Philosophie nach Marx: 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik [1. Aufl.] 9783839403679

Christoph Hennings materialreiche Studie unterzieht hundert Jahre theoretischer Marxrezeption über die Disziplingrenzen

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Philosophie nach Marx: 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik [1. Aufl.]
 9783839403679

Table of contents :
INHALT
Vorrede
1 Einleitung
1.1 Die Fragestellung
1.2 An Marx festhalten? Ein Vorbegriff seiner Theorie
1.3 Die Lücke in der Sozialtheorie der Gegenwart
1.4 Zur Methode dieser Arbeit
1.4.1 Die Beschränkung auf Texte
1.4.2 Der deutschsprachige Schwerpunkt
1.5 Der Aufbau der Arbeit
2 Marx gestern: Zur Genese theoretischer Fehlrezeptionen
2.1 Marx in der Theorie der Sozialdemokratie
2.1.1 Das Erfurter Programm
2.1.2 Der Revisionismus
2.1.3 Der Neukantianismus als gegenstrebige Fügung
2.1.4 Die Orthodoxie
2.1.5 Systematische Kernpunkte I: Die Reproduktionsschemen
2.1.6 Systematische Kernpunkte II: Der Fall der Profitrate
2.2 Marx in der Theorie des Kommunismus
2.2.1 Die Rolle der Gewalt
2.2.2 Die Organisation der Partei
2.2.3 Die Diktatur des Proletariats
2.2.4 Schöpferische Entwicklung des Marxismus
2.2.5 Der Trotzkismus – ein geringeres Übel?
2.2.6 Systematische Kernpunkte III: Der Imperialismus
2.3 Marx in der ökonomischen Theorie
2.3.1 Marx zwischen wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen
2.3.2 Marxwiderlegungen aus neoklassischer Sicht
2.3.3 Übernahme der Neoklassik durch Marxisten
2.3.4 Ausstrahlung des Paradigmas in Nachbarwissenschaften
2.3.5 Systematische Kernpunkte IV: Zur Geldtheorie bei Marx
2.4 Marx in der (deutschen) Soziologie
2.4.1 Die Aufteilung der Welt in normfreie Funktionen und normative Rahmen
2.4.2 Woher die Vorherrschaft der Neoklassik in der Soziologie?
2.4.3 Normativität als Lückenbüßer unvollständiger Weltbilder
2.4.4 Die Projektion der Schwächen auf die Symbolfigur Marx
2.4.5 Kritik der Technokratiethese und Industriesoziologie
2.4.6 Die soziologische Behandlungsart sozialer Klassen
Systematische Kernpunkte V: Klassen bei Marx
Klassen (und mehr) bei Max Weber
Klassen bei Helmut Schelsky
Klassen bei Niklas Luhmann
2.5 „Von Marx zu Heidegger“: Sozialphilosoph
2.5.1 Ein Kategorisierungsversuch von René König
2.5.2 Philosophiehistorische Vergegenwärtigung des Idealismus
Der Einfluss Fichtes
Der Einfluss Nietzsches
Der Einfluss Hegels
Die Weltanschauungs- und Lebensphilosophie
2.5.3 Rudolf Eucken als Vorläufer
2.5.4 Georg Lukács als Mittelsmann
2.5.5 Martin Heideger als Ausläufer
Heidegger und Marx
Heidegger und der Nihilismus
2.5.6 Die Systemphilosophie Niklas Luhmanns
2.5.7 Systematische Kernpunkte VI: Marx und Hegel
Marx als Hegelkritiker
Hegelmarxismus: Semantische Verschiebungen
2.6 Kritische Theorie oder die Auflösung der Kritik in Religion
2.6.1 Horkheimers Lebensphilosophie
2.6.2 Pollocks hermetische Staatskapitalismus-Analyse
2.6.3 Adornos quietistischer Utopismus
2.6.4 Systematische Kernpunkte VII: Marx’ Religionskritik
2.6.5 Religionskritik als Politikum
2.6.6 Vier theologische Positionen zu Marx
Ablehnung wegen „Atheismus“
Toleranz trotz „Atheismus“
Religiöser Sozialismus
Exkurs: Kritik philosophischer Säkularisationstheorien
Trennung von Religion und Politik
2.6.7 Walter Benjamins politische Theologie
3 Marx heute: Kritik der Gegenwartsphilosophie
3.1 Jürgen Habermas oder die Rückkehr der Philosophie des Rechts
3.1.1 Anthropologische Anfänge
3.1.2 Die Transformation in Rationalitätstypen
3.1.3 Der Mythos der „normativen Fundamente“
3.1.4 Systematische Kernpunkte VIII: Marx und die Ethik
3.1.5 Die prozeduralen Strukturen
3.1.6 Systematische Kernpunkte IX: Marx und das Recht
3.2 John Rawls oder die Apotheose des Nichtwissens
3.2.1 John Rawls als Neoklassiker
3.2.2 Rechtfertigung von Stachanov
3.2.3 Die Reaktion des Kommunitarismus
3.2.4 Reaktionen in der deutschen Philosophie nach 1989
Otfried Höffe
Wolfgang Kersting
Axel Honneth
3.3 Wirtschaftsethik: eine „normativ gehaltvolle“ Gesellschaftstheorie?
3.3.1 Hintergründe des Aufstiegs dieser Disziplin
3.3.2 Theologische Wirtschaftsethik
3.3.3 Betriebswirtschaftliche Wirtschaftsethik
3.3.4 Historistische Wirtschaftsethik
3.3.5 Der Hegelianismus der Wirtschaftsethik
3.3.6 Globalisierungskritik als Platzhalter
3.4 Neopragmatismus oder die Permanenz Hegels
3.4.1 Die deutsche Pragmatismusrezeption als Problemanzeige
3.4.2 Eine Transformation des deutschen Idealismus?
3.4.3 Neopragmatismus und Marxismus als feindliche Brüder
3.4.4 Die Bewahrung von Rationalität und Normativität bei Marx
4 Folgerungen für die Philosophie nach Marx
4.1 Die Rolle der Realität als Maß der Verortung
4.2 Topologie der Sozialphilosophie
4.2.1 Topik der Philosophie bei Kant
4.2.2 Überwindung des Dualismus bei Hegel
4.2.3 Transformation der Philosophie (Hegels) bei Marx
4.2.4 Transformation der Philosophie (Hegels) im Pragmatismus
4.2.5 Supernormativismus: Doppeltransformierte Philosophie
4.3 Funktion und Reichweite der Theorie bei Marx
4.3.1 Grundzüge der Theorievermeidung in der Marxkritik
4.3.2 Marx’ Theorie ist kein Determinismus
4.3.3 Marx’ Thema ist die bürgerliche Gesellschaft
4.3.4 Neoklassische Umbesetzungen der ökonomischen Theorie
4.3.5 Der Nebenschauplatz Dialektik als diskursive Verschiebung
4.3.6 Die Aufgabe einer Kritik der normativen Sozialphilosophie
4.4 Normative Theorie: Ethik als Erklärungssubstitut
5. Literatur

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Philosophie nach Marx

Christoph Henning (Dr. phil.) unterrichtet Kulturwissenschaften an der Zeppelin University in Friedrichshafen und forscht derzeit zu Themen der Arbeit, der Gefühlstheorie und der Theoriegeschichte.

Christoph Henning

Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat und Satz: Christoph Henning Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-367-4 Leider war es dem Autor nicht möglich, den Rechteinhaber der Umschlagabbildung ausfindig zu machen. Wir bitten etwaige Rechteinhaber, sich beim Autor zu melden. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorrede

9

1 Einleitung 1.1 Die Fragestellung 1.2 An Marx festhalten? Ein Vorbegriff seiner Theorie 1.3 Die Lücke in der Sozialtheorie der Gegenwart 1.4 Zur Methode dieser Arbeit 1.4.1 Die Beschränkung auf Texte 1.4.2 Der deutschsprachige Schwerpunkt 1.5 Der Aufbau der Arbeit

11 11 14 17 20 20 21 23

2 Marx gestern: Zur Genese theoretischer Fehlrezeptionen 2.1 Marx in der Theorie der Sozialdemokratie 2.1.1 Das Erfurter Programm 2.1.2 Der Revisionismus 2.1.3 Der Neukantianismus als gegenstrebige Fügung 2.1.4 Die Orthodoxie 2.1.5 Systematische Kernpunkte I: Die Reproduktionsschemen 2.1.6 Systematische Kernpunkte II: Der Fall der Profitrate

27 31 31 40 49 52 60 77

2.2 Marx in der Theorie des Kommunismus 2.2.1 Die Rolle der Gewalt 2.2.2 Die Organisation der Partei 2.2.3 Die Diktatur des Proletariats 2.2.4 Schöpferische Entwicklung des Marxismus 2.2.5 Der Trotzkismus – ein geringeres Übel? 2.2.6 Systematische Kernpunkte III: Der Imperialismus

88 89 95 98 105 111 114

2.3 Marx in der ökonomischen Theorie 2.3.1 Marx zwischen wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen 2.3.2 Marxwiderlegungen aus neoklassischer Sicht 2.3.3 Übernahme der Neoklassik durch Marxisten 2.3.4 Ausstrahlung des Paradigmas in Nachbarwissenschaften 2.3.5 Systematische Kernpunkte IV: Zur Geldtheorie bei Marx

130 130 141 152 167 169

2.4 Marx in der (deutschen) Soziologie 2.4.1 Die Aufteilung der Welt in normfreie Funktionen und normative Rahmen 2.4.2 Woher die Vorherrschaft der Neoklassik in der Soziologie? 2.4.3 Normativität als Lückenbüßer unvollständiger Weltbilder 2.4.4 Die Projektion der Schwächen auf die Symbolfigur Marx 2.4.5 Kritik der Technokratiethese und Industriesoziologie 2.4.6 Die soziologische Behandlungsart sozialer Klassen Systematische Kernpunkte V: Klassen bei Marx Klassen (und mehr) bei Max Weber Klassen bei Helmut Schelsky Klassen bei Niklas Luhmann

190 193 200 203 211 215 224 225 230 237 245

2.5 „Von Marx zu Heidegger“: Sozialphilosoph 2.5.1 Ein Kategorisierungsversuch von René König 2.5.2 Philosophiehistorische Vergegenwärtigung des Idealismus Der Einfluss Fichtes Der Einfluss Nietzsches Der Einfluss Hegels Die Weltanschauungs- und Lebensphilosophie 2.5.3 Rudolf Eucken als Vorläufer 2.5.4 Georg Lukács als Mittelsmann 2.5.5 Martin Heideger als Ausläufer Heidegger und Marx Heidegger und der Nihilismus 2.5.6 Die Systemphilosophie Niklas Luhmanns 2.5.7 Systematische Kernpunkte VI: Marx und Hegel Marx als Hegelkritiker Hegelmarxismus: Semantische Verschiebungen

251 253 258 258 262 264 267 277 286 302 304 312 321 328 328 336

2.6 Kritische Theorie oder die Auflösung der Kritik in Religion 2.6.1 Horkheimers Lebensphilosophie 2.6.2 Pollocks hermetische Staatskapitalismus-Analyse 2.6.3 Adornos quietistischer Utopismus 2.6.4 Systematische Kernpunkte VII: Marx’ Religionskritik 2.6.5 Religionskritik als Politikum 2.6.6 Vier theologische Positionen zu Marx Ablehnung wegen „Atheismus“ Toleranz trotz „Atheismus“ Religiöser Sozialismus Exkurs: Kritik philosophischer Säkularisationstheorien Trennung von Religion und Politik 2.6.7 Walter Benjamins politische Theologie

343 344 350 355 362 373 376 376 378 380 384 398 400

3 Marx heute: Kritik der Gegenwartsphilosophie 3.1 Jürgen Habermas oder die Rückkehr der Philosophie des Rechts 3.1.1 Anthropologische Anfänge 3.1.2 Die Transformation in Rationalitätstypen 3.1.3 Der Mythos der „normativen Fundamente“ 3.1.4 Systematische Kernpunkte VIII: Marx und die Ethik 3.1.5 Die prozeduralen Strukturen 3.1.6 Systematische Kernpunkte IX: Marx und das Recht

411 414 416 421 423 430 438 454

3.2 John Rawls oder die Apotheose des Nichtwissens 3.2.1 John Rawls als Neoklassiker 3.2.2 Rechtfertigung von Stachanov 3.2.3 Die Reaktion des Kommunitarismus 3.2.4 Reaktionen in der deutschen Philosophie nach 1989 Otfried Höffe Wolfgang Kersting Axel Honneth

462 463 469 471 480 482 483 485

3.3 Wirtschaftsethik: eine „normativ gehaltvolle“ Gesellschaftstheorie? 3.3.1 Hintergründe des Aufstiegs dieser Disziplin 3.3.2 Theologische Wirtschaftsethik 3.3.3 Betriebswirtschaftliche Wirtschaftsethik 3.3.4 Historistische Wirtschaftsethik 3.3.5 Der Hegelianismus der Wirtschaftsethik 3.3.6 Globalisierungskritik als Platzhalter

491 491 494 501 509 515 519

3.4 Neopragmatismus oder die Permanenz Hegels 3.4.1 Die deutsche Pragmatismusrezeption als Problemanzeige 3.4.2 Eine Transformation des deutschen Idealismus? 3.4.3 Neopragmatismus und Marxismus als feindliche Brüder 3.4.4 Die Bewahrung von Rationalität und Normativität bei Marx

522 523 526 534 539

4 Folgerungen für die Philosophie nach Marx 4.1 Die Rolle der Realität als Maß der Verortung 4.2 Topologie der Sozialphilosophie 4.2.1 Topik der Philosophie bei Kant 4.2.2 Überwindung des Dualismus bei Hegel 4.2.3 Transformation der Philosophie (Hegels) bei Marx 4.2.4 Transformation der Philosophie (Hegels) im Pragmatismus 4.2.5 Supernormativismus: Doppeltransformierte Philosophie

543 544 548 549 550 551 554 556

4.3 Funktion und Reichweite der Theorie bei Marx 4.3.1 Grundzüge der Theorievermeidung in der Marxkritik 4.3.2 Marx’ Theorie ist kein Determinismus 4.3.3 Marx’ Thema ist die bürgerliche Gesellschaft 4.3.4 Neoklassische Umbesetzungen der ökonomischen Theorie 4.3.5 Der Nebenschauplatz Dialektik als diskursive Verschiebung 4.3.6 Die Aufgabe einer Kritik der normativen Sozialphilosophie

557 558 560 561 562 563 564

4.4 Normative Theorie: Ethik als Erklärungssubstitut

566

5. Literatur

571

Vorrede

Wir leben in turbulenten Zeiten – viele, allzu viele Dinge sind im Umbruch. Dies betrifft nicht nur Wirtschaft, Kultur und Politik, sondern zunehmend auch die Wissenschaften, und zwar im besonderen Maße die Kultur- und Sozialwissenschaften. Obwohl sie durch diese Betroffenheit eigentlich zur Empathie mit anderen Betroffenen befähigt sein müssten, führt die allseitige Umstrukturierung derzeit eher zur Selbstbeschäftigung der Anwälte des Allgemeinen mit sich selbst: eine selbstverschuldete autopoiesis. Das hat zur Folge, dass wichtige Themen auf der Strecke bleiben – kurzfristige Modewellen haben sich weiterer Felder der Wissenschaft bemächtigt, als man für vertretbar halten möchte. Die Philosophie hatte schon immer die Narrenfreiheit, sich der Themen anzunehmen, die in anderen Fächern eher tabuisiert werden; im gewissen Sinne lebt sie sogar von diesem Mut zum Antizyklischen. Gerade heute, wo oft viel Staub aufgewirbelt wird, wirbeln auch ideengeschichtliche Gehalte nicht selten herrenlos umher. Doch nur wer die alten Theorien kennt, kann beurteilen, was an den neuen eigentlich neu oder besser sein soll. Natürlich gibt es auch Wissensfortschritte, aber sie sind kontingent und durch nichts garantiert. Daher ist genau hinzusehen, was da eigentlich an Weltdeutungen herum geboten wird. Dieses Buch versteht sich als Propädeutik in dieser Hinsicht, und darin besteht seine Aktualität. Ohne die Überzeugung, mit diesen teilweise weit ausholenden ideengeschichtlichen Archäologiearbeiten dicht an heutigen Problemen zu sein, hätte ich niemals so viel Energie in sie hineinstecken können. Zum Gelingen einer solchen Arbeit gehört aber mehr als das, und darum möchte ich mich an dieser Stelle bei denen bedanken, die ganz wesentlich dazu beigetragen haben: neben meiner Familie, die mich all die Jahre unterstützt hat, sind das zunächst meine Gutachter Prof. Thomas Rentsch und Prof. Karl-Siegbert Rehberg aus Dresden sowie Prof. Ulrich Steinvorth aus Hamburg. Bedanken möchte ich mich auch ganz herzlich bei Amalia Barboza, Daniel Schulz, Verena Poloni, Sidonia von Ledebur und Morris Vollmann für mühevolle Korrekturen und wertvolle Kommentare, und bei Grit Hein, die mir das und weit mehr gegeben hat.

Zu Dank verpflichtet bin ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes für ihr Promotionsstipendium und viele Anregungen und Bekanntschaften; der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für einen Druckkostenzuschuss; der Philosophischen Fakultät der TU Dresden für den Absolventenpreis; dem transcript-Verlag, insbesondere Gero Wierichs, für die gute Betreuung; Prof. Anwar Shaikh von der New School University in New York für seine unvergleichliche analytische Kraft; sowie meiner neuen Wirkungsstätte, der Zeppelin University, für eine ganz andere, aber ähnlich revolutionäre Arbeitsatmosphäre wie die, in die mich die Arbeit an diesem Thema stets versetzt hat. Zuletzt möchte ich zugeben, dass der polemische Ton der Marx’schen Schriften, wenn auch unwillkürlich, etwas auf mich abgefärbt hat. Daher möchte ich diejenigen, die sich durch die Lektüre dieser Arbeit angegriffen fühlen sollten, schon vorab bitten, es nicht persönlich zu nehmen, sondern lieber mit der Feder in der Hand zu reagieren und es inhaltlich besser zu machen. Es geht hier um keine neue Doktrin, sondern um neue Auseinandersetzungen. Frankfurt, im Juli 2005

1. Einleitung

1.1 Die Fragestellung Als Triftigkeitserweis eines Denkers dient gemeinhin die Quote an Publikationen über ihn. Daher werden philosophische Arbeiten oft mit einem Verweis auf aktuelle Texte eingeleitet, in denen ein der weiteren Bearbeitung für würdig befundenes Problem aufgewiesen wird. Wenn man vom deutschen Buchmarkt einmal absieht, so ist an seriösen Neuerscheinungen über Karl Marx kein Mangel.1 Im deutschsprachigen Raum gibt es zwar einige neue Bücher zu Marx, allerdings haben sie meist den faden Beigeschmack politischer Nachhutgefechte.2 Doch im Falle von Marx verhält sich ohnehin vieles anders. So war das Problem, um das es ihm ging, nicht textual, sondern real: es war der horrible Zustand der menschlichen Welt. Denkt man an die vielen Hungerepidemien bei gleichzeitigem Wohlstand, an die vorsätzlich in Kauf genommenen Naturkatastrophen und die anhaltenden sozialen Konflikte weltweit, hat sich daran wenig geändert. Deutlicher als durch die Anzahl an Publikationen zeigt sich die Aktualität von Karl Marx daher in Phänomenen der realen Welt: Schon bei der täglichen Zeitungslektüre fallen verschiedene Schlagzeilen auf wie eine steigende Arbeitslosenzahl, eine steigende Staatsverschuldung, stets neue Kürzungen von Leistungen für Arbeitnehmer und Steuererleichterungen für Unternehmen, häufige Umweltskandale, eruptive Wirtschaftskrisen wie jüngst in Asien, Argentinien und 1 Im angelsächsischen Sprachraum jüngst Bermann 1999, Itoh 1999, Wheen 1999, Perelmann 2000, Boudin 2001, Dussel 2001, Lee-Lampshire 2001, Oihshi 2001, Renton 2001, Arthur 2002, Brenner 2002, Campbell 2002, Desai 2002, Eatwell 2002, Martin 2002, Megill 2002, Rockmore 2002, Sullivan 2002, Wolff 2002, Antonio 2003. 2 Den kalten Krieg in der Theorie perpetuieren Thomas 1993, Khella 1995, Löw 1996, 2001, Kelpanides 1999, Schöler 1999, Gerhardt 2001, Backes 2002 oder die Bild Dresden 2002. Einige Werke, die nach Fertigstellung dieses Buches erschienen sind (M. Berger 2003, Iorio 2003, Kittsteiner 2003, Postone 2003, Heinrich 2004, H.-J. Lenger 2004 und Derrida 2004), habe ich inzwischen in Rezensionen behandelt, siehe Henning 2004a, 2005, 2005c und 2005e.

12 | PHILOSOPHIE NACH MARX

Brasilien sowie das allmähliche Absterben Afrikas durch die Schuldenkrise und durch AIDS, wobei die Rolle großer Pharmakonzerne hervorsticht (Werner 2001, 106, 226). Es gibt bewaffnete Konflikte in aller Welt, oft entlang der Kreuzung ökonomischer Interessen, und neuerdings eine Aushöhlung der mühsam errungenen internationalen Rechtsstandards, nicht nur durch Kriege (Habermas 2003a), sondern beispielsweise auch durch Korruption (Henning 2005g). Über allem schwebt die Grundmusik einer globalen Privatisierung von Ausbildung, Altersversorgung und Gesundheit sowie der ständigen Ausweitung der Masse und Mobilität globaler Geldströme. Währenddessen wächst die Ungleichheit innerhalb und zwischen den Nationen weltweit permanent an. Was hat das mit Marx zutun? All diese Phänomene sind mit der Marx’schen Theorie erklärbar. Es ist das ganz normale Verhalten des global agierenden und anarchischen kapitalistischen Wirtschaftssystems. Damit sind Marx’ Theorien aktueller denn je.3 Mit ihm sind die genannten Phänomene nicht nur zusammenhängend zu verstehen, es sind sogar Wirkmechanismen zu dechiffrieren, die hinter diesen Phänomenen stehen. Diese sind nicht mehr Gegenstände einer oberflächlichen Zeitungslektüre, sondern einer Wissenschaft, und zwar der politischen Ökonomie. In dieser konstatierte Marx ein sich beschleunigendes kapitalistisches Wachstum, periodische Krisen der globalen Wirtschaft und eine Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung. Das vermag jene Prozesse zu erklären, deren Manifestationen die Zeitungsmeldungen nur beschreiben. Wenn aber die vortheoretische Wahrnehmung der sozialen Realität allerorten davon zeugt, dass Marx aktuell ist,4 warum ist dann in der deutschsprachigen Sozialphilosophie so wenig davon zu spüren? Die Antwort lautet meist: weil der Sozialismus untergegangen ist. Doch das ist „faule Vernunft“ (Kant, KrV, B 717/801), glich doch das politische Modell der zerfallenen Ostblockstaaten in keiner Weise einem „Verein freier Menschen“.5 Warum sollte Marx ausgerechtet mit dem Niedergang eines Imperiums, das fast jeden emanzipatorischen Gedanken erstickte, vergessen werden? Eine Denkart, die im Kern Kritik am Bestehenden ist, kann sich nicht derart eng an Bestehendes heften, dass sie mit diesem vergeht. Das hat die Geschichte der jüdisch-christlichen Religion oft bewiesen. Es muss andere Gründe dafür geben, dass das einst zentrale marxistische Denken vierzehn Jahre nach der Wende angesichts der Rückkehr des Turbokapitalismus (Fehrmann 1997, Luttwak 1999) noch immer nur vegetiert. 3 „Marx’s theories have never been more relevant“ (Rockmore 2002, xii; Wolff 2002). 4 Die Financial Times Deutschland betitelt ein Marxportrait: „Marx hätte die Globalisierung der Politik sicher befürwortet“ („Gegen die Allmacht Washingtons“, 22.08.02). Das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt schrieb: „Wäre der Marxismus nicht tot, müsste er jetzt eigentlich triumphieren“ („Marx und die Banken“, 10. 03. 2000; vgl. Sichtermann 1990, Ziegler 1992, Cassidy 1997, Hobsbawm 1998, Leuenberger 2001, H. Lohmann 2001, 137; W. Winkler 2003). 5 MEW 1, 95; MEW 23, 92. Angezielt war eine „allseitige Entwicklung der Individuen“ (MEW 3, 424) – nicht als Einzelner, sondern „als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen“ (MEW 40, 536; cf. Fromm 1963).

EINLEITUNG | 13

Einer dieser Gründe ist theoriegeschichtlicher Natur: Als Denkschule hatte sich der Marxismus lange vor 1989 erschöpft. Der dogmatisierte, gebetsmühlenhaft vorgetragene „dialektische Materialismus“ auf der einen, der zur „Kulturkritik“ abgeflachte westliche Marxismus auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs waren theoretisch längst nicht mehr tragfähig. Um diese Marxismen implodieren zu lassen, brauchte es nur eines Anstoßes. Und es ist gut so. An solche „Schwundstufen“ des Marxismus wäre heute ohnehin nicht mehr anzuknüpfen.6 Wenn überhaupt, so kann heute nur an der Marx’schen Theorie selbst angeknüpft werden, wie sie in seinen Texten steckt. Doch hier gibt es ein Problem. Um zu ihr zu gelangen, muss zuerst die fatale Wirkungsgeschichte seiner Texte aufgearbeitet werden – nicht nur die politische, sondern auch die theoretische. Andernfalls bleibt es bei Neuauflagen dieses oder jenes problematischen marxistischen Narrativs, mit dem im Rücken die Marx’schen Texte schon vorausgelegt werden. Eine solche Perpetuierung der nicht erst 1989 fraglich gewordenen Urteile über das Marx’sche Denken begegnet nicht nur in Rechtfertigungsstrategien des Beschweigens von Marx, sondern auch in den Versuchen, die Erinnerung an ihn theoretisch wach zu halten – was seine Relektüre mehr verhindert als fördert.7 Das Ziel dieser Arbeit ist es daher, die überkommenen Rezeptionsbarrieren und immanenten Verzerrungen des Marx’schen Denkens zu überwinden, zumindest soweit sie theoretisch fassbar sind. Nur so kann es für die Sozialtheorie wieder fruchtbar gemacht werden. Dazu ist diese Arbeit ein erster Schritt. Ihre Fragestellung greift einen Abschnitt heraus, den sie nur in begrenzter Weise beantworten kann. Sie nähert sich ihrem Ziel über zwei Fragestellungen: 1. Wie lässt sich, angesichts der offensichtlichen Aktualität von Marx für vortheoretische Betrachtungen, begreiflich machen, dass sich heutige Sozialwissenschaften und Sozialphilosophien in ihren Theorien von Marx meist so deutlich fernhalten? 2. Welche Auswirkungen hat dieses „ausgesparte Zentrum“ (Johannes 1995), das Fehlen von Marx’schen Einsichten, für den Charakter heutiger Sozialphilosophie?

Die Bearbeitung dieser Fragen eröffnet am Ende systematische Perspektiven auf ein reflektiertes und kritisches Verständnis von Philosophie. Dieses Ergebnis gab der Arbeit ihren Namen. Das Material, an dem diese Fragen untersucht werden, 6 Der Begriff „Schwundstufe“ entstammt einer Pathogenese des Kantianismus (Marquard 1954). Zur „Krise des Marxismus“ siehe Althusser 1978, Kallscheuer 1986, anschaulich Koenen 2001, vgl. schon Korsch 1935. 7 Verbliebene Marxisten recyceln oft alte Argumente, siehe etwa Steigerwald 1996, Backhaus 1997, Stieler 1997, Haug 2001 oder Kurz 2001. Auch Honneth (1999a, 2002) und Wildt (1997, 2002) lesen Marx weiter wie gehabt, nämlich normativistisch. Die Ökonomen bedienen sich ebenfalls alter Argumente (Nutzinger 1999, Heinrich 2001, Gerlach 2003). „Vor einer ‚positiven’ Rekonstruktion der Marxschen Theorie muss daher die Untersuchung dieser Wirkungsgeschichte stehen“ (Stephan 1974, 111; ähnlich Rockmore 2002, xiv, 1 ff.). „Old ideas give way slowly; for they are more than abstract logical forms and categories. They are habits …, deeply engrained attitudes of aversion and preference“ (Dewey 1910, 14).

14 | PHILOSOPHIE NACH MARX

wird in doppelter Hinsicht eingeschränkt: Es geht dabei nur um Theorien, und zwar primär um deutschsprachige Theorien. Diese beiden Einschränkungen sind nicht äußerlich, sondern in der Sache gegründet. Erst sie erlauben eine methodisch klare Vorgehensweise. Dieser Ansatz wird in Kapitel 1.4 dargestellt. Aus ihm folgt eine bestimmte Gliederung dieser Arbeit, die zur Orientierung kurz vorgestellt wird (1.5). Da auf das Fehlen von Marx in den gegenwärtigen Theorien noch eingegangen wird (einleitend 1.3), seine sachliche Berechtigung allerdings aufgrund der methodischen Beschränkung auf eine Analyse von Theorien nicht eigens aufgenommen wird, werden zuvor die Andeutungen über die realen Phänomene vertieft, da ja erst sie diese Arbeit plausibilisieren. Solche Beobachtungen spannen den Bogen, von dem sie ihre motivationale Kraft bezieht (1.2).

1.2 An Marx festhalten? Ein Vorbegriff seiner Theorie „Die eigentlich Frage, die die Epochenwende von 1989 aufgeworfen hat, ist [...] nicht die, die heute in aller Munde ist: warum ‚der’ Sozialismus gescheitert ist. Die Frage müsste vielmehr lauten: warum mehrere Generationen von Kommunisten und linken Intellektuellen den Staatssozialismus der rückständigsten Regionen [...] gegenüber den hochentwickelten kapitalistischen Industrienationen als Fortschritt [...] begreifen konnten.“ (Schneider 1992, 15)

Diese Arbeit versteht sich als philosophische. Sie erhebt nicht den Anspruch, eine eigene politökonomische Analyse der Gegenwart zu geben. Allerdings geht jede sozialphilosophische Betrachtung von einem bestimmten Vorgriff aus, von dem aus sie die soziale Welt schon vorausgelegt hat (Henning 2001b). Das hermeneutische „Vorurteil“, von dem diese Arbeit ausgeht, ist eine vom common sense (Reid 1784) getragene Weltsicht, die etwa Folgendes beinhaltet: Heute entscheidet die wirtschaftliche Lage eines Landes über das Schicksal von Politikern. Kultur und Erziehung hängen von wirtschaftlichen Daten ab. In Brasilien, Südafrika und Israel, aber auch in den USA und in England gibt es für Besserverdienende bereits militärisch befestigte Wohnsiedlungen.8 Im Unterschied zu vielen heutigen Ansätzen nehmen wir dies als vortheoretischen Beleg dafür, dass die Aussagen von Marx höchst aktuell sind. Zumal seit 1989 wird erkennbar, dass der Kapitalismus nach wie vor existiert. Alles wird der Logik des Marktes unterstellt, auch vormals geschützte Bereiche wie Verkehr, Gesundheitsund Sozialwesen, Kultur und Bildung. In den USA gibt es Jobs, die allein nicht mehr zum Lebensunterhalt ausreichen (Ehrenreich 2001). Gleichzeitig steigen die Bezüge in höheren Etagen rasant (Kienbaum 2003). Der Trend zur ungleichen Entwicklung ist deutlich, selbst das Wort Klasse ist wieder gesellschaftsfä-

8 Für ähnliche Wahrnehmungen siehe etwa Philipps 1990, Chomsky 1993, S. George 1995, UNDP 1996, Forrester 1997, Gray 1999, Soros 1999, Klein 2001, Kraus 2001, Chossudovsky 2002, Ziegler 2002, Worldwatch 2003.

EINLEITUNG | 15

hig geworden („Zweiklassenmedizin“, „Erste Klasse“ reisen etc).9 Für den Vorbegriff von Marx’ Aktualität finden sich aber nicht nur wirtschaftlich reale Anzeichen. Er benannte zudem Probleme, die das „System“ des Kapitalismus mit seiner „Umwelt“ hat. Auch solche lassen sich heute immer stärker beobachten, und zwar in dreierlei Hinsicht: Da ist – gesellschaftliche Natur. Nach Marx’ würden sich die benachteiligten Klassen der kapitalistischen Wirtschaftsweise irgendwann entgegenstellen. Tatsächlich sind weite Teile der jüngeren Geschichte (etwa die gegenwärtige zweite Revolutionswelle in der Kaukaususregion oder in Ländern Südamerikas) nicht jenseits der Auseinandersetzungen zwischen sozialen Gruppen mit disparaten politischen Zielsetzungen zu verstehen. Da ist weiter – die individuelle Natur der Individuen. Sie ist der dominanten kapitalistischen Kultur (Claessens 1973) ausgesetzt. Zwar wälzen sich die symptomatischen Erscheinungen permanent um. Doch die Ursachen für moderne Psychopathologien sind kaum jenseits von ihren auch ökonomischen Bedingungen zu verstehen (Henning 2005h). Dies gilt selbst für rassistische und patriarchalische Tendenzen oder für sozialpsychologische Defekte, wie sie Freud zu Beginn und Sennett gegen Ende des 20. Jahrhunderts analysierten.10 Und da ist zuletzt – die ökologische Natur als Hauptleidtragende des Wirtschaftswachstums.11 Dass diese drei „Umwelten“ in diversen sozialen Bewegungen den Aufstand wagten und wagen, ist nur von einer Marx’schen Perspektive aus keine Überraschung. Der Angriffspunkt seiner Theorie war der apologetische Wirtschaftsliberalismus, der über soziale Unterschiede theoretisch hinweggeht und sie so praktisch weiter verschärft. Eben dieser erlangte in jüngerer Zeit immensen Einfluss auf die großen Wirtschaftsnationen und deren Verlängerungen, die internationalen Wirtschaftsinstitutionen IWF und Weltbank (Huffschmid 1999, 98 ff.). Für die Benutzung Marx’scher Theorien sind das geradezu Laborbedingungen.12 9 Laut Werkstadt 2003 haben die Deutschen 14 600 Mrd. Euro Vermögen netto. Davon besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung 4,5 %, die oberen 10 % dagegen 42,3 %. Es gibt 365 000 Deutsche mit über 1 Mio. Euro Geldvermögen. Arm ist, wer die Hälfte des Durchschnitts verdient; das betrifft 10,9 % der Westdeutschen, 66 % mehr als in den 1970er Jahren. Auch die Steuerlast wird umverteilt: 1960 trugen Lohnempfänger 11,8 % bei, 2000 mit 35,4 % das Dreifache. Der Anteil der Einkommenssteuer fiel von 31,1 % 1960 auf 2,7 % 2000 (siehe unten, Kapitel 2.4.6, Fn. 184; 3.2.3, Fn. 46. Fortan verweise ich auf Kapitel nur mit Angabe der Nummer). 10 Freud 1900, Sennett 2000; vgl. Reich 1929, Brückner 1972, Holzkamp 1975, Dahmer 1994, Honneth 1994 und 2002a sowie Henning 2005a. Man kann hierfür an alltägliche Dinge denken wie die steigende Gewalt an den Schulen. 11 „Die kapitalistische Produktion entwickelt [...] nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23, 529 f., auch 58; MEW 40, 512 u.ö.; cf. Fetscher 1985, 110 ff.; 1999, 123 ff.; Grundmann 1991). 12 „Aber in der Theorie wird vorausgesetzt, dass die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich rein entwickeln. In der Wirklichkeit besteht immer nur Annähe-

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Mehr noch: Nach der geschichtlichen Windstille der 1990er Jahre ist mit dem 11. September 2001 auch der weltpolitische Ernst zurückgekehrt (Ross 2002). In ihm sind machtvolle wirtschaftliche Interessen deutlich erkennbar. Längst haben sich auch die Gegner zurückgemeldet, von Seattle bis Porto Alegre.13 Welcher Vorbegriff von Marx’ Theorien ist nun leitend, wenn diese Phänomene als eine Bestätigung aufgefasst werden? Gemeint ist der Ansatz, der davon ausgeht, dass das Kraftzentrum moderner Entwicklungen nicht in Religion, Moral, Kunst, Politik oder Philosophie liegt, sondern in der bürgerlichen Gesellschaft, und dass deren Form gestaltet wird von einer spezifischen Weise des Wirtschaftens, der „kapitalistischen Produktionsweise“ (MEW 23, 12). Diese beruht darauf, dass ein Teil der Bevölkerung Produktionsmittel besitzt, und ein anderer Teil für diese besitzenden Klassen arbeitet, näherhin Mehrwert schafft. Eine solche Betrachtungsweise ist gerade nicht ökonomistisch, weil die Wirtschaft hier in soziale Zusammenhänge eingebettet ist – Gegenstand der Marx’schen Theorie ist ja die bürgerliche Gesellschaft. Allerdings vollzieht sich die kapitalistische Wirtschaft nach Gesetzen, die so stark sind, dass sie die Grundstruktur der Gesellschaft allmählich überformen (MEW 4, 463 f.), und auch vormals relativ wirtschaftsfremde „Sphären“ wie Wissenschaft, Religion, Kunst oder Politik „marktförmig“ machen (Bröckling 2000). Der sich permanent und krisenhaft selbstregulierende Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaft setzt nun auch diese ökonomisierten Gebiete zunehmend der permanenten Krise aus. Wie lassen sich die Phänomene der alltäglichen Zeitungslektüre von diesem Vorbegriff der Marx’schen Theorie aus14 als Bestätigung deuten? Nach Marx ist das primäre Motiv in der kapitalistischen Wirtschaft die Erzielung von Profit (MEW 25, 267). Da die wertproduzierende Instanz für ihn menschliche Arbeit ist, ist es für Kapitalbesitzer ein Erfordernis, möglichst viel und möglichst billige Arbeit zur Verfügung zu haben. Gibt es zu wenige Arbeitskräfte oder sind diese gemessen am Profitmotiv zu teuer, so kann die kapitalistische Wirtschaft in eine Krise geraten, und mit ihr die ganze Gesellschaft. Diese Krise besteht wohlgemerkt nicht darin, dass die Wirtschaft zu wenig Güter produziert, sondern dass die besitzenden Klassen einen zu geringen Profit erhalten. Die Staatsverschuldung, die Kapitalflucht, die hohe Arbeitslosigkeit und die gleichwohl steigenden Belastungen für Arbeitnehmer passen gut in dieses Bild. Auch kennt jeder das Phänomen, dass die Arbeitszeit kontinuierlich zunimmt: rung; aber diese Annäherung ist um so größer, je mehr die kapitalistische Produktionsweise entwickelt und je mehr ihre Verunreinigung und Verquickung mit Resten früherer ökonomischer Zustände beseitigt ist“ (MEW 25, 184). 13 Zur Globalisierungskritik (3.3.6) Altvater 1996, Hirsch 1996, Martin 1996, Gruppe 1997, Loccumer Initiative 1997, Zugehör 1998, Todd 1999, Starr 2000, Appelt 2001, Biermann 2001, Cassen 2002, Grefe 2002, Löwy 2002, Mander 2002, Walk 2002, von ungewohnter Seite auch Krugmann 1999, Stiglitz 2002, Wilke 2001, 7 ff. 14 Vgl. einführend etwa W.Blumenberg 1962, Singer 1980, Euchner 1983, H. Lohmann 2000, Callinicos 1995, Eagleton 1997, Fetscher 1999.

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60-Stunden-Wochen sind keine Seltenheit mehr, nicht nur für Ladenbesitzer und Ärzte, sondern auch für Angestellte und sogar für Praktikanten. Die Lebensarbeitszeit wird aller Voraussicht nach wieder steigen. Heutige politische Maßnahmen zielen primär darauf ab, den „Faktor Arbeit“ billiger zu machen, und die Unternehmen steuerlich weitestmöglich zu begünstigen. Soweit zum Punkt a. Auch die Punkte b und c bewähren sich: Ein Ansatz, der davon ausgeht, dass die Eigenlogik vieler „Wertsphären“ von wirtschaftlichen Imperativen zunehmend beeinflusst und gestört wird, liefert auch Erklärungsansätze für die angedeuteten Psychopathologien. Sind unter diesen Wertsphären solche, die für die Ausbildung einer stabilen Persönlichkeit wichtig sind (Zeit und Zuwendung in der Familie, Anerkennung im sozialen Umfeld, Möglichkeiten zu einer breiten kulturellen Betätigung), so sind psychische Instabilitäten kein Wunder (Henning 2005a). Marx nannte das „Entfremdung“ (MEW 40, 511). Die ökologische Krise und jüngste politische Erschütterungen schließlich sind auch darauf zurückzuführen, dass die kapitalistische Wirtschaft beständig wächst – und nach Marx auch wachsen muss. Sie wächst über alle Grenzen hinaus, über die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows 1972) wie über die der nationalstaatlichen Politik (Beck 1997, Habermas 1998). Liegen wirtschaftliche Interessen außerhalb des eigenen Landes, so sind imperiale Angriffskriege nicht mehr ungewöhnlich.15 Doch bedarf es dazu nicht notwendig des Krieges – schon die Öffnung der Märkte kann nach Marx ähnliche Wirkungen zeitigen.16 Diese Beobachtungen (die Liste ließe sich verlängern) sind dadurch, dass die kommunistische Alternative sich im 20. Jahrhundert unrettbar diskreditiert hat, analytisch nicht entwertet. Dieser Einsicht steht in der gegenwärtigen Sozialtheorie allerdings eine große Lücke gegenüber.

1.3 Die Lücke in der Sozialtheorie der Gegenwart Fortschrittskritik ist in der Theorie heute en vogue. Doch meist bleibt sie folgenlos. So wird zwar die Angewohnheit einiger Autoren goutiert, möglichst Abgelegenes zu zitieren, gemeinhin aber gilt es als Verirrung, Literatur zu nennen, die älter als 20 Jahre ist. Das jedoch sagt mehr über die zitierte Literatur aus als über den Zitierenden: dass sozialphilosophische Literatur so schnell veraltet, könnte auch daran liegen, dass sie von vornherein „tagespolitisch“ gemeint war.

15 Marx und Engels schrieben, u.a. in der New York Tribune, militärstrategische Analysen (cf. MEW 8 – MEW 14). 16 „Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt“ und „den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt“ (MEW 4, 466). Nicht nur Rohstoffe und Kaufkraft locken, sondern vor allem auch billige Arbeitskräfte (Sassen 1988).

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Damit jedoch diskreditiert sich die Vorstellung eines sich automatisch einstellenden Wissensfortschritts in den Geisteswissenschaften.17 Kann man aber einen Wissensfortschritt nicht problemlos unterstellen, dann erscheint es als möglich, dass mitunter Problemkomplexe unbearbeitet liegen bleiben können. So erklären sich auch die regelmäßig zu beobachtenden Renaissancen und Wiederentdeckungen (Levy 1927, Riedel 1972/74, Sandbote 2001). In den Geisteswissenschaften verdanken sich solche Vernachlässigungen meist weniger einer „Widerlegung“ als vielmehr einem Schwenk in der Theoriemode. Bei der Behandlung des Marxismus macht sich dies schlagend bemerkbar. Die Zeiten, in denen man direkt mit Marxisten zu tun hatte, waren auch die, in denen man sich am ernsthaftesten mit den Marx’schen Theorien auseinander setzte.18 Ältere Literatur mag in vereinzelten Fällen später eine Korrektur erfahren haben, und diese zu übergehen wäre ein Versäumnis. In den meisten Fällen aber verhält es sich hier so, dass das einstige Diskussionsniveau kaum mehr erreicht wurde. Spätere „Ergebnisse“ sind hier also keineswegs automatisch die richtigeren. Marx ist seit 1989 weitgehend von der philosophischen Bühne verschwunden: seine Kritiker sagten ihn endgültig tot.19 In der deutschen sozialphilosophischen Literatur ist seit den 1990er Jahren an Stelle dessen ein Aufschwung des Normativen zu bemerken. Diskutiert wurde, ob das geeinte Deutschland eine neue Verfassung benötige, wie die Normenhierarchie der „postnationalen Konstellation“ zwischen dem Nationalstaat und dem neuen Europa zu denken sei, welche philosophischen Begründungswege es für die Menschenrechte und „die“ Gerechtigkeit gebe und ähnliches.20 So gewinnbringend solch normative Überlegungen sind, sie können Untersuchungen über die materiale Basis nicht ersetzen. Tritt aber eine normativistisch verengte Perspektive an die Stelle der vormaligen Sozialtheorie, so erhält man einen Supernormativismus.21 Diese normative Sozialphilosophie wird nun durch die erwähnten Phänomene (die Zunahme ökonomischer, sozialer und politischer Konflikte, den Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und die machiavellistische Neuordnung der globalen Beziehungen) immer haltloser. Wäre, um dem Elfenbeinturm zu entrinnen, nicht 17 Anders verhält es sich in experimentellen Wissenschaften, die die Möglichkeit zu eindeutigen Falsifikationen und exakten Spezifizierungen erzielter Ergebnisse haben. Wenn kein veritabler Paradigmenwechsel stattfindet, und wenn man von den auch hier zu findenden Schulbildungen absieht, baut man hier tatsächlich aufeinander auf. 18 So haben deutsche Philosophen einst seriöse Arbeiten zu Marx verfasst; siehe etwa Löwith 1941, Henrich 1961, Apel 1962, Fleischer 1970, K. Hartmann 1970, Bubner 1972, 44 ff.; Steinvorth 1977 oder Arndt 1985. 19 Conway 1987, Pilgrim 1990, Liessmann 1992, Negt 1992, Aronson 1995, Manuel 1995, siehe schon Benoist 1970. 20 Ebeling und Henrich 1993, Habermas 1998; Brunkhorst 1999a, Druwe 1999, Gosepath 1999. Politische Kommissionen erschlossen der Ethik neue Felder (Türcke 1989, Taureck 1992, Pieper 1998, Kettner 2000, Thurnherr 2000). 21 Im „normativen Monismus“ wird alles weitere nicht nur ignoriert, sondern aus der „fundamentalen“ Moral „abgeleitet“. Symptomatisch ist der Ausdruck „normative Basis“ (Honneth 2003, 7 ff.; Stekeler 2003, 7; Popitz 1980).

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eine gesellschaftstheoretische Reflexion auf die realen Voraussetzungen gelingenden Zusammenlebens vonnöten? Von diesen kann „die Normativität“ je nur ein Teil, nämlich ihr moralischer oder juristischer Ausdruck sein. Niemand ist gegen „die Menschenrechte“ oder andere grundlegende Normen. Doch jede Rede von solchen Normen ist eingebunden in gesellschaftliche Kontexte. Diese Kontexte waren das Thema der sachhaltigen Politischen Ökonomie, die sich von Hegel darum belehrt wusste, dass jedes bestimmte Sollen auf ein bestimmtes Sein „hingilt“ (Emil Lask), also formuliert und durchgesetzt wird. So kommt es, dass man nur schwer unter Vernachlässigung des Seins über das Sollen reden kann, ohne ideologisch zu werden. In der heutigen deutschen Sozialphilosophie allerdings fehlen solche Reflexionen meist. Das zeigen bereits die Reaktionen an, die allein die Erinnerung an ein solches Philosophieren auslöst. Die Marx’sche „Totalitätsbetrachtung“ etwa hinsichtlich der Menschenrechte, die wenig mehr tat als die bestehenden Normen nicht aus sich selbst, also innerjuristisch zu lesen, sondern in ihren realen Kontexten zu verorten, wird schon auf fundamentalster, nämlich auf kategorialer Ebene abgewehrt.22 Damit verbleibt aber nur die Philosophie auf der normativen Ebene, und zwar unnötigerweise. Darum geht die vorliegende Arbeit dieser angedeuteten Lücke aus verschiedenen Perspektiven theoriegenetisch nach. Die bereitwillige Aufnahme zuvor vernachlässigter Theorieströme aus anderen Sprachräumen nach 1989 ist ein deutliches Anzeichen für diese Leerstelle. Rohrmoser (1994, 55 ff.) erklärt diesen Zustand mit der Plötzlichkeit des Erliegens des einst so dominanten marxistischen Denkens. Weil die kritische Auseinandersetzung damit bislang ausgeblieben sei, gebe es noch keinen „Postmarxismus“ (cf. W. Becker 1996, 43). In der Tat ist zu vermuten, dass die Aufarbeitung des theoretischen Marxismus und Antimarxismus auch deswegen bisher so spärlich ausfiel, weil mit der Kritik daran auch viele eigene Zutaten kritisiert werden müssten – in Ost wie West. Was zuletzt als Marxismus auftrat, enthielt zahlreiche Kristallisationen einer jahrzehntelangen Deutungs- und Umdeutungsgeschichte. Die angemahnten Aufräumarbeiten werden hier in Angriff genommen. Doch anders als Rohrmoser

22 MEW 1, 361 ff., cf. Brenkert 1986, Maihofer 1992, dagegen etwa G. Lohmann 1999. Rentsch 1999, 52 ff. deutet dies als Angriff auf die Ethik. „Die Legitimation [der Menschenrechte, CH] ist beispielsweise abzukoppeln von der Debatte um ökonomische Voraussetzungen“ (Höffe 1998, 30). Bei Habermas 2003, 33 schließt die Betrachtung der Binnengeschichte der Normativität die Berücksichtigung realer Faktoren geradezu aus: „Funktionen wie die geostrategische Sicherung von Machtsphären und Ressourcen, die eine solche Politik auch erfüllen soll, mögen eine ideologiekritische Betrachtung aufdrängen. Aber [!] diese konventionellen Erklärungen trivialisieren den noch vor anderthalb Jahren unvorstellbaren Bruch mit Normen, denen die Vereinigten Staaten bisher verpflichtet waren“ (cf. 1981b II, 583 f.). Sein und Sollen bleiben unverbunden. „Hier wird doch das ‚Sein’ dem ‚Gelten’ gegenüber dermaßen depraviert [...], dass dies sozusagen einer Desinteressiertheitserklärung dem Sein gegenüber gleichkommt“ (Mannheim 1925a, 331).

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und Becker meinen, wird der Weg zu Marx, also zur Berücksichtigung politökonomischer Betrachtungen auch in der Philosophie, damit gerade wieder frei.

1.4 Zur Methode dieser Arbeit 1.4.1 Die Beschränkung auf Texte Als philosophische hat es diese Arbeit primär mit Texten zu tun. Der Name „Marx“ lässt vielleicht eher eine Ideologiekritik von der politischen Ökonomie aus erwarten. Doch es gibt verschiedene Gründe, warum eine solche Relationierung auf reales gesellschaftliches Sein hier nicht vorgenommen wird. Zunächst wäre dies voreilig, weil die Marx’sche Theorie, über deren Berechtigung hier verhandelt wird, dafür bereits verwendet würde. Sie wäre so Anwalt und Richter in einem. Desweiteren wäre so leicht der Vorwurf zu erheben, dieses Verfahren sei „reduktionistisch“. Problematisch daran wäre nicht die Operation des Zurückführen selbst, denn sie ist für die Wissenschaft elementar (Mannheim 1929, 17). Misslich wäre erst das unkontrollierte Zurückführen. Denn derzeit gibt es trotz vieler Ansätze keine umfassende Theorie der gesellschaftlichen „Basis“. Sie kann auch in dieser Arbeit nicht gegeben werden. Doch gerade dieses Fehlen ist erklärungsbedürftig. Diese Arbeit fragt daher, warum es diese Theorie derzeit nicht gibt. Dies geschieht auf spezifische Weise. Mit den thematisierten Texten geht diese Arbeit nicht äußerlich um, da sie sie nicht vorschnell auf eine Basis relationiert. Aber sie behandelt sie auch nicht rein immanent. Sie befragt die Texte vielmehr auf eine bestimmte theoretische Funktion hin – eine „immanent-funktionale Interpretation“.23 Sie analysiert Texte auf die Funktion hin, die sie für die Rezeption, Tradition oder Kritik von Marx einnahmen: Inwiefern sind sie funktional als Marxvermeidung zu verstehen, und welche alternative „Weltanschauung“ legen sie an den Tag? Nicht um ihrer selbst willen also werden die Texte analysiert, sondern im Hinblick auf die Problemgenese der heute so dürftigen Sozialphilosophie. Darum ist diese Arbeit keineswegs bloß historisch, sondern stark gegenwartsbezogen.

23 Karl Mannheim hat diese Vorgehensweise methodisch reflektiert. Er spricht vom „Funktionssinn“, der aus dieser immanent-funktionalen Interpretation an Theorien sichtbar wird (1926, 395 ff.). „Die soziologische Außenbetrachtung dient in diesem Falle nicht dazu, die Sphäre des ‚Geistigen’ überhaupt zu verlassen [sie ist nicht eliminativ-reduktionistisch, CH], sondern durch dieses Verlassen der immanenten Interpretation gelingt es allein, jene sinnvollen [hier: theoriegenetischen, CH] [...] Voraussetzungen zu sehen [...] Durch die Funktionalisierung eines geistigen Gehaltes auf den dahinter stehenden sinnvollen Seinszusammenhang gewinnt dieser geistige Zusammenhang einen neuen Sinn“ (1926, 397). Es gilt „festzustellen, mit welchen systematischen Voraussetzungen die verschiedenen [...] Strömungen an die Verarbeitung eines [...] Faktums herangehen“ (1925a, 325).

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Genetische Betrachtungen können die Geltung einer Theorie zwar nicht per se einschränken. Dazu muss man sich, jenseits der Historisierung, auf die Ebene der Geltung einlassen. Wenn allerdings innerhalb des Geltungsbereichs Verwirrungen auftreten, in Theorien also bei den Argumenten oder beim Gegenstandsbezug, dann kann eine theoriegenetische Betrachtung sehr wohl dazu beitragen, die Herkunft dieser Unklarheiten aufzuhellen.24 Die Historisierung gegenwärtigen Philosophierens bleibt somit als Kritik keineswegs äußerlich. Denn sie kann helfen, die zuweilen seltsamen Verdrehungen zu erklären, in denen unsere Verhältnisse heute oft wahrgenommen werden. Die aufgefundenen theoriegeschichtlichen Zusammenhänge sind nicht die Ursache der geschichtlichen Entwicklung, sondern vielmehr selbst ein Symptom. Doch Ideengeschichte ist auch dann ein lohnendes Untersuchungsfeld, wenn über reale Ursachen wenig ausgesagt werden kann. Obwohl ideengeschichtliche Prozesse niemals in der Luft des reinen Geistes hängen und nicht voll aus sich selbst zu erklären sind, hat Theorie doch eine Eigenzeit, eine „relative Autonomie“. Wer, wie in vorliegendem Buch der Fall, zwischen Überbau und Basis, zwischen Denken und Sein, zwischen Theorie und Realität unterscheidet, kann zwar aus theoretischen Problemen nicht unmittelbar auf die soziale Realität schließen und umgekehrt. Doch eine um ihre Grenzen wissende ideengeschichtliche Perspektive kann zumindest Trägheiten, also gerade das Nichtreagieren der Ideen auf reale Prozesse, gut erhellen. Ein Holismus, eine Verpflichtung auf Totalität wird dabei zumindest soweit berücksichtigt, als verschiedenste theoretische Einflüsse und Felder – also eine innertheoretische Totalität – zusammengetragen werden.

1.4.2 Der deutschsprachige Schwerpunkt Die textuale Herangehensweise lässt noch immer ein weites Feld offen. Das erfordert eine weitere selektive Vertiefung. Darum konzentriert sich die Genealogie der Marxrezeptionen und die Kritik heutigen Philosophierens auf den deutschsprachigen Kontext.25 Nicht ohne Grund: eine philosophische Perspektive muss sich sogar speziell dem deutschen Sprachraum widmen: Die „drei Quellen des Marxismus“ (Lenin 1913), französischer Sozialismus, englische Ökonomie und deutsche Philosophie, drifteten nach Marx wieder auseinander. Die angelsächsische politische Ökonomie erschöpft sich heute oft in verkürzten Modellkonstruktionen. Sie fällt damit in ihrem Gehalt hinter die klassische politische

24 „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (MEW 8, 115). 25 Für die Kritik der deutschen Autoren wird allerdings auch auf internationale Literatur zurückgegriffen. Im dritten Kapitel werden daneben zwei dominante Einflüsse auf das deutsche Philosophieren nach 1989 betrachtet.

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Ökonomie zurück. Versuche, Marx auf diesem dünnen Eis zu „rekonstruieren“, führen zu offenen Widerlegungen, zumindest zu Verdrehungen von Marx.26 Die eher politiklastigen französischen Theorieströme haben dazu geführt, dass die Konzentration auf die politisch und kulturell unmittelbar relevante Oberfläche den Blick auf dahinterliegende Strukturen verdrängt hat. Das hat der Sozialtheorie zwar das Spektrum des Symbolischen neu eröffnet, Fundierungen des Symbolischen gerieten so jedoch immer mehr außer Sicht. Postmoderne Marxkritiken und -rekonstruktionen wurden hier etwa mit dem Argument geführt, dass Marx kein Fiktionalist gewesen sei, dass er noch nicht erkannt habe, dass es eigentlich nur Oberflächenspiegelungen gebe und dergleichen mehr. Dieser gravierende Substanzverlust wird hier sogar als „Antiessentialismus“ bejaht.27 Es gibt in anderssprachigen Traditionen also eigene Schwundstufen der Marxrezeption. Für den internationalen philosophischen Diskurs wäre schon viel gewonnen, würden die Sprachgemeinschaften ihre eigenen theoretischen Äcker kritisch bestellen, bevor sie ihre Früchte auf den globalen Markt werfen. Dem wird hier für den deutschsprachigen Bereich nachgekommen. Denn die dritte „Quelle des Marxismus“ war bereits für Lenin nicht einfach die Philosophie, sondern die deutsche Philosophie. Zwar war der stärkste Katalysator des Marxismus für einige Zeit die deutsche Sozialdemokratie – und schon dies würde eine Konzentration auf deutschsprachige Texte berechtigen. Aber das metaphysische Volk der Deutschen hat mit der Politik seine Probleme, und so wurde Marx in Deutschland bald wieder „geistig“ gelesen, er wurde rephilosophisiert. Marx kam bekanntlich selbst vom deutschen Idealismus her (von den „teutonischen Urwäldern“, MEW 1, 380). Weil er ihn gut kannte, konnte er ihn durchdringen. Doch dass er seine Male an sich trug, war deutschen Denkern oft Anlass genug, ihn wieder in den „Geist“ zurück zu treiben. Will man Marx philosophisch deuten, ist man also gut beraten, seine deutsche Rezeption zu betrachten. Dabei war auch die Marxvergeistigung funktional eine Marxvermeidung – und

26 Der „analytische Marxismus“ etwa (Cohen 1979, Roemer 1981, 1986, Ball 1989, Nielsen 1989, Paris 1993) macht „Sinn“ aus Marx (Elster 1986), indem er ihn mit utilitaristischen Modellen rekonstruiert, die dieser bereits kritisiert hatte (MEW 3, 394 ff.; MEW 23, 636 f.). K. Müller 1988, Hunt 1993 u.a. kritisieren, dass dabei leicht „No Sense“ (Mandel 1989) herauskommen kann (für die USA cf. Guibaut 1983, Bonde 1987, Diggins 1992, Lloyd 1997; 3.2, 3.4; ausführlicher Henning 2005). 27 „Das Kapital und den Kapitalismus gibt es nicht“ (Derrida 1995, 100; vgl. ähnlich Debord 1967, Baudrillard 1970, Deleuze 1972, Lyotard 1974 und 1979, Castoriadis 1975, Foucault 1991). Postmoderne „Rekonstruktionen“ von Marx versuchten Laclau 1985, Callari 1995, Derrida 1995, jour-fixe 1999, Negri 2000 und die USZeitschrift Rethinking Marxism. Zum Vergleich mit Marx siehe Ryan 1982, Meistner 1990, Barrett 1991, Callari 1995, Marsden 1999, hierzulande am ehesten Bonacker 2000; kritisch Descombes 1981, 131 ff.; Frank 1984, 1993, 119 ff.; Ferry 1987, Jameson 1991, O’Neill 1995, Eagleton 1997a, Fraser 1998. Schon die „neuen Philosophen“ wollten sich aus dem Marxismus herauswinden (Benoist 1970, Glucksmann 1976, cf. Schiwy 1978, Altwegg 1986, 108 ff.; Taureck 1988).

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zwar eine effektive. Die finale Implosion des theoretischen Marxismus nach 1989 ist auch als ein später Effekt dieser Philosophisierung zu verstehen. Dafür ist es wichtig, dass diese Arbeit keine vulgärmarxistische ist. Sie kommt nicht von außen und erklärt jede explizite Marxkritik oder implizite Marxvermeidungsstrategie zur „bürgerlichen Ideologie“, die sich damit selber richtet. Sie geht vielmehr auf die entsprechenden Texte ein, untersucht sie auf ihre theoriestrategische Funktion hin,28 und prüft immanent, inwieweit die gelieferten Argumente diese Funktion erfüllen. Die einzige Möglichkeit, Marx von seiner blockierenden Überphilosophisierung zu befreien, ist der Weg durch die Philosophie hindurch. Man muss die Philosophie zu Ende denken – und wird dann wieder bei der Realität enden. Das verbindet Marx mit Kant und Wittgenstein. Die Beschränkung auf deutschsprachige Theorien hat also einen präzisen methodischen Sinn: Es geht um Philosophiekritik. Schon bevor sich die deutsche Philosophie Marx widmete, ist er von anderen Disziplinen – Politik, Ökonomie, Soziologie und Theologie – philosophisiert worden. Die vorliegende Philosophiekritik beschränkt sich somit nicht auf die geschriebene Fachphilosophie, die sich ihre Gegenstände ja nicht selbst gibt, sondern sie erstreckt sich auch auf den theoretischen Boden, von dem aus Marx zuvor, in anderen Disziplinen, gelesen oder nicht gelesen, vergeistigt und kritisiert worden ist – und noch wird.

1.5 Der Aufbau der Arbeit Die Niederlage jeder einst wirkmächtigen Marxorthodoxie ist der geeignete Moment, eine Neubelebung des Marx’schen Denkens zu versuchen. Die Frage ist nur, wo zu beginnen ist. Gibt es eine unberührte „Substanz“, an der mögliche Verfehlungen zu messen sind? Eine Substanz gibt es nur im Sinne des Vorhandensein der Marx’schen Texte. Sie sind in guter Verfassung, im Rahmen gleich zweier Gesamtausgaben (MEW und MEGA). Doch kaum ein Satz ist unschuldig: das Überlieferungsgeschehen einer 150-jährigen Rezeptionsgeschichte ist derart mächtig, dass nie sicher ist, ob man nicht den von Marx gemeinten Sinn aus einer seiner zahlreichen Applikationen her versteht. Alle Autoren sind auf irgendeinem Weg zu Marx gelangt und tragen ihre Vorverständnisse in den Text hinein. Diese Vorverständnisse sind umso weniger sichtbar, je selbstverständlicher sie geworden sind, doch verstellen gerade sie das Verständnis oft am meisten. Was ist da zu tun? Statt, wie so oft, unmittelbar einen neuen Marx als den „wirklichen“ zu präsentieren, zu dem man „zurück“ müsse, der aber doch wieder nur dem einen oder anderen traditionellen Verständnis entstammt, geht diese Arbeit den umgekehrten Weg einer Destruktion des Überlieferungsgeschehens.29 28 Diese muss durchaus nicht intentional sein. Schon Karl Mannheim begriff „die Weltanschauungstotalität als eine atheoretische“ (1921, 98). Eine strategische Ausrichtung kann das Ergebnis einer unbewussten „Tendenz“ sein. 29 Dieser Ausdruck entstammt der „existentialen Interpretation“ von Martin Heidegger.

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Dabei werden die verschiedenen Rezeptionsstadien als aufeinander aufbauende Auslegungen gedeutet, die aus verschiedensten, auch politischen Gründen nicht immer ins Schwarze trafen, sich aber im Laufe der Entwicklung verfestigten und weitere Interpretationen erzeugten. Marx selbst wird nur herangezogen, wenn an Knotenpunkten der Rezeptionsgeschichte eine Abweichung vom Sinn seiner Theorien zu verzeichnen ist. Da die systematischen Ausführungen zu Marx den Fluss der Entwicklung hemmen würden, sind sie in Form „systematischer Kernpunkte“ den betreffenden Kapiteln angefügt. Auch auf diese Weise kommt nach und nach ein Großteil des Marx’schen Werkes zum Vorschein, allerdings so, dass es dabei nicht in ein sprödes System gezwängt wird. Vielmehr wird so die Brisanz der Marx’schen Theorie gegenüber dem Marxismus gerade an den Stellen sichtbar, wo ein Missverhältnis vorliegt. Dies entspricht dem Geist der Kritik eher als eine hermetische und antiquarische Monographie es täte. Das zweite und umfangreichste Kapitel dieser Arbeit gilt der sukzessiven Autodepotenzierung des theoretischen Marxismus bis zur Wende von 1989. Es will verstehen, wie ein Denken, das heute aktueller ist denn je, sich im Laufe seiner Wirkungsgeschichte derartig aufbrauchen konnte. Das Augenmerk muss speziell bei der deutschen Marxrezeption – im Marxismus und bei seinen Gegnern – auf die Vergeistigungen und Moralisierungen fallen, die die Marx’sche Theorie hier erfuhr. Marx wurde zum Philosophen, zum Moralisten, ja zum Theologen gestempelt. Die Entwicklungslinie zeigt, dass Marx ein heimliches Zentrum der Sozialphilosophie war. Die Funktion einer Marxwiderlegung oder -vermeidung war nicht immer, aber erstaunlich oft ein unausgesprochener Kern deutschen Denkens.30 Das hat den theoretischen Marxismus zuletzt implodieren lassen, da er zu viele Vergeistigungen mitvollzog. Es kam zu einem regelrecht eliminativen Idealismus, zu einem Verlust des Gegenstandes „Gesellschaft“ und seiner Spezifizierung als „Kapitalismus“ ausgerechnet aus dem Blickfeld der Sozialwissenschaft. Der zeitweiligen Erfolgsgeschichte des Marxismus als politischer Bewegung korreliert so eine „Verfallsgeschichte“ der marxistischen und auf Marx reagierenden Theorie. Im Augenblick des Sturzes des politischen Marxismus gab es schließlich kein theoretisches Netz mehr, das sie hätte auffangen können. Doch es gibt Ruinen, die diese Geschichte nachzuzeichnen gestatten. Das zweite Kapitel zieht sich historisch vom Erfurter Programm von 1892 bis zum Ende des Sozialismus 1989. Doch die Darstellung folgt nicht der Geschichte. Die systematisch angelegte Gliederung der Entwicklung unterscheidet Diskurskontexte verschiedener Disziplinen, die sich zeitlich überschneiden. Die Gliederung der Kapitel 2.1 bis 2.6 orientiert sich an der wachsenden Entfernung von der Realität: Es beginnt mit der Behandlung von Marx in der noch praxisrelevanten und insofern konkreten Ebene politischer Parteiliteratur (2.1, 2.2) und wird dann stets abstrakter. Über die ökonomische Analyse (2.3) und ihr Spalt30 Nach Negt besteht „die geistige Situation des 20. Jahrhunderts“ sogar aus „Fußnoten zu Marx“ (1992, 271) – in Variation eines Ausspruchs von A.N. Whitehead.

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produkt, die Soziologie (2.4), die noch einen – wenn auch vermittelten – konkreten Anwendungssinn haben, geht es zur Philosophisierung des Marxismus (2.5) und schließlich zur letztmöglichen Vergeistigung, der Theologisierung (2.6). In diesem sukzessiven Abstraktionsprozess wurden Argumente aus der einen Sphäre von den folgenden übernommen, und nicht immer die besten. Die Ironie dieser Geschichte ist allerdings, dass gerade die Praxisferne der Theologie es ihr erlaubte, die „Erinnerung“ an Marx über den Sozialismus hinaus zu bewahren (3.3.2). Diese Art der Gliederung beabsichtigt, den verschiedenen Grammatiken der Disziplinen gerecht zu werden, obzwar in ihnen oftmals ähnliche Themen behandelt werden. Versteht man Philosophie mit Hegel als den „Geist ihrer Zeit“, so muss die Philosophie über ihren eigenen Tellerrand hinausblicken. Es zeigt sich in diesem Kapitel, dass die Philosophie ihre Topoi bezüglich Marx oft unkritisch den protophilosophischen Disziplinen entnahm. „Philosophisch“ sind sie darum nur noch schlecht zu kritisieren, sondern die Kritik der Rezeptionsmuster muss sich auf die Grammatik der protophilosophischen Disziplinen einlassen, in denen die Marxverzerrungen zuerst entstanden sind, und diese dort beheben. Das kürzere dritte Kapitel behandelt dann die politische Philosophie der Gegenwart. Die postmortale Ausdehnung der Philosophiekritik über 1989, dem Punkt von Marx’ „zweitem Tod“ hinaus (Liessmann 1992) zeigt, dass die deutsche Vergeistigung realer Phänomene noch stärker geworden ist, nachdem die kritische Instanz des Marxismus entfallen ist. Solange das deutsche Denken marxistische Gegner hatte, war es durch sie auf eine Mitberücksichtigung der sozialen Realität verpflichtet. Auch war es der marxistischen Philosophiekritik ausgesetzt, die anfragte, wie die gemachten philosophischen Aussagen überhaupt als Aussagen möglich seien. Weil der heutigen Philosophie eine solch kritische Instanz auf Augenhöhe weitgehend fehlt, ist sie vollmundiger, und damit unkritischer geworden. Das dritte Kapitel stellt einen Versuch dar, eine solche Kritik zu rekonstituieren. Für diese Kritik von einigen Hauptströmungen der politischen Gegenwartsphilosophie (3.1 bis 3.4) macht sich die historische Tiefenanalyse bezahlt. Die idealistischen Voraussetzungen heutigen Philosophierens werden als solche erst erkennbar und kritisierbar, wenn man ihren theoriegeschichtlichen Hintergrund berücksichtigt. Die Theorievergessenheit erweist sich im Laufe der Analysen so selbst als historisches Produkt, hinter der bestimmte Annahmen aufweisbar sind. Diese Hintergrundannahmen – prominent etwa die Behauptung einer sozialstaatlichen „Erledigung“ der Klassenthematik – sind meist einzelwissenschaftlicher Natur und halten einer empirischen Überprüfung selten stand. Die Wiederaneignung des Marx’schen Denkens liefert dieser Arbeit eine Folie für die Kritik an der gegenwärtigen normativen Sozialphilosophie. Darüber hinaus will sie mit dem Abschmelzen der Rezeptionsbarrieren weitere produktive Rückgriffe auf Marx ermöglichen. Das systematische Ergebnis von Kapitel 4 schüttelt daher keine „neue Philosophie“ aus dem Ärmel. Es versucht vielmehr eine traditionelle Disziplin wiederzubeleben, für die die Namen von Marx und Kant seit je einstehen: Kritik. Eine solche Kritik lässt sich nicht auf abstrakte

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Formeln bringen – außer auf die, dass treffende Kritik konkret und sachhaltig sein muss.31 So ist selbst die sich weltüberhoben dünkende Systemtheorie in ihren Kernaussagen von einer bestimmten historischen Konstellation abhängig, die seit 1989 nicht mehr gegeben ist (Luhmann 1971; 2.5.6, Fn. 233; cf. 2.4.6). Genau hier, an der Frage der externen Konsistenz, muss eine an Effektivität interessierte Kritik ansetzen. Dafür braucht sie weniger „normative“ als vielmehr stichhaltige sachliche Argumente. Dieses für die Reichweite der Sozialphilosophie negativ-kritische Ergebnis macht Kapitel 4 als eine Rückbesinnung auf den Sinn der Philosophie deutlich, wie ihn schon Kant und Wittgenstein bestimmt haben: sie kann als Philosophie keine sachhaltigen Aussagen über die Welt machen. Das wusste auch Marx, der aus dem deutschen Idealismus kam und einige Zeit brauchte, um sich davon zu lösen (MEW 1, 108). Philosophie nach Marx beschränkt sich darauf, andere Philosophien und Protophilosophien zu kritisieren. Dafür muss sie sich gegenüber der Welt und den empirischen Wissenschaften öffnen, ohne sich ihnen auszuliefern. Denn gerade hier verstecken sich die protophilosophischen Ideologeme, denen Philosophen so oft auf den Leim gehen. Wie diese Arbeit veranschaulicht, bleibt der Philosophie damit genug zu tun. Anzumerken sind noch technische Details: die zuweilen umfangreichen Fußnoten enthalten keine zusätzlichen Argumente, sondern dienen dazu, den Gedankengang des Fließtextes zu illustrieren. Sie verweisen auf Literatur, in der sich ähnliche Gedanken finden, sowie auf entsprechende Stellen in dieser Arbeit. Zur Verdeutlichung komplexer ökonomischer Zusammenhänge wurden einige Graphiken eingebaut, die nur die Struktur des Gesagten transparenter machen sollen. Der Term „Wirtschaft“ meint stets den Gegenstand, der Term „Ökonomie“ die Theorien über diesen. Zitiert wird – außer bei Marx – auf amerikanische Weise (Name des Autors, Erscheinungsjahr und Seitenzahl), genauere Angaben finden sich im Literaturverzeichnis (5). Die Marxzitate stammen aus der Marx-EngelsGesamtausgabe (MEW, Dietz-Verlag, Berlin 1956 ff.), mit der Angabe von Band und Seitenzahl. Eigens hervorgehoben wird als Autor nur Engels. Auch die Marxzitate haben keinen sachlichen Beweisstatus per se, sondern sie sollen nur nachvollziehbar machen, wo und wie Marx etwas Entsprechendes gesagt hat.

31 Zum Kriterium der Sachhaltigkeit Lask 1902, 43; Carnap 1928a, § 7 (Demmerling 1998, 82), Stekeler 1995, 282 f.

2. Marx gestern: Zur Genese theoretischer Fehlrezeptionen

Dieses Kapitel widmet sich dem theoriegeschichtlichen Schicksal der Marx’schen Theorie, und zwar in dem Jahrhundert zwischen Engels’ Tod im Jahre 1895 bis an den Epochenbruch von 1989 heran. Es wird im Einzelnen vorgehen wie folgt: Kapitel 2.1 untersucht die Marxrezeption in der ersten marxistischen Massenpartei, der deutschen Sozialdemokratie und ihren verschiedenen Flügeln. Zugrundegelegt wird der empirizistische Fehlschluss im „Erfurter Programm“ von 1892 (2.1.1). Indem man die Marx’sche Theorie dort als empirische Beschreibung missdeutete, wurde ihre Binnenkomplexität verfehlt. So blieben nur die beiden Möglichkeiten, entweder die Theorie der sich scheinbar ständig völlig verändernden Realität jeweils anzupassen (2.1.2, Revisionismus), oder an der Theorie festzuhalten, sie aber einer Konfrontation mit jener Realität zu entrücken (2.1.4, Orthodoxie). Im Laufe dessen wurde die Gesellschaft, die der Gegenstand der Marx’schen Theorien – auch der ökonomischen – war, von der Orthodoxie naturalistisch enggeführt. Die revisionistische Reaktion darauf war eine Ethisierung. Zwei „Vergegenwärtigungen“ zeigen die oft übersehene ökonomietheoretische Vorgeschichte dieser wirkungsgeschichtlich fatalen Zerrissenheit auf sowie die theoretische Weichenstellung, die sie hinterließ (2.1.5, 2.1.6). Auch das nächste Kapitel behandelt einen wirkungsgeschichtlich zentralen Aspekt, die Überformung der Marx’schen Theorie zum Marxismus-Leninismus (2.2). Von hier rührt der theoretische „Primat der Politik“, der den Blick von Marx’ ökonomischen Theorien weiter abgelenkt hat (2.2). Zwar hat der Leninismus als politische Theorie den Gedanken der Autonomie politischer Gruppen innerhalb der Gesellschaft gestärkt (2.2.1). In der gewaltsamen und diktatorischen Umsetzung dieses Gedankens (2.2.2, 2.2.3) liegt jedoch eine Verkehrung im Theorieverständnis. Um effektiv handeln zu können, ist der mögliche Raum des Handelns genau zu bestimmen. Diese Rolle der Theorie wurde im Kommunismus umgestellt: sie wurde von einer kritischen Korrekturinstanz der Praxis zu einem ihrer Instrumente (2.2.4). Hier macht sich erneut die dualistische Auflösung

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des Gegenstandes „Gesellschaft“ in Technik und Ethik bemerkbar: einer mechanistischen Krisentheorie stand ein politischer Voluntarismus gegenüber, bei Lenin und Stalin wie bei Trotzki (2.2.5). Obzwar das Primat der Politik ökonomische Betrachtungen fortan entwertete, hatte es seinerseits ökonomietheoretische Voraussetzungen. Diese wichen von Marx’ Theorien stark ab. Die Verabschiedung von Marx bestand hier in der Ausrufung eines neuen, monopolistischen Stadiums. Eine Vergegenwärtigung beleuchtet dies ökonomisch (2.2.6). Das folgende Kapitel (2.3) widmet sich direkt der ökonomietheoretischen Marxbehandlung bzw. Nichtbehandlung. Die neoklassische Umstellung der Grundlagen der Ökonomie, auf die sich die radikale Arbeiterbewegung berief, lässt sich funktional als Reaktion auf den Marxismus lesen (2.3.1). Von den veränderten Grundlagen aus begegnete die Theorie Marx nun nicht mehr inhaltlich, sondern kategorial. Ökonomische „Marxwiderlegungen“ sind eigentlich eher Marxvermeidungen, da die neuen Grundbegriffe seine Aussagen nicht mehr adäquat begreifen können (2.3.2). Die in 2.1 und 2.2 aufgewiesene Entfernung von den Marx’schen Theorien seitens der Marxisten selbst führte nun dazu, dass weite Teile des theoretischen Marxismus die neuen theoretischen Grundlagen übernahmen, obwohl sie mit denen der ökonomischen Klassik, von der aus Marx argumentierte, unverträglich sind (2.3.3). Damit war ein wesentlicher Grundstein der späteren Implosion gelegt. Es kam so zur doppelten Entfernung von der Marx’schen Theorie: zur generellen Ökonomievergessenheit im deutschen Marxismus kam, wo noch ökonomisch gedacht wurde, eine Umstellung der Überlegungen auf nicht-Marx’sche Fundamente.1 Aufgrund dessen konnte der Marxismus seine Rolle als kritische Korrekturinstanz „bürgerlicher“ Sozialtheorie nur eingeschränkt wahrnehmen. Diese, und hier speziell das neoklassische Paradigma, hatte daher einen hegemonialen Einfluss auf andere Wissenschaften (2.3.4), wie der weitere Verlauf zeigen wird. Die abschließende „systematische Vergegenwärtigung“ des Ökonomiekapitels zeigt exemplarisch anhand der Behandlung des Geldes, wie sich die Marx’sche Theorie von derjenigen unterscheidet, die den bürgerlichen Wirtschafts- und Sozialtheorien zugrunde liegt (2.3.5). Das Beispiel des Geldes ist bedeutsam, weil die Kritische Theorie und die Wiederbelebungsversuche des Marxismus in der „Wertformanalyse“ gerade nicht vom Marx’schen Verständnis, sondern von einem mit Simmel philosophisierten neoklassischen Verständnis des Geldes ausgehen. Der Entsoziologisierung der ökonomischen Theorie in der Neoklassik lief eine Entökonomisierung der Soziologie parallel (Kapitel 2.4). In den Dualismus von Technik und Ethik, die seit Bernstein und Kautsky die Zerfallsprodukte des bei Marx noch einheitlichen Theorieprojektes darstellen, nisten sich in der Soziologie bestimmte Denkschulen ein. War in der Ökonomie ein Dualismus von ab1 Aufgrund des „Primats der Politik“ reagierten deutsche Marxisten ökonomietheoretisch nur auf das, was sich im angelsächsischen Sprachraum tat. Dieser wird daher eigens beleuchtet, soweit er für unseren Zusammenhang relevant ist.

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strakten neoklassischen Modelltheorien einerseits, und moralhaltigen, doch weitgehend theoriefreien Geschichtsschreibungen darüber andererseits zu konstatieren, so finden sich in der Soziologie ähnliche Theoretisierungen von sterilen systemischen Selbstläufern einerseits, von subjektiven und sittlichen Begleiterscheinungen anderseits. Sie stehen sich unverbunden gegenüber (2.4.1). Theoretisch besiegelt dies den Verlust des Gegenstandes „Gesellschaft“. Dieser Verlust wird als Preis der Marxvermeidung deutlich. Nach einigen Vermutungen über mögliche sozialstrukturelle Faktoren für diesen theoretischen Substanzverlust (2.4.2) wird die spezifisch deutsche Überfrachtung der Normativität skizziert, die sich auf beiden Seiten des Dualismus findet (2.4.3). Hier findet sich erstmals ein Umschlagen von Theorien über das Ethische in selbst ethisch-präskriptive Theorien. Diese Zweideutigkeit kennzeichnet noch den heutigen Gebrauch des Terms „normative Theorie“ – Theoriegeschichte ist eben nie nur historisch. Anhand einer Aufschlüsselung soziologischer Marxbehandlungen wird dann die Rolle rückerschlossen, die eine theoretische Marxvermeidung in der Entwicklung dieser theoretischen Konstellation funktional gespielt hat (2.4.4). Der antisoziologische Dualismus von Technik und Ethik, der auch als einer von Natur und Geist, Erklären und Verstehen oder Arbeit und Interaktion begegnet, verhärtete sich in der Schule der Technokratie. Ihre spezifische Vereinnahmung von Marx beeinflusste noch die anti-Marx’sche Haltung von Habermas. Sie wird darum eigens analysiert (2.4.5). Die Betrachtungen des Soziologiekapitels werden abschließend an einem Beispiel konkretisiert. Es geht um die für die Soziologie zentrale Frage der sozialstrukturellen Gliederung der Gesellschaft in Klassen und die Geschichte des Verschwindens dieser Sichtweise. Oft wird dies vorschnell als Verschwinden des realen Gegenstandes gedeutet. Die Analyse der Theoriegeschichte führt allerdings zu einem anderen Ergebnis (2.4.6). Den philosophischen Hintergründen solcher Kurzschlüsse von der Geschichte von Theorien auf die soziale Realität gilt das Kapitel zur Sozialphilosophie (2.5). Diese kann erst dann funktional als Reaktion auf Marx’sche Thesen interpretiert werden, wenn ihre Vermitteltheit durch andere, vorphilosophische Entwicklungen gesehen wird: Die technizistische Unterbestimmung der Basis (2.1.1/2.1.4, 2.2), die mit so verschiedenen Elementen wie Neoklassik (2.3), Technokratie (2.4.5) und Systemtheorie (2.4.6, 2.5.6) „aufgefüllt“ werden konnte, provozierte als Gegenreaktion Versuche, von der Ethik aus eine Gegenphilosophie zu entwerfen. Diese konnte als Ergänzung der unterbestimmten Basis durch einen normativen Überbau verstanden werden, auf den man sich fortan konzentriere (was hier „Normativismus“ genannt wird), aber auch – blieb sie doch meist mit Basistheorien unverbunden – als deren Ersetzung (dies wird entsprechend „Supernormativismus“ genannt). Soll Ethik „Gesellschaft“ begründen, wird die innertheoretische Ethisierung zu einer idealistischen und supernormativistischen Sozialphilosophie (2.5, erneut in 3 und 4.4). Die These, dass die deutsche Sozialphilosophie in der Reaktion auf Marx idealistisch und latent irrationalistisch wurde, ist nicht neu. Als eine ihrer gemä-

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ßigten Versionen wird zunächst die von René König vorgestellt (2.5.1). Zur Erläuterung, wie der Term „idealistisch“ benutzt wird und woher die Schwerkraft der „Tradition aller toten Geschlechter“ (1.4.1, Fn. 24) auf das philosophische Denken genauer stammt, werden dann diejenigen Partien der Philosophiegeschichte rekonstruiert, die in der deutschen Sozialphilosophie so stark nachwirken (2.5.2). Die Analyse einiger Hauptvertreter der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts zeigt anschließend das Fortwirken des Deutschen Idealismus: Rudolf Eucken (2.5.3), Martin Heidegger (2.5.5) und Niklas Luhmann (2.5.6) werden auf ihren Idealismus und ihre philosophisierten Marxverständnisse hin untersucht. Hier wird auch das Dilemma deutlich, in dem sich jeder Versuch befindet, heute an Marx anzuknüpfen: der theoretische Marxismus hat nicht nur die technizistische Verkürzung der Basis mitvollzogen (2.3.3), sondern auch die komplementäre moralistisch-idealistische Überladung des Überbaus. Das zeigt zumindest die Analyse von Georg Lukács, der nicht nur für das Marxverständnis der Kritischen Theorie, sondern auch für das von Heidegger wichtig war (2.5.4). Systematisch zu klären bleibt für die Vergegenwärtigung des Kapitels noch der Bezug von Marx auf Hegel. Denn Marx kann nur gegen deutsche Hegelianisierungen und Vergeistigungen in Anspruch genommen werden, wenn sein Verhältnis zu Hegel als ein primär kritisches erkannt wird (2.5.7). Die technizistische Verkürzung der Basis und die komplementäre Philosophisierung des Überbaus findet sich schließlich auch in der Kritischen Theorie (2.6): während bei Pollock ökonomisch das Bild eines ausweglos hermetischen „Systems“ vorherrscht, in das Elemente der Neoklassik und des Leninismus eingehen (2.6.2), werden die philosophischen Ausgangspunkte von Horkheimer (2.6.1) als lebensphilosophische, die Aspirationen von Adorno (2.6.3) hingegen als religiöse deutlich. Die Nähe zur Theologie, die sich bei mehreren Autoren der Kritischen Theorie findet, führt zu der Frage, inwieweit eine solche Theologisierung mit den Marx’schen Theorien verträglich ist. Dafür wird in einer systematischen Rückblende die Marx’sche Religionskritik vergegenwärtigt (2.6.4). Sie war für ihn anfangs ein Durchgangsstadium, im späteren Werk ein Mittel der politischen Kritik (2.6.5). Ihr Schwerpunkt war weniger die Religion selbst als vielmehr gerade jene Theologisierung der Sozialphilosophie, wie sie von der Kritischen Theorie erneuert wurde. Wenn Fachtheologen im 20. Jahrhundert etwas von Marx aufgriffen, so war es dagegen seine Kritik an der Religion und ihren Instrumentalisierungen. Das zeigt insbesondere ein Blick auf Karl Barth und Paul Tillich (2.6.6). Der einzige Kritische Theoretiker, der diese Verbindung von Theologie und Materialismus gesehen hat, war Walter Benjamin, auf den darum ein abschließendes Kapitel eingeht (2.6.7). Der Witz der Theologie ist es, dass erst sie das spekulative Denken stillstellt und auf diese Weise wieder einen Zugang zur Realität und zur Praxis schaffen kann.

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2.1 Marx in der Theorie der Sozialdemokratie 2.1.1 Das Erfurter Programm Walter Benjamin urteilte rückblickend über die alte Sozialdemokratie: „Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen. Er ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs“ (GS I.2, 698, verfasst 1940). Das ist eine Fundamentalkritik von Seiten eines wichtigen deutsch-sprachigen Marxisten. Nun ist die deutsche Sozialdemokratie eine politische Partei wie jede andere auch, sie kann daher politische Taktiken und ökonomische Vorstellungen haben, wie es ihr behagt. Wer eine andere Sicht vertritt, mag sich einer anderen Partei anschließen. Die Sozialdemokratie hatte allerdings ein spezielles Problem, und genau auf dieses spielt Benjamin hier an: sie war die politische Verkörperung des Marxismus. Vertrat sie Gedanken, die von Marx abwichen, schritt Marx zu Lebzeiten ein. Noch Jahrzehnte später bezog sie ihre Gedanken stets auf Marx zurück: entweder musste sie ihre jeweilige Taktik als im Einklang mit Marx’schen Theorien stehend erweisen, oder umgekehrt den Marx’schen Theorien Fehler oder zumindest eine nur beschränkte Reichweite nachweisen. Dies galt jedenfalls solange, bis sie sich von ihm gänzlich lossagte.2 Aber noch dann war Marx für die Parteitradition einer der belebendsten Autoren, man denke etwa an die Theorien der Jungsozialisten (Jusos). Selbst Eduard Bernstein, auf den der „Revisionismus“ zurückgeht und der in den 1970er Jahren eine Renaissance erlebte, verstand sich als Marxist; war er doch ein Vertrauter von Engels und später sein Nachlassverwalter. Die erste Sedimentierung der Marx’schen Schriften, der sich die Archäologie der Marxexegesen widmen muss, ist also die Kanalisierung ihrer Rezeption durch das politische Geschick der Massenpartei SPD. Gemäß der methodischen Beschränkung auf Texte, an welchen Weichenstellungen ablesbar sind, werden Schriften von Autoren untersucht, die sich grundsätzlichen theoretischen Themen widmeten und repräsentativ sind. An erster Stellte stehen da Eduard Bernstein

2 Im Godesberger Programm von 1959 fehlt jeder Hinweis auf Marx: „Der demokratische Sozialismus“ wurzelt „in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie“ (Abendroth 1964, 129). Ein Mitautor des Programms berichtet: „Wir haben [...] lange darüber diskutiert, ob wir prinzipiell an Marx festhalten, aber die bedeutenden Fehler in seinen Lehren und das Überholte ins Auge fassen oder umgekehrt uns prinzipiell von ihm lossagen, aber das noch heute Fruchtbare in seinen wirklichen empirischen Lehren weiterentwickeln sollten. Wir fanden schließlich diese Alternative nicht ergiebig und sagten uns, unsere Aufgabe sei, uns vor allem mit dem im zwanzigsten Jahrhundert Neuen zu befassen“ (Weisser 1976, 105). Das wäre auch marxistisch möglich gewesen. „In der Theorie des demokratischen Sozialismus in Deutschland hat nach mehr als einem halben Jahrhundert der Revisionismus gesiegt“ (Chr. Gneuss, in: Labedz 1965, 50; cf. in Bernstein 1976, 13; s.o., Fn. 44).

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(1850-1932) und Karl Kautsky (1854-1938), die beiden programmatischen Publizisten der Partei in der Zeit ihres ersten Massenerfolges. Auf diese geht das Erfurter Programm von 1891 zurück, das als Durchbruch des Marxismus in der Arbeiterbewegung gilt.3 Das Gründungsdokument von 1875, das Gothaer Programm, war von Marx scharf kritisiert worden (MEW 19, 15 ff.). Als 1890 das Verbot der SPD aufgehoben wurde und die Partei sich wieder legal der Arbeit im Parlament widmen konnte, gab sie sich erstmals ein offen marxistisches Programm. Dieses war für die Bewegung so wichtig, dass es sogar als Neuauflage des kommunistischen Manifestes angesehen wurde.4 Diese vier Druckseiten stammen allerdings aus einer Zeit, als der dritte Band des Marx’schen Kapitals (redigiert und herausgegeben von Engels im Jahre 1894) noch nicht erschienen war, ganz zu schweigen von den Marx’schen Frühschriften, die erst im Laufe der 1930er Jahre erschienen. Dennoch war dieses Programm ein Fanal, mit dem der Marxismus seinen großen Erfolgszug eröffnete.5 Es ist repräsentativ für das, was damals unter Marxismus verstanden wurde, und immerhin wurde es noch vom greisen Friedrich Engels abgesegnet. Die Anerkenntnis des in ihm vertretenen wurde später zum Streitpunkt zwischen Revisionisten und Orthodoxen. Es beginnt mit den Sätzen: „Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden“ (Erfurter Programm, zitiert nach Abendroth 1964, 95).

Wie schon Hegel zugeben musste (1821, § 182 ff.), ist die bürgerliche Gesellschaft das Kraftzentrum der modernen Entwicklung geworden, obwohl sie chaotische Folgen zeitigt und eine soziale Ungleichheit erzeugt.6 Marx hat diese Diagnose radikalisiert. Sie findet sich nun auch im Erfurter Programm wieder, je3 Zur Entstehung siehe MEW 22, 594 ff.; Miller 1964, 179 ff.; Grebing 1966, 10 f.; Abendroth 1964, 28 ff.; Beyer 1975; Lehnert 1983, 80 ff.; Fricke 1987, 214 ff; auch MEW 19, 238. 4 So schrieb etwa Lenin 1899: „Wir fürchten uns nicht im geringsten zu sagen, dass wir das Erfurter Programm nachahmen wollen: an der Nachahmung dessen, was gut ist, ist nichts Schlimmes“ (Werke 4, 229; cf. A. Weiss 1965). 5 Engels freute sich seinerzeit, „dass die Marx’sche Kritik voll durchgeschlagen hat“ (MEW 38, 183). 6 „Die bürgerliche Gesellschaft bietet [...] das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des [...] physischen und sittlichen Verderbs dar“ (Hegel 1821, § 185). „Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so [...] vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer [...] auf der einen Seite, wie auf der andern Seite [...] die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse“ (§ 243). „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, [...], dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“ (§ 245; Haltern 1985).

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doch in popularisierter Fassung. Was genau geht dabei eigentlich verloren? Um es vorwegzunehmen: Das Programm missdeutet Sätze, die Marx auf hoher Abstraktionsstufe als allgemeinste Logik des Produktionsprozesses entwickelt hatte, als Beschreibungen der unmittelbaren Gegenwart – und gibt sie so preis.7 Verloren geht dadurch die wissenschaftliche Tiefendimension. Geben wir einige Beispiele. Marx und Engels hatten beschrieben, wie der Grundantagonismus der bürgerlichen Gesellschaft, der Gegensatz zwischen den kapitalistischen Klassen Arbeit und Kapital, die vorigen Klassengegensätze in sich aufsaugt: „Die bisherigen kleinen Mittelstände [...] fallen ins Proletariat hinab“ (MEW 4, 469). Ging es hier um die historische Entstehung des Proletariats (cf. MEW 23, 180 ff., 741 ff.), so sieht es im zitierten Abschnitt des Programms so aus, als ginge es um zeitgenössische Arbeiter in Kleinbetrieben.8 Indem das Programm eine historische Aussage als Beschreibung der Gegenwart deutet, erlaubt es, den Aufweis moderner Mittelklassen als Marxwiderlegung hinzustellen (Bernstein 1899, 83/94 ff., cf. 2.1.2, 2.4.7). Ähnlich ist die Freisetzung „überschüssiger Arbeiter“ bei Marx keine Beschreibung einer kontinuierlichen Entwicklung „wachsender Zunahme“, wie das Programm will: „Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt“ (in Abendroth 1964, 95);

sondern eine Tendenz, die nur unter bestimmten Bedingungen manifest wird. Sind die Löhne hoch und die erwarteten Profite niedrig, wird der Kapitalist weniger investieren, daher auch weniger Arbeitskräfte brauchen. In diesem Fall werden tatsächlich Arbeitskräfte freigesetzt. Doch diese Freisetzung hat zweierlei zur Folge: erstens sind Arbeitslose nun gezwungen, auch für weniger Geld zu arbeiten. Dies drückt die Löhne und erhöht so die Profitchancen des Unternehmers, was sich in Investitionen und damit neuen Arbeitsplätzen auswirken kann. Zweitens wird der Unternehmer versuchen, seine Produktionstechnologie zu verbessern. Um mehr Gewinn herauszuschlagen, muss er entweder billiger oder mehr produzieren. Mit einer neuen Methode können sich seine Profitchancen zusätzlich erhöhen (cf. 2.1.6). Besonders bei durch hohe Arbeitslosigkeit verursachten niedrigen Löhnen wird er also investie7 Das lag weniger am mangelnden Sinn für „Dialektik“, wie der westliche Marxismus wollte, sondern am vereinfachten Ökonomieverständnis (cf. Kautsky 1887, dessen Lektüre nach Mohl 1867, 9 von Freund und Feind als verlässlicher Ersatz einer Kapital-Lektüre angesehen wurde). Bernstein und Kautsky hatten zwar Umgang mit Marx und Engels, doch waren sie weder Philosophen noch Ökonomen noch Politiker, sondern Publizisten. 8 Das Manifest meint die „kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern“ (MEW 4, 469), die Produktionsmittel besaßen und somit keine „freien Arbeiter“ waren. Der Arbeiter muss seine Arbeitskraft zu Markte tragen, weil er sonst nichts hat (2.4.6).

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ren. Dies kann zu weiteren positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt führen. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt also keineswegs „immer“ zu, sondern in wirtschaftlichen Aufschwüngen kann die Zahl auch zurückgehen. Allerdings wird die Zahl der neugeschaffenen Arbeitsplätze „tendenziell“, also über die Konjunkturzyklen hinweg, niedriger als die Zahl derer, die durch Rationalisierungen auf der Strecke bleiben, da eine Erhöhung der Produktivität der Arbeit durch eine Verbesserung der Produktionstechnologie die Arbeitsintensität des einzelnen Produktes verringert (MEW 23, 657 ff.). Diese Tendenz muss nicht zu jedem Zeitpunkt gegeben sein, sie wirkt sich aber über die Zeit hinweg auf die Gestalt der Sozialverhältnisse aus. Der Tendenz-Charakter der Marx’schen Gesetze ist als Beschreibung von Momentanzuständen gründlich missverstanden. Obwohl sich gewiss viel verändert hat, ist die Tendenz noch heute nachweisbar (Sassen 1988, 136). Nur wer sie vom jeweiligen Augenschein abhängig macht, muss sie in regelmäßigen Abständen als „widerlegt“ hinstellen.9 Auch in der folgenden Stelle stecken Umdeutungen: „Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten [...] bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung“ (in Abendroth 1964, 95).10

Die Hinzufügung des Passus „Zunahme der Unsicherheit der Existenz“ hatte Engels verfügt, da er um die Verbesserung der Situation der Arbeiter im Deutschland der Gründerzeit wusste (MEW 22, 231). Ausdrücke wie die „wachsende Zunahme [...] des Elends“ erinnern dennoch an die Verelendungstheorie von Malthus und anderen. Marx hatte sie zwar in jungen Jahren vertreten (MEW 40,

9 Dies erinnert an folgenden Witz: jemand fragt, ob der Blinker funktioniere. Die Antwort lautet: ‚geht, geht nicht, geht, geht nicht ...’ – auch hier hat der Proponent die Wirkweise eines Blinkers nicht verstanden. „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt, wie die Expansivkraft des Kapitals. [...] Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen anderen Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert“ (MEW 23, 673 f.). Aus dieser Rückkopplung hat Goodwin 1972 eine Theorie des „growth cycle“ modelliert, wobei er allerdings den Einfluss der Gewerkschaften eliminierte. Lederer 1931 erklärte die Arbeitslosigkeit dagegen mit der Monopolisierung. 10 Im Original: „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch der Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse“ (Marx, MEW 23, 790 f.).

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476; MEW 4, 476), aber schnell wieder abgelegt.11 Sie besagt, dass die Arbeiter stets nur soviel Lohn bekommen, wie zur Erhaltung ihres Existenzminimums notwendig ist. Diese These schien leicht durch den Verweis darauf zu widerlegen, dass der Lebensstandard der Arbeiter in Deutschland um 1900 gewachsen war. Die Ausbeutung kann allerdings auch dann steigen, wenn der Reallohn steigt: sie bezieht sich beim reifen Marx auf das Verhältnis zwischen Produktivitäts- und Lohnzuwächsen. Steigt die Produktivität schneller als der Lohn, wie zu erwarten ist (2.1.6), so zieht der Kapitalist einen höheren Anteil an Mehrwert aus der gekauften Arbeit als zuvor. Die Rate der Ausbeutung ist somit trotz des höheren Lohnes gestiegen (3.2.2, Fn. 27; MEW 23, 631; Shaikh 1986c). Die Lohnhöhe ist nicht durch das absolute Existenzminimum begrenzt, sondern durch den variablen Wert der Arbeitskraft, der sich nach den zu seiner Reproduktion notwendigen Gütern richtet. Was notwendig ist, entscheiden soziale Auseinandersetzungen. Das impliziert „ein moralisches Element“ (MEW 23, 185, 230, 286, 559; MEW 16, 9; MEW 19, 252), das hier verloren geht. Auch der Begriff des „Monopols“ wird in der vorhandenheitssemantischen Deutung unscharf. Zwar hat die Klasse der Kapitalisten per Definition das Monopol an Produktionsmitteln (MEW 3, 317; MEW 23, 249), doch das ist nicht zu verwechseln mit dem speziellen ökonomischen Begriff des Monopols. Innerhalb eines Industriesektors können sich durch aggressive Preispolitik, forcierte Konzentration sowie politische oder natürliche Marktschranken zeitweilig Monopole bilden, die die Konkurrenz in dieser Industrie für einige Zeit ausschalten (MEW 4, 158 ff.; MEW 25, 454, 627 ff.). Doch Voraussetzung eines solchen Monopols ist die Konkurrenz (MEW 4, 163 f.; MEW 23, 654 f.). Im ökonomischen Sinn sind „die“ Produktionsmittel daher nicht das Monopol „einer“ Gruppe von Kapitalisten, da die Kapitalisten durch die Konkurrenz untereinander keine homogene Gruppe bilden. Der historische und der ökonomische Monopolbegriff werden vermengt, wenn „das“ Monopol als Deskription eines Momentanzustandes gelesen wird. Diese Reduktion praktizierten auch Hilferding und Lenin, indem sie das „neue Stadium“ des Monopolkapitalismus ausriefen (2.2.6). Das ersparte den Marxisten fortan die Marxlektüre (2.3.3). Die Vereinfachung betrifft in allen Beispielen denselben Aspekt: es gibt in dieser Darstellung nur noch eine Ebene. Es wird sinngemäß ausgesagt: so ist es, und so wird es sein. Das Schlüsselwort dafür ist die „Naturnotwendigkeit“. Hier wird eine Notwendigkeit behauptet, ohne sie noch auszuweisen. Über ihre Verlaufsform wird präjudiziert, sie ähnele derjenigen in der „Natur“. Mit dieser naturhaften Entwicklung wird auf den damals triumphierenden Darwinismus angespielt. Kautsky war zeitweilig Anhänger des Darwinismus, Bernstein von Eugen

11 MEW 6, 411; Abendroth 1964, 35; Rosdolsky 1969, 330 ff.; Shaikh o.J. Durch die „Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts“ (MEW 23, 790) hat sich die Armut global erhöht (Baratta 2002, 1086; U. Neumann 1999).

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Dühring.12 Schon Engels hatte die Entwicklungen von Natur und Gesellschaft einander angenähert (MEW 20, 307 ff.). Kautsky und Bernstein gingen später dazu über, die historische Entwicklung durch eine naturgeschichtliche zu ersetzen, Kautsky beispielsweise in seiner Ethik (1906), Bernstein in seinem Glauben an ein „friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus“. Die Verschiebung des Fokus von der Gesellschaft zur Natur ermöglichte zudem den Schulterschluss mit sozialdarwinistischen Tendenzen (2.1.4).13 Das politische Handeln, dem Marx das Licht des Begriffes aufstecken wollte, ist durch eben jenen „Begriff“ überflüssig geworden.14 Das beklagte Benjamins Eingangszitat. In dem veränderten Naturbegriff (cf. MEW 23, 649; Schmidt 1960, Dahmer 1994) steckt aber auch ein verändertes Wissenschaftsverständnis. Marx wollte mit seinen Modellen weder eine Abbildung der zeitgenössischen Verhältnisse noch eine Vorwegnahme der zukünftigen geben, sondern eine Analyse der Kräfte, die hinter den gegenwärtigen Erscheinungen standen und sich in diesen mani12 Zu Bernstein Gay 1954, 193; Coletti 1971, Gustavson 1972, Meyer 1977, Carsten 1993, Steger 1997; zu Kautsky Lenin 1918, Korsch 1929, Matthias 1957, Steenson 1978, Salvadori 1979, Kolakowski 1981 II, 43 ff.; Vranitzky 1981 I, 305 ff.; Mende 1985, Gilcher-Holtey 1986, Geary 1987, Schelz-Brandenburg 1992; Koth 1993, Häupel 1993. Zu Marx’ Verhältnis zu Darwin Mozetic 1987, 117 ff.; insgesamt Lichtheim 1961, McLellan 1979, Howard 1989, 65 ff. 13 Bebel 1879, 289 ff.; Woltmann 1899, Raddatz 1975, 288; Heyer 1982. Die bis dahin noch verbliebene SPD-Fraktion stimmte 1933 beispielsweise dem Euthanasieparagraphen zu (Weingart 1988, Mosse 1990). 14 Die parteiamtliche Programmauslegung erläutert: „Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet [...] die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise mit Notwendigkeit herbei“ (Kautsky 1892, 140), und damit auch den Sozialismus: „So gewiss als das Proletariat schließlich zur herrschenden Klasse im Staate werden muss, ebenso gewiss ist der Sieg des Sozialismus“ (231; siehe schon Bebel 1879, 379 ff., 407 ff.). Kautsky will den Eindruck vermeiden, „dass den Ausgebeuteten eines schönen Tages ohne ihr Zutun die gebratenen Tauben der sozialen Revolution in den Mund fliegen werden“. Doch genau darauf läuft es hinaus: „Wir halten den Zusammenbruch der heutigen Gesellschaft für unvermeidlich, weil wir wissen, dass die ökonomische Entwicklung mit Naturnotwendigkeit Zustände erzeugt, welche die Ausgebeuteten zwingen, gegen das Privateigentum anzukämpfen“, da sie ihnen „nur die Wahl lassen zwischen tatlosem Verkommen oder tatkräftigem Umsturz“ (111). Es ist scheinbar nichts weiter zu tun als diesen politischen „Sieg“ zu erringen: „Die sozialistische Produktion ist also die naturnotwendige Folge des Sieges des Proletariats“ (229). Dieser „Sieg“ schien einfach zu haben: „Die bürgerliche Gesellschaft arbeitet so kräftig auf ihren eigenen Untergang los, dass wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben“ (Bebel 1891 auf dem Parteitag, zitiert nach Lehnert 1983, 83). Zuerst der Zusammenbruch, dann die Machtübernahme, dann der Sozialismus; alles folgt mit Naturnotwendigkeit aufeinander. Wo bleibt dabei die politische Praxis, jenseits der inneren Organisation der Partei? Ex post bestätigt Kautsky die theoretische Praxisverbauung: „Die Herbeiführung der Revolution [...] erschien mir [...] unmöglich. Sie konnte nur das Werk gewaltiger historischer Ereignisse sein, auf die die Partei keinen Einfluss hatte“ (in: Der Sozialist 5.4, 55). „Eine Revolution machen wollen ist [...] Torheit“ (Lassalle 1987, 198).

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festierten. Für die Unterscheidung von „Wesen und Erscheinung“ braucht man nicht erst Hegels Logik (Werke 6, 17 ff.). Einfache Beispiele können klarmachen, dass dies in vielen Wissenschaften so praktiziert wird: Wir sehen jeden Morgen die Sonne aufgehen, und doch wissen wir, dass sich in Wirklichkeit die Erde um die Sonne dreht.15 Für die Anerkenntnis dieses Faktums muss man kein Hegelianer sein. Schon im Bereich der Natur folgt daraus kein Determinismus, denn die Erdanziehungskraft hat ihr Gegenstück in der Fliehkraft. Um ihrer willen müssen keineswegs alle Dinge am Boden kleben als wären sie aus Stein. Recht verstanden, kann man das Gesetz von der Erdanziehungskraft nicht durch fliegende Schmetterlinge widerlegen. Theorie und Erfahrung liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Um sie aufeinander zu beziehen, bedarf es methodisch kontrollierter Vermittlungsstufen. Marx gab ein Modell des allgemeinen Fungierens des Kapitalismus auf höchster Abstraktionsstufe. Im methodischen Abstieg vom Abstrakten zum Konkreten bedarf eine Beschreibung der zeitgenössischen Verhältnisse der schrittweise Einschaltung immer materialreicherer spezifischer Bedingungen, unter denen dieser Prozess jeweils vor sich geht.16 Genau diese Vermittlungen fehlen dem Erfurter Programm. Wer die von Marx dargestellten „Gesetze“ als Beschreibungen der unmittelbaren Erscheinungen der Gegenwart missversteht, macht sie „anfällig für empirische Widerlegungen“ (Holzey 1994, 11), wenn sich andere Phänomene zeigen. Dies gilt neben den Aussagen über Konzentration und Arbeitslosigkeit auch für die über Krisen, den tendenziellen Fall der Profitrate oder die Arbeitswerttheorie. Marx’ Ansatz war einfach: Nur wenn verstanden ist, welcher Logik die jeweiligen Kräfte folgen, kann ihr längerfristiges Zusammenspiel interpretiert werden. Weil der Abstraktionsgrad hoch ist, kann keine exakte Voraussage der Zukunft vorgenommen werden. Es geht vielmehr um Spielräume, die der Entwicklung durch diese Gesetze gesteckt sind. In diesen Spielräumen muss die Politik der Arbeiterbewegung mit möglichst effektiven Strategien ansetzen.17 Im Pro15 Die Ökonomie „hat eine Ähnlichkeit mit dem Planetensystem, das immer dem Auge nur unregelmäßige Bewegungen zeigt, aber dessen Gesetze doch erkannt werden können“ (Hegel 1821, § 189 Anm.; cf. MEW 23, 335; Sheehan 1985). Die Rede von Wesen und Erscheinung stiftet noch keine „dialektische Methode“ (Simon-Schäfer 1974, 224). 16 MEW 13, 631 ff.; MEW 25, 33; cf. Hegel, Werke 4, 413 und Werke 16, 78; Sweezy 1942, 11 ff.; Rosdolsky 1969, 43 ff. und in Euchner 1972, 9 ff.; Eberle 1974 und Jánoska 1994. 17 Das traditionelle Marxverständnis war oft angemessener als destruktive Posen späterer Seminarmarxisten. Rosa Luxemburg etwa hat den Tendenzcharakter erfasst: „Der Kampf des Mittelbetriebes mit dem Großkapital ist nicht als eine regelmäßige Schlacht zu denken, wo der Trupp des schwächeren Teiles [...] immer mehr zusammenschmilzt, sondern als ein periodisches Abmähen der Kleinkapitale, die dann immer wieder rasch aufkommen, um von neuem durch die Sense der Großindustrie abgemäht zu werden“ (1899, 28, cf. Bebel 1879, 380 f.). Probleme bereitet erst die Frage, was das für die Analyse und die politische Praxis bedeutet. Manche Verkürzungen entstammen nicht philosophischen „Verständnisfehlern“, sondern der Pragmatik.

