrida sei die Metaphysikkritik eng mit einer Sprachkritik verwoben. Dies bedeute aber keinesfalls, dass beim einen oder beim anderen Metaphysikprobleme in Sprachproblemen aufgehen würden. Und: Es erweist sich als wesentlich fruchtbarer, Derrida und Hegel als Differenztheoretiker innerhalb

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6. Derrida: Jenseits der Differenz von Metaphysik und Nicht-Metaphysik

eines metaphysischen Fragehorizontes zur Sprache zu bringen, als alte Entgegensetzungen zu fixieren. In der Verbindung von systematischer Durchdringung der metaphysischen Problematik mit Text- und Problemrekonstruktionen setzt Schüleins Buch neue Standards. Als überaus fruchtbar dürfte sich, auch wenn vielleicht nicht jede seiner Thesen überzeugt, die Einnahme eines Standpunktes erweisen, der über den Bruch von Metaphysik und Nach-Metaphysik hinausweist. Dieser Punkt eines tiefen Einverständnisses wird dort erreicht, wo Derrida gleichsam mit dem verstorbenen Gadamer sich jenseits des physischen Gesprächs doch gemeinsam über ein Celan-Gedicht beugt: „GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG Mit dem s i c h Hinaus- und hinwegWühlenden Schwarzgestirn-Schwarm: Der verkieselten Stirn eines Widders Brenn ich dies Bild ein, zwischen Die Hörner, darin Im Gesang der Windungen, das Mark der geronnenen Herzmeere schwillt. WoGegen rennt er nicht an? Die Welt ist fort, ich muss dich tragen“.850 An diesem äußersten Kap eines Gedichtes, das zu verstehen eine Abenteuerfahrt methodisch in nichts gesichert ist, kommt es zu einer dekonstruktiven Antwort auf die Hermeneutik und damit zu deren meta-hermeneutischer Selbstaufhellug. Derrida formuliert in seinem Gadamer-Epitaph: „Ich will Ihnen anvertrauen, was ich, zu Recht oder zu Unrecht, im Nachklang dieser letzten Fragen weiterhin und unbedingt lebendig halten will […]. Die Unterbrechung ist unentschieden. Sie haucht der Frage ihren Atem ein, der nicht etwa lähmend wirkt, sondern sie in Bewegung bringt. Die Unterbrechung setzt unendliche Bewegung frei“.851 Das Unentschiedene, es haftet an der für sie konstitutiven Schwäche der Schrift, mithin des Gedichtes. Das Gedicht selbst ist dabei das Subjekt, jenseits von Ich und Du, zwischen denen es spielen mag. Derrida schloss mit der Überlegung, was wäre, wenn das Fortsein der Welt alles andere wäre als weltlos, weltarm, weltbildend? Heideggersche Kategorien werden sichtbar, wenn Welt selbst von dem Fortsein her gedacht werden müsste und mithin von dem ‚Ich muss dich tragen’ her. „Das ist eine der

850 Paul Celan, Große glühende Wölbung, Celan Werke, Band 2, S. 97. 851 Vgl. H.-G. Gadamer, J. Derrida, Der unterbrochene Dialog, Frankfurt/Main 2004, S. 24 f.

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III. Differenz, Leben und Ecriture. Fortschreibungen der Phänomenologie aus Frankreich

Fragen die ich hilferufend Gadamer gerne im Laufe eines unabschließbaren Gesprächs gestellt hätte. Um uns im Denken zu orientieren, um uns in dieser gefährlichen Aufgabe zu helfen, hätte ich zunächst daran erinnert, wie sehr wir den anderen brauchen und wie sehr wir ihn noch brauchen werden, wie sehr wir ihn tragen müssen und von ihm getragen werden müssen, dort wo er in uns spricht, noch bevor wir sprechen.

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IV. Nach dem Nullpunkt: Philosophische Konstellationen in Deutschland nach 1945

1. Umformungen der Phänomenologie „Stunde Null“ oder: „so viel Anfang war nie“ sind die gängigen kulturgeschichtlichen Bezeichnungen, vor allem im Fokus auf die philosophische Entwicklung im westlichen Deutschland, für alles, was sich mit dem Jahr 1945 verbindet. Dahinter verbirgt sich auch die Haltung des „Wir sind noch einmal davon gekommen“, oder „Nun singen sie wieder“, Titel von Theaterstücken aus jener Zeit, die die Weißwäscherei der Eliten bezeichnen, während die aus den Konzentrationslagern kommenden Entrechteten und die Emigranten Fremdlinge blieben. Die Philosophiegeschichte, sofern sie Geschichte ist, kann davon nicht absehen. Sie knüpft an längere Traditionslinien an, wozu das durch die eigenen Lehrer vertreten Gedächtnis beiträgt: Deshalb setzten sich durch die abenteuerlichen Rettungsaktionen der Manuskripte Edmund Husserls durch den Pater Van Breda die Wege der Phänomenologie fort.852 Deshalb blieb auch Freges Konzeption von Rationalität nicht vergessen und gelangte über Exponenten wie Wolfgang Stegmüller und später Günther Patzig zurück in den deutschen Sprachraum. Die Frankfurter Schule transportierte das Gedächtnis an Debatten der Zwanzigerjahre, die allerdings bis zum heutigen Tag nicht zum Austrag kamen und in den Bereich ungeschehener Geschichte gehören. Eine starke Heidegger-Rezeption und eine Präsenz seiner Schülerschaft bis in die bewusste Epigonalität und Überidentifikation spielten in den fünfziger Jahren eine maßgebliche Rolle. Namen wie Karl-Heinz Volkmann-Schluck oder auch Eugen Fink sind hier zu nennen.853 Bei allen Engführungen ist gerade Eugen Fink von Interesse: Er hatte seine Prägungen sowohl von Husserl als auch von Heidegger erfahren und versuchte, einen chthonischen Anfang auf den Begriff zu bringen, Entbergung einer Anfänglichkeit, die der arche-philosophischen Artikulation der Physis bei Parmenides und Heraklit

852 Dazu jetzt die plastische Darstellung T. Horsten, Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis, Berlin 2021. 853 Vgl. ibid., siehe auch Th. Vongehr, Die Geschichte der Rettung von Husserls Nachlass, in: S. Luft u.a. (UHg.), Husserl-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2017, S. 39 ff.

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IV. Nach dem Nullpunkt: Philosophische Konstellationen in Deutschland nach 1945

noch vorgelagert war, auf die sich Heidegger bezog. Dies führte ihn zu einer gleichsam dionysisch-tragischen Abgründigkeit im Vorfeld der Philosophie.854 Zu einer vorbegrifflichen hermetischen Grundphilosophie, die sich in alten Kulturen lange vor der Verschriftlichung und philosophischen Artikulation zeigt, tendierte auch Heinrich Rombach.855 Damit eröffnete er sich aber auch den Zugriff von Einzelwissenschaften, die nach Heidegger nicht denken: der Ethologie und Ethnologie, der hermetischen Literaturinterpretation und der Tiefenpsychologie.856 Rombach wählte bewusst einen hermetischen, in die je eigenen Tiefenwelten der Kulturen führenden, nicht einen hermeneutischen Ansatz. Damit wurden die Abgründe zugleich in das Licht des unmittelbar Menschlichen und seiner Zugriffsmöglichkeiten gebracht. In die metaphysische Tiefendimension, die den Menschen als Weltbeispiel erfasste, ging Rudolph Berlinger zurück.857 Er ist wohl der bedeutendste Metaphysiker, auf den Heideggers Denken eine tiefreichende Wirkung ausübte, ohne dass die Verwindung der Metaphysik für Berlinger bestimmend geworden wäre. Bemerkenswert ist auch, dass der heute kaum mehr bekannte Berlinger mit der metaphysischen eine tiefen-anthropologische Fragestellung verband: Sie fokussierte sich auf das Menschsein als ‚Werk der Freiheit‘ und als Beispiel den Weltbezug. Damit verband sich das spezifische Profil einer poietischen Ersten Philosophie, sollte der Mensch doch zugleich, orientiert an seinem Bezug auf Weltgestaltung, in seiner Freiheit sichtbar werden. Wie kein anderer, und noch nicht hinreichend gewürdigt, führte gerade Berlinger einen Weg weiter, den Heidegger mit seinem Kant-Buch 1929 eingeschlagen und dann verlassen hat: Den Weg einer transzendental geklärten, vom Seinsdenken ausgehenden Anthropologie, die zugleich Husserls Einwänden gegen jede mögliche Anthropologie hätte standhalten können. In dieser Programmatik

854 Vgl. dazu meine Studie Heinrich Rombach, interkulturell gelesen, Nordhausen 2006, siehe auch G. Stenger und M. Röhrig (Hg.), Philosophie der Freiheit –„Fahrzeug der Zukunft“. Für Heinrich Rombach, Freiburg/Br., München 1995. 855 Vgl. hierzu Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg/Br., München 21988. 856 Dies wäre auch an Rombach, Strukturanthropologie, a.a.O., im Einzelnen zu zeigen. Den grundlegenden Impuls setzt Rombach m.E. in seiner Habilitationsschrift: Substanz System Struktur: Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg / München: Alber 21965/66. 857 Von Berlinger, bei dem der Verfasser in den mittleren neunziger Jahren noch Vorlesungen gehört hat und der – nicht ganz spannungsfrei – zugleich der Lehrer von Werner Beierwaltes gewesen ist, hebe ich hier nur den Ansatz hervor: R.Berlinger, Die Weltnatur des Menschen.Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen, Amsterdam 1988.

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1. Umformungen der Phänomenologie

berühren sich die philosophischen Intentionen Berlingers bezeichnenderweise mit jenen von Hans Blumenberg.858 Im Grunde hätten sich, aus der nivellierenden Perspektive des Nachlebenden, Berlinger und Rombach in der Tiefe begegnen müssen. Doch dazu kam es, trotz oder auch wegen des gemeinsamen langjährigen Wirkungsortes in Würzburg allem Vernehmen nach nicht. Bei Berlinger war implizit eine christliche Weltauffassung leitend. Sie wurde aber ganz und gar in metaphysisches philosophisches Denken umgeschmolzen. Der explizite Sprung in den Glauben oder in eine ConfessioHaftigkeit war unzulässig, ganz in strenger Husserlscher Sachlichkeit. Dies zeigt sich besonders deutlich in Berlingers beiden schönsten Büchern: ‚Das Nichts und der Tod‘, in dem er die Heideggersche formale Anzeige des ‚Vorlaufs zum Tod‘ in eine Endlichkeitssigniertheit des transzendenten Weltwesens Mensch umzeichnete,859 wobei diese Argumentationskunst der ‚Umzeichnung‘ bei Berlinger einer genaueren argumentationsanalytischen Rekonstruktion bedürftig und auch fähig wäre.. Der Ansatz berührt sich übrigens auch wieder in erstaunlichem Maß mit Blumenbergs nachdenkenden Meditationen in der ‚Matthäuspassion‘, dem Zusammenhang von Sorge und Tod, ohne dass beide Denker voneinander explizit Kenntnis nahmen. In seinem ‚Augustinus‘Buch dagegen860 bündelt Berlinger die fragmentarischen Augustin-Spuren bei Heidegger zu einer Bewegung der ‚reditio in se ipse‘, des Rückgangs auf sich selbst als des Grundes im Bewusstsein des Selbst:861 eine ingeniöse Interpretation, die Theologie und Philosophie, Anthropologie und Selbstbewusstseinstheorie aufs engste verschränkte. Wenn man an Schülern das Profil eines Philosophen in seinem engsten Umkreis der Wirkungsgeschichte erkennen kann, so ist auf Werner Beierwaltes zu verweisen,862 der Berlingers Impulse in eine hoch produktive, philologisch präzise Genealogie des Platonismus weiterführte. Beierwaltes konterkarierte dabei eindrucksvoll die Epochenvorstellungen von Vormoderne und Moderne, und er zeigte, dass sich neuplatonische Konfigurationen und die philosophischen Wege der Renaissance und erst recht des deutschen Idealismus nicht wie Bild und Gegenbild zueinander verhalten. Eine subtile, philologisch begründete Distanz gegenüber Heidegger durchzieht Beierwaltes‘ umfassendes Werk, das den Neuplatonismus nicht nur als Gegenbild zur spekulati-

858 Zu der Weggabelung bei Heidegger 1929 vgl. H.Seubert, Heidegger-Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens, a.a.O., S. 233 ff. 859 R. Berlinger, Das Nichts und der Tod, Dettelbach 31996. 860 R. Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik, Frankfurt/Main 1962. 861 Ibid., S. 54 ff. 862 Auch Werner Beierwaltes (1931–2019) verdanke ich viel, namentlich die Einsicht in die labyrinthische Geschichte des Platonismus und seines Nachwirkens. Vgl. unter seinen Büchern insbesondere Beierwaltes, Denken des Einen, Frankfurt/Main 1985.

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IV. Nach dem Nullpunkt: Philosophische Konstellationen in Deutschland nach 1945

ven Philosophie des deutschen Idealismus, sondern als Präfiguration verstand. Eine direkte Linie führt von Beierwaltes zu dem viel zu früh gestorbenen Jens Halfwassen,863 der die Linienzüge zwischen Neuplatonismus und klassischer deutscher Philosophie fortsetzte. 2. Nach Heidegger Solche philosophischen Konstellationen waren zunächst von hintergründiger Bedeutung für Kontinuitätszusammenhänge, auch um aus den Ideologien wieder in die Formgebungen der Philosophie gelangen zu können. Eine prägnante, produktiv werdende Schülerschaft hatte Eugen Fink nicht; bei Rombach ging diese Wirkung spätin einer umfassenden Grundlegung des WeltDenkens als Grund der Interkulturalität, auf: durch die Habilitationsschrift von Georg Stenger und dessen Explikation der östlich-westlichen Welten, eines Korrespondenzverhältnisses zwischen Deutschland und insbesondere Japan.864 Bei den genannten Philosophen lag in jedem Fall eine, vornehm verdeckte, religiöse Musikalität vor. Nicht zu verkennen ist, dass in der Frühzeit nach 1945 eine Reihe von dezidiert christlichen Denkern die Szenerie bestimmten, die, um Romano Guardinis Konzeption thematisch zu machen, die „christliche“, bzw. „Katholische Weltanschauung“ zu einem eigenen Interpretament der Moderne werden ließen.865 Bei Guardini ist indes nichts von der dumpf lastenden Abendland-Ideologie der fünfziger Jahre zu finden. Er schreibt vielmehr in hochgradiger ästhetischer Sensibilität den Geist der unvoreingenommenen phänomenologischen Schule der Zwanzigerjahre fort, der es ermöglichte, sich den Transzendenzphänomenen zuzuwenden.866 Mehr noch: Er zeigt, wie die Kunst und Kultur der modernen Welt aus dem Kontrapunkt der christlichen Weltdeutung zu verstehen ist. Guardinis Hölderlinoder Rilke-Deutungen, seine Frage nach Technik und Widerstand gegen die totalitäre Bedrohung gehören zu den luziden Stücken der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Ethik indes ist weniger ein norma-

863 J. Halfwassen, Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015. 864 G. Stenger, Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten, Freiburg/Br., München 2006. Stenger bringt den Rombachschen Ansatz explizit mit jenen französischen Denkformen seit Merleau-Ponty in Verbindung, die bei Rombach eher intuitiv aufgegriffen, nicht aber in ein systematisches Gespräch gezogen werden. 865 Vgl. dazu jetzt im Nachgang zu Guardinis reichhaltigem Werk H.-B. Gerl-Falkvoitz, H. Seubert (Hg.), Heidegger-Guardini, Briefwechsel, Interpretionen und Dokumente. Freiburg/Br., München 2021. 866 Vgl. R. Guardini, Ethik, 2 Bände, Vorlesungen an der Münchener Universität, hg. von Hans Merker, Mainz 1993.

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3. Die skeptische Generation und ihre Traditionen

tiver Entwurf, als vielmehr eine Ethologie, also eine Verhaltenslehre, die den unbedingten Horizont festhält. Ähnlich unkorrumpierbar und unkorrumpiert waren andere Münchener Denker, wie Alois Dempf, der eine ingeniöse Konzeption des ‚Sacrum Imperium‘ und eine eigenständige Metaphysik vorlegte: Ausfluss der Widerständigkeit jenes Denkens, das durch die Geschwister Scholl und Professor Huber sein Fanal setzte.867 3. Die skeptische Generation und ihre Traditionen Die in der Zwischenkriegszeit an den Start gehende Generation in Deutschland, die internationale Wirksamkeit entfalten konnte, war dezidiert um Enthaltsamkeit in politischen Fragen bemüht und vor allem darum, nicht in Weltanschauungen, Ideologien oder auch eine philosophische Therapeutik des guten Lebens abzugleiten. Sie ankerte an bestimmten, unschwer in ihren Identitätskernen nachzuweisenden Schultraditionen: Nach der Idelogisierung, die tiefe Krater gerissen hatte, war es nur berechtigt, nach einem ernüchterten, „kontrollierten Denken“ zu suchen.868 Dass gerade Philosophie die großen Grundfragen nicht dauerhaft umgehen kann, muss man sich allerdings auch vor Augen führen. Nicht zufällig war eine skeptische Grundhaltung im Denken nach 1945 zu konstatieren: Wilhelm Weischedel elaborierte sie sogar zu einer ‚Skeptischen Ethik‘.869 Dabei waren es insbesondere Hans-Georg Gadamer (1900–2003) und Joachim Ritter (1903–1974), denen es gelang,870 durchgehend hochbegabte junge Leute mit höchst heterogenen Interessen zu fördern und damit nachhaltig für zwei Generationen das philosophische Feld zu prägen. Ob man dabei überhaupt von Schulen im engeren Sinn sprechen kann, oder nicht besser – in Fernwirkung des Husserlschen Impetus – von Denkhaltungen, kann offenbleiben. Gadamers Haltung war die eines souveränen Maieutikers und Hermeneuten, der im hohen Alter zunehmend wie ein „Sokrates im 20. Jahr867 V. Berning, H. Maier (Hrsg.): Alois Dempf 1891–1982. Philosoph, Kulturtheoretiker, Prophet gegen den Nationalsozialismus. Konrad, Weißenhorn 1992. 868 So der programmatische Titel: A. Menne u.a. (Hg.), Kontrolliertes Denken. Untersuchungen zum Logikkalkül und zur Logik der Einzelwissenschaften, Freiburg/Br. 1951. Anfänge der Wiederentdecktung der analytisch-logischen Philosophie nach 1945 hängen mit diesem Impetus eng zusammen. 869 W. Weischedel, Skeptische Ethik, Frankfurt/Main 6 1990. 870 Zur Ritterschule jetzt G.Scholtz, Joachim Ritter als Linkshegelianer. In: Ulrich Dierse (Hrsg.): Joachim Ritter zum Gedenken. Steiner, Stuttgart 2004, S. 147 ff., M, Schweda: Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt. Freiburg /Breisgau München 2013, M. Schweda, Joachim Ritter und die Ritter-Schule. Zur Einführung, Hamburg 2015.

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IV. Nach dem Nullpunkt: Philosophische Konstellationen in Deutschland nach 1945

hundert“selbst als Legende wirkte. Gadamer war vor allem in seiner Haltung ein großer Platoniker, der die Dynamik platonischen Denkens in seinem Verständnis von Verstehen mit dem hermeneutischen Erbe seit Schleiermacher verband. Doch seine Bücher, auch ‚Wahrheit und Methode‘, sind eher Partitur und Vorlesungsskript als in sich geschlossenes Werk. Eindrucksvoll ist das Spektrum der Philosophen, die aus Gadamers Heidelberger Schule hervorgingen und die Freiheit der eigenen Wege, die Gadamer ermöglichte. Dieter Henrich (*1927), der bei Gadamer 1951 über Max Webers ‚Wissenschaftslehre‘ promoviert, konzentrierte sich einerseits auf die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie, vor allem der Konstellationen der unmittelbar auf Kant folgenden Systemansätze. Fichte und dessen ursprüngliche Einsicht der Unhintergehbarkeit des Selbstbewusstseins wurde auf diese Weise zur Ausgangskonstellation des Ich, das viel zu denken gibt, mit systembildender Kraft.871 Henrich betont im Rückblick872 die existentiellen Motive, die sein Denken beeinflusst und beeindruckt haben: Erinnerung, Dankbarkeit im Positiven, die Erfahrung eines Nietzsche noch übersteigenden Nihilismus der unbedingten Leerheit andrerseits.873 Die argumentationsanalytische Rekonstruktion der spekulativen Denksysteme mit dem Instrumentarium der Argumentationsanalyse bedeutete für Henrich die einzige legitime Weise einer Annäherung an jene singulären Gedankengestalten, die aus seiner Sicht nicht mehr unmittelbar fortsetzbar sind. Henrich gewann damit nicht nur, auch bedingt durch seine intensive Lehr- und Gesprächspräsenz in den USA während mehr als zwei Jahrzehnten, Einfluss auf die angelsächsischen analytischen Selbstbewusstseinstheorien. Er näherte sich auch dem Subjektivitätszug von Kunst und Leben an, und rekonstruierte Hölderlins denkerische Einsicht in ähnlicher peinlich genauer argumentationsanalytischer Präzision.874 Erst mit seinen späten großen Monographien über ‚Sein und Nichts‘,

871 Vgl. D. Henrich, Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794−95), Stuttgart 1992 und ders., Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealsimus. Tübingen-Jena 1790−1794, Frankfurt/Main 2004. Jetzt auch instruktiv D. Henrich, Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie, München 2021. 872 Vgl. Henrich, Ins Denken ziehen, a.a.O., S. 22 ff. u.ö. 873 Siehe auch ders., Von sich selbst wissen. Dieter Henrich erzählt von Erinnerung und Dankbarkeit, CD-Edition, Berlin 2020. 874 Gerade im Blick auf Hölderlin wird der Versuch unternommen, ihn in die historischen und argumentativen Konstellationen zurückzuführen, aus denen Heideggers Deutung ihn in eine absolute Nähe zum Griechischen hinauskatapultiert hatte. Vgl. neben Henrich, Der Grund im Bewusstsein, auch Ders., Der Gang des Andenkens. Beobachtungen zu Hölderlins Gedicht, Stuttgarft 1986. Gadamer, der eine solche Beschäftigung mit Hölderlin angeregt hatte, reagierte auf das Ergebnis dem Vernehmen nach eher reserviert.

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3. Die skeptische Generation und ihre Traditionen

orientiert am Verhältnis Beckett und Hölderlin fand Henrich als Systematiker zu sich. Ebenfalls aus der Gadamer-Schule, wenige Jahre jünger, kommt Wolfgang Wieland (1933–2015): Drei große Maßstab setzende Monographien hat Wieland vorgelegt: Die Studie über die aristotelische Physik, die analytische und phänomenologische Perspektive miteinander verbindet, ist das Debüt, das aus seiner Heidelberger Habilitation hervorging.875 Wieland löst darin ein von Heidegger mehrfach aufgegebenes Programm ein: nämlich die ‚Physik‘, die Frage nach dem werdenden und vergehenden Seienden, als Grundbuch der Metaphysik zu interpretieren. Darauf folgte 1982 eine ebenso grundlegende Platon-Interpretation,876 die erstmals in dieser Konsequenz den Bruch zwischen dem esoterischen und dem exoterischen Platon hinter sich ließ und mit hoch differenziertem analytischem Instrumentarium Schleiermachers Votum folgte, dass bei Platon das Esoterische eben im Exoterischen liege.877 Die den kantischen Kritiken ihrerseits zugrundeliegende Elementarform des Zusammenhangs von Urteil und Gefühl kartographierte Wieland in einer späteren Kant-Monographie.878 Eine Hegel-Interpretation, die er in Vorlesungen auch gegenüber der neomarxistischen Hegel-Deutung vorbereitet hatte, ist unpubliziert geblieben.879 Aus der jüngeren Generation der Gadamer-Schule kam auch Manfred Riedel (1936−2009), der zunächst den praktisch-philosophischen Horizont der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Aristoteles und Hegel durchmaß: Dies war, ähnlich wie Henrichs Rückgang auf die Ausgangskonstellationen der Dialektik, auch als Gegengewicht zu den in den sechziger Jahren höchst virulenten ideologischen Diskussionen konzipiert. Hier zeigten sich zudem Berührungen mit Joachim Ritters Interpretationen der Hegelschen Rechtsphilosophie. Stärker als Gadamer war Manfred Riedel von der skeptischen Grundhaltung Karl Löwiths geprägt; und unvergessen blieben bei ihm zeitlebens die Anfänge in Ernst Blochs Leipziger Vorlesungen und Seminaren. Als dies keineswegs opportun war und der ‚Geist der Utopie‘ leichthin preisgegeben werden sollte,880 unmittelbar nach der Wende von 1990, unternahm Riedel eine brillante 875 W. Wieland, Die aristotelische Physik – Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen (1962), 31992. 876 Ders., Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 21999. 877 Ibid., S. 25 ff. 878 Ders., Urteil und Gefühl – Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001. Die besondere Differenziertheit und hochgradige Subtilität der Philosophie von Wieland werden von seinen einstigen Schülern, etwa Rainer Enskat und Alejandro Vigo prägnant erinnert. 879 So eine freundliche persönliche Mitteilungen von Rainer Enskat im Februar 2021. 880 M. Riedel, Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung, a.a.O.

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IV. Nach dem Nullpunkt: Philosophische Konstellationen in Deutschland nach 1945

Freilegung der Anfänge der Blochschen Philosophie. Er hatte nicht die systematische Konzentration eines Wieland oder Henrich. Doch er verfügte über eine philologische Genauigkeit, aus der eine Interpretationskunst hervorging, die, an sich haltend, (ein Lieblingsausdruck von Manfred Riedel), in den spekulativen Kern vergangenen Denkens vordrang. Er wollte gerade großes vergangenes Denken nicht aus einer methodischen Abständigkeit verstanden wissen, sondern aus sich selbst heraus sprechen lassen, soweit dies möglich war. Riedel folgte seinem Lehrer Gadamer nicht in der hermeneutischen Maxime, Text oder Gesprächspartne besser zu verstehen, als diese sich selbst verstehen. Der hörende Impuls sollte dem Gesagten, auch in der Treue zum Buchstaben, dne Primat geben. Dass sein spekulativer Grundgedanke sich durchaus mit Derridas Evokation der Stimme und des Phänomens berührte, ist nicht zufällig:881 Die Entzogenheit des Anfangs, des „geheimnisvollen Wie der Dinge“, waren grundlegende Gedankenmotive Manfred Riedels, die ihn dann auch zunehmend von einem Kantischen und Hegelschen Kraftfeld zu Heidegger brachten882 und von dort weiter zu Nietzsche und schließlich zu einer eigentümlichen Annäherung an das Grundverhältnis von Denken und Dichten bei Rilke und Stefan George.883 In diesem Sinn war Riedel ein Horizonte eröffnender, zugleich zur Konzentration mahnender Lehrer und Wegbahner. Nochmals ein Jahrzehnt jünger ist Manfred Frank (*1945), der aus dem Gadamerschen Umfeld kommt, auch wenn Dieter Henrich und die Selbstbewusstseinstheorie im transatlantischen Zusammenhang für Frank unmittelbar prägend wirkten. Stärker und in flächigerer Textur als Henrich, widmete sich Frank den Resonanzen des Selbstbewusstseinsproblems in der angelsächsischen analytischen Tradition. Als Kommentator und Herausgeber stellte er hier die lange Zeit aufgrund naturalistischer Verkürzungen verkümmerte Subjektivitätstheorie auf einen verlässlichen Grund.884 Das Bemerkenswerte

881 M. Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, a.a.O., S. 9ff., siehe auch H. Schmid, Kunst des Hörens: Orte und Grenzen philosophischer Spracherfahrung, Köln, Weimar, Wien 1999. 882 Vgl. dazu meine Würdigung Akroamatik und spekulative Hermeneutik. Zum Gedenken an Manfred Riedel (1936−2009), in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 35 (2009), S. 287 ff. 883 Vgl. Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Böhlau, Köln 2006, ders., Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne, Tübingen 2009. 884 Vgl. vor allem M. Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart 1991 und ders., ‚Unendliche Annäherung‘. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/Main 1997,letzteres ist die Auslotung von Dimensionen, die in Henrichs Selbstbewusstseinstheorie fehlen. Vor allem Novalis hat Frank als eigenständigen Philosophen wieder sichtbar gemacht.

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an Manfred Franks intellektueller Physiognomik ist freilich, dass er aus der Literaturwissenschaft kommt und ein Terrain miterschloss, das bei Henrich und anderen so nicht belichtet wurde und eher an Gadamers Hermeneutik anknüpfte: Die Frühromantik mit Novalis als Zentralgestirn zeichnete Frank in die Geschichte der klassischen deutschen Philosophie ein. Auch Rüdiger Bubner (1941−2007) ist zu nennen. Er kehrte nach einem fulminanten Karrierebeginn in Frankfurt am Main als Lehrstuhlnachfolger Adornos, und Jahren in Tübingen, nach Heidelberg zurück. Dem Vernehmen nach aufgrund von Gadamers starkem Betreiben. Rüdiger Bubner, der vergleichsweise wenig publizierte, aber eine messerscharfe systematische Klarsicht mit der hermeneutischen Interpretationsweise verband, konnte, wie man als Leser ahnt, als Hörer greifen konnte, philosophischen Texten und Gedanken aus der Überlieferung eine völlig neue Prägung geben. Er brachte sie in einer Weise zum Leuchten, so dass sie als Texte gesehen werden konnten wie nie zuvor. Seine Interpretationskunst in systematischer Absicht bewährte sich vor allem auf dem Terrain der Geschichtsphilosophie, der Topik und der Ästhetik. Dass Gadamers Hermeneutik eine internationale Wirkung entfaltete, auch in den USA, ist nicht unwichtig: Nach der Emeritierung lehrte er als Gastprofessor an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Zugleich bildete Süditalien eine wesentliche Dependance seiner Wirkung.885 Sein großes Platon-Buch blieb wohl auch wegen dieser Wirkungen ungeschrieben. In Jean Grondin in Kanada fand er seinen Biographen und einen wirksamen, charmanten, aber eher epigonalen Vertreter der Hermeneutik,886 wie es auch in Heidelberg noch zu Lebzeiten des über 100-jährigen Meisters keinen gab. Donatella Di Cesare wirkte als seine letzte Privatassistentin. Sie ging mit Untersuchungen über Wilhelm von Humboldt887 an einen von Gadamer inspirierten akademischen Start – und setzte Gadamers Wirkungen in Italien fort. Dass damit immer auch Heidegger mitschwang, ist unverkennbar. Di Cesare brach mit dem Heideggerschen Erbe, als die ‚Schwarzen Hefte‘ 2014 zu erscheinen begannen und wurde auch als Publizistin zu einer Exponentin des Abschieds von Heideggers Denken. Nahegestanden war sie ihm faktisch freilich nie. Sie wies, verstärkt auf jüdische Denkformen und sehr berechtigt auf den belastenden antisemitischen Schatten in der deutschen Geistesgeschichte hin. Gadamer hätte in seiner ingeniösen Verstehens-Kunst auch diese Wege verstanden. Zu Recht bemerkte Konrad Cramer einmal, der

885 In Neapel wirkte Gadamer durch Vorlesungen und Vorträge bis ins höchste Alter vor allem am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici. 886 J. Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 22013. 887 D.Di Cesare, Gadamer – Ein philosophisches Porträt, Tübingen 2009.

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auch sowohl ein Henrich als auch ein Gadamer-schüler war: man müsse sich glücklich schätzen, solche Lehrer gehabt zu haben.888 Der Kreis um Joachim Ritter erwies sich stärker als kohärenter Generationenzusammenhang. Dies hat auch mit der geringeren Lebens- und Wirkungszeit dieses bemerkenswerten Philosophen zu tun, der in der Weimarer Republik der äußersten Linken angehörte und mit einer Arbeit über Nicolaus Cusanus an den akademischen Start ging. Ritter hinterließ ein schmales Werk, wobei die Positionierung Hegels zur Französischen Revolution und Hegels Leistung, die Freiheitskraft der Revolution zu erkennen, ihr aber eine Ordnung der Freiheit zu geben,889 im Zentrum stand. Die verhärteten Frontstellungen zwischen Rechts- und Linkshegelianern konnten auf diese Weise durchbrochen werden. Einzelne seiner Aufsätze erreichten im Format von 20 Seiten den Rang von Klassikern. Vor allem gilt das für die Topologie der ‚Landschaft‘,890 einer erstmals ästhetischen Natur- und Wirklichkeitswahrnehmung, die Ritter zufolge mit der Besteigung des Mont Ventoux, des Windberges in Südfrankreich beginnt, die Petrarca gemeinsam mit seinem geistesschwachen Bruder vornimmt – und mehr noch, die er beschreibend reflektiert. Das ‚Historische Wörterbuch der Philosophie‘ war Ritters Projekt. Dass Begriffe Geschichte haben und einer Topik und Topologie bedürfen, ist eine Lektion aus den Ideologiekämpfen des 20. Jahrhunderts. Begriffsgeschichte war eine zwischen systematischer Philosophie und Ideengeschichte sich ausbildende neue Disziplin. Ritter erlebte nur die Publikation des ersten Bandes. Aus seiner Schule gingen die meisten Autoren des Projektes hervor, das mittlerweile abgeschlossen und ein unverzichtbares philosophisches Vademecum geworden ist. Ursprünglich hatte sich auch Gadamer an dem Großunternehmen beteiligen wollen; der Briefwechsel gibt, neben Honorargründen, als Ursachen, dass es dazu letztlich nicht kam, auch zu verstehen, dass Ritter die jungen Mitautoren viel stärker als gleichberechtigte Partner ansah als Gadamer, der eher einen Schulzusammenhang vor Augen hatte: Züge des George-Kreises und Züge der platonischen Akademie. Noch erstaunlicher als bei Gadamer sind bei Ritter die Interessenreichweite und auch das politische Spektrum seiner Schüler. Sehr zu Recht hat Mark

888 K. Cramer, Ansprache, in: J.Stolzenberg (Hg.), Subjekt und Metaphysik. Konrad Cramer zu Ehren aus Anlass seines 65.Geburtstags, Göttingen 2001. 889 J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt/Main 1971, siehe auch die Monographie von Schwedas,, a.a.O. . 890 J. Ritter, Landschaft (1963). Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/Main 1989, S. 141 ff., jetzt auch: J. Ritter, Vorlesungen zur philosophishen Ästhetik, hg. vin U. von Bülow und M.Schweda, Göttingen 2010.

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Schweda, der die ersten angemessenen Monographien über Ritter schrieb,891 zwischen rechten und linken Ritterschülern unterschieden, in passender Analogie zum Rechts- und Linkshegelianismus. Hilfreich ist diese Einteilung, wenn man sie nicht zu eng parteipolitisch auffasst, sondern in die Hegelianischen Bezugnahmen zwischen Tradition und Revolution einzeichnet. In diesem Sinn gehört einer right wing-Linie der große Naturrechtsdenker, Ethiker und Aristoteliker Robert Spaemann an; der left wing-Linie Ernst Tugendhat. Die konservativen, rechtshegelianischen politischen Einlassungen konkretisierten sich am stärksten bei Günter Rohrmoser.892 Rohrmoser war habituell kein bürgerlicher Intellektueller, sondern eher eine Person der Barrikade; ein hervorragender Kenner der marxistischen Theorie, der sie deshalb in die Schranken fordern und die verschiedenen „Heiligen Familien“ des Marxismus auf Hegel zurückführen konnte, in dem er die Synthese aller Grundrichtungen der Moderne erkannte. Mit Odo Marquard gehörte ein dezidierter Skeptiker und ‚Transzendentalbelletrist‘893 der Ritterschule an, mit Hermann Lübbe einer der führenden liberalen Theoretiker einer offenen Gesellschaft, der allen Emanzipationszwängen entschieden und intelligent widersprach. Karlfried Gründer setzte am ausdrücklichsten das enzyklopädische und begriffsgeschichtliche Unternehmen Ritters fort. Die meisten Ritterschüler verband, bei allen Differenzen, die zumindest temporäre Tendenz, in die Öffentlichkeit zu gehen, politisch oder zumindest wissenschaftspolitisch zu wirken. Wie man besonders glanzvoll an Lübbe sehen kann, konnte dies auch in die operative Politik und Verwaltung führen. In hohem Bewusstsein trat die Generation der jüngeren Philosophen gegen den in der Bundesrepublik lange nachhallenden Ungeist des NS-Regimes auf: Sie hatte ein feines Sensorium für ideologische Verformungen, während die ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte noch viele Ordinarien im Amt sahen, die auch schon vor 1945 prägend gewesen waren. Daraus zog diese Generation, die Dieter Henrich schon um die Jahrtausendwende „im Abgang“ gesehen hatte, aber nicht die Folgerung, dass nun Denkmalstürze und damnationes memoriae geboten wären. Vielmehr war eine nüchterne Abständigkeit und Zurückhaltung bestimmend. Die Tendenz zu solchen Damnationes nimmt in einer von Aktualitäten und politischen Wünschen gehetzten gegenwärtigen Szene, auch in der Philosophie, zu. Ob identitäre Selbstverständnisse der erfor-

891 M. Schweda, die in FN 322 genannten Titel. 892 Vgl. H. Seubert, Ph. Jenninger und andere Hg., Tamen! Gegen den Strom. FS. Günter Rohrmoser zum 80. Geburtstag, Stuttgart, Hohenheim 2008., darin S. 10 ff. eine ausführliche philosophische Würdigung Rohrmosers. 893 Das vielleicht wichtigste Werk von Marquard ist Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse (Habilitationsschrift 1962), Köln 1987. International Stichwort gebend wirkte Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981 und Skepsis in der Moderne, Stuttgart 2007.

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derlichen Umsicht philosophischer Reflexion angemessen sind, ist aber mehr als fraglich. Die Frankfurter Schule bildete allerdings eine mental klar zu bezeichnende Ausnahme gegenüber den anderen Schulen und Kreisen, insofern ihre Exponenten aus der Emigration zurückgekommen waren und die Toten, wie Walter Benjamin, immer mitsprachen. Wenn man Adorno hört, kann man von Walter Benjamins Präsenz gar nicht absehen. Wenn man Horkheimers späte melancholische Meditationen wahrnahm, die ihn von Marx zu Schopenhauer und der religiösen Suche nach dem „ganz Anderen“ führten, war klar, aus welchen Verlusten seine Deutung des 20. Jahrhunderts rührte. Dass die beiden Schulhäupter nach Frankfurt zurückkehrten (nicht zufällig, dass der Frankfurter Bürgermeister Kolb einer der wenigen war, die schon in der frühen Bundesrepublik zur Rückkehr aus dem Exil einluden) war ein Fanal, ebenso wie die Rückkehr von Ernst Bloch nach Leipzig in den ersten Jahren DDR, die keineswegs unangefochten gewesen war. In der folgenden Generation war in Frankfurt Jürgen Habermas unstrittig die bestimmende philosophisch-soziologische Instanz. Mit der Frankfurter Schule brach etwas völlig anderes an: eine Denkweise, die sich in enger Adaption an die internationalen Strömungen der Disziplin von den klassischen neomarxistischen Positionen von Theorie und Praxis zunehmend der Kommunikationstheorie und den Diskursen zuwandte. In der späteren Zeit wandte sie sich ins Normative, und in dem überwölbenden Alterswerk auf die Frage der Verschränkung und Ausdifferenzierung von Glaube und Vernunft zu. Habermas‘ gewann der Strahlkraft seines Lehrstuhls gemäß internationale Doktoranden und Habilitanden, die ihre Karrieren machten. Eine tiefe Zäsur setzte allerdings mit Theodor W. Adornos Tod im August 1969 ein. Eigentlich schulbildend wirkten die unmittelbaren Schüler Adornos nicht mehr. Die Mitarbeiter der Schulhäupter im engeren Sinne, Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, verlegten sich weitgehend auf Edition und Tradierung. Habermas hielt allerdings lebenslang der Denkweise seiner Lehrer die Treue, und sein spätes monumentales Opus ‚Auch eine Geschichte der Philosophie‘ lässt sich im Ganzen als eine Art Kommentar zu Adornos abschließenden Satz in der ‚Negativen Dialektik‘ von der „Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“894 verstehen. Und es ist bei allen zeitbedingten, allzu zeitbedingten Tendenzen der zweiten oder dritten Generation der ‚Kritischen Theorie‘ auch unverkennbar, dass sie in einer Zeit, die unstrittig restaurative Züge trug,895 den Kategorischen Imperativ, so wie ihn Adorno neu gefasst hatte, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, am stärksten in ihre Maximen aufgenommen hat. Auch herausragende Habermas-Schüler

894 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 400. 895 Vgl. Th. W.Adorno, Vorlesungen zur Moralphilosophie, Frankfurt/Main 2010.

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3. Die skeptische Generation und ihre Traditionen

wie der Sprachphilosoph und Ästhetiker Albrecht Wellmer896 setzten diese Linie fort. Dennoch zeichnet sich Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre eine tiefgreifende Zäsur ab, mit der das Denken des Exils ein weiteres Mal exiliert und aus dem gängigen Diskurs genommen wird.897 Dabei könnte es gerade heute in einer zwischen routinierten Dekonstruktionen und nicht minder routinierten Sprachanalysen changierenden Situation an der Zeit sein, produktiv den Gedankenfaden wieder aufzunehmen. Ein weiterer, phasenweise einflussreicher Schulzusammenhang, ohne den die Entwicklung der analytischen Philosophie nicht die Form angenommen hatte, die sie tatsächlich annahm, ist auf Wolfgang Stegmüller zurückzuführen. Er etablierte die Standards transatlantischer Wissenschaftstheorie, Epistemologie und Ontologie, ohne sie auf den Naturalismus der „Ordinary language Philosophy“ zu reduzieren. Stegmüller war ganz im Gegenteil ein in der klassischen Metaphysik bewanderter und ausgewiesener Denker. Die herausragende Qualität mancher jüngerer Philosophen, die von ihm nachhaltig geprägt wurden, wie Eike von Savigny, Hans Rott oder Franz von Kutschera führen seinen Anspruch fort. Verbindungen wurden zu einigen der maßgeblichen transatlantischen Ansätze geknüpft, etwa zu Nicholas Reschers systematisch-metaphilosophischer Arbeit. Und keinesfalls ist es ein Zufall, dass aus dem Umkreis der Stegmüller-Inspiration einer der eindrucksvollsten Gesamtaufrisse systematischer Philosophie in der deutschen Gegenwartsphilosophie hervorging, Lorenz Bruno Puntels einschlägige Explikationen über ‚Struktur und Sein‘ und ‚Sein und Gott‘.898 Von großem Einfluss war für viele Jahre die von Paul Lorenzen und Wilhelm Kamlah gemeinsam begründete Erlanger Schule des Konstruktivismus. Grundlegend war dabei die logische Propädeutik, als Vorschule vernünftigen Redens und Argumentierens, die eine Verständigung über den kohärenten und übereinstimmenden Sprachgebrauch als grundlegend für die wissenschaftliche Debatte einführte.899 Die Erlanger Schule schloss explizit an die 896 A. Wellmer, Sprachphilosophie, Frankfurt/Main 2004 und ders., Versuch über Musik und Sprache, München 2009. 897 Dazu A. Honneth und A. Wellmer (Hg.), Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10.-15. Dezember 1984 in Ludwigsburg. Walter de Gruyter, Berlin, New York 1986, siehe R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München 51997. 898 L. B. Puntel, Struktur und Sein. Ein Theorierahmen für eine systematische Philosophie, Tübingen 2006 und ders., Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, E. Levinas und J.-L. Marion, Tübingen 2010. 899 W. Kamlah, P. Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Stuttgart 31996, S. 7 ff.

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Konzeption methodischer Philosophie bei Carnap, aber auch bei Hugo Dingler an. Sie entwickelte ihre Konzeptionen nicht ausgehend von einer Axiomatik, sondern aus lebensweltlichen Handlungsweisen, wie dem Schließen und Argumentieren. Die orthosprachlichen Begriffe sollten so eingeführt werden, dass sie Festlegungen aus der Alltagssprache bildeten. Von hier her sollten Protowissenschaften den empirischen Wissenschaften vorausgehen, die im Sinne einer terminologisch vorgeordneten Klärung Erkenntnisinteresse, Terminologisierung und Einordnung in einen größeren kontextuellen Rahmen zu klären hätten. Der Erlanger Konstruktivismus erfuhr durch Besetzungspolitik und maßgebliche Wirkungen von Ordinarien wie Jürgen Mittelstraß, Friedrich Kambartel oder Peter Janich eine Streuung in verschiedene Schulzusammenhänge. Dass nicht alle Erlanger Blütenträume reiften, ist allerdings unverkennbar. Klar ist, dass mit diesen Genealogien nur Grundlinien gezogen werden. Es wäre sehr vieles Weitere, Bedeutende zu nennen, das mittlerweile auch in seinem ganzen philosophischen Gewicht wieder deutlicher sichtbar geworden ist. Hierhin gehört die Schule von Josef König in Hamburg, aus der ein so einzigartiger logischer Systematiker wie Günther Patzig hervorging.900 Hans Blumenberg, von dem eingehender die Rede sein wird, kam akademisch eher sekundär aus dem Umkreis der Phänomenologie, von Ludwig Landgrebe und Walter Bröcker.901 Er war früh ein Philosoph sui generis. Und ein auch im systematischen Sinn bedeutender Denker wie Friedrich Kaulbach (*1912-1992), der nicht nur Kant und Nietzsche neu erschloss, sondern auch eine ‚Philosophie der Bewegung‘ konzipierte, wurde von dem eher arbiträren Hegelianer Hermann Glockner habilitiert. Die Tendenz zur Spezialisierung und engeren Fokussierung ging an der deutschsprachigen Philosophie keineswegs spurlos vorbei. Manche sehen darin eine weitere Professionalisierung, eine im Grunde unaufhaltsame Annäherung an die Standards anderer Wissenschaften und eine noch größere Pluralisierung der einstigen Ersten Wissenschaft. Es ist aber auch eine Verengung und thematische Unifizierung zu erkennen. Dass ein weithin bekannter Großordinarius in seinen fünfziger Jahren in einem Kant-Vortrag sagen konnte, er verstehe jetzt, dass es in der Philosophie um etwas gehe: darin zeigt sich eine auf Akademismus abgeschottete Binnenperspektive, die in der ersten Jahrhunderthälfte kaum denkbar gewesen wäre. Dass es indes auch am Beginn des 21. Jahrhunderts permanent um etwas geht: ob in der Philosophie

900 J. König, Einführung in das Studium des Aristoteles, hg. von N.Braun, mit einem Vorwort von Günter Patzig, Freiburg/Br., München 2002. Die große Wirkung von König wird auch von Ralf Dahrendorf in dessen Autobiographie bezeugt. 901 Dazu R. Zill, De absolute Leser. Hans Blumenberg-Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020, S. 123 ff. und S. 170 ff.

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oder jenseits ihrer akademischen Grenzen, ist für jeden und jede, die sehen kann, unübersehbar. Dass in der Mehrzahl die gegenwärtige akademische Philosophie dazu und auch zu den großen öffentlichen Debatten nur wenig beiträgt und dass sie erst recht nicht diese Debatten formt, ist ein bedauerlicher Mangel. Dahinter verbirgt sich ein allgemeines Problem intellektueller Sukzessionen. Die öffentliche Position ist ja keineswegs unbesetzt. In starkem Maß eingenommen wird sie indes von Philosophendarstellern, die weitgehend Hervorbringungen von Agenturen sind und die öffentlichen Sinnbedürfnisse offensichtlich besser bedienen als diejenigen, die professionell dafür zuständig wären. In der Philosophie kommen Binnenprobleme dazu: Es ist und bleibt der Fall, dass zwischen unterschiedlichen philosophischen Strömungen eine weitgehende Sprachlosigkeit klafft. Wenn man gemeinsame Anfänge und Problemansätze zwischen Phänomenologie und heutiger analytischer Philosophie freilegt, so ergeben sich allerdings faszinierende Isomorphien. Dies zu ermitteln, ist allerdings alles andere als einfach. Zu dieser Erschwerung der Gesprächsmöglichkeiten kommt die andere hinzu, dass Philosophie sich oftmals selbst nur noch als Platzhalterin versteht und epiphänomenal an den Leitwissenschaften hängt, die sie begleiten soll. Die Implementierung in einen medizinethischen Kontext unterscheidet sich deshalb von Grund auf von derjenigen in die Settings hypermoderner Kunst- oder Gendertheorien und ihrer Diskurse. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was an der Philosophie genuin philosophisch ist. Innerhalb der philosophischen Schulzusammenhänge gab es in den sechziger und siebziger Jahren eine Tendenz zur Kleinmeisterei. Die Großordinarien wiesen ihren Schülern oftmals Themen so zu, dass sie einzelnen Filiationen des eigenen Themenfeldes nachgingen. Wenn sich dies über ein oder zwei Generationen fortsetzt, so ist die Tendenz zur Verzwergung unübersehbar Gewiss: auch hier gibt es Ausnahmen, aber die Grundtendenz ist unübersehbar.