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gramm dagegen wird die Tätigkeit der Sozialdemokratie abhängig gemacht von erwarteten „Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden“. Weil das Privateigentum an Produktionsmitteln „unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung“, könne nur „die Verwandlung“ desselben „in gesellschaftliches Eigentum“ noch abhelfen. Wie genau das geschehen sollte, galt vorerst nicht als wichtig, da die Partei sich zunächst auf die politische Arbeit und Bildung konzentrieren müsse. Doch gerade durch die naturalisierte Vorstellung dieser Umwandlungen erlangte die Partei ein großes Vertrauen auf die „historische Notwendigkeit“, die auf ihrer Seite stünde. Dies war allerdings nur dann plausibel, wenn tatsächlich „Krisen, Konflikte, Katastrophen“18 im vorhergesagten Maße eintraten. Marx sah sich zum vertieften Studium der Ökonomie veranlasst, als er sich in seinen eigenen Revolutionserwartungen zweimal verschätzte (1848 und 1857). Die Ausarbeitung einer eigenen ökonomischen Theorie war eine Reaktion darauf. Die Krisenprognose des Programms überspringt genau jene Theorie (cf. 2.1.5). In den konkreten Forderungen des Programms, die Bernstein verfasste, spielt die Krisenrhetorik kaum noch eine Rolle: gefordert werden „zunächst“ gleiches Wahlrecht, demokratische Gesetzgebung, „Volkswehr“ statt stehendem Heer, freie Meinungsäußerung, Gleichstellung der Frau, Privatisierung der Religion, Schulpflicht, Arbeitsschutz, daneben gibt es Forderungen zur Rechtspflege und Besteuerung. Doch diese Forderungen hätten auch ohne Krisenprognose verfochten werden können, ohne das Weltbild, dass die Produktionsmittel irgendwann einmal zu vergesellschaften seien. Dem Pessimismus in der Erwartung der ökonomischen Zukunft entspricht so ein Optimismus in der Einschätzung des politisch Möglichen. Bei Marx sollten kleine, in ihrer Wirkung begrenzte Schritte den Weg zu den großen ebnen. Sie konnten diese aber nicht ersetzen, da sie mittelfristige Gegenreaktionen hervorrufen würden.19 Im Programm klaffte zwischen großen und kleinen Schritten, zwischen dem naturalisierten Krisenszenario und den liberalen Forderungen nun eine merkwürdige Lücke. Marx’ allgemeiner theoretischer Gegenstand „Gesellschaft“ fiel durch diese hindurch (cf. 2.4.1). Das machte sich in der Fehlbestimmung des besonderen Gegenstandes „Deutschland um 1900“ bemerkbar. Den konkreten Verhältnissen wird im Programm unvermittelt eine Autonomie der Politik gegenüber der Wirtschaft, ein Primat der Politik übergestülpt. 20 18 Ein Ausspruch Kautskys von 1902, nach Gay 1954, 238, vgl. Hofmann 1979, 182. 19 MEW 16, 5 ff., 146 ff.; MEW 17, 440 f. „Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, in dem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist“ (Luxemburg 1899, 7). 20 Cf. 2.2.6, 2.3.3, 2.6.2. „Man redet sich und der Partei vor, ‚die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein’, ohne sich zu fragen, ob sie nicht damit ebenso notwendig aus ihrer alten Gesellschaftsverfassung hinauswachse und diese alte Hülle [...] gewaltsam sprengen müsse [...] Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle

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Spätere Entwicklungen in der Sozialdemokratie lassen sich auf die hier erfolgten Weichenstellungen zurück beziehen. Die den Forderungen und der Taktik unverbunden gegenüberstehende Programmatik wurde als Widerspruch empfunden, der gelöst werden musste. Drei wesentliche Folgeströmungen lassen sich von diesem Knotenpunkt aus verfolgen. Der „Revisionismus“ (2.1.2) gab die Krisen- und Vergesellschaftungsrhetorik ganz auf: er revidierte die theoretischen Voraussetzungen der sozialdemokratischen Politik zu einer neuen, nachträglichen Grundlegung, die die bislang geübte Praxis prinzipialisierte. Die Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis wird grundlegend gewandelt. Die Konsequenz zieht sich bis in die Philosophie des 20. Jahrhunderts. Argumentationsmuster wie die Instrumentalisierung der Ethik für die Sozialtheorie sind noch heute gängig (2.4, 3.1). Doch erst eine sozialdemokratische Politik, die ihre theoretische Grundlegung von einer materialen Begründung durch die politische Ökonomie auf „Ethik“ umgestellt hatte, brauchte plötzlich „normative Fundamente“ zur Rechtfertigung – ihrer Politik, und nun auch ihrer Ethik. Die zweite Gruppe, die „Orthodoxie“, versuchte, den Widerspruch so lange wie möglich zu glätten (2.1.4). Kautsky wollte nachweisen, dass die bestehende Taktik der Sozialdemokratie mit den Marx’schen Theorien in Einklang stünde. Auch diese Strömung hat weit ausgestrahlt, etwa wenn es darum ging, eine bestehende Praxis als „marxistisch“ auszuweisen. Hierbei kam es zur regelrechten Instrumentalisierung der Dialektik. Diese musste oft dazu herhalten, Unzusammengehöriges zusammenzubringen, und wurde infolgedessen arg fetischisiert. Dies galt für sozialistische Staaten wie auch für den Hegelmarxismus im Westen, welcher seine marxistische Terminologie, wenn sie auf die jeweils gegebenen Verhältnisse nicht recht passen mochte, nicht etwa durch eine strenge Analyse der Gegenwart, sondern durch fragwürdige Anleihen bei Hegel zu rechtfertigen suchte. Eine letzte Gruppe versuchte, die Praxis der Vergesellschaftungsprogrammatik anzugleichen. Sie konnte dabei keinen gesonderten Wert auf die beMacht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volks hinter sich hat [...] Aber in Deutschland, wo die Regierung fast allmächtig und der Reichstag und alle andern Vertretungskörper ohne wirkliche Macht, in Deutschland so etwas proklamieren [...] heißt das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmen [...] Eine solche Politik kann nur die eigne Partei auf die Dauer irreführen“ (Engels, MEW 22, 234; cf. Kautsky 1893). „Wenn etwas feststeht, so ist es dies, dass unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. [...] Aber das Faktum, dass man nicht einmal ein offen republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlichfriedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft“ (235). Noch deutlicher wird der voreilige Primat der Politik im Entwurf, wo nicht nur von „zwei feindlichen Heerlagern“ die Rede ist, sondern von „Unterwerfung“, „Herrschaft“, „Knechtschaft“, „Abhängigkeit“ etc. (nach MEW 22, 596 f.). Engels kritisierte, dies bringe „den falschen Schein hinein, als habe die politische Herrschaft jener Räuberbande das verursacht“ – es sei aber „eine ökonomische Tatsache, die ökonomisch zu erklären ist“ (231).

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sonderen Verhältnisse legen, unter denen diese Verwirklichung geschehen sollte. Trotz interner Differenzen kann man unter diese Gruppe Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki rechnen (cf. 2.2). Außer in den Realsozialismus strahlte sie in die radikalen Teile der Studentenbewegung, den Linksterrorismus sowie den DritteWelt-Kommunismus (McLellan 1979) aus. Alle drei Gruppen sind nur auf der Grundlage der vom Marxismus der II. Internationale ausgehenden Weichenstellungen angemessen zu verstehen. Sie zeugten neue Interpretationen, gingen dabei jedoch von derjenigen aus, die hier stellvertretend am Erfurter Programm kritisiert wurde. Betrachtet wir die Folgen in der Sozialdemokratie.

2.1.2 Der Revisionismus „Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Bernstein 1897, 556)

Die deutsche Sozialdemokratie hatte sich in den Jahren nach 1890, in denen ihre Mitgliederzahl stets wuchs, auf eine politische Arbeit innerhalb der im Kaiserreich bestehenden Möglichkeiten eingelassen. Das bedeutete vor allem, dass die Fraktion im Parlament arbeiterfreundliche Vorstellungen einzubringen suchte und die angewachsenen Gewerkschaften unterstützte.21 Durch die stets drohende Gefahr einer erneuten Illegalisierung einerseits, durch innere Zerstrittenheit über den langfristigen politischen Kurs andererseits wurde die Partei zunehmend auf diesen parlamentarischen Weg festgelegt. Sie konnte zwar bis 1914 viel für die Verbesserung der sozialen und politischen Lage der Arbeiter und somit zur Modernisierung des Kaiserreichs erreichen, entgegen der anhaltenden Ablehnung seitens der Oberschichten und der zeitweiligen Verweigerungshaltung der Reichstagsfraktion, die einen regelrechten „Immobilismus“ der Sozialdemokratie bewirkte.22 Doch die mit diesem Erfolg verbundene Etablierung brachte die Parteiführung zunehmend in Konflikt mit der radikalen Rhetorik ihres Programms. Theorie und Praxis stimmten nicht mehr überein. Eduard Bernstein, jahrzehntelang Exilant und dabei unter anderem Privatsekretär von Engels, unternahm es nun, ausgehend von der bestehenden Praxis eine neue Theorie auszuarbeiten, die diese Praxis begründen sollte. Die programmatische Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus“ (1899), um dessen Abfassung ihn August Bebel gebeten hatte, stellt diese Absicht klar heraus: es sei eine „Einheit zwischen Theorie und Praxis herzustellen“ (46/50). „Theorie“ meint hier natürlich – wie noch bei Horkheimer (1937) – die Theorie von Marx: „Die deutsche Sozialdemokratie erkennt heute als die theoretische Grundlage ihres Wirkens die von Marx und Engels ausgearbeitete und von ihnen als ‚wissenschaftlicher Sozialismus’ bezeichnete Gesellschaftslehre an“ (29/29). 21 „Auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft wollten die Gewerkschaften in solidarischer Aktion ihrer Mitglieder für die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter kämpfen“ (Grebing 1972, 101). 22 Ullmann 1996, 206; vgl. Grebing 1966, 105, insgesamt Roth 1963, D. Groh 1973.

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Diese Grundlage sei nun aufgrund der geübten Praxis zu „berichtigen“ (39/42): „Es ist nicht genug, dass die Praxis die Theorie korrigiert, die Theorie – wenn sie [...] einen Wert haben soll – muss sich dazu verstehen, die Bedeutung der Korrektur anzuerkennen“ (40/43). Da der „wissenschaftliche Sozialismus“ (29/ 29, 202/238; Engels, MEW 19, 228) vornehmlich eine ökonomische Theorie war, war Bernstein gezwungen, sie auf dem Gebiet der „reinen Doktrin“ zu widerlegen, um dann für die „angewandte Wissenschaft“ (31/31) alternative Modelle vorzuschlagen. Er widerlegt allerdings nicht die Marx’sche Theorie, sondern deren vereinfachte Lesart im Erfurter Programm, dessen Mitverfasser er war: „Wäre die Gesellschaft so konstituiert oder hätte sie sich entwickelt, wie die sozialistische Doktrin es bisher unterstellte, dann würde allerdings der ökonomische Zusammenbruch nur die Frage einer kurzen Spanne Zeit sein können. Aber das ist eben, wie wir sehen, nicht der Fall. Weit entfernt, dass die Gliederung der Gesellschaft sich gegen früher vereinfacht hätte, hat sie sich vielmehr, sowohl was die Einkommenshöhe als was die Berufstätigkeit anbetrifft, in hohem Maße abgestuft und differenziert“ (79/89).

Solche Beobachtungen werden als Falsifikation einer Theorie gewertet, die erwartet, dass die Gesellschaft sich stetig sozial polarisiert, und die nahe Krisen ankündigt. Nach Marx ist die Beschreibung einer konkreten Gesellschaftsform jedoch nur unter der Einschaltung vielfacher Vermittlungsstufen möglich. Eine Konfrontation einfacher Beobachtungen mit einer Theorie ist nur dann möglich, wenn beide auf einer Ebene liegen. Das ist zwar im Erfurter Programm, nicht aber bei Marx’ Aussagen über wirtschaftliche Klassen und Krisen der Fall. Für Marx war Wissenschaft deswegen nötig, weil bloße Momentanbeobachtungen die Logik des Fungierens gerade nicht verraten.23 Bernstein schiebt diesen Standpunkt auf Marx’ Befangensein in den „Schlingen“ (48/53) der Dialektik. Marx gibt hier allerdings lediglich eine Grundlage des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses wieder – und Bernstein gibt sie preis. Dieser Versuch einer „Widerlegung“ ist seither aus der Diskussion nicht mehr wegzudenken. Er hatte nicht nur ideengeschichtliche (Coletti 1971, Gustavson 1972), sondern auch reale Voraussetzungen: Nach der „Großen Depression“ von 1873 bis 1896 zog das wirtschaftliche Wachstum auch in Deutschland wieder an.24 Aus historischen Gründen schnellte es im Kaiserreich besonders rasch empor. Die industrielle Revolution hatte Deutschland verspätet erreicht, bedingt vor allem durch die Kleinstaaterei bis 1871. Als es aber erreicht wurde, konnte es binnen kurzer Zeit den neuesten Stand der Technik zum Anschlag bringen und damit billiger produzieren als andere Länder, ohne dafür große Entwicklungskosten investiert zu haben. Der Staat tat das seinige, um das Wachstum zu begünstigen. Das konnte er sich 23 „Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“ (MEW 25, 825, cf. MEW 32, 553). Marx steht „in der großen Tradition der Vernunftphilosophie“, da bei ihm die „Wirklichkeit so umfassend und vollständig wie möglich zur Sprache kommt“ (Rohrmoser 1970, 60). 24 Rosenberg 1974, XXIV; Coletti 1971, 22; Mandel 1972, 114ff.; Ullmann 1995, 60.

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aufgrund der Kriegsgewinne auch leisten. Im „Entwicklungsland“ Deutschland wurde das Verkehrswesen vom Staat aufgebaut. Durch den staatlichen Eisenbahn- und Flottenbau hatten Teile der Schwerindustrie die zusätzlichen Vorteile eines garantierten Absatzes und monopolisierter Marktanteile.25 Bernstein teilt nun Beobachtungen des neuen Booms mit. Das forcierte Wachstum deutet Bernstein allerdings sogleich in eine qualitativ neue Stufe der Logik der Entwicklung um (99/113). In einem späteren Vortrag benutzt Bernstein Kurven: der Marxismus habe eine Kette von Konjunkturzyklen mit insgesamt absteigender Tendenz behauptet, stattdessen sei aber eine insgesamt aufsteigende Tendenz zu verzeichnen (1908, 123). Diese Kurven sind allerdings unspezifiziert. Marx hätte Bernstein sofort zugegeben, dass der „Reichtum der Gesellschaft“ angestiegen sei. Den Kapitalismus macht ja ein stetiges Wachstum aus: immer größere Mengen von Kapital suchen profitable Investitionsmöglichkeiten, immer größere Mengen von Gütern werden produziert und auf den Markt geworfen (2.3.1). Was nach Marx auf lange Sicht tendenziell abnimmt, ist der Anteil der Löhne am Produktivitätszuwachs (eine steigende Ausbeutung) sowie die Profitrate (2.1.6). Bernstein reduziert die Komplexität der Theorie und wird ihr damit nicht mehr gerecht. Er schreibt einzelnen Phänomenen der kapitalistischen Wirtschaft die neue Funktion zu, eine krisenfreie Prosperität zu ermöglichen. Es handelt sich dabei um neue Bewertungen des Kredits, der Aktiengesellschaft und des Kartells. Was ändert er nun im Vergleich zu Marx? Kredite kommen nach Marx zustande, wenn „brachliegendes Kapital“,26 das Anlagemöglichkeiten sucht, auf Unternehmen trifft, die Geld suchen. Der Gläubiger oder die vermittelnde Instanz der Bank zieht aus diesem Kapitalfluss einen Zins ab, der anteilig aus dem Profit gezahlt wird. Solche Reproduktionskredite sind gleichursprünglich mit den kapitalistischen Banken.27 Marx schrieb dem Kredit eine der Akkumulation förderliche wie auch destruktive Wirkung zu.28 25 Rosenberg 1955, Henning 1974, Fischer 1985, Hobsbawm 1989, Ullmann 1995, 95. 26 MEW 25, 80, 263, 331, 514; gemeint ist disponibles Geldkapital, das aufgrund mangelnder Profitabilität in der eigenen Industrie von dem Eigentümer nicht produktiv angelegt wird. 27 Bernstein findet diesen Gedanken daher „nicht gerade neu“ (1899, 100/115). Konsumentenkredite bei der Bank sind eine jüngere Erfindung (bei der Ratenzahlung von Autos oder Häusern), aber in Form des Wuchers (MEW 25, 607) älter als andere Formen wie Handelskredit (Zahlungsaufschub) oder Staatskredit (die vom Staat aufgenommenen Schulden zur Deckung eines Haushaltsdefizits, cf. MEW 7, 13 ff.; cf. insgesamt Pohl 1993; auch 2.3.5). 28 Marx schreibt dem Kredit „doppelseitige Charaktere“ zu: „Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts“, aber zugleich auch „die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen“ (MEW 25, 457). Er macht das Kapital beweglicher: auf bestehendes, aber momentan (in A) festgelegtes Vermögen kann ein Kredit aufgenommen werden, um das Geld sofort in einen anderen Zweig (B) zu investieren. Das Geld hat sich scheinbar verdoppelt – der Kapitalbesitzer bezieht, abzüglich der Zinszahlungen, Einkünfte aus zwei Anlagen desselben Kapitals. Doch eine Hälfte (B) besteht aus

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Bernstein legt ihnen nun die neue Eigenschaft bei, nur noch eindämmend auf die Ausbreitung einer Krise einzuwirken (100/114): Kommt ein Unternehmen in Schwierigkeiten, kann es sich durch Kredite über Wasser halten und muss nicht sofort bankrott gehen. So richtig dies ist, so wenig darf dies dazu verleiten, „allgemeine Geschäftskrisen nach Art der früheren überhaupt als unwahrscheinlich zu betrachten“ (99/114). Denn Firmen können nach wie vor bankrott gehen; ein solcher Bankrott kann sogar schlimmere Folgen haben: wenn der Bankrotteur große Kredite aufgenommen hat, kann er seine Bank möglicherweise mitruinieren, womit eine Kettenreaktion ausgelöst würde. Solange das Profitmotiv der Motor des Wirtschaftens ist, können Kredite die Logik des Fressen und Gefressenwerdens nicht aufheben. Obwohl sie kurzfristig Krisen eindämmen können, wie Bernstein gegen Rosa Luxemburg zunächst richtig meint, sind finanzielle Verflechtungen zugleich Faktoren der Ausbreitung einer Krise, da nun ein Glied das andere mitreißen kann.29 Kredite beschleunigen das kapitalistische Wachstum, indem sie die Umschlagszeiten verkürzen. Sie steigern so aber zugleich die Ursache der Krisen.30 Die durch den anarchischen Charakter des Geldmarktes entstehenden monetären Krisen, die in den 1990er Jahren wieder verstärkt auftraten, sind damit noch gar nicht angesprochen (2.3.5). Auch sie zeigen, dass die Entwicklung des Kreditwesens Krisen nicht aufheben kann. Bernstein und Luxemburg rissen den Doppelcharakter des Kredits in gut und böse auseinander.

Schulden, die irgendwann abzuzahlen sind. Dieses Kapital ist „fiktiv“; zwar wirkt es, aber nur als negatives (MEW 25, 413 f., 483; MEW 40, 370; der Gewinn aus Kapital B war für Keynes zentral, da es scheinbar aus dem Nichts entsteht). „Beschleunigung“ (MEW 25, 452) meint, dass sich das Kapital nun schneller von A nach B bewegen kann, als wenn es seine Umschlagszeit hätte abwarten müssen. Es muss nicht das Ende des Produktionszyklus von Kapital A abwarten. Dies vermittelt die Ausgleichung der Profitrate (451) zwischen verschiedenen Industrien. Zudem vergesellschaftet der Kredit bereits die Produktion, da er viele kleine Kapitale zu einem großen zusammenfasst (454). Um es für alle zu nutzen, bedürfte es der politischen Umwälzung, die Bernstein unterschlägt (Schimkowsky 1974, 194). Solange sie unterbleibt, kommt es durch die Trennung von Geldbesitzer und Unternehmer zu verantwortungslosem Umgang mit Kapital: Geld wird zum „Glücksritter“ (456), der Casinokapitalismus zum „reinsten und kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem“ (457), der „spekulierende Großhändler riskiert“ (455) gesellschaftliches Eigentum – zur Zeit der globalisierten Finanzmärkte und Staatsbankrotte ein bekanntes Phänomen. 29 Luxemburg hatte gegen Bernstein 1897 die destruktive Rolle der Kredite betont: „Wenn die Krisen [...] aus dem Widerspruch zwischen der Expansionsfähigkeit [...] der Produktion und der beschränkten Konsumtionsfähigkeit entstehen [zur Unterkonsumtionstheorie siehe 2.1.5], so ist der Kredit [...] das spezielle Mittel, diesen Widerspruch so oft als möglich zur Eruption zu bringen. ([...]) So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel [...] auch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonderer mächtiger Faktor der Krisenbildung“ (1899, 19 f.). 30 Sie erhöhen die organische Zusammensetzung des Kapitals (2.1.6; MEW 23, 655; MEW 25, 451 ff.; vgl. Fritsch 1954, 100 ff., Brunoff 1976, 77 ff.; K. Kim 1999, 70 ff., 2.3.5).

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Auch die Aktiengesellschaft ist im Kapitalismus bald aufgetreten. Sie besorgt eine Streuung der Kapitalaufkommen, indem viele Kleinkapitale sich zu einer Aktiengesellschaft vereinen (als „kombinierter Kapitalist“, MEW 23, 353). Diese spezifische Form des Geldverleihes kürzt um die Transaktionskosten des Bankund Finanzsektors, ist jedoch nur bei langfristig angelegten Projekten möglich.31 Marx sah auch in ihnen einen dynamischen Faktor: sie machen Größenordnungen von Projekten möglich, die Einzelne aufgrund des hohen Kapitalaufkommens kaum je hätten finanzieren können, und tragen somit zur Zentralisierung bei.32 Zwar treiben sie das kapitalistische Wachstum an, doch bringen sie auch Nachteile: für kleinere Kapitalisten sind sie eine Bedrohung, da die Konkurrenz durch solche Großunternehmen erschwert wird („Je ein Kapitalist schlägt viele tot“, MEW 23, 790) und die Kapitalintensität der Produktion ins Ungeheure wächst.33 Auch die Aktiengesellschaften haben also einen Doppelcharakter. Bernstein allerdings sieht in ihnen nur eine, und zwar eine neue Kraft, die nicht eine „Zentralisation der Vermögen“ nach sich ziehe, sondern dieser gerade entgegenwirke (75/85). Dies widerstreitet der im Erfurter Programm behaupteten gesellschaftliche Polarisierung (78/88).34 Sie sind aber keine neue Erscheinung. Auch gegen das Wirken wirtschaftlicher Zentrifugalkräfte sagen sie nichts aus. 31 Der „shareholder-value“ schaut mehr auf kurzfristige Kursgewinne als auf die langfristige Profitabilität. Die New Economy-Blase etwa ist geplatzt (Brenner 2002). 32 „Die Welt wäre noch ohne Eisenbahnen, hätte sie solange warten müssen, bis die Akkumulation einige Einzelkapitale dahin gebracht hätte, dem Bau einer Eisenbahn gewachsen zu sein. Die Zentralisation dagegen hat dies, vermittelst der Aktiengesellschaften, im Handumdrehn fertiggebracht“ (MEW 23, 656; cf. Shaikh 1983c). 33 Während „die Zentralisation so die Wirkungen der Akkumulation steigert und beschleunigt, erweitert und beschleunigt sie gleichzeitig die Umwälzungen in der technischen Zusammensetzung des Kapitals, die dessen konstanten Teil vermehren auf Kosten seines variablen Teils und damit die relative Nachfrage nach Arbeit vermindern“ (MEW 23, 656) und die Profitrate senken – die beiden Marx’schen „Gesetze“ (MEW 23, 640 ff.; MEW 25, 221 ff.). 34 „Die Aktie stellt in der sozialen Stufenleiter die Zwischenglieder wieder her, die aus der Industrie durch die Konzentration [...] ausgeschaltet wurden“ (Bernstein 1899, 82/93). Steigende Aktienbeteiligungen bedeuten keinen ‚Volkskapitalismus’. Die Aktienkurse können kurzfristig nur weitersteigen, solange stets neue Käufer auf den Markt drängen. Die Beteiligung nichtkapitalistischer Gruppen bedeutet keine Abmilderung wirtschaftlicher Gegensätze. „Die Leute, die ihre Jobs verlieren, sind – Shareholder“ (W. Uchatius in: Die Zeit, 23.3 2000). „Für die Arbeiter bedeutet der Kauf von Aktien eine Verringerung ihres Reallohnes [da sie entweder aus diesem bezahlt oder als sog. ‚Investivlohn’ ausgezahlt werden, CH] und die Gefahr, durch Kursschwankungen Verluste zu erleiden [man denke an die T-Aktie, CH]. Die Kleinaktien haben jedoch für die Großaktionäre eine beachtliche [...] Bedeutung. So können [...] auch kleinste Geldsummen für die Ausdehnung und die Intensivierung des Produktions- und Ausbeutungsprozesses mobilisiert werden, wobei die starke Splitterung des Aktienkapitals den Großaktionären die Beherrschung einer Aktiengesellschaft erleichtert. Ferner [... werden] die Arbeiter durch Kleinaktien, insbesondere durch Belegschaftsaktien, ideologisch und ökonomisch an die kapitalistischen Unternehmen“ gebunden (Becher 1976, 216 f.).

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Sie erlauben vielmehr eine zusätzliche Konzentration, da die Kapitalisten so nicht nur über Eigenkapital, sondern zudem über Leihkapital verfügen. Marx spricht von der „Attraktion und Repulsion“ (MEW 25, 218) der Kapitale zugleich.35 Bernstein isoliert die „Spaltung schon konzentrierter Kapitale“ (1899, 75, 85). Funktional hebelt er damit den marxistischen Theorieunterbau aus. Bezüglich der Kartelle isoliert er jedoch gerade das Gegenteil, die Vergesellschaftung. Erneut wird aus einem Komplex einander bedingender und entgegenwirkender Kräfte, die zusammen eine Gesamttendenz induzieren (weniger die berühmte „Konzentration“ als vielmehr die Erhöhung der Kapitalintensität der Produktion), bei Bernstein ein Entweder-Oder, von dem er sich für eine Variante entscheidet und die andere damit für erledigt hält. Er reißt die theoretische Einheit von Marx auseinander (cf. Kautsky 1899, 80; Coletti 1971, 24). Kartelle schließlich sind Übereinkünfte von Unternehmen meist innerhalb einer Industrie, um durch Preisabsprachen oder Revierverteilungen den Markt unter sich aufzuteilen. Die Unterdrückung der Kämpfe soll die Preise stabil halten. Im Falle staatlicher Mitwirkung wird dies Interventionismus und Protektionismus genannt. Bernsteins Verweis auf die Kartelle steht der von ihm vertretenen Diffusionstendenz des Reichtums entgegen: Eine hinreichend effektive Absprache ist nur zwischen Marktriesen möglich. Zudem schreibt er ihnen eine krisenmindernde Kraft zu, da sie fähig seien, „der Produktionsanarchie Einhalt zu tun“ (105/121f.). Dies ist im Sinne der Krisenreaktion richtig beschrieben. Aber gerade darum kann dies kein Mittel der Krisenprävention sein. Maßnahmen wie das Herunterfahren der Produktionskapazitäten oder Kurzarbeit sind bereits ein Ausdruck der Krise. Dass ein ganzer Industriesektor seinen Ausstoß herunterfährt, um als „Gegenmittel gegen die Überproduktion“ (108/12) zu wirken, setzt nicht nur einen staatlich verhängten Schutzzoll zur Ausschaltung der ausländischen Konkurrenz voraus, sondern auch eine massive Absatzkrise. Die „Vorzüge der Organisation“ können die Krise also nicht verhindern, sondern sie setzen sie voraus. In Krisenzeiten ist es für größere Unternehmen günstig, den Preiskrieg weiterzuführen, um sich lästiger Konkurrenten zu entledigen. Und auch hier gibt es entgegenwirkende Kräfte.36 Wo sind die Repulsionstendenzen geblieben, auf die

35 „Zugleich reißen sich Ableger von den Originalkapitalen los und funktionieren als neue selbständige Kapitale. Eine große Rolle spielt dabei unter anderm die Teilung des Vermögens in Kapitalistenfamilien“ (MEW 23, 653). 36 Luxemburg führt dazu richtig aus: „Welches aber ist die Methode, der sich die Kartelle [...] bedienen? [...] die Brachlegung eines Teils des akkumulierten Kapitals [...] Ein solches Heilmittel gleicht aber der Krankheit [...] Beginnt sich der Absatzmarkt zu verringern, [...] dann nimmt auch die erzwungene teilweise Brachlegung des Kapitals einen solchen Umfang an, dass die Arznei selbst in Krankheit umschlägt [...] Beim dem verringerten Vermögen auf dem Absatzmarkt ein Plätzchen für sich zu finden, zieht jede private Kapitalportion vor [...] Die Organisationen müssen dann wie Seifenblasen platzen und wieder einer freien Konkurrenz [...] Platz machen“ (1899, 22 f.). „Und sobald die Kapitalbildung ausschließlich in die Hände einiger

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Bernstein bei den Aktiengesellschaften solchen Wert legt? Er überspringt die Konkurrenz zwischen Kapitalisten, indem er eine Gesamtheit unterstellt, die in den Genuss der „Vorzüge“ komme. Dies arbeitet den Ideen eines „Generalkartells“ oder „Staatsmonopolkapitalismus“ vor (2.2.6). Doch es verkennt den Charakter von Gesellschaft. Sie ist keine einfache Addition von Einzelinteressen.37 Aktiengesellschaft und Kartell, Monopol und Genossenschaften (MEW 25, 456), all diese kooperativen Formen der Produktion sind nach Marx ein Vorschein der Vergesellschaftung.38 Marx wollte damit zeigen, dass die geforderte Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht utopisch ist, sondern nur die Exekution eines Schrittes darstellt, welcher von der „alten Gesellschaft“ selbst vorbereitet wird, allerdings an den durch die privatkapitalistische Aneignungsweise gesetzten Schranken scheitert.39 Dies sollte die Sozialisten zu politischen Aktionen ermutigen. Bernstein dreht die politische Konsequenz um, indem er aus dem Vorschein eine Tatsache macht. Aus einer realen politischen Veränderung ist bei Bernstein eine theoretische geworden. Den auf Eigentumsverhältnissen beruhenden Klassenantagonismus schließt er einfach aus seiner Betrachtung aus – und kürzt damit um den kapitalistischen Charakter von „Gesellschaft“. Obwohl er sich gegen Hegelianismen wandte (1899, 47 ff.), ist er damit selbst zum Hegelianer geworden: er verwischt die Grenzen von Theorie und Wirklichkeit. Aus einer Denkmöglichkeit macht er durch Abstraktion von den Problemen eine Realität.40 Das ähnelt der Methode, die Marx an den Junghegelianern kritisiert hatte, nur dass sie hier nicht in der Philosophie wurzelt, sondern in einer unausgereiften ökonomischer Theorie. Marx’ ökonomische Theorie untersucht das „Bewegungsgesetz“ des Kapitalismus (MEW 23, 15), die Logik des Gesamtprozesses. wenigen, fertigen Großkapitale fiele, [...] wäre überhaupt das belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie würde einschlummern“ (MEW 25, 269). 37 Für Luxemburg (1899, 52) war Bernsteins Anpassungstheorie „eine theoretische Verallgemeinerung der Auffassungsweise des einzelnen Kapitalisten“ (2.1.5, 2.3.2). 38 „Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht [...], erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) [...] Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst“ (MEW 25, 452; cf. MEW 23, 656). 39 „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind“ (MEW 13, 9; vgl. 4, 181). Daraus schließt Marx hier: „Die kapitalistischen Aktienunternehmungen sind ebensosehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten“ (MEW 25, 456). Der Kapitalismus als Sozialverhältnis sei nicht „ewig“ (MEW 3, 43). 40 Es hätten „die Parteikämpfe an Gehässigkeit verloren“ (Bernstein 1899, 153/178), und, reiner Hegelianismus: „Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft“ (155/180). Sie ist es eben nur im Prinzip.

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Um zu prüfen, ob seine Beobachtungen tatsächlich etwas Neues und Anderes darstellen, hätte Bernstein einen längeren Zeitraum betrachten müssen. Er unterläuft den Abstraktionsgrad der Theorie. Missversteht man sie als Deskriptionen der Oberfläche, ist sie allzu leicht zu falsifizieren (Fn. 16). Fassen wir zusammen. Bernstein bestreitet mit einigen Beobachtungen die Erwartungen des Erfurter Programms. Schon in ihm waren Marx’sche Aussagen als auf einer deskriptiv-prognostischen Ebene liegend missverstanden worden. Bernsteins Versuch, durch einige Beobachtungen ihren Geltungsbereich historisch einzuschränken oder zu widerlegen zeigt, dass er ihre Binnenstruktur verkennt. Indem er ihren analytischen Kern preisgibt, verabschiedet er sie schließlich ganz.41 Was sind nun die Ergebnisse dieser Fehlrezeption? Bernstein wollte die Theorie der Praxis angleichen. Damit änderte er zugleich diese Praxis selbst: durch das Verschwinden der die unmittelbare Gegenwart transzendierenden Momente der Theorie setzt er sich jetzt verstärkt für Taktiken ein, die zuvor nur bedingt eine Rolle spielten, etwa die Genossenschaften oder die parlamentarische Arbeit. Damit ist der Politik das Korrektiv der Theorie genommen, sie dient nur noch der pragmatischen Bewältigung von Tagesproblemen. Dieser Politik der Sozialdemokratie ist die Reflexionsinstanz der Marx’schen Theorie verlustig gegangen.42 Dies hatte unmittelbare Folgen für die Politik der Sozialdemokratie, mittelbare für das Marxverständnis. In der Politik drohte eine Maßstabslosigkeit für den Kurs in neuen Sachfragen.43 Wie sollte sich die Arbeiterpartei gegenüber den Kleinunternehmern und Bauern stellen, wie gegenüber den Kartellen, dem Staat, dem Kolonialismus? Was der arbeitenden Bevölkerung kurzfristig Nutzen brachte und daher auch berechtigt war, wurde im Revisionismus in eine grundsätzliche Position der Sozialdemokratie umgebogen – mangels einer verlässlichen Korrekturinstanz sogar erfolgreich.44

41 „Ob die Marx’sche Werttheorie richtig ist oder nicht, ist für den Nachweis der Mehrarbeit ganz und gar gleichgültig“ (70/78). „Die Wertlehre gibt so wenig eine Norm für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Verteilung des Arbeitsproduktes wie die Atomlehre eine solche für die Schönheit oder Verwerflichkeit eines Bildwerks“ (73/82) Tatsächlich kann man Werte im Gegensatz zu Preisen nicht einfach „messen“ (69/78). Allerdings kann man sie berechnen. Preisbewegungen sind nur schlüssig zu erklären, wenn man den Wert als Gravitationszentrum unterstellt (Shaikh 1977; 1996, 78 ff.). Marx rechnete ganz selbstverständlich in Werten (siehe 2.1.5, 2.1.6, 2.3.2). 42 „Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den augenblicklichen Interessen des Tages, dies Ringen [...] nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen mag ‚ehrlich’ gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt es, und der ‚ehrliche’ Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen“ (Engels, MEW 22, 234 f.). 43 Der kaiserlichen Politik fehlte die klare Linie ebenso (cf. A. Rosenberg 1955). 44 Der Revisionismus hat später „auf der ganzen Linie gesiegt“ (Carlo Schmidt, in: Bernstein 1976, 13; cf. Fn. 2; Meyer 1977, Miller 1983, Lehnert 1983, Freyberg 1989, Lösche 1992).

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So kam es, dass Sozialdemokraten sich nun für den Kolonialismus aussprachen, sich von den Kartellen und Schutzzöllen positive Wirkungen versprachen und auch dem monarchistischen Staat immer bejahender gegenüberstanden, da er ihnen gewogen schien. Sogar das sozialdarwinistische Denken damaliger militaristischer Verbände wurde nicht nur akzeptiert, sondern übernommen. Die Frage, für wen im Falle eines Krieges Partei zu ergreifen sei, war aus dieser Perspektive beantwortet – der 4. August 1914 war keine große Überraschung.45 Im Ergebnis der unterlassenen Unterscheidung zwischen kurzfristigen Vorteilen für die deutsche Arbeiterklasse aus einer pragmatischen Perspektive und der theoretischen Durchdringung der Situation aus einer distanziert wissenschaftlichen Sicht übernahm der Revisionismus prokapitalistische Standpunkte. Der Marxismus hatte auf den Kampf gegen das Kapital und den „Klassenstaat“ verpflichtet, da seiner Theorie nach jede kurzfristige Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft langfristig wenig verbessern konnte. Auf beides hat der Revisionismus verzichtet. Politik hat immer auch eine symbolische Dimension – doch wie weit trägt ein Symbol ohne materiale Grundlage? Wie sollte die programmatische Parteinahme für die Deklassierten noch einsichtig gemacht werden? Schließlich waren im Alltag der Arbeiterschicht Rückschläge und Entbehrungen nach wie vor an der Tagesordnung. Marx’ zu den Akten gelegte materiale Begründung sozialdemokratischer Praxis hinterließ ein „Begründungsdefizit“. Bernstein improvisierte eine ökonomische Theorie, in der geistige und moralische Faktoren eine weit größere Rolle spielten.46 Da nach seiner Auffassung die Krisenanfälligkeit der ökonomischen Sphäre zurückgegangen, die Reichweite der politischen Meisterung auftretender Krisen dagegen gewachsen waren, schien somit die politische Machbarkeit insgesamt gestiegen (37/39). Es ging nun um die Meisterung ökonomischer Probleme mittels des Staates, die theoretische Beantwortung anfallender Fragen mittels 45 „Der nationale deutsche Kapitalismus muss sich voll ausleben, bevor der Sozialismus wachsen und erstarken kann. Nicht an dritter oder zweiter Stelle, sondern möglichst an erster Stelle möchte ich als Sozialist Deutschland sehen“ (Calwer: „Kolonialpolitik und Sozialdemokratie“ von 1907, nach Hofmann 1979, 180 f.; cf. Bernstein 1899, 179/209 f.; Fetscher 1973, 546 ff., 657 ff.). Michels 1910 hat aus der Staatsbejahung der Partei ein „Gesetz“ der Oligarchisierung abzuleiten versucht (cf. Sternhell 1983). Man kann in solchem „nationalen Sozialismus“ (Naumann 1964, 218; cf. 1905) ein Vorspiel des Nationalsozialismus sehen (Dahrendorf 1966, Sternhell 1986, Lauermann 1998). Diese These ist von der absurden des „kausalen Nexus“ (Ernst Nolte) abzugrenzen. Das Ebert/Noske-Abkommen von 1920, laut Sebastian Haffner das Verhängnis der Republik, war eine Verlängerung dieser Tendenz. 46 Bernstein, der England gut kannte, wurde von Max Weber zur „protestantischen Ethik“ konsultiert (Lenk 1970, 220). Die Vergeistigung der Phänomene vereint die beiden theoretisch (2.4.6). Norbert Elias untersuchte die höfische Gesellschaft übrigens als verfallende Form, die mit der Symbolizität ihr Ende nur hinauszögern konnte. „Es gilt also zunächst, die objektive Wirklichkeit jenseits der Symbole zu ergründen, bevor man beurteilen kann, ob ihre symbolische Repräsentation angemessen oder ideologischer Natur ist“ (Baumgart 1991, 150).

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der Ethik sowie um den Versuch der politischen Einflussnahme mittels des Parlaments. Dieser Prozess wird jetzt „Sozialismus“ genannt (199/233 ff.; Habermas 1990a, 213 ff.) – eine radikale symbolische Umbesetzung dieses Vergemeinschaftungssymbols der Deklassierten. In dem Maße, wie die missdeutete „Naturnotwendigkeit“ abgelehnt wurde, wird nun die Ethik für die Sozialtheorie eingespannt. Dadurch wandte sich Bernstein der Demokratie (151/176 ff.) und dem Liberalismus zu (159/185 ff.).47 Doch das überschätzte die Möglichkeiten der Demokratie im Kaisertum arg (Fn. 20). Für die damalige Zeit verurteilte sich die Sozialdemokratie damit zur Belanglosigkeit. Am Ende des theoretischen Primats der Politik stand der sozialdemokratische Etatismus. Auf dem Weg von Lassalle zu Bernstein und Lenin (2.2.3) wurde Marx damit übersprungen.48 Diese Umstellung der theoretischen Fundamente hatte Folgen, die erneut begegnen werden: die Verabschiedung Marx’scher Theorien und die Ausrufung einer neuen Epoche bei Lenin (2.2.6), eine technizistische Marxlesart (2.4.5) und die Inkriminierung einer zurechtgestellten Dialektik, die eine Gegenbewegung beschwor (2.5.7).

2.1.3 Der Neukantianismus als gegenstrebige Fügung Hinsichtlich der ethischen „Begründung“ des Sozialismus kam dem Revisionismus nun eine gegenstrebige Fügung entgegen: die akademische ethische Theorie hatte sich ihrerseits zunehmend dem Sozialismus zugewandt. Dagegen ist nichts einzuwenden; fraglich ist vielmehr, wie die Ethik gegenüber Marx eine Opposition einnehmen konnte. Bereits Friedrich Albert Lange hatte das Augenmerk der Philosophie auf die „Arbeiterfrage“ gelenkt, charakteristischerweise genau zwischen der Gründung der Lassalleschen (1863) und der Bebelschen (1869) Arbeiterpartei.49 Auch andere Neukantianer, allen voran Hermann Cohen, begannen sich mit dem Sozialismus zu beschäftigen. Viele kamen zu dem überraschenden Ergebnis, dass ein Weg von Kant zum Sozialismus führe: 47 „Sozialismus“ ist nur dann ein „empty signifier“ (Laclau 1996), wenn er freiwillig theorieentleert wird. „Tatsächlich gibt es keinen liberalen Gedanken, der nicht auch zum Ideengehalt des Sozialismus gehört“ (Bernstein 1899, 160/186). So wird der Sozialismus als eigene Strömung schlicht überflüssig. Indem Habermas den impliziten Liberalismus der Kritischen Theorie ausarbeitete, trat er in Bernsteins Fußstapfen (cf. 1990a, 228, 1992, 618). 48 „Der Staat wird der Hebel des Sozialismus“ (Renner 1918, 12). J.Fischer 1992, 168 ff. setzt „Sozialismus“ mit „Etatismus“ gleich – zurecht, sofern es um die damalige Sozialdemokratie und den späteren Realsozialismus geht. Der Entwurf zum Erfurter Programm hatte sich übrigens vom „sogenannten Staatssozialismus“ abgegrenzt (MEW 22, 596; Engels a.O., 234 f.). Bernstein gab Lassalles Schriften heraus (Lassalle 1892). Es ist unzulässig, den „Schwarzen Peter [...] an Marx und Engels weiterzuschieben, die zu den entschiedensten Kritikern des Lassalleanertums und des sozialdemokratischen Etatismus gehört haben“ (Schneider 1992, 161; cf. 2.2.6, Fn. 75). 49 F.A. Lange 1865. Von ihm führt ein Weg über Karl Höchberg zu Bernstein (MEW 19, 150 ff.). Lassalle ging ethisch wie politisch eher von Fichte aus (cf. 2.5.2, Fn. 28; 3.1.5, Fn. 125). Zum politischen Fichteanismus siehe Henning 1999.

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„Gebt den Worten Kants praktische Anwendung, und ihr seid Sozialisten, gebt ihnen eine wirtschaftliche Unterlage, und ihr habt den Sozialismus.“50 Denkt man an die üblichen Berührungsängste und Standesdünkel der damaligen akademischen Oberschicht gegenüber der Arbeiterbewegung, ist diese Offenheit bemerkenswert. Sie blieb bei den Neukantianern kein Einzelfall – Kurt Eisner, Paul Natorp, Karl Vorländer oder Max Adler äußerten sich ähnlich. Dabei ist es zweitrangig, ob der Weg von Kant zum Sozialismus über den Materialismus (Lange), die Erkenntnistheorie (Max Adler), die Ethik (Cohen, Staudinger) oder die Geschichtsphilosophie (Conrad Schmidt) führte. Wichtig ist, dass diese wichtigen Segmente des Bildungsbürgertums zu einer friedlichen Zusammenarbeit mit der Arbeiterschaft bereit waren.51 Der Marburger Natorp etwa schrieb: „Was mir als Ziel vor Augen steht, ist eine friedliche Gestaltung des unvermeidlichen Klassenkampfes auf dem Wege der Verbreitung gründlicher Bildung in den Volksmassen. [...] Voraussetzung dazu ist, dass man auch mit der organisierten Arbeiterschaft Fühlung behufs ruhiger Verständigung auf dem Boden der Wissenschaft und Bildung zu gewinnen sucht.“52

Aus der Marx’schen Perspektive ist eine solche Verständigung keineswegs abzulehnen. Selbst die 1848er Revolutionsperspektive ließ eine bürgerliche Revolution und damit den Liberalismus als notwendige Bedingung für den Kommunismus erscheinen. Auch später war Marx einer Bündnispolitik niemals abgeneigt. Die kleinen Schritte, die auf diesem Wege gewonnen werden konnten, hieß er als Schulung und Stärkung der Arbeiterschaft willkommen („die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“).53 Von der anderen Seite her sah es A.F. Lange als Aufgabe an, den Arbeitern die nötigen Freiräume zu schaffen, nicht aber, ihre Weltanschauung zu widerlegen oder ähnliches.54 Systematisch war das 50 A. Poggi: „Kant und der Sozialismus“, Vorländer 1926, 226/Holzey 1994, 237. „Die Idee des Zweckvorzugs der Menschheit wird [...] zur Idee des Sozialismus“ (H. Cohen 1907, 320). 51 Das Bürgertum bildet keinen erratischen Block: Vertreter der Bildungselite mögen einen besitzbürgerlichen Hintergrund haben wie Simmel und Horkheimer, da sie diesem aber qua Verwaltungselite nicht eo ipso zugehören, sind aus ihrer bürgerlichen Lage nur grobe Rückschlusse zu ziehen (Bourdieu 1982, Kocka 1988, Gall 1991, M. Hartmann 2002). Die extreme Bürokratisierung wie auch die hohe Durchlässigkeit von Systemtransformationen für Eliten machte den Sozialismus für Intellektuelle durchaus attraktiv. 52 Eine Erklärung Natorps vor dem Universitätsdezernat von 1894, in Holzey 1994, 14. 53 MEW 1, 378. Bekannt ist Marx’ Warnung, eine verfrühte Vergesellschaftung verallgemeinere nur den Mangel (MEW 3, 35). „In demselben Maße, wie bei der Masse die Einsicht von der Unhaltbarkeit des Bestehenden und die Erkenntnis von der Notwendigkeit seiner Umgestaltung von Grund aus steigt, sinkt die Widerstandsfähigkeit der herrschenden Klasse [...]. Diese Wechselwirkung ist evident, und daher muss alles, was sie fördert, willkommen sein“ (Bebel 1879, 408). Etwaige Bildungsreformen sind daher stets hochgradig politisiert. 54 „Die Arbeiter haben sich selbst um die Angelegenheiten ihres Standes zu kümmern“ (Lange, in Holzey 1994, 125).

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gut möglich: Kant hatte eine irreduzible Doppelperspektivität der menschlichen Welt vertreten. Natürliche Vorgänge lassen sich aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive interpretieren, ohne dabei auf höhere Mächte zurückgreifen zu müssen. Unabhängig davon muss sich jeder Mensch mit Zwecksetzungen und moralischen Entscheidungen auseinandersetzen. Dies ist kein ontologischer „Dualismus“, sondern ein methodischer Perspektivismus unter erkenntniskritischer Hintansetzung letzter, unlösbarer Fragen. Kant trennt nicht Welten, sondern Perspektiven. Dies ist nicht das Ergebnis verkürzten Nachdenkens, wie Hegel einwandte, sondern gerade die unverkürzte Beschreibung der menschlichen Grundsituation (4.2.1). Karl Vorländer erkannte den Gewinn dieser sauberen methodischen Grenzziehung: Kants Ethik „schließt eine streng kausale Geschichtsauffassung [...] nicht aus. Im Gegenteil: gerade weil Kant Ideal und Wirklichkeit methodisch auseinanderhält, konnte er mit einer idealistisch gerichteten reinen Ethik eine wesentlich realistische Geschichtsund Sozialphilosophie verbinden“ (Vorländer 1926, 16; siehe auch in Holzey 1994, 86; vgl. Fetscher 1973, 244 ff.).

Bevor eine Ethik in irgendetwas eingebracht wird, muss klar sein, in was genau. Die Ethik kann die Bedingungen ihrer Anwendung nicht selbst erzeugen. Jedes ethische Urteil bedarf einer vorgängigen materialen Bestimmung des Gegenstandes. Kant kann daher nicht gegen Marx ausgespielt werden – sie argumentieren auf unterschiedlichen Ebenen. So konnte etwa Cohen problemlos Kant als den „wahren und wirklichen Urheber des deutschen Sozialismus“ bezeichnen55 und zugleich bekennen: „in der Soc. Dem. gehe ich nach wie vor lieber mit den Alten als mit den Revisionisten aller Nüancen“ (brieflich 1905, nach Holzey 1994, 12). Die Kantische Philosophie besagt systematisch wenig über die Berechtigung der Marx’schen Theorien aus. Diese müssen für sich selber sprechen. Bisher konnte einzig die kurze Blüte des Austromarxismus diese Konstellation fruchtbar machen (etwa Adler 1928).56 Hier lag eine Interessenkonvergenz sonst eigenständiger Gruppierungen vor. Unterschiedliche Hintergründe hätten zu politischen Koalitionen führen können, ohne hier einen Konflikt heraufzubeschwören. Was sprach für die deutsche Sozialdemokratie gegen eine solche Ethik? Möglicherweise waren es „Nachwirkungen der Theorie Lassalles von der ‚einen reaktionären Masse’“,57 die in Deutschland eine sozialdemokratische „Ablehnung von konkreten Kompromissen mit bürgerlichen Parteien“ motivierten. Später – etwa 1914 und 1959 – konnte eine Kooperation so nur als Bruch mit den früheren Prinzipien konzipiert werden (die jedoch nicht von Marx kamen). Der theoretische Konflikt von Ethik und Ökonomie entsteht erst, wenn die Perspektiven einander theoretisch zu nahe gebracht werden. Erst Bernstein, der weder Ökonom noch Philosoph war, glaubte, den Marxismus mit Kant widerlegen zu kön55 H. Cohen 1896, 112; auch in Sandkühler 1974, 70, cf. in Holzey 1994, 26, 147 f. 56 Dazu Sandkühler 1970, Bottomore 1978, Leser 1985, Pfabigam 1982, Mozetic 1987. 57 Abendroth 1964, 36; cf. MEW 38, 179.

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nen („Kant wider Cant“, 1899, 199/233). Für Bernstein war die Kantsche Ethik ein Ersatz für die scheinbar falsifizierte wissenschaftliche Grundlage des Sozialismus.58 Dieser Angriff auf die theoretische Substanz des Sozialismus bewirkte bei jenem eine unglückliche Abwehrstellung gegenüber Bernsteins politischen Ansichten, die doch nur die des Liberalismus und der Demokratie waren. Trotzig wurde gerade das gegen Bernstein verteidigt, was dieser zurecht angegriffenen hatte: die naturalisierten, evolutionären Konzepte des Erfurter Programms. Die späteren Kontrahenten Kautsky und Luxemburg waren sich in einem Punkt einig: wenn der Kapitalismus nicht mit „Naturnotwendigkeit“ seinem Ende zusteuere, dann sei das sozialistische Projekt gefährdet – also steuere er auf dieses Ende zu. Mit der Entwicklung dieser fundamentalistischen „Parteiwissenschaft“ entstand die Orthodoxie.59

2.1.4 Die Orthodoxie „Die Darwinsche Theorie führt zum Sozialismus.“ (R. Virchow 1877)

In heutigen Parteiendemokratien brauchen politische Parteien wenig Theorie. Sie haben konkrete Beschlüsse zu fassen, die in keiner vorgefertigten Theorie vorauszusehen sind. Sie benötigen eher Sachwissen für spezielle Politikfelder und praktisches Können in der Handhabung der politischen Spielregeln.60 Theorie dient in der Parteiprogrammatik und Propaganda dem Ziel der Werbung von Mitgliedern oder Wählerstimmen; sie sollte daher möglichst einfach, einleuchtend und schlagkräftig sein. Bei der Sozialdemokratie der 1890er Jahre war dies aus mehreren Gründen anders. Die Wissenschaft hatte in der Parteigeschichte eine große Rolle gespielt, daher hatte man weiterhin den Anspruch, sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu berufen.61 Daneben war nach den Jahren der Illegalität eine Selbstverständigung über die eigenen Ziele vonnöten. 58 So resumieren Alfred Schmidt und Iring Fetscher (in Holzey 1994, 39, 124). 59 Das von Bernstein als Strohmann erfundene „Zusammenbruchsgesetz“ und seine Negation gingen in verschiedene politische Strategien ein (Kautsky 1899, Groh 1973, Kurz 1991; cf. 2.1.5). „Nimmt man [...] mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in die Richtung zum eignen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein [...] ohne bestimmtes Endziel [...] kann der proletarische Klassenkampf nicht geführt werden“ (Luxemburg 1899, 88). Wie die DDRPhilosophie war noch Sandkühler in dieser naturalistischen Apologie befangen – man warf dem ethischen Sozialismus „Klassenverrat“ vor (1974, V und XXIII, zur DDRPhilosophie Wrona 1979, Sass 1980, Kapferer 1990, Wilharm 1990, Eichler 1996 und Rauh 2001). „Dass wir uns aber unaufhaltsam dem Anfang vom Ende, der Periode der kapitalistischen Schlusskrisen, nähern, das folgt aus ebendenselben Erscheinungen, die vorläufig das Ausbleiben der Krisen bedingen“ (Luxemburg 1899, 26). Dieser Glaube nährte sich bei Luxemburg aus einer Unterkonsumtionstheorie (2.1.5). 60 Nach ihren schnell veralteten konstituierenden Programmen (Uertz 1981) besaß die CDU jahrzehntelang kein Programm. Erst als Oppositionspartei berief sie wieder eine Programmkommissionen ein. 61 Man kann diesen Szientismus dem damaligen Zeitgeist zuschreiben. Doch vielleicht

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Zuletzt war die Voraussetzung der heutigen Theorieunbedürftigkeit keineswegs gegeben: Das Umfeld, in dem die Sozialdemokratie agierte, war keine Parteiendemokratie, sondern eine Monarchie mit konstitutionellem Anstrich. Es musste grundlegend geklärt werden, inwieweit man diese Staatsform mitzutragen bereit war. Bereits Thomas Morus formulierte das Dilemma, zwischen korrumpierender Mitarbeit am Schlechten im Interesse kleiner Verbesserungen und der konsequenteren, doch offensichtlich ineffektiven Totalablehnung zu stehen.62 Als Partei hatte sich die Sozialdemokratie nolens volens auf legitimen Boden gestellt, was rückwirkend diesen „Boden“ selbst erst legitimierte. Dennoch war sie verboten worden und hatte gerade wegen dieses Verbotes an Popularität gewonnen, da dies ihre Entschlossenheit im Bemühen um eine alternative Gesellschaftsordnung nur unterstrich. Die indifferente Lage nach dem Verbot, als sie als Großpartei in die Legitimität entlassen wurde, ließ diese heikle Frage aufbrechen. Das Erfurter Programm versuchte, Politik und Wirtschaft auseinander zu dividieren.63 Die Partei stellte sich für die Zeit bis zum erwarteten Machterhalt auf legalen Boden, um nach dem erhofften Wahlsieg selbst bestimmen zu können, was recht und unrecht sei. Sie würde sich keines Rechtsbruches schuldig machen und dennoch „soziale Revolutionen“ durchführen können (Kautsky 1907).64 Diese Taktik setzte allerdings voraus, dass ein solcher Wahlsieg prinzipiell möglich wäre, dass er irgendwann wirklich errungen wird, und dass so etwas mit der Machtbasis einer Parlamentsmehrheit durchgeführt werden könnte. Das Erfurter Programm versuchte diese Voraussetzungen wissenschaftlich zu begründen durch den entsprechenden Nachweis, dass das Proletariat beständig wachse, da die Zwischenschichten zunehmend wegbrächen; dass der Kapitalismus bald in Krisen gerate, die das Proletariat radikalisieren würden; und durch vorgesehene Verfassungsänderungen („Direkte Gesetzgebung durch das Volk“). Genau diese Voraussetzungen wurden jetzt aus den eigenen Reihen bestritten: der Revisionismus bestritt die ersten beiden Punkte, die Parteilinke den letzten. Die Linke beharrte darauf, dass unter den allgemeinen Bedingungen des Kapitalismus jeder Staat ein „Klassenstaat“ sei, der derlei nicht zulassen könne, zumal unter den besonderen Bedingungen des Kaiserreiches das Parlament gar keine entsprechenden Befugnisse habe, weder für politische Maßnahmen wie die geplante Vergemeinschaftung, noch für entsprechende Verfassungsänderungen, die solche Maßnahmen allererst ermöglicht hätten.65 waren sozialistische Bewegungen eher Verursacher als Opfer dessen. Bürgerliche Interessen wurden in einer Gegenbewegung naturwissenschaftlich artikuliert, so in Haeckels Monistenbund (F. Hartmann 1993) oder im Eucken-Bund (1925; cf. 2.4.5). 62 Morus 1516 wählte einen „dritten Weg“ (Giddens 1998) und imaginierte eine Insel, wo er alles von Grund auf neu entwarf. Kautsky (1888, 1895) war davon fasziniert. 63 „Die Arbeiterklasse [...] kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein“ (nach Abendroth 1964, 96). 64 Trotz ihrer anderen Ziele bediente sich die NSDAP bis 1933 einer ähnlichen Taktik. 65 Luxemburg 1899, 74 ff.; Engels, MEW 22, 234; vgl. Abendroth 1969, 42 ff.; Frey-

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Der programmatische Sprecher der Partei, Karl Kautsky, musste darauf reagieren. Die Theorie wurde so zum innerparteilichen Politikum. Kautskys Kommentar zum Erfurter Programm hatte die Notwendigkeit eines „Katechismus der Sozialdemokratie“ als „Leitfaden für den Agitator“ betont (Kautsky 1892, 6). Er sah die größte Gefahr darin, dass die Geschlossenheit der marxistischen Weltanschauung Schaden nahm. Entsprechend war nun sein Haupteinwand gegen Bernstein, „dass die Frage des Endziels unserer Politik [...] aufs Engste verknüpft ist mit der Frage der Organisation und Propaganda“ (Kautsky 1899, 184). Bernstein gefährdete sie: Er hatte nach Kautsky die Funktion der Theorie nicht verstanden, welche nötig war, um das Proletariat hinter sich zu bringen, und dafür möglichst geschlossen sein musste. Eine klassische Analyse hat den „Kautskyanismus“ daher eine „Integrationsideologie“ genannt.66 Kautsky verteidigt die „Wahrheiten“ des Erfurter Programms aus politisch verständlichen Motiven. Für eine Theorie aber reicht es nicht aus, „nur die Resultate der Forschung ohne Begründung und Auseinandersetzung zu bringen“ (Kautsky 1892, 7).67 Bernstein hatte ja einige Schwachpunkte getroffen, vor allem aber vom empirizistischen Kurzschluss des Erfurter Programms profitiert, welches so leicht zu widerlegen war. Genau diesen wiederholt Kautsky nun noch einmal. Er korrigiert Bernstein in ökonomischen Einzelheiten, bleibt jedoch bei der unmittelbaren Erwartung von Krisen (Laclau 1985, 51). Zwar reichten diese nicht aus, um in den durch die Großbetriebe ermöglichten Sozialismus sanft hinüberzugleiten, denn der „subjektive Faktor“ des proletarischen Kampfes müsse hinzukommen. Doch auch der Kampfeswille des anwachsenden Proletariats entstehe mit „Naturnotwendigkeit“.68 So hängt alles an dieser Prognose. Es gelingt Kautsky noch einmal, Bernsteins Einwände relativierend in das Weltbild der Partei einzugliedern: In Zeiten der Prosperität sei die von Bernstein vorgeschlagene Taktik plausibel, nicht aber in Zeiten der Krise (Kautsky 1899, 163). Doch das grundsätzliche Problem, das die deutsche Sozialdemokratie mit der Theorie zu haben begann, und das den Revisionismus erst provoziert hatte, blieb bestehen: Theorie war zu einem Kernbestand sozialdemokratischen Selbstberg 1975, 30 ff.; Grebing 1970, 108 ff.; Hofmann 1979, 176 ff.; Kolakowski 1981 II, 92 ff. und Vranicki 1983, 294, 326; cf. 2.2.3, Fn. 34. 66 Matthias 1957. Gramsci schwebte etwas ähnliches vor, anders als Kautsky wird ihm dies heute als Vorteil angerechnet (Laclau 1985, 60; Anderson 1979; 2.5.4). 67 „Wer unser Ziel für irrig erklären will, der muss nachweisen, dass unsere Lehre von der ökonomischen Entwicklung eine falsche ist“ (135). So geschah es. 68 Kolakowski 1981 II, 54 f. pointiert Kautskys Absetzung von den Neukantianern: „Die Kantianer sagten: Marx bewies, dass der Sozialismus eine ‚objektive’ Notwendigkeit ist; wir müssen diese Erkenntnis durch eine Norm ergänzen, die den Sozialismus als Wert festlegt. Kautsky sagte: Marx bewies, dass der Sozialismus eine objektive Notwendigkeit ist, und eines der Elemente, die zu diesem notwendigen Prozess gehören, ist die Erkenntnis des Proletariats von dieser Notwendigkeit und deren Billigung, die beide gleichermaßen unvermeidlich sind; mehr ist nicht nötig“. Die Praxis fällt in beiden Versionen aus der Betrachtung heraus.

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verständnisses geworden, ohne dass man dem Anspruch auf eine theoriegeleitete Praxis noch gerecht werden konnte. Kautsky anerkannte es und schob es auf den Mangel an fähigen Theoretikern (10, 33). Indem Kautsky die Marx’sche Theorie zu einer Weltanschauung umfunktionierte, trug er allerdings selbst dazu bei. Marx’ ökonomische Theorie wollte die Praxis der Arbeiterbewegung nicht stiften, sie konnte nicht begründen, warum es eine Sozialdemokratische Partei geben muss, sondern sie wollte der bestehenden Bewegung Anleitungen geben, wie sie ihren Kampf am effektivsten führen könnte (Rosenberg 1937, Fleischer 1970). Seine ökonomische Theorie hat nur vermittelt mit der Politik zu tun, keineswegs muss sie geglaubt werden, um sozialistische Politik machen zu können. Doch für genau diesen Zweck nutzte sie Kautsky. Da sie dies nicht hergab, musste er sie „cum grano salis“ (51) nehmen. Mit Kautsky setzt der oft beobachtete Charakter einer „Großkirche“ des Marxismus ein. In der Orthodoxie ist der Bezug auf einen Text identitätsstiftend, der nach dem Wortlaut des Buchstabens gemessen wird – ganz wie in der „Scholastik“ (11, 33). Wichtig ist nicht, ob Marx’ Analysen verstanden werden, sondern ob man sich selbst als Marxist versteht. Dabei lassen Marx’ Werke durchaus unterschiedliche Anwendungen zu – gerade dann, wenn ihr abstrakter Charakter berücksichtigt wird. Die Applikation eines Satzes kann nicht vorherbestimmt werden, sie ist niemals eindeutig.69 Eine Partei kann sich jedoch oft keinen Pluralismus leisten, besonders, wenn sie durch äußeren, vielleicht sogar militärischen Druck im Interesse ihres Überlebens einheitlich zu handeln gezwungen ist. Lenin war darin der rechtmäßige Erbe Kautskys, dass er diese Not zur Tugend machte. Er übersetzte mehrere Werke Kautskys. Als er ihn später heftig angriff (Lenin 1918), drehte es sich um die Deutungshoheit in einer konkreten Situation, nicht um das Prinzip der Marxdeutung.70 Das Prinzip blieb gleich: auch im Leninismus mussten die Marx’sche Theorie und die politische Praxis dogmatisch „versöhnt“ werden, besonders, als die revolutionären Wogen abflauten. Dies geschah, wie in jeder Orthodoxie, theorieintern. Die Theorie selbst sollte etwaige Widersprüche zwischen ihr und der praktischen Wirklichkeit glätten. Sie versuchte dies in der „wissenschaftlichen“ Prognose des Geschichtsverlaufs, welcher dem Marxismus letztendlich recht geben würde. So entstand die marxistische Geschichtsphilosophie: Kautsky deutete den Marxismus als „materialistische Geschichtsauffassung“ (1895, 1927).

69 Die ökonomischen Gesetze stecken nur den Rahmen für das historische Geschehen ab – zwischen dem 18. Brummaire (MEW 8) und dem Kapital (MEW 23) besteht damit kein Widerspruch. Marx’ historische Analysen treffen besondere Verhältnisse und können daher schlecht als Gesetze für andere Phänomene dienen, wie es Lenin 1917 mit der „Kommune“, Thalheimer 1930 mit dem „Bonapartismus“ versuchte (sowie Lohmann 1980, 261 mit Schelling). 70 Die Revolution rückte bei Kautsky gerade dadurch aus dem Bewusstsein, dass sie zum Bekenntnis geworden war: „Die Sozialdemokraten sind eine revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei“ (nach Laclau 1985, 59; s.u., Fn. 14). Vor allem dagegen wandte sich Lenin der Politiker, indem er das Selbsthandeln betonte (2.2.1).

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Materialistisch waren Marx’ historische Untersuchungen insofern, als er bei seinen Analysen den Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse mitberücksichtigte (G. Cohen 1978). Sie lieferten aber keineswegs eine Geschichtsphilosophie, die fern von einer konkreten Analyse etwas über den Verlauf künftiger Geschichte voraussagen wollte.71 Marx wandte sich klar gegen den „Universalschlüssel einer geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“ (MEW 19, 112; MEW 13, 616). Zwar hatte der junge Marx spekulative Einsprengsel in seiner Geschichtsbetrachtung nicht unterdrücken können (MEW 1, 370, 391; MEW 40, 536 f.). Doch gerade die Einsicht in das Ungenügen solcher Konstruktionen hatte ihn zur Kritik der Hegelschen Philosophie und der politischen Ökonomie getrieben. Marxens frühe Schriften teilen mit den Kampfschriften von Kautsky den Charakter politischer Propaganda. Überzeichnungen der Rolle der hierin zum Handeln Ermunterten liegen zum guten Teil darin begründet.72 Allerdings ging es bei Marx um die Aufforderung zum koordinierten Handeln dadurch, dass er eine historische Möglichkeit freilegte, bei Kautsky um die Verhinderung eines überstürzten Handelns durch die Behauptung einer ohnehin sich einstellenden Notwendigkeit. Damit musste sich der Charakter der Theorie ändern: Ist sie bei Marx bewusst zur Praxis hin offen, so deckt sie nach Kautsky Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab und ist so in sich abgeschlossen. Wenn Marx auf ein kritisches Denken inmitten politischer Prozesse abzielte, welches diese analysierte und korrigierte (MEW 2, 37; MEW 3, 35), so Kautsky auf eine „Weltanschauung“, welche die ihren Mitgliedern problematisch gewordene Praxis der Sozialdemokratie legitimierte: der Kapitalismus gehe mit Naturnotwendigkeit seinem Untergang, der Sozialismus seinem Sieg entgegen. Doch diese Geschichtsphilosophie war selbst ungeschichtlich. Weil über das Eintreten des Endziels so große Sicherheit bestand, konnte auf die genauere Analyse der Verhältnisse und eine Justierung der politischen Strategie verzichtet werden.73 Ökonomie wurde zum Ökonomismus, einer geschichtsphilosophischen Dogmatisierung heuristischer Prinzipen. An die Stelle der Analyse der Gesellschaft und ihrer kontingenten Geschichte 71 Die später dogmatisierten Sentenzen aus dem „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1857 (MEW 13, 615-642) sind heuristisch-methodische Anleitungen, niedergeschrieben „zu eigner Selbstverständigung, nicht für den Druck“ (MEW 13, 7), kein geschichtsphilosophischer „historischer Materialismus“ (2.6.6, Exkurs). 72 Fleischer 1993 sieht hierin „politische Rhetorik“. Ein rechtes Marxverständnis bedarf einer Hermeneutik der Textsorten (Fn. 69; 2.2.3, Fn. 37; 2.4.6, Fn. 109; 2.6.6, Fn. 180). Die präsentische Form in Ausblicken zur politischen Zukunft („Die Expropriateurs werden expropriiert“, MEW 23, 791) gleicht einer Regieanweisung. Wird sie eindimensional als Prognose gewertet, sieht es aus, als handele es sich um einen vorherbestimmten Prozess, von dem nur Ausgewählte ein Wissen haben. Auf ein solches berief sich auch Lenin – bis 1914 ein Bewunderer Kautskys –, ohne es noch zu begründen („Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“, Lenin Werke 19, 3). 73 Vgl. Groh 1973, Fetscher 1973, 680 ff.; cf. 99 ff. Kritische Theorie bejaht die Geschichtsphilosophie bis heute (Horkheimer 1930, Negt 1972, Behrens 1997; 2.6.3).

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tritt bei Kautsky die Natur. Er leitet die Ethik (Kautsky 1906) und noch die Demokratie aus sozialen „Trieben“ ab. Kautsky war Darwinist, bevor er Marxist wurde, und ist es geblieben.74 Kein Geringerer als Engels hatte dem Vorschub geleistet (Coletti 1971, 25). Schon er sah die „materialistische Geschichtsauffassung“ (MEW 19, 209; cf. MEW 22, 287 ff.) als ideologische Stütze an, und berief sich dafür auf eine „Naturdialektik“ (MEW 20). Seine populären Breviers zeichneten den Weg vor, den der „Sprung der Menschheit in das Reich der Freiheit“ zu nehmen habe (MEW 19, 226). Zunächst verkündet er: Die „Zwangsgesetze der Konkurrenz [...] setzen sich [...] durch [...] als blindwirkende Naturgesetze“ (215). Dies formulierte er noch in Einvernehmen mit Marx, die „Anarchie der Produktion“ (216) ist damit nicht geleugnet. Hier geht es um ökonomische, nicht um historische Gesetze. Sie determinieren nicht den Geschichtsverlauf, sondern beschreiben den Spielraum, den die Politik hat: Die Gesetze „setzen sich durch, trotz der Anarchie, in ihr, durch sie“ (215). Der Satz: „Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft“ (216), beschreibt nur die kapitalistische Grundsituation.75 Engels Aufhebung der Herrschaft der Natur geschieht jedoch mittels fatalistisch-spinozistischer „Einsicht in die Notwendigkeit“: wie die Naturwissenschaft die destruktiven Naturkräfte in einen Segen verwandelt habe, so müsse der wissenschaftliche Sozialismus nur die ohnehin bestehenden Sachverhalte und Entwicklungen erkennen. Geschichte wird zum Bestandteil der Naturgeschichte, deren Verlauf vorherbestimmt ist.76 Engels sah den Verlauf im beständigen Wachstum des Proletariats (223) und im politischen und intellektuellen „Bankerott der Bourgeoisie“ (225) vorgezeichnet. Was sollte nun die „Dialektik“ in dieser geschichtsphilosophischen Prophetie leisten? Kautsky meinte: „Die Methode ist das Entscheidende am marxistischen Sozialismus, nicht die Resultate“ (1899, 17). Dies sah noch Lukács als Kennzeichen des „orthodoxen Marxismus“ an (1923, 13 ff.), auch wenn er zugleich „zu74 Kautsky 1880, 1895, 1921, 21 ff.; Häupel 1993, 60. Löwiths Ersetzung der Geschichte durch Natur (1951) übersah, dass schon Darwin, der Marxismus und die Völkischen die Geschichte in die Natur verlegt hatten (2.6.6, Fn. 191). 75 Darwin konnte das „survival of the fittest“ schon bei Adam Smith finden: „It was in the discussion of such social formations as language and morals, law and money, that in the eighteenth century the twin conceptions of evolution and the spontaneous formation of an order were a last clearly formulated, and provided the intellectual tools which Darwin and his contemporaries were able to apply to biological evolution” (Hayek 1973, 23). 76 „Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittelst ihrer unsre Zwecke zu erreichen“ (Engels, MEW 19, 222). Doch wenn Marx sagte: „Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen“ (MEW 40, 579), meinte er damit vielmehr, dass die Natur über den vergesellschafteten Menschen nur wenig verrät (Callinicos 1995, 95 ff.).

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rück zu Marx“ wollte und Engels ausgrenzte (145). Bei Marx belief sich die Rolle der Dialektik auf die Nutzung eines gängiges Schemas, mit dem sich der Umstand beschreiben ließ, dass zwei einander entgegengesetzte Phänomene sich auf dieselbe Ursache zurückführen lassen.77 Engels hingegen meinte, mit Hilfe ihrer auch in der Geschichte „Gesetze“ auffinden zu können. Anders als Marx, dessen Verständnis von Dialektik sich auf die scharfe Darstellung sozialer Phänomene beschränkte, deutete Engels sie gegen Ende seines Lebens als Lehre von den Prozessen in der Natur, von denen die der Geschichte nur einen Teil darstellten: „Die Natur ist die Probe der Dialektik“, in ihr gehe es „dialektisch und nicht metaphysisch“ zu (MEW 19, 205). Kautsky beruft sich also zurecht auf Engels, wenn er die Dialektik mit den Worten definiert: „Die Triebkraft aller Entwicklung aber ist der Kampf der Gegensätze“ (Kautsky 1899, 23).78 Unübersehbar ist bei Kautsky wie bei Lukács allerdings die Unsicherheit darüber, worin genau diese Methode bestehen soll. Die Formeln der „Totalitätsbetrachtung“ und der „Beziehung zum Ganzen“ (1923, 25 f.) bleiben solange Phrasen, wie sie nicht in konkreten Analysen eingelöst werden (2.5.4). Der Streit zwischen Kautsky und Bernstein drehte sich um die Deutungshoheit von Engels. Trotz aller Naturalisierungen aber sah noch der späte Engels die Revolution als unvermeidlich an („das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt“, MEW 19, 228), da der vorliegende Staat „der offizielle Repräsentant [...] der Bourgeoisie“ (223) sei. So konnte der Diadochenstreit erst nach dessen Tod im Jahre 1895 ausbrechen. Die weitere Geschichte der SPD spielte sich dann weitgehend unabhängig von der Marx’schen Theorie ab. Zwar nahm man noch Bezug auf Marx, aber meist nur, um eigene Gedanken und Strategien darzustellen. Die Argumente folgten meist den Weichenstellungen von Bernstein und Kautsky. Kurt Schumacher (1920) etwa rehabilitierte den Staat theoretisch, wie ihn Ebert praktisch vereinnahmt hatte, oder sich von ihm hatte vereinnahmen lassen. Einige Parteiprogramme wie das von 1925 nahmen noch im Geist von Erfurt Bezug auf Marx, und unterstützten weiter den gewerkschaftlichen Kampf (Abendroth 1964). Doch durch die Spaltung der Arbeiterbewegung seit 1914 und die feindliche Politik der Kommunisten waren anfängliche Bestrebungen, auf deutschem Boden eine „Wirtschaftsdemokratie“ zu errichten (Naphtali 1928), schnell erlahmt. Erneut war man zur Bündnispolitik mit liberalen und nationalen Kräften gezwungen. Auch wenn das institutionelle Design der Weimarer Republik größere politische Gestaltungsspielräume ließ, so hatte die Sozialdemokratie hier weder eine Mehrheit, noch je ein entschiedenes Konzept. Nach der Katastrophe des Dritten Reiches nahm sie bald revisionistische Programme an. Verlassen wir da77 Sie ist Darstellungsmethode, nicht Gesetz des Denkens oder gar des Seins (MEW 23, 27; Steinvorth 1977, Hunt 1993). Das Erbe Kautskys trat Lenin an, indem er in der Erkenntnistheorie am Naturalismus orientierte (1908), seine Politik allerdings an Hegels Dialektik (1914). 78 Engels (MEW 21, 286) zitierend sagt auch Kautsky, „dass die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen“.

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her die Theoriegeschichte der Sozialdemokratie und fassen ihre Ergebnisse zusammen. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden noch verschiedene funktionale Auswirkungen dieser Weichenstellung begegnen. Die verschiedenen Positionen im Marxismus der zweiten Internationale haben ihre Wurzel in einem eindimensionalen Verständnis von Wissenschaft. Verschiedene Weisen zu Wissen werden auf einen Faden aufgefädelt und nur zeitlich gestaffelt nach „Voraussetzung“, „Bewegung“ und „Endziel“. Das naturalistische Erfurter Programm wusste weder die verschiedenen Elemente der Marx’schen Theorie zu ordnen, noch die außerwissenschaftliche politische Praxis an ihr zu orientieren. Bernstein meinte Marx daher ablehnen zu müssen, Kautsky glaubte ihn mit den Fakten versöhnen zu können, und Lenin fühlte sich als Vollstrecker der Marx’schen Theorien. Letztere teilten die Auffassung, dass man es mit einem „Wissen“ zu tun habe, das den Verlauf der Geschichte vorhersage, und welches ein Mittel zum politischen Erfolg sei. Auch die Strategien, diesen Objektivismus mit Kant als Komplement zu ergänzen, wie es die Neukantianer taten, oder mit Hegel als „Gegengift“ aufzubrechen, wie es kommunistische Dissidenten und unorthodoxe Westmarxisten dann versuchten (2.5.4, 2.5.7), verewigten das Missverständnis des „wissenschaftlichen Sozialismus“ als eines geschlossenen Systems von Aussagen, wie es durch den späten Engels und Kautsky aufgekommen war. Als Marx diese Dogmatisierung bemerkte, sagte er, er sei kein Marxist.79 Die entökonomisierte Dogmatisierung des Marxismus stellte allerdings theoretisch zentrale Weichen. Bernstein etwa wurde der Gründervater der Nachkriegssozialdemokratie (Fn. 44). Er, nicht Lukács oder Lenin (Milner 1999, 31), war der Vater des westlichen Marxismus, dessen Anflüge zu Verbalradikalismus meist auf philosophischen Überlegungen beruhten. Aus Marx’ kritischer Theorie (Bolte 1995) wurde ein moralisches Bekenntnis, dass sich nun „normative Fundamente“ suchen musste. Die diskursive Verschmelzung von Marxismus und Dialektik hingegen geht auf die Orthodoxie zurück (Kautsky 1899a, Rees 1998). Besonders wo materiale Analysen unterblieben, verkam Dialektik in Ost und West zum Fetisch (2.5.7). Sie wurde mangels adäquaterer Konzepte der eigenen theoretischen Grundlagen zur Ausflucht.80 Zudem wurde Marx’ Ökonomie sinnwidrig als Geschichtsphilosophie gedeutet (2.6.6) – meist als eine technizistische (2.5.4). Diese Naturalisierung hinterließ einen Glauben an die moralische „Evolution“ der Gesellschaft und ein unproblematisches Fungieren der parlamentarischen Demokratie (3.1.5). Sie provozierte eine Korrektur in Richtung „Ethik“. Das Denken verlor sich so zwischen totaler Determination und totaler Freiheit.81 79 Engels kolportierte den Ausspruch: „je ne suis pas marxiste“ (MEW 22, 69). 80 Eine Rezeption von Marx ist indes unabhängig von Fragen der Dialektik möglich, die eher Ablenkungsmanöver waren (Anderson 1978, cf. 2.3.5, 2.5.7, 2.6.3). „Aber eine solche Wortverdrehung ist eine bloß sophistische Ausflucht, um einer beschwerlichen Frage auszuweichen“ (Kant, KrV, A 257). 81 „Critique of reductionismus has apparently resulted in the notion of society as a totally open discursive field“ (Stuart Hall, in: Milner 1999, 53; siehe 4.3.2).

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2.1.5 Systematische Kernpunkte I: Die Reproduktionsschemen Die Betrachtung der Entwicklung nachMarx’schen Denkens in der deutschen Sozialdemokratie ist hier beendet. Der Vorbegriff der Marx’schen Theorie (1.3) ließ sich ex negativo an einer zentralen Weichenstellung konkretisieren, nämlich an der der Marx’schen Theorie zuwiderlaufenden Aufspaltung in eine reduktiv naturalistische Lesart bei Kautsky und ihres überfliegend normativen Komplementes bei Bernstein. Die theoretischen Vergegenwärtigungen am Ende der Kapitel sollen systematische Punkte aus dem Marx’schen Opus vertiefen, die für die Thematik der jeweiligen Unterkapitel von Belang ist, deren Entwicklung aber aus dem ideengeschichtlichen Rahmen fällt und daher separat zu betrachten ist. Dies dient einem doppelten Zweck: zentrale Teile des Marx’schen Werkes werden so auf neue Weise entwickelt, nämlich orientiert am Kontext ihrer theoretischen Wirkungsgeschichte. Zudem werden die benannten Abweichungen des theoretischen Marxismus von der Marx’schen Theorie noch einmal systematisch – und das meint im Falle von Marx unweigerlich ökonomisch – sichtbar. Wie ist der Gewinn des genuin Marx’schen Denkens systematisch einzuordnen? Im Kontext der neuzeitlichen Philosophie, die sich bis dato in den beiden cartesianischen Regionen von Natur und Geist bewegte, ist der neue Aspekt des Marx’schen Denkens die sachliche und kategoriale Durchdringung des Gegenstandsbereiches der bürgerlichen Gesellschaft (cf. Haltern 1985).82 Sie ist für Marx „der wahre Herd und Schauplatz aller Geschichte“ (MEW 3, 36).83 82 Bis in die philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert schwankten die Bestimmungen des Menschen zwischen Tier und Gott. Die moderne Gesellschaft wurde übersprungen: noch Plessner 1928 sucht einen „Begriff“ des Menschen, der Natur und Geist vereint, erwähnt aber die Gesellschaft nicht. Marx, den er oft nennt (5, 10, 17 etc.), wird naturalistisch gelesen (zu Plessners Idealismus Petrowizc 1992, 49 ff.). Schon Aristoteles hatte die Gesellschaftlichkeit des Menschen reflektiert (MEW 13, 616), doch haben sich die Strukturen der Polis seit der Antike grundlegend geändert. 83 „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft’ zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei“ (MEW 13, 8). Von einem „neuen Objekt“ bei Marx sprechen Althusser 1965, 195 ff.; 1974, 47 ff. und Brentel 1989. In den „drei Quellen des Marxismus“ (Lenin 1913) deutete sich dieser neue Gegenstand bereits an: Der französische Sozialismus untersuchte die Gesellschaft vorrangig unter politischem, die englische Political Economy unter ökonomischen, und die deutsche Philosophie unter prinzipiellen Gesichtspunkten. Kants Autonomie verallgemeinerte das durch Rousseau bekannt gewordene „Prinzip“ der bürgerlichen Gesellschaft: die Selbstgesetzgebung, Hegel unterfütterte es institutionell. In der Schwerpunktverlagerung gegenüber vorbürgerlicher Philosophie ist die Differenz zwischen Kant und Hegel durch die Bestimmung der Grenzbereiche „Natur und Geist“ bestimmt: Kant zieht eine Grenze, während Hegel sie für „identisch“ erklärt (2.5.2, 3.4.2, 4.2.2). Über den neuen Gegenstand ist damit wenig gewonnen. Polanyi 1944 zeigt den Naturalismus

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Vielleicht weil die deutsche Gesellschaft gegenüber den westlichen Demokratien politisch „verspätet“ war (Plessner 1935), war dieser neue Gegenstand für das deutsche Denken nicht leicht zu erfassen. Es rieb ihn oft zwischen Natur und Geist auf. Jede Abweichung vom Geistmodell droht bis heute, bevor es überhaupt zur Kenntnis genommen wird, von Anhängern dieses Paradigmas vorschnell als „Naturalismus“ oder „Objektivismus“ gebrandmarkt zu werden, während die Gegenseite Abweichungen vom Naturparadigma reflexhaft als Moralismus oder Utopismus kennzeichnet und damit für erledigt hält. Der Gegenstand „bürgerliche Gesellschaft“ mit dem Zentrum „Kapitalismus“ fällt durch dieses binäre Raster allerdings hindurch. Die Marxphobie droht so zu einem theoretischen Gegenstandsverlust zu führen (siehe dazu 2.4.1). Marx nutzte zur Kennzeichnung seines neuen Gegenstandes zwar Ausdrücke, die dem alten Dualismus entstammen – dieser wird durch den neuen Gegenstandsbereich ja keineswegs „aufgehoben“.84 Doch hat seine Rede von einem ‚Geist’ oder einer ‚Natur der Sache’ eher anzeigende Funktion, da das Thema gerade nicht „die Natur“ oder „der Geist“ selbst ist.85 Verfehlte Naturalisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse wehrt er ebenso ab wie die umgekehrte Auflösung der politischen Ökonomie in eine bloße Kritik der Kategorien.86 Marx meint in der klassischen Ökonomie: „Als die Gesetze, die die Marktwirtschaft beherrschen, langsam erkannt wurden, führte man sie direkt auf Gesetze der Natur zurück. Das Gesetz der abnehmenden Erträge war ein Gesetz der Pflanzenphysiologie“ (175). Marx kritisierte dies, ohne erneut zu vergeistigen. 84 Natur und Geist sind zu unterscheidende Regionen, daran ändert keine Erkenntnistheorie oder Dialektik etwas. Selbstverständlich gibt es eine Perspektive, unter der sie als „Eins“ erscheinen: die spekulative oder mystisch-theologische. Sie ist an Abstraktionsleistung kaum mehr zu überbieten (vgl. die Artikel „Einheit“ und „Übergegensätzlichkeit“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie). Allerdings ist aus dieser Perspektive über keine von beiden Bereichen mehr eine gehaltvolle Aussage zu treffen: die Gesetze der Logik und jeder Referenzbereich lösen sich hier buchstäblich in „Nichts“ auf (vgl. den Artikel „Nichts“, a.a.O.; und 2.5.2). 85 „Nichts charakterisiert den Geist des Kapitals [!] besser als die Geschichte der englischen Fabrikgesetzgebung von 1833 bis 1864“ (MEW 23, 295; cf. Derrida 1995, 142). „Mit der Konzentration der Zahlungen an demselben Platz entwickeln sich naturwüchsig eigne Anstalten und Methoden ihrer Ausgleichung“ (MEW 23, 15). „Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln“ (MEW 23, 57). „Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte [...] als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft“ (MEW 19, 15). 86 Marx löste den naturalistischen Schein auf, „als ob die kapitalistischen Verhältnisse Naturverhältnisse jeder Produktionsweise seien“ (MEW 25, 883). „Die Natur produziert kein Geld, so wenig wie Bankiers oder einen Wechselkurs“ (MEW 13, 130; cf. Schmidt 1960, Schmied-Kowarzik 1984 und Dahmer 1994, die allerdings kaum auf die Ökonomie eingehen). Gegen verfehlte Vergeistigungen (Backhaus 1997, Bensch 1997, ISF 1999; 2.3.5, Fn. 105) wandte Marx ein: Wer „diese Verhältnisse als Prinzipien, als Kategorien, als abstrakte Gedanken nimmt, hat nur diese Gedanken in eine

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seinen Anspielungen stets die bürgerliche Gesellschaft. Sie wird durch „Natur“ (etwa die Produktivität des Bodens) und „Geist“ lediglich umgrenzt.87 Angesichts der Fülle und Exaktheit der Bestimmungen, die Marx seinem neuen Gegenstand gibt, kann Marx keineswegs eine „Begriffslosigkeit“, Konfusion oder Unklarheit unterschoben werden.88 Dass die Seinsart jener Sache dennoch schwierig zu erfassen war, zeigte sich schon in den betrachteten Anfängen der deutschen Rezeption: Kautsky glich die gesellschaftlichen Bestimmungen Marxens der „Natur“ an, Bernstein reagierte darauf mit einer Ethisierung. Beiden Fraktionen entgeht der spezifische Charakter des Marx’schen Gegenstandes, indem sie ihn den klassischen philosophischen Seinsarten, Natur oder Geist, anglichen. Beide Fraktionen waren für die weitere Marxrezeption paradigmatisch. Die „Naturalisierung“ etwa hängt eng mit der Krisentheorie zusammen. Die Plausibilität des Erfurter Programms hing davon ab, dass es weiterhin Krisen geben würde. Es stützte sich dafür neben dem kommunistischen Manifest vor allem auf die „historischen“ Passagen des ersten Bandes des Kapitals, in denen die Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung und der ökonomischen Konzentration als Auslöser (nicht automatisch als Ursache) für einen möglichen politischen Umsturz aufgerufen werden. Zwar hatte Marx das Wort „Naturgesetz“ gebraucht, aber nicht, um einem naturalistischen Fatalismus zu frönen, sondern um die politische Arbeit in richtige Bahnen zu lenken.89 bestimmte Ordnung zu bringen, die sich bereits in alphabetischer Reihenfolge am Schlusse jeder Abhandlung über politische Ökonomie vorfinden. Die Materialien der Ökonomen sind das bewegte und bewegende Leben der Menschen; die Materialien des Herrn Proudhon sind die Dogmen der Ökonomen“ (MEW 4, 126). „Die Menschlichkeit der Natur und der von der Geschichte erzeugten Natur [!], der Produkte des Menschen, erscheint [bei Hegel fälschlich, CH] darin, dass sie Produkte des abstrakten Geistes sind und insofern also geistige Momente, Gedankenwesen“ (MEW 40, 573). Die kategoriale Durchdringung (und in ihrer Verlängerung die erkenntnistheoretische) kann der sachlichen nur folgen, nicht vorausgehen. Wird der deutsche Marxismus zur Erkenntniskritik, verdreht er Grund und Folge (Habermas 1968a, SohnRethel 1972, Behrendt 1993, cf. Kallscheuer 1986). 87 „Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft; wir messen sie nicht an den Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie gesellschaftlicher Natur [sic!] sind, sind sie relativer Natur“ (MEW 6, 412; vgl. MEW 8, 559 f.). Umgekehrt enthält u.a. „die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element“ (MEW 23, 185). Das entspricht der heute etwas überstrapazierten Rede von „embeddedness“ (Polanyi). 88 In Folge von Althusser unterstellen einige, Marx habe den „Status seiner eigenen Theorie nicht vollständig erfasst“ (Heinrich 2001, 46; cf. Schmidt in Euchner 1972, 30 ff.; Lohmann 1980, 201; Reichelt 2002). Dem ging die Mode voraus, etwas Unverstandenes als „Dialektik“ hinzustellen (Reichelt 1970). Statt an der „Methode“ muss sich das Verständnis an der Sache ausweisen. Diese deutschen Unklarheiten sind Ausläufer der obigen Probleme (siehe 2.3.5). 89 „Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation“ (MEW 23, 791). Man bemerke, dass diese „Negation“ in Gestalt des Proletariats einerseits, der Vergesellschaftung der Produktion unter dem Kapital andererseits bereits vorhanden ist. Kaum lässt sich daraus ableiten, dass der

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Es gibt einen wichtigen Abschnitt, an dem die „Natur“ der kapitalistischen Produktion und ihre Krisenanfälligkeit zur Debatte steht: die Schemen der Reproduktion (MEW 23, 591 ff.; MEW 24, 391 ff., 485 ff.; MEW 30, 362 ff.; MEW 42, 421 ff.). Als Bernstein den Revisionismusstreit lostrat, waren diese bereits Gegenstand einer weitreichenden marxistischen Debatte. Auslöser war die Frage der möglichen Entwicklung des Kapitalismus in Russland, wo es aufgrund des Übergewichts des Agrarsektors kaum zahlungskräftige Nachfrage gab, damit verbunden die Überlebensfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaft überhaupt.90 Umstritten war dabei vor allem, was die Implikationen des Marx’schen Modells des dynamischen Gleichgewichts seien. An dieser Debatte lassen sich sowohl die Naturalisierung wie auch die gegenläufige Ethisierung paradigmatisch aufzeigen. Eine Ontologisierung von Modellen, ihre unmittelbare Projektion in die Realität, führt schnell zu Missverständnissen. Eine solche lag in beiden Polen der Schematismusauslegung vor, bei den naturalistischen Disproportionalisten wie bei den Harmonisten, die eine revisionistische Ethisierung sozialistischer Theorie für nötig hielten. Auf diese Debatte müssen wir kurz eingehen. Eine beliebte Argumentation zur Erklärung der periodischen Wirtschaftskrisen vor Marx war die Unterkonsumtionstheorie. Sie nahm an, Ursache der Krisen sei eine chronisch mangelnde Nachfrage. Malthus hatte daraus die Notwendigkeit einer unproduktiven, aber verzehrenden Klasse gefolgert, Luxemburg den Imperialismus erklärt, und noch die keynesianistisch-wohlfahrtsstaatliche Stimulierung der Nachfrage in der Politik des 20. Jahrhunderts folgte diesem Gedanken (Bleaney 1976). Marx hingegen war der Auffassung, dass das Phänomen eines unabsetzbaren Warenstocks nicht Ursache einer Krise, sondern Bestandteil des normalen Fungierens des Kapitalismus, und im Falle einer Krise selbst ein Symptom sei. Um dies zu belegen, zeigte er zunächst anhand des Modells der „einfachen Reproduktion“ die prinzipielle Absetzbarkeit aller Waren in einer geschlossenen, statischen Wirtschaft. Dieses Modell ist weitgehend fiktiv: es will keinen Versuch der politischen Umwälzung „notwendigerweise“ erfolgreich sein muss. Marx wollte der für ihre Befreiung kämpfenden Arbeiterklasse ein Licht aufstecken (Helmut Fleischer). Dabei grenzte er subjektive Faktoren keineswegs aus: „Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse“ (MEW 23, 316). Allerdings zeigte er auch die Grenzen des Wollens auf: „Sicher ist es der Wille des Kapitalisten, zu nehmen, was zu nehmen ist. Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken“ (MEW 16, 105; cf. 2.4.6, Fn. 133). 90 Ausgehend von den russischen Werken von Tugan-Baranowski 1894 und Bulgakow 1897 wurde das langfristige Verhalten der dynamischen Akkumulation zum Streitpunkt – wichtig in dieser Debatte waren Lenin 1899, Hilferding 1910, Luxemburg 1913, Bauer 1913, Bucharin 1926 und Grossmann 1929. Noch Pollock ist von hier aus zu deuten (vgl. 2.6.2). Dokumentiert ist diese Debatte bei Rosdolsky 1969, 524 ff. (auch 86 ff., 327 ff.); Gustavson 1972; Kühne 1976, 192-286; Shaikh 1978 und 1988; Heinrich 1988, Howard 1989, 106 ff., 165 ff., 269 ff.; Mandel 1991, 127 ff.

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historischen Zustand statischer Reproduktion beschreiben, sondern die grundlegende Geschlossenheit der Reproduktion zunächst an einem möglichst einfachen Modell zeigen. Ausgehend davon wird dann die Möglichkeit eines permanenten kapitalistischen Wachstums aufgezeigt. Um den Grundcharakter des als möglich aufzuweisenden permanenten Reproduktionsflusses darzustellen, abstrahiert Marx von langfristigen Tendenzen des Kapitalismus.91 Marx teilt die Gesellschaft hier nur in Arbeiter und Kapitalisten ein, und die Wirtschaft in zwei Abteilungen, von denen eine Produktionsmittel (I), die andere Konsumtionsmittel erzeugt (II). Soll kein krisenanfälliger Überschuss oder Mangel an Gütern oder Geld entstehen, muss sich das Jahresprodukt zwischen diesen vier Parteien restlos verteilen, und zwar so, dass die Arbeiter einen Lohn beziehen und für die Kapitalisten ein zu verzehrender Mehrwert anfällt. Die Frage ist, ob eine solche Reproduktion, in der alle Waren losgeschlagen werden, in einer Wirtschaftsform, die anarchisch, also ohne ein festes Vorherwissen vonstatten geht, überhaupt dauerhaft möglich ist. Schließlich produzieren die Produzenten auf Grundlage von bloßen Schätzungen der künftigen Nachfrage. Marxens Antwort lautet: ja, unter bestimmten Bedingungen. Dann nämlich, wenn die Wertsumme der Löhne und der von den Kapitalisten verzehrte Mehrwert der Produktionsmittel herstellenden Industrien (Abteilung I) der benötigten Wertsumme für Produktionsmittel in der Konsumtionsmittel herstellenden Industrien (Abteilung II) gleicht, und sie sich tatsächlich gegeneinander realisieren.92 Dieser Kreislauf lässt sich zur Veranschaulichung illustrieren wie folgt:93 91 Die Raten des Mehrwerts (m/v), der organischen Zusammensetzung des Kapitals (c/v) und des Profits (m/c+v) werden als konstant und in beiden Abteilungen gleich gesetzt (anders als in der Diskussion der Profitrate, wo genau diese Größen ausschlaggebend sind). Weiter wird angenommen, dass der Geldwert stabil bleibt („Geldkrisen“ sind damit ausgeschlossen, auf sie geht erst der dritte Band ein, 2.3.5) und die Werte sich zu ihren Preisen verkaufen (zum sog. „Transformationsproblem“ 2.3.2). Auch die Kreditfinanzierung und damit der Bankensektor fehlt. Marx blendet diesen hier ab, weil er nicht die Reproduktion mit dem Finanzsektor, sondern diesen auf der Grundlage jener erklären wollte. Banken agieren auf der Grundlage der Reproduktion, nicht umgekehrt (Foley 1986a). Für den Unternehmer wären solche Ausgangsbedingung paradiesisch, dennoch werden schon hier Möglichkeiten gravierender Krisen sichtbar. Deren Grund aufzuzeigen ist der Sinn der Abstraktion (Fn. 102). 92 Diese Realisierung impliziert, dass die produzierten Tauschwerte für die Käufer Gebrauchswerte darstellen. Marx quantifiziert Werte hier unter der Voraussetzung, dass sich die Waren zu ihren Werten verkaufen. In Verschleppung des Positivismusstreites sehen manche deutschen Marxisten Werte für nicht quantifizierbar an. Dahinter steckt wohl am ehesten eine Art lebensphilosophische Abneigung gegen Zahlen (Fn. 86). Die umstrittenen Passagen des ersten Kapitels (MEW 23, 49-98), die oft isoliert betrachtet und so mystifiziert wurden (Reichelt 1970, 1996, 2002; Backhaus 1997, Haug 1978, Wolf 1985), sind für das ganze Kapital (MEW 23-25) wichtig und erst aus ihm voll zu begreifen. 93 Die Variablen bedeuten wie üblich: W = Ware, G = Geld, c = Anteil des konstanten Kapitals am Gesamtkapital (die Verauslagung für Produktionsmittel, darunter fixe Elemente wie Maschinen und zirkulierende wie Rohstoffe), v = Anteil des variablen,

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Konsum der Kapitalisten (Luxus) W’

Produktionsmittel W Konsum der Arbeiter Variables Kapital (v; Arbeitslohn)

G G’

Fixes Kapital (c) Mehrwert (m: G’ minus G)

Abbildung 1: Einfache Reproduktion

Die Formel dieser Gleichgewichtsbedingung der einfachen Reproduktion lautet vI + mI = cII (in der Literatur meist als I (v+m) = II c ), was anhand des Beispiels für die einfache Reproduktion schnell erhellt (MEW 24, 396, 401): Abteilung I (Produktionsmittelindustrie): 4000 cI + 1000 vI + 1000 mI = 6000 Abteilung II (Konsumtionsmittelindustrie): 2000 cII + 500 vII +

500 mII = 3000

500 vII und 500 mII sowie 4000 cI tauschen sich jeweils gegen das in der eigenen Industrie erzeugte Wertprodukt aus: Arbeiter und Kapitalisten der Konsumtionsmittelindustrie kaufen von ihrem Einkommen Konsumtionsmittel, die Kapitalisten der Abteilung I kaufen innerhalb der eigenen Industrie Produktionsmittel. Übrig vom Wertprodukt bleiben je 2000 Werteinheiten. Diese werden realisiert, indem Abteilung II Produktionsmittel im Werte von 2000 von I bezieht, und die Abteilung I dafür Konsumtionsmittel im Werte von 2000 von II. Das Ergebnis dieses Ringtausches lässt sich so veranschaulichen:

I

4000 c

I

+ 1000 v I + 1000 m I

II 2000 c II +

500 v II +

500 m II

Abbildung 2: vI + mI = cII

für Löhne ausgelegten Kapitals, m = der erwirtschaftete Mehrwert (die Differenz zwischen dem neugeschaffenen Wert des Produktes und seinem Produktionspreis, den Kosten für Materialien, Maschinen und die Arbeitskraft. Es überkreuzt sich der Strom: Ware gegen Geld (W-G) mit dem umgekehrten: Geld gegen Ware (G-W; MEW 13, 69 ff.; MEW 24, 31 ff.; nach Shaikh 1984, 54). Die Produktion (P) fasst Marx als P ... W' – G' – W ... P (MEW 24, 69). Sie wirft einen Mehrwert ab (G' minus G; Umsatz minus Kosten für den Neueinstieg), von dem sich der Kapitalist ernährt, und geht unverändert in die zweite Runde. Der Mehrwert entstammt dem Faktor Arbeit, denn die Arbeitskraft verkauft sich nicht nach dem von ihr geschaffenen Wert, sondern zu ihrem eigenen Wert, welcher der zu ihrer Reproduktion notwendigen Warenmenge entspricht (cf. 2.3.1).

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Dieses Modell besagt, dass sich das Wertprodukt einer Produktionsperiode restlos auf die beteiligten Parteien aufteilen kann. Es meint nicht wie neoklassische Gleichgewichtsmodelle, dass ein solches Gleichgewicht zu jeder Zeit besteht, sondern nur, dass es prinzipiell bestehen kann. Selbst wenn kontrafaktisch eine statische Wirtschaft vorausgesetzt wird, können Krisen entstehen, da die Gleichgewichtsbedingung sich aufgrund der anarchischen Markmechanismen nur durch ein permanentes Ungleichgewicht herstellte: es treten immer „Disproportionalitäten“ auf, allerdings in beiden Richtungen, nicht nur in Richtung einer Unterkonsumtion (eines unabsetzbaren Warenrests in Abteilung II), sondern auch einer Unterinvestition (eines Überangebotes an Investitionsgütern, sprich Produktionsmitteln). Erst im steten Ausgleich der Ungleichgewichte stellt sich ein Gleichgewicht her. Ausgesagt ist damit eine langfristige Stabilität, die sich in der permanenten Unordnung und Krise durchsetzt, keineswegs ein idyllisches statisches Gleichgewicht, wie es Neoklassik und Monetarismus vorschwebt (2.3.1).94 Für das Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise fehlt in diesem Modell noch das Wichtigste: die Akkumulation. Den Kapitalismus zeichnet ja insbesondere sein Wachstum aus. Für dieses Modell heißt das, dass die Kapitalisten einen Teil ihres Mehrwertes nicht direkt konsumieren, sondern reinvestieren. Orientiert man sich an dem Beispiel aus dem Modell der einfachen Reproduktion, so kann hieraus eine Unterkonsumtion gefolgert werden: es gibt in diesem einen Jahr eine Nachfragelücke („demand gap“) bei den Konsumgütern, da die Kapitalisten das, was sie zusätzlich investieren, nicht mehr für Konsumgüter ausgeben können. Das didaktische Modell der einfachen Reproduktion würde so allerdings fälschlich als historisches „Stadium“ interpretiert, aus dem nicht herauszukommen wäre. Nach den vormarxistischen Unterkonsumtionisten, die so oder ähnlich argumentierten (Malthus und Sismondi, cf. Bleaney 1976, Wright 1977, Shaikh 1978, 1983b), war es vor allem die linke Sozialdemokratin Rosa Luxemburg, die diesen Gedanken aufgriff. Ihrer Ansicht nach ergab sich aus der Mehrwertfinanzierung der Akkumulation eine ständige Nachfragelücke, die nur 94 „Aber diese beständige Tendenz der verschiednen Produktionssphären, sich ins Gleichgewicht zu setzen, betätigt sich nur als Reaktion gegen die beständige Aufhebung dieses Gleichgewichts. Die bei der Teilung der Arbeit im Innern der Werkstatt a priori und planmäßig befolgte Regel wirkt bei der Teilung der Arbeit im Innern der Gesellschaft nur a posteriori als innre, stumme, im Barometerwechsel der Marktpreise wahrnehmbare, die regellose Willkür der Warenproduzenten überwältigende Naturnotwendigkeit“ (MEW 23, 377). Der Austausch ist geldvermittelt, es ist kein Naturaltausch. In seiner Funktion als Zahlungsmittel ist das Geld noch „neutral“ (MEW 23, 148 ff.). Dies ist zentral gegenüber monetaristischen Theorien (von Keynes, Friedman, Proudhon oder Gesell), die dem Geld eine gegenüber der Produktion primäre Bedeutung zuerkennen. Bei Marx werden Geld, Zins und Kredit aus ihrer Rolle für die Produktion und Distribution verständlich, nicht umgekehrt. Die Agenten verfügen über Geld, bevor sie ihrerseits welches beziehen (die Kapitalisten bezahlen ihre Arbeiter in Geld, bevor sie ihr Produkt gegen Geld verkauft haben etc.). Aus der Verzögerung lassen sich weitere Geldfunktionen erklären, ohne sie von der Produktion „abzukoppeln“ (MEW 25, 481 ff.; 2.3.5).