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V. Politische Philosophie im 20. Jahrhundert: Die Antike und die Wiedergewinnung von Vernunft aus der Geschichte

Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts waren nicht nur im Einzelnen dehumanisierend. Sie zerstörten von Grund auf die Möglichkeit und das Vertrauen in Politik und bürgerliches Handeln. Umso augenfälliger ist es, dass politische Philosophie in einigen ihrer wichtigsten Ausprägungen in die ‚Querelle des anciens et des modernes’ eintritt und sich der Frage aussetzt, ob es nicht ein unabgegoltenes Recht der Antike gegenüber der Moderne geben könne. Nachdem verschiedene Traditionen von Zivilität und Humanität im 20. Jahrhundert zerstört worden waren, bestand guter Grund, den Anfangspunkt bei der Antike zu suchen. Die Annahme einer Linearität des Fortschritts, aber auch die Hegelsche Überzeugung, dass Antike und Moderne auf von Grund auf getrennten Prinzipien errichtet seien, werden gleichermaßen problematisiert. 1. Eric Voegelins Weltgeschichtliche Betrachtungen Zunächst ist hier in aller Kürze auf Eric Voegelin zu verweisen, 1901 in Köln geborener, aber in Wien sozialisierter Jurist, der durch die Emigration in die USA geführt wurde. Das angelsächsische Common sense-Denken und das eu zen des Menschen als Bürger in der griechischen Antike prägt sein Denken.902 Jene politisch-philosophischen Denkformen sind mit dem Charakteristikum des „Neoklassischen“ versehen worden. Dies ist irreführend. Es ist eher ein Rückgriff auf das antike Polis-Denken des Politischen im Verhältnis zur Moderne, wobei die meisten Autoren wussten, dass eine Wiederanknüpfung antiker politisher Philosophie nicht möglich ist. Bereits in den dreißiger Jahren entwirft Voegelin eine Konzeption des totalitären NS-Faschismus, das er auf die Grundform gnostisch-manichäischer Systeme bezieht, einer Art politischer, säkular innerweltlicher Religionen, die 902 Vgl. Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science. Columbia 1999. Barry Cooper: New Political Religions, or an Analysis of Modern Terrorism. Columbia 2005. Der antignostizistische Ansatz Voegelins ist seit seinen Auseinandersetzungen mit dem Hitler-Totalitarismus in den frühen dreißiger Jahren präsent. Vgl. Voegelin, Anamnesis. Zur Theorie von Geschichte und Politik, Freiburg/Br., München 2005. Voegelins Hauptwerk ist das zehnbändige Opus magnum ‚Ordnung und Geschichte‘, München 2001−2005 (englisch: Order and History).

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V. Politische Philosophie im 20. Jahrhundert

auf Selbsterlösung und Selbstvergottung menschlicher Gesellschaft verweist. Der Gottesmord, so formuliert Voegelin im Anschluss an Nietzsche, „gehört wesensnotwendig zur gnostischen Neuschöpfung der Seinsordnung“.903 Allerdings ist es Voegelins durchaus kritisch zu überdenkende These, dass jener gnostische Charakter Erbe der Aufklärung in der Moderne sei, deren Testamentsvollstrecker die totalitären Systeme seien, eine Auffassung der allzu großen, mitunter leichtfertig gezeichneten Linien, der etwa Hannah Arendt vehement widersprochen hat. Mit Recht. „Der Tod des Geistes“, so Voegelins Diagnose, „ist der Preis des Fortschritts […]. Dieser gnostische (Gottes-)mord wird ständig von den Menschen begangen, die Gott der Zivilisation zum Opfer bringen“.904 Die geistlose, gnostische Welt hat Dummheit zur Folge. Diese beruht, wie Voegelin mit Robert Musil bemerkt, auf einer Apperzeptionsverweigerung und Konstruktion einer zweiten Traumrealität. Die Antike wird für Voegelin insofern maßgeblich, als er antithetisch zu seiner Modernekritik nach einer Ordnung (taxis), einem Maß des Politischen sucht. Dabei geht es entscheidend um die Gewinnung einer ‚Transzendenzoffenheit’ des Menschen, der hinnimmt, dass die Transzendenz des Seinsgrundes ihm unverfüglich bleibt.905 Gegenüber der eigenen etwas vagen Begriffsbildung wird Voegelins Intention deutlicher, wenn er sich auf den Platonischen Sokrates beruft: dieser weise auf ein Leben im ‚Metaxy’, dem Zwischen hin, das durch die Subjekt-Objekt-Dichotomie der Cartesisch geprägten Neuzeit preisgegeben werde, womit eine essentielle Erfahrung verschüttet sei. Dieses Metaxy ist „Ort der Spannung zwischen dem zeitlichen Sein des erfahrenden Menschen und dem ewigen Sein, dessen Verwirklichung erfahren wird“. Genuiner Text der Platon-Deutung ist daher auch für Voegelin die Eros-Rede des Platonischen ‚Symposion‘. Mit Sokrates meint ert, dass das Leben im Zwischen auf Meditation, Kontemplation und noetische Reflexion der Praxis als das zentrale Feld politischer Philosophie zurückverweise. Die meditierende Versenkung in die Wirklichkeit sei eine Art Gegenmittel gegen die Gefährdung des ideologischen und gnostischen Realitätsverlustes. Um jene Achse ist sein universell gelehrtes, in einzelnen Beurteilungen aber oftmals idiosynkratisches Hauptwerk ‚Order and History’ gebaut. Bedeutsam daran ist, dass Platon auf den Fokus des ‚sozein ta phainomene’ hin interpretiert wird:906 die Normativität liege also in den Phäomenen.

903 Voegelin, Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis, München 1999. 904 E.Voegelin, Die Neue Wissenschaft von der Politik. Eine Einführung, München 2004, S. 142. 905 Voegelin, Die Neue Wissenschaft, a.a.O., uns Ders., Ordnung und Geschichte, Band I, S. 35 ff. 906 Voegelin, Ordnung und Geschichte, Band 6, Platon, a.a.O., S. 134 ff.

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2. Hannah Arendt und das Phänomen der Natalität

2. Hannah Arendt und das Phänomen der Natalität Auch für Hannah Arendt, die uns in ganz anderen, Heideggerschen Zusammenhängen begegnete und die über die Exilierung zur politischen Denkerin wurde, ist die vehemente Rückwendung auf die antike Polis durch den Totalitarismus bedingt. Sie diagnostiziert die Vernichtung politischer Handlungsfreiheit, einem Zwang, der den Raum von Freiheit zwischen Menschen vernichte: Das ideologische, perzeptionsarme Denken vermag nicht mehr in den Gestus einer freien Umsicht zu kommen. Das Böse, das aus dem Totalitarismus entspringt, ist, wie Arendt als Prozessbeobachterin in dem großen Verfahren gegen Eichmann in Jerusalem 1961 aufgeht, banal. Gegen Kants Rede vom ‚radikal Bösen’ (in der Religionsschrift) merkt sie an, das Böse besitze „weder tiefe noch irgendeine dämonische Dimension […]. ‚Es kann die ganze Welt überwuchern und verwüsten, eben weil es sich wie ein Pilz auf der Oberfläche ausbreitet. Es ist ‚resistent’ gegen den Gedanken […]. Das ist ‚Banalität’“, eine Banalität, die an einem Vollstrecker des organisierten Massenmordes wie Eichmann schlagend deutlich wird, der von sich sagt: „Amtssprache ist meine einzige Sprache“.907 Arendt hat 1951 ihr zu Recht vielbeachtetes Werk ‚Origins of Totalitarism’ vorgelegt; die erste große vergleichende Totalitarismusstudie, die letztlich den Terror und das Lager, KZ und GULAG, als Signum der totalitären Systeme begreift. Wenn der Totalitarisismus die Unterminierung des Politischen bezeichnet, so sind für Arendt Revolutionen und Umbrüche seine erste Realisierung Aktuierung.908 Dabei widerspricht Arendt der Auffassung, dass der Totalitarismus Politik, wenn auch in der Zerrform der Ideologie, zum alleinigen Zentrum der Gesellschaften erhebe. Er schneide vielmehr den Faden des Politischen ab. Politeuein, das ist jeweils die gesprächshafte Verständigung darüber, was in die Sphäre des Politischen gehoben wird. Inneres Handeln, die Zwiesprache der Seele mit sich selbst kann daher nicht Modell des Politischen sein, wenn systemischer Zwang existiert. Originär werde Freiheit oder Gerechtigkeit nicht in der Selbstverständigung mit mir selbst, sondern erst am Umgang mit dem anderen Menschen erfahrbar. Das genuin Politische orientiert sich an der reinen Gestalt griechischer Polis, von der freilich offen bleiben muss, ob es jemals existierte. Es ist der eminente Punkt, an dem Miteinander-Handeln, der Vollzug der Freiheit geschieht. Die Überidealisierung des griechischen „nächsten Fremden“ ist klugen Beobachtern immer wieder aufgefallen und zu Recht gegenüber Arendt kritisiert worden.

907 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem.Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964. 908 Arendt, Über die Revolution, a.a.O., S. 345 ff.

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V. Politische Philosophie im 20. Jahrhundert

Aufgrund seiner Natalität, seiner Gebürtlichkeit, tritt der Mensch in actu in den Vollzug des Handelns ein.909 Politisches Handeln ist insofern für Arendt, was vielleicht im vollständigen Sinn nur eine Philosophengemeinschaft sein kann, Sinn-Erreichen, und Sinn-Erfüllung, eine höhere Form von Teleologie, die, anders als die Zwecke in herstellender Arbeit, nichts verlieren, wenn sie sich erfüllen. Der öffentliche politische Raum lässt den Menschen unverkürzt er selbst sein. Politisches Handeln in diesem Sinne sei unvorhersehbar, weshalb Arendt den entscheidungstheoretischen Annäherungen in der Politikwissenschaft ihrer Zeit widerspricht. Man muss Hannah Arendts Ideal des politeuein zugutehalten, dass es nichts anderes sein möchte als eine Irritation anders gearteter Formen des Politischen, wie etwa des bellizistischen Begriffs von Carl Schmitt. Hannah Arendt, die Walter Benjamin kannte und bewunderte,910 lässt Ähnlichkeiten zu dessen Erkenntnistheorie ahnen. Sie hält jenes originäre Politeuein im Horizont der Moderne für nicht herstellbar, es sei denn vielleicht in Neben- und Zwischenkulturen (Revolten, Bewegungen). Früh schon hatte jener eminente Begriff der politischen Freiheit seinen Ort gerade bei den Parias (eine Kategorie, die wie so vieles, auf Max Weber zurückgeht), den unbedingten Außenseitern, in denen Arendt auch das Refugium des Juden im neuzeitlichen Europa erkennt. Bei solchen Parias habe das eigentlich Humane, spezifisch Menschliche“ überlebt. Arendt exponiert die antike Polis also als Unterbrechung, als Ursprung, wobei Ursprünge, wie sie mit Heidegger weiß, der Geschichte entspringen. Einer Institutionalisierung von Freiheit und deren rechtlicher Kodifizierung kann Hannah Arendt sich aus prinzipiellen Gründen nur bedingt nähern. Institutionelle Garantie von Freiheiten wäre wie eine Quadratur des Zirkels. Dass Arendt aus der Pluralität des Handelns den Menschen denken möchte, resultiert auch daraus, dass sie der radikalen Auffassung ist, es gebe „schlechthin keine Antwort auf die Frage, wer wir aber sind. Die Ambivalenz eines Begriffs des Politischen aus dem jeweiligen Wir heraus wird schlagend deutlich in ihrer Beurteilung von Rousseaus ‚volonté génerale’, womit sie jedwede Souveränitätslehre, den politischen Zustand sui generis, mit zu charakterisieren scheint: „Rousseaus volonté génerale ist die vielleicht mörderischste Lösung der Quadratur des Circels, nämlich des Grundproblems aller politischen Philosophie des Abendlandes, wie man aus einer Pluralität eine Singularität machen könne. Was diese Lösung so mörderisch macht, ist, dass der Souverän nicht mehr eine oder eine Vielheit von mich beherrschenden Personen ist, sondern gleichsam in mir sitzt – als der Citoyen, der dem ‚homme particulier’

909 So Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2006, S. 120 ff. 910 D. Schöttker, E. Wizisla (Hg.), Arendt und Benjamin.Texte, Briefe und Dokumente, Frankfurt/Main 2006.

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entgegengesetzt wird. In der volonté génerale wird in der Tat jeder sein eigener Henker“.911 Hannah Arendt hat in ihren einschlägigen Arbeiten die in den totalitären Systemen unterhöhlte Differenz zwischen ‚Macht und Gewalt’ wiederzuerinnern gesucht, insofern sie Macht (gemäß dem griechischen Begriffssinn von „dynamis“- „energeia“) aus einem nicht-deformierten öffentlichen Raum ableitet. Sie „entstehe zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, wenn sie sich zerstreuen“. Institutionalisierte Herrschaft tendiert deshalb zur Gewalt; im Hintergrund sieht Arendt die Verwerfung, dass in der modernen Gesellschaft die Arbeit auf Kosten des freien (politischen) Handelns in den Hintergrund trete: Dass sie jenes Handeln aber nicht in der entos praxis, letztlich philosophischer Selbstbesinnung seinerseits gründen lässt, ent-setzt ihren Ansatz in gewisser Weise seines Haltes. In ihrem Spätwerk ‚Vom Leben des Geistes’ hat sich Arendt, wohl auch wegen dieses Defizits der Kantischen ‚Kritik der Urteilskraft‘ zugewandt. Bemerkenswert genug und so originell wie problematisch ist es, aus der ‚Kritik der Urteilskraft‘ recht unvermittelt Grundzüge einer politischen Theorie gewinnen zu wollen. Anders als Gadamer oder Joachim Ritter in jener Zeit, knüpft sie gerade nicht an die aristotelische phronesis an. Es geht Arendt um die kultivierte Einbildungskraft, die allein befähige, in der politischen Welt die Dinge in ihrer rechten Relation zu sehen. Darin rückt „das Politische“ noch näher an die Kunst. Arendt bemerkt in ihren Nachlassnotizen: „Was sich am Geschmack zeigt, ist, welche Art von Menschen zusammengehören. Und dies Zusammengehören ist weder moralischer noch theoretischer Natur, es ist das einzige, worauf Verlass ist“. Es ist offensichtlich, dass Arendt sich nicht so sehr an der ‚bestimmenden’ als vielmehr der ‚reflektierenden’ Urteilskraft orientiert, die „von der Welt in ihrer Besonderheit“ ausgehe. Jene Urteilskraft ist, wie sie triftig im Blick auf die Tektonik bei Kant bemerkt, ihrerseits vom ‚sensus communis’, dem sich ‚an die Stelle jedes anderen zu denken’, begründet. „Damit fügt er [sc. Kant] dem Satz des Widerspruchs, der Einstimmigkeit mit sich selbst, den Satz von der Einstimmigkeit mit anderen hinzu – und das ist in der politischen Philosophie der größte Schritt seit Sokrates“.912 Philosophisch interessant daran ist, dass Arendt eine Struktur des Urteilens heraushebt, die dessen unhintergehbare Pluralität ins Zentrum stellt, im Sinne des Reflexionsurteils und einer Mehrstimmigkeit der Urteilsvollzüge. Gültigkeitsansprüche werden erhoben, ohne dass deshalb eine Geltung erzwungen würde. Arendt hat hier auf ihre Weise eine bemerkenswerte Differenz-Analyse gegeben: sie bezieht sich auf Kafka, wonach Gelingen die Gewissheit des Scheiterns voraussetzt, und sie insistiert mit Nietzsches Torweggleichnis

911 H. Arendt, Denktagebuch X, S. 31. 912 H. Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1985.

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auf dem Augenblick der politischen Situationen gegenüber der Linearität des Fortschritts. Das ästhetische Urteil ist freilich vom Politischen darin unterschieden, dass ihm Evidenz versagt ist und dass es sich auf Abwesendes bezieht. Manche der Ansätze bei Arendt deuten eher auf existentielle Intersubjektivität und das Handlungsgespräch hin als auf eine dezidierte politische Theorie. Vielleicht mit dem bezeichnenden Unterschied, dass politisches Urteilen offen sein muss für die Revision. Urteilen ist daher auch Kritik und Katharsis des Willens, der in der „furchterregenden Verantwortung“ zwischen Bejahung und Verneinung eines Willens sich ausgestreckt findet. Das ‚Denktagebuch’ indes, das Arendt jahrzehntelang führte, weist eindrücklicher als die meisten ihrer Publikationen eine lebenslange, vertiefte Zwiesprache mit der antiken Philosophie und ein Denken in progressus, in Zweifel und Selbstbefragung aus. Arendt sprach von einem „Denken ohne Geländer“, das riskant sei und das sie nicht im disziplinären Binnnenbereich der Philosophie verankert sehen wollte. Das Leben der Hannah Arendt ist eine Jahrhundertbiographie. Geboren ist sie 1906 in Hannover. Doch Königsberg, die Stadt Kants und Herders, wurde zu ihrer eigentlichen Heimat, in der sie ihre Kindheit verbrachte. Arendt entstammte einer assimilierten jüdischen Familie.913 Sie selbst stilisierte sich in dem brühmten TV-Interview mit Günter Gauss als „Mädchen aus der Fremde“. Darin artikuliert sich eine grundlegende Differenz, die sie gegenüber verschiedenen Gemeinschaften, auch der jüdischen und dem Staat Israel konsequent aufrechterhalten sollte.914 Arendt erfuhr eine umfassende, humanistische Gymnasialbildung. Sie war hochmusikalisch und hatte früh außerordentliche literarische und philosophische Kenntnisse. Ihre intellektuelle Prägung erfolgte in Marburg, bei Bultmann und Heidegger, mit Hans Jonas als Kommilitonen. Die Marburger Zeit ist zugleich die Epoche der Liebesbeziehung zu Heidegger, die für beide wohl, eingestanden und uneingestanden, ein Grunddatum des Lebens ausmachte.915 Heidegger war für sie noch im Alter der „heimliche König im Reich des Geistes“. Die erotische Beziehung zwischen beiden dauerte vier Jahre. Heidegger reduzierte Arendt in den Briefen auf die Schweigende: so könne sie ihr inneres Wesen am besten offenbaren.916 Nach 1945 kam sie besuchsweise nach freiburg zurück. Asymmetrien und Tragiken, angesichts von Heideggers Weg nach 1933, der von Arendt auch 913 Zur Biographie E. Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt/Main 2004, S. 10 ff. 914 Zu diesem Komplex: W. Heuer u.a. (Hg.), Arendt-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart, Weimar 2011, S. 336 ff. 915 Grundlegenden Aufschluss gibt der Briefwechsel Heidegger-Arendt: Briefe und andere Zeugnisse 1925−1975, hg. von Ursula Ludz. Frankfurt/Main 1998. 916 Z.B. ibid., S. 24 f.

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als Verrat an ihrer Person empfunden werden konnte, spiegeln sich in dieser Geschichte, in der sich das jüdisch-deutsche Spannungsverhältnis verdichtet. Heidegger las Arendts Texte wohl niemals, während sie sein Denken verfolgte und dessen Spuren, bei aller Divergenz, aufnahm. Sie wurde ihm bei der Wiederbegegnung als Mitvierzigerin ein Gegenüber, das sich nicht länger ins Schweigen abdrängen ließ. Heidegger war und blieb ihr der „Modelldenker“. Die Zwanzigerjahre waren eine philosophisch bewegte Zeit, eine Phase des Aufbruchs, der Erneuerung, wie es im 20. Jahrhundert so keine zweite gab. Noch schien vieles möglich. Die große Katastrophe war noch nicht geschehen. Auch philosophisch-ideengeschichtlich sind die Zwanzigerjahre ‚roaring tweenties‘. Das politische Defizit und die Weltflüchtigkeit und Weltlosigkeit der Heideggerschen Philosophie beschäftigen Arendt, und werden Ausgangs- und Abstoßungspunkt ihres eigenen Denkens. Sie rechnete aber niemals mit Heidegger ab. Die wundervolle Rede zu Heideggers 80. Geburtstag lässt die Denkerfahrung an seiner Seite noch einmal Revue passieren.917 Über Jaspers sagte sie, es werde hell, wo er spreche, bei Heidegger betont sie die Insistenz des Fragens. Ihre Grundintuition war sehr früh: Die Wahrheit müsse öffentlich werden, aus den Einfassungen des Elfenbeinturms heraustreten. Eine ihrer Kernthesen wird sein: Denken sei eo ipso Praxis. Damit vollzieht sie den Rekurs auf einen Sokrates ohne den Platonischen Ideenhimmel. 1928 promoviert sie, zweiundzwanzigjährig, bei Jaspers über den Liebesbegriff von Augustinus.918 Zunächst arbeitet sie dann neben journalistischen Aktivitäten über Rahel Varnhagen, die Exponentin der Salonkultur des 18. Jahrhunderts. Sie erkennt in Rahel exemplarisch den prekären Status der Conditio Judaica. Dann wird sie ins 20. Jahrhundert katapultiert, Karl Blumenfeld wird ihr Mentor. Sie wirkt in der zionistischen Vereinigung für Deutschland mit, gerät 1933 in Gestapohaft und kann nach Paris fliehen. Was für ein Leben. Sie berührt Exilantenkreise, bewegt sich zwischen Walter Benjamin und Bert Brecht.919 Kurzzeitig geht sie die Ehe mit Günther Stern ein, der als Günther Anders sich als Technikphilosoph und -kritiker später einen Namen machen sollte, und den Heidegger niemals philosophisch ernst nahm. Heinrich Blücherheiratet sie 1940.920 Er ist Autodidakt, Volksbildner, sehr an ihrem Denken interessiert, aber im wohlfeilen Anti-Heidegger-Affekt der BiographInnen auch allzu 917 H. Arendt, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: G. Neske und E. Kettering (Hgg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen 1988, S. 232 ff. 918 H. Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Berlin 1929, dazu Young-Bruehl, a.a.O., S. 650 ff. 919 Dazu Arendt-Handbuch, a.a.O., S. 254 ff. 920 Über Blücher, a.a.O., S. 260 ff. Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936−1968. Hg. von L. Köhler. München 1999.

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sehr verklärt. Man kann ahnen (was man natürlich nur mit diskreten Vorbehalten tun darf), dass um Arendts Leben, von den Freundschaften abgesehen und inmitten der vielfachen Kontakte, eine tiefe Einsamkeit, ein Nicht-Getragensein war. Das Exil führt sie nach New York. Es gelingt ihr ihre Mutter zu sich zu holen. Leiden und Wahrnehmung der Flüchtlingsexistenz, des „Lebens in finsteren Zeiten“, der Suche nach Visa und Aufenthaltsgenehmigungen, sind ihr tägliche Erfahrungen. In der Vorphase der Gründung des Staates Israel begegnet sie Ende der vierziger Jahre Judah Magnes, dem großen Gründer der Hebrew University, zugleich schärft sich ihre Kritik am Zionismus und jüdischen Nationalismus. Die Unterdrückungsstrukturen gegenüber den Palästinensern hindern sie an einer ungetrübten Beteiligung am neuen Staat. Erst in der Nachkriegszeit schreibt sie ihre großen Bücher, allem voran über ‚Origins of Totalitarianism‘, die Erstversion in Englisch, dann die von ihr selbst übertragenen Zweitfassungen im Deutschen. Sie ist zeitweise im Nachkriegsdeutschland überaus präsent, etwa im Umkreis von Jaspers, der ihr zum stabilen Freund wird. So wirkt sie, im Umkreis der Zeitschrift ‚Die Wandlung‘, an der intellektuellen Rekonstitution Deutschlands mit. Ein wunderbar instruktiver, auch zeitgeschichtlich sehr dichter und eben gar nicht weltflüchtiger Briefwechsel mit Jaspers entspinnt sich zwischen Heidelberg, später Basel und New York.921 Die Briefe betreffen keineswegs primär philosophische Fragen, sondern Zeitgenossenschaft und politische Sorgen. Das Wiederaufkommen neu-alter Nazis bildet einen besorgten Grundton. Arendt sieht, ohne jede parteipolitisch linke Neigung, das Nachkriegsdeutschland sehr skeptisch. Die Wurzeln des Politischen seien durch Hitler ausgerissen worden. Die eisernen Bande des Totalitären hielten das Land nach wie vor im Griff. Sie befürchtete, nicht zu Unrecht, eine weitgehende Korrumpiertheit. Manche Versuche, sie nach 1945 nach Deutschland zurückzuholen, u.a. ein Versuch Rudolph Berlingers aus Würzburg, schlagen fehl.922 In der Schweiz, in Jaspers‘ Umfeld, scheint sie sich einigermaßen heimisch gefühlt zu haben. 1961 publiziert sie, zunächst als Artikelfolge im ‚New Yorker‘, ihren Bericht ‚Eichmann in Jerusalem‘, eine hoch umstrittene Beobachtung des EichmannProzesses, der sie in der Jewish Community isoliert, u.a. wegen der These, dass jenes millionenfach mordende Böse im Grunde banal sei. Rolf Hochhuth, der damals ebenfalls in Basel lebt, wird ein weiterer Freund und wichtiger Gesprächspartner. Man darf nicht übersehen, dass Arendt bis Mitte der fünfziger Jahre ein unstetes, auch finanziell ungesichertes und immer wieder angespanntes Leben führte. Dann in den sechziger Jahren erfährt sie zunehmend Anerkennung

921 Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926−1969. München 1985. 922 Für freundliche Hinweise auf die Nachlassakten Rudolph Berlinger danke ich Dr. Martina Scherbel, Stiftung Metaphysik Eisingen bei Würzburg.

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durch Preise und Stipendien. Eine feste Lehrtätigkeit entwickelt sich an der New School of Social Research in New York. Aus den dortigen Vorlesungen und Seminaren gehen die späteren großen Bücher hervor, vor allem Vita activa, aber auch ein fundamentaler politisch − philosophischer Zugriff, der sich vor allem in der Trilogie ‚Das Leben des Geistes‘ dokumentiert. Ihr langjähriger Ehemann stirbt 1970. Arendts späte Jahre waren von Krankheit und Einsamkeit überlagert. Sie selbst stirbt im Dezember 1975, ein halbes Jahr vor dem siebzehn Jahre älteren Heidegger. Sie bleibt auch nach 1945 die Fremde. Doch sie begegnete verschiedenen Kreisen jüngerer Intellektueller, die von ihr fasziniert waren. Sie öffnete sich dem Gespräch mit jener Generation, auch bis in den Kreis von Joachim Ritter hinein. Eine Grunddistanz blieb allerdings immer. Auch im Staat Israel wäre Arendt kaum heimisch geworden. Die Rücksichtslosigkeit und ‚Tapferkeit vor dem Freund‘ (I. Bachmann) sind allerdings durchaus Charaktertugenden dieser Intellektuellen. Ihr eigenes Judesein war für Hannah Arendt eine Selbstverständlichkeit, die außer-religiös gelebt wurde, an der aber auch die Spannungen mit offiziellen Vertretern des Judentums nichts ändern konnten. Mit Freud hätte sie sagen können: „Ich war selbst Jude und es war mir immer nicht nur unwürdig, sondern direkt unsinnig erschienen, es zu verleugnen“.923 Die Frage der impliziten und expliziten Gegenwärtigkeit der Hannah Arendt wird man vor diesen Hintergrund stellen müssen. Gerade auch das Fragmentierte, Abbrechende in ihrem Werk kann aufschlussreich sein. Arendt wählte für ihr Denken den programmatischen und durchgängigen Titel „Politische Theorie“. Darin liegt eine eigene Botschaft: Sie bezeichnete sich bewusst nicht als Philosophin, eben weil sie die Gefahr der Weltflüchtigkeit bemerkte. In dem Epitheton ‚Politischer Theorie‘ ist die innere Spannung zwischen Philosophie und Politik angezeigt. Ihre systematisch-normative Arbeit geht aus der genauen Kenntnis und Erfahrung der eigenen Zeit hervor, die, anders als bei Leo Strauss, eben nicht verschwiegen wird. Dies gilt es, etwas näher zu betrachten: (1) Die (a-religiös bleibende) jüdische Grunderfahrung und die aus der griechischen Antike bis zur Husserlschen Phänomenologie reichende Denktradition prägen Arendts Denken gleichermaßen. Das Erbe von Athen und Jerusalem verbinden sich ihr im „Galut“, der Diasporasituation in der deutschen und europäischen Ideengeschichte. Rahel Varnhagen, geborene Levin (1771−1830), ist eine Präfiguration jüdischer Identität. Das Buchmanuskript wurde 1938 abgeschlossen, das Buch

923 S. Freud, Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith (1926), in: ders., Gesammelte Werke Band 17. Schriften aus dem Nachlass 1892−1938. Frankfurt/Main 1971, S. 51.

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publizierte Arendt aber erst 1958. Rahel Varnhagen führte einen avancierten Salon, in dem die beiden Humboldts, Jean Paul, Schleiermacher, aber auch der konterrevolutionäre Friedrich von Gentz verkehrten. Sie arrangierte und choreographierte jene Begegnung. Und dennoch bewegt sie sich, wie Arendt im Anschluss an Max Weber zeigt, in einer dauerhaften jüdischen Paria-Existenz. Der avancierte Paria wird im besten Fall Parvenu: In die Mehrheitsgesellschaft gelingt der Aufstieg nur scheinbar.924 Dies hat Arendt übrigens auch an Heinrich Heine, dem deutschesten und romantischsten Dichter, der zugleich die Romantik ironisch aufbrach, tief fasziniert. Heine gehört in eine verborgene Tradition der Ausgestoßenen trotz Entréebillet in die bessere Gesellschaft. Seine Dichtung atmet den Charme einer Unschuld des Suspekten. Arendt las Kafkas Texte vor diesem Hintergrund: Der Landvermesser K. ist mythopoietische Verdichtung einer niemals geglückten Assimilation. Die Paria-Parvenu-Problematik reicht bis zum Eichmann-Buch. Wenn ihr Jaspers 1947 noch aus Heidelberg schreibt, er sorge sich, dass die israelische Staatsgründung Verlust von Transzendenz bedeutet, die Juden ihre Seele verlieren würden, und der Versuch, ein Volk wie jedes andere zu werden, scheitern müsse,925 stimmt sie ihm zwar zu, doch ambivalent und letztlich halbherzig. Die Staatsgründung Israels sei die einzige konsequente Form von Assimilation.926 Zugleich formuliert sie aber in dem Aufsatz „Zionism Reconsidered“: Zionismus sei eine Mischung aus „osteuropäischem Sozialismus und westlichem Nationalismus“.927 Harte, aber durchaus verifizierbare Worte, die ihr von zionistischer Seite eine nie verstummende Kritik eintrugen. (2) ‚The Origins of Totalitarianism‘, 1951 publiziert, sollte ursprünglich den Titel: „Die drei Säulen der Hölle“ tragen. Die Leitfrage war: „Insofern als totalitäre Bewegungen in der nicht-totalitären Welt entstanden sind, ist der Prozess des Verstehens ganz klar, vielleicht in erster Linie ein Prozess des Selbst-verstehens“.928 Das große Werk ist einer der ersten Anläufe zu einer umfassenden Totalitarismustheorie. Doch es verfährt gerade nicht vergleichend, wie spätere Autoren: Jacov Talmon, François Furet oder auch Ernst Nolte es tun sollten. Arendts nicht primär historiographische, sondern philosophische Totalitarismustheorie konzentriert sich auf die Verbindung von Ideologie und Terror im Nationalsozialismus und das extreme Gegenbild zur Natalität. So ist der Totalitarismus in seiner zentralen Ausprägung nicht einfach als eine Form

924 H. Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 71972, S. 186 ff. 925 Briefwechsel Arendt-Jaspers, a.a.O., S. 132. 926 Ibid., S. 134 ff. 927 Arendt, Zionism Reconsidered, in: dieselbe, Die verborgene Tradition. Frankfurt/Main 22000, S. 134 f. 928 H. Arendt, Verstehen und Politik, in: dieselbe, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 113.

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von Tyrannis oder Despotismus in der klassischen Herrschaftsformenlehre unterzubringen. Denn die totalitäre Herrschaft „beraubt Menschen nicht nur ihrer Fähigkeit zu handeln (das tun auch die Despotien), sondern macht sie […] mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen“.929 Hinzukommt, dass der Totalitarismus neuer Prägung von sich her und in sich selbst „Bewegung“ ist. Kein rationales oder auch nur taktisches Prinzip ist erforderlich, das diesen Aktivismus erst auslösen würde. Als entscheidende Charakteristika erkennt Arendt Kollektivierung und Uniformierung: Dies verbindet den NS-Totalitarismus mit dem Gestus eines unbegrenzten Akzelerierens und Beschleunigens von Zeit seit der Französischen Revolution, auch mit dem frei floatenden Kapitalismus, den Karl Marx im ‚Kommunistischen Manifest‘ zeichnete. Arendt rekonstruiert vor diesem Hintergrund die bestimmenden Wesenselemente des Totalitarismus: Das eine ist der Antisemitismus, der vom religiösen Antijudaismus immer wieder unterschieden wurde,930 wobei sie bereits nachweisen kann, dass er sich paradoxerweise gerade im Jahrhundert der Assimilationen verstärkt. Eine Ursache dafür erkennt sie im Nationalstaat, der über Exklusion und Inklusion entscheidet: wichtige Züge der Diskursanalyse von Foucault kann man hier schon vorgeprägt finden. Auch im Imperialismus des 19. Jahrhunderts und britischen Kolonialismus sieht sie eine Vorprägung des Totalitären, in einer Bürokratie, die die Ausgeschlossenen zur Rechtlosigkeit verurteilt und sie in die Inhumanität verbannt. Koloniale Unterminierungen Europas, die in den Kolonien gängig waren, wurden in das Zentrum Europas zurücktransformiert. Die Staatenlosigkeit, das Migrantenschicksal, der Zerfall der Staatenwelt nach dem Ersten Weltkrieg, die Existenz der Displaced Persons ist ein weiteres der Kernelemente in Arendts Nachdenken. Das Recht auf Rechte ist in seinem Kern das Recht auf Mitgliedschaft, Synousia. „Schrecklich kein Bürger zu sein“, sagt schon Dante Alighieri. Weder im Nationalstaat sieht sie die Formkraft noch in einem Weltstaat, einer Global Democracy, der unter Umständen auch zur Despotie neigt, das Recht auf Rechte zu sichern. Subtile Diskussionen entwickelten sich um die Frage, inwieweit dieses Recht begründungsfähig sei und ob es einer weiteren Begründung überhaupt bedürfe. Erweist sich sein Proprium nicht vielmehr in der Intuition und darin, dass es auf Verwirklichung drängt? An den Staatenlosen zeigt sich die ganze Brisanz dieser Forderung, auf sie fokussiert sie sich. Der Demos umfasst, anders als ein Ethnos auch die

929 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/Main 1955, S. 727. 930 D. Nirenberg, Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. München 2015, S. 9 ff. Im Einzelnen dürfte die Distinktion zwischen ‚Antijudaismus‘ und ‚Antisemitismus‘ nicht immer ganz eindeutig sein.

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Ausgeschlossenen. Gerade sie, die „displaced persons“ und Migranten müssen das Recht auf Zugehörigkeit in Anspruch nehmen. Denn die Forderung nach einem „Recht auf Rechte“ darf nicht nur Proklamation sein, nicht nur abstrakte Ethik, sie muss selbst politisch werden. Und sie ist im Sinne Arendts einer weiteren Begründung nicht fähig und nicht bedürftig. Weitere Kriterien totaler Herrschaft lagern sich um diese Kernstrukturen: Der Totalitarismus sprengt den Nationalstaat, auch wenn er aus seinem Bodensatz erwachsen ist. Primär und im Wesentlichen ist er gekennzeichnet durch Terror. Idealtypisch (mit Max Weber Kategorie) zeigt sich dies wieder am Nationalsozialismus. Die Terrorimprägniertheit ließe sich allerdings auch unschwer am Stalinismus und anderen Formen des Totalitären aufweisen. Der Terror erweist sich dabei nicht als Ausnahme, sondern als Regel.931 Arendt spricht von seinen „eisernen Banden“, die alle Freiheit zu politischer Handlung zerstören. „Die Präparierung von Opfern und Henkern“932 erweist sich als Essenz der Entmenschlichung. Gestützt ist der Terror auf den totalitären Anspruch, eine Totalerklärung geben zu können, von Natur und Geschichte. Totale Ideologie in ihrer Einwandlosigkeit lässt kein Wahrheitsgeschehen, keine freie politische Bezeugung, zu.933 Auch darin zeigt sich ein hochaktuelles Momentum von Arendts Denken, angesichts neuer oder wiederkehrender Parteien, die aus der ideologischen Vermauerung und aus Verschwörungstheorien eine keinen Widerspruch duldende Ideologie formen wollen. Das geschlossene, Apperzeptionen verweigernde Welt- und Menschenbild, das Diktat einer absoluten Folgerichtigkeit, wie es aus seinerzeit vielzitierten Texten wie den ‚Protokollen der Weisen von Zion‘ hervorgeht, erfasst Arendt als Nukleus totaler Ideologisierung. Mit dem kantischen Begriff von Freiheit als „Selbstanfang“,934 auch in einer Welt der äußerlichen Determiniertheit, beginnt Demokratie, und damit formt sich eine Offene Gesellschaft, verbunden mit dem Diktum der Pluralität, das schon bei Aristoteles eine wichtige Rolle spielte: die Politike koinonia ist, wie er betonte, eine Gemeinschaft der Verschiedenen. Als Gegenkonzept erweist sich wieder die Massenstruktur des Totalitarismus. Dies konstatierten andere Theoretiker vorher und nachher auch, am eindrücklichsten und literarisch anspruchsvollsten vermutlich Elias Canetti in seinem Hauptwerk ‚Masse und Macht‘ (1960). Arendt gräbt aber an dieser Stelle nochmals tiefer. Sie sieht die Bedingung der Möglichkeit von Formbarkeit und Mobilisierbarkeit der Massen in einer atomistischen Verlassenheit

931 932 933 934

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Ibid., S. 722 ff. Ibid., S. 722. Zur Ideologie und ihrer identitären Logik ibid., 723 ff. Vgl. Kant, K.r.V B 562 ff.

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des Einzelnen, in der Ausgestoßenheit aus der gemeinsamen Welt,935 zurückgeworfen auf ein konturloses Personsein, das nicht trägt. Schließlich zeigt sie, dass der Totalitarismus ein Radikal Böses (ein Kantischer Begriff aus der späten Religionsschrift, den aber Arendt viel weitertreibt) zum Motiv hat. Dieses Böse treibt den Willen an: Es ist letztlich der Versuch, den Menschen überflüssig zu machen, und es äußert sich im KZ, der Omnipräsenz der Folter, über die so viele Überlebende, Primo Levi dann sprachen und schrieben, nach Jahren und Jahrzehnten der Traumatisierung. Wo das eigene Menschsein durch permanente Folter zerstört wird, ist auch die Möglichkeit des Martyriums ausgeschlossen. (3) ‚Eichmann in Jerusalem‘ bildet neben dem Totalitarismus-Buch die zweite grundlegende Hintergrundfolie für Arendts normatives politisches Denken. Als Arendt 1961 Beobachterin des Eichmann-Prozesses in Jerusalem war, sah sie hintergründig genau hin. Dabei widmete sie sich auch juristischen Fragen: War das Kidnapping in Argentinien durch den Mossad gerechtfertigt? In ethischer Hinsicht stand für sie außer Zweifel, dass das Gericht der Opfer über die Täter legitim ist. Es muss aber auch rechtlich legalisiert sein. Arendt führt das passive Nationalitäten-Prinzip ein: Jurisdiktion kommt einem Staat zu, in dem die Mehrheit der Opfer leben.936 Dennoch kritisierte Arendt in politischer Hinsicht, dass es ein israelisches Gericht war, kein internationales, das über Eichmann urteilte. Und sie beklagte, dass der wahre Schrecken der Eichmannschen Verbrechen in dem Prozess nicht erfasst worden sei. Zu Recht haben Leser gefragt, ob dies denn überhaupt möglich gewesen wäre. In der Behandlung der Schuldfrage folgt Arendt Karl Jaspers. Mit ihm unterscheidet sie zumindest implizit kriminelle, von politischer und moralischer Schuld.937 Ihr Bericht enthält aber ein hohes Provokationspotential: Eichmann trat innerhalb der NSDAP für Ghettoisierung von Juden ein und stützte sich dabei auch auf Herzls ‚Judenstaat‘-Utopie. Arendt nennt ihn deshalb einen „Zionisten“.938 Dies war jüdischen Überlebenden nicht zu vermitteln, aus guten Gründen. Die Banalität dieses Bösen sieht sie in dem vielberufenen Typus des „Schreibtischtäter[s]“, den sie mit der Formel begrifflich fasst: Eichmann habe sich „nie vorgestellt, was er eigentlich anstellt“. Das Verantwortungsproblem muss an einer solchen Existenz brechen. Arendt geht der Dimension moralischer Schuld differenziert nach: Sie ist bei Eichmann evident und erweist sich immer primär an der Schuld des Einzelnen (davon lenken Topoi der „strukturellen Gewalt“ eher ab). Juristisch 935 Arendt, ibid., S. 710 ff. 936 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen. München 41992, S. 320 f. 937 Vgl. K. Jaspers, Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. München 1965. 938 Ibid., S. 69.

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ist die Schuld schwerer zu fassen. Arendt legt aber auch auf diese Filiation wert: Völker- menschenrechtlich muss Eichmann als „hostis generis humani“ begriffen werden – als Feind des Menschengeschlechts.939 Deshalb könne es auch keine Vergebung für ihn geben. Derrida und andere Denker jüdischer Prägung sollten auch an dieses Paradigma ausführliche Diskurse anschließen. Eindrücklich formulierte Arendt, die authentische Gegnerin aller Todesstrafe: „Er konnte nicht länger auf der Erde unter Menschen bleiben, weil er in ein Unternehmen verwickelt war, das zugegebenermaßen gewisse ‚Rassen‘ für immer vom Erdboden verschwinden lassen wollte“.940 Der Titel von der Banalität des Bösen blieb Provokation. Seine Formulierung ging wohl auf einen Einfall von Arendts Ehemann Heinrich Blücher zurück. Doch das eigentliche Skandalon war, dass Arendt die Rolle der Judenräte thematisierte und gestützt auf Hilbergs Werk ‚Destruction oft he European Jews‘ (1951) eine Komplizenschaft konstatierte. Die Handlungsprämisse der Räte war, dass einige wenige geopfert werden sollten, damit viele gerettet werden konnten. Doch dies trat eben nicht ein. Tatsächlich wurden nur wenige gerettet und die moralische Komplizenschaft wog schwer. Das Eichmann-Buch machte Arendt weltweit bekannt. Es isolierte sie aber auch. Sie verlor viele Freundschaftsbeziehungen. Und sie konterkarierte vor der Weltöffentlichkeit im ‚New Yorker‘ die Staatsräson Israels, die mit dem Prozess befestigt werden sollte, dass die jüdische Jugend nicht eine Herde sei, die zur Schlachtbank geht, sondern „ein Volk, das zurückschlagen kann“.941 Gershom Scholem kündigt ihr die Freundschaft, weil es ihr am „Ahabath Israel“ fehle, der Liebe zu Israel.942 Aus der Analyse sticht die Topologie über das Böse heraus, und präfiguriert ein Grundmotiv von Arendts später Konzeption von ‚Vita activa‘. Das Böse sei gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Denken und Dialog, von Korrelation zwischen Personen. Später wird sie formulieren, der Denkprozess sei das Zwei-in Einem, das sie bei Heidegger vermisste. (4) Vor der Folie der Einsichten in den Totalitarismus entwickelt Arendt ihr politisch-theoretisches Hauptwerk ‚Vita activa‘, 1958 erschienen. Das englische Original trägt den Titel: ‚The human Condition‘. Sie knüpft an Aristoteles an, die grundlegende Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis in der Nikomachischen Ethik Buch VI. Die Bestimmung von Poiesis und Praxis ist Arendt zufolge auch in der Neuzeit maßgeblich geblieben, wobei die moderne Industriegesellschaft eine weitere Differenzierung zwischen produzierender „Arbeit“ und „Herstellen“ nahelegt. Das Novum neuzeitlichen Welt-

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Ibid., S. 317. Ibid. Zit. nach Ottmann, Geschichte des politischen Denkens 4. 1, S. 426. Brief Scholems an Arendt vom 23. 6. 1963, zit. nach Ottmann, S. 426.

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verhaltens ist eine Weltfremdheit und -entfremdung, mitbedingt durch naturwissenschaftliche Theorien, die den Zugriff auf Welt, eine vorstellungshafte bzw. sprachliche Extrapolation unterbindet. Technik, auch dies eine hochmoderne Konzeption, die mit Heideggers Technikphilosophie im Gespräch ist, übertrifft bei weitem das Verstehen können. Die zugerichtete Welt ist gerade eine Welt, in der wir nicht mehr zuhause sein können. Ausgangspunkt (auch das eine Heidegger-Referenz) der technomorphen späten Moderne ist die Mortalität, eine Kristallisation allen Zusammenlebens. Es sollen Gefüge, Gestelle entwickelt werden, die in der Lage sind, die Zeit zu tilgen und die menschliche Sterblichkeit aufzufangen.943 Arendt entwickelt aber ein Gegenkonzept: Die Natalität, die nicht, wie in ‚Sein und Zeit‘, Geworfenheit bedeutet, sondern einen Beginn. Mit Augustinus formuliert sie: „Initium ut esset, creatus est homo“ („Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen“). Dem steht die römische Vision des ‚Novus ordo saeculorum‘ (in Vergils Bukolischen Gedichten) an der Seite, die in die amerikanische Verfassung einging. Die Sprachlichkeit, das Rechenschaft-Geben (logon didonai) ist die Formierung dieses Anfangs. Überreden und Überzeugen können eine politische Macht der Freiheit ausbilden, die aller Gewalt entgegensteht. „Politisch zu sein, das hieß, dass alle Angelegenheiten mittels des Wortes geregelt wurden und nicht durch Zwang und Gewalt“.944 Berechtigte Einwände, etwa von Henning Ottmann, dass diese Herrschaftsfreiheit den Erfordernissen verantwortungsethischer Politik widerspreche und trivialerweise auch keine Realität der politischen Geschichte abbilde, sind nicht von der Hand zu weisen.945 In jedem Fall ist Arendts Konzept überidealisiert. Sie hat für diese Überidealisierung aber gute Gründe, eben weil sie ihr Denken den Höllenkreisen des Totalitarismus abringt: So bildet sich ein „kontrafaktisches Moment“ aus. Arendts Typologie zeigt, dass Arbeit den Menschen auf ein „animal laborans“ zurückführt, das Herstellen aber auf den „homo faber“. Beide können schon aufgrund dieser Fragmentierung nicht Grundlage von Politik sein. Sie sind beide nicht Urstiftungen des Dialoges; Monolog und Kollektivismus berühren sich. Dies ist der Grund für Arendts grundsätzliche Kritik am Marxismus und der zentralen Kategorie, die Arbeit auch als Befreiungstopos darin einnimmt. Politik ist, wie sie betont, Vollzug, ein Selbstzweck (gr.: hou heneka).946 In der Initiativität realisiert sich Natalität. Etwas neues Anfangen, Generieren, Ausführen und Vollziehen, in diesen politischen Vollzügen sei der Mensch als Mensch gefragt, er könne‚unerwartet‘ beginnen. Seine Natalität ist

943 944 945 946

H. Arendt, Vita activa. München 81994, S. 80 ff. Ibid., S. 138. H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, a.a.O., S. 444. Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 123 ff.

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also gleichsam geweckt. Die große Dissonanz aber bleibt, dass in der Neuzeit weitgehend der Sieg des homo laborans gefeiert wird. Für Arendt wie für viele andere (z.B. Blumenberg) findet dies im Fernrohr sein Sinnbild, dem von außen auf die Welt gerichteten unbeteiligten Blick. Darin drohen sich bezeugte Möglichkeiten, auch im politischen Sinn, zu verschließen. Das Plädoyer für das Denken, für die Vorbehaltlosigkeit und Offenheit des Politischen formuliert Arendt tatsächlich kontrafaktisch. Es mündet in die Catonische Aussage: „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich alleine ist“.947 Auch wenn es um die Realisierungsmöglichkeiten schlecht bestellt ist, der Verpflichtung zum Selbstanfangen kann man schwer entgehen: In allen Bereichen hat man es mit einer „Unwiderruflichkeit des Getanen“ zu tun.948 Allein der politische, potentiell unendliche Prozess vermag aber darauf eine genuine Antwort zu finden. Gewiss bleiben weitere offene Fragen, und auch Argumentationsmängel sind nicht zu übersehen. Die Persona- oder Image-Frage der Politik wird von Arendt weitgehend ignoriert. Außerdem diskutiert sie nicht das Phänomen des Kompromisses. Die Extrapolation antiker Momente in ein Ethos des Demokratischen ist letztlich mit einem hohen Idealisierungsgrad erkauft. Eindrücklich und in ihrer Intention erst voll verständlich sind diese Überlegungen, wenn man sie vor dem Hintergrund des erlebten, erlittenen und reflektierten totalitären Zeitalters sieht. Unstrittig ist aber das Selbstverständnis des Entwurfs als einer Theorie der Politik allein unzureichend. Arendt formulierte in der Tat unhintergehbare und grundlegende Momente jeder Politischen Philosophie, deren normativ juridische Normalform beleuchtet sie aber nicht. In einer Reihe von Fragmenten aus den Jahren 1955/56 ging sie der Frage, was denn Politik ist, weiter nach. Expliziter als in ‚Vita activa‘ formuliert sie hier, dass es nach dem Abbruch des Politischen im Totalitarismus einer neuen politischen Philosophie bedürfe. Die griechische Polis wird als Folie gelingender, humaner Synousia noch stärker betont, wobei sie eine gleichsam demokratisierte Platon-Lesart vorschlägt. Platon entwickelte „eine politische Theorie, in der die Maßstäbe des Politischen nicht aus diesem selbst, sondern aus der Philosophie geschöpft sind“.949 In diese Richtung hätte sie vermutlich weitergedacht. Sie konnte dieses Projekt nicht vollenden. In jedem Fall beabsichtigte sie, das römisch

947 Zitiert bei Arendt, Vita activa, S. 317. 948 An diesen Topos anknüpfend, Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation. Frankfurt/Main 1979, S. 20 ff. 949 H. Arendt, Was ist Politik? Aus dem Nachlass herausgegeben von Ursula Ludz. München, Zürich 1993, S. 54.