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über „dritte Personen“ aufgefüllt werden könne – also von Bevölkerungsgruppen, die sich nicht den Polen Arbeit und Kapital zurechnen lassen.95 Sie erklärt nun den Imperialismus als Beschaffer zusätzlicher Absatzmärkte (obwohl dort auch produziert wurde). Davon leitet sie auch den künftigen „Zusammenbruch“ ab: die kapitalistische Dynamik werde bald keine dritten Personen mehr übriglassen, und dann werde sich die Unterkonsumtion ungebremst auswirken (ähnlich argumentierten noch Sternberg 1926, Sweezy 1942 und 1966). Anhand der Marx’schen Schemen der erweiterten Reproduktion lässt sich jedoch zeigen, dass diese Argumentation ebenso fehlgeht wie ihre Vorgänger. Dies leuchtet schon anhand der begrifflichen Bestimmung ein, dass für Marx auch die zusätzliche Investition ein „Konsum“, also eine Nachfrage ist, nur eben nach anderen Gütern – nach Produktionsmitteln („produktive Konsumtion“, MEW 13, 622; MEW 23, 591 u.ö.). Durch eine Vergrößerung der Nachfrage kann dieselbe schwerlich sinken. Die Unterkonsumtionisten begehen den Fehler, dass sie die „Natur“ zu früh ansetzen: sie setzen als Motiv des Wirtschaftens nur die Produktion und Konsumtion von Konsumgütern, weil dies scheinbar der „Natur“ des Menschen entspricht (Shaikh 1978, 220). Das Motiv kapitalistischen Wirtschaftens ist aber nicht unmittelbar die Bedürfnisbefriedigung, sondern des Erzielen von Profit – einerlei, ob er über Produktion und Verkauf von Konsumgütern oder von Produktionsmitteln erzielt wird. Luxemburgs (wie schon Hobsons) Unterkonsumtionismus entsteht daraus, dass sie die ganze Abteilung I nur als Mittel von Abteilung II sieht, und nicht als einen eigenständigen Sektor (Shaikh 1978, 225 und 229 – bei Bulgakov liegt das umgekehrte Extrem vor). Die von Luxemburg und ihren Nachfolgern behauptete chronische Nachfragelücke nach Konsumtionsmitteln übersieht zwei Charakterzüge des Marx’schen Modells: die Dynamik hinsichtlich des Werttransfers (1.) und die Dynamik hinsichtlich der Zeitdimension (2.). Zu (1.): Wenn durch ein unvorhergesehenes Steigen der Nachfrage nach einem bestimmten Gut (Jodpräparate, Gewehre o.ä.) eine Akkumulation sehr plötzlich geschieht, wird bei den Kapitalisten die Nachfrage nach Konsumgütern zurückgehen.96 Dies ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass die Nachfrage nach Produktionsmitteln und Arbeitskräften steigt. Die Disproportionalität wird sich im nächsten Jahr dadurch ausgleichen, dass Kapital aus der nun relativ unprofitablen Abteilung II in die attraktivere Abteilung I strömt.97 95 „Die Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer des Mehrwerts ist also direkte Lebensbedingung für das Kapital“ (Luxemburg 1913, 287). 96 Die Plausibilität von Luxemburgs Argument beruht darauf, dass sie von einem statischen Gleichgewichtsmodell ausgeht und diesem verhaftet bleibt. Fügt man eine plötzliche Akkumulation („Schock“) hinzu, gerät es zwangsläufig aus dem Gleichgewicht, wenn auch nur zunächst. Das heißt nur, dass die Bedingungen eines dynamischen Gleichgewichtes andere sind, nicht, dass es sie nicht gibt (Mandel 1972, 26). 97 Mandel 1972, 27f. Marx erläutert den Ausgleich an einem Ungleichgewicht innerhalb der Konsumgüterindustrie: „Solange [...] dieser Ausgleichungsprozess stattfindet, wird [...] der Produktion dieser letzten ebensoviel Kapital zugeführt, als dem

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Wie schon in der einfachen Reproduktion, so wird sich auch hier in steten Ungleichgewichten im langfristigen Durchschnitt ein Gleichgewicht herstellen, nur dass es ein dynamisches Gleichgewicht ist (“turbulent dynamics”, so Shaikh 1994, 3). Erneut können auf beiden Seiten unrealisierte Warenreste übrigbleiben. Ein Werttransfer zwischen den Abteilungen ist jedoch keine bloße Verschiebung von Ziffern, da hinter den Ziffern spezifische Gebrauchswerte sitzen.98 Sie können nicht in Naturalform von II nach I verschoben werden, da sie im Falle ihrer Nichtrealisierung entwertet würden (Konsumgüter verderben, Produktionsmittel veralten). An der Nichtrealisierung des Warenüberschusses hängt Luxemburg ihr Argument auf. Dabei blendet sie allerdings die Dynamik der erweiterten Reproduktion aus. Der einzelne Kapitalist hat immer schon mehr disponibles Geld als das, was aktuell in der Produktion steckt, oder kann es sich notfalls leihen.99 Eine andere Möglichkeit wäre die, dass die Kapitalisten aus II ihren Überschuss aus ihrem Mehrwert selbst kaufen, und die verauslagte Summe im nächsten Jahr aus der Produktion abziehen. Nehmen wir also an, Wertsummen ließen sich einfach zwischen den Abteilungen hin und her transferieren. Der Geldhandel sei noch ausgeblendet und nur postuliert, die Waren ließen sich noch im nächsten Produktionszyklus losschlagen (Lagerbildung), und allein die damit freigewordenen Auslagen würden verschoben. Die folgenden Zahlenbeispiele sollen das Argument keinesfalls beweisen (was sie gar nicht können, da sie will-

andren Zweig der Produktion entzogen wird, bis die Nachfrage gesättigt ist. Dann tritt wieder Gleichgewicht ein“ (MEW 24, 342). Marx behandelt dieses Phänomen später als Bildung einer Durchschnittsprofitrate (MEW 25, 151 ff.). „The most familiar type of transfer is that brought about by the formation of a general rate of profit. Industries with high organic compositions (C/Vs) will have prices of production above direct prices, while those with low C/V’s will have prices of production below direct prices. Thus the formation of prices of production transfers surplus value from industries with low C/Y’s to those with high ones’” (Shaikh 1979, 48). 98 Die Wertsummen bestehen entweder aus c (d.h. sie stellen Angebot oder Nachfrage nach Produktionsmitteln dar) oder v (Quantum an Arbeitskraft/Lohn – der aber in diesem Modell nur für Konsumtionsmittel ausgegeben wird). Nur im Falle schon realisierten Mehrwertes liegen sie in disponiblem Geldkapital vor. Erneut begegnet hier eine Bedeutung der Gebrauchswerte für den weiteren Verlauf des Kapitals (cf. Fn. 93): es gibt Fälle, wo sowohl zuviel Geld wie auch zuviel Waren zur gleichen Zeit auftreten – verantwortlich ist der spezifische Gebrauchswert der jeweiligen Wertformen. So wird etwa überschüssiges Geldkapital bei einer hohen Arbeitslosigkeit sich nicht in die Schaffung von Arbeitsplätzen umlegen, wenn diese ihren Gebrauchswert für das Kapital: Erzeugung von Mehrwert, nicht im erwünschten Maße erfüllen, da die erwartete Profitrate zu niedrig ist (MEW 25, 261). 99 Luxemburg klagt von Marx die Berücksichtigung der „Geldform“ ein (1913, 94). Diese ist bereits integriert: „Die Tatsache, dass die Warenproduktion die allgemeine Form der kapitalistischen Produktion ist, schließt bereits die Rolle ein, die das Geld, nicht nur als Zirkulationsmittel, sondern als Geldkapital in derselben spielt“ (MEW 24, 491, cf. Fn. 94). Selbst wenn sich Kapital in einem schlechten Jahr entwertet, hindert dass die Kapitalisten nicht, im nächsten Jahr dennoch erneut welches anzulegen – ein Werttransfer ist somit möglich.

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kürlich gewählt sind), sondern lediglich seinen Sinn erhellen. Das erste Beispiel zeigt die periodische Disproportionalität in beiden Abteilungen: (Jahr 1)

I:

1000 cI + 500 vI + 500 mI = 2000 (+/- 0)

II: 1000 cII + 500 vII + 500 mII = 2000 (+/- 0) Tabelle 1: Synchrone Proportionalität in Produktionszyklus 1

Hier liegt noch ein proportionales Verhältnis der Abteilungen vor (da c II = v I + m I). Nehmen wir an, aus einem externen Grund bestehe nun die Erwartung einer zusätzlichen Nachfrage für Güter der Abteilung I, von der man aber nicht weiß, wann sie eintreten wird. Statt wie in der einfachen Reproduktion den gesamten Mehrwert „aufzuessen“ (MEW 23, 624), beginnen die Kapitalisten aus Abteilung I nun, einen Teil ihres Mehrwertes, sagen wir 60 %, in ihrer Industrie zu reinvestieren, und zwar in der gleichen organischen Zusammensetzung (2 c = 1v).100 Da die Wirtschaft nicht „geplant“ ist, werden mehrere Kapitalisten diese Reinvestition vornehmen, jeder in der Hoffnung, den zusätzlichen künftigen Bedarf abschöpfen zu können. Da I m sich nun nicht mehr wie gewohnt ganz gegen Konsumtionsmittel austauscht, bleibt Abteilung II auf Waren in Werthöhe der in I akkumulierten Summe sitzen. Wir haben also in II einen Überschuss von 300 Werteinheiten zu verzeichnen, was wir auch schreiben können als: (Jahr 1) I: II:

1000 cI + 500 vI + 200 mI = 1700 1000 cII + 500 vII + 500 mII = 2000 (Warenüberschuss von + 300 ) Tabelle 2: Synchrone Disproportionalität in Produktionszyklus 1

Nehmen wir weiter an, diese 300 unrealisierten Werteinheiten ließen sich in Abteilung I übertragen, Abteilung II würde sie also in der nun profitableren Abteilung I investieren. Daraus ergäbe sich im Folgejahr für Abteilung I ein Wachstum von 200 cI und 100 vI aus dem eigenen Mehrwert des ersten Jahres, und zusätzlich 200 cII und 100 vII aus Abteilung II. Das führt nun zu einer Umkehr der Disproportion, da nun Abteilung I auf seinen Waren sitzen bliebe und in Abteilung II die Nachfrage größer wäre als das Angebot (da gilt: c II = v I + m I): (Jahr 2)

I: II:

1400 cI + 700 vI + 700 mI = 2800 (Warenüberschuss von + 600) 800 cII + 400 vII + 400 mII = 1600 Tabelle 3: Diachrone Disproportionalität in Produktionszyklus 2

Dies ist selbst dann der Fall, wenn wir aus I m erneut 60 % (420) für die Akkumulation abziehen: es bliebe noch immer ein Überangebot von 180 Werteinheiten auf Seiten von I. Um das Beispiel abzurunden nehmen wir weiter an, Abteilung I übertrüge im dritten Jahr aus seinem Mehrwert die „überflüssigen“ 600 Werteinheiten auf die wieder boomende Abteilung II, diese würde aber inzwi100 Eine solche Akkumulation wäre eine bloße Extensivierung der Produktion, im Unterschied zur Intensivierung derselben, bei welcher sich die organische Zusammensetzung zugunsten von c verschöbe (MEW 25, 221 ff.).

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schen selbst die Gelegenheit erkannt haben und 50 % ihres Mehrwertes akkumulieren (200). Die Wertzuwächse in II verteilen sich folglich so: (Jahr 3) I: II:

1400 cI + 700 vI + 700 mI = 2800 (+/- 0) 1400 cII + 700 vII + 700 mII = 2800 (+/- 0) Tabelle 4: Diachrone Proportionalität in Produktionszyklus 3

An diesem Punkt wäre wieder ein Gleichgewicht erreicht, welches aber gegenüber dem Ausgangszustand um 40 % gewachsen ist. Tritt in diesem Jahr nun erneut eine zusätzliche Nachfrage auf, etwa durch eine Grenzöffnung, wird es gleich wieder durcheinander gebracht. Solche Gleichgewichtszustände werden darum real nur als „Zufall“ (MEW 24, 491), als Durchgangsstadium auftreten. Dennoch erleichtern sie das Verständnis der Akkumulation: die Wachstumsraten und Disproportionalitäten sind nicht irrational, sondern sie schwanken turbulent um ein dynamisches Gleichgewicht. Dieses selbst ist selten sichtbar (daher ist dies auch keine Deskription), dennoch stellt es in dieser Analyse das Gesetz (oder „Wesen“) der Erscheinungen dar. In der realen Welt treten Abweichungen der Preise von ihren Werten, der internationale Handel sowie die relative Eigendynamik des Finanzsektors (Zinsen, Wechselkurse etc.) noch hinzu. Um so wichtiger ist es, zunächst den Grundmechanismus zu vergegenwärtigen. (2) Eine weiteres Merkmal der Dynamik einer erweiterten Reproduktion stellt die bisher ausgeblendete zeitliche Streckung dar. Die Auslagen des Kapitalisten in einem Jahr speisen sich ja nicht aus den Einnahmen desselben, sondern des vorigen Jahres. Das Produkt der diesjährigen Investition wird dagegen erst am Ende des Produktionszyklus (hier: im nächsten Jahr) verfügbar und zu verkaufen sein. Es verschlingen sich also selbst in diesem einfachen Modell schon mindestens drei Produktionszyklen ineinander.101 Dies ist eine weitere Fehlerquelle für Luxemburgs Rechnung: die scheinbar ‚überflüssigen’ Konsumtionsmittel bei einer plötzlichen Akkumulation tauschen sich nicht gegen die Konsumtionsausgaben des gleichen, sondern erst des folgenden Jahres. Die Formel der Gleichgewichtsbedingung müsste also korrekt lauten (n bezeichne das Jahr): cIIn = vIn+1 + mIn+1 .102 Auch hierfür lassen sich Beispiele geben. Nehmen wir über drei Jahre

101 Current investments depend on past profits and future expectations. 102 Um das Modell nicht zu verkomplizieren, sei weiterhin angenommen, dass sich Ic und IIv und IIm gegen die Wertsumme des selben Jahres austauschen. Auch diese Daten können dynamisiert werden (und müssten es, wollte man das Modell perfektionieren). Dies zeigt die enorme Komplexität des Modells trotz aller Vereinfachungen. Ein Modell kann immer noch komplizierter gemacht werden – sein Sinn ist es aber, Dinge verständlich zu machen, indem man sie einfach ausdrückt. Luxemburg hat die Bedeutung der Zahlenspiele in der Diskussion um die Reproduktionsschemen zurecht dahingehend kritisiert, dass die bloß mathematische Möglichkeit noch keinesfalls die sozialen Bedingungen erfasst. Es geht jedoch um den Nachweise eben dieser Möglichkeit und der Beschreibung ihres Charakters („Die Gesamtbewegung dieser Unordnung ist ihre Ordnung“, MEW 6, 405).

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zwei Abteilungen an, deren Austauschrelationen sich aufgrund der Akkumulation zwar nicht synchron, wohl aber diachron ausgleichen (cIIn+ 1 = vI n+2 + mIn + 2 ): + 4 500 (2:1) I: 10 000c + 5 000v + 500m II: 10 000c + 5 000v + 5 000m Jahr n 1. Jahr (n)

+ 3 000 (2:1)

+ 5000

13 000c + 6 500v + 3 500m 10 000c +5 000v +2 000m Jahr n + 1

15 000c + 7 500v + 2 500m 12 000c + 6 000v + 6 000m Jahr n + 2 + 3 000 (II)

2. Jahr (n + 1)

3. Jahr (n + 2)

Abbildung 3: Diachroner Ausgleich der Disproportionalitäten

Hier zeigt sich ein „dynamisches Gleichgewicht“: eine beträchtliche Unterkonsumtion innerhalb der Zahlen des 1. Jahres gleicht sich aus, sobald man einen größeren Zeitraum in Betracht nimmt. Dazu ist nicht einmal ein Werttransfer nötig. Hiermit ist nicht mehr und nicht weniger gesagt, als dass von der Zirkulation aus betrachtet ein langfristiges kapitalistisches Wachstum möglich ist. Mit dem Aufweis dieser prinzipiellen Möglichkeit wird aber zugleich klar, an welchen verschiedenen Stellen Krisen möglich sind. „Die Kompliziertheit des Prozesses selbst bietet ebensoviel Anlässe zu anormalem Verlauf“ (MEW 24, 491). Auftreten können Disproportionalitäten zwischen I und II mit den entsprechenden Kapitalvernichtungen und Engpässen; der Werttransfer kann genauso gut nicht gelingen, so dass Waren verderben; es können jederzeit Fehleinschätzungen in der Höhe der künftigen Nachfrage eintreten sowie eine Knappheit der im Notfall auszulegenden Geldvorräte und resultierende Zahlungsstockungen und Bankrotte – alles schon auf der Grundlage des Kreislaufs des Kapitals.103 Dieses gesellschaftliche Modell einer grundsätzlichen Möglichkeit, die sich aufgrund verschiedenster Eventualitäten so oder so, immer aber krisenhaft durchsetzt, wurde in der Rezeption verkürzt auf einen Naturprozess, der entweder in die eine oder die andere Richtung hin ausschlägt. In den russischen Schriften wurde daraus ein automatisch ablaufender Mechanismus (Tugan-Baranowski 1894, Bulgakow 1897, Lenin 1899), bei Kautsky und Luxemburg ein automatischer Zusammenbruch. Der Zusammenhang von Krise und Wachstum wurde zerrissen. Bulgakow hatte die irrige Überlegung angestellt, dass im Laufe des kapitalistischen Wachstums Abteilung I auf Kosten von II wachse, sich von ihr ab103 „Die Tatsache, dass die Warenproduktion die allgemeine Form der kapitalistischen Produktion ist, [...] erzeugt gewisse, dieser Produktionsweise eigentümliche Bedingungen des normalen Umsatzes, also des normalen Verlaufs der Reproduktion, sei es auf einfacher, sei es auf erweiterter Stufenleiter, die in ebenso viele Bedingungen des anormalen Verlaufs, Möglichkeiten von Krisen umschlagen, da das Gleichgewicht – bei der naturwüchsigen Gestaltung dieser Produktion – selbst ein Zufall ist“ (MEW 24, 491; cf. Sweezy 1942, 187 ff.). Es gibt auch andere Krisentypen. Die Marx’sche Krisentheorie besteht nicht aus einer Theorie, sondern aus einem ganzen Set von Phänomenen (Mandel 1972, Wright 1977, Shaikh 1978, Perelman 1987).

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koppele und daher die Konsumtion absolut abnehme (1897, 161f.; Rosdolsky 1969, 549; Luxemburg 1913, 227 ff.).104 Tugan-Baranowskis folgende Vision einer Produktion um der Produktion willen wies auf die Technokratiethese vor (Tugan-Baranowski 1905; nach MEW 13, 111; MEW 23, 618, 621; cf. 2.4.5). Die Idee, dass Maschinen Maschinen oder gar Menschen produzieren, wird noch heute in der gesellschaftlichen Phantasie des Films als Horrorvision beschworen.105 Richtig daran ist, dass sich im Laufe der Zeit die organische Zusammensetzung des Kapitals, also der Anteil des konstanten Kapitals, erhöht. Dies muss aber nicht zu einer verhältnismäßig größeren Abteilung I führen, da ähnliches auch in Abteilung II geschieht – die steigende organische Zusammensetzung wirkt sich auf beide Sektoren aus (Rosdolsky 1969, 560, 592; Shaikh 1989b). Das Verhältnis zwischen den Abteilungen bleibt stabil, solange sie in ähnlichen Raten akkumulieren. Im Ausgleich der Profitraten gleichen sich die Akkumulationsraten an.106 Ein absolutes Zurückgehen der Konsumgüterproduktion ist darum nicht nur kontraintuitiv, sondern langfristig auch wenig wahrscheinlich. Tugan-Baranowski vergisst zudem, dass die Maschinen neben ihrem Gebrauchswert, andere Maschinen wie auch Lebensmittel produzieren zu können, auch Träger von Tauschwert sein müssen. Vor einer Situation, in der ein Arbeiter alle Maschinen bedient und der Rest der Menschheit sich dem Müßiggang ergibt, läge eine Fülle von Absatzkrisen eben dieser Maschinen.107 104 Tugan-Baranowski 1894 experimentierte mit den Marx’schen Schemata und kam zu dem Ergebnis, das aus ihnen keine systemimmanenten Störungen abzuleiten seien, solange die Proportionen eingehalten würden. Er folgerte fälschlich, dass dem in der Wirklichkeit ein krisenfreies Wachstum entsprechen könne. Er hat damit nicht nur das Modell ontologisiert (Rosdolsky 1969, 546), sondern auch seine Rolle missverstanden: nur um die Ursache der Krisen zu erkennen ist es nötig, herauszustellen, worin sie von einem denkbaren störungsfreien Verlauf abweichen (siehe die Kritik von G. Eckstein, in Luxemburg 1913, 487). Dass ausgerechnet die russischen Marxisten die Zähigkeit des Kapitalismus zu beweisen suchten, verdankt sich ihrer Konkurrenz mit den Volkstümlern, die die Rolle des Kapitalismus im wenig industrialisierten Russland vernachlässigten (Rosdolsky 1969, 557 und 579). 105 Bis in die populärste Kulturindustrie lässt sich die Thematik der Reproduktionsschemen verfolgen: siehe die Filme Terminator, Blade Runner, Matrix, I Robot, Star Trek: Contact oder Star Wars Episode II, wo C3PO, selbst ein Roboter, in eine vollautomatisierte Fabrik gerät, in der Maschinen Maschinen herstellen. Das ist für ihn ein großer Schreck, denn er hat eine „menschliche“ Beziehung zu seinem Erbauer, Anakin Skywalker (siehe das Motto zu 1, auch die Figur „Cal“ in Alien IV). 106 Ein Ausbleiben der Akkumulation in Abteilung II würde dort zu einer relativ niedrigeren organischen Zusammensetzung führen, was wiederum ihre Profitrate im Vergleich zu I heben würde (da aufgrund des höheren Anteils an variablem Kapital auch die Mehrwertmasse einen höheren Anteil am Gesamtkapital einnimmt, s.u.), was schließlich zum Einströmen frischen Kapitals (aus II und I) und somit auch zur Akkumulation führen würde. 107 Problematisch an einem wachsenden Gewicht der Abteilung I wäre, dass das ganze Gebäude im Volk legitimatorisch über den Konsum verankert wäre, das vorgebliche Wirtschaftsmotiv der „Bedürfnisbefriedigung“ sich aber in dem immensen Ausmaß der Produktion von Produktionsmitteln nicht recht wiederfinden ließe. Und doch

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Sie müssten ja nicht nur ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Gebrauchswerten erfüllen, sondern auch Mehrwert erwirtschaften, sonst ließen sie sich nicht in diesem Umfang realisieren. Ebendies tun die Maschinen aber nicht (MEW 23, 407 ff.). Tugan hält also nicht dem Kapitalismus den Spiegel vor, sondern malt die Dystopie einer Planwirtschaft. Seine Fehldeutung beruht auf einer Unterbestimmung des Marx’schen Gegenstandes: den „Doppelcharakter“ der kapitalistischen Wirtschaftsweise (Produktion und Tausch, cf. MEW 23, 56) reduziert er auf die reine „Produktion um der Produktion willen“ (MEW 23, 618), auf ihren bloßen „Gebrauchswertcharakter“, ohne Blick auf die Tauschgesetze. Das mochte der russischen Außenbetrachtung geschuldet sein. Die harmonistische Interpretation der Russen schien auf ein langfristig krisenfreies Fungieren des Kapitalismus hinauszulaufen. Für deutsche Sozialisten war dies allerdings problematisch, denn damit wurde die Erfurter Krisenrhetorik obsolet. Die Naturalisierung der Funktionsfähigkeit des Kapitalismus erzwang nun, wie bei Bernstein, eine Ethisierung der Kapitalismuskritik – solange jedenfalls, wie man diese überhaupt noch üben wollte. Die Begründung der Forderung nach einer anderen Gesellschaftsform wurde entökonomisiert. In der Vorstellung nachfolgender Marxisten wie Hilferding, Bucharin, dem späteren Kautsky und Pollock konnte die „Naturfunktion“ einer proportionalen Produktion auch kompensatorisch vom Staat übernommen werden: nicht dem Kapitalismus an sich, wohl aber dem „Staatskapitalismus“ wurde so eine unbeschränkte Lebensdauer zugesprochen (cf. 2.2.7, 2.6.2).108 Auch hier musste die politische Strategie an die vorgeblich neue Lage angepasst werden, und sei es resignativ-eskapistisch. Natürlich forderte dieser Harmonismus im marxistischen Lager auch Kritik her-

bliebe die Produktionsmittelindustrie auf den Absatz von Konsumtionsmitteln angewiesen, da auch deren Herstellung einen Anteil ihrer Produkte abnimmt. Daher spricht Marx von der „Konsumtionsbeschränkung der Massen“ als „letztem Grund aller wirklichen Krisen“ (MEW 25, 501; eine Stelle, die Bernstein 1899, 96/110 begeistert zitierte). Rosdolsky 1969 und Mandel 1972, die zum Unterkonsumtionismus neigen, zitieren daneben oft Stellen, aus denen hervorgeht, dass die Produktion von Produktionsmitteln sich nicht von der Produktion von Konsumgütern abkoppeln, sie also nur unter politischem Zwang (wie etwa unter Stalin) auf ihre Kosten ausdehnen kann: „Außerdem findet [...] eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital (auch abgesehn von der beschleunigten Akkumulation), die insofern zunächst unabhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie definitiv begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst wegen stattfindet, sondern nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehn“ (MEW 25, 317). 108 Das Modell „Staatskapitalismus“ war für Hilferding 1910, Bucharin 1926 und Pollock 1941a wichtig (2.2.6) Im Entwurf zum Erfurter Programm hätte die Disproportionalitätstheorie eine Stütze finden können: „Die im Wesen der kapitalistischen Produktion begründete Planlosigkeit [!] erzeugt jene immer länger andauernden Krisen [...], welche die Lage der Arbeiter noch verschlimmern“ (MEW 22, 596).

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aus.109 Die Gegenvariante, prominent vertreten von Luxemburg und Grossmann, behob allerdings nicht die Naturalisierung, sondern nahm stattdessen eine inhaltliche Umbestimmung dieser „Natur“ vor: statt einer unbegrenzten Lebensdauer lieferten sie dem Kapitalismus nun das Gesetz seines Zusammenbruchs. Auch Luxemburg thematisierte die Schemen der erweiterten Reproduktion, allerdings konnte nach ihrer Ansicht die Unterkonsumtion nicht durch die kapitalistische Dynamik aufgefangen werden. Die Marx’schen Schemata, die zumindest die Möglichkeit dessen aufzeigten, wies sie explizit zurück.110 Ihr Verweis auf eine Unterkonsumtion war zwar berechtig, sie fasste sie aber nicht – wie Marx – als eine periodisch auftretende Disproportionalität, die langfristig durch zyklische Unterinvestitionen ausgeglichen wird, sondern fälschlich als ein chronisches Defizit. Das stetige Wachstum von beiden Abteilungen wirft eine höhere Konsumtion für die Kapitalisten ab – das ist das im Kapitalismus so überaus zentrale Profitmotiv (MEW 24, 74; MEW 25, 267). Die Schemata erweisen so die Rationalität dieser Wirtschaftsweise für die einzelnen Kapitalisten. Rosa Luxemburg (1913, 89) aber hält gerade dies für „absurd“: „Wir drehen uns offenbar im Kreise [!]. Lediglich deshalb mehr Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität“. Die Möglichkeit genau dieses „Kreis“-Laufs, des Zirkulationsprozess des Kapitals, wollte Marx aufzeigen. Luxemburgs ökonomisches Denken ist, wie das der Neoklassik, in einem statischen Gleichgewicht befangen – nur dass ihm bei ihr der Untergang eingeschrieben ist. Beide Naturalisierungen, die harmonische wie die katastrophische, übersahen zweierlei: beide nahmen an, dass im Kapitalismus bewusst proportional produziert werden könne und unterschoben ihm damit eine ‚Planwirtschaft’. Das verharmloste die Disproportionalitäten auf bloße Mängel der politischen Planung. Zudem betrachteten sie lediglich die Produktion und kürzten um die Distribution. Das unterschlug das Realisierungsproblem. Auf dem anarchischen Markt ist es jedoch niemals sicher, dass Produkte überhaupt verkauft werden, geschweige denn zu ihren Werten. Beide Varianten endeten so letztlich aporetisch. Der Marx’sche Gegenstand der Gesellschaftsanalyse wurde zwischen einer bejahenden Naturalisierung, die höchstens ethisch kritisierte, und einer katastrophisch verneinenden Naturalisierung zerrieben. 109 „Nur [...] als Reaktion gegen die neoharmonische Auslegung der ökonomischen Lehren von Marx ist Rosa Luxemburgs Buch Akkumulation des Kapitals zu verstehen, dessen Zentralthema [...] in der energischen Hervorhebung des Zusammenbruchsgedankens [...] bestand“ (Rosdolsky 1969, 578). 110 Luxemburg 1913, 89 ff., 259. „Weil aber Rosa Luxemburg glaubte, dass aus dem Marx’schen Reproduktionsschema tatsächlich die Möglichkeit der schrankenlosen Akkumulation ad infinitum sich ergibt, dass Tugan und Hilferding und später Otto Bauer diesen Gedanken richtig aus dem Schema herausgearbeitet haben, hat sie das Marx’sche Schema preisgegeben, um den aus dem I. Band des ‚Kapital’ sich ergebenden Zusammenbruchsgedanken zu retten“ (Grossmann 1929, 281 f.).

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Erst Henryk Grossmann, das ökonomische Stiefkind der Frankfurter Schule und vehementer Kritiker Luxemburgs, löste diese Aporie auf, indem er die Krisenproblematik auf andere Gleise zu bringen erlaubte. Allerdings führte er das „Zusammenbruchsgesetz“ auf eine Ursache zurück, die erneut im Zusammenhang mit den Reproduktionsschemen stand. Otto Bauer und Nikolai Bucharin hatten eine Formel entwickelt, die die Gleichgewichtsbedingung für dynamisches Wachstum benannte. Pegelt sich das Wachstum auf diese Proportionen ein, wird es auch langfristig denkbar. Sie lautet: v I + m ID+ m IJ = c II + m IIE.111 Bauer 1913 gibt ein Beispiel (nach Grossmann 1929, 247; siehe Rosdolsky 1969, 590; Mandel 1972, 259): I: 120 000 cI + 50 000 vI + 37 500 mJ+ 10 000 mE + 2500 mD II: 80 000 cII + 50 000 vII + 37 500 mJ+ 10 000 mE + 2500 mD Tabelle 5: Gleichgewichtsbedingung bei erweiterter Reproduktion

Die Gleichgewichtsbedingung ist zumindest im ersten Jahr erfüllt, da nach Adam Riese 50 000 vI + 37 500 m ID+ 2 500 m IJ = 80 000 cII + 10 000 m IIJ.Diese Formel für das dynamische Gleichgewicht war nicht weiter zu formalisieren, da bei verschiedenen Ausgangsrelationen und in verschiedenen Jahren je andere Akkumulationsraten erforderlich wären, um die Bedingung exakt einzuhalten. Da diese Raten ohnehin nicht zentral geplant werden, sondern sich nur ex post und im langfristigen Durchschnitt berechnen lassen, ist dies kein Manko.112 Diese Formel zeigt, wie die Struktur der Akkumulation in etwa vorzustellen ist, sofern es ein langfristiges Wachstum gibt. Die Akkumulation verliert dadurch ihren rätselhaften Charakter. Die Formel ließ sich allerdings auch „harmonistisch“ auslegen. Dies sagte zwar dem Austromarxisten Bauer zu, nicht aber Bucharin, dem Theoretiker der kommunistischen Internationale, der in Deutschland studiert hatte, oder dem deutsch-polnischen Kommunisten Grossmann. Es gab auf Grundlage der Annahme einer rein technisch und krisenfrei abrollenden Basis für Sozialisten nur noch die Option einer moralischen Kritik. Grossmann teilte Luxemburgs und Bucharins Einspruch gegen eine Ethisierung der Kapitalismuskritik.113 111 mIJ meint den Teil des Mehrwerts aus I, der in zusätzliches v investiert wird, mIDden, der von den Kapitalisten „unproduktiv“ konsumiert wird. Beide werden in Konsumgüter umgesetzt. mIIEmeint das in II akkumulierte, aus dem Mehrwert geschöpfte zusätzliche c (Mandel 1991, 127 ff., Bauer 1913; Bucharin 1926, 11f.). 112 Eckstein 1913, 491. Das generelle Missverständnis Grossmans wie Luxemburgs ist, dass die Akkumulationsrate nicht zuvor feststeht, da sie nur ein durchschnittliches und nachträgliches Resultat ist. Einzelne Kapitale können immer, etwa aufgrund hoher Gewinnaussichten, kreditfinanziert mehr Kapital in die Produktion hineinstecken als diese momentan abwirft, während andere, defensivere Kapitale stets nur einen gewissen Anteil ihres realen Mehrwertes reinvestieren. Es gibt keine sicheren Strategien, beide Kapitale können mit ihrem Konzept wirtschaftlich scheitern. Die Akkumulationsrate gibt nur einen nachträglichen Mittelwert wieder. 113 „Erhofft man den Sturz des Kapitalismus lediglich von dem politischen Kampf der zum Sozialismus herangeschulten Massen, so ‚wird der Schwerpunkt der ganzen

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Da sich Luxemburgs Unterkonsumtionstheorie als verfehlt herausgestellt hatte, war die schwierige Frage nun, wie sich ein „Zusammenbruchsgesetz“ mit Bauers Gleichgewichtsbedingung vermitteln ließ. Grossmann übernahm dafür Bauers Zahlen, die bei jenem ein stabiles Wachstum zeigen sollten. Die steigende organische Zusammensetzung war von Bauer (Marx erweiternd) so inkorporiert worden, dass c jährlich um 10 %, v aber nur um 5 % wachse. Ein „Zusammenbruchsgesetz“ ergab sich nun dadurch, dass Grossmann in seiner Berechnung die Akkumulation prozentual auf das fixe Kapital und nicht auf den Mehrwert wachsen ließ (1929, 117). Da der relative Anteil des Mehrwerts an der Wertsumme mit steigender organischer Zusammensetzung stets zurückgeht, reicht die Mehrwertmasse irgendwann nicht mehr zur Akkumulation aus (132) – der Punkt der absoluten Krise, der hier im 35. Jahr erfolgt. Realitätsgerechter wäre es jedoch gewesen, die Akkumulation anteilig am Mehrwert zu orientieren. Rechnerisch kann es so niemals zur einer Überausschöpfung kommen. Noch Grossman naturalisiert die Reproduktionsschemen, indem er den Kapitalisten ein ‚naturgesetzliches’ Handeln unterschiebt, durch welches sie sich ihrer eigenen Profitmasse berauben. Bei Marx dagegen nimmt trotz sinkender Profitrate die Profitmasse langfristig zu. Eine global sinkende Mehrwertmasse liefe dem kapitalistischen Profitmotiv direkt zuwider.115 Nicht nur die Harmonisten, auch die Zusammenbruchstheoretiker naturalisieren also das Marx’sche Modell, und ihnen unterlaufen dabei ähnliche sachliche und Verständnisfehler wie jenen. Von den Zusammenbruchstheoretikern wird die Katastrophe in eine derart ferne Zukunft verlegt, dass auch sie für die politische Strategie auf die Ethik zurückgreifen müssten.116 Politisch haben sie also wenig gewonnen, und theoretisch ist bei beiden Parteien deutlich zu erkennen, dass sie sich nicht von der Sache leiten lassen, sondern ein politisch erwünschtes Ergebnis zu produzieren versuchen. Marx’ ökonomische Theorie wird so eher verunklart. Der Gegenstand „Gesellschaft“ geht 114

Argumentation aus dem Gebiete der Ökonomie in das des Bewusstseins übertragen’ [Bucharin]. Ähnlich schrieb [...] Luxemburg: ‚Nehmen wir [...] die ökonomische Schrankenlosigkeit der kapitalistischen Akkumulation an, dann schwindet dem Sozialismus der granitene Boden der objektiven historischen Notwendigkeit unter den Füßen. Wir verflüchtigen uns alsdann in die Übel der vorMarx’schen Systeme und Schulen, die den Sozialismus aus bloßer Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der heutigen Welt und aus der bloßen revolutionären Entschlossenheit der arbeitenden Klassen ableiten wollten’“ (Grossmann 1929, 108, cf. 74. Er zitiert aus TuganBaranowski 1904, 274, sowie Luxemburgs Antikritik, 42). 114 Außer Sternberg folgte ihr niemand, selbst Mehring versagte die Gefolgschaft. 115 Wohl kein Unternehmer würde sich sehenden Auges selbst damit zugrunde richten – wie Grossmann zu unterstellen scheint -, dass er mehr ausgibt als er einnimmt. Das System ist irrational, nicht seine Elemente. Marx meinte: „die absolute Masse des von ihm [dem Kapital] produzierten Profits kann also wachsen, und progressiv wachsen, trotz des progressiven Falls der Profitrate. Dies kann nicht nur der Fall sein. Es muss der Fall sein – vorübergehende Schwankungen abgerechnet – auf Basis der kapitalistischen Produktion“ (MEW 25, 228). 116 So Kolakowski 1981 II, 88 zu Luxemburg; Mandel 1972, 29 zu Grossmann.

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auch hier noch zwischen Natur und Geist verloren.117 Grossmann hatte allerdings (wie vor ihm nur Preiser 1924, cf. Howard 1992, 316 ff.) wieder den Blick auf eine wichtige Marx’sche Thematik eröffnet: den tendenziellen Fall der Profitrate.

2.1.6 Systematische Kernpunkte II: Die Profitrate Gesellschaftliche Phänomene, wie sie das Thema von Marx sind, geschehen zwar mit Bewusstsein, aber ihre Konsequenzen können den Intentionen entgegen wirken – folglich entschlüpfen sie der Teilnehmerperspektive.118 Die Interpretation der Reproduktionsschemen wurde vor allem durch ihren Status erschwert: sie resultieren aus aggregierten individuellen Handlungen, werden also von niemandem beabsichtigt und setzen sich zudem nur anarchisch und langfristig durch (2.4.6, Fn. 133). Auch der tendenzielle Fall der Profitrate, wie er im dritten Band des Kapitals entwickelt wird (MEW 25, Kapitel 13-15), hat es mit einer solchen Dialektik von individuellen Absichten und gesellschaftlichen Folgen zu tun. Marx selbst hatte erst hier an sich verschärfende Krisen gedacht, während ihm die Disproportionalitäts- und Verwertungskrisen als leichter überwindbar galten. Waren jene bloß zyklische Phänomene, so handelte es sich beim Fall der Profitrate um eine sich von Zyklus zu Zyklus steigernde Entwicklung. Die Grundlage dieser Entwicklung ist die bereits im ersten Band entwickelt Mechanisierung und Kapitalisierung der Produktion (MEW 23, 391 ff., 650 ff.; Shaikh 1983d, 1987f), welche sich in einer höheren „organischen Zusammensetzung des Kapitals“ manifestiert – die Rate c/v wächst.119 Zwar hat der Einzelkapitalist durch die Investition in zusätzliche und neue Maschinerie (konstantes Kapital) zunächst höhere Kosten. Er spart jedoch an Lohnkosten, und zugleich verbilligt er sein Endprodukt, das nun massenhafter produziert werden kann.120 Im Effekt kann der Einzelkapitalist damit eine höhere

117 Es gab übrigens revolutionäre und konservative Auslegungen sowohl von der Unterkonsumption (Luxemburg vs. Malthus) wie von der Harmonik (Hilferding vs. Lenin). Siehe auch in 2.3.3 (Dobb vs. Gillmann) sowie 2.4.4. 118 MEW 13, 21; vgl. Adam Smith’s „unsichtbare Hand“ (Binswanger 1998, 47 ff.; Koslowski 1982, 38; Hong 2002). 119 Zu unterscheiden sind die „technische Zusammensetzung“ (das stoffliche Verhältnis von Maschinen zu Arbeiten); die „Wertzusammensetzung“, also der Ausdruck derselben in den Arbeitswertvariabeln (c/v); die „organische Zusammensetzung“, welche einen Zeitindex trägt, sowie die materialisierte Zusammensetzung (c/L, Shaikh 1986f). In Geld ausgedrückt bedeutet ein Steigen der letzteren eine steigende capital/output-Rate (K/Y). Anhand dieser kann gezeigt werden, dass c/v steigt, da der Geldausdruck K/Y steigt. Die Preise der beiden Abteilungen entwickeln sich nahezu parallel, mit Abweichungen von 5 % (Shaikh 1989b, 3, nach Juillard 1981, s.o., Fn. 135; vgl. Howard 1989, 316 ff.; 1992, 128 ff., 316 f.). 120 Oder: „on average new methods of production embody higher amounts of fixed capital per unit output (at normal capacity). In microeconomic terms, this translates into the familiar propostion that more advanced methods have higher average fixed

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Mehrwertmasse erwirtschaften. Kann durch diese Entwicklung die Profitrate sinken? Marx geht davon aus, dass die erweiterte Reproduktion, also eine permanente Akkumulation, der Normalfall ist – die einmal etablierte kapitalistische Wirtschaft muss wachsen.121 Dieser Wachstumsprozess stößt allerdings schnell auf Grenzen, lange bevor die ökologischen Grenzen des Wachstums (Meadows 1972) sichtbar werden, nämlich auf die Begrenztheit der Anzahl verfügbarer Arbeitskräfte einerseits,122 die begrenzte Absetzbarkeit ihrer Produkte zu gegebenen Preisen andererseits. Diese Grenzen bringen für das Kapital zwei Nachteile: zunächst kann bei einer „Vollbeschäftigung“ und bei gegebenem Stand der Technik nicht mehr oder kaum noch weiter akkumuliert werden. Außerdem können die Arbeiter sich bei einem Überangebot an Arbeitsplätzen ihre Arbeitskraft teurer bezahlen lassen. Gewerkschaften verfügen in dieser Situation über eine große politische Macht (wenn das auch nicht die Ursache von Krisen ist, wie die Theorie des „profit-squeeze“ will, s.u., Fn. 137). Die Akkumulation hat neben der bloßen Extensivierung der Produktion auch die Möglichkeit, sich in arbeitssparende Maßnahmen umzusetzen („Intensifikation“, MEW 23, 431; MEW 24, 261; MEW 25, 242), und zwar immer, nicht nur in der Krise. Diese verbilligen das Produkt, da an den Löhnen gespart werden kann. Sie vergrößern die absetzbare Summe an Waren und machen das Kapital zugleich unabhängiger von der Gewerkschaft.123 In einer kapitalistischen Wirtcosts, lower average variable costs, and lower average total cost (i.e. lower unit cost-price in the sense of Marx), at normal capacity utilisation“ (Shaikh 1989a, 1). 121 Für den einzelnen Kapitalisten ergibt sich der Zwang zum Wachstum aus der Konkurrenz: akkumuliert er nicht, wird er gegen seine Konkurrenten Marktanteile verlieren, da er mit der Zeit teurer produzieren muss als jene. Vergrößert er sich nicht, wird er sich bald verkleinern (sein Einkommen aus dem Mehrwert nimmt ab, bis er irgendwann das Stammkapital zum Verzehr antasten muss; daneben entwertet sich das Geldvermögen durch Inflation, das Produktivvermögen durch Veralten), und dies stets auf die Gefahr hin, ganz vom Markt gefegt zu werden. Für eine Gesellschaft hätte eine stationäre Wirtschaft, da auf dem Weltmarkt die Warenpreise weiter fallen, ein stetes Sinken der disponiblen Mehrwertmasse zur Folge, was sich wiederum auf den gesellschaftlichen Konsum (Dienstleistungen, Infrastruktur, Kultur) auswirken würde. Dies bedeutete Abbau von Arbeitsplätzen etc. Das Ziel einer Statik hätte so ein Schwinden zum Ergebnis. Folglich muss Wachstum das Ziel jedes einzelnen Kapitalisten sowie der bürgerlichen Politik sein (MEW 23, 605 ff., 640 ff.; cf. Fn. 139). 122 Diese Situation war in der Bundesrepublik in den frühen 1960er Jahren gegeben, was zu einer Einfuhr von zusätzlicher Arbeitskraft aus dem Ausland führte – den „Gastarbeitern“. Eine andere Möglichkeit in einer solchen Situation besteht in der Proletarisierung weiterer Teil der Bevölkerung, etwa von Bauern (im 17. Jahrhundert in England), Kindern (im 19. Jahrhundert in England, und im 21. Jahrhundert fast überall im Trikont), Frauen (in Deutschland geschah dies vor allem im zweiten Weltkrieg) oder neuerdings Geisteswissenschaftlern. 123 Die höhere Produktivität erlaubt zunächst etwas höhere Löhne. Aber die gleichzeitige Freisetzung von Arbeitskräften verschärft die Konkurrenz unter den Arbeitern und kann so zu einer Herabsetzung des Lohnniveaus führen, welches wiederum die Mehrwertrate erhöht. Die Lohnhöhe ist weniger Ursache als selbst eine Wirkung.

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schaft ist es darum normal, dass im Sinne der Erhöhung der Profitmasse die Kapitalintensität der Produktion stets erhöht wird. Diese Erscheinung ist nicht auf die Industrialisierung des dunklen 19. Jahrhunderts begrenzt, sie lässt sich noch heute täglich erleben: auf jedem Bahnhof stehen statt Schalterhallen Automaten. Nicht irgendeine spezifische historische Konstellation wie die Stärke der Arbeiterbewegung, sondern das Grundmotiv des kapitalistischen Wirtschaftens selbst, die Erlangung stets höheren Mehrwertes, führt zur steigenden organischen Kapitalzusammensetzung. Das Problem an dieser Kapitalisierung der Produktion ist allerdings, dass die Maschine nicht mehr Wert an ihre Produkte abgibt, als in ihr selbst steckt (MEW 23, 407 ff.; in den Reproduktionsschemen war dies bezeichnet durch die jährliche Erneuerung von c). Der Anteil der mehrwerterzeugenden Arbeit, vom variablen am gesamten Kapital v/(c+v), sinkt also (MEW 23, 650 ff.). Diese Entwicklung hat den Effekt, dass auch der Anteil des Mehrwertes (m) sinkt, selbst wenn die Ausbeutungsrate (m/v) sich vergrößert. Die Profitrate m/(c+v) wird also mit der ständigen Vergrößerung des Anteils von konstantem (c) gegenüber dem variablen Kapital (v) sinken (MEW 25, 221 ff.). Da es auch entgegenwirkende Ursachen gibt wie das Steigen der Mehrwertrate oder die Entwertung des konstanten Kapitals durch den technischen Fortschritt (MEW 25, 242 ff.), setzt sich dieses Gesetz nur als Tendenz durch – ein ständiges auf und ab ist zu erwarten, doch mit langfristigem Abwärtstrend (251 ff.). Die Komplexität dieses Gesetzes besteht darin, dass es sich um ein Verhältnis von zwei Verhältnissen handelt: auf der einen Seite die Rate des Mehrwertes (m/v, in den vorangegangen Beispielen stabil mit 100 % angesetzt), auf der anderen die organische Zusammensetzung des Kapitals, also das Verhältnis von toter zu lebendiger Arbeit, von konstantem zu variablem Kapital (c/v). Nach Marx steigen beide Verhältnisse über die Zeit, da sie miteinander zusammenhängen: bei gegebener Ausschöpfung des absoluten Mehrwertes (MEW 23, 531) wird eine höhere Mehrwertrate ermöglicht durch eine höhere Produktivität, welche wiederum durch die Mechanisierung und Kapitalisierung erreicht (und darum auch durch diese begrenzt) wird. Wäre es nicht denkbar, dass sie sich ausgleichen? Viele Marxisten nahmen dies an und haben die „Tendenz“ zur fallenden Profitrate so als eine historische aufgefasst, für die letztlich die Politik verantwortlich sei. Insbesondere der von Lassalle gestiftete, von Bernstein kanonisierte und von Keynes rationalisierte Glaube an eine politische Steuerung (Regulation) des Kapitalismus ist eine Ethisierung, die auf dieser ökonomischen Grundlage beruht. Die gewöhnliche marxistische Auslegung (nicht die Marx’sche) der Formel für die Profitrate lautet, in Werten ausgedrückt:

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p=

m c+v

wo p: Profitrate, m: Mehrwert, c: konstantes, v: variables Kapital.

Teilt man nun Zähler und Nenner durch v, so erhält man: p = m/v (c/v) + 1

wo m/v die Mehrwertrate, c/v die Wertzusammensetzung des Kapitals meint. Tabelle 6: Konventionelle Lesart der Tendenz der Profitrate

Hieraus scheint hervorzugehen, dass die Bewegung, entgegen Marxens Gesetz, nicht determiniert ist: wenn beide Verhältnisse steigen, ist es nicht ausgemacht, dass die Profitrate fällt – steigen sie gleichmäßig, so bleibt sie nach einem anfänglichen Steigen in etwa gleich (mit dem Grenzwert Eins),124 steigt aber der Zähler schneller, so steigt die Profitrate sogar. Dies war eine selbst im Marxismus weit verbreitete Auffassung, die sich noch heute hält.125 Doch in dieser formal zunächst richtigen Gleichung stecken mehrere Illusionen. Die beiden Entwicklungen: Wachsen der organischen Zusammensetzung des Kapitals und Wachsen des Mehrwerts, scheinen sich nur dann gegenseitig ausgleichen zu können, wenn man ihren internen, näherhin ihren spezifisch kapitalistischen Zusammenhang ausblendet. Rein rechnerisch scheint der Ausdruck m/v (die Ausbeutungs- oder Mehrwertrate) ins Unendliche wachsen zu können – eine der Tugan-Baranowskischen Vision vergleichbare Illusion. Tatsächlich aber ist die Mehrwertrate gebunden, und zwar durch die Länge des Arbeitstages, welcher nicht länger als 24 Stunden sein kann,126 und zudem durch die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten, welche jeden Einzelnen dazu zwingen kann, seine Preise zu senken, wenn er dies nicht aus eigenem Anlass tut.

124 Steigen in der Formel der Profitrate p = m/ (c+v), bei stabilem v, c und m gleichermaßen, so scheint die Profitrate sogar kontinuierlich zu steigen: wenn alle Werte = 1, so ist p = 50 %, wenn c und m = 2, so p = 67 %, wenn c und m = 100, so erreicht p den Grenzwert 100 % = 1. Allerdings eliminieren wir mit synchron steigenden m und c nur die Variable v aus der Gleichung, was bedeutet, dass die ursprünglich Relation von m/c immer reiner heraustritt (in diesem Falle: 1/1 = 1). Diese Relation ist aber eine Reflexion der organischen Zusammensetzung (v/c), da m an das Vorhandensein von v gebunden ist, welche über die Zeit ja gerade sinkt. 125 Sweezy 1942, 123 ff., Robinson 1942, Gillman 1958, Rolshausen 1970, Ott 1989, 24; jüngst Heinrich 2001, 330, 339; 2004, 140 ff., cf. Henning 2004a; vgl. insgesamt Howard 1989, 316-336 sowie Howard 1992, 128-145, 316-318. 126 Der Mehrwert (m) führt sich zurück auf den Abzug des zur Ersetzung der verbrauchten Ressourcen (Maschinerie, Rohmaterialien, Arbeitskraft) notwendigen Anteils vom Gesamtprodukt, oder auf den Abzug der zur Produktion der zur Wiederherstellung der Arbeitskraft notwendigen Produkte erscheischten („notwendigen“) Arbeitszeit von der Gesamtarbeitszeit. Setzt man die notwendige Arbeitszeit auf das Minimum nur einer Stunde an (eine Arbeitsstunde sei die minimale Arbeitseinheit, so dass angefangene Minuten als Stunde zählen), so kann die Mehrwertrate im Extremfall auf 23 steigen (bei 24 Stunden Arbeit am Tag).

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Niedrigere Verkaufspreise bei gleichen Produktionspreisen bedeuten natürlich eine geringere Gewinnspanne.127 Auf folgende Weise lässt sich nun formal zeigen, dass die Mehrwertrate zwar steigt, dass sie aber das Steigen der organischen Zusammensetzung nicht auffangen kann, da sie ja im wesentlichen erst durch letzteres induziert ist, oder mit anderen Worten: dass die Profitrate langfristig fällt, weil das Anwachsen der organischen Zusammensetzung die dominante Tendenz ist (Shaikh 1983a, 139; vgl. 1983 b, 1989a und b). Wiederum in einer Formel ausgedrückt, kann man schreiben: p= m K

wo K = c + v = gesamtes vorgeschossenes Kapital (konstantes und variables).

Teilt man Zähler und Nenner durch L, wo L = m + v (gesamte lebendige Arbeit), erhält man: p= m. L L K

wo L/K = (m + v) / (c + v): organische Zusammensetzung des Kapitals.

Teil man erneut Zähler und Nenner von m/L durch v, erhält man (da L = m + v ): p=

m/v . L (m/v) +1 K Tabelle 7: Alternative Lesart der Tendenz der Profitrate

Die Mehrwertrate kann die Gleichung zwar beeinflussen, aber nicht ohne Grenze; je höher sie steigt, desto weniger Einfluss hat sie sogar. Sie kann gegen Unendlich steigen, ohne dass sie die dominante Tendenz noch beeinflussen würde, da (m/v) / (1 + m/v) bei steigendem m/v den Grenzwert 1 erreicht.128 Die Profitrate ist also abhängig von der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Da K/L aber steigt, sinkt L/K und somit auch p, die Profitrate. Auf die Realität bezogen heißt das nicht, dass ein „Zusammenbruch“ die unmittelbare Folge wäre, wie Grossman – damit indirekt Kautsky verteidigend – wollte, denn die Profitmasse kann nach wie vor steigen.129 Genauer gesagt: sie wird dies zyklisch tun.130 127 Die Bindung der Mehrwertrate wird formal reflektiert, wenn der Anteil von m an der Gesamtarbeitszeit betrachtet wird, also statt m/v nun m/(v+m). Ein steigender Mehrwert führt hier zum Grenzwert Eins. 128 Ein einfacher Beweis setzt m = L – v (der Mehrwert ist der verbleibende Anteil der zugesetzten Gesamtarbeit nach Abzug der Löhne) in die Profitrate (m/c+v) ein. Man erhält: (L-v) / (c + v). Eine steigende Mehrwertrate (m/v) bedeutet, dass m auf Kosten von v wächst, wobei das Maximum wäre: m = L, da hier v = 0. Selbst in diesem für die Kapitalisten günstigsten Fall ergibt sich also p = L/c. Wenn c/L steigt, sinkt L/c. Die Profitrate wird also langfristig durch die Zusammensetzung des Kapitals (hier die materialisierte) determiniert. 129 Es gibt mithin keine naturhafte Endkrise: „There is no final crisis until workers are sufficiently class conscious and organized to overthrow the system itself“ pointiert Shaikh 1983a mit Verweis auf G. Cohen 1978, 201 ff. 130 Marx’ Theorie des Wirtschaftzyklus hängt mit der Profitrate eng zusammen (Shaikh 1987, 117 f.; 1989b, 4 f.; 1992, 178 f.). Ein Zyklus lässt sich idealtypisch wie folgt beschreiben: in einer boomenden Wirtschaft wird wegen der aussichtsreichen Profit-

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Wohl aber heißt es, dass die Krisenanfälligkeit sich mit der Zeit verstärkt: immer größere Kapitalmassen müssen investiert werden, um einen adäquaten Profit zu erzielen. Dies kann für kleine Kapitalisten (den sog. „Mittelstand“) zunehmend schwieriger werden, wie periodische Fusionswellen zeigen. Immer tiefer müssen die Löhne gedrückt werden, um den Fall der Profitrate aufzuhalten, immer nötiger wird eine innovativere Technologie, um im Wettbewerb bestehen zu können. Diese forciert den tendenziellen Fall der Profitrate aber nur noch weiter. Zwar kann sich die Profitrate in der Krise wieder erholen, aber sie wird aufgrund der sich verändernden organischen Zusammensetzung nur auf ein im Vergleich zu vorigen Zyklen stets niedrigeres Niveau steigen können, so dass zu einer zusätzlichen Erhöhung der Profitrate eine Verschärfung des Klassenkampfes erforderlich wird; etwa, indem die Reallöhne und Sozialleistungen kontinuierlich gesenkt werden. All dieses entspricht Phänomenen, die in der heutigen Zeit keine Unbekannten sind – im Gegenteil: Eine hohe Arbeitslosigkeit, ein rasantes technisches Wachstum, eine immer größere Mobilität von kurzfristig angelegtem Kapital bei einem steten Abbau von sozialen und ökologischen Standards sind zweifelsohne die Regel. Auch der Augenschein spricht diesmal also ganz unzweideutig für das Marx’sche Gesetz. Obwohl dieser Gedanke von so verblüffender Klarheit und starker Erklärungskraft ist, wurde er selten adäquat rezipiert. In den meisten Fällen, so in der oben beschriebenen Wende zum Revisionismus, die bis heute anhält, wurde das Gesetz allenfalls als ein historisches verstanden, welches sich, ebenso wie die proportionale Reproduktion, politisch manipulieren lasse.131 Mit dem Verweis darauf, dass dies bereits geschehen sei und in der Zukunft noch verstärkt praktiziert werden könne, wurde reformistische Politik oft legitimiert. Wie aber lässt sich diese Abkehr von der Marx’schen Theorie begreiflich machen? Ein erster Grund ist natürlich darin zu sehen, dass Marx nicht dazu gekommen war, seine Theorie in einer adäquaten Form zu veröffentlichen (Rosdolsky 1969, Schwarz 1978, Rojas 1991). Allerdings sind die wichtigsten Gedanken gegeben, sie hätten nur weiterer Ausarbeitung bedurft (MEW 30, 639). Das Beharren auf einer „Narate viel investiert, bis, aufgrund des Falls der Profitrate, die Profitmasse stagniert (auf 500 000 c + v im Jahr n kommen bei einer Profitrate von 10 % 50 000 m, auf 525 000 c + v im Jahr n + 1 bei einer Profitrate von nur 9,5 % aber wiederum nur 50 000 m, die Akkumulation hat sich nicht ‚gelohnt’). Ab diesem Punkt wird weniger investiert (oder Kapital in andere Sektoren, etwa die Spekulation, verschoben), und durch das überflüssige Kapital wird eine „reinigende“ Krise möglich (2.3.3, Fn. 92). Bricht sie aus, wird die Profitrate weiter fallen, Firmen müssen Geld leihen, um über die Runden zu kommen, was zu hohen Zinsätzen führt, die eine Krise noch anheizen können, bis hin zum Zusammenbruch von Banken. Die Arbeitslosigkeit steigt, womit auch die Löhne sinken. Zusammen mit der Entwertung von ‚überflüssigem’ Kapital und dem Ausscheiden vieler Konkurrenten lässt dies die Profitrate wieder gesunden. Das Spiel beginnt von vorn, allerdings mit einer gegenüber dem Vorzyklus höheren organischen Zusammensetzung. 131 Shaikh 1983a, 139 unterscheidet „possibility“ und „necessity theories“ der Krisen.

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turnotwendigkeit“ des Zusammenbruchs, ohne Gründe dafür angeben zu können, und dessen ebenso unbegründetes Leugnen waren nur wenig hilfreich. Dass die „bürgerliche“ Ökonomie dies nicht übernahm, bedarf wohl keiner Erklärung, wohl aber, dass auch die marxistischen Ökonomen hierin so wenig Elan an den Tag legten (2.3.3). Speziell bei diesem Gesetz kommt hinzu, dass Marx selbst eine Fülle von „entgegenwirkenden Ursachen“ benennt (MEW 25, 242 ff.), deren Zusammenhang mit dem Gesetz nicht auf den ersten Blick klar wird – der Gedanke, dass diese es aufwiegen könnten, liegt ja zunächst auf der Hand. Ein letzter Grund mag darin liegen, dass periodische empirische Beobachtungen die Marx’sche Theorie zu „widerlegen“ schienen, wenn sie ihr unvermittelt gegenübergestellt wurden, wie dies schon an Bernstein zu beobachten war. Erst bei einem genaueren Hinsehen zeigt sich, dass solche Beobachtungen Marx in vielen Fällen nicht widerlegen müssen, sondern auch bestätigen können. Gehen wir mögliche Einwände einmal durch. Die erste mögliche Frage ist die, ob es eine solche Entwicklung überhaupt gibt. Schon die Klassiker gingen von dem Fakt aus, sie rätselten nur über seine Erklärung. Es ist wichtig zu beachten, was dieses Gesetz bei Marx besagt: nicht etwa, dass die Profitrate niemals steigen könnte, sondern dass sich in ihrem zyklisches Steigen und Fallen eine langfristig fallende Tendenz bemerkbar macht. Schon dies wurde von vielen Kritikern nicht bedacht, wenn sie in einem kurzfristigen Ansteigen der Profitrate sogleich eine Widerlegung von Marx sahen. Die Mehrzahl der Ökonomen geht davon aus, dass die Profitrate langfristig fällt. Der Streit dreht sich um die Erklärung.132 Weiterhin ist bei der Beurteilung der Frage, ob die Profitrate langfristig sinkt, von Interesse, was genau als „Profit“ verstanden wird. Davon nämlich hängt die Erhebung und Interpretation empirischer Zahlen (auf die keinesfalls zu verzichten ist) entscheidend ab. So ist zunächst zu unterscheiden zwischen dem marxistischen Mehrwert vor aller Aufteilung in Zins, Akkumulation, Unternehmergewinn etc. (MEW 25, 224) und dem Profit, wie ihn der einzelne Unternehmer versteht: als Reingewinn nach Abzug aller Kosten, auch solcher für Vertrieb, Steuern etc. Berücksichtigt man nicht, dass diese Abzüge bei Marx selbst Teil des Mehrwertes sind, nur dass er nicht beim produktiven Kapitalisten verbleibt, sondern weitergegeben wird an handeltreibendes Kapital, Banken, Dienstleister und den Staat, so verändern sich die Aussagen der Zahlen erheblich, und der Sinn der Marx’schen Kategorien wird verfehlt (Shaikh 1978, 238f; Shaikh 1998).133 132 Die Klassik „sah das Phänomen und quälte sich in widersprechenden Versuchen ab, es zu deuten“ (MEW 25, 223; Shaikh 1978, 235). Der „Fall der Profitrate ist Tatsache“ (Bernstein 1899, 74/84). Keynes nannte es „Grenzproduktivität des Kapitals“ (1936, 135). Vgl. die „Brenner-Debatte“ in Historical Materialism 4/5 (1998). 133 Dies berührt die komplexe Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit (MEW 23, 532; MEW 24, 131 ff., 26 I, 135f., 181 etc.; Mandel 1991, 142 ff.). Gemeint ist damit, dass vom kapitalistischen Standpunkt nur solche Produktionsarbeit, die gegen Lohn für das Kapital arbeitet, (Mehr-) Wert schafft. Andere Arbeit ist entweder nicht (wert-)produktiv (wie Dienstleistungen, die aus dem Mehrwert bezahlt werden, daher der Konsumtion zuzurechnen sind), oder nicht unter dem

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Diese Unachtsamkeit verstärkt sich noch, wenn nicht nur die unmittelbar kontextrelevanten mit den theoretischen Begriffen vermengt werden, sondern zudem noch bei den theoretischen Begriffen marxistische und neoklassische Kategorien durcheinander geworfen werden.134 Weiter kann eingewandt werden, dass die Wertzusammensetzung des Kapitals sich nicht erhöht, da sich das fixe Kapital durch eine konstante Verbilligung entwertet, wie Marx selbst gesehen hatte (MEW 25, 245; bekannt geworden als „Harrod-Neutralität“ des technischen Fortschritts). Diese Entwertung kann den Fall der Profitrate zwar dämmen, aber nicht langfristig aufheben, denn durch diesen Effekt werden auch die Waren verbilligt. Die Geldform der organischen Zusammensetzung, die capital/outputRate, steigt so dennoch. Daneben sorgt die Verbilligung speziell der Konsumgüter dafür, dass auch die Kosten für die notwendige Arbeit (v) sinken. Die Verbilligung betrifft also beide Terme der Gleichung c/v.135 Eine weitere populäre Kritik lautet dahingehend, dass kein der Akkumulation eingeschriebener Mechanismus, sondern ein externer Einfluss den Fall der Profitrate verursache. Hierbei wird von der eigentlichen Bewegung der Profitrate abgesehen, und die Diskussion auf ein Nullsummenspiel zwischen Mehrwert und Lohn eingeschränkt. Aus dieser Perspektive ist ein Sinken der Profitrate nur dadurch möglich, dass die durch die Stärke der Arbeiterbewegung erreichten Lohnsteigerungen einen „zu hohen“ Teil des Produktivitätszuwachses eingenommen haben, auf Kosten der Profite, deren Rate dadurch unweigerlich sinken müsse. Diese Argumentation ähnelt zwar den aus Unternehmerkreisen periodisch vernehmbaren Klagen, kommt aber erstaunlicherweise auch aus marxistischen Federn.136 Wie in der Fehlinterpretation der Kategorien „produktive Arbeit“ und „Profit“ wird auch hier der Kapitalismus neoklassisch verharmlost. Da die Produktion weitgehend ausgeblendet wird, entfällt der interne Zusammenhang der „Produktionsfaktoren“. Lohnhöhe wie „Kapitalrente“ werden zu einander isoliert gegenübertretenden Variablen, die nur noch politisch bestimmt werden. So entsteht der Eindruck, die Löhne seien nicht nur aus der Sicht des einzelnen Unternehmers, sondern auch aus der Sicht der Wirtschaft als ganzer „zu hoch“. Bei Marx können die Löhne nur steigen, wenn und weil die Produktivität sich aufgrund der steigenden Zusammensetzung erhöht. Lohnsteigerungen sind ein AnKapital (wie die Hausarbeit), oder beides (Shaikh 1996, 20 ff.). Das heißt nicht, dass sie nicht moralisch anerkannt wird. Es ist ja gerade die Welle der Privatisierungen vormals staatlicher Sicherheitssysteme, die ‚freiwillige’ Sozialarbeit so nötig macht. Die „recognition“ in einer solchen civil society liegt damit gerade im Interesse des Kapitals, das von der Privatisierung profitiert. Die vermeintlich radikalere, weil pluralistischere Sozialkritik ist letztlich prokapitalistisch (Fraser 1997; 3.2.3, Fn. 46). 134 Siehe 2.3.3, Fn. 84; insgesamt 2.3.2. Shaikh 1978, 235; Shaikh 1996, 38 ff. 135 Es muss keine langfristigen Disproportionalitäten zwischen den Abteilungen geben. Nach Juillard 1981 betragen die Abweichungen der Produktivität 5 % (Fn. 119). 136 Glyn 1972, Himmelweit 1974, Boddy 1975, Bowles 1983, Howard 1992, 318 ff.; vgl. die Debatte um Shaikh 1978a in: Cambridge Journal of Economics, 1980/4.

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teil der Produktivitätssteigerung und werden durch sie erst ermöglicht. Sie können die Produktivität nicht derart stark aufsaugen, ohne mit dem spezifisch kapitalistischen Verwertungsinteresse, wegen dem die Mechanisierung ja veranstaltet wird, in Konflikt zu geraten (MEW 23, 631, 647 f.). Diesen internen Zusammenhang der Faktoren, obzwar basal, übersieht auch noch Michael Heinrich, der ansonsten wohl kompetenteste deutsche Marxinterpret der letzten Jahre. Der Sinn der Kapitalisierung der Produktion ist das Erzielen eines höheren Profites. Zwar wird durch die damit verbundene Erhöhung der Arbeitsproduktivität auch ein höherer Reallohn möglich, doch die Ausbeutungsrate (m/v) kann zugleich genauso gut steigen, und wird dies im Normalfall auch tun. Der Reallohn wächst im Regelfall langsamer als die Produktivität. Im Falle der Krise wird zwar die Mehrwertmasse zurückgehen, aber ebenso auch die Löhne – beides als Symptom der Krise. Der Eindruck, steigende Löhne verursachten eine Krise, entsteht aus der Vernachlässigung der Marx’schen Theorie der fallenden Profitrate, die eben durch die steigende organische Zusammensetzung bedingt ist.137 Ein letzter und verwandter Einwand hat es mit der angesprochenen Dialektik von individueller Intention und gesellschaftlicher Wirksamkeit zu tun. Das oft gegen Marx angeführte „Okishio-Theorem“ besagt, dass der einzelne Kapitalist nur dann eine neue Technologie einführen wird, wenn diese seine Profitrate erhöht, und dass, wenn alle Kapitalisten so handeln, eine neue Technologie auch im gesellschaftlichen Gesamteffekt nur eine Erhöhung der Profitrate zur Folge haben kann.138 Dieser die Logik von Gesellschaft überspringende Fehlschluss beruht auf der harmonisierenden Vorstellung von Wettbewerb, die der Neoklassik eigen ist: Firmen sind hier passive Nehmer von Preisen, welche sich auf dem Markt „naturwüchsig“, durch Angebot und Nachfrage, ergeben. Blieben die Marktpreise tatsächlich stabil, würde der Einzelkapitalist mit einer billigeren Fertigungsmethode einen höheren Profit erzielen. Allerdings wird hier der von Marx (und den Unternehmern) inaugurierte Sinn technischer Neuerungen unterschlagen – die Verringerung nicht nur des Produktions-, sondern auch des Verkaufspreises, um damit in der Konkurrenz besser bestehen zu können. Der Produzent

137 Die „profit-squeeze“-Theorie beobachtete vor dem Ausbruch von Krisen ein Fallen der „Profit/Lohn-Rate“, verstand dies aber als Ursache, nicht als Symptom (Shaikh 1978, 237; „Profit“ meint hier Gewinn). Die Steigerung des Reallohns holt die der Produktivität nicht ein. „Das tendenzielle Sinken der Profitrate ist verbunden mit einem tendenziellen Steigen in der Rate des Mehrwerts, also im Exploitationsgrad der Arbeit. Nichts alberner daher, als das Sinken der Profitrate aus einem Steigen in der Rate des Arbeitslohns zu erklären [...] Die Profitrate fällt nicht, weil die Arbeit unproduktiver, sondern weil sie produktiver wird“ (MEW 25, 250). 138 Okishio 1961, vgl. Nakatani 1979, Roemer 1979, Bowles (in: Cambridge Journal of Economics 5/1981), Parijs 1980, Howard 1992, 138 und 145; cf. Heinrich 2001, 339; King 1990 III; 2.3.3, Fn. 85.

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mit dem niedrigeren Kostpreis wird seinen Marktpreis senken, um mehr von seinen Produkten losschlagen zu können.139 Damit streicht er zwar einen Extraprofit ein, aber dieser ist nur von kurzer Dauer, da die konkurrierenden Kapitale schnell nachziehen und eine ähnliche Technologie anwenden werden (notfalls durch Industriespionage), um ebenso billig oder noch billiger produzieren zu können. Diese werden den Verkaufspreis der Ware weiter senken. Damit senkt sich aber nicht nur der beobachtbare Preis dieser Ware, sondern auch das Gravitationszentrum der Fluktuationen dieser Preise, ihr Produktionspreis – und damit ihr Wert, der durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt wird, die hier zurückgegangen ist. Aus gesellschaftlicher Perspektive wird sich darum nach einiger Zeit die Profitrate senken, weil die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals durchschlägt, auch wenn einzelne Kapitale ihre Profitmasse kurzzeitig vermehren konnten. Auf diese ökonomischen Zusammenhänge ist in Kapitel 2.3 zurückzukommen. An dieser Stelle dienten sie nur dazu, die im Zusammenhang mit der frühen Sozialdemokratie grassierenden „Zusammenbruchsgesetze“ und ihre Widerlegungen mit der Marx’schen Theorie zu konfrontieren. Wirklich verständlich wird Marxens fundamentale Krisentheorie, das „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“, nur unter Berücksichtigung ihrer komplexen gesellschaftlichen Verursachung und Wirkungsart. Symptomatischerweise weisen sowohl Luxemburg (1913, die meinte, die Kapitalisten würden sich eher aufhängen als wegen der sinkenden Profitrate aufzuhören zu akkumulieren) wie Grossmann (1929, 110, 197) die fallende Profitrate als Krisenursache zurück. Die nachträglichen Naturalisierungen und ihre spiegelverkehrten Ethisierungen im Marxismus lassen sich auf das Verfehlen des eigentlich gesellschaftlichen Gegenstandes zurückführen: Luxemburg und Grossmann haben etwas härteres, natürlicheres gesucht. Anderen dagegen war schon dieses langfristige Gesetz zu hart, zu wenig geistig – es wurde in Richtung ethischer Kriterien „aufgehoben“ (cf. Shaikh 1978, 236), aber auch, dem gar nicht so fern liegend, wie man heute meint, in Richtung rassistischer (2.3.1, Fn. 20).140 Die Marx’sche Instanz der politischen Ökonomie fehlt hier wie dort. Bereits in diesem frühen Stadium der Parteipublizistik und ihren ökonomietheoretischen Hintergründen lag also eine gravierende Abweichung von der Marx’schen ökonomischen Theorie.

139 „Der Konkurrenzkampf wird durch Verwohlfeilerung der Waren geführt. Die Wohlfeilheit der Waren hängt, caeteris paribus, von der Produktivität der Arbeit, diese aber von der Stufenleiter der Produktion ab. Die größeren Kapitale schlagen daher die kleineren. Man erinnert sich ferner, dass mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise der Minimalumfang des individuellen Kapitals wächst, das erheischt ist, um ein Geschäft unter seinen normalen Bedingungen zu betreiben“ (MEW 23, 654; vgl. Shaikh 1978a, 47 ff.; siehe 2.3.3). 140 H. Heidegger 1956 gab „ausländischen“ Elementen in der Partei, speziell den „Ostjuden“ (59 f., nach Noske 1947, 27), die Schuld an der Entfernung vom „gesunden Gefühl“ des deutschen Arbeiters für „seinen“ Staat (20).

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Die beiden systematischen Vergegenwärtigungen konnten zeigen, dass die Marx’schen Texte durchaus gehaltvolle und sinnvoll zu interpretierende Theorien über die bürgerliche Gesellschaft enthalten. Sie beschreiben Gesetze, die sich in der und durch die bürgerliche Gesellschaft durchsetzen und ihr dynamisches Erscheinungsbild stark prägen. Sie determinieren sie zwar nicht bis in jede Einzelheit, doch sie stecken einen Rahmen von Möglichkeitsspielräumen ab, der sich in Analysen der politischen Ökonomie nachweisen lässt. Ihr politischer Sinn war der, dass sich Politik – sozialistische Politik – nun wohlinformiert betreiben ließ. Es zeigte sich jedoch, dass der Charakter solch ökonomischer Gesetze im Laufe speziell ihrer deutschen Rezeption theoretisch zerrieben wurde zwischen der Behauptung einer naturhaft ablaufenden Determination einerseits (eines „naturgesetzlichen“ Zusammenbruchs durch Unterkonsumption oder Überakkumulation), und der Gegenthese einer „normativ“ beliebig gestaltbaren ethischen Überformung der Wirtschaft andererseits. Dieser Dualismus wird sich durch nahezu alle folgenden Kapitel ziehen. In diesem Kapitel 2.1 war er noch in einer recht unmittelbar praxisrelevanten Sphäre zu konstatieren, nämlich in der parteipolitischen Publizistik des ethischen Revisionismus um Bernstein einerseits, der naturalistischen Orthodoxie um Kautsky andererseits. Das folgende Kapitel kehrt wieder zum ideengeschichtlichen Vorgehen zurück. Es betrachtet einen Sprössling der deutschen Sozialdemokratie, die bolschewistische Partei Lenins. Aus ihrem Kontext entstammen weitere Interpretationsmuster wie das „Primat der Politik“, die zwar nicht mehr aus Deutschland kommen, die für die deutschsprachige Theorieentwicklung aber zentral waren (Linden 1992). Hier zeigt sich, dass die Marx’sche Theorie, deren Sinnentfremdung bereits in 2.1 zu beobachten war, sich nicht nur weiterhin inhaltlich überformt, sondern dass es zudem auch zu einem „Funktionswechsel“ kommt (Lukacs 1923, 129 ff., cf. Negt 1969, 7 ff.). Das Denken in komplexen und dynamischen ökonomisch-sozialen Bedingungsstrukturen wird inhaltlich ersetzt durch ein vereinfachtes Herrschaftsdenken. Das wirkt sich funktional aus in einer Umwandlung der Theorie von einer die Politik begleitenden Kritikinstanz in ein Mittel der ideologischen Affirmation eines weitgehend reflexionslos praktizierten politischen Voluntarismus.

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2.2 Marx in der Theorie des Kommunismus „It was precisely because the conditions that Marx thought necessary for a successful proletarian revolution did exist in Germany that there was no desire to make it; and it was also because they did not exist in Russia that Lenin was able to seize Power in the name of Marx and the proletariat.“ (Plamenatz 1954, 187)

Dieses Kapitel widmet sich der Überformung der Marx’schen Theorie in einem zweiten Hauptstrom ihrer Wirkungsgeschichte, des Kommunismus, und hier speziell des Leninismus – zumindest soweit er für die deutschsprachige Marxrezeption relevant wurde. Es gab ursprünglich keinen sachhaltigen Unterschied der Bezeichnung „Kommunismus“ gegenüber dem „Sozialismus“, auch wenn dies im Marxismus-Leninismus als ein Stadiengesetz gehandelt wurde.1 Marx und Engels sind nicht die Erfinder des Kommunismus gegenüber älteren Strömungen, die sich „sozialistisch“ nannten. Sie sagten sich in den 1850er Jahren aufgrund verschiedener Differenzen vom kommunistischen „Bund der Gerechten“ los und stellten ihre eigenen Bemühungen 1864 in den Dienst der gemäßigteren „Internationalen Arbeiter-Assoziation“.2 Eingebürgert hat sich der Sprachgebrauch, diejenigen Parteien oder Staaten als kommunistisch zu bezeichnen, die – radikaler als die Sozialdemokraten – nicht nur Verbesserungen für die arbeitenden Klassen zu erreichen, sondern einen politischen Umsturz und die Sozialisierung der Produktionsmittel tatsächlich umzusetzen trachten. Beinahe seit es eine sozialdemokratisch organisierte Arbeitervertretung gab, hatte es „linksabweichlerische“ Tendenzen gegeben, beginnend mit dem Ausscheren Bakunins aus der Internationale und den „jungen Wilden“ in den 1890er Jahren, über die USPD um 1918 bis hin zu den Jungsozialisten, die in den 1970er 1 Leonhard 1962, 244 ff.; Becher 1976, 824 ff., nach Lenin, Werke (fortan LW) 29, 409. Modifiziert hält Ruben 1990 an dieser Unterscheidung fest: Sozialismus sei eine Gesellschaftsform, Kommunismus eine Staatsform. Marx und Engels behandelten die beiden Worte zunächst äquivok (MEW 3, 441), übernahmen aber dann agitatorisch den Namen „Kommunisten“ als Unterklasse der Sozialisten, von deren Masse sie sich künftig abgrenzten (MEW 4, 482 ff.): „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. [...] Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien [den Sozialisten, CH] nur dadurch, dass sie [...] stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder [...] Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat“ (MEW 4, 474). Das Organ der Bolschewiki hieß „Sozialdemokrat“. 2 MEW 17, 440 ff.; MEW 21, 206 ff.; MEW 22, 245 ff., historisch Rosenberg 1937, Wheen 1999. Anti-totalitaristische Schriften (Arendt 1958, Seidel 1968a, Nolte 1986, Maier 1996, Söllner 1997, Courtois 1998, Jesse 1999, Backes 2002) legen den Kommunismus selten hinter Marx zurück, obschon der Gedanke einer „Gemeinwirtschaft“ schon Aristoteles oder Thomas von Aquin selbstverständlich war – zu sehr scheint er Marx und Engels anzuhaften. Zum Frühsozialismus Ramm 1955, Vester 1970, Höppner 1975, Jonas 1976 I, 175-243; Opitz 1988, 541-792; Euchner 1991.

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Jahren die „Stamokaptheorie“ vertraten, und der PDS. Sie bildeten sich als weiter links stehende Konkurrenz zu den etablierten Sozialisten.3 Es waren Differenzen der politischen Taktik innerhalb einer in ihren Zielen zumindest rhetorisch übereinstimmenden europäischen Arbeiterbewegung, die die verschiedenen Namen verursachte.4 Selbst in der Revisionismusdebatte herrschte Einvernehmen über das „Endziel“, nämlich die politische Übernahme der Macht durch die Partei der Arbeiterklasse und die Überwindung des Kapitalismus, mit der Aussicht auf Abschaffung der Klassenunterschiede. Lediglich der Weg dorthin war strittig. Keiner der streitenden Flügel, auch nicht Rosa Luxemburg, die schärfste Gegnerin Bernsteins, dachte an die Bildung einer eigenen Partei neben der Sozialdemokratie. Erst Lenin (1902) bediente sich der Bedeutungsnuance, indem er aus den russischen Sozialisten die „Bolschewiki“ herauslöste. Fünfzehn Jahre später resultierte aus der erfolgreichen Revolution dieser Partei eine Spaltung der Arbeiterparteien nicht nur Russlands, sondern ganz Europas: der reformistischen Sozialdemokratie stand ein kommunistischer Flügel gegenüber, der Sowjetrussland offen verteidigte (Scharrer 1983). Die Folgen waren gravierend. Zeichnen wir die theoretischen Auswirkungen dieser Konstellation in Stichpunkten nach.

2.2.1 Die Rolle der Gewalt „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“ (MEW 23, 779) „Die Frage, bei der diese Scheidung vom Vulgärmarxismus am klarsten zum Ausdruck kommt, ist die der Gewalt.“ (Lukács 1923, 246)

Da ist zunächst die veränderte Haltung zur Rolle der Gewalt, worunter hier einfach die Anwendung physischen Zwangs verstanden sei. Marx hatte den Gipfel der Gewaltanwendung, den Krieg, keineswegs verherrlicht, sondern offen verurteilt.5 Allerdings hatte er realpolitisch anerkannt, dass der Krieg ein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist, welches von den Mächten seiner Zeit gegen fortschrittliche politische Regungen im In- und Ausland eingesetzt wurde.6 3 „Kommunismus bezeichnet [...] den kompromisslosen und nach prinzipiellen Lösungen suchenden Flügel der sozialen Bewegung, gekennzeichnet vom unbedingten Streben nach politischer Hegemonie, nach umfassender Umwälzung der Eigentumsverhältnisse [...] Die Definition als radikaler Teil der sozialen Bewegung beschreibt zugleich eine weitere Existenzbedingung als [...] potentiell militanter Rivale der Sozialdemokratie“. Er blieb „auf den reformerischen Gegenspieler fixiert“ (W. Müller 2002, 327; Bock 1971, 1976, H. Weber 1973, H. Müller 1975; Steigerwald 1977a). 4 Lenin 1902, 1905, 1920; Lukács in 1975, 43 ff.; Stalin 1924, 51 ff.; Leonhard 1962, 51 ff.; Lieber 1963 I, 61 ff. 5 MEW 16, 13; 17, 7, 278; 20, 161; Leonhard 1962, 88 ff., 116, 121; Balibar 2001. 6 Als Zeitschriftenkommentator hat Marx über europäische und koloniale Kriege berichtet, welche er mit Engels brieflich auswertete (MEW 22, 252 ff.). Von der Kommune, die die Macht in Paris bereits hatte, forderte Marx 1871 vergeblich, mit Militärgewalt das nach Versailles geflüchtete Regime abzusetzen, statt sich über pro-

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Seit 1789, und verstärkt seit Metternichs Zeiten, gab es militärische Allianzen der Reaktion, die in die sozialistische Strategie mit einzubeziehen waren. Besonders das deutsche Reich, mit dem es die Sozialisten in Deutschland und Frankreich zu tun hatten, war eine waffenklirrend durchmilitarisierte Autokratie (Engels, MEW 20, 171; MEW 21, 405 ff). Den für die Formierung des Kommunismus zentralen ersten Weltkrieg schließlich hatten nicht Marxisten angezettelt, sondern die europäischen Herrscherhäuser (cf. W. Bauer 1941). Die bloße Berücksichtigung der Gewaltverhältnisse in der Politik war also nicht neu – die Brutalität der katastrophalen Politik des 20. Jahrhunderts ist keineswegs den „Illusionen“ von Marx entsprungen (cf. Furet 1996, s.u., Fn. 44). Die deutsche Sozialdemokratie hatte zwar den Weg zur Macht (Kautsky 1908) angestrebt, aber es fehlte ihr im entscheidenden Moment an Willen dazu. Mit einer veränderten Haltung zur Gewalt hatte es allerdings wenig zu tun, wenn die Sozialdemokraten 1914 für die Kriegskredite stimmten – schließlich war dies der Auftakt des gewaltigsten Blutopfers, das es bis dato gegeben hatte. Verändert gegenüber Marx hatte sich vielmehr die Haltung zu der Frage, wer über diese entscheiden soll (quis iudicat):7 für die Mehrheitssozialisten war der Krieg eine Art unvorhergesehenes Naturereignis, auf welches nur zu reagieren war, und das alle eigenen Pläne auf die lange Bank schob. Die Marx’sche Optik, hinter solchen „Natur“-Ereignissen gesellschaftliche Kräfte zu sehen und sich dadurch die Zügel zu eigenem Handeln nicht aus der Hand nehmen zu lassen, war hier vergessen, auch wenn sie in der Internationale kodifiziert war. Die wenigen sozialistischen Kriegsgegner waren zunächst recht hilflos.8 Wer nicht der politischen Repression ausgesetzt sein wollte wie Luxemburg, musste fliehen. Viele Kriegsgegner gingen in die Schweiz, so auch Lenin. grammatische Details zu streiten. Dies hätte ihre Macht sichern können (A. Rosenberg 1937, Raddatz 1975; vgl. Lassalle über 1848, in: 1987, 143). Internationale militärische Allianzen hatte es gegen verschiedenste Aufstände, Reformationen und Bauernerhebungen gegeben, zuletzt gesamteuropäisch 1848. Die meist unkriegerischen emanzipatorischen Bewegungen unterlagen oft militärisch (so die Montanisten, Donatisten, Joachimiten, Katharer, Waldenser, Lollarden, Taboriten und Täufer; Farner 1969, 284). Die marxistische Billigung politischer Gewalt faszinierte viele Intellektuelle (zu Carl Schmitt Fn. 36, vgl. Benjamin GS II.1, 179 ff.; Bohrer 1978; Joas 1989, 2000a; Sofsky 2002). 7 „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, sagte Carl Schmitt (1922, 9) in genialer Versimpelung. 8 Der Pazifismus der II.Internationale war, obzwar moralisch ehrenwert, politisch verheerend: der Krieg kam auch ohne die Internationale. War er aber einmal da, hatte diese keine Rezepte mehr und musste sich auflösen. Sie war in dieser entscheidenden Situation nicht mehr handlungsfähig. Dies geschah, obwohl der kommende Krieg schon seit den 1890er Jahren vorausgesehen wurde, nicht nur von Engels. Wie H. Arendt (1969, vgl. Max Weber 1920b, 28 über Macht und Herrschaft) unterschied schon Marx Macht und Gewalt. Den Ausschlag gibt der Grad an soziologischer Aufgeklärtheit und politischer Autonomie: „Die soziale Macht [...] erscheint diesen Individuen [...] nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin“ (MEW 3, 34).

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Die Bolschewiki, denen die Emigration seit 1905 vertraut war, vertraten nun ein gegenüber der Sozialdemokratie neues Verhältnis zur Gewalt. Lenin kam dabei die Meinungsführerschaft zu, obwohl er damals mit keinerlei diktatorischen Befugnissen ausgestattet war. Sie versuchten sich durch die Forderung nach einem sofortigen Friedensschluss an die Spitze der kriegsmüden Massen zu setzen. Doch sie sahen den Frieden als ein Pfund an, mit dem zu wuchern sei, um politische Ziele durchzusetzen. Sie wollten sich das Heft zu eigenem Handeln auf keinen Fall nehmen lassen (Lenin 1915, Trotzki 1918). Das war der eigentliche Unterschied zu den Sozialdemokraten, die den „richtigen“ Zeitpunkt für eine Machtübernahme und politische Maßnahmen immer weiter hinauszögerten. In dieser formalen Hinsicht waren die Bolschewiki Marx (und auch Kant) näher als mancher, der sich auf ihn berief.9 Sie wollten jetzt vor allem selbst handeln. Darum wurden nicht nur die „Sozialchauvinisten“, also Sozialdemokraten, die auf die nationalistische Linie eingeschwenkt waren, von ihnen politisch bekämpft, sondern auch „Sozialpazifisten“ wie Kautsky, die einen Friedensschluss mit den alten Mächten zu schließen bereit waren. Diese gaben aus bolschewistischer Sicht eine einmalige Chance zu eigener politischer Gestaltung aus den Händen. Tatsächlich entledigten sie sich damit der Handlungsfähigkeit, gleichgültig, was mit dieser dann getan werden sollte: Die Pazifisten sahen den Frieden als Selbstzweck an und hatten kaum weitere Forderungen, jedenfalls keine politischen (der pathetische Ästhetizismus der „Oh Mensch“-Expressionismen war politisch kaum von Belang). Im Unterschied zu den deutschen Sozialdemokraten gelang es den Bolschewiki, die Macht nicht nur zu erringen, sondern auch zu halten.10 Als nunmehr politisch Verantwortliche in einem noch immer kriegführenden Land mussten sie sich dieser Aufgabe stellen, ob sie wollten oder nicht: sie wurden bald von neuem angegriffen, diesmal nicht von Deutschland, sondern von den Westmächten sowie im Inneren von den Resten der alten Macht. Die Organisation einer „roten Armee“ unter Trotzki und die militärische Behauptung in den Folgejahren gehört zu den meistbeachteten Leistungen der russischen Revolution. Die bellizistische Tendenz der Bolschewiki, die man dem entnehmen könnte, ist noch kein Abfall vom älteren Marxismus (hatte doch Engels 1848 aktiv gekämpft). Es gibt allerdings Neuerungen bezüglich der Gewalt, die aus Marx nicht abzuleiten waren. Diese betreffen weniger inhaltliche als vielmehr organisatorische und politische Fragen. 9 So Renner 1918. Rathenau soll zu Radek gesagt haben: „‚Lesen Sie meine Bücher [...] Marx schuf nur die Theorie der Zerstörung. In meinen Büchern finden Sie die Theorie des konstruktiven Sozialismus [cf. Meyer 1977, CH]. Es ist der erste wissenschaftliche Schritt, der nach Marx getan wurde“ (Goldbach 1973, 45). Die Bücher sind aber eher lebensphilosophische Traktate gegen die Mechanisierung des Geistes (Rathenau 1913, cf. 2.5.2). 10 Die Sozialdemokraten, die sich aufgrund ihrer Gespaltenheit gegenseitig zerfleischten (das Zentrum unter Ebert und Noske ging dafür ein Bündnis mit den alten Mächten ein), musste die Regierungsgewalt nach kurzer Zeit wieder abgeben. Die von ihnen eingeleiteten Schritte zur Sozialisierung sind allesamt versickert.

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Politisch verhängnisvoll an der Taktik der Kommunisten war nicht, dass sie selbst Gewalt einzusetzen bereit waren – anders als die Sozialdemokraten, die die Gewalt von unten geißelten, während sie die von oben bejahten; aber vergleichbar jeder anderen Staatsform, auch der wehrhaften Demokratie, die sich selbst ein Recht zur Selbstverteidigung einräumt –, sondern dass es eine Minderheit war, die die Gewalt im Namen der Mehrheit ausübte, und dass sie diese so unüberlegt und kontraproduktiv einsetzte.11 Anders als etwa für Sorel (1908) war Gewalt für Lenin kein Selbstzweck – er setzte sich nach der Machtergreifung 1917 für den sofortigen Friedensschluss ein und handelte aufgrund der für ihn katastrophalen Kräfteverhältnisse einen verlustreichen Friedensschluss mit den Deutschen aus. Nach innen ging er vielfache Bündnisse und Kompromisse ein, etwa mit den Bauern und nationalen Unabhängigkeitsbewegungen; sogar ehemalige Menschewiki und Gegner wie Trotzki waren bei der Mitarbeit willkommen. Nach außen jedoch war es das erklärte Ziel der sich im Innern nur langsam etablierenden Führung, sich feste Bastionen dadurch zu verschaffen, dass man die Revolution ‚exportierte’ und in die durch den Krieg ohnehin erschütterten Staaten trug – mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands, nicht nur als des Mutterlands der marxistischen Sozialdemokratie, sondern auch als des ökonomisch und militärisch trotz verlorenen Krieges immer noch wichtigsten Nachbarstaates. Nach Marx konnte sich eine glückende sozialistische Revolution nur in einem hochentwickelten Land abspielen, um nicht wieder nur den Mangel zu verallgemeinern, und nur auf internationaler Stufenleiter, um sich politisch und wirtschaftlich längerfristig halten zu können (MEW 3, 34 f.). Bei Lenin, der den Sozialismus in Russland für möglich hielt, blieb immerhin die letztere Bedingung erhalten: Der „proletarische Internationalismus“ galt Lenin auch im Falle einer sozialen Revolution als unverzichtbar.12 Gerade weil die russische Revolution 11 Die aussichtslosen Putschversuche in Deutschland führten zu einer Ablehnung der Kommunisten seitens der Sozialdemokratie. Verhängnisvoll war die Konzentration des kommunistischen Kampfes auf den sozialdemokratischen statt auf den nationalsozialistischen Gegner (die Linie des „Sozialfaschismus“ seit 1928). Stalins Zwangskollektivierung von 1929 (ein Genozid, der verheerende Hungersnöte zur Folge hatte) oder sein Terror unter den eigenen Genossen in den 1930er Jahren waren, abgesehen von dem Erhalt und Ausbau seiner persönlichen Macht, politisch sinnlos. Die Totalitarismustheorie (Fn. 2) verüberallgemeinert dies, indem sie es dekontextualisiert. Die prinzipielle Ablehnung des Kommunismus allein aufgrund der Gewaltfrage übergeht, dass die Gewalt auch ein Mittel der untergehenden Monarchien war. Diese hatten die Kriege angestrengt und mit Brutalität betrieben, auch nach innen. Aus dieser Gewaltverherrlichung blieben die Freikorps, die an politischer Programmatik außer Gewalt nichts zu bieten hatten. Sie, weniger pervertierte sozialistische Ideen, waren der Bodensatz faschistischer Bewegungen. Bei solchen Gegnern wäre ein Gewaltverzicht politischer Selbstmord gewesen (auch die Sozialdemokratie stellte eine Kampfgruppe auf). Wenn die Totalitarismustheorie dies damaligen Kommunisten heute vorwirft, stehen dahinter auch politische Werturteile. Das ändert nichts daran, dass es unter Stalin, Mao etc. ungeheure Massaker gegeben hat. 12 Vgl. MEW 3, 34 f.; MEW 4, 479; MEW 7, 273; MEW 13, 9; MEW 18, 273, 556. Lenin hielt eine sozialistische Revolution in Russland für möglich (Lenin 1905, vgl.

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sich in einem industriell wenig entwickelten Land abspielte – hier wich Lenin bewusst von Marx und Engels ab –, war sie um so eher auf Unterstützung von außen angewiesen. Allerdings hatte Lenin das Vertrauen in die europäischen Sozialisten verloren: schon zur Zeit des Weltkrieges, als die sozialistische II. Internationale durch das Eintreten der einzelnen Parteien für ihr jeweiliges Vaterland praktisch keine Bedeutung mehr hatte, wollte er eine dritte internationale Organisation auf die Beine stellen, die sich von den alten Sozialisten löste (Lenin 1915). Solange er keinen eigenen Staat hinter sich hatte, spielte weder er in den Vorläufern dieser Internationale, die sich aus Kriegsgegnern zusammensetzte (1915 Zimmerwald, 1916 Kienthal), noch diese Internationale innerhalb der politischen Landschaft eine größere Rolle. Erst als die bolschewistische Revolution neue Maßstäbe setzte, gewann die kommunistische Alternative an Attraktivität (Radek 1919, K. Neumann 1971). So wurde 1919, als der bolschewistische Flügel der sozialistischen Partei in Russland sich in KPR umbenannt hatte, die „KomIntern“ gegründet.13 Bezeichnenderweise waren gerade die sozialdemokratischen Parteien, deren alte Führer wie Bernstein und Kautsky über die Kriegszeit als Kriegsgegner in die innerparteiliche Opposition oder in die USPD gegangen waren, an einer Mitarbeit in der neuen Internationale interessiert. Lenin aber, der um 1905 über eine solche Entwicklung sicher froh gewesen wäre, hatte mittlerweile andere Ziele: Mit den bürgerlich-demokratischen Parteien, die in den Augen Lenins bereits 1914 versagt hatten, und die weiterhin wenig revolutionäre Neigungen zeigten, konnte die KomIntern wenig anfangen (LW 27, 333). Sie wurden mithilfe nachträglich beigebrachter zusätzlicher Aufnahmebedingungen aus der KomIntern ausgegrenzt (LW 21, 172-189), um eine international geschlossen handlungsfähige, im Bedarfsfall auch militant agierende Organisation zu schaffen.14 Leonhard 1962, 105-120), betonte aber die Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande (LW 12, 355; LW 25, 90; LW 28, 294; vgl. H.Weber 1970, 140 f.). 13 Lenin hatte dies in den „Aprilthesen“ gefordert und auf dem Parteitag von 1919 umgesetzt (vgl. Bucharin 1919, Protokoll 1921, Gruber 1967). Nach A.Rosenberg 1933, 68 und Schneider 1992, 93 geschah dies unter bewusstem Rückgriff auf den „Urmarxismus“ von 1848, aus der Zeit des „kommunistischen Manifests“. 14 Zu Lenins Entwicklung vgl. Weber 1970; Hofmann 1979, 197 ff.; Arndt 1980; Reisberg 1980; Kolakowski 1981 II, 397 ff.; Vranicki 1981 I, 407 ff.; Bergmann 1994, Wolkogonow 1994, Service 2000, Zizek 2002. Zur KomIntern vgl. A. Rosenberg 1933, Borkenau 1952, Flechtheim 1967 und das Minderheitenvotum von Eberlein bei Gruber 1967, 87-89. Es gab auch Versuche, betrieben vor allem von Rathenau und Radek sowie den Nationalbolschewiken (Schüddekopf 1960, Fritzsche 1976), eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der revolutionären Sowjetunion und der SPD-regierten Republik zu initiieren, ging es doch in beiden Fällen um das wirtschaftliche und politische Überleben. Radek war aufgrund seines Aufenthaltes in Deutschland 1918/1919 klar, dass an eine Revolution nicht zu denken war (die deutschen Kommunisten verfügten kaum über Strukturen), und war daher zu Konzessionen bereit. Er empfahl den deutschen Kommunisten, in langfristigeren Dimensionen zu denken, und riet ihnen zur Aufbauarbeit anstelle von voreiligem Putschismus – vergeblich (cf. Levi 1921, Goldbach 1973, Heym 1995). Wäre eine solche Koopera-

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Die KomIntern rief in Deutschland zeitweilig offen zur Revolution auf. Das voraussehbare Scheitern dieser Putschversuche trug wesentlich zur Marginalisierung der Kommunisten in der deutschen Politik bei: Nicht nur hatten sie sinnlos Blut vergossen, sondern sie hatten sich auch allzu offensichtlich zu ausführenden Organen russischer Interessen gemacht.15 Sogar die Potenzierung der Gewalt, die mit der Herrschaft Stalins einsetzte, wurde in den kommunistischen Parteien oft distanzlos hingenommen (cf. 2.2.2). Die weitere Entwicklung des internationalen Kommunismus hatte eng mit innerrussischen Entwicklungen zu tun. Aus den Diadochenkämpfen um die Nachfolge Lenins ging nach einigen Kämpfen Stalin als Sieger hervor. Er hatte die verschiedenen Fraktionen so lange gegeneinander ausgespielt, bis er Alleinherrscher geworden war und dazu überging, potentielle wie ehemalige Gegner physisch auszuschalten. Um eine gerade Linie von Marx zu Stalin ziehen zu können, wird die Gewaltfrage in der Literatur gern prinzipialisiert. Der Unterschied zwischen Lenin und Stalin besteht allerdings nicht in der theoretischen Frage, ob Gewalt anzuwenden sei oder nicht, sondern in der Art und Weise, wie sie politisch angewandt wird.16 Lenin wie Stalin verwandten das politische Mittel der Gewalt, nach innen wie nach außen. Lenin ging gewaltsam gegen äußere Invasoren und einheimische militärische Gegner vor, verstand es aber immerhin auch, seine innerparteilichen Gegner offen, durch Argumente oder gelingende Aktionen, von der eigenen Linie zu überzeugen. Stalin dagegen schaltete auch seine innerparteilichen Gegner von Anbeginn durch Intrigen im Machtapparat aus. Da er aber im Gegensatz zu Lenin politisch kaum Erfolge zu verzeichnen hatte, baute sich eine grausame Gewaltspirale auf, die im Laufe der Zeit ganze Völker vernichtete. tion ohne deutsche Revolution möglich gewesen? Nicht, solange man mit dem kaiserlichen Deutschland noch im Krieg lag, aber mit einer sozialdemokratisch regierten Republik, die von den westlichen Siegermächten drangsaliert wurde, wäre es zumindest denkbar gewesen. Gründe, warum es nicht dazu kam, gibt es viele: neben ideologischen Vorbehalten der alten Eliten waren es wohl Invektiven der Siegermächte (Volkskommissar Haase lehnte angebotene Brotlieferungen mit dem Hinweis darauf ab, dass solche schon von Wilson angekommen wären, Goldbach 1973, 18; Heym 1995, 216 f.). Auch die katastrophale Politik der deutschen kommunistischen Parteien verunmöglichte dies. Erst der Hitler-Stalin-Pakt nutzte diese Möglichkeit, nun allerdings pervertiert (vgl. Leonhard 1955, Haffner 1967, Koenen 1998a). 15 Der KI-Exekutivkommissar Karl Radek, der 1938 den „Säuberungen“ zum Opfer fiel, riet 1919 wie 1923 von einem Putschversuch dringend ab. Dass es dennoch zu blutigen Opfern kam, ist auch den deutschen „Genossen“ zuzurechnen. Zur KPD in Weimar vgl. Flechtheim 1948, H. Weber 1969, Mallmann 1996, W. Müller 2002. 16 Bezüglich der Gewaltfrage verhalten sich Lenin und Stalin darum zueinander wie der juristische Tatbestand der groben Fahrlässigkeit gegenüber dem vorsätzlichen vielfachen Mord. Man kann hinsichtlich der Gewaltanwendung eine abstrakte Linie ziehen von Marx über Lenin zu Stalin: alle rechneten mit der Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung. Doch diese Gemeinsamkeit ist so vage, dass sie nahezu nichts erklärt. Darüber hinaus wären in diese Linie alle Staaten und politische Gruppen einzureihen, die Kriege zu führen und gefährliche Gegner zu bekämpfen bereit sind – das sind so gut wie alle. Es geht darum, Marx von Stalin abzulösen.

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Fassen wir das bislang Gewonnene zusammen: im Gegensatz zu Marx, der die Arbeiterschaft auf politische Autonomie einschwor, hatte die Sozialdemokratie das Heft des Handelns aus der Hand gegeben. Um es wieder in die Hand zu bekommen, hatten die Bolschewiken die Haltung zur Gewalt revidiert und schufen Strukturen zu konzertierten, auch gewaltsamen politischen Aktionen, die unter Stalin schließlich grausam ausarteten. In dieser Karriere des Gewaltkonzeptes gibt es allerdings prinzipielle Unterschiede, die es näher zu betrachten gibt. Da ist zum einen die Frage des Subjektes der Gewalt: wer soll sie der Theorie nach ausüben, und wer übt sie tatsächlich aus? Zu diesem Zweck sind die leninistischen Vorstellungen der Partei (2.2.2) und der Diktatur (2.2.3) zu betrachten. Zum anderen ist zu fragen, welchem Zweck sie jeweils dient, was also aus dieser Sicht zur Ausübung der Gewalt berechtigt – dies führt zur Beleuchtung des Funktionswandels der dahinterstehenden Theorie (2.2.4).

2.2.2 Die Organisation der Partei „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ (Ernst Busch)

Eine entscheidende Neuerung Lenins gegenüber der alten Sozialdemokratie war die Organisationsfrage: Seine Vorstellung von der Partei, die nach innen streng diszipliniert und nach außen abgeschlossen sein sollte, aber dennoch die Interessen des Proletariats zu vertreten berufen sei, führte schon 1902 zur Spaltung der erst entstandenen russischen Sozialdemokratie. Der Ex-Komsomolze Wolfgang Leonhard hat im kalten Krieg darauf hingewiesen, dass die leninistische Lehre von der Partei „in schroffem Gegensatz zu den Auffassungen von Marx und Engels“ stehe.17 Vor allem die Stellung zur Partei markiert also den Bolschewismus.18 Was genau ist hier neu? Die alte Sozialdemokratie hatte zwei Wurzeln: die Bestrebungen der arbeitenden Klassen, ihre Lage durch Zusammenschluss zu verbessern, und die Errungenschaften des bürgerlichen Liberalismus, die im deutschen Kaiserreich immerhin zur Schaffung eines Parlamentes geführt hatten, welches die Arbeiterpartei, wie auch immer politisch benachteiligt, als politische Bühne nutzen konnte. Die erste Internationale formulierte daher im Jahre 1872:

17 „Die wirkliche Bedeutung der ‚Lehre von der marxistisch-leninistischen Partei’ liegt darin, den halbmilitärischen Charakter der moskauhörigen Kommunistischen Parteien [...] ideologisch zu begründen. [...] Marx und Engels haben die Partei niemals als Vortrupp, Avantgarde oder Elite angesehen, die die Arbeiterklasse ‚führen’ soll. Sie haben niemals eine straffe, sondern im Gegenteil eine lose Organisation befürwortet. Sie haben sich gegen den Autoritätsglauben gewandt und waren weit entfernt von einem ‚demokratischen Zentralismus’“ (1962, 47; vgl. MEW 4, 474; MEW 17, 442; MEW 21, 16, 215; MEW 27, 190; MEW 34, 308, 441; MEW 38, 35 f.). 18 Inhaltlich übernahm Lenin auch Maßnahmen von seinen politischen Gegnern, etwa die Landverteilung an die Bauern von den Narodniki, den „Volkstümlern“; die NÖP, die „neue ökonomische Politik“, von der Marktwirtschaft; und das Recht auf nationale Selbstbestimmung von der ‚bürgerlichen’ Theorie.

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„In seinem Kampf gegen die kollektive Macht der besitzenden Klassen kann das Proletariat nur dann als Klasse handeln, wenn es sich selbst als besondere politische Partei im Gegensatz zu allen anderen, von den besitzenden Klassen gebildeten Parteien konstituiert. [...] Die durch den ökonomischen Kampf bereits erreichte Vereinigung der Kräfte der Arbeiterklasse muss in den Händen dieser Klasse auch als Hebel in ihrem Kampf gegen die politische Macht ihrer Ausbeuter dienen“ (MEW 17, 442; cf. MEW 19, 238).

Die Partei soll also ein Organ der ganzen Klasse sein, die sich der demokratischen Mittel bedient, um ihrem „großen Endzweck“ zu erreichen: die „ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse“ (440). Dies machen insbesondere die Termini „sich selbst“ und „in den Händen dieser Klasse“ deutlich. Die durchaus Kantische Autonomie, die nochmals damit hervorgehoben wird, „dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss“ (440), wird hier strengstens bewahrt, zumindest in der Programmatik. Lenin dagegen traute der Arbeiterklasse genau das nicht zu, selbst nicht theoretisch – sie kann sich bei ihm nicht selbst vertreten: „Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches [das meint hier: revolutionäres, CH] Bewusstsein gar nicht haben können. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. [...] Die Lehre des Sozialismus hingegen ist aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an“ (Lenin 1902, in: Werke 5, 389; cf. Milner 1999, 15 ff.).

Den Übergang von Bürgerlichen ins Lager der Arbeiter deuteten Marx und Engels nicht als Entmündigung derselben, sondern als deren Stärkung (MEW 4, 472). Lenin aber schließt hieraus, dass eine revolutionäre Partei keine Arbeiterpartei im Sinne einer demokratischen Massenpartei sein könne, sondern eine kleine, konspirativ arbeitende, elitäre und berufsrevolutionäre Kaderpartei zu sein habe (LW 5, 482). In dieser Externalisierung der Erkenntnis der „wahren“ Interessen des Proletariats liegt schon der Keim der Bevormundung, der dann unter Stalin so prächtig aufgehen sollte.19 Unter Stalin ging die Machtfülle der Partei schließlich an den bürokratischen Apparat über, an Geheimpolizei, Tscheka, NKWD und vor allem an ihn selbst. Sie nahm ungeheure Ausmaße an.20 Der Grundgedanke, mit dem all das bemäntelt wurde, stammt aus Lenins politischer Metaphysik, nur dass hier nicht mehr eine Elite ausgewählter und speziell ausgebildeter Kader das Proletariat „verkörpert“, sondern nur noch ihr weiser Führer:

19 Das spekulative Konzept des „zugerechneten Klassenbewusstsein“ bei Lukács 1923 ist ein Keim dessen, was Plessner 1928 abstrakt „exzentrische Positionalität“ nannte. 20 Die Parteitage und Sitzungen des ZK wurden immer seltener (Leonhard 1962, 48). Selbst die Herrschaft über den Apparat schien unsicher zu sein, so dass mehrere „Blutaustausche“ vorgenommen wurde – anfangs ‚nur’ durch Ausschluss alter Mitglieder, später durch Ermordung ganzer Belegschaften (Koenen 1998, 225, 231).