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politische Denken stärker mit einzubeziehen und die Fragen aufzuwerfen: „Wie leben Menschen zusammen?“ mit einer Behandlung der „Pluralität in den Staatsformen“: Amor mundi hätte sie dieses Werk nennen wollen. Eine Konkretisierung leistet sie auch im Kontrast der Amerikanischen und der Französischen Revolution in einer eigenen großen Monographie.950 Revolutionen sind nach Arendt „Gründungen der Freiheit“. Sie selbst gibt der ‚American Revolution‘ den Vorzug, vor allem weil deren Volkssouveränität nicht auf einen fiktiven Naturzustand zurückgreifen musste, sondern auf historische Realitäten. War sie doch in den Kommunen (townships) schon praktiziert worden. Die Pointe von Arendts Rekonstruktion des Geistes der amerikanischen Verfassung besagt, Herrschaftsverträge seien Versprechen auf Gegenseitigkeit, mit der Möglichkeit einer Rückkehr zu den Anfängen (Stanley Cavell). Wieder legt sich der Einwand in variierter Form nahe: Der Anfang muss in Institutionen und operative Politik überführt werden. Doch diese langsame, probabilistische Mühe des demokratischen Prozesses, der die Offene Gesellschaft auszeichnet, wird bei Arendt wenig sichtbar. Sie orientiert sich vielmehr an temporären Kairoi, am kurzen Aufleuchten von Freiheit wie in der Münchener Räterepublik. Fasziniert war Arendt von Rosa Luxemburg, deren Konzept sie als Theorie politischer Spontaneität anerkennt (und dabei die totalistischen Gefährdungen verkannte), obwohl Arendt nie im eigentlichen Sinn eine Linke war. Gegen Ende ihres Lebens hegte sie persönliche starke Sympathien für die Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen in den USA, aber auch für die Nelkenrevolution in Portugal. Auch die Unterscheidung von Macht und Gewalt erweist sich als fundamental für Arendts Denken. Macht ist für Arendt Grundlegung des Politischen, Miteinander-Handeln, schöpferischer Kern; Gewalt hingegen ist Gegeneinander-Handeln, sprachlos, destruktiv. Auch hier ist eine Überidealisierung unverkennbar.951 Das Miteinander-Handeln bedarf ja der Kontroverse, Habermas kritisierte 1978, dass sich so ein Bild des Politischen ergebe, in dem strategische Interessen und Verhandlungen kaum eine Rolle spielen.952 Doch es bleibt nicht bei der starren Gegenüberstellung. Nicht systematisch, aber als öffentliche Intellektuelle stellte Arendt gleichwohl die Dimension des Anfangen-Könnens vor den Frontlinien realer Politik immer wieder eindrucksvoll unter Beweis. Besonders prägnant tat sie dies 950 H. Arendt, Über die Revolution. München 1986, S. 232 ff. 951 H. Arendt, Macht und Gewalt, München 1975, S. 32 ff., dazu J. Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht, in: ders., Politik, Kunst, Religion. Stuttgart 1978, S. 103 ff. 952 Habermas, ibid., S. 110 ff., der spätere Habermas bezog sich in seiner Rechtsphilosophie: Faktizität und Geltung. Frankfurt/Main 1992, dann aber viel zustimmender auf Arendts Macht- und Politikbegriff.

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in ihren Einlassungen zum Zivilen Ungehorsam. Ziviler Ungehorsam stehe in Übereinstimmung mit dem Geist der amerikanischen Gesetze, wenn auch nicht mit dem Wortlaut. Denn: Jeder Mensch werde bereits in eine bestehende Gemeinschaft hineingeboren. Dieser grundlegende Konsens ist nicht von jeder Generation neu herzustellen. Daher ist es berechtigt, ja eine Pflicht im öffentlichen Raum Dissens zu artikulieren. Je mehr eine Verfassung diesen Dissens zulässt, umso stärker legitimiert sie sich. Es ist Arendts These, dass der zivile Ungehorsam „die neueste Form der freiwilligen Vereinigungen darstellt“.953 Er muss freilich artikuliert sein, nicht ein bloßer „Aufschrei“, auch nicht eine Veranstaltung von Wutbürgern. Eine Schwierigkeit in Hannah Arendts philosophischem Vermächtnis, vielleicht auch ein Relikt der Heidegger-Erfahrung ist dies, dass sie den Begriff der Philosophie ablehnte. Doch in ihrem eigenen Spätwerk konterkariert sie dies und gewinnt einen neuen Begriff von Denken: Gegenüber dem totalitären Trauma entwickelt sie markant, auf drei Säulen gestützt, „das Leben des Geistes“. Es begründe sich auf das Denken, das Wollen und das Urteilen. Nicht Dummheit allein, über die auch Robert Musil, Karl Kraus oder Hermann Broch unter totalitären Auspizien nachdachten, ist das Grundproblem der Verfehlung freien Nachdenkens. Sie ist freilich schon ein großes Problem. Gravierender ist Gedankenlosigkeit, Pervertierung der Gedanken. Arendt entwickelt keine Anthropologie oder Metaphysik, sondern eine Phänomenologie der betätigenden menschlichen Fähigkeiten. Damit wird gegen ein weltloses, philosophisches Denken der Gegenakzent gesetzt, eine Welthaftigkeit und Öffnung. Die Phänomenologie des Denkens ergibt, dass Denken Zwiesprache mit sich selbst ist, die aus der Zwiesprache mit anderen herkommt und diese vertieft. Hier zeigt sich Selbst-Verantwortung als Verantwortung des Anderen, eine ist Selbst-Verantwortung, auch im Selbst-Widerspruch.954 Kongenial dazu formulierte Joseph Beuys, dass der wirkliche Frieden aus dem „Ideenkrieg mit sich selbst“ resultiert. Denken ist daher für Arendt eine Form von SelbstPluralisierung. Unverkennbar ist hier ein phänomenologisches Erbe, das eher bei Husserl als bei Heidegger ansetzt (man vergleiche Husserls faszinierende späte Kaizo-Artikel):955 konstitutiv ist das Absehen von der eigenen Person und ihren primären Weltbezügen.

953 Arendt, Zwischen den Zeiten, a.a.O., S. 146 ff., dazu Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: P. Glotz (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/Main 1983, S. 29 ff. 954 Arendt, a.a.O., siehe auch dies., Vom Leben des Geistes I, a.a.O., S. 25 ff. 955 Dazu zusammenfassend und reflektierend: Chr. Spahn, Phänomenologische Handlungstheorie. Edmund Husserls Untersuchungen zur Ethik. Würzburg 1986, S. 198 ff.

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Heidegger wird von Arendt konterkariert, doch die Emphase auf einem Denken jenseits der Philosophie teilt sie mit ihm wie niemand anderer. Heidegger beanspruchte bekanntlich, das Ende der Philosophie mit der neu gewonnenen Sache des Denkens, des zu Denkenden, zu verknüpfen, der Seinsfrage. Heideggers Denken ist nochmals Denken des Einen. Arendt aber gibt dem Denken eine neue Flexibilität und Klarheit, eine aufklärerische Emphase. Denken ist also per se Zweiheit. Dagegen setzt sie im zweiten Teil der Trilogie das Wollen: Anders als die klassische Tradition, denkt Arendt den Willen gerade als höchst privat, nicht-indifferent, nicht-neutral und nicht-neutralisierbar; Wollen versteht sie in scharfer Kontrastierung als gegenläufig zum Denken. Zugleich ist es komplementär darauf bezogen. Der Wille kann in Liebe verwandelt werden, womit auch der Zwiespalt im Tun aufzulösen ist. Sehr deutlich wird hier auch die anti-heideggersche Spitze. Das Leben des Geistes gründet nicht in der Verborgenheit, der Lethe, den wenigen Letzten und Ersten Seinsdenkern, mit diesem hoch pathetischen Impetus. Es muss öffentlich werden und sich sichtbar artikulieren. Auch wenn Arendt den Band über das Urteilen nicht mehr vorlegen konnte (über dem Motto ist sie am 4. 12. 1975 gestorben), lagen die Instrumente und Fäden bereit. Vor allem auf zwei Loci classici stützte sie sich, Aristoteles Phronesis-Konzeption im VI. Buch der Nikomachischen Ethik (in der Tradition praktischer Philosophie auch für Gadamer, Ritter oder Manfred Riedel ein sehr wichtiger Text) und die dritte Kantische Kritik, die ‚Kritik der Urteilskraft‘. Die Dimension der Urteilskraft, nach Wolfgang Wieland Kants originäre Einsicht, versucht Arendt aus der bei Kant gegebenen Fokussierung auf das Geschmacksurteil in einen allgemeineren, damit auch ethischen Bezug zu transformieren. Sie tut dies mit Verweis auf den Gemeinsinn, und die Kantische Regel: Selbstdenken – an der Stelle jedes anderen Denkens, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.956 Kritiker haben darauf verwiesen, dass all dies doch in der Sphäre des Selbstdenkens bleibe und nicht in die Intersubjektivität führt, die Arendt politisch beabsichtigt. Mit Kant muss sie zwischen den Zuschauern des politischen Geschehens und den Handelnden unterscheiden. Könnte es aber nicht sein, dass gerade diese Zurückhaltung die Bedeutung Arendts ausmacht? Eine unmittelbare neoklassische Fortschreibung kann und will sie nicht formulieren. Hier erweist sich Arendt, mit S. Benhabibs Worten, als „die melancholische Denkerin der Moderne“, die im Umbruch steht.957

956 Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V, S. 294 f., Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, AA VII, S. 228. 957 S. Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt/Main 2006, S. 12 ff.

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(5) Von umso größerem Gewicht angesichts der Fragmentierungen ihres Oeuvres ist das aus dem Nachlass herausgegebene ‚Denktagebuch‘, 28 Schreibhefte, die Arendt zwischen 1950 und 1973 führte. Vielleicht fand Arendt darin ihre eigentliche Form.958 Hier realisiert und extrapoliert sie das Denken als Handeln und Urteilen nicht in einer phänomenologischen Theorie, sondern im Selbstvollzug. Jene Aufzeichnungen sind zumindest im Duktus den großen Nachlass-Korpora vergleichbar, wie sie Kant und Nietzsche hinterließen. Die windmungsreiche, belebende, zu kritisierende und zugleich zu erneuerende abendländische Traditionslinie wird durchgespielt und variiert. Manche Motive kehren in ‚Vita activa‘ wieder. Doch liegt ein unaufhebbares Surplus in dem nicht zum Buch gebändigten Nachlass. Arendt sprach davon, dass die Darstellung malträtiere, dem Gedanken Ketten anlege.959 Das Denktagebuch solle demgegenüber dokumentieren, wie man denkt, die Beweglichkeit, die Initiative, das sich-Entzünden an einer Beobachtung, Nachricht, Lektüre. Wiederkehrende Grundmomente auch der eigenen Existenz. In Aussagesätzen zu sprechen, werde der flexiblen Denkbewegung gerade nicht gerecht.960 Hinzu kommt Mehrsprachigkeit, Griechisch, Englisch-Deutsch: Auch das Leiden an der anderen Sprachwelt, „my thought is alien to English philosophy,“ formuliert sie.961 Besonders stark sind die Notate, in denen sie den Versuch artikuliert, nicht mehr die Philosophie mit akademisch verengtem Blick zu sehen. Sehr unterschiedliche Referenzen, etwa auf Heidegger und Walter Benjamin werden damit als Teil von Arendts Ideenkosmos eröffnet. Und sie formuliert in Helligkeit und Sinnklarheit Konturen eines dichterischen Denkens, das wesentlich in Übertragungen besteht. Es vertieft sich aber auch der Impuls, der Arendts Werk immer bestimmt: „Ich will verstehen“. Gerade im Verstehen zeigt sich das Humanum: eine unabschließbare Tätigkeit, die auch zum Verzeihen und Neuanfangen führen kann. In der angelsächsischen Tradition sieht sie die (schon von de Tocqueville konstatierte) sanfte Tyrannei des Mainstreams, in der deutschen dagegen die Tyrannei der Denkgebäude selbst. Man mag an die Systeme der klassischen deutschen Philosophie denken; man mag an Heidegger denken. „Alles Denken überträgt“ – bemerkte Arendt einmal; postmoderne Denker haben diese Textur zur literarisch-philosophisch oszillierenden Buchformaten erweitert, man mag an Jacques Derrida denken. Fremde Texte, die

958 H. Arendt, Denktagebuch 1940−1973, 2 Bände, hgg. von U. Ludz und I. Nordmann. München 2002. 959 Ibid., S. 724. 960 Ibid., S. 520 ff. 961 Ibid., S. 771.

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sie aufnimmt, evokativ, kritisch, widersprechend, werden „zu Zeugen, auch Freunden“. Sie verifiziert in actu das Votum für Pluralität, Analogien, auch an den Textwelten. Denken sei ‚Übertragen‘, nicht die Glättung, vielmehr der Bruch ist bestimmend: Widersprüche, zwischen der christlichen und römischen Welt, der Moderne und der Forderung des Politischen. Wenn Arendt mitunter in den publizierten Werken zu Dichotomien neigt: Sichtbarkeit versus Nicht-Erscheinen, Erfahrung versus Abstraktion, so zeigen sich hier die gleitenden Übergänge, die Analogien, Metonymien und Metaphern als Betätigungsweisen des Denkens (man denke als unabhängiges Vergleichsstück an Blumenbergs Metaphorologie). Bei allem politischen und ethischen Abstand gegenüber Heidegger teilt Arendt doch mit ihm die Einsicht, dass der Weg „vom Mythos zum Logos“ nicht linear ist, sondern dass in der Dichtung Erinnerung bewahrt werden kann, Situation und Flüchtigkeit ins Gedächtnis einzugehen vermag. Es war das Üben, das andere Lesen: die Richtungsänderung, die Arendt im letzten nicht methodisierte, sondern vielmehr vollzog. Deshalb führen ihre Versuche nie in eine raunende Zerstörung der Vernunft, eine Ursache, weshalb ihrem Denken, diesseits der Aktualität, so viel Glaubwürdigkeit gesichert ist. Es ist die Sprache, in der sich Wahrheit ereignet. Nicht allein, weil wie Heidegger mit Novalis meinte, die Sprache mit sich selbst spricht, sondern weil sie das ‚Zwischen‘ der Gesprächsräume eröffnet.962 Nur zwei Momente noch, die diesen Ansatz näher explizieren können: Die abschließende transzendentalphilosophische Frage nach dem Humanum, das „Was ist der Mensch?“ hielt Arendt für unstatthaft. Das ganze Netz dessen, was Menschen tun und erleiden, lässt sich in Erkundungen aufspannen, in Akten von Denken, Wollen, Urteilen, doch der letzten Fixierung sollte man sich enthalten. Es bleibt eine Inkommensurabilität, das Hölderlinsche „Ach, wir kennen uns nicht“ – oder Büchner: dass wir uns die Fasern aus dem Hirn reißen müssten. Und es bleibt die „Dunkelheit des menschlichen Herzens“,963 auch seine böse Abgründigkeit, deren man sich nicht rühmen soll, wie Heidegger Irrnis und Schuld als Notwendigkeiten der Wahrheit verkehrte. Die aber mit der Intimität des Herzens mitgegeben sind, und von denen man sich nur durch öffentliches Logon didonai retten kann, einen Zuwachs an Sinnklarheit und sensus communis, der seine Individualität nicht verleugnet. Und: Arendt gibt eine wunderbar tiefe Phänomenologogie des Fragens: Nicht die Unterschiede, vielleicht nur Nuancen zwischen,- Was,- und Warumfragen machen die eigentliche Spannung aus. Sondern das Verhältnis, worauf ich antworte und was ich antworte. Eine Möglichkeit ist ja, nach dem schönen Chanson zu sagen: „Ich geb keine Antwort mehr auf die falschen Fragen“.

962 Vgl. M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 71982, S. 239 f. 963 Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 232, siehe auch Denktagebuch, S. 300 ff.

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Eine andere Möglichtkeit ist den Sprung zu vollziehen, „den keine Reversibilität zu tilgen vermag“. Sagen ist Mitteilen und eine Transzenden dessen, das im Mitteilen Entzogene. Henning Ottmann formulierte in seiner eher kritischen Sicht auf die systematische Rundung des ‚Lebens des Geistes‘, dass Arendt „entweder den aristotelischen Weg beschreiten und nach noch vorhandener Sittlichkeit (hätte) suchen müssen. Oder aber sie hätte auf Bildung und Erziehung setzen müssen, durch die der Mensch wieder zu neuer Orientierung findet. Beides hat sie nicht getan“.964 Ganz trifft dies nicht zu: Arendt wendet sich in der Studie ‚Die Krise der Erziehung‘ beidem zu: Erziehung und Autorität eines (wie sie natürlich weiß: längst nicht mehr selbstverständlichen) gemeinsamen Ethos. Arendt erachtet zwei Annäherungen als unzureichend: Den liberalistisch-funktionalen Weg, der letztlich nur zum durchschnittlichen Mitglied der Gesellschaft erziehen soll, zu einem latenten Zynismus des „So ist die Welt“965 (man kann den Eindruck haben, dass das Bologna-Bildungskonzept darauf beruht). Daneben gibt es einen hyperidealistisch-utopischen Weg, der mit der sterotypen Utopie vom „neuen Menschen“ verbunden ist. Beides ist Arendt zufolge nicht hinreichend. Denn Erziehen richte sich im Grunde immer „an eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt“.966 Die grundlegende – von Platon präfigurierte – Paideia-Frage schmilzt auf den essentiellen Kern zusammen, dass diese Welt jeweils immer wieder eingerenkt werden könne. Wie wahr! Wie aktuell! Erziehung bleibt insofern einem konservativen Momentum verhaftet, das „der Sache nach weder auf Autorität noch auf Tradition verzichten kann, obwohl sie in einer Welt vonstattengeht, die weder durch Autorität strukturiert noch durch Tradition gehalten ist“.967 Die Aporetik wird von Arendt, die nach eigenem Zeugnis spät erst lernte, die Welt zu bejahen (die es aber doch tat) in einer Weise beschrieben, die heutigen Krisen-Topographien erst recht einleuchten muss. Es ist nicht ohne Weiteres möglich, in den Krisen der Moderne eine Um- und Rückwendung zu vollziehen. Denn ein solcher Versuch würde immer nur die Lage wiederholen, aus der die Umkehr hervorgegangen ist, die Fortsetzung aber führt linear in den Ruin. Die Paideia kann einzig Ressourcen einer gebrochenen Kontinuität sichern, wobei ihre Verwendung der Autorität singulär ist und nicht auf andere Lebensbereiche übertragen werden kann. Man kann hinzufügen: Eine Gesellschaft und Einzelne müssen eine Art Katharsis durchlaufen, um diese Aus-

964 H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens 4.1, a.a.O., S. 453. 965 H. Arendt, Die Krise der Erziehung, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft I, a.a.O., S. 255 ff. 966 Ibid., S. 273. 967 Ibid., S. 275.

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2. Hannah Arendt und das Phänomen der Natalität

übung von Autorität verantwortlich vollziehen zu können. Damit hängt eng zusammen, wie Arendt den Konnex von Politik auf Wahrheit formulierte: Integer sei Politik nur und das Versprechen, dass eine Änderung der Welt möglich sei, könne sie nur glaubwürdig einlösen, „wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert. Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen und der Himmel, der sich über uns erstreckt“.968 (6) Lesens- und erwägenswert, vor allen gesinnungs- und verantwortungsethischen Optionen, bleibt Arendts Aufsatz ‚Wir Flüchtlinge‘ aus dem Jahr 1943, in dem sie das jüdische Pariadasein aus seiner Singularität löste und als eine Weltproblematik beobachtete. In Reminiszenz an die Schutzflehenden von Aischylos, den Appell an die Unverletzlichkeit des Asylon, aber auch an die Erbärmlichkeit und Rechtlosigkeit des Exilzustandes formuliert Arendt: „Die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Vernichtung seines schwächsten Mitglieds zuließ“.969 Arendts eindrückliches und leidenschaftliches Werk ist auch in seinen Widersprüchen und dem Anstoß, den es erregte, Zeugnis eines Lebens in finsteren Zeiten, mit Brecht, eines unkorrumpierten und unkorrumpierbaren Lebens, das sich mit keiner totalitären Option einließ und Konditionen formulierte und lebte, wie diese Einlassung zu vermeiden sei. Es ist ein Leben, das in knapp siebzig Jahren von der Königsberger Kindheit, von der Liebe zu Heidegger bis zum New Yorker Ende eine unglaubliche Spanne durchmaß, sich ständig änderte und sich doch treu blieb. Arendt beschwor die Zwiesprache, auch weil sie die existentielle Einsamkeit kannte. Thomas Mann visionierte eine Rationalität, die in die Tiefe steigt (so in seiner, schon im Freud-Abschnitt anzitierten Rede 1936): Ähnliches zeichnet auch Arendt aus. Der intellektuelle Neuanfang zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Aporetik und Widerspruch ertragen werden, dass man die großen Entwürfe in eine Skizze der Korrespondenzen zurückführt. Von Bedeutung ist eher Haltung als Lehre. Zwei Gedichte aus dem Nachlass Arendts sollen abschließend betrachtet werden, statt einer Summe; sie erlauben in aller Zurückhaltung eine kurze Annäherung an Hannah Arendt, wie sie statthaft sein mag, ohne zudringlich zu sein. Ihre Gedichte sind authentischer und ästhetisch stimmiger als der verpanzerte Gestus der Lyrik Heideggers. Übrigens schrieb sie auf ihn kein Gedicht:

968 Ibid., S. 370 (Essay ‚Wahrheit und Politik‘). 969 H. Arendt, Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. Stuttgart 2017, S. 36.

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Auf Erich Neumanns Tod „Was von Dir blieb? / Nicht mehr als eine Hand, / nicht mehr als Deiner Finger bebende Gespanntheit,/wenn sie ergriffen und zum Gruss sich schlossen. // Denn dieser Griff verblieb als Spur/in meiner Hand, die nicht vergaß, die/wie Du warst noch spürte, als Dir längst / Dein Mund und Deine Augen sich versagten“.970 Und undatiert, ohne Widmung, wohl aus der Mitte der sechziger Jahre: „Dann werd‘ ich laufen, wie ich einstens lief/Durch Grad und Wald und Feld; / Dann wirst Du stehen, wie Du einmal standst, /Der inngste Gruss von der Welt. / Dann werden die Schritte gezählt sein/Durch die Ferne und durch die Näh; Dann wird von diesem Leben erzählt sein/Als der Traum von eh und je“.971 Bei Arendt bleibt immer eine Widerständigkeit. Das Motto des Bandes ‚Das Urteil‘, das sie zum Zeitpunkt ihres Todes in die Maschine tippte, stammt vom alten Cato: „Victrix causa dies placuit, sed victa Catoni“ – „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die besiegte dem Cato“.972 3. Leo Strauss und die Kunst des differenzierten Schreibens im Angesicht der Zensur Arendt und Strauss verbindet der Rückgriff auf die antike Denkform und eine lebenslange Konzentration auf die politiche Philosophie. Stärker als Arendt sieht sich Strauss aber auf die bleibenden Maßstäbe antiker politischer Philosophie und damit verknüpft dem Sokrates-Problem verwiesen. Strauss, 1899 geboren, promovierte bei Cassirer über ‚Das Erkenntnisproblem bei Jacobi‘, studierte bei Husserl und Heidegger, dessen Bedeutung er bis zuletzt uneingeschränkt anerkennt (verglichen mit ihm erschien ihm Max Weber, zuvor der Polarstern seiner intellektuellen Orientierung, als ein Waisenknabe). Strauss’ Denkprofil zeigt sich darin, dass er politische Philosophie, also das Sokratische Problem des Verhältnisses der Philosophie zur Polis, als die Grundfrage der Philosophie überhaupt begreift. Politische Philosophie ist jene Philosophie, in der das Ganze der Philosophie, auch als Lebensform, infrage gestellt ist. Eine zweite Grundunterscheidung sollte in der Wahrnehmung des Werkes von Strauss zentral werden: die Differenz zwischen Theologie, der Offenbarungswahrheit und der philosophischen Fragebewegung, die um das gute 970 H. Arendt, Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. München, Berlin 22015, S. 84. 971 Ibid., S. 85. 972 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens 4. 1, S. 451.

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3. Leo Strauss und die Kunst des differenzierten Schreibens im Angesicht der Zensur

Leben gruppiert ist.973 Strauss spricht davon in seiner Frühzeit, indem er vom jüdischen Gesetz her die Frage Platonischer Politischer Philosophie aufhellt. Dabei begreift er, im Sinn des Titels eines seiner Werke, das Projekt der „Politischen Philosophie“ eo ipso als platonisch. Der Platoniker ist niemals mit der historischen (akzidentellen) Wahrheit befasst, er bleibt an der unverkürzten Wahrheit des guten Lebens von Polis und Seele interessiert, die im überlieferten philosophischen Denken der Vergangenheit sich als „das echte Bewusstsein der Probleme, d.h. der fundamentalen und umfassenden Problem“ kristallisiert. Der Philosoph höre dort auf, Philosoph zu sein, wo seine subjtektive Gewissheit, etwaeiner Ideologie entstammend, die Fragebewegung abbricht974 Strauss’ philologische und hermeneutische Virtuosität dient im Wesentlichen dazu, den Zeitenabstand zum Verschwinden zu bringen. Einen Philosophen so zu verstehen, wie er sich selbst verstanden hatte, in voller Komplexion seines Denkens, eben dies ist die hermeneutische Grundmaxime. Sie ist geradezu entgegengesetzt zu Gadamer, demzufolge der Seitenabstand eo ipso fruchtbar zu machen wäre. Ein weiteres kommt hinzu: Für Strauss ist die eminente Politische Philosophie ausdrücklich eine ‚Querelle des anciens et des modernes’, innerhalb deren keineswegs von vorneherein das Pendel auf die Seite der Moderne umschlagen dürfte. Eine wesentliche Zäsur besteht hier im Blick auf das Verhältnis zwischen erster und zweiter Natur. Prekär aber faszinierend ist Leo Strauss’ Auffassung von der ‚Kunst des Schreibens‘. Sie ist gleichsam in gegenläufiger Richtung der Grundsinn des Verstehens. Strauss weist darauf hin, dass jene Kunst auf eine doppelt gerichtete Wahrheit Bezug nehme, und sich gleichsam unverhüllt gegenüber den eingeweihten und im Verborgenen gegenüber den Nichtwissenden artikuliere . Ein Grund dafür kann die Persecution, die drohende Verfolgung und Zensur sein. Eine systematische Philosophie, die von der Textur absieht, ist für Strauss nicht möglich. Umgekehrt aber entfaltet sich eine Einsicht in vergangenes Denken nur als Einsicht in die geteilte Sache und in die Kunst des Fragens. Es geht in der Interpretation darum, den Satz zu finden, wegen dem eine Abhandlung geschrieben worden.

973 Vgl. H. Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philsoophieren von Leo Strauss, Berlin 2002, siehe auch die forschungsgeschichtlich sehr einflussreich H. Meier, Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Denkbewegung des Philosophen, Stuttgart, Weimar, Wien 2000. 974 Dazu u.a. L. Strauss, The City and Man, Chicago 1964, S. 34 ff.

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VI. Seismogramme und philosophischer Diskurs der Moderne: Jürgen Habermas

1. Strukturwandel und Öffentlichkeit Mit einem der heute einflussreichsten Philosophen, einem Denker, der in der Berliner Republik endgültig zum Repräsentanten wurde, aber bis zuletzt unterwegs bleibt, findet die Philosophie nach 1945 eine Art Inkunabel. Dies spricht für Habermas‘ weite Anschlussfähigkeiten, es deutet aber auch auf Engführungstendenzen in der Philosophie der Gegenwart hin. Habermas begann mit einer bis heute lesenswerten Habilitationsschrift ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ (1959 publiziert), die in Abhebung von der überlebten, höfischen repräsentativen Öffentlichkeit das neue Paradigma der raisonierenden Öffentlichkeit exponiert. In das Feld Kritischer Theorie, die Frankfurter Schule, wird Habermas erst mit einigem Abstand katapultiert (begonnen hat er in der geistesgeschichtlichen Schule von Rothacker). Damit ist einerseits die Konzeption eines ‚Projektes der Aufklärung’ verbunden, dessen Linearität von Horkheimer und Adorno, schon aufgrund der negativen Dialektik der Moderne bestritten worden wäre.975 Andrerseits setzt Habermas zu einer nach-metaphysischen Ethik an, mit der zentralen Bedeutung deliberativer Akte, als Remedium gegen die nur instrumentelle Vernunft. In Habermas‘ Frühzeit zeichnet sich bereits als eine seiner größten, während des gesamten Lebens sich durchhaltenden Vermögen die Fähigkeit der Rezeption und Platzierung von Gedankenentwürfen ab.976 Selbstreflexion, Aufhellung des Dunklen, das sich der Universalität hermeneutischen Sachverstehens entzieht, wird in Rezeption der Psychoanalyse namhaft gemacht. Die Habermas’sche lebenslang prägende Konzeption kommunikativer Vernunft kann an diesem Punkt im Vorgriff charakterisiert werden. Es geht um einen gefundenen Konsens, der gewissermaßen die weitere Befragung seiner Stabilität voraussetzt. Er erweist sich gerade nicht als haltbar und stabil, sondern wird weiter befragbar sein. Mit dieser Grundintention begann Habermas und er hielt sie, cum grano salis, im Lauf der nächsten Jahre und Jahrzehnte durch. Theoriebildung, im Rahmen der Selbstreflexion, damit

975 Vgl. Sondernummer Zeitschrift für Ideengeschichte, September 2021: H. wie Habermas mit der Präsentation unbekannter sehr früher Dokumente von und zu Jürgen Habermas aus dessen in Marbach deponiertem „Vorlass“. 976 Zu Habermas‘ Entwicklung jetzt: S. Müller-Dohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014, S. 25 ff.

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antwortet Habermas auch auf die – früh mit Nietzsche und Marx auf den Begriff gebrachte – Unhintergehbarkeit des Erkenntnisinteresses, wobei er die Erkenntnisinteressen kartographisch vermisst und den bisher leitenden Formen des Erkenntnisinteresses, des praktischen in den historisch geisteswissenschaftlichen Disziplinen, des technischen in den empirischen Disziplinen seit Bacon, ein Drittes an die Seite stellt: das emanzipatorische Erkenntnisinteresse. Mit großer Vehemenz, und gewiss nicht ohne Einfluss der Gadamerschen Hermeneutik, zunehmend beeinflusst durch Wittgenstein, folgt Habermas seit der zweiten Hälfte der sechzier Jahre dem ‚linguistic turn’ der Philosophie. Sein Interesse ist dabei auf Handlungen in fragilen Interaktionen, die auf eine emanzipatorische Gesamttendenz der Gesellschaft zielen müssten, gerichtet. Die Sprache kommt insofern eminent in den Blick, als sie als „das Gespinst“ zu erkennen ist, „an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen zu Subjekten sich erst bilden“. Das Wittgensteinsche Diktum, wonach die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind, macht sich Habermas weitgehend zu eigen. Grenzen des Handelns seien durch Grenzen eines Spielraums möglicher Beschreibungen gezogen. Die in der Tat bemerkenswerte Pointierung (im Umkreis von Habermas‘ Büchern ‚Theorie und Praxis’ und ‚Logik der Sozialwissenschaften’) besteht einerseits darin, dass Gesellschaft ein– mitunter in seinen sonstigen Ligaturen höchst fragiles Netzwerk kommunikativer Handlungen ist. Gerade in der Sprache vollziehen sich also die Sedimentierungen von soziokulturellen Rollen- und Handlungsmustern, weshalb in und an der Sprache ein ganzes Netz von Rollen und Lebensformen thematisiert und letztlich zur Debatte gestellt wird. In einer breit angelegten Kritik der Verständigungsverhältnisse wird Sprache in einem, wenngleich erweiterten Sinn, doch auf ein Kommunikationsinstrumentarium reduziert. Habermas wendet sich am Übergang von den siebziger zu den achtziger Jahren der Sprechakttheorie Austins und Searles zu und explizierte vier Klassen von Sprechakten: 1. Kommunikativa, mit dem primären Anspruch auf Verständlichkeit; 2. Konstativa; 3. Regualtiva und 4. Repräsentativa. Ihnen entsprechen jeweils die Wahrheitsansprüche: Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Wahrheit.977 Daraus geht eine Diskurstheorie hervor (transzendentalpragmatisch wird sie durch Habermas’ langjährigen wichtigsten Gesprächspartner K.-O. Apel auf ein Letztbegründungsprogramm hin erweiert werden), die sich bei Habermas selbst unversehens in ein ethisches Denkparadigma verschiebt. Fokus ist dabei die Annahme einer idealen Sprechsituation, die gleichermaßen Kantisch ist diese Zusammenziehung natürlich ein Unding) regulative und konstitutive Bedeutung entfalte. Die regulative Gültigkeit von Äußerungen sollv für die durch kommunikatives Handeln erzeugten sozialen Tatsa-

977 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1984, S. 239 ff

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chen konstitutiv sein, was bedeutet, dass jener regulativ unterstellte gewaltfreie Diskurszusammenhang auch faktisch gemacht werden müsse. Aus seiner Einteilung der Sprechakte kommt Habermas von hier her zu vier zentralen Forderungen, die in verschiedenen Arbeiten auch leicht unterschiedlich besetzt werden. Man könnte von einer – sprechakttheoretischen – Deduktion reden, die ersichtlich ihrerseits an der – empirischen – Ausweisung der Sprechakte, ihre Berechtigung nachweisen muss. Ich gebe sie hier in einer Version an: 1. Jeder potentielle Teilnehmer eines Diskurses muss die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden (keiner von ihnen darf also in seinem Code reduziert sein). 2. Sie müssen alle auch den gleichen Zugang zu Befragungen, metasprachlichen Verhältnissen etc. haben, „so dass keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt“. 3. Zuzulassen sind nur Gesprächsteilnehmer, die auch die gleiche Chance haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d.h. „ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen“ – dies dürfte ein Punkt sein, der bei Habermas‘ Theorie sehr in der Schwebe bleibt, da eine Gegenhalt bietende Subjektivitätskonzeption nicht entwickelt wird, die hier erforderlich wäre. 4. Schließlich sind auch nur Sprecher zugelassen, die gleiche regulative/performative Sprechakte gebrauchen können: Widersetzung, Erlaubnis, Verbot. Habermas hat in seinen früheren Arbeiten zu diesem Problembereich nahegelegt, dass diskursiver Konsensus das Wahrheitskriterium sui generis sei, er hat dies später, wie sehr oft bei ihm, auf Entgegnungen hin modifiziert.. Insofern ist die Diskurstheorie Stellvertreter für Wahrheit, im Sinne der Habermas eigentümlichen Einschmelzung theoretischer und praktischer Philosophie aber zugleich von dezidiert praktischen Anforderungen, wie etwa der in keiner Wert-Debatte aufzulösenden menschlichen Würde. 1981 legte Habermas dann sein Hauptwerk ‚Theorie des kommunikativen Handelns’ vor, Ergebnis auch der privilegierten Jahre als Codirektor neben Carl Friedrich von Weizsäcker am Starnberger Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der modernen Welt. Dreierlei sollte nach Habermas’ Selbstbeschreibung, die Theorie des Kommunikativen Handelns sein: 1. Explikation einer unhintergehbaren kommunikativen Rationalität, die sich skeptisch befragen lässt, sich zugleich aber gegenüber einem instrumentell verkürzten Rationalitätskonzept als umfassendere Vernunft ausweisen soll; 2. ein zweistufiges Konzept von Gesellschaft, die sich gleichermaßen als Lebenswelt und System darstellt (eine Spannung, die Habermas als jene zwischen dem späten Husserl und Niklas Luhmann indiziert); und schließlich 3. eine Theorie der Moderne und ihrer Sozialpathologien. Habermas hat nun, schon in der vieldiskutierten Einleitung in seine Theorie darauf verwiesen, dass mit jeder Äußerung die ihr den Hintergrund gebende Lebenswelt mitthematisiert werde. Dies führt dazu, dass Kognition und Interaktion, die untrennbar voneinander sind, gleichzeitig

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stattfinden (auch hier kann man Vorprägungen bei Wittgenstein ausfindig machen). Die Auffassung geht dahin anzuzeigen, dass jede Äußerung implizit auf Diskurs orientiert ist, auch wenn dieser nicht selbst explizit gemacht wird. Solche Diskurse können primär theoretisch oder praktisch orientiert sein, ästhetische Diskurse fallen in seinem Raster aus, da sie nicht einen in ähnlicher Weise zwingenden Charakter aufweisen. Kommunikatives Handeln formiert sich als es selbst freilich nur zwischen verschiedenen Welten. Würde dieser Kontrast nicht bestehen, so wäre eine umfassende Kommunikation gar nicht möglich. Indessen ist verständigungsorientiertes Handeln nach Habermas (vielleicht der letzte Rest einer alteuropäischen ETHOS-Konzeption im Aristotelischen Sinne!) in ein ganzes Netz von impliziten, nicht beliebig propositional zu hebenden holistischen lebensweltlichen Hintergründen eingelassen. Habermas hat nun zu zeigen versucht, dass ein wesentlicher Vorgang in der Genesis der Moderne darin besteht, dass sich System und Lebenswelt in immer komplexeren Gesellschaften entkoppeln, die ersteren sich immer weitergehend differenzieren und wie etwa Geld oder Staat nicht ohne Einfluss auf die letzteren bleiben. Lebenswelten tendierten, würden sie freigelassen, auf Divergenzen, bis hin zum offenen Dissens, aber auch auf fehlschlagende Handlungen, einen faktischen Misserfolg in der Interaktion. Systeme, wie etwa die Bürokratie, formieren und differenzieren sich dann zunehmend immer weiter. Im Einzelnen unterscheidet Habermas dabei Kommunikationsmedien (wie Schrift, Medien) von Steuerungsmedien (eben Markt, Staatlichkeit). Für die Genese seines Ansatzes, der sich immer auch – gemäß seiner These, dass sich philosophische Begriffsarbeit vor veränderten Erfahrungszusammenhängen weiter artikulieren müsse – in einem fortgesetzten intellektuellen und öffentlichen Diskurs abspielt, ist Habermas’ Rechtstheorie, 1992 unter dem Titel ‚Faktizität und Geltung’ vorgelegt, von besonderem Gewicht. Habermas meint, durchaus mit guten Gründen, dass Verrechtlichung die Mitte zwischen System und Lebenswelt markieren müsste. Ihre Sprache könne, „anders als die auf die Sphäre der Lebenswelt beschränkte moralische Kommunikation, als Transformator im gesellschaftsweiten Kommunikationskreislauf […]“ zwischen beiden fungieren.978 Deshalb schließt Habermas Rechtstheorie, die ich für seinen bemerkenswertesten Ansatz halte, einen Zwischenweg zwischen Kant und Hegel ein. Er bemüht sich um die Konvergenz von präskriptivem Sollen und Realität. Dies Paradigma muss letztlich in Habermas’ Sinn auch in die politische Konzeption (Einbeziehung des Anderen, postnationalstaatliches Paradigma der Weltordnung) qua Verrechtlichung eingeschrieben werden.

978 J. Habermas, Fakltizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/Main 1992, S. 108.

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Habermas’ Denkstil ist unter anderem dadurch ausgezeichnet, dass er sich immer wieder entzentrierend entwickelte, an Debatten, Einsprüchen sich differenziert hat. Dies mag ein bemerkenswerter Vorzug sein. Vielleicht am schönsten zeigt sich dies in seiner Fähigkeit zu treffender philosophischer Portraitierung ihm nicht wahl-verwandter philosophischer Temperamente, philosophisch-politische Profile und ‚Der philosophische Diskurs der Moderne’.979 Die Frage nach deren normativem Gehalt wird aber konterkariert durch das, was Habermas – selbst nicht mehr befragbar – ‚nachmetaphysisches Denken’ genannt hat, eine Begriffsarbeit, die nur im Horizont der Veränderungen eines jeweils vorgegebenen Lebenszusammenhang ihren Sinn und ihre Rechtfertigung erfährt. Teile des verfügbaren philosophischen Thesaurus werden benötigt, um andere (in einem piecemeal engineering: dem Umbau des Schiffes auf offener See!) zu reparieren. Die Theoria, ein um des Erkennens willen erkennendes Denken, wird damit ebenso verabschiedet wie das Problematon der Metaphysik in jenes der Moderne aufgelöst wird. Dieser Ansatz ist immerhin befragbar und m.E. mit einem erheblichen philosophischen Verlust verbunden. Habermas gehört einer Generation an, die – mit den Worten seines um sieben Jahre älteren Freundes Apel – in ihrer Jugend (1945) in dem „dumpfen Gefühl“ der Vergeblichkeit und Verfehltheit ihrer früheren Orientierungen lebte und die „keine normativ verbindliche Orientierung für die Rekonstruktion der eigenen geschichtlichen Situation“ finden konnte.980 Nicht die radikale Differenz, wenn auch Differenzen in der Diskurstheorie mitschwingen, sondern eine pragmatische Western reeducation Philosophy war Habermas’ einschlägige Antwort. Wie tragfähig sie ist, bleibt abzuwarten. Hybris ist ihm fremd, dass Entzentrierungen bei ihm noch immer zu erwarten sind, zeigte die Fokussierung seiner Rede zum Empfang des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, wenige Wochen nach dem Fall der New Yorker Twintowers 2001, mit der Einklage einer wechselseitigen Übersetzung von säkularen und nicht-säkularen Orientierungen. Bis in sein mit neunzig Jahren vorgelegtes Spätwerk unter dem Titel ‚Auch eine Geschichte der Philosophie‘ folgte Habermas dieser Spur.981

979 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main 1985. Dieses Buch ist ein Gegenbild zu dem nach wie vor mit kontrafaktischem Optimismus an einer Ungebrochenheit des ‚Projektes Moderne‘ festhaltenden Gestus. 980 Vgl. Apel in: O. Negt (Hg.), Theorie und Prasix heute, Hannover 1990, S. 29. 981 J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bände, Berlin 2020.

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2. Debatten, Positionen, Begriffe: Was Jürgen Habermas am meisten interessiert Die fünfbändige Ausgabe Philosophischer Texte von Jürgen Habermas, die anlässlich seines 80. Geburtstags erschien, geht von Habermas’ eigener Beobachtung aus, dass er über die ihn primär interessierenden Theoriefragen keine Bücher geschrieben habe, sondern vielmehr eine Reihe aufeinander bezogener Abhandlungen. Die systematische Auswahl von Texten kann also, zumindest aus Sicht ihres Autors, an die Stelle von ungeschriebenen Monographien treten. Deshalb ist sie auch hier von besonderem Interesse. Diese Texte bilden mithin im Werkcorpus einen dritten Fokus neben den großen Büchern und den Einlassungen des öffentlichen Intellektuellen, die in einer – zumal in Deutschland – einzigartigen Weise Seismogramme der letzten fünfzig Jahre sind. Es ist auffällig, dass die meisten der ‚Texte’ durchweg aus der Zeit nach dem Ende der ersten Generation der Frankfurter Schule stammen: die Zäsur bildet das Jahr 1969, also jener Einschnitt, den der Tod Adornos und Habermas‘ sich anbahnender Weggang von Frankfurt bezeichnet, wodurch Habermas von der Innenperspektive der Kritischen Theorie zunehmend zu einer rekonstruktiven Außenansicht unter Einschluss einzelwissenschaftlicher Ergebnisse und in starkem Rekurs auf die amerikanischen Debatten geführt wurde. Die thematisch gegliederten, durch eine eingehende anamnetische, Selbstkommentar und Revisionen verbindende ‚Einleitung’ eröffneten Bände, eignen sich aufs beste als anspruchsvolle Einführung in den Kern von Habermas’ Denken. Nicht nur dem studentischen Anfänger, auch dem, der Habermas’ prägende Theoriefiguren grosso modo kennt, kann gerade diese intentio obliqua sehr aufschlußreich sein. Sie bildet Kontexte ab, lässt eine innere Systematik und mehr noch die Fragebewegung von Habermas erkennen und auch im Abstand von Jahren manchen Text in neuem Zusammenhang (und nicht selten in geglätteter Form) erscheinen.982 (1) Der erste Band bietet ausgehend von den Gauss-Lectures, die Habermas 1971 an der Princeton University hielt, seine einschlägigen Texte zur sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie. Habermas’ Linguistic turn setzt ein im Zuge einer Befragung der geschichtsphilosophischen Prämissen der ersten Generation der Kritischen Theorie. Die Prämisse, dass das Subjekt sich selbst transzendental konstituiere, ist schon in deren Theoriebildung verworfen worden. Das transzendentale Subjekt als Ursprungspunkt eines 982 Ich wähle hier das Paradigma von Habermas‘ großen Aufsätzen, um die Genealogie seiner Philosophie fokussiert nachzuzeichnen. Dadurch entsteht ein Spektrum, das den Hauptweg der Monographien illustriert, instrumentiert und vertieft. Eine Vorfassung dieses Kapitels ist erschienen: Nachmetaphysisches Denken und die pragmatische Wende Kritischer Theorie, in: Sozialwissenschaftliche Literatur-Rundschau 2 (2009), S. 5–19.

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‚unmittelbaren Vertrautseins mit sich selbst’ bleibt punktuell und ist ohne Vermittlung auf Wirklichkeit.983 Mit diesem Theorem dürfte sich der Entzweiungscharakter der bürgerlichen Welt symptomatisch verdichten. Doch wird dann ein Makrosubjekt unvermeidlich, das sowohl Hegels Theorie des objektiven Geistes als auch der Marxschen materiellen Reproduktion des Gattungssubjektes zugrunde liegt. Habermas hatte in seinen früheren Studien in ‚Erkenntnis und Interesse’ festgehalten, dass radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich sei. Doch was ist ihr Subjekt? Wenn man die für Habermas’ spezifische sprachphilosophische Wendung als Antwort auf die der kritischen Geschichtsphilosophie immanente Subjektivitätsproblematik begreift, dann wird eine Kontinuitätslinie zwischen Habermas’ sprachtheoretischer Wendung und Horkheimers und Adornos ‚Dialektik der Aufklärung’ (1947/1969) von hier her unübersehbar. Als entscheidenden Schritt in den Gauss-Lectures hat man die Freilegung der symbolbildenden Praktiken in der umgangssprachlichen Kommunikation zu begreifen, ein Schritt, der an der Detranszendentalisierung des Subjektes festhält und zugleich der Gefahr entgeht, umgekehrt zu Kollektivsubjekten ausgreifen zu müssen. Die Detranszendentalisierung ist ihrerseits als Resultat der bürgerlichen Gesellschaft schon in Lukács’ Frühwerk auf die Formel von der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit’, Signum einer letztlichen Atomisierung und durchgängigen Entzweiung gebracht worden.984 Dieser Impetus ist bei Habermas als Motiv der Wendung gegen eine Subjektivitätsmetaphysik präsent, nicht aber gesellschaftstheoretisch eingeholt. Vielmehr begreift er ‚kollektive Identitäten’, Gesellschaften oder Kulturen, als höherstufige Formen von Intersubjektivität. Damit aber diese sprachliche Interaktionstheorie zugleich zur kritischen Erfassung sozialer Pathologien nutzbar werden kann, müssen sie, wie Habermas 1971 schon bemerkt, eine „immanente Beziehung auf Wahrheit“ haben (I, S. 59). Hier liegt offensichtlich ein erster Ansatz für die späteren eingehenden Auseinandersetzungen mit Wahrheitstheorien und der Wahrheitsproblematik, die zunächst eher vorausgesetzt als entfaltet werden. Zur näheren Präzisierung ist für Habermas John Searles Freilegung der Doppelstruktur und Selbstbezüglichkeit von Sprechakten (Speech acts) entscheidend. Nach Searle fordert jede Situation möglicher Verständigung, dass zwei oder mehr Sprecher eine Kommunikation auf zwei Ebenen herstellen:

983 Vgl. P. B. Heider, Jürgen Habermas und Dieter Henich: Neue Perspektiven auf Identität und Wirklichkeit, Freiburg/Br., München 1999. 984 G. Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosopischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt, Neuwied 1971 (erstmals 1920), insbes. S. 31 ff. und S. 73 ff.