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„Die Partei schloss sich unter dem Leninschen Banner um ihr Leninsches Zentralkomitee, um den Genossen Stalin zusammen“ (ZK 1945, 348, zu 1924). „Indem die bolschewistische Partei ihre Reihen reinigte und festigte, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Feinde der Partei führte und die Verzerrung der Parteilinie schonungslos bekämpfte, schloss sie sich noch enger um ihr Zentralkomitee zusammen“ (a.O., 410, zu 1935).

Wer in groben historischen Maßstäben misst, wird hier an Polybios’ Kreislauf von Herrschaftsformen erinnert. Marx’ demokratisches Konzept, in dem die die Mehrheit der Bevölkerung stellende Arbeiterklasse über ihr eigenes Schicksal bestimmt, wird bei Lenin zur aristokratischen Bevollmächtigung durch die „Avantgarde“, und mündet bei Stalin in eine monolithische Diktatur. Diese Umkehr der Marx’schen Emanzipation der Arbeiterklasse spiegelt sich theoretisch in der Verkehrung von Basis und Überbau beim späten Stalin. 21 Nachdem die KPD Luxemburg und Liebknecht verloren hatte, wurden Selbstdenker wie Levi, Brandler, Thalheimer und Korsch bald isoliert, und moskauhörige Kader wie Ruth Fischer, Maslow und später Ernst Thälmann, den allein seine Stalinhörigkeit auszeichnete, wurden der KPD vorgesetzt. So konnte sie weder Selbstbestimmung einüben, noch den eigenen politischen und ökonomischen Verhältnissen gerecht werden (Weber 1969a, Winkler 1984/85). Besonders verderblich war es, dass die Moskauer Führung keine einheitliche Linie für die Kom -Intern fand. Die von Lenin 1919 ins Leben gerufene und von Stalin 1943 stillgelegte kommunistische Internationale handelte nicht im Interesse der gesamteuropäischen Bewegung und ihrer Vertreter, sondern im Interesse Sowjetrusslands. Doch paradoxerweise stand sie oft im Gegensatz zur sowjetischen Außenpolitik. Sie wurde zum Instrument innerrussischer Auseinandersetzungen und stiftete in den gleichgeschalteten kommunistischen Parteien Europas Verwirrung. Sie verfolgte einen regelrechten Zickzackkurs und ließ sich stets ein Hintertürchen offen.22 Da die kommunistischen Parteien zunehmend abhängiger von Moskau

21 Der politische Überbau des Kommunismus sollte die Reste des alten Überbaus vertilgen (Stalin 1950, 24 f.). Das antike Kreislaufmodell des Polybios erklärt zwar wenig, ist aber ein denkanregendes Schlaglicht. Russland müsste demnach seit 1991 wieder „demokratisch“ sein. Im Prinzip ist es das auch (cf. Leonhard 1997). 22 Die KomIntern bezeichnete 1919 „die aktive Verteidigung Sowjet-Russlands durch die proletarischen Massen aller Länder“ als „Pflicht, die zu erfüllen ist ohne Rücksicht auf die Opfer, die der Kampf erfordern wird. Jeder neuentstehende proletarische Staat wird den kapitalistischen Staaten gegenüber sich leichter durchsetzen können, wenn Sowjet-Russland unbesiegt aus dem Kampfe hervorgehen, die erste Bresche in das kapitalistische Staaten-System geschlagen haben wird“ (Die Kommunistische Internationale 4/5, 1919, 13; nach Goldbach 1973, 56, cf. Gruber 1967 und Leonhard 1981). Die KomIntern konstituierte sich im März 1919, als die revolutionären Wellen in Europa gerade abebbten. Dennoch gab der 2. Weltkongress von 1920 das Motto „Weltrevolution“ aus. Die überstürzten Aufstände von 1921, die von der KomIntern zuerst gefordert, aber wie die von 1919 bald zerschlagen worden waren, wurden von dem 3. Kongress abgekanzelt und eine neue, nachrevolutionäre Epoche wurde eingeläutet. „Geändert hatte sich [...] vom II. zum III. Weltkongress weder die Weltlage im

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wurden, waren sie dem Spiel der innerrussischen Kräfte auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Das irre Wechselspiel von Offensivstrategie und wechselnden Bündnissen mit Sozialdemokraten und Faschisten, vom „Sozialfaschismus“ zur „Einheitsfront“, machte die KPD vollends unglaubwürdig.23 Die zur Stärkung der Bewegung in der russischen Kampfzeit erdachte Homogenisierung und Disziplinierung der Partei wirkte sich bei der Beibehaltung dieses Konzeptes nach der Revolution und seiner Oktroyierung auf europäische Parteien gegenteilig aus. Bei einer Bewegung, die auf Selbstverwaltung zielte, wurde so die Kreativität der Mitglieder und damit die langfristige politische Kompetenz der Partei systematisch untergraben. Auch die politischen Ziele wurden ein ums andere Mal verfehlt. Weder konnten Kommunisten bei den Wahlen wirkliche Erfolge erzielen,24 noch kam es zu echten Bündnissen. Das Einzige, was einer solchen Partei noch blieb, war der Versuch einer gewaltsam erwirkten Einparteienherrschaft. Gewalt wurde so vom Notanker zur Hauptachse des Kommunismus.

2.2.3 Die Diktatur des Proletariats „Das Programm unserer Partei ist das Programm der Diktatur des Proletariats.“ (Bucharin 1919)

Unter Stalin, der sich selbst als „Führer“ im Übergang von der „Wiederherstellungsperiode“ zur Periode der Industrialisierung“ und damit als Verwirklicher des Sozialismus sah, starb der Staat nicht wie erwartet ab – im Gegenteil, je länger Stalin an der Macht war, desto mehr blähte sich der Staatsapparat auf: Militär, Sicherheitsdienst, Polizei und Bürokratie wuchsen. Stalin war ein unproduktiver Denker und reproduzierte meist nur, was schon andere vor ihm gesagt hatten. So war auch die „Diktatur des Proletariats“ schon für Lenin (1918) zentral. Der von Stalin nach dem Tode Lenins zum dogmatischen Lehrinhalt stilisierte ganzen noch die Situation in Europa. Geändert hatte sich Sowjetrussland“ (A. Rosenberg 1933, 194). 23 Man vergegenwärtige sich die Kurswechsel der Weimarer KPD: 1919 Revolte, 1920 Ausschluss der Linken (etwa die Hälfte der Partei), 1921 Putsch, 1922 Einheitsfront, 1923 „deutscher Oktober“, 1924 Stalinisierung der Partei (wobei 60 % der Mitglieder austreten), 1925 Rechtsschwenk (gegen den „Luxemburgismus“), 1927 Linksruck, 1928 ultralinke „Sozialfaschismuslinie“ und Wiedereinsetzung des abgewählten Thälmanns durch Stalin. Erst 1935 wurde die Order zur „Volksfront“ gegeben, 1938 kam dann der Hitler-Stalinpakt (nach Müller 2002). Borkenau karikiert das so: „Ein kommunistischer Redner [...] mochte etwa sagen, dass die Sozialdemokraten, Verräter an der proletarischen Sache und Verbündete der Bourgeoisie, außerstande seien, auch nur die elementarsten Tagesinteressen des Arbeiterschaft zu vertreten; darum [...] laden wir die [...] Sozialdemokratie ein, mit uns gemeinsam einen ehrlichen Kampf für eine stärkere Progression der Einkommenssteuer [...] zu führen“ (1952, 46). Zum Bündnis der KPD mit den Faschisten vgl. Flechtheim 1969, 178; Nolte 1968, 151; Wippermann 1986. 24 Dabei hätten sie solche durchaus erzielen können; die Stimmung unter der Bevölkerung war kommunistischen Strömungen gegenüber nicht immer abgeneigt, besonders wenig in Zeiten der Krise (etwa 1919, 1929, 1945).

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„Leninismus“ ist unübersehbar um den Glaubenssatz der „Diktatur des Proletariats“ zentriert.25 Doch was bei Lenin vage Benennung eines erhofften Durchgangsstadiums war, wurde nun zu einer nicht enden wollenden Herrschaftsform. Marx und Engels, ja selbst der Schriftsteller Lenin hatten es anders vorgesehen.26 Dennoch berief sich diese Gewaltherrschaft auf sie. Wie kam es dazu? Marx und Engels starteten ihre politische Laufbahn als Demokraten – die Neue Rheinische Zeitung beispielsweise trug den Untertitel Organ der Demokratie. Da die Masse des Volkes aus Lohnabhängigen27 bestand, betrachteten sie die Worte „Demokratie“ und „Sozialismus“ als gleichbedeutend (A. Rosenberg 1937, 55ff., cf. Femia 1993). Zu radikaleren Sozialisten wurden sie erst durch die Einsicht, dass der „politischen Emanzipation“ im Kapitalismus enge Grenzen gesetzt waren – zumal das Bürgertum nicht gewillt war, sich für die „Demokratie“ sonderlich stark zu machen, wie heute oft überspielt wird. Wenn das Proletariat, welches schon 1848 an Stelle des Bürgertums für die Republik kämpfte und vorerst noch in der Minderheit war,28 einmal zur Macht gelangen könnte, wäre es für eine „Übergangsperiode“ (MEW 19, 28) gezwungen, diese Macht zunächst „diktatorisch“ zu befestigen, um so die geplanten Maßnahmen gegen das trotz demographischer Unterlegenheit möglicherweise politisch und ökonomisch noch mächtige Kapital und andere herrschende Klassen durchsetzen zu können.29 25 Stalin dekretierte: „der Leninismus ist die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im besonderen“ (Stalin 1924, 6, vgl. 27-35). „Ist die These Lenins, dass die Diktatur des Proletariats der ‚Wesensinhalt der proletarischen Revolution’ ist [LW 28, 230], richtig? Gewiss ist sie richtig. Ist die These, dass der Leninismus die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution ist, richtig? Ich glaube ja. Was folgt aber daraus? Daraus folgt, dass die Hauptfrage des Leninismus, sein Ausgangspunkt, sein Fundament die Frage der Diktatur des Proletariats ist“ (Stalin 1926, 79, vgl. 81-88). 1937 galt der Aufbau des Sozialismus als „verwirklicht“, „die Verfassung des Sieges des Sozialismus“ nannte das Land eine „Arbeiter- und Bauerndemokratie“ (ZK 1945, 431). Zur ‚Theorie’ Stalins und ihrer ‚Rezeption’ Hedeler 1994, 33-74; A. Schaefer 1997. 26 Siehe Engels: „solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen“ (MEW 19, 7). So noch Lenin 1917. Besonders in seinen letzten Schriften von 1922/23 gab Lenin zu, dass der Weg von der Revolution bis zum Sozialismus sehr lang sei (Schneider 1992, 175). Die Bemerkung von Benjamin passt auch auf die Diktatur des Proletariats: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel ist“ (GS 1.2, 695). 27 Diese Kategorie umfasst auch Handwerksgesellen, Bedienstete in Landwirtschaft und Handel etc. (Losurdo 1993). 28 Es war im agrarischen Deutschland minoritär (cf. MEW 16, 74; MEW 19, 27). 29 Vgl. MEW 4, 372, 474, 481; MEW 5, 194, 402; MEW 7, 81, 531; MEW 14, 389, 433; MEW 17, 230, 339, 625; MEW 18, 266-68, 529; MEW 19, 28; MEW 22, 235; MEW 28, 508. Man kann im Scheitern der Weimarer Republik eine Bestätigung der Befürchtungen von Marx und Engels sehen: zwar war das Kaisertum gestürzt, aber Justiz, Beamtenapparat, Armee und Kapital hatten nach wie vor großen Einfluss. Die demokratischen, kompromissorientierten Maßnahmen der sozialdemokratischen Re-

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Marx sah in die Pariser Kommune von 1871 nachträglich „die endlich entdeckte politische Form“ hinein, „unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“ (MEW 17, 342). Die Bestimmungen, die er ihr gab, waren zugleich als Forderungen an eine mögliche künftige „Diktatur des Proletariats“ zu verstehen. Ihr Sinn war wie folgt: „a) An der Spitze der neuen Gesellschaft steht eine durch allgemeines Stimmrecht gewählte Körperschaft, die […] gesetzgebende und vollziehende Funktionen ausübt. b) Die unterdrückende Macht einer zentralisierten Regierung, Armee und Bürokratie werden überwunden. c) Die politische Polizei wird ihrer politischen Funktionen entkleidet. d) Die Abgeordneten der gewählten Körperschaft und die Beamten aller Verwaltungszweige erhalten eine Bezahlung, die nicht über den Arbeitslohn hinausgeht. e) Die Abgeordneten sind jederzeit absetzbar, und zwar durch Widerruf derjenigen, die sie gewählt hatten. Das Ziel der Diktatur des Proletariats sollte, laut Marx und Engels, darin bestehen, die Staatsorgane aus Herren der Gesellschaft in Diener der Gesellschaft zu verwandeln; es sollte verhindert werden, dass nach einer sozialistischen Revolution eine neue Bürokratie oder eine neue Schicht entsteht“ (Leonhard 1962, 162).

Mit diesen Bestimmungen sollte die neue Regierungsform zwischen der Scylla einer gewaltsamen Gegenrevolution und der Charybdis einer neuen Bürokratieherrschaft hindurchlaviert werden. Marx’ Gedanken über die „Diktatur des Proletariats“ sind daher keineswegs als Keimzelle des Totalitarismus anzusehen (so Löw 2002): sie waren gerade gegen die mögliche reaktionäre Gegenrevolution gerichtet, wie sie dann im Nationalsozialismus durchbrach, und gegen die pervertierte Bürokratenherrschaft, die dann den Stalinismus ausmachte. Schon der Ausdruck war ironisch gegen Blanquis putschistische „Diktatur der Wenigen“ gemünzt (MEW 18, 529; Schneider 1992, 25). Marx und Engels sahen durchaus die Möglichkeit, die Macht auf demokratischem Wege zu gewinnen, bildete doch der Kampf um das Wahlrecht und die Volksgesetzgebung einen Grundpfeiler des Sozialismus.30 Der Unterschied zwischen den Sozialisten und den Liberalen (2.1.2) bestand darin, dass sie die Demokratie nicht an eine bestimmte, nämlich gierungen kamen dagegen kaum an und wurden 1933 wieder ausgehebelt (Gay 1987). Marx stellte nach den Erfahrungen von 1848 die unangenehme Frage: worauf stützt sich eigentlich die Demokratie? Stützt sie sich nicht auf das Bürgertum, ist sie chancenlos. Stützt sie sich aber auf dieses, ist der Kapitalismus nicht demokratisch zu überwinden. Die damalige französische Republik hatte für ihn daher Züge einer „Diktatur der Bourgeoisie“ (MEW 7, 40, 33, 89; MEW 5, 157; Schmitt 1921, 201). 30 Die sozialistische Revolution müsse „eine demokratische Staatsverfassung und damit direkt oder indirekt die politische Herrschaft des Proletariats herstellen“ meinte Engels 1847 (MEW 4, 372); 1891 glaubte er, „die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen“ (MEW 22, 234, cf. 523; MEW 18, 160; MEW 34, 498 f.). Die kurze Blüte des „Eurokommunismus“ versuchte, diesem Konzept zu folgen. Der Schwenk von Mitterand 1983 zu einer liberaleren Politik angesichts der Undurchführbarkeit rigoroser Maßnahmen ohne tiefgreifendere Veränderung der Besitzverhältnisse (und ohne Gewalt) war sein Endpunkt.

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die bestehende Wirtschaftsverfassung gebunden sahen. Doch eine „Diktatur des Proletariats“ ist nur innerhalb einer demokratischen Grundordnung sinnvoll:31 „Wenn etwas feststeht, so ist es dies, dass unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, dass unsre besten Leute unter einem Kaiser Minister werden“ (Engels, MEW 22, 235).

Im Denken des jungen Marx hörte der Staat in der Demokratie auf, „das herrschende Moment zu sein“; daher sei die Demokratie „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“ (MEW 1, 231). Die „Selbstgesetzgebung“ einer Bürgerschaft müsse dazu führen, dass der Staatsapparat sich nicht mehr gegen oder über die Gesellschaft stellt, wie in der preussischen und bonapartistischen Praxis oder im Denken von Hegel, sondern sich ihr unterstellt (MEW 17, 340, 624). Marx hat hier die moderne Perspektive einer demokratischen und praktischen Gestaltung der Gesellschaft eröffnet. Anders als die entökonomisierte Verkürzung der Theorie der „Zivilgesellschaft“ (3.2.3, Fn. 37, 43) hatte er allerdings auch die Bedingungen für den Erfolg einer solchen Gestaltung im Blick und war sich darüber im klaren, dass es mit dem alleinigen Beschluss von Vorhaben oder gar nur der Diskussion von Normen nicht sein Bewenden werde haben können. Von Fichte bis Habermas reicht der deutsche Gedanke, man habe die soziale Wirklichkeit dann im Griff, wenn man ihre Prinzipien „begriffen“ habe, da diese die Wirklichkeit allererst hervorbrächten (2.5.2, Fn. 27). Marx’ Kritik des deutschen Idealismus in der politischen Philosophie lässt sich dagegen auf die Formel bringen, dass Änderungen der „Form“ eben nicht, jedenfalls nicht automatisch, auf den „Inhalt“ durchschlagen, da die reale Entwicklung auf Seiten des Inhalts vorgeht.32 Diese Kehre ist insofern nominalistisch, als hier die Form zwar nicht, wie bei den Anarchisten, eliminiert, aber doch dem Inhalt nachgeordnet ist.33 Allgemein gesprochen, ist in der kapitalistischen Demokratie die politische Sphäre nicht völlig autonom, sondern die ökonomische hat ein Primat über sie. Das meint nichts geheimnisvolles, sondern nur das, was heute selbst Konservative beklagen, dass nämlich die Kraft des Politischen nachlasse: nicht mehr Staaten entscheiden, 31 Der Zusammenhang von Sozialismus und Demokratie ließ sich nicht zerreißen. Er zeigt sich in der stalinistischen Rede von den „Volksdemokratien“ noch negativ – Staaten wie die DDR mussten sich immerhin noch demokratisch nennen. 32 Vgl. MEW 3, 62; MEW 7, 32; MEW 17, 342; MEW 23, 99 u.ö.; vgl. Böhm 1998; 2.5.2, 3.1.5 Der Gedanke hat sich formal noch bis in Adornos Negative Dialektik gerettet, ohne noch auf seine politische Abkunft zu reflektieren. Selbst in der Kritischen Theorie sind noch Fichteanismen vorhanden (2.6.1, Fn. 73; 3.1.5; Fn. 125). 33 Zu Marx’ Nominalismus K. Hartmann 1970, Krahl 1971, Althusser 1993, 250, Backhaus 1997, anders Popper 1965, Maurer 1975. Pike 1999 vergleicht Marx hier mit Aristoteles, der Platos reine Formen ähnlich kritisiert hatte wie Marx Hegel und die „rein“ liberale Partei. Kants „Ding an sich“ hatte der Nichtdeterminiertheit des Inhalts durch die Form eine Bresche schlagen wollen. Das unterschlug schon Engels (MEW 21, 276; cf. näher in 2.5.2).

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welche Firmen in ihnen investieren, sondern Firmen entscheiden, in welche Staaten sie gehen, und diktieren den Staaten die Bedingungen. Die idealistische Philosophie konnte Marx und Engels um so weniger beeindrucken, als der besondere Staat Preussen hinter dem „Begriff“ der Demokratie zurückblieb: Preussen und damit das Kaiserreich war für Marx und Engels „ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“ (MEW 19, 29), wo „die Regierung fast allmächtig und der Reichstag und alle andern Vertretungskörper ohne wirkliche Macht“ sei (MEW 22, 234). Es war illusorisch, von dieser scheinkonstitutionellen Monarchie eine Wirkungsmöglichkeit für eine ohnehin unwahrscheinliche parlamentarische Mehrheit zu erhoffen.34 An der Durchschlagskraft der Form über den Inhalt war zu zweifeln, da die Sozialdemokratie selbst, wenn sie im Kaiserreich eine Mehrheit errungen hätte, wenig mehr gewesen wäre als ein „Feigenblatt des Absolutismus“ (Liebknecht, MEW 22, 233; 2.1.1, Fn. 20). Lenin hat die Kritik an der reinen Form nicht nachvollzogen, sondern nur die Form ausgewechselt. Den Glauben, dass dies bis auf den Inhalt durchschlagen würde, hat er aufrechterhalten. Statt die Bedingungen einer „Diktatur des Proletariats“ in einer Demokratie auszuloten, vertauschte er die Form des Parlamentarismus mit der der Diktatur.35 Der Genitiv „des Proletariats“ wird so zur politischen Metaphysik: er suggeriert nur noch, dass die Partei die „eigentlichen“ Interessen des Proletariats vertritt. Weder stellte das russische Proletariat eine Mehrheit der Bevölkerung – die entscheidende Schicht waren vielmehr die Bauern; noch war die Partei seine reale Vertretung – sie wurde von einer Minderheit beherrscht, die erklärtermaßen nicht dem Proletariat entstammte; noch bestand die institutionelle Möglichkeit einer legalen Machtübernahme.36 34 Eine Mehrheit wurde weniger durch mangelnde Popularität der Sozialdemokratie verhindert, sondern durch das Wahlrecht und die willkürliche Veränderung von Wahlkreisen zugunsten der Regierung. In Sachsen, der Wiege der Sozialdemokratie, herrschte ein „reaktionäres Dreiklassenwahlrecht“, welches die Mehrzahl der Arbeiter von den Wahlen ausschloss. 1903 erhielt die Sozialdemokratie dennoch 58,8 % (Szejnmann 2000, 7). 35 1920 sagte Lenin: „Der wissenschaftliche Begriff der Diktatur bedeutet nichts anderes als die durch nichts eingeschränkte, durch keinerlei Gesetze, absolut durch keinerlei Regeln gehemmte, sich unmittelbar auf die Gewalt stützende Macht“ (LW 31, 345). „Die Diktatur des Proletariats schreckt nicht vor Zwang und schroffer, entschlossener, schonungsloser Ausübung staatlichen Zwangs, denn die fortgeschrittenste Klasse, die durch den Kapitalismus am meisten unterdrückt worden ist, hat das Recht, diesen Zwang anzuwenden; sie tut es ja im Interesse aller Werktätigen und Ausgebeuteten“ (LW 31, 493, vgl. Leonhard 1962, 164; kritisch dazu Löw 2002). 36 „‚Entweder Diktatur Kornilows [...] oder Diktatur des Proletariats – von einem anderen Ausweg kann für ein Land [...] bei der fürchterlichen Zerrüttung, die durch diesen qualvollsten aller Kriege hervorgerufen wurde, nicht einmal die Rede sein’ [Lenin]. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Russland 1917 tatsächlich vor diesem Dilemma stand“ (H. Weber 1970, 118). Diese „Entschlossenheit“ beeindruckte die Rechte (Schmitt 1921, 201; 1923, 63).

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Lenin richtete die „Diktatur des Proletariats“ daher nicht mehr nach dem Vorbild der französischen Republik aus, sondern nach dem der wilhelminischen Post (LW 25, 440, cf. Fn. 75 und 77). Wenn an Marx später kritisiert wurde, dass das „Proletariat“ in seinen Schriften um 1843 deshalb zum „Subjekt der Geschichte“ geworden sei, weil er als Linkshegelianer ein solches verzweifelt gesucht hatte und ihm nun eine überzogene weltgeschichtliche Mission andichtete (so etwa Hartmann 1970), so sollte das den real existierenden Sozialismus treffen. Im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts dagegen war das Proletariat kein Schreibtischkonstrukt, sondern eine sozialrevolutionäre Massenbewegung. Marx wollte sie theoretisch aufklären und unterstützen, wobei es anfangs zu zeitbedingten rhetorischen Überhöhungen gekommen war.37 Lenins 1914 beginnender Kampf gegen die europäische Sozialdemokratie, die lediglich die Interessen der verräterischen „Arbeiteraristokratie“ vertrete, und sein Legitimationskonstrukt der „proletarischen Interessen“, welche nur von den Berufsrevolutionären aus der elitären Kaderpartei richtig erkannt und vertreten werden könnten, zeigen den Abstand zu den realen Arbeitern und deren Organisationen hier wie dort.38 Als Ausdruck der Abneigung gegenüber den westeuropäischen Arbeiterparteien ist Lenins These zu verstehen, dort sei die Bourgeoisie aufgrund ihrer monopolistischen Extraprofite in der Lage, die Führer der Arbeiter zu bestechen und so eine ihnen hörige Arbeiteraristokratie zu schaffen, die die westlichen Arbeiterparteien zu Opportunisten mache und das revolutionäre Russland bekämpfe (Hobsbawm 1977, 174-84). Ein Festival der Adjektive: „Im Westen [...] hat sich eine viel stärkere Schicht einer beruflich beschränkten, bornierten, selbstsüchtigen, verknöcherten, eigennützigen, spießbürgerlichen, imperialistisch gesinnten und vom Imperialismus bestochenen, vom Imperialismus demoralisierten ‚Arbeiteraristokratie’ herausgebildet als bei uns“ (Lenin 1920, LW 31, 39).

Die Erscheinung des Reformismus, die hinter diesen Anwürfen Lenins steckt, war Marx und Engels nicht fremd, doch war dieser kein Grund, sich über die Menschen zu erheben und ihnen von außen Weisheiten zu oktroyieren.39 Wenn sie theoretische Ergebnisse erzielt hatten, dann waren sie auf die Verbreitung derselben aus und nicht darauf, ihren politischen Rang in der Partei dadurch zu erhöhen. Man mag Lenins Externalismus als Abkehr vom demokratischen Prinzip werten – er deutet jedenfalls vor auf die große Entfernung der Parteihierar37 So zur „Resurrektion der Natur“ (MEW 40, 538; MEW 13, 7, 10; MEW 21, 263; cf. 2.1.4, Fn. 72, 2.4.6, Fn. 109). 38 Der 17. Juli 1953 war ein Arbeiteraufstand, ebenso wie die 1921 brutal niedergeschlagene „Kronstädter Kommune“. Die „Arbeiteropposition“ der KPR, die ebenfalls 1921 auftrat, ging von den Gewerkschaften aus (vgl. Hillmann 1967, 54-100). Siehe noch Koenen 2001, 324 u.ö. 39 Siehe etwa MEW 29, 358; MEW 22, 234. „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes“ (MEW 4, 474).

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chien von der Bevölkerung, die statt abzunehmen im Laufe der Zeit noch wuchs. Es entstand eine neue Klassengesellschaft, nicht mehr zwischen Arbeit und Kapital, sondern nun zwischen Bevölkerung und Bürokratie. So wurde die Diktatur auf Dauer gestellt.40 Um die „Diktatur des Proletariats“ weiter zu verlängern, machte sich Stalin die genannte Unterscheidung von Form und Inhalt zunutze. Allerdings soll die Form sich nicht mehr nach dem Inhalt richten, sondern gewaltsam einen Inhalt nach seinem Bilde erzeugen (ZK 1945, 340, vgl. Fn. 21): „Im Oktober 1917 hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus politisch besiegt, ihre politische Diktatur aufgerichtet. [...] Jetzt besteht die Hauptaufgabe darin, im ganzen Lande den Aufbau einer neuen, der sozialistischen Wirtschaft zu entfalten und damit dem Kapitalismus auch ökonomisch den Todesstoß zu versetzen. [...] Die sozialistische Industrialisierung – das ist das Hauptkettenglied, das angepackt werden muss.“

Nach 20 Jahren „Diktatur des Proletariats“, die ein Lockerlassen der Zügel hätten denkbar erscheinen lassen, zog Stalin sie härter an als je zuvor, um unter horrenden Verlusten seine „industrielle Entwicklungsdespotie“ durchzusetzen (Schneider 1992, 211). Nach mehreren gravierenden politischen Fehlentscheidungen41 steigerte sich Stalin regelrecht in eine modernisierende Flucht nach vorn, die eine ungeheuer destruktive Kraft entfaltete: in der Zwangskollektivierung der späten 1920er Jahre wurde die Landbevölkerung, in den großen „Säuberungen“ der 1930er Jahre die Bürokratie in Partei- und Armeeführung grausam geopfert, und in der „sozialistischen Industrialisierung“ hat Stalin endgültig den Bürgerkrieg verewigt.42 An den unvorstellbaren Gräueln, über die West und Ost lange schwiegen, gibt es nichts herumzudeuten. Doch sie beriefen sich mit ebenso viel 40 „Stalin hob die von Lenin durchgesetzten Beschränkungen des Einkommens der hauptamtlichen Funktionäre auf. Ferner wurden sie mit zahlreichen Vorrechten hinsichtlich der Ernährung, der Warenversorgung, der Wohnung, der ärztlichen Betreuung und des Urlaubs ausgestattet, die eine breite Kluft zwischen der Bürokratie und dem Volk aufrissen“ (Bartsch 1976, 78; 3.2.2, Michel 1910, Castoriadis 1949, Cliff 1955, Bettelheim 1977, Koenen 1998, 232). 41 Die Idee des „Sozialismus in einem Lande“, die Stalin seit 1924 ausgab, sollte die Bauern einbinden. Dazu musste die offizielle Ideologie verändert und diese Veränderung dogmatisch unanfechtbar gemacht werden. Stalin wollte die zahlreichen Mittelbauern durch Selbstverwaltung stärken und so die ihm feindlichen Kulacken isolieren. Diese konnten durch Stalins Maßnahmen ihre Macht jedoch ausbauen. Bucharin interpretierte diese Stärkung des Kapitalismus als den neuen Sozialismus und brachte so die bürgerlichen Nationalisten auf seine Seite – eine Stalin kompromittierende Situation, da er so die Bauern und die Bürgerlichen auf seiner Seite und die alten Kader gegen sich hatte. International koalierte Stalin sowohl mit der gleichgeschalteten kommunistischen Minderheit als auch mit der Mehrheit der Sozialdemokratie in England, Deutschland und China, die über wesentlich mehr Macht verfügten. Diese Zweigleisigkeit führte überall ins Fiasko. Stalin isolierte sich völlig: er hatte im Inneren die rechten Kulacken und die linke Parteiführung gegen sich, und außen kaum noch starke Partner (nach A.Rosenberg 1933, 224 ff.). 42 Courtois 1998 beschreibt die Gräuel ausführlich; vgl. Nolte 1983, 524 ff., Klotz 1999. Dutschke 1975 und Schneider 1992, 203 vergleichen Stalin mit dem Einfall der Mongolen (zur „Modernisierung“ Schneider 1992, 201).

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Recht auf Marx, wie sich Eichmann seinerzeit auf Kant bezog oder die Kolonialisierung auf die Bibel: mit fast gar keinem. Dass diese Berufungen dennoch geschahen, stößt zuletzt wieder auf die Frage nach dem politischen Subjekt (quis iudicat, s.u., Fn. 7). Die absteigende Kette von der Befreiung der Arbeiterklasse bei Marx bis zum bürokratischen Staatsterrorismus Stalins lief eben über Lenins Herrschaft der Partei.43 Sie ist damit bis heute diskreditiert.

2.2.4 Schöpferische Entwicklung des Marxismus? „Der Stalinismus lässt sich nicht von der Theorie des Marxismus oder überhaupt von einer Theorie leiten, sondern von den empirischen Interessen der Sowjetbürokratie.“ (Trotzki 1936 )

Die Organisationstyp der Leninschen Partei hatte auch Auswirkungen auf die Rezeption der Marx’schen Theorien. Die geforderte Geschlossenheit der Partei machte Diskussionen bald unmöglich: auf das Oppositionsverbot von 1919 folgten das auf dem 10. Parteikongress der KPR 1921 (nach dem Kronstädter Aufstand) ausgesprochene Fraktionsverbot, Parteiausschlussverfahren sowie die berüchtigten „Säuberungen“, die 1937 regelrecht in Staatsterrorismus ausarteten. Da die russische Politik nach 1917 auch theoretisch recht ungesichert war, hatten die Maßnahmen des „real existierenden“ Sozialismus mit den Theorien von Marx, die keine Patentrezepte für eine sozialistische Politik und Wirtschaft aufgestellt hatten, kaum noch etwas zu tun.44 Obwohl von ihm wenig mehr als einige Titel kamen, musste Marx dafür herhalten, das nunmehr politisch angestellte theoretisch zu decken. Diese Weichenstellung gilt für die alte deutsche Sozialdemokratie wie für Sowjetrussland erstaunlich parallel, entgegen ihrer sonst so unterschiedlichen politischen Anschauungen und Ausgangssituationen: Beide bemächtigten sich seiner Schriften als einer „politischen Theorie“, die zur Legitimationsideologie der jeweiligen Politik herangezogen wurde. Im Namen der vorgeblichen Marx’schen „Geschichtsphilosophie“, die den Untergang des Kapitalismus voraussagte und dem Proletariat die Weltherrschaft prophezeite (2.6.6), meinte man hier wie dort eine Politik machen zu können, die die gegebenen Umstände nicht mehr mit der Theorie vermitteln musste.45 Wenn Kautskys Orthodoxie aufgrund ihres symbolischen Wertes für die Massenpartei einer Kirche ähnelte, so Lenins elitärer Radikalismus einem Orden oder einer Sekte.46 43 Für Stalin waren Partei und Staat „im Sowjetlande nicht zu trennen“ (ZK 1945, 356). 44 Dahrendorf 1952, 167 ff.; Ramm 1957, Fleischer 1993, 20; Flechtheim 1983, 234 f. (anders allerdings Bucharin 1922 und Sik 1967). 45 Als Beispiele des Überfliegens denke man etwa an Trotzki mit seinem Überspringen der Bauernfrage und seinen häufigen, aber misslichen Analogien zur französischen Revolution (Abosch 1990), an Sinoview mit seinem Putschismusmodell für die deutschen Kommunisten und Stalins wahnwitzige Industrialisierung. 46 Flechtheim 1969, 154; A. Rosenberg 1933, 168; zum sozialen Gehalt der „Sekte“ vgl. Troeltsch 1912. Marx bezeichnete sowohl den „Bund der Gerechten“ wie die Lassalleaner als Sekte, Engels machte den Begriff in seinem Werk über den Bauern-

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Die herrschaftsarcanische Maßregelung vonseiten des fernen Moskau sowie die politische Marginalisierung durch die attentistische Taktik und deren Misserfolge verstärkten den sektenartigen Charakter speziell der deutschen Partei.47 Das Verhalten gegenüber der Marx’schen Theorie war in beiden Orthodoxien ähnlich: oben ein zweckentfremdendes Instrumentalisieren, welches die Marx’sche Theorie als „Integrationsideologie“ (Matthias 1957) einer Massenpartei oder als „Legitimationswissenschaft“ (Negt 1969, 7 ff.) einer revolutionären Kaderpartei und später einer bürokratischen Autokratie benutzt, unten ein gläubiges Hinnehmen der marxistischen Heilswahrheiten als einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“.48 Der Marxismus, der angetreten war in der Absicht, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Interessen frei von ideologischen Verblendungen selbst in die Hand zu nehmen, hat sich seinerseits in eine Ideologie verwandelt (cf. 2.4.2, Fn. 41; 2.6.1, Fn. 20). Davon erholte er sich nicht mehr. Lenin war sicher kein überragendes theoretisches Talent, sondern eher ein gewitzter politischer Organisator (Baecker 2002) mit einer Gabe für die effektvolle öffentliche Rede. Zwar wusste er auch in Schriften zu überzeugen. Allerdings glich er die Theorie dabei jeweils politischen Erfordernissen an. Noch in seinem philosophischen Hauptwerk (1908) scheint der strategische Hintergrund hindurch. Ausgerechnet hier, in der Erkenntnistheorie, entwickelt Lenin sein Konzept der „Parteilichkeit der Philosophie“ (LW 14, 360).49 Die hierarchische krieg populär. Die eigene Partei sollte auf keinen Fall Sektencharakter annehmen: „wollten wir nicht die Bewegung an ihrem vorgefundenen [...] Ende aufnehmen und weiter vorantreiben, so blieb uns nichts, als Kommunismus in einem kleinen Winkelblättchen dozieren und statt einer großen Aktionspartei eine kleine Sekte stiften. Zu Predigern in der Wüste aber waren wir verdorben; dazu hatten wir die Utopisten zu gut studiert“ (Engels, MEW 21, 18; cf. MEW 7, 353; MEW 18, 350; MEW 19, 25; MEW 22, 251 und öfter). 47 Dies war zumindest die Taktik des linken Flügels um Ruth Fischer und Thälmann (Flechtheim 1969, 174). Das alte „Dilemma des demokratischen Sozialismus“ (Gay 1954) spiegelt sich in der KPD detailgetreu wieder. Die KPD beschloss schon 1919, unter Paul Levi: „Mitglieder der K.P.D., die diese Anschauungen über Wesen, Organisation und Aktion der Partei nicht teilen, haben aus der Partei auszuscheiden“ (Bericht über den 2. Parteitag der KPD, zitiert bei W. Müller 2002, 331). Tatsächlich gab es bald mehrere Abspaltungen dieser ohnehin recht kleinen Partei. Zu den „Säuberungen“ Schneider 1992, 211-21; Koenen 1998, 215-270, Hedeler 2002. 48 „Der dialektische Materialismus ist die Weltanschauung der marxistisch-leninistischen Partei“ (ZK 1945, 131). 49 In einem erkenntnistheoretischen Streit hatte der Menschewik Plechanow den Bolschewisten Bogdanow des „subjektiven Idealismus“ bezichtigt und eine Verbindung mit der voluntaristischen Taktik des Bolschewismus hergestellt. Ein Materialist habe vor einem Umsturz erst dessen objektive Bedingungen abzuwarten. Das wollte Lenin nicht auf sich sitzen lassen – er kehrte den eigenen Stall aus und erteilte Bogdanow eine radikale Abfuhr. Er stellte Plechanow eine andere Verbindung entgegen: der subjektive Idealismus sei „notwendig“ auf Seiten der Reaktion, weil sie die Religion begünstige, der Materialismus dagegen sei per se kämpferisch (LW 14, 347). Doch der Materialismus etwa von Hobbes war keineswegs emanzipatorisch, das kommunistische Frühchristentum dagegen höchst idealistisch, und im Thomismus tut der

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und zentralistische Organisation auch der Wissenschaften im Kommunismus verschärfte diese Ideologisierung zusehends. Die Grenzen zwischen Lenins ad hoc entworfener „Abbildtheorie“ und der abstrusen Parteiwissenschaft eines Lysenko, die den westlichen Darwinismus ersetzen sollte, sind fließend. Entscheidend ist überall der Glaube, selbst noch die Wissenschaft müsse und könne als solche parteilich sein.50 Gerade die Möglichkeit des ideologiekritischen Nachweises konkreter Parteilichkeit einer Wissenschaft aber zeigt, dass sie es selbst nicht sein darf. Nicht nur aus der Perspektive Marxens ist dies unmöglich. Dass die Wissenschaft dennoch parteilich sein sollte, verlängerte die innerparteiliche Hörigkeit nur noch bis in diese hinein. In der DDR ging dies von Fälschungen der Geschichte durch Walter Ulbricht bis zu Parteiausschlussverfahren gegenüber Wissenschaftlern.51 Die Säuberungen in Moskau waren für viele Theoretiker, darunter der Marxherausgeber D.B. Rjasanow, tödlich. Die resultierende untertanenhafte Hörigkeit in theoreticis strahlte bis in den Westen aus, wie einschlägige Schriften erkennen lassen. Der Verlust inner- und außerparteilicher Demokratie und das Schwinden der Freiheit der Wissenschaft gingen Hand in Hand.52 Lenins parteiliche Wissenschaft schwankte mit den Anlässen erheblich.53 erkenntnistheoretische Materialismus der Religion keinen Abbruch, sondern bekämpft den subjektiven Idealismus (Kolakowski 1981 II, 475-513). Kolakowski bezeichnet dieses Werk daher als ein philosophisch „wertloses Erzeugnis“ (510). 50 Das theoretische Lehrstück von Stalin 1938, das auf Lenin 1908 zurückgreift, wird in die Geschichte der Partei eingefügt: die grundlegendsten Theorien werden so der Entwicklung der Partei untergeordnet (vgl. die Resolution von 1930; Gropp 1960, 24 ff.). Neben persönlichen Schicksalen verblassen theoretische Folgen, doch auch sie gehören in das welthistorische Skurilitätenkabinett (cf. Wetter 1958, Kosellek 1977). 51 Vgl. H.Weber 1969, Grebing 1977, Rauh 1991, Prokop 1996, Bialas 1996, Knechtel 2000. „Gerade der eminent praktische Charakter der kommunistischen Organisation, ihr Wesen als Kampfpartei setzt einerseits die richtige Theorie voraus, da sie sonst sehr bald an den Folgen der falschen Theorie scheitern müsste; andererseits produziert und reproduziert diese Organisationsform die richtige theoretische Einsicht, indem sie die Empfindlichkeit der Organisationsform für die Folgen einer theoretischen Einstellung bewusst und organisatorisch steigert“ (Lukács 1923, 330, siehe dazu Strelewitz in Papcke 1986, 163). Noch für Althusser 1974 war die Theorie eine Verlängerung politischer Kämpfe. 52 Nicht nur in unmittelbaren Schriften der DKP ist das zu spüren (vgl. Knoche 1980, Flechtheim 1980), sondern bis in die akademische Philosophie (Beyer 1968, Sandkühler 1973, Tomberg 1973, Steigerwald 1980). Auch wo Bindungen an die DDR nicht wahrscheinlich sind, fällt der Mangel an Distanz auf. Viele westliche Marxisten hatte diese „Parteilichkeit“ geradezu verinnerlicht (Lukács cf. Fn. 51; Horkheimer 1937, 56/GA 4, 216, cf. 2.6.1; Althusser 1970, Haug 1972). Heinrich 2001, 383 macht auf folgende Stelle bei A. Schmidt (1969, 203) aufmerksam: „Bei Althusser [...] bleibt das Interesse an einer besseren Gesellschaft dem eigentlich theoretischen Prozess äußerlich“ – woraus nur zu schließen ist, das selbst für Schmidt die Wissenschaft „parteilich“ zu sein habe (cf. Steinvorth 1977, 83 ff.). 53 Für Basso 1975 war Lenin vor allem Stratege, der sich nicht in eine Doktrin zwängen lasse (11). Er zitiert dafür V. Zilli: „Jeder theoretische Beitrag, um den Lenin den Marxismus bereichert hat, entspringt mehr einer [...] konkreten Einschätzung der politischen Wirklichkeit Russlands als einer Erläuterung der Texte [hier der Pariser

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Die Dogmatisierung der Schriften Lenins zum „Leninismus“ durch Stalin war daher im wahrsten Sinne eine „Totgeburt“: nicht nur war Lenin tot, als dies geschah, sondern der ganze Korpus wird starr, wenn aus engagierten Einlassungen zu konkreten Problemen, die sich untereinander oft widersprechen (etwa in der Frage, mit wem jeweils ein Bündnis zu schließen sei), Lehrsätze zu eruieren versucht werden. Es gibt eigentlich keinen „Leninismus“, sondern nur einen Stalinismus – wer „Leninismus“ sagt, meint diesen.54 Zwar traten alle einflussreichen Bolschewisten nach Lenins Tod als ‚Leninisten’ an (siehe Trotzki u.a. 1925). Doch Stalin war der einzige, der keine eigenen Ideen beimengte; insofern war er wirklich der ‚reinste’ Leninist. Vielleicht hat er auch deswegen den Sieg über seine Konkurrenten davongetragen.55 Allerdings war Trotzkis Beobachtung (1924) nicht ganz falsch, dass Stalin sich auf den vorrevolutionären Lenin beschränkte. Trotzki selbst stützte sich auf den Lenin der Aprilthesen, der ja Trotzkis These der „permanenten Revolution“ übernommen hatte. Nach der Ausschaltung der wirklichen oder vorgeblichen „Trotzkisten“ übernahm auch Stalin inhaltlich ein trotzkistisches Programm.56 Die Funktion der Theorie hatte sich allerdings erneut geändert. Mit HansJoachim Lieber lassen sich drei Stadien der marxistischen Theorie unterscheiden: Einer orthodoxen Phase, in der die Theorie einen hohen Selbstwert hatte, folgt eine revolutionäre, in der sich Theorie und Praxis immer mehr durchdringen. In Kommune in Staat und Revolution, CH]. Seine Originalität [...] bestand in der unbefangenen Intuition einer Formel, die bei Wahrung des Systems doch eine raschere Verwirklichung des gesteckten Zieles ermöglichte“ (41). 54 „Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution“ (Stalin 1924, 6; 1947, 10; Werke 6, 63), sprach Stalin, „dem Lenin-Aufgebot gewidmet“. Zum stalinistischen Charakter des „Leninismus“ cf. H.Weber 1969; Fleischer 1973; Hofmann 1979, 250; Schneider 1992, 84, und Hedeler 1993, 89: „1926 ist ein für die Konstituierung des ‚Leninismus’ [...] wichtiges Jahr“. Sie geschah durch „Stalin, der Lenins Theorie durch den ‚Leninismus’ ersetzte, um seine persönliche Diktatur zu legitimieren“. 55 Lieber 1963, 193 beobachtet, „dass Stalin in diese ideologische Fehde ohne ein eigenes Programm hineingeht [...]. Bei all dem wird Stalin von der Bürokratie als Hüter des Leninschen Ideengutes akzeptiert, ohne dessen Autorität zu besitzen. Es selbst gibt sich konsequent als – wie er oft sagt – ‚kleiner Mann’, ohne Ambitionen, ohne Ehrgeiz, ohne eigenes Programm, und er wird gerade deshalb im Schatten Lenins immer mächtiger“. 56 Trotzki hatte den Bauern im Inland nicht getraut, sondern allein auf das Proletariat gesetzt. Daraus ergaben sich der Zwang zu einem militanten Internationalismus, um von außen Hilfe zu erzwingen, sowie der zu einer rabiaten Industrialisierung. Nachdem Stalin 1927 diese Richtung mithilfe Bucharins unterjocht hatte, wurde nun Bucharin bekämpft. So „verwandelt sich das großangelegte Industrialisierungsprogramm der ‚linken Opposition’ nach deren Zerschlagung mit leichten Veränderungen in einen Programmpunkt des Stalinismus [...] und dient schließlich als Argumentationsbasis gegen die ‚rechte Abweichung’“ (Lieber 1963, 194, vgl. 195). Lieber meint, Stalin habe auf Vorschläge stets negativ reagiert und diese Negationen dann umgesetzt. So wäre möglicherweise der Zickzackkurs Stalins zwischen steten Links(1923, 1928) und Rechtsturns (1925, 1938) zu erklären.

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die erste Phase einzuordnen sind die Schriften von Marx, die nur zum geringsten Teil direkt handlungsanleitend sind, sowie der kautskyanischen Gralshüter, die diese Theorie bewusst von der Praxis fernhielten. In die zweite Phase gehören die kaum aus ihrem Kontext isolierbaren Schriften Lenins: „Da man die bürgerlich-kapitalistische Phase der russischen Entwicklung übersprungen hatte und in der politischen Tagespraxis auf ein historisch-soziales Objekt traf, das die Form annehmen sollte, die man ihm zudiktierte, musste sich die Theorie unmittelbar in Praxis umsetzen und forderte die Praxis unaufhörlich die theoretische Reflexion. In diesem Mechanismus ist recht eigentlich die klassische marxistische Orthodoxie zerrieben worden“ (Lieber 1963 I, 197).

Die extreme Praxisrelevanz der Theorie bei Lenin sei in der dritten Phase unter Stalin dann umgekippt in Richtung einer diktatorischen Technokratie, die nun eine methodisch ungesicherte „Theorie“ einfach gewaltsam umzusetzen erlaubte: „Nachdem die Theorie durch das Revolutionserlebnis ihren eigentümlichen Charakter, nämlich einerseits zutiefst wirklichkeitsverbunden zu entstehen und andererseits als überempirische Leitlinie der politischen Aktion zu dienen, eingebüßt hat und mit der Gewalt als einer neuen ‚Achse der Geschichte’ verschmolzen ist, tritt sie nunmehr als unmittelbar praktische Theorie [...] hervor“ (Lieber 1963 I, 197 f.).

Diese Andeutung eines zweifachen Funktionswandel der Theorie – von Marx’ anspruchsvoller Theorie über Lenins Theorie-Praxis-Amalgam zu Stalins rüder Kommandowirtschaft – macht schlagend klar, wie wenig der „real existierende Sozialismus“ mit der Marx’schen Theorie zu tun hat, auch wenn Lieber die politische Wirkungskraft der Theorie sicher überschätzt. Niemand herrscht durch ideologiestrategische Traktate, sondern diese drücken den Herrschaftsanspruch lediglich symbolisch aus. Sie rechtfertigen die politisch verfolgte Generallinie. Nicht nur sind die Inhalte von Marx und Stalin einander unverbunden, sondern auch der Charakter der jeweiligen Theorie ist komplett unterschiedlich: „Hierin offenbart sich der Kern der nachrevolutionären bolschewistischen Ideologie: von den realen Wirkkräften der Gesellschaft weitgehend abgetrennt, ist sie ein praxisfernes, wenn auch durch Gewalt praktizierbares Programm; nur mit der Gewalt verbunden, wird sie unmittelbare politische Aktion“ (Lieber 1963 I, 197).

Zur Stütze eines totalitären Systems wurde der Leninismus erst, nachdem Stalin den Weg des „Sozialismus in einem Lande“ eingeschlagen hatte – eine Weichenstellung, die die Totalitarismustheorie oft überspringt, vielleicht, um besser auf Marx rückschließen zu können:57 So „verwandelt sich die Ideologie selbst zum herrschaftstechnisch eingesetzten Mittel der Verwaltung, Lenkung und Kontrolle einer gleichzuschaltenden Gesellschaft“ (198).

57 Obwohl von Lenin über Luxemburg bis zu Gramsci, viele Größen vertreten sind, fehlt Stalin in dem totalitarismustheoretischen Sammelband von Backes 2002.

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Wie sehr die Instrumentalisierung des Marxismus für die Legitimierung einer imperialen Herrschaft zu seiner Verödung führte, zeigt jedes ML-Handbuch.58 Die starren Formeln des DiaMat hatten auf die Politik kaum Einfluss, sie waren ein ideologisches Oberflächenphänomen.59 Zwar wurde der Anspruch erhoben, in der Dialektik die Regeln des Denkens, der Natur und der Gesellschaft aufgefunden zu haben, und zwar sowohl objektiv, in den „realen“ Widersprüchen, als auch, diese im Denken und Erkennen „widerspiegelnd“, in der „subjektiven Dialektik“.60 Letztlich aber war auch die Philosophie, da sie „immer lebendig die sich entwickelnde Praxis wiederspiegeln“ sollte (Gropp 1960, 22), diese Praxis aber eine autokratische war, von dieser weisungsbefugten Stelle abhängig und so gar nicht in der Lage, neben den „Auslegungen“ der gerade aktuellen Herrscherworte eigene Aussagen zu treffen.61 Geschah dies doch einmal, so hatte der betreffende Autor in „Kritik und Selbstkritik“ das eigene Unvermögen einzugestehen, um sich vor Schlimmerem zu retten.62 Solche Schauprozesse, bei denen die Angeklagten sich allerdings nicht retten konnten, erschütterten in den 1930er Jahren die Weltöffentlichkeit. Eine „schöpferische Weiterentwicklung“ des Marxismus war unter diesen Bedingungen unmöglich. In Sowjetrussland kamen wohl mehr intellektuelle Marxisten um als irgendwo sonst.63 Vergleichbar dürfte nur die „Kulturrevolution“ Maos und die Verfolgung von Kommunisten durch Hitler sein (der in diesem Punkt mit Stalin kooperierte). Trotz der mangelnden Verbindung zu Marx gab sich Sowjetrussland der Illusion hin, es sei die „Verwirklichung“ der „Ideen“ von Karl Marx.64 Der Westen

58 So Gropp 1960, Buhr 1972, Fiedler 1974, Becher 1976, Wrona 1979. Erfahrungsberichte aus der „sozialistischen“ Wissenschaft sind da eindeutig (2.1.4, Fn. 59). 59 Deutlich wird dies an Stalins Lehrstück von 1938: aus den Bestimmungen, die er der „Natur“ gibt, rechtfertigt er in allgemeinen Lehrsätzen seine Politik – die sich allerdings oft wandelte: „Wenn die Entwicklung in Form des Hervorbrechens der inneren Widersprüche [...] verläuft mit dem Ziel, diese Widersprüche zu überwinden, so ist es klar, dass der Klassenkampf des Proletariats [so nannte Lenin den Bürgerkrieg, LW 29, 326, und Stalin seine aggressive Industrialisierung, vgl. ders. 1926, 87] eine völlig natürlich und unvermeidliche Erscheinung ist. [...] Um also in der Politik nicht fehlzugehen, muss man eine unversöhnliche proletarische Klassenpolitik [...] durchführen“ (ZK 1945, 139; cf. A.Schaefer 1997). Zuvor waren die „Versöhnler“ um Bucharin aus der Partei ausgeschlossen worden (368, vgl. 343, 361, 404 ff.; zu Bucharin vgl. Hedeler 1994). Einen trotz Polemik treffenden Abriss der „Geschichte der Philosophie in Sowjetrussland“ (1917-1950) gibt Bochenski 1960, 35 ff. 60 Bochenski 1960, 86 ff., Gropp 1960, 15 ff., 58 ff., vgl. Negt 1969, Fleischer 1973. 61 Unfreiwillig ironisch nannte Sandkühler 1973 dies „materialistische Hermeneutik“. 62 Gropp 1960, 86 f.; vgl. die Schilderungen dieses Verfahrens bei Leonhard 1955. 63 Dennoch gab es anspruchsvolle kulturelle Erzeugnisse – man denke neben den Werken von Bucharin, Radek und Trotzki, an die Marx-Engels-Edition (MEGA), an die Ökonomen Leontief und Konratief, die Ästhetiker Lukács, Lunatscharski und Lifschitz, die Psychologen Pawlow und Rubinstein u.ä.; vgl. insgesamt Groys 1996. 64 Der Artikel „Deutsche Lebenslügen“ (Zeit vom 3. Oktober 2000) bemerkt, man habe sich lange zu überreden versucht, die dort herrschenden „Werte“ seien „asiatisch“,

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übernahm diese Selbstbeschreibung des Ostens als „marxistisch“; vielleicht weil man glaubte, mit einer schnell zu habenden Marxwiderlegung im kalten Krieg Punkte machen oder mit einer Belebung des jungen Marx die innerkommunistische Opposition stärken zu können.65 Dadurch aber wurde die Autoideologisierung Sowjetrusslands nicht aufgedeckt, sondern bestärkt. Das war vielleicht als Diskursstrategie gegen den Marxismus im eigenen Lande sinnvoll, wurde jedoch weder der Marx’schen Theorie noch dem Realsozialismus gerecht. Dieses Themenspektrum kann hier nicht weiter verfolgt werden, da es die Marxrezeption nur noch sehr mittelbar betrifft; Schriften über den Kommunismus bilden eine Kategorie für sich. Nachdem die Euphorie verflogen war, waren die bedeutendsten dieser Schriften ohnehin meist Dokumente der politischen Enttäuschung.66 Der einzige sowjetrussische Marxist der alten Garde, dem es gelang, eine Weile aus Stalins Wirkkreis zu entkommen, war Trotzki. Ausgerechnet er aber hielt dem alten System noch die Treue. Er ist dadurch zu einer merkwürdig schillernden Gestalt geworden, der wir uns nun zuwenden.

2.2.5 Der Trotzkismus – ein geringeres Übel? Trotzki, Führer der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk und erfolgreicher Architekt der Roten Armee, wurde post festum zu einer „Alternative zum Stalinismus“ (Bergmann 1993) stilisiert – in dem Moment, als er 1929 aus der Sowjetunion verstoßen wurde und nichts mehr bewirken konnte, und noch verstärkt, als er 1940 ermordet wurde. Befördert wurde diese Sicht nicht zuletzt von den immer drastischeren Reaktionen Stalins auf den vermeintlichen „Trotzkismus“ in den eigenen Reihen. Er überzeugte im Westen um so mehr, als er vor seinem Anschluss an den Bolschewismus 1917 ein den Menschewiki nahestehender Moralist gewesen war. Seine frühen Schriften, die allerdings mit den Schriften und Handlungen seit 1917 in erheblichem Widerspruch stehen, erschienen als eine Art moralisch höherwertige Perspektive, die das russische Experiment auch hätte uns fremdartig. Einen Schwerpunkt auf das asiatische Erbe Russlands legt dagegen Schneider 1992, 181 ff., vgl. schon Lessing 1919, Berdjajew 1923; Dutschke 1975. 65 Kritiker setzten Marx die bequeme philosophische Einschätzung entgegen, dass jeder Ideenfanatismus in „Tugendterror“ ausarten müsse (so noch Lübbe 1995) – als hätte Marx normative Ideale vertreten, die nun umgesetzt worden seien. Diese Einschätzung war schon bei Hegel verfehlt: seine Zurückführung der Schrecken nach 1792 auf die Verstandesphilosophie der Aufklärung unterstellt, Ideen machten Geschichte – als habe die Kritik der reinen Vernunft die französisch Revolution ausgelöst (Hegel 1807, 433). Sein dagegengesetzter Organizismus (435) löst Kants „Freiheit“ in ein System institutionellen Ordnungsdenkens auf – schon hier, nicht erst in der Rechtsphilosophie (1821). Gegen diese idealistische Konstruktion der „Notwendigkeit des Ablaufs“ (Hegel 1807, 437) ist die Deutsche Ideologie (MEW 3) zu halten, um zu sehen, was Marx wollte: Philosophiegeschichte basiert an entscheidenden Weichenstellungen auf Fehleinschätzungen der empirischen Realität und Geschichte (cf. 4.1). 66 Marxistisch Merleau-Ponty 1947, Castoriadis 1949, Koestler 1953, Marcuse 1958, Leonhard 1960, Bettelheim 1969 und 1977, Solschenizyn 1974 und Heym 1995.

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nehmen können. Zusammen mit Trotzkis Kampfschriften aus dem Exil fungierten sie so für westliche Sympathisanten des Kommunismus, die sich von Stalin zu distanzieren begannen, als imaginäre „Alternative“.67 Trotzki hat allerdings weder theoretisch etwas über den offiziellen Marxismus-Leninismus hinausgehendes entwickelt (mag man seine historischen Schriften auch positiv bewerten), noch hätte er politisch eine Alternative dargestellt. Er hat den diktatorischen Parteiapparat, den Stalin nutzte, selbst mitaufgebaut und sich nie von diesen Strukturen distanziert. Er hatte wie Stalin bonapartistische Tendenzen (der Kronstädter Aufstand war durch seinen militärischen Führungsstil mit provoziert worden), und vertrat eine ähnliche rigorose Modernisierungslinie wie Stalin ab 1928, da er von Anbeginn jegliches Bündnis mit den Bauern abgelehnt hatte.68 Trotzki hat es versäumt, sich gegen Stalin zu stellen, solange er es noch konnte (Abosch 1990, G. Schäfer 1993). Er nahm ihn als Opponenten nicht ernst, sondern wandte sich stattdessen gegen Bucharin und andere (Trotzki 1924). Dies lag wohl daran, dass er im Prinzip nichts gegen Stalin einzuwenden hatte, sondern höchstens gegen dessen Person – aber auch das erst recht spät (Trotzki 1937). Der nachträglich inszenierte Kampf gegen Stalin ist als eine nachholende Revolte zu verstehen, die sich aufgrund fehlender prinzipieller Differenzen auf eine bloße Konkurrenz um Führungspositionen reduziert, auf eine grandios inszenierte, aber tragische welthistorische Personalposse also. Trotzkis begriff die Sowjetunion als „degenerierten Arbeiterstaat“, also als strukturell richtigen Staat unter falscher Führung (Linden 1992, 60 ff.). Sein Beharren auf einer „Weltrevolution“ hatte vor allem das Ziel, die Verhältnisse dort zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Auch der Versuch, aufbauend auf den von Trotzki geschaffenen Mini-Strukturen einer „Vierten Internationale“ eine unabhängige Linke aufzubauen, war von Anbeginn problematisch: solange sie sich auf Trotzki zurückführte, konnte sie sich weder politisch vom Modell der Sowjetunion, noch theoretisch vom technokratischen Naturalismus und Geschichtsdeterminismus lösen. Eher noch hat das Wirken Trotzkis im Westen dazu geführt, die Marx’schen Gedanken weiterhin als messianische Geschichtsphilosophie, 67 Die Distanzierung von Stalin war für die westliche Linke überraschend schwierig. Schauprozesse und Hitler-Stalin-Pakt ließen zwar Zweifel aufkommen, doch die USA traten schließlich auf Seiten Stalins in den Krieg ein. Guibot 1997 beschreibt die Ablösung der linken Kunstszene Amerikas von Stalin, cf. Bonde 1987, Diggins 1992, Lloyd 1997. Der Konflikt zwischen Kommunisten und 68ern in Frankreich drehte sich um die Lösung vom Stalinismus; noch die antimarxistische Welle der 1970er war eigentlich antistalinistisch. Wie Trotzki war auch Mao eine ErsatzIdentifikationsfigur. Seine Glorifizierung in Teilen der europäischen Linken wirkt heute um so grotesker, als er dem terroristischen Regime nicht nur geistig verhaftet blieb wie Trotzki, sondern für die Massaker der Kulturrevolution direkt verantwortlich war (Koenen 1992). Solange er politische Macht besaß, schreckte auch Trotzki vor Massakern nicht zurück. In den 1990er Jahren gab es dann, im Zuge seiner Rehabilitierung, einen Bucharin-Boom (Hedeler 1993). Zur Alternative: Bahro 1977. 68 Zu Trotzki insgesamt siehe Deutscher 1972, Mandel 1979, Abosch 1990, Beilharz 1987, Bergmann 1993a, G.Schäfer 1993, Hedeler 1994 und Bourseiller 2002.

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technokratischen Fortschrittsglauben und terroristische Wirklichkeitsblindheit hinzustellen; denn diese Merkmale des Marxismus-Leninismus trägt das Denken Trotzkis in potenzierter Form.69 Auch ließ der Gedanke, mit Hilfe versprengter Splittergruppen eine „Weltrevolution“ anführen zu wollen, kaum eine Distanzierung vom Terrorismus erkennen.70 Daher ist vielleicht verständlich, warum mehrere Staaten dem führenden Trotzkisten Ernest Mandel ein Aufenthaltsverbot aussprachen. Der Trotzkismus konnte einzig unter Ablösung von Trotzkis Ideen aus der sektiererischen Isolation herauskommen – wie in England und Frankreich, wo Teile der Linken trotzkistisch orientiert sind. Mit dieser Regionalität gaben sie gerade das Wesen des Trotzkismus, die Internationalität, auf.71 Eine weitere theoriegeschichtliche Episode blieben Mao und der „DritteWelt-Kommunismus“. Auch dieser wurde in der westlichen Welt als eine marxistische Alternative zum Stalinismus aufgegriffen. Um 1967 griff man provokativ den Maoismus auf, ohne die Tragweite zu ermessen, um die Dekolonisierung marxistisch zu beschreiben. Angeregt durch Franz Fanon, imaginierte man sich auch in den westlichen Metropolen als eine marxistische „Großstadtguillera“. Im nachhinein muss man im westlichen Maoismus eine intellektuelle Spielerei mit dem Feuer sehen.72 Aufgrund seines Praktizismus, seines paradoxen studentischen Antiintellektualismus blieben aus dem westlichen Maoismus, abgesehen von der Orientierung auf die Dritte Welt, kaum theoretische Ansätze. Wie die übrigen nichtstalinistischen Linien führt er meist wieder auf Lenin zurück. Darum sei zuletzt die entscheidende theoretische Weichenstellung Lenins ausführlicher analysiert. Sie ist die ökonomietheoretische Grundlage der kommunistischen Staatsfixierung, welche bis zu Horkheimers „Primat der Politik“ und deren Folgen reichte: die Theorie des Imperialismus.

69 Bereits 1905 verkündete Trotzki: „Die ganze Geschichte – das ist eine große Maschine im Dienst unserer Ideale. Sie arbeitet barbarisch langsam, mit gefühlloser Grausamkeit, aber sie tut ihre Sache. Wir glauben an sie“ (nach Abosch 1990, 34; vgl. 164). Noch 1932 forderte Trotzki in ungetrübter Technikgläubigkeit, der Mensch müsse „sich selbst in Arbeit nehmen, in den Mörser, in die Retorte des Chemikers“ (nach Abosch 1990, 117, vgl. 133 und 137). 70 Gegen Kautsky und Luxemburg nach 1918: Trotzki 1920, Lenin 1920, Lübbe 1980. 71 Gedanken konnten sich hier immerhin unabhängiger entwickeln als unter der Ägide Moskaus. Autoren wie Bensaid oder Callinicos sind dem trotzkistischen Flügel zuzurechnen, welcher in Form der IV. Internationale und Parteien wie der britischen Socialist Workers Party noch immer existiert. Zum Trotzkismus vgl. Beilharz 1987, Callinicos 1991, Cliff 1999, Koenen 2001, 276 ff.; Bourseiller 2002, Bensaid 2002. Zu Trotzki auch 3.4.2, zu Mandel 2.3.2. 72 So urteilen Koenen 2001 sowie Joscha Schmierer und Christian Semmler – die es wissen müssen – in ihren Beiträgen zu Landgrebe 1998, 49 ff. und 133 ff., auch 88.

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2.2.6 Systematische Kernpunkte III: Der Imperialismus „Heute, in der Epoche des Finanzkapitalismus, ist das alles ganz anders.“ (Bucharin 1915, 133)

Der mangelnde Bezug des Stalinismus zu den Marx’schen Theorien provoziert die Frage, was eigentlich theoretisch zwischen Marx und Stalin lag.73 Wie wir sahen, stammten viele dieser Schritte von Lenin. So verhält es sich auch mit der Höherbewertung des Staates, dem „Primat der Politik“ in Theorie und Praxis, der den Marxismus des 20. Jahrhunderts so sehr prägte, dass man sogar Sozialismus und Etatismus gleichsetzen konnte (J. Fischer 1992, 168ff.). Für Lenins Politisierung gab es sicher politische Faktoren wie das aggressive Auftreten der alten Imperien im Weltkrieg und die plötzliche Eroberung der Macht in einem dieser Imperien durch die Kommunisten.74 Theoretisch hatte schon an der Wiege der deutschen Sozialdemokratie ein entschiedener Etatist gestanden: Lassalle, der zwischenzeitlich mit Bismarck korrespondierte, hatte ihr das Ziel eines „Staatssozialismus“ auf den Weg gegeben. Diese Frucht war im Laufe der Jahre aufgegangen.75 Die Strategie hatte seit Marx darin bestanden, zunächst mit dem Bürgertum eine demokratische Republik zu erkämpfen, oder notfalls an Stelle seiner.76 73 Eine Stalinbiographie aus dem Kalten Krieg bemerkt: „Die Konvulsionen, in die er sein Land trieb, hatten wenig mit der marxistischen Theorie zu tun, in der er übrigens erstaunlich unwissend war“ (Payne 1965, 11). „Nichts weist darauf hin, dass er Marx gelesen hätte – seine Zitate sind immer nur die, die in Lenins Artikeln und Broschüren standen“ (93). „Das war es nicht, wofür Marx und Engels gearbeitet hatten“ (390). Hedeler 1994, 49-68 hinterfragt dieses Stereotyp, kommt aber am Ende zum selben Ergebnis (vgl. jetzt H. Löwe 2002). 74 Alle Großreiche außer Russland gingen in ihm unter: das deutsche und das osmanische Reich ebenso wie Österreich-Ungarn. England und Frankreich waren Gläubiger des alten Zarenreiches und bekämpften Lenin, der die Schulden annulliert hatte, 1918-1920 ganz offen militärisch. Diese beiden Demokratien konnten nach zweimaligen immensen Kriegsanstrengungen ihre Kolonien nicht mehr lange halten. Die eigentlichen Sieger beider Weltkriege waren die neuen Staaten, Sowjetrussland und die USA (cf. Gruber 1967, 90 ff.; Hobsbawm 1995). 75 „Ihre, der ärmeren Klassen große Assoziation – das ist der Staat“ (Lassalle 1863, in: 1987, 254). In der „Staatsidee des Arbeiterstandes“ ging es darum, „die einzelnen in den Stand zu setzen, [...] eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie als einzelne nie erreichen könnten“ (Lassalle: „Arbeiterprogamm“, in: 1987, 222). Bismarck setzte dies von oben durch. Ein „Staatssozialismus“ wurde vor Marx propagiert von John Gray, Proudhon und Rodbertus (cf. MEW 4, 564; MEW 26 III). Ein offener Lassallismus findet sich bei Schuhmacher 1920, später bei Helmut Schmidt. Nach Schneider 1992 „wären gerade die deutschen Sozialdemokraten gut beraten, in Sachen ‚Etatismus und Sozialismus’ einmal ihre eigene Theorie-Geschichte kritisch unter die Lupe zu nehmen, anstatt [...] den Schwarzen Peter nun gerade an Marx und Engels weiterzuschieben“ (161, cf. 15, 23, 63, 152 ff.; 2.1.3, Fn. 48). 76 „Im Einklang mit den Thesen des Kommunistischen Manifests über die Transformation der bürgerlichen Revolution in eine proletarische hatte sich die deutsche Sozialdemokratie immer als Vollstreckerin der bürgerlichen Revolution gefühlt“ (Stephan 1974, 115). „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bour-

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Doch weil dieser Schritt in Deutschland lange nicht zustande kam, verschwand die Optik über ihn hinaus: man hielt an dieser „bürgerlichen Form“ nicht nur in der Opposition zum Kaiserreich fest, sondern auch noch, als man die lang ersehnte Macht schließlich innehatte. Die Staatsfixierung erhielt sich so an Marx vorbei.77 Wenn seine Invektiven gegen die Staatsfixierung78 schon bei den deutschen Genossen nichts fruchteten, wie sollte das dann in Russland geschehen? Die zwei Stränge der Arbeiterbewegung unterschieden sich weniger in ihrer Beziehung zum Staat als in ihren Vorstellungen vom Staat. Die Bolschewiki setzten den feudalen „Staatssozialismus“ getreuer fort als die Sozialdemokratie, die inzwischen eher bürgerlich-liberale Vorstellungen übernommen hatte. Nun hielt sich Lenin viel auf seine Marxorthodoxie zugute: seine schlimmsten Schimpfworte lauteten „ehemaliger“ (Plechanow, Hilferding) oder „sogenannter“ Marxist (Struve) oder gar „Renegat“ (Kautsky). Sollte ihm da die Marx’sche Staatskritik entgangen sein? Keineswegs: es gibt im gesamten Marxismus kaum einen staatskritischeren Traktat als Staat und Revolution (Lenin 1917). Der Gedanke von Marx und Engels, dass der Staat als selbständiges Moment, das sich gegenüber der Gemeinschaft besondert und sich über diese stellt, „absterben“ werde, wenn seine Funktion allgemein, also von allen Bürgern wahrgenommen werde (MEW 17, 340; MEW 18, 634; MEW 19, 27; MEW 20, 262), findet sich auch hier.79 Lenin erkennt sogar die Demokratie als notwendigen Durchgangspunkt an: geoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei. Sie unterlässt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewusstsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muss, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt“ (MEW 4, 492 f.; MEW 7, 246 ff., Lenin 1905). 77 „Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beruhenden Staat in einen Volksstaat verwandelt werden“ (Bebel 1886, 14). „Von den heute bestehenden gesellschaftlichen Organisationen gibt es nur eine, die den nötigen Umfang besitzt, dass man sie als Rahmen benützen könnte, um innerhalb desselben die sozialistische Genossenschaft zu entwickeln, dies ist der moderne Staat“ (Kautsky 1892, 119). „Der Staat wird der Hebel des Sozialismus werden“ (Renner 1918, 32). Kelsen 1920 begründet das mit historischem Vergessen sowie einer typisch deutschen etatistischen Neigung : „weil der Frage nach dem, was nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat geschehen [...] solle, lieber ausgewichen wurde, musste die Idee einer proletarischen Republik – auf deren Errichtung der politische Tageskampf [...] eingestellt war – das politische Denken so sehr erfüllen, dass die Möglichkeit einer anderen politischen Form [...] nicht eigentlich in ernstliche Erwägung gezogen wurde. Dazu kommt die aus der historischen Entwicklung [...] und aus der Eigenart des deutschen Volkstums [!] erklärliche [...] Wertung der Staatsidee“ (95, zum deutschen Etatismus auch Schulz 2004). 78 MEW 3, 62 ff.; MEW 19, 13 ff.; MEW 22, 227 ff.; cf. Hennig 1974, Basso 1975, Röhrich 1980, Böhm 1998. 79 Kelsen (1920, 78 ff.) sah hier eine Nähe zum Anarchismus. Schon Marx machte ge-

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„Die Demokratie ist im Befreiungskampf der Arbeiterklasse von gewaltiger Bedeutung. [...] Je vollständiger die Demokratie, um so näher der Zeitpunkt, zu dem sie überflüssig wird“ (Lenin 1917, 104, 108). „Marx lehrt uns [...] grenzenlose Kühnheit bei der Zerstörung der gesamten alten Staatsmaschinerie [...], und wir werden, wenn wir diesen Weg verfolgen, die völlige Vernichtung des Bürokratismus erreichen. Die Möglichkeit einer solchen Vernichtung ist dadurch gesichert, dass der Sozialismus [...] die Mehrheit der Bevölkerung in Verhältnisse versetzen wird, die allen ohne Ausnahme gestatten wird, ‚Staatsfunktionen’ auszuüben. Das aber führt zum völligen Absterben jedweden Staates überhaupt“ (a.a.O., 124 f.).

An guten Absichtserklärungen herrscht also kein Mangel; allerdings ist dieses Werk bewusst für den Westen, in propagandistischer, nicht programmatischer Absicht verfasst worden. Woran immer die Diskrepanz von diesen Absichtserklärungen zu der gleichzeitig verkündeten Notwendigkeit radikaler und gewaltsamer politischer Maßnahmen gelegen haben mag, sie spiegelt sich in den genaueren Bestimmungen, die Lenin den Marx’schen Termini hier gibt.80 Marx’ Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, an der bei ihm theoretisch sehr viel hängt,81 ist bei Lenin seltsam aufgeweicht, ja eigentlich gar nicht mehr zu finden: „Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital [...] seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, dass kein Wechsel [...] diese Macht erschüttern kann“ (Lenin 1917, 16).

Lenin denkt intentionalistisch und schematisch; es gibt stets nur eine Möglichkeit. Marx (MEW 7, 43) dagegen hatte über die französische Verfassung gesagt: „der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen“.

Von dieser Kontingenz und Offenheit der Geschichte, von den inneren Spannungen einer gegebenen Konstellation bleibt bei Lenin nur pure, intendierte Herrschaft übrig. So sagt er: „Im Kapitalismus haben wir den Staat im eigentlichen Sinne des Wortes, eine besondere Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere“ (1917, 94). Die Trennung von Staat und Gesellschaft wird verwischt. Der Weg zur Lösung scheint einfach: eine ‚echte’ Demokratie, also gen Proudhon und später vor allem gegen Bakunin stark, dass gerade diese für ihre Ziele einen autoritären Staat brauchten, und dies nur deswegen verhehlten, weil sie sich für eine theoretische Durchdringung nicht interessierten (MEW 18, 345 u.ö.). 80 Man mag die sich überstürzenden Ereignisse ins Feld führen, die die guten Absichten zunichte gemacht hätten – allerdings war Lenin in diesen Ereignissen selbst einer der eiligsten Akteure. Die Diskrepanz wurzelt auch in der Stellung Lenins zur „Doppelherrschaft“ der Februarrevolution, der von Kadetten beherrschten provisorischen Regierung sowie dem menschewikisch dominierten Sowjet. Lenin sagte nach seiner Rückkehr im April diesen ‚bürgerlichen’ Organen den Kampf an; das überraschte sogar die Bolschewiki (Weber 1970, 109 f.). 81 MEW 1, 323 f., 361, 388; MEW 19, 28; Basso 1975, 10 ff.; Coletti 1974, 219 ff.

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eine politische Veranstaltung, kann zugleich die gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme lösen. Das Primat ist umgedreht. Dies ist möglich, weil sie gar nicht erst unterschieden werden – Lenin spricht eigentlich nur von Politik: „Wenn tatsächlich alle an der Verwaltung des Staates teilnehmen, dann kann der Kapitalismus nicht länger halten. [...] Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staatssyndikats [...] Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleicher Entlohnung sein“ (Lenin 1917, 106 f.).

Auch hierin ist Lenin Erbe Kautskys. Schon in dessen Ankündigung, 25 Jahre zuvor, scheint der politische Erfolg eo ipso der soziale und ökonomische zu sein: „Wenn die arbeitenden Klassen im Staate die herrschenden geworden sind, wird der Staat aufhören, ein kapitalistisches Unternehmen zu sein“ (Kautsky 1892, 130). Für Lenin war Ökonomismus ein Schimpfwort, da die von den „legalen Marxisten“ geforderte Berücksichtigung der ökonomischen Voraussetzungen einer sozialistischen Revolution die russischen Sozialdemokraten zur politischen Untätigkeit, zum Abwarten verdammen würde (LW 21, 332). Später ist die Ausrede für das Bleiben, ja die Verschärfung der „Diktatur des Proletariats“, dass der Sozialismus zwar schon politisch, aber noch nicht ökonomisch gesiegt habe (ZK 1945, 340; schon Lenin 1919 hat eine „Epoche“ daraus gemacht). Man lernte also schmerzhaft, diese Differenz wieder zu ziehen; von einem „Absterben des Staates“ war weit und breit nichts zu sehen. Man könnte anführen, dass der Politiker Lenin einem Land entstammte, in welchem der Kapitalismus und mit ihm die „bürgerliche Gesellschaft“ noch arg in den Kinderschuhen steckte, so dass es verzeihlich sei, dass er ihn vernachlässigt habe; zumal er ihn ja nicht studieren, sondern überwinden wollte. Allerdings hat er ihn ernsthaft studiert, und auch Wert darauf gelegt, als ökonomischer Theoretiker wahrgenommen zu werden (Lenin 1899). In seinem zweiten ökonomischen Hauptwerk (Lenin 1916) findet sich nun die theoretische Wurzel für die Politisierung gesellschaftlicher und ökonomischer Kategorien. Von ähnlicher Tragweite wie die Funktionsveränderung der Diktatur des Proletariats war die Erklärung Lenins, „dass der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus“ sei (Lenin 1916, 729, cf. Basso 1975, 10 f.). Wider seine Intentionen bestätigte er damit eine These des von ihm bekämpften „Revisionisten“ Bernstein. Dieser hatte sinngemäß behauptet, der Kapitalismus sei seit Marxens Tod krisenfreier und beherrschbarer geworden. In einem System, das stetige Lebensverbesserungen verspräche, könnten sich die Arbeiter in mit dem bürgerlichen Staat aussöhnen. Zwar will Lenin sich gewiss nicht aussöhnen, schon gar nicht mit Bernstein, doch teilt er dessen Annahme eines „neuen Stadiums des Kapitalismus“. Die Beschreibung der Vertrustung, der veränderten Rolle der Banken und der Entwicklung zum Kolonialismus, ja sogar die Methode dieser Periodisierung ist ähnlich: dem als Beschreibung empirischer Verhältnisse gelesenen Kapital wird für den alten Kapitalismus volle Gültigkeit zugeschrie-

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ben, aber nur, um ihn für die Gegenwart, die „neue“ Stufe, jene Gültigkeit abzusprechen.82 Sogar einen Termin glaubt Lenin festmachen zu können: „Für Europa lässt sich die Zeit der endgültigen Ablösung des alten Kapitalismus durch den neuen ziemlich genau feststellen: es ist der Anfang des 20. Jahrhunderts“ (Lenin 1916, 23). „Weder Marx noch Engels haben die imperialistische Epoche des Weltkapitalismus erlebt, die erst in den Jahren 1898-1900 begonnen hat“ (Lenin 1916a, 791).

Dieser Schritt ist für einen Marxisten ungeheuer, da er die Gültigkeit der Marx’schen Theorie auf das 19. Jahrhundert einschränkt und Marx damit neutralisiert. Womit wird er begründet? „Diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen – wenn nicht die wichtigste – in der Ökonomik des modernen Kapitalismus“ (Lenin 1916, 20). „Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus“ (Lenin 1916b, 784).

Über die Frage, welche Status diese „Verwandlung“ bei Lenin genau hat, sind lange Debatten geführt worden. Bei der Lenin eigenen schematischen Denkweise, die stets nur eine Möglichkeit sieht, ist sie zweifellos wörtlich gemein: der Bruch ist endgültig und umfassend, eben „epochal“: „Die Konkurrenz wandelt sich zum Monopol“ (1916, 27). „Der alte Kapitalismus, der Kapitalismus der freien Konkurrenz [...] schwindet dahin. Er wird von einem neuen Kapitalismus abgelöst“ (42 f.). „Der alte Kapitalismus hat sich überlebt“ (49). „Der Kapitalismus ist zum Imperialismus geworden“ (24), welcher „das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist“, (94). „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus [...] hat sich in den Jahren 1898-1914 voll [!] herausgebildet“ (1916a, 785).

Die übrig gebliebenen Monopolisten haben in diesem neuen, höchsten und vorgeblich letzten „Stadium des Kapitalismus“ aufgrund der „‚Personalunion’ der Banken mit der Industrie“ (1916, 45) eine zuvor ungekannte Machtfülle. Es entsteht „‚ein bei freier Konkurrenz nicht gekanntes Herrschaftsverhältnis’“ (30, Lenin zitiert hier Fritz Kestner), nämlich die „Herrschaft des Finanzkapitals“ (50). Dieses Wort zeigt die Herkunft der Leninschen Theorie an: „‚Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft’, sagt Hilferding mit Recht“ (90).83 Die ökonomischen Thesen, die Lenin hier nicht begründet, sondern nur mit herausgegriffenen Statistiken zu belegen versucht (Jordan 1974, 219), stammen von Rudolf Hilferding. In der Tat hat neben Hobson 1902 und Bucharin 1915 vor allem Hilferding, der Theoretiker des Austromarxismus, der mit seiner Antikritik an Böhm-Bawerk (1904) schlagartig berühmt geworden war, Lenin mit seinem Werk über das Finanzkapital (1910) die Vorlage geliefert. Dieses Werk stellt die Brücke zwischen dem Staatssozialismus der SPD und dem Etatismus Lenins dar. Doch was hat Hilferding genauer behauptet? Hilferding kannte seinen Marx recht gut, und so war er auch mit der steigenden organischen Zusammensetzung des 82 Ähnlich bereits Jordan 1974, 214 f. und Neusüß 1972, 32, 38, 45, 70, 93. 83 Lenin folgt hier Hilfering 1910, 462.

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Kapitals vertraut (2.1.6). Das darauf aufbauende Narrativ war in aller Kürze das folgende: Mit dem höheren Anteil am fixen Kapital wird es nach Hilferding zunehmend schwieriger, Kapital zu transferieren, da dieses eben festliegt. Dadurch wird der Ausgleich der Profitrate (MEW 25, 182), ein Grundmechanismus der Konkurrenz, erschwert. Die Banken, die dies durch eine Kreditvergabe beheben könnten, haben nach Hilferding kein Interesse an einer Konkurrenz unter Unternehmen, die bei ihnen verschuldet sind, weil diese bei einem Firmenbankrott Geldkapital verlieren könnten – und ein Bankrott ist in der unbarmherzigen kapitalistischen Konkurrenz durchaus nichts besonderes. Daher versuchen sie, diese Unausgewogenheiten durch ein „Bankmonopol“ zu befestigen. Um dieser ungeheuren Marktmacht zu begegnen, werden sich auch seitens des industriellen und Handelskapitals Kartelle und Trusts bilden. Aber zu diesen Fusionen braucht es wiederum Geld. Auf diese Weise erhalten die Banken immer mehr Macht über die Industrie, sie verschmelzen schließlich mit dieser zum „Finanzkapital“, und so entsteht schließlich die berühmte „Personalunion“ (K.Kim 1999, 113). Diese könne so weit gehen, dass es schließlich nur noch ein einziges „Generalkartell“ gebe (Hilferding 1910, 318). Schon Hilferding also hat den Kapitalismus in seiner „jüngsten Entwicklung“ (so der Untertitel) zum monolithischen Block erklärt,84 welcher von der ökonomischen Dominanz wieder direkt zur politischen Herrschaft übergeht: „So erlischt im Finanzkapital der besondere Charakter des Kapitals. Das Kapital erscheint als einheitliche Macht, die den Lebensprozess der Gesellschaft souverän [!] beherrscht“ (320). „Das Finanzkapital in seiner Vollendung bedeutet die höchste Stufe ökonomischer und politischer Machvollkommenheit [!] in der Hand der Kapitaloligarchie. Es vollendet die Diktatur der Kapitalmagnaten“ (518; vgl. Marx, MEW 23, 655 f.).

Dies verändert die Rolle der Politik im Kapitalismus erheblich: die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten hat sich in diesem Denken gewissermaßen nach außen gestülpt: nicht mehr einzelne Kapitalisten treten gegeneinander an, sondern national geeinte Blöcke von Monopolen. So erklärt Hilferding die Geburt des Imperialismus aus dem Geist des Finanzkapitals (509).85 Bucharin, der Lenin erst zu seinem Imperialismusbuch anregte,86 hat diesen Gedanken durch Überspitzung auf den Punkt gebracht: „Der Kapitalismus hat versucht, seine eigene Anarchie dadurch zu überwinden, dass er ihr die eiserne Fessel der staatlichen Organisati84 Die Tendenz zum Generalkartell zeigt sich darin als ‚verwirklicht’, dass „ein revolutionäres Konzept auf die Eroberung der ‚6 Berliner Großbanken’ gestützt werden kann“ (Stephan 1974, 113; Hilferding 1910, 514). Auch Gramsci dachte übrigens in monolithischen „Blöcken“. Für ihn waren sie geistig – durch Hegemonie – geeint. 85 Hilferdings Imperialismustheorie ist älter ist als die von Luxemburg. Der Zusammenhang liegt in den Reproduktionsschemen, deren Stabilität Luxemburg nicht akzeptieren wollte, da sie ihr zu affirmativ schienen (2.1.5). 86 Im Schweizer Exil hat Lenin Bucharins Manuskript gelesen, welches ihn zuerst zu einem Vorwort (in: Bucharin 1915), dann zu seiner eigenen Abhandlung zum Imperialismus anregte (siehe Jordan 1974, 212 ff.; R. Kraus 1991).

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on anlegte. Indem er aber die Konkurrenz innerhalb des Staates aufhob, ließ er alle Teufel im internationalen Kampf los“ (Bucharin 1915, 191). Wenn die Machtstrukturen im Inneren derart verändert sind (der Staat ist jetzt erst zum Instrument der herrschenden Klasse geworden, Hilferding 1910, 463), so muss sich auch die Optik der Partei der Arbeiterklasse wandeln. Den „Primat der Politik“ leitet Hilfering so ein: „Die offenkundige Besitznahme des Staates durch die Kapitalistenklasse zwingt unmittelbar jedem Proletarier das Streben nach Eroberung der politischen Macht auf“ (1910, 515). Die Politisierung des Kapitalismus erzwingt die Politisierung der Arbeiterschaft. Auf Lenin, der nach dem Kriegseintritt der europäischen Sozialisten verzweifelt war, muss Hilferdings Buch wie ein Rettungshalm gewirkt haben. Denn aus seiner Analyse ergibt sich: wo die Gefahr wächst, da wächst das Rettende auch. „Schafft so das Finanzkapital organisatorisch die letzten Voraussetzungen für den Sozialismus, so macht es auch politisch den Übergang leichter“ (Hilferding 1910, 514). „Der Sozialismus hört auf, ein ‚Endziel’ zu sein [...] und wird zu einem wesentlichen Bestandteil der unmittelbar praktischen Politik des Proletariats“ (513).

Zwar unterschieden sich die Ausrichtungen der politischen Machtergreifung: Hilferding wurde später sozialdemokratischer Finanzminister zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929, Lenin dagegen für fünf Jahre Revolutionsführer. Beide aber trauten der Politik hinsichtlich der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft sehr viel zu. Die Ratio dieses Glaubens liegt in der Vermengung von Politik und Ökonomie – hier noch einmal in den Worten von Bucharin: „Als der größte Teilhaber des staatskapitalistischen Trusts ist der moderne Staat seine höchste und umfassendste Instanz. Daraus entspringt seine gewaltige, fast ungeheuerliche Machtfülle“ (Bucharin 1915, 144).87 Die Transformation des Monopolkapitalismus in den Sozialismus hat man sich somit recht einfach vorgestellt – sogar Hilferding forderte dazu die „Diktatur des Proletariats“ (1910, 518). Durch die historische Periodisierung glaubte man „dialektisch“, dem Endziel gerade durch die Niederlage schon einen Schritt näher gekommen zu sein: „In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten […] ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet“ (Lenin 1917, 28). „Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das

87 Zwar gebe es nach Bucharin 1915 in der „neuesten Phase des Kapitalismus“ (103) auch internationale Kartelle (54 ff.), der Haupttrend aber sei die „‚Nationalisierung’ des Kapitals“ (86): „Das Finanzkapital schlägt das gesamte Land in eiserne Fesseln. Die ‚Volkswirtschaft verwandelt sich in einen einzigen gewaltigen kombinierten Trust“ (131). Bucharin ist deswegen so schnell mit der Deutung bei der Hand, weil er dringend etwas bestimmtes ‚erklären’ will – den Krieg: „Der Krieg ist ein Mittel der Reproduktion bestimmter Produktionsverhältnisse. Der Eroberungskrieg ist ein Mittel der erweiterten Reproduktion dieser Verhältnisse“ (214).

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zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein“ (LW 25, 369).

War im „alten“ Stadium durch die empirizistische Lesart die politische Handlungsfähigkeit aufgrund eines übermächtigen ökonomischen Determinismus aus dem Blickfeld geraten („So ist der Materialist ein Calvinist ohne Gott“, Bernstein 1899, 32), so wird jetzt, im „neuen Stadium“, die politische Handlungsfähigkeit regelrecht beschworen. In der Imperialismustheorie kehrt die Kategorie der „Herrschaft“ wieder, deren „buntscheckige Feudalbande“ für Marx bereits in nackte ökonomische Sachzwänge aufgelöst waren (MEW 4, 463); ebenso die Willkür der Monopolinhaber und der von ihnen bestochenen Opportunisten („Schmeichelei, Lüge, Gaunerei“, Lenin 1916a, 797) – nachdem Marx bereits darauf verzichtet hatte, „den einzelnen verantwortlich [zu] machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt“.88 Damit führt Lenin ein intentionales Moment in seine Analyse ein: statt mit ökonomischen Bedingtheiten habe man es mit der Bösartigkeit der Menschen zu tun, die auch entsprechend geahndet wird. Dem Abbruch an wissenschaftlicher Rationalität entsprach ein Zuwachs an identitätsstiftender Gewissheit, auf der richtigen Seite zu sein: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“ (LW 19, 3). Im gleichen Zug, wie die ökonomische Theorie von Marx als historisch erledigt betrachtet wurde, steigerten sich die politischen Möglichkeiten auch der Kommunisten ins scheinbar Schrankenlose.89 Lenin hat Marxens Intention, zur Anleitung des politischen Handelns eine wissenschaftliche Kritik der politischen Ökonomie zu treiben, verwandelt in eine „politische Theorie“ (Fetscher 1986, 1987; Kraiker 1977, 2000; Stammer 2001), die sich von rationalen und kritischen Standards in ähnlichem Maße losgesagt hat wie viele der zeitgleichen bürgerlichen – meist kriegstrunkenen – Tendenzen. Diese Konstellation, das theoretische „Primat der Politik“ (siehe Lieber in 2.2.4), wird noch öfters begegnen. An dieser Stelle ist zu fragen, was ein Vergleich mit der Theorie von Marx aussagt. Hier fällt zunächst die Frage des evolutionären „Übergangs“ ins Auge. Schon der alte Engels hatte vom „Monopolkapital“ und der Möglichkeit eines solchen Übergangs gesprochen; auf Briefe des späten Engels hatte sich schon Bernstein (1899, 34) berufen.90 Auch Marx kannte eine „Finanzaristokratie“ (MEW 25, 454) und „Bankokratie“ (MEW 7, 24; MEW 23, 752, 783), ja er hat sogar den Aktiengesellschaften zugesprochen, „Über88 Lenin 1916, 666; MEW 23, 16. Zur Schuldanrechung Einzelner Borkenau 1952, 49. 89 Wohl darum hat Lenin auf den Vorwurf von Plechanow, der Bolschewismus habe einen „subjektiven Idealismus“ zur Grundlage, so überaus heftig reagiert – die Wahrheit schmerzt ja oft am meisten (cf. Fn. 49). 90 Etwa: „die altgerühmte Freiheit der Konkurrenz ist am Ende ihres Lateins und muss ihren offenbaren skandalösen Bankrott selbst ansagen. Und zwar dadurch, dass in jedem Land die Großindustriellen eines bestimmten Zweigs sich zusammentun zu einem Kartell zur Regulierung der Produktion. [...] So ist in diesem Zweig [der Chemie in England, CH] die Konkurrenz durch das Monopol ersetzt und der künftigen Expropriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation, aufs erfreulichste vorgearbeitet“ (Engels, MEW 25, 453 f.).

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gangsformen“ zur Vergesellschaftung zu sein (MEW 25, 456). Doch er gab sich deswegen keinen Illusionen über ein neues Stadium hin, in dem die Siege leichter fallen würden, weil man es nur noch mit einem Gegner zu tun haben würde: dem politisch-ökonomischen Kartell („Komplex“), welches den Sozialisten dankenswerterweise zuarbeitet, indem es protosozialistische Institutionen schafft und die Zahl der zu bekämpfenden Ausbeuter auf ein Minimum verringert. Nach Marx hat man es vielmehr mit einer tiefsitzenden Struktur zu tun, die überall und alltäglich in der Reproduktion neu vollzogen wird, die sich über das Recht bis in die Politik und Kultur zieht, sich dabei aber so vielfach bricht, dass sie mit der einfachen politischen Strategie der Machtübernahme an einigen zentralen Punkten kaum zu überwinden ist. Eine solche hätte er zwar nicht abgelehnt – dafür war er zu sehr Revolutionär. Doch die Frage ist, inwiefern sich diese Politik auf Marx berufen konnte. Der Widerhaken an Marx ist, dass er nicht nur den Kapitalismus unbarmherzig analysiert hat, sondern auch die sozialistischen Vorstellungen von einer besseren Welt und darauf gegründete politische Strategien. Hilferding und Lenin gehen mit diesem Erbe recht leichtfertig um. Sie übernehmen von Marx nur, was sie kurzfristig brauchen können (hier die Konzentration und Zentralisation des Kapitals; MEW 23, 654; Shaikh 1983d), und betrachten den Rest als historisch erledigt. Dies liegt weniger an ihrer „historischen“ Kapital-Lesart91 als vielmehr an sachlichen Missverständnissen der politischen Ökonomie. Theoretisch gründet diese Politisierung in der Lesart der Reproduktionsschemen und der darauf basierenden Krisentheorie (2.1.5). Für Hilferding stellt die erweiterte Reproduktion kein Problem da, da die Marx’schen Schemen gezeigt hätten, dass „jede Ausdehnung möglich“ sei, „wenn nur diese Proportionen erhalten bleiben“ (Hilferding 1910, 344, vgl. 325). Damit missdeutet er Marx’ abstraktes Modell als direkte Aussage über die Wirklichkeit („Der schematischen Darstellung entspricht die Wirklichkeit vollkommen“, 25). Er ontologisiert das Modell (Rosdolsky 1969, 546). Es sei die Aufgabe des Staates, für die Einhaltung der Proportionen zu sorgen. Das ist Hilferdings „bewusste Regelung“ der Produktion (1910, 2), die im „Generalkartell“ schon vorliege, wenn auch erst „in antagonistischer Form“ (319). Bei Marx sind die richtigen Proportionen zu keinem Zeitpunkt eingehalten, oder wenn, dann nur als zufälliges Durchgangstadium. Sie regulieren sich über die Zeit in einem krisenhaften Prozess selbst. Ihr Sein ist die Krise, gerade auf diese Weise setzen sie sich durch. Hilferding zerreißt diesen Zusammenhang: bei ihm gibt es entweder Krise oder Regulation.92 Hängt das Wohl der Wirtschaft aber an diesem einen Punkt, an der Proportionalität zum gegebenen Zeitpunkt x, so erscheint es als leicht, diese mithilfe einer politischen Regulation herzustellen – schließlich wäre dies im Interesse aller Kapitalisten. Es fragt sich nur, warum sie nicht schon längst hergestellt ist. 91 Zur „logisch/historisch“-Debatte der 1970er Jahre Kittsteiner 1977, Rakowitz 2001. 92 „Die Krisenmöglichkeit entspringt zwar schon aus der Möglichkeit der ungeregelten Produktion, [...] aber ihre Wirklichkeit nur aus einer ungeregelten Produktion“ (Hilferding 1910, 325; 358 etc.).

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Hilferdings Antwort lautet, dass eben dies der Fall ist. Hier begegnet erneut das Überspringen der Logik der Gesellschaft. Wenn überhaupt, dann wäre eine solche „Regulation“ nur für die Gesamtwirtschaft möglich – welche aber gerade nicht als handlungsfähiges Subjekt konstituiert ist; sie bedürfte großer Machtmittel, um solche Beschlüsse zu fassen und gegen den Willen der Einzelnen durchzusetzen, und sie wäre nur von kurzer Dauer, weil auch sie den Absatz der Produkte nicht vorhersagen kann. Sie würde ähnliche Fehlallokationen verursachen wie die anarchische Selbstregulierung (und würde erzwingen, auch noch den Konsum zu regulieren, etwa über Lebensmittelkarten). Die Behauptung einer Regulation bedürfte einer aufwendigen Beweisführung. Bei Hilferding dagegen beruht sie auf einer theoretischen Verdinglichung komplexer und langfristiger ökonomischer Kräftegleichgewichte in simple politische Befehle, die keiner Vermittlungsinstanzen mehr bedürften, nicht einmal der des Geldes (1910, 318). Hilferding nimmt die äußere Erscheinungsweise der Kolonialstaaten, die recht gewaltlastig war, als Anzeichen dafür, dass sie auch diese ökonomische MetaFunktion, die seine Interpretation des Marx’schen Modells vorsieht („bewusste“ Ausführung der ökonomischen Gesetze), tatsächlich ausführen. Dies ist aber keine theoretische Argumentation, sondern eine phänomenologische Suggestion.93 Mit seiner Deutung der zeitgenössischen Beobachtungen als Manifestationen einer „neuen Logik“ des Kapitalismus macht sich Hilferding als Marxist von der Marx’schen Theorie frei.94 Dadurch entgeht ihm, dass er erst aufgrund einer nachlässigen Rezeption derselben zu seiner Periodisierung kommt. So immunisiert beispielsweise eine das Geld betreffende Nachlässigkeit seinen Ansatz in einem Zirkel: durch die getrennte Behandlung von „Geld und Ware“ (Hilferding 1912, vgl. Wolf 1980) kommt er zu neuen Bestimmungen (etwa die „gesellschaftlich notwendige Zirkulationsmenge“, 1910, 33; cf. 2.3.5), und die daher ein „neues Stadium“ nahelegen. Dieses neue Stadium wiederum rechtfertigt es erst, Geld und Ware getrennt zu betrachten.95 Ein näheres Hinsehen zeigt allerdings, 93 Hilferding macht eine „aus einer konkreten Einschätzung eines bestimmten Staates in einer historischen Situation ableitbare These [...] durch ihren Einbau in die Ebene der Marx’schen Kapitalanalyse zum Bestandteil einer allgemeinen Theorie über die Entwicklung des Kapitalismus“ (Stephan 1974, 114). „Theoriebildung aus Verallgemeinerungen gesellschaftlicher Erscheinungen steht u.a. in der Gefahr, aktuelle Erscheinungen überzubewerten“ (Jordan 1974, 216). Hilferding ist ‚postmodern’: er arbeitet statt mit Argumenten mit „Narrativen“. Dieser Zug hielt sich durch: weitere „Phasen“, die aufgrund einiger assoziativ gedeuteter äußeren Erscheinungen ausgerufen wurden, waren Fordismus sive Regulationismus und Postfordismus sowie die postindustrielle, Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft (2.4.1, Fn. 33). Noch die Globalisierungskritik greift teilweise auf Hilferding zurück (cf. Biermann 2001). 94 „Die Verwirklichung der Marx’schen Konzentrationslehre [...] scheint damit zur Aufhebung der Marx’schen Werttheorie zu werden“ (Hilferding 1910, 309; vgl. Kim 1999, 11). 95 Hilferding betrachtet nicht Waren- und Geldflüsse (W-G-W; G-W-G’) isoliert voneinander, sondern eigentlich nur den Geldfluss. Die Mystifizierung des „Kapitalfetisch“ (MEW 25, 405), die aus der isolierten Betrachtung des Geldes hervorgeht,

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dass Hilferding auf eine Trennung von Waren- und Geldkreisläufen nicht aufgrund von Beobachtungen schließt, sondern dass sie zu den Grundannahmen seines Ansatzes gehören. Hilferding isoliert das Geld schon methodisch – er kümmert sich vorrangig um Geldmengen und Preise. Dass diese sich „abgekoppelt“ hätten, zeigt er nirgends.96 Statt dessen rückt in die Theorie sehr schnell eine Politisierung ökonomischer Kategorien ein. Ist das Geld theoretisch nicht mehr an Bewegungen des Wertes der Geldware gekoppelt (1910, 49; cf. Stephan 1974, 120), so bleibt als regelnde Instanz nur noch der Staat übrig.97 Zu dieser radikalen Neubewertung motivieren ihn einige äußerliche Beobachtungen.98 Ähnliche Beobachtungen, wie sie Hilferding machte, konnte auch Marx schon machen – weder Konzentration noch Kolonialkriege sind Erscheinungen, die zwischen 1883 und 1910 plötzlich vom Himmel gefallen wären. Hilferding und Marx unterscheiden sich erst in der theoretischen Bewertung derselben. Eine unterschiedliche Bewertung ähnlicher Beobachtungen kann aber nur schwerlich die theoretische Annahme eines neuen realen Stadiums rechtfertigen. Die Abweichung Hilferdings von Marx liegt vielmehr im Auseinanderreißen von Störungen und normalem Fungieren, welche bei Marx ein Komplex sind. wird von ihm keineswegs aufgelöst, sondern eher noch befestigt – etwa in seiner ‚Entdeckung’ des „Gründergewinns“ (1910, 120). Dieser kann auch von produktiven Kapitalisten eingenommen werden, die an die Börse gehen. Ein „Gründergewinn“ entsteht, wenn sich Aktien über ihrem Wert verkaufen. Dies ist möglich, wenn die Dividende höher ist als der übliche Zins – Aktien im Wert von 1000 Einheiten zu einer Dividende von 10 % sind doppelt so viel wert wie 1000 zu 5 % Zinsen. Also wird die Aktie für 2000 verkauft: es entsteht ein „Gründergewinn“ von 1000 (dem stehen allerdings Gründerverluste gegenüber, im Ganzen ist es ein Nullsummenspiel). Hilferding hat ihn keineswegs ‚entdeckt ‚; er entspricht Marx’ „fiktivem“ Kapital (MEW 25, 485; Bottomore 1983, 100). Weiter fehlt Hilferding die Unterscheidung von Wert und Preis (so Stephan 1974, 122 f.; K. Kim 1999, 27), obwohl sich doch seine Böhm-Bawerk-Kritik genau darum drehte (Hilferding 1904). Bei Hilferding ist keine Abweichung des Preises vom Wert möglich, da die Waren direkt einen Teil der gesellschaftlichen Arbeitszeit darstellen (1910, 18). 96 Hilferding spricht von der „Loslösung und Verselbständigung dieser [finanzkapitalistischen, CH] Prozesse gegenüber der Bewegung des industriellen und kommerziellen Kapitals“ (Hilferding 1910, XLII). „Ohne entgegenwirkende Prozesse, die schon in der Marx’schen Analyse enthalten sind, einzubeziehen, unterstellt er, dass in der Zirkulation die Produktion beeinflusst werden oder gesteuert werden könnte“ (Schimkowsky 1974, 174; vgl. ähnlich Stephan 1974, 126, 132; K. Kim 1999, 11, 27, 123; Zoninsein 1990 und 2000). 97 Damit begründet Cora Stephan ihre These, Hilferding konzipiere mit seiner ‚Geldtheorie’ eigentlich eine Staatstheorie (1974, 135), und zwar, um damit die politische Strategie der Sozialdemokratie theoretisch zu flankieren (114, 118 u.ö.). „Die Organisation der Zirkulationssphäre soll dem Staat erlauben, in der Herrschaft über ihre dinglichen Erscheinungsformen die Widersprüche der Gesellschaft selbst in den Griff zu bekommen. Damit ist der Staat das Subjekt des Übergangs zum Sozialismus“ (137, ähnlich K. Kim 1999, 123; Smaldone 2000, 74). 98 So die Dominanz des Staatspapiergeldes über die Goldmünze; keine wirkliche Neuheit gegenüber Marx (cf. MEW 13, 95).