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der Intersubjektivitätsebene selbst und der Ebene der Sachverhalte der Verständigung.985 Bereits in den Gauss-Lectures fällt das Stichwort des ‚Kommunikativen Handelns’. Deshalb lassen sich ihnen Texte an die Seite stellen, die die ausgearbeitete ‚Theorie’ bereits im Rücken haben. Denn wenn die Soziologie derart in der neueren Sprachphilosophie in die Lehre geht, so ist der Weg von einer Handlungs- zurück zu einer Gesellschaftstheorie für sie von entscheidender Bedeutung. Kommunikatives Handeln zwischen Alter und Ego ist, darauf verweist Habermas immer wieder mit Nachdruck, ein seltener Ausnahmefall. Zudem ist diese Handlungsstruktur fragil, gefährdet durch die Zurückweisung der radikalen Kritisierbarkeit von Geltungsansprüchen. Habermas zeigt in weiteren Texten des Bandes, wie die Glaubwürdigkeit der Garantie, die der Sprecher für seine Handlungen übernimmt, und nicht etwa die Geltung der Aussagen zu der – kontrafaktischen – Akzeptanz kommunikativen Handelns führt. Im Anschluss an den späten Husserl ist der lebensweltliche Hintergrundein Schlüssel: nur solange von dieser Ressource gezehrt wird, wird sich eine kommunikative Lebenswelt ihrerseits reproduzieren lassen. Die Rekonstruktion einer Lebenswelt ist nach Habermas Sache der Formalpragmatik, wobei er die Husserlsche Architektur dadurch grundsätzlich aufbricht, dass er mit der Husserlschen Vorannahme bricht, Intersubjektivität sei aus der egologischen Perspektive im Bewusstseinsstrom zu erzeugen. Es bedarf eines dritten Ansatzpunktes, zwischen Mentalismus und Sprachtheorie, eben des genuinen Ansatzes der Gesellschaftstheorie, für dessen Ausbildung – wie der einschlägige Text zeigt (4.) – Habermas’ Auseinandersetzung mit George Herbert Mead inspirierend war. Gemeinsame Praktiken verweisen auf reziproke Verhaltenserwartungen und einen sie im steuernden Symbolgebrauch. Dabei ist durch die Verbindung mit der sich immer komplexer und reflexiver ausbildenden Ontogenese der Person und ihrer Übernahme von Rollen Gesellschaftstheorie zugleich auf Sozialisationstheorie hin durchlässig, was zugleich bedeutet, dass von Mead und dem Rollenbegriff her eine subjektivitätstheoretische Dimension jenseits des transzendentalen Subjektes in Habermas’ Theorieform eingeholt werden kann. Habermas reflektiert aus der gewonnenen sprachtheoretischen Grundlegung auch noch einmal auf die erkenntnistheoretische Fragestellung. Dabei wird die Unterscheidung zwischen rekonstruktiven vs. verstehenden Sozialwissenschaften, im Sinne eines gleich betitelten Aufsatzes, maßgeblich. Die Soziologie im Habermasschen Sinne ist verstehende Wissenschaft; der Interpret erscheint als Teilnehmer von Interaktionssituationen. Das rekonstruktive Moment kommt ins Spiel, da es nicht um unmittelbare Sinndeutung geht,

985 John Searle, Expression and Meaning. Cambridge 1979, deutsch Frankfurt/Main 1982.

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sondern vielmehr die Regeln erschlossen werden sollen, nach denen in sozialen Interaktionen Sinn generiert wird. Damit stellt sich auch das Problem nach dem Verhältnis empirischer und rekonstruktiver Verfahren. Man könnte sich, mit der Kritischen Theorie im Rücken, die Frage stellen, ob der gesellschaftskritischen Seite durch diese Tektonik noch hinreichend Rechnung getragen werden kann, nicht zuletzt auch im Verhältnis zur ersten Generation der Kritischen Theorie. Von besonderem Interesse ist vor diesem Hintergrund der abschließende Aufsatz, in dem es Habermas um ein entscheidendes Theoriestück seines Ansatzes geht, die Modernediagnostik. Gegenüber Horkheimer und Adorno spricht er nicht mehr von ‚instrumenteller’, sondern von ‚Funktionalistischer Vernunft’ als Antidotum zur kommunikativen Vernunft. Die Moderne ist durch eine zunehmende Rationalisierung von Lebenswelten ebenso betroffen, wie von dem immer weiteren Auseinanderklaffen zwischen System und Lebenswelt. Gerade diese Aspekte sind in der Gegenwart von höchster Aktualität, wenn etwa, in der Sprache von Habermas, Monetarisierung und Bürokratisierung immer weitergehend die lebensweltlichen Ressourcen in einer verzweckenden Rationalisierung aufgehen lassen.. Habermas hält an der Gegenwartsdiagnostik als spezifisch philosophischem Desiderat fest, was längst keine Banalität ist. Er wahrt aber zugleich die Kantischen Grenzsetzungen, wie sie aus der Selbstkritik der Vernunft gewonnen wurden. Damit sieht Habermas seinerzeit, eher voreilig, jedweden Rückgriff auf die klassische aristotelische Tradition Praktischer Philosophie als Lehre von einem gemeinsamen guten Leben, als delegitimiert an. In einschlägigen Auseinandersetzungen mit den Beförderern einer ‚Rehabilitierung’ jener Linie, wie Wilhelm Hennis oder Manfred Riedel, hat Habermas diese Position bereits zu Beginn der siebziger Jahre sehr prononciert vertreten.986 Zugleich geht es ihm darum, weder in Funktionalismus und Systemrationalität zu verfallen – im Sinne des leitenden Paradigmas von Gehlen bis Luhmann, noch umgekehrt die Vernunftkritik derart zu radikalisieren, wie es im ‚Philosophischen Diskurs der Moderne’ von Heidegger, Wittgenstein oder auch in der ‚Dialektik der Aufklärung’ geschehen sei. Jene radikale Vernunftkritik bedeutet deshalb für Habermas nur das konsequente Ende der Schrittfolge, die von Hegel über Marx zu Max Weber und Lukács führt. Scylla und Charybdis sind damit deutlich bezeichnet. Wo verläuft dann der zu wählende, gangbare Weg? Zunächst zieht Habermas die Konsequenz, dass philosophische Modernediagnostik sich stärker als bisher mit der Soziologie und empirischer Sozialforschung verbinden müsse. Er deutet aber in der ‚Einleitung’ dieses Bandes auch an, dass der Rückzug der Soziologie von der Gesellschaftstheorie in noch weitergehendem Sinne ein neues Paradigma nahelegt,

986 Vgl. S. Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik. München 2008, insbesondere S. 75 ff.

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in dem sich eine „lernfähige Philosophie für die unvereingenommene Kooperation mit allen Humanwissenschaften“ (1, S. 28) öffne. Dass diese Öffnung unerlässlich, die Zeit einer solipsistisch sich verschließenden Philosophie unabänderlich zu Ende gegangen sei, ist Habermas’ durchgehende Überzeugung. (2) Der zweite Band schließt thematisch eng an diesen ersten an. Er ist den Fragen von Rationalitäts- und Sprachtheorie gewidmet. Habermas geht dabei, auch im Sinne seiner Generationenerfahrung, die er u.a. mit Karl-Otto Apel teilt, von der zweifachen linguistischen Wende aus, die einerseits die Hermeneutik, andererseits die sprachanalytische Philosophie vollzieht. Von vornherein ist allerdings deutlich, dass Habermas primär an Verständigungsverhältnissen, nicht an Sinnverstehen orientiert ist. In dem einschlägigen vergleichenden Titelaufsatz (‚Hermeneutische und analytische Philosophie’) deutet Habermas die Kritik an der Reduktion durch den nur methodischen Gebrauch der logischen Semantik bei Carnap an. Logische Semantik untersucht Theoriesprachen, nicht aber Forschungs- oder Lebenspraktiken. Doch umgekehrt unterliegen auch die Sprachspiel-Analysen des späten Wittgenstein und Heideggers in Habermas’ Verständnis einer Reduktion, indem sie Sprache gleichsam von ihrer innerweltlich lebensweltlichen Verortung entkoppeln und als spontane Welterschließungen begreifen. Als Korrektiv führt Habermas Humboldts ‚Logik des Gesprächs’ ein;987 nicht weniger entscheidend ist aber der Rückgang auf sprachliche Weltbilder und Freges Bestimmung des Verhältnisses von ‚Sinn’, also die Gegebenheit eines Gegenstandes, und ‚Bedeutung’, als Gegenstandsbezeichung.988 Das Profil der Formalpragmatik entwickelt sich, wie der zweite Aufsatz des Bandes zeigt, als ‚Kritik an Bedeutungstheorien’, sowohl des einen Typus, der vom Gemeinten, wie eines zweiten Typus, der vom Gesagten der Satzbedeutung ausgeht. Die virtuose Positionierung von Theorieformationen, die damit selbst zum Argument verdichtet wird, lässt sich in solchen Konstellationen exemplarisch nachvollziehen. Habermas’ Abgrenzung gilt aber auch schließlich der behavioristischen Perspektive der Gewöhnung in einem Handlungskontext. Habermas akzentuiert die Dreistelligkeit jeder Verständigung im Anschluss an die angelsächsische Diskussion: es gehe darum, ‚sich’ ‚mit Anderen’ ‚über etwas’ zu verständigen: „Im Kern besagt die formalpragmatische Bedeutungstheorie, dass der Adressat eine Äußerung versteht, wenn er die Bedingungen kennt, die den mit dieser Äußerung erhobenen Geltungsanspruch rational

987 Vgl. dazu: J. Trabant, Traditionen Humboldts. Frankfurt/Main 1990, insbes. S. 169 ff. und S. 185 ff. 988 Vgl. Frege, Über Sinn und Bedeutung (erstmals 1892), in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Göttingen 61962, S. 40−66. Vgl. dazu auch einführend: V. Mayer, Gottlob Frege. München 1996, insbes. S. 94 ff.

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akzeptabel machen“ (II, S. 13). Für die Freilegung dieser dreistelligen Relation ist die Bedeutungstheorie von Michael Dummett für Habermas von maßgeblicher Bedeutung gewesen. Habermas unterstreicht aber, dass Bedeutungstheorien und die Untersuchung des kommunikativen Sprachgebrauchs sich voneinander unterscheiden, denn erstere sind nur mit den Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen befasst, letztere hingegen müssen auf erzielbare Verständigung gerichtet sein. Bei konstativen und regulativen Sprachhandlungen erfordert dies in direktem Sinne, bei expressiven Sprachhandlungen in indirektem Sinne die Freilegung jener Art von Gründen, durch die Geltungsansprüche eingelöst werden können.989 Habermas sucht, dies eben zeigt seine Anknüpfung an Humboldts ‚Logik des Gesprächs’, diskursive Rationalität in dem Sinne zu explizieren, dass sie untrennbar in die klassischen Rationalitätstypen, also praktische, epistemische und typologische Rationalität verflochten ist. Dabei wird zugleich deutlich gemacht, dass Verständnis- von Einverständnisorientierung zu unterscheiden ist. An keiner Stelle behauptet Habermas eine intrinsische Affinität von Sprache oder Handeln auf ein Telos der Verständigung. Dieses stellt sich seinerseits erst in der Empirie geteilter Lebenswelten ein, wodurch die Transparenz des transzendentalen auf den pragmatischen Grundzug und umgekehrt im Blick gehalten bleibt. Kommunikative Vernunft ist, wie schon die Beiträge des ersten Bandes zeigten, immer auch das Ergebnis einer Detranszendentalisierung des Subjekts. Ihr gilt im zweiten Band eine eigene Abhandlung: Die detranszendentale Vernunft ist nicht apriorisch, sie ist unhintergehbar in Lebenswelten verwickelt und zerstreut. Hypothetisch – bis zum Erweis des Gegenteils – und kontrafaktisch, also zwar real hintergehbar, aber nur um den Preis der Möglichkeit verständigungsorientierten Handelns, müssen die Diskursbeteiligten Unterstellungen treffen, die über die reale Diskurssituation hinausgehen. Hierzu gehört die wechselseitige Rationalitätsunterstellung, die Unterstellung einer gemeinsamen objektiven Weltbeschreibung und ihrer Implikationen, Motive, die auch in der Diskursethik wieder aufgenommen werden. In den einschlägigen Arbeiten des zweiten Bandes lässt sich deutlich erkennen, wie stark die Formalpragmatik von Habermas aus Umzeichnungen der Kantischen Transzendentalphilosophie gedacht ist, weshalb er im Rückblick bemerkt, dass dieser Gedanke in Alltagspraxis manifestierter Vernunft in einer „an Kant vorbeilaufenden, direkt auf Hume zurückgreifenden Tradition“ aufgrund seiner Idealisierungen auf Unverständnis stoßen müsse (II, S. 22). An diesem Punkt wurzelt indes zugleich Habermas’ (namentlich gegen Davidson gerichtete)

989 Deshalb ist R. Brandom, Making It Explicit. Cambridge (Mass.) 1994, deutsch: Expressive Vernunft. Frankfurt/Main 2000 (vgl. dazu SLR 41) für Habermas ein weiterer wesentlicher Schritt auf diesem Weg.

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Kritik, dass Bedeutungstheorien nicht ohne die transzendentale und selbstreflexive Dimension ins Spiel zu bringen sind, also nicht in der Art von erfahrungswissenschaftlichen Basistheorien ansetzen können. Dieser Kritikpunkt erweist sich in der gegenwärtigen grundsätzlichen Debatte über Möglichkeiten und Grenzen analytischer Philosophie in besonders ausgeprägtem Maße erneut als aktuell. Ihm dürfte deshalb höchste Aufmerksamkeit sicher sein.990 Schon 1970 legte Habermas (in der Festschrift für Walter Schulz) eine für seine Entwicklung maßgebliche Arbeit über ‚Wahrheitstheorien’ vor, die im Zusammenhang der ‚Texte’ sehr zu Recht erneut erscheint. Er widerspricht darin der Korrespondenztheorie von Wahrheit, da sie Sachverhalte reifiziere, lässt sich doch von Tatsachen nur im Rekurs auf Aussagen über diese Tatsachen sinnvoll sprechen. Wahrheit ist, so zeigte Habermas seinerzeit, immer mit dem Begriff hypothetischen, weil falliblen Wissens verbunden. Von hier her begründete sich seine ‚Konsenstheorie’ der Wahrheit, womit sich „die Begründungslast […] von der Substanz der Gründe auf den Prozess der Auswahl der jeweils besseren Gründe“ verschiebe (II, S. 25). Habermas sieht wohl von heute her schärfer, dass dies einen kognitivistischen Ansatz in der Ethik nach sich zieht, durchaus gegen damalige – und heutige – nicht-kognitivistische, sich auf Intuition gründende Konzeptionen. Bereits seinerzeit unterschied er deutlich zwischen den Ebenen von Handlung und Diskurs; die Konsenstheorie hat nicht auf der gleichsam naiven, vorreflexiven Handlungsebene (einschließlich ihrer Lernprozesse), sondern erst auf einer geltungsrechtfertigenden Metaebene ihren Ort. Nur von hier her ist es zu verstehen, dass Habermas seine Wahrheitskonzeption nahe an die Sollgeltung von Normen, also an den Moraldiskurs, heranführt. Der spätere Habermas modifiziert sich an diesem Punkt noch einmal: Einerseits betont er in der Auseinandersetzung mit Richard Rorty insbesondere die Differenz zwischen ‚Wahrheit’ und dem pragmatistischen Wahrheitssurrogat ‚gerechtfertigter Behauptbarkeit’, andererseits aber kündigt er ein nur epistemisches Wahrheitsverständnis auf. Auch im zweiten Band ist der Schlussaufsatz von besonderem Gewicht: ‚Realismus nach der sprachpragmatischen Wende’ widmet sich den ‚liegengebliebenen’ ontologischen Fragen des Wahrheitsproblems, nämlich der Unterstellung einer ‚objektiven Welt’, bei gleichzeitiger Einsicht in die Kontingenz der jeweiligen Lebenswelten, mit ihren naturwüchsigen Anteilen. (3) Der dritte Band ist dann explizit der Diskursethik gewidmet, einem Ansatz, der bei Habermas, mehr als alle anderen Elemente seiner Philosophie, aus der engen Kooperation mit Karl-Otto Apel hervorgegangen ist.

990 Dazu: P. Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 3, S. 333 ff. Vgl. auch die Beiträge des Sammelbandes: A. Hetzel, J. Kertscher, M. Rölli (Hgg.), Pragmatismus – Philosophie der Zukunft? Weilerswist 2008.

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2. Debatten, Positionen, Begriffe: Was Jürgen Habermas am meisten interessiert

Die frühen ethisch praktisch philosophischen Intuitionen von Habermas gingen aus einer doppelten Gegenstellung hervor: Sie richteten sich einerseits gegen den irrationalen ‚Dezisionismus’ Carl Schmittscher Provenienz, andererseits gegen die Rückführung moralischer auf epistemische Fragen. Überdies sieht Habermas aus dem Rückblick in der deutschen ethischen Debatte zu Beginn der siebziger Jahre, die exemplarisch in dem von Manfred Riedel herausgegebenen Sammelwerk ‚Rehabilitierung der praktischen Philosophie’ (1974) dokumentiert ist, eine selbst nicht hinreichend reflektierte Spaltung: nämlich zwischen neoaristotelischen Rehabilitierungsversuchen alteuropäischer Ethik, die er auch als Reaktionen auf die Gesellschaftskritik der sechziger Jahre versteht, und andererseits einem Anschluss an den Kantischen Modus einer Universalisierung der Moralbegründung. Auch die Differenz zu Apel kann von dieser Konstellation her klar akzentuiert werden: die Letztbegründung des Moralprinzips, die Apel in den Blick nimmt, fungiere in dessen Transzendentalpragmatik gleichsam als Surrogat der Abschlussgedanken Erster Philosophie.991 Dagegen ist die Diskursethik in der Habermasschen Lesart in ihrer Verbindung mit der Theorie Kommunikativen Handelns von vornherein auf die Kooperation der Philosophie mit Einzelwissenschaften zugeschnitten. Doch ist es von Anfang an Habermas’ Anliegen, den kognitiven Gehalt moralischer Urteile freizulegen. Die Semantik der moralischen Prädikation ‚x ist gut’ rückt er deshalb in eine größere Nähe zu konstativen propositionalen Aussagen. Die Asymmetrie zwischen beiden (also konstativen Aussagen des Typs: ‚Es ist der Fall, dass’ und moralischen Aussagen des Typs: ‚Es ist geboten, dass’) besteht in der Anerkennungsbedürftigkeit moralischer Normen selbst. In concreto wird der Unterschied in dem grundlegenden Aufsatz ‚Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm’ hervorgehoben: Der diskursethische Universalisierungsgrundsatz kann nach Habermas nur als ‚nichtverwerfbare’ Voraussetzung ethischer Praxis, nicht aber als transzendental notwendig erwiesen werden. Er besagt bekanntlich: „Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können“ (III, S. 60). Der Universalisierungsgrundsatz hat damit eine Form, die nicht nur ihre Herkunft aus einer detranszendentalisierten Lesart von 991 Vgl. im Kontrast: K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt/Main 1988. Siehe auch im Blick auf Plausibilisierung und Rekonstruktion des Apelschen Gesichtspunktes: E. Braun, Plädoyer für Diskursethik, in: ders., Der Mensch vor seinem eigenen Anspruch. Moral als kritische Orientierungskraft im Zeitalter der posttraditionalen Gesellschaft. Würzburg 22006, S. 225 ff.

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VI. Seismogramme und philosophischer Diskurs der Moderne: Jürgen Habermas

Kants Kategorischem Imperativ schwer verleugnen kann, sondern die auch mit der Vorzugswahl unter dem Schleier des Nichtwissens nach Rawls in Korrespondenz steht. Letzteres ist umso wichtiger, als sich die Diskursethik nicht mehr auf die Fragen guten Lebens einlässt, sondern sich selbst auf die Gerechtigkeitsproblematik begrenzt. Sie scheint also nahezulegen, dass die Frage nach dem guten, oder ermäßigt dem gelingenden, bei Aristoteles dem möglichen besten Leben, nicht rational rekonstruierbar ist, wobei Habermas die Begründung für diesen Ausschluss, wenn ich recht sehe, schuldig bleibt. Auch die Debatte mit dem späteren Rawls nach der ‚Theory of Justice’, und seinem Werk ‚Political Liberalism’ (1993) spiegelt sich in Habermas’ Oeuvre. Rawls setzte, auch durch die amerikanische Situation bedingt, neben das formale Gerechtigkeitsprinzip die Bindung der Bürger an umfassende doktrinäre Auffassungen, seien es Sekten oder Religionen, die unter dem Regularium des formalen Gerechtigkeitsprinzips einander wechselweise beobachten müssten, um nicht in Irrationalität abzugleiten. Dieser Ansatz scheint ähnlich wie der Kommunitarismus für Habermas ein Stachel der Selbstverständigung zu sein. Man muss aber festhalten, dass das Liberalismus-Problem, so wie es sich bei Rawls stellt, systematisch nicht in Begründungsfragen der Ethik, sondern in die politische Philosophie gehört. Habermas und Rawls argumentieren mithin nicht immer auf derselben Ebene. Habermas verweist in der weiteren regen, streckenweise kontroversen Debatte über die Diskursethik darauf, dass die Begründung von Handlungsnormen überhaupt erst in kommunikativen Vergesellschaftungsverhältnissen gestellt ist. In ihnen verbindet sich die Möglichkeit zu Bestreitung und Negierung mit der Obligation, sich im Kantischen Sinne ‚an die Stelle jedes anderen’ zu denken. Diskursethik ist selbst im Disput entstanden und deshalb – durch Präzisierungen und Selbstrevisionen – differenziert worden. Festzuhalten ist, dass der Moraltheoretiker nach Habermas eine grundsätzlich andere Position einnimmt als der Soziologe, der Pathologien der Gesellschaft aufweist. Er versetzt sich nicht in die Perspektive des engagierten Beobachters, sondern in die Innensicht eines am moralischen Diskurs Beteiligten. Daher darf man die Reichweite der Diskursethik in den gesellschaftlichen Raum nicht unterschätzen. Materiale Gerechtigkeitsfragen wären in dieser Perspektive allenfalls ein Moment in der Konstatierung verzerrter oder asymmetrischer Kommunikationen. Habermas misstraut offensichtlich der Tugendethik und jedem Neoaristotelismus, wie er durch Alasdair McIntyre und die Kommunitaristen auch im internationalen Diskurs der neunziger Jahre wieder zur Durchsetzung kam.992

992 A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/Main New York 1987 (engl. Original: After Virtue. A Study in Mo-

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2. Debatten, Positionen, Begriffe: Was Jürgen Habermas am meisten interessiert

Die Begrenzung auf eine formale kognitive Moraltheorie ist aber nicht systematisch zwingend. Habermas räumt in seinen späten Rückblicken durchaus einer ‚moralischen Phänomenologie’ ihr komplementäres Recht ein. Die diskursive Vernunftmoral entwickelt Habermas vor der Herausforderung einer pluralen Welt: gerade in ihr wird der schmale Grat zwischen der Alterität in Verständigungsverhältnissen und der Insistenz darauf, dass der Bogen der Verständigung nicht reißt, akut. Habermas ist sich bewusst, dass die Differenz übergreifende Universalisierung der Diskursethik ein Säkularisat jüdisch-christlicher Universalisierung ist. Ohne diese Tradition wäre sie kaum denkbar, zugleich transformiert sie ihr Erbe aber gleichsam vom Himmel auf die Erde – gerade in dem diskursethischen Theoriestück, das wie wenige andere mit Habermas’ Namen verbunden ist, kann man also das Verhältnis einer nachmetaphysischen, doch nicht-defaitistischen Vernunft zu dem Glutkern der Religion, von dem bei ihm in den letzten Jahren verstärkt die Rede ist, in Aktion sehen. Gibt der erste Teil des Bandes nahezu ausschließlich Beiträge wieder, die moralische Geltungsansprüche reflektieren, sich also gleichsam auf einer Meta- und Begründungsebene bewegen, so widmen sich die folgenden Abschnitte der Systematik praktischer Diskurse selbst. Hier geht es sowohl um Fragen der rechtlichen Institutionalisierbarkeit ethischer Diskurse als auch um die Bindung des Willens gemäß dem Moralgrundsatz, wobei Habermas gerade in der Formalität der Diskursethik, der Ausblendung von Motiven und Affekten, aber auch der lebensgeschichtlichen Relativitäten und Bedingtheiten die Möglichkeit der Tilgung von Heteronomie sieht. Dieser ganz Kantianische Gedanke wird aber durch die an Kohlberg und Piaget orientierte bildungstheoretische Stufung des Moralbewusstseins, bis hin zu einer ‚postkonventionellen Moral’, empirisch instrumentiert. Von besonderem philosophischem Interesse ist der vorletzte Text dieses Bandes, in dem Habermas, im Anschluss an seine wahrheitstheoretischen Arbeiten, der Frage nach der Wahrheit moralischer Urteile nachgeht. Eben in diesem Zusammenhang geht es um das Verhältnis theoretischer und praktischer Vernunft: Habermas bestimmt die Relation als Analogieverhältnis, innerhalb dessen sich Übereinstimmung ebenso erkennen lasse wie Differenz. Anders als die theoretische Vernunft bindet sich die praktische selbst. Wahrheit in praktischer Hinsicht schließt im eminenten Sinne Wahrhaftigkeit und die von Mead erörtere wechselseitige Übernahme von Selbst- und Weltkon-

ral Theory. Notre Dame 1981). Vgl. W. Rese-Schäfer, Kommunitarismus. Frankfurt/Main 2001, sowie die breit angelegte Darstellung: ders., Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt/Main 1997; siehe auch M. Brumlik und H. Brunkhorst (Hgg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt/Main 1993.

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zepten ein. Die Grenze der Vergleichbarkeit ist durch die Konstellation zwischen der deontologischen Orientierung auf das moralisch Gebotene vs. der ontischen Explikation bestehender Sachverhalte expliziert. Dieser Unterschied differenziert sich durch das Verhältnis von Konstruktion und Entdeckung, die sowohl in theoretischer als auch in praktischer Philosophie begegnet. Habermas legt den Eindruck nahe, dass die Moraltheorie aufs engste mit der ‚Konstruktion’ eines Reichs der Zwecke verbunden bleibt – auch dies ein kantisches Erbe. (4) Ungleich stärker als die anderen Problemkomplexe ist jener, der sich der ‚Politischen Theorie’ widmet, mit der Rolle des Zeitgenossen und öffentlichen Intellektuellen verflochten; weshalb, wie Habermas selbst bemerkt, in diesem Bereich die Rolle des Wissenschaftlers und akademischen Lehrers einerseits und jene des Public Intellectual andererseits nicht so rein zu trennen waren, wie ihm dies, gerade in den Gemengelagen nach 1968, vorgeschwebt habe. Die Frage einer Beurteilung der Tagespolitik in der Demokratie in Deutschland nach 1945 zeichnet sich vor der Erfahrung des nationalsozialistischen und faschistischen Autoritarismus und seines Nachwirkens ab. Habermas ist bis heute einer der ganz wenigen renommierten Akademiker, der sich dieser Rolle unterzieht. Dass politische Theorie in ihrem Zentrum normativ anzulegen ist, dass sie sich aber an der Spannung von ‚Faktizität und Geltung’ abarbeiten muss, ist gewiss ein Hegelsches Erbe. Es ist aber auch aus dem Design von Habermas’ politischem Denken in der Gegenstellung sowohl zu einem alteuropäischen Neoaristotelismus (J. Ritter), zu technokratischem Funktionalismus (Freyer, Gehlen, zuletzt wohl auch Luhmann) und vor allem dem Dezisionismus Carl Schmitts zu erklären. Von der Kritischen Theorie der Vätergeneration setzt sich Habermas dadurch ab, dass er in ihrer Lehrtätigkeit und öffentlichen Wirksamkeit zwar einen Reformismus erkennt, der aber nicht in die Theorie eingegangen sei. Herrschaft werde im Sinne der Tiefenprägung durch die NS-Erfahrung eo ipso als totalitär begriffen. Eine grundsätzliche Bejahung der demokratischen deliberativen Verfahren muss sich davon offensichtlich unterscheiden. Habermas’ eigene politische Theorie bewegt sich deshalb zwischen ‚Inklusion’ und ‚Deliberation’. Das erste Moment zielt auf Verallgemeinerbarkeit der Interessen, letzteres auf die Entbindung aller kommunikativen Freiheiten der Bürger. In concreto heißt dies, dass durch die Ausdifferenzierung des Staates zu einem eigenen Funktionssystem die Zivilgesellschaft als Ort der Deliberation ihre Eigenständigkeit erweisen muss. Habermas untersucht nun im Einzelnen, wie sich klassischer Republikanismus, der in den Idealen der Französischen Revolution zutage tritt, mit der substantiellen Vorstellung des Volkes als Verkörperung des Souveräns, kommunikations- und demokratietheoretisch übersetzen lässt. Dies wird kompli-

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ziert durch die Ausdifferenzierung eines Staatsapparates, insbesondere aber durch die Verlagerung der Parteien von volkstribunhaften Vertreterinnen der Bürgergesellschaft zu ‚informellen Staatsorganen’. Wie in ‚Faktizität und Geltung’ (1992), seiner groß angelegten Rechtstheorie, zeigt Habermas auch in den einschlägig flankierenden Abhandlungen, dass eine deliberative Öffentlichkeit gleichsam in mehrfacher Hinsicht eine Mittelposition einnimmt: sowohl zwischen der urrepublikanisch revolutionären Erwartung eines handlungsfähigen Kollektivs einerseits und der liberalistischen Zersplitterung in Einzelindividuen andererseits wie auch als drittes Medium der Politik, neben Markt und politischer Macht. Einige der Aufsätze gehen dabei auch empirischen Spuren nach und untersuchen das Verhältnis zwischen deliberativer Politik und Massenkommunikation. Gerade an diesen Schnittstellen ist das gesellschaftskritische Konkretisierungspotential aber erstaunlich gering. Habermas begrenzt sich im Wesentlichen auf normative Aussagen über die Einspeisung zivilgesellschaftlicher Debatten in den funktionalisierten und institutionalisierten politischen Diskurs. Doch dass die Massenkommunikation selbst ein ideologisierendes Funktionssystem ist, kommt in der Analyse kaum vor. Die Legitimationsprobleme, die Habermas aufwirft, zielen dagegen ins Zentrum tradierter politischer Theorie. Eine der entscheidenden Fragen lautet: Ist in einer von Theologie und Metaphysik befreiten, auf politische Gesetzgebung reduzierten Souveränität die Legitimität solcher Herrschaft überhaupt zu reklamieren? Dies führt auf die Paradoxie des liberalen Grundsatzes ‚democracy cannot define democracy’, der der ständig zitierten Böckenförde-Formel vom freiheitlichen Verfassungsstaat, der seine eigenen Voraussetzungen nicht garantieren könne,993 zumindest verwandt ist. Habermas sucht solche Paradoxien aufzulösen, indem er auf die ‚Gleichursprünglichkeit’ von ‚rule of law’ und ‚democracy’ verweist, ebenso wie auf die Symmetrie zwischen privater und öffentlicher Autonomie des Staatsbürgers. Legitimierung bedeutet dann die Realisierung privater Autonomie im unlöslichen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Autonomie, und das erfordert (in einer materialistisch gesellschaftstheoretischen Konkretion, die Habermas schuldig bleibt) gesellschaftliche Verhältnisse, die eine solche Partizipation überhaupt erlauben. Hier eröffnet sich das Feld eines Handlungsund Bewußtseinsproblems, wie es insbesondere von Bourdieu im Sinne seiner ‚praxeologischen Erkenntnisweise’ entwickelt wurde.994 Habermas’ Analysen 993 E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, darin, S. 43–73 der zum Klassiker gewordene Aufsatz aus dem Jahr 1967 mit dem berühmt gewordenen Zitat: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. 994 Vgl. P. Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/Main 1987.

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orientieren sich dabei ersichtlich eher an der angelsächsischen als an der deutschen Verfassungswirklichkeit. Aufmerksamkeit verdient aber seine Überlegung, dass die Interpretation eines Rechtssystems und seine immer weitergehende Ausschöpfung, auch vor dem Hintergrund veränderter kultureller Kontexte, es einer späteren Generation erlaubt, sich ein originäres Deliberationsverhältnis anzueignen. Die von konservativer Seite (auch im Sinne der Böckenförde-Formel) bemühten vor-politischen Quellen, wie namentlich Religion oder Sprachhintergrund, haben, wie Habermas in einem eigenen Aufsatz zeigt, ‚Filterfunktion’; nicht aber ist ihnen Legitimationslast aufzubürden. Diese müsse mit den ernüchterten, säkularisierten deliberativen Argumentationsmustern hinreichend geleistet werden können, wobei hier, wie pars pro toto, Habermas’ undifferenzierter Begriff eines ‚nachmetaphysischen’ Denkens zu befragen ist. Wenn er, wie vor allem sein Spätwerk anzeigt, an einem „Glutkern“ der Religion innerhalb des säkularen Diskurses festhalten will, so ist nicht einzusehen, weshalb er sich dem ‚Glutkern’ der Metaphysik derart versperrt. Metaphysik bliebe dabei wesentlich auf ihre dialektische und begriffliche Dynamik bezogen und wies sich als eine Rationalitätsform aus, die die verengenden Modellbildungen empirischer Wissenschaft ihrer Abstraktion überführen kann.995 Im Sinne der Filterfunktion geht es Habermas darum, dass sich der ‚liberale Geist’ eines deliberativen Gemeinwesens und sein Ethos zwar aus dem vorpolitischen Raum speisen, dass sie aber gleichsam übersetzt und neutralisiert werden müssen, um den Gebrauch kommunikativer Freiheit zu befördern. Habermas’ in den letzten Jahren verstärkt zutage tretende Frage nach Religion als Traditions- und Herkunftsmacht in den letzten Jahren zeigt, in diesem Band durch den Text ‚Religion in der Öffentlichkeit’ manifestiert, dass damit keineswegs nur eine rhetorische Clausula gemeint ist. So sehr sich die demokratische Verfassung einer Säkularisierung und der strikten Entflechtung von Religion und Politik im neuzeitlichen Verfassungsstaat verdankt, so sehr zweifelt Habermas, dass Staatsbürgerethos sich aus den Ressourcen der westlichen Moderne alleine speisen lasse. „Die Imperative einer beschleunigten kapitalistischen Modernisierung erzeugen und verbreiten Mentalitäten und Einstellungen, die langfristig das normative Bewußtsein der Zivilgesellschaft auszehren könnten“ (IV, S. 28).

995 Zu der kritisch dialektischen Residualbedeutung von Metaphysik plane ich einige größere Publikationen. Vgl. jetzt H. Seubert, Für eine neue ‚Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins’? Über Sinn und Grenzen philosophischer Dialektik in der interkulturellen Philosophie, im Erscheinen, dazu vorläufig ders., Weltphilosophie. Ein Entwurf. Baden-Baden 2016, S. 216 ff. Als exemplarisch könnte ein Text wie die ‚Erkenntniskritische Vorrede’ zu Benjamins Trauerspielbuch (Benjamin, Gesammelte Schriften I. 2. Frankfurt Main 1991, S. 207−238 gelten.

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In wiederum deutlich erkennbarer Reaktion auf die Kommunitarismusund Kulturrelativitätsdebatten der neunziger Jahre verteidigt Habermas in einer Reihe von gewichtigen Aufsätzen die Universalität der Menschenrechte. Universaler, gleichmäßiger Menschenrechtsschutz müsse den freien Zugang zu den jeweils individuell benötigten Ressourcen und Traditionen einschließen. In der Linie von Habermas’ früherer Monographie ‚Die Einbeziehung des Anderen’ (1996) scheint die transzendentale und formale Argumentationsebene auch hier nicht in die weitreichenden Fragestellungen einzutreten, die interkulturelle Philosophie und politische Theorie seit dem Ende der bipolaren Konstellation 1989/90 aufwerfen.996 Habermas prägte dafür den prägnanten Begriff der ‚postnationalen Konstellation’. Dass die herkömmlichen Nationalstaaten und ihr, etwa bei Hegel mit hoher Emphase artikulierter Anspruch, in den Sog einer hochkomplexen Weltgesellschaft geraten sind, ist unbestreitbar. Die Kehrseite ist eine Renationalisierung und Ethnisierung der Politik, Rückfälle in das 19. Jahrhundert namentlich in Osteuropa. Stark sind Habermas’ Beiträge dort, wo sie auf ein Mehrebenensystem des universalen Völker- und Weltbürgerrechts in der Folge von Kant zielen. Dabei spricht er noch immer von einer ‚Weltinnenpolitik’, mit dem Terminus, den C. F. von Weizsäcker in den sechziger Jahren ins Gespräch brachte. Grundfragen, wie die Abstimmung der Rolle des Einzelnen in dieser Weltgesellschaft als Staats- und Weltbürger einerseits und die doppelte Optik von Staaten und Individuen als Subjekte einer Weltverfassung andererseits, meint Habermas nicht prinzipiell zu beantworten, sondern der Verfahrensrationalität überlassen zu können, eine Erwartung, an der man zweifeln mag. (5) Der abschließende, unter dem weittragenden Titel ‚Kritik der Vernunft’ vorgelegte fünfte Band führt in der Form der ungeschriebenen Bücher in das Zentrum von Habermas’ philosophischem Selbstverständnis. Man muss wieder die Zeitsignatur erkennen, auf die er eingangs verweist: Habermas rechnet sich damit selbst zu der einst von Schelsky so titulierten ‚skeptischen Generation’. An Philosophie als Kritik, nicht mehr an ihre großen letzten Fragen, war nach der nationalsozialistischen Ideologisierung und ihrer Intoxi-

996 Zu verweisen ist, im Blick auf die älteren Diskussionen auf die verdienstliche Zusammenfassung: H. R. Yousefi und R. A. Mall, Grundpositionen der interkulturellen Philosophie. Nordhausen 2005; vgl. auch die Bände der Interkulturellen Bibliothek. Nordhausen 2005 ff., sowie die beiden Tagungsbände: C. Bickmann, M. Wirtz, H.-J. Scheidgen (Hgg.), Religion und Philosophie im Widerstreit? 2 Bände. Nordhausen 2008. Eine neue, sehr instruktive Grundlegung interkultureller Philosophie legt jüngst vor: G. Stenger Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie. Freiburg/Br., München 2006, zur Auseinandersetzung mit Habermas, v.a. S. 958 ff. Siehe dazu meine Rezension, in: Philosophisches Jahrbuch 115 (2008), S. 222 ff.

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kation anzuknüpfen; die Attitüde eingeweihter ‚großer’ Philosophie, wofür pars pro toto Heidegger steht, war endgültig diskreditiert. Fast wortgleich könnte die Suspension der letzten Fragen, von der Habermas spricht, auch als Signatur des Ansatzes von Hans Blumenberg gelten. Dies bedeutet einen Anschluss an ‚Aufklärung’, die vor allem Desillusionierung meint – Auflösung von Selbsttäuschungen. Dabei kann sie sich nicht nur auf Kant berufen, sondern zumindest ebenso auf Hegels ‚Phänomenologie des Geistes’. Wenn Habermas in seiner Frühphase davon ausgegangen sein mag, Philosophie sei in ‚Kritik’ aufzuheben, vollzieht er in der kommunikationstheoretischen Umzeichnung der Bewusstseinsphilosophie, der entscheidenden Wendung zu Beginn der siebziger Jahre, auch hier eine Modifizierung. Dadurch wird die Philosophie wieder in ihr genuines Recht gesetzt, zumal die Unterscheidung zwischen performativem Vollzugswissen und seiner Rekonstruktion nun, unter sprachtheoretischen Vorgaben, zuallererst einzuholen ist. In den frühen Texten um 1970 positioniert Habermas die Philosophie sowohl gegen wissenschaftlich technischen Fortschritt als auch gegen den Rückfall in Irrationalität. Schon hier findet sich Habermas’ Maxime, dass die Philosophie – in säkularer Form – eigentliche Erbin der, zumal utopischen Substanz, des christlich-jüdischen Überlieferungszusammenhangs sei. Später prägt Habermas, auch im Gegenzug gegen eine zunehmende Verdächtigung der Vernunft, die in der Postmoderne ihre wildesten Blüten treibt, den Begriff der Philosophie als ‚Platzhalterin’, nämlich des Ausgriffs auf ein in den Einzelwissenschaften nicht im Blick stehendes ‚Ganzes’, aus dem sich starke Begründungsformen und Orientierungswissen zuallererst speisen kann. Dass Philosophie nicht nur ihrerseits auf Einzelwissenschaften verwiesen ist, sondern die impliziten Vorannahmen der Lebenswelt explizit macht, sichert ihr diesen besonderen Ort. Habermas sieht sich, auch nach der Wendung zur Kommunikationstheorie seit ungefähr 1970, in seiner Positionierung der jüngeren Philosophiegeschichte mit einem halb-metaphorischen Epitheton dem Junghegelianismus verpflichtet. Dabei bleibt aber auch die detranszendentalisierte Denkform auf einer kantischen Spur. Habermas betont, dass der Vernufntbegriff seiner Grenzen bewusst, aber gerade nicht defätistisch sein soll. Er insistiert in einem gleichlautenden Aufsatz auf der ‚Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen’, wobei das klassische philosophische Problem von Einheit und Vielheit seiner Auffassung nach weder genetisch im Sinne neuplatonischen Emanationsdenkens,997 noch funktional im Sinne einer Synthesiskraft des Geistes, wie sie Hegel vorsah, sondern lediglich im kommunikativen, antizipatorischen und zugleich vorgreifend kontrafaktischen Verständigungshandeln

997 Vgl. W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt/Main 1985.

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zu verstehen ist. Hier liegt ein – im letzten nicht bearbeiteter – Rest des Gadamerschen ‚Vorgriffs auf Vollkommenheit’998 in Habermas’ Theoriekonzeption. Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Dieter Henrich über die Möglichkeit einer Rekonstruktion von Metaphysik aus der ‚Grundlegung aus dem Ich’, die das tradierte All-Einheitsdenken fortzusetzen vermöchte, und im noch weiter ausgreifenden Spannungsfeld zwischen Metaphysik und Moderne hat Habermas auf zweierlei verwiesen. Zum einen ist die Philosophie nicht mehr isoliert zu betrachten. Sie kann nicht umhin, sich epistemisch objektivierenden Außenbeschreibungen (etwa des Evolutionismus) und naturalistischen Reduktionen zu konfrontieren. Es mag sein, dass Habermas gerade vor der Einsicht um diese Unhintergehbarkeit einen für ihn irreduktiblen Standpunkt zwischen Naturalismus und Religion zu markieren wusste. Zum anderen aber ist es die Ausdifferenzierung von Welten, einschließlich der Divergenz epistemischen, ästhetischen, praktisch moralischen Denkens, die die Reduktion auf einen Einheits- und Grundgedanken im Sinne von Henrich obsolet macht. Philosophie darf sich, dieses Motiv durchzieht nachhaltig Habermas’ metaphilosophische Arbeiten zu Methodik und Selbstverständnis ‚nachmetaphysichen’ Denkens, ungeachtet des Wissens um die naturalistisch rekonstruierbare Genealogie der Vernunft, nicht auf einen szientifischen Vernunftbegriff reduzieren lassen. Solche Abgrenzungen leben wesentlich aus dem in Habermas’ Denken tief imprägnierten kantischen Impetus der Vernunftkritik. Der in Teilen der angelsächsischen Philosophie, von Hume ausgehende Rekurs auf empirische Fakten und die sie dokumentierenden Basistexte erscheint von hier her als inkomplex, ein Impuls, der Habermas immer auch zu einem kritischen Gegenüber der analytischen Wissenschaftsphilosophie macht. Es wäre sehr zu wünschen, dass dieser kritische Impetus in das Selbstverständnis von Philosophie als Wissenschaft stärker eingeht als die positivistische Mimikry an Einzelwissenschaften, die greift, sofern sie sich als Problemlösung innerhalb eines Begriffsschemas missversteht. Nach wie vor spielt in diesen Zusammenhängen der Husserlsche Lebensweltbegriff auch für die Matrix nachmetaphysischen Denkens eine entscheidende Rolle. Habermas wendet gegen den späten Husserl aber ein, dass es ein Selbstmissverständnis sei, Lebenswelt gleichsam transzendentalphilosophisch zu verankern. In Habermas’ späteren Arbeiten geht es zentral darum, ob die Lebenswelt einer naturalistischen Erklärung – und damit Destruktion – des

998 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke Band I. Tübingen 1986, insbes. S. 312 ff. und S. 346 ff. Vgl. dazu die instruktive Wuppertaler Dissertation von M. Lamontagne, Das Werden im Wissen. Entwicklungsgeschichtliche Interpretationen der Hermeneutik Gadamers. (i. Erscheinen).

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Selbstverständnisses begegnen kann. Es sind, wenig überraschend, die intersubjektiven Symbolisationen, die jene Lebenswelt in ihrer Geltung von der Genesis ablösbar machen, ohne dass ihnen damit schon die transzendentale Begründungslast aufgebürdet würde. In einem besonders differenzierten Artikel unterscheidet Habermas pointiert das epistemische von dem auf verantwortliche Urheberschaft zielenden Sprachspiel. Dieser Dualismus, also der Verweis auf die Uneinholbarkeit der Interaktions- und Selbstbeobachterperspektive durch naturalistische Reduktion, genügt ihm nicht. Er sucht sie mit einer kohärenten Weltbeschreibung zu verbinden, in der der Mensch als Naturwesen vorausgesetzt ist, zwischen natur- und humanwissenschaftlichen Kategorien aber eine Kontinuitätsbeziehung besteht. Es dürfte gerade für pädagogische Fragestellungen eine entscheidende Anregung sein, wenn Habermas in diesem Sinne reklamiert, soziokulturelle Lernprozesse ‚von oben’ in ‚Entsprechung’ zu den evolutiv konstatierten Eigenschaften ‚von unten’ zu sehen. Insofern ist es für Habermas unerlässlich, einen ‚schwachen Naturalismus’ in seine Konzeption aufzunehmen. Damit ist freilich eher ein weitreichendes Forschungsfeld eröffnet, als dass schon Antworten gegeben wären. Auch die Aufsätze seit der Jahrhundertwende widmen sich in Antizipation des Spätwerks dem Zusammenhang von Philosophie und Religion, einem Thema, dem sich Habermas ausgehend von seiner Friedenspreisrede 2001 über ‚Glauben und Wissen’ vermehrt zugewandt hat. Auffällig ist, dass Habermas in einem großen Aufsatz über die Kantische Religionsphilosophie ihre Mittelstellung zwischen den spekulativen Systemen und der ‚Flucht’ der Religion in den Begriff (Hegel) im deutschen Idealismus einerseits und den Religionskritiken zwischen Feuerbach und Freud andrerseits rekonstruiert und ihr geradezu normative Bedeutung für das Verhältnis von Religion und Philosophie zuerkennt. Ein Schlüssel in diesen Problemzusammenhang scheint allerdings zu sein, dass Habermas eine asymmetrische Relation zwischen Kants Verhältnis zur Religion und zur Metaphysik ausmacht. Kant-immanent könnten gerade an diesem Punkt kritische Einwände vorgebracht werden, ging es Kant doch in seiner ersten Kritik um eine ‚Metaphysik der Metaphysik’ und nicht allein um die Eingrenzung der Vernunft auf den Verstandesgebrauch. Solche Einwände sind jedoch wohl vor allem heuristisch fruchtbar zu machen, weil sie auf das Erkenntnisinteresse hinter Habermas’ spezifischer Kant-Deutung hinweisen können. Und in der Tat: Er selbst sucht auch, ohne den Filter der Metaphysik, nachmetaphysisches Denken und säkularen Verfassungsstaat mit den semantischen und kommunikativen Potentialen von Religion zu konfrontieren. Religion begegnet dabei gleichsam im Max Weberschen Sinne

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„als Lebensmacht“.999 Dies ist es, was im Kontext der sogenannten ‚postsäkularen’ Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts.1000 Habermas unterscheidet nämlich von der Kantischen wie auch der Hegelschen Religionsphilosophie gleichermaßen, dass beide, Religion letztlich übereinstimmend als Vergangenheitsgestalt des Geistes begriffen hätten. Es ist indes bemerkenswert, dass jene Grenze, an der Kant den Schritt von der Moral zur Religion für unabdingbar hielt, nämlich die Einsicht in das ‚radikal Böse’, bei Habermas keine prägnante Rolle spielt. Nachmetaphysische Philosophie bewegt sich, so Habermas, zwischen Religion und dem Naturalismus der Wissenschaft. Das bedeutendste Motiv seines Grenzgangs dürfte in der Reklamation einer Übersetzung zwischen religiöser und säkularer Sprache der Philosophie, der Wahrung des Glutkerns von Religion, zu sehen sein. Wie Habermas andernorts erklärte, sieht er darin zu Recht ein Erbe Walter Benjamins. Weniger glücklich scheint mir die Rede von Dialogen, „die die Grenze zwischen philosophischen und theologischen Sprachspielen zu überschreiten suchen“ (V, S. 31). Liegt nicht gerade darin eine Gefahr der Remythisierung des Denkens, die Habermas’ zu Recht im Blick auf Heidegger immer wieder kritisch zur Sprache brachte? Nachmetaphysisches Denken enthält sich indes, so Habermas, der Religionsphilosophie, des ‚Begreifens von Religion’. Der tiefere, von ihm selbst nicht offengelegte Grund mag in der eigenen spekulativen und metaphysischen Zurückhaltung liegen. Möglichkeiten und Grenzen einer nachmetaphysischen Rekonstruktion von Metaphysik, etwa im Sinne von Adornos Diktum am Ende seiner ‚Negativen Dialektik’, von der ‚Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes’,1001 schiene ein wesentliches Desiderat – nicht nur im Blick auf Religionsphilosophie, sondern auch auf die metaphilosophische Verortung selbst. Zu Recht belegen die unter dem Topos: ‚Die Herausforderung der Religion’ abgedruckten Texte, dass Habermas späte Zuwendung zu Fragen der Religion keineswegs eine veränderte Orientierung oder gar eine Abwendung von dem „nachmetaphysischen“ Impetus zeigt, sondern kohärent aus seinem früheren Denken hervorgeht. Die Abhandlungen als Sedimentierung ungeschriebener Bücher ermöglichen eine fruchtbare Erst- und Wiederbegegnung mit einem Denken, das für die Weltgeltung der deutsprachigen Philosophie heute einsteht wie kein zweites und das damit auch Gadamer längst in den Schatten stellt. Auch Habermas hat die spekulativen Provinzen der deutschen Universitätsphiloso999 Vgl. in Aufnahme der einschlägigen Formulierung Max Webers‚ ‚Religion als Lebensmacht’. Festschrift für Gottfried Küenzlen zum 65. Geburtstag. Berlin 2009. Vgl. auch: Hermann Deuser (Hg.), Metaphysik und Religion. Die Wiederentdeckung eines Zusammenhangs. Gütersloh 2007. 1000 Vgl. Hans Joas’ berechtigte Kritik an diesem Begriff u.a. in: ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg/Br. u.a. 2006. 1001 Hierzu wieder den Schlüsseltext Th. W.Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 400.