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Abgesehen von möglichen politischen Intentionen, lässt sich die andere Bewertung ähnlicher Erscheinungen auf den veränderten theoretischen Bezugsrahmen zurückführen. Phänomene, die Hilferding als Abweichung von dem Kapitalismus der „reinen Konkurrenz“ bewertet (Konzentration und Zentralisation des Kapitals sowie unterschiedliche Profitraten in verschiedenen Industrien), sind bei Marx gerade Merkmale derselben. Die „Konzentration und Zentralisation des Kapitals“ wird durch die Konkurrenz erzwungen, diese wird durch jene daher gerade nicht aufgehoben, sondern bestätigt (Shaikh 1983d). Hilferding kommt deswegen zu einer anderen Auffassung, weil seine Konzeption der Konkurrenz, die mehr der neoklassischen als der Marx’schen ähnelt, so etwas ausschließt.99 Auch die neue Stufe des Monopols, welches im „Generalkartell“ das vorherrschende Charakteristikum sei, hat eine harmonistische Schlagseite, die mit Marx nichts mehr zu tun hat: unter ihm „wird das Streben nach Gewinnmaximierung offenbar sinnlos“ (Hofmann 1979, 186). Dahinter steht erneut die neoklassische Theorie, die die Firmen als passiv konzipiert. „Kriterium des Erfolgs wird nun der Güterausstoß allein. Dies ist aber das Prinzip sozialistischer Wirtschaftsführung“ (a.O.). Sogar das Geld scheint überflüssig: „Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden, da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt [...] und nicht von Werten“ (Hilferding 1910, 318 f.). Alles dies im Kapitalismus – wie ihn die Neoklassik malt (zur Geldlosigkeit derselben Heinrich 2001, 68 ff., 251; 2.3.5). Es sieht so aus, als brauche es nur geringe Umwandlungen, um zum Sozialismus zu kommen. Die politischen und ökonomischen Umwälzungen, die nach Marx nötig wären (MEW 25, 453, 621), fehlen einfach. Ebenso unterstellen die Partien über den „Ausgleich der Profitraten“ fälschlich, dass diese bei Marx zu jedem Zeitpunkt gegeben wäre, so dass eine momentane Ungleichverteilung sogleich als eine generelle Abweichung vom Konkurrenzkapitalismus gewertet wird.100 So etwas gibt es auch bei Marx – gerade in 99 „In Hilferding’s concept of competition, emphasis is laid on the existence of a large number of small firms, the absence of collusion, and the free mobility of capital among the various industrial activities. No thought is given to the time to make this mobility feasible. Each individual industrial firm plays a passive role (as a price taker) in the process of price determination. As a consequence, Hilferding abandons the notion of competition as a struggle in which individual capitals act offensively. Once this trivial conception of competition is mistaken for a Marxian interpretation, a number of phenomena of competition, which are necessary in light of Marx’s theory – begin to be viewed by Hilferding as part of a process of generalised monopolisation“ (Zoninsein 2000, 278). 100 Nach Marx sorgen unterschiedliche Durchschnittsprofitraten in verschiedenen Industrien dafür, dass Kapital von einer weniger profitableren in die profitablere Industrie abwandert. Dies erzeugt eine Tendenz zum Ausgleich der Profitraten. Diese müssen zu keinem Zeitpunkt wirklich gleich sein, da ständig neue Produktionsmechanismen entwickelt werden, die wieder andere Industrien profitabler machen, und weil Hindernisse in der Bewegungsfreiheit des Kapitals auftreten (etwa längere Umschlagszeiten, Kapitalverkehrskontrollen – wie sie neuerdings von Attac gefordert werden –, natürliche Monopole o.ä.; vgl. MEW 25, 182 ff.). Für Schimkowsky

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den permanenten Ungleichverteilungen wirkt sich ja die Tendenz zum Ausgleich aus. Hilferding zerreißt den Zusammenhang. Er kommt deswegen zu einer Epocheneinteilung von freiem Konkurrenz- und machtbeherrschten Monopolkapitalismus, weil er das Marx’sche Modell der Konkurrenz mit dem neoklassischen kurzschließt. Abweichungen von diesem harmonischen Modell werden als eine neue Stufe interpretiert, die allerdings wiederum harmonisch ausgelegt wird. Ist diese Weichenstellung einmal erkannt, lassen sich Hilferdings einzelne Belege für größere Machtballungen, die eine freie Konkurrenz verunmöglichten, leicht widerlegen. 101 Mit Hilferdings fehlerhafter Ausrufung einer neuen Stufe des Finanzkapitals fallen auch die theoretischen Argumente für die Periodisierung, der sich Lenin bedient, um seinen Primat der Politik zu begründen. Die „letzte Phase“ des Kapitalismus war weder die des „monopolistischen“, primär herrschaftsgebunden, noch des „parasitären oder faulenden“,102 also stagnierenden, noch die des „sterbenden“, vor seinem Zusammenbruch stehenden Kapitalismus (Lenin 1916a, 784). Besonders diese letzte Bestimmung musste im Laufe der KomInternpolitik mehrfach korrigiert werden.103 Der Monopolkapitalismus allerdings wurde beibehalten und zum „Staatsmonopolkapitalismus“ erweitert.104 unterliegt Hilferding dem „Irrtum, der im Kapital dargestellte Ausgleichsprozess der Profitraten sei als Modell eines funktionierenden Konkurrenzkapitalismus zu verstehen. Er sieht deshalb die Notwendigkeit, dieses ‚Modell’ durch Einbeziehung neuerer Erscheinungsformen der Realität anzunähern“ (1974, 179). 101 So die These der Bankenherrschaft: „Nur ein relativ geringer Teil der Kreditgeschäfte der Bank vermittelt [...] einen Kredit, der tatsächlich der Erweiterung der Produktion dient“ (Stephan 1974, 130). Hilferding neigt dazu, „alles Bankierskapital für anlagefähiges Leihkapital zu halten. Dadurch wird die Einflussmöglichkeit der Banken auf die Produktion maßlos überschätzt“ (a.O., 131). „However, there is no theoretical or empirical support for the notion that the liquid form of moneycapital would provoke bank domination“ (Zoninsein 2000, 283). „Gegen Hilferdings Theorie von der beherrschenden und planenden Macht des Finanzkapitals lassen sich nicht zufällig genau jene Argumente wenden, mit denen Marx die übersteigerten Vorstellungen der Saint-Simonisten vom Bankwesen kritisierte“ (Hardach 1975, 80; vgl. MEW 25, 630; auch in MEW 13, MEW 26, MEW 42; zur ‚Macht der Banken’ Kotz 1978, Ronge 1979, Pohl 1993, Barth 1995). Es gab zu Hilferdings Zeiten wie noch heute das totgesagte Geld, den Konkurrenzkampf über Preissenkungen etc. Aus diesem Grunde ist das Buch Finanzkapital nur noch historisch wichtig – inhaltlich wird es kaum rezipiert (Biermann 2001). 102 Diese Beobachtung ging davon aus, das die Mehrheit der Kapitalisten nur noch von Zinseinkünften lebe, also zu bloßen „Kuponschneidern“ geworden sei (vgl. Bucharin 1926a, auch Veblen 1912, Burnham 1941). 103 Ging die KI noch 1919 von einem „letzten Gefecht“ aus (Protokoll 1921, 171), so sprach man 1925 von einer „relativen Stabilisierung“. Stalin löste die KomIntern 1942 ganz auf und installierte nach dem Kriege betont nichtkommunistische „Volksdemokratien“ (vgl. Lieber 1963, 279-352; Hardach 1975, 97-103). 104 Dies geschah erst Mitte der 1950er Jahre, in der DDR vor allem in Werken von Kurt Zieschang (synoptisch Zieschang 1967 oder Lehrbücher wie Autorenkollektiv 1971; IMFS 1972; Becher 1976 etc. Dazu Wirth 1972; Ebbinghaus 1974, darin Winkelmann, 45-97; Huffschmid 1975, Hardach 1975, 119-130; G.Krause 1998).

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Dieser Begriff stellt wenig mehr dar als eine flickschusterlich aufrechterhaltene Imperialismusanalyse, in der die Verzögerung der Naherwartung der KomIntern mit Staatsinterventionen „erklärt“ wird.105 Die Theorie wurde, nach Verfügungen von Stalin (1952), zunächst von Eugen Varga und anderen ausgearbeitet, und in den 1960er Jahren dann zur offiziellen Theorie des MarxismusLeninismus erhoben. Die Residualkategorie des Staates war ein deus ex machina (Hardach 1975, 129). Marxistische Kritiker dieser Konzeption konnten darum zu recht einfordern, dass die Rolle des Staates selbst noch ökonomisch eingeholt werden müsse (Neusüß 1972; auch Tristam 1974, 135). Nicht zuletzt aus diesem Grund brach in den 1970er Jahren eine Debatte um die marxistische „Staatsableitung“ los, die hier nicht mehr interessiert, von der allerdings klar sein muss, dass ihre Voraussetzung Lenins Imperialismusanalyse und der hoffnungslose Versuch ihrer Aufrechterhaltung im Leninismus war – selbst noch in den direkten Rückgriffen auf Marx, die gegen den Leninismus gerichtet waren.106 Auch weitere zentrale theorietaktische Züge Lenins hängen an seiner Imperialismustheorie. Da ist zunächst seine Erklärung dafür, dass die westeuropäischen Arbeiter nicht seine Revolutionspläne erfüllten – die These von der bestochenen Arbeiteraristokratie. Nach Auffassung Lenins wurde diese aus dem monopolistischen „Surplus“ bezahlt.107 Einen solchen gibt es zwar in der bürgerlichen Theorie (etwa bei Hobson 1902), nicht aber bei Marx.108 105 „Hatte der Kapitalismus [...] nur mit Hilfe der konzentrierten Gewalt der Staatsmacht zur Welt kommen können, so kann heute sein Untergang nur noch durch den immer konzentrierteren Einsatz der imperialistischen Staatsmacht verzögert werden“ (Becher 1976, 398). „Lenin hat die Phase des staatsmonopolistischen Kapitalismus in ihrer konkreten kriegswirtschaftlichen Erscheinung als Endphase des Kapitalismus konzipiert [LW 25, 395, 423]. Infolgedessen wird [...] der Begriff durch den Abbau der Kriegswirtschaft [...] inhaltlich ausgehöhlt“. Das Konzept der Endphase lässt sich „nicht ohne Verlust der theoretischen Substanz auf unabsehbare Zeit prolongieren [...] sie gilt für jede Situation nach 1917 und charakterisiert daher keine“ (Hardach 1975, 96; cf. 119 ff.). 106 Flatow 1973, Gerstenberger 1973, Läpple 1973, Projekt Klassenanalyse 1973, Blanke 1974, Hennig 1974, Hirsch 1974, Hochberger 1974, Röhrich 1980 (2.3.3, Fn. 99). Internationale Staatsdiskussionen argumentierten konkreter (Miliband 1969, Anderson 1974, Basso 1975, Laclau 1977, Poulantzas 1978). 107 „Dadurch, dass die Kapitalisten [...] hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter [...] zu bestechen“ (Lenin 1916, 134, cf. 111, 114 u.ö.). Lenins These der „Arbeiteraristokratie“ stützt die Verelendungstheorie wider allen Augenschein, indem sie ihr eine Verschwörungstheorie als Supplement unterlegt: Das „Naturgesetz“ der Verelendung (2.1.1, Fn. 11) wurde flickschusterlich aufrechterhalten, indem die Verbesserung der Lebenslagen der Arbeitern in Westeuropa als bewusste politische Maßnahme seitens der Bourgeoisie interpretiert wurde, die nur eine herrschende Minderheit der Arbeiter betreffe und die Arbeiterbewegung entwaffnen solle. Für die machtlose Mehrheit der Arbeiter gelte das Gesetz der absoluten Verelendung weiterhin, wie auch aus Lenins Revolutionserwartung für Westeuropa ablesbar ist. Dies tradierte den deterministischen Fehlschluss und wertete Gewerkschaftsarbeit radikal ab. 108 Anschließend taucht sie bei Sweezy 1966 auf (Hardach 1975, 117, siehe in 2.3.3).

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Erneut liegt hier eine kurzschlüssige Politisierung ökonomischer Kategorien vor – oder vom Sein, nicht vom Denken her gesprochen: eine ökonomietheoretische Einkleidung eigentlich politischer Entscheidungen (hier eine Absage der Bündnispolitik mit gemäßigten Parteien). Im Bedarfsfalle konnte sie auch wieder zurückgenommen werden. Theorie und Praxis sind hier amalgamiert. Lenins Erklärung dafür, dass die Revolution nicht in dem weitesten, sondern in dem am wenigsten entwickelten Land stattfinde, hängt ebenfalls an seiner Imperialismustheorie.109 Selbst die Planungsdebatte der späten 1920er Jahre ging mit Hilferding von der Voraussetzung aus, das „letzte Stadium“ des Kapitalismus habe den Kommunisten bereits zentralisierte Strukturen überlassen, die es nur ein wenig anders zu nutzen gelte.110 Eine solche Zentralisierung wurde unter Stalin unter äußerster Gewaltanwendung allererst geschaffen. Insofern war die verfehlte Einschätzung des Kapitalismus im Leninismus nicht nur für den westlichen Marxismus, sondern auch noch für die „politische Ökonomie des Sozialismus“ verfänglich.111 Beachtet man, wie viel im Lehrgebäude des Leninismus theoretisch von dieser Imperialismustheorie abhängt, so wird begreiflich, warum an dieser Theorie trotz ihres so geringen Erklärungswertes festgehalten wurde. Sie erklärte wenig Vorliegendes, aber sie rechtfertigte viel Politisches.112 Wird wie im Leninismus, aber auch in Idealismus und Pragmatismus zwischen Theorie und Praxis ungenügend unterschieden, sind diese Aussagen gleichwertig – aber nur dann. 109 „Die Welt sei durch den Imperialismus zu einer Wirtschaftseinheit zusammengeschweißt, und so könne die Revolution auch in solche rückständigen Ländern wie Russland beginnen, die ‚isoliert’ noch keineswegs reif für eine soziale Umwälzung seien“ (H. Weber 1970, 100; zum Dritte-Welt-Kommunismus u.a. McLellan 1979, Sklair 1991 und Neumann 2000). 110 Lenin glaubte noch im Oktober 1917, eine Inbesitznahme der „Kommandohöhen“ würde ausreichen („Die drohende Katastrophe“, LW 25, 337 f.). Der Kriegskommunismus von 1918 führte zu Verschärfungen („Abbau von Geldwirtschaft und Warenbeziehungen“, so Hardach 1975, 138), die im ABC des Kommunismus (Bucharin 1919) als „Sprung in den Sozialismus“ gewertet wurden. Bucharin 1920 versuchte sogar, den kriegsbedingten Rückgang der Produktion als notwendig darzustellen, um die bürgerlichen Strukturen zu zerstören, und stellte sich den zentralistischen Wiederaufbau recht einfach vor. Nach kurzer Unterbrechung durch die NÖP 1922 (Fn. 18) und der maßvollen Industrialisierung 1924-1928 (Bucharin wechselte das Lager und vertrat nun die gemäßigte NÖP-Linie) ging die Industrialisierung unter Stalin immer hemmungsloser vor (vgl. Preobazenskij 1926). Dem Fünfjahresplänen versuchte Feldmann 1928 ein theoretisches Fundament zu legen (Hardach 1975, 131 ff.; zur Planungsdiskussion siehe Pollock 1929, O. Lange 1938, Lieber 1964 II, 263 ff.; Raupach 1968, Knirsch 1969, Kornai 1992, Merten 1999). 111 Cf. Wirth 1972, Becher 1976, Krause 1998, Wenzel 1998 und Wiards 2000. 112 Kuhn 1962, der ähnliche Phänomene in der Wissenschaftsgeschichte untersuchte, sagte wenig über die soziale Funktion, die theoretisch überkommene Paradigmen gleichwohl noch haben können. Die Hilfsannahmen, die an noch geltendende Paradigmen „angebaut“ werden, müssen nicht auf derselben theoretischen Ebene liegen, sondern können auch ungreifbarer, etwa erkenntnistheoretischer oder ontologischer Natur sein. In der Frage der sozialen Funktion von Wissensgehalten hat traditionelle Ideologiekritik und Wissenssoziologie weiter geblickt.

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Bedenkt man, wie wichtig der Leninismus im Gesamtspektrum des Marxismus lange Zeit gewesen ist,113 so wundert es kaum, dass es von marxistischer Seite so wenig Zweifel an dem Dogma gab, die Epoche des Monopolkapitalismus, Imperialismus oder gar des Staatsmonopolkapitalismus sei angebrochen. Nachdem der Leninismus aber sein größtes „Argument“ – seine politische Macht – verloren hat, ist allerdings kaum zu verhehlen, dass dies wenig mehr war als ein behelfsmäßigen Versuch, eine „voluntaristische Auslegung des Marxismus“ nicht so sehr auf Marx zu gründen, sondern vielmehr gegen Marx theoretisch abzusichern.114 Der Name „Marxismus“ ist hier zum „empty signifier“ (Laclau) geworden, zu einem leeren Legitimationstitel für fast beliebig Auffüllbares. Dieses Kapitel wollte zeigen, dass der Ansatz von Marx, der über eine politökonomische Analyse der bürgerlichen Gesellschaft philosophische und politische Ideologeme sachhaltig hinterfragte, gerade durch seine kommunistische Rezeption entökonomisiert und re-ideologisiert worden ist. Bevor wir daran gehen können, die Marx’schen Argumente wieder einer Anwendung auf die Kritik der neueren Sozialphilosophie zuzuführen, müssen erst die verschiedenen Sedimentierungen des Leninismus abgetragen werden, um nicht erneut mit ihnen ins Gehege zu kommen. Sie stecken in vielen Fällen in den Grundannahmen, auch dort, wo es auf den ersten Blick nicht zu erwarten ist: in zentralen soziologischen Paradigmen (2.4) ebenso wie in zahlreichen philosophischen „Marx-Widerlegungen“ (2.5) oder in der Kritischen Theorie (2.6, 3.1). Noch heute findet sich etwa in den technisch orientierten „Stadien“, die man dem Kapitalismus alle fünf Jahre neu unterstellt (Postfordismus, digitaler Kapitalismus, Wissens- oder Informationsgesellschaft etc.), eine tief sitzende Leninistische Erbschaft. Die nächste Station auf diesem Weg ist die fachökonomische Theorie (2.3). Ihre Fragen wurden an einigen Stellen schon angerissen. In ihr gibt es nun eine spiegelverkehrte Entpolitisierung der Ökonomie zu konstatieren.

113 Noch die letzte Metamorphose des Marxismus vor seiner Auflösung, der „Regulationismus“, stand theoretisch in der leninistischen Linie des Primats der Politik auch in der Wirtschaft – eine Umkehr des Marx’schen Ansatzes (Aglietta 1979, Hübner 1989; in den USA wurde dieser Strömung „social structure of accumulation“, kurz SSA genannt, cf. Bowles 1987, in Deutschland „Fordismus“, cf. Hirsch 1986, Altvater 1991, Demirovic 1992). Der Übergang zu nicht-Marx’schen Theorien war daher so leicht, weil schon Lenin und Hilferding sich auf bürgerliche Theoreme gestützt hatten. Der Linkskeynesianismus, der sich mit Leninschen Assoziationen auffüllen ließ, hielt sich für besonders „radikal“ (Arestis 1994 und die Review of Radical Political Economics, entfernter Laclau 1985). Radikal daran war nur die Verabschiedung von Marx zugunsten „bürgerlicher“ Theoreme (2.3.3). 114 H. Weber 1970, 27, cf. 128. Die marxistische Westlinke hat durchaus versucht, sich von dem dominanten Einfluss des Leninismus freizumachen (etwa PKA 1972, Fleischer 1973, Rahbehl 1973, Dutschke 1974, Ebbinghaus 1974). Die nachträgliche Debatte über den Imperialismus in der Jungle World (Frühjahr 2002) fiel sehr unleninistisch aus. Weitere Imperialismustheorien (siehe Luxemburg 1913, Sternberg 1926) wurden bereits in 2.1.5 kritisiert.

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2.3 Marx in der ökonomischen Theorie 2.3.1 Marx zwischen wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen „Die Bedürfnisse sind der letzte Grund, [...] die Sicherstellung ihrer Befriedigung das letzte Ziel aller menschlichen Wirtschaft.“ (Carl Menger 1871, 1) „Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist der Profit.“ (Hilferding 1910, 238)

Es bot sich angesichts der desaströsen „Verwirklichung“ des Marxismus in der Sowjetunion an, Marx so zu lesen, wie es Joseph Schumpeter getan hat: säuberlich nach seinen Wirkungsbereichen getrennt.1 Seine nichtökonomischen Schriften und Aktivitäten fallen dann unter „ferner liefen“, ähnlich wie es mit den Moralschriften von Adam Smith geschieht, und Marx reiht sich ein in die Schar der historisch wichtigsten Ökonomen.2 Eine dogmengeschichtliche Lesart zeigt allerdings, dass die Ökonomen nicht chronologisch aufeinander aufbauen, sondern Marx vielmehr einen tiefen Einschnitt bedeutet. Die politischen Ökonomen Smith, Ricardo und J.S. Mill betrachteten die Wirtschaft als ein Themengebiet, welches es aus gesellschaftlichen Fragestellungen her zu untersuchen galt. Es gab für sie keinen Anlass, das Gesamtphänomen zu beschönigen, da man sich aus der möglichst umfassenden Analyse der bürgerlichen Gesellschaft entsprechendes Wissen um deren Zusammenhänge erhoffte – deswegen nannte sich diese Wissenschaft „politische Ökonomie“.3 Marx der Ökonom griff die Theoreme der Klassiker auf, um ihre Fragestellungen zu Ende zu denken und die Schlussfolgerungen dann gegen ihre eigenen Epigonen anzuführen, die Marx als unsystematische „Vulgärökonomen“ ansah.4 So schien gerade aus der umfassenden Analyse vom „Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion“ (MEW 25) eine Perspektive hervor, die diese Totalität zu transzendieren erlaubte – wenn auch zunächst nur gedanklich.5 Die Erfassung der Totalität wurde zum Vorschein ihrer Transzendenz; dadurch erst erschien die Gesamtheit des kapitalistischen Wirtschaftens als „negative Totalität“ – eine Grenze erkennen heißt nach Hegel, sie schon überschritten zu haben. Auch wenn Marx sich über mögliche nachfolgende Wirtschaftsweisen bedeckt hielt, war es wirkungsgeschichtlich für seine Anhänger ausreichend, dass eine solche Perspektive überhaupt eröffnet war. 6 1 Als „Prophet“, „Soziologe“, „Nationalökonom“ und „Lehrer“ (Schumpeter 1942, 3). 2 Cf. Ott 1989, Krummbachner 1991, Pribam 1992, Issing 1994, Glombowski 1998, Söllner 1999, Dowd 2000. 3 Von Aristoteles über die Scholastik bis zu Marx, vgl. Polanyi 1944, Pribam 1992. 4 Diese pochten „auf den Schein wider das Gesetz der Erscheinung“ (MEW 23, 325; vgl. 95). ‚Klassisch’ nannte Marx Ökonomen bis 1830, die noch dem Adel gegenüber kämpferisch (MEW 23, 21), ‚vulgär’ dagegen diejenigen, die bereits gegenüber dem Proletariat apologetisch waren (vgl. MEW 26 III, 489 ff.; Heinrich 2001, 78 f.). 5 Cf. Lukács 1923, 236. Diese „Transzendenz ins Diesseits“ ist nicht religiös, sie meint das denkmögliche „Jenseits“ von der gegenwärtig zwingenden Logik (Gehlen 1956, 16; Ludz 1962, Habermas 1992, 32 ff.; 2001, 9, 23). 6 Marx’ nächste Interessen waren nicht zukunftsbastlerisch, sondern gegenwärtig-

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Für Marx war diese Perspektive wichtig, weil sie gebot, bei allen kleinen Schritten den Gesamtzusammenhang im Blick zu behalten und sich nicht voreilig mit unanalysierten Kompromissen zufriedenzugeben.7 In der Sozialdemokratie jedoch hatte sie bald den gegenteiligen Effekt: die Gewissheit des kommenden Untergangs des Kapitalismus führte zu dem Gefühl, auf der sicheren Seite zu stehen, und so zu der beschriebenen passiven Verweigerungshaltung (2.1). Die Perspektive auf einen möglichen Steg zu anderen Ufern, den es noch zu erkämpfen galt, verwandelte sich zurück in eine Utopie von einer besseren Welt, die in nicht all zu ferner Zukunft auf die Arbeiter wartete bzw. nach den Gewaltexzessen im Realsozialismus schließlich als „verwirklicht“ ausgegeben wurde (2.2). Dieses nur wenig ökonomische Denken nun wurde in der bürgerlichen Welt als Schreckbild wirkmächtig. Es strahlte unweigerlich auch in die ökonomische Theoriebildung aus. So ist es wohl kaum ein Zufall, dass zur gleichen Zeit, als Marxens ökonomische Theorien in reifer Form veröffentlicht wurden, im Lager der akademischen Wissenschaft eine Gegenutopie aufgemacht wurde, welche vom kapitalistischen Wirtschaften ein radikal anderes Bild entwarf als Marx. Die Rede ist von der wirtschaftswissenschaftlichen „Neoklassik“.8 Innerhalb des scheinbaren „bürgerlichen“ Kontinuums stellt die Neoklassik einen „Bruch“ dar, der sich bis heute auswirkt.9 Die Terminologien, Techniken und Paradigmen politisch: 1848 der europaweite Kampf um Demokratie (MEW 5), 1861 der USBürgerkrieg (MEW 15, 329 ff.), 1864 die Stärkung der Gewerkschaften sowie die Internationale (MEW 16, 5 ff.), 1871 die Pariser Kommune (MEW 17, 513 ff.), 1881 Russland (MEW 4, 576; MEW 19, 285 ff.). Nach dem Manifest (MEW 4, 461 ff.) gibt es zur Zukunft nur Andeutungen (MEW 19, 13 ff.), hoffnungsfrohe Ausblicke (MEW 23, 92) und die Regel, dass die Bedingungen neuer Verhältnisse im Schoß der alten reifen müssen (MEW 13, 9; MEW 4, 181; cf. Dahrendorf 1952, 167 ff., Ramm 1957; Bensch 1995). 7 Wie etwa Gustav Schmoller: „Seine schon früh zum Ausdruck gebrachten Zweifel an der Wirksamkeit Manchester-liberaler Selbstheilungsmechanismen ließen ihn nach Lösungen suchen, die den sonst unvermeidlichen Klassenkampf Marx’scher Prägung abwenden könnten“ (Starbatty 1989, 111). Es war der Staat. Die Kampfformeln der „Mitte“ (siehe Aristoteles’ Nicomachische Ethik, 1107a 1) und des „dritten Wegs“ (Sik 1972, Giddens 1998) sind jedoch leer, da sie von den je gegebenen Extremen abhängen. Bereits die um 1900 erstrebte Bodenreform (Damaschke 1920) und die Sozialdemokratie der 1950er Jahre nannten sich so (Bruch 1985). 8 Bürgin 1993, Ziegler 1998, Heine 1999. Zur Kritik der politischen Ökonomie (MEW 13) erschien1859; ein schwer verdauliches „Heft“ (MEW 29, 550), das zu Marxens Leidwesen totgeschwiegen wurde (Ullrich 1976). Zeitgleich schrieb Walras seinem Sohn, er werde in seiner Ökonomie die Besitzverhältnisse keinesfalls antasten (Grossmann 1941, 30). 1867 erschien der erste Band des Kapitals, zugleich tagte die Internationale in Lausanne, dem Wirkungsort von Walras seit 1870. 1869 gründete sich in Eisenach die marxistische Sozialdemokratische Arbeiterpartei; die „marginale Revolution“ erfolgte 1871 (Jevons 1871, Menger 1871). Die zweite deutsche Auflage des Kapitals sowie eine Neuauflage des Kommunistischen Manifests erschienen 1872, das Werk von Walras 1874. Der Zusammenhang ist kaum zu bestreiten. 9 „Der ‚Mainstream’ der gegenwärtigen ökonomischen Theorie bewegt sich nach wie vor [...] entlang dieser neoklassischen Linie. Alles, was seit Jevons, Menger und Wal-

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wurden radikal umgestellt; verbunden mit den Namen W.S. Jevons (1871), Carl Menger (1871), Leon Walras (1874) und dem seine Vorgänger kanonisierenden Alfred Marshall (1890), Lehrer von Keynes. Die Koinzidenz dieses Einschnitts mit dem Auftreten von Marx auf dem Feld der ökonomischen Theorie ist keine marxistische Erfindung, sondern allgemeines Lehrbuchwissen.10 Das dreifache Auftreten des Bruches zeigt an, dass er historisch überdeterminiert war. Das Neue an der „Neo“-Klassik wird recht einfach klar, wenn man sieht, was sie alles nicht beachtet. Aus ihrer tauschfixierten Perspektive (Bowles 1990, Thielemann 1997) rückt sie den Blick von der Produktion weg – sei dies Ackerbau, Handwerk oder industrielle Fertigung. Sie wird geradezu peinlichst vermieden.11 Hierdurch verliert die Neoklassik zum einen die historische Dimension, da ihre Kategorien nicht mehr als historisch spezifische, sondern als allgemein menschliche aufgefasst werden: „wirtschaften“ im Sinne bloßer Bedürfnisbefriedigung mussten die Menschen ja schon immer. Der moderne Kapitalismus hat allerdings historische Spezifika, die darin noch lange nicht aufgehen – diese waren eigentlich das Thema der politischen Ökonomie.12

ras dazugekommen ist, erscheint als Nuancierung, als [...] sich nie erschöpfendes Herausarbeiten der Annahmen und Konsequenzen, die das neoklassische Grundmodell von 1870 besitzt“ (Ziegler 1998, 182: vgl. Kromphardt 1991, 120 ff.). 10 „Ein bemerkenswerter Zufall [...] ist, dass Jevons’ Theory of Political Economy und Mengers Grundsätze der Volkswirtschaftslehre im gleichen Jahr, nämlich 1871 erschienen. Von daher wird dieses Jahr allgemein als Trennungslinie zwischen dem Paradigma der klassischen [... und] der neoklassischen Nationalökonomie betrachtet“ (Ziegler 1998, 156; Streissler 1989, 194). Schumpeter 1954, 1083 warf den Marxisten vor, sie hätten die apologetisch-antisozialistische Motivation der Neoklassik erfunden. Doch für den Zusammenhang gibt es Anhaltspunkte: „Die subjektive Wertlehre wird von der affirmativen Ökonomie als wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt interpretiert. Doch waren die wesentlichen Aussagen des Wertsubjektivismus, speziell das Prinzip vom sinkenden Grenznutzen, bereits klar im 18. Jahrhundert formuliert worden – und zudem seit Beginn philosophischer Reflexionen ökonomischer Erscheinungen geläufig“ (Zinn 1987, 116 f.; s.o., Fn. 28). 11 „Der Produktionsprozess wird [...] durch den Begriff [...] ‚Produktionskoeffizienten’ ersetzt“ (Grossmann 1941, 29). Der Beitrag der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital wird nach dem bemessen, was sie de facto – auf der Preisseite – dafür bekommen. Das ist eine Tautologie: Sie bekommen, perfekten Wettbewerb vorausgesetzt, immer das richtige – einen „vollen Lohnertrag“ kann man nicht mehr fordern. Heinrich 2001, 71 sieht in der „Grenzproduktivitätstheorie“ darum eine Wiederkehr der „trinitarischen Formel“ (MEW 25, 822 ff.). S. Zizek wies darauf hin, dass die Verdrängung der Produktion sich auch im Film findet: Wenn die Produktion überhaupt einmal dargestellt wird, so meist als Laboratorium des Bösen (in James Bond, Herr der Ringe, Startrek etc., dazu mehr in Henning 2005a). 12 Marxens historische Großperiodisierungen orientierten sich an der Produktionsweise (MEW 3, 37; MEW 4, 135; MEW 42, 383 ff. etc.). Diesen heuristischen Einteilungen lässt sich auch etwas abgewinnen, ohne sie zur „Formationstheorie“ aufzubauschen (Herrmann 2000): wer wollte leugnen, dass bei der Einordnung historischer Artefakte die Lebensumstände der Verfasser oder Erbauer zentral sind? (Zum „Ahistorismus“ auch Heinrich 2001, 77, 82).

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Zum anderen entfällt auf diese Weise die Problematik der wirtschaftlichen Klassen, die sich in der Klassik an ihrer Stellung im Produktionsprozess unterschieden (2.4.6). Aus der Optik der Neoklassik gibt es nur nutzenmaximierende Individuen. Sie unterscheiden sich als Verbraucher (Haushalte) und Anbieter (Firmen), doch sie handeln nach den gleichen Gesetzen der Nutzenmaximierung. Stattdessen richtet sich der Fokus der Neoklassik auf die Preisbestimmung eines gegebenen Gutes unter gegebenen Umständen, also auf den Tausch. Die Neoklassik ist schwerpunktmäßig „Preistheorie“ oder Mikroökonomie. „Marginalismus“ wird sie wegen ihrer Auffassung genannt, der Wert eines Gutes auf dem Markt bemesse sich nach der Summe, die der Abnehmer für das letzte Stück dieser Sorte zu zahlen bereit sei.13 Dem Preis nähert sich die Neoklassik in mathematisierten Modellrechnungen. Sie bestehen aus den drei Größen der Nachfrage, dem Angebot und eben dem Preis.14 Diese Betrachtungsweise des Tausches verliert weitere Aspekte aus dem Blick: zunächst ist das Geld, welches den Austausch zwischen zwei Gütern vermittelt, nichts weiter als das – Vermittler des Austausches. Es dient als „numéraire“ (Recheneinheit): beide Güter stellen sich in ihm dar und ermitteln so ihr Verhältnis. Von sämtlichen weiteren Geldfunktionen, die bei Marx wesentlich waren (2.3.5), wird abgesehen; das Geld erscheint nur als „Störfaktor“. Damit aber wird kein realer Tausch unter Bedingungen des modernen Kapitalismus betrachtet, sondern das Modell eines fiktiven „Naturaltausches“ (Heinrich 2001, 68 ff., 251), eines ahistorisch verallgemeinerten Aktes. Weiterhin müssen bei den aufwendigen Berechnungen der jeweils freien Variable (Angebot, Nachfrage oder Preis) die beiden anderen schon gegeben sein. Wie diese selbst sich entwickeln, steht nicht im Zentrum dieser Theorie. Daher resultiert der statische Charakter dieses Theorietypus.15 13 Hat jemand ein Bedürfnis nach x, wird er es sich, sofern er ein „nutzenmaximierendes“ Wesen ist, auf dem Markt beschaffen. Der „Grenznutzen“ ist erreicht, wenn ein weiteres Gut dieser Sorte – sagen wir: ein fünfter Apfel – zum gegebenen Preis nicht mehr verlangt wird. Der vierte Apfel entscheidet über den Wert aller Äpfel (notabene: den Wert, den er „subjektiv“ für den Verbraucher hat). Übrigens hat auch Marx das „Bedürfnis“ nicht vernachlässigt: Arbeit, die Waren herstellt, die kein „gesellschaftliches Bedürfnis“ erfüllen, kann nicht als „gesellschaftlich notwendig“ gelten (MEW 23, 55, 100, 121 u.ö.; Heinrich 2001, 241). Allerdings ist dieses Bedürfnis nur conditio sine qua non für die Realisierung des Warenwertes (also des Verkaufs der Ware zu einem angemessenen Preis), damit aber noch lange kein Bestimmungsgrund des realen Wertes einer Ware (MEW 23, 560). 14 Bekannt aus mikroökonomischen Lehrbüchern sind die sich schneidenden Kurven: Das Angebot nimmt bei steigendem Preis zu, die Nachfrage ab. Der fiktive „Gleichgewichtspreis“ (der so heißt, weil es keine weiteren Faktoren mehr gibt, nicht einmal eine Dynamik) liegt dort, wo sich Angebots- und Nachfragekurve schneiden. 15 „The mainstream of economic theory is essentially a static discipline which explores the behaviour of economic agents over relatively short time periods” (Norman Clark in: Arestis 1994, 406). „When demand and supply are in stable equilibrium, if any accident should move the scale of production from its equilibrium position, there will be instantly brought into play forces tending to bring it back to that position“ (Marshall 1890, 404). „The static state which has here been pictured is the one toward

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Da im „Gleichgewicht“, das die Berechnungen des Preises aus Angebot und Nachfrage unterstellen, der Wettbewerb immer schon als „perfekt“ gilt, gibt es keinen Anreiz zu wachsen – weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit.16 Marxens Dynamik ergab sich daraus, dass er fragte, woraus sich denn ein gegebenes Angebot oder eine gegebene Nachfrage eigentlich speiste. Diese Frage war nur unter Berücksichtigung des Produktionsprozesse zu beantworten, welcher im Kapitalismus eben permanent wuchs, und zwar mehr „turbulent“ als kontinuierlich. Das dynamische Wachstum gehört also zu Marx’ ökonomietheoretischen Grundannahmen.17 Die schließlich entwickelte neoklassische Wachstumstheorie dagegen ist ein Zusatz zu einer im Grundansatz statischen Theorie.18 Die Elemente dieser „speziellen“ Wachstumstheorie entlehnte man Marx entweder direkt, oder über den Umweg der sowjetischen Wachstumsökonomen.19 which society is at every instant tending“ (J.B. Clark 1915, 402). „Every dynamic movement is either a disturbance of a static condition, or a series of movements by which the static condition is reasserting itself, of rather by which a new static condition is being established after the disturbance“ (Th. Carver um 1939, zitiert bei Grossmann 1941, 62). Die neuere Neoklassik kennt ein „bewegliches Gleichgewicht“ (Rose 1991, 37 f.), das an Zenos Paradoxie des fliegenden Pfeiles erinnert. 16 Der „perfekte Wettbewerb“, den die Gleichgewichtsökonomie entwirft, erfüllt ein „Optimalitätskriterium“: die Einnahmen entsprechen den Ausgaben, der Output an Gütern ist invariant, die Preise sind ideal, so dass immer alles losgeschlagen wird, Firmen werden als kleine, einflusslose Einheiten begriffen („price-taking behaviour“), und es gibt eine Vollbeschäftigung von Arbeit und Kapital (maximale Auslastung). Hinter diesen statischen Modellannahmen steckte anfangs nur die Vereinfachung der mathematischen Berechnung sowie die Schwierigkeit, dynamische Gleichgewichte zu berechnen (Grossmann 1941, 39 ff.). Schließlich wurden dann der stationäre Zustand als ein realer theoretisch festgeschrieben (Heinrich 2001, 73 f.). 17 MEW 23, 618; cf. 2.1.6, Fn. 121. In der konventionellen Ökonomie wird auch das Wachstum extern erklärt, etwa durch ein vorausgesetztes Bevölkerungswachstum. Doch warum gibt es Wachstum? Die globale Wirtschaft wird in den nächsten fünfzig Jahren zweieinhalb mal so schnell wachsen wie die Weltbevölkerung (Weltbank 2003, nach der Süddeutschen Zeitung vom 22.08.02). Was zieht hier was nach sich? 18 Die Aufteilung in einen statischen und einen dynamischen Teil stammt von Comte (Kühne 1972, 79f.) und J.S. Mill (Grossmann 1941, 40, 49, 63). Die neuere Wachstumstheorie wurde erst Ende der 1940er Jahre von J. Hicks, R. Harrod und E. Domar entwickelt (Rose 1991, Rostow 1990, Solow 2000; zu R. Lucas und P. Romer, die Wie Schumpeter auf den Wissenssektor abstellen, Söllner 1999, 246 ff.). 19 „Den engen Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum und dem Kapitalismus hat Marx als erster in voller Schärfe gesehen“ (Weizsäcker 1962, 78). Darauf verweisen auch Lay 1975 und Kühne 1974, 180 ff., 288, 294 ff. (die neoklassische Wachstumsformel nennt er „Marx-Domar-Gleichung“, 184). Konratief war bis 1928 Direktor des Moskauer Konjunkturinstitutes; er wurde 1938 ermordet, u.a. weil er für die NEP stand und gegen Varga die „konterrevolutionäre“ Idee der Möglichkeit eines neuen kapitalistischen Aufschwungs vertrat; vgl. Sommer 1993, 88-93). „Die Input-Output-Analyse war von Wassilij Leontief 1941 in den USA ausgebaut worden. Dieser hatte aber schon im Jahre 1925 einen Artikel in Russland [...] veröffentlicht [...] Kurioserweise hatte Leontief seinen eigenen russischen Beitrag vergessen – als man ihm diesen 1960 präsentierte, erkannte er die Priorität der Arbeiten der Gromann-Gruppe an“ (Kühne 1974, 296; Gromann, Basarow und Feldmann waren

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Wenn nun von so entscheidenden Faktoren wie der historisch spezifischen Form und der sozialen Struktur der Produktion, der Entstehung und dem Zusammenhang der Parameter Nachfrage, Arbeitslohn, Zins und Profit sowie den materiellen Bestimmungsgründen des Wertes abstrahiert wird, bleiben als Faktoren, mit denen im Doppelsinne zu rechnen ist, nur noch „subjektive“: eben der individuelle Nutzen, den ein fingierter rationaler Akteur sich von einem Gut verspricht. Keynes fügte die ebenso subjektiven und unberechenbaren „future expectations“ hinzu. Diese subjektivistische Sichtweise wirkt sich heute darin aus, dass Kursschwankungen an der Börse mit den kurzfristigen Vorlieben und subjektiven Wertungen der Börsianer, Erwerbslosigkeit mit dem „Unwillen“ der Betreffenden oder das wirtschaftliche Wachstum aus der psychischen Verfassung der Schumpeterschen „Pionierunternehmer“ erklärt wird.20 Der subjektive Nutzen ist jedoch weder beobachtbar noch anderweitig zu ermitteln. Er ist zwischen verschiedenen Personen weder vergleichbar noch addierbar.21 Die Theorie hat daher einen hochartifiziellen Charakter, eine Anwendung auf die Wirklichkeit ist kaum möglich.22 Die Neoklassik entwickelte eine Spezialisierung der Fragestellung und eine Mathematisierung der Methodik. Entgegen der noch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive fragenden Klassik rückte sie von politischen Fragestellungen generell ab.23 die Planer im sowjetischen „Gosplan-Büro“, vgl. Domar 1957). Anders als Spiethoff, Harrod und Samuelson anerkannten Domar, Schumpeter und Goodwin Marx Vorreiterrolle in der Wachstumstheorie vorurteilsfrei. 20 Nach Schumpeter heben heldenhafte „Pionierunternehmer“ die statische Wirtschaft immer wieder auf eine neue Stufe (1911, 1942; ähnlich Kalecki 1954). Dafür bräuchten sie, neben ihrem aristokratisch-risikofreudigen Naturell, nur von neuer Technologie und Kredit Gebrauch zu machen, die er, anders als Marx, als gegeben hinnimmt. Doch woher kommen sie? Die wirtschaftlichen Dynamik bleibt der Ökonomie hier äußerlich, sie wird subjektiviert und naturalisiert (zu rassistischen Tendenzen Schumpeters N. Piper, in: Sommer 1993, 42 ff.). 21 Der subjektive Wert einer Ware ist für Arme größer als für Reiche. Der subjektive Gesamtnutzen wäre also in einer egalitäre Umverteilung weit höher als in der objektiv effektiveren Ungleichheit (dem quantitativen Gesamtnutzen). Dieser egalitäre Fluchtpunk der Neoklassik wurde per Definition ausgegrenzt: In ihren Grundprinzipien wurde festgelegt, dass der Nutzen nicht vergleichbar sei (das sog. „ArrowParadox“, nach Arrow 1951, cf. 3.2). 22 „Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts werden alle bedeutenden Werke der Werttheorie [der Neoklassik, CH] in einem Selbstverständnis unternommen, in dem die Theorie nur noch auf sich selbst, nicht mehr auf eine andere Realität zurückverweist“ (F. Jonas 1964, 144) – ein „Modellplatonismus“ (Albert 1965, cf. Sen 1982, A. Wolfe 1986, Etzioni 1988, Brodbeck 1998). Die Kategorie des Nutzens bildet das zu Erklärende lediglich noch einmal tautologisch ab: „Sollen .. die Nutzenschätzungen an den vorhandenen Tauschverhältnissen abgelesen werden, wird das Argument zirkulär. [...] Im Grunde sagt die Grenznutzenlehre nichts weiter, als dass sich jemand von einem Tausch, den er eingeht, in irgendeiner Hinsicht mehr verspricht als von einem [...], den er unterlässt“ (Heinrich 2001, 68). 23 Sogar der Name „politische Ökonomie“ wurde fallengelassen: Ziegler 1998, 155 f. (zu Jevons), 162 (zu Marshall).

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Hier machen sich theorieinterne Tendenzen bemerkbar, die als „Atomisierung“, „Psychologisierung“ und „Harmonisierung“ zu kennzeichnen sind: Atomisierung meint, neben den atomisiert gedachten „Einheiten“ des Modells, den nutzenmaximierenden Individuen, die Vereinzelung auch der Fragestellungen. Der übergreifende Problemzusammenhang in historischer und systematischer Hinsicht, auf den es die Klassik noch abgesehen hatte, ist kaum noch in nennenswerter Hinsicht Erklärungsziel. Es gibt kaum gesellschaftliche Fragestellungen, die noch als erkenntnisleitendes Interesse dienten, sieht man von der Legitimierung einer bestehenden Ordnung ab (3.2.1). Fernziel der Erklärung ist vielmehr der Erweis der Selbstgenügsamkeit des Marktes und allenfalls das politische Bestreben, Marktverzerrungen zu beseitigen (Krummbachner 1991). Psychologisierung meint, dass Ursachen für grundlegende ökonomische Mechanismen nicht mehr in Sachzwängen gesucht werden, die „objektiv“ sind und daher einer empirischen Verifizierung offen stehen, sondern in Neigungen der als vereinzelt gedachten Individuen, als in ihrem Willen liegend. Dogmengeschichtlich wird dies als Wende von der „objektiven“ zur „subjektiven“ Wertlehre gesehen. Leitwissenschaft der Neoklassik sind die methodisch atomistischen Theorien des „rational choice“, also Spiel- und Entscheidungstheorien. Die Harmonisierung bezieht sich auf den Charakter des Gesamtmodells. Statt aus heterogenen Wirtschaftsklassen wie in der Klassik besteht das in der Neoklassik zugrundegelegte Bild von der Gesellschaft aus einer homogenen Gruppe nutzenmaximierender Individuen. Neben dieser überabstrahierenden Ausbügelung der Klassen stellt auch die Abwesenheit von Krisen in der Theorie eine „Harmonisierung“ dar. Der wirtschaftliche Gesamtprozess wird als großer Austausch gegebener Güter betrachtet und befindet sich „immer schon“ im Gleichgewicht. Das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt die Preise, wobei die wirtschaftlichen Akteure die vom Markt vorgegebenen Preise nur passiv hinnehmen. Die Atmosphäre gleicht dem eines Friedens, zumal das Modell statisch ist und das in der Realität oft so prekäre Wachstum erst in speziellen Zusatztheorien behandelt wird. Die Klassik ging dagegen von einer konstitutiven Polarität aus, nach welcher die Konkurrenz innerhalb und zwischen den Klassen, die sich aktiv an den Verteilungskämpfen beteiligen, dafür sorgt, dass der Vergleich mit dem „bellum omnium contra omnes“ (Hobbes) näher liegt. Marx’ Pointierung der bis in die Politik ausstrahlenden ökonomischen Klassenkämpfe dachte nur diesen Ansatz der Klassik zuende. Dies gilt auch für den skeptischen Blick auf Entwicklungstendenzen des steten Wachstums wie die Verarmung und Ausgrenzung breiter Bevölkerungsschichten, das Auftreten periodischer Krisen sowie die Zerstörung der Natur. Gegenüber dieser nüchternen Einschätzung der klassischen Ökonomen fällt das passive Verhalten der homogenen Individuen in dem stabilen und statischen Gleichgewichtsmodell der Neoklassik sehr idealisierend aus. Mikroökonomisch lassen sich wirtschaftliche „Krisen“ kaum erklären.

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Die Neoklassik ist am ehesten eine „Gegenutopie“.24 Der Paradigmenwechsel in der Methodik stellt ja auch einen Wechsel in der Bewertung des Wirtschaftsprozesses dar. Er wird allerdings nicht, wie Max Weber suggerierte (2.4.6), von außen herangetragen, sondern steckt schon in den Grundzügen des Modells. Der Zusammenhang der Theoriegeschichte ist demnach ein anderer, als die Dogmengeschichte vermuten lässt. Das naheliegende Bild der Geschichte der ökonomischen Theorie ist das folgende: Es gibt eine große Linie „bürgerlicher“ ökonomischer Theorie, welche von den Klassikern über die Neoklassiker bis zu heutigen Theoretikern des Neoliberalismus und ihren institutionalistischen Gegnern führt. Zu ihr steht das „revolutionäre“ Denken von Marx gewissermaßen „quer“ (cf. Arestis 2000), ohne dass es die Hauptlinie maßgeblich erschüttert hätte: Marx

Smith

Ricardo

Marshall

Keynes Friedman

Abbildung 4: Marx in der ökonomischen Dogmengeschichte

Ein solches Bild wurde sowohl durch die Selbstinterpretation der ökonomischen Theoretiker als auch durch die Heroisierung von Marx auf Seiten der Sozialisten genährt.25 Schon der Name „Neoklassik“, den Keynes einführte (1936, 177), scheint ja Kontinuität zu verbürgen. Entgegen dieser Intuition erweist sich die chronologische Darstellungsweise jedoch als sachlich angemessener, denn Marx 24 Kühne 1972, 46 ff. kontrastiert Harmoniedenken und „Marx’sche Prozessvision“. Zum Ausdruck „Gegenutopie“ Mannheim 1929, 199 (cf. „Kontrastideologie“, Seidel 1924, 137; „Gegenideologie“, Habermas 1960, 278). Die Neoklassiker waren für negative Seiten nicht blind: Viele trieb das Bedürfnis, etwas gegen die Armut zu tun, zur Ökonomie (Sommer 1993). Die Intention einer Theorie bestimmt aber nicht ihren Effekt. Der Verfechter des Freihandels F. Bastiat bekannte in seinem vielsagenden Werk Les Harmonies Economiques (1850): „Ich glaube, dass die unbezwingbare soziale Tendenz auf die ständige Annäherung der Menschen an ein allgemeines körperliches, geistiges und moralisches Niveau hingeht [...] Ich glaube, dass für die [...] Entwicklung der Menschheit nichts weiter nötig ist, als dass ihre Tendenzen nicht durchkreuzt werden“ (nach Kromphardt 1991, 120). „Ist es nicht ein großartiger Entwurf, wenn bei gegebenen Nutzenvorstellungen der Haushalte und gegebenen Ressourcen durch ein endogen determiniertes Preissystem Ersparnisse und Investitionen, Arbeitsangebot, Nachfrage nach dem numéraire, Mengen der bei jeder Firma eingesetzten Produktionsfaktoren und Mengen der hergestellten Produkte festgelegt und damit in einem simultanen Prozess die Pläne aller Haushalte und aller Unternehmen aufeinander abgestimmt werden?“ (Felderer in Starbatty 1989, 70). Schön wäre es, doch gehört die Harmonielehre eher in die Musik (Waibl 1989, 197). 25 Das Lieblingswort von Alfred Marshall soll „Kontinuität“ gewesen sein (Rieter in Starbatty 1989, 140). Söllner 1999 wählt exakt diese Darstellung: Marx kommt erst unter „ferner liefen“ (262 ff.). Für die Realsozialisten waren die Unterschiede innerhalb der „bürgerlichen Theorie“ kaum von Belang (Becher 1976, 393 ff.).

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gehört in die „große Linie“ hinein: Der Ökonom Marx verstand sich in der Tradition der Klassiker, und wurde meist auch so verstanden. Er verarbeitete deren Theorien bis zu einer schlüssigen Gesamtdeutung der politischen Ökonomie des Kapitalismus; wenn auch mit den bekannten unerfreulichen Schlussfolgerungen. Die neoklassische Gegenutopie, die alsbald dagegengesetzt wurde, brach nun nicht nur mit Marx, sondern auch mit der klassischen Analyse von Smith und Ricardo.26 Der Zusammenhang sieht demnach so aus:

Smith

Ricardo

Marx

Marshall Keynes Friedman

Abbildung 5: Marx in der ökonomischen Wirkungsgeschichte

Es zieht sich nicht eine Linie ökonomischen Denkens durch die Geschichte, die sich vertikal mit den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen und horizontal mit den jeweiligen Vorgängern beschäftigt. Vielmehr gibt es eine Konkurrenz auch „im Gebiete des Geistigen“ (Mannheim 1928), zumal dann, wenn sich hinter den verschiedenen theoretischen Schulen unterschiedliche politische und gesellschaftliche Lager befinden. Die Neoklassik ist zu begreifen als eine Weiterführung der klassischen Ökonomie mit gänzlich anderen Mitteln.27 Dieses war nötig geworden, weil Marx die klassischen Fäden derart miteinander versponnen hatte, dass ein Wiederaufnehmen an Marx vorbei unmöglich schien.28 26 „Indem man die Unhaltbarkeit der klassischen Lehre zeigt, will man damit eo ipso auch die Hinfälligkeit der Marx’schen Theorie demonstrieren“ (Grossman 1941, 26). Dieser Zug wiederholt sich im Feld der Philosophie erstaunlich parallel (2.5.5). 27 Zu Marx’ Verhältnis zur Klassik Althusser 1972, 107 ff. Heinrich hat Schwierigkeiten bei der Verortung von Marx: obwohl er einen Bruch zwischen Klassik und Neoklassik feststellt (2001, 75), will er Marx gegen das Kontinuum von beiden auffahren (18). Eigentlich macht er ein drittes: er kritisiert Klassik und Marx aus der Position einer keynesianistischen (und damit neoklassischen) Ecke. Er wirft Marx vor, dass er noch der Klassik „verhaftet“ sei (26, 212). Genau das ist jedoch der Witz an Marx. 28 Streissler meint, „mit dem Hinweis auf die Tradition der deutschen Nationalökonomie“ ließe sich „die immer wieder vorgebrachte Behauptung eindeutig widerlegen, die subjektive Wertlehre der österreichischen Schule sei als Reaktion auf Karl Marx, als Gegenrevolution gegen dessen Lehre entstanden“, da „eine subjektive Wertlehre in Deutschland bereits vor den ersten Schriften von Marx entstand“ (1989, 126). Non sequitur: Eine subjektive Wertlehre gab es bereits im Mittelalter (Pribam 1992), die Frage ist, warum sie plötzlich so aktuell wurde (Fn. 10). „Die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten der Werttheorie, den Wert einer Ware entweder auf die zu ihrer Produktion notwendige Arbeit oder den von ihr ausgehenden Nutzen zurückzuführen, waren schon länger bekannt. [...] Erklärungsbedürftig ist daher [...], warum sich diese Theorie ausgerechnet in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchsetzte, warum nicht früher oder später“ (Heinrich 2001, 63; cf. Blaug 1958, 149 f.; Meek 1973, 97 ff.; Dobb 1977, 124 f.). Ein Grund war die „kapitalismuskritische“ Anwendung der Arbeitswerttheorie bei den „ricardianischen Sozialisten“ (Heinrich

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Ob sich eine „Marxwiderlegung“ als direkte Intention der Marginalisten nachweisen lässt, sei dahingestellt; es kommt hier nicht auf Personalien, sondern auf den unübersehbaren wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang an.29 Paradox wie dies klingen mag: Erst Marx stellt das versteckte Bindeglied dar zwischen den Klassikern, die er kritisierte, und den Neoklassikern, die ihn kritisieren. In der Geschichte der ökonomischen Paradigmen steht Marx so genau zwischen den beiden ihre Zeit jeweils beherrschenden Paradigmen. Diesen ganz allgemeinen Befund gilt es zu spezifizieren. Gesagt werden soll nicht, dass jede Wirtschaftstheorie nach Marx eine neoklassische war. Es gab andere Schulen, etwa die deutsche historische mit Roscher, Knies und Schmoller,30 die österreichische Grenznutzentheorie von Carl Menger und Eugen BöhmBawerk, den wiederauflebenden Institutionalismus eines Thorstein Veblen, den Keynesianismus und natürlich den Monetarismus und die angebotsorientierte neoliberale Wirtschaftstheorie der letzten Jahrzehnte. Die Paradigmen jedoch, mit denen man arbeitet, waren und sind die der Neoklassik. In der Folge wird darum von der Neoklassik bewusst in dem weiteren Sinne des Paradigmas gesprochen. Noch Keynes, von dem die Bezeichnung „Neoklassik“ stammt, legte das Gleichgewichtsmodell der Klassik zugrunde. Er monierte lediglich die Annahme, dass es auf einer optimalen Ebene liegen müsse. Seine General Theory (1936) entdeckte, dass es auch auf einer anderen Ebene als der „perfekten“ ein Gleichgewicht geben könne; etwa eines, welches hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Investitionen implizierte. Die neoklassischen Grundannahmen der Statik des Gleichgewichtsmodells und der Passivität der homogenen Marktteilnehmer hat jedoch auch er beibehalten.31 Die Statik verhärtete sich eher, als in der jahrzehntelang bestimmenden „großen Synthese“ von Samuelson (1948) keynesianische 2001, 64; cf. Kühne 1972, 56, 197; MEW 26 III, 259 ff.). Hodgskin 1825 klagte das Recht der Arbeiter auf einen „vollen Arbeitsertrag“ ein; dies beunruhigte die bürgerlichen Ökonomen: „Das System Ricardos ist eines der Zwietracht [...] Es hat die Tendenz zur Erzeugung von Feindschaft zwischen Klassen [...] Sein Buch ist das richtige Handbuch des Demagogen, der nach Macht strebt durch Bodenkonfiskation, Krieg und Plünderung“ (Carey 1848, 74 f., MEW 26 II, 163; Grossmann 1941, 29). 29 Sogar Sombart meinte: „Wenn man gesagt hat: die Grenznutzenlehre sei eine Ausgeburt der Angst vor dem Sozialismus […– gemeint ist Labriola, CH], so steckt in diesem Urteil zweifellos ein sehr berechtigter Kern“ (Sombart 1930, 283). Die dogmatische Zuspitzung dessen war jedoch wenig glaubhaft: „Von nun an wurde der Antimarxismus zum konzentrierten theoretischen Ausdruck ihres antiproletarischen und antisozialistischen Charakters“ (Becher 1976, 395). 30 Siehe Rieter 1994, Schefold 1994, Koslowski 1995 und 2000 und institutionalistisch verlängert Reuter 1994, Edeling 1999. Der theoretische Status der historischen Schule ist jedoch seit je umstritten; im Grunde gibt es hier keine Theorie (zu Roscher MEW 23, 910; MEW 26 II, 116 f.; III, 492; darum drehte sich auch der Methodenstreit zwischen Menger und Schmoller um 1884). Noch Sombart „beschreibt“ immer weitere Züge des Kapitalismus, ohne sie material zu erklären (1911, 1913, 1913b; cf. Pollock 1926, Appel 1992, Lenger 1994, J. Backhaus 2000). 31 Keynes 1936;. Bombach 1976 und Starbatty 1989. „Die Ansicht, dass Keynes dynamischer sei als Ricardo, ist das genaue Gegenteil der Wahrheit“ (Harrod 1948, 29).

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und neoklassische Modelle ineinander geblendet wurden. Ähnlich verhält es sich mit den Historisten und Institutionalisten, die Einzelheiten am Grundmodell bemängeln und sich ansonsten mit der „Beschreibung“ verschiedener historische Konstellationen begnügten, oder mit den Monetaristen, welche die keynesianische Interventionspolitik mithilfe neoklassischer Gleichgewichtsannahmen und der Quantitätstheorie des Geldes zurückdrängten.32 Die Feststellung, dass Marx innerhalb des klassischen Paradigmas dachte, also eines anderen als der Großteil der Ökonomen des 20. Jahrhunderts (quer durch alle Schulbildungen), ist für die folgenden Kapitel zentral. Die von bürgerlichen Ökonomen angestellten „Widerlegungen“ der Marx’schen Theorie von Böhm-Bawerk über Keynes bis Samuelson lasen Marx innerhalb des neoklassischen Paradigmas.33 Seine Analysen wurden so aus ihrem binnenlogischen Zusammenhang entfernt und in einen theoretischen Gesamtzusammenhang „übersetzt“, der von ganz anderen Hintergrundannahmen ausging. Wenn bewiesen werden konnte, dass Marx’sche Thesen innerhalb dieses Paradigmas nicht zu halten waren, so wurde dies dem Anspruch der Marx’schen Theorie gerade nicht gerecht. Solche Widerlegungen haben nur partiellen Wert (2.3.2). Viele marxistische Ökonomen jedoch, besonders im Westen, übernahmen diese „Übersetzungen“ und versuchten gleichwohl, Marx’sche Thesen innerhalb des neoklassischen Paradigmas aufrechtzuerhalten. Aufgrund der Schwierigkeit dieses Unterfangens mussten Zusatzannahmen gemacht werden, welche noch weiter von den eigentlich Marx’schen Theorien wegführten (2.3.3). Aufgrund der Dominanz des neoklassischen Paradigmas in der Literatur und des vergeblichen Versuchs vieler Marxisten, ihn innerhalb desselben zu verteidigen, wurde unter „Ökonomie“ mehr und mehr nur noch dieses wissenschaftliche Paradigma verstanden. Sprechen Philosophen heute von Ökonomie, etwa in der Diskussion um Rawls oder in der Wirtschaftsethik (3.2 und 3.3), tun sie dies unhinterfragt in diesem Paradigma – selbst bzw. gerade dann, wenn sie es philosophisch kritisieren (2.3.4). Auch politische Vorstellungen der westlichen Linken gingen lange von Vorstellungen aus, die einem neoklassisch verzerrten Marx entstammten. Dabei kam ihnen der Marxismus-Leninismus in gewisser Hinsicht entgegen. Wegen dieser Entwicklungen hat der Versuch, Marx in der Philosophie wieder zu berücksichtigen, eine ungewöhnlich hohe Erklärungslast zu tragen. Es reicht leider nicht, auf eine Öffnung der philosophischen Theorie in Richtung ökonomischer Tatsachen und Theorien hinzuwirken (siehe etwa Kambartel 1998), da in diesen meist schon die neoklassischen Modellannahmen stecken; es reicht erst recht nicht, den „Marxismus“ der einen oder anderen Spielart von einst wieder aufzuwärmen, da sich die verfehlten Modellvorstellungen gerade auch hier, in der Höhle des zahnlosen 32 Zu den Reagonomics (Friedman, Hayek) Lekachmann 1981, 124 f.; Waibl 1988. 33 Die Kennzeichnung einer bestimmten Ökonomie als „bürgerlich“ dient als Gegenbegriff zur marxistischen Ökonomie. Sie ist wie beim „Bürgerlichen Gesetzbuch“ keineswegs pejorativ und beruht auf Selbstzuschreibungen (so bezeichnete sich mir gegenüber Professoren der Volkswirtschaft mehrfach als „bürgerliche Ökonomen“).

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Löwen, eingenistet haben. Um zu klären, was an der Marx’schen Ökonomie eigentlich das Entscheidende ist, ist somit eine Kritik der ökonomischen Vorstellungen verschiedener herkömmlicher „Marxismen“ unerlässlich.

2.3.2 Marxwiderlegungen aus neoklassischer Sicht „Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.“ (Wittgenstein)

Der zentrale Unterschied zwischen Klassik und Neoklassik liegt in der Richtung, die bei der Erklärung von Warenwerten eingenommen wird.34 Die Klassik hatte eine eher objektive Tendenz, die Neoklassik eine subjektive. Innerhalb der Klassik war zwar umstritten, was genau das wertbildende Element nun sei – ob der Boden, wie bei Malthus und den Physiokraten; die tatsächliche Arbeit, die der Kapitalist selbst oder über für sich Arbeitende erbringt, wie bei Locke und Smith; oder die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wie bei Marx. Gegenüber der neoklassischen Grenznutzentheorie, welche mit subjektiven Nutzenerwägungen einzelner Individuen als Explanans rechnet, ist die objektive Werttheorie ein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal.35 Die Grenznutzentheorie besagt, dass der Nutzen, den ein Individuum von einem Gut hat, mit steigendem Besitz dieses Gutes sinkt (Fn. 13). Die Nachfrage nach diesem Gut auf dem Markt steht so in Korrelation zu dem Nutzen, den dieses Gut für die Nachfragenden jeweils hat. Wenn Angebot und Nachfrage als einzige Instanzen den Preis eines Gutes festlegen, hängt der Preis eines Gutes von den Produktionskosten der Anbieter als Untergrenze und dem Nutzenkalkül der Nachfragenden als Obergrenze ab.36 34 „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’“ (MEW 23, 49). Der Ansatz bei den Waren statt beim Geld erklärt sich auch daraus, dass eine Menge Geld nicht automatisch Reichtum bedeutet. Kann es nichts kaufen (aufgrund geringer Kaufkraft, oder weil es nichts zu kaufen gibt), ist es nichts wert. Der Wert des Geldes drückt sich in Waren aus (in dem berühmten „Warenkorb“). Das bedeutet nicht, dass das Geld aus dieser Perspektive „neutral“ ist (schließlich war die Kürzung um das Geld in Proudhons „Arbeitsgeldutopie“ in den 1850er Jahren ein Lieblingsfeind von Marx, MEW 13, 66 ff.; MEW 23, 109; Rakowitz 2000, 77 ff.); wohl aber, dass das Geld nicht aus sich selbst zu verstehen ist (siehe 2.3.5). 35 Die Orientierung am Objektiven konnte in Richtung eines „Substantialismus“ ausarten, der merkwürdige Formen annahm: so in der Geldtheorie des Merkantilismus, die von einem „objektiven“ Wert des Geldes (oder der Geldware) ausging; in der martialischen Verelendungstheorie von Malthus oder der Begründung der fallenden Profitrate bei Ricardo, die mit der abnehmenden Qualität des jeweils neuerschlossenen Bodens argumentierte. Ein „Substantialismus“ der Klassik wird noch heute kritisiert (s.u., Fn. 72). Bei Marx aber ging „kein Atom Naturstoff in ihre Wertgegenständlichkeit“ ein, die ‚Maßeinheit’ der Quanten Arbeit ist „rein gesellschaftlich“ (MEW 23, 62). Das klassische Paradigma ist nicht monolithisch. In ihm haben Smith, Ricardo und Marx Platz, wie Marshall, Keynes und Friedman im neoklassischen. Unterschiede müssen nicht eingezogen werden, wenn ein Gemeinsames vorliegt. 36 Diese beiden Faktoren bezeichnete Marshall 1890 als „the upper or the under blade

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Diese einigen sich auf dem Markt auf einen Preis, zu dem die Waren dann umgesetzt werden. Zur Versinnbildlichung dieser fiktiven Annahme hat Walras den großen „Auktionator“ erfunden, der anstelle der Unternehmer die Preise festsetzt, zu denen diese dann ihre Güter verkaufen.37 Der Markt wird hier zum Subjekt, während die Firmen zu seinen passiven Elementen herabgestuft werden. Die Angriffe, die die bürgerliche Ökonomie auf Marx den Ökonomen richtete, gingen von diesem abgesteckten Terrain aus, das zu verlassen bereits als Fehler erschien (deutlich etwa bei Mises 1922). Nun leugnete Marx keineswegs, dass Angebot und Nachfrage für ein gegebenes Gut den Kaufpreis beeinflussen. Nur werden die längerfristigen Schwankungen des Preises und seine wirklichen Faktoren damit nicht erklärt. Marx war der Auffassung, dass „der Wechsel im Verhältnis von Nachfrage und Angebot für den Preis [...] nichts erklärt außer seinem Wechsel [...] Decken sich Angebot und Nachfrage, so hört [...] die Preisoszillation auf. Aber dann hören auch Angebot und Nachfrage auf, irgend etwas zu erklären“ (MEW 23, 560). Über die Zeit pendeln die durch gegebenes Angebot und gegebene Nachfrage schwankenden Preise (ceteris paribus) um einen bestimmbaren Level, welcher folglich nicht mehr selbst durch Angebot und Nachfrage erklärt werden kann. Vielmehr haben Angebot und Nachfrage selbst noch bestimmende Faktoren. Doch diese werden in einem Modell, das sich auf den Austauschprozess und seine gegebenen Determinanten in kurzfristigen Zeiträumen konzentriert, nicht mehr hinterfragt.38 Marx interessiert sich gerade für diese Kräfte hinter den „Determinanten“, die sich langfristig in ihnen durchsetzen. Seine Arbeitswerttheorie untersucht den Level, um den herum die Preise durch Schwankungen in Angebot und Nachfrage auf und ab getrieben werden.39 Sie wurde von der Neoklassik verworfen, weil ihr schon die Fragestellung keinen Sinn zu machen schien. Doch ist die Kategorie des individuellen „Nutzens“ kaum weniger geheimnisvoll als die des Wertes. Sie hat lediglich einen beengteren Fokus.40 Ihre „Preistheorie“ erklärt Preise mit Preisen. Sie kann sich wieder nur auf andere Preise verlassen, die gegeben sein müssen. Preisschwankungen lassen sich so allenfalls feststellen, nicht erklären.41 of a pair of scissors”. Dies war bereits ein Vermittlungsversuch zwischen Klassik und Neoklassik (vgl. Rieter in Starbatty 1989, 137). 37 Kromphardt 1991, 187; Starbatty 1989, 62; Hunt 1993, 149: dies erinnert im Übrigen eher an zentrale Planung als an einen Markt. 38 Von Keynes gibt es in diesem Sinne das Bonmot: „On the long run, we are all dead“. 39 Der in den kurzfristigen Schwankungen gegebene „natürliche Preis“ (Smith; Marx nennt es Produktionspreis) sei der „eigentlich zu analysierende Gegenstand“. Diese Durchschnittsgröße „musste natürlich anders bestimmt werden als die sich kompensierenden Abweichungen von ihr“ (MEW 23, 560; vgl. MEW 25, 199). 40 Dennoch hat die Neoklassik philosophische Ableger, die keine „ökonomische“ Theorie sind. Auch sie nennen sich nun „politische Ökonomie“ (des Staates, des Rechts etc., siehe G. Becker 1976, Behrens 1986, Buchanan 1990; cf. 3.2). 41 Die Preisentwicklung kann auch an die Geldmenge gekoppelt werden (Friedman 1969). Doch wie die Erklärung gegebener Preise mit dem Nutzen ist das tautologisch,

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Das Thema der Arbeitswerttheorie war nicht die Preisbestimmung. Sie erlaubte es vielmehr, Zusammenhänge herzustellen zu Phänomenen wie dem Sinken der von den Industriellen angeeigneten Profitmasse aufgrund eines höheren Anteils an „unproduktiver“ Arbeit, dem generellen Fallen der durchschnittlichen Profitrate und damit verbundener Investitionsengpässe, zu Wachstumszyklen und Krisen allgemein sowie zur Analyse gesellschaftlicher Klassen und ihrer politischen Auseinandersetzungen. Alle diese Phänomene hängen am Wertkonzept und können in der neoklassischen Analyse so weder erklärt noch überhaupt erfasst werden. Marx’ Arbeitswerttheorie legt die Fundamente für die Beantwortung der Frage nach dem „Bewegungsgesetz“ (MEW 23, 15), das sich langfristig im kapitalistischen Wirtschaften durchsetzt. Diese Frage lässt sich im neoklassischen Paradigma nicht stellen; sie hat dort keinen „grammatischen“ Ort. Nach Wittgenstein setzt das Verstehen des Satzes „Dies ist blau“ nicht nur voraus, dass man in einer gemeinsamen Situation steht, sondern auch, dass man bereits weiß, was überhaupt eine Farbe ist.42 Analog setzt das Verständnis der Arbeitswerttheorie voraus, dass man die dahinterliegende Fragestellung teilt oder zumindest zur Kenntnis nimmt. Für eine Wissenschaft, die das nicht tut, muss die Rede von hinter den Preisen wirksamen Werten als Mystizismus, als schlechte „Metaphysik“ gelten, aber eben aus grammatischen, nicht etwa aus ökonomischen Gründen.43 Diese Verweigerung hat auch politische Implikationen: Ohne Arbeitswertlehre lassen sich weder Lohnerhöhungen fordern, da nun jeder Lohn, der auf einem freien Markt erzielt wird, als „gerecht“ erscheint; noch lassen sich die Marx’schen Erklärungen für die endogenen kapitalistischen Krisenerscheinungen aufrechterhalten. Fällt etwa die Profitrate, werden eher „zu hohe“ Löhne verantwortlich gemacht als Interna der kapitalistischen Entwicklung wie die Erhöhung der organischen Zusammensetzung (2.1.6). Alle unangenehmen Elemente der Marx’schen Theorie hängen mit der Werttheorie zusammen: die gewerkschaftliche Tarifpolitik mit der „Ausbeutung“, die revolutionäre Rhetorik der kommunistischen Parteien mit der „Krisentheorie“.44 Der Ansatz der Kritik an der Wertlehre war also gut gewählt. Mit dem Verlust weitergehender ökonomida hier keineswegs erklärt wird, welchen Preis die Ware bei der „optimalen Geldmenge“ hat, sondern nur, dass der Preis bei einer Inflation steigt und vice versa. 42 Den Sinn eines Satzes einzusehen heißt noch nicht, ihn auch für wahr zu halten, sondern allererst in der Lage sein zu erkennen, welche Tatsachen ihm einen Wahrheitswert zukommen lassen können (PhU 381 ff. u.ö.). Wittgenstein war übrigens mit den Cambridge-Ökonomen Keynes und Sraffa gut bekannt (s.u., Fn. 121). 43 Eine philosophische Kritik der Arbeitswerttheorie (s.u., Fn. 46) verfehlt ihren Gegenstand, wenn sie die Paradigmen nicht unterscheidet. Shaikh 1977, 107 vergleicht dies damit, als wolle man Annahmen Einsteins aus einem Newtonschen System her „rekonstruieren“, ohne den dazwischenliegenden Paradigmenwechsel zu berücksichtigen. Auch hier würde man unweigerlich Mystizismen konstruieren; unnötigerweise. 44 Auch die Erklärung der Zirkulationskrisen (Geld-, Kredit-, Zahlungsausgleichskrisen u.ä.; cf. Huffschmid 1999, Shaikh 1995, 1998a; 2.3.5) braucht Argumente aus dem produktiven Sektor, und so mittelbar die Arbeitswertlehre.

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scher Fragestellungen ging auch ein Verlust an politischen Implikationen einher. Einerlei ob die Verabschiedung des objektiven Wertkonzeptes diese Intention hatte, ihr Effekt jedenfalls ist aus einer unternehmerischen Perspektive politisch begrüßenswert. Die Preisgabe der Werttheorie war überdeterminiert und speiste sich deutlich auch aus außertheoretischen Motivquellen. An zwei Punkten bemühte man sich, die Arbeitswertlehre explizit zu widerlegen. Zunächst wurde darauf verwiesen, dass diese Theorie empirisch nicht stimmte: Zwei Produkte, in denen eine gleiche Arbeitskraft steckt, können, bedingt durch Angebot und Nachfrage, einen sehr unterschiedlichen Preis erzielen – es kommt eben vor, dass ein Produkt, in dem sehr viel Arbeit steckt, zu Spottpreisen verschleudert wird (Ott 1989). Dies ist jedoch keine Widerlegung, da Marx so etwas an keiner Stelle geleugnet hat. Nicht die einzelne, an einem einzelnen Gut verrichtete Arbeitszeit bestimmt den Wert eines Gutes, sondern die Arbeitszeit, die zu seiner Produktion nach dem gegebenen Stand der Technik „gesellschaftlich notwendig“ ist (MEW 23, 53 ff.; MEW 16, 125; MEW 25, 186). Wenn die durchschnittlich zur Produktion eines Gutes notwendige Arbeitszeit 20 Stunden sind, so wird der Produzent, der 30 Stunden braucht, keinen höheren Preis erzielen, da andere Anbieter ihn unterbieten. Diese Widerlegung beruht also auf einem Missverständnis. Eine andere Widerlegung widmete sich dem sog. „Transformationsproblem“ von Werten in Preise. Seit Böhm-Bawerk wurde ein Widerspruch zwischen dem ersten und dem dritten Band des Kapitals behauptet: geht Marx in Band Eins davon aus, dass die Waren sich zu ihren Werten verkaufen (MEW 23, 181, 336; MEW 24, 32), so berücksichtigt er in Band Drei, dass zur Entstehung des Preises auf dem Markt noch andere Faktoren beitrügen (MEW 25, 162).45 Unterstellt wurde der Wertlehre das Erklärungsziel einer Determination des unmittelbaren Marktpreises. In diesem Fall würden sich die beiden Aussagen widersprechen. Nun ist in Band Eins allerdings von grundlegenden Begriffen (Ware, Wert, Geld, Kapital, Mehrwert, Arbeitslohn) und Zusammenhängen die Rede (Tausch, Produktion, Akkumulation, Zentralisation), in Band Drei dagegen davon, wie diese Logik sich tatsächlich durchsetzt (MEW 25, 33). Natürlich wird der Preis einer Ware auf dem Markt erzielt. Aber was ist misslich daran, wenn der Preis sich nach unten bewegt (durch mangelnde Nachfrage, oder wenn die Konkurrenten billiger produzieren)? Fatal wird es erst, wenn der Unternehmer „unter Wert“ verkauft. Die Wertlehre dient nicht dazu, einen bestimmten Preis einer bestimmten Ware zu bestimmen, sondern sie macht in den scheinbar chaotischen Phänomenen des Marktes insgesamt einen „roten Faden“ aus.46 45 Diese Kritik von Böhm-Bawerk 1896 erscheint wieder bei Robinson 1942, Samuelson 1971, Kramm 1979, Backhaus 1997, 168. Die im Zusammenhang damit geäußerte Auffassung, Marx habe die Ansichten des ersten Bandes im dritten Band revidiert, wurde zurückgenommen, als klar wurde, dass das Manuskript des dritten Bands vor dem ersten Band verfasst worden war (wie selbst Samuelson zugab). 46 „Die Wertlehre ist [...] nicht als Theorie der Preisbildung zu verstehen, sondern als

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Auch die weiteren Theorien des dritten Buches widersprechen nicht denen des ersten Buches, sondern zeigen vielmehr, wie sich diese fundamentalen Gesetze auf dem Markt durchsetzen. Wie die Sozialdemokratie und der Leninismus, so verhedderte sich auch die akademische Ökonomie an der internen Logik der Marx’schen Wirtschaftstheorie. Das vererbte sich, um vorauszublicken, noch in die Philosophie: Werner Becker (1972) etwa warf Marx eine „methodische Irrationalität“ vor. Er definiere seine Grundbegriffe nicht, sondern verstecke in ihnen schon die ganze Theorie.47 Damit hat er die Marx’sche Darstellungsweise richtig benannt: Sie führt zunächst die Grundbegriffe ein, aus deren Zusammenhang sie nach und nach eine kohärente Theorie entwickelt. Die Bedeutung der Begriffe liegt in der Funktion, die diese Kategorien in der Theorie dann haben. Diese Darstellungsweise ist didaktisch sinnvoll: irgendwo muss eine Darstellung komplexer Zusammenhänge schließlich anheben. Doch erschließt sich nicht die Theorie aus den Begriffen, sondern die Bedeutung der Begriffe aus der Theorie – und diese orientiert sich an eben der Wirklichkeit, deren Berücksichtigung Becker hier einfordert. Ein zweiter Einwand Beckers, Marx habe seine Hypothesen nicht getestet, wiegt schwerer. Natürlich muss jede empirische Theorie getestet werden. Allerdings macht es keinen Sinn, diesen Test schon von den Grundbegriffen zu verlangen. Wie will man etwa den physikalischen Begriff der „Masse“ testen? Testen kann man einzig die aus einem formulierten Gesetz gezogenen Hypothesen über die Realität. Und über dem Studium eben dieser Realität hatte Marx in der British Library ganze Jahrzehnte zugebracht. Er hat seine ökonomischen „Hypothesen“ aus einer Fülle von Material und deren Vorverarbeitung gewonnen, und teilte die in Form gebrachten Ergebnisse mit.48 Becker pickt sich zwei von Marx’ Termini heraus und deutet sie mit dem deutschen DeduktionsmarxisTheorie der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und als Theorie der Einkommensverteilung“ (Hardach 1975, 48; Blaumol 1974; Zinn 1987, 76 ff.). „Die Arbeitswertlehre ist lange fälschlich als eine Theorie der Preisbildung interpretiert und dementsprechend kritisiert worden; denn – wie die klassischen Ökonomen, die Marx sehr gründlich studiert hat – gezeigt hatten, weichen die Preisrelationen von den Wertrelationen ab [...] Die Fehlinterpretation der Arbeitswertlehre als Preistheorie findet sich bereits bei Böhm-Bawerk“ und noch bei Samuelson. Vielmehr sei sie „Grundlage für die Kritik an den Rechtfertigungslehren der Einkommensverteilung im Kapitalismus [...], die aus dem Beitrag der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Sachkapital die Einkommensarten Lohn, Rente und Gewinn, die an die Eigentümer der Produktionsfaktoren fließen, moralisch rechtfertigen wollen“ (Kromphart 1991, 136). 47 Die Kategorien Tauschwert und Gebrauchswert seien nicht zu verstehen, da sie einander widersprächen (Becker 1974, 70 f.; 1972). Becker müsste seinen Vorwurf auch auf Aristoteles ausdehnen (Politik I 9, 1257a; Nicomachische Ethik V 8; Eudemische Ethik 1231a 39 ff.; Bress 1974). Dabei ist es ist simpel: Gebrauchswert ist der Wert einer Ware für mich, etwa als Sammler von Kronkorken, Tauschwert der, den sie für andere hat. Der Gebrauchswert von hohen Geldscheinen kann niedrig sein, wenn ich eilig vor einem Münzautomaten stehe. 48 „Marx ist nicht frei von Sozialkritik und Geschichtsspekulation, aber [...] diese [haben] nur insofern Bedeutung [...], als sie Ausdruck einer Theorie sind, die prinzipiell [...] verifizierbar sein muss“ (F. Jonas 1968 I, 217).

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mus fälschlich als philosophische Grundbegriffe. Wenn er schon in ihnen die Theorie vermutet, überträgt er nur das idealistische Missverständnis der „Wertformanalyse“ auf Marx (cf. 2.3.5, 2.5.7).49 Die berechtigte Forderung nach Überprüfung kommt bei Becker an einer unsinnigen Stelle: im ersten Kapitel eines dreibändigen Werkes. Er kann seinen Vorwurf nicht allzu ernst gemeint haben.50 Hier zeigt sich, dass Marxwiderlegungen sich oft nicht die Mühe machten, Marx zu lesen. Becker übernahm einfach eine Standardkritik der Neoklassik, die schon in dieser verfehlt war (siehe später Becker 1985, 124 ff.; 1996, 47 ff.). Aufgrund der Popularität dieser neoklassischen „Widerlegung“ von Marx ist näher auf sie einzugehen. Zu den umstrittensten Partien des Marx’schen Oeuvres zählt das erste Kapitel des Kapitals (MEW 23, 49-98). Nicht nur wurde die interne Logik dieses einführend gehaltenen Kapitels auf immer neue Weise verrätselt, sondern auch seine Stellung im Gesamtzusammenhang des Kapitals wurde selten beachtet.51 Dabei hatte Marx in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1857), die vom Marxismus-Leninismus zum Dogma erhoben worden war und auch in den im „Westlichen Marxismus“ so geschätzten Grundrissen abgedruckt war, den Schlüssel geliefert (vgl. ähnlich MEW 26 II, 161 ff.): „Es scheint das Richtige zu sein, mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist [cf. Solow 1970, CH]. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn, z.B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z.B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen und durch 49 Die Vorstellung, Marx leite seine Theorie aus einigen „Begriffen“ ab, taucht früh auf: „In der Hegelschen Philosophie gebildet, musste er alles unwissenschaftlich finden, was nicht aus einem einzigen Prinzip ‚logisch’ die besonderen Bestimmungen und Momente ableitete“ (P. Barth 1897, 631). Es gehe um die „Darstellung des allgemeinen Begriffs des Kapitals, die dialektische Entwicklung der zentralen Kategorien“ (Reichelt 1974, 40; cf. MEW 19, 364). 50 Beckers Forderung nach einem Testen der Grundbegriffe (1974, 63 f.) wird selbst den Naturwissenschaften nicht gerecht (2.1.1, 4.3). Es verrät ein reduziertes Theorieverständnis, einen „Methodenmonismus“ (Albrecht 1973, 13). 51 Auch nicht von der „neuen Marxlektüre“ der 1970er Jahre; vielleicht, weil sich die Kapital-Lektürekurse schon an diesen Einstiegspartien festbissen. Das erste Kapitel ist bei deutschen Marxisten bis heute umstritten (cf. Haug 1974): Entweder wurde es, wie von Engels bis Mandel, „historisch“ gelesen (dazu Kittsteiner 1977a; Rakowitz 2000, 27 ff.), oder ihm wurde in fichteanischer Manier eine logische Ordnung der „Ableitungen“ unterschoben, die die Adepten jedoch selbst nicht mehr verstanden (um dies dann dem symbolischen Übervater Marx in die Schuhe zu schieben – zur Wertformanalyse 2.3.5.). Es lässt sich allerdings überschlagen, ohne dem Buch einen Abbruch zu tun. Marx schrieb 1868 brieflich, „dass wenn in meinem Buch gar kein Kapitel über den ‚Wert’ stände, die Analyse der realen Verhältnisse [...] den Beweis [...] enthalten würde“ (MEW 32, 552; Korsch 1971, 74; Steinvorth 1977, 32).

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nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen. [...] Das letztre ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode. Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen“ (MEW 13, 631 f.).

Marxens Methode ist es also, explanatorisch „vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen“ (MEW 13, 632; cf. 2.1.1, Fn. 16). Nur von bestimmten abstrakten Kategorien her lassen sich theoretische Zusammenhänge herstellen, die die vorliegenden „chaotischen“ und teilweise widersprüchlichen Erscheinungen zu erklären vermögen. Diese Methode ist in der Wissenschaft keineswegs ungewöhnlich – nicht umsonst beruft sich Marx dafür auf die Physik (MEW 23, 12).52 Die Fassung dieser Kategorien baut auf der Vorarbeit vorangegangener Forschungen sowie auf langjährigen eigenen Studien auf (MEW 23, 27). Auch der „Wert“ ist offenbar eine grundlegende Kategorie, deren Herkunft und Charakter zunächst verstanden sein muss, bevor an eine Verkomplizierung der Analyse und ihre Annährung an die Wirklichkeit zu denken ist. Da alle weiteren Zusammenhänge sich am besten anhand der Grundmechanismen erklären lassen, stellt Marx diese zunächst isoliert und abstrakt vor, und zwar mit Bewusstsein. Marx macht den Leser darauf aufmerksam, dass er mit Vereinfachungen einsteigt (MEW 23, 109). Dies gilt für die in Band I und II gemachte Annahme, dass sich die Waren zu ihren Werten verkaufen ebenso wie für die Annahme einer bestimmten Geldware.53 Das Erklärungsziel von Marx ist aber nicht „der Wert“. Er will die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft verstehen. Die „alles beherrschende ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft“ ist das Kapital (MEW 13, 638). Folglich muss er zunächst die Wirkweise des „Kapitals“ begreifen, und zwar nicht von den Ausnahmen her, sondern von dem

52 Dass die Wissenschaft sich nicht notwendigerweise nach den Erscheinungen richten müsse, war seit Galileo und Newton klar, und wurde von Marx wie von Kant stark gemacht (MEW 23, 37, 335, 559, 662; MEW 25, 324, 825 u.ö.; cf. Hegel 1821, § 189 in 2.1.1, Fn. 15). Auch Althusser 1972, 107 f. legte auf diese Methode Wert. 53 Einfachheit scheint deutschem Denken ein Kriterium der Falschheit zu sein (Fn. 131). In den Zeiten der Mittelkürzung ist das Wissenschaftsideal nicht mehr leichte, sondern nunmehr schwere Verständlichkeit. Es scheint oft weniger darum zu gehen, Ergebnisse zu erzielen und zu verbreiten, sondern sich eines möglichst komplizierten Wissenschaftsidioms zu bemächtigen. Mögliche Motive dafür wären wissenschaftssoziologisch der etwa durch die Abhängigkeit von fachfremden Gutachter bedingte Versuch, Kompetenz zu suggerieren, sowie ideologiekritisch eine Furcht vor dem Ergebnis. Geisteswissenschaftliche Ergebnisse sind oft nicht nur erstaunlich einfach, sondern leider auch unpopulär – also kaum karrierefördernd. Inhaltlich aber kann Einfachheit kein Fehlerkriterium sein – im Gegenteil. Mit „Occams Razor“ stand theoretische Einfachheit sogar an der Wiege neuzeitlicher Rationalität.

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alltäglichen Normalfall. Was also ist Kapital? Es ist ein historisch spezifisches Produktionsmittel, das auf Geldbesitz beruht: „Die Verwandlung des Geldes in Kapital ist auf Grundlage dem Warenaustausch immanenter Gesetze zu entwickeln, so dass der Austausch von Äquivalenten als Ausgangspunkt gilt. [...] Die Kapitalbildung muss möglich sein, auch wenn der Warenpreis gleich dem Warenwert. Sie kann nicht aus der Abweichung der Warenpreise von den Warenwerten erklärt werden. Weichen die Preise von den Werten wirklich ab, so muss man sie erst auf die letzteren reduzieren, d.h. von diesem Umstande als einem zufälligen absehn, um das Phänomen der Kapitalbildung auf Grundlage des Warenaustauschs rein vor sich zu haben und in seiner Beobachtung nicht durch störende und dem eigentlichen Verlauf fremde Nebenumstände verwirrt zu werden“ (MEW 23, 180; Hvg. CH).

Die Bildung von Kapital und seine Funktionsweise sind also schon unter Voraussetzung nur der einfachsten Abstraktionen zu begreifen. Es handelt sich hier um die Einstiegskapitel eines Werkes von weit über 2000 Seiten. Auf dieser Grundlage können dann weitere Erscheinungen erklärt werden. Dass die vereinfachende Annahme, Werte verkauften sich zu ihren Preisen, durchaus nicht immer gegeben sein muss, macht Marx schon im ersten Band klar: „Die Möglichkeit quantitativer Inkongruenz zwischen Preis und Wertgröße, oder der Abweichung des Preises von der Wertgröße, liegt also in der Preisform selbst. Es ist dies kein Mangel dieser Form, sondern macht sie umgekehrt zur adäquaten Form einer Produktionsweise, worin sich die Regel nur als blindwirkendes Durchschnittsgesetz der Regellosigkeit durchsetzen kann“ (117).

Deutungen der Arbeitswerttheorie wie diejenige, man habe es mit einem ethischen Ideal zu tun, sind daher nur als Skurrilitäten zur Kenntnis zu nehmen.54 Die akademischen Kritiker haben nun Marx’ Aussagen aus dem dritten Band zum Anlass genommen, die Darstellungsweise im ersten Band in Frage zu stellen. Dort nämlich heißt es: „Bei der kapitalistischen Produktion handelt es sich [...] darum, [...] für das der Produktion vorgeschossne Kapital denselben Mehrwert oder Profit herauszuziehn wie jedes andre Kapital von derselben Größe, oder pro rata seiner Größe, in welchem Produktionszweig es auch angewandt sei; es handelt sich also darum, wenigstens als Minimum, die Waren zu Preisen zu verkaufen, die den Durchschnittsprofit liefern, d.h. zu Produktionspreisen“ (MEW 25, 205; vgl. 167).

Da der Produktionspreis sich errechnet aus den Kosten für fixes und variables Kapital plus Aufschlag eines Durchschnittsprofites, scheint die Voraussetzung in Frage zu stehen, dass Waren sich zu ihren Werten verkaufen (MEW 25, 184). Wäre dem so, dann würden sich bei gleich bleibender Mehrwertrate für verschie54 Kühne 1972, 111-118 erwähnt in seiner Liste bisheriger Deutungen der Arbeitswertlehre auch diese. Sie wurde 1900 von August Koppel, 1925 von A.D. Lindsay, 1926 von Rudolf Stammler, 1958 von Meek vertreten, und schließlich von ihm selbst: „Die Werte sind also nichts weiter als der Ausdruck einer hypothetisch ‚gerechten’ Verteilung des Mehrwerts auf alle arbeitenden Mitglieder der Gesellschaft“ (1972, 116).

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dene organische Zusammensetzungen des Kapitals in verschiedenen Industrien verschiedene Profitraten bilden, was jedoch, wie auch Marx weiß, „in der Wirklichkeit [...] nicht existiert“ (MEW 25, 162). Die Wertrechnung des ersten Bandes scheint somit unnötig oder falsch zu sein: „Es scheint also, dass die Werttheorie hier unvereinbar ist mit der wirklichen Bewegung, unvereinbar mit den tatsächlichen Erscheinungen der Produktion und dass daher überhaupt darauf verzichtet werden muss, die letztren zu begreifen“ (MEW 25, 162). Genau auf diesen „großen Widerspruch“ (Böhm-Bawerk) hat sich die ökonomische Marxwiderlegung gestützt.55 Hören wir zu diesem sog. „Transformationsproblem“ (gemeint ist die Transformation von Werten in Preise) etwa Samuelson, den Nestor US-amerikanischen Mainstreams: „Contemplate two alternative and discordant systems. Write down one. Now transform by taking an eraser and rubbing it out. Then fill in the other one. Voila!“ (Samuelson 1971, 400). Die Vorbehalte gegen Marx beriefen sich auf die Mathematik. Inhaltlich bedeuteten die Einwände allerdings keine Widerlegung von Marx, sondern eine Übersetzung in ein anderes Theoriemodell.56 Nur in diesem konnte die Wertrechnung nicht mit der „Preistheorie“ vermittelt werden. Bei Marx gab es diese Vermittlung sehr wohl – schließlich bestand die Absicht seiner ökonomischen Theorie darin, die Erscheinungen auf der „Oberfläche“ in ihrem Zusammenhang zu erklären. Marx wie die Vulgärökonomie sahen einhellig, dass die Geldform des Profits für den einzelnen Kapitalisten sich nicht nach dem von ihm erzeugten Mehrwert richtet, sondern nach der Größe des von ihm vorgeschossenen Kapitals. Die „Vulgärökonomie“ bleibt nun bei dieser Beobachtung stehen,57 während Marx für dieses Phänomen eine Erklärung anbietet: Der Grund für diesen Ausgleich ist die Konkurrenz zwischen den Industrien.58 Dies ist kein Gegensatz zu der in Band 1 abstrakt eingeführten Arbeits55 Zur Debatte um das „Transformationsproblem“ vgl. Eberle 1973 und Nutzinger 1974 (hier zentrale Texte wie Böhm-Bawerk 1896 und Bortkiewicz 1906) und King 1990 II (zentrale englische Texte), sowie Sweezy 1942, 134-158; Kühne 1972, 154-169; Meek 1973, 193-212; Hardach 1975, 47-51; Shaikh 1977, 1981, 1984 und 1998, Zinn 1986, 76-86; Mandel 1991, 212-222; Howard 1992, 227-310; Hunt 1993, 163-168. 56 Der preussische Statistiker von Bortkiewicz (1906) bemängelte, dass die Transformation nur von Werten in Preise, nicht aber umgekehrt von den Preisen in Werte eingegangen sei, wodurch die Marx’schen Tabellen (MEW 25, 166) unvollständig seien. Dieses Problem hat verschiedene Bearbeitungen gefunden (cf. Fn. 69; vgl. zu Samuelson besonders Mattick 1974, 279 ff., insgesamt besonders Shaikh 1981 und 1984). 57 „Es ist klar, dass der Durchschnittsprofit nichts sein kann als die Gesamtmasse des Mehrwerts, verteilt auf die Kapitalmassen in jeder Produktionssphäre nach Verhältnis ihrer Größen“ (MEW 25, 183). Die Vulgärökonomie nannte den vom Einzelkapitalisten beobachteten Profit auf sein vorgestrecktes Kapital „Kapitalzins“, ohne sagen zu können, woher er kam. Die Aussage, der „Kapitalzins“ sei ein Lohn für das Warten oder für den mit dem Sparen einhergehenden „Konsumverzicht“, ist keine Erklärung, sondern ein Legitimierungsversuch. Auf ihre logische Form gebracht, sagt sie: es verhält sich, wie es sich verhält, und das ist gut so. 58 „Das Kapital entzieht sich aber einer Sphäre mit niedriger Profitrate und wirft sich auf die andre, die höheren Profit abwirft. Durch diese beständige Aus- und Ein-

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wertlehre (MEW 23, 52 ff.), wenn die Eigenheiten des Marx’schen Paradigmas berücksichtigt werden. Es ist die eigentlich tautologische, aber im Vergleich zur Neoklassik grundstürzende Einsicht, dass nur die Produktion produktiv ist, dass also der Mehrwert, bevor er verteilt werden kann, zunächst einmal vorhanden sein muss: „Werden die Waren nicht zu ihren Werten verkauft, so bleibt die Summe der umgesetzten Werte unverändert; was auf der einen Seite plus, ist auf der andern minus“ (MEW 24, 131).59 Da der Tausch ein Akt der Verteilung und nicht der Wertschöpfung ist – das ist bei Lichte besehen kaum anders denkbar –, ist es nur konsequent, wenn Marx daraus die Gleichheit der Summen von Wert und Preis bzw. Mehrwert und Profit folgert. Demnach „ist in der Gesellschaft [...] – die Totalität aller Produktionszweige betrachtet – die Summe der Produktionspreise der produzierten Waren gleich der Summe ihrer Werte“ (MEW 25, 169; vgl. 176, 183). Die in Band 1 abstrakt vorgestellten Gesetze gelten im Maßstab der „Totalität“. Sie sind keine Beschreibungen; sondern die spezifische Form eines Gesetzes: „Es ist überhaupt bei der ganzen kapitalistischen Produktion immer nur in einer sehr verwickelten und annähernden Weise, als nie festzustellender Durchschnitt ewiger Schwankungen, dass sich das allgemeine Gesetz als die beherrschende Tendenz durchsetzt“ (MEW 25, 171; vgl. MEW 23, 117).

Das Wertgesetz gilt auch hier – oder besser gesagt: nur hier und nur so: „In welcher Weise immer die Preise der verschiednen Waren zuerst gegeneinander festgesetzt oder geregelt sein mögen, das Wertgesetz beherrscht ihre Bewegung. Wo die zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit fällt, fallen die Preise; wo sie steigt, steigen die Preise, bei sonst gleichbleibenden Umständen. [...] Die Annahme, dass die Waren der verschiednen Produktionssphären sich zu ihren Werten verkaufen, bedeutet natürlich nur [!], dass ihr Wert der Gravitationspunkt ist, um den ihre Preise sich drehn und zu dem ihre beständigen Hebungen und Senkungen sich ausgleichen“ (MEW 25, 186 f.).

wandrung, mit einem Wort, durch seine Verteilung zwischen den verschiednen Sphären, je nachdem dort die Profitrate sinkt, hier steigt, bewirkt es solches Verhältnis der Zufuhr zur Nachfrage, dass der Durchschnittsprofit in den verschiednen Produktionssphären derselbe wird und daher die Werte sich in Produktionspreise verwandeln“ (MEW 25, 206; cf. Mandel 1991, 209). 59 The „same mass of commodities (and hence the same amount of value) exists after the sale as before. Different price relations will therefore give rise to different distributions of the total commodity-product, and of the total sum of values, but they cannot by themselves change these totals“ (Shaikh 1977, 115). Klar ist, „dass, wenn eine Ware über oder unter ihrem Wert verkauft wird, nur eine andre Verteilung des Mehrwerts stattfindet, und dass diese verschiedne Verteilung, das veränderte Verhältnis, worin verschiedne Personen sich in den Mehrwert teilen, weder an der Größe noch an der Natur des Mehrwerts irgend etwas ändert“ (MEW 25, 53); „dass, was in der einen Ware zuviel, in der andren zuwenig für Mehrwert eingeht, und dass daher auch die Abweichungen vom Wert, die in den Produktionspreisen der Waren stecken, sich gegeneinander aufheben“ (171).

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Die akademische Marxkritik missversteht diesen Gesetzescharakter. Sie legt sich auf die Wahrnehmung dieses Phänomens bei den Einzelkapitalisten (die „Teilnehmerperspektive“) als Explanans fest. Die Perspektiven der Individuen addieren sich für Marx jedoch nicht bruchlos zu der der Gesellschaft auf, da diese ein Gegenstand sui generis ist. Die Arbeitswertlehre ist aus einer gesellschaftlichen Perspektive her formuliert, nicht aus der des Einzelnen (MEW 23, 98; cf. Brentel 1989; 2.1.5). Zur Erlangung der gesellschaftlichen Perspektive bedarf es allererst der Wissenschaft – und diese ist durchaus kein „view from nowhere“ (MEW 25, 825; MEW 31, 312). Die Marx’sche Theorie thematisiert explizit die perspektivische Täuschung, die „Nichtidentität“ zwischen Teil und Ganzem – traditionell, aber leicht missverstehbar wurde das „Dialektik“ genannt: „Der wirkliche Größenunterschied zwischen Profit und Mehrwert – nicht nur zwischen Profitrate und Mehrwertsrate – in den besondren Produktionssphären versteckt nun völlig die wahre Natur und den Ursprung des Profits, nicht nur für den Kapitalisten, der hier ein besondres Interesse hat, sich zu täuschen, sondern auch für den Arbeiter [und die Ökonomen, CH]. Mit der Verwandlung der Werte in Produktionspreise wird die Grundlage der Wertbestimmung selbst dem Auge entrückt“ (MEW 25, 177 f.).

Die akademische Marxkritik wird geführt aus dem Blickwinkel des Einzelnen gegenüber einer gesellschaftlichen Perspektive, die ihm unverständlich bleibt.60 Der einzelne Kapitalist sieht nur die scheinbar von außen kommende Größe des Durchschnittsprofits, die in etwa, und sofern alles gut geht, proportional auf sein vorgestrecktes Kapital kommt. Die „Vulgärökonomie“ folgt ihm darin.61 Bewegungen der Größe dieses Durchschnittsprofits selbst, seine Faktoren und Auswirkungen seiner Schwankungen wie die Wirtschaftszyklen oder Krisen bleiben außerhalb der Reichweite eines solchen Ansatzes. Die neoklassische Marxkritik reduziert sich auf den Vorwurf, dass Marx kein Neoklassiker war.

60 Gemeint ist nicht eine Kritik des Einzelnen an „der Gesellschaft“ wie bei der Gesellschaftskritik der 1960er Jahre (Helms 1969), sondern eine Kritik an Aussagen, die aus einer anderen als der individualistischen Perspektive heraus gewonnen werden. Das neoklassische Paradigma und seine Folgewissenschaften arbeiten mit aggregierten, d.h. homogenisiert aufaddierten Einzelperspektiven (zum „social choice“ 3.2.1). 61 „Wenn bei der bloßen Verwandlung von Mehrwert in Profit der Wertteil der Waren, der den Profit bildet, dem andren Wertteil gegenübertritt als dem Kostpreis der Ware, so dass hier schon der Begriff des Werts dem Kapitalisten abhanden kommt, weil er nicht die Gesamtarbeit vor sich hat, die die Produktion der Ware kostet, sondern nur den Teil der Gesamtarbeit, den er in der Form von Produktionsmitteln, lebendigen oder toten, bezahlt hat, und ihm so der Profit als etwas außerhalb des immanenten Werts der Ware Stehendes erscheint – so wird jetzt diese Vorstellung vollständig bestätigt, befestigt, verknöchert, indem der zum Kostpreis zugeschlagne Profit in der Tat, wenn man die besondre Produktionssphäre betrachtet, nicht durch die Grenzen der in ihr selbst vorgehenden Wertbildung bestimmt, sondern ganz äußerlich dagegen festgesetzt ist“ (MEW 25, 178).

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Dabei hat Marx die guten Seiten der Neoklassik durchaus inkorporiert.62 Das Streben nach „Totalität“ und die Berücksichtigung der „Dialektik“ der Perspektiven ist nun nicht als Anzeichen einer Abhängigkeit von Hegel zu verstehen (2.5.7), sondern als ein Wink, wie der Zusammenhang der verschiedenen Kategorien zu verstehen sei: Trotz ihrer „Nichtidentität“ sind sie aufeinander bezogen, sie sind nicht ohne einander zu verstehen. Dies gilt für Begriffspaare wie Ware und Geld, Produktion und Tausch, Gesetz und Erscheinung, Normalität und Krise gleichermaßen. Gegenüber der akademischen Nationalökonomie, welche verschiedene Phänomene isoliert betrachtet, zeigt diese Hegelnähe den Unterschied an.63 Die wenig mysteriöse Dialektik von Marx besteht nur darin, dass Zusammenhänge aufgespürt und, falls sich welche finden lassen, entsprechend dargestellt werden. Die Angemessenheit dieser „dialektischen Methode“ lässt sich nicht anhand der Überzeugungskraft des begrifflichen Instrumentariums (der „Kategorien“ und ihrer „Ableitungen“), sondern nur anhand der explanativen Kraft der Ergebnisse beurteilen.64 Doch da die akademische Marxkritik sich nicht auf die Ergebnisse, sondern auf die Voraussetzungen der Marx’schen Ökonomie konzentrierte, ist theorieimmanent kaum einzusehen, warum sie hätte erfolgreich sein sollen.65 Im Gegenteil hat die akademische Ökonomie, soweit sie sich vom starren Modelldenken ihrer neoklassischen Väter befreien konnte, Marx eine Menge zu verdanken: die moderne Wachstums-, und Konjunkturtheorie wäre ohne Marx kaum denkbar gewesen, und Phänomene wie Arbeitslosigkeit, Absatz- oder Finanzkrisen stünden noch immer außerhalb des Modells.

2.3.3 Übernahme der Neoklassik durch Marxisten Um die Durchschlagskraft der argumentativ eher dünnen neoklassischen Marxkritik in der weiteren Entwicklung der Ökonomie zu verstehen, muss nicht gleich wie im Leninismus der „ideologische Klassenkampf“ bemüht werden. Es gibt näherliegende Gründe. Zunächst ist da der fragmentarische Charakter der Marx’schen ökonomischen Theorie: Sie liegt nur in ihren Grundzügen vor; von den Plänen, die Marx einst hatte, konnte er nur die wenigsten druckreif ausführen. Marx glaubte zwar, dass Spätere auf seinen Fundamenten leicht würden weiterarbeiten können,66 doch hat die akademische Ökonomie Marx weitgehend ig62 Nur gab er sich damit nicht zufrieden. So ist der „Gebrauchswert“ dem Konzept des „Nutzens“ vergleichbar. Jedoch ließ sich für Marx darauf keine ökonomische Theorie gründen; besonders keine des modernen Kapitalismus, dem es nicht um die Befriedung von Bedürfnissen durch Gebrauchswerte, sondern um die Aneignung von Profit geht (anders Schulze 2003). 63 Erklären kann sie ihn nicht; denn Hegel war kein Ökonom (anders Lukacs 1938). 64 Die Voraussetzungen werden im Laufe der Darstellung als Resultate deutlich (MEW 23, 198; MEW 25, 827, 879; MEW 42, 397; Bubner 1972, 84). 65 Zur akademischen Marxkritik Thier 1955, Mohl 1967, Kühne 1972, 1974, Bress 1975. Unveränderte Kritiken äußern Burchardt 1997, Warnke 1998, Nutzinger 1998. 66 Marx glauben, „die Entwicklung des Folgenden [...] würde auch von andern auf

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noriert, und auch die marxistische Ökonomie, die ohnehin nur in akademischen Nischen gepflegt wird, hat nur spärliche Fortschritte gemacht (Howard 1989, 1992). Die kurze Unterbrechung nach 1968, als die marxistische Ökonomie eine Zeitlang zur Theoriemode wurde, war nicht beständig genug, um zu dauerhaften Ergebnissen zu kommen.67 Auch kam die Einmischung politischer Organe der Kommunisten sowie die uneindeutige Haltung der Westmarxisten gegenüber dem sozialistischen Ostblock erschwerend hinzu. Bekannten Marxisten Sympathien zum Ostblock, schienen sich ihre ökonomischen Theorien, angesichts der maroden Situation dort, von selbst zu erledigen.68 All dies hat es erleichtert, dass die akademische Marxkritik eher an den Voraussetzungen als an den Ergebnissen der marxistischen Ökonomie ansetzte. Allerdings sind dies eher äußerliche Gründe. Eine philosophische Analyse ist dagegen gehalten, theorieinterne Gründe aufzuspüren. Die wichtigsten Beiträge zur marxistischen Ökonomie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen von angelsächsischen Autoren. Ihrer Bedeutung verlief die Missachtung durch deutsche Autoren umgekehrt proportional.69 Die Marxrezeption war hier vor allem durch die Ausbildung in dem hegemoniell neoklassischen Umfeld geprägt. Die Auseinandersetzung um den „Wert“ hatte in der Neoklassik eher illustrativen Charakter: sie begründete nicht die Ablehnung der Marx’schen Ökonomie, sondern gab dieser anhand eines sensiblen Reizthemas offen Ausdruck. Die Marxkritik konnte in der Transformation keine Fehler nachweisen.70 Grundlage des Gelieferten leicht auszuführen sein“ (MEW 30, 639). Zu den ursprünglichen Aufbauplänen des Kapitals vgl. Rosdolsky 1969, Mandel 1971, Schwarz 1978, Rojas 1989, Heinrich 2001, 179-195 sowie Shaikh 1988. 67 Im Einstieg zu solchen Texten findet sich meist ein Bescheidenheitsritus: man stehe noch ganz am Anfang und die vorliegende Schrift wolle nur einen Beitrag zur Grundlegung der bevorstehenden Ausarbeitung leisten (oder ähnlich). 68 Marx’ Theorie ist „erklärtermaßen antikapitalistisch und will den Kapitalismus, indem sie ihn zu verstehen trachtet, bekämpfen und überwinden. Darauf ist es wahrscheinlich zurückzuführen, dass die nichtsozialistische ökonomische Theorie seit Marx und insbesondere die neoklassischen Schulen [...] so wenig von Marx gelernt haben“ (C.C.v. Weizsäcker 1962, 78 f.; siehe Kühne 1972 und 1974, Zinn 1987). 69 „Die Lehre vom Marx wurde im deutschsprachigen Raum äußerst negativ rezipiert“ (Blum 2000, 65). Erst in den 1970er Jahren wurden wichtige Werke übersetzt und breiter rezipiert. Auch wo angelsächsische Literatur rezipiert wurde (etwa im Umfeld der Prokla), verlief die Rezeption oft etwas vorschnell und daher unkritisch. Noch der Versuch von Bensch 1995, beide Traditionen zusammenzuführen, zeigt die Spur der Rezeptionsbarrieren: Er zitiert wahllos angelsächsische Autoren, um unhinterfragte deutsche Theoreme zu unterfüttern. 70 So jedoch Sweezy 1942, 140; Heinrich 2001, 270. Der Fehler bestand darin, dass Marx in seiner Transformationstabelle (MEW 25, 166) nur die Outputs von Werten in Preise umrechnete, nicht aber die Inputs. Diese Rückkopplung ist mathematisch allerdings kein Problem (siehe die „iterative Methode“ von Shaikh 1977), er ändert an der Sachaussage nichts. Das Problem liegt nicht auf mathematischer, sondern auf begrifflicher Ebene. Theoretisch handelt es sich bei den Inputdaten um Preise des Vorjahrs. Diese sind bereits Durchschnittsdaten und stehen im Laufe der Produktion fest (Mandel 1991, 123). Der relevante Unterschied zwischen Wert und Preis ist nicht de-

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Sie zeigte nur, dass die Wertrechnung in der Preistheorie, der Hauptfragestellung der Neoklassik, einen „Umweg“ darstellte (Joan Robinson), deren Notwendigkeit innerhalb dieses Paradigmas nicht einleuchtete.71 Die Hegemonie eines Paradigmas dominiert also auch über die Fragestellungen. Dass mit dem Erweis der Unnötigkeit der Werttheorie für die Ermittlung von Marktpreisen über die Werttheorie selbst noch gar nichts ausgesagt war, ging unter. Spätestens die Wissenschaftstheorien von Kuhn (1962) und Foucault (1969) haben vor Augen geführt, wie persistent und immun herrschende Paradigmen oder Diskurse sein können; und zwar bis hinunter in das Verständnis der Grundbegriffe. Es erscheint aus dieser Perspektive als möglich, dass neoklassische Grundannahmen auch dann implizit vertreten werden, wenn ein Autor sich selbst nicht als Neoklassiker versteht – einfach deswegen, weil die von Jugend an aufgenommene, für selbstverständlich und neutral gehaltene Begrifflichkeit bereits hochgradig theoriegeladen ist. In Frage stehen solche Phänomene, nicht ein überzeugtes „Überlaufen“ von Marxisten zu einer anderen Basistheorie.72 Solch unerkannte Übernahmen zumeist neoklassischer Grundannahmen sind wirkungsgeschichtlich von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Die neoklassische Kritik an Marx’ Werttheorie muss für einige marxistische Autoren so überzeugend gewesen sein, dass sie bewusst auf die Arbeitswertlehre verzichteten – prominente und frühe Beispiele sind die Ökonomen Emil Lederer und Oskar Lange.73 Da ohne Arbeitswerttheorie kein Marx’sches Thema mehr begründbar ist, mussten von diesen Autoren in immer neuen Ansätzen andere theoretische Grundlagen unterschoben werden; so im Falle des analytischen Marxismus, der sich mit den Methoden des rational choice um eine alternative Theorie der Ausbeutung bemühte,74 oder in den „Rekonstruktionen“ der Marx’schen Geldtheorie aus dem Arseren jeweiliges Zahlenverhältnis, sondern das stärkere Schanken der Preise. Durchschnittspreise des Vorjahres werden sowohl praktisch (vom Unternehmer) wie auch theoretisch (im Beispiel von Marx) als feststehend betrachtet; das „Transformationsproblem“ stellt sich bei den Inputs weniger dringend (MEW 25, 174; zur Inderdependenz von Werten und Preisen Hunt 1994, 168 ff.). Nach Shaikh 1981 treten bei den Marxkritikern mathematische Modellrechungen oft an die Stelle der theoretischen Fragen (zu Samuelson Kühne 1974, 477 f.; zu Böhm-Bawerk Kühne 1972, 84 ff). 71 In dieser Kritik kulminieren die klassischen Arbeiten von Böhm-Bawerk 1896, Bortkiewicz 1906, Robinson 1942 und Steedman 1977 (vgl. Eberle 1973, Nutzinger 1974, Burchardt 1997). Zur Kritik speziell an Robinson vgl. Rosdolsky 1969, 626-652; zu Steedman und den Neoricardianern besonders Shaikh 1984. 72 Dieses Phänomen gibt es auch – neben Liebknecht 1922 denke man an einstmals marxistische Lehrstuhlinhaber. 73 Vgl. Lederer 1931a, Lange 1935, 1963, Robinson 1942, Steedman 1977. Sie waren keine Marxisten, rechneten sich aber dem linken Spektrum zu. Auch die „monetäre Werttheorie“ verabschiedet die Arbeitswertlehre – vage „monetaristische“ Reformulierungen werden mit dem Verweis legitimiert, jede „prämonetäre“ Werttheorie, auch die Marx’sche, sei „substantialistisch“ (Heinrich 2001, 279, cf. Fn. 35; auch 2.3.5). 74 So gab es Versuche, die Marx’sche „Ausbeutung“ (welche den Anteil der Mehrarbeit an der Gesamtarbeit bezeichnet – nach der Notation in 2.1.5: L – v = s, s/v = Ausbeutungsrate) ohne Wertbegriffe zu „rekonstruieren“, so bei Samuelson 1971, Hodgson

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nal des deutschen Spätidealismus (Georg Simmel, Alfred Ammon und Bruno Liebrucks, cf. 2.3.5). Diese Verwehungen in der theoretischen Landschaft haben mit politischer Ökonomie nur noch entfernt zu tun.75 Deutlich wird der Einfluss der Neoklassik bei der Behandlung der Profitrate seitens marxistischer Ökonomen. Zwar hatte Marx damit keine „Zusammenbruchstheorie“ verknüpft, doch hatte er ihm in seiner Theorie eine deutliche Prominenz zuerkannt: es sei „das wichtigste Gesetz der politischen Ökonomie“ (MEW 42, 641), um das „sich die ganze politische Ökonomie seit Adam Smith“ gedreht habe (MEW 25, 223; cf. 2.1.6). Nun macht es in einer Theoriefamilie, die die Kategorie des „Profites“ gar nicht kennt, kaum Sinn, von einem „tendenziellen Fall der Profitrate“ zu reden – zumal wenn die Faktoren, aus denen diese Tendenz hervorgeht, in Wertausdrücken bezeichnet werden.76 Doch wenn Marxisten ihn fallen lassen, bedarf dies einer Erklärung. Hier ist nicht erneut dieses Gesetz, sondern nur seine Behandlung bei den Marxisten zu diskutieren, um darin den Einfluss der Neoklassik auch auf den Marxismus freizulegen. Schon Bernstein und Kautsky stritten über diesen Punkt. Bernstein ignorierte es; Kautsky versuchte es zu behaupten, indem er darauf verwies, dass die Profitmasse ungehindert wachsen könne, solange nur die Akkumulation schneller wachse, als die Profitrate falle. Mit der impliziten Annahme, dass dies tatsächlich jederzeit der Fall sei, kappte Kautsky jedoch die Verbindung vom Fall der Profitrate zur Krisentheorie, welche sich nun andere Grundlegungen suchen musste; etwa die „Überproduktion“, die Disproportionalität oder die Unterkonsumtion. Fortan war dieses Gesetz nur ein untergeordnetes Beiwerk, welches man behaupten konnte oder auch nicht.77 Bernstein und Kautsky hatten allerdings gemeinsam, dass sie die Ebene der „abstrakten Theorie“ mit den realen Erscheinungen kurzschlossen: Bernstein deutete einige Beobachtungen als Widerlegung 1980, Cohen 1981, Roemer 1981 und 1982, Parijs 1995 oder Heinrich 2001, 275 (dazu kritisch Hunt 1986; Steinvorth 1999, 175 f.). Es kommt zu solchen Assoziationen wie der, dass die Arbeiter die Kapitalisten „ausbeuten“, wenn die Löhne „zu hoch“ seien (ein „wage-squeeze“, s.u., Fn. 81). 75 Backhaus 1997, 11 geht es um philosophische Marxdeutungen. Seine Rekonstruktionsversuche stützen die klassischen Soziologen und damit die Neoklassik (2002, 117; Reichelt 2002, 150; 2.4.4). Solche Spekulationen bewegen sich „in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen“ (Liebrucks 1966). 76 Zwar kennt auch die Neoklassik einen „Gewinn“, doch wird über ihn nur tautologisch ausgesagt, dass er der Rest ist, der sich ergibt, wenn der Unternehmer seine Kosten von seinem Umsatz abzieht. Wo er herkommt, was ihn von anderen „Einkommen“ (Lohn, Rente und Zins) unterscheidet, erfährt man nicht. Keynes’ fallende „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“ (1936, 135) entspricht Marx’ fallender Profitrate, ist aber inhaltlich eine black box. nach Schumpeter 1911 gibt es gar keinen Profit – der Unternehmer macht nur dann einen „Gewinn“, wenn er außerplanmäßig eine technische Innovation einführt (ähnlich Kalecki 1954). 77 Erst Grossmann 1929 legte wieder einen Schwerpunkt auf dieses Gesetz, doch erlangte sein Buch nur wenig Beachtung. Mit Ausnahme von Paul Mattick, der lange mit Grossmann korrespondierte, und Walter Benjamin, der sich von ihm in Ökonomie unterweisen ließ, hatte Grossmann kaum Einfluss auf den Marxismus.

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des allgemeinen Gesetzes, Kautsky interpretierte das Gesetz deterministisch und musste nun Erscheinungen, die dem nicht unmittelbar gerecht wurden, rhetorisch glätten (siehe 2.1.2 und 2.1.4).78 Auch angelsächsische Marxisten haben dieses Gesetz als Beschreibung empirischer Zustände gedeutet: Maurice Dobb etwa meinte, es habe zwar im „goldenen Zeitalter des Konkurrenzkapitalismus“ (1937, 123) noch nicht gegolten, gelte aber im gegenwärtigen Zeitalter des Monopolkapitalismus.79 Sein Schüler Joseph Gillman (1958) war der umgekehrten Ansicht, dass es zwar zu Marxens’ Zeiten gegolten habe, aber „heute nicht mehr“ gelte.80 Eine bemerkenswerte binnenmarxistische Inkonsistenz. Gillman meint, von einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und damit mit einer tendenziell fallenden Profitrate könne in den USA seit 1919 keine Rede mehr sein; Dobb meint, wenn es wie heute eine steigende organische Zusammensetzung gebe, dann liege das an zu hohen Löhnen, die die Unternehmer erst zu arbeitssparenden Maßnahmen zwängen. Diese „Profit-Squeeze“-Interpretation war eine der fortan dominanten (2.1.6, Fn. 136). Ihre Voraussetzungen zeigen sich in den Resultaten erneut. Zunächst macht das für die Neoklassik charakteristische Absehen von den Bewegungen der Profitrate die Löhne zum allein ausschlaggebenden Faktor. So bestimmt nur noch der „Lohnanteil“ die Größe des „profit share“. Schon die Beobachtung, dass Löhne und Profite auch gemeinsam steigen oder sinken können, zeigt recht deutlich, dass diese Bewegungen eine gemeinsame Ursache haben. Eine solche wird allerdings im „Profit-Squeeze“-Ansatz nicht betrachtet; es ist eine rein zirkulationistische Theorie (Wright 1977, 216 f.). Der neoklassische Einfluss zeigt sich deutlich: von Zusammenbruchsphantasien abgesehen kann die politische Konsequenz nur sein, die Löhne möglichst niedrig zu halten. Das aber ist ein unmittelbar prokapitalistischer Standpunkt, was zumindest für Marxisten jener Zeit doch etwas ungewöhnlich ist.81 78 „In Bernstein’s hands, the variations possible within a law are transformed into a law of unlimited variation: hence his ultimate version of capitalism without limits. In Kautsky’s hands, the law which emerges out of variations is transformed into a law which brooks no variation: hence his notion of the inevitable and imminent collapse of capitalism. In the end, both forms are driven by the same objective contradiction“ (Shaikh 1988, Ch. 3, 20), nämlich der fehlenden Vermittlung von allgemeinem Gesetz und Erscheinung (Shaikh a.a.O., 23 f.). 79 Die organische Zusammensetzung steige nach Dobb erst mit dem Beginn des Monopolkapitalismus (hierzu kritisch Shaikh 1978a). 80 „Marx was right for the period of competitive capitalism, but wrong for the period of monopoly capitalism“ (Gillman 1958, VII). Als Grund werden steigende „capitalsaving investments“ angegeben (cf. Rolshausen 1970). 81 Klassische Vertreter nach Dobb 1937 waren Glyn 1972, Himmelweit 1974, Boddy 1975, Bowles 1983, sowie die Kommentare zu Shaikh 1978b, etwa bei Armstrong/Glyn und Steedman (in: Cambridge Journal of Economics, 1980/4, vgl. bereits Fn. 136 in 2.1.6). In Deutschland vertraten sie Habermas 1960, 225, Holländer 1974, Stammatis 1977. Heinrich meint, die Profitrate falle nur, falls „die Reallohnsteigerungen sehr hoch ausfallen“ (2001, 340, auch 274).

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Eine weitere Voraussetzung für diesen Standpunkt ist die Annahme eines „Harrod-neutralen“ technischen Fortschritts.82 Ob es diesen gibt, ist eine Frage, deren Beantwortung abhängig von empirischen Daten ist, und diese sind wiederum abhängig von ihrer konzeptionellen Erfassung. Den Zahlen steht ihre ökonomische Bedeutung keineswegs an der Stirn geschrieben. Wird nicht beachtet, dass sich aufgrund der verschiedenen Theorien bereits die neoklassischen und Marx’schen Begriffe unterscheiden, kommen auch Marxisten leicht in neoklassisches Fahrwasser (Gumbel 1928). Die Profit-Squeeze-Theoretiker etwa haben als Beleg für ihre These, eine Krise werde durch eine „zu niedrige“ Ausbeutungsrate (m/v) ausgelöst, diese Rate direkt mit dem Verhältnis von beobachtbaren Gewinnen zu Löhnen gleichgesetzt (p’/w). Hierfür benutzen sie konventionelle Statistiken, die nach den neoklassischen Theorien erstellt wurden. Allerdings geben die offiziellen Zahlen eben nicht den Marx’schen „Mehrwert“ an, sondern den Gewinn des einzelnen Unternehmers, der nach den vielen Abzügen übrig bleibt (p’). Sie nehmen irrtümlich die in Geld ausgedrückte Quote von Geschäftsgewinn („net corporate income“) zum Lohn (p’/w) als direkten Ausdruck der Arbeitswertquote Mehrwert („gross profit on sales“) zum variablen Kapital (m/v).83 Damit erscheint die Ausbeutungsrate viel kleiner als sie ist, und der Lohnanteil folglich viel größer – alles nur durch eine falsche Übersetzung der Kategorie „Mehrwert“ in die Empirie.84 Eine ähnliche Nachlässigkeit findet sich in der Nichtunterscheidung von Kapitalbestand („stock“) und Kapitalfluss („flow“): natürlich erscheint die Profitrate viel größer, wenn man bei ihrer Berechnung das konstante Kapital, das für Marx den Hauptausschlag für die fallende Profitrate gab, schlicht weglässt.85 Doch es 82 Nach Harrod 1948 sind die technischen Neuerungen zugleich arbeits- und kapitalsparend (Rose 1991, 154 ff.), so dass der technische Fortschritt keinen Trend in der Verteilung des Einkommens mit sich bringt (oder, was dasselbe bedeutet, in der organischen Zusammensetzung und in der Kapital-Output-Rate). Dies ist Marx’ These von der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals entgegengesetzt. 83 Zu den Bezeichnungen Shaikh 1978, 238 f. Für ihn besteht der Fehler dieser Marxisten in “identifying the observed profit/wage-ratio with the rate of exploitation” (237). 84 Wenn es also ein „Transformationsproblem“ gibt, dann liegt es in der Benutzung konventioneller Statistiken für eine „marxistische“ Analyse. Erneut werden Kategorien, die aus der Perspektive des Einzelkapitalisten stammen (der erzielte „Gewinn“), bruchlos auf die gesellschaftliche Ebene hochgerechnet (der erzeugte „Mehrwert“). Bei Marx werden aus dem Mehrwert noch die unproduktiven Industrien (Dienstleistungen wie Handel, Banken und Verkehr) und sonstige Abgaben (Steuern, Versicherungen etc.) bezahlt. Zudem werden Re-Investitionen davon abgesetzt. Daher ist der Mehrwert deutlich größer als der Reingewinn. 85 Okishio 1961 berücksichtigt nicht das fixe Kapital, sondern nur die laufenden Kosten (sein Schüler Nakatani 1980, 65 meint: „he abstracts from fixed capital“. Er zitiert einen japanischen Artikel von Okishio, der mit den Worten beginnt: „if we abstract from fixed capital“). Nach Shaikh 1978a, 50 misst er damit nicht die Profitrate, sondern einen „profit-margin on cost-price“ (cf. MEW 25, 237 f.). Dieser ist natürlich immer höher als bei der alten Technik, weil die neue sonst nicht eingeführt würde. Okishio schließt daraus, dass daher auch die Profitrate nicht fallen könne. Okishio

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ist nicht nur die Erfassung der Zahlen, sondern auch ihre Auswertung, in welcher bereits neoklassische Theoreme versteckt sind. Eine als marxistisch geltende Erklärung dafür, dass die Profitrate nicht fallen könne, war die Debatte um die Auswirkungen der technischen Neuerungen im Anschluss an Okishio (1961; cf. 2.1.6, Fn. 138). Dieser ging davon aus, dass die Kapitalisten nur die technischen Neuerungen einführen würden, die ihre eigene Profitrate heben würden – das sog. „Optimalitätskriterium“. Wird diese Motivation unterstellt und auf das gesellschaftliche „Aggregat“ umgelegt, so ergibt sich, dass eine neue Technologie die Profitrate nur heben kann. Fällt diese dennoch, können nur entweder zu hohe Löhne daran schuld sein (daher die Nähe zur „Profit-Squeeze“-Theorie) oder das Ausland, welches die Preise verdürbe (so Brenner 1998). Die Plausibilität dieses Modells hängt allerdings an Vorannahmen, welche innerhalb des Marx’schen Paradigmas keinen Sinn ergeben. Allen voran ist dies die passive Rolle der Unternehmen als „Preisnehmer“ in der neoklassischen „vollständigen Konkurrenz“ (perfect competition).86 Die Harmonisierung des Wettbewerbs in dieser Vorstellung führt dazu, dass so entscheidende Neuerungen wie die Einführung der Dampfmaschine oder der industriellen Massenproduktion nicht mehr verstehbar („rational“) sind. entgeht so der eigentliche Witz von Marx: eine neue Technik kann diese Marge steigern und zugleich die Rate sinken lassen. Aus der Formel m / c + v wird diesmal nicht m, sondern c falsch „transformiert“. In der konventionellen Ökonomie begegnet dies als das Konzept der „versunkenen Kosten“ (Blum 2000, 98, 143, 480): die Investition des ersten Jahres wirkt sich zwar auf die Profitrate, nicht aber auf die Marge des Folgejahre aus. 86 Sweezy 1966, 53; Sichel 1974, 158 und in Eatwell 1987 die Artikel „Monopolistic competition and general equilibrium“; „Perfectly and imperfectly competitive markets“. Die Formel „bei gegebenen Preisen“ („at given prices“) zeigt diese Annahme. Preise sind hier eine Funktion von Angebot und Nachfrage, auf die die Firmen keinen Einfluss haben. „Im Idealmodell der vollständigen Konkurrenz existieren viele kleine Anbieter mit jeweils unbedeutenden Marktanteilen und bieten auf einem homogenen und offenen Markt ein bestimmtes Gut an. Da jeder Anbieter nur sehr klein ist, hat er keine Möglichkeit, seine Konkurrenten vom Markt zu verdrängen. Jeder Anbieter wird deshalb den Marktpreis als gegeben annehmen und sich mit seiner Produktion gewinnmaximal anpassen (sogenannter Mengenanpasser). Der Wettbewerb zwischen den Anbietern besteht darin, dass jeder Anbieter versucht, das homogene Produkt mit den geringstmöglichen Kosten zu erstellen. Gewinne werden dadurch wegkonkurriert, dass alle am Markt existierenden Anbieter die gleichen Techniken anwenden werden“ (Weise 1991, 330). Dieses Modell ist nicht nur fragwürdig, sondern auch inkonsistent: „for any small firm to have no effect on the market when it acts, it must act alone. Thus the real secret of the story of perfect competition is that each firm is implicitly taken to believe that when it acts to change production, no other form will do so. Unfortunately such a belief contradicts two other key assumptions of the neoclassical story, which is that firms are all alike, and that they have ‚perfect knowledge’ of the consequences of their actions. If that were so, each individual firm would know that when it acts, so will all of it’s brethren, so that the collective effect on the market would necessarily be non-negligible and their room in the market (their share of industry demand) would have to be taken into account” (Shaikh 1999, 14).

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Ein Beispiel kann den Unterschied der Vorstellungen von der Konkurrenz bei Marx und in der Neoklassik aufzeigen. Gegeben seien zwei Unternehmen A und B, die dasselbe Gut mit verschiedenen Technologien (in verschiedener organischer Zusammensetzung) herstellen. „Regulierend“ sei das „führende“ Unternehmen genannt, nach dem sich der Preis richtet (MEW 25, 654). Nehmen wir an, Unternehmen B sei das regulierende. Das würde heißen, dass jede neue Investition in diese Industrie zu technisch unveränderten Konditionen in der Konstellation von B erfolgen würde. In unserem Beispiel verkaufen sich die Waren also zu den Werten von B: Beispiel I Firma A Firma B Variables Kapital (v): 40 20 Konstantes Kapital (c): 20 50 Preis (pr) des Endprodukts, richtet sich nach B: 90 90 (m/v = 100% in B) Realisierter Mehrwert (m) = Preis – (v+c): 30 20 Profitrate (p), m/(v+c): 50 % 28,6 % p’ (Durchschnitt) 39,3 % Tabelle 8: Bildung einer Durchschnittsprofitrate

Es gebe nun zwei neue Firmen C und D, die technische Neuerungen einführen, und zwar solche, die eine höhere organische Zusammensetzung (c/v) haben. Gehen wir weiter davon aus (noch ganz im Rahmen der Neoklassik), dass sich durch das vermehrte Angebot automatisch der Preis der Waren senkt, die Unternehmen sie also nur noch zum Preis von 80 verkaufen können (der Preis, den die Technologie von C vorgibt). Die Lage stellt sich nunmehr so dar: II A B v 40 20 c 20 50 pr 80 80 m 20 10 p 33,3 % 14,5 % p’ (Durchschnitt ohne D) p’’ (Durchschnitt mit D)

C 10 60 80 10 14,5 % 20, 7 %

D 10 70 80 0 0% 15,6 %

Tabelle 9: Effekt technologischen Wandels für die Durchschnittsprofitrate

In der neoklassischen Lesart gibt es auf diese Prognose nur eine Antwort: Da Unternehmer gewinnmaximierende Wesen sind, die Firmen C und D mit ihrer neuen Technologie aber geringere Profite einfahren, wird diese neue Technologie nicht „gewählt“. Wird unterstellt, die Unternehmer wären – etwa durch Monopolisierung – derart geeint, dass sie auch die Durchschnittsprofitrate (p’) in ihre Überlegungen einbezögen, so würde das diese Entscheidung nur noch bestärken.

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Daher konnte bei etwaiger Stagnation umgekehrt auf eine Monopolisierung rückgeschlossen werden. Neue Technologien werden nach Okishio nur dann gewählt, wenn sie die Profitrate erhöhen. Dies könnte in unserem Beispiel etwa eine Firma E sein, die den Kostpreis (c+v) senkt. Dabei ist es einerlei, in welcher organischen Zusammensetzung das geschieht; der Fortschritt soll ja „Harrodneutral“ sein (Fn. 82). Sagen wir also, der Kostpreis betrage 25c + 25v = 50, so haben wir bei gegebenen Preisen in E eine Profitrate von 37,5 %. Nur eine solche Technologie würde nach dem Optimalitätskriterium eingeführt. Damit aber steigen Profit- und Durchschnittsprofitrate.87 Von dieser neoklassischen Sicht der perfekten Konkurrenz unterscheidet sich die Marx’sche Konkurrenz gravierend (Park 2000, 2001). Nach dem Optimalitätskriterium wären die meisten technischen Neuerungen nicht zustande gekommen (Shaikh 1978a, 52). Sie bestanden darin, den Kostpreis der Ware dadurch zu senken, dass weitaus mehr in fixes Kapital investiert wurde, und zwar solches, dessen Leistungsfähigkeit besser war als das alte. Da diese neue Technologie arbeitssparend ist, holt es die höheren fixen Kosten durch die geringeren Lohnkosten wieder herein.88 Der Vorteil einer höheren organischen Zusammensetzung zeigt sich erst, wenn man das harmonische neoklassische Bild von der perfekten Konkurrenz verlässt und sich den tatsächlichen Wettbewerb ansieht, der im wesentlichen durch Preiskampf geführt wird: die Firmen versuchen durch aktive und aggressive Preisunterbietungen, einander die Kunden abzujagen (MEW 23, 654; vgl. den Werbespruch: „Danke, liebe Konkurrenz, für eine Million neuer Kunden“). Dies ist nur möglich, weil durch die größere Kapitalintensität die Produktivität erhöht wird. Das heißt auch, dass mehr hergestellt werden kann. Der Kostpreis der gesamten Warenmenge verteilt sich nun auf eine verschiedene Anzahl an Waren, sagen wir bei A und B auf 10, bei C auf 15 und bei D (die Firma, die am meisten in neue Fertigungstechnologie investiert hat) auf 20. Die Stückkosten betragen nun 6 Geldeinheiten (GE) bei A; 7 GE bei B; 4,7 GE bei C und 4 GE bei D. Dies erlaubt es der Firma D, einen aggressiven Preiskampf zu führen. Sie können den Preis weiter senken. Was ändert sich, wenn sie

87 Ein Beispiel für diese Sicht auch bei Marxisten: „Auf der von Marx gewählten Abstraktionsebene lässt sich demnach nicht nur kein tendenzieller Fall der Profitrate begründen, sondern ein tendenzielles Steigen“ (Heinrich 2001, 339 f.; cf. Himmelweit 1974, Steedman 1977, 1980, Nakatani 1980, Armstrong 1980). Für Shaikh 1980 ist schon die Unterstellung, ein ex-post-Phänomen wie die Durchschnittsprofitrate gehe in die Kalkulationen des Unternehmers ein, „conceptual baggage smuggled in with the conventional techniques of mathematical economics“ (78): „In the calm of a perfectly competitive equilibrium, each impotent little capital can count on directly obtaining exactly the same rate of profit as all others, so that this rate of profit is a fixed magnitude which enters directly into individual calculations“ (79). 88 „To put it in the language of microeconomics, capitalist production displays an inherent tendency towards lower average variable and average total costs, at the expense of higher average fixed costs“ (Shaikh 1992, 176).

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ihre Waren zum Preis von 5 GE verkaufen? Alle Firmen müssen zu diesem Preis verkaufen, oder sie bleiben auf ihren Beständen sitzen: 89 III v c Y (Output, in Stück) Stückpreis m p p’ (C und D)

A 40 20 10 5 (-10) (-16,7 %)

B 20 50 10 5 (-20) (-28,6 %)

C 10 60 15 5 5 7,1 %

D 10 70 20 5 20 25 % = 16 %

Tabelle 10: Fallende Preise und Konkurrenzeffekte

In der Marx’schen Konkurrenz, die der täglich beobachtbaren recht nahe kommt, werden die Firmen A und B mit der alten Technologie vom Markt getrieben, und selbst Firma C kommt nur mühsam über die Runden.90 Zwar hat sich die Durchschnittsprofitrate deutlich gesenkt, doch das Unternehmen D hat dennoch allen Grund, zufrieden zu sein: nicht nur hat es einen beachtlichen Mehrwert eingefahren (20 m – soviel wie zuvor Firma A in I, welche deutlich über Wert verkaufte – die Ausbeutungsrate m/v war dort 150 %), sondern es hat auch einige seiner Konkurrenten aus dem Feld geschlagen. Es kann daher in der Folge seine Produktion ausdehnen; und dies erhöht erneut die angeeignete Mehrwertmasse. Nehmen wir nun an, dass Firma D neue Kredite aufnimmt, um seine Produktion zu verdoppeln. Um weiterhin Marktführer zu bleiben, senken sie den Marktpreis dabei auf 4,80 GE. Das macht Firma C zu schaffen. Die Firmen A und B allerdings sind, um dem Aus zu entkommen, fusioniert. Sie kommen mit einer nochmals verbesserten Produktionstechnologie auf den Markt, die noch mehr fixes Kapital erfordert. Da durch das Massenangebot von D schon eine „Sättigung“ einsetzt, und um gegen D überhaupt einen Platz auf dem Markt zu erhalten, senken A&B den Preis noch weiter, sagen wir auf 4,50 GE: Was geschieht? Firma A&B kann ihr Überleben sichern, allerdings nur durch die Trennung von 83,3 % des variablen Kapitals, also ihrer Beschäftigen. Unternehmen C wird endgültig vom Markt geschlagen, und die Durchschnittsprofitrate hat sich weiter gesenkt.

89 Von weiteren Komplikationen wie etwa einer fixen Nachfrage (die in der Theorie der Grundrente eine Rolle spielt, wo auch Firmen unter schlechteren Bedingungen marktfähig bleiben können) sei hier abstrahiert. 90 Liegt der Zins auf das aufgenommene Geld bei 5 %, bleiben dem Unternehmer als Reingewinn nur etwa 1,5 Werteinheiten als Jahresgewinn, aus dem noch andere Ausgaben zu tätigen sind (Kosten für die Verteilung der Waren, Werbung etc., und ein Abzug für die Akkumulation, da die Produktionstechnologie erneuert werden muss).

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III A&B v 10 c 90 Y (Output) 25 Stückpreis 4,5 m 12,5 p 12,5% p’ (nur A&B + D) = 12,5 %

C 10 60 15 4,5 (-2,5) (-3,6 %)

D 20 140 40 4,5 20 12,5 % Tabelle 11: Überakkumulation

An D lässt sich ein „Punkt der absoluten Überakkumulation“ beobachten: „wo also das gewachsene Kapital nur ebensoviel oder selbst weniger Mehrwertsmasse produziert als vor seinem Wachstum, so fände eine absolute Überproduktion von Kapital statt; d.h., das gewachsene Kapital C + 'ҏC produzierte nicht mehr Profit, oder gar weniger Profit, als das Kapital C vor seiner Vermehrung durch 'ҏC“ (MEW 25, 262).91

Die neue Investition von Firma D resultiert in einer gleichbleibenden Mehrwertmasse – für den Kapitalisten lohnt sich eine solche Investition nicht mehr; er wird sie darum unterlassen. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate ermöglicht so auch eine Theorie der Krisen und des Wirtschaftszyklus. Sie alle resultieren aus der Marx’schen Fassung der Konkurrenz.92 91 „Es wäre eine absolute Überproduktion von Kapital vorhanden, sobald das zusätzliche Kapital für den Zweck der kapitalistischen Produktion = 0“ (MEW 25, 261). 92 Eine Phänomenologie solcher Krisen gibt Shaikh: A „secular fall in the rate of profit progressively undermines the incentive to invest [cf. Keynes, Fn. 76, CH] and thus slows down the rate of growth of the capital stock itself. [...] An initially accelerating mass of profit begins to decelerate until at some point it stagnates or even declines. And when total profits are stagnant, the capitalist class as a whole finds itself in the position of having invested in additional capital without getting any additional profit. This means that a portion of its capital stock is really redundant [Es wird sich auf Finanzspekulationen werfen, CH]. If the situation persists, as it would if it was the result of a long-term decline of the rate of profit, then investment is cut back, excess capacity becomes widespread, and workers are laid off in droves. This is an all too familiar picture“ (1987, 118; cf. 1992). Krisen der Real- und Geldwirtschaft hängen eng zusammen: „Inventories pile up and profits fall, often quite sharply. Firms increase their borrowings to tide them over the bad times, and this drives up interest rates – which only makes matters worse for firms, though of course it makes banks happy. On the other hand, as businesses start to fail, they default on their debts, and this puts banks into jeopardy. The rising tide of business bankruptcies begins to trigger bank failures. Interest rates reverse themselves and begin to fall. The stock market index slides downward. For workers, matters are even worse. Layoffs and business failures give rise to widespread unemployment and increasing hardship as savings and unemployment benefits run out in the face of a persistent lack of jobs […] those workers who do still have jobs come under severe pressure to make major concessions on wages and working conditions in order to save their jobs. In all of this, it is of course the ones on the bottom – nonwhites, women, teenagers, the nonunionized – who usually get hit the hardest. The above patterns are common to all depressions” (Shaikh 1987, 118).

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Im Rahmen des neoklassischen Paradigmas der perfekten Konkurrenz sind solche Erscheinungen (harter Preiskampf, Konkurse und Fusionen, Arbeitslosigkeit, zyklische Krisen und eine über die Zyklen tendenziell fallende Profitrate) nicht denkbar. Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde klar, das an diesem Bild etwas nicht stimmen konnte. Die Selbstheilungskräfte des Marktes lagen am Boden: trotz niedriger Löhne gab es eine hohe Arbeitslosigkeit, die sich auch langfristig nicht zu erholen schien. Dies widersprach den harmonischen Gesetzen des „Arbeitsmarktes“, nach denen beim richtigen Preis der Arbeit „Vollbeschäftigung“ eintreten muss. Und trotz großer überschüssiger Warenmenge gab es zugleich überschüssiges Geld (eine Inflation); dies lief der Quantitätstheorie des Geldes zuwider. Die politische Antwort darauf war das Halbjahrhundert keynesianistischer Wirtschaftslenkung. Die theoretische Antwort war allerdings selbst in der Linken keine Veränderung der ökonomischen Rahmentheorie, sondern die Erklärung der Realität zum unreinen Sonderfall der „imperfect Competition“ (Robinson 1933). Im Modell des „perfekten Wettbewerbs“ hat keine Gruppe Macht über eine andere und jedes Individuum hat alle Informationen. Nichtübereinstimmungen der Wirklichkeit mit diesem Modell wurden nun kurzerhand mit dem Nichtvorliegen dieser Bedingung erklärt, also mit dem Vorliegen eines „imperfekten Wettbewerbs“. Diese Hilfsannahme leugnet bestehende wirtschaftliche Misslichkeiten nicht mehr, führt sie aber nicht auf die Logik des Wettbewerbs zurück, sondern vielmehr auf die Behinderung dieses Wettbewerbs durch Machtgruppen wie Kartelle, Gewerkschaften oder den Staat (cf. 2.4.1). Im Laufe des Krisenmanagements waren diese tatsächlich vermehrt in Aktion getreten. Die theoretischen Mutmaßungen über diese „Imperfektionen“ laufen vor allem in einem zentralen Thema zusammen: der gewachsenen Bedeutung des Monopols. Entsprachen die Erscheinungen nicht den Bestimmungen des harmonischen Modells (und das ist in den meisten Fällen so), so wurde auf eine gewachsene Monopolmacht zurückgeschlossen.93 Besonders im Linkskeynesianismus machte diese Monopoltheorie eine große Karriere. Das „Monopol“ war bereits bei Bernstein von Bedeutung (2.1.2), und Lenin hatte das neue Stadium des „Monopolkapitalismus“ geradezu dogmatisiert (2.2.6). Mit der wachsenden Staatstätigkeit im Rahmen des Keynesianismus schien die Rede von einer „Macht der Monopole“ eine reale Basis zu bekommen. 93 Auf Armstrongs (1980) These, die Profitrate falle normalerweise nicht, könne dies im „Oligopol“aber doch tun, antwortet Shaikh: „the very concept of ìmperfect competition’ is itself the dark side of the concept of ‚perfect competition’. In perfect competition all of the tactics and strategy of real competitive battles are spirited away. Then, when faced with the unavoidable discrepancy between the fantasy world of perfect competition ant the elementary facts of real competition, instead of overthrowing perfect competition orthodox theory seeks to reform it. Hence imperfect competition. Yet the real imperfection lies not in actual competition, but rather in the concept of perfect competition itself” (1980, 82; cf. den Artikel “Monopoly Capitalism” in Bottomore 1983).

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In der Art, wie Sweezy, Gewährsmann der Neuen Linken, den „imperfekten“ Monopolkapitalismus von dem alten, „goldenen Zeitalter des Konkurrenzkapitalismus“ (Dobb), abgrenzt, sieht man deutlich die Ersetzung der Marx’schen durch die neoklassische Ökonomie: „since market relations are essentially price relations, the study of monopoly capitalism, like that of competitive capitalism, must begin with the working of the price mechanism. The crucial difference between the two is [...] that under competitive capitalism the individual enterprise is a ‚price taker’, while under monopoly capitalism the big corporation is a ‚price maker’“(Sweezy 1966, 53 f.).

Zwar soll eigentlich Marx überwunden werden (Sweezy 1966, 4), doch das Narrativ des passiven „Preisnehmers“ entstammt allein der Neoklassik. Mit der verbreiteten Behauptung, der Monopolkapitalismus habe die Gesetze des freien Marktes verändert, wurde die neoklassische Analyse des perfekten Konkurrenzkapitalismus weiterhin gestützt. Sweezy und Baran haben nicht Gedanken von Marx, sondern von linkskeynesianischen Ökonomen wie Robinson, Kalecki und Steindl popularisiert. Wie charakterisiert diese Tradition die Konkurrenz? „Today the typical economic unit in the capitalist world is not the small firm producing a negible fraction of a homogenous output for an anonymous market [dies ist das neoklassische Modell, CH] but a large-scale enterprise producing a significant share of the product in an industry, or even several industries, and able to control its prices, the volume of its production, and the types and volumes of its interests“ (Sweezy 1966, 6).

Sweezy beobachtet richtig, dass die Größe und die aktive Preispolitik der Unternehmen die Vorstellung von einer perfekten Konkurrenz unterlaufen. Allerdings hält er dieses Modell von Konkurrenz dennoch für berechtigt, ja für die einzig mögliche Art von Konkurrenz, so dass er aus ihrem Nichtvorliegen jegliche Art von Konkurrenz für „abgeschafft“ erklärt („abandonment of price competition“, 66). Die Faktoren der Größe und der aktiven Preisgestaltung, die für Marx die wichtigsten Faktoren der Konkurrenz waren, werden hier als Beleg für eine Monopolisierung genommen. Damit stellt er Marx auf den Kopf: Obwohl die Marx’schen Gesetze genau den geschilderten Fall umfassen, haben sie für Sweezy „heute“ keine Bedeutung mehr. Er meint einen realen geschichtlichen Wandel zu beschreiben, ersetzt aber nur theorieimmanent Marx’sche Thesen durch neoklassische – etwa den Fall der Profitrate durch einen höheren „Surplus“ (1966, 72). Dieser Surplus ist ein Erbstück der Imperialismustheorie von Hobson (1901) und hat mit dem Marx’schen Mehrwert nichts zu tun.94

94 „The „‚surplus’ is defined by Hobson to be the excess of the total money value of the output over the strictly necessary costs of producing that output“ (Shaikh 1978, 225; cf. Sweezy 1966, 9; Baran 1957, 82). „Tatsächlich ist Baran und Sweezys Theorie aber kein Korrektiv zur Marx’schen Akkumulationstheorie, sondern eine völlig andere Aussage mit einer andern Methode über einen anderen Gegenstand“ (Hardach 1975, 118; 2.2.6, Fn. 108.).

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Die höhere Kapitalintensität, die im Rahmen der Konkurrenz aufgrund der höheren Produktivität eine höhere Profitmarge erlaubt, deutet Sweezy mit Kalecki und Steindl als einen höheren „Markup“ aufgrund einer größeren „Monopolmacht“. Die schwerfällige Beweglichkeit von Kapital in Industrien mit einer höheren organischen Zusammensetzung führt eher zu Anpassungsmechanismen über Variationen in der Auslastung als in den Preisen. Auch diese Preisinflexibilität wird als Anzeichen eines Monopols gewertet, da sie als bewusste Regulierung gedeutet wird.95 Noch die Ende der 1960er Jahre beginnende Stagnation wurde auf ein Monopol zurückgeführt: das Monopol verhindere bewusst weitere technische Neuerungen und Investitionen, um seinen Kapitalstock nicht zu entwerten. Doch die Einfügung von Marx in die Stufenfolge von Konkurrenz- und Monopolkapitalismus ist problematisch. Die Marx’sche Fassung der Konkurrenz passt weder in die harmonistische Vorstellung des neoklassischen Paradigmas, noch zur Vorstellung vom „imperfekten“ Monopol. Daher schob Gillman Marx auf die ältere, Dobb auf die neuere Seite.96 Für das „neue Stadium“ des Monopolkapitalismus galten, wie schon bei Lenin (2.2.6), scheinbar neue Gesetze, die weitaus politiklastiger waren als die Marx’schen.97 Einerlei, ob man an den neoklassischen Basisannahmen direkt festhielt wie Okishio, Steedman und Roemer, oder ob man das Monopolkapital für das Signum einer neuen Epoche hielt und die neoklassischen Basisannahmen so nur ex negativo beibehielt, in beiden Fällen wurden Marx’sche Essentials wie die Arbeitswertlehre, die Ausbeutung oder die fallende Profitrate über Bord geworfen, und zwar von Marxisten selbst. Die deutschsprachige marxistische Ökonomie, die um 1968 aus der Versenkung auftauchte,98 war schon aufgrund der physischen Nähe des Realsozialismus direkter vom Leninismus beeinflusst als ihre angelsächsischen Schwestern. Die These vom „neuen Stadium“ musste gar nicht erst ökonomisch bewiesen werden. 95 Selbst Mandel sieht in unterschiedlichen Profitraten zwischen Industrien ein Anzeichen von „Monopolmacht“ – nur diese könne schließlich die freie Bewegung des Kapitals und damit den Ausgleich der Profitraten verhindern (1972, 73, 87 und öfter). Für Marx ist das ‚Hindernis’ der Bewegung die reine Größe: kein Kapitalist wird leichtfertig so horrende Summen investieren, wie sie nötig wären, wollte er etwa eine neue Automarke aus dem Boden stampfen. Gibt es aber eine solche Großindustrie (etwa einen Autokonzern), dann wird sie kaum bei den erstbesten Gewinneinbußen ihr gesamtes Kapital in eine andere Industrie umlegen (etwa in die New Economy). Daneben erfolgt der Ausgleich der Profitjahren bei Marx nur über eine Reihe von „magern und fetten“ Jahren hinweg (MEW 25, 218), er ist ein Trend, und muss folglich niemals tatsächlich vorliegen. 96 Cf. Fn. 79. Die Tendenz, ihn eher auf das 19. Jahrhundert einzuschränken, ist dominant (mit Lenin in der Politik, Freyer und Sombart in der Soziologie, vgl. 2.4.1). 97 Vgl. insgesamt Dobb 1937, Sweezy 1942, 300-336; Gillman 1958, Mandel 1962, 393-440; Rolshausen 1969, Lindbeck 1971, Bravermann 1974, Wright 1977, 225 f.; Cowling 1982, Foster 1986, Zoninsein 1990. 98 „Der Nationalökonom Marx ist [...] gleichsam verschwunden. Er ist bis heute noch nicht wieder in Erscheinung getreten. Seine Ökonomie wurde Zeichen für jeweils etwas anderes, das als das Eigentliche verstanden werden will“ (Thier 1955, 18). Thier hat noch für die Zeit recht, als die marxistische Ökonomie wieder da war.

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Von einem „Primat der Politik“ ging man hier, wo ganze Verlage von Ostberlin finanziert wurden, einfach aus. Wirtschaft und Politik wurden quer durch die Facetten des deutschsprachigen Marxismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart vermengt, dass man es nur noch mit einem Komplex zu tun zu haben meinte. Für diesen aber war die Marx’sche Ökonomie unerheblich geworden. Die deutschsprachige Marxrezeption nach 1968 war kaum im nennenswerten Sinne ökonomietheoretisch. Wenn ökonomisch relevante Stellen des „Kapitals“ interpretiert wurden, so meist unter apriorisch-begriffsphilosophischer Perspektive, wofür sich die Bezeichnung „deutscher Deduktionsmarxismus“ eingebürgert hat. Da dieser sich wenig für die Ökonomie interessierte, war er umso anfälliger für unbemerkte Übernahmen neoklassischer Paradigmen. Der Schwerpunkt der „politischen Ökonomie“ lag in Deutschland auf der Politik.99 Daher stießen politiktheorielastige Versionen des Marxismus wie der Regulationismus oder Fordismus noch dann auf reges Interesse, als der Marxismus langsam an Einfluss verlor. Hier wurden bürgerliche Thesen über die Regelungsfunktion des Staates in marxistische Hüllen gekleidet, nur die Bewertung, das Vorzeichen vor dem Komma, wurde umgedreht.100 Diese Schwundstufen des Marxismus haben den Übergang zu seiner Auflösung nur verzögert. Die Theorie des Monopolkapitalismus als eines statischen Systems legte zugleich auch den Grund für die jeweils möglichst aktuelle Orientierung der Theorieproduktion an technischen Trends (Fordismus, Postfordismus, „Dienstleistungsgesellschaft“, Mikro99 Vgl. Huffschmid 1969 (Die Politik des Kapitals), Agnoli 1975 (Der Staat des Kapitals) oder die kryptische „Staatsableitungs“-Debatte (Röhrich 1980; cf. 2.2.6, Fn. 106). Zum Stamokap vgl. IMSF 1972 und 1981, Breuer 1975, Huffschmid 1975 und 1976. Auch Altvater 1975 wies das „neue Stadium“ nicht wirklich ab. Nichtökonomische marxistische Werke gehen vom „Monopolkapitalismus“ schlicht aus (Lefebvre 1972, 77; Ritsert 1973, 24; Jaeggi 1974, 61, 106 ff. oder Poulantzas 1978; vgl. Schumpeter 1942, 87 ff.; Kühne 1972, 331 ff.). Die Staatsfixierung der außerparlamentarischen Linken bis hin zur RAF macht diese Verquickung der Feindbilder ‚Staat’ und ‚Kapital’ deutlich; dem stand, nicht nur auf sozialdemokratischer Seite, ein entsprechend affirmativer Etatismus gegenüber. Marxistische und bürgerliche Ökonomen operierten in überraschend ähnlichem Mustern: Übereinstimmend war man in einer unfreiwilligen Koalition „gegen den Staat“: die Neoliberalen deswegen, weil er die Selbstheilungskräfte des Marktes außer Kraft setze, die Marxisten deswegen, weil er den Monopolkapitalisten „Extraprofite“ verschaffe und das angeblich marode System künstlich aufrechterhalte. „Marxist sein“ manifestierte sich erst außertheoretisch in einer moralischen Parteinahme für die Arbeiterklasse oder irgendeines Regimes (Koenen 2001, 299). Dieser Umstand machte es intellektuellen Marxisten ironischerweise leicht, nach 1990 die Fronten zum Neoliberalismus zu wechseln, der nur das praktizierte, was man selbst so lange gefordert hatte: Freiheit vom Staat (3.1.3, siehe die These von Boltanski 1999). 100 Regulationismus, Fordismus und Poststrukturalismus waren Reimporte des „Primats der Politik“ aus Theoriemoden anderer Länder. Als die bürgerliche Politik und Theorie vom keynesianischen Regelungsmodell abrückte, wurde es von Marxisten als vorbildliches Modell okkupiert. Die aktuellste Version eines akademischen Marxismus ist der kaum versteckte Keynesianismus der „monetären Werttheorie“ (Heinsohn 1988, Heinrich 2001a, siehe 2.3.5).

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elektronik, „Wissensgesellschaft“ etc.): Wie schon für Schumpeter und Keynes, so tendiert er auch nach Kalecki, Robinson, Steindl und Sweezy zur Stagnation und kann nur extern, durch große Erfindungen oder politischen Druck zum Wachstum gebracht werden. Das beobachtete Wachstum nach dem zweiten Weltkrieg – das größte, was es bislang gegeben hatte – wurde also mit externen Faktoren erklärt.101 Der Fokus der marxistischen Theorien der 1970er Jahre auf den Staat ist so zumindest theoriegeschichtlich noch im negativen abhängig von der Neoklassik und dem Leninismus: die Nichtübereinstimmung ihres Modells hatte ein dunkles Gegenmodell hervorgerufen, auf welches aber die Marx’schen Theorien kaum noch Anwendung fanden.102 In die Black Box des „Monopolkapitalismus“ konnten Theorien über den „Staat“ und den alltäglichen „Mikrofaschismus“ der Macht (Foucault) daher um so leichter einwandern. Auch marxistische und postmarxistische Kritiker des Leninismus übernahmen so das leninistische Grundmodell einer epochalen Politisierung der Ökonomie.

2.3.4 Ausstrahlung des Paradigmas in Nachbarwissenschaften Auch die andere Opposition gegen das neoklassische Modell verließ das neoklassische Paradigma nicht: die Geschichtslosigkeit und Überabstraktion der Nutzenkalküle hatte schon Schmoller im Methodenstreit mit Menger erzürnt. Das historistische Gegenmodell hat allerdings dadurch, dass es auf eigene Theoretisierungen meist verzichtete, den Geltungsbereich der Neoklassik lediglich eingeschränkt – und damit bestätigt (cf. Fn. 30). Monopolkapitalismustheorie und Historische Schule ergänzen einander in der „Formationstheorie“ bruchlos.103 Da sowohl die bürgerlichen Gegner der Neoklassik, die Keynesianer und Historisten, wie auch die Marxisten wenig an dem grundlegenden neoklassischen Paradigma 101 Sweezy 1966, 228 ff.; Kalecki 1954, 1962; vgl. Shaikh 1978, 231; 1983a; 1989; cf. 2.4.6. Das neoklassische Modell macht sich auf beiden Seiten bemerkbar, auf Seiten der konkurrenzkapitalistischen „perfekten“ wie der monopolistischen „imperfekten Konkurrenz“ („unvollständiger Wettbewerb“): Statik ist der Grundcharakter auch des „neuen Stadiums“. Noch für Altvater 1992a hat das „Öl“ das von den Grundannahmen her unwahrscheinliche Wachstum angetrieben („Der fossilistische Charakter der fordistischen Produktionsweise“, 81 ff.). Ein politisches Phänomen wie der erste Golfkrieg schleicht sich bis in die Grundannahmen der Theorie. Die Stagnationstheorie hatte zuvor metaphorisch davon gesprochen, Wachstum brauche „fuel“ (Shaikh 1983a, 140). Das wird hier ontologisiert. 102 Kritiker dieser Theorierichtung (Neusüß 1972, Ebbinghaus 1974, PKA 1975, cf. 2.2) erschöpften sich in der Kritik verfehlter Vorstellungen, eigene Analysen gab es seltener (Huffschmid 1977, Altvater 1979). 103 Siehe den Artikel „Periodization of Capitalism“ in Bottomore 1983, 365 ff.; Wright 1977, 222 ff.; Brandt 1990. Auch Brenner 1998 und Negri 2000 sind „historistisch“ im Sinne theorieloser Beobachtung und kommen gerade darum schnell zu neuen Thesen. Die Sozialstatistik wurde in Deutschland übrigens von der historischen Schule eingeführt (Jonas 1968 I, 278). Begriffslose Zahlen und theoriearme Narrative fanden so zueinander (vgl. 2.4.3, Fn. 54).

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auszusetzen hatten, bekam es in den Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts eine dominante Bedeutung. Für Nachbarwissenschaften der Ökonomie, die sich im weitesten Sinne mit der Wirtschaft auseinandersetzten, für Rechts- und Politikwissenschaften, Soziologie und Sozialphilosophie, war es somit mehr oder weniger verbindlich. Es genügt ein Blick in Werke, die die Diskussionen für Jahrzehnte gefangen nahmen, wie die Theorie of Action von Talcot Parsons (2.4) oder die Theory of Justice von John Rawls (3.2). Wird dort von „Ökonomie“ gesprochen, dann so, wie es das neoklassische Paradigma vorsieht.104 Auch dort, wo es nicht zu vermuten ist, hat sich dieses Denken über Wirtschaft eingenistet: etwa in Theorien der sich einst marxistisch verstehenden Frankfurter Schule (2.6) und noch des späteren Habermas (3.1), in den „Analytischen Marxismus“ (Fn. 74; 1.4.2, Fn. 26) oder in moderne wirtschaftsethische Überlegungen, deren Selbstverständnis eigentlich „kapitalismuskritisch“ ist (3.3). Solche Phänomene rufen nach einer erneuten Kritik der Ökonomie. Dies meint hier eine Präsuppositionsanalyse, die sozialphilosophische Theorien daraufhin abklopft, welche ökonomischen Vorannahmen gemacht werden müssen, damit sie plausibel sind. „Kritik der Ökonomie“ meint gerade nicht, dass man die Ökonomie ob ihres vorgeblichen Positivismus als solche, im Sinne einer wohldefinierten Einzelwissenschaft, ablehnt. So beraubt man sich nur der eigenen Urteilsfähigkeit, und „Kritik“ wird zum äußerlich bleibenden Bekunden eines politisch kolorierten Geschmacksurteils.105 Es meint eine Kritik verfehlter und ideologischer Theoretisierungen der Wirtschaft anhand von besseren Erklärungen (cf. Bubner 1972, 46). Keine Dialektik der Welt kann konkrete Argumente ersetzen. Erst eine ökonomische Theorie, die die soziale Realität des Wirtschaftens ausgrenzt, erfordert eine separate normative Sozialphilosophie (siehe 2.4, 2.5). Die folgende Vergegenwärtigung zeigt die Ausgrenzung des Sozialen aus der Ökonomie an einigen Beispielen.

104 Talcot Parsons leitete seine Handlungstheorie (1937) von Marshall und Pareto ab. Die eigentlich auf einer Fiktion für ausgewählte Zwecke beruhenden Theorien des „rational choice“ bekamen für die Sozialwissenschaften so eine überragende Bedeutung. Rawls 1971 bedient sich auf prinzipieller Ebene des „Pareto-Optimums“, um ein Kriterium für eine gerechte Ordnung zu entwickeln; in dem anwendungsorientierten Teil seiner Theorie wird die Wirtschaft lehrbuchhaft neoklassisch beschrieben. Selbst Sen 1998 setzt das Modell fraglos voraus (cf. 3.2.1). 105 Die Lesart von Marx als Ökonom galt der Kritischen Theorie als Positivismus. Marx habe die Ökonomie schon in ihren Grundlagen kritisiert, was eine immanente Beschäftigung mit ihr erübrigte (cf. Schmidt in Euchner 1972, 30 ff.; die Editoriale zu den Beiträgen 1974 und Prokla 123, 2001, Kambartel 1979). Der „theoretische Raum [...], in welchem der traditionelle Marxismus die ‚ökonomische Lehre von Marx’ auffasst, wurde auch vom ‚westlichen Marxismus’ lange Zeit nicht hinterfragt. [...] Konstitutiv für diesen [...] ist die Verwandlung der Kritik der politischen Ökonomie in eine politische Ökonomie“ (Heinrich 2001, 152; cf. Behrens 1993, Backhaus 1997, Rakowitz 2000, 49, 61, 255, 320; siehe inzwischen Heinrich 2004, Henning 2004a).

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2.3.5 Systematische Kernpunkte IV: Zur Geldtheorie bei Marx „Es handelt sich bei allen derartigen Ableitungen nur darum, von der Aufgabe‚ deren Lösung man nicht gewachsen ist, abzuleiten.“ (MEW 19, 367)

Die Wirtschaft hat es naturgemäß mit Geld zu tun. Geld ist dasjenige der Wirtschaft, was auf der Oberfläche der Gesellschaft erscheint; der „Geld-Schein“ ist höchst real. Jeder weiß, was es damit auf sich hat: ohne Geld kann man nichts kaufen, deshalb wollen alle möglichst viel davon haben. Durch Geldzahlungen ist ein Netz gespannt, welches sich über die ganze Gesellschaft erstreckt – und darüber hinaus.106 Wirtschaftssoziologische Theorien nehmen das Geld darum als das Wesen („Leitmedium“) der Wirtschaft. Damit ist nichts erklärt, sondern das Offensichtliche, das zu Tage liegende noch einmal ausgesprochen.107 Marx wies in den Bewegungen des Geldes Gesetze nach, die auf etwas verweisen, das nicht selbst wieder Geld ist. In der soziologischen Beschreibung als „Geldwirtschaft“ (Simmel) dagegen liegt eine tautologische Verkürzung der Sozialtheorie auf Deskription, ein Pochen „auf den Schein wider das Gesetz der Erscheinung“ (MEW 23, 325). Funktional kann man darin auch eine Verweigerung gegenüber Erklärungsversuchen sehen.108 Das entspricht dem Selbstverständnis dieser Soziologie: als „formale“ meinte sie die „Inhalte“ ihrer Formen vernachlässigen zu können, und schob diese Frage so an die Ökonomie ab.109 Doch auch in der Ökonomie bringt die Frage, was Geld denn sei, Verlegenheit hervor.110 Erneut fällt die Marx’sche Theorie durch die disziplinären Grenzen hindurch. Selbst vielen Globalisierungskritikern, die sich vage der Marx’schen Theorien entsinnen, scheint es ausgemacht, dass die Finanzsphäre sich „entkoppelt“ und alle anderen unter ihre Herrschaft gebracht habe (Biermann 2001, cf. 3.3.6). Dies hieße für die Theorie allerdings, dass das Geld und seine Bewegungen aus sich selbst erklärt werden müsste (in einer „Philosophie“ des Geldes), um anschließend alles weitere „geldtheoretisch“ zu erklären – ein spekulatives Unterfangen, dessen Fragwürdigkeit am Tage liegt.111 106 Garson 2001 folgte einmal dem Geld, das sie anlegte, über die ganze Welt. 107 Ob als Symbol und „Interaktionsmedium“ wie Simmel (1900) oder als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ wie Habermas (1981bII, 395 ff.) und Luhmann (1998, 348 ff.). Natürlich ist Geld ein Zeichen, die Frage ist nur, wofür, was genau es anzeigt. Der ‚Code’ „zahlen/nichtzahlen“ ist erst eine Beschreibung. 108 Simmels Beobachtungen sind zwar originelle Beschreibungen (Busch 2000), erklären aber wenig. Wo er es versucht (etwa durch den „Stil“, der hinter dem Geld wie der modernen Mentalität stehe), bleibt es bei metaphysischen Setzungen. Reale Geschichte löst sich in Ideen auf – „Stile“ sind das Material der Kunstgeschichte. 109 „Sowohl Geometrie wie Soziologie überlassen die Erforschung der Inhalte, die sich in ihren Formen darstellen, [...] andern Wissenschaften“ (Simmel 1908, 18). So gilt erst recht die Philosophie des Geldes (1900). Mit der Absage an die Logik und der „Beobachtung“ verzichtet auch Luhmann auf Erklärung (1998, 69, 905; cf. 2.5.6). 110 Ehrlicher 1991, 52 räumt ein, dass es „unter Nationalökonomen seit gut 100 Jahren keine Diskussion mehr darüber gibt, was Geld ist“ (nach Busch 2001, 115; für die Neoklassik ähnlich Hahn 1982; cf. Fn. 34, 41). 111 Was nicht hindert, dass dies trotzdem versucht wird (nach einer Idee von S. Gesell

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Hinsichtlich des Geldes bot und bietet das dem Marxismus die Möglichkeit, sich gegenüber beiden, bürgerlicher Soziologie wie Ökonomie, zu profilieren. Doch der deutsche Marxismus tat sich mit dieser Frage noch schwerer als jene. Dies hängt mit seinem Rückzug in die Sozialphilosophie zusammen. Schon Ausflüge in die faktisch bestehende Soziologie oder Ökonomie galten meist als waghalsig. Wie sollte man da zu Marx kommen, der zu beiden nochmals quer steht? Wer das Marx’sche „Geldrätsel“ (MEW 23, 62)112 als ein philosophisches gelöst haben will, stellt – durchaus folgerichtig – fest, dass dies nicht möglich ist. In der Wertformanalyse, einem späten Ausläufer adornitischer Sozialphilosophie, führte diese Fragestellung daher zum Abschied von Marx.113 Die Probleme, denen sich man sich hier ausgesetzt sieht, lösen sich jedoch einfach auf, wenn man von sich von der spekulativen Betrachtungsweise löst. Weil Marx das Geld als „Form“ von etwas behandelt, wovon es eben nur eine Form ist, gibt Marx vorab, bevor er die spezifischen Zusammenhänge erläutert, in einer Betrachtung der „Wertform“ (MEW 23, 62 ff.) einen Vorblick auf den Plot der Geschichte, die nun folgt. Der Zusammenhang wird in den ersten Kapiteln zunächst einführend gegeben. Dieser Vorblick ist nicht „philosophisch“ zu lesen, als habe man es mit einer Hegelschen Selbstbewegung des Begriffs zu tun, wo aus einem Prinzip alles weitere mit Notwendigkeit „abzuleiten“ ist,114 sondern Marx erläutert, wie er 1916 etwa bei Creutz 1983, Heinsohn 1996 oder Lietaer 2002; vgl. Hörisch 1983, R. Müller 1983, Altvater 1991, Jenner 1999; 3.3.2. Fn. 20). 112 Das „Rätsel“ des Geldes ist, wie etwas an sich Wertloses wie Papier einen so hohen Wert für uns haben kann; und warum, wer es hat, noch immer mehr davon bekommt. Der Allerweltsspruch „Geld ist eine Konvention“ ist zwar zunächst plausibel, aber auch er erklärt nichts, sondern gibt nur den alltäglichen Umgang mit dem Geld wieder. Wenn ‚die Menschen’ das Geld untereinander verabredet hätten, wer legt dann seinen Kurs fest, und wer hätte die geldvermittelten Krisen gewollt (Inflation, Deflation, Wechselkursschwankungen, Börsenkrachs, Finanzkrisen etc.)? 113 Cf. 2.6.2, Fn. 33. Das Editorial zu Backhaus 1978 redet offen von „Destruktion“ (Gesellschaft Bd. 11, 7). Backhaus 1969, die Initiation von 30 Jahren Diskussion um das „Geldrätsel“ in der hegelianischen „Wertformanalyse“, erhebt zahlreiche Anschuldigungen an praebackhausianische Marxisten wie an Marx selbst (es fallen Worte wie „grob vereinfacht“, „gänzlich entstellt“, „Verständnislosigkeit“, „mangelhafte Rezeption“, „Unzulänglichkeit der Darstellung“, „ignorieren“, „gänzlich unvermittelt“, „mangelhafte Vermittlung“, „nicht mehr begreifbar“ etc). Dieser Ton verrät allerdings am ehesten eigene Verständnislosigkeit. Schon die Frage wird im Laufe der Darstellungen immer unklarer. Das einzig Kontinuierliche sind die Verunglimpfungen anderer (kritisch dazu Kittsteiner 1980, 14 ff.; Kallscheuer 1986). Die theoretischen Aussagen machen die Bezugnahme auf Marx zu einer willkürlichen – kaum ein Theorem wird stehen gelassen. Vermutlich führte die Äquidistanz zwischen Marx und den Wissenschaften sowie zwischen theoretischen Versuchen der Studentenbewegung und den Wissenschaften zu der Selbstüberredung, man sei befugt, im Namen des Marxismus zu sprechen (selbstkritisch dazu Koenen 2001). Schon in der Art dieser Rezeption lag ein „Abschied“ von Marx (siehe Helms 1969). Zu neueren Schriften aus dieser Richtung cf. Y. Hahn 1999, 110 ff. 114 So vermisst Backhaus 1969, 131 einen „notwendige[n] Übergang“. Bei ihm „setzt“ sich die Ware „als Geld“; er affirmiert Lenins Diktum, man müsse „die ganze Lo-

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im Folgenden das Geld behandelt. Mit dieser hermeneutischen Grundregel verschwinden die Probleme, die die transzendentaldeduktive Lesart der Wertformanalyse in diese Partien projizierte. Marx’ Behandlung des Geldes ist durchaus konsistent und vermag viele Fragen zu lösen, anstatt neue aufzugeben. Die eher verrätselnde Rede von der „prämonetären Werttheorie“ (Heinrich 2001a) übersieht, dass vor wie nach Marx Strömungen in der Wirtschaftstheorie vorherrschten, die dem Geld eine überragende Funktion zuschrieben: für die Merkantilisten wie für Keynesianer und Monetaristen „zählte“ vor allem das Geld (als Gold oder optimale Geldmenge). Ein „Geldrätsel“ entsteht erst, wenn das Geld gegenüber anderen wirtschaftlichen Phänomenen als Erstes, als Explanans gesetzt wird, das aus sich selbst zu begreifen sei. So wird es an die Spekulation abgeschoben.115 Ein Merkmal dafür ist der exogene Charakter des Geldes, wie er für Keynessche Ansätze typisch ist. Die monetaristische Theorie Milton Friedmans lässt es gar von einem Hubschrauber abwerfen (Fiehler 2000, 126). Allerdings gibt es eine Tradition, für die das Geld kaum eine Rolle spielt: die Neoklassik. Doch sie ist für Marx gerade nicht maßgeblich. Wer in einer Logik des alles oder nichts unterstellt, dass Marx nur „prämonetär“ (neoklassisch) oder „monetär“ (keynesianisch) habe denken können, stempelt Marx entweder auf Kosten seiner Arbeitswertlehre zum Finanzwirten, oder aber zum „prämonetären“ und damit heute abzulehnenden Theoretiker. Die implizite Übernahme neoklassischer Paradigmen, die sich in dieser misslichen Alternative zeigt, wirkt sich erneut als ein sukzessives Auflösen Marx’scher Theoreme aus.116

gik Hegels durchstudiert“ haben, um das Kapital zu verstehen; der Unterschied zwischen Hegel und Marx wird eingezogen (cf. Krahl 1970, Reichelt 1970; 2.5.7). „Marxists who attempt to directly apply the abstract categories of Volume I of Capital are in a sense reverting to a ricardian methodology. Marx is careful to point out that a basic flaw in Ricardo’s method is that he ‚jumps’ directly from the abstract (value) to the concrete (prices of production, rent, taxes) without tracing the intermediate connections [MEW 26 II, X]. It takes Marx three volumes to make that connection!“ (Shaikh 1977, 137). 115 Eben dies tut Backhaus: er rät dazu, „die Kategorie Geld als das logisch Erste der ökonomischen Theorie“ zu nehmen (1978, 71; cf. 2002, 114), wahlweise auch den „Kredit“ (75). Nachdem er dargelegt hat, warum er sich neun Jahre nach seiner ersten Publikation noch immer nicht den Marx’schen Texten, sondern weiter nur Sekundärliteratur widmen könne, übernimmt er viele sekundäre Marxwiderlegungen. Er „destruiert“ (1978, 7) Marx dadurch, dass er den verschiedenen Marxismen unüberwindliche Widersprüche zuschreibt und diese umstandslos auf Marx selbst projiziert (28, 33). So können alternative Theorien der „modernen Makroökonomie“ (78) an die Stelle treten. Das einzige Rätsel an dieser Geldtheorie ist, warum sie noch immer als Marxismus auftritt (so eben Backhaus 1997). 116 Heinrich 2001 diagnostiziert bei Marx einen unvollständigen Bruch mit der Klassik (Fn. 27). Er verdunstet das eigene Denken von Marx und verteilt es auf zwei andere ökonomische Schulen, zwischen Klassik und Keynes. Einen Bruch gibt es nur bei Heinrich selbst: den mit Marx. Weder die Arbeitswerttheorie noch der Fall der Profitrate halten seinen „Rekonstruktionen“ stand. Das ist misslich, da Heinrich (wie

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Marx’ Position liegt auch hinsichtlich des Geldes nicht zwischen beiden Positionen, sondern jenseits von beiden, und zwar nicht aufgrund einer Synthese oder einer Unentschiedenheit, sondern aus präzisen Gründen. Marx behandelt das Geld als einen zentralen Faktor der kapitalistischen Wirtschaft – angesichts der Menge von Seiten, die er dem Geld widmet, ist das eine banale Feststellung.117 Seine „Werttheorie“ ist also „monetär“, insofern sie das Geld berücksichtigt und seine Bewegungen zu erklären beansprucht. Sie ist es aber nicht, insofern das Geld nicht als selbstherrlich begriffen wird. Es ist nach Marx weder isoliert als autochthoner Faktor (exogenes Geld) zu verstehen,118 der den Rest der Wirtschaft erklären könnte, noch vermag es langfristig Steuerungsfunktionen im Sinne des Keynesianismus zu übernehmen.119 Geld ist vielmehr eine Form von etwas, das nicht selbst wieder Geld ist (etwa Gold, wie die Merkantilisten annahmen), sondern endogen, also aus etwas anderem erklärlich. Das ist der Sinn der Unterscheidung verschiedener „Formen“. In der Rede vom „Kapital“ etwa unterscheidet Marx zwischen Waren, Geld, Maschinen und Rohstoffen sowie variablem Kapital (Arbeitskraft).120 Obwohl dies ganz verschiedene Dinge sind, ist es ihnen gemeinsam, als Kapital zu fungieren. Von diesem aus gesehen, also aus Sicht des Kapitalisten, sind sie alle Kapital, nur in verschiedener Form. Anders wäre der Rede von einem „Kreislauf“ des Kapitals kaum ein Sinn abzugewinnen. Dieses „Allgemeine“, diese Substanz, darf nicht fälschlich philosophisiert werden – das wäre, „als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen [...] auch noch das Thier existierte“ (MEGA II.4, 37).121 Backhaus) wenig anderes tut als Marx zu destruieren. Eigene Theorien wirtschaftlicher Abläufe sucht man neben Referaten binnenmarxistischer Debatten vergeblich. 117 Backhaus 1969 ff. will das nach Rubin 1926 als Erster gesehen haben (Heinrich 2001a, 158 gesteht ihm das zu). Diese Einschätzung liegt indes eher an der Partialität der eigenen Rezeption (cf. Fritsch 1954; Mandel 1962, 72 ff. u.a.). 118 Insofern machen die Ausfüge in die Philosophie, die Backhaus unternimmt (etwa zu Georg Simmel, Alfred Ammon und Bruno Liebrucks), das Geld nicht leichter verständlich, im Gegenteil. Sie zeigen an, dass er es exogen denkt. 119 Auch Brunoff 1976, 123 bemerkt: „nowhere in Capital does the theory of money expand into a monetary theory of the economy: it remains purely a theory of the monetary economy“. 120 Cf. MEW 42, 92, 441 etc. Er übersetzt damit, wie ein Unternehmer bilanziert: verkäufliches Warenkapital (im Lager), unverarbeitete Rohmaterialien (zirkulierendes fixes Kapital) und Produktionsanlagen (konstantes fixes Kapital) sowie gezahlte Lohnkosten erscheinen alle auf der Habenrechnung. Hinzu kommen nur noch vermittelte Faktoren (Unkosten des Vertriebs, Zinszahlungen, Steuern etc.). Überflüssige Arbeiter werden abgestoßen, damit das in ihnen gebundene Kapital an andere Faktoren übergehen kann. 121 Eben diesem Schein sitzt die „monetäre Werttheorie“ auf. Sie nimmt die Hegelsche Ausdrucksweise, die Marx hier karikiert (in den Grundrissen, MEW 42, und der ersten Auflage des Kapitals, MEGA II.4, weit stärker als in der zweiten, MEW 23), für bare Münze, und fragt sich nun, wie die „außer der Welt hockende“ Substanz sich in ihre „Form“ inkarniert (Backhaus 1969, 131; cf. MEW 1, 378). Das übersetzt die neoklassische Zurückweisung der „Transformation“ von Werten in Preise

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Eine dieser Formen des Kapitals ist nun das Geld (MEW 23, 161), unter der Bedingung, dass es sich um Geld im Kapitalismus handelt. Marx’ Bestimmungen sind nicht rein logisch, sie tragen einen historischen Index, dessen Voraussetzungen stets mitreflektiert werden. Das ist eine Errungenschaft Hegels.122 Um aber die hegelianische Denkfalle zu vermeiden, die das Denken zur Ursache macht, sind wir die Sache von hinten angegangen: die Bestimmung des Geldes als eine Form des Kapitals ist schon spezifisch. Sie hat den Vorteil, dass sie leicht zu verstehen ist. Zunächst und vor allem aber ist Geld eine Form des Wertes. Dies scheint schwieriger zu verstehen zu sein. Dabei ist der Wert nur das Einfachere: werden Geld und Kapital als Formen des Wertes begriffen, sind sie auf etwas Einfaches zurückgeführt – eine grundlegende wissenschaftliche Operation, über die sich nur Philosophen wundern. Über dieses Einfache, den Wert, lassen sich nun Aussagen treffen wie die, dass die Höhe des im Tausch relevanten Wertes einer Ware, an dem sich ihre Preisform orientiert, bestimmt (nicht: determiniert) ist durch die Menge an geleisteter gesellschaftlich notwendiger Arbeit.123 ins philosophisch-Unfassbare (Backhaus 1978, Fn. 28; 1997, 168). Jedoch: Die Substanz ist immer schon in Form (der Wert drückt sich immer schon in Preisen aus), nur diese Formen ändern sich. „All das ist nicht myteriös“ (MEW 23, 72), sondern wird täglich vollzogen, schon wenn man morgens zum Bäcker geht (G-W). Die Substanz ist nichts jenseits der Formen, sondern das ihnen Gemeinsame. Backhaus’ Frage nach der Deduktion des Geldes ist ein „Scheinproblem“. Seine Philosophisierung ist nicht philosophisch genug, sie bleibt auf halbem Wege stecken. Wittgenstein spürte diesem Schein nach: wo ist neben Wasserdampf, Eis und flüssigem Wasser noch das Wasser an sich? Wo ist neben den Spielern der Mannschaftsgeist? Wie kommt die Substanz zu ihrer Form? Hier spielt die Sprache den Philosophen (und nur diesen) einen Streich. Die Einsicht, dass Philosophie oft Scheinprobleme zu lösen sucht, mag Wittgenstein in nächtlichen Gesprächen mit dem Neoricardianer Piero Sraffa, einem Freund Gramscis, neu aufgegangen sein (Roncaglia 2000, Sandemose 2001). 122 „Dass aber in der Form der Warenwerte alle Arbeiten als gleiche menschliche Arbeit und daher als gleichgeltend ausgedrückt sind, konnte Aristoteles nicht aus der Wertform selbst herauslesen, weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte. Das Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, kann nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt. Das ist aber erst möglich in einer Gesellschaft, worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist“ (MEW 23, 74; cf. MEW 42, 119, 152). 123 Marx’ Formbegriff lässt sich nicht wie bei Lask oder Luhmann aufstocken zu einer „Form der Form“, sondern das in Form Gebrachte kann als Form des jeweils andern begriffen werden, sofern das etwas klarer machen kann: Geld ist eine Form des Kapitals, Kapital eine Form des Geldes; Geld, Ware und Kapital sind jeweils Formen des Wertes; Kapital eine Form der Arbeit etc. (Nur so sind später von Marx aufgestellte Zusammenhänge zu begreifen, wie der, dass ein Fall im Wert der Lebensmittel den Preis der Arbeit senken und damit den Mehrwert steigen lassen kann). „Der Wert“ selbst existiert nicht für sich, sondern nur in Form der anderen

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So lassen sich auch weit komplexere Termini, etwa die Zusammensetzung des Kapitals, auf Arbeitswertausdrücke bringen.124 Mit Hegel könnte man bei dem Verhältnis der Formen zueinander von „Identität und Differenz“ reden: obwohl sie verschieden sind, sind sie darin gleich, Verkörperungen von Wert zu sein – wie die Blüte nicht die Frucht ‚ist’, aber doch eine Verkörperung derselben Pflanze. Der „Übergang“ zwischen ihnen ist kein apriorischer, begrifflich „notwendiger“, sondern ein realer (ein „Regelzusammenhang“, Steinvorth 1977, 12, 25). Er vollzieht sich täglich, kann aber auch jederzeit gestört werden, und zwar exogen wie endogen (MEW 23, 117). Das Verständnis der Krise setzt also das des normalen Fungierens voraus. Die Theorie dieses Fungierens steckt aber nicht schon in den „Kategorien“, sondern erst in den formulierten Gesetzen.125 Die Fassung speziell des Geldes als einer Form des Wertes kann seine Rolle in Bezug auf andere Formen klären. Sie ist die eines Mittlers (MEW 40, 563 ff.). Das erlaubt die Unterscheidung verschiedener Funktionen des Geldes. Die Abstraktion vom Geld zurück auf den Wert126 dient vor allem der übersichtlichen (etwa in Form des Preises). Dennoch lässt sich sagen, dass seine Größe von der Menge an verkörperter abstrakter Arbeit bestimmt wird. Das ist nicht geheimnisvoller als zu sagen: Bakterien und Pflanzen sind Formen des Lebens, aber ‚das’ Leben existiert nicht für sich. Dennoch kann man über das Leben Aussagen treffen – etwa, dass Stoffwechsel sein Wesensmerkmal ist, dass Elefanten länger leben als Eidechsen etc. Die Wertformanalyse (MEW 23, 49-84) bereitet darauf vor, was im weiteren Verlauf methodisch geschieht. Sie ist nicht „dunkel und unerklärbar“ (Backhaus 1969, 132), sondern eher ein Musterbeispiel methodologischer Reflektiertheit. Marx arbeitet methodisch sauber: wenn er etwas aufeinander bezieht, sagt er auch, warum man diese Dinge aufeinander beziehen kann. Es muss eine gemeinsame Grundlage geben, um Verschiedenes vergleichen zu können. Marx drückt dies aus, indem er sagt, die „Substanz“ des Wertes ist die „abstrakte Arbeit“ („Wertsubstanz“, MEW 13, 53, „gesellschaftliche Substanz“, MEW 23, 52). Eine substantialistische Lesart dessen ist verfehlt, denn den Waren, dem Geld etc. wächst die Gegenständlichkeit des Wertes erst in den kapitalistischen Verhältnissen zu (Brentel 1989). Es „geht kein Atom Naturstoff in ihre Wertgegenständlichkeit ein“ (MEW 23, 62). Dennoch muss die Arbeit erst einmal geleistet werden. Dass Marx auch dies ausdrückt (MEW 23, 61 spricht von ihrem „physiologischen Sinn“), ist manchem zu ungeistig (Heinrich 2001a, 159; cf. Fn. 35, 72). 124 Die technische Zusammensetzung (Verhältnis Maschinen/Arbeitern) bringt Marx in eine Wertform (Verhältnis tote/lebendige Arbeit), und in eine Preisform (Verhältnis fixe Kosten/Lohnkosten; MEW 23, 640 ff.). Die Umwandlung ist vonnöten, weil die ursächliche Kraft in der Wertform am besten zu entziffern ist (2.1.6, Fn. 119). 125 Marx hat zwar eine Kritik der „Kategorien“ der Nationalökonomie ankündigt (MEW 29, 550). Etwa für die historische Gültigkeit impliziert seine Neufassung der Theorie auch eine solche. Doch das heißt nicht, dass andere, etwa „normativ gehaltvollere“ Begriffe (oder eine Kritik der alten) schon ausreichen würde. Nur wer meint: „Marx [...] holt die Wirklichkeit in den Begriff hinein“ (Reichelt 2002, 180), muss selbst keine ökonomische Theorie mehr treiben – eine Art „faule Vernunft“ (Kant). 126 Sie wird in der Darstellung wieder umgedreht: sie geht vom Tauschwert auf das Geld zu. Das bereitet philosophisch Gebildeten Schwierigkeiten. Die bestehen nur darin, dass es so einfach ist (MEW 32, 11; MEGA II.4, 28).

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Darstellung: verschiedene Äußerungen über das Geld beziehen sich auf verschiedene Funktionen. Das ist gegenüber herkömmlichen Theorien von hoher Tragweite, etwa noch hinsichtlich des IWF-Credos vom „komparativen Kostenvorteil“ durch Freihandel (s.u.). Was ist nun näher unter Marx’ Rede von der „Geldform“ und den „Geldfunktionen“ zu verstehen? Um den Anlass zu verfehlten Philosophisierungen zu vermeiden, kann die Geldform in den Geldfunktionen aufgewiesen werden, statt umgekehrt die Funktionen aus den Formen „abzuleiten“.127 Marx unterscheidet zwischen den Funktionen des Geldes als Maß der Werte, Standard der Preise, Zirkulationsmittel, Zahlungsmittel, Weltgeld, Wertaufbewahrung und als Kapital. Später kommen Funktionen des Kredits hinzu. Die basalste Funktion, die das Geld erfüllt, ist es, „Maß der Werte“ zu sein (MEW 13, 49 ff.; MEW 23, 109 ff.; MEW 42, 99, 119 ff., 681 ff.). Zwei Waren vergleichen sich erst über den gemeinsamen Bezug auf Geld. Die Aussage, dass die Wertgröße der Waren durch die in ihnen vergegenständlichte abstrakte Arbeit bestimmt wird,128 führt bei Marx nun nicht dazu, dass sich die Waren direkt in Arbeit messen, sondern sie beziehen sich nur aufeinander vermittels des Geldes.129 Dahinter steht keine transzendental-logische Notwendigkeit, sondern es ergibt sich „naturwüchsig“ (MEW 42, 98). Es ist damit zwar „historisch“, aber nicht kontingent („Dieselbe Geschichte spielt täglich vor unsren Augen“, MEW 23, 161). Es lässt sich an vielen Phänomenen zeigen, dass Waren nicht oder nicht lange direkt getauscht werden, sondern sich alsbald aufeinander über ein Drittes beziehen.130

127 Für die „Selbstverständigung“ (MEW 13 7) benennt Marx die Gefahr hegelianischer Darstellung: „Es wird später nötig sein, [...] die idealistische Manier der Darstellung zu korrigieren, die den Schein hervorbringt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe [Dialektik der Wertform, CH]. Also vor allem die Phrase: das Produkt (oder Tätigkeit) wird Ware; die Ware Tauschwert, der Tauschwert Geld“ (MEW 42, 85 f.). 128 „Der Wert der Ware aber stellt menschliche Arbeit schlechthin dar, Verausgabung menschlicher Arbeit überhaupt“ (MEW 23, 59). Heinrich 2001a diskreditiert dies als „Arbeitsmengentheorie“ (157) und wendet den Zusammenhang mit dem Geld gegen Marx. Er reißt Ware und Geld auseinander, Geld wird wieder zum Rätsel. 129 MEW 42, 185 f. Auf die Abwehr der Arbeitsgeld-Utopie eines Proudhon kam er in den Grundrissen häufiger, im Kapital dagegen kaum noch zurück (dazu Rakowitz 2000). Die Kritik bestand darin, dass entweder nur die konkrete vergegenständlichte Arbeit gemessen werden könne, was langfristig unökonomisch sei, oder aber eine Instanz vonnöten sei, die den Kurs des Arbeitsgeldes jeweils festlegen müsse – was entgegen den anarchistischen Ambitionen der Stundenzettler Züge eines Despotismus erfordere (MEW 42, 89, 93 u.ö.). 130 Brach wie in Argentinien die Geldzirkulation zusammen und bildeten sich wieder „prämonetäre“ Tauschmärkte, entwickelte sich rasch etwas Drittes zum Maß der Werte (Holz, Wertmarken o.ä.), und schon war neues Geld entstanden. Das frühest bekannte Material, das diese Funktion ausübte, war Salz. Das neoklassische „numéraire“ entspricht dieser Funktion und ist somit nicht falsch, sondern nur unvollständig (anders Heinrich 2001, 68 ff., 251).

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In Vorstudien benutzte Marx dafür hegelianische Wendungen (der Tauschwert der Waren tritt aus sich selbst und geht in sein anderes über u.ä., MEW 42, 75 ff.). Dahinter steht eine basale Feststellung.131 Das Rätselhafte des Geldes ist von seinem Stoff, seiner Substanz unabhängig, denn es zeigt sich schon in seiner krudesten Form, anhand einer Geldware wie etwa des Salzes. Gerade die heuristische Voraussetzung des Geldes als einer Ware gewährleistet es, nicht nach der jeweiligen stofflichen Beschaffenheit des Geldes (Gold, Papierscheine, digitalvirtuell etc.) zu gehen und so mit jedem Stoff eine neue Logik des Geldes hervorzuzaubern.132 Das ist der eigentliche Substantialismus in der Geldtheorie. Die Marxkritik, die darin, dass das Geld als Maß des Warenwertes anfangs selbst eine Ware ist, eine Beschränkung sieht, stellt die Sache also auf den Kopf. Das Rätselhafte liegt bereits im Tauschwert selbst, den das Geld (welches es sei) nur repräsentiert. Gerade um diesen Zusammenhang zu sehen, um sich also nicht mehr vom Geldrätsel „blenden“ zu lassen (MEW 23, 108), bestimmt Marx die das Geld als „Form“ des Wertes.133 Die weitere Funktion des Geldes, nicht nur qualitatives Maß der Werte, sondern auch quantitativer „Maßstab der Preise“ zu sein (MEW 13, 54; MEW 42, 120; MEW 23, 112), weist mit der Unterscheidung von Wert und Preis voraus auf die Ausführungen im dritten Band. Schon am Anfang des ersten Bandes ist klar, dass sich Werte immer als Preise darstellen müssen.134 Marx unterstellt aus darstellungstechnischen Gründen zunächst, dass sich Waren zu ihren Werten austauschen, gibt aber von Anbeginn zu erkennen, dass dies im Einzelnen durchaus nicht der Fall sein muss, ja de facto fast nie ist (MEW 23, 117). Zwei Waren spiegeln ihren Wert nicht nur im Medium des Geldes gegeneinander (etwa: zwei Äpfel sind soviel Salz wert wie eine Birne), sondern sie tun dies anhand von Einheiten (ein Apfel ist 10 Gramm Salz wert, eine Birne 20 Gramm). So dient das 131 Natürlich kann sie künstlich verrätselt werden. Aber das geht mit allen Dingen, das ist kein theoretisches Problem, sondern eine protophilosophische Grille (Fn. 52). Obwohl Heinrich 1986 den Hegelianismus kritisiert hat, folgt er ihr später selbst: er meint, die Geldform sei nicht korrekt „abgeleitet“ (2001, 223 f., 236 u.ö.). Er schiebt sie nun in eine „Handlungs[!]theorie“ (in den Tausch, 231). Gerade dort aber liegt auch der prämonetäre „Tausch“-Wert. „Um das Marx’sche Geldproblem zu lösen, um also eine adäquate Geldform abzuleiten [!], muss daher die handlungstheoretische Ebene der Warenstruktur untersucht werden” (Hahn 1999, 125). 132 S.u., Fn. 150. „Ich setze überall in dieser Schrift, der Vereinfachung halber, Gold als die Geldware voraus“ (MEW 23, 109; Hvg. CH; cf. 132, MEW 13, 49). Diese Voraussetzung lässt sich wieder aufheben, wenn der Grundmechanismus, zu dessen Darstellung sie dient, verstanden ist. Wer Marx auf eine Goldwährung festlegt, unterläuft diese Didaktik. Heinrich vernotwendigt sie, entgegen Marxens ausdrücklicher Anweisung. Er unterstellt Marx „grundsätzlich“ eine Bindung an eine Geldware, das sei sein „Defekt“ (Heinrich 2001a, 161; siehe Fn. 153). 133 „Eigenschaften, die als besondere Eigenschaften des Geldes aufgezählt werden, sind Eigenschaften der Ware als Tauschwert [...] Tauschwert der Ware, als besondere Existenz neben der Ware selbst, ist Geld“ (MEW 42, 77). 134 Preis „ist der Geldname der in der Ware vergegenständlichten Arbeit“ (MEW 23, 116).

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Geld als Maß der Preise.135 Um diese Funktion auszuüben, muss es keineswegs in der Hand der Tauschenden vorhanden sein, die Messung ist „ideell“.136 Die Verselbständigung dieser Funktion des Geldes führt zur Entstehung von „Münzen“, also institutionell geprägter Formen des Geldes (MEW 13, 87 ff.). Dies verleitet zu der perspektivischen Täuschung, der Staat oder sonstige geldprägende Institutionen erzeugten das Geld. Tatsächlich bemächtigt er sich lediglich dieser schon bestehenden Funktionen.137 Marx redet bereits auf dieser noch sehr greifbaren Ebene vom „Zeichencharakter“ des Geldes, speziell der Münze („Relativ wertlose Dinge, wie Papier, können also als Symbole des Goldgeldes funktionieren“, MEW 13, 93). Darin lauert eine weitere Möglichkeit der Störung, denn das Zeichen kann immer auch falsch anzeigen: der Name der Einheit der Geldsubstanz muss nicht mit dem Namen des sich herausbildenden Geldes übereinstimmen (etwa: ein Pfund Gold nicht mit dem englischen „Pfund“).138 Münzfälschungen und sonstige Erschütterungen des Geldsystems durch Schwankungen des Goldpreises oder Inflation sind hier anzusiedeln. Die Waren haben allerdings einen Wert, der sich in Geld nur ausdrückt.139

135 „Am Maß der Werte messen sich die Waren als Werte, der Maßstab der Preise misst dagegen Goldquanta an einem Goldquantum“ (MEW 23, 113). 136 „Da der Ausdruck der Warenwerte in Gold ideell ist, ist zu dieser Operation auch nur vorgestelltes oder ideelles Gold anwendbar. Jeder Warenhüter weiß, dass er seine Waren noch lange nicht vergoldet, wenn er ihrem Wert die Form des Preises oder vorgestellte Goldform gibt, und dass er kein Quentchen wirkliches Gold braucht, um Millionen Warenwerte in Gold zu schätzen“ (MEW 23, 110; MEW 13, 59 ff., MEW 42, 77, 122) Doch obwohl „nur vorgestelltes Geld zur Funktion des Wertmaßes dient, hängt der Preis ganz vom reellen Geldmaterial ab“ (MEW 23, 111). Vorausgesetzt ist entwickelte Arbeitsteilung und Produktion für den Markt. 137 Cf. Stephan 1974. Das ist die Idealismusfalle (der Schluss von Form und Inhalt, 2.5.2), in der ein Ort zur Ursache wird (im Bewusstsein = durch das Bewusstsein, im Tausch = durch den Tausch, in Form des Staates = vom Staat). 138 „Bei aller metallischen Zirkulation bilden daher die vorgefundenen Namen des Gewichtsmaßstabs auch die ursprünglichen Namen des [...] Maßstabs der Preise“ (MEW 23, 112). „Die Geldnamen der Metallgewichte trennen sich nach und nach von ihren ursprünglichen Gewichtnamen“ (114). Ändert der Staat den Kurs (ein Pfund Gold sei nicht mehr ein, sondern zwei Pfund Sterling wert), so hat er nicht den Reichtum vermehrt, sondern den Geldnamen verändert („Es ist bloß andre Namensgebung“, MEW 42, 124): Eine Ware kostet jetzt in Geld doppelt soviel wie zuvor, tauscht sich aber gegen andere Waren noch genauso aus: „Nach wie vor bleiben bestimmte Metallgewichte Maßstab des Metallgeldes. Was sich geändert, ist Einteilung und Namengebung“ (MEW 23, 115). 139 „Die Ware ist Tauschwert, aber sie hat einen Preis“ (MEW 42, 121). Genau das unterläuft wiederum Heinrich 2001a, 159, wenn er meint, dass „die Produkte erst im Tausch zu Waren werden“ (ähnlich Hahn 1999, 129; Reichelt 2002, 151). Die Waren werden vielmehr für den Tausch produziert und gehen mit Wert in ihn hinein. Dass die Gefahr besteht, ihn nicht zu realisieren, heißt nicht, dass sie ihn nicht haben. „Um in der Zirkulation als Preise zu erscheinen, sind die Waren der Zirkulation als Tauschwerte vorausgesetzt“ (MEW 13, 51).

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Das Geld hat in dieser Funktion eine nur beschränkte Funktion, „gilt“ nur innerhalb je einer Volkswirtschaft. Im Marx’schen Bild ist dies wieder nur eine Funktion des Geldes. Illusionen über die ökonomische Potenz des Staates hängen von einem zu hermetischen Verständnis dieser Grenze ab.140 Ausgehend von dieser relativ greifbaren Gestalt des Geldes kommt Marx auf die Funktionen, die das Geld in der einfachen Zirkulation erfüllt. Hier muss es nun tatsächlich besessen werden.141 Die Formel W-G-W (Ware-Geld-Ware) gibt diese Funktion wieder: Geld ist hier Zirkulationsmittel (MEW 42, 124 ff., 696 ff.; MEW 13, 69 ff.; MEW 23, 118 ff.). Der Händler will seine Ware nicht nur in Geld messen, sondern wirklich verkaufen. Der Schuster bekommt für seine Schuhe Geld. Davon kauft er Brötchen und Milch. Zweck des Geldes ist es nun, 140 Das Geld erhält „als Münze lokalen und politischen Charakter, spricht verschiedene Landessprachen und trägt verschiedene Nationaluniform. Die Sphäre, worin das Geld als Münze umläuft, scheidet sich daher als innere, durch die Grenzen eines Gemeinwesens umschriebene Warenzirkulation von der allgemeinen Zirkulation der Warenwelt ab“ (MEW 13, 87). „Die Einmischung des Staats [...] scheint das ökonomische Gesetz aufzuheben. [...] Indes ist diese Macht des Staats bloßer Schein. Er mag beliebige Quantität Papierzettel mit beliebigen Münznamen in die Zirkulation hineinschleudern, aber mit diesem mechanischen Akt hört seine Kontrolle auf. Von der Zirkulation ergriffen, fällt das Wertzeichen [...] ihren immanenten Gesetzen anheim“ (MEW 13, 98). Zur Staatlichen Theorie des Geldes Knapp 1905 (2.4.3, Fn. 54), Lipietz 1985, Altvater 1991, 1997; vgl. Reichelt 2002, 187. 141 Genau dies ist der Schritt, den die Wertformanalyse nicht mehr vollzog. In einer Reprise versucht Reichelt erneut, die „Geldform“ bei Marx zu problematisieren. Seine Rekonstruktion (2002, 145), die mehr auf Hegel und Simmel als auf Marx zurückgeht, bezieht sich auf das, was die Tauschenden dabei „im Bewusstsein“ vollziehen (152). Das entspricht bei Marx der Funktion des Geldes als Maß der Werte: Sie ist „ideell“, setzt nur „im Kopf“ (MEW 42, 77, 122) die Ware in Geld um. Real vorausgesetzt dafür ist gesellschaftliche Teilung der Arbeit und formale Gleichheit unter den Menschen. Es ist eine Schätzung des in der Ware vorhandenen Wertes (nicht der Wert wird „konstituiert“, 156, sondern die Wertgröße geschätzt). Reichelt will auch die realen Voraussetzungen als Setzungen im Fichteschen Sinne „rekonstruieren“ („Setzungsakt“, 159). Methodisch erinnert dies an die Elimination des Dings an sich durch Hegel (cf. 2.5.1). Die Schätzung des Wertes im Preis bezieht sich aber auf ein etwas (den Wert), der zuvor schon (an sich) vorhanden ist. Dass es im Tausch zu Abweichungen des Preises vom Wert kommen kann, heißt nicht, dass der Wert im Tausch entsteht. Da Reichelt Marx’ Aussagen wie Backhaus als „schlechthin unbegreiflich“ und „völlig unzureichend“ hinstellt (146 f.), übernimmt er bruchlos Vorstellungen anderer Autoren, von Simmel etwa diese neoklassische Sage (151), von Hegel und Adorno die Vergeistigung, dass Geld der „existierende Begriff“ sei (150). So werden Marx’ Bemerkungen über die geschichtliche Entstehung der Wertform (lange vor dem Kapitalismus) zu erkenntnistheoretischen Prozessen „im Bewusstsein“, die sich „logisch unbewusst“ (157) vollziehen. Diese Konfusion verdankt sich vor allem der Nichtunterscheidung der Geldfunktionen. Damit gibt Reichelt jedoch implizit, wie auch Heinrich und Backhaus, die Arbeitswertlehre auf (147). „Bewusstsein“ heißt bei Marx stets „bewusstes Sein“ – diese Voraussetzungen selbst noch als „unbewusste“ logische „Setzung“, als „Konstitution“ des Bewusstsein zu fassen, ist eine unübersehbare Erblast des Deutschen Idealismus (2.5.2).

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ausgegeben zu werden. Am Ende steht der Konsum. Geld vermittelt den Tausch zwischen Schuhen und Lebensmitteln, es erscheint hier nur als Übergangsform (Hegel würde sagen: es ist nur im Verschwinden). Vorausgesetzt dafür ist eine entwickelte Teilung der Arbeit und damit die Vergleichbarkeit der Arbeitsprodukte untereinander. Indem der Schuster Schuhe herstellt, vertraut er darauf, dass jemand anderes keine Schuhe herstellt und ihm dafür Geld gibt; weiterhin darauf, dass er für sein Geld Brötchen bekommt, also jemand diese für den Markt herstellt etc. Auf diesem direkten Tausch einer Ware gegen Geld (purchase) beruht die Quantitätstheorie des Geldes, nach der die Menge des Geldes die Preise der Waren bestimmt: Gibt es viel Geld und wenig Waren, seien diese teuer, bei wenig Geld und vielen Waren dagegen billig. Marx korrigiert sie schon auf dieser Ebene: da das Geld den Wert der Ware nur ausdrückt, hat die Ware den Primat.142 Folglich bestimmt nicht die Menge des Geldes den Preis der Waren, sondern umgekehrt: der im Preis ausgedrückte Wert der Waren, den sie bereits haben, erheischt zu seiner Zirkulation eine bestimmte Menge Geld.143 Das ist nicht dasselbe, sondern zeigt eine Abkünftigkeit an, die für Betrachtungen des Finanzsektors zentral ist (sie lässt sich von dort rückwirkend belegen, Shaikh 1995). Die Formel der einfachen Warenzirkulation W-G-W sieht zwar einfach aus.144 Doch in ihr ist erheblich mehr enthalten als in der unmittelbaren Gleichsetzung von Kauf und Verkauf in Says Gesetz, auf dem die neoklassische Gleichgewichtstheorie aufruht.145 Darin, dass Kauf und Verkauf zeitlich auseinander treten, drückt sich eine Möglichkeit der Krisen aus. Waren können unverkäuflich bleiben, Geld kann keine Ware finden.146 Die Einsicht, dass die Bewegungen des Geldes einen Einfluss haben (die als „Nichtneutralität“ des Geldes gefasst wird), ist schon hier zu lokalisieren.147 142 Zwei Waren lassen sich notfalls auch ohne Geld tauschen, doch Geld ohne zu kaufende Ware ist nichts wert. Geld kann man nicht essen, wie schon die Cree sagten. 143 „Die Voraussetzung der Geldzirkulation ist die Warenzirkulation, und zwar zirkuliert das Geld Waren, die Preise haben“ (MEW 13, 84; MEW 42, 125; 23, 131). 144 Sie muss nicht rein historisch gelesen werden, doch entspricht ihr, anders als Rakowitz 2000 meint, in der Wirklichkeit durchaus etwas: so die Struktur des Handwerks, das zwar für den Markt produziert, aber dabei wenig mehr als seine eigene Arbeitskraft sowie die seiner Familie reproduziert – es findet keine Akkumulation statt. Auch an die Wirtschaftsweise vieler traditionaler Gesellschaften in der Dritten Welt ist zu denken. W. Becker 1974 hält die Formel für so einfach, dass damit gar nichts gesagt und sie daher unsinnig sei (s.u., Fn. 47). 145 „Das metaphysische Gleichgewicht der Käufe und Verkäufe beschränkt sich darauf, dass jeder Kauf ein Verkauf und jeder Verkauf ein Kauf ist, was kein sonderlicher Trost für die Warenhüter, die es nicht zum Verkauf, also auch nicht zum Kauf bringen“ (MEW 13, 78). Zur Gleichgewichtsannahme vgl. auch Hahn 1999, 14 ff. 146 Cf. MEW 23, 128; cf. MEW 13, 77; MEW 42, 128. Für eine aktuale Krise muss allerdings noch mehr hinzukommen (MEW 23, 128; cf. Hahn 1999, 130 ff.). 147 Zur Neutralität des Geldes in der Neoklassik Hahn 1999, 17 ff., 40 ff. Huffschmid 1999, 31 ff. beschreibt, wie Geschäfte mit Währungsspekulationen auf dem zeitlichen Auseinandertreten von Kauf und Verkauf beruhen: Steigt der Kurs einer Währung, in der jemand sein Geld erhält, nach dem Abschluss des Vertrages, aber vor

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Mit der Zahlungsverzögerung ist bereits eine Art des Kredits erfasst (der Handelskredit, cf. Luhmann 1998, 348), die zur nächsten Funktion überleitet. Werden solche Geldzirkulationen zur Regelmäßigkeit, wird das Geld als Zahlungsmittel gebraucht (MEW 13, 115 ff., MEW 23, 148 ff.). Diese weitere Differenzierung der Geldfunktion sieht erneut nur auf den ersten Blick haarspalterisch aus – tatsächlich beruht auf ihr zu einem großen Teil der Bankensektor. Der Schuster beziehe nun regelmäßig Leder von einem Lieferanten, und übergebe diesem dafür einen Teil seiner gefertigten Schuhe zum Vertrieb. Zwischen ihnen zirkulieren also Waren. Bezieht der Schuster für 800 $ Leder und liefert Schuhe im Wert von 1000 $, so beläuft sich der Wert der zirkulierenden Waren auf 1800 $. Die beiden können jedoch, um die zwischen ihnen ausstehenden Zahlungen zu tätigen, deren Werte gegeneinander aufrechnen. Geld in seiner Funktion als Zahlungsmittel zirkuliert dann nur im Wert von 200 $.148 Daraus erhellt, dass – sogar ungeachtet der Umschlagsgeschwindigkeit des Geldes – auch mit wenig Geld viele Waren zirkulieren können, die reine Menge zirkulierenden Geldes also nur einen beschränkten Einfluss auf die Preise hat.149 Auch dies widerstreitet der Quantitätstheorie des Geldes. Die Ausgleichung der Zahlungsbilanz kann „ausdifferenziert“, also Personen übertragen werden, die sich auf dieses Geschäft spezialisieren – die Banken. Darauf beruht das „Kreditgeld“.150 Auslieferung der Ware, macht er einen Zusatzgewinn. Er kann jedoch genauso gut Verlust machen. Daher haben sich ganze Geschäftssparten auf die Minimierung solcher Risiken oder die Ausschöpfung der möglichen Gewinne durch den „Geldhandel“ spezialisiert. Die Logik dahinter ist einfach, es bedarf keiner irgend ‚neuen’ Logik. „Die Trennung zwischen Verkauf und Kauf macht mit dem eigentlichen Handel eine Masse Scheintransaktionen vor dem definitiven Austausch zwischen Warenproduzenten und Warenkonsumenten möglich. Sie befähigt so eine Masse Parasiten, sich in den Produktionsprozess einzudrängen und die Scheidung auszubeuten“ (MEW 13, 79). 148 Das setzt ein Vertrauen voraus, welches erst mit der Regelmäßigkeit solcher Zahlungen erwartbar ist. Diesen Ursprung kann man noch an Namen wie „bankers trust“ ablesen (Luhmann 1973 dagegen hat es entökonomisiert). 149 „Im Umlauf des Zirkulationsmittels wird der Zusammenhang zwischen Verkäufern und Käufern nicht nur ausgedrückt. Der Zusammenhang selbst entsteht erst in und mit dem Geldumlauf. Dagegen drückt die Bewegung des Zahlungsmittels einen schon [...] fertig vorhandnen gesellschaftlichen Zusammenhang aus“ (MEW 23, 151). 150 „Der Charakter von Gläubiger oder Schuldner entspringt hier aus der einfachen Warenzirkulation“ (MEW 23, 149). „Das Kreditgeld entspringt [...] der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel, indem Schuldzertifikate für die verkauften Waren [...] wieder zur Übertragung der Schuldforderungen zirkulieren“ (153 f.; cf. MEW 25, 413 ff.). Ähnliches tritt im internationalen Handel auf (Brunoff 1976, 99 ff.; Itoh 1999). Wie folgende Überlegung klar macht, wird der Effekte der Verzögerung durch die Digitalisierung nicht aufgehoben (so Altvater 1997): A kann per Knopfdruck sofort einen Kredit von 1 Mio. $ zu 10 % aufnehmen, mit dem er in etwas investiert, was einen potentiellen Profit von 200 000 $ erbringt (also nach Zinsen 100 000 $). Bank B kann nun im selben Moment mit den Schuldscheinen handeln, während A seinen Besitz weiterverkauft (dies beides wären dann „Derivate“). Der

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In den bisherigen Geldfunktionen waren immer auch Unsicherheiten möglich. Denkbar wurden bis jetzt Münzfälschungen oder andere Schwankungen des Geldnamens, Handelskrisen und in deren Folge De- oder Inflationen, zuletzt wären Komplikationen durch den Zahlungsaufschub, Verluste durch Wechselkursschwankungen zwischen Kauf und Verkauf oder gar der Bankrott einer Bank denkbar. Die Funktion des Geldes als „Weltgeld“ (MEW 23, 156 ff.; MEW 13, 125 ff.; cf. MEW 42, 153 f.) ist bereist eine Reaktion darauf. Man kann sich folgende Hierarchie von Geldformen denken, die eine zunehmende Sicherheit aufweist: Real greifbares Geld kann verloren gehen, gestohlen oder vernichtet werden (durch Brand, Ausgabe neuer Scheine etc). Bringt man es auf die Bank, so kann diese nicht nur ausgeraubt werden oder bankrott gehen, sondern das Guthaben dort ist an die Schwankungen der eigenen Währung gebunden. Fällt der Kurs, so kann ein Vermögen schnell zerrinnen. Mehr Sicherheit kann also ein Konto bringen, das in Dollar geführt wird – wie es etwa in Argentinien viele Menschen besaßen. Doch das Einfrieren dieser Konten im Zuge der Finanzkrise hat gezeigt, das selbst dies nicht immer Sicherheit bietet. Der nächste Schritt wäre ein Dollarkonto in den USA – dies wäre „Weltgeld“. Doch auch hier lassen sich unschwer Situationen denken, die das Geld einer Entwertung aussetzen.151 Dieses Szenario zeigt die Funktion, die das Geld als „Weltgeld“ anstrebt: Sicherheit, und zwar vor allem im internationalen Zahlungsverkehr.152 Nicht gesagt Bezug auf den potentiellen Profit ist damit zwar undurchsichtiger geworden, aber nicht verschwunden. Die Erwirtschaftung des Profites braucht notwendigerweise Zeit (Produktion der Waren, Auslieferung, Verkauf, Rückfluss des Geldes). Wird nicht der erwartete, sondern ein geringerer Profit eingefahren (etwa 20 000 $), so hat A große Schwierigkeiten, B den Kredit zurückzuzahlen. Dieser Effekt kann zwar durch den Derivatenhandel in größere Zusammenhänge eingespeist werde (nicht mehr A hat das Problem mit B, sondern C, der A’s Besitz gekauft hat, mit D, der B’s Schuldschein besitzt – was sich auf diverse Personen aufteilen kann). Doch eine Illusion ist es zu denken, dass dadurch das Problem verschwindet. Es liegt nur auf anderen Schultern. (Selbst wenn C und D die Derivate noch mit Gewinn weiterverkauft haben – die Struktur einer „Blase“ –, heißt das nur, dass jetzt E und F am Zug sind und dafür zahlen müssen). Die „Form“ kann den „Inhalt“ zwar modifizieren (eine Krise verschleppen, Spuren verwischen o.ä.), aber nicht verschwinden lassen. Dieser Schein verdankt sich dem neoklassischen Paradigma, dass die Produktion immer schon ausgeblendet hat. Sie ist nicht „heute“ durch irgendeine technische Neuerung verschwunden, sondern war in dieser Optik noch nie da. Vgl. zur „Blase“ (bubble): „Die innere Abhängigkeit, die äußere Selbständigkeit treiben es bis zu einem Punkt, wo der innere Zusammenhang gewaltsam, durch eine Krise, wiederhergestellt wird“ (MEW 25, 316). 151 Das Beispiel entstammt einer Vorlesung von Anwar Shaikh im November 2002. Das horrende Außenhandelsdefizit der USA legt eine Abwertung des Dollar nahe. 152 „Als internationales Geld endlich vollziehn die edeln Metalle wieder ihre ursprüngliche Funktion als Tauschmittel, die, wie der Warenaustausch selbst, nicht im Innern der naturwüchsigen Gemeinwesen, sondern an den Berührungspunkten verschiedner Gemeinwesen entsprang“ (MEW 13, 125). „Ein Teil der aufgehäuften Schätze dient [...] bei jedem Volk als Reservefonds des Weltgeldes, der sich bald entleert, bald wieder füllt, entsprechend den Oszillationen des Warenaustausches“

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ist hingegen, dass diese Funktion immer schon erfüllt ist.153 Dass das Gold diese Funktion lange Zeit erfüllt hat und zum Teil immer noch erfüllt,154 ist sachlich nachvollziehbar, nicht aber „begrifflich notwendig“. Dass es die Funktion des Geldes als „Weltgeld“ gibt und geben muss, zeigen die Bemühungen, innerhalb größerer Wirtschaftsgebiete einheitliche Währungen zu schaffen – neben dem Dollar, der schon länger solche Funktionen ausübt, etwa Euro und Asean, in Planung ist auch ein panarabischer Golddinar. Weltgeld ist das, was bleibt, „when the music stops“ (nach Hicks, cf. Chick 2001, 228). Die anhaltende Popularität des Goldes erklärt sich daraus, dass Wirtschafts- und Finanzkrisen auch ganze Regionen erschüttern können. Es ist relativ sicher oder zumindest aus anderen Gründen unsicher als Geld in Landeswährung, und dennoch, anders als Grundbesitz, jederzeit und überall austauschbar. Daran hat sich wenig geändert, auch wenn philosophische Tagesmoden immer neue Stadien ausrufen (etwa des digitalen Geldes, Fn. 150, 153). (MEW 13, 126). Als „von der Goldsubstanz selbst losgelöstes Wertzeichen“ (MEW 13, 95) bedarf auch heutige Währung noch der Konvertibilität in eine andere – sei es in das „Weltgeld“ Dollar, sei es notfalls in die Bankdeckung in Gold. Solche „Geldware“ wird besonders in Krisen nachgefragt. Es ist ein Funktions-, kein Substanzbegriff, und zwar einer, der eine langfristige Dimension hat. 153 Marx deckt schon in seinen Grundbestimmungen Möglichkeiten von Krisen auf. Es ist daher kaum sinnvoll, die Gültigkeit seiner Theorie ausgerechnet durch Geldkrisen in Frage stellen zu wollen. Marx hat diese fragile Funktion beschrieben. Doch Heinrich meint, Marx habe „das Geld [!] grundsätzlich an eine Geldware gebunden“ (2001a, 161; s.u., Fn. 131). Er kommt zu dem Schluss, mit „dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods in den frühen 1970er Jahren“ habe sich die Situation gegenüber Marx „grundsätzlich“ gewandelt. Im Gegenteil: Marx beschreibt gerade diese ständige Unsicherheit. Der Goldstandard wurde übrigens erst 1870 international etabliert, also nach der Niederschrift des Kapital (Eichengreen 1996). Er war die zeitweilige Antwort auf eine Frage, die weiterhin besteht und die Marx theoretisch erfasst hat. Heinrichs „monetäre Werttheorie“ unterscheidet die Funktionen des Geldes nicht und verheddert sich so in diesen. Auch Marx weiß, „dass das Geld als Gold und Silber, soweit es nur als ZirkulationsTauschmittel ist, durch jedes andere Zeichen [...] ersetzt werden kann, [...] weil das materielle Geld als bloßes Tauschmittel selbst symbolisch ist“ (MEW 42, 142). Nur gibt es bei Marx, anders als in der Neoklassik, noch andere Geldfunktionen, in denen Gold eine Rolle spielen kann. Es gibt einen antisubstantialistischen Affekt, der sich auf alles bei Marx wirft, was nach Substanz klingt: Geldware, abstrakte Arbeit etc. Das entspricht der „anti-essentialistischen“ Postmoderne (Callari 1995, Bonacker 2000, Martin 2002, Antonio 2003, Rethinking Marxism etc.), wird aber dem Sinn dieser Termini gerade nicht gerecht. Ihr präziser Sinn wird so preisgegeben. 154 Kolesnikov 2002 etwa berichtet, dass asiatische Zentralbanken angesichts der zu erwartenden Instabilität des Dollars ihre Dollarreserven abschmelzen und ihre Goldreserven aufstocken. Gold ist nach wie vor eine verlässliche Form des Geldes, die keinen Wechselkurschwankungen ausgesetzt ist (wohl aber Preisschwankungen) und die daher recht inflationssicher ist. Die USA mussten die Goldbindung des Dollar deswegen aufgeben, weil ihre Zentralbank die Golddeckung des Dollar nicht mehr garantieren konnte. Der Dollar selbst ist jedoch nach wie vor „Weltgeld“ geblieben: mit ihm kann man noch immer an vielen Orten der Welt bezahlen.