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VI. Seismogramme und philosophischer Diskurs der Moderne: Jürgen Habermas

phie, aus Gründen, die in dem Desaster und Traditionsbruch von 1945 liegen, urbanisiert. Er hat stets die doppelte Leistung erbracht, die philosophische Fragestellung auf den Kontext der Humanwissenschaften zu öffnen, und umgekehrt jene Fachdiskussionen in Verbindung zu den normativen Fragen der Selbstverständigung zu setzen. Gerade dadurch, dass er auch diesen Bogen bei aller ‚nachmetaphysischen’ Zurückhaltung nicht brechen lässt, widersetzt er sich überzeugend sowohl den Irrationalismen postmodernen ‚schwachen Denkens’ als auch einer epistemischen Selbstkastration der Philosophie durch Mimikry an ‚objektive’ Tatsachenfeststellung. Dies dürfte für die Selbstorientierung der Philosophie nach wie vor maßgeblich sein. Die spekulative Zurückhaltung unterscheidet ihn von den Vertretern der Kritischen Theorie der ersten Generation, verbindet ihn aber mit jener ‚Skeptischen Generation’, die in Hans Blumenberg ihren zweiten großen Exponenten hat. Man wird das bei Habermas erreichte Reflexionsniveau und den Brechungsgrad seines Selbstverständnisses nicht unterbieten düfen, auch wenn man seinen nach-metaphysisch rekonstruktiven Philosophiebegriff nicht übernimmt. Dass Habermas eine kritische Gesellschafts- und Politische Theorie für demokratische Gesellschaften im post-totalitären Raum entwickelt, und damit auch die Negationsbewegung Adornos aufbrach, sichert auch seinen Arbeiten nach 1970 einen markanten Ort innerhalb der Traditionen Kritischer Theorie. Es zeigt sich aber auch die Tendenz zur Entschärfung, sowohl hinsichtlich der Pathogenese der Moderne wie hinsichtlich des radikal kritischen Impetus der Philosophie. Doch ich meine, beim späten Habermas in beiden Hinsichten eine Radikalisierung und Zuspitzung zu sehen, die ihn nicht zuletzt vor dem ‚Glutkern’ der Religion zu der Einsicht bringt, dass sich radikale Ökonomisierung von Gesellschaft und Naturalisierung von Wissenschaft nicht allein formal, semantisch argumentativ fassen lassen, sondern eben in der Vergegenwärtigung der Ressourcen der säkularen Sprachen. Man kann die großen Stärken von Habermas noch einmal in nuce studieren: Sie bestehen nicht nur in dem präzisen Sinn für Debatten und Positionierungen, sondern auch in einem hoch differenzierten Untersuchungsstil dieser Positionen, der das Wissen um Kontextbedingtheiten souverän reflektiert. Dabei tritt die Suche nach Mittelpositionen zutage, paradoxerweise eher der Aristotelischen ‚mesotes’ als der spekulativen Vermittlungsmacht zwischen Hegel und Adorno verpflichtet. Die vorgelegte Edition ist mustergültig. Selten las man Habermas’ Texte so klar. Die Lektorierung hat sie in jeder Hinsicht neu glänzen lassen. Beckmesserisch anmerken könnte man nur, dass das Register sich auf (wenig spezifizierte) Sachbegriffe begrenzt, wohingegen Namensregister fehlen. Sie wären für Habermas’ Theoriearchitektur aber zumindest ebenso wesentlich. Die Übernahme des Luhmannschen Registermodus scheint seltsam. Denn gerade durch

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2. Debatten, Positionen, Begriffe: Was Jürgen Habermas am meisten interessiert

die neue Edition wird Habermas als ein Theoretiker sichtbar, der bei allem Modernitätsbewusstsein der alteuropäischen jüdisch-christlich aufklärerischen Erbschaft verpflichtet bleibt, was zugleich bedeutet, nicht in Autopoiesen, sondern in Kategorien intersubjektiver und subjektiver Behaftbarkeit zu denken. Gerade darin scheint von heute her seine immense Aktualität zu liegen. Vor einigen Jahren hat Habermas, was bei seinem Selbstverständnis eine Ausnahme bleibt, über autobiographische Motive seines Denkens berichtet, die krankheitsbelastete, durch schwierige Operationen der Gaumenspalte getrübte Kindheit, die Schwierigkeit, sich seiner Umwelt verständlich zu machen. Dass das Intersubjektivitätsnetz durch ein wechselseitiges Verwiesensein der Diskursteilnehmer aufeinander motiviert ist und die Subjektivität in sie eingeht, wie ein nach außen gestülpter Handschuh, ist wesentlich, um den spezifischen Zuschnitt von Habermas’ Fragen zu begreifen. Zählendes philosophisches Denken ist immer aus existenziellen Motiven geboren. Über sie kann man schweigen, sie sind dennoch nicht ungeschehen zu machen.1002

1002 J. Habermas, Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkei. Lebensgeschichtliche Wurzeln von zwei Gedankenmotiven, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 2005, S. 15 ff.

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

1. Der „unsichtbare Philosoph“: Anekdote und Metapher Als „unsichtbarer Philosoph“ gilt der 1920 geborene,1003 1996 gestorbene Hans Blumenberg aufgrund des Odiums und der Lebensform seiner späten Lebensjahre. Als solcher wurde er sogar Sujet eines Dokumentarfilms, unter anderem weil zu seinen Lebzeiten nur ein einziges offizielles Foto kursierte und es ab Ende der sechziger Jahre kaum mehr öffentliche Auftritte gab, dafür aber umso mehr Anekdoten.1004 In das Kraftfeld der anekdotisch weithin vermittelten, immer wieder kolportierten Aura gehört die Belichtung von Glanz und Elend, die sich aus Blumenbergs Diaspora-Existenz, als Sohn einer jüdische Mutter und des römisch-katholischen Kunsthändlers Josef Carl Blumenberg, ergab. Eine Art Privilegierung und jugendliche Erwähltheit einerseits, schmerzend erniedrigende Ausschließungen in der Nazizeit während seiner Lübecker Jugendgeschichte hielten einander die Waage. Blumenberg wurde seinerzeit daran gehindert, als Primus die Abiturrede für seinen Jahrgang zu halten: Eine massive Kränkung, die ihn bis ans Ende seines Lebens beschäftigte, nicht zuletzt, weil die fehlende Sensibilität der einstigen Mitschüler auch auf die späteren Jahrestage ausstrahlte. Dabei war der überlieferte Entwurf dieser Rede keineswegs eindeutiges Widerstandszeugnis. Er ist der ambivalente Versuch eines Brückenschlags zwischen Nationalsozialismus und Humanismus, der nur scheitern konnte. Der „unsichtbare Philosoph“ ist, vor allem durch sein Spätwerk, aber erst recht im Nachleben, zu der vielleicht letzten auratischen Gestalt der Philoosphie im 20. Jahrhundert geworden. Dahinter zeigt sich indes eine philosophische Genealogie, die bislang nur teilweise erkannt worden ist.1005 Die Faszination, die von Blumenberg ausgeht, bündelte einer seiner Schüler, der Schriftsteller Uwe Wolff, in einem schönen Erinnerungsband. Wolff evoziert aus dem Rückblick die Dankbarkeit an einen Lehrer, der sich in seinen Lehrveranstaltungen (seit Mitte der siebziger Jahre hielt er nur noch

1003 So der Titel der einen großen Blumenberg-Biographie des Centenar-Jahres 2010, R. Zill, Der absolute Leser, a.a.O. 1004 Vgl. M. Sommer (1998), „‚Sagen zu können, was ich sehe‘. Zu Hans Blumenbergs Selbstverständnis“, in: Von vorletzten Dingen. Über Hans Blumenberg, Sonderheft Neue Rundschau 109, (1)1998, 78 ff. 1005 Chr. Rüther u. a., Hans Blumenberg – Der unsichtbare Philosoph, Film 2018. U. a. wirkte Zill als einziger, der nicht ‚authentischer‘ Blumenberg-Schüler war, an diesem Film-Dokument mit.

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

Vorlesungen, keine Seminare mehr weitgehend dem Dialog verweigerte, aber seinen Schülerinnen und Schülern sehr lebendig die langen Welt- und Denkketten der Tradition des Abendlandes mitteilte, als Depositum zu eigener reflexiver Aneignung. Im Münster der 1970er und 1980er Jahre konnte man mit dem späten Blumenberg einem Denker begegnen, der ostentativ ein „ganz Anderer“ war – so die Quintessenz von Wolffs Liebeserklärung.1006 Diese Liebe geht allerdings nicht aus Blindheit hervor, sie kann und will sehen, und beschreibt Blumenberg nach wie vor aus der Sicht des philosophischen und wissenschaftlichen Außenseiters. Aur diese Weise wird die Atmosphäre in Blumenbergs Vorlesungen und dessen Lust zu lehren und seinen Humor plastisch deutlich. Dass manche der Hörer aus dem Abstand gerade die Virilität Blumenbergs, eine männliche Kraft, erinnern und andeuten, dieser Mann hätte auch in der Vita activa als Unternehmer Karriere machen können, erweitert und inspiriert das Blumenberg-Bild. Wolff vergegenwärtigt die Gespräche, die er mit Blumenberg führen konnte, seine Anteilnahme an dem werdenden Schriftsteller und er lässt die dauerhaft katholische Prägung aufleuchten. Erf räumt ein, dass andere zu anderen Zeiten auch andere Facetten wahrgenommen haben. Die sympathische Dankbarkeit dieser Reminiszenzen gilt auch einem Lehrer, der den Mut zum Nicht-alles-Verstehen als philosophische Haltung einschärfte, ein Antidotum zur didaktischen Überdetermination und Überkontrolliertheit und damit oftmals gähnenden Langeweile an der gegenwärtigen Universität. Ein anderer Biograph, Rüdiger Zill, der mit Blumenberg nicht mehr persönlich bekannt war, verhandelt ihnunter dem Titel „Der absolute Leser“, eine Deutungs- und Darstellungsfigur, die mit dem „absoluten Autor“ aufs engste verknüpft ist.1007 Ein absoluter Autor schreibt, nach Blumenbergs Eindruck, „an seinen sämtlichen Werken, damit der ihm verfallene Leser sein Leben lang nichts anders zu tun haben kann, als in diesen zu lesen“.1008 Blumenbergs ‚biographie intellectuelle‘ lässt einige langfristige Lebensmotive aufscheinen. Bereits den Schüler Hans Blumenberg halten in auffälliger Intensität kosmologische Fragen in Atem. In Personalunion agiert er zwischen 1932 und 1935 als Autor, Herausgeber, Setzer und Drucker einer eigenen Zeitschrift ‚Erdball und Weltall‘.1009 Durch einen offensichtlich inspirierenden und der Haltung innerer Emigration angehörenden Lehrer angeregt, verfasst er seine Abschlussarbeit über Hans Carossa, ein nachklingendes bildungsbürgerliches Goethe-Erbe, das den jungen Blumenberg offensichtlich stark beein1006 U. Wolff, Der Schreibtisch des Philosophen. Erinnerungen an Hans Blumenberg, München 2020, S. 7 f. 1007 Zill, a.a.O., S. 54 ff. 1008 Ibid., S. 582. 1009 Dazu Zill, a.a.O., S. 37 ff. Mit dieser Zeitschrift zeichnet sich bereits Blumenbergs explizite Neigung zu kosmologisch-kosmogonischen Fragen ab.

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1. Der „unsichtbare Philosoph“: Anekdote und Metapher

flusste. Der Wertschätzung für Carossa blieb Blumenberg auch nach Jahrzehnten treu. Der akademische Weg verläuft nach der NS-Zeit sehr schnell, aber gerade nicht geradlinig. Der junge Blumenberg wird vom Kriegsdienst dispensiert. Er studiert in Paderborn und an der Jesuitenhochschule St. Georgen für kurze Zeit Katholische Theologie und Philosophie. So wird er mit der klassischen Metaphysik und der Scholastik vertraut. Der heute vergessene Metaphysiker Caspar Nink (1885–1975) wird sein Lehrer. Die Kürze des Studiums sollte bei späteren Karriere- und Qualifikationsschritten immer wieder der Begründung bedürfen. Ein Schanzeinsatz für die Organisation Todt und Arbeit für die Dräger-Werke standen am Ende der NS-Zeit. Der Unternehmer Dräger, der in ein Feld der Grauzone einer „undoktrinalen Menschlichkeit“ gehörte, bot Blumenberg eine Tätigkeit, die ihn über Wasser hielt und ihm Denk- und Lesezeit schenkte. Es ist dieses Leben im Intervall, in dem Blumenberg seine spätere Frau kennenlernte und in dem er eine moralisch ambivalente Haltung zu schätzen lernte, auch wenn er wusste, dass sie nicht frei von Kompromissen mit dem Regime war. Die eigentlichen philosophischen Studienjahre nach Kriegsende absolvierte Blumenberg in Hamburg. Als Mentoren fungierten der Husserl-Schüler Ludwig Landgrebe und der große klassische Philologe Bruno Snell, dessen Zugriff auf Begriffsgeschichte und „Bedeutungslehre“ der griechischen Worte erste Inspirationen für Blumenbergs eigenen begriffsgeschichtlich-metaphorologischen Denkansatz legte. Nach Landgrebes Berufung nach Kiel wurde Blumenberg dort promoviert: Mit einer Arbeit, die die „mittelalterliche Scholastik“ mit Heideggers Denkansatz in erstaunlicher Souveränität in ein kontrastives Zwiegespräch brachte. Dass die Gutachten enthusiastisch auf „summa cum laude“ plädierten, ist auch für den heutigen Leser wenig verwunderlich; wesentlich kontroverser stellte sich die Lage anlässlich der bis heute unpublizierten Habilitationsschrift über das „Distanzproblem“ in der Philosophie dar. Aufgrund von Rüdiger Zills peinlich genauer Aufarbeitung lässt sich heute detailliert die abwertende Einschätzung des Zweitgutachters Walter Bröcker erfassen, der offen eingesteht, mit dem Distanzproblem nichts anfangen zu können.1010 Später häufig auftauchende Grundmuster der Verletzlichkeit und des Kampfs um Anerkennung leuchten in dieser Zeit in dem Briefwechsel zwischen Blumenberg und Landgrebe erstmals auf. Blumenberg forderte eine klarere Positionierung zu seinen Gunsten, der sich Landgrebe verweigerte. Letztlich gelang die Habilitation und Blumenberg wurde, auch aufgrund eines Gutachtens von Hans-Georg Gadamer, zum Diätendozenten und außerplanmäßigen Professor berufen. Seine Weitsicht zeigt sich darin, dass er nach Landgrebes Weggang einiges unternahm, um Hans Jonas für den zweiten Lehrstuhl in Kiel zu gewinnen. Ein insistentes

1010 Dazu Bröcker, a.a.O., S. 154 ff. mit dem Abdruck der entsprechenden Dokumente.

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

Werben seitens Blumenbergs, dem Jonas eher mit freundlicher Gleichgültigkeit begegnete. Neben der außerplanmäßigen Professur weitet der junge Blumenberg seinen publizistischen Wirkungskreis aus. Er hält öffentliche Vorträge vor einem primär bildungsbürgerlichen Publikum und er schreibt unter dem Pseudonym Axel Colly für Zeitungen wie die ‚Düsseldorfer Nachrichten‘. Zur zeittypischen Auseinandersetzung mit dem Epochenphänomen des Nihilismus trägt ebei. Er nähert sich als Autor der katholischen Intellektuellenzeitschrift ‚Hochland‘ an, in ‚Studium generale‘ werden erste Anläufe zur späteren ‚Genesis der kopernikanischen Welt‘ in Aufsatzform publiziert. Als Literaturkritiker verfasst er Essays über Kafka, Eliot und Paul Valéry. Die Berufungen folgen dann in kurzen Sequenzen, und nur kurze Zeit bleibt Blumenberg jeweils an einem Ort. 1958 geht er, im Bewusstsein der Cassirer-Linie, nach Hamburg, zwei Jahre später wechselte Blumenberg nach Gießen, wohin ein Jahr später auch der aufsteigende Stern der Romanistik mit der abgründigen Vergangenheit, H. R. Jauß, berufen wird.1011 Gießen ist zumindest als Ort die Keimzelle der später wirkmächtig werdenden Forschungsgruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘. Zugleich bewegt sich Blumenberg zeitweise in einflussreichen Gestaltungspositionen der deutschen, durch Neugründungen bestimmten Universitätslandschaft. Akademisch zieht ihn die begriffsgeschichtliche Arbeit zwischen Rothacker, Gadamer und Ritter im Umkreis des ‚Archivs für Begriffsgeschichte‘ in ihren Bann. Der Begriffsgeschichte nähert sich Blumenberg aus einem originär phänomenologischen Impetus an. Ihn beschäftigt die eidetische Schau der Sache, die in Begriffen vermittelt werden kann.1012 Im Schülerkreis von Erich Rothacker, bei dem auch die Karrieren von Jürgen Habermas und K.-O. Apel begannen, spielte die NS-Vergangenheit eine wichtige Rolle. Blumenberg muss trotz seiner mütterlicherseits jüdischen Prägung beanspruchte indes für sich eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit jener Vergangenheit. „Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht“.1013 Prekärer noch dürfte sich diese Positionierung gegenüber Hans Robert Jauß dargestellt haben, mit dem Blumenberg bis in die späten 1011 Die Blumenberg-Biographie ist nicht der Ort, über die SS-Vergangenheit von Jauß, die erst spät aufgearbeitet wurde, grundsätzlich Rechenschaft zu geben. Dennoch bleibt Zill an dieser Stelle auffällig unbestimmt. Vgl. zu Jauss: J. Westemeier: Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung. Konstanz University Press, Konstanz 2016, O. Ette, Der Fall Jauss. Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie, Berlin 2016, H. Schlaffer, Hans Robert Jauß. Kleine Apologie. In: Merkur. Nr. 805 vom Juni 2016, S. 79–86 und F.-R. Hausmann, Der Fall Hans Robert Jauß. Ein Diptychon. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte. 41. Jahrgang, Heft 1/ 2, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017, S. 207–220. 1012 Zill, a.a.O., S. 246 ff. 1013 Zit. nach ebd., S. 249.

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1. Der „unsichtbare Philosoph“: Anekdote und Metapher

Jahre seiner selbst erwählten Isolation so eng verbunden blieb wie mit kaum jemandem anderen. Die Gießener und später die Bochumer Zeit Mitte der sechziger Jahre waren Phasen rapide aufeinander folgender universitätspolitischer Initiativen. Im Zusammenhang der Neugründungen stellen sich enge, aber keineswegs problemfreie Kooperationen mit Helmut Schelsky ein. Hermann Lübbe ist ein enger Verbündeter. Berufungsverhandlungen an die TU Berlin und nach Freiburg/Br., in einem von Heidegger entkoppelten Kontext, zerschlagen sich. An Ralf Dahrendorf scheitert der Versuch eines Wechsels nach Konstanz, an das projektierte „Harvard am Bodensee“.1014 Die Schwierigkeiten, ein Gespräch zu führen, so eine treffende Kapitelüberschrift des Biographen Rüdiger Zill, führten dazu, dass Blumenberg nicht nur die Universitätsgründungsinitiativen, sondern auch die Forschungsgruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘, eine der beachtlichsten interdisziplinären Veranstaltungen der alten Bundesrepublik, bald hinter sich ließ. In kurzer Zeit ließ Blumenberg zunächst die universitätspolitischen, dann die forschungsstrategischen Initiativen hinter sich. Der letzte Ruf nach Münster 1970 wird zum Rückzug und einer gegenläufigen Bewegung: In einer Zeit, in der die Vorlesung aufgegeben werden sollte, setzte Blumenberg ganz und ausschließlich auf dieses Genre. Seminare seien, sagte er, Orte, an denen man sich verschiedene Personen über ihr Nicht-Wissen, „wie man es macht“, belehrten. In Münster entstehen die großen Monographien, aus dem Konglomerat von Aufsatz und Vorlesung. Leben kondensiert sich zunehmend auf Schreiben. Erst in dieser späten Zeit wird er zum unsichtbaren Philosophen, der weitgehend die Nachtstunden für seine Produktivität nutzt und die Außenkontakte so gut wie ausschließlich über das Telefon pflegt. Bis 1989 arbeitet er an den weit ausgreifenden Monographien und zunehmend den skizzenhaften Essaybüchern (‚Die Sorge geht über den Fluss‘ 1987; ‚Matthäuspassion‘ 1988), wie auch den assoziativ deskriptiven Skizzen, die er eigentlich als ‚Unerlaubte Fragmente‘ klassifizierte. Nach 1989 galten die Nachtstunden der Elaborierung eines Nachlasses zu Lebzeiten. Blumenbergs Weg mündete so in eine Lebensform ein, die der Hieronymus-Höhle glich, und die selbst in Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg-Roman mythisch aufgeladen wurde.1015

1014 Die Titulatur „Klein Harvard am Bodensee“ gibt eine Tendenz wieder, die sich als Wusnch mit der Konstanzer Gründung verband. Die Verbindung zu interdisziplinären Forschungsunternehmungen wie „Poetik und Hermeneutik“ ist offensichtlich. Im Rückblick wird eher skeptisch darauf geblickt, ob jenes Ziel erreicht worden sei. 1015 S. Lewitscharoff, Blumenberg, Roman, Berlin 2011. Es ist einigermaßen schwer vorstellbar, dass Jürgen Habermas zur Roman-oder Theaterfigur würde. Die Explikationen der Biographie und des Schreib-Lebens verweist auf Blumenberg als einen

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

2. Schreibprozesse Die ‚Arbeit am Werk‘ verlief bei Blumenberg planvoller und gezielter als bei den philosophischen Zeitgenossen.n. Die Schwierigkeit eine Form zu finden, war neben der Niederschrift ein permanentes Problem, das Blumenberg bewegte. Jahrzehntelang führte er seine Zettelkästen: Nur für Niklas Luhmann wurden die Karteikarten in ähnlicher Weise zum Symbol eines lebenslangen Denk- und Schreibprozesses. All dies ist durch die Präsenz und Erschließung der Nachlässe heute nachvollziehbar. Zill macht die Stufen des Schreibens deutlich, die vom separat publizierten Aufsatz über die Mitteilung in der Vorlesung und die Aufzeichnung qua Stenorette zur Monographie verlief. 3. Geschichtliche Phänomenologie und Distanz Die genealogische Aufeinanderfolge der Haupt- und Grundthemen von Blumenbergs Denken, einem permanenten Prozess theoretischer Neugierde, ist nicht gering zu schätzen. Sieht man näher hin, so rückt die, Standardinterpretation, wonach (so Odo Marquard) Blumenberg der Verfasser von Wissenschafts-Thrillern war, in ein kritisches Licht.1016 Auch die recht wirkmächtige Rekonstruktion, die Franz Josef Wetz in seiner Einführung gab, ist dann noch einmal kritisch zu sehen.1017 Wetz hatte konstatiert, auf der einen Seite stehe eine übermächtige und sinnleere Wirklichkeit, auf der anderen Seite der gefährdete, aber nicht verlorene Mensch, der sich diese Wirklichkeitssouveränität durch die List seiner Kulturleistungen vom Leib hält und auf Distanz zu ihnen geht.1018 Bei aller Differenziertheit würde sich Blumenberg damit dem Kompensationsmodell annähern, wie es vor ihm, im besonderen Blick auf die Geisteswissenschaften Ritter und Marquard vorgetragen haben. In Blumenbergs Anfängen begegnen sich ein technikphilosophisches Interesse und die Suche nach einer Theorie der „Unbegrifflichkeit“, einer Metapho-

der wenigen, wenn nicht letzten Philosophen, die nicht nur eine Karriere, sondern ein Leben hat, das sich zudem in das Werk hineinschreibt. 1016 O. Marquard (1980), „Laudatio auf Hans Blumenberg“, in: Jahrbuch Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1980, 53 ff. Marquard rückt Blumenberg damit in auffällige Nähe zu seinem eigenen Selbstverständnis als „Transzendental-Belletrist“. 1017 F. J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 62020, siehe auch ders. und H. Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens.Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt/Main 1999. 1018 Dazu exemplarisch H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 35 ff., vgl. auch das umfangreiche Verzeichnis der Archivalien und Primärliteratur in ebd., S. 725−760.

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3. Geschichtliche Phänomenologie und Distanz

rologie. Die technikphilosophischen Anfänge und die Impulse der Metaphorologie verbinden sich in dem Interesse, gegen teleologische und biologistisch naturhafte Geschichtsdeutungen, die vielfachen Schattierungen von Transformationsprozessen zu erkennen und „die Relevanz des Spielraums der schöpferischen Ursprünglichkeit“ herauszuarbeiten.1019 Das für die Neuzeit einflussreiche Paradigma einer „Nachahmung der Natur“ etwa kann in technischen Inventionsprozessen zu einer „Vorahnung“ werden, der Konstruktivismus der Eigenschöpferkraft findet in der Annäherung an das natürlich Vorgegebene sein Gegengewicht. Blumenberg spricht in diesem Zusammenhang, im Blick auf die Ästhetik der Avantgarde, auch von einer „Verwesentlichung des Zufälligen“. Daran schließt in den sechziger Jahren eine „Kritik der reinen Rationalität“ an,1020 wobei der technikphilosophische Komplex weiter elaboriert wird. Zudem rückt nun die Konstitution von Weltbildern ins Zentrum. In einem Brief an Landgrebe vom Mai 1958 bezeichnet Blumenberg sogar seine metaphorologischen Studien als „Hilfsarbeiten zu diesem Projekt“. Aus dieser Zeit stammen Texte, in denen Blumenberg die „Selbstbehauptung des Menschen“ mit einem aufklärerischen Pathos vertritt. Die seinerzeit massiv virulenten Säkularisierungsdebatten (Münsteraner Philosophiekongress Oktober 1962) verdichten sich dann zur Frage nach der ‚Legitimität der Neuzeit‘, die in Blumenbergs Deutung keinen vollständigen Neueinsatz bedeutet, sondern vielmehr auf Umlagerungen der späten mittelalterlichen mit dem Nominalismusstreit verbundenen Konstellationen verweist. Zugleich wird die extraterrestrische Übersichtsmöglichkeit über den blauen Planeten und auf die menschliche Lebenswelt im Zeichen der Astronautik mit einem frühen Text von Hussserl1021 als nicht mehr selbstverständlicher Grund des theoretischen Grundverhältnisses expliziert. Die Metaphorologie erweist sich vor diesem Hintergrund als ungleich mehr denn als bloße Hilfsdisziplin. Sie wird für Theoriebildung unerlässlich, denn sie zeigt, wie die geschlossenen Weltbilder, und „ewigen Gewissheiten“ scheitern. Philosophie verbindet sich, wenn sie sich auf die Unbegrifflichkeit einlässt, stärker mit Rhetorik und Wahrscheinlichkeitsepistemik. Die epistemologischen Differenzen zwischen Begrifflichkeit und Unbegrifflichkeit betont Blumenberg eindrücklich: Während Begriffe im Gehlenschen Sinn „Institutio-

1019 Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben: Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 94 f. 1020 Dazu Zill, a.a.O., S. 465. 1021 E. Husserl (1934), Die Ur-Arche. Dieser Text war Blumenberg durch Landgrebe zugänglich gemacht worden. Dazu R. Zill, „Zu den Sternen und zurück. Die Entstehung des Weltalls als Erfahrungsraum und die Inversion des menschlichen Erwartungshorizonts“, in: M. Moxter (2011), Erinnerung an das Humane, Tübingen 2011, S. 300 ff.

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

nen“ sind, die auch für die Phänomenologie maßgeblich bleiben, indem sie „etwas als etwas“ sehen lassen, umschreiben Metaphern Umwege. Sie lassen „durch etwas“ sehen und verstehen. Die Übergänge und die Wanderungen in der Begriffssemantik erschließen daher Bedeutung. Die metaphorologische Betrachtungsweise ist darin maßgeblich, dass sie „ein Verfahren der Sichtung von notwendigen Wagnissen und unverantwortlichen Suggestionen“ eröffnet,1022 in dem gleichermaßen Epochenwenden der Geschichte als auch wissenschaftliche Begriffsprägungen präfiguriert werden können. Auch in seinen großen Studien zu den epochalen Brüchen zwischen Mittelalter und Neuzeit unterscheidet Blumenberg luzide zwischen der „Erkenntniswahrheit“ und der „Situationswahrheit“. Die Metapher der Kopernikanischen Wende war unerlässlich, dass der Paradigmenwechsel einer entteleologisierten Wissenschaft greifen konnte, in der der Mensch sich seines kosmisch exzentrischen Ortes bewusst wird. Blumenberg spricht in diesem Horizont von „absoluten Metaphern“, die jeweils eine Gesamtheit von Weltdeutungen zum Ausdruck bringen. Der „Stellenrahmen“ von Theorien zeigt sich meist zuerst im metaphorologischen Horizont, „denn der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorzonte und Sichtweisen selbst zum Verschwinden, innerhal deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren“.1023 Im Verlauf der siebziger Jahre arbeitete Blumenberg vor diesem Hintergrund hauptsächlich an einem seinerzeit gewiss nicht im Zeitgeist liegenden Projekt: einer reflexiven Neuorientierung der philosophischen Anthropologie. Deren Tragweite wurde erst durch die Nachlassedition seines großen aus Vorlesungen hervorgegangenen Textcorpus über die ‚Beschreibung des Menschen‘ (2006) offensichtlich, mit dem Blumenberg die Verbindung zwischen Husserlscher Phänomenologie und Anthropologie, bis heute unausgeschöpft, knüpft. Die kleine Rede ‚Nachdenklichkeit‘, 1980 anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa gehalten, leitet nach Zills Auffassung dann wie ein ‚Discours de la méthode‘ Blumenbergs spätes Konzept der Umwege im Sinn einer „Antimethodologie“ ein. Diese schweifende Bewegung einer Nachdenklichkeit, die „zu den Sachen und zurück“ geht, lässt die unerlaubten Nebenwege zunehmend zentral werden. Zill bemerkt dazu: „Nachdenklichkeit ist nicht Hermeneutik. Texte sind für sie kein Gegenstand, den es zu verstehen gilt, sondern ein Anlass, sich selbst zu verstehen“ (568).1024

1022 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/Main 1998. 1023 Blumenberg, Paradigman einer Metaphorologie, a.a.O., S. 9 f. 1024 H. Blumenberg, Nachdenklichkeit, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1980, Heidelberg 1981, S. 57 ff., Zu Recht wird dieser antimethodologische Zugriff beim späten Blumenberg betont.

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4. Humanität der Umständlichkeit

Dies führt beim späten Blumenberg zu einer Auslotung von fragenden Selbstverhältnissen, die, je näher sie einem immer kontingenten Ende rücken, an die Anfänge zurückdenken lassen. 4. Humanität der Umständlichkeit Jürgen Goldstein hörte in dessen letzten beiden aktiven Jahren Blumenbergs Münsteraner Vorlesungen.1025 Er erlebte ihn also in etwa derselben Phase wie Wolff. In ein Gespräch kam er indes nicht mit Blumenberg selbst. Seine ebenfalls im Centenarium 2020 erschienene Biographie ermöglicht den gedanklichen und skripturalen Nachvollzug der langen Begrüdungs- und Gedankenketten, die Blumenbergs Bücher entfalten. Auch Goldstein thematisiert eingehend die Bedeutung der Zettelkästen für Blumenbergs Arbeitsweise und er diagnostiziert in einer Epoche, in der „rasender“ geschäftiger Stillstand längst auch die Geisteswissenschaften heimgesucht hat, eine Art „Humanität der Umständlichkeit“ und „diskrete Anthropologie“ als Blumenbergs Hauptinteresse. Die Frühgeschichte von Blumenbergs Theoriebildung wird unter dem Leitmotiv „Destruktionen“ behandelt.1026 Auch darin erfährt man viel Analoges zu Zill: das Porträt des Philosophen als Literaturkritiker, im Gegenüber zum Nihilismus und den Grundgedanken des kosmologisch randständigen Menschen angesichts des Schweigens des Kosmos. In dem Buch ‚Höhlenausgänge‘, der letzten großen Monographie deutet sich nicht nur die Stellung des Menschen im Kosmos an, eine Lage, in der es mit dem Menschsein ernst, aber nicht verzweifelt ist, an,1027 sondern ähnlich wie schon in ‚Lebenszeit und Weltzeit‘ auch die Signatur des 20. Jahrhunderts. Auch in seinem magistralen Werk ‚Arbeit am Mythos‘ ging es Blumenberg darum, die Distanz gegenüber dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ schon im Mythos und der Vielfalt von Göttergestalten anzuzeigen. Mythos und Aufklärung bilden zwei Horizonte alteuropäischer Verständigung. Mythisches Sprechen und Denken sind also keineswegs obsolet, und es kann nur darum gehen, „einen Mythos“, nicht den Mythos insgesamt zu seinem Ende zu bringen.1028 An keiner anderen Stelle sind die Spuren der Zeitgenossenschaft Blumenbergs und die Verletzungen so deutlich erkennbar wie in diesem Werk. Phi-

1025 J. Goldstein, Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait, Berlin 2020, insbesondere die Seiten 15 ff. und 37 f. 1026 Dazu Goldstein, a.a.O., S. 47−133. 1027 Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/Main 1989, S. 12 ff. 1028 Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 51990, S. 679 ff.

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

losophisch vertiefen sich diese Einsichten auf das neuralgische Zentrum der Gott-Mensch-Einsamkeitsproblematik in Blumenbergs spätem Buch ‚Matthäuspassion‘. Zum Tragen kommt damit eine Phänomenologie der Geschichte, die auch das, was außer Acht gelassen und überblendet wurde, in langen Argumentationsfäden zu seinem Recht kommen lässt. Geschichte zeigt sich für Blumenberg „als Analogon einer stratigraphisch darstellbaren Struktur“, in der auch „das Entkräftete immer noch als eine Kraft, das Vergessene immer noch als potentielle Anamnesis“ mitschwingt.1029 5. Realität aus dem Abstand Auch bei Blumenberg wie bei jedem bedeutenden Denker stellt sich die Frage, wie jemand wurde, der er ist. Im Centenarium konnten zwei bislang unpublizierte Monographien aus Blumenbergs, nach wie vor fast unerschöpflich erscheinendem, von ihm selbst penibel vorbereiteten Nachlass zugänglich gemacht werden. Das von Nicola Zambon edierte Corpus, eines der „Work in progress“ über ‚Realität und Realismus‘ nimmt eine Thematik auf, die Blumenberg auch im Zusammenhang der Forschungscolloquien über ‚Poetik und Hermeneutik‘ problematisierte.1030 Blumenberg geht von der Beobachtung aus, dass der Begriff der ‚Wirklichkeit‘ als selbstverständlich genommen wird. Wirklichkeit ist das schlechterdings unthematisch Bleibende. Die phänomenologische Annäherung an Wirklichkeit kann daher nur kontrastiv gewonnen werden, als implikatives Prädikat. Sie ist dem vergangenen, nicht mehr Seienden abzulesen. Andernorts spricht er auch von „Lebenswelten zweiter Stufe“.1031 Dieses Thematischwerden von Realität führt bei Blumenberg zu einer Art Grundriss einer geschichtlichen Phänomenologie. Dabei sind es vier Paradigmen von Wirklichkeitsannahmen, die den langen Begründungsketten Blumenbergs Orientierung geben und die eine idealtypische Ordnungsfunktion wahrnehmen lassen:1032 (1) Die momentane Evidenz als Inbegriff des antiken Wirklichkeitsverständnisses (60–75); (2) die durch die göttliche Autorität garantierte Realität, überwiegend in der mittelalterlichen Ontologie; (3) die mit der neuzeitlichen Systematizität mitgegebene „immanente Konsistenz“ (89 ff.).

1029 H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/Main 1988. 1030 H. Blumenberg (1965), „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: H. R. Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik, Band I, München 1965, S. 9 ff. 1031 H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/Main, 1986, S. 86. 1032 Vgl. H. Blumenberg, Realität und Realismus, hg. von N. Zambon, Frankfurt/Main 2020. Die nachfolgend genannten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Band. Er kann gleichsam als die verdeckte Ontologie von Blumenberg rezipiert werden.

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6. Blumenberg und Heidegger

Der, sich in der vorzugsweise ästhetischen Moderne abzeichnende Realismusbegriff verschiebt diese Tektonik noch einmal. Er führt auf die Widerständigkeit, das dem Subjekt sich Entziehende (105 ff.). Diese Wirklichkeitsstrukturen werden aus Textzeugnissen der Philosophie und Literaturgeschichte freigelegt und extrapoliert, die nur ein Leser des absoluten Gehörs, wie Blumenberg einer war, wahrnehmen kann. Die davon ausgehenden Begründungsketten führen aber zu ernsthaften philosophischen Reflexionen, etwa über das Verhältnis von Illusion und Realität, und vor allem zum Welt- und Wirklichkeitsbegriff der Phänomenologie (137– 158). Blumenberg verweist hier unter anderem darauf, dass „Urteile überhaupt relativ seltene Ereignisse sind“ (145). Eine eher rudimentäre Überlegung von großer Tragweite gilt der Realität des gemeinhin Unbemerkbaren, das exemplarisch am Eigenleib begegnet.1033 Die „Anthropologie des Realsten“ greift auf eine signifikante Topologie zurück. Sie zeigt, dass der Realismus nicht als dauernder Normal-, sondern nur als Ausnahmezustand wirksam ist. Inwieweit die Begründungsketten nicht nur historisch genealogisch verlaufen, sondern auch metaphorologisch, zeigt Blumenberg, indem er Judas als Realisten gegen den messianischen Traum zur Geltung bringt. Realismen sind, so wird in einem weiten Rayon zwischen Diderot und Ibsen deutlich, „geschichtlich bedingte Antithesen zu vermeintlichen oder wirklichen Illusionismen“ (217). So sei der Roman die eigentlich realistische Gattung, behaftet allerdings mit dem Problem, dass in ihm zu viel geschehen muss. 6. Blumenberg und Heidegger Hans Blumenbergs nun zugänglich gemachte Promotionsschrift unternimmt, was andere nach ihm auch, und in der Regel weniger polyperspektivisch, weniger methodisch unterrichtet und weniger eigenständig versuchten: Heideggers Fundamentalontologie mit den ontologischen Konstellationen der mittelalterlichen Scholastik in eine Gesprächskonstellation zu bringen. Der später auf Heidegger eher ausweichend neuralgisch reagierende Blumenberg begreift seinerzeit 1947 die mittelalterlichen Denkformen vor dem doppelten Horizont von Geschichtlichkeit und Tradition, und er exponiert das Heideggersche Geschichtlichkeitsverständnis im methodischen Fokus der „Destruktion“. Die Souveränität in der Zugriffsweise ist für ein so frühes Debüt ungewöhnlich eindrucksvoll. Blumenberg differenziert aber den bei Heidegger im-

1033 Zu diesem großen zwischen den Ansätzen bei Merleau-Ponty und Hermann Schmitz heute viel debattierten Problemfeld siehe auch Blumenberg, Beschreibung des Menschen, a.a.O., S. 245 ff.

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

mer schematisch bleibenden Zugriff auf das „summum ens“ als höchste Form des ontischen Seienden. Er zeigt, dass die Debattenlagen der mittelalterlichen Ontologie ungleich komplexer sind, als Heidegger sie wahrnimmt, doch er gesteht Heideggers Ansatz gleichwohl seine Berechtigung zu.1034 Blumenberg rekonstruiert Ursache und Grund des Seienden in einer philosophischen Kosmologie, die das Auseinander-Hervorgehen des Seienden thematisiert. Der biblische Schöpfungsgedanke (gr. ktizo: erschaffen) setzt dem die „Unableitbarkeit göttlichen Setzens“ entgegen (54), was sich im „ex nihilo“ des Schöpfungsgedankens, wie er bei Augustinus positioniert wird, weitergehend realisiert. Eine auf Thomas von Aquin rekurrierende Schöpfungsgenealogie findet ihre notwendige Komplementarität und Andersheit in der „Personalität des Seinsgrundes“, wie sie die augustinische Scholastik aufweist, für die Blumenberg vor allem Bonaventura in Anschlag bringt. Blumenberg entgeht nicht, welche epochale Rolle Kosmologie und Ontologie bei Duns Scotus spielen. Den Einschnitt erkennt er darin, dass die Materie aus der Ontologie getilgt werde und damit die Liebe als voluntative Selbstheraussetzung und Selbstoffenbarung des Seins im Sinn der „creatio“ expliziert wird. Blumenberg formuliert pointiert die Folgewirkungen: „Mag auch Gott in der Neuzeit für die ontologische Grund-Frage unbedeutsam werden, die creatio bleibt das ontologische ‚Modell‘, nach dem die Konzeptionen der Transzendenz ihren Grundriss haben“ (80). Damit zeigt sich exemplarisch, wie Blumenbergs souveräne Annäherung andere Rekonstruktionsversuche übertrifft: Dadurch, dass er bereits seinerzeit eine mehrgliedrige Typologie „mittelalterlichen“ Denkens vor Augen stellt, deren verschiedene Momente der Heideggerschen Ontologie zu konfrontieren sind, und dass er gerade nicht statutarisch Heidegger und Thomas kontrastiert. Wird das „mittelalterliche Seinsverständnis“ von Heidegger pauschal als Vorhandenheit interpretiert, so zeigt Blumenberg, dass dieser Schematismus durchbrochen wird: Eben in der augustinischen christlichen Glaubenserfahrung, die die kosmologische Orientierung der Ontologie durchbreche (86 f.). Dies führt wiederum auf den Seinsbegriff von Duns Scotus, bei dem Sein als „transcendens extra omne genus“ („übersteigend und außerhalb jeder Gattung“) aufgefasst wird (97), und der aufgrund dieser Transzendenz einen univoken Seinsbegriff überhaupt erst ermöglicht. „Existenz“ ist Kern dieses Seinsbegriffs. Soweit nimmt der junge Blumenberg Anregungen Heideggers auf. Doch von einer ‚Überwindung‘ aristotelischer Metaphysik darf nicht ge1034 Mit der Publikation von Blumenbergs Dissertation, die bereits alle Züge von Brillanz und Souveränität erkennen lässt, nähert man sich nicht nur einem Impetus von Blumenbergs Denken. Auch sein Bezug zu Heidegger und zur Phänomenologie wird hier nochmals transparenter. Vgl. Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie, Berlin 2020. Die Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Band.

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sprochen werden (111), wohl aber von einer Durchbrechung und zugleich der Entdeckung der Ontologie des Individuums, die in der aristotelischen Noetik unterbelichtet habe bleiben müssen. Auf den Fokus des Existenzproblems konzentriert Blumenberg seine Überlegungen. Dabei spielt die christliche Existenzerfahrung, so wie sie sich bei Augustinus artikuliert, eine maßgebliche Rolle. Sein ist das Sein einer Individualität. Faktizität im augustinischen Sinne stehe zwischen der platonischen Ideenlehre und der mutabilitas des endlichen Seienden. Hier zeigt sich die ganze konstellative Vieldeutigkeit im Denken von Hans Blumenberg. Die antike Wesensontologie liegt zwar in Spannungsverhältnissen mit der Individualität, doch „bot auch der christliche Glaubensinhalt selbst manche Züge, die in ihrer systematischen Ausbildung die Herbeiziehung wesensontologischer Kategorien begünstigen“ (145). Die Interpretation von Sein als Gegenständlichkeit führt Blumenberg sodann, ausgehend von Bonaventura, auf den nicht-gegenständlichen Grund des gegenständlichen Seienden, das sich prädikativer Erfassung entzieht. Das „ens per se“ sei mit dem Illuminationsgedanken verbunden, der Evokation des „Wesensgrundes aller Dinge […] und d[e]s Licht[s] der Wahrheit, in dem alle Dinge widerleuchten“ (163). Blumenberg macht seinerseits Möglichkeiten und Grenzen des Illuminationsgedankens auf der platonischen Denklinie deutlich; in einem aristotelischen Verständnisrahmen spiele er dagegen so gut wie keine Rolle mehr. Duns Scouts fasst Sein als „primum obiectum“, im Sinn des transkategorialen ontologischen Seinsbegriffs. Die Heideggersche Frage nach dem Sinn von Sein spezifiziert sich damit weiter. Sie kann, wie Blumenberg zutreffend bemerkt, nicht in eine Frage nach dem „Was“ des Seins des Seienden überführt werden, sondern nur in die Frage nach dessen „Wie-Sein“, als Spezifizierung des ontologischen Urphänomens. Dabei bleibt der Illuminationsgedanke leitend: Seinsverständnis wird für Heidegger zu einer „illuminativen Methexis“; der Sinn von Sein liege gerade in der Vertrautheit, als Grundimpuls einer Ontologie, die diese Vertrautheit zu interpretieren hat (192). Die Differenz zu Heidegger bricht damit deutlich auf, denn ein personaler Seinsgrund, die Enthebung aus der Totalität des Nichts ist gerade der christlichen (und das heißt wohl auch der jüdisch rabbinischen) Einsicht einer Personalität entsprungen, in der Gott Garant dessen ist, was gerade nicht nichts ist (193). Die von Heidegger zunehmend kultivierte Gegenstellung des Denkens gegen den christlichen Glaubensgehalt wird in Blumenbergs konstellativer Differenzierung deutlich korrigiert. Blumenberg gewinnt daraus in Umrissen Impulse, die bis zum Ende in seinem Oeuvre bestimmend blieben: Er betont die „ontologische Exemplarität des Menschen“, der seit Augustinus auch in einer individuellen Methode befragbar ist, was zwischen Augustinus und Heidegger auch ermöglicht, vom Menschen aus die Ontologie thematisch zu machen. Die existenziale Frage nach dem Seinssinn führt auf die Frage nach der Selbstmächtigkeit der menschlichen Existenz und auf eine Faktizität,

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VII. Philosophie des langen Gedächtnisses: Hans Blumenberg

in der der Mensch seiner Nicht-Selbstmächtigkeit sich bewusst wird. Dies ist zugleich Antidotum von „Aufklärung“ (202), die, so Blumenbergs Summe, unwiederholbar war und in der Gegenwart gescheitert ist. Der junge Blumenberg bleibt mit Heidegger – und vor allem Husserl – von der Ursprünglichkeitsfrage in Atem gehaltent. Phänomenologie verweist damit auf Metaphysik zurück und weist zugleich deren Grenzen auf. Diese starke innermetaphysische Fokussierung würde der spätere Blumenberg so wohl nicht mehr aufrechterhalten. Zugleich erinnert die Gedankenbewegung an Adornos Diktum von der Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes, nur, dass sie aus einer geschichtsphilosophischen in eine systematische Konfiguration transformiert wird. Weder Heidegger noch einer seiner Epigonen ist den Weg weitergegangen, dessen Markierungen Blumenberg anzeigt: Auch er sollte diesen Weg nicht mit Heidegger und dem Seinsdenken weitergehen: aus guten Gründen. Doch als Ersatz legt er eine geschichtlich phänomenologische Ontologie an, die als Subtext in seinen großen „Wissenschafts-Thrillern“ relevant bleibt. An diesem Punkt ist, wenn man Blumenberg von den bisherigen Inedita neu zu lesen begonnen hat, von seinen Anfängen her der Bogenschlag seines Werkes auch klarer als bisher als systematische Frage zu erfassen. Vom Anfang her werden Mitte und Ende plausibel: In einer Arbeit an Text und Gedanke, die Vergegenwärtigung und Kritik, Geschichte und Annäherung in einer Komplexität erschließen, die sich der ideologischen Handhabung und jedem nonchalanten Gebrauch entzieht. In dieser Differenzierungs- und Ambivalenzfähigkeit besteht nach wie vor das Faszinosum Blumenbergschen Denkens. Gerade der Rückblick auf Blumenberg zeigt: Die Tendenz zur Spezifizierung und engeren Fokussierung ging an der deutschsprachigen Philosophie keineswegs spurlos vorbei. Manche sehen darin eine weitere Professionalisierung, eine im Grunde unaufhaltsame Annäherung an die Standards anderer Wissenschaften und eine noch größere Pluralisierung der einstigen Ersten Wissenschaft. Es ist aber auch eine Verengung und thematische Unifizierung zu erkennen. Dass ein weithin bekannter Großordinarius in seinen fünfziger Jahren sagen konnte, er verstehe jetzt, dass es in der Philosophie um etwas gehe: darin zeigt sich eine auf Akademismus abgeschottete Binnenperspektive, die in der ersten Jahrhunderthälfte kaum denkbar gewesen wäre. Dass es indes auch am Beginn des 21. Jahrhunderts permanent um etwas geht: ob in der Philosophie oder jenseits ihrer akademischen Grenzen, ist für jeden und jede, die sehen können, unverkennbar.. Dass in der Mehrzahl die gegenwärtige akademische Philosophie dazu und auch zu den großen öffentlichen Debatten nur wenig beiträgt, und erst recht nicht diese Debatten formt, ist ein bedauerlicher Mangel. Dahinter verbirgt sich ein allgemeines Problem intellektueller Sukzessionen. Die öffentliche Position ist ja keineswegs unbesetzt. In starkem Maß eingenommen wird sie indes von Philosophendarstellern, die weitgehend

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Hervorbringungen von Agenturen sind und die öffentlichen Sinnbedürfnisse offensichtlich besser bedienen als diejenigen, die professionell dafür zuständig wären. In der Philosophie kommen Binnenprobleme dazu: Es ist und bleibt der Fall, dass zwischen unterschiedlichen philosophischen Strömungen eine weitgehende Sprachlosigkeit klafft. Wenn man gemeinsame Anfänge und Problemansätze zwischen Phänomenologie und heutiger analytischer Philosophie freilegt, so ergeben sich allerdings faszinierende Isomorphien. Dies zu ermitteln, ist allerdings alles andere als einfach. Zu dieser Erschwerung der Gesprächsmöglichkeiten kommt die andere hinzu, dass Philosophie sich oft selbst nur noch als Platzhalterin versteht und epiphänomenal an den jeweiligen Leitwissenschaften hängt, die sie begleiten soll und von denen sie sich Relevanz verspricht. Die Implementierung in einen medizinethischen Kontext unterscheidet sich deshalb von Grund auf von derjenigen in die Settings hypermoderner Kunst- oder Gendertheorien und ihrer Diskurse. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was an der Philosophie genuin philosophisch ist. Innerhalb der philosophischen Schulzusammenhänge in Deutschland gab es in den sechziger und siebziger Jahren eine Tendenz zur Kleinmeisterei. Die Großordinarien wiesen ihren Schülern oftmals Themen so zu, dass sie einzelnen Filiationen des eigenen Themenfeldes nachgingen. Wenn sich dies über ein oder zwei Generationen fortsetzt, so ist die Tendenz zur Verzwergung unübersehbar. Gewiss: auch hier gibt es Ausnahmen, aber die Grundtendenz ist offenkundig. Thematisiert wurde damit nur die westdeutsche Szenerie. Dass es auch in der DDR eine eigenständige Philosophie gab, die nicht in Marxismus-Leninismus aufging, wurde in den Abwicklungsprozessen nach 1989 weitgehend verdeckt. Diese Damnatio memoriae aufzubrechen, ist eine eigene Aufgabe.1035

1035 Ihr nehme ich mich in Einführung, Kommentierung und Edition gemeinsam mit Kristina Schippling an. 2022 soll dieses Werk vorliegen.

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VIII. Transformationen: Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Die sogenannte „Analytische Philosophie“ bildet, wie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer deutlicher wird, keineswegs einen erratischen Block. Zwischen der formalen Semantik in der Folge von Frege und der Ordinary language-Philosophie, die sich keineswegs legitim auf Wittgenstein berief, bestehen gravierende Differenzen. Zudem entwickelten sich die britische und die US-amerikanische Traditionsbildung weit auseinander. Gerade aus der letzteren lassen sich für die heutige systematisch-philosophische Problemsicht wesentliche Maßstäbe gewinnen und es zeigen sich zunehmend Rückbindungen an klassische kontinentaleuropäische Fragen. Schon Wittgenstein erkannte im Blick auf den logischen Positivismus, dass ein Reduktionismus, der sich der metaphysischen Probleme entledigt, indem er sie zu Scheinproblemen erklärt, eine Therapie entwickelt, die es sich zu einfach macht, die (mit Wittgenstein) Krankheitsverläufe vor der natürlichen Heilung abschneidet und damit Gefahr läuft, in eine andere Krankheit zu verfallen.1036 Die innovativsten Leistungen in der analytisch geprägten Philosophie zeigen sich, so meine These, dort, wo die hohe subtilitas legendi, die begriffs- und trennscharfe Argumentationsanalyse auf Texte der klassischen Überlieferung oder auf die bleibenden Probleme der Ersten Philosophie angewandt werden. Es kann in diesem Zusammenhang nur darum gehen, einige grundlegende Profile in der Verlängerung der Problemlinien des 20. Jahrhunderts zu skizzieren. Wie fast überall könnte man die Akzente auch anders und sogar gegenläufig setzen. Weitere namhafte Vertreter der neueren analytischen Philosophie, die auf neuen Wegen sich alten Problemen annäherten, etwa der Subjektphilosophie, wären in diesem Rayon zu diskutieren. Die Kunstphilosophie Arthur Dantos etwa, die ontologischen Studien über das Verhältnis von Natur und Geist von David K. Lewis oder Ned Blocks Studien zur Philosophie des Geistes. Die amerikanischen Traditionslinien, die hier zunächst ins Auge zu fassen sind, bewegen sich stark im Umfeld des Pragmatismus. Als philosophische

1036 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 43 entwickelt dezidiert das Verständnis von Philosophie als Therapie der metaphysischen Deformationen. Bei dieser Therapie geht es, Wittgenstein zufolge, aber wie bei jeder Therapieform darum, dass sie nicht übereilt erfolgt und Zwischenschritte überspringt. Dies ist übrigens ein Impuls, den Wittgenstein mit Heidegger teilt.

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VIII. Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Strömung entsteht der Pragmatismus am Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika. Den Begriff Pragmatismus erwähnt erstmals William James, allerdings unter Bezugnahme auf Charles S. Peirce als dessen Begründer. Weitere wichtige Vertreter sind F. C. S. Schiller, George H. Mead, James Dewey und andere. Ebenso auffällig ist es, dass keiner der Klassiker des Pragmatismus die Bezeichnung ohne Einschränkungen bejaht hat, eine gewisse Analogie zur Rede von der „Existenzphilosophie“ im kontinentalen Kontext. William James sprach bevorzugt von „radikalem Empirismus“, Dewey von „Experimentalismus“. Der späte Peirce stellte nicht ohne Ironie fest, dass der Pragmatismus dabei sei, „zur führenden philosophischen Meinung des 20. Jahrhunderts“ zu werden.1037 Gerade Peirce beanspruchte jedoch für sich den Begriff des „Pragmatizismus“, in der strengeren Intention eines geschlossenen Wissenskosmos, und grenzte ihn vom Denken eines James und Dewey und dessen geringer ausgeprägter Methodenstrenge ab. 1. Pragmatistischer Kontext Die Ausgangsannahme des klassischen Pragmatismus ist, dass die menschliche lebensweltliche Praxis für das theoretische Wissen grundlegend ist. Auch Erkenntnistheorie oder Ontologie gehen aus praktischen Verhaltensweisen hervor. Wissen ist daher grundsätzlich irrtumsbehaftet und muss revidierbar sein. Methodischen Vorrang bei der Wissensgewinnung erhalten Verfahren mit intersubjektiver Nachprüfbarkeit, wie Experimente. Dies bedeutet, dass die erforderlichen Prüfverfahren mit einer These mit Wahrheitsanspruch mitgeliefert werden sollen. Während Peirce eine Teleologie der Wissensgewinnung bis zur vollkommenen Erfassung des Realen voraussetzt, bescheidet sich James mit der lebensweltlich kontextualisierten Übereinstimmung mit einer jeweiligen Wirklichkeit. Diese nennt er ‚wahr‘, die Nichtübereinstimmung dagegen nennt er ‚falsch‘. Peirce kommt für die Selbstreflexion des Pragmatismus eine entscheidende Rolle zu. Er besteht darauf, dass der Pragmatismus in der Folge von Kant zwischen absoluten praktischen Zwecken und empirischen Mitteln unterscheiden müsse. Die Zwecke gehen aus der Freiheit hervor. Der Grundfehler eines naiven Pragmatismus besteht nach Peirce darin, dass er Theorie und empirische, experimentelle Verifikation auf einer Ebene verhandelt. Er könne deshalb die Gefahr des Dogmatismus nicht überwinden. Peirce betont ausdrücklich, dass es zu wenig sei, pragmatisches Handeln als Ziel des Menschen anzusetzen. Mit Kant hält er vielmehr fest, dass es um „die Entwicklung konkreter Vernünftig-

1037 Ch. S. Peirce, Ch. S. Peirce, Collected Papers, hg. von Ch. Hartsthorne u. P. Weiss, Vol V. 21960; ders., Schriften II, hg. K. O. Apel, Frankfurt/Main 1970, S. 501.

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1. Pragmatistischer Kontext

keit“ des Menschen als freihandelndes Wesen) gehe.1038 Es sind insbesondere solche Überlegungen von Peirce, durch die der Pragmatismus von einem Utilitarismus, bzw. einer reduktiven Philosophie des „Durchwurstelns“, begründet unterschieden werden kann. Ferdinand C.S. Schiller knüpft an den handlungsorientierten Pragmatismus eines William James an und versucht, dessen erkenntnistheoretische Prämissen herauszuarbeiten. Dabei fasst er den Pragmatismus als Transformation des kantischen Apriorismus auf. Während dieser auf das transzendentale Subjekt (das „Ich denke“) bezogen ist, greift der P. auf die einzelnen Subjekte und ihre Weltsicht zurück. Die Folge ist ein offener Pluralismus, der jedem konkreten Menschen seinen individuellen Wahrheitsanspruch lässt. Lediglich der Erfolg dieses Anspruchs rechtfertigt ihn. Grundlegend für den Pragmatismus ist daher nach Schiller der „Homo mensura“-Satz des Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller Dinge ist.1039 James Dewey sicherte dem Pragmatismus dann vor allem einen bedeutenden Einfluss in Pädagogik, praktischer Philosophie und Demokratietheorie. Auch die Wissenschaft dient nach Dewey nur als Instrument, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Der Erkenntnisprozess ist grundsätzlich unabschließbar, da jede Problemlösung weitere Probleme nach sich zieht. Diese Offenheit führt zu einer Interaktion von Mensch, Natur und Gesellschaft. Es ergibt sich eine offene Struktur, die Dewey als Gegenkonzept zu jedem Dogmatismus auffasst. Auch George H. Mead nutzt pragmatische Prägemuster als sozialphilosophisches Instrument. Mead zufolge setzt reflexives Denken bei konkreten Problemen an, die das Handeln erschweren, blockieren oder unmöglich machen. Erfolgreich ist eine Problemlösung dann, wenn die Handlungsfähigkeit des Individuums oder der Gesellschaft zurückgewonnen wird. Mead implementiert, als an W. Wundt geschulter Psychologe, das Reiz-Reaktionsschema in das pragmatistische Portfolio. Eine Übersicht über den klassischen Pragmatismus zeigt, dass die Schulrichtung eine hohe Bandbreite philosophischer Richtungen aufweist. Während beispielsweise James eine idealistische Grundposition vertritt und primär semiotisch arbeitet, sind James und Dewey Empiristen. Neue Dimensionen eröffnen sich im Neopragmatismus des 20. Jahrhunderts. Die anspruchsvollen erkenntnistheoretischen Konzepte des Neopragmatismus können sich insbesondere auf Peirce berufen. Hier ragt die analytischskeptische Position von W. Van Ormand Quine heraus, der mit dem Wissenschaftshistoriker Pierre Duhem annimmt, dass alle theoretischen Sätze nur in einem Gesamtkonzept, einer Rahmentheorie, ihren Sinn gewinnen. Obwohl

1038 Peirce, Schriften, hg. K.-O. Apel, S. 278. 1039 F. C. S. Schiller, Plato or Protagoras? Oxford 1908, S. 25 ff.

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VIII. Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

auch Quine an der bedeutenden Rolle der experimentellen Verifikation festhält, weist er darauf hin, dass die Experimente ihrerseits von Theorien und Rahmenannahmen abhängig sind. Auch für den Neopragmatismus gilt, dass er genug Weite aufweist, um unterschiedliche philosophische Grundauffassungen aufzunehmen. Die Bandbreite reicht hier von der Referenztheorie Robert Brandoms, der untersucht, wie Bedeutung im Sprachgebrauch entsteht, bis zu der postmodernen Metapherntheorie Richard Rortys, für den Wahrheit einerseits an Sprache gebunden ist, andererseits sich darin ausweist, dass sie der Steigerung von Glück und der Minderung von Leid dient.1040 Besonders reflektiert bezieht sich Hilary Putnams „interner Relativismus“ auf den Pragmatismus. Wahrheit muss auf die Einnahme eines externen absoluten Standpunkts, eines Gottesstandpunktes gleichsam, verzichten. Sie ist immer beobachter- und personenabhängig. Gleichzeitig widrspricht Putnam einem undifferenzierten Relativismus. Die objektive Unterscheidbarkeit zwischen „richtig“ und „falsch“ ist in vielen Fällen gegeben. Putnam räumt zudem ein, dass zwischen Werten und Tatsachen, etwa ihrer Implementierung in historisch-konkreten Lebensformen, nicht strikt unterschieden werden kann. Einen Werte-Realismus zu vertreten, bedeutet nach Putnam, die eigene lebensweltliche Praxis ernst zu nehmen. Die starke Resonanz des Pragmatismus als Grundrichtung in der gegenwärtigen angelsächsischen Philosophie bestätigt das eingangs zitierte Wort von Peirce. Auch in der kontinentaleuropäischen Philosophie ist der Pragmatismus mittlerweile in der theoretischen Philosophie, der politischen Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie und sogar der Religionsphilosophie etabliert. Dafür stehen Namen wie Hans Joas,1041 Helmut Pape1042 oder Dietmar von der Pfordten.1043 Die Kritik, die am Beginn des 21. Jahrhunderts gegenüber dem Pragmatismus geäußert wurde, bleibt dennoch erwägenswert. Max Scheler hielt fest, der Pragmatismus entwickle nur ein „Arbeitswissen“ der Zweckrationalität. Er könne aber weder zum Bildungs- noch zum Erlösungswissen wesentliches beitragen. Auch seitens der Frankfurter Schule, vor allem von Max Horkheimer wurde eingewendet, dass der Pragmatismus von James und Dewey zu einer Verabsolutierung der „instrumentellen Vernunft“ neige und die naturwissenschaftlich experimentelle Methode zu umstandslos auf die Philosophie übertrage. Horkheimer versteht den Pragmatisms als philosophische Haltung

1040 Vgl. vor allem R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a.a.O. 1041 H. Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/Main 1992. 1042 H., Pape, Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles S. Peirce und William James, Velbrück, Weilerswist 2002. 1043 D. von der Pfordten, Normative Ethik, Berlin 2010.

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2. Quine: Sprachnetze

des modernen amerikanischen Kapitalismus. Auch an diesen Einwänden ist Wahrheit. So ist vom Pragmatismus manches zu lernen, auch über den „dramatischen Reichtum der Welt“ .1044 Er ist jedoch im Gespräch mit anderen Positionen zu prüfen. In formaler Weite genommen, verweist das pargmatistische Erbe auf den engen Zusammenhang von Sprach- und Handlungsorientierung. Es schließt aber keineswegs ambitionierte theoretisch-spekulative Überlegungen aus. Die spezifische Arbeitsweise der analytischen Philosophie, die sich vor allem in der angelsächsischen Sphäre in ungeheurem Ausmaß ausdifferenzierte, ist dabei bemerkenswert. Sie operiert ungleich stärker als die klassische Erste Philosophie in Einzelfall-Untersuchungen und in Diskussionen von Einzelproblemen. Wie man an Donald Davidson sehen kann, bedeutet dies keineswegs, dass nicht ein systematisches Gesamtgeflecht in einer stringenten Folge der Untersuchungsgegenstände nach und nach expliziert würde. Dafür gibt es auch aussagekräftige kontinentaleuropäische Beispiele, etwa die systematische Reflexion über ‚Gott‘ und das Sein oder noch grundlegender Struktur und Sein von Lorenz Bruno Puntel, einem Denker, der sowohl die klassische metaphysische Ontologie als auch Hegels Dialektik differenziert kennt und von Heideggers Ontologie in besonderem Maß bewegt ist.1045 Hier hat das Denken eine Argumentations-und Problemschärfe entwickelt, wie es sie wohl in ähnlicher Weise nur in der Spätscholastik und im Umkreis des Nominalismusstreits gegeben hat. Dies kann zu neuartigen, ungewohnten Lösungen und zur Wiederaufnahme gorßer ontologischer Problemstellungen führen. 2. Quine: Sprachnetze Bedeutsame Inventionen, die zu einer veränderten Sachwahrnehmung Wesentliches beitrugen gingen von Willard Van Orman Quine aus (1908–2000). Quine ist zunächst von Russells und Whiteheads Konzeption geprägt, wonach Mathematik auf Logik zurückzuführen sei. Zugleich vertritt er die Überzeugung, dass die Systeme der Logik möglichst übersichtlich zu halten sind. Die Befassung mit konkreter Sprache ist immer auf Vermutungen angewiesen. Sie erreicht nicht die Ein-Eindeutigkeit logischer Formen. Definitive Entscheidungen sind nicht zu fällen. Dies bedeutet eine Veränderung im Wahrheitsbegriff.

1044 Vgl. Pape, Der dramatische Reichtum, a.a.O., S. 23 ff. 1045 Vgl. L. B. Puntel, zusammen mit E. Tourpe: Philosophie als systematischer Diskurs. Dialoge über die Grundlagen einer Theorie der Seienden, des Seins und des Absoluten, Freiburg/Br., München 2014.

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VIII. Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Wahr ist, was zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Erfahrung wiedergibt. Solche unmittelbaren Erfahrungen bilden Ankerpunkte der Sprache. Doch Sprache ist nicht als Ganze auf sie zurückzuführen. Sprache steht immer in einem Netz von Verweisungen, Annahmen über Naturgesetze, kulturellen und metaphysischen Kontextualisierungsversuche. Wittgensteins Kritik an dem Armchair-Ethnologen Frazer wirkt auch hier weiter, in dem Sinn, dass konkrete sprachliche Symbolisationszusammenhänge Quine zufolge nicht beliebig reduzierbar sind. Lediglich über physikalische Objekte, die individuelle Erfahrungen ausblenden, sind allgemeine, unstrittige Aussagen möglich. Alles Gespräch verlangt eine Übersetzung. Einzig die Referenz auf physikalische Einzeldinge sichert der Sprache Verlässlichkeit und Verbindlichkeit.1046 In dem sprachlichen Verweisungsnetz sind Korrekturen möglich und notwendig. Sie sollten allerdings mit Vorsicht und Zurückhaltung vorgenommen werden. Quine zieht im Sinn seiner Verschlankungsforderung daraus die Folge, in logischen Kalkülen auf kontingente Eigenschaftstermini zu verzichten und die Logik auf das denkbar elementare Raster von Objekten, Klassen von Objekten und Klassen von Klassen zu reduzieren. Diese Interferenz thematisiert Quine besonders prägnant an dem Wort „gavagai“, das in seinem Gedankenexperiment indigene Bevölkerungsgruppen äußern, wenn ein Kaninchen vorbeirennt. Was ist gemeint? Wie viel Äquivalenz zu dem Standardverständnis „Kaninchen“ ist vorauszusetzen. Was ist Projektion, was unhaltbare Spekulation in der Deutung der westlichen Beobachter? Ist die Annahme einer Idee des Kaninchens (Kaninchenheit) oder auch nur von Teilen eines Kaninchens, oder der Bewegungsrichtung möglich? Quine ist fasziniert von dem im Logischen Positivismus grundgelegten Gedanken, dass es möglich wäre, hinter die Objekte zurückzugehen. Bedeutung wäre dann die gemeinsame Referenz zweier Worte auf dasselbe Objekt, die mit Notwendigkeit zutrifft.1047 Diese Fluchtlinie bleibt aber versagt, weshalb Philosophie immer auf die Realität der Dinge in empirischen Zugangsweisen angewiesen bleibt. Von hierher ist Philosophie immer auf einem labilen Erkenntnisgrund errichtet: Quine zitiert an prominenter Stelle Neuraths berühmtes, auf Descartes zurückgehende Diktum, dass es darum gehe, ein Schiff während der Seefahrt umzubauen.1048 Ein physikalischer Monismus hat im Blick auf Schlankheit und Ökonomie der Logik gegenüber dualistischen Konzepten von Geist und Materie den Vorrang. Wirklichkeit reduziert sich damit auf die raum-zeitliche, physikalisch bestimmte Realität. Carnaps Grundoption, 1046 Vgl. W. V. O. Quine, Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, S. 54 ff., sowie ders., Von einem logischen Standpunkt, Frankfurt/Main, Wien 1979. 1047 Quine, Theorien und Dinge, Frankfurt/Main 1985, sowie im Hintergrund Ders., Ontologische Realität und andere Schriften, Frankfurt/Main 2003. 1048 D. Davidson, Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1986, sowie ders., Handlung und Ereignis. Frankfurt/Main 1985.

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3. Davidson: Sprache, Wahrheit, Geist

dass Philosophie entweder im Bereich logischer Tautologien sich bewege oder empirisch auf das Gegebene gestützt werden könne, bleibt für Quine der permanente Gesprächspartner. Doch eine genaue Passung von Aussagen an die Außenwelt ist Quine zufolge gar nicht zu erwarten, weil sie in der Verbindung mit sinnlicher Wahrnehmung nicht als Einzelaussagen ins Spiel gebracht werden können, sondern nur in dem komplexen Geld gesamter Theorien. 3. Davidson: Sprache, Wahrheit, Geist Donald Davidsons (1917–2003) vergleichsweise spät einsetzende, rege Publikationstätigkeit knüpft an seinen Lehrer Quine an: in einer Reihe von Aufsätzen und Abhandlungen entwickelt er ein systematisches Gesamtkonzept, das mit großer Konsistenzvor allem zwei Fragen bearbeitet: (1) Was bedeutet Verstehen, vor allem das Verstehen der Handlungsweise anderer Menschen? (2) Zum anderen: Welches Bild der Welt können wir gewinnen? Akte des Glaubens, Handlungen, Meinungen, Gedanken oder Gefühle führen nicht auf verschiedene wie Inseln zueinander gelagerte Verstehensebenen. Sie bilden Aspekte des einen komplexen explanatorischen Prozesses, der Verhaltensweisen mentaler Subjekte in eine kausale Erklärung zu bringen versucht.1049 Dieser Kausalitätsansatz wird verständlich, wenn man sich klar macht, dass Davidsons Ansatzpunkt in der Handlungstheorie liegt. Handlungen versteht er dabei als faktische Ereignisse, die auf Gründe zurückzuführen sind. Solche Gründe sind wiederum in intentionale Einstellungen eingebettet: Meinungen, Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen. Der Handlungscharakter setzt freilich voraus, dass die intentional begleitenden Gründe ursächlich dafür sind, dass eine Handlung geschieht. Davidson löst sich darin konsequent von Wittgenstein,, dass er von den Handlungserklärungen gerade fordert, Einblick in die psychischen Strukturen der Akteure zu geben. Die intentionale Prägung des Handelnden soll im Rückgang auf die Rationalität in seinen Handlungen ermittelt werden, wofür Davidson auf die praktischen Syllogismen des Aristoteles ebenso zurückgreift wie auf rational choice theories. Intentionalitäten kausieren Handlungen, sie sind daher selbst nicht empirisch verifizierbar und sprengen damit das auf Carnap oder Frege zurückgehende Modell. Davidsons Leistung gegenüber dem Physikalismus besteht darin, dass er Handlungs- und Intentionalitätstheorie auf das Sprachverstehen bezieht. Da-

1049 Dazu K. Glüer, Donald Davidson zur Einfürung, Hamburg 1993 und Gerhard Preyer ed. Donald Davidson on Truth, Meaning, and the Mental. Oxford University Press, Oxford GB 2012.

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VIII. Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

mit ist das physikalistische Raster durchbrochen, das in anderen Formationen der ‚Theorie des Geistes‘, wie bei D. Dennett dominierend bleibt.1050 Der Anspruch an Sprachverstehen reicht über die gängige Skalierung der Sprechakttheorie deutlich hinaus. Einerseits bewegt sich Davidson damit in dem Paradoxon, dass endliche Wesen, wenn sie denn kompetente Sprecher einer Sprache sind, über eine unendliche Pluralität möglicher Sätze verfügen. Eine Theorie des Verstehens müsste mithin zeigen können, worin die Lernbarkeit von Sprache besteht. Zum anderen eröffnet sich nach Davidson die Möglichkeit „radikaler Interpretation“, womit die ethnographischen Denkmodelle von Quine aufgenommen und weitergeführt werden.1051 Ein Sprachforscher, der einen Menschen beobachtet, der eine gänzlich fremde Sprache spricht, von der er selbst weder Vokabular noch Syntax noch Grammatik kennt, wäre in einer langen zeitlichen Dauerin der Lage, aus den Verhaltensweisen dieser Person auf die Sprachstrukturen zu schließen. Die Möglichkeitsbedingungen der „radikalen Interpretation“ werden durch die Fregesche Einsicht formuliert, dass im Kern der Sprache (eben die assertorischen, von Variablen und Indexikalisierungen freien) Satzbedeutung und Wahrheitsbedingung identisch sind. Hier grenzt das Sachfeld der Wahrheitstheorie an die Sprachtheorie. Was Wahrheit ist, ist nur im Verhältnis des Sprechers, der mit seiner Sprache ein Bedeutungsunendliches berührt, zu dem fiktiven Interpreten überhaupt zu decodieren. Auch hier greift Davidson auf einen Gewährsmann zurück: Alfred Tarskis Wahrheitstheorie, der zufolge aus einer überschaubaren Menge von Axiomen Wahrheitsbedingungen für ein Satzunendliches gesprochener Sprache hervorgehen.1052 Davidson kann durch diese Voraussetzungen einem radikalen Skeptizismus auf eigene Weise den Rechtsgrund entziehen. Ebenso wäre einem erkenntnistheoretischen Relativismus das Wasser abgegraben, und nicht zuletzt eröffnet der verstehende Zugang zu der Sprecherperspektive auch einen sprachlich vermittelten Zugang zur psychischen Innenperspektive. Dies bedeutet, dass wesentliche Momente der egologischen Innensicht gegenüber den Einwänden

1050 D. Dennett, Einsicht ins Ich. Fantasien und Reflexionen über Selbst und Seele, Stuttgart 5 2001. 1051 D. Davidson, Wahrheit und Interpretation, a.a.O., S. 234 ff. 1052 A. Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, in: Studia Philosophica [Lemberg] 1 (1936), S. 261–405 (Vorabdruck datiert 1935). Der Artikel ist eine deutsche Übersetzung der erstmals 1933 gedruckten polnischen Arbeit, die aber schon 1931 der gelehrten Öffentlichkeit präsentiert wurde. Nachdruck in Karel Berka, Lothar Kreiser (Hrsg.): Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik. Akademie-Verlag, Berlin 1983, S. 445–546, in englischer Sprache in Tarski: Logic, Semantics and Metamathematics – papers from 1923 to 1938 by Alfred Tarski. Oxford 1956, 1983.

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3. Davidson: Sprache, Wahrheit, Geist

restituiert werden sollen, die ihnen von Wittgenstein und seinen Nachfolgern entgegengebracht wurden. Reflexiv hermeneutisch ist Davidsons philosophischer Forschungsansatz, insofern er Verstehen immer an Verständigungsprozesse bindet. Gadamers Grundaxiom, wonach Sein, das Verstanden werden kann, Sprache ist, würde Davidson nicht widersprechen.1053 Ganz im Gegenteil, darin sieht er die „Method of Truth in Metaphysics“, die er zugleich in ein arbeitsteiliges Forschungsprogramm implementiert. Während die Philosophie mit der Wahrheitsaxiomatik befasst ist, arbeitet die Sprachwissenschaft an einer Inkorporation der unendlichen Anzahl der Sätze in dieses Gesamtgefüge. Hermeneutikaffin ist schließlich auch Davidson Charity-Prinzip, wonach Äußerungen mit dem „Vorgriff auf Vollkommenheit“ zu interpretieren sind. Irritierend ist zunächst der Kausalitätsanspruch, die Konzeption einer Verursachungskraft von Handlungen. Davidson wendet sich zum Zweck weiterer Klärungen der Leib-Seele-Problematik zu, die er in dem Sinn bearbeitet, dass Intentionalitäten und innere Einstellungen physikalisch beschreibbar sind. Mithin gehen sie zwar nicht darin auf, in eine physikalische Entität inkorporiert zu sein, sie sind darin aber dokumentiert. Als Caveat bleibt im Hintergrund die Problematik einer solchen Inkorporation bzw. Inkorporierbarkeit selbst bestehen. Sie kann dazu führen, dass Davidsons Projekt nicht vollständig einzulösen ist. Der Logische Positivismus formulierte bekanntlich die Grundmaxime, dass „richtig“ eine Aussage sei, wenn sie sich in einen Satzzusammenhang eingliedern lasse: „Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt“. Bereits Otto Neurath wies indes auf die Schwierigkeiten hin, die sich mit dem Scheitern axiomatischer Programme verbinden. Der Vollständigkeitsanspruch eines solchen Kohärentismus, Umfassendheit (comprehensiveness); Konsistenz, Zusammenhang und Einheit einer Konzeption (cohesiveness, unity) zu erreichen, lasse sich grundsätzlich nicht einlösen. Denn Aussagensysteme verweisen auf ein Außen, eine Transzendenz ihrer selbst, die sich gerade nicht innerhalb des Systems beweisen lasse.1054 Genau um diese Erwägungen kreist der späte Davidson, wenn er anmerkt, dass „mere coherence“ ungenügend sei. Wirklichkeit nämlich gebe es auch unabhängig von Aussagesätzen. Ist es nicht doch so, wie Wilfrid Sellars schon früher anmerkte,1055 dass man sich im Kohärentismus nur in einem „logical space of reasons“ bewege, der gültige Aussagen über einen „space of nature“ gar nicht erlaube.

1053 Vgl. R. Kamnitz, Alfred Tarski: Die semantische Konzeption der Wahrheit., in: J.Speck (Hrsg.), Philosophie der Neuzeit. VI. Tarski, Reichenbach, Kraft, Gödel, Neurath. − Göttingen, 1992, S. 9 ff. 1054 O. Neurath, Protokollsätze, in: Erkenntnis 3(1932/33), S. 204 ff. 1055 Vgl. dazu Seubert, Was Philosophie ist und sein kann, a.a.O., S. 72 ff.

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Im Laufe der Zeit verlor das Problem des Zugangs zur Außenwelt für Davidson an Relevanz. Ein „system of belief“, ein bestimmtes Begriffsschema, bildet gleichsam den Horoizont, in dem gleichermaßen das Erkennen als auch die Erkenntnisgegenstände und das Sein des Subjektes thematisiert zur Sprache kommen können. Richard Rorty erkannte früh und durchaus zuspitzend die Pointe: Sie besagt, dass Davidson auch über den Gegensatz von Realismus und Antirealismus hinauskomme. 4. Hilary Putnam: interner Realismus Ähnliche Problemlagen beschäftigen auch Hilary Putnam (1926–2016), der seine Position zunächst als „metaphysischen Realismus“ bestimmte. Ein präzisiertes wissenschaftliches Bild von der Welt kann die Wirklichkeit und die Passung des Menschen in diese Wirklichkeit annäherungsweise umfassend bestimmen. Das Extremum wäre die von Thomas Nagel später so bezeichnete Grenzmarke der „God’s eye view“. Bereits 1975 wandte sich Putnam in seinem Schlüsselaufsatz ‚The Meaning of ‚Meaning‘allerdings von diesem Anspruch ab.1056 Die Modellbildungen nämlich sind in jedem Fall auf ein ihnen Äußerliches bezogen, nämlich einerseits die soziale Welt, andererseits die natürliche Umwelt. Deshalb verschiebt sich der metaphysische in einen „semantisch kausalen Realismus“: Konkrete Dinge und Wirklichkeitszusammenhänge prägen den sprachlichen Umgang und bestimmen, selbst in einer fiktionalen anderen Welt, worauf die Ausdrücke sich beziehen. Daraus formte Putnam seit den achtziger Jahren sein leitendes Konzept eines „internen Realismus“, wonach Bestimmungen der Wahrheitsfrage nur innerhalb eines solchen Begriffsschemas getroffen werden können.1057 Putnam lässt dabei in einer gewissen Unbestimmtheit, wie weit diese Prägung geht. Er spricht von Nicht-Unabhängigkeit, was von einer interpretativen Imprägnierung bis zur vollständigen Konstituiertheit reichen kann. „Objects do not exist intependently of conceptual schemes“.1058 Was wir ‚reale Welt’ nennen, beruht also immer auch auf „unseren“ jeweiligen Werten – und ebenso vice versa. Der interne Realismus ist eine subtile Repristination der Kantischen Grunddifferenz von dem Ding an sich und dessen Erscheinung. Putnam nahm von der neu gewonnenen Position aus kritisch Stellung zu dem metaphysischen Realismus, der freilich innerhalb der analytischen 1056 Erstveröffentlichung Putnam, The Meaning of ‚Meaning‘, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science 7 (1975), S. 131 ff. 1057 Vgl. H. Putnam, The Many Faces of Realism, La Salle 1987, ders., Repräsentation und Realität, Frankfurt/ Main 1991. 1058 Putnam, Das modelltheoretische Argument und die Suche nach dem Realismus, in: M.Willaschek (Hg.), Reaalismus, Paderborn 2000, S. 125 ff.

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4. Hilary Putnam: interner Realismus

Religionsphilosophie und analytischen Theologie (Swinburne, Plantinga) eine gewichtige Rolle spielt. Putnam kritisiert eine naiv realistische Ontologie, derzufolge die Welt aus einer Gesamtheit „geistunabängiger Gegenstände“ bestehe und es eine einzige wahrheitsfinite Beschreibung dieser Gegenstände gebe.1059 Er wendet demgegenüber in einem begriffsrelativen Sinn ein, dass die Beschreibung der Wirklichkeit auf sie erschließende Begriffe angewiesen sei. Wirklichkeitserfassung ist also immer begriffsrelational. Hinzu kommt ein modelltheoretisches Argument, das die zeichentheoretische Annahme einer Entsprechung von Zeichen und Realität konterkariert, die dem metaphysischen Realismus zugrunde liege. Dieselbe Wirklichkeit kann aspektiv in komplementären Zeichensystemen dargestellt werden, so wie es im quantenmechanischen Standardmodell der Beschreibbarkeit von Licht als Welle oder als Teilchen der Fall ist. Ohne Modellbildung ist Wirklichkeit als ‚Factum brutum‘ gar nicht zu erfassen. In der Folge Putnams heißt es lakonisch: „there are simply too many ways in which our mental symbols can be mapped onto items in the world“.1060 Dies hat für den Wahrheitsbegriff weitreichende Folgen: Einer nicht-epistemologisch bestimmten Wahrheitskonzeption erteilt Putnam damit die Absage. Es ist keine Sprache der Dinge vorauszusetzen, die sich den Phänomenen ablesen ließe und daher auch nicht eine jenseits von Begriffssystemen entscheidbare Beschreibung der Wirklichkeit. Putnams berühmtes Argument der Gehirne im Tank fungierte ursprünglich als Argument gegen den metaphysischen Realismus. Es wurde freilich auch als Einwand gegen einen radikalen Skeptizismus rezipiert. Der entscheidende Punkt ist, dass die Vorstellung, wir seien Gehirne im Tank, sich selbst widerlegen muss. Verbunden wird sie mit der Vorstellung, im Schlaf würde ein böser Neurowissenschaftler, vielleicht ein von transhumaner Unsterblichkeit Träumender, Ihnen das Gehirn herausoperieren und in eine Nährlösung in einem Supercomputer verlegen. Wenn Sie erwachen, haben Sie von all dem nichts mitbekommen, weil die Simulation perfekt funktioniert.1061 Selbstwiderlegend sei das Szenarium, weil schon die Rede von Gehirnen auf der biophysisch real gegebenen Existenz des Gehirns in der nicht-simulierten Welt beruht. Wären wir Gehirne im Tank, könnten wir nicht denken, Gehirne im Tank zu sein.

1059 Putnam, Von einem realistischen Standpunkt., a.a.O., S. 156. 1060 D. Khlentzos, Challenges to Metaphysical Realism, in: E. Zalta (Hg.), The Stanford Encylopedia of Philosophy, Winter 2016, https://plato.standord.edu/archives. 1061 Putnam, Vernunft, Wahrheit, Geschichte, a.a.O., S. 23 ff. und S. 30 ff. Zur Auseinandersetzung mit dem Argument S. Wendel, M. Breul, Vernünftig glauben – begründet hoffen. Praktische Metaphysik als Denkform rationale Theologie, Freiburg/ Br.2020, S. 180 ff.

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Gegen den metaphysischen Realismus kann diese Argumentation nur deshalb eingesetzt werden, weil sie eine ‚God’s Eye view‘ voraussetzt, die Kenntnis von Paralleluniversen nahelegt, unter denen es eines gibt, in dem die Existenz von „Gehirnen im Tank“ möglich ist. Der metaphysische Realist täuscht sich über diese Möglichkeit. Tatsächlich aber hat er keinerlei Aussicht, die Lücke zwischen dem fiktionalen Weltentwurf und der Wirklichkeit zu schließen. Dies bedeutet wiederum, dass seine metaphysischen Prämissen nicht überzeugen und einen radikalen Skeptizismus nicht ausschließen können. Der interne Realismus zeigt demgegenüber, dass ontologische Fragen nur im Rahmen einer theoretischen Beschreibung überhaupt sinnvoll sind. Wahrheit verschiebt sich damit auf „ideale, rationale Akzeptierbarkeit“.1062 Sie ist gerade „nicht Übereinstimmung mit geistesunabhängigen oder redeunabhängigen Sachverhalten“.1063 Einen begriffs- und theorieunabhängigen Zugang zu der Wirklichkeit selbst kann es nicht geben. Möglich ist daher nur eine Objektivität für uns, die nicht die Objektivität an und für sich ist. 5. Nelson Goodman (1906−1998): Die dynamische Erzeugung der Welt Die Position Putnams wurde in dem Antirealismus von Nelson Goodman auf die Frage der Welterzeugung radikalisiert. Goodman gelangt damit zu der Auffassung, dass sich ein bewusstseinsunabhängiger Stoff nicht fassen lasse, so dass das Denken nicht nur Konventionen, sondern auch Welten hervorbringt. Außerhalb der evokativen Benennung und ihrer Konventionalisierung hat etwa das Sternbild des Großen Bären keine Bedeutung. Daher werden nicht nur Denkregeln und Kategorien, vielmehr wird eine jeweilige Welt erzeugt.1064 Goodman nähert sich hier dem Gedanken einer poietischen und kreativen Produktivmacht des Geistes, die über jeden Grenzbegriff eines kantischen ‚Ding an sich‘ hinausgreift, auf die Annahme eines bewussten Subjektes, das Welt zuallererst generiert. Einerseits schließt Goodman auf diese Weise an eine die Fichtesche Urgenealogie des Seienden aus den Extrapolationen des Bewusstseins innerhalb der nachkantischen Denkform an.1065 Andererseits berühren sich seine Überlegungen mit dem produktionsästhetischen Akt der Herstellung von Einzeldingen (Individuals), etwa von Werken. Dieser Aspekt wiederum evoziert bei dem Kunstkenner und -sammler Goodman Überlegungen, die aus Kunstphilosophie,Ästhetik und Symboltheorie schöpfen. Die derart konstituierten Formen der Welterzeugung sind Einzeldinge. Sie konsti-

1062 1063 1064 1065

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Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997. Putnam, Vernunft, Wahrheit, Geschichte, a.a.O., S. 78. N. Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/Main 1984. Goodman, Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt/Main 1987, S. 45 ff.

6. Stanley Cavell (1926−2018): Skepsis und Tragödie

tuieren sich aus der ‚Haecceitas‘, der Kontingenz des Hier und Jetzt.1066 Zueinander verhalten sie sich als Atome, deren Inhalt und deren Form getrennt sind und die einander nicht gleichen. 6. Stanley Cavell (1926−2018): Skepsis und Tragödie Stanley Cavell ist vermutlich der rhapsodischste und mit Sicherheit auch der welthaltigste der bedeutenden Philosophen in der analytisch-Wittgensteinianischen Tradition. Bei ihm ist das Spektrum der Ästhetik besonders wirksam.1067 Obwohl er seine eigenen subtilen philosophischen Untersuchungen am Leitfaden Wittgensteins und in genauer analytischer Schulung orientiert, kommt eminenten literarischen Texten, vor allem Shakespeare, eine ungewöhnliche Bedeutung zu. Intensiv reflektierte Cavell auf die Bedeutung der Schrift in Differenz von der Mündlichkeit und damit auch auf die Nichtfestlegbarkeit von Wortbedeutungen. Dies bringt seine Arbeiten in eine gewisse sachliche Nähe zur „kontinentalen Philosophie“, etwa zu Gadamer und Derrida. Aus Sprachanklängen wie mourning, leiser Verzweiflung, und morning, Erwartung des Morgens, gewinnt Cavell einen inneren Spannungsbogen. Es sind gerade die Grenzen der sprachlichen Referenz, denen sein bevorzugtes Augenmerk gilt. In einer Vorlesungsreihe an der Hebrew University im November 1992 hat Cavell die autobiographischen Gründe seines philosophischen Ansatzes sichtbar gemacht.1068 Er zeigte dabei eindrucksvoll, dass er als Sohn ostjüdischer Einwanderer, als „Second Generation American“ imEinwanderungsland grundsätzlich ortlos war. Er war „unsettled“; deshalb sah er seine eigene philosophische Entwicklung auch nach Jahrzehnten noch im Gespräch zwischen verschiedenen Stimmen. Zugleich stellt er die ‚arrogation’, die Anmaßung einer Stimme, die gleichsam ex cathedra spricht, in Frage. Wittgensteins Aussage am Ende der Begründungsketten: „So handle ich eben“ (PhU, § 217), gemeinhin zitiert als Ermäßigung der Begründungsansprüche und deren pragmatische Kontextierung, ist für Cavell gerade nicht ausreichend. An ihr entzündet sich erst die Nachfrage. Ineinander zu übersetzen sind Philosophie

1066 Vgl. auch Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main 1995, S. 34 ff. 1067 Unter den neueren Beiträgen zur analytischen Philosophie aktzentuiere ich Cavell besonders stark, auch wenn er oftmals im Mainstream analytischer Philosophie wegen der larinthischen Verwinkeltheit oftmals eher beargwöhnt wird. Gerade seine Nähe zur Philosophie der Kunst und der tragischen Erfahrung macht ihn so interessant. 1068 Cavell, A Pitch of Philosophy. Autobiographical Exercises. Cambridge Mass. 1994. Eine deutsche Übersetzung: Die andere Stimme. Philosophie und Autobiographie. Berlin 2002.

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und Autobiographie für Cavell im Sinne der Konkretisierung dieser Frage als Suche nach einem ‚absoluten Gehör’, nach der Stimmigkeit der immer nur begrenzten Gegenwart (limited presence), die der einzelne im Gespräch mit anderen einnimmt. Anlass für diese Problemsicht mag für Cavell die naturalisierende Veränderung seines Familiennamens von Kavalieruski zu Cavell sein. Die ersten beiden Silben seien, so meinte Cavell später, in adäquater Weise zurückhaltender. Ähnlich wie für Pierre Bourdieu,1069 wenn auch vor einem ganz anderen methodischen Untersuchungstableau, sind es gerade die „feinen Unterschiede“ in ihrem Intimitätscharakter, denen Cavell seine Achtsamkeit widmet. Schon in seiner Dissertation verteidigte er gegenüber seinem Lehrer John Austin den Skeptizismus, weil er davon ausging, dass die ordinary language-Theorie als ‚Flucht vor der Metaphysik auf die Straße’ keine angemessene Erklärung dafür habe, wie die Wörter im unspezifischen Sprachgebrauch bedeutungslos und nichtig werden. Jean Paul begriff die Sprache einmal in ähnlicher Weise als Wörterbuch vergilbter Metaphern. Die Eindeutigkeit der ‚ordinary language’ kann sich jedenfalls als Täuschung erweisen. Darauf zu achten ist, wie Cavell offen angemerkt hat, die charakteristische, neuralgische Erfahrung des Immigranten. Mit dieser Überlegung verbindet sich der Gedanke, dass Worte Pfänder und Bürgschaften (bonds) sind, aber kein Sprecher stabil über die Sprache verfügt, nicht einmal über seine eigene. Nie ist die Sprache invariant, sondern immer unvoraussagbar (unpredictable). Deshalb lässt sie sich tendenziell in unendliche Kontexte hinein verschieben. Die Stimme ist aber das Pfand auf Verläßlichkeit, dass wir meinen, was wir sagen. Von Austin her näherte sich Cavell Wittgenstein, dessen Texte seither wie ein Cantus firmus seine eigenen Untersuchungen durchzogen. Wichtig wird Wittgenstein, weil bei ihm Sprache auf Welt hin geordnet ist; die Welt verlangt nach Worten, weil sie sich anders nicht erschließt. Cavell fokussiert sich dabei, im Unterschied zum Mainstream analytischer Philosophie, nicht an der Referenzialität der Sprache, sondern an der Unentschiedenheit des Wortes, bei dem stets in Frage steht, ob es eine gemeinsame Welt erfahren lässt oder nicht. 1. Claims of Reason Das Chef doeuvre ‚Claim of Reason’ ging in langen Umarbeitungen aus Cavells Dissertation hervor, die um die Wittgenstein-Rezeption erweitert wurde. Das amerikanische Original erschien erst 1979, die deutsche Ausgabe hingegen

1069 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1982, S. 345 ff.

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mit noch einmal fast dreißigjähriger Verzögerung 2006.1070 Die Grundlinien des Ansatzes zeigen sich allerdings bereits in einen Aufsatz aus dem Jahr 1957 ‚Must We Mean What We Say’, dessen Kernthese lautet, dass wir mit allem, was wir sagen, auch etwas meinen müssen. Dies hat zugleich die moralphilosophische Implikation, dass wir Rede und Antwort stehen müssen – und zwar nicht nur für die faktischen Aussagen, sondern auch für deren Implikationen. Nicht Logik und nicht Konvention, sondern erst die Situation legt die Bedeutung der Aussagen fest. Über die impliziten Bedeutungen und ihrer Wirkung können sich die Sprechenden nie vollständig klar sein. Zugleich intendieren sie aber, in einer unscharfen Intention, ihr Sprechen. Cavell springt also grundsätzlich der Ordinary language Philosophy mit der Behauptung zur Seite, dass es um eine Rückführung der Sprache ins Gewöhnliche geht. Doch dieses Gewöhnliche in der Sprache der Phänomenologie die Lebenswelt wird ihm selbst zum sprachlichen Problem, aufgrund der metaphorisch metonymischen Verschiebungen der Sprache. Worte sind immer unterwegs (as way), sie schwänzen ihre Arbeit. Und er wird erläuternd hinzufügen, sie seien im Exil.1071 Später wird er betonen, dass wir stets unter dem Regime des „versehrten Gewöhnlichen“ stehen. Der Titel der Dissertation ‚The Claim of reason’ ist doppeldeutig, worin sich ein formaler Grundzug der Philosophie von Cavell zeigt:, bedeutet er doch einerseits ‚Anspruch’ und andererseits ‚Behauptung’ der Vernunft. In der Sache geht es Cav ellum die – immer implizit bleibenden – Regeln und Kriterien für die Benutzung der gewöhnlichen Sprache. Für sie lassen sich keine ein-eindeutigen Kriterien angeben. Sie müssen vielmehr immer wieder revidiert, die Erwartungen enttäuscht werden. Dies führt, wie Cavell mit dem späten Wittgenstein festhält, zu der abgründigen Frage einer prinzipiellen Nicht-Wissbarkeit der sprachlichen Bedeutungen. Auch wenn man auf Kriterien des Wissens rekurriert, wird man den Skeptizismus nicht zurückweisen können. Der Skeptiker verweigert nämlich die Übernahme der ihm angetragene Kriterien. Auf diese fehlschlagende Akzeptanz müssen die Kriterien ihrerseits offengehalten werden. Hier zeigt sich ein massives kategoriales Problem: Solche Kriterien können keine Existentialsätze stützen. Wittgenstein fragt: „Was gilt als Kriterium dafür, daß sich jemand in diesem Zustand befindet?“ (PhU § 572). Dies ist eine der Stellen, die Cavell dazu bringen, in der Mitte der Wittgensteinschen Philosophie die Unwiderleglichkeit des Skeptizismus 1070 Originalausgaben: The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy. Oxford 1979, New Edition 1999. Deutsche Übers. von Chr. Goldmann: Stanley Cavell, Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie. Frankfurt/Main 2006. Darin auch das Vorwort von S. Neiman, S. 11 ff. 1071 Cavell, Must We Mean What We Say?, in: Must We Mean What We Say? A Book of Essays. Cambridge, Ma. 1969, S. 1–43, vor allem S. 34.