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Sofern es der Sinn dieses Geldes ist, nicht ausgegeben zu werden, nennt Marx es „Schatz“ (MEW 13, 104 ff.; MEW 42, 156 f.; MEW 23, 144 ff.; Keynes kannte für das „hoarding“ nur psychologische Motive, 1936, 208). Entstanden ist diese Funktion aus der vorkapitalistischen Variante des Schatzbildners, der das Geld um seiner selbst willen der Zirkulation entzog.155 Im Kapitalismus übernimmt der Schatz eine andere Funktion, nämlich die eines „Puffers“: wenn die Preissumme der Waren die zur Zirkulation benötigte Geldmenge bestimmt (unter Berücksichtigung der Umschlagszeit) und nicht umgekehrt, kann „überflüssiges“ Geld in die Schatzbildung eingehen. Da sich im Kapitalismus, der eine Produktion auf Verdacht hin ist, die verkäufliche Warenmenge stets verändert, ist eine hohe Flexibilität der Zirkulation nötig. Überraschend zusätzlich nötiges Geld schmilzt den Schatz ein, überflüssiges füllt ihn an.156 Dies ist ein dritter Aspekt, den die Quantitätstheorie des Geldes übergeht: überschüssiges Geld wird, statt auf den Markt geworfen zu werden und so die Preise zu erhöhen (und sich selbst zu entwerten), eher ins Ausland gehen, um Luxusgüter zu erwerben oder angelegt zu werden, oder es wird eben gehortet. Es entgeht so der Binnenzirkulation – und damit auch der Quantitätstheorie. Etwas, was erst durch die Ansammlung großer Mengen ungenutzten Geldes möglich wird, in der Quantitätstheorie des Geldes allerdings nicht zu denken ist, ist die Verwandlung des Geldes in Kapital (MEW 23, 161 ff.; MEW 42, 165 ff.). Schon vor der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in kapitalbesitzende und arbeitende Klassen gibt es eine Ungleichverteilung des Reichtums, die deren stete Reproduktion und Verschärfung im Kapitalismus historisch erst ermöglichte (die „ursprüngliche Akkumulation“, MEW 23, 741 ff.; cf. Perelman 2000). 155 Für die Schatzbildung muss das Geld „verhindert werden zu zirkulieren oder als Kaufmittel sich in Genussmittel aufzulösen. Der Schatzbildner opfert daher dem Goldfetisch seine Fleischeslust. Er macht Ernst mit dem Evangelium der Entsagung“ (MEW 23, 147). Max Webers Geist des Kapitalismus (1904) beschreibt vorkapitalistische Zustände (cf. 2.4.6, Fn. 138; 2.6.6, Fn. 171). „Die Aneignung des Reichtums in seiner allgemeinen Form bedingt also die Entsagung auf den Reichtum in seiner stofflichen Wirklichkeit. [...] Der Schatzbildner verachtet die weltlichen, zeitlichen und vergänglichen Genüsse, um dem ewigen Schatz nachzujagen, den weder die Motten noch der Rost fressen, der ganz himmlisch und ganz irdisch ist“ (MEW 13, 107; cf. Engels, MEW 1, 503). Diese Ansammlung von Reichtümern war für Marx eine Ausgangsbedingung für die Entwicklung des Kapitalismus: „Die Vorepoche der Entwicklung der modernen industriellen Gesellschaft wird eröffnet mit der allgemeinen Geldgier, sowohl der Individuen wie der Staaten [...] Das Jagen nach Gold in allen Ländern führt zu ihrer Entdeckung; zu neuer Staatenbildung; zunächst zur Erweiterung der in die Zirkulation kommenden und zu neuen Bedürfnissen (führenden) und entfernte Weltteile in den Prozess des Austausches und Stoffwechsels ziehenden Waren“ (MEW 42, 151). 156 Wie viele Waren losgeschlagen werden, ist nie vorher klar, sondern muss antizipiert werden. Nicht nur die Waren, auch das Geld bildet daher Vorräte. „Man hat gesehn, wie mit den beständigen Schwankungen der Warenzirkulation in Umfang, Preisen und Geschwindigkeit die Umlaufsmasse des Geldes rastlos ebbt und flutet. Sie muss also der Kontraktion und Expansion fähig sein“ (MEW 23, 148).

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Hiermit ist die Geldtheorie schon abgeschlossen. Sie leitet über zu dem, was weit wichtiger ist: zur Theorie des Kapitals.157 Der Übergang ist stilistisch meisterhaft, da das Kapital schon in der einfachen Zirkulation enthalten ist, nur eben „verkehrt“. Die Zirkulation der Waren (W-G-W) endet mit dem Konsum und benötigt daher stets neuen ‚Input’.158 Insofern setzt die einfache Zirkulation auf längere Sicht mindestens einfache Reproduktion voraus. Doch jeder einzelne Akt hat eine perspektivische Gegenseite (W-G entspricht von der Seite des Käufers G-W, G-W von der Seite des Verkäufers W-G). Derselbe Prozess lässt sich also auch umgekehrt betrachten (G-W-G): nun ist nicht das Geld das Verschwindende, sondern die Ware, aber nicht weil sie gegessen, sondern weil sie verkauft wird. Nicht Geld zirkuliert hier Ware, sondern Ware Geld. Das Geld ist hier nicht mehr Mittel, sondern Zweck. In der Form, wie es hier auftritt, ist es schon Kapital – Handelskapital.159 Aus dem Blickwinkel einer Geldtheorie bleibt die erweiterte Formel des Kapitals (G-W-G’: aus Geld wird mehr Geld) jedoch rätselhaft. Die Frage bleibt, wo dieses „mehr“ eigentlich herkommt. Termini wie Enthaltsamkeit, waiting, „Risikoprämie“ oder die Feststellung, aus Geld werde mehr Geld, wiederholen nur die Frage in Form einer Mystifizierung.160 Mag das einzelne Handelskapital auch einen Mehrwert ('G = G’ – G) aus Raub ziehen, gesamtwirtschaftlich betrachtet muss dem Gewinn auf der einen Seite auf der anderen Seite ein Verlust entsprechen (was nicht hindert, dass eine ganze Nation eine andere berauben kann).161 Mit „Geldtheorie“ kommt man hier also nicht weiter. 157 „Das Geld kommt in allen späteren Verhältnissen wieder vor, aber dann fungiert es eben nicht mehr als bloßes Geld“ (MEW 42, 176). Die jeweils konkrete Form des Geldes ist von daher stets nur von Sonderinteresse. 158 Das Geld wird vom Warenkäufer ausgegeben, es „verschwindet“; auch die Waren fallen aus der Zirkulation heraus, da sie früher oder später „aufgegessen“ werden. (Im Englischen wird der Ausdruck „eat“ auch benutzt, wenn etwas zerstört wird, z.B.: „the machine ate my card“.) 159 Der Übergang zwischen Perspektiven bei Marx und Kant bereitet kein theoretisches Problem, wohl aber der Übergang zwischen Seinsbereichen, zu denen Perspektiven in verunglückten Rezeptionen geraten. Die monetäre Werttheorie hat ein „Übergangsproblem“ (Hahn 1999, 49) zwischen Lebens-(=Handlungs-)welt und System. 160 Darauf beruht der Einspruch von Rakowitz 2001 (cf. Bonefeld 1995) gegen Theorien aus dem Umkreis der Bahamas und dem ISF (2000; s.u., Fn. 57; 2.6.4; Fn. 96). 161 Shaikh veranschaulicht die Werterhaltung so: verkauft jemand eine Stereoanlage für 1000 $, so ist das eine gesamtwirtschaftliche ‚Wertschöpfung’ von 1000 $. Wenn diese Stereoanlage allerdings zuvor gestohlen wurde, steht dem ein Verlust von 1000 $ gegenüber; die ‚Wertschöpfung’ ist also Null. Die einstigen Theorien des „unequal exchange“ beruhten auf einer ähnlichen Vorstellung (Emmanuel 1972, cf. McLellan 1979, Shaikh 1979): im Handel mit vorkapitalistischen Gesellschaften können Waren unter Wert erworben und daheim mit hohem Gewinn losgeschlagen werden, da diese im Tausch (etwa gegen Glasperlen) andere Wertmaßstäbe anwenden als im Land der Käufer gelten. Handelskapital im Kapitalismus dagegen kann nicht vom Raub leben; selbst wenn es „rauben“ würde, muss das Geraubte irgendwo herkommen. Wäre es frei zugänglich, würde es niemand kaufen.

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„Geldtheorie“ ist für Marx’ eigene Theorien eher eine Propädeutik: sie soll primär Missverständnisse über die Natur des Geldes abwehren. Zu Marx’ Geldtheorie ist damit eigentlich alles gesagt. Gegenüber anderen ökonomischen Theorien ist Marx’ Bestimmung des Geldes allerdings brisant. Dies lässt sich an drei Grundbausteinen der Schulbuchökonomie zeigen, die mit einem Marx’schen Verständnis des Geldes nicht möglich sind.162 Mit Marx lassen sich diese „monetären“ Thesen kritisieren. Es handelt sich dabei um Aussagen über den Außenhandel (den „komparativen Kostenvorteil“), die Inflation (die „Phillipskurve“) und die Selbstvermehrung des Geldes (den „Multiplikator“). Die erste These besagt, dass ein wirtschaftlich schlechtergestelltes Land aus dem Handel mit einem bessergestellten profitieren kann. Dies stellt eine Rechtfertigung des Freihandels dar, der bekanntlich einer der Basiszüge des neoliberalen Weltbildes ist (auch wenn sich mächtige Nationen daran nur so lange halten, wie es zu ihrem Vorteil ist, und sonst Protektionen einsetzen). Zur Erläuterung wird oft folgendes Modell von Ricardo (1817, 82 ff.) benutzt: Land A und Land B produzieren Tuch und Wein, Land B allerdings zum Stückpreis von 45 und 40 Einheiten Weltgeld (Gold), das schlechtergestellte Land A zum Preis von 50 und 60 GE:

Tuch (Produktionspreis) Wein (Produktionspreis)

Land A 50 60

Land B 45 40

Tabelle 12: Der komparative Kostenverteil

Klarerweise wird Land A hier beide Waren importieren. Daher fließt in umgekehrter Richtung Gold nach Land B. Nach der Quantitätstheorie des Geldes führt dies dazu, dass in Land B die Preise steigen, während sie in Land A fallen. Es gibt in diesem Bild eine Tendenz zum Ausgleich. „Komparativ“ heißt dieses Bild Marx erklärt den Mehrwert, den ein einzelner Händler erwirtschaftet, damit, dass Wert aus der Produktion in den Handel transferiert wird (MEW 25, 278 ff.). Der Verbraucher bezieht die Ware, deren Produktionspreis bei 80 Werteinheiten liege, nicht für 100 Werteinheiten direkt beim Produzenten, sondern dieser verkauft sie für 90 an den Händler, und erst dieser für 100 an den Verbraucher. Der Mehrwert wird zwischen beiden geteilt. Dass der Handel diesen Anteil des Mehrwerts nicht erzeugt, sondern nur aneignet, zeigt sich darin, dass Hersteller bemüht sind, den Zwischenhandel auszuschalten (etwa durch Direktvertrieb über das Internet). Für Backhaus (2002, 120) ist die Werterhaltung eine verfehlte Übernahme aus der Physik. Dieser antipositivistische Affekt affirmiert jedoch gerade die Mystifizierung des Geldes. 162 Diese Nichtübereinstimmung scheint deutsche Marxanhänger beunruhigt zu haben. Statt mit Marx solche Theoreme zu kritisieren, wurde seine Theorie „monetär“ rekonstruiert – sprich: keynesianisiert (neben Backhaus und Heinrich Altvater 1991, Hahn 1999, Gerlach 2003, 108-145). Mit einem solchen Hybrid lässt sich der Mainstream allerdings schlecht kritisieren; kritisiert wird am Ende stets Marx. So vollzieht Deutschland mit Verspätung, was angelsächsische Linkskeynesianer in den 1950er Jahren vollbrachten: den Abschied von Marx.

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deswegen, weil weiter angenommen wird, dass Land A trotz seiner schlechteren Ausgangsposition anfangen kann, eine Ware nach Land B zu exportieren, sobald sich der kleinere Preisunterschied durch die Preisverschiebungen umgedreht hat (45/50 = 10 % Unterschied bei Tuch gegenüber 40/60 = 33,3 % bei Wein). Land A wird also früher oder später Tuch nach Land B exportieren, da es hier einen „komparativen Kostenvorteil“ hat.163 Jedes einzelne Land hat darüber hinaus seinen „Gesamtnutzen“ maximiert, da es jeweils ein Gut billiger bezieht, als es dies selbst produzieren kann – eine harmonisches Bild des Außenhandels. Setzt man aber das Marx’sche Verständnis des Geldes an dieser Geschichte an, so ändert sich das Bild schlagartig: Land A hat in dieser Deutung keinen komparativen (relativen) Vorteil, sondern einen absoluten Nachteil: es produziert beide Waren zu schlechteren Bedingungen, und es verliert durch den Import zudem Gold. Der Zuwachs an Gold im ohnehin schon besserstehenden Land B muss nach Marx nicht die Preise erhöhen, indem es in die Zirkulation geworfen wird,164 sondern es kann auch andere Geldfunktionen übernehmen: Es kann – und wird – zu Schatzbildungen kommen. Diese haben zwei Effekte: entweder, direkt in der Hand der Produzenten, kann dieser „Schatz“ die Produktivität erhöhen, indem es in zusätzliches fixes Kapital investiert wird. Dadurch wird der Preisunterschied zu Land A nicht verringert, sondern ausgebaut. Land B kann jetzt noch billiger produzieren. Oder das Geld wird von den Banken gehortet. Dies würde den Zins senken und so zu weiteren Investitionen in Land B verleiten. Auch so verschärft sich die Ausgangssituation. Nimmt man weiter an, dass Land A durch den entstehenden Produktivitätsrückstand bei gleichzeitigem Verlust an Weltgeld (d.h. von Kaufkraft auf dem Weltmarkt, also Devisen, was zu einem Steigen der Zinsen in Land A führt) Versuche macht, dem entgegenzutreten, während in Land B Geld bei niedrigen Zinsen ‚überflüssig’ ist, so ist unschwer auszumalen, dass der Geldmarkt weitere Flüsse aus Land A nach Land B ermöglicht: indem nämlich Land A bei Land B zu hohen Zinsen Geld (Weltgeld) aufnimmt. Diese muss es natürlich auch in Weltgeld zurückzahlen, obwohl gerade dies immer knapper wird. Dieses Szenario nimmt die Schuldenkrise der dritten Welt und die Ungleichheiten der Globalisierung vorweg. Die Theorie des komparativen Kostenvorteils wird aus Sicht der Marx’schen Geldtheorie als Bemäntelung der Forcierung ungleicher Entwicklung erkennbar.165 Ähnlich erstaunliche Implikationen hat die Marx’sche Geldtheorie hinsichtlich der Betrachtung der Grundlagen der wunderbaren Geldvermehrung in der 163 Dies zeigt zudem, warum neben dem Freihandel auch Geldentwertungen so oft von IWF und Weltbank verschrieben wurden (Blum 2000, 431 f.; Stiglitz 2002). 164 Es könnte auch die Nachfrage nach Luxusgütern und so die Produktion erhöhen. 165 Zu diesem Argument MEW 25, 562 ff.; MEW 42, 762; Arnhold 1979, Wassina 1983, Girschner 1999, 133 ff., und Shaikh 1979, 1980b sowie 1995. Das Argument ist unabhängig von fixen oder flexiblen Wechselkursen, da „fix“ je nur meint: fix innerhalb bestimmter Grenzen (zeitlich wie finanziell). Periodische Angleichungen der fixen Kurse sind nur eine andere Form der Flexibilität.

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Keynesschen Theorie. Keynes glaubte das Level des Gleichgewichtes, das er wie die Neoklassiker voraussetzte, nach oben drücken zu können (zu einer höheren Auslastung von Arbeit und Kapital), indem zusätzliches Geld auf den Markt geworfen wird. Dieses würde die Nachfrage steigern, dadurch die Produktion stimulieren und so zu einem Gleichgewicht auf höherer Auslastungsebene führen. Bereits sein alter Lehrer Denis Robertson fragte Keynes allerdings, woher dieses zusätzliche Geld kommen solle. Keynes’ Antwort definierte nur das Problem fort: durch unbegrenzten Bankkredit zu fixen Zinssätzen (Asimakopulos 1983). Er unterstellte die Möglichkeit einer politischen Regulierung dieser Größe. Geld ist hier im Wortsinne exogen, der Wachstumsanschub ist schuldenfinanziert.166 Diesem Manko begegnet Keynes mit der Annahme des „Multiplikators“. Er besagt, dass dasselbe Geld, indem es durch mehrere Hände geht, viele Waren umschlagen kann, also das Vielfache seines eigenen Wertes „schafft“, und so zuletzt die Schulden wieder einspielen kann.167 Doch wie verhalten sich die beiden Summen zueinander? Keynes hat den Zusammenhang zwischen der Schuldenfinanzierung und der Zinsentwicklung vernachlässigt. Wenn die zusätzliche Nachfrage über Schulden finanziert ist und nicht auf Ersparnisse zugreifen kann, führt das zu einer Verknappung der Geldreserven und damit zu einem Steigen des Zinssatzes, der den Schuldenberg anwachsen lässt. Die künstlich gesteigerte Nachfrage kann zwar anfangs ein zusätzliches Wachstum induzieren, dieses wird aber durch die ebenso wachsende Belastung durch Schulden und hohe Zinsen wieder gedämpft und auf den ‚normalen’ Wachstumspfad gebracht (also ohne Überschussnachfrage). Mikroökonomisch wird ein Unternehmen durch die steigende Nachfrage gelockt, aber durch die steigende Zinsrate von Investitionen abgehalten: ein Rückkoppelungseffekt, der sich langfristig ausgleichen kann. Makroökonomisch steht einer einmaligen Hebung des Gleichgewichtslevels eine pro166 Die Gesamtnachfrage besteht aus der Nachfrage in Abteilungen I und II, nach Konsum- und Investitionsgütern (D = C + I; total demand = consumption + investment). Die überschüssige Nachfrage, mit der Keynes das Wachstum anschieben will, ist die Differenz zwischen Nachfrage und Angebot (E = D – Y; excess demand = demand – supply). Die Formel E = (C + I) – Y kann umgestellt werden in E = I – (Y-C). Da Angebot minus Konsumption zugleich als Ersparnis definiert ist (Y-C = S; supply – consumption = savings), so ergibt sich E = I – S. Das heißt, dass die überschüssige Nachfrage extern schuldenfinanziert sein muss, da die Ersparnisse (S) aus dem System selbst bereits definitorisch von den Investitionen abgezogen sind. Das ist natürlich in jeder Periode der Fall, so dass sich auch die Schulden akkumulieren. 167 Bei einer Sparquote von 25 % soll ein externer Input von 100 Einheiten einen Nachfragezuwachs nicht nur von 100, sondern von 100 + (75 + 56,25 + 42,2 + 31,7 + 23,7 ... = 300), also von 400 ergeben (100 mal 1/¼). Die jeweils gesparten Summen (0 + 25 + 43,75 + 57,8 + 68,3 + 76,3 ... = 400) sollen die Schulden wieder einfahren (Keynes 1936, 115; Lekachman 1966, 62; Bhaduri 1988, 46 ff.; Majer 1991, 97 f.). In der Zwischenzeit akkumulieren sich aber auch die Schulden – und erhöhen sich durch den steigenden Zins weiter (siehe Shaikh 1991). In den Krisen der 1970er Jahre scheiterten die Versuche, die Konjunktur durch Staatsinterventionen zu beleben.

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gressiv steigende Schuldenlast gegenüber.168 Nach Marx ist Wachstum auch intern finanziert denkbar. Kommt es zu einer überschüssigen Nachfrage, wird diese in die Dynamik des Systems eingespeist, ohne sein Verhalten zu ändern.169 Wird das Geld also endogen begriffen, bewirkt eine staatlich induzierte überschüssige Nachfrage langfristig keine Wachstumsstimulierung. Nicht zufällig endete die keynesianische Politik in einer Schuldenkrise (O’Connor 1974). Aber auch die monetaristische Kritik an Keynes, zusätzliche Staatsausgaben führten nur zur Inflation, kann von Marx aus kritisiert werden. Abgesehen von der Quantitätstheorie des Geldes, die dieser Annahme zugrunde liegt, ist der Zusammenhang der Inflation mit der Arbeitslosigkeit, den die sog. „Phillipskurve“ suggeriert (nach Phillips 1958), zu bezweifeln. Keynesianer wie Monetaristen nehmen an, dass eine Inflation auftritt, wenn eine überschüssige Nachfrage nicht mehr durch Mengenanpassung befriedigt werden kann, so dass eine Preisanpassung erfolgt. Wenn alle Preise steigen, sinkt der Geldwert. Nicht mehr befriedigt werden kann die höhere Nachfrage dann, wenn die „Produktionsfaktoren“, vor allem der Faktor Arbeit, voll ausgelastet sind. Je näher man also einer Vollbeschäftigung kommt, desto wahrscheinlicher wird die Inflation. Liegt eine Inflation vor, kann sie umgekehrt auf „zu hohe“ Löhne geschoben werden. Auch wenn diese Annahme durch das gleichzeitige Vorliegen von Inflation und Arbeitslosigkeit in den 1970er Jahren erschüttert wurde, wird sie in der herkömmlichen Theorie meist nach wie vor zugrundegelegt.170 Wird das Geld wie hier als autonom eingeführt, verstellt das die Sicht auf dahinterstehende Strukturen. Begreift man es mit Marx als endogen, als Form von etwas anderem, wird deutlich, dass Arbeitslosigkeit und Inflation einander nicht verursachen, sondern eine gemeinsame Ursache haben. Denn das Wirtschaftswachstum, von dem beide abhängen, ist nach Marx von der Profitrate begrenzt.171 Diese Vergegenwärtigung konnte andeuten, dass es bei Marx eine konsistente Theorie des Geldes gibt, die sich gravierend von den konventionellen Geldtheorien unterscheidet, die aber in der deutschen marxistischen Gelddiskussion kaum zum Tragen kommt. Bei Marx sind sozialtheoretische Topoi ein direktes Thema der politischen Ökonomie, wie hier am Beispiel der Ungleichheit zwischen wirt168 Zu diesem Argument ausführlicher Shaikh 1979, 33; 1989, 71; 1991, 2 und 1992. 169 Majer 1991, 87. In Marx’ erweiterter Reproduktion kommen die Investitionen nicht aus Bankkrediten, sondern aus den Ersparnissen der Kapitalisten, die über den Geldmarkt zugängig gemacht werden (2.1.5). Einer höheren Investition steht darum ein fehlender Konsum seitens der Kapitalisten gegenüber. Sie induziert langfristig keine überschüssige Gesamtnachfrage (E = O) und damit auch keinen Multiplikator, sondern nur eine Verschiebung zwischen den Abteilungen. Marx setzt psychologische Größen (Sparquote, Investitionsneigung) nicht wie Keynes „autonom“, sondern koppelt sie zurück an das Gesamtsystem (Shaikh 1991, 7). 170 Rowthorn 1984; Bhaduri 1988, 196 ff.; Majer 1991, 203 ff. 171 Das erklärt etwa die Situation, dass Arbeitslosigkeit auch durch Zinssenkungen nicht aufgesogen wird, wenn die Profitrate zu niedrig ist. Dazu siehe Shaikh 1995.

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schaftlichen Regionen im Welthandel gezeigt wurde. Aus Sicht der Marx’schen Geldtheorie wird zudem deutlich, warum der Keynesianismus, der eine normalwissenschaftliche Grundlage für die die normative Sozialphilosophie darstellt, indem er „ethische“ Regelungsmöglichkeiten des Wirtschaftsablaufs für möglich erklärt, nicht konsistent ist. Auch wurde deutlich, dass in Grundannahmen der neoklassischen Ökonomie bereits bestimmte Werturteile enthalten sind, etwa indem ein direkter Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Inflation suggeriert wird, der die Verantwortung für Inflationen klar dem Faktor Arbeit beilegt. Marx kritisiert Vorstellungen vom Geld als fetischhaft (nicht: das Geld, denn es ist keineswegs „bloßer“ Schein), wenn sie versäumen, es aus seinen komplexen Zusammenhängen zu begreifen, sondern es als causa sui – und zudem als Ursache für weitere Dinge – auffassen. Darin liegt eine Parallele zur Kritik an fetischhaften Vorstellungen von der Religion, dem Staat oder dem Recht. Dieses Kapitel 2.3 interpretierte die Umstellung der theoretischen Fundamente in der Fachökonomie als eine funktionale Marxvermeidung. Obwohl dieser Paradigmenwechsel kritikwürdig ist, ist er bis heute hegemonial. Mit dem Abschied von Marx entsoziologisierte sich die ökonomische Theorie und hinterließ eine gravierende Lücke, was die theoretische Erfassung der bürgerlichen Gesellschaft angeht, die in der klassischen politischen Ökonomie das eigentliche Thema war. Ironischerweise ließ sich nachweisen, dass die Umstellungen der ökonomischen Theorie auf nicht-Marx’sche Fundamente von weiten Teilen der marxistischen Ökonomie mitvollzogen wurden. Darin liegt eine der Ursachen, warum der vorliegende Versuch, die Marx’sche Theorie zu rehabilitieren, so weit ausholen muss. Ihre Gehalte sind nicht „verfügbar“ in dem Sinne, dass sie irgendwo deponiert wären und nur darauf warteten, benutzt zu werden. Sie müssen in einer negativen Kritik allererst freigeschält werden. Nachdem dieses Kapitel das für die ökonomische Theorie in einigen Grundzügen vornahm, betrachtet das nächste Kapitel nun archäologisch die theoretischen Folgen der funktionalen Marxvermeidung für die „Auffangdisziplin“ der Soziologie.

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2.4 Marx in der (deutschen) Soziologie „Soziologie ohne Nationalökonomie ist ‚blind’, aber ebenso gewiss die Nationalökonomie ohne Soziologie ‚leer’.“ (Eisermann 1964, 127) „Modern Sociology arose in the course of a critical encounter, first with the Enlightenment of the eighteenth century and then with its true heir in the nineteenth century, Karl Marx.” (Zeitlin 1981, V)

Geschichte der Soziologie wird anders geschrieben, je nachdem, was man zu historisieren gedenkt (Klingemann 2001). Ein Nachdenken über das Zusammenleben von Menschen gibt es, seit es ein Zusammenleben von Menschen gibt – Zeugnis davon legt schon der sophistische Kontraktualismus ab. Die Soziologie als universitäre Disziplin ist jedoch kaum älter als hundert Jahre (Stölting 1986). Diese Datierungen markieren Grenzpfähle einer möglichen Historisierung. Plausibel ist noch immer die Datierung von F. Jonas (1968). Er nennt für das Zustandekommen der Soziologie zwei Bedingungen: zunächst muss sich die Gesellschaft aus dem sozialen Gesamtkörper ausdifferenziert haben, der bis dato als „Staat“ begriffen wurde. Außerdem muss die Gesellschaft als ein Gegenstand sui generis betrachtet werden, also nicht mehr unter der Perspektive der Moral- oder Staatsphilosophie. Diese wird um 1750 geleistet.1 Nach Jonas unterscheidet sich diese originäre Soziologie darum von Anbeginn sowohl von der „Staatsphilosophie“ (I 15, 27, 59), in deren Vorstellung „das Zusammenhandeln und Zusammenleben der Menschen einen Herrn voraussetzt, der diesem Handeln Gesetz und Ordnung gibt“ (244), sowie vom Moralismus einer bloßen „Kulturkritik“ (78).2 Erstere tauche im französischen Sozialismus wieder auf (178, 187), letztere im Deutschen Idealismus (143). Diese Diagnose lässt sich verlängern: Noch die deutsche Soziologie des 20. Jahrhunderts wurde von Staatsphilosophie und Kulturkritik beherrscht.3 Da beides schon Hauptkritikpunkte von Marx waren, der ja in der Gesellschaft seinen Gegenstand gesehen hatte (cf. 2.1.5), nimmt Marx bei 1 „Die Geschichte der Soziologie beginnt mit der Trennung von Gesellschaft und Staat“ (F. Jonas 1968 I, 15). Das „Problem der gesellschaftlichen Integration [...] als soziologisches Problem“ stellt erstmals Montesquieu [1748]“ (24; so auch Aron 1965, Kuczynski 1975, Althusser 1987). Rousseau 1762 theoretisierte noch moralistisch; Smith 1759 war „der erste, der in einer ausgearbeiteten Theorie die Gesellschaft als einen sich selbst regulierenden und darum freien Handlungszusammenhang beschreibt“ (105; vgl. auch Quesnay 1759, Locke 1690). 2 Die „Motive und Ideale“ der Aufklärung seien solche „gebildeter, womöglich mächtiger gesellschaftlicher Gruppen“, welche „Grundsätze [...] entwickeln, nach denen die Gesellschaft einzurichten sei (Jonas 1968 I, 22). „Das Problem der gesellschaftlichen Integration wird als moralisches diskutiert, weil, wie Taine bemerkt, niemand daran denkt, diese Gedanken in die Praxis umzusetzen“ (23 f.). Deutlich ist hier auch die Spitze gegen die Kritische Theorie. 3 Rehberg 1986, 8 sieht in der Staatsfixierung von Politik und Kirche in Deutschland eine Ursache für die Frontstellung gegen die Soziologie, die die „bürgerliche Gesellschaft“ in den Mittelpunkt rückte. Allerdings unterlag auch die Soziologie bald dem theorieimmanenten „Primat der Politik“ (siehe dazu bereits 2.2).

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Jonas eine recht prominente Stelle ein (215 ff.).4 Doch eine solch tabufreie Einordnung von Marx in die Soziologiegeschichte findet sich eher selten. In der Ökonomiegeschichte hatte Marx eine zentrale Position: Die moderne ökonomische Theorie ist in eine klassische bis zu Marx und eine nach-Marx’sche Neoklassik einzuteilen (2.3.1). Darum begriff Georg Lukács die Soziologie insgesamt als Abspaltprodukt des Übergangs von der klassischen zur neoklassischen Ökonomie.5 Auch wenn dies die Bedeutung soziologischen Denkens vor Marx unter- und die des Marx’schen Oeuvres überschätzt, deutet es auf eine zwar nicht allumfassende, aber doch hohe Bedeutung von Marx und der Neoklassik für die Entwicklung der Soziologie hin. Wie wäre Marx’ Stellung in der Soziologiegeschichte genauer zu kennzeichnen? Gemeinhin gelten Autoren wie August Comte, J.S. Mill, Herbert Spencer und Lorenz von Stein, die um 1850, also hundert Jahre nach den von Jonas angeführten Autoren wirkten, als „Gründerväter“; Autoren um 1900 wie Simmel, Max Weber, Durkheim und Pareto als „Klassiker“ der modernen Soziologie.6 Die Gründerväter wurden aufgerüttelt von wachsenden sozialen Missständen und politischen Gärungen seit der französischen Revolution, vor allem aber von der durch die Industrialisierung aufgeworfenen „sozialen Frage“ (Quesel 1989). Ihre Einordnung und theoretische Verarbeitung dieser Phänomene geschah im Freistil, da weder eine konsistente Selbstartikulation aufbegehrender Gruppen,7 noch eine hegemoniale und schlüssige Interpretation seitens der etablierten Schichten vorlag. Daher waren Anlehnungen an andere Wissenschaften sowie Elemente von Gefühl, Meinung und Utopismus (kurz: „Werturteile“) in ihren Werken stark vertreten.8 Die Klassiker hatten es hingegen mit 4 „Marx erweitert den Kanon der soziologischen Theorie [...] in einer wichtigen und folgenreichen Art und Weise [...]: die zunehmende Industrialisierung [...] und die Entstehung des industriellen Proletariats, werden von Marx zuerst ausdrücklich gewürdigt“ (Jonas 240, cf. Krätke 1996). Das höchste Lob, das der Konservative Jonas Marx aussprechen kann, ist es, im Grunde auch konservativ gewesen zu sein (227). Im Vordergrund stehen bei Jonas nicht politische Ansichten, sondern wissenschaftliche Errungenschaften von Marx (217, 223). Eine „konservative Marxverwandtschaft“ (Kühne 1972, 62 ff.) lässt sich auch an Schumpeter, Hayek und Gehlen feststellen (cf. Rehberg 2000). 5 Lukács 1954, 461; ähnlich Schumpeter: „Soziologie ist [...] das mixtum compositum was übrig bleibt, wenn man die Ökonomie abzieht“ (1953, 9; Papcke 1986, 80). 6 Lepenies 1985 zählt J.S. Mill, Riehl und Durkheim zu den „Vätern“; Käsler 1976 und Münch 2002 deuten Marx, Simmel, Durkheim und Weber als „Klassiker“. Käsler 1984, 446-476 unterscheidet Großväter bis Urenkel. Müller-Doohm (1991, 48 ff.) dreht die Terminologie um. 7 Eine „subjektive Soziologie“ (1937 König). Der Frühsozialismus hatte zwar einen theoretischen Anspruch, doch hatte er nur eine begrenzte Breitenwirkung. 8 Bei Jonas wird Comte als aprioristischer Geschichtsphilosoph (1968 I, 266) und Metaphysiker (271) deutlich, Spencer als Biologist, der die Sozialität verfehlt (257 ff.), und Riehl als bäuerlicher Barde (173). Lorenz von Stein wird als Vordenker des Sozialstaats milder bewertet, aber auch er ist kein Soziologe, sondern Staatsphilosoph (301 f.). Der Einfluss Nietzsches auf die deutsche Soziologie ist zentral – seine „Anti-Soziologie“ (Lichtblau 1997, 82, 111) bewertete schon das theoretische Aufgreifen

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einer international formierten Arbeiterbewegung zu tun, die sich nicht nur politisch, sondern auch theoretisch zu artikulieren wusste. An deren Spitze stand, zumindest theoretisch, auch Marx. Erneut also steht Marx genau zwischen entscheidenden Gruppen von Theoretikern. Sein Einfluss war allerdings in Deutschland sehr viel größer als etwa in England oder Frankreich – nicht weil er deutschsprachig war, sondern weil es hier eine große, sich auf Marx berufende Arbeiterpartei gab. Dieser politische Einfluss überkreuzt sich nun mit dem theoretischen Einfluss des neuen ökonomischen Paradigmas. Für Käsler ist der Sozialismus eine Wurzel der deutschen Soziologie.9 Marx wird noch wichtiger, nimmt man statt der milieuorientierten Perspektive eine diskursanalytische ein. Zwar nimmt Marx in der Selbstinterpretation der deutschen Soziologen um 1934, dem Endpunkt von Käslers Studie, nur noch eine marginale Stellung ein (und wen sollte das wundern).10 Doch ist unübersehbar, dass er für die Soziologie in Deutschland ein überragender Ideengeber war, und sei es nur als Negativfolie. Auch hier wirkte Marx ex negativo, als ein heimliches Zentrum.11 Und wieder sind es spezifische Lesarten von Marx, die wirken. der sozialen Frage als „Kulturverfall“ (86, cf. G.Adler 1891, Breysig 1896, Tönnies 1897, Hammacher 1909, Winterfeld 1909; s.u., Fn. 65; 2.5.2, Fn. 42). 9 Käsler 1984 unterscheidet bei den frühen deutschen Soziologen einen „Kritischen Marxismus“ (400; Max Adler und Meusel, ein „Parteisoziologie“ aus Aachen, der bis 1960 in der DDR-Volkskammer saß); „konfuse“ Sozialisten (Michels oder Breysig; Simmel neigte vor 1914 der SPD zu, A.Weber nach 1945, 432); einen liberalen „Sozialismus ohne Marx“ (Geiger, Oppenheimer, Goldscheidt, Tönnies, A.Weber. „Der ‚Kathedersozialismus’, ‚Universitätssozialismus’, Gelehrtensozialismus’ wollte unter keinen Umständen vermengt werden mit jener ‚Partei des Umsturzes’ in der Wilhelminischen Ära“, 442); und schließlich den „vehementen Antimarxismus“ (422), der die „Entthronung des historischen Materialismus“ wollte (417; siehe etwa Spann 1932 oder Sombart 1934; dazu vgl. auch Pollock 1926). 10 Siehe Käslers Rekonstruktion der Deutschlandreise eines US-Soziologen (1985). 1934 löste sich die Deutsche Gesellschaft für Soziologie unter Freyer selbst auf (cf. König 1987, 343 ff.; Rammstedt 1986, Klingemann 1996). 11 Dies galt nach 1933 im Extrem: „Der Favorit Marxismus ist von dem faschistischen Renner längst überholt“, bekundete Rothacker (nach Lepenies 1985, 404). Plenge predigt 1933 „die unerbittliche, innere und grundsätzliche Überwindung des Marxismus aus dem Geist des deutschen Idealismus [...] Ich habe Marx schon damals 1911 in seiner letzten Eigenheit als ‚Juden’ gekennzeichnet“ (nach Käsler 1983, 411 f.; zur Stellung des Nationalsozialismus zu Marx insgesamt statt Nolte 1983 Nolte 1963). Marx war nicht nur im Dritten Reich eine Negativfolie. Unter psychoanalytischen Anleihen könnte man Marx als apräsentes Objekt beschreiben, welches als verdrängtes „Trauma“ immer wieder auftaucht. „Die Geschichte soziologischer Forschung kann zu einem Gutteil als Auseinandersetzung mit und als Zurückweisung der Marx’schen Klassentheorie beschrieben werden. Manchmal scheint es sogar so, als verdankte die Soziologie ihre Daseinsberechtigung an den Universitäten der Widerlegung einer Theorie, die einmal die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft in Frage gestellt hat“ (Berger 1998, 29). „Antworten auf den marxistischen Klassenbegriff durchziehen die Entwicklung der Soziologie als sichere Nebenerwerbsquelle“ (Krysmanski 1989, 155; cf. Schelsky 1961, 350). In der marxistischen These, die moderne Soziologie sei nichts anderes als eine „bürgerliche“ Antwort auf Marx (Sa-

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Im Folgenden wollen wir in einigen repräsentativen Grundzügen den Spuren folgen, die die Verbindung vom politischen Schreckbild des Marxismus und dem theoretischen Vorbild der Neoklassik in mehreren Paradigmen der Soziologie hinterließ (2.4.1). Mögliche Gründe für diese Entwicklung werden angedeutet (2.4.2). Zur Folge hatten sie eine zunehmend normative Aufladung der Theorie, bis hin zu ihrer umfassenden Ethisierung (2.4.3). Dankenswerterweise bezog man sich in spezifischen Marxdeutungen immer wieder auf diesen zurück, was zu einem Test unserer Thesen einlädt (2.4.4). Schließlich wird an zwei Beispielen, der Technik (2.4.5) und den Klassen (2.4.6), die Auswirkung dieser verfehlten Grundorientierung in der Theorienentwicklung exemplarisch aufgezeigt.

2.4.1 Die Aufteilung der Welt in normfreie Funktionen und normative Rahmen Die „Klassiker“ der Soziologie waren oft approbierte Nationalökonomen, um mit Max Weber, Werner Sombart, Franz Oppenheimer und Vilfredo Pareto nur einige zu nennen. Da das hegemoniale Bild nach-Marx’scher Ökonomie das der Neoklassik oder „Grenznutzenschule“ war, waren auch die Genannten seinem Einfluss ausgesetzt. So setzte sich die spezifische Marxinterpretation aus einer Disziplin in die andere fort.12 Und dies blieb nicht ohne Konsequenzen. Das neoklassische Bild von der Wirtschaft (2.3.1) lässt sich in seiner Relevanz für die Soziologie zuspitzen wie folgt: Der Markt reguliert sich selbst durch das inhärente und notwendig sich einstellende Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Unangenehme Begleiterscheinungen der kapitalistischen Moderne sind folglich nicht auf diese Wirtschaftsweise selbst, sondern auf ihr unvollständiges Wirken zu schieben, also auf „externe“ Faktoren, die den Markt behindern. Die realen Verhältnisse werden als unreine Manifestation des Modells interpretiert: ging das Modell von einem perfekten Wettbewerb aus, so liege in der Wirklichkeit mit all ihren Widrigkeiten eine „imperfekte“ Form desselben vor, der „unvollständige Wettbewerb“. Die Soziologen waren gegenüber den sozialen Verhältnissen ihrer Zeit meist kritisch eingestellt. Doch in einer Interpretationslomon 1945, Lukács 1954, Krysmanski 1989), wird eine partiell berechtigte These über eine geschichtliche Abkunft in eine Aussage über den Inhalt des Abkünftigen zerdehnt. Diese durchsichtige Polemik konnte über den oft dürftigen Zustand marxistisch-leninistischer Soziologie nicht hinwegtäuschen (Kiss 1971, Ludz 1971, Hahn 1974, Sparschuh 1997). Sie wurde allerdings von allen Flügeln vertreten, über die bürgerliche Mitte (König 1987) bis nach Rechtsaußen (Freyer 1930). 12 Simmel 1900 repliziert klar die subjektive Wertlehre. Webers Orientierung an der Neoklassik diagnostiziert u.a. Stefan Kalber (in: Böckler 1987, 122 ff.). Pareto ist selbst ein Neoklassiker („Pareto-Optimum“, 3.2). Sombart war in seinem Historismus (1903, 1930) zumindest kompatibel mit der Neoklassik (zur Komplementarität Historismus/Neoklassik – Begriffe ohne Anschauung hier, Anschauung ohne Begriffe dort – cf. 2.3.1). Lukács benennt den neoklassischen Einschlag deutscher Soziologen deutlich (1954, 359, 467, 478; s.u., Fn. 28).

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lage, die die soziale Wirklichkeit als Mischform darstellte, war es offen, welcher Bestandteil der Mischung den Ausschlag zum Schlechten hin gab: war es die Logik des Systems, oder waren es die diese Logik behindernden Faktoren? Für Marx kam diese ganze Opposition nicht in Frage: was für die Neoklassiker „markverzerrend“ war, war für ihn ein Bestandteil des Marktes. Die sozialen Ungleichheiten und sonstigen Krisenerscheinungen liegen in der Logik des Systems selbst. Es bedurfte keiner marktverzerrenden Faktoren. Der Kampf verschiedener Interessengruppen um Marktvorteile mit unlauteren Mitteln gehörte für ihn unbedingt zum Konkurrenzsystem dazu. Auch etwaige Monopole unterliegen der Logik des Konkurrenzsystems, und es gibt keinen Anlass, aus ihrem Vorhandensein wie die Revisionisten eine neue Stufe des Kapitalismus abzuleiten, die nach anderen Gesetzen funktionierte (2.2.6), oder wie die Neoklassiker diese Elemente als Störfaktoren der Marktlogik zu interpretieren, die die Ergebnisse des Allokationsprozesses verfälschten (2.3.2).13 Aus der Sicht von Marx sind beide Interpretationen nicht haltbar, da das Bild insgesamt nicht stimmt. Die Verzerrungen und die Folgen sind endogen und gehören mit in die Analyse. Doch das platonische Bild der ‚reinen Kräfte’ plus ihrer materiellen Verunreinigungen in der Empirie war das in der damaligen Ökonomie vorherrschende. Ihm schlossen sich viele Sozialisten an, und sogar Marx wurde aus ihm heraus interpretiert (2.3.3).14 Daher sind die Marx’schen Argumente von dem historischen Marxismus unbedingt zu trennen. Innerhalb des Dualismus der reinen Kräfte und ihren Verzerrungen jedoch bleibt die Frage, welches von beiden Momenten das Übel gebiert, theoretisch unableitbar – sie wird zur Dezision. Für welche Interpretation des Bildes man sich „entscheidet“, hängt auch von außertheoretischen Momenten wie der sozialen Herkunft und der politischen Selbstverortung ab. So werden sich Autoren aus agrarischem Hintergrund eher für eine negative Beurteilung der Marktgesetze „entscheiden“.15 Aus Sicht von Marx sind dahinter die Interessen einer bestimmbaren sozialen Schicht nicht zu übersehen (hier die Reste einer vergehenden Epoche). Ihre Negation der Gegenwart ist eine abstrakte, und daher können sie, unter Verdrehung der Vorzeichen, das beschrie13 Um 1900 brannten um die „Agrarfrage“ heftige Debatten, an denen Kautsky, Lenin und Weber teilnahmen (P. Anderson 1978, 23). Die durch die Industrialisierung der Landwirtschaft hervorgebrachte Landflucht, Preisverfall etc. sind mit den Marx’schen Gesetzen allerdings gut zu erklären. 14 Aufgrund dieser Konstellation wurde Marx oft abgelehnt: etwa weil er nur die Logik der „reinen“ Wirtschaft betrachtet („Ökonomismus“) und die Macht der Marktverzerrungen übersehen hatte; weil er die Möglichkeiten eines Sozialstaates unterschätzt oder die Gefahren eines organisierten Kapitalismus übersehen hätte. Dabei haben nach Marx das eine wie das andere selbst wieder sozialökonomische Wurzeln und Grenzen, die im Prinzip erklärbar sind. 15 Man denke an W.H.v. Riehl, Otmar Spann, Artur Damaschke, an „Reichsnährstandsführer“ R. Walter Darré oder rechtslastige Bauernparteien wie heute in Polen. Die EU-Bauern sind dank horrender Subventionen und Schutzzölle noch heute nicht dem Markt ausgesetzt (MEW 4, 472; Fn. 55).

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bene abstrakt-theoretische Modell durchaus verwenden.16 Dagegen werden Menschen, die sich, um mit Max Weber zu sprechen, von ihrer „Marktlage“ gute „Erwerbschancen“ versprechen, eher der Perspektive zuneigen, die die Gesetze des Marktes bejaht und die verzerrenden Faktoren für etwaige Missstände haftbar macht. Aber ist das schon eine „Gesellschaftstheorie“? Der Glaube, dass ein dermaleinst hergestellter „reiner“ Markt eine gerechte Gesellschaft herstellen würde, war mindestens ebenso utopisch wie die Zukunftshoffnungen des volkstümlichen Sozialismus: man sprach in beiden Fällen von einem Utopos, einem nichtexistierenden Ort. Eine ideologiekritisch freizulegende „Klassenzurechnung“ gibt es nicht nur für die Stiftung der Theorie (2.3.1), sondern diese sticht auch am Ausgang der irreduziblen Entscheidung zwischen zwei Sichtweisen dieses vorausgesetzten Bildes heraus.17 Wie „entscheidet“ sich nun die Soziologie? Betrachten wir als Beispiel Franz Oppenheimer, einen sozialkritischen Autoren der frühen Soziologie, der zu den Gründern der Frankfurter Schule und den Vätern des „liberalen Sozialismus“, der zionistischen Kibbuzbewegung wie der „sozialen Marktwirtschaft“, zählt. Er meinte, „soziale Ungleichheit resultiere nicht aus ökonomischen Beziehungen, sondern aus deren Deformation durch politische Gewalt“ (Vogt 1999, 247): „Oppenheimer glaubte nicht an die Möglichkeit einer ‚interessenneutralen’ Politik und wendete sich strikt gegen den Mythos einer staatlichen Kompetenz zur optimalen Gestaltung des Wirtschaftslebens. Der freie Wettbewerb allein bedeute Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit. Dies gelte jedoch nur dann, wenn die bestehenden ‚Störungen’ beseitigt würden. Oppenheimer unterschied zwischen der ‚reinen’ Marktwirtschaft, in der der Boden frei zugänglich sei,18 und der ‚politischen’ Wirtschaft, in der das Monopol der Großgrundbesitzer die Besiedlung versperre. Letzteres sei die Ursache für alle kapitalistischen Missstände“ (Vogt 1999, 245).

Obwohl Oppenheimer neben Hans Freyer 1934 der einzige war, der Marx überhaupt noch als soziologischen Autoren erwähnte, vertrat er offensiv die Ansicht der neoklassischen Autoren, dass Störungen nur „extern“ verursacht sein könnten. Er vertritt damit eine neoklassisch gefärbte ökonomische Basistheorie mit einer „staatsphilosophischen“ Soziologie als theoretischem Überbau. Hierfür mögen ähnliche Faktoren eine Rolle gespielt haben wie bei Bernstein (2.1.2). 16 Der Individualismus und Atomismus des neoklassischen Modells wird als korrekte Beschreibung der Gegenwart hingenommen und nur negativ bewertet; die „Marktverzerrungen“ dagegen, die in der anderen Lesart als „schlecht“ bewertet werden (etwa der Agrarfeudalismus oder Monopole), werden hier positiv bewertet. Der katholische, ständische oder völkische „Antikapitalismus“ teilte also das zugrunde liegende Bild von den reinen Kräften und den empirischen Verunreinigungen, nur unter anderen Vorzeichen (cf. 3.3.5, Fn. 58). 17 Lieber 1985 (37 f.) kolportiert, für Marx seien alle Phänomene des Überbaus per se „Ideologie“ und damit „falsches Bewusstsein“, ohne ein Beispiel zu bringen (cf. K. Lenk 1961, Ludz 1976). Treffender dagegen Eagleton 1993 (cf. 3.1.6). 18 Dies unterschiebt Lockes Legitimationsmodell historische Realität (cf. Gesell 1916). Vogt zitiert hier übrigens Oppenheimer 1913 und 1938

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Der ostelbische Landadel etwa hatte im Kaiserreich wie noch auf den Weimarer Präsidenten Hindenburg einen großen politischen Einfluss; Großkonzerne wie AEG, der Stammkonzern Rathenaus, verfügten über immense wirtschaftliche Macht. Staatskonzerne und Bürokratien des Kaiserreiches schienen der reinen Marktwirtschaft enge Grenzen zu setzen. Neben den ideengeschichtlichen Verwicklungen gab es also auch realgeschichtliche Anlässe für eine Vernachlässigung der Marx’schen Theorie.19 Entgegen Oppenheimers Diagnose (so noch Dahrendorf 1968, 49) wirkten jedoch auch in diesen Institutionen die Gesetze des Kapitalismus: eine den Großmächten England und Frankreich vergleichbare Binnenwirtschaft mit entsprechender Infrastruktur musste im Kaiserreich allerersterst aufgebaut werden. Weit entfernt, die Kräfte des Marktes zu beschneiden, arbeiteten diese Institutionen daran, diesen Markt zu schaffen. Um den sozialen Folgekosten und der erstarkenden Sozialdemokratie zu begegnen, stattete das Kaiserreich seine Untertanen mit rechts- und sozialstaatlichen Grundsicherheiten aus.20 Dies hat den Kapitalismus keineswegs sozialstaatlich „aufgehoben“. Die Veränderung von Oppenheimers Analyse gegenüber der von Marx gründet weniger in realen Veränderungen als vielmehr in der alternativ zugrundegelegten Wirtschaftstheorie. Nur weil Oppenheimer den Kapitalismus nach dem Vorbild des neoklassischen Paradigmas zu eng fasste und darum aus dem Blick verlor, konnte er auf die Idee verfallen, ihn in Form agrarischer Kleingemeinschaften neu stiften zu müssen.21 19 Siehe Rosenberg 1955, Wehler 1969, Hobsbawm 1987, B.Barth 1994. „Dass die deutsche Soziologie im ersten Drittel unseres Jahrhunderts sich gegen die Annahme von allgemeinen Geschichtsgesetzen wehrte, besitzt nicht allein innertheoretische, sondern zugleich sozialgeschichtliche Ursachen“ (K. Lenk 1970, 177). Damit ist weder eine „Klassenanalyse der Intelligenz“ inauguriert (Kostede 1974), noch die These, die Realität habe sich prinzipiell verändert, sondern der Umstand, dass aus der Perspektive selbst wohlmeinender Zeitgenossen wenig Anlass bestand, die aus der neoklassischen Schlagseite ökonomischer Vorannahmen der Soziologie resultierende Kapitalismusblindheit zu überwinden. Der Kapitalismus im Deutschland des 20. Jahrhunderts wurde in verschiedener Form politisch „gezügelt“. Dies gilt für das Kaiserreich wie für die Weimarer und Bonner Republik, aber auch für den Nationalsozialismus: er zügelte den Kapitalismus im Doppelsinne von ‚Eindämmen’ und ‚für seine Zwecke nutzen’, indem er sich an die Spitze der kapitalistischen Dynamik setzte und die Arbeiter durch staatliche Arbeitsbeschaffungen und „Sozialpolitik“ pazifizierte (cf. Fn. 163). Eine politische Gestaltung ist jedoch noch keine Überwindung (MEW 32, 553). Für Marx gehören die politischen Gestaltungen mit in den Kapitalismus hinein, sie bewegen sich in einer Logik, die dem Kapitalismus keineswegs „jenseitig“ (Beck 1983) ist. Bismarck war den Einsichten der klassischen Ökonomie näher als Oppenheimer, der in staatlichen Maßnahmen nur Marktverzerrungen sah. 20 Die „Sozialgesetze zur Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Alterssicherung [...] – begleitet von Arbeitsschutz und Fabrikinspektionsgesetzen“ (Baier 1988, 48) verbesserten die Lage der arbeitenden Klassen bedeutend, und zwar durchaus gegen die Interessen von Industrie und Handel. Vgl. Wehler 1972, 1979; Kocka 1986, 1990, Metzler 2003. Dies ist aber nicht als ein neues, „moralisches“ Stadium des Kapitalismus zu interpretieren. 21 Die kritisierte Marx schon an Proudhon und den Linksricardianern (MEW 4, 63 ff.,

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Konkrete Beobachtungen der Gesellschaft geraten in direkte Konkurrenz zu Erklärungsmustern der Theorie, welche darum fallen gelassen wird. So etwas begegnete schon bei Bernstein (2.1.1). Wie kommt es aber zu einer solch verfehlten Konkurrenz? Die Frage, wie Beobachtungen ins Verhältnis zur Theorie zu setzen sind, hängt davon ab, welche Theorie man zugrunde legt. Das Verhältnis von Oberfläche und „Wesen“, von Empirie und Theorie wird in der Neoklassik und bei Marx verschieden hergestellt. Im neoklassischen Paradigma werden nutzenmaximierende Einzelinteressen zur Grundlage der Gesamtwirtschaft gemacht. Dieses theoretische Modell lässt sich allerdings zur vorgefundenen Wirklichkeit nur schlecht in Beziehung bringen, denn diese besteht aus weitaus mehr als dem harmonischen Austausch subjektiver „Interessen“. Hier hat eine Oberflächenanalyse mit der Modelltheorie wenig zu tun, der jeweilige Augenschein wird nur legitimiert.22 Die Marx’sche Theorie dagegen will den Augenschein erklären. Daher bezieht sie sich auch auf nicht unmittelbar sichtbare Phänomene, auf Zusammenhänge, Relationen, Abhängigkeiten, Bewegungen und deren Trends. Marx’ Theorie beansprucht, die vorgefundenen Phänomene durch die sukzessive Einschaltung vermittelnder Glieder zu deuten, bis hin zu einer schlüssigen Erklärung der Bewegung des Ganzen, von Wesen und Schein (Bubner 1972, 71). Die Interpretation des unmittelbar Beobachteten kann sich dabei verändern. Erst durch diesen Bruch zwischen Beobachtung und Theorie lassen sie sich aufeinander beziehen, das ist ihre Dialektik.23 In beiden ökonomischen Theorien also fallen Theorie und Empire auseinander, aber nur in der Neoklassik sind sie miteinander gänzlich unverbunden. Wer meint, Marx’ Theorie mit einfachen Beobachtungen widerlegen zu können, unterschiebt auch ihm das neoklassische Modell. Nun hat es an dieser „Vermittlung“ in der marxistischen Soziologie oft gehapert.24 In diesen Versuchen geht jedoch Marx’ theoretischer Ansatz, zur Fundierung der Oberflächenanalyse einer Wirtschaftsgesellschaft zunächst eine unverkürzte Analyse der kapitalistischen Wirtschaft zu leisten, bevor man an die je105, 555; MEW 42, 174; MEW 26 III, 234 ff.; vgl. Rakowitz 2000, 53 ff.; s.u., 3.3.4). Siehe das „Freiland“ bei Gesell 1916. Alexander Rüstow teilt solch agrarische Utopien noch 1957 (Jonas 1968 II, 216). 22 So lässt sich vielmehr jede vorgefundene Konstellation rechtfertigen, indem sie ex post durch die „Nutzenerwägungen“ der Individuen ‚erklärt’ wird (3.2.2, 3.3.3). Die Situation erscheint als eine von den (homogenen) Individuen selbst gewollte, Benachteiligungen werden auf Eigenverschulden der Betroffenen (Desinformation, Inflexibilität, Immobilität etc.) oder auf externe Einflüsse zurückgeführt. Diese Theorie ist gegen Fakten weitgehend immun. 23 Erscheinungen wie der „Fetischismus“ der Ware (MEW 23, 87) und des Geldes (MEW 25, 405) und Schein-Erklärungen wie die der Preissteigerungen durch Lohnsteigerungen (MEW 16, 141) werden so erklärlich. Noch die Systemtheorie zehrt parasitär davon, dass dieser Bruch bei Marx einst fruchtbar war. 24 Vgl. Masaryk 1899, Adler 1930; oder die „Klassenanalysen“ in Haug 1970, Ritsert 1970, Tjaden 1973, PKA 1973 f., IMFS 1973 f., Bischoff 1976; kritisch Kostede 1974 und Krämer 1983. Die Klassenbegriffe werden nicht aus dem statistischen Material selbst herausgeholt, sondern diesem gleichsam übergestülpt (Fn. 114).

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weils besonderen Gestaltungen geht, längst nicht auf. Soziologie wäre für Marx weniger eine unverbundene Ergänzung als vielmehr ein Bestandteil der ausgeführten politischen Ökonomie.25 Vertiefungen in soziologische Fragen wären kaum als Konkurrenzunternehmen, sondern als begrüßenswerte Konkretisierung der politischen Ökonomie angesehen worden. Erst diejenige Soziologie ist „bürgerlich“ im pejorativen Sinne, die negative Erscheinungen des modernen Kapitalismus in Faktoren sehen will, die nicht ökonomisch bedingt seien, sondern sich den ökonomischen Gesetzen entgegenstellen und unabhängig von ihnen zu begreifen seien. Anstelle der Analyse einer gesellschaftlichen Totalität, die neben vielen Vorzügen auch ungeheure Nachteile mit sich bringt, legt diese Soziologie einen radikalen Schnitt, der in idealtypischer Annäherung so zu formulieren ist: die guten Erscheinungen der Gegenwart gehen auf das Konto der Marktwirtschaft. Die ökonomischen Gesetze gehen die Soziologie nichts an und sind Gegenstand der Ökonomie, die ebenfalls bürgerlich, also neoklassisch ist. Die schlechten Erscheinungen hingegen entstammen etwas anderem als der Ökonomie und sind Gegenstand der Soziologie. Diese grundlegende Weichenstellung war dafür nötig, dass man Soziologie anstelle von Nationalökonomie treiben konnte.26 Bevorzugte Gegenstände der Soziologie waren nun Faktoren wie Moral und Religion, Macht und Herrschaft, Milieu, Lebensstil und Kultur, oder gar „die“ Rationalität. In Pathogenesen dieser Faktoren wurden die Ursachen von sozialen Missständen erblickt. So beschäftigten sich Weber und Michels mit der Logik der nach ihrer Auffassung zu umfangreichen Bürokratie und der sich in ihr manifestierenden instrumentellen Rationalität (cf. Foucault 1972).27 Comte (1830) und Durkheim (1893) untersuchten die bedrohten emotionalen Bindungskräfte der Gesellschaft, die sich „moralisch“ von der überkommenen mechanischen auf eine „organische Solidarität“ umstellen müssten (cf. Joas 1997). Ähnlich stilisierte Tönnies (1887) eine per Definition nichtökonomische „Gemeinschaft“ zum weltanschaulichen Gegenbild der kalten „Gesellschaft“ (cf. Walzer 1983). Simmel untersuchte die Auswirkungen kultureller Milieus auf die „Lebensführung“ moderner Menschen (1908, cf. Bourdieu 1982) und beklagte die „Tragödie der Kultur“, dass die Menschen ihren Erfindungen „subjektiv“ kaum mehr nachkämen (1916, 99; cf. Anders 1956).28 25 Cf. MEW 25, 892 f.; auch 2.4.6. In 2.3.5 wurde die gesellschaftliche Relevanz verschiedener Theorien etwa der Inflation oder der Profitrate deutlich. Bürgerliche Theorien machen dafür unmittelbar die Löhne verantwortlich und übersetzen damit den Klassenkampf direkt in die Theorie; Marx bietet weit vermitteltere Erklärungen an. 26 Comte begriff die Soziologie als „Stabilisierungswissenschaft“ (Lieber 1985, 52; Spaemann 1959). Er wollte seinen Lehrstuhl mit Mitteln der Politischen Ökonomie decken (Lepenies 1985, 19). 27 Michels 1910, Weber 1920a, 3 f. Die Trennung von Staat und Gesellschaft (Kramm 1979, Koslowski 1982), die Jonas als konstitutiv für die Soziologie ansah (Fn. 1), ist in dieser Staatsfixierung theoretisch stark zurückgenommen. 28 Lukács’ 1954, wegen seiner affirmativen Bezugnahme auf Stalin (688) von der Zunft geschmäht, ist bezüglich der Soziologie ein instruktives Werk, weil Lukács als Ken-

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Das „Teilsystem“ Wirtschaft ist dabei nur noch Gegenstand von Bindestrichsoziologien (Luhmann 1988, 8; Ulrich 2000). Zwar konnten diese Soziologien recht kritisch gegenüber ihrer Umwelt sein – es entstanden Einsichten, die bis heute aktuell sind.29 Doch sie alle haben eine Stoßrichtung gemeinsam: sie konzentrieren sich auf politische und kulturelle Einbettungen des ökonomischen Prozesses – obwohl die Ökonomie die sozialen Aspekte des Wirtschaftens aus ihrem Themenfeld gestrichen hatte.30 Gelänge es, in diesen außerökonomischen Bereichen eine Besserung zu erzielen, so schien der ökonomische Prozess wie von allein dafür sorgen zu können, dass die sozialen Zustände sich besserten. Untergründig hat das neoklassische Paradigma derart von der Ökonomie in die Soziologie ausgestrahlt, dass die dem Kapitalismus strukturimmanenten Nachteile ausgeblendet wurden. Der Gegenstand „Kapitalismus“ fiel zwischen den Zuständigkeitsbereichen von Ökonomie und Soziologie hindurch.31 ner der Szene nach seinem Frontwechsel keinerlei Rücksichten mehr nahm. In seiner treffsicheren Diktion beschreibt Lukács die oben Genannten wie folgt: Simmel gehe „radikal subjektivistisch vor. Ihn interessiert an der Ökonomie nur der subjektive Reflex von bestimmten ökonomisch bedingten Situationen“ (359, cf. Busch 2000). Bei Tönnies „werden die konkret historischen Gesellschaftsformationen zu überhistorischen ‚Wesenheiten’ verflüchtigt“, und „an die Stelle der objektiven ökonomischen Grundlage der Gesellschaftsstruktur“ trete „ein subjektives Prinzip: der Wille“ (468, cf. Rudolph 1991,). „Die Gedankengänge Max Webers führen stets dahin, dass er den ideologischen (den religiösen) Erscheinungen immer stärker eine aus ihnen selbst entspringende, ‚immanente’ Entwicklung zuschreibt, diese Tendenz schlägt [...] so um, dass sie die verursachende Priorität für den Gesamtprozess erhalten“ (477; cf. Böckler 1987 u.a., s.o., Fn. 128). 29 Müller-Doohm stellt Horkheimer in diesen Kontext (1991, 50; Lichtblau 1997, 44; Schäfer 1994). Die Kritische Theorie ist ein Ableger der klassischen Soziologie, nicht des Marxismus. Sie verarbeitete Webers Rationalisierungsthese, Simmels „Tragödie der Kultur“, Spengler und Bergson, nicht aber Marx’ Ökonomie (2.6.1). 30 Zinn 1987, 115 spricht von einer „gesellschaftstheoretischen Ausdünnung der bürgerlichen Ökonomie durch die Neoklassik“; vgl. Bürgin 1993. Dies übersieht die Auffassung, eine Kenntnisnahme der zeitgenössischen Wirtschaftstheorie hätte Intellektuelle gegen faschistische Tendenzen impfen können (so ein Tenor eines Jenaer Kongresses, jetzt Kodalle 2000). Selbst Autoren, die es getan haben, sind nicht wesentlich über ihre Gegenwart belehrt worden. 31 Besonders der deutschen Soziologie entschwand der Gegenstand (Jonas 1968 II, 167 ff., 220, 239; Eickelpasch 1987, Schwinn 2001). Schelsky sah die Soziologie einerseits als „funktionsanalytische Erfahrungswissenschaft“ (1959, 19), die immer mehr über immer weniger wisse, andererseits als „Sozialphilosophie“, die einen „universalen Sinnzusammenhang“ (21) herzustellen trachte, dabei aber nur die „unbezweifelbaren Restwerte der sogenannten abendländischen, genauer westeuropäischamerikanischen Gesellschaft“ (23) aufbereite. Dieser Dualismus deute auf die doppelte Herkunft der Soziologie aus „Ökonomie und Philosophie“ (12). Die herausfallende Mitte soll bei Schelsky das Thema haben: „Die Subjektivität und die Institutionen“ (105). Diese „staatsphilosophische“ Betrachtung lässt noch immer eine Lücke: sie umkreiste das leere Zentrum vom Befinden des Individuums und vom Staat aus. „Entweder erschöpft sich die soziologische Theorie in den gewiss wichtigen Klärungsprozessen metatheoretischer Fragen bzw. der Konstruktion und Rekonstruktion allgemeiner Begriffssysteme oder sie zerfällt in den Partikularismus bindestrichso-

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Den resultierenden „Gegenstandsverlust“ der Soziologie empfand diese sogar selbst, auch wenn sie ihn nicht recht zu deuten wusste. Dahrendorf begründete ihn damit, „dass es vielen deutschen Soziologen an einem sozialen Modell mangelt, weil sie als Bürger kein rechtes Gesellschaftsbild haben“ (1959, 144; cf. 1968, 7). Schelsky und Adorno schoben die Ursachen für die theoretische Verarmung in die Realgeschichte.32 Arbeiten aus diesem Umfeld glauben noch heute, der „Gegenstandsverlust“ der Soziologie sei nicht in theoretischen Defiziten der eigenen Disziplin, sondern in Wandlungen der Realität zu suchen – ein Kurzschluss von der Theorie auf die Realität.33 Bevor gefragt wird, welche Konsequenzen sich aus diesem „Gegenstandsverlust“ einer ganzen Disziplin für dieselbe ergeben (2.4.3), seien Überlegungen darüber angestellt, wie es zu dieser antisoziologischen Übernahme in die Soziologie kommen konnte (2.4.2). Sie ist den Soziologen derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass diese Entwicklung der eigenen Theoriegeschichte nur selten problematisiert wird. Daher muss es hier bei Vermutungen bleiben.

2.4.2 Woher die Vorherrschaft der Neoklassik in der Soziologie? „It is the Marxian system which has formed the central focus of the German discussion of capitalism” (Parsons 1937, 488). Allerdings ließ die Marxrezeption dabei vielfach zu wünschen übrig. Eine vollere Rezeption von Marx hätte wohl zu einer anderen Lage der soziologischen Theorie in Deutschland geführt.34 ziologischer Forschungsfelder und beschränkt sich auf die verengten Horizonte heterogener Einzelprojekte der empirischen Verwendungsforschung“ (Müller-Doohm 1991, 50). „Hier die Spielwiese des kulturkritischen Feuilletons mit Tagesaktualität – dort Datenproduktion für kurzfristige Planungszwecke“ (52; cf. 89). 32 „Die Irrationalität der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur verhindert ihre rationale Entfaltung in der Theorie. Parallel zur Rückbildung der Gesellschaft läuft eine der Gedanken über sie“ (Adorno 1969a, 359f.). Schelsky, der Wirklichkeitssucher (Üner 1994) spricht vom „Realitätsverlust“ des Menschen (1979, 394 ff.). „In der neueren deutschen soziologischen Literatur ist kein Werk zu nennen, das das ‚Ganze’ unserer Gesellschaft darzustellen versucht“ (Schelsky 1959, 149). Die Klassiker hätten dies einst getan (Habermas 1981 I, 20). Müller-Doohm schwankt zwischen der Klage über den Verlust (1991, 60) und seiner Vernotwendigung (56, cf. Giesen 1991). 33 Er sei „durch die Beschaffenheit ihres Objektbereiches, die gesellschaftliche Realität selbst bzw. den allgemeinen Zustand der Epoche bedingt“ (Müller-Doohm 1991, 71). Damit wird paradoxerweise ein Wissen über den Gegenstand beansprucht, über den nichts wissen zu können eigentlich bewiesen werden soll. Zugrunde liegt dieser Auffassung eine Ontologisierung der Theoriemodelle; reale und theoretische Gegenstände werden nicht unterschieden. So wird das Entgleiten des theoretischen Gegenstandes auf eine Entwicklung in der vorgefundenen Realität zurückgeführt. Diesen Kurzschluss zeigt Bude 1988 an: „Das Soziale wird hier als allgemeinste Bestimmung des Gegenstandes [?] der Soziologie aufgefasst“ (119). Symptomatisch dafür ist auch die inflationäre Bestimmung „der“ Gesellschaft aufgrund herausgegriffener vereinzelter Beobachtungen (Schulze 1992, Kneer 1997, 2001, Ponks 1999 f.). 34 König 1987, 343 ff. deutet eine solche Entwicklung ab 1928 an, induziert vor allem durch Karl Mannheim. Jonas 1968 II unterschlägt in seiner sonst kritischen Analyse

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Besonders nötig wäre eine Klärung der zugrundeliegenden ökonomischen Hintergrundannahmen gewesen. Wie lässt sich begreiflich machen, dass in der formativen Phase der deutschen Soziologie, in der doch ausgiebig über Marx gestritten wurde, etwas derartiges nicht geschah? Neben den theoretischen Filiationen, denen diese philosophische Arbeit nachgeht, ließen sich dafür auch sozialgeschichtliche Gründe finden. Dirk Käsler nennt als soziale Hintergründe der frühen deutschen Soziologen die Milieus „Besitzbürgertum“, „Judentum“ und „Sozialismus“ (1984; 1999, 16). In einer wissenssoziologischer Selbstanwendung35 wären für diese Gruppen jeweils Gründe aufzuspüren, warum zu einer volleren Marxrezeption nicht durchgestoßen wurde: mit einer „Entscheidung“ für Marx, die nicht eine innerhalb des neoklassischen Bildes, sondern die zu einem anderen Bild gewesen wäre, hätte man gravierende soziale Nachteile eingekauft. Worin also könnte man solche Vorbehalte gegen Marx vermuten? Das Besitzbürgertum ist gegenüber anderen Schichten durch seine wirtschaftliche Verfügungsgewalt klar im Vorteil.36 Da ärmere Gruppen nach der Marx’schen Wirtschaftstheorie nicht durch Faulheit oder Dummheit, sondern eben durch das, was die Besitzbürger reich macht, relativ arm bleiben, kann sie von Angehörigen des Besitzbürgertums nur unter Konflikten akzeptiert werden. Ausnahmen wie Horkheimer bestätigen diese Regel. Andere Söhne von Großindustriellen wie Simmel oder Rathenau nahmen Marx zwar zur Kenntnis, wiesen seine Theorien aber in die Schranken, indem sie ihnen ein geistiges Stockwerk unterbauten.37 Das um seine politische Gleichstellung kämpfende Judentum war aus der „Soziologie in Deutschland“ (1968 II, 160-254) die Rolle der Marxrezeption völlig. Nach Käsler 1981 hat das „Gespann“ Tönnies/von Wiese solche Tendenzen jahrzehntelang torpediert. Dass die neue Entwicklung 1933 abbrach, lag somit nicht an einer inneren Ermüdung der Disziplin, wie Schelsky suggerierte („die Melodien waren durchgespielt, die Fronten im Erstarren“, 1959, 37; cf. F. Jonas 1968 II, 216; noch Hans Joas sparte in einer Vorlesung 1996 in New York die 1920er Jahre schlicht aus, vgl. Joas 1993), sondern an einer aktiven Beendigung marxistischer Theorien seitens nationalsozialistischer Soziologen (s.u., Fn. 10 f.). 35 Davor haben Konservative oft gewarnt (Schelsky 1959, 5 ff., vgl. Meja 1982 II). Es bleibt hier bei Vermutungen. Müller-Doohm macht aus der soziologischen Not, ständig über sich selbst reden zu müssen, kurzerhand eine Tugend (1991, 56) – wenig überzeugend, da er diese Not wenig später selbst beklagt (60, cf. 51). 36 Zunächst verheißt die ökonomische Macht neben dem höheren Lebensstandard und der in der Regel durch Kapitalstreuung höheren Krisenresistenz auch eine Kommandogewalt über die Arbeitskraft anderer. Nach Bourdieu 1982 impliziert dies mehr soziales Kapital (Beziehungen, Einfluss) und kulturelles Kapital (Bildung, Treffsicherheit in Geschmacksfragen und stilistischen Verhaltensweisen, was die Startchancen auf dem Berufsmarkt erheblich verbessert, cf. Eder 1989, Gall 1989, Milner 1999, Hartmann 2002). Auch Heilbronner reichert Marxens Analyse sozialphänomenologisch an: Reichtum verleihe neben Macht auch Sexappeal (1985, 33 ff.). 37 Simmel wollte „dem historischen Materialismus ein Stockwerk [...] unterbauen, derart, dass der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert bewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer [!] Wertungen und Strömungen psychologischer, ja

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politischer Klugheit gehalten, die Tuchfühlung mit den ihrerseits randständigen und angefeindeten Sozialdemokraten zu vermeiden.38 Die Sozialisten hatten die theoretischen Wurzeln ihres Etatismus in der beschriebenen Marxrezeption (2.12.3), die sich der ethischen Verurteilung in überraschendem Maße annäherte. Man „entschied“ sich nur für die andere Seite und kämpfte fortan an der Front des Staates (Lenin wie Bernstein); und wenn nicht mit ihm, dann wenigstens gegen ihn, wie die Neue Linke, die ja Großkunde der Soziologie war. Selbst für parteigebundene Sozialisten war ein Marxbezug gefährlich: Sozialdemokraten mussten befürchten, als starrsinnige Orthodoxe, Kommunisten liefen Gefahr, als marxologische Revisionisten gebrandmarkt zu werden (Beyer 1968). Zwei Beispiele mögen die Brisanz einer ernsteren soziologischen Marxrezeption illustrieren: Werner Sombart bekam lange keine Anstellung, da er anfangs in marxistischen Bahnen dachte (Sombart 1894 war von Engels persönlich gelobt worden, MEW 25, 903; cf. Appel 1992, 133 ff.).39 Und Karl Mannheim schaffte es, sich derart zwischen alle Stühle zu setzen, dass er von bürgerlichen und marxistischen Soziologen zugleich attackiert wurde – scharf, aber mit fadenscheinigen Argumenten.40 Der Schluss liegt nahe, er habe an eine schmerzhafte Wunde gerührt – an das „Marxismusproblem“ (König 1987, 354). Die Bürgerlichen verwarfen Mannheim, weil er zu wenig idealistisch, weil er zu „marxistisch“ sei (so von Wiese und Tönnies, Curtius, Plessner, H. Arendt, H. Jonas; ein Panoptikum damaligen Denkens). Dabei hatte Mannheims Wissenssoziologie (1929) wenig mehr getan, als den Ideologieverdacht auf den Marxismus selbst anzuwenden – eine Operation, die der damalige Marxismus geradezu herausgefordert hatte.41 metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden“ (1900, 8; ähnlich Rathenau und, obzwar weder Jude noch Besitzbürgersohn, Freyer. Zu Simmels „Tiefe“ Lukács 1954, 359; Lenk 1970, 15; zu Schütz Jonas 1968 II, 215). Aufschlussreich sind auch folgende Bemerkungen von Nichtsoziologen: „Marx’ Leidenschaft scheint mir in der Wurzeln unrein, von vornherein selber ungerecht, aus dem Negativen lebend, ohne ein Bild vom Menschen, verkörperter Hass eines Pseudopropheten vom Stile Ezechiels. [...] Ich kann nicht anders als in ihm einen bösen Menschen sehen“ (Karl Jaspers am 7.1.1951, in: Arendt 1993, 199). „An die Stelle des Geistes ist ein [...] komischer Wissenschaftsaberglauben getreten. [...] Marxismus – die Geistlosigkeit“ (Landauer 1911, 76, 93; s.u., Fn. 44). 38 Mosse 1985, 108; Berlin 1994, 38. Sie stießen auch auf wenig Gegenliebe (Silberner 1983, Heid 1982). Seit 1933 mussten die deutschen Juden den Urheber der Repressionen im Staat sehen (Schoenberner 1991, Karady 1999). 39 Zu Sombart auch Pollock 1926, Lenger 1994, J.Backhaus 2000. Retrospektiv bemerkt er über seine ersten Jahre als Beamter, in Verteidigung Mannheims: „ich war damals Marxist und brauchte die Werturteilsfreiheit, um weiter preuss. Beamter bleiben zu können“ (nach Käsler 1984, 390). Ähnlich wie Sombart erging es später auch dem Sozialdemokraten Robert Michels, was Max Weber zu großem Zorn veranlasste (Ringer 1969, 133). 40 Dazu Meja 1982 II; Lepenies 1985, 380 ff.; König 1987, 353 ff.; Hoeges 1994. 41 Einerseits waren viele Behauptungen und Handlungen der Kommunisten tatsächlich zweifelhaft (cf. 2.2.2), andererseits hatten u.a. Lenin und Gramsci den Marxismus selbst zur Ideologie erklärt (Eagleton 1993, 107, 139; Lenin Werke 5, 395; cf. 2.1.4,

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Natürlich kann eine Theorie, die selbst in Frage steht, nicht zur Beantwortung derselben herangezogen werden (1.4.1). Wollte Mannheim den üblichen Dogmatismus vermeiden, konnte er nicht anders, als sich der Thesen über ökonomische Hintergründe einer Klassenzurechnung skeptisch zu enthalten – er ging nur so weit, wie die vorliegende Soziologie eben reichte, nämlich bis zu Betrachtungen milieuspezifischer Lebensstile und Weltbilder (Barboza 2002). Der Vorwurf ging also ins Leere, verfehlte aber nicht seine Wirkung – etwas Schmutz bleibt bekanntlich immer haften. Mannheim hatte eine Plattform bereitgestellt, auf der die parteilichen Gegensätze abgelegt werden sollten, um eine theoretische Verständigung herbeizuführen. Statt die Gelegenheit zu nutzen, ihre „überlegene“ Theorie einmal als eine solche zu erweisen, fielen nun auch viele Marxisten über ihn her (Neurath, Lukács und Horkheimer, cf. 2.6.1), weil er so „idealistisch“ war, dem Marxismus nicht schon vorab rechtzugeben. Einzig Lewalter (1930) schien die Konstellation zu durchschauen – Mannheims Wissenssoziologie hätte sich, wären nur die rechten Argumente gekommen, in einen anspruchsvolleren Marxismus überführen lassen.42 Mannheims bloße Marxnähe hat allerdings schon zu seiner kompletten Isolation hingereicht.

2.4.3 Normativität als Lückenbüßer unvollständiger Weltbilder Das neoklassische Ökonomie-Modell naturalisiert die Wirtschaft, als sei sie ein von uns toto coelo unterschiedener „Mechanismus“.43 Wird das residuale Soziale dann geisteswissenschaftlich als „normativer Rahmen“ aufgefasst, herrscht zwischen beiden Ebenen eine nicht nur disziplinäre, sondern auch eine geltungstheoFn. 66; 2.2.4, Fn. 59; 2.6.1, Fn. 20). „Der historische Materialismus kann und muss auf sich selbst angewendet werden“ (Lukács 1923, 235). Er konnte nicht mehr einfach vorausgesetzt werden. 42 Mannheims „Reservation gegenüber dem Marxismus ist letzthin eine rein skeptizistische – nimmt man sie fort (und Mannheim selbst verneint explizite den Skeptizismus), dann bleibt: eine um viele Details bereicherte, in ihrem Grundmotiv rein ‚marxistische’ Position. Der Weg der deutschen Soziologie hat von Dilthey über Scheler endlich doch zu Marx geführt“ (Lewalter 1930, 579 f.) – nicht ganz, wie anzufügen ist, aber doch latent. Da Mannheim nicht primär eine Rehabilitation des Marxismus anstrebte und in der Emigration ganz andere Schwerpunkte setzte, hat sich in der Mannheimdeutung die übereinkommende Ablehnung erhalten: Stalinisten wie Lukács 1954 (und ihm folgend K. Lenk 1970) und Konservative wie Jonas 1968 kommen in der Ablehnung überein. 43 Zu kritisieren daran ist nicht die Suche nach „Gesetzen“ der Gesellschaft, sondern dass diese Gesetze den Gesetzen einer als determiniert verstandenen Natur gleichgesetzt werden. „Die ‚natur’wissenschaftliche Interpretation der gesellschaftlichen Handlungen lässt, eben weil sie eine ‚natur’wissenschaftliche ist, das Problem der gesellschaftlichen Integration völlig offen“ (Jonas 1968 I, 249 zu Bentham; cf. 259 zu Spencer; 264 zu Saint-Simon; 270 f. zu Comte: „Der Versuch, die Soziologie als Naturwissenschaft zu begründen, bedeutete hier ebenso wie beim Utilitarismus nicht, wie es Comte gemeint hatte, die Unterordnung der Einbildung unter die Beobachtung, sondern umgekehrt, die Unterordnung der Beobachtung unter die Einbildung“).

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retische Spaltung: eine Seite kann getrennt von der andern untersucht werden.44 Man kann sich hier verschieden positionieren, jeweils eine Seite für die wichtigere, „vorgängige“ oder gar die einzige halten, und angesichts verschiedener Fragen zu verschiedenen Ergebnissen kommen (2.4.1). Das Gesamt dieser verschiedenen Theorien mag man dann „Relativismus“ oder „Pluralismus“ nennen. Mit Marx ist beides zu kritisieren, nicht aus geheimnisvollen dialektischen („philosophischen“) Gründen, sondern aufgrund der anderen normalwissenschaftlichen Analyse der Wirtschaft. Es gibt in der Sozialwissenschaft eine erstaunliche Kontinuität der beredten Nichtbeachtung dieser alternativen Sozialtheorie.45 Aber gerade weil eine umfassende Analyse fehlte, wurde zunehmend die „Ethik“ strapaziert. Die frühen Soziologen sahen sich herausgefordert durch die bedrängende soziale Lage einerseits, eine stimmige, aber wirklichkeitsferne ökonomische Theorie andererseits. Nicht umsonst trugen solche Untersuchungen den Namen „Moralwissenschaft“ (bei Spencer, Durkheim, Simmel u.a.). Comte kritisierte den methodischen Individualismus und die „Kälte“ der politischen Ökonomie ähnlich wie die historische Schule der Wirtschaftstheorie.46 Mit dieser „normativen Kritik“ an der Ökonomie ging jedoch der Gegenstand „Wirtschaft“ verloren (2.3.4, 3.2.3). Eine Verbesserung der ökonomischen Analysen wurde selten erstrebt (außer bei Sismondi, cf. Jonas 1968, 218), stattdessen ging man zu anderen Gegenständen über, die in der Ökonomie nur unzureichend erfasst worden seien, und die die Wirtschaft notfalls würden „steuern“ können, wie etwa der sittliche Staat (Fn. 27, Fn. 55). Daran hat sich über die Jahrzehnte wenig geändert: Die Projektion anonymer Strukturgesetze auf möglichst greifbare Träger wie den Staat oder die Gesinnung der Einzelnen hat sich im Existentialismus verdichtet. Die dagegen gerichtete strukturalistische Großthese vom „Ende des Subjekts“ brach zwar diesen Personalismus auf, aber um den Preis des entgegengesetzten Extrems eines subjektlosen Prozessierens von Macht oder „Sinn“. Foucault konzentrierte sich auf die Sphäre der Macht, die ihr natürliches Zentrum im Staat hat, sowie auf Pathologien wie den Wahnsinn, die die Individuen bei übergroßer Machtfülle erleiden. Die soziologischen Kategorien blieben bei alledem so ethik- und politikzentriert wie vordem, und sogar die Wirtschaft selbst wurde in Herrschaftskategorien analysiert.47 44 „Das Gesellschaftliche als solches“ ist „die logische Tat des Verstandes“ (Spann 1903, 589). „Alle Gesellschaft ist Geist und aller Geist ist Gesellschaft“ (Sombart 1936, nach Käsler 1984, 425; cf. Freyer 1923, Lukács 1954, 277; auch Nörr 1994, Acham 1995; s.o., Fn. 37; zur Vergeistigung 2.5.2). 45 Noch Lange wirft Marx seine vorgebliche „Einheitsidee“ vor (1980, 133). Das verwirft den komplizierten Charakter der Marx’schen Analysen, ihr Begreifen der Gesellschaft als komplexes Gebilde von Zusammenhängen, als bloße „Idee“. Die Ökonomie, ratio dieses Zusammenhangs, kommt in Langes Begriffsanalysen nicht vor. 46 Dazu König 1958, 308 f.; Morel 1999, 14; kritisch Deppe 1971, 11 f., Fisching 1993. 47 Weber 1922, 109 übernimmt Knapps „siegreiche“ Staatliche Theorie des Geldes von 1905 (cf. Reichelt 2002, 188; 2.3.5, Fn. 140). Er nennt rationales Wirtschaften „planvoll“ (31, 35), spricht von „Verfügungsgewalt“ (33), „Marktregulierung“ (43),

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Damit der politische Überbau als autochthon gefasst werden kann, muss allerdings das neoklassische Paradigma für das Modell in Geltung bleiben. Vorausgesetzt wird so ein Zweistufenmodell, in welchem ein automatisch fungierendes System die Basis darstellt für einen unverbunden darüber liegenden normativen „Überbau“. (Die Rangordnung kann sich auch umkehren, so dass der „Geist“ als „tiefer“ gilt, Fn. 37). Nicht Marx hat ein solches Modell vertreten, sondern erst seine normativen Kritiker – etwa wenn Max Weber Gesellschaft mittels einer Analyse des „subjektiv gemeinten Sinnes“ der Beteiligten untersucht (2.4.6).48 Beide diametral von Weber ausgehenden Schulen übernahmen nun dieses dualistische Modell. Parsons unterlegte der Soziologie ein der Neoklassik vergleichbares methodologisches Modell und übernahm dabei viele ihrer Charaktermerkmale. In seiner berühmten Arbeit von 1937 geht er neben Weber und Durkheim sogar direkt von den Ökonomen Marshall und Pareto aus. Zwischen der ethisch begriffenen „Freiheit“‚ des Individuums und der als „Ordnung“ gefassten Struktur, die auf eine der Neoklassik analoge Weise konstruiert wird, fällt die Wirtschaft hindurch – und mit ihr alles, was für Konflikte und institutionellen Wandel sorgen könnte.49 Die „soziale Integration“ der Individuen (Lockwood 1964) vollzieht sich über „Werte“ – natürlich „normative“, nicht wirtschaftliche. „Macht“ (60) und „Organisation“ (96; cf. Rehberg 1979). Sein Bruder Alfred trieb Staatssoziologie (1927). Wichtige Foren hießen Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft oder Der Staat (das Magazin Hilferdings aber: Die Gesellschaft). Mannheim rief 1935 das „Zeitalter der Planung“ aus. Für Freyer war Klassenkampf eine „Herrschaftsspannung“ (1930, 234). Bei Dahrendorf 1957 ist der „Herrschaftskonflikt“ zentral: in vollendeter Entökonomisierung bildet hier jede Interessengruppe eine Klasse, auch die der Kaninchenzüchter. Eine Politisierung der Ökonomie (cf. noch Habermas 1981b) betrieb komplementär auch die sog. „radikale“ Ökonomie, welche von einer „Herrschaft“ der Monopole, des Staates oder von „Akkumulationsregimes“ sprach (Arestis 1994). Auch die Linke war also ökonomievergessen. Diese Sicht spiegelt sich in Filmen wie „Orden für die Wunderkinder“ oder Fassbinders „Welt am Draht“ sowie in der ultralinken Obsession, überall „Faschismus“ zu erblicken. Ähnliches gilt für Frankreich: Die Abkunft des Poststrukturalismus aus einem speziellen Marxismus ist kaum zu übersehen (Milner 1999, 121 ff.; 1.4.2, Fn. 27). Schiwy 1969 und 1978 beleuchtet als aufschlussreiches Zwischenstadium zur Postmoderne die offen antimarxistischen „Neuen Philosophen“; cf. Frank 1984, 1993; Ferry 1987; Taureck 1990. Aufschlussreich ist, dass es in diesem Kontext stets heißt: „the politics of ...“ (identity, difference etc.; Barett 1991, Taylor 1992). 48 Habermas trennt auch Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse hermetisch (3.1.3). Marxens heuristisches „Basis-Überbau“-Konzept ließ gerade keine Selbständigkeit der Sphären zu (A. Maihofer 1992, cf. 3.2). Der „Rahmen“ ist hier nicht die „normative“, sondern die wirkliche Struktur, aus der sich Normen erst bilden. 49 Das Modell eines „Systems“, das immer schon im Gleichgewicht ist, entstammt der Neoklassik. Parsons 1937 begreift das neoklassische Modell als Unterfall eines übergreifenden, aber ebenfalls nutzenkalkulierenden Modells von Handlungsrationalität (Joas 1992, 225 f.; Esser 1999). Der Harmonismus wird in der späteren Systemtheorie noch dominanter (Parsons 1951; Luhmann 1984, 488 ff.). Dass Coser 1956, Dahrendorf 1957 u.a. dagegen das Thema des „Konfliktes“ ins Feld führten, hat symptomatischen Charakter; gerade weil dies nicht mit „marxistischen“ Hinterge-

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Selbst die Klassenschichtung, die aus der neoklassischen Betrachtungsweise herausgefallen war, erklärt Parsons ethisch: Das „Zentralkriterium für die in der sozialen Schichtung zum Ausdruck kommende Rangordnung“ sei die „moralische Wertung der Individuen“.50 Das letzte in der Schichtungsanalyse verbliebene ökonomische Kriterium, die Einkommenshierarchie, wird nicht nur ex post ethisch legitimiert, sondern ex ante mit Ethik erklärt: sie entspreche „im großen und ganzen der direkten Wertung“ – die normativ „am höchsten eingestuften Arbeiter“ werden „auch am besten bezahlt“ (199). Dies stellt die Dinge auf den Kopf: außer Popstars ist niemand reich, weil er geachtet wird, sondern in der Regel wird man geachtet, wenn und weil man reich ist.51 Diese quietistische Sicht auf die Wirtschaft hat sich nicht nur Niklas Luhmann, sondern seit den 1970er Jahren auch Jürgen Habermas angeeignet. In seinen Schriften ist die Wirtschaft merkwürdig stillgestellt (3.1). Habermas kam aus der anderen von Weber ausgehenden Schule, der Kritischen Theorie (2.6). Diese hat den Dualismus insofern geerbt, als auch sie das hindurchgefallene Marx’sche Thema nicht aufgreift, auch wenn sie nun oft davon spricht. Sie behandelt kulturelle Aspekte wie Ästhetik, Autorität und Familie, Antisemitismus, die Dominanz der „instrumentellen Rationalität“, kurz: Pathologien des Alltagslebens. Doch dabei geht auch sie von dem verkürzten Modell des Wirtschaftens aus, das mit der vorgefundenen Realität kaum in Zusammenhang steht. Obwohl sich dieses Modell nunmehr auf Marx berief, hatte es viele Charakterzüge der Neoklassik integriert (2.6.2). Ralf Dahrendorf, Vorläufer der ethisierten Kritik an der Systemtheorie, war ebenfalls Ex-Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung. Auch die Konflikttheorie, die er gegen den Harmonismus der Systemtheorie stellte, war normativistisch: Sozialer Wandel vollziehe sich in Gruppenkonflikten; soweit folgte er Marx (Dahrendorf 1957). Doch er bleibt bei der Beobachtung stehen, Gruppen seien primär normativ zusammengehalten, und gibt sie als Erklärung aus.52 Wie später Habermas wurde schon Dahrendorf im Zuge der Ausarbeitung seines Kontrastmodells zum Funktionalismus hinübergezogen.53 danken geschah (cf. Gouldner 1970, Krysmanski 1971). Parsons Versuch der Vermittlung von Mikro- und Makroebene ist hegelianisch: Auch Hegel ging von einer letztlich harmonischen Analyse der Wirtschaft aus, deren externe Folgeerscheinungen vom Staat schon aufgefangen würden. Ist es aber soziologisch verdienstvoll, den eigentlichen Gegenstand der Analysen durch Definitionen zu überspringen? 50 Parsons 1940, 181; vgl. Heimann 1926. Parsons (cf. 1928) studierte in Deutschland. 51 „Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt [...] Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut [...] ich werde also als ehrlich präsumiert“ (MEW 40, 564). Parson’s Marxkritik verwirft explizit die Arbeitswertlehre (1937, 107 ff.; vgl. schon Weber 1922, 31). „Parsons’ funktionalistische Schichtungstheorie rechtfertigt [...] offensichtlich bestehende Verhältnisse. Das hat ideologischen Charakter, insofern die bestehenden Ungleichheiten der amerikanischen Gesellschaft zwar nicht geleugnet, aber [...] als funktionale Notwendigkeit wissenschaftlich abgestützt werden“ (Krämer 1983, 59; cf. 3.2.1). 52 „Menschliche Gesellschaft heißt immer, dass das Verhalten von Menschen [...] durch

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Auch wenn in gegenstrebigem Monismus die Systemtheorie die Mikroebene als bloßen Ausfluss des Systems behandelte, während die Kritische Theorie ihre Texte nur noch mit Andeutungen einer einstigen Wirtschaftstheorie würzte, ging man von demselben dualistischen Modell aus, von dem man je nur eine Seite bearbeitete.54 Wird der Dualismus von reinen Gesetzen und verunreinigenden Nebenerscheinungen vorausgesetzt, hat man sich in der wissenschaftlichen Klärung der Nöte der Gegenwart irgendwann zwischen den „streitenden Göttern“ (Max Weber) zu entscheiden. Meist hat man sich durch seine soziale Herkunft und Lage „immer schon“ entschieden und wird diese Entscheidung ethisch zu rechtfertigen suchen. Wird Soziologie so als normative Theorie betrieben, ist der Übergang zu einer präskriptiven Ethik fließend.55 Die Ethik kommt auch dort soziologisch zu hohen Ehren, wo sie nicht eigens genannt wird. Diagnostik und Theraunüberhörbare, d.h. verfestigte, Erwartungen geregelt wird. Die Verbindlichkeit dieser [...] Normen beruht auf der Wirkung von Sanktionen“ (Dahrendorf 1967, 368, cf. Honneth 2003). Diese Beschreibung der Normen würden entschiedenere Normativisten sicherlich ablehnen – weil sie noch aus der „Beobachterperspektive“ vorgenommen sind, also „regularistisch“ sind (Brandom 1994, 26 ff). Ist die Frage nicht eher, woher diese ‚Normen’ kommen (vgl. Krämer 1983, 66)? 53 Dahrendorf 1961 gibt eine „wesentliche Korrektur“ seiner Position an: er habe nun zwei Perspektiven (Herrschaft und Integration) in eine einzige überführt: Schichtung sei „nur eine Konsequenz der Herrschaftsstruktur, Integration ein Spezialfall des Zwangs“ (27, vgl. Schelsky 1979, 391; Krysmanski 1971, 137 ff.). 54 Die empirischen Untersuchungen, die zeitgleich angestellt wurden (mit deutlichem Schwergewicht auf der Meinungsforschung), waren weit von den in der ProsaSoziologie behandelten Themen entfernt. René König sprach im Streit um den Sinn der Soziologie von einem empirischen „Fellachentum“, Schelsky 1959 von der „Exaktheit eines Wissens von Banalitäten“. Beide führten natürlich auch empirische Arbeiten durch (wie sogar Adorno); das Problem war nur, dass Empirie und Theorie unverbunden waren. „Empirische Forschung und humanitäres Pathos sind [...] die beiden Pole, um die die deutsche Soziologie in der Nachkriegszeit kreist“, die sich „entfremdet gegenübertreten“ (Jonas 1968 II, 239, cf. 280). Die Systemtheorie trat in die Fußstapfen der „reinen“ oder „formalen“ Soziologie, die bei Simmel und Tönnies neben der empirischen Forschung stand (167, 171, 202). Jonas unterscheidet drei Bruchteile der Soziologie: „Empirie, Theorie und Kulturphilosophie“ (168). Empirische Forschung und Systemtheorie teilen einen soziologischen Habitus, das „Streben nach Sicherheit, das Suchen nach einem Terrain, auf dem man sich unangefochten bewegen und doch zugleich das Bewusstsein haben konnte, den Anschluss an die Entwicklung der Soziologie wiederzufinden“ (238). 55 Aus Max Webers Analyse des Normativen wird bei Carl Schmitt und Hans Freyer eine selbst präskriptive Theorie: „Die Wirtschaft ist widerspenstig und muss in festere Hand genommen werden“ (Freyer 1925, 177; cf. 1931a; Schmitt 1922 und 1932). Der lebendige Staat solle die tote Wirtschaft aufheben („Überwindung der Klassengegensätze“; 1930, 306). Es geht zurück von Marx zu Hegel (Lichtheim 1971), von der Gesellschaftstheorie zur Staatsphilosophie und Ethik. Ein jüngeres Beispiel dafür ist Foucault, der zuletzt eine Ethik des Selbst schrieb (1987). Ihm folgend konstatiert auch Bude das Münden der gegenstandslosen Soziologie in Ethik (1988, 113, vgl. Müller-Doohm 1991, 83 ff.). Noch Beck 1997 diagnostiziert eine Gegenstandslosigkeit der Soziologie (da der Nationalstaat „verschwunden“ sei, 49 f., 268) und gibt zuletzt eigentlich nur normative Ratschläge.

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pie etwaiger sozialer Anomien sind in beiden Lesarten des Bildes letztlich ethisch.56 Konservative Anhänger der „haltenden Mächte“ neigen einer Ethik der „Sittlichkeit“ zu. Die Annahme dahinter ist, dass „die Moderne“, und das meint die moderne Gesellschaft, sich ihre eigenen Grundlagen nicht legen könne.57 Diese Position sah seit je in der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Fortschrittsorientierung den auslösenden Faktor moderner Übelstände. Die mögliche Rettung vor einer sich verstärkenden Ökonomisierung wird in vorgeblich nichtökonomischen Mächten erblickt. Die Mächte, die nun positiv bewertet und „ethisiert“ werden, können durchaus verschiedene sein (2.4.1).58 Eine Untergruppe hiervon hält die neoklassische begriffene Wirtschaft nicht für stabil und befürchtet keinen nur kulturellen Verfall, sondern sieht die Stabilität der Wirtschaft selbst gefährdet. Dem will man durch außerökonomische Faktoren abhelfen, die die Wirtschaft wieder in Schwung bringen oder in Gang halten, wie es schließlich in der „sozialen Marktwirtschaft“ institutionalisiert wurde.59 Auch dieser deutsche Keynesianismus hat neoklassische Fundamente. Die hier vertretene Sittlichkeit beschränkt sich darauf, die „Rahmenordnung“ und den „Unternehmergeist“ politisch zu kultivieren und zu schützen (cf. 3.3.4). 56 Siehe Parsons Klassenethik, Fn. 50. Comtes sah die Soziologie als eine Art konfliktpräventiver Herrschaftstechnik an: „voir pour savoir, savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir“ (nach Müller-Doohm 1991, 48). 57 So das schmittianische Paradox von Böckenförde 1991, 112 (2.6.6, Fn. 173). Schumpeter 1942 hatte es („im Gegensatz zu Marx“, Jonas 1968 II, 235) dahingehend verlängert, dass der Kapitalismus sich nicht nur nicht selbst legitimieren könne, sondern sich seiner Grundlagen zunehmend beraube (Offe 1972, Habermas 1973b). 58 Man könnte von einer „Ethik der Selbstaufgabe“ sprechen (Bude 1988, 114), die sich freilich nicht an die eigene Adresse, sondern an die anderen Mitglieder der Gesellschaft richtet. Zum soziologischen Konservatismus vgl. Jonas 1968 I, 117 ff., 283 ff.; Klages 1972 (s.o., Fn. 4); zum politischen Konservatismus Mannheim 1925, Greiffenhagen 1971, Schildt 1998. Dieses Denken begegnet schon bei den ständischen Gegnern der Französischen Revolution, welche entweder Adel und Königtum (Edmund Burke und Malthus) oder den Bauerstand (Adam Müller und die Bodenreformbewegung) als die „bessere“ Seite aufbieten. Von Hegel, der in dem vermeintlich überökonomischen Staat die Sittlichkeit selbst verkörpert sieht, zieht sich diese Linie über Comte und seine Priesterschaft der Soziologen (Lieber 1985, 52), den Nationalsozialisten Heidegger (1935), der in den tellurischen Gewalten der „Bewegung“ die Chance sah, der „Führerlosigkeit“ der modernen Technik „Herr“ zu werden, bis hin zu neuen Konservativen, welche auf die „haltenden Mächte“ (Freyer 1955) des Staates (Forsthoff 1971), der Familie (Schelsky 1955a), der Kirche (NellBreuning 1980), der Kultur (J. Ritter 1961) oder der Naturverbundenheit (Gruhl 1978) setzen. Jüngste Erscheinungen dieser Tendenz sind theoretisch der Kommunitarismus (3.2.3), auf den Strassen der neue Nationalismus und Fundamentalismus. Nominelle verbindet diese Gruppen ihr Externalismus. Sie kritisieren den Kapitalismus verkürzt, weil die aufgebotenen Instanzen nur thetisch als über- oder „nichtökonomisch“ gesetzt werden. Da auch die alten Mächte (Adel, Familie, Gemeinschaft, Kirche) einer wirtschaftlichen Grundlage bedurften, müsste es eigentlich heißen: „nichtkapitalistisch“ – was aber in den meisten Fällen kaum mehr berechtigt ist. 59 ‚Revisionistische’ Sozialisten sahen die Marktverzerrungen bereits als begrüßenswerte Überwindung des Kapitalismus an (zu Bernstein cf. 2.1.2, zu Hilferding 2.2.6).

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Beidem stehen die radikalen Aufklärer entgegen, welche in traditionellen Milieus und politischen Steuerungen nur Hindernisse der Vernunft oder des Wachstums und damit Verursacher möglicher Missstände sehen. Sie vertreten eine Art Ethik der Selbstverantwortung, der wirtschaftlichen „Freiheit“ und Autonomie – die Idee der „Ich-AG“ („Jeder sein eigener Unternehmer“; 3.3.3, cf. Henning 2005a).60 Diese Gegenethik kulminiert in Max Webers Forderung, die Gegenwart so auszuhalten, wie sie „ist“, das heißt: so wie das reine Modell sie sieht, ohne Träumereien an ein Gestern oder Morgen zu verfallen.61 Die „liberale“, neu-normativistische „Staatsphilosophie“ schließlich scheint die Hoffnung der alten normativen Staatsphilosophie, also von Naturrecht und Kontraktualismus zu teilen, dass Herrschaft Argumenten zugänglich sei, da sie schließlich irgendwo personifiziert sein muss, und versucht sie mit „guten Gründen“ zu einer normativeren Herrschaftspraxis zu überzeugen. Indem sie Herrschaft für überflüssig, ja schädlich halten, vertreten auch sie, wenn auch nur implizit, das Paradigma der „reinen“ Marktgesetze (cf. 3.3.2). Bei aller Kritik der Idealisierung von Vergangenheit und Zukunft sehen die soziologiefreie Ökonomie und die ökonomiefreie Soziologie die wirkenden Mächte der Gegenwart denkbar unkritisch. Auf allen Seiten wird also eine Ethik formuliert; die Tätigkeit der Sozialwissenschaften besteht nun darin, diese Ethiken auszuformulieren, zu „begründen“ und die Begründungen bis ins Detail auszuloten. Solche „normativen Theorien“ haben allerdings zwei blinde Flecken: Erstens können sie durch den Dualismus notwendig je nur eine Seite kritisch beleuchten. Dabei macht die „Zerspaltung“ der Perspektiven (Jonas 1968 II, 168) schon die Erfassung dieser einen Perspektive fragwürdig. Zweitens stellt die Normativität nur einen Ersatz für konkretere Analysen dar. Es ist noch keineswegs eine soziologische Theorie, eine der politischen Ethiken, hinter denen konkrete Interessen stehen, soziologisch zu „übersetzen“, also in die Form einer „normativen Theorie“ zu bringen. In den zwei Seiten des Bildes sind jeweils Momente der Realität in den Blick gebracht, die man nicht dadurch aus der Welt schafft, dass man eine Seite für die bessere erklärt und ihr durch eine normative

60 Diese „Ethik der Selbsterfindung“ (Bude 1988, 114), eine ästhetisch verkürzte „Selbstverwirklichung“, reicht von den Individualisten Simmel und Beck über Habermas und Luhmann, die „alteuropäische“ Restbestände wegrationalisieren, weil sie nur noch musealen Wert hätten, bis zu Privatisierern in Wirtschaft und Politik (Baier 1988). Simmel wollte die „Dissonanzen des modernen Lebens“ durch ein Heben der „subjektiven Kultur“ bekämpfen, etwa durch Erziehung (1957, 97; verfasst 1908, cf. 1916). Die „objektive Kultur“ scheint also in bester Ordnung zu sein. 61 „Der Prophet, nach dem sich so viele [...] sehnen, ist eben nicht da“ (Weber 1919, 441). „‚Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht!’“ (443 – man bemerke die Anklänge an Nietzsche sowie Webers Schüler Lukács und Bloch). Auch Kracauer wollte zwar soziologisch „in die neu-alten Bereiche der gotterfüllten Wirklichkeit“ führen (1922, 11), meinte aber, dies nur durch Abwarten erreichen zu können (cf. Wiggershaus 1988, 85 f.).