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ausgesprochen zu finden. Wittgensteins Orientierung von sprachlicher Bedeutung auf Lebensformen ist für Cavell eine Brücke, die das eigentliche Problem des Hiatus zwischen Bewusstsein und Welt zu schließen versucht, die aber zugleich diesen Bruch sichtbar macht. Im zweiten Teil des Buches hat Cavell dann einen besonders prekären Eintrittspunkt des Skeptizimus behandelt, nämlich die Frage, wie ausgehend von der Bezweifelbarkeit eines Falles alle möglichen Fälle bezweifelbar werden können. Man gehe von einem situativen Idealfall von Wissen aus, von der Voraussetzung: ‚Wenn ich etwas weiß, dann dies’. Stellt sich nun aber heraus, dass ich eben dies, was ich mit Sicherheit zu wissen meine, gleichsam meinen archimedischen Punkt der Weltorientierung, gerade nicht mit Sicherheit weiß, so droht alles Wissen in den Strudel des Skeptizismus zu geraten. Der radikale Skeptizismus erweist sich in seiner letzten Fluchtlinie als tragisch. Er manifestiert sich als ein Welt zerstörender Verdacht und man wird – die autobiographische Erfahrung Cavells im Hintergrund – nicht fehlgehen, wenn man darin den Nachhall des Weltverlustes in den Streitereien seiner Eltern gewahrt, an die er sich noch aus jahrzehntelangem Abstand erinnert. Wittgensteins Programm und seine Leistungen liest Cavell daher nicht in erster Linie als Entzauberung der Metaphysik durch den Rückgriff auf die Alltagssprache, sondern als Versuch, die Übereinstimmung mit der Welt gegenüber dem abgründigen Zweifel wiederzugewinnen. Doch dieser Versuch kann niemals und schon gar nicht mit situationsinvarianter Gewissheit gelingen. In diesem Sinn sind etwa Wittgenstein-Sätze, wie: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen“ (PhU, § 371) als versuchte Wiederverortung im Gewöhnlichen zu verstehen; ein Punkt, dem Cavell sich auch im Zusammenhang der moralphilosophischen Frage des Neuversprechens nach dem Bruch eines gegebenen Bündnisse – und damit dem Schlüsselproblem der ‚remarriage’, der Wiederverheiratung nach einem Liebes- und Treueverrat – widmen wird. Die erkenntniskritische Crux besteht dabei in der unwiderlegten und unwiderlegbaren These des Skeptizismus, dass es keine Letztfundierung unseres Wissens geben kann. Cavell kommt auf diese Weise nach seiner eigenen Einschätzung bei der kantischen Problemstellung an, wonach „die menschliche Vernunft […] das besondere Schicksal [habe], daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der Vernunft“ (KrV A VII). Damit stößt das Nachdenken auf die Nichtzugänglichkeit des Fremdpsychischen, das Fehlen des Wissens vom Anderen. In der Wahrnehmung des Schmerzes des anderen, einem auch von Wittgenstein exemplarisch gewählten Beispiel, werde ich mir nur seiner ‚separateness’ von mir bewußt. Cavell gelangt aber an dieser Stelle zu einer These, die sich in so unterschiedlichen Philosophien des Kommunikativen wie bei Habermas und Lévinas strukturell ähnlich manifestiert, nämlich, dass

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die Getrenntheit Index einer hochgradigen Abhängigkeit ist, so, dass ich mich auf die Aussage des Anderen in vielen Fällen schlicht verlassen muss, ohne doch je eine nachprüfbare Gewißheit zu haben. Gerade diese Fragilität von Intersubjektivitätsverhältnissen provoziert Anerkenntnisverhältnisse. Eine solche vorausgreifende Anerkenntnis ist unerlässlich, wenn die Kommunikation überhaupt weitergeführt werden soll. Dem könnte man nur in einem ethischen Solipsismus entgehen, der den Anderen vermeidet, und dies heißt, tendenziell verneint. Diese labyrinthische Dimension zeigt Wittgenstein in der Formulierung an: „Ein philosophisches Problem at die Form: ‚Ich kenne mich nicht aus’“ (PhU; § 123). Die Separatheit hat jedoch, so formulierte es gleichfalls Wittgenstein, das Ansehen, auf ein Glatteis zu geraten sein, auf dem die Reibung fehle (PhU § 107). Die Identifizierung des unwiderleglichen Skeptizismus im eigenen Sprechen und in der Intersubjektivität hat, so zeigt Cavell, zur Kehrseite, dass die Fragebewegungen der Metaphysik nicht, wie der Logische Positivismus und eine Sprachanalyse szientifischen Zuschnitts meint, sinn- und gegenstandslos sind. Die Flucht aus dem Gewöhnlichen – und sei es in Luftgebilde – wird gerade aufgrund des skeptizistischen Stachels verständlich. Ist doch auch dieses Gewöhnliche nicht selbstevident. In diesem Sinne dürfte Cavell die Wittgensteinsche Spätphilosophie als Befreiung begriffen haben. Sie beschreibt in seiner Lesart in immer neuen Anläufen ein Wiederfinden unserer selbst, wenn wir uns im Labyrinth der Welt verlaufen zu haben scheinen. Cavell liest also Wittgenstein gleichsam von den Rändern her. Sich orientierendes Denken wird Ethik insofern, als der Überschuss über die Welt im Sinn der Summe der Tatsachen und als Inbegriff dessen, was der Fall ist, hinausführt. Auf dieser Spur begreift Cavell auch sein eigenes Philosophieren im Sinne der Empfänglichkeit (responsiveness) und der Annahme einer Erbschaft. „Es gilt, dasjenige in Worte zu fassen, was immer mich bewegt; es gilt, Widerstand zu leisten gegen die Versicherung, der Welt verloren zu gehen, was bedeuten würde, dass ich meine Befähigung, die Gerechtigkeit meiner Welt zu beurteilen, abgebe“.1072 2. Gründungsakte Seine hohe Empfänglichkeit für die Gründungsväter der amerikanischen Kultur hat Cavell selbst in seinen autobiographischen Texten als Resonanz des Immigranten auf sein Einwanderungsland gedeutet, dem das Selbstverständliche

1072 Cavell, The Wittgensteinian Event, in: ders., Philosophy the Day after Tomorrow. Cambridge. Ma. 2005, S. 192−212, hier S. 212. Übers. nach E. Bronfen. Vgl auch die anderen Essays dieses Bandes.

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eben nie selbstverständlich ist. Amerika, die entdeckte und besiedelte Neue Welt, so sein Ausgangspunkt, war zunächst kein Ort, sondern der Hintergrund eines Schicksals. Hier beginnt ein gesellschaftskritischer Gedankenzug, den Cavell freilich nicht explizit im Blick auf die imperiale Rolle Amerikas und die Pathologien der Bush-Ära nach 2000, sondern vor dem Hintergrund von Thoreaus ‚Walden’ und Emersons Aphorismen in indirekter Lesart thematisiert. Amerika ist keine Nation im alteuropäischen Sinn, sondern ein Versprechen, das nur als Demokratie zu erreichen ist, so die zentrale These. Doch eben diese Realisierung steht im letzten aus. Die weitere Frage, die Cavell stets bewegt hat und die damit in engem Zusammenhang steht, ist: „Warum hat Amerika sich nie philosophisch ausgedrückt? Oder hat es dies doch – in dem metaphysischen Aufruhr seiner größten Literatur?“.1073 Wenn man so fragt, so hat man sich jedenfalls weit von dem von Richard Rorty einmal dekretierten Vorrang der Demokratie vor der Philosophie entfernt. Eher schon ergibt sich eine Annäherung an Derridas Aussage, dass Demokratie immer „en avenir“, ein in die Zukunft gerichtetes Versprechen sei. Cavell versteht Thoreaus Rückzug aus der amerikanischen Bürgergesellschaft in die Wildnis als Aufruhr (riot), der ein „reenactment“, und eine „rediscovery“ der Landnahme vornehme, weil die demokratische Gründung unbefriedigend geblieben sei, nicht zuletzt aufgrund der Deformation der Demokratie, die schon ihr erster, europäischer, Analytiker Alexis de Tocqueville als den Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit und als die stillschweigende Akzeptanz der sanften Tyrannei der common opinion bestimmte. Thoreau begleitet seinen revidierenden Neugründungsakt durch die exemplarische Niederschrift von ‚Walden‘, des Dokuments einer Wiederverortung, rhetorisch gleichermaßen als prophetische Schrift und als Verfassung angelegt, in der die Überzeugung der Verbindlichkeit des Bürgerbündnisses gleichsam performativ erzeugt werden soll. Die Richtigkeit (justness) seiner Schrift betont Thoreau so nachdrücklich, weil er auf eine Neugründung im bewußten, freien Leben (to live deliberately) zielt, die sich aus dem Verhaftetsein in einem blinden Fatum löst – und sei es das Fatum, in eine deformierte Demokratie geboren zu sein. Aus dieser Quelle könne dann erst ein Versprechen für Morgen und Übermorgen hervorgehen. Das latent kritische Potential, das Cavell Thoreau entnimmt, schließt damit politisch philosophisch an den für sein Denken neuralgischen Punkt der Unwiderleglichkeit des Skeptizismus an. Ralph Waldo Emerson, der bekanntlich auch für Nietzsche einer der wichtigsten Gewährsmänner war, wird für Cavell zu einem Autor, mit dem er seiner eigenen Fragestellung näherzukommen vermag wie nirgends sonst. Emerson fragt nicht nach den fernen Zielen, sondern nach dem Nahen (near): 1073 Cavell, The Senses of Walden. Chicago 21981, S. 3.

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„Ich frage nicht nach dem Erhabenen, dem Fernen, dem Romantischen […] Ich begrüße das Gewöhnliche, will das Alltägliche und Niedere erkunden und zu seinen Füßen sitzen“.1074 Doch Emerson exemplifiziert zugleich die wiederkehrende Beunruhigung durch den Skeptizismus. So wenn er als Moralist darauf verweist, dass der Mensch stets meint sich entschuldigen zu müssen: „Er steht nicht mehr aufrecht da; er wagt nicht zu sagen: ‚Ich denke’, ‚ich bin’, sondern zitiert irgendeinen Heiligen oder Weisen“1075. Der methodische Zweifel radikalisiert sich hier gleichsam auf die eigene Lebensform und ihre Begründungspflicht hin. Ich existiere nur, indem ich auch sage: Ich existiere, und mich nicht auf den Konformismus des Zitates zurückziehe, dessen Grundstruktur exemplarisch für das amerikanische Konfomitätsproblem ist. Emerson zielt auf einen „moral perfectionism“, ein Reden aus Notwendigkeit und eine Beurteilbarkeit der Verfassung der Welt von dem universal gültigen moralischen Gesichtspunkt der Selbstbeglaubigung aus. Cavell sieht darin mit Recht die Intention zu einer Verbesserung (amending) und Revision der amerikanischen Verfassung. Das Konzept einer seiner selbst bewußten und freien Umzeichnung des Schicksals bedeutet zugleich eine Konversion von der Konformität in ein Selbstvertrauen, das seinem eigenen Versprechen trauen kann. Ganz offensichtlich wäre dies auch im Sinne von Nietzsches ‚Genealogie der Moral’ und der Deutung des Menschen als des Tiers, das versprechen kann, zu rekonstruieren. Dieser Spur ist Cavell leider nicht gefolgt. An Freud und der Psychoanalyse konnte ein solcher Denker nicht vorbeigehen. Seine Bezugnahme ist aber zumindest in eben demselben Maße kritisch wie affirmativ. Sie fokussiert sich zunächst auf einen mikrologischen Textbefund, auf eine Fehlerinnerung im Zusammenhang von Freuds Freilegung des ‚Unheimlichen im Gewöhnlichen’, in der psychoanalytischen Lesart des ‚Sandmann’ von E.T.A. Hoffmann. Die schmale, kaum merkliche Differenz zwischen seiner Fehlerinnerung und dem E.T.A. Hoffmannschen Text ermöglicht es Freud, das Unheimliche auf die Kastrationsangst zurückzubeziehen, also auf den leitenden (viril besetzten) Komplex. Tatsächlich ist es aber, wie Cavell zeigt, am Ende von Hoffmanns Erzählung nicht der Blick auf den die Kastrationsangst auslösenden Optiker Coppelius, sondern auf seine Verlobte Clara, der den tödlichen Sprung des gerade scheinbar genesenen Nathanael verursacht. Damit zeigt sich als eigentlicher Skopus, wie sich das Unheimliche gerade im Gewöhnlichen einnistet. Im Hintergrund steht das Olympia-Motiv im ‚Sandmann’, also die Verwechslung des leblosen Automaten mit der lebendigen mitfühlenden Geliebten. Doch vor dem Hintergrund von Cavells Frage

1074 R. W. Emerson, Der amerikanische Gelehrte, in: Drei Ansprachen. Über Bildung, Religion und Henry David Thoreau. Freiburg/Br. 2007. S. 45, hier zit. nach Bronfen, Cavell zur Einführung, a.a.O., S. 137. 1075 R. W. Emerson, Essays, hg. von H. Kiczka. Zürich 1983, S. 56 f.

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nach der Rückkehr zum Gewöhnlichen zeichnet sich ab, dass gerade dieser unspektakuläre Schritt im Arsenal romantischen Sprechens versagt ist. Die Verhexung der Sprache im Wittgensteinschen Sinne hat nämlich auch die Bedeutung, dass die gewöhnliche Funktion der Sprache nicht erkannt und anerkannt wird.1076 Freud wird für Cavell damit auch zur Referenz dafür, dass es nach einem Wort aus Thoreaus ‚Walden’ kein größeres Wunder geben kann, „als einen Augenblick mit den Augen des anderen zu sehen“.1077 3. Melancholie und Zweifel Singuläre Bedeutung kommt in Cavells Werk den Tragödien Shakespeares zu. Die Gefahr des Leben und Welt zerstörenden umfassenden Skeptizismus hatte er schon früh an Othellos Eifersuchtszweifel und im ‚König Lear’ aufgespürt.1078Erst vor diesem Hintergrund kann der Skeptizismus zum Ausgangspunkt des Tragischen werden. Othello ist für Cavell die idealtypische Figurierung des Cartesischen Zweifels, weil er in einer historischen Welt, in der die Stabilisierung des Gottesbezugs erschöpft ist,1079 Integrität und Sicherheit einzig von der Existenz und der Liebe Desdemonas abhängig macht. Sie ist der archimedische Punkt seines Weltzugangs. Der Mensch setzt sich damit an die Stelle des nicht mehr stabilisierenden Gottes: „Wenn ich dich nicht liebe,/Dann kehrt das Chaos wieder“(Akt 3, 3). Cavell beobachtet von hier aus, aber weit über ‚Othello’ hinausgehend: Die Tragödie ist Vollendung des Skeptizismus, weil sie zu dem Topos wird, an dem die verweigerte Anerkenntnis nicht länger in einem Schutzraum des Konsenses konserviert bleibt, sondern in ihren Folgen sichtbar bis ins Letzte zutage tritt. Auch die späte Shakespeare-Romanze ‚Ein Wintermärchen’ führt die lähmende Welt vernichtende Macht der Eifersucht vor Augen, eines radikalisier-

1076 E. Bronfen betont zu Recht: „Der eigennartige Status Freuds in den Schriften Cavells besteht darin, dass die Psychoanalyse für Cavell einen ständigen Bezugspunkt darstellt, auch wenn dieser unterschwellig bleibt und oft nicht explizit wird“ (Bronfen, Cavell zur Einführung a.a.O., S. 264). Siehe hier ders., In Quest of the Ordinariy. Lines of Skepticism and Romanticism. Chicago 1994. Einschlägig dazu: Freud, Das Unheimliche (1919), in: ders., Gesammelte Werke Band XII. Frankfurt/Main 1947, S. 241 ff. 1077 H. Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich 1971, S. 23. 1078 So in: Can We Mean What We Say?, a.a.O. 1079 Dazu vor dem Epochenhintergrund: W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Benjamin, Gesammelte Schriften. Band I. 1. Hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1974, vor allem S. 279 ff. uznd S. 317 ff. zum theologischen und zeitspezifischen Hintergrund. Siehe ferner: H. Bloom, Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen. Berlin 1998.

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ten Liebeszweifels, der den König Leontes, der sich in ihn verstrickt, paralysiert. Diese Paralyse wird ihrerseits in der Erstarrung der beargwöhnten Königin Hermione zu einer Stein-Skulptur sinnfällig inszeniert. Als die Statue am Ende, nach sechzehn Jahren, zum Leben erwacht, das Verlorene wiedergefunden wird, wird, wie Cavell meint, das Stück selbst wiedergeboren. Die Tragödie wird also als letzter Aggregatzustand des Skeptizismus dort erreicht, wo der radikale Zweifel vor Augen führt, dass das Innere des anderen opak und ganz und gar verschlossen bleibt. Es ist das Märchen eines Narren, das nichts bedeutet, vor dem es zum Wunderbaren schlechthin wird, „dass Worte überhaupt etwas bedeuten können […], dass es Worte gibt“. Der radikale methodische Zweifel von Descartes ist bei Shakespeare nicht nur dichterisch vorgezeichnet, er ist überboten. Dieser Zweifel ist aber nach Cavell ein „male business“ – verweigertes Wissen und verweigerte Anerkenntnis. Letzteres zeige sich etwa an der Enterbung Cordelias durch den König Lear. In seinen tief dringenden Analysen zum ‚King Lear’ expliziert Cavell dies mit dem – das ödipale Motiv der Blendung vorwegnehmenden – verweigerten Blick. Nur wenn der Blick wiedergegeben wird, kann auch die Anagnorisis ihre erlösende Bedeutung entfalten. Von diesen intensiven Shakespeare-Lektüren her entwirft Cavell eine umfassendere Tragödientheorie, deren Crux darin besteht, „dass unsere Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen, die sich unseren besten, und schlimmsten, Intentionen entziehen […] der Grund, warum die Konsequenzen uns wütend einholen, liegt nicht nur darin, dass wir halb-blind sind und kein Glück haben, sondern darin, dass wir immerfort auf eben jenen Handlungen beharren, die solche Konsequenzen überhaupt hervorgebracht haben“.1080 Die Erlösung (salvation), die kathartisch aus der Tragödie hervorgeht, wäre also, nüchtern und bei Licht betrachtet, nichts anderes als ein genaueres Hinsehen, das eben jenen Wiederholungszwang durchbricht.1081 Den Anderen in seinem Schmerz anzuerkennen, dies ist die eigentliche Pointe theatraler Katharsis, bedeutet auch die eigene Versehrbarkeit anzuerkennen. Im vermiedenen, verweigerten Blick hingegen zeigt sich die Fortsetzung der Selbstermächtigung, und sie produziert, ähnlich Benjamins Wind des Fortschritts in den Flügeln des ‚Angelus novus’ Berge von Leichen: die böse Signatur verweigerter Menschlichkeit. Cavell notiert: „Menschen haben in unserer Gegenwart Schmerzen, aber wir sind ihnen nicht gegenwärtig (not in their presence). Die Tragödie zeigt an,

1080 Cavell, The Avoidance of Love. A Reading of King Lear, in: ders., Must We Mean What We Say, a.a.O., S. 267−353. Siehe auch ders., Disowing Knowledge: In Seven Plays of Shakespearre. Cambridge Ma. 2003. 1081 Im Blick auf den Wiederholungszwang gibt es durchaus eine vergleichbare Gedankenfigur bei R. Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. München, Freiburg/Br. 2009.

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dass wir für den Tod Anderer verantwortlich sind, selbst wenn wir sie nicht ermordet haben“.1082 Im Blick auf das neuzeitliche Theater in einer Art ‚Querelle des anciens et des modernes’ konstatiet Cavell, dass nicht mehr wie in der griechischen Antike die Katharsis als ein Elementaraffekt (griechisch: taraché) eintritt. Vielmehr wird das Theater zum Modell verweigerter Beziehungen. Der andere wird, indem man sich ihm nicht zu erkennen gibt und gleichsam als bürgerlicher Zuschauer im Dunkel des Theaterraums bleibt, eben damit zur Theaterfigur degradiert. An dieser Stelle verifiziert sich die Frage nach Neugeburt als Erlösung (salvation) und zugleich als Abdankung (abdiction) des eigenen Maskenspiels. Ihren Rang gewinnt die Tragödie aber dadurch, dass Figuren aus dem Wiederholungszwang austreten, dass sie erkennen, ihr eigenes Schicksal gewählt zu haben, weshalb man diese Konzeption auch als eine völlig neuartige Verbindung des Grundgedankens der Brechtschen mit der Aristotelischen Dramenkonzeption verstehen könnte. 4. Gebrochene Treue, neuer Bund: „Remarriage“ Das eigentliche Antidotum zum Shakespeareschen Kontinent, den Cavell immer wieder umkreist, zeigt sich in seiner ungewöhnlich nachhaltigen Neigung zum Hollywoodfilm der dreißiger und vierziger Jahre. Cavell widmet sich dabei mit besonderer Intensität dem Phänomen der Wiederverheiratung (remarriage), einer Befestigung des Versprechens angesichts seines Bruches durch Liebesverrat und Betrug. Cavells Grundlagentexte sind die legendär gewordenen Filme mit Audrey Hepburn oder James Stewart, die auch Erzeugnis einer – ideologiekritisch zu lesenden, aus der Rückschau freilich unschuldig anmutenden, „Kulturindustrie“ (Horkheimer/Adorno) sind. Doch dem gilt nicht Cavells primäres Interesse. Die Filme variieren für ihn das Skeptizismusproblem. Jene Lesarten waren auch für Cineasten von Interesse. Im Pariser Quartier Latin gibt es ein Kino, das in regelmäßigen Abständen ‚Hollywood selon Stanley Cavell’ zeigt, Zeichen des Einflusses seiner Relektüre. Sie ist mittlerweile in einem großen Spätwerk: ‚Cities of Words’ dokumentiert,1083 in dem Cavell aus einer originellen langjährigen Lehrveranstaltungspraxis die Summe zieht: in Konfrontierung klassischer moralphilosophischer Problemstellungen und

1082 Cavell, The Avoidance of Love, in: ders., Must We Mean What We Say?, a.a.O., S. 332. 1083 Cavell, Cities of Words. Pedagogical Letters on a Register of the Moral Life. Cambridge, Ma 2004.

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Texten von Platon, Aristoteles über die Moderne und Hollywoodfilmen aus der legendären Zeit des Kinos. Die mehrfach erwähnte Figur der ‚remarriage’ interpretiert er als Allegorie auf die Freundschaft und als ‚Rebirth’ in dem Sinn, dass damit der „moral cynism“ der Libertinage, immerhin eine denkbare Antwort auf den Skeptizismus, überwunden und in eine Reaffirmation, eine Wieder-Übereinkunft mit der Welt gebracht werden könne. Die Haltung zum alten Hollywoodfilm ist also eine Haltung der Nostalgie, und Cavell gesteht ein, dass sich in seiner – rückblickenden – Wahrnehmung Film und Leben wechselseitig überlagerten. Die Kinoästhetik schafft in ihrem erhöhten Entfremdungsgrad noch einmal eine gegenüber dem Theater gesteigerte Meta-Illusion. Das Filmbild ist Bild von der Welt, selbst über Orte hinausführend und von der Lebensweltlichkeit entfernend. Es entspinnt aber zugleich, vor der Matrix der Unwissenheit und Unerkennbarkeit, eine Wunschund Phantasiewelt. Dabei geht von den Filmbildern eine halluzinatorische Macht aus, die in der Ästhetik der Moderne mit Drogen und Rausch verknüpft wurde. Das Kino spielt mit einer modernen technomorphen Idolatrie, damit, dass die Welt von Geistern heimgesucht wird – und es zeigt exemplarisch die Streuung von Kontingenz, die auch jeder Dramenhandlung zu eigen ist. Denn es ist immer nur ein möglicher Kameraausschnitt aus ungezählt vielen gegenläufigen, anderen Ansichten, der dem Zuschauer präsentiert wird. Jene Filme, die sich in der Spannung zwischen dem Typus der „comedy of remarriage“ und dem „melodrama of the unknown woman“ verschreiben, kreisen um den wunden Punkt, den Hermeneutik und ordinary language-philosophy meist umgehen: nämlich die Frage, ob Verständigung, oder auch nur ein gelingendes Gespräch möglich ist. Die Konversationen können mit der Frage einsetzen, was es denn bedeutet, glücklich zu sein. Die Remarriage, Erneuerung des Eheversprechens, kann ihrerseits keine Vergewisserung geben, sondern nur das Unterpfand, das ein gemeinsamer Morgen, Beginn gelebter Alltäglichkeit, möglich ist und gelingen könnte. Für Cavell ist dies zugleich die Inkunabel einer Neustiftung eines Commonwealth und der gemeinsinnigen Verbindlichkeiten, innerhalb deren Moral immer kontextiert ist. Einen Film wie die ‚Philadelphia Story’ deutet er zugleich als Umschrift des Shakespeareschen Sommernachtstraumes, geht es doch, hier wie dort, um die Frage nach der Kontuinutiät zwischen Traum und Wachsein. Dabei werden die Kräfte der Nacht als private Vision konnotiert, während der Tag in die öffentliche Welt und ihre Konsequenzen führt.1084 Auch im Blick auf die Ideologien des amerikanischen Traumes und

1084 Cavell, Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage. Cambridge, Ma. 1981, S. 143.

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seiner Brechung ist es interessant, dass Cavell damit den Gedanken einer Aristokratie verbindet, die zugleich jedermann zugänglich sein soll. Sie sei den anderen nicht überlegen, „in dem Sinn, dass sie Eigenschaften besitzt, die anderen unzugänglich wären, sondern man könnte eher sagen, indem sie weiter fortgeschritten ist als andere, weiter auf einem geistigen Pfad, den jeder nehmen könnte und alle schätzen“.1085 Diese Überlegung nimmt die Deutung von Exzentrizität, also die Abweichung von der ‚sanften Tyrannei’ der Meinungsübereinstimmung, als Tugend bei Tocqueville oder Adam Smith auf. Gerade die Kinostudien verweisen in ihrem idiosynkratischen Bezug, der sie gänzlich anders orientiert als die großen einschlägigen marxistisch ideologiekritischen Interpretationen von Kracauer oder Benjamin seit den Zwanzigerjahren,1086 auf Cavells Immigrantenbiographie zurück. Damit werden sie, bis in die Tiefenauslotung der Familienverhältnisse zu einem Schlüssel in Entfremdungserfahrungen in einem Zeitalter der Migrationen – und sie entfalten auf diese Weise auch ein erhebliches interkulturelles Deutungspotential. Dies zeigt sich etwa, wenn Cavell vom ‚Double bind’ spricht, in dem ein Migrantenkind befangen bleibt und aus dem er mit seiner Mutter in die Filmwelt floh: „Wenn ich nicht anders als meine Eltern bin und nicht in eine Gesellschaft eintrete, der sie nicht angehören können, um mit meiner geglückten Ankunft in der ihnen unzugänglichen amerikanischen Kultur ihr eigenes Opfer zu rechtfertigen, wie können sie mich lieben? Wenn ich anders bin als sie und dort eintrete, wo sie nicht hingehören, wie können sie mich dann lieben?“1087 5. Cinema-Philosophy Bei abschließender Erwägung zeigt sich, dass Cavell durch viele Jahrzehnte der einen Frage nach dem ‚threat of scepticism’, der Herausforderung der Notwendigkeit des Skeptizismus, nachging. Diese ständigen Rekurse haben Interpretinnen und Interpreten wie Elisabeth Bronfen zu Recht als Denkfigur eines ‚Aufschubs’ begriffen, wie er auch anderen Denkformen der späten Moderne, etwa der Derridaschen Dekonstruktion oder Hans Blumenbergs metaphorologischem Ansatz eigen ist. Bei Cavell ist dahinter ein kritischer

1085 Ibid., S. 156. 1086 Dazu legen Kristina Schippling und ich 2022 ein Dialog-Buch vor.Arbeitstitel: Zeitbilder: Ästhetica und Anaesthetica. Literarische und cineastische Weltperzeption, Basel i. V. 1087 Cavell, Contesting Tears. The Hollywood Melodrama of the Unknown Woman. Chicago 1996, S. 13.

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Stachel der Fremdheit unverkennbar, der durch Wiederkehr und Bejahung des Gewöhnlichen erträglich gemacht und balanciert werden soll. Ein Gestus des Preisens, der Anverwandlung von Texturen, seien es Höhepunkte der Weltliteratur wie Shakespeares Dramen oder seien es HollywoodFilme, ist bei Cavell fast omnipräsent. Die Traditionen, die nicht nur „rettender Kritik“ (Benjamin), sondern auch dieses Preisens wert sind, sind nicht ein für alle Mal festgeschrieben. So ergibt sich nur ein ‚set of fragments’. Es bedarf ständiger Verwandlung und Umformung, die die Kritik einschließt. Dies eben ist die Crux dessen, was den heute zumeist unkritisch gebrauchten Sammelnamen der ‚Kultur’ sinnvoll macht.1088 Es scheint so, dass Cavell damit die Erinnerung an solche Kulturen und Traditionen verbunden sieht, die zu vergehen und zu verblassen drohen. In den autobiographischen Reflexionen, an denen er während der letzten eineinhalb Jahrzehnte vor allem arbeitet, figuriert die one issue-Philosophy noch einmal in eine überraschende Blickbahn hinein um, nämlich zur Selbstreflexion auf das Schreiben, in seiner Ambivalenz zwischen der Produktion literarisch filmischer und philosophischer Texte. Schreiben bedeutet für Cavell, die Bereitschaft, den Tod ins Zimmer zu lassen, denn „was mich interessiert, ist zu sehen, wie jene Wege, die Freud Umwege auf dem menschlichen Pfad zum Tod nennt – also jene Zufälle, denen man ausweicht oder auf die man sich einläßt, Fremde, deren man sich annimmt oder die man vernachlässigt, Talente, die einem aufgezwungen werden oder die man umgestaltet, Boshaftigkeit, die man nur ungenügend zurückweisen kann, Liebe, die man nur unzulänglich anerkennt – für mich erkennbare Versuche markieren, meinen eigenen Tod zu erlangen“.1089 „Amerika rechtfertigen“, wie eine Frankfurter Konferenz über Cavell betitelt war, ist gerade nicht der lineare Dreh- und Angelpunkt, um den es ihm geht, sondern vielmehr dies, es in Frage zu stellen und sich selbst aus der Perspektive des naturalisierten Fremden, einem nicht vergehenden ‚Pathos der Distanz’, verständlich zu machen. Diese Matrix wird auch für die (notwendige) Fundamentalkritik an imperialen Grundzügen amerikanischer Politik unerlässlich sein. Man wird dann auch mit Susan Neiman keineswegs notwendigerweise einen Mangel darin erkennen, dass Cavell mehr Fragen aufwirft, als er Antworten gibt.1090 Dies erweist ihn gerade als eine Art Sokratische

1088 Es ist auffällig, dass ihm in ‚transdisziplinären’ Zugriffen die Bedeutung eines Tertium comparationis, bzw. eines Halte- und Ankerpunktes zukommt, der sich selbst nicht ausweisen muss. Dies ist im Sinne Kritischer Wissenschaft kaum haltbar. Der Kulturbegriff teilt in selbst erklärt ‚nachmetaphysischen’ Zeiten jene Auszeichnung allenfalls noch mit der Anthropologie. 1089 Cavell, Excerpts from Memory, in: Critical Inquiry, 32. 4 (Summer 2006), S. 767−811, hier S. 770. Die Erkennbarkeit wird dabei offensichtlich erst im anamnetischen Vollzug gewonnen. 1090 S. Neiman, Vorwort, in: Cavell, Der Anspruch der Vernunft, a.a.O., S. 11.

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VIII. Grundlinien analytischer Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Tarantel in der Weltgesellschaft, ohne deren Fragen sie träge und stumpf werden würde. Jener kritische Impetus ist in dem Aufweis der Untiefen des Skeptizismus sehr viel weitreichender als das materiale, dezidiert nicht utopische Programm, sich um eine Wieder-Verortung im Gewöhnlichen, die Sicherung eines Lebens für Morgen und Übermorgen, zu bemühen. 7. Robert Brandom: Gedankenlinien Eine herausragende Position der zeitgenössischen amerikanischen Philosophie, die Elemente unterschiedlicher Schulrichtungen von David Lewis bis Wilfrid Sellars aufnimmt und sich zudem an dem späten Wittgenstein orientiert, nimmt Robert Brandom ein.1091 Brandom folgt Wittgenstein mit der These, dass Bedeutung im Gebrauch entsteht. Eine zentrale Rolle kommt dabei nach wie vor der Logik zu, weil sie dieses von der Gemeinschaft der Sprachteilnehmerinnen und -teilnehmer gewonnene Wissen strukturiert und vorgibt.1092 Es sind implizite Prämissen und Schlussfolgerungen, die in Aussagen mitschwingen. Verständlich sind solche Aussagen nur, wenn diese Hintergrundprämissen rekonstruiert und implizit bleibende Schlussfolgerungen gezogen werden. Ziel dieser inferentiellen Semantik ist es, aus dem semantischen Holismus zu einer normativ geleiteten Sprachpragmatik zu gelangen und den Bereich zwischen Sprechen und Handeln zu durchmessen.1093 Brandom hat dabei eine bemerkenswerte Ahnenreihe von Philosophen historisch aufgearbeitet und sich in sie eingefügt. Ungleich intensiver als im Mainstream analytischer Philosophie üblich, widmet er sich auch der Rekonstruktion dieser Ansätze. Er fokussiert sich auf Spinoza, Leibniz, Hegel und erfasst in der Gegenwart gleichermaßen Frege, Heidegger und Wittgenstein. Komplexität und Entzentrierung von Argumenten entsteht wesentlich durch die Berücksichtigung dieses geweiteten Horizontes; zugleich ist darin eine Annäherung an spekulative ‚kontinentale‘ Verständigungsraster erkennbar,1094 deren hohes Niveau die Erwartung stärken kann, dass analytische und genuin europäische Philosophie nicht in der Gesprächsunfähigkeit verharren müssen.

1091 R. Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt/Main 2000. 1092 Vgl. in enger Auseinandersetzung mit Brandom P. Stekeler-Weithofer, Sinn-Kriterien. Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein. Paderborn 1995, siehe auch Stekeler-Weithofer, Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg 2019. 1093 Ibid., S. 345 ff. und S. 560 ff. 1094 Bernhard Weiss: Reading Brandom: on making it explicit, London, Routledge 2010.

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7. Robert Brandom: Gedankenlinien

Mit Cavell und Brandom scheint mir ein Niveau vorgezeichnet zu sein, auf dem der Hiat zwischen ‚analytischer‘ und ‚kontinentaler‘ Philosophie transformiert oder gar überwunden werden könnte.

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In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts steht der philosophische Diskurs vor allem innerhalb der Universitäten unter einem Druck, der umso mehr aufkommt, je weniger klar ist, dass und in welcher Weise philosophisches Denken den zentralen Kern von Kultur und Zivilisation ausmacht. Dies zu zeigen, ist einer philosophischen Szenerie wenig gelungen. Die Eigenkraft eines Denkens in Begriffen und über sie hinaus spielte eine zu geringe Rolle. Man vertraute sich ihr zu wenig an. Philosophie bewegte sich nach 1945 stark im Kielwasser von Leitwissenschaften, in jüngster Zeit der Bio- und Humanwissenschaften, um 2000 der Hirnforschung, zwei Jahrzehnte hindurch seit den 70er Jahren der Sozialwissenschaften. Der Neomarxismus, aber auch der liberal-konservative Pragmatismus der Ritter-Schule entgingen nicht immer der Gefahr weltanschaulicher Verfestigung. Viel dürfte indes davon abhängen, dass eine jede künftige Philosophie das Eigenrecht des Gedankens wiedergewinnt, mag er auch noch so schwach und wirkungslos sein. Die Denkbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war von Aufbrüchen und neuen Möglichkeiten des Denkens geprägt. Die zweite Hälfte ist vielfach ernüchtert, sie stellt sich gleichsam postheroisch dar. Nach 1945 suchte man aus dem ideoligischen Desaster Konsequenzen zu ziehen und Vorsicht walten zu lassen. Hegel kontrastierte einmal antike und neuzeitliche, moderne Philosophie in dem Sinn miteinander, dass die antike Philosophie aus der Magma von Mythos und Dichtung erst zu festen Begriffen gefunden habe; die Philosophie der Neuzeit habe dagegen Dynamisierungen und Verflüssigungen der Begriffskonstanten gewagt. Im 20. Jahrhundert scheint es in mancher Hinsicht umgekehrt gewesen zu sein, vor allem in der deutschsprachigen Szenerie. Nach den Erfahrungen einer Kompromittierung und eines Selbstverlustes der Philosophie an Ideologie suchte man nach Auswegen in überprüfbare Methodologien. Dass gerade die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Husserl, Heidegger und Benjamin eine große Zeit der Neubegründung des Denkens war, das sich auch in vielfältigen Kontexten artikulierte, macht die Erinnerung an sie zentral. Die Furcht vor ideologischen Trübungen hat Gründe, auch teilweise Berechtigungen, allerdings hat sie auch ihre Ambivalenzen. Überängstlichkeit führt selten zur Vernunft. Hier gilt das Diktum „Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um“. Einerseits motivierte

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Ausblick: Sinnlinien in die Philosophie im 21. Jahrhundert

der Schock von 1945 dazu, den „langen Weg nach Westen“1095auch in der Philosophie zu gehen. Unstrittig verbinden sich damit teilweise bemerkenswerte methodologische Differenzierungen. Andrerseits drohte auf diese Weise auch ein Weg in die Harmlosigkeit und Einschmelzung auf den Schulbegriff der Philosophie. Die von Richard Rorty einmal an prominenter Stelle dekretierte wünschenswerte Vorrangstellung der Demokratie vor der Philosophie wurde zur Warnung gegenüber spekulativer Hybris , die gleichsam noch einmal die Zeit in Gedanken fassen wollte.1096 Es zeigt sich mithin auch, dass diese Zähmung zu einer neuen Ideologisierung führen kann. Die Anerkenntnis des anderen, heute mit einem gängigen Begriff „Ambiguitätstoleranz“ genannt,1097 schwindet; identitäre Raster ersetzen, was die deutschsprachige Szenerie betrifft, eine weitgefasste Erkenntnistheorie. Jürgen Habermas konnte noch den Rang eines Werkes von ‚Sein und Zeit‘ uneingeschränkt anerkennen, Philosophieprofessoren der Gegenwart diskreditieren das Heideggersche Denken im Ganzen als Philosophie gewordene Irrationalität. So einfach ist es bekanntlich nicht. Auch nach 1945 gab es, wie wir sahen, einige große Schulzusammenhänge, denen sich die Mehrzahl der Exponenten einer nachfolgenden Lehrstuhlgeneration zuordnen ließ: Die Münsteraner Schule um Joachim Ritter und seinen „Modernitätstraditionalismus“ mit der Praktischen Philosophie Hegels im Fokus; die Frankfurter Schule als eine gegenläufige Stimme, die aus dem Exil kam und eben deshalb als aufrüttelnde Tarantel, wie einmal bei Sokrates, für die Frühgeschichte der Bundesrepublik so wichtig ist.. Die stärksten Traditionsstränge rührten vermutlich von den Toten der ersten Generation der kritischen Theorie her. Schließlich ist der Komplex der hermeneutischen Schule von Hans- Georg Gadamer in Heidelberg prägend gewesen. Als Gestalt im Schatten und (un-)heimlicher Referenzpunkt wirkte der lange Zeit noch sehr lebendige Heidegger. Doch die „Urbanisierung der Heideggerschen Provinz“1098 ergab eine Anschlussfähigkeit der Hermeneutik, die der Fundamentalontologie versagt blieb. Gadamer wie Ritter verfügten über eine gleichermaßen geniale Fähigkeit, auch Begabungen und Forschungstendenzen zu fördern, die sich

1095 So der Titel der magistralen Geschichtsdarstellung von H. A.Winkler, Der lange Weg nach Westen. 2 Bände, München 2000. 1096 Vgl. noch einmal den Topos von Rorty vom Vorrang der Demokratie vor der Philosophie. Zunehmend wird deutlich, dass eine Demokratie, die nicht nur die Mehrheiten, sondern auch die Minderheiten schützt, der Denkmodelle bedarf, die über ein plattes Pragma hinausführen. 1097 Th. Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018. 1098 J. Habermas, Urbanisierung der Provinz, in: J. Habermas und H.-G. Gadamer, Das Erbe Hegels, Frankfurt/Main 1979.

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Ausblick: Sinnlinien in die Philosophie im 21. Jahrhundert

von ihren eigenen Kerninteressen entfernten. Dies nicht zuletzt ließ eine beachtliche Generation von markanten Philosophen unter den zwischen 1920 und 1940 Geborenen, die philosophischen Lehrkanzeln betreten. Man muss gerade im Blick auf heutige ‚Cancel Cultures‘ konstatieren, dass es für die Philosophie geradezu tödlich ist, wenn Dogmatismus und politisch erwünschte Zielsetzungen welcher Richtung auch immer in Lehrstuhldenominationen eingehen. Was soll der Anspruch der ‚unendlichen Universität‘, wie ihn Derrida noch einmal formulierte, wenn man auf „Völkerverständigung“ oder „Inklusion“ schon durch Ausschreibungsprofile gleichsam vereidigt ist; wo kann hier das Kernunterfangen der Philosophie einsetzen: Kritik, Skeptizismus und Bezweiflung, ein Denken ins Offene? Es hat nichts mit der allfälligen und wohlfeilen Klage zu tun, dass früher alles besser gewesen sei, wenn man konstatiert, dass sich die Profile von philosophischen Lehrstühlen, Instituten und Seminaren einander annähern, was mit der anderen Tendenz einhergeht, dass Philosophie sich zunehmend als Wissenschaft unter Wissenschaften definiert. Das ‚Kontrollierte Denken‘ nimmt in den neunziger und zweitausender Jahren eine zweite Runde, die weniger durch historische Notwendigkeiten gedeckt ist, als sie es nach 1945 gewesen sein mag. Wenn in der Nachkriegsgeneration gerade auch Philosophen zumindest temporär als öffentliche Intellektuelle agierten, hier spielte Karl Jaspers, gefolgt von Habermas eine Vorreiterrolle, so bedient sich die Öffentlichkeit derzeit eher der Shooting Stars, deren medialer und agentur-erzeugter Glanz das öffentliche Bild des Philosophen bestimmt. Den Eindruck einer dürftigen Zeit der deutschsprachigen Philosophie der Gegenwart sollte man nicht verabsolutieren. Man wird ihn aber auch nicht verwischen dürfen. Es gibt, cum grano salis, gute Verwalter von Traditionssträngen, aber es gibt auch sehr viel Mediokrität. Dass ein Institut umfassend, und überdies noch mit der Macht des Selbstdenkens, mit den langen Traditionslinien zwischen Ionien und Jena vertraut machen kann, ist eher die Ausnahme als die Regel. Als problematisch könnte sich hier eine mehrfache Tendenz erweisen:1099 (1) Die Illusion, Ideengeschichte und systematische Philosophie ließen sich klinisch rein voneinander trennen. (2) Die Selbstpreisgabe der Philosophie in eine Sekundär- oder Tertiärwissenschaft. Diese Tendenz fand mit Habermas‘ Diktum von der Philosophie als „Platzhalterin“ ihre in diesem Sinn fatale Formel. Sie hat weitreichende Folgen: Dadurch wird ein institutionell gesichertes Überleben bei gleichzeitiger Irrelevanzerklärung, auch Selbst-Irrelevanzerklärung möglich. Philosophie kann sich in Cluster, Forschungsprofile, Interdisziplinaritäten verflüchtigen, wobei das Feld angewandter Ethik ein besonders bevorzugter Tummelplatz 1099 Dazu auch schon Seubert, Philosophie. Was sie ist und sein kann, a.a.O., S. 9 ff.

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ist. Sie kann sich in der Medizinethik und differenzierten Kasuistiken verflüchtigen, oder in Digitalisierungsnetzwerken ein spätes Wiedergängerdasein fristen.. Doch die permanente Grundlagenkrise, die Philosophie nach einer pointierten Formulierung von Robert Spaemann nicht nur hat, sondern ist,1100 wird damit noch nicht einmal berührt. Auch dies war vor gut 50 Jahren immerhin einmal anders gewesen: In der Forschungsgruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ beharrte die philosophische Stimme auf ihrer eigenen Zugangsweise, und formulierte diese durchaus strittig gegenüber den gängigen „kulturwissenschaftlichen“ oder „philologischen“ Erwartungen; vor allem in der überragenden Gestalt Hans Blumenbergs. All dies bedeutet keineswegs, dass nicht noch immer herausragende Interpretations- und Argumentationsleistungen erbracht werden, mitunter durch schlagende Komplexitätsreduktionen, mitunter auch durch nicht weniger schlagende Komplexitäts- und Problemverdichtung und -verzweigung. Es bedeutet nicht, dass es nicht sogar bemerkenswerte systematische Leistungen gäbe: Doch insgesamt hat ein Schattenwurf die akademische Philosophie, in Deutschland und darüber hinaus in Europa, erreicht, der sich im Wesentlichen als mangelndes Vertrauen des Denkens seinen eigenen Möglichkeiten gegenüber artikuliert. (3) Damit hängt wesentlich die Selbstgenügsamkeit zusammen, sich die eigene Agenda nicht selbst zu setzen, sondern sie gesetzt zu bekommen: sei es von Neurowissenschaften, Sozial-, Technik- oder Biowissenschaften, sei es von kurzatmiger Politik und Hochschulplanung. Es sind solche bestimmenden Leitdiskurse, die beamtete Philosophen dann aufnehmen und ihrerseits sich in deren Fahrwasser bewegen. Hervorragende Editionen und Kommentare werden erarbeitet, didaktisch klare und argumentativ mitunter perfekte Einführungen und Companions auf allen Ebenen. Dennoch erlahmt im Gesamtbetrieb das systematische Denken und erreicht nur selten das geistige Profil, das erforderlich und an der Zeit wäre. Und kaum mehr kann philosophisches Denken auf den Wellen der Interdisziplinarität reiten oder gar auf den Marktplätzen sprechen. Kategorien der wirkmächtigen Gegenwartsdiagnostik kommen eher aus der Soziologie, man denkt an Hartmut Rosa,1101 aus der Psychologie oder den jeweils leitenden human- und biowissenschaftlichen Disziplinen. Rechtsphilosophie kann weitgehend vom klassischen Bestand entkoppelt, betrieben werden. Medizinische Spitzenforschung ist ehe tertiär auf Medizinethik bezogen: zwei Beispiele, die sich weiterführen ließen. Die Besetzungs-

1100 R. Spaemann, Philosophie als institutionalisierte Naivität, in: ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze Band I, Stuttgart 2010, S. 27 ff. 1101 H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt/Main 2016. In noch offensichtlicherer Weise eröffnen die „Archäologien“ von Foucault den Blick auf die Welt als das, was im Jetzt der Fall ist.

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politik favorisiert, zumal hierzulande, den kurzatmigen Aktualitätsbezug auf Transformations- oder Inklusionsprozesse, die international diskutiert werden, bzw. eine „Anschlussfähigkeit“ vor eigenständigen Denkwegen und -profilen. Systemische Weichenstellungen, etwa eine permanente finanzielle Unterversorgung und weitgehende Kappung der Pluralität des Faches, permanente Stellenbefristungen und entsprechende Opportunitätsgesten wirken zusammen. Dass die spezifischen Quellen und Denkformen von maßgeblichen Philosophietraditionen nur noch aus dem Abstand berührt werden, ist ein spezifisches Problem. Dass etwa das Denken der nachkantischen Philosophie, oder des deutschen Idealismus, tatsächlich rational-argumentationsanalytische Vergegenwärtigungsschritte erfordert, die Verzweigungen erst sichtbar machen können, ist unbestritten. Seine Eigenmacht und Überzeugungskraft ist nichtsdestoweniger eine Herausforderung an eigene Reflexionsfähigkeit. Diese in allen Wissenschaften gängige und unumgängliche Spezialisierung erfasst auch die Philosophie. Dadurch laufen philosophische Ansätze aber Gefahr, über immer weniger immer mehr zu sagen, also in einer rationalisierten Kartographie auf ein zunehmendes Meer des Irrationalen zu treffen. Zugleich begegnet, in Orientierung an dem aufmerksamkeitsökonomischen Zwang, wahrgenommen zu werden, sei es auf der Ebene der Berufungen, oder auf jener einer breiteren öffentlichen Diskussion, die Neigung, möglichst frühzeitig mit Thesen, Schlagwörtern, Entdeckungen zu ‚punkten‘; auch dann, wenn man selbst noch gar nicht die relevanten anderen Seiten der Medaille in Augenschein genommen hat. Dies ist im Feld der Philosophie höchst gefährlich. Veritable Entdeckungen und Innovationen können, jedenfals im allgemeinen, allenfalls im Bereich der reinen formalen Logik in frühen Jahren gemacht werden. Dort indes, wo unterschiedliche Begründungsstrukturen und -denkformen eine Rolle spielen, wo ideengeschichtliche Tiefenschürfungen stattfinden und formale Differenzierungsleistungen geboten sind, ist eine lange Inkubationszeit unerlässlich. Diese beharrliche Arbeit wird durch reale oder eingebildete Aufmerksamkeitsstrukturen eher unterminiert. (4) Abträglich ist dazu auch, wie Vittorio Hösle, als er noch als junger Shooting Star des Faches firmierte, proklamierte,1102 dass die Teilnahme an Kongressen und Einzelprojekten zunehmend die akademische Sozialisation bestimmt. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich dieser Trend noch verstärkt. Bereits sehr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen nachgerade ein Jet Set-Dasein, das einen rund um die Uhr auf verschiedene Panels und in verschiedene Sammelbände bringt, aber nicht unbedingt geeignet ist, die eigene Kompetenz und Umsichtigkeit zu stärken. Es reagiert das „more

1102 So der junge V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik. München 1990.

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of the same“. Nach 2005 schloss man sich an Religionscluster an, während im Jahrzehnt davor nicht genug von „Modernisierung“ die Rede sein konnte.1103 Weltkundige und Weltwagende, aber zugleich auf die Sache des Denkens konzentrierte jüngere Philosophinnen und Philosophen sind selten und wenn es sie gibt, haben sie es schwer. Die zwanghafte Eigenständigkeit hat zum dialektischen Komplement die Fixierung auf einen Autor, die „ismen“, die einen bei Kant oder Wittgenstein verharren lassen, aber den Blick in andere Weltecken verdecken. Dabei muss man wissen, dass die Institutionalisierung dieser schwer greifbaren Disziplin erst seit dem 18. Jahrhundert den Standard setzt und gleichermaßen eine Chance und eine Erschwernis ist. Häufiger ist die Tendenz, entweder in Betriebsamkeit aufzugehen oder sich in die einstürzenden Elfenbeintürme zu flüchten. Hinzu kommen Qualifikationsrituale der Willkür, wie es sie in allen endlichen Lebensbereichen gibt, wie sie aber in dieser mangelnden Sachlichkeit einer Vernunftwissenschaft besonders unangemessen sind: Netzwerke sind zu knüpfen, Zitierkartelle einzurichten, der zu berufende Forscher,die Forscherin wird ohnehin eher einer Schule zugeordnet werden, als dass sie als eigenständig wahrgenommen werden, auch in ihren Potenzialitäten, der Stallgeruch muss stimmen. Sogenannte Networks und eingeworbene Drittmittel haben häufig bei den entsprechenden Verfahren mehr Gewicht als die eigenständige Forschungsleistung. Deshalb werden in der Regel die Heerstraßen des Gängigen bevorzugt gewählt. Ein Blick in die Entwicklung angelsächsischer und frankophoner philosophischer Szenarien lässt interessante Gegengewichte erkennen. Dies ist durch eine starke (nicht die Philosophie allein, sondern den Wissenschaftssektor insgesamt betreffende) Aufsplitterung zwischen Elite und einer breiten Ebene erkauft. Zudem gibt es in den Eliten der französischen philosophischen Intelligenz nach wie vor die Fähigkeit und -bereitschaft, sich auch politisch in die Waagschale zu werfen: Konzeptionen wie jene von Alain Badiou oder Chantal Mouffe,1104 die die gegenwärtigen neuen Unübersichtlichkeiten philosophisch bis zu einem Links-Heideggerianismus buchstabieren, methodisch innovativ und auf der Höhe der Globalen Welt sind, seien genannt. Giorgio Agamben denkt ähnlich angriffig das ‚Homo sacer‘-Motiv in der Spannung zwischen Walter Benjamin und Carl Schmitt weiter und wirkt auf diese Weise mit, die

1103 Wie Religion und Moderne sich zueinander verhalten, Metaphysik und Nicht-Metaphysik, Denken und Leben: dies bleiben wesentliche Grundfragen der Philosophie, die durch alle Paradigmenwechsel hindurch weiterzuspinnen bleiben, nicht einfach aufgelöst werden können. 1104 A. Badiou, Wider den globalen Kapitalismus, Berlin 2016, Ch. Mouffe, Agonistik – Die Welt politisch denken, Berlin 2014. Vgl. auch meine politische Philosophie: H. Seubert, Gesicherte Freiheiten. Eine politische Philosophie für das 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2015.

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Sprachfähigkeiten zwischen den verschiedenen Seiten der Barrikade wieder zu erneuern, die das intellektuelle und insbesondere das philosophische Leben in der Weimarer Republik bestimmten. Auf der anderen, der deutschen Seite des Rheins ist eine solche Gesprächskultur aus erster Hand nicht denkbar. Allenfalls sekundär kann sie im Referat und der Rekonstruktion der frankophonen Motive zur Geltung kommen. Die spekulative Wachheit und die metaphysische Courage auf hohem Niveau, die Religionsphilosophen wie Rémi Brague oder Jean-Luc Marion aufbringen, konterkariert die standardisierte Sicht auf das Verhältnis von Tradition und Moderne. Bedeutende spekulative Entwürfe sind , wie gezeigt wurde, in der analytischen Philosophie in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden. Hervorgehoben seien noch einmal die Kreuz- und Querzüge von Stanley Cavell und die beträchtlichen, auf den Punkt gebrachten Erweiterungen des ontologischen und Inventars in den Spätwerken von Davidson1105 oder Putnam.1106 Es ist streckenweise Atem beraubend, zu sehen, wie in der jüngeren analytisch philosophischen Diskussion vor allem in den USA Fragestellungen ‚kontinentaler‘ Philosophie, speklativen Denkens und mehrwertiger Logik eingeholt werden, die ihren festen Ort bei den Klassikern der philosophischen Tradition haben. Es begann mit Rekonstruktion und Einholung des kantischen Ansatzes. Von ihm her nähert sich jenes Denken zunehmend auch Problemformationen des spekulativen Idealismus an. Gerade darauf sollte und müsste ein Denken, das aus dieser Tradition stammt (und das nicht nur Englisch spricht, sondern auch Griechisch und Deutsch) sein Antwortregister entfalten können. Bemerkenswerte Einzelstimmen wie Pirmin Stekeler-Weithofer sind nicht zu überhören. Ein großer Strom, der in diese Richtugn führte, findet sich nicht. Es käme also darauf an, dass die verschiedenen philosophischen Traditionen, die sich auseinander herausentwickelt haben, wieder miteinander ins Gespräch kommen zu lassen. Die Stillagen zwischen ‚kontinentaler‘ und ‚analytischer‘ Tradition sind unübersehbar nach wie vor verschieden. Fruchtbar sind aber gerade Resonanzen und Korrespondenzen, die die Antagonismen ergänzen müssen. Dass im 21. Jahrhundert Philosophie im akademischen Rayon weiter eine wesentliche Rolle spielen wird, ist alles andere als selbstverständlich. Damit ist aber keineswegs auch eine anthropologische Ersetzbarkeit der Philosophie ausgemalt. Man muss differenzieren: für das Selbstverständnis des endlichen Tiers, das sich unendliche Fragen stellt, das vom Erstaunen und Erschrecken über seine Existenz und zugleich von einer metaphysischen Schwerkraft be-

1105 D. Davidson, Truth and Predication, Harvard 2005. 1106 H. Putnam, The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays. Harvard University Press, Cambridge, Mass. 2004.

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stimmt ist, wird es ein nicht-zweckhaftes, auf den Grund gehendes Denken immer geben. Es reicht zumindest so weit wie die Grundtendenz zu Erzählung, Musik, anderen Künsten. Diese „Naturanlage des Menschen zur Metaphysik“ nach Kant ist aber offensichtlich etwas deutlich anderes als die institutionelle und erst recht universitär professionalisierte Kulturinstanz der Philosophie, womit nicht nur ihre Repräsentiertheit in Fakultäten, in Gremien und Akademien gemeint ist, sondern ihre fundamentale Relevanz für die Öffentlichkeit. Wenn Philosophie auch in Problembezüge und öffentliche Debatte einwirkt, dass die Komplexität des Denkens in höheren Schularten gelernt wird, so hat dies durchaus Folgen für die Kultur einer Nation und eines Zeitalters; und erst recht für das Bildungsniveau der Einzelnen. Es ist bemerkenswert, dass philosophisches Denken in den romanischen Ländern nach wie vor ein Schulfach auf der Sekundarschulebene ist, es aber nur unter größten Mühen und beträchtlichen Widerständen in Deutschland als solches etabliert werden kann. Damit verbinden sich einige Forderungen und Maximen: (1) Wenn Philosophie ihre Relevanz in Selbstverständlichkeit und Souveränität begründen soll, dann muss sie sich selbst dezidiert als ‚Erste Wissenschaft‘ verstehen, als das, was sie im Problemtitel der „Metaphysik“ immer gewesen ist: ‚Prima Philosophia‘, griechisch: ‚Prote Philosophia‘. Sie kann und sollte dies auch im Horizont der Krise der Metaphysik wagen. (2) Dies wird sie im Gegenüber zu den gängigen Leitwissenschaften und ihrer Erkenntnishaltung sein müssen, also insbesondere zu der modernen Physik und ihrem Weltbild, zu den Neurowissenschaften, zt zur modernen Biologie. Das Verhältnis ist dabei ein Doppeltes: Einerseits geht es darum, erkenntnistheoretisch die Möglichkeiten und Grenzen der Modellbildungen und leitenden Konzeptionen jener Disziplinen zu ermitteln. Andrerseits aber, so wie dies schon Aristoteles und Kant in ihrer Zeit taten, den begründeten und bewahrheiteten Standard of Art dieser Disziplinen in die eigene Kategorienbildung einzuführen und diese demgemäß zu erweitern und zu ‚entzentrieren‘. Ein großes, allerdings auch zeitbedingtes Vorbild ist A. N. Whitehead, der die Erarbeitung der ‚Principia mathematica‘ und die Relativitätstheorie zur Grundlage seines ontologischen Entwurfs in ‚Process and Reality‘ machte. Selbst Heidegger, der immerhin dekretiert hatte, dass die Wissenschaft nicht denke, machte sich mit Kybernetik und Quantenmechanik bis in Details hinein vertraut. All dies führt dann zugleich zu einer synoptisch systematischen Arbeit, die die gewonnenen systematischen Einsichten auf die großen tradierten Ontologien zu beziehen versucht. Dabei wird es, in freier Variation von Walter Benjamin, um eine Verschränkung des Vergangenen und des Gegenwärtigen, von rettender Kritik und kritischer Rettung, gehen.

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Philosophie verliert ihren Status als Erste Wissenschaft keineswegs, wenn sie in die Strukturnetze unterschiedlicher Wissensformen und -kulturen eindringt. (3) Es bedarf keiner großen Vorhersagekraft, dass in diesem kategorial grundsätzlichen Feld die massiven Veränderungen der Digitalität eine maßgebliche Rolle spielen. Weiter zu entwickeln sind eine Logik und Ontologie der Simultaneitäten und Mehrwertigkeiten, die unter anderem Denksystematiken wie Nicolaus Cusanus oder die Hegelsche ‚Logik‘ einbeziehen. Es war Gotthard Günther,1107 der erstmals solche Verbindungen des Entfernten zog. (4) Im Rayon der Praktischen Philosophie, die klassisch aus Ökonomik, Politik und Ethik besteht und die auf diesen Feldern wieder neu rekonstruiert werden muss, sind auch die Mechanismen globaler Marktlogik zu durchdenken und die Wirklichkeiten der eigenen Zeit zumindest annäherungs- und versuchsweise in Begriffe zu fassen. Das bedingungs- und zeitlos Normative, wie es Kant in seinem Sittengesetz kanonisiert hat und das zirkumstanziell Wirkliche, das vor allem Aristoteles und Hegel zu denken aufgegeben haben, werden dabei ineinandergreifen: in einer Neutarierung Praktischer Vernunft,1108 in der tatsächlich nicht alles ‚neu‘ ist, die aber auf Institutionen und Formen des Zusammenlebens und damit auch auf soziologische Realitäten und Fakta reagieren muss. Damit ist keineswegs insinuiert, dass jeder Philosoph oder jede Philosophin sich, sei es auch kritisch, den Taktschlag ihrer Arbeit von dem spezifischen Zeitkolorit vorgeben lassen müssten. Schon gar nicht soll die Blaupause von Großforschungsprojekten skizziert werden: allerdings dürfte auch im 21. Jahrhundert richtig bleiben, was in anderen Jahrhunderten stimmig war: dass Philosophie (zumindest auch) „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ ist; auch wenn diese Erfassung fragiler, fragmentierter, offener sein mss. Maß-geblich wird Philosophie im 21. Jahrhundert nur sein können, wenn sie sich in den Zusammenhang von Identitäten und Differenzen, der eigenen Denkkulturen und der anderen begibt, kurz: Wenn sie das interkulturelle Problem einer Weltphilosophie im Blick hat.1109 Praktisch philosophisch ist damit auch die Problemstellung des „Kosmopolitismus“ eng verbunden. Dass dies Verschränkungen des Universalismus der Denkformen und ethischen Normen mit den Spezifika des Parochialen verlangt, einen Gegenhalt von Selbstaufgeklärtheit und dem Wissen um Herkunftsparadigmata, scheint klar zu sein.

1107 G. Günther, Das Bewusstsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, Krefeld, Baden-Baden 2002. 1108 Dazu Seubert, Magna-minima Moralia, Baden-Baden 2022, in Vorbereitung. 1109 Dazu skizzenhaft Seubert, Weltphilosophie. Ein Entwurf, Baden-Baden 2016, , S. 7 ff.

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Philosophie – auch im 21. Jahrhundert – wird nur dann ihre eigentliche Relevanz bewähren können, wenn sie gerade nicht auf funktionale Relevanz zielt, sondern es wagt, und auch so finanziet wird (die Crux einer Kulturnation) im radikalsten Sinne „Scholé“ zu sein: Muse der Theorie, der es im emphatischen Sinn nur um Erkenntnis und Denken selbst geht. Als solche ist und bleibt sie methodisch zunächst und zuerst auf das beharrliche Verstehen-wollen, das Lesen, Schreiben und Denken bezogen. Daraus schöpfend, ist sie in der Tat auch die Kunst des Gesprächs und Selbstgesprächs, in der wir vielleicht erst eigentlich autonom sind, nämlich denkende Selbstgesetzgeber am Anderen unserer selbst. Diese Haltung ist jederzeit möglich, gewiss nicht ohne Widerstände, aber grundsätzlich immer. Dass die kontrafaktisch zu primären Neigungen der Institutionen der Fall sein wird, ist keineswegs neu. Den kontrafaktischen Aspekt hatte Philosophie immer. Philosophie hat es mit dem ins Offene gehenden Selbstdenken ebenso zu tun, wie mit dem Gedächtnis, der Erinnerung an Vergangenes. Wahr bleibt daher auch die schöne kantische Unterscheidung zwischen Schul- und Weltbegriff der Philosophie. Des ersteren und seiner Professionalisierungsleistungen bedarf es ohne Zweifel, damit der zweite sein kann, der in unterschiedlichen Weltformationen das eigentlich Entscheidende ist. Er berührt sich dann doch wieder mit den prekären Naturanlagen des Menschen zur Metaphysik. So sehr der Teufel oder der liebe Gott im Detail stecken, sind damit formal einige Bedingungen angezeigt, denen Philosophie auch im 21. Jahrhundert wird folgen müssen, wenn sie sie selbst bleiben will und sich neu finden soll. Wenn nicht, hätte dies auch für den Gesamtraum von Kultur und Leben gravierende Folgen. Sie hat bereits der Urphilosoph Sokrates genannt: Ohne die stechende Tarantel wird die Polis träge, dumm, vielleicht kindisch, vielleicht bösartig. Wie es mit dem Fortgang der Philosophie sich tatsächlich verhalten wird, ist eine offene Frage: die Rede vom „Ende der Philosophie“ ist nicht neu. Oftmals wird sie eher als Stilmittel und Marotte, als eine Art der Selbsterhaltung des philosophischen Betriebs traktiert. Vieles wird davon abhängen, ob Philosophie sich ihres eigenen Rechts und Ranges bewusst ist, als Knotenpunkt von Debatten, zwischen Stadt und Natur, Reflexivität und Still-werden. Oder ob sie sich in eine ihre eigene Arbitrarität noch zelebrierende Begleitstimme zu anderen, positiven Wissenschaften verflüchtigt. Die Prognosen in die eine oder andere Richtung sind nicht mit definitiver Klarheit zu geben. Dies ist vermutlich auch nicht erforderlich, denn es liegt an Bereitschaft und Fähigkeit des Denkens selbst, wie die Würfel fallen werden. Noch immer weist philosophisches Denken und Fragen ins Offene, in einen Bereich, der an nichts zwischen Himmel und Erde gehängt ist, und den verschiedene

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Moden nur unzureichend, oftmals verfälschend, präsentieren. Es muss, wie die große west-östliche Gestalt Sri Aurobindos zeigt, nicht dem Mentalen, der Subjekt-Objekt-Differenz folgendem Denken verhaftet bleiben, sondern kann sich noch immer auf einen apex erheben, auf dem Philosophie zur Weisheit wird. Die Denkbewegungen des 20. Jahrhunderts können zeigen, dass Philosophie nur in einer jeweiligen Zeit sie selbst sein kann, dass sie aber nicht in Identifikation mit dieser Zeit aufgehen sollte. Der Vorblick in das 21. Jahrhundert deutet aber auch darauf hin, dass es weiter einer Aufklärung bedarf, die über ihre eigene Dialektik und ihre Abgründe die möglich Klarheit zu gewinnen sucht und dem „triumphalen Unheil“ einen Kontrapunkt setzt.

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Kleiner autobiographischer Epilog

Philosophiegeschichte der eigenen Zeit, oder doch ihre unmittelbare Vorgeschichte ist gerade deshalb so faszinierend, weil sie eine Spannung indiziert, der man sich in der Philosophie in besonderer Weise ausgesetzt sieht. In ein jahrtausendealtes Gespräch vor dem Akut sehre spezifischer, mitunter kotingenter Diskurse eigener Zeit versetzt zu sein. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist in der Philosophie intensiver als in anderen Disziplinen. Es geht um etwas, und deshalb ergeben sich erotomatisch-existenzielle Dimensionen neben den professionellen. In den besten Fällen, die von beiden Seiten Grandezza und Gelassenheit fordern, werden daraus Freundschaften. Es sind wenige Lehrer gewesen, an denen mir diese Relation aufgegangen ist. Ich hörte in meinen ersten Semestern bei Friedrich Kaulbach, dem Denker eines transzendentalen Perspektivismus in der Folge Kants und Nietzsches, ein fragend suchendes Denken in Bewegung. Ich lernte von Manfred Riedel, dem Schüler Blochs, Gadamers, Löwiths, dessen Denkweg von Hegel über Kant zu Heidegger und Nietzsche führte. Riedel beherrschte das Handwerk der mehrdeutigen Präzision der Begriffsgeschichte und er wusste mit Joachim Ritter, dass Gedanken einen Ort haben, weshalb der definierbare Begriff in seiner zeitlosen Normalform noch nicht Verständigungsgeschehen ist. Ich lernte von ihm auch die Präsenz des ältesten Alten im Neuen, die Vertiefung der Hermeneutik in ein Sprachgeschehen, das uns auf den Gesamtklang der Welt hören lässt, ermals kennen. Dies war das kostbare Erbe von Hans-Georg Gadamer. Bei Lehrern einer ungleich älteren Generation, vor allem Rudolph Berlinger (Würzburg) und Erich Heintel (Wien) erfuhr ich das Vertrauen in die Eigenmacht des Gedankens und, bei dem Ersteren lebensgeschichtlich bezeugt, seine zeitüberlegene Kraft. Dass Philosophie Erste Wissenschaft sei, dies war bei jenen Lehrern in der Wehmut eines alteuropäischen Abschieds (Berlinger), oder mit dem Humor des Wieners, der sich immer als Letzter begreift (Heintel) zu spüren. Bei Vittorio Hösle, der nur wenige Jahre älter ist als ich, spürte ich von Hegel her diesen Enthusiasmus, der bei ihm, damals vor mittlerweile mehr als dreißig Jahren auch mit einem Sendungsbewusstsein der Philosophie als Erfassung ihrer Zeit in Gedanken korrelierte. Ich habe schon in meiner Studienzeits und, bei allem, was sich geändert hat, bis heute die contingentia mundi viel höher eingeschätzt, als dass ich der Philosophie jemals ohne Weiteres eine Welt veränderte Kraft zugewiesen hätte. Es war eine immense Versachlichung und Entzentrierung solcher von Parmenides, Platon, Hegel, Heidegger in Konstellation gesetzten Philosophiebegriffe, die ich erfuht, als ich nach Frank-

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Kleiner autobiographischer Epilog

furt kam, die kritische Theorie in Adornos Spuren suchte und bei Habermas und in seinem Umkreis auf eine Kritik der Verständigungsverhältnisse stieß, eine Typologie von Rationalitätsformen, die sich zunehmend, wenn auch selektiv, analytischen Methoden öffnete. Mit der analytischen Philosophie wurde ich, ein tumber tor, contre coeur, seinerzeit erst bekannter, von Habermas hörte ich die Umkehrung des Heideggerschen Diktums, man könne nur auf Deutsch oder Griechisch philosophieren: Die Philosophie spreche heute doch vielmehr Englisch. Ich bin dem Weg nicht wirklich gefolgt, weil ich, in München zurück, in Lorenz Bruno Puntels, nur partiell gehörten Kollegs zu ahnen begann, dass jene selektive Analytizität in pragmatischer Absicht große Probleme mit sich bringe. In München aber tauchte ich vor allem zurück in jene Epoche, die meine große Liebe werden sollte: Platonisch neuplatonische Philosophie bis zum deutschen Idealismus, unter der Anleitung von Werner Beierwaltes, der jenes Denken des Einen in seinen Differenzen niemals nur als Gegen-bild, sondern auch als Inbild unserer Moderne zu fassen suchte. Seine Verbindung von Präzision und Enthusiasmus, szientifischer Askese und philosophischem Eros steht mir vielleicht als Vorbild am nächsten vor Augen. In München wurde ich auch vertraut mit Relikten der Phänomenologie des Göttinger Husserl, eine Bahn, die mich heute hinter Heidegger auf Husserl zurückführt.. Indes wurde ich auch mit dem Personalismus und der Präsenz scholastisch katholischen Ordo-Denkens, einer Ethik der Personenwürde und ihrer Grenze, jenseits der Begründungsnötigung bekannt, eindrücklich realisiert in der Gestalt von Robert Spaemann, dessen elementares Philosophieren – nicht ohne Paradoxien – in den Bann zog. Durch Dieter Henrich und Manfred Frank wurde ich fasziniert von der Frage nach unreduzierter, vorreflexiver Subjektivität. In Wolfgang Wielands Seminaren war ich nicht. Die vorbildliche, letztlich unerreichbare Distinktheit seiner Schriften und der Mikroanalysen haben mich aber tief beeindruckt, vermittelt nicht zuletzt durch Rainer Enskat, der nicht nur ein Dienstvorgesetzter des jungen Assistenten in Halle war, sondern auch ein überaus fairer Gutachter meiner Habilitation 2003. Die Moderne war in all dem präsent, sie führte aber (wie es wohl der Fall sein muss) zurück zu der Platonisch aristotelisch neuplatonischen Konstellation, dem lateinischen Neueinsatz antiker Philosophie, zu Hegel, Schelling, Nietzsche, Heidegger. Formalsemantische Mikrologie, Fragereduktionen nach einer nicht jeweils am Gegenstand differenzierten und entwickelten Methode sind in der Philosophie unabdingbar. Diese Professionalität fordert viel ab. Doch der Blick auf ein Ganzes von Erfahrung und Humanität bleibt unerlässlich. Ich bleibe dabei, dass Philosophie sich die ‚deformation professionelle‘ nicht erlauben kann, dass sie verloren ist, wenn sie Expertenkultur wird, wie scharf und differenziert ihr Messer auch schneiden muss. Dass sie mit dem guten Leben, Dasein in seinem In-der-Welt-sein nichts gemein habe: auch dieser

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immer wieder gehörten Maxime möchte ich widersprechen. Sie ist freies Spiel im Ernst ihrer Sache, sie ist Befragung und käme in jedweder Dogmatisierung vor der Zeit an ihr Ende. Die Philosophiegeschichte der Moderne wirft deshalb in besonderer Weise die Frage auf, ob es eine (Selbst-)Begrenzung der Philosophie geben könnee. Aus den verschiedenen Interessenfeldern meines intellektuellen Weges von der Zeitgeschichte, Politik, über Ästhetik und Literatur bis hin zur Theologie würde ich dem zustimmen. Doch so wie Paul Ricoeur nonchalant bemerkte, Philosophie sei nicht alles, man müsse auch lieben können, habe ich Fragen. Denn ist, wenn man einmal in den Sog der Philosophie getreten ist, das eine wirklich ohne das andere zu denken? Und ist nicht das eine wie das andere eine ständige Dynamik, deren Dauer im Wechsel liegt, gebunden an das Hier und Heute mit dem Traum des ewig und anfänglichen Denkens, das sich selbst transzendiert?

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Register

Personen 1100 Abraham, K. 2321 Adorno, Th. W. 11, 79, 252 f. , 262 f., 266 ff., 277 ff. 280-299, 372 f., 403 f., 408, 424 Amereller, E. 194 Améry, J. 19 Anders, G. (Günther Stern) 84, 144 f., 430 Andreas-Salomé, L. 232 Apel, K.-O. 34, 404, 414 ff., 430 Aragon, L. 274 Arendt, H. 102, 104 f. , 126, 128 f. , 142 ff., 311 ff., 379-401 Aristoteles 33, 102, 152 f., 183, 312, 381, 390 f., 476 Aron, R. 127 f. Assmann, J. 238 Augustinus, Aurelius 129, 383, 439 f. Austin, J. L. 456 Ayer, J. 169 Bacon, F. 20 Baeumler, A. 110 Bair, D. 236 Barth, K. 103, 161 Bast, R. 71 Baudelaire, Ch. 273 Bauer, Th. 10 Becker, O. 41, 104 Beierwaltes, W. 7, 288, 363 f., 422 f. Benhabib, S. 396 Benjamin, W. 19 f. , 115, 263-280, 371, 462 f., 474, 476 Bergson, H. 38 Bermes, Chr. 56 , 327 f. Berlinger, R. 101, 323, 362 f., 384. 479 Bernet, R. 45 Bertram, E. 110 Biemel, W. 37, 45, 55, 57, 62, 66 Bieri, P. 413 Bismarck, O. v. 21 Bloch, E. 8, 19, 39 ff. , 86, 141 f., 245-263, 372 f., 479 Bloch von Stritzky, E. 247 Bloch, Karola (v. Piotrowska) 248

Blochmann, E. 107 Blücher, H. 383 Bluhm, M. 401 Blumenberg, H. 8, 64, 85, 425, 427-44, 472 Böckenförde, E.-W. 419 Bollnow, O. F. 31 Boltzmann, L. 187 Bohr, N. 209, 303 f. Bonaventura 439 Bormuth, M. 125 Boss, M. 106 Bourdieu, P. 419, 455 Boveri, M. 8, 19 Brandom, R. 467 ff. Brandt, R. 88 Brecht, B. 279 f. Breil, R. 69 Brentano, F. 50 Breuer, S. 226 f. Bröcker, W. 429 f. Bronfen, E. 459 f. Buber, M. 93, 130, 156 ff. Bubner, R. 368 Buddha, Gautama 139 Bühler, K. 300 Buhl, W. 19 Bultmann, R. 138 Burckhardt, J. 73 Buri, F. 138 Carl, W. 172 f. Camus, A. 321 f. Carnap, R. 71, 73, 198, 307, 373 Cartesius (Descartes, R. ) 55, 65, 112 f., 118, 172, 182, 448 Cassirer, E. 71-87, 99, 150 f., 400 Cassirer, T. 73 ff. Cato, M. P. 400 Cavell, St. 454-467, 474 Celan, P. 23, 286 ff., 337 ff., 341, 358 f. Chisholm, R. 172 f. Cohen, H. 71 f., 87-94, 96 Cohen-Solal, A. 321

1110 Das Register verweist nur auf Stellen, an denen die betreffenden Personen für Argument und Darstellung eine Rolle spielen. Bloß biographische Angaben werden in der Regel nicht berücksichtigt.

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Register Comte, A. 308 Conrad-Martius, H. 149 Cooper, B. 377 Cramer, K. 369 Cramer, W. 53 Cusanus, Nicolaus 476 Dante Alighieri 387 Davidson, D. 448 ff., 474 Deleuze, G. 332 ff. Dempf, A. 365 f. Dennett, D. 449 f. Derrida, J. 135 ff., 273, 342 ff., 455 Di Cesare, D. 183, 369 f. Dilthey, W. 27, 31 ff., 35 ff., 41 f., 51 ff., 72-86, 107, 117,135 f. Diner, D. 328 Dingler, H. 373 f. Dostojevskij, F. 103 Dreyfus, H. L. 336 Dürst, Th. 268 Duhem, P. 445 ff. Ebbinghaus, J. 9, 22 Ebner, F. 132 Eccles, J. 315 Eichmann, A. 389 Eiland, H. 268 ff. Einstein, A. 232, 303 Embree, L. 49 Emerson, R. W. 460 f. Engels, F. 26 Enskat, R. 60, 194, 302 f. Erasmus von Rotterdam 125 Fest, J. C. 250 Fetscher, I. 248 Feyerabend, P. 305 ff. Fichte, J. G. 43, 52 Figal, G. 120 Fink, E. 67 f., 101, 361 f. Fischer, E. 194 Flasch, K. 23, 154 Fleck, L. 304 Forget, Ph. 351 Foucault, M. 334 ff. Frank, M. 330 , 368 f., 480 Frazer, H. G. 200 Frege, G. 9, 165-171, 185, 199, 412 Freud, A. 231 Freud, S. 9, 11, 61, 86, 231-241, 385, 399 f., 434, 461 Freyer, H. 417 Frings, M. S. 133 Furet, F. 386

494

Gadamer, H.-G. 23, 104, 110 f. , 120, 183, 350 ff., 365 f., 366 ff., 381, 395, 429 ff., 450, 455, 470 Gay, P. 231 Gehlen, A. 417 f. Gehring, P. 336 Geiger, M. 42, 149 Gekle, H. 246 ff. George, S. 257 ff. Gerl-Falkovitz, H.-B. 364 f. Girard, R. 463 f. Glockner, H. 98 Glotz, P. 394 Gombrich, E. H. 22 Goldstein, J. 435 Goldstein, K. 81 Goodman, N. 82, 454 Goethe, J. W. v. 24, 39, 82 ff., 134 f., 241, 269 ff. Goodman-Thau, E. 27, 91 f. Grondin, J. 369 Gründer, K. 371 Guardini, R. 364 f. Gundolf, F. 219 f. Gurwitsch, A. 42 Habermas, J. 8. 21. 75, 251 f. , 278 ff., 330, 372, 393f., 403-426, 470 ff. Hacker, P. M. S. 192 Hägerström, A. 75 Hamacher, W. 263 Hampe, M. 206 Hart, J. 64 Hartmann, K. 323 Hartmann, N. 68 ff., 108 Hartung, G. 69 Hausmann, F.-R. 430 Heffernan, G. 47 Hegel, G. W. F. 19 f. , 24, 25,68, 78, 82, 117 f., 221 ff. , 245 f. , 253 ff., 285 ff., 307 f., 354 f., 356 ff., 371, 411, 421, 476 Heidegger, M. 8 ff., 20 ff., 41-68, 65 ff., 69 f., 72 ff., 85 f., 101-122, 123 ff., 138 ff., 193, 245 f. , 291 f., 346 ff., 353 ff., 362 ff., 369 ff.,383 ff., 391 ff., 397 f. , 400 f. 424 f., 437 ff., 470, 476 Heinrich, K. 7, 80, 236 ff., 480 Heintel, E. 479 Heisenberg, W.,206, 212 ff. Held, C. 208 f. Held, K. 57, 59 Heller, A. 260 ff. Hempel, C.G. 309 Hennis, W. 224, 228, 411 Henrich, D. 58, 222, 230, 253, 366 ff., 408 f. , 422 f., 480 Hepburn, A. 464 Heraklit 112, 138, 361 f.,

Register Herder, J. G. 138 Hersch, J. 131 Hertz, H. 187 Herzl, Th. 93, 389 f. Hobsbawm, E. 8 Hochhuth, R. 126 f. Hölderlin, F. 111 ff., 145 ff Hoeres, P. 154 Hösle, V. 473 Hoffmann, E. T. A. 461 Hofmannsthal, H. v. (Loris) 59 Hogarth, W. 76 Holenstein, E. 24 Holzhey, H. 25, 27, 87 ff., 94, 96 Homer 115, 281 Horkheimer, M. 11, 133, 280 f. , 293 ff., 371, 403 Horsten, T. 57 Hubig, Chr. 70 Humboldt, W. v. 77, 81, 411 Hume, D. 65, 179, 413,422 Husserl, E. 9, 34 ff. , 41 ff., 46 ff., 51 ff., 54 ff., 78 f., 86, 94 ff. , 102 ff., 120 f., 139, 156 ff., 169 f. , 175, 183 f. , 185 f. , 199, 325 ff., 343 f., 400, 405 f., 409, 423 f., 433 f., 440 Ingarden, R. 43, 57 Jacobi, C. G. J. 401 Jaffé-Richthofen, E. 229 James, W. 173, 204 f. , 445 f. Jaspers, K. 9, 105 f., 123-141, 125 f., 136-147, 230, 389 f., 471 Jauß, H. R. 430, 436 Jennings, M. W. 268 ff. Joas, H. 220, 424 , 446 Jonas, H. 9, 84, 104, 392 f., 429 f. Jung, C. G. 232, 236, 238 f. Kaegi, D. 74 f., 125 Kaesler, D. 220 Kafka, F. 273 f. Kambartel, F. 373 f. Kamlah, W. 373 Kant, I. 39, 39, 53 ff., 60, 63 ff., 89 ff., 101, 106 ff., 134 ff., 140 ff., 151 f. , 332 ff., 381 f., 388, 395, 413, 421 ff., 475 ff. Kapp, E. 84 Kennan, G. F. 20, 259 f. Kern, I. 45 f., 59 Kerr, A. 94 Kesten, H. 19 Kettering, E. 102 Kierkegaard, S. 25, 103 f., 131 Klee, P. 20 Klein, J. 90 Köhnke, K.Chr. 28, 71

König, J. 374 Kofman, S. 346 Kolb, W. 133 Konfuzius 139 Koselleck, R. 137 Koyré, A. 42 Kraus, K. 186 Kraushaar, W. 295 Kreis, G. 78 ff. Kreiser, L. 167 Kripke, S. 196 Künne, W. 166 ff. Lacan, J. 235 ff. Lacis, A. 277 ff. Lamontagne M. 422 Lamprecht, K. 97 Landgrebe, L. 51, 68, 429 Lange, F. A.88 Langer, S. 83 Lenin, W. I. 255 Lepenies, W. 229 Lessing, G. E. 129 Lévinas, E. 50, 56 ff., 329 f., 340 ff. Lévy, P.-H. 324 Lewitscharoff, S. 431 Lipps, H. 247 f. Locke, J. 65 Löwith, K. 155 f., 160 Lorenzen, P. 373 f. Ludz, U. 143 f. Lübbe, H. 371, 430 Lueger, K. 231 Luhmann, N. 405 f., 417 f. Lukács, G. 19, 188, 256-263, 409 Luxemburg, R. 393 f. Lyotard, J.-F. 328 ff. Macke, A. 247 MacIntyre, A. 416 Magnes, Y. 384 f. Makkreel, R. 32 f. Mall, R. A. 420 Mann, Th. 8, 11, 240 f. Marc, F. 247 Marcuse, H. 296 ff. Marion, J.- K. 349 f. Marquard, O. 432 Marx, K. 25 ff. , 84. 297 ff., 308 f., 310 f., 411 Mayer, V. 168 Mead, G. H. 445 f. Mehring, R. 187 Meixner, U. Merleau-Ponty, M. 22, 54 f., 106, 325 ff., 437 Misch, G. 36 Mitscherlich, A. 61 Mittelstraß, J. 373

495

Register Monod, J. 317 Monk, R. 186 Mühsam,E. 219 Müller-Dohm, S. 280, 284 Müller-Lauter, W. 109 f. Musil, R. 59 Nagel, Th. 452 Natorp, P. 71, 87 f. , 90 f., 94-96,103 Neske, G. 102 Neurath, O. 451 Neumann, E. 240 ff. Nietzsche, F. 21, 26 ff., 110, 112, 114 ff., 222, 228 f. , 333 f., 338 f. Nirenberg, D. 387 Oakes, G. 98 Ockham, W. von 169, 173 Orlik, F. 88 Orth, E. W. 32 f. Ottmann, H. 390 f., 398 Otto, S. 7, 36, 333 Oz-Salzberger, F. 91 Pannwitz, R. 64 Pape, H. 203 f, 446 f. Parmenides 111, 138, 361 f., 479 Patočka, J. 348 Patzig, G. 373 Peirce, Ch. S. 203 f., 444 ff. Petrarca, F. 379 Peucker, H. 46 f. Pfänder, A. 42, 149 Pfordten, D. v. d. 446 f. Platon 22, 42, 47, 50, 52 f., 95 f., 10, 211 ff. , 265, 309 f., 479 f. Polanyi, M. 60, 199 f. Pöggeler, O. 116 Popper, K. R. 259 f. . 299-320 Plantinga, A. 452 Proust, M. 273 ff. Puntel, L. B. 373, 480 Putnam, H. 446 ff. , 474 Quine, W. Van Orman 445 f., 447 ff. Rabinow, P. 336 Radisch, I. 325 Radkau, W. 220, 227 Rammstedt, O. 39 Rattner, J. 179 Ratzinger, J. 200 Rawls, J. 415 Recki, B. 72, 81 Reichert, K. 23, 286 Reinach, A. 42 Rembrandt v. Rijn 39 f.

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Rentsch, Th. 117, 196 Rese-Schäfer, W 416 Rickert, H. 23, 96-99 Ricoeur, P. 22 f., 480 Riedel, M. 21, 33, 77, 249 f., 254,367 f., 479 Rilke, R. M. 103, 145, 368 Ritter, J. 109, 365 f., 370 ff., 470 ff. Rohrmoser, G. 371 Rombach, H. 331 ff. Rorty, R. 348, 451, 460 Rosa, H. 472 Rosenzweig, F. 76, 92, 323 f. Rothacker, E. 430 Rousseau, J.- J. 380 f. Rudolph, E. 75 Russell, B. 169-185 Röd, W. 25, 27, 87 ff. , 97 Rombach, H. 362 ff., Roosevelt, F. D. 75 Rorty, R. 205 Rosenstock-Huessy, E. 156 Rosenzweig, F. 27, 91 f., 123, 155 -161 Russell, B. 169-173 Salamun, K. 137 Sandkühler, H. J. 70, 81 Saner, H. 138, 142 f. Sarasin, Ph. 338 Sartre, J.-P. 56, 321 ff. Savigny, E. v. 373 Schadewaldt, W. 169 Scheler, M. 105, 123, 147-155 Scheler, Marie (geb. Scheu) 149 Schelling, F. W. J. 111, 129, 251 Schelsky, H. 430 Schiller, F. C. S. 445 f. 𝑆𝑐ℎ𝑖𝑝𝑝𝑙𝑖𝑛𝑔 , K. 10, 53, 83, 273, 442 f. Schlak, S. 411 Schluchter, W. 225 f. Schmidt, A. 297 Schmitt, C. 414, 474 Schmitz, H. 437 Schöpf, A. 233 Scholem, G. 156 f., 265 f., 276 f. Schülein, J.-G. 355 Searle, J. 409 Seebohm, Th. 35 Sellars, W. 452 Seubert, H. 50, 79 f., 83, 195 f. 109 f., 155, 258 f., 273 Shakespeare, W. 462 ff. Simmel, G. 38, 247 ff. Sloterdijk, P. 188, 313 f. Sokrates 139, 400 f. Sommer, M. 54, 427 f. Spaemann, R. 371, 471

Register Spahn, Ch. 64 Spinner, H. 319 Spinoza, B. de 333 Stallmach, J. 70 Stegmaier,W. 37 Stegmüller, W. 373 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 289 Stenger, G. 420 Stewart, J. 464 Stolzenberg, J. 96, 369 Strauss, L. 400 ff. Strepp, J. 205 f., 344 Ströker, E. 35 Stürmer, M. 21 Swinburne, R. 452 Talmon, J. 387 Tarski, A. 306 ff., 450 f. Taubes, J. 269 f. Tenbruck, F. H. 224 Theunissen, M. 25 Thiel, Chr. 165 Thomä, D. 117 Thoreau, H. D. 460 ff. Thron, F. 198. 344 Timm, H. 432 Tomasello, M. 171, 174 Trabant, J. 77, 81 f., 412 f. Trakl, G. 145 Treitschke, H. v. 93 Tugendhat, E. 49, 127 ff. Van Breda, H.L. 361 Varnhagen, R. 386 f. Vico, G. B. 33 Vischer, F. Th. 59 Voegelin, E. 377 ff.,

Volkmann-Schluck, K.H. 361 Vossenkuhl, W. 193 Waldenfels, B. 56, 331 Warburg, A. 72 Warren, N. de 50 Weber, M., 60, 98-100, 124, 136 f. , 219-231 Weber, Marianne 219, 229 Weigel, S. 264 f. Weiss, P. 282 Weizsäcker, C. F. von 206 , 405 Welsch, W. 331 ff. Wetz, F. J. 432 Whitehead, A. N. 23, 203-211, 476 Wiedebach, H. 87 Wiggershaus, R. 290, 372 ff. Wiehl, R. 125, 129, 214 ff. Wieland, W. 92, 366 f. Windelband, W. 31, 71, 96-99 Winkler, H. A. 469 Wittgenstein, L. 9, 42, 130, 180, 184. 185-202, 443 ff., 456 ff. Wright, G. H. von 188, 196 Wolff, Chr. 151 f. Wolff, U., 427 Wolzogen, Chr. v. 340 Wunsch, M. 69 Yorck von Wartenburg, P. 107, 117 Yousefi, R. H. 420 Young-Bruehl, E. 382 Zahavi, D.46 f. Zill, R. 374, 428 ff. Zöller, G. 43 Zudeick, P. 250

Sachen1101 Abduktion (≥Peirce) 203 ff. Actual entities (≥Whitehead) 208 ff. Ästhetik (Kunstphilosophie) 109 ff. , 289 ff. Alterität (der Andere) 340 ff. Anthropologie 147 ff., 423 ff. Antisemitismus 155 Arche (≥Ursprung) 333 ff. Argument 167 ff.

Arithmetik 165 f. Askese 227 ff. Atomismus (Logischer A.) 169 ff. Aufklärung 183 ff. Aura 270 ff. Auschwitz (≥Shoah) 285 f., 327 ff.

1111 Sachregister haben niemals die relative Objektivität, die Personenregister anstreben sollten. Hier geht es mir daher auch nicht um eine möglichst repräsentative Wahrnehmung, sondern darum, identifizierbare und geschärfte Begriffe der jeweiligen Autoren hervorzuheben.

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Register Bewandtnis (≥Bewandtniszusammenhang ≥Heidegger) 103 ff Bewusstsein 213 ff. Bewusstseinsstrom (Husserl) Bürgertum, Bürgerliche Gesellschaft 27 f., 290 ff.

Ich (Egologie ≥Husserl) 63 ff. Idealtypus 223 ff. Idee, Ideen 52 ff. Identität (Nicht-Identität) 331 ff. In Philosophos (Rosenzweig) 155 ff. In Theologos 155 ff.

Cartesianismus 55 ff. , 171 ff. Chiliasmus 250 f. Chora (Materiebegriff) (≥Platon, Whitehead) 213 ff.

Judentum 158 ff.

Dasein 104 ff., Dialektik der Aufklärung 7 ff., 283-290 Dialektik im Stillstand 265 ff. Dialog 143 f. Diskurs, Diskursethik (≥Habermas( 415 ff. Du (Ich und Du) 143 ff. Eidetik 47 ff., 65 ff. Eindemsionalität (Eindimensionaler Mensch) 297 ff. Einfühlung 31 ff. Epistemologie 175 ff. Erfahrung 43 f. Erkenntnisinteresse (≥Habermas) 403 ff. Erkenntniskritik 32 f., 97 ff., 267 ff. Erkenntnistheorie 267 ff., 301 ff. Erlanger Konstruktivismus 373 ff. Eros 227 f. Erste Wissenschaft 136 ff. Evolution, Evolutionismus 317 ff. Eschatologie 250 ff, 330 ff. Ethik (Sittlichkeit) 151 ff. Existenzialismus 24 ff., 321 ff. Fluktuanz 37 ff. Funktion 77 ff. , 167 ff. Geisteswissenschaften 31-35 Geistesgeschichte 31 f. Gewalt (≥ Arendt) 393 ff. Gott (≥Gottesgedanke) 159 ff., 194 ff., 349 ff. Grammatik 190 ff. , 342 ff Grammatologie 342 ff. Gründerzeit 20 f. Gulag 21 f. Hegelianismus (≥Rechts-, Linkshegelianismus) 24 f. Hermeneutik 22 ff., 102 ff., 247 ff. , 411 ff. Hermeneutik der Faktizität (Heidegger) 103 ff. Hermeneutik des Gesprächs (Freud) 233 ff. Hören 213 ff. Hoffnung (≥Bloch) 253

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Kantianismus 22 ff. Kategorienlehre 22 ff., 134 ff., 250 ff. Kategorien des Noch-Nicht (≥Bloch) 251 ff. Kinesis (Bewegung) 67 f. Kohärenz 209 ff. Kommunikation (≥Jaspers) 129 ff. Kommunikatives Handeln (≥Habermas) 409 ff. Kontinuum 211 f. Krieg (I. Weltkrieg) 154 ff., 257 ff. Krisis (Husserl) 60 ff. Kritik 8 f. Kritischer Rationalismus 299 ff. Kritische Theorie (Horhkeimer und Adorno) 293 ff. KZ 21 f. Lebenswelt (Husserl) 60 ff. Leiblichkeit 57 ff., 325 ff. Logik 45 ff. , 87 ff. Logik der Forschung (≥K. R. Popper) 307 ff. Lustprinzip 239 ff Macht (≥Arendt) 393 ff. Marxismus 249 ff. Materie-Form 149 ff. Materialismus 263 ff. 6 Memoria 235 ff. Messianismus 245 ff. , 276 ff. Metaphorologie (≥Blumenberg) 427 ff. Metaphysik 26 f.,131 ff., 139f., 147 ff., 245 ff., 305 ff., 333 ff., 353 ff. Methexis 289 ff. Modalkategorien 69 f. Modellbildung (in der Ph.) 185 ff. Moderne 7 ff. Moralphilosophie 179 ff. , 183 ff. Mythos 78 ff., 85 ff., 430 ff. Neukantianismus 71 ff. Nihilismus 25 f. Noesis 51 ff. Noema 51 ff.

Register Ontologie 89 ff. Passagen 274 ff. Phänomenologie 21 ff., 35 ff., 41 ff. , 117 ff. , 325 ff. Phänomenologie als strenge Wissenschaft 42 f. Phänomenologie des Leibes 325 ff. Physikalismus 449 ff. Postmoderne 7 ff. Pragmatismus 445 ff., Protowissenschaft 374 ff. Prozessphilosophie (Whitehead) 207 ff. Psychologie 179 ff. Psychologismus (Husserl, Frege) 45 f., 165 ff. Psychoanalyse 231 ff., 280 f. Psychoanalytiscer Imperativ (≥Freud) 231 ff. Psychodynamik 237 ff. Rationalismus (okzidentaler R.) (≥ Max Weber) 218 ff. Recht 21 ff, 346 ff., 387 ff. Rechtsphilosophie 387 ff. Religion 349 ff. Romantik 274 ff. Ruinanz (≥ Heidegger) 116 ff. Schrift (Ecriture, Derrida) 344 ff. , 357 f. Schuld, Schuldfrage 125 ff., 133 ff. Semiotik (Peirce) 203 ff. Skepsis 367 f. Skeptische Generation 365 ff. Solidarität 204 ff. Sozialdisziplinierung 281 ff.

Spiegelmodell (der Wirklichkeit) 189 ff. Sprache 110, 115 ff., 191 ff. 197 ff. Sprachspiel (Wittgenstein) 191 ff., 291 ff. Sprung 119 f. Staat (Staatsphilosophie) 91 ff. Symbolische Formen 75 ff., 81 ff. Systemphilosophie 23 ff. Technik 83 f. Temporalität 180 ff. Theorie der Unbegrifflichkeit (≥Blumenberg) 433 ff. Todestrieb 239 ff. Topologie 101 ff. Transzendenz 49 f. Trial and Error (≥Popper) 311 ff. Typus 34 ff. Urteil 43 ff. Urteilskraft 381ff., 395 ff. Urwissenschaft 65 ff. Utopie 246 ff. , 252 ff., 25 ff., Verum et factum convertuntur-Grundsatz 33 ff. Wahlverwandtschaften (≥Goethe, Weber) 225 ff. Wahrheit (Aletheia), 109, 175 ff., 453 ff. Wahrheitswert 167 f. , 175 ff. , 453 ff. Wahrheitstheorien 109 ff. Wesensschau 47 ff. Zeit 115 f. Zeitbewusstsein, inneres (≥Husserl) 57 ff. Zionismus 92 ff.

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