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Theorie die Berechtigung zuspricht, die andere zu „kolonialisieren“.62 Beide Wirklichkeiten sind da, und beide Ethiken sind reale Mächte in diesen. Eine normative Theorie kann weder die Totalität der Wirklichkeit durchdringen, noch sie gar „transzendieren“, da stets eine Seite ausgeschlossen bliebe. Habermas (1981b) konnte, nach dem Vorbild von Parsons (1937), eine „gesellschaftstheoretische“ Synthese erarbeiten, weil beide Schulen die modellhaften Grundannahmen teilen und primär „normativ“ argumentieren, nur eben von der jeweils anderen Seite aus. Doch eine Synthese von Fehlentwicklungen bringt noch keinen Erkenntnisgewinn.63 Die zwischen Ökonomie und Soziologie entstandene Lücke und ihre Wiederkehr in der Scheidung zwischen Systemtheorie und Kulturalismus64 wird auch durch eine „Interdisziplinarität“ nicht gefüllt, die beide Perspektiven unverbunden nebeneinander stellt. Ein Themengebiet, was keine von zwei Wissenschaften und keine der beiden soziologischen Schulen bearbeitet, wird auch von beiden zusammen nicht besser erfasst. Polemisch gesagt: Statt einer Soziologie, die „nichts als Soziologie“ ist (König 1958, 7), ist diese Soziologie eher – und überspitzt gesagt – „nichts als Ethik“.65 62 Habermas 1981b gesteht System und Lebenswelt ihr jeweiliges Recht zu, moniert aber ein falsches Mischungsverhältnis. Der unzulässigen Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Imperative soll durch eine „Politisierung“ abgewehrt werden (siehe schon 1962). Offen bleibt, was der Inhalt dieser Politisierung sein soll. Die normfreien „Subsysteme“ (Staat und Wirtschaft) werden eher positiv beurteilt, zumindest solange sie in ihren Grenzen bleiben – die allerdings illusorisch sind. Die reale Lebenswelt ist Habermas 1992 unheimlich geworden: die hegemonialen Inhalte des Politischen (der vorherrschende Nationalstaatsgedanke und Patriotismus), werden ersetzt durch eine rationalistische Konstruktion der „deliberativen Demokratie“ und des „Verfassungspatriotismus“, die sich allein durch formale Verfahrensregeln legitimieren. Die Unterscheidung von System und Lebenswelt ist eingezogen. So werden die vormals systemisch genannten Elemente Staat und Wirtschaft noch unkritischer gesehen. Die Lebenswelt wird nun nicht mehr nur rational „rekonstruiert“, sondern rationalistisch bevormundet (cf. 3.1.5). 63 Um die „Synthese“ rangen Dilthey (2.5.2), Troeltsch (2.6.6), von Wiese 1954 (111, 117), Mannheim 1924 sowie A.Weber 1927. Dieser kombinierte eine eklektische Soziologie, die sich der Zivilisation, der Gesellschaft und der Kultur je einzeln annahm (von ferne ähnelt das den „drei Welten“ von Habermas 1981b I, 115 ff.). Dadurch wird die theoretische Zerreißung des gesellschaftlichen Zusammenhangs der „Sphären“ nur verendgültigt. Naturalismus und Technizismus einer Ebene wird „ergänzt“ durch vollendeten Idealismus der anderen. 64 Die Soziologie inkorporiert beide Perspektiven. Das könnte man mit Luhmann als eine „Re-entry“ der Differenz im Inneren des Systems. 65 Lichtblau 1997 zeigt, wie besonders der Einfluss Nietzsches eine Ethisierung der Soziologie vorantrieb: Tönnies engagierte sich, inspiriert durch Nietzsche, in der „Gesellschaft für ethische Kultur“ (92, cf. Tönnies 1893; König 1984, 403), Simmel pries Nietzsche als Verkünder eines neuen Ethos der Vornehmheit (100, cf. Simmel 1907, Lichtblau 1984a), und Webers Protestantische Ethik (1904) ist als Fortsetzung der Genealogie der Moral zu lesen (129, zuvor wollte er die Deutschen zu einem „Herrenvolk“ durchformen, 135, cf. Weber 1895). Scheler und Sombart arbeiteten an einem neuen nietzscheanischen Ethos wider die Dekadenz des Bourgeois (159, cf. Sombart 1913a, Scheler 1999). Webers Reserve gegenüber „Werturteilen“ (cf. 2.4.6)

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2.4.4 Die Projektion der Schwächen auf die Symbolfigur Marx Die durch das negative Kraftzentrum Marx stark veränderte ökonomische Wissenschaft wirkte sich entscheidend auf die Architektur der sich entwickelnden Soziologie aus. Diese hat dann Marx’sche Themen in durchaus eigener Form aufgegriffen und rezipiert, etwa die Frage der Entfremdung oder der Klassenbildung. Die ökonomischen Vorverständnisse der Soziologie zeigen aber bereits an, dass diese Rezeption nicht voraussetzungslos ist. Hatte die Tendenz zum wechselseitigen disziplinären Ausschluss von Soziologie und Ökonomie ein bestimmtes ökonomisches Paradigma zur Voraussetzung, so überrascht es nicht, dass eine solche Perspektive auch bestimmte Marxdeutungen zur Folge haben wird. So lange wie der Name „Marx“ in Deutschland noch für reale Kräfte und Gruppen stand, für Gewerkschaften und Studenten im Lande sowie für das andere Deutschland, wurde Marx von der Soziologie immer wieder als Kritikpunkt angepeilt, anhand deren Widerlegung man sich den Sinn des eigenen Tuns exemplarisch vergegenwärtigen konnte. (Daraus entstand bei Marxisten die perspektivische Täuschung, die Soziologie sei nur eine Antwort auf Marx, Fn. 11.) Die Literaturgattung der soziologischen Äußerungen über Marx ist darum besonders signifikant. Zwar muss eine untergründige Wirkungsgeschichte von einer bewussten Rezeption unterschieden werden. Doch die stets große Resonanz solcher Schriften zeigt, dass die Ausformulierungen in der Regel die in der soziologischen Praxis gemachten Voraussetzungen zum Vorschein bringen. Sie können daher als eine Probe auf die Überlegungen zum Gegenstandsverlust in der Soziologie und ihrem Auseinanderfallen in miteinander unverbundene Theorien von einer sterilen technoiden Basis und einem rein normativen Überbau gewertet werden. Marx, der die Philosophie über sich hinausgetrieben hatte in Richtung Politik und Wissenschaft, wird in diesen soziologischen Schriften als Vertreter des jeweils gegnerischen sozialphilosophischen Paradigmas angesehen: als kruder Empirist oder als Phantast. Beide Seiten des beschriebenen Dualismus bzw. seiner „Bewertungen“ projizieren ihr jeweiliges Negativbild auf Marx – was seine Ursachen aber nur darin hat, dass die ökonomietheoretische Reaktion die Hälften auseinander fallen ließ. René König etwa wollte in der Marx’schen Theorie eine überflüssige „Geschichts- und Sozialphilosophie“ sehen.66 Das ist ein alter Vorwurf, der sich sowie die eher anti-ethische Haltung Nietzsches ändern daran wenig: sie waren nur gegen eine bestimmte Ethik gerichtet. Jonas 1968 II stellt für die Zeit vor (173 ff.) und nach Max Weber (217 ff.) fest, dass neben einer „folgenlosen“ empirischen Sozialforschung (169, 172, 239) eine ethisierte Kulturwissenschaft („Ethoswissenschaft“, 176) den Platz der Soziologie eingenommen hat. Mit Schelsky (1957, 19) sieht er noch in der Soziologie seiner Zeit „nur eine indirekte Morallehre“ (251). Jonas stößt auch auf die Rolle, die Fichte dabei spielt (224, 251; vgl. 196, 214, 249 f. u.ö.; cf. 2.5.2, Fn. 28; 3.1.5, Fn. 125). 66 König wollte eine „nichts als Soziologie“ erreichen, indem er „insbesondere die Geschichts- und Sozialphilosophie“ ausmerzte (1958, 7). Darunter figurieren Philoso-

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durch die ganze Soziologiegeschichte zieht.67 So sehr er auf viele seiner marxistischen Zeitgenossen zutrifft (allen voran Bloch und Adorno), so wenig erfasst König den Charakter der Marx’schen Theorie, wenn er in ihr eine „Eschatologie“ erblickt.68 Erst die neoklassische Ökonomie grenzte das „Philosophische“ aus der ökonomischen Theorie aus. König übernimmt diese Ausgrenzung für die Soziologie. Sonst ein progressiver Geist, steht er in diesem Punkt auf Seiten des von ihm bekämpften Szientismus.69 Für andere Autoren war Marx Romantiker (Woibl 1989, Frank 1992), Metaphysiker (Popper 1965) oder moralischer Rigorist (Parsons 1937, 495; Dahrendorf 1953). Damit war meist seine politische Zukunftshoffnung gemeint. Doch dies berechtigt kaum das Zurückweisen der Gegenwartsanalysen, die ja den Schwerpunkt des Marx’schen Opus ausmachen. Sie werden sogar dort zurückgewiesen, wo die „philosophischen“ Thesen von Marx, etwa der Entfremdung (Nolte 1952, Popitz 1953, Israel 1972, F. Becker 1972, Meszaros 1973, Schrey 1975), bejaht werden.70 phen wie Tönnies (91) und Adorno (336) sowie, wenn auch mit Bauchschmerzen, Marx: „Einerseits entwirft er ein metaphysisches System der ‚richtigen Gesellschaft’, [...] das allerdings [...] völlig inhaltsleer und bloße Verheißung bleibt“ (92; gerade deswegen ist es kein metaphysisches System). „Andererseits versucht er, die ‚Anatomie’ der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln, was beim ersten Ansehen genau im Sinne einer positiven Wissenschaft vom Sozialen verstanden werden könnte. Da aber sein Begriff der Gesellschaft [...] aus der Hegelschen Dialektik übernommen ist, bleibt er [...] in lauter Abstraktheiten naturrechtlicher Art stecken“ (93; cf. 1980, 101 und 127). Hinter diesem Vorwurf steckt zugleich der umgekehrte, Hegel an Ethisierung noch übertreffende, Hegels Denken über Gesellschaft sei zu sehr der Vertragstheorie und dem Utilitarismus verhaftet (König 1980, 101, 127; 1987, 64). König erhebt also beide Vorwürfe zugleich, wie Marx für Parsons 1937 zugleich Utilitarist (107) und Idealist war (495; Joas 1992, 36; vgl. Gouldner 1980). 67 Man hört ihn bei Dilthey (GS I, 108), Simmel 1892 und P.Barth 1897. „Die Soziologie ist aus der Geschichtsphilosophie erwachsen“ (Freyer 1931, 294; cf. 1930, 125). „Soweit das, was damals entstand, Soziologie darstellte, war es Geschichtssoziologie, d.h. eine Soziologie, welche in empirischer Form die Aufgaben der bisherigen Soziologie übernahm“ (A. Weber 1931, 285). „Geschichtsphilosophie“ meinte primär den Marxismus: „die Möglichkeit solcher Soziologie wird heute weitgehend abgelehnt, obgleich in Gestalt der materialistischen Geschichtsauffassung eine dieser Soziologien in welthistorischer Weise grad selbst Geschichte machte“ (1931, 285; vgl. von Wiese 1954, 107). Über Popper und Löwith wanderte der Vorwurf zurück in Philosophie und Theologie (2.6.6). 68 König 1987, 90 ff.; 1937. König (1980, 8) kannte Löwith, und Taubes’ Dissertation (1947) ging aus „meiner Vorlesung über Marx hervor“ (1980, 140; cf. 1987, 435). 69 Die Verurteilung Königs bei Kruse 1999 unterschlägt allerdings die Errungenschaft von Soziologen König – die Untersuchung eines eigenen Gegenstandsgebietes mit eigenen Methoden –, indem er sie zwischen ‚harten’ Naturwissenschaften und ‚weichen’ Geisteswissenschaften zerreibt. Den Szientismus hatte schon König kritisiert (1987, 350), aber nicht wie Kruse von der Lebensphilosophie aus, der sich affirmativ auf Dilthey und Rickert bezieht, sondern aus soziologischer Sicht (Fn. 43). Es „kann nicht als Empfehlung für die Psychologie des Verstehens gelten, wenn sie immer wieder im Verstehen des Rationalismus so kläglich versagt“ (König 1981, 36; 2.5.1). 70 Popitz unterstellt Marx eine „theoretisch nicht überwundene Gefolgschaft“ Hegels

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Galt schon hier der „junge“ als der eigentliche Marx, von dem der spätere einen Abfall bedeute,71 so wollten die Sozialphilosophen, die sich der normativen Seite des Dualismus annahmen, in Marx nur noch einen Positivisten (Wellmer 1969) oder Utilitaristen sehen (Parsons 1937, 107; Gouldner 1970, Alexander 1982, Honneth 1987).72 Der Vorwurf, Marx habe Defizite in der „Begründung“ einer „normativen Theorie“, entstammt dieser Gemengelage.73 Ähnlich konträre Urteile wurden auch im positiven Sinne gefällt: So sahen die Technokraten im „technischen Humanismus“ einen Verdienst Marxens (Klages 1965, cf. 2.4.5). Tatsächlich war der geforderten Planung (Mannheim 1935, Willms 1969, Klages 1971, Luhmann 1971) ihre marxistische Abkunft auf die Stirn geschrieben.74 Umgekehrt sahen feuerköpfige Neomarxisten gerade das nichttechnische, vermeintlich utopische Element als Marxens Stärke an (Bloch 1918, 2.5.4, 2.6.6).75 Marx ist jedoch weder das eine noch das andere, sondern er steht zu diesem Dua(1953, 58). Wo Marx’ Gedanken über Hegel „nicht hinausgehen“ (129), da wird um die Ökonomie schlicht gekürzt. Israel 1972 weist zwar den späten Marx nicht direkt zurück (da sich „humanistische Ideale [...] in allen seinen ‚Perioden’ finden lassen“, 33), analysiert jedoch überwiegend Aussagen des jungen Marx (48 ff., 106 ff.; cf. Fromm 1963). F. Jonas bemerkt, dass Webers Rationalisierungsthese eine „Verallgemeinerung“ der Marx’schen Entfremdung ist (1968 II, 207, cf. 200 f.); allerdings unter der bei Staatsbeamten wenig überraschenden Voraussetzung eines „Primat des Politischen“ (225, cf. 2.2.6, 2.6.2). Weber habe Marx als einen „Ethiker“ gedeutet und vorrangig darin abgelehnt (190). 71 Diese These, die zuletzt Göhler 1980 vortrug, wurde schon früh schlagend kritisiert, und zwar von Habermas: „Dass Marx Hegel nur unzureichend verstanden, und Hegel alles schon vorgedacht habe, was Marx späterhin in Auseinandersetzung mit ihm zu entdecken glaubte, ist die Tabuformel, die vor der spezifischen Problematik einer auf empirische Sicherung bedachten revolutionären Geschichtsphilosophie bewahrt“ (1957, 402). Abgesehen von der Leerformel der „revolutionären Geschichtsphilosophie“ ist dem zuzustimmen. Die Marx’sche Theorie kann „allein wissenschaftlich widerlegt werden“ (413), nicht aber „philosophisch“. 72 Oder schlicht einen Materialisten (Schwarz 1912; Heimann 1926; Ringer 1969, 159). 73 Er spiegelt die Begründungsnöte einer die Wirklichkeit nie ganz erreichenden Theorie und sagt über Marx wenig aus, der gar keine normative Theorie vertritt, die er begründen müsste (womöglich wiederum „normativ“). Dennoch kritisieren Sozialphilosophen, dass Marx keine, eine schlecht begründete oder die falsche Ethik vertreten habe (3.1.4). Dieser Vorbehalt, eigentlich einer gegen den Sozialismus, konnte von Soziologen, die von Dilthey die Lebensverbundenheit der Sozialwissenschaft gelernt hatten, direkt auf die Wissenschaft übertragen werden, ohne noch recht zwischen Theorie und Wirklichkeit zu unterscheiden – ein Deutscher Idealismus (2.5.2). 74 H. Klages ging „von der Auffassung aus, dass es möglich sein wird, die Wirtschaft in eine umfassende Gesellschaftspolitik zu integrieren, ohne sie erst von ihrer institutionellen Basis her revolutionieren zu müssen“ (1971, 51; cf. 2.6.2 zu Pollock). Marx’ Ziel wird übernommen, die aufwendige Polemik gilt nur dem Weg dorthin. 75 Freyer verbindet beide Bejahungen: in den 1950er Jahren Technokrat, hatte er Marx zuvor als Stifter der idealistischen „Wirklichkeitswissenschaft“ gefeiert (1930, 100). Nicht das Proletariat solle sich in der Partei, sondern das Volk sich im Staat „erkennen“. Nach Habermas 1957 resultiert die Theologisierung des utopischen Überschusses der Marx’schen Theorie u.a. bei Bloch aus ihrer technischen Verkürzung.

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lismus insgesamt quer. Er ergründete die Wirkweise der Wirtschaft auf eine Weise, die die negativen Erscheinungen aus diesen selbst begriff, nicht aus einer zusätzlich angenommen Überwelt von „Werten“. Weder musste er daher sein Modell von der Soziologie befreien, die in der klassischen Lehre von den Wirtschaftsklassen angelegt war, noch musste er Überlegungen über kulturelle und politische Dinge und dort anzutreffende Missstände von Fragen der Wirtschaft trennen. War die Analyse streng genug durchgeführt, gab es keinen Anlass, normative Implikationen zu vermissen oder für sie noch zusätzliche Begründungen zu verlangen.76 In den soziologischen „Marxwiderlegungen“ wurde eigentlich nicht Marx behandelt, sondern hierin wurden innersoziologische Stellvertreterkämpfe geführt. Jede Seite meinte in Marx ihr jeweils anderes zu erblicken und kritisieren zu können, und jede ging darin fehl, da er beide Seiten inkorporiert – allerdings nicht in einer bloßen „Synthese“ vorgefundener Theorien wie dann bei Alfred Weber, Parsons und Habermas, sondern in einer ökonomischen Theorie, die dieser Trennung systematisch vorauslag.77 Die paradox spiegelbildlichen Interpretationen von Marx zeigen noch einmal die Lücke an, die in der deutschen Soziologie klaffte zwischen einem technizistisch verkürzten „Unterbau“, der sich, so er explizit gemacht wurde, an der neoklassischen Ökonomie orientierte, und einem „ethisch“ konzipierten „Überbau“, der eher geisteswissenschaftlich ausgelegt wurde.78

76 In diesem Sinne forderte schon Fleischer gegen das „normative Gestikulieren“ der Philosophie, „mit schlicht-unaufdringlichem Benennen der Belange den Wirklichkeitsmodus des Normativen in den Blick zu bringen, und das so, dass sich jenes ganze Aufgebot der Imperative, Werte, Normen und Prinzipien erübrigt“ (1980, 422). 77 Diese Soziologien sind schneller veraltet als Marx, daher sind solche Stellvertreterkämpfe nur von historischem Interesse. Zygmunt Baumann bemerkte 2001 in einem Dresdner Vortrag, die Systemtheorie gehe von einer Stabilität von Staat und Gesellschaft aus, die nach 1989 nicht mehr gegeben sei (nach dem 11. September um so weniger; cf. 2.5.6, Fn. 233). Ähnlich bezog Nancy Fraser auf der Frankfurter Foucault-Konferenz 2001 dessen Machtkritik auf den paternalistischen Wohlfahrtsstaat, der aber kaum mehr gegeben sei (nun in: Honneth 2003a). Die Theoriemoden wechseln einander rasch ab. Die Frage ist, ob jede Theorie „mittlerer Reichweite“ eines neues Paradigmas bedarf. 78 Diese „Entzweiung“ strahlt sogar bis in die „an Marx orientierte Diskussion“ aus: Der ‚Objektivist’ Althusser schließt Subjektivität und Intersubjektivität „aus dem Produktionsprozess aus“ (Hauck 1984 191; Althusser 1972, 148, 234, 242); der ‚Subjektivist’ Habermas spricht der gesellschaftlichen Arbeit „jegliche Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung“ ab (Hauck 1984, 205; vgl. ähnlich Gormann 1982; siehe bereits 2.3.2).

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2.4.5 Kritik der Technokratiethese und der Industriesoziologie „Wir werden uns allmählich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass der Unterschied zwischen einem stabilisierten und reglementierten Kapitalismus und einem technifizierten und rationalisierten Sozialismus kein sehr großer ist.“ (Werner Sombart) „Allein die politische Ökonomie ist nicht Technologie.“ (MEW 13, 617)

Die paradox spiegelbildliche Marxinterpretation kann ein Beispiel aufzeigen. Im Zuge der „Rephilosophisierung“ der Soziologie (2.5, Fn. 8) wurde die Kunst der Marxwiderlegung, in der sich zuvor Ökonomie und Soziologie geübt hatten, zu einem sozial-philosophischen Thema. Auch die sozialphilosophischen Marxwiderlegungen widersprachen einander offensichtlich.79 Von beiden Seiten aber wurde Marx als „Geschichtsphilosoph“ gedeutet (2.6.6). Marx hat zwar historische Betrachtungen angestellt, hat sich aber, wie im Prinzip auch Weber, mit Prognosen äußerst zurückgehalten (2.2.4, Fn. 44; 2.3.1, Fn. 6; 2.6.6, Exkurs). Keiner von beiden hätte den Versuch begrüßt, aus reinen Begriffen und einigen unkontrollierten Beobachtungen etwas Allgemeines über „den“ Begriff der Geschichte herauszudestillieren. Doch die in ihrer Wirkungsgeschichte kaum zu unterschätzende Selbstfindungsdebatte der Geschichtswissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte einen Methodenkanon bereitgestellt, der historische Fragen schnell zu philosophischen machte; schien man doch Fragen der Entwicklung des allgemeinen Weltzustandes, der letzten Ursachen desselben sowie möglicher Rettungen nicht anders als spekulativ angehen zu können. Auf diese Weise wurden Quasisubstanzen wie „die“ Geschichte, das Abendland, die Kultur, gar das Leben, das Sein, die Vernunft oder die Moderne zu Subjekten der Entwicklung. Sie bekamen in einer Rahmenerzählung je eine eigene „Geschichte“,80 deren gegenwärtige Auswirkungen auf diese Weise als philosophisch erfasst galten. Philosophie wurde damit als Produzent von Orientierungswissen innerhalb einer krisenhaften Gesamtentwicklung verstanden, obwohl sie die zu erfassende Wirklichkeit nur in vergeistigter Form, also ideologisch entstellt wahrnahm.81 79 Marx verfehle als Positivist und Utilitarist die conditio humana und lasse eine erkenntnistheoretische oder moralphilosophische „Begründung“ vermissen, meinten Arendt 1960, Habermas 1968, Wellmer 1969. Marx argumentiere mit dem Wesen des Menschen und einer besseren Zukunft metaphysisch, meinten dagegen Löwith, Popper und andere. In der Tat hatte sich der Marxismus im Laufe seiner politischen „Verwirklichung“ im Osten und seiner theoretischen Dogmatisierung als „Oppositionswissenschaft“ (Brinkman) im Westen zunehmend als umfassende „Weltanschauung“ verstanden (als Geschichts- und Naturphilosophie, historischer und dialektischer Materialismus, cf. 2.2.4). 80 Im Doppelsinn von Lyotards Narrativ wie der mythisierten Geschichte des Seins. 81 Charakteristisch für die Verbreitung dieser Sicht ist die Rezeptionsverengung vorwiegend auf die Marx’schen Frühschriften; wobei von diesen wiederum nur jene Aspekte aufgenommen wurden, die sich – wie die Thesen von der „Entfremdung“ und der Marx zugeschriebenen „Verdinglichung“ – in solche ‚geisteswissenschaftlichen’ Narrative integrieren ließen (2.5.4). Zur Rolle der Philosophie vgl. Horkheimer 1928, Adorno 1962.

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Einem dieser großen Narrative in der Soziologie ist an dieser Stelle näher nachzugehen, da es Folgen hinterließ. Es handelt sich um die Geschichte von ‚der’ Technik. Bereits Lenin zeigte eine technokratische Verengung des Sozialismus an, als er proklamierte, Kommunismus sei Elektrifizierung.82 Der Westen nahm diese Herausforderung an, und so wurde der technologische Fortschritt zu einem symbolischen Austragungsort des Systemwettstreits. Mit dem Sputnikschock machte die Sowjetunion sogar einige Punkte, und noch das Wettrüsten stand unter diesem Zeichen. Dieser reale Antagonismus spiegelte sich nun auch in die deutsche Sozialtheorie. In den 1950er Jahren etablierte sich eine Weltanschauung, die mit dem als Geschichtsphilosophie gedeuteten Marxismus konkurrierte: die These von der „Industriegesellschaft“. Sie hatte das Selbstverständnis, „post-ideologisch“ zu sein (Bell 1962), indem sie nur von Tatsachen und deren Zwängen sprach. Doch sie vertrat zugleich ein spekulatives Narrativ. Die Freisetzung der Naturwissenschaft habe einen Siegeszug der Technik eingeleitet,83 welcher wiederum die moderne Industrie geschaffen habe. Durch deren Ausweitung sei die Menschheit um 1800 in eine Wandlungsphase eingetreten, die nur mit der neolithischen Revolution zu vergleichen sei. Die „industrielle Gesellschaft“ verändere nach und nach alle Lebensbereiche, sogar die psychische Struktur des Menschen. Man stehe inmitten einer „Schwelle der Zeiten“ (Freyer 1965a). Das war selbst eine Geschichtsphilosophie ersten Ranges.84 In der These der Industriegesellschaft überkreuzen sich also zwei disparate Ansichten, ein Pathos der Nüchternheit und eine tollkühne Geschichtsmetaphysik. Sie war am ehesten eine Weltanschauung. Mit Marx war sie nur scheinbar verträglich – tatsächlich relativierte sie ihn bis zur Neutralisierung: zwar habe Marx einige Aspekte dieser geschichtlichen Bewegung gesehen, doch ihre eigentliche Bedeutung, die Subjektrolle der Technik, habe er verkannt.85 Nach Marx hat die Technik im Kapitalismus die spezifische Funktion, die Produktion zu rationalisieren, um mehr und billiger produzieren zu können. Zu solchen Maßnahmen sind die Produzenten bei Strafe des Untergangs gezwungen, und zwar durch die Konkurrenz, welche bekanntlich nicht schläft.

82 „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ (LW 31, 513; Kesting 1959, 209). Stalin forderte 1928 zum Fünfjahresplan eine „Traktorisierung“ („Automobilisierung“, 214). „Die Technik entscheidet in der Rekonstruktionsperiode alles“ (Stalin 1947, 401). 83 Walter Gerlach datiert dies auf die Zeit um 1600 (in: Freyer 1965, 63 und 77). 84 So etwa A.Weber 1935, 1946, Freyer 1955, 1965, Gehlen 1961, 129 und Schelsky 1961a, 450, 461, 483 („totale Ablösung von der bisherigen Geschichte durch einen metaphysischen Identitätswechsel des Menschen“; s.u., Fn. 89). Die Abfolge von der Naturwissenschaft über die Technik zur Industriegesellschaft erscheint als logisch und notwendig. Als Geschichtsphilosophie ist dieses Denken aber unhistorisch; gesellschaftliche Strukturen werden übersprungen. 85 Spengler 1931; F. Jünger 1946, 208; Dessauer 1956, 15; Forsthoff 1971, 36; siehe noch Halfmann 1996 sowie neuere Aktor-Netzwerk-Theorien.

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Es ist somit nicht die Technik selbst, geschweige denn irgendein „faustischer Drang“ (Spengler), welcher ihre rasende Entwicklung und ihre zuweilen menschenfeindlichen Folgen hervorbringt, sondern die Notwendigkeit ihres permanenten Einsatzes im Sinne der Intensivierung und Extensivierung der Produktion im Kapitalismus (2.1.6). Davon spricht die Industriegesellschaftsthese nicht mehr: die soziale Einbettung der Technik in die spezifische Gesellschaftsordnung des Kapitalismus fiel aus ihrem Blickfeld (und das wirft Schatten bis heute).86 Ihre Vorläufer hatte die Industriegesellschaftsthese zwar in Utopisten wie Saint-Simon, doch diese hatten in der „Industriegesellschaft“ ein stationäres Endstadium gesehen, zu dem die recht dynamische Gegenwart mitsamt ihrer sozialen Kämpfe erst auf dem Wege sei.87 Dieses Endstadium hielten die Autoren der 1950er Jahre nun für erreicht. Man spekulierte über das „post-histoire“ (Gehlen 1961, 134) und die „Vollendbarkeit der Geschichte“ (Freyer 1955, 62 ff.).88 Obwohl man sich auf internationale Fachliteratur bezog, hatte man auf diese Weise den geschichtsphilosophisch gedeuteten Marxismus selbst noch geschichtsphilosophisch überholt.89 Gab es nur die drei Phasen der primitiven, der agrarischen 86 Forsthoff 1971, 164 wehrt diese Einbettung bewusst ab: „Der harte Kern des heutigen sozialen Ganzen ist nicht mehr [!] der Staat, sondern die Industriegesellschaft“ (hier kommt er Marx’ Kritik an Hegel nahe), und der „ist durch die Stichworte Vollbeschäftigung und Steigerung des Sozialprodukts bezeichnet. Vor diesen Stichworten werden Klassengegensätze [...] gegenstandslos“ (cf. Schelsky in 2.4.6). Ein merkwürdiger Schluss: der „Zwang“ zur Vollbeschäftigung war ja gerade der zum Sozialstaat geronnene Klassen- (und System-)Gegensatz (cf. Metzler 2003). 87 Walter Benjamins Passagenwerk (GS V) spürt der „Verheißung“ nach, die die Technik bei ihrem Siegeszug im 19. Jahrhundert mit sich führte: den Einsatz im Interesse aller (Aristoteles, Politik 1253 b 39; MEW 23, 430). Zu Saint-Simon Salomon 1919; Ramm 1955; Kesting 1959, 32 ff.; Buber 1967; Niederwemmer in H. Lenk 1973, 21 ff.; Höppner 1975; Lepenies 1985; Euchner 1991. „Die Herrschaft von Menschen über Menschen wird, so hatte schon Saint-Simon gesagt, abgelöst werden durch eine Verwaltung von Sachen. Aber er hatte nicht hinzugefügt, dass die Sachen, die hier verwaltet werden sollten, eben die Menschen selbst sein würden“ (Jonas I, 271). 88 Kojeve 1947; Gehlen 1963a; Freyer 1987, 85 ff.; Niethammer 1989, Fukojama 1991; Meyer 1993, Rohbeck 2000, 92 ff. Gemeint war jeweils etwas in der Geschichte, das als historische Triebkraft („Hauptwiderspruch“) interpretiert wurde: bei Hegel geht die Kunst zu Ende, bei Kojeve und Gehlen konvergenztheoretisch der Klassenkampf, bei Fukojama der Sozialismus – das sind jeweils ganz verschiedene Enden. 89 Man bezog sich auf Veblen 1921, Burnham 1948, Fourastie 1949, Aron 1964 und Galbraith 1968. Obgleich all dies Geschichtsspekulationen waren, galt als „die Quintessenz, die Summe der bisherigen europäischen Geschichtsphilosophie“ der Marxismus (Kesting 1959, 77; Herrmann 2000). „Was zum Thema ‚Marx und die Technik’ sofort einfällt, ist die Geschichtstheorie des ‚Historischen Materialismus’“ (H.Klages, in: Freyer 1965, 137). Auf den geschichtsphilosophischen Charakter der Industriegesellschaftsthese deuten Überschriften wie Weltgeschichte Europas (Freyer 1948), Urmensch und Spätkultur (Gehlen 1956), Stellungnahmen zur geschichtlichen Situation (Freyer 1965), Schwelle der Zeiten (Freyer 1965a) oder Standorte im Zeitstrom (Forsthoff 1974). Rügemer, selbst dem DiaMat verhaftet, spricht von einer „historisierenden Negation der Geschichtlichkeit“ (1979, 117), der junge Habermas von einer „Gegenideologie“ (1960, 278). „Ein allumfassendes, ein für allemal ab-

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und der industriellen Gesellschaft (die zugleich Züge der Reprimitivisierung trug – ein Mal der Heroisierung des Agrarischen im Nationalsozialismus), war für „Utopien“ kein Raum mehr. Wie schon die Kulturphilosophie Simmels war dies ein geschichtsphilosophischer Gegenentwurf, der die Signaturen des Zeitalters (die Subjektrolle der Technik und die „Entfremdung“, Gehlen 1963, 232 ff.) als zwar historisch entstanden, aber nunmehr unaufhebbar festschrieb – eine ewige Wiederkehr des Gleichen. Die Geschichtsphilosophie wurde also nicht von der „reinen“ Anthropologie neutralisiert, wie Marquard (1973) wollte, sondern erst von der Industriegesellschaftsthese, die eine Anthropologie inkorporierte.90 Mit dem Bezug auf den Frühsozialismus, dessen Zukunftsverheißung paulinisch als schon erfüllt ausgegeben wurde (wenn auch eher melancholisch als euphorisch), wurde Marx erneut übersprungen. Dies konnte nur dank seiner problematischen theoretischen Wirkungsgeschichte ein wirkungsvoller Zug gegen den Marxismus sein. Viele Einzelheiten der These der Industriegesellschaft entwuchsen ja dem Marxismus selbst. Es waren Autoren wie Hilferding und Lenin, die die Gültigkeit der Marx’schen Theorien zwar anerkannt, aber historisch auf das 19. Jahrhundert eingeschränkt hatten – in dem „neuen Stadium“ des Monopolkapitalismus seien ganz andere Prinzipien wirksam (2.1.2, 2.2.5, 2.3.3). Schon hier ist eine „geschichtsphilosophische“ Neutralisierung Marxens zu verzeichnen, auch wenn sie noch marxistisch auftrat. Prinzipiell war es nun auch für Nichtmarxisten möglich, Marx in dieser Weise zu deuten, und genau dies tat dann Hans Freyer. Seine Revolution von Rechts (1931) argumentierte, Marx’ Analysen träfen zwar für das 19. Jahrhundert zu, nunmehr allerdings gehe es geschichtlich um anderes – bei ihm war es das Völkische.91 Die Argumentationsstruktur blieb noch dieselbe, als nach 1945 das Völkische gegen die Industriegesellschaft getauscht wurde: einem wirtschaftlich bestimmten Jahrhundert (Freyer 1921) sei nun ein technisches gefolgt (Freyer 1955, 38 ff.; cf. Remmers 1994). Diese Gegengeschichtsphilosophie, die für das 20. Jahrhundert recht willkürlich ein neues Stadium ausruft, findet sich in der „konservativen Revolution“ in verschiedensten Varianten. Alle aber gehen von einem „Universalwerden der Technik“ aus (Schelsky 1961a, 455).92 Dabei wird ‚die’ Technik nicht immer als solche glorifiziert. Doch sie galt als das transzendentale Merkmal der Epoche, schließendes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens“ (Engels, MEW 20, 24). 90 „Geschichtliche Veränderungen sozialer Systeme im ganzen sind nicht verstehbar als Folgen praktischer Orientierung“, sondern einzig als „Folge von Anpassungsleistungen“ – der Systeme (H. Lübbe, in: H. Lenk 1973, 102). 91 Üner 1981, kritischer Lange 1977, Saage 1983, Remmers 1994, Rehberg 1999. 92 Vgl. Spengler 1931, E. Jünger 1932, F. Jünger 1946, Gehlen 1957, F. Jonas 1960, Deege 1996. Heidegger sah die Herrschaft der Technik als Konsequenz der abendländischen „Seinsvergessenheit“, nach 1945 blieb „die Technik“ Subjekt der Geschichte. Schmitt (1932a, 80, 84) weitete die Stufenfolge aus, indem er dem 16. Jahrhundert die Theologie, dem 17. die Metaphysik, dem 18. die Moralität, dem 19. die Ökonomie und dem 20. die Technik zuordnete.

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dem man wohl oder übel zu antworten hatte93 – sie, und nicht die konflikthafte Reproduktion, deren Mittel sie nach Marx ist (MEW 23, 405; Park 2001). Erst in der Bewertung dieser These unterschieden sich ihre Vertreter: Einige Technokraten waren der Auffassung, die Technik sei selbst in der Lage, die von ihr geschaffenen Probleme durch Planung zu lösen.94 Die konservative Kulturkritik meinte, dazu bedürfe es der „haltenden Mächte“ (Freyer), einer „geistigmoralischen“ Einbettung oder der Stärkung der aus archaischen Zeiten herrührenden Institutionen.95 Der futuristisch-faschistische Heroismus war aus dieser Perspektive als „Synthese“ von Sittlichkeit und Technik empfunden worden. Man meinte eine Zeitlang, den Gefahren der Technisierung mithilfe tellurischer Mächte wie Volk, Staat, Gemeinschaft, Boden und Blut begegnen zu können, indem man sie für einen höheren Zweck anwandte, der dem reinen Mittel „Technik“, das man in den Gegenpolen Russland und Amerika verkörpert sah, an Wertigkeit überlegen wäre.96 Als dies an der Übermacht der Gegenpole gescheitert war, übernahmen andere Kandidaten diese Position, etwa die Werte von Familie und Religion oder die bewährten Tugenden. Die Subjektrolle ‚der’ Technik aber wurde praktisch als eine Notwendigkeit und theoretisch als eine nicht hinterfragte Letztgegebenheit behandelt. Ihr stellte man nach 1945 nur noch „kompensatorisch“ die Kultur und die Geisteswissenschaft entgegen.97

93 Zur „transzendentalen“ Soziologie neben Schelsky 1959, 95: Nolte 1963, 521 ff. 94 Veblen 1921, Popper 1957 („Sozialtechnik“), Klaus 1961, Schelsky 1961a, 465; H. Klages 1971, Luhmann 1971; kritisch Willms 1969, Glaser 1972, 67 ff.; cf. Meynaud 1964, Tenbruck 1967, Senghaas 1970, H. Lenk 1973. 95 1929 hatte Freyer die Technik „als Wirklichkeitsmacht von entscheidender Bedeutung“ begriffen (Freyer 1987, 8 f.; Remmers 1994, 107). Wie Heidegger und Adorno rechnete er die Technik verüberallgemeinernd einem eigenen, neuzeitlichen Typus von Rationalität zu, den er „als Verkörperung eines geschichtlichen Wollens“ begriff (1987, 15; Remmers 1994, 111). Dieser Wille müsse im starken „Gefüge einer geschichtlichen Zwecksetzung“ verkörpert werden, was allein der völkische Staat leisten könne. Nach 1945 sollen die sinnleeren „sekundären Systeme“ von der allein sinnstiftenden Tradition gehalten werden: „Es gibt haltende Mächte, die den Fortschritt tragen, ohne sich aufzuzehren“ (Freyer 1987, 82; Remmers 1994, 183). Auch das spätere ‚funktionale Äquivalenz’ des Heldentums, der Neoaristotelismus (Schnädelbach 1986), stellte der beklagten Herrschaft der reinen Zweckrationalität etwas höheres entgegen, ohne sie auf ihrem Gebiet anzutasten. Die Institutionenanalyse ist inzwischen übrigens verfeinert worden. 96 Heidegger sprach 1935 von der „inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung“, weil diese der Technik erstmals und in „planetarischem“ Maßstab begegnete (Heidegger 1953, 152/GA 40, 208). G. Wünsch, ebenfalls einst überzeugter Nationalsozialist, unterschied in dieser Linie noch 1962 „Wertstärke“ und „Werthöhe“ (17). Gehlen nannte die verlorenen Tugenden später „kriegerisch“ (1961, 136 f.; dort auch die Abgrenzung gegen Amerika und Russland). 97 Zu dieser Rolle der Geisteswissenschaften in der „Ritterschule“ (Jochim Ritter, Manfred Riedel, Odo Marquard, Hermann Lübbe, Günter Rohrmoser u.a.) Ritter 1961, Seifert 2000. Die Wurzel liegt indes bei Freyer: sind die Werte die „haltenden“, weil kompensatorischen Mächte, sind sie vor destruktiver „Reflexion“ zu schützen.

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Im Zuge dieser Neuverteilung der Rollen interpretierte man nun auch Marx auf eine neue Weise. Marx hatte zwar schon in seiner Jugend solche „Entzweiungen“ gebrandmarkt. Doch wurde er innerhalb dieser Rollenumverteilung allein einem Lager zugeschlagen: bei H. Klages, einem Verfechter der These der Industriegesellschaft, wurde auch Marx zu ihrem Verkünder. Tatsächlich hatte Marx dem jeweiligen Stand der Reproduktionstechniken eine hohe Bedeutung zugemessen, da diese einer Gesellschaft allererst die Spielräume möglicher Gestaltung eröffnen. Doch Klages unterschlägt, dass die Technik für Marx keinen Selbstzweck darstellt, sondern eben ein Mittel. Als solches kann es der allseitigen Entwicklung der Individuen dienen: die technischen Mittel lassen es zu, mit minimalstem Aufwand an Arbeit mehr als genügend Lebensmittel für alle sicherzustellen und ein Leben ohne Zwänge zu ermöglichen. Dass dies nicht geschieht, liegt für Marx keineswegs an der ungenügenden Entwicklung der Produktivkräfte, wie Klages suggeriert, sondern an den kapitalistischen Produktions- und Aneignungsverhältnissen.98 Das Motiv dieser Wirtschaftweise ist nicht die Versorgung der Menschen, sondern die Erzielung von Profit. Dies, und nicht eine „Unfähigkeit zur Nutzung der weiteren Entfaltungsmöglichkeiten der Produktivkräfte“ (so Klages in Freyer 1965, 139), ist nach Marx der Skandal des Kapitalismus. Marx hoffte, die Produktivität werde sich nach einer möglichen „proletarischen Revolution“ (141) weiter erhöhen. Es ist offen, inwiefern sich eine demokratische Kontrolle der technischen Entwicklung zugunsten einer Bevölkerungsmehrheit auswirken würde. Im „Realsozialismus“ ist es anders gekommen, allerdings war dort von „demokratischer Kontrolle“ auch keine Spur. Marx sah wie niemand vor ihm die Offenheit des menschlichen Wesens. Die Reproduktion war für ihn eine Notwendigkeit, deren Sinn erst in einem erfüllteren Leben besteht. Sie ist unverzichtbar, darf die Menschen aber nicht beherrschen. Nur dann können sie sich auch anderen Dingen zuwenden. Darin steckt ein tiefer Humanismus.99 Klages aber sieht hierin nur die Totalisierung der Technologie: „Der arbeitende Mensch wird [...] in der nachrevolutionären Situation zunehmend nicht mehr als ‚bloßes Zubehör’ der Maschinerie angefordert wie im Kapitalismus, sondern 98 In der Weltwirtschaftskrise von 1929 wurden Lebensmittel massenweise vernichtet, um den Preissturz aufzufangen, während die Bevölkerung gleich nebenan hungerte. Wird dieses strukturelle Argument repersonalisiert, kommt es in eine gefährliche Nähe zur Verschwörungstheorie – wie bei Marcuse: dass die technischen Möglichkeiten nicht zum Guten eingesetzt würden, sei nach Marcuse „ausschließlich der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung zuzuschreiben“ (1967, 14; nach Willms 1969, 55, 58). 99 Erstrebenswert ist eine Ordnung, dies es „möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe“ (MEW 3, 33). Arbeit und Technik bleiben „immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung“ (MEW 25, 828).

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durch die von ökonomischen Schranken emanzipierte Logik in einen rapiden Prozess der Intellektualisierung und Verwissenschaftlichung der Arbeit schlechthin hineingerissen. […] Der Arbeitsmensch, der sich als Produktivkraft der Produktivkraft Maschine in den wissenschaftlich-technologischen Raum hinein entwirft, konfrontiert sich somit notwendigerweise auf eine ‚allseitige’ Weise mit der Natur“ (Klages in Freyer, 141 f.).

Klages suggeriert also, Marx wolle das Technologische der Industriegesellschaft noch radikalisieren. So wird er zu einem Feind der Kultur und der Menschlichkeit, zum Propheten des „technischen Humanismus“ (Klages 1964), des „technischen Eros“ (Hommes 1953).100 Das, was die Technik im Kapitalismus so dialektisch macht, ihr trotz ihres Nutzens verdinglichender, entfremdender und menschenfeindlicher Charakter (MEW 23, 356 ff., 391 ff.); dies verwandelt Klages in den von Marx angestrebten Zustand, der sogar noch totalisiert werden solle. Diese Horrorvision traf die theoretische Substanz von Marx kaum. Sie nahm vielmehr im Gewand einer Marxkritik die polytechnische Erziehung im Realsozialismus aufs Korn.101 Diese eher metaphorische Kritik ließ sich doppelt lesen: entweder hat sich die Jetztzeit bereits als das von Marx verkündete Paradies erwiesen – so wird Marx die Schuld an heutigen Missständen zugeschoben.102 Oder die Marx’sche Option für eine andere Zukunft wird schlicht als technoider Alptraum diskreditiert. In beiden Fällen wird die für die Marx’sche Theorie zentrale Frage der Besitzverhältnisse unterschlagen. Den technischen Fortschritt kennzeichnet Marx ja selbst als problematisch, und zwar aufgrund seiner Einbindung in den ökonomischen Antagonismus: Maschinen, die zur Rationalisierung der Produktion eingesetzt werden, bedeuten für die Arbeiter keine Arbeitserleichterung, sondern eine Gefahr: Arbeitsplätze werden bedroht (daher die Maschinenstürmerei), die Löhne sinken, die Arbeit wird stupide. Auch die Unternehmer sind gezwungen, ihre Ausrüstung ständig zu erneuern, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können. Selbst finanzielle Sektoren sind betroffen, da eine fallende Profitrate ein Sinken der Geldnachfrage nach sich zieht und damit die Renditen vermindert. Im Kapitalismus ist so die ganze Wirtschaftsgesellschaft nolens volens an den technischen Fortschritt (das „Wachstum“) gebunden, obwohl er doch zugleich so vielen schadet.103 Eine hochabstrakte, entökonomi100 Cf. Arendt 1960, Habermas 1968a. E. Lange arbeitete erst zu Freyer, dann zu Marx (Lange 1977; 1980, 122, 156). 101 „Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staats’syndikats’. [...] Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleicher Entlohnung sein“ (Lenin 1917, 106 f.). Die Vorstellung einer neuen Kultur des arbeitenden Menschen gab es nicht nur im russischen Proletkult, für den auch ein Gramsci stand, sondern auch im italienischen Futurismus oder bei Ernst Jünger (1932). 102 So in Becker 1972 („Rechtfertigung“, 140), Khella 1995, Negri 1997 (cf. Fn. 106). 103 Cf. MEW 23, Kapitel 13 und 23; MEW 25, Kapitel 13. Science Fiction Filme zeichnen Maschinen oft bedrohlich: sie ersetzen den Menschen (vgl. Blade Runner, Terminator, Star Treck: First Contact, Matrix; cf. 2.1.5, Fn. 105). Die Spekulation über mögliches Selbstbewusstsein von Computern geht an diesem entscheidenden

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sierte und soziologisch blinde Erfassung der Technik führt dazu, dass philosophische Theorien die Lücke füllen. Kurzschlüssig wird von anthropologischen Kategorien (ein „seelisches Wollen“ in früheren, ein „Rationalitätstypus“ in späteren Versionen) direkt auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Technik geschlossen. Der hauptsächliche Gegenstand der Marx’schen Theorie, die kapitalistische Gesellschaft und ihre Bewegungsgesetze, ist auch in der Sozialphilosophie der Technik entfallen. Angesichts der starken Bezüge auf Marx besonders in der Industriesoziologie mag diese Behauptung überspitzt erscheinen. Auch deren Marxrezeption (Herkommer 1979) ging jedoch durch entscheidende philosophische Filter, die den Gegenstand trotz des Rückbezuges auf Marx vernebelten; zuweilen war hier sogar wegen dieses „Marxismus“ die Sicht auf den „Kapitalismus“ verstellt. Das Thema der alten Industriesoziologie waren primär kulturelle Einbettungen des ökonomischen Prozesses. Die Wirtschafts-, Industrie- und Betriebssoziologie (Briefs 1931, Schelsky 1955, Dahrendorf 1956, Fürstenberg 1961) importierte Theorien aus Chicago und andernorts, etwa über das Hawthorn-Experiment oder die Wildcat-strikes. In Hawthorn ging es bewusst darum, die Produktivität zu steigern, indem Arbeitsbedingungen geringfügig verbessert wurden. Eine Nähe zu Marx gab es kaum. Erst die Industriesoziologie nach 1968 war eng an die Marxrezeptionswellen der Studentenbewegung gekoppelt. Damals gab es viele Stellen an der Universität.104 Doch die „revolutionserwartenden und damit voluntaristischen Vorzeichen“ (Diettrich 1999, 12) des studentischen Marxismus wurden schnell getrübt. Man konnte nun nicht sofort wieder von Marx abrücken, sondern tat dies subtil und zuweilen noch „marxistisch“: „Als es an Klassenaktionen fehlte, wurde die Bewusstseinsanalyse zum bevorzugten Gegenstand; als es an Klassenbewusstsein mangelte, wurde es zum Destillat ideologiekritischer Ableitungen [...] Aus der klassentheoretischen Not wurde eine industriesoziologische Tugend“ (Hirsch 1986, 184).

Hirsch macht für diesen tripple-down-Effekt die „Vernachlässigung der realen ökonomischen Basis“ verantwortlich (184). Die wiederum geht auch auf die philosophischen Verzerrungen der Marx’schen Theorie zurück. Es gab einflussreiche Dualismen wie den von Arbeit und Interaktion. In ihm wurde für das 20. Jahrhundert das krisenfreie Fungieren des Systems schlicht unterstellt, während der Fokus der Sozialtheorie nunmehr auf das Gebiet der „reinen“ Interaktion verschoben wurde (3.1.1). Dieser „kritische Marxismus“ (Gouldner 1980) hatte die Problem vorbei. Auch an der Gentechnik ist das Problem nicht die Technik an sich, sondern ihre kommerzielle Nutzung und deren Folgeprobleme (cf. Enzensberger 2001). Zur Wachstumskritik Meadows 1972, Harich 1975, Bahro 1991. 104 W.D. Narr bemerkte mündlich, er sei selbst überrascht gewesen, wie einfach es für 68er war, an Professuren zu kommen. „Die komplizierte und zeitraubende Analyse der Wirklichkeit wird durch am Schreibtisch zu entwickelnde Deduktionen über die ‚Selbstbeschränkung des Kapitals’ ersetzt, um so der Schwierigkeit enthoben zu sein, sich dem Aufsteigerstress der Mittelklasse zu stellen“ (Bress 1975, 145).

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Verbindung zur Kritik der politischen Ökonomie gänzlich gekappt – er war ganz offen kein Marxismus mehr. Eine andere Richtung umschrieb diesen Einschnitt noch mit Marx’schen Kategorien. Wer sich im Namen des Subsumtions- vom „Produktionsmodell“ des Marxismus abwandte (Arnason 1976, 200), hatte allerdings den gleichen Bruch vollzogen, der Marxens eigene Theorien außer Kraft setzte. Diese Unterscheidung war mehr als fragwürdig: Der Unterschied der reellen zur formellen Subsumtion (MEW 23, 533) ist keine Theorie einer historischen Abfolge von Gesellschaftsformationen innerhalb des Kapitalismus („zwei Phasen des Kapitalismus“, Brandt 1990, 181; cf. Aglietta 1976). Mit „relativer und absoluter“ Mehrwerterzeugung unterschied Marx vielmehr eine auf Verlängerung des Arbeitstages beruhende Form der Ausbeutung, wie sie schon bei Sklavenhaltern und „Feudalbaronen“ gegeben ist, von der Erhöhung der Produktivität oder Intensität der Arbeit, die es nur im Kapitalismus gibt (MEW 23, 531 ff.). Wird mit Brandt dem 19. Jahrhundert ein vorkapitalistisches Modell unterschoben, während das Modell des 20. Jahrhundert schon nachkapitalistisch sei, so ist der Kapitalismus trotz marxistischen Vokabulars entfallen. Man wandte sich gegen die „Arbeitsmetaphysik“ des Marxismus (Breuer 1977, Sieferle 1979, Lange 1980, Honneth 1980b, Lange 1980, Gorz 1989, Kurz 1994). Die neue Formation des „Taylorismus“ oder „Fordismus“ stehe gerade nicht mehr unter der Logik von Kapital und Arbeit, sondern unter der der „Zeitökonomie“ (Sohn-Rethel 1972a) oder der jeweiligen Technik (Vahrenkamp 1973, Brandt 1978, Oetzel 1978, 169 ff., Offe 1984, Hirsch 1986). War die reelle Subsumtion bei Marx ein Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise (mangels Alternativen kann der Arbeiter nur für das Kapital arbeiten), wird sie hier als politischer Zwang, als intendierte „Regulation“ verstanden (Offe 1972, Mückenberger 1976, Steinert 1980). Auch die als soziologische Kategorie verstandene „abstrakte Arbeit“ schien eine disziplinäre Zwangsmaßnahme vorauszusetzen, in der die objektivistisch gelesene „konkrete“ in „abstrakte“ Arbeit allererst verwandelt würde (Breuer 1977, Oetzel 1978, Altvater 1992).105 Hier wirkt der leninistische Primat der Politik nach (2.2.6, 2.6.2): sofern der Marxismus des Subsumtionsmodells kritisch war, richtete er sich gegen den Staat.106 Einer marxisti105 Die „Lehre Marxens ist von den meisten seiner Anhänger – vielleicht aus propagandistischen Gründen, vielleicht auch, weil sie ihn nicht verstanden – aufgegeben worden, und eine vulgärmarxistische Verschwörungstheorie hat weithin ihre Stelle angenommen. Es ist ein trauriger intellektueller Abstieg“ (Popper 1944 II, 127). 106 Funktional machte man sich so zum Fürsprecher des sich zeitgleich formierenden Neoliberalismus – in seltsamer Koalition mit der Kulturkritik, die für den Sozialstaat ebenfalls wenig übrig hatte (Forsthoff 1968, Klages 1979). Wer „Widerspruch zur Wohlfahrtspatronage“ einlegte (Baier 1988), konnte sich auf Max Weber stützen, der ja ein Gewährsmann der Kritischen Theorie unter dem Primat der Politik war (2.6.1). „Auf jeden Fall sind die Neomarxisten, die sich mit aller Macht der Vermögensbildung in Arbeitnehmerkreisen [...] widersetzen, die wirksamsten Verteidiger des Kapitalismus ‚wie gehabt’“ (Nell-Breuning 1974, 111; zur Vermö-

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schen Industriesoziologie blieb nur die Erfassung der jeweiligen technischen Änderungen des „Systems“ (Popitz 1957, Pollock 1964, cf. 2.3.3, Fn. 102) sowie deren psychologischer Auswirkungen auf das „Bewusstsein der Arbeiter“ (Kern 1970, Deppe 1971, Schumann 1977; als Anschluss meiner Überlegungen an die gegenwärtige Diskussion siehe inzwischen Henning 2005a). Systemtheorie und Sozialpsychologie aber benötigten Marx kaum. Die marxistische Industriesoziologie blieb, wie andere hermetische Diskussionen der 1970er Jahre, eine Episode.

2.4.6 Die soziologische Behandlungsart ökonomischer Klassen „Gemessen an den Hoffnungen, die mit der Wiederaneignung der marxistischen Klassentheorie verbunden waren, fällt die Bilanz nach 15 Jahren enttäuschend aus.“ (Hirsch 1986, 183)

Die Gretchenfrage der Soziologie ist die der Klassen. Für die klassische Ökonomie von Smith und Ricardo waren die Gesellschaftsklassen zentrale Kategorien. Gestritten wurde über den Beitrag der Klassen zum „Wohlstand der Nationen“. Für politische Fragen war das von höchstem Interesse: wie viel leisten die Bauern, wie viel die Grundherren, worin besteht der Anteil der Unternehmer, worin der der Arbeiter? Wieviel politischer Einfluss gebührt daher jedem? Diese Unterscheidungen entstammten der basalen Logik des Wirtschaftens. Wir haben gesehen, dass in drängenden ökonomischen Fragen wie Arbeitslosigkeit, Inflation oder Stagnation die Klassen von großer theoretischer Relevanz sind (Fn. 25, cf. 2.3.5). Bürgerliche Theorien machen für solche Erscheinungen in der Regel zu hohe Löhne verantwortlich. Die Behauptung, die Klassen spielten in der theoretischen Ökonomie „heute“ keine Rolle mehr, trifft daher nicht zu – er tritt nur nicht offen nach außen. Der Klassenbegriff ist zunächst ein ökonomischer, und zwar ein irreduzibler, weil konstitutiv in der jeweiligen Wirtschaftsstruktur verankerter. Erst darüber vermittelt wird er politisch – wie es auch im Alltag zu beobachten ist, und zwar zunehmend.107 gensbildung Preiser 1967, 161 ff.; zur Verdrehung der Fronten Koenen 2001, 400). Aufschlussreich sind schon die bei Wahlplakate der 1930er Jahre (Hennig 1976, 292). Breuer 1977, Oetzel 1978, Lange 1980 und Khella 1995 missdeuten den Marxismus als eine das „System“ nur beschreibende und dadurch stützende Theorie (cf. Fn. 102). So wurde ihm noch in der Postmoderne, im Interesse einer unbestimmten „Emanzipation“ (Laclau 1993), etwas entgegengesetzt – darin liegt ihr Konservativismus. 107 Das Wahlrecht war schon in Athen und noch in Preußen an Grundbesitz gekoppelt. Um die Übersetzung ökonomischer Strukturen in die Politik stritten Hobbes, Locke, Montesquieu (Fenske 1997, 334: „wie müssen Steuergesetze aussehen, die eine Demokratie stabilisieren sollen?“), Rousseau und Smith (J. Ritter 1961, Euchner 1969, MacPherson 1974, Rittstieg 1975, Finley 1980, Steinvorth 1981). Noch heute stellt sich die Frage der Besteuerung verschiedener Einkommen. Arbeitnehmer und Angestellte werden höher besteuert als Kapitalgesellschaften, weil die „Leistung“ der letzteren für die Volkswirtschaft höher eingeschätzt wird. Man befürchtet, durch eine Besteuerung sinkendes Wachstum oder Kapitalflucht zu induzieren. Als

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Die Gründerväter der deutschen Soziologie, Marx und Lorenz von Stein, untersuchten ausgehend von dieser Tatsache die sozialen und politischen Folgewirkungen, die die rapiden Veränderungen in der strukturellen ökonomischen Gliederung über die Zeit mit sich brachten, sowie deren zuweilen katastrophische Ausbrüche. Was ist aus dieser zentralen und sachhaltigen Frage, die am Anfang der Soziologie stand und wohl auch stehen muss, im Laufe der Soziologiegeschichte geworden? Die Klassenfrage ist ein geeignetes Thema, um die bisher beschriebenen Veränderungen in der deutschen Soziologie nach Marx exemplarisch aufzuzeigen. Dazu werden repräsentative Vertreter je einer Alterskohorte beleuchtet: Marx, Weber und Schelsky schrieben je im Abstand von etwa einem halben Jahrhundert. Den Abschluss bildet ein Blick auf Luhmann, der zuweilen als Gipfelpunkt der deutschen Soziologiegeschichte gehandelt wird, obwohl seine inhaltlichen Aussagen über die seiner Vorgänger selten hinausgehen.

Systematische Kernpunkte V: Klassen bei Marx „Was er [Ricardo] vergisst hervorzuheben, ist die beständige Vermehrung der zwischen Arbeitern auf der einen Seite, Kapitalisten und Grundeigentümern auf der andern Seite, in der Mitte stehenden, großenteils von der Revenue direkt erhaltenen Mittelklassen.“ (Marx, MEW 26 II, 576)

Der Klassentheorie widmete Marx keine systematische Darstellung, weil er sie als selbstverständlich voraussetzte.108 Dies sollte sich rächen, denn anders als in der Werttheorie waren Anknüpfungen hier wirklich auf „Rekonstruktionen“ seiner Schriften angewiesen. Es finden sich Äußerungen verschiedener Abstraktionsstufen, die auf den ersten Blick nicht zueinander passen. Deutlich ist etwa der Kontrast des dualen Schemas der Kampfschriften (Arbeit gegen Kapital) mit den historischen Schriften, die bis zu acht Klassen kennen.109 Die einflussreichsten Äußerungen entstammen dem Kommunistischen Manifest. Doch auch wenn die politische Rhetorik dieses frühen Werkes zu Überspitzungen neigte,110 fand sich „Klassenkampf“ wird medial allerdings nur der Versuch der Gewerkschaften angeprangert, diesen Konsens der Parteien von unten zu hinterfragen. 108 Das Klassen-Manuskript bricht ab (MEW 25, 892 f.). Marx hatte „weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt [...] Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt“ (MEW 28, 507). Siehe hierzu vor allem Gubbay 1997, Ritsert 1998, Diettrich 1999, Milner 1999. 109 Marx reicherte für den deskriptiven Zweck der historischen „Frankreichschriften“ sein Instrumentarium an: Er unterscheidet Großgrundbesitzer und Bauernklasse, Finanz-, industrielle und kleine Bourgeoisie, Proletariat und Lumpenproletariat sowie Intellektuelle (MEW 7, 12 ff.; MEW 8, 115 ff.; MEW 17, 3 ff.). Diese beziehen in politischen Kämpfen bestimmte ‚idealtypische’ Positionen; dazu kommen Machtgruppen wie die jeweilige Staatsverwaltung, Armee und Klerus. Noch Bader lässt sich von der „Unübersichtlichkeit“ etwas verwirren (1998, Vorrede). 110 Cf. 2.1.4, Fn. 72. „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr [!] in zwei

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selbst in dieser extremen Formulierung schon das, was in der Folge oft gegen Marx gewandt wurde: das Vorhandensein von Mittelständen, Zwischenschichten und Fraktionierungen innerhalb der Klassen, die Überlagerung durch andere Unterscheidungen wie Nationalität oder Geschlecht sowie die grundsätzliche Offenheit der politischen Auswirkungen der Klassengliederung.111 Sie führt keineswegs deterministisch zum „Klassenbewusstsein“.112 Was also unterscheidet die Marx’sche Klassenanalyse von neueren, nach eigener Vorstellung „pluralistischeren“ Analysen der „sozialen Schichtung“?113 Bei dieser Frage begegnet eine Merkwürdigkeit: Obwohl Marx’ Klassentheorie einhellig für soziologiegeschichtlich zentral angesehen wird (Fn. 11), finden sich kaum nüchterne Darstellungen. Thematisierungen der Marx’schen „Klassentheorie“ sind oft vorschnell engagiert, entweder mit einer Widerlegung oder mit der Behauptung ihrer gegenwärtigen Gültigkeit.114 Dabei ist der Grundgedanke, der große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat“ (MEW 4, 463). „Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, [...] fallen ins Proletariat hinab (469). Marx war keine 30 Jahre alt und hatte sein Lebenswerk noch vor sich. Empirische Forschungen mit einem zeitlich und räumlich weiteren Fokus bestätigen diesen Trend (Sassen 1988, 136; Sassen 1996, 135 ff.). 111 So gibt es neben den alten Mittelständen („der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer“, MEW 4, 472) eine „neue Kleinbürgerschaft“ (484) und das Lumpenproletariat („diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“, 472). Dies ist keine Residualkategorie, vielmehr wird oft gerade diese Schicht als ‚Mob’ wirkmächtig: man denke an die „Mobilgarden“ von 1848 (MEW 7, 26), die Freikorps um 1919 oder die Skinheads: es waren in stets Umbruchswirren heimatlos gewordene Schichten. Zur Geschlechtsfrage: „Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument. [...] Er ahnt nicht, dass es sich eben darum handelt, die Stellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuheben“ (MEW 4, 478 f.; cf. MEW 2, 207; MEW 40, 534; Bebel 1879). „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr [!] schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse“ (479). 112 „Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. [...] Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst“ (MEW 4, 471). „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf [...] findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen [...] werden Klasseninteressen“ (MEW 4, 180f., cf. Tugan 1905). 113 Goldthorpe 1980, 1985, Beck 1983, Hradil 2001; Krämer 1983, Diettrich 1999. 114 Voreilig contra Marx Dahrendorf 1957, Parkin 1979, Schelsky (s.u.), Berger 1998, Schroer 2001. Distanzlos pro Marx etwa Jung 1968, Poulantzas 1975, Krysmanski 1989 sowie Ansätze der 1970er (Haug 1970, Meschkat 1973, Tjaden 1973, IMSF 1973 f., PKA 1973 f., Bischoff 1976 und 1980; kritisch Kostede 1976, Krämer

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Marx von der folgenden Soziologie unterscheidet, einfach: ausgehend von dem Grundverständnis, dass die Menschen von irgendetwas leben müssen,115 ergibt sich eine zentrale Gliederung menschlichen Zusammenlebens aus der jeweiligen und historisch spezifischen wirtschaftlichen Arbeitsteilung. Sie muss den Individuen keineswegs „bewusst“ sein, doch der Wissenschaft ist sie zugänglich.116 Im Kapitalismus, der die materielle Reproduktion aus ihren vormaligen kulturellen Verankerungen gelöst hat und nun selbstzweckhaft betreibt (Polanyi 1944), überlagern die ‚reinen’ Formen kapitalistischer Arbeitsteilung die älteren, noch „buntscheckig“ überformten Varianten (MEW 4, 465). Darum wäre zu erwarten, dass die Arbeitsteilung nun deutlich in einer Klassengliederung hervortritt. Sofern sich entlang dieser Front Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie Volksparteien bilden, tut sie das auch. Marx erläutert aber zugleich, dass und warum sich der Reproduktionsprozess für die Beteiligten verkehrt darstellt. Die Klassengliederung wird gleichzeitig verdeckt: Schon vor allem intendierten Verdecken hinter Allgemeinaussagen117 ist die Klassengliederung selbst versteckt.118 1983). Nach Kostede 1976 verfielen marxistische Klassentheorien in einen „rigiden Schematismus“, indem sie die „kategorialen Ausgangspunkte der Marx’schen Klassentheorie unmittelbar den empirischen Klassenverhältnissen der BRD aufpressen“ (126). Sie beschränkten sich auf eine kommentierte Wiedergabe „sozialstatistischer Aspekte“ (129), und so wurde „die historische Analyse zum Bestätigungsfeld der jeweiligen Marx-Interpretation“ (119). Man kam über Programmatisches nicht hinaus (125). Immerhin war ein Anfang gemacht; einige neuere Werke stammen ja von Veteranen (vgl. Ritsert 1970 und 1998, oder Bischoff/Herkommer 2002 mit Bischoff 1976 und Herkommer 1979). 115 „Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren“ (MEW 3, 21; cf. MEW 13, 8 f., MEW 23, 96). 116 Rousseau 1754, Smith 1776, Durkheim 1893. „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen“ (MEW 13, 8; Fn. 133). 117 „Jede neue Klasse [...], die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, [...] ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller [...] darzustellen, d.h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen“ (MEW 3, 47). Kaiser Wilhelm fasste das 1914 in die berühmten Worte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ 118 Sennett 1972. Der Waren- und Geldfetischismus (MEW 23, 85 ff.; MEW 25, 405) bewirkt, dass sich „in den Köpfen“ eine andere Wahrnehmung davon findet als in der Theorie (MEW 3, 358; MEW 25, 324; MEW 26 II, 162). Soziale Verhältnisse erscheinen als Eigenschaften von Dingen – es scheint die „natürliche“ Eigenschaft des Geldes zu sein, mehr Geld abzuwerfen. Ist schon die Struktur der Revenuen nicht unmittelbar durchschaubar, wie soll es dann die endgültige Verteilung des Sozialproduktes sein, die sich durch vielfache Transfers und Verästelungen hindurchbewegt? Im „Verdecktheitscharakter“ nahm Heidegger (1927, 36) die formale Struktur dieses Arguments auf (Lichtung und Verdeckung), löste sie aber vom Inhalt ab und verallgemeinerte und subjektivierte sie (2.5.5, siehe Henning 2004).

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Daneben ist diese ökonomische Basis stets in einem bestimmten kulturellen Überbau gegeben, der die ökonomischen Strukturen zwar nicht umwirft, doch ihre manifeste Erscheinungsweise gestaltet.119 Aber die Wissenschaft wäre überflüssig, „wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“ (MEW 25, 825; MEW 31, 312). Die für die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ (MEW 13, 8) zentralen ökonomischen Klassen gehören also nicht unmittelbar zur „Erscheinungsform“.120 Klassifizierungen der in Gesellschaft lebenden Menschen gibt es unzählige, und zwar nominelle, von außen vorgenommene, wie reelle Selbstzuschreibungen: von lokalen Identitäten (Ostfriese, Schwabe) über Hobbys (Fußballfan, Weinkenner) bis zu Religion und Hautfarbe. Selbst die ökonomischen Unterschiede zwischen Menschen sind vielfältig: Lohnarbeiter in Autofabriken haben mit Bankangestellten so wenig gemeinsam wie mit kellnernden Studenten oder Hotelbesitzern. Es ist eine Frage der lokalen Kultur, wie mit solchen Unterschieden umgegangen wird. Sie können kulturell ausgefeilt, eingeübt und symbolisch ausgelebt werden wie in Frankreich (Bourdieu 1982), in Synergie mit ethnischen Unterschieden eine Gesellschaft auseinander reißen wie in Brasilien (Altvater 1986) oder geschäftig überspielt werden wie im Nachkriegsdeutschland, wo man über Geld nicht sprach (Huster 1993, U. Neumann 1999; siehe zu diesem Ansatz Thompson 1968, Vester 2004). Im Normalfall zeigt sich die soziale Wirtschaftsstruktur nur der ökonomischen Theorie – und nur der klassischen. An die Oberfläche tritt diese „Anatomie“ nur in Krisen- und Umbruchszeiten.121 Diese Gemeinsamkeit ist nach Marx sehr basal: sie bezieht sich auf die Art der „Revenue“, des Einkommens. In der Logik der ökonomischen Sphäre des Kapitalismus gibt es für diese nur vier typologische Möglichkeiten: ich kann und muss entweder von meiner Grundrente als Vermögensbesitzer, von meinem Gewinn als Unternehmer oder Händler, von 119 „Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten [...] worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne [!] Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion [...] finden. Dies hindert nicht, dass dieselbe ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen […] in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind“ (MEW 25, 799 f.). 120 Wie schon das Wort „Anatomie“ andeutet (cf. „Physiologie“, MEW 26 II, 162): das Knochengerüst eines Menschen ist nur schemenhaft zu sehen, die Innereien gar nicht – außer bei einer „Krise“, also einer Verletzung. Es dauerte lange, bis dieser Blick nach innen selbstverständlich wurde. Foucault 1966 datierte den Übergang von sichtbaren Ähnlichkeiten zu begrifflichen Zusammenhängen auf das 17. Jahrhundert. Ein ähnlicher Übergang spielt sich auch in der Biologie ab: der Trend geht von der Morphologie zur Analyse „unsichtbarer“ genetischer Codes. 121 Erst eine Störung des normalen Ablaufs, etwa ein Knochenbruch, lässt die „Anatomie“ ins Bewusstsein treten (3.3). Der US-Soziologe Richard Hofstadter vermutete, dass Klassenfragen eher in Krisenzeiten, Statusfragen in Phasen der Prosperität hervortreten (nach Bottomore 1967, 112; es erinnert an Kautskys Reaktion auf Bernstein, 2.1.2). Zur „Klasse an sich“, die noch immer gestaltet werden kann, Fn. 112.

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meinem Lohn als Arbeiter und Angestellter oder von Umverteilungen leben. Aus ökonomischer Sicht gibt es nichts anderes. Wer nicht Produktionsmittel oder sonstige Vermögen (Land, Immobilien, Aktien etc.) besitzt, ist irgendwann gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Aus diesen drei Revenuen bestreiten die gesellschaftlichen Hauptklassen ihr Einkommen (Profit, Rente, Arbeitslohn; MEW 25, 822 ff.). Was nicht selbst die Form eines solchen Einkommens hat, stellt zumindest eine Umverteilung desselben dar: Staatsbeamte etwa (Lehrer, Polizisten, Professoren etc.) werden aus Steuern bezahlt, die aus den drei Einkommen abgeschöpft werden; ‚nichtproduktive’ Kapitale und Arbeiter (Banken, Dienstleistungen, Künstler etc.) werden aus dem Mehrwert bezahlt, den die produktiven Sektoren einfahren. Das ändern auch Lebensstile und Milieus nicht. Damit sind die Typen von Einkunftsquellen grob erfasst.122 In prosperitären, ruhigen Zeiten mögen diese Schichten sich untereinander befreunden oder befehden, sich abspalten oder neue Gruppierungen bilden, das sind Fragen der Kultur. Dennoch können sie in Krisenzeiten, die aufgrund des zyklischen Wachstums mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen, schnell auf sich zurückgeworfen werden, wenn ihre materielle Reproduktion in Frage steht.123 Marx’ Theorie will keine Momentanbeschreibung einer gegebenen Gesellschaft geben (2.1.2). Besondere kulturelle Ausformungen der Klassen können daher schlecht gegen seine Klassentheorie in Stellung gebracht werden. Sie ist nicht „objektivistisch“; sie liefert ein Grundgerüst, um politische Umbruchsphänomene in einer Krisenzeit verstehend nachzeichnen und möglichst auch erklären zu können. Dabei ist die konkrete „Erscheinung [...] nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen“ (MEW 25, 800). Dahinter stand zweifellos das Erkenntnisinteresse, besonders den arbeitenden Klassen zu einem Verständnis ihrer eigenen Lage zu verhelfen, um in künftigen Krisen politisch eine bessere Figur machen zu können als noch 1848 und 1871. Solange Theorie und Praxis unterschieden werden, vermag dieses Interesse den Wert einer solchen Erkenntnis nicht zu schmälern.124

122 Zu einer Analyse solcher Werttransfers in der (US-)Volkswirtschaft vgl. Shaikh 1996. „Unproduktiv“ heißt nicht, dass individuell nichts geleistet wird, sondern dass kein Mehrwert geschaffen, sondern aufgebraucht wird. Verfügt beispielsweise Person A über ein hohes Einkommen, kann sie eine Reinigungskraft (B) einstellen. B erarbeitet sich so zwar individuell ein Einkommen, fügt aber gesellschaftlich nichts hinzu, da sie von einem Teil des Einkommens von A lebt. Ähnlich verhält es sich mit der Rüstung oder repräsentativen Staatsausgaben (cf. 2.1.6, Fn. 133). 123 Als die Ersparnisse des kleinen Mittelstandes, der oft gegen die Klassentheorie aufgeboten wird, 1929 plötzlich zerrannen, setzte eine politische Radikalisierung dieser Schichten ein; ihre „Konstitution als Klasse“ vollzog sich faschistisch. 124 Auch bei Max Weber hat Wissenschaft „Voraussetzungen“ (1919, 440), die ihre Inhalte nicht beeinflussen. Dass Marx Erkenntnisse formulierte und keine Hassorgien des sozial Deklassierten, wie Topitsch und Löw suggerieren (2.6.6, Exkurs), wird daran deutlich, dass neuere Lexika die Frankreichschriften noch immer als Standardliteratur über diese Zeit angeben (so M. Krätke in Berlin im April 2002, vgl. Vollgraf 2003). Auch von Objektivismus ist hier keine Spur.

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Es ist daran zu erinnern, dass die andere große Soziologie, die damals entstand, die positivistische, ebenfalls im Rahmen der politischen Wirren in Frankreich entworfen wurde (Käsler 1976, 19 ff.). Ihre Theorien hatten ebenfalls bestimmte politische Implikationen – nämlich das Ideal eines technokratischen und quietiven Korporatismus –, die in einer bestimmten, auch ökonomischen Einschätzung dieser Wirren gründete.125 Das Schwergewicht lag hier auf dem Staat, der damit aber weniger analysiert als vielmehr zum Adressaten politischer Wunschbilder wurde. Jonas nannte so etwas „Staatsphilosophie“ (Fn. 2). Im Gegensatz zu dieser herrschaftszentrischen und etatistischen Soziologie wollte Marx zeigen, dass der Staat in diesem Spiel der Kräfte keineswegs die Oberhand hat, sondern selbst nur eine Beute für die verschiedenen Parteien darstellt. Es ging ihm daher auf das Verständnis der Interessen von diesen.126

Klassen (und mehr) bei Max Weber Der andere große Klassentheoretiker, Max Weber, hinterließ in dieser Frage ebenfalls nur Fragmente (Edgell 1993, 11). Seine Schichtungsanalyse scheint die Klassentheorie der ökonomischen Klassik in soziologischer Hinsicht zu ergänzen, denn er fügt der Beschreibung der Wirtschaft eine solche der politischen Sphäre hinzu – streng genommen bereitet er es lediglich vor, indem er die „Kategorien“ bereitstellt.127 Zu bemängeln wäre höchstens, dass hierin noch keine Erklärung des Zusammenhangs dieser Bereiche liegt; doch das ist nicht die Aufgabe einer Beschreibung, geschweige denn eines „kategorialen Rahmens“. Diese Aussagen widersprechen denen von Marx nur insofern, als Webers abstrakte Beschreibung der sozialen Realität von dem im Manifest vorgegebenen Klassenschema abweicht. Doch das tat, wie wir sahen, auch Marx selbst. Eine Beschreibung der sozialen Realität hat einen anderen thematischen Fokus als eine ökonomische Analyse der im Produktions- und Distributionsprozess beteiligten Gruppen und ihres politischen Verhaltens in Krisenzeiten. Auf der deskriptiven Ebene lassen sich die Unterschiede zwischen Weber und Marx noch glätten.128 Weber wollte nicht wie Marx das „Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft 125 Alle Soziologen machen bestimmte Vorannahmen (Kittsteiner 1977, 160). „Die eigentliche Parallele zu Comte ist Fichte mit seinen totalitären Neigungen, worauf schon Windelband hinwies“ (Jonas 1968 I, 267; Windelband 1905). 126 Gegenüber Hegel versuchte Marx dies philosophisch (MEW 1, 203 ff., 378 ff.). In den Frankreichschriften bemühte er sich um historiographische Nachweise, dass der Staat in diesen Kämpfen keineswegs über den Parteien stand, wie es Begriffsphilosophie und Positivismus wollten (MEW 7, 9 ff; MEW 8, 111 ff., MEW 16, 1 ff.). Zum autoritären Korporatismus des Positivismus Spaemann 1959, Negt 1963, Jonas 1968 I, 264 ff., II, 31 ff.; Lepenies 1985, 16 ff. 127 „Klassen, Stände und Parteien“, in: Weber 1922, 531-540; „Stände und Klassen“, 177-180. 128 Vgl. Löwith 1932, Roth 1964, Kocka 1972, 1977, Bader 1976, Mommsen 1974, 144-181, Löwenstein 1976, Zander 1978, Weiß 1981, Münch 1984, Antonio 1985, Böckler 1987, Lauermann 1989, Diarra 1990, Gubbay 1997.

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[...] enthüllen“ (MEW 23, 16). Er wollte eher „die unübersehbare historische Mannigfaltigkeit unter dem Gesichtspunkt ihres idealtypischen Zusammenhangs übersehbar“ machen (Jonas 1968 II, 204). Daraus ist eine Konkurrenz noch nicht notwendig abzulesen. Auch Weber benutzte wirtschaftliche Indikatoren; auch er untersuchte die Lage der Arbeiter (in: Weber 1924), und an der Basis seiner Theorie der „Klassenlage“ lag ein ähnliches Kriterium, nämlich das Eigentum der „Besitzklasse“ gegenüber der eigentumslosen „Erwerbsklasse“ (1922, 177). Der fundamentale Unterschied zu Marx findet sich erst jenseits der Oberflächenbeschreibung. Weber ging, wie viele seiner Generation, ökonomisch vom Marginalismus aus (Böckler 1987, 122 ff.). Die Neoklassik hat die ökonomische Differenzierung in soziale Klassen fallengelassen. Es gibt bei ihr nur Käufer und Verkäufer (wobei angenommen wird, dass jeder Einzelne abwechselnd beides ist) sowie deren Aggregate, Firmen und Haushalte. Diese Weichenstellung hat Auswirkungen auf Webers Soziologie. Klassen unterscheiden sich nun nicht mehr durch ihre Stellung in der Produktionssphäre, sondern über ihre „Chancen“ (1922, 177) in der Distribution, auf dem Güter- oder Arbeitsmarkt (531).129 Schon Bernstein (1905) hatte Marxens Klassenbegriff phänomenalistisch als Oberflächen-Momentanbeschreibung missdeutet und abgelehnt (2.1.2). Diese kategoriale Transformation des Klassenbegriffs übernahm die Soziologie. Der Phänomenalismus dieser Wirtschaftssoziologie läuft dem Marx’schen „Essentialismus“ zuwider.130 Selbst wenn der Begriff der „Wirtschaftsklasse“ von Soziologen als ökonomischer verstanden wurde wie bei Weber, Ökonomie aber als neoklassische betrieben wurde, blieb so die sozialstrukturelle Analyse der klassischen Ökonomen – und damit die Klassenthematik – unberücksichtigt. Neben dieser kategorialen Transformation in der Wirtschaftssoziologie führt Weber im Statusbegriff das soziale „Prestige“ ein (1922, 578). Dieser Begriff ist ein funktionales Äquivalent des ständischen Merkmals der Ehre, über den sich der historische Vorgänger der Klasse, der „Stand“, definierte (149). Hierin spiegeln sich die restfeudalen Strukturen des Wilhelminismus (Milner 1999, 69). Da das durch Krieggewinn und Gründerzeit reichgewordene Kaiserreich sich gegenüber der Sozialdemokratie antizyklische politische Akzente leistete, durch die der Hauch eines Staatssozialismus wehte, entfernten sich Webers deskriptive Kategorien noch weiter von den Marx’schen (etwa bei der Rolle der Bürokratie, 1922, 129 Vgl. Zlozlower in Böckler/Weiß 1987, 60. Die Tauschfixierung teilte noch der „Weber-Marxist“ Adorno. Gegenüber dem „totalen Staat“ idealisierte ihn Horkheimer sogar (cf. 2.6.1). In Fragen zum Englands des 17. Jahrhunderts konsultierte Max Weber Bernstein (K. Lenk 1970, 220; cf. Weber 1894, 80 f.: „Ethisierung des Klassenkampfes“). 130 „Essentialismus“ und „Objektivismus“ gelten als entlarvende Vorwürfe (Habermas 1968, 306; Negt in Euchner 1972, 44). Die Entlarvung beruht aber nur darauf, dass seine Position quer zum fachlichen Konsens steht (Ritsert 1998). Die Soziologie kann sich ihre Kategorien nicht von einer „Konsensustheorie der Wahrheit“ vorgeben lassen. Der soziologische Begriff des Konsenses stammt von Comte (1974, 83; cf. Fenske 1997, 662) und meint den Zeitgeist.

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125 ff., 551 ff.; 1921, 26). Nachdem schon die wirtschaftssoziologischen Kategorien neoklassisch verkürzt wurden, wird Webers Schichtungsanalyse in diesen ungleichzeitigen Anreicherungen außerökonomisch. Eben dies machte sie bei späteren „pluralistischen“ Theoretikern so beliebt (Diettrich 1999, 27 ff). Der Einfluss der Neoklassik auf Weber beschränkt sich nicht auf die Eliminierung der Klassen. Er kann auch an den Grundbegriffen „verstehende Soziologie“ (1), „Werturteilsfreiheit“ (2), „Geist des Kapitalismus“ (3), „Rationalität“ (4) und „Entzauberung“ (5) kurz skizziert werden. (1) Schon in Webers Methodik ist ein neoklassischer Einschlag zu verzeichnen: Der Ausgangspunkt beim „Handeln“ ist zwar gegenüber organizistischen Modellen innovativ, etwa weil er in empirische Untersuchungen überführbar ist. Doch weil er strikt individualistisch ist, ist er für eine soziologische Analyse nur von begrenzter Reichweite. Mehr noch, er ist auch subjektivistisch, denn Weber geht es nicht um die Individuen als solche, sondern nur um ihre Vorstellungen, um den von ihnen im Handeln „subjektiv gemeinten Sinn“, denn nur dieser lasse sich „verstehen“.131 Das ist ein Vorläufer der „rational choice“-Theorien. Am Subjektivismus ändert auch die Abschattung von klarer Bewusstheit beim zweckrationalen Handeln bis hin zur Vorbewusstheit bei mechanisch ablaufendem Verhalten nichts.132 Die Parallele zur atomistischen Neoklassik ist unübersehbar. Für Marx steht „das Soziale“ zwar der wissenschaftlichen Untersuchung offen, dem Alltagsbewusstsein der beteiligten Individuen aber ist es in der Regel gerade verschlossen. Eine Analyse ihrer subjektiven Intentionen kann über soziale Pro-

131 „Soziologie [...] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch [! ...] ursächlich erklären will. ‚Handeln’ soll dabei ein menschliches Verhalten [...] heißen, wenn [...] die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. [...] ‚Sinn’ ist hier [...] der subjektiv gemeinte Sinn. Nicht etwa irgendein objektiv richtiger oder metaphysisch ergründeter ‚wahrer’ Sinn“ (Weber 1922, 1). Einen „objektiven Sinn“ findet Weber nur in „Jurisprudenz, Logik, Ethik, Ästhetik“ (2) – politische Ökonomie hingegen kommt hier nicht vor. Für Sklair ist auch die von Weber ausgehende „Modernisierungstheorie“ im Ansatz noch subjektivistisch (1991, 34). 132 Zur Industriesoziologie bei Weber 1924 Jonas 1968 II, 201; vgl. Webers Typologie der Handlungsrationalitäten (1922, 12: zweck-, wertrational, affektuell, traditional). Da „subjektiv gemeinter Sinn“ empirisch nur selten anzutreffen ist, ersetzte Weber sie durch die vom Forscher zu konstruierenden Idealtypen: „Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewusstheit oder Unbewusstheit seines ‚gemeinten Sinns’ [...] Aber das darf nicht hindern, dass die Soziologie ihre Begriffe durch Klassifikation des möglichen ‚gemeinten Sinnes’ bildet, also so, als ob [!] das Handeln tatsächlich bewusst sinnorientiert verliefe“ (1922, 10). Sinn wird zugerechnet. Die „rational choice“-Theorie isolierte Webers Zweck(bzw. Mittel-)Rationalität (3.2.1, Fn. 11). Die Chimäre eines zwar subjektiven, aber doch unbewussten Sinnes könnte nun auch eine Funktion meinen. Eine solche lässt sich allerdings nicht mehr jenseits einer Betrachtung objektiver Strukturen ermitteln. Daher geht Webers Kritik, Marx ontologisiere seine „Idealtypen“, fehl (1922a, 205; so noch Münch 1984, 533, 567, 575). Marx geht nicht wie er vom Subjekt aus.

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zesse und Institutionen nur wenig herausbringen – auch wenn die Ergebnisse der Wissenschaft ihnen nahegebracht werden können.133 (2) Auch die Forderung nach einer Werturteilsfreiheit ist ein Gewinn, etwa gegenüber dem offenen Moralismus der historischen Schule.134 Doch Weber beansprucht sie für die eigene Position etwas voreilig. Die Unterstellung des Juristen Weber, die allein verstehbaren Gründe für die Handlungen von Individuen seien in deren Willen zu suchen, ist eine juristische Denkfigur – es ist eine Rechtfertigung des bürgerlichen Eigentumsbegriffs seit Locke (Hegel 1821, §§ 34 ff). Sie ist trotz aller Kontrafaktizität im Recht legitim. Ihre Übertragung aus der Sprache des bürgerlichen Rechts in die der Soziologie allerdings ist nicht werturteilsfrei, sondern dezidiert „bürgerlich“. Aus der individualistischen Methodologie könnte man mit einigem hermeneutischen Gespür gar eine Spitze gegen das „Gemeinschaftshandeln“ (1922, 531) der Arbeiterschaft herauslesen.135 Der Werturteilsstreit ist keine letzte Frage, sondern hat seinerseits Voraussetzungen. 133 Marx löst das Soziale weder ins Individuelle auf, noch trennt er das Individuum von ihm ab. Er vertritt die Auffassung einer rationalen, aber nicht unmittelbaren Einsichtigkeit des Sozialen. Die sozialen Verhältnisse sind zumeist „von ihrem Willen unabhängige“ (MEW 13, 8; s.o., Fn. 116; 2.1.5, Fn. 105). „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (MEW 23, 88, vgl. 74; MEW 8, 115). „Wie kommt es, dass die persönlichen Interessen sich den Personen zum Trotz immer zu Klasseninteressen fortentwickeln, zu gemeinschaftlichen Interessen, welche sich den einzelnen Personen gegenüber verselbständigen, in der Verselbständigung die Gestalt allgemeiner Interessen annehmen, als solche mit den wirklichen Individuen in Gegensatz treten und in diesem Gegensatz, wonach sie als allgemeine Interessen bestimmt sind, von dem Bewusstsein als ideale [!], selbst religiöse, heilige Interessen vorgestellt werden können?“ (MEW 3, 227). „Es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht [...]. Das was jeder einzelne will, wird von jedem andren verhindert, und was herauskommt, ist etwas, was keines gewollt hat“ (Engels, MEW 37, 463). 134 Der Streit drehte sich um die umstrittene, aber „an sich höchst triviale Forderung, dass der Forscher und Darsteller die Feststellung und empirischer Tatsachen [...] und seine [...] praktisch wertende [...] Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle“ (Weber 1922a, 486; cf. Jonas 1968 II, 189 f., I 290 ff.; Ringer 1969, 134 ff.). Den Terminus „Werturteil“ kennt schon Nietzsche (1888, 139; siehe 2.6.3, Motto). 135 Dies wäre der Vorwurf, die Sozialdemokratie sei „ideologisch“, da sie mit Gruppeninteressen argumentiere, der Wirtschaftsliberalismus dagegen „werturteilsfrei“, da er nur das Individuum betrachte. Nach Rehberg 1979 sind Webers subjektivistische Grundbegriffen (Regel, Chance etc., vgl. Lukács 1954, 483 f.; Baier 1988) an bestimmten, nämlich „großbürgerlichen“ Individuen gewonnen. „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen“ (Weber 1895, 26). Der Schwerpunkt auf den „Wertungen“ der Individuen machte es den Zeitgenossen unverständlich, warum man auf eigene „Werturteile“ verzichten solle (Jonas 1968 II, 185, 201, 213 ff., 239). Man braucht diese allerdings nicht, wenn sie schon in der Theorie selbst stecken. Auch Jonas nimmt für Webers Ansatz den Dualismus von „blinden technischökonomischen Triebkräften“ und allein verstehbaren „Motiven“ in Anspruch (204), der sonst eher von der Marxkritik benutzt wird (cf. 2.4.4).

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Erst in einem Bild, in dem mehrere „Interpretationen“ möglich sind und sich theoretisch nicht weiter bestimmen lässt, welche zu „wählen“ ist, entsteht Webers Problem. Weit entfernt davon, theoretischen Pluralismus zu fördern, basiert es auf einer Einheitstheorie von reinen Marktkräften und empirischen Verunreinigungen (2.4.1). Erst dieses Bild ruft nach einer ethischen Bewertung. Bei Marx bedarf es keines Werturteils darüber, welches der zwei Momente das Übel hervorbringt, da beides Momente desselben sind. Die historistische und die neoklassische Ökonomie etwa sind darin eins, dass sie von demselben Modell ausgehen, das sie nur verschieden bewerten.136 Marx muss gute und schlechte Faktoren nicht dualistisch aufspalten, sondern beschreibt einen Mechanismus, der beides hervorbringt. Sein Modell berührt Zusammenhänge, die das dualistische Modell nicht erfasst – und erst daher Werturteile braucht. Er kann die Forderung nach unbedingter Wissenschaftlichkeit wie Weber bejahen, muss dafür aber seine Parteinähe nicht verneinen. Der Unterschied zu Weber besteht am ehesten darin, dass Marx über seine Parteinahme theoretisch Rechenschaft ablegt, während sie bei Weber in seinen Grundbegriffen verdeckt ist.137 (3) Beschränkt Weber seine Analyse schon im methodischen Ansatz auf Vorstellungen der Individuen, so verwundert es nicht, dass in einer Genealogie des Geistes des Kapitalismus auch nur solche auftauchen. Wenn von vornherein etwas spirituelles gesucht wird, kann das Gesuchte nur etwas „im Kopf“ sein, wie eben die „protestantische Ethik“.138 Über den Kapitalismus ist damit jedoch we136 Nach Kittsteiner 1977, 160 wollte Weber zwischen diesen beiden vermitteln. Marx steht vor beiden. Der Marxismus konnte den Werturteilsstreit nicht auflösen, weil auch er die ökonomische Theorie vernachlässigt hatte, von der aus eine solche Argumentation zu führen gewesen wäre. Er trat in voluntaristischer „Parteilichkeit“ auf, und „bewertete“ diese höher als die Wissenschaft (2.2.4). Im Vergleich damit war Webers Forderung nach Zurückhaltung berechtigt. 137 Auf Marxens „intellektuelle Redlichkeit“ verweist W.Blumenberg 1962, 49. Wer etwas kritisiere, dürfe dies „nicht durch oberflächliche Einfälle des Augenblicks, sondern nur nach lang anhaltendem und tief eingehendem Studium“ tun (MEW 1, 108). Weber hatte bei den Werturteilen Marx vor Augen: „Von der Scholastik an bis an die Marx’sche Theorie hinein verquickt sich [...] der Gedanke von etwas ‚objektiv’ Geltenden, d.h. also: Seinsollendem, mit einer Abstraktion aus dem empirischen Verlauf“ (1989, 100/1922a, 196). „Eine bestimmte Wertung als die allein ‚wissenschaftlich’ zulässige uns zu oktroyieren, vermag sie [eine Interpretation, CH] nur, wo, wie etwa bei [...] Marx’ Kapital, Normen (in diesem Falle des Denkens) in Betracht kommen. Aber auch hier ist eine objektiv gültige ‚Wertung’ des Objekts ( [...] die logische ‚Richtigkeit’ Marx’scher Denkformen) nicht etwas, was notwendig im Zweck einer ‚Interpretation’ läge“ (Weber 1989, 153/1922a, 246). Heißt das entklausuliert nicht in Husserlscher Epoché, dass weder Marx noch jemand anderes seine Gedanken als zutreffend hätte bewerten dürfen? 138 Marx sprach ironisch von „Geist des Kapitals“ (MEW 23, 295) und „Askese“ (640; MEW 42, 549; cf. 2.3.5, Fn. 155; 2.6.6, Fn. 171), hatte dafür aber materiale Bestimmungsgründe. Weber will weder „das Phänomen des Kapitalismus [...] kausal erklären, noch [...] das Zusammenwirken zweier Bereiche [...] illustrieren“ (Jonas 1968 II, 203), er „sucht nach dem Drehpunkt, von dem her die Durchsetzung des Kapitalismus verständlich wird“, und findet ihn im „disziplinierten Wollen“ (205).

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niger gesagt als über die Webersche Methodik. Angesichts dieses Spiritualismus ist Marx’ Religionskritik, die weniger die Religion als vielmehr die spezifisch Deutsche Ideologie treffen wollte, erstaunlich aktuell (2.6.4, cf. E. Wood 1986). Die „theologischen Mucken“ der Sozialphilosophie haben sich bei Webers Nachfolgern ja noch verstärkt (cf. Bolz 1989, 2.6.3). (4) Obwohl Weber keine Geschichtsphilosophie zu vertreten meinte, verlängerte er seine methodischen Grundentscheidungen dennoch zu einer solchen: zur These der Entzauberung.139 Hier lässt sich ein klassischer Dreisatz freilegen: Weber hat sich die methodische Askese auferlegt, nur über die Aktorinnenwelt Aussagen zu treffen (a). Er stellt jedoch des weiteren Veränderungen in der sozialen Welt fest, die immer sachlicher geworden sei (b). Daraus schloss er nun (c), zumindest an einigen wichtigen Stellen, dass a b verursacht habe (c: a o b). Die subjektiv-innerliche Instanz des „rationalen Erkennens“ wird solcherart zu dem entscheidenden historischen Faktor, sie wird zum „Subjekt der Geschichte“: „Wo immer [...] rational empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt [...] konsequent vollzogen hat [!], tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulats, dass die Welt ein [...] ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor“ (Max Weber 1920, 564). Diese idealistische Geschichtsphilosophie, nach der die Veränderungen der Moderne primär durch das Erkennen entstanden seien, und – mehr noch – das eigentlich Missliche an ihnen erst sei, dass sie sich nicht mehr mit der überkommenen Ethik vertrügen, hat deutlich nietzscheanische Wurzeln. Sie zog sich von Weber weiter bis zu Heidegger und Adorno.140 (5) Das Hauptmerkmal der Entzauberung, die Rationalisierung (Weber 1922, 920), schließt den Bogen zur Neoklassik. Zugrunde liegt diesem „Typus“ keine ökonomisch-kapitalistische, sondern eine bürokratisch-administrative bzw. sogar „großbürgerlich“-herrschaftliche Perspektive (Rehberg 1979). Weber vertritt eine staatszentrierte „Container-Theorie der Gesellschaft“.141 Diese Perspektive erSombart (1911) konnte dann gleichermaßen die Juden verantwortlich machen, Groeythusen (1927) den Katholizismus. Fraglich ist eben, ob man alles auf diese Weise „verstehen“ kann. 139 Weber 1922, 308; 1920, 236, 1 ff., 536 ff. Zur dieser Deutung Webers vgl. Tenbruck 1975. Schon Hegel und Marx sprachen von einer „Entgeistigung“ durch das Christentum (MEW 3, 137). 140 „Das rationale Erkennen [...] gestaltete autonom [...] einen Kosmos von Wahrheiten“ (Weber 1920, 569). Das vermengt Theorie und Wirklichkeit. Oder wollte er sagen, die Theorie sei nüchterner geworden? Das verkürzte die Entzauberungsthese arg. Zum Nietzschebezug Jonas 1968 II, 188; Bendix 1964, Hennis 1987, D.Kim 1999. Für Lichtblau 1997, 77 ff. ist Nietzsche der Referenzautor für die Kultursoziologie (2.5.2, Fn. 32). Nur ein Idealismus kann für die „Lebensnot“ (Husserl 1936, § 2) Erkenntnistheoretiker wie Descartes und Kant verantwortlich machen. Jaspers wies Heidegger auf Weber hin. Husserl, Heidegger 1927 und Adorno 1944 feilten diese Geschichtsphilosophie aus. 141 Beck 1997, 49 ff. „Jenseits aller ihrer Differenzierungen teilen die Klassiker der modernen Sozialwissenschaft [...] eine territoriale Definition der modernen Gesellschaft, also des nationalstaatlichen Gesellschaftsmodells“ (52). Sie betrieben eine

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fasst das Konstituens des Kapitalismus, das blind-anarchische Wüten der Marktkräfte, gerade nicht mehr.142 Wissenssoziologisch gleicht der unter den Gelehrten des Wilhelminismus verbreitete Glaube an den „Primat des Politischen“ (Jonas 1968 II, 225) mehr einer professoralen Selbstüberredung als einer reliablen Deskription.143 In der Entökonomisierung der soziologischen Grundvorstellungen könnte man einen Einfluss des Leninismus entdecken (Weber lernte 1905 bekanntlich russisch). Mit dem Marx’schen Ansatz hat sie nur wenig zu tun. Die Politik tritt der Wirtschaft erst im neoklassischen Paradigma von außen entgegen. Erst in einem Denken, welches beide Sphären kategorial – also apriorisch – trennt, müssen politische Kategorien nicht mehr an die Ökonomie zurückgebunden werden. Webers „Rationalisierung“ ist als Verüberallgemeinerung der Marx’schen „Entfremdung“ bezeichnet worden (Hughes 1958, 317; Jonas 1968 II, 207). Es kürzt um die politische Ökonomie, wo die Rationalisierung einen konkreten Ort hatte,144 und macht sie zu einem „geistigen“ Signum der ganzen Epoche, welche diese sogar verursacht haben soll – wenn auch nur, indem sie ihr in Form der Religion historisch vorangeht. Das Motiv von Webers Forschungen wird hiermit als ein sozialphilosophisches deutlich: die unübersichtliche Moderne soll wieder in das Subjekt inkorporiert („verstanden“) werden können.145 Das Subjekt wird jedoch nicht nur als Adressat, sondern auch noch als Kriterium des „Wissens“ unterlegt. (In der Nachfolge wird es dann zum alleinigen Inhalt der Theorie; 2.5.2). Eine Klassentheorie lässt sich so jedenfalls nicht aufstellen. Unübersichtlich geworden ist „die Moderne“ nicht nur realgeschichtlich, sondern auch ideengeschichtlich; nicht zuletzt dadurch, dass die Soziologie – auch bei Weber – ihren entscheidenden Gegenstand angemessen zu theoretisieren verabsäumt hat: den Kapitalismus und seine Anatomie, die eben auch Klassen beinhaltet.

„Gleichsetzung von Nationalstaat und Gesellschaft“. Beck hat für die Zeit danach keine theoretischen Mittel mehr, vielleicht weil er diesem Denken selbst zu sehr verhaftet war. Marxens seit je anders denkende Gesellschaftsanalyse streift Beck auffällig oft (20, 48, 253), schreckt aber vor ihr zurück (49, 91, 203). 142 Kalkulierbarkeit gehört nicht zu den Merkmalen des Kapitalismus; auf dem Markt geht es anarchisch und kriegerisch zu. Bei Weber wird „das Wesen des Kapitalismus ent-ökonomisiert und ‚vergeistigt’. Als Wesen des Kapitalismus erscheint die Rationalisierung des ökonomisch-sozialen Lebens, die rationale Kalkulierbarkeit aller Phänomene“ (Lukács 1954, 478 – das gilt noch für Horkheimer). Damit übt Lukács auch subtile Selbstkritik. 143 „Das Wirtschaftsleben wird politisiert, die Politik ökonomisiert“. Weber 1922, 176. 144 Nämlich in Form der Mechanisierung der Produktion (cf. 2.1.6), wie das Wort „Rationalisierung“ ja noch heute gebraucht wird (MEW 23, 391 ff., 650 ff.). Marx benutzt das Wort an einer Stelle sogar selbst (MEW 25, 631). 145 Kittsteiner 1977, 161 sieht bei Weber „Chaos-Metaphern“. Zur „Unübersichtlichkeit“ Fn. 110, Habermas 1985a.

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Klassen bei Helmut Schelsky „Dieser verhältnismäßig einheitliche Lebensstil der nivellierten Mittelstandsgesellschaft [...] erfüllt sich darin, einheitlich an den materiellen und geistigen Gütern des Zivilisationskomforts teilzunehmen.“ (Schelsky 1953)

In der bundesdeutschen Nachkriegszeit, als nicht nur die Grauen des Dritten Reiches in vollem Maße bekannt geworden waren, sondern auch ehemalige Täter und Opfer wieder in einem Lande zu leben versuchten, hat Helmut Schelsky als das Bedürfnis der Epoche das „nach einer neutralistischen Hintergrundideologie unantagonistischen Charakters“ bestimmt.146 Eine solche vertrat die neoklassische Ökonomie seit jeher. Daher lag sie für die bundesrepublikanische Soziologie der Nachkriegszeit als Hintergrundparadigma besonders nahe – umso mehr, als bereits die soziologischen Klassiker dieses Modell bevorzugt hatten. Dazu mögen auch „Westbindungen“ ihren Teil beigetragen haben, denn die Neoklassik erlebte in dieser Zeit ihre finale Kodifizierung.147 Die Methoden der Soziologie glichen sich darum nach 1945 auch in Deutschland weiter denen der Neoklassik an. Ein subjektivistischer Einschlag zeigte sich darin, dass die empirische Forschung vor allem Umfragen, Interviews und Sympathieskalen benutzte, die zwar exakte Messdaten zu erheben erlaubt, damit jedoch lediglich Stimmungen erfasste.148 Das Vermächtnis der Marx’schen Soziologie, speziell der Klassentheorie, lag jedoch weiter in der Luft. Angesichts des heraufziehenden kalten Krieges harrte sie der soziologischen Behandlung. Doch auch in den soziologischen Klassentheorien nach 1945 wurde die Wirtschaft entweder ganz ausgeblendet, oder wieder nur nach neoklassischem Muster begriffen. Mit dieser Basistheorie im Hintergrund macht der Klassenbegriff die bereits an Weber beschriebenen Wandlungen durch: er wird von einem primär ökonomisch-funktionalen zu einem subjektiv-phänomenalen Begriff. Die Untersuchung der Gesellschaft auf eine klassenspezifische Gliederung hin sucht nun in anderen als ökonomischen Kategorien nach Anhaltspunkten, in denen sie Faktoren wie Bildung, Wohnlage, Freizeitgestaltung, Gefühlslagen, den „Habitus“ oder ähnliches untersucht. Es ist daher keineswegs überraschend, dass die Marx’schen Aussagen sich aus einer solchen Perspektive nicht bestätigen ließen – nicht einmal für seine eigene Zeit. Gerade 146 Schelsky 1959, 22; vgl. 1961, 375. Mit der Theorie der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ hat er genau dieses Bedürfnis bedient. Für die „Grabesstille“ in der Soziologie (1959, 32; ein Zitat Dahrendorfs) gibt er indes folgende Begründung: Neben den kollegialen Ängsten um das Profil einer noch immer nicht anerkannten Wissenschaft sei es vor allem das Wissen darum, dass man gar zu schnell zu „ideologisch-biographischen Verdächtigungen“ der Person des jeweils anderen kommen würde, der so – wie zu ergänzen ist – entweder als Nationalsozialist oder als Emigrant je einem Teil der Bevölkerung unbeliebt gemacht werden könne (cf. Fn. 159). 147 Im Bestseller Samuelson 1948 ff.; Henderson 1958, Debreu 1959 (Zinn 1987). 148 So eine Kritik Adornos (1957a, s.o., Fn. 53) an der empirischen Sozialforschung. Schon Webers Industriesoziologie untersuchte die „Stimmungslage“ der Arbeiter (Jonas 1968 II, 201).

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darin, dass die Strukturen des Wirtschaftsprozesses den Beteiligten nicht unmittelbar einsichtig sind, liegt ja die Berechtigung für eine eigenständige Wissenschaft der politischen Ökonomie. Wird die beschriebene Erweiterung der soziologischen Fragestellung nicht als Ergänzung, sondern als Ersetzung einer ökonomischen Analyse begriffen und zugleich die Marx’sche Klassentheorie als eine „Beschreibung“ des akuten Gesellschaftszustandes missdeutet, sieht es so aus, als habe sich Marx in seinen Einschätzungen geirrt. Angeführt wurden für diese Behauptung für gewöhnlich die Entwicklung eines breiten kulturell gefassten „Mittelstandes“ (es ging um Konsum, den „Lebensstil“, Schelsky 1956, 336), die Entstehung oder Ausdehnung der „neuen“ Mittelklasse der „Angestellten“,149 die gewachsene „Mobilität“ in der Gesellschaft (nicht räumlich, sondern auf einer Skala sozialen Ranges) sowie die zurückgehende Selbstverortung der Betreffenden in einer der traditionellen Klassen.150 Solche Perspektiven wurden von vielen Theoretikern nicht nur als empirische Beobachtungen, sondern eo ipso schon als Widerlegungen der Marx’schen Theorie gewertet, ohne den entscheidenden Unterschied im thematischen Fokus und in der Analyseebene zu bemerken (s.o. zu Oppenheimer, 2.4.1). Die Arbeiten Schelskys über den „Klassenbegriff“ aus den 1950er Jahren sind für eine solche Vorgehensweise repräsentativ. Sie haben zudem den Vorteil, dass sie sich explizit auf Marx zurückbeziehen. Darum seien sie einer Analyse unterzogen. Weil die Frage: „Haben wir heute noch eine Klassengesellschaft?“ (Schelsky 1956, 333) nach Schelsky „eine der wenigen theoretischen Diskussionen“ auslöste, „die in der deutschen Sozialwissenschaft nach 1945 überhaupt durchgeführt wurden“ (1961, 350), stellte er sich diese Frage auch selbst, und zwar mehrmals und über Jahre hinweg. Schelsky definiert als Aufgabe der Soziologie das „deskriptive Begreifen der Gesellschaft“ (1961, 368, cf. Kneer 1997 und 2001). Diese deskriptive Absicht unterschiebt er nun auch Marx. Dieser habe mit der „dualistischen“ Klassenlehre eine „totale, alles umfassende Struktur“ darstellen wollen, die sich in „allen [! ...] sozialen Lebenserscheinungen“ der Klassenangehörigen dokumentiere (1961, 358). Marx’ Aussagen über ökonomische Klassen wer149 Cf. Kracauer 1929, Grünberg 1932, Croner 1954, Bell 1975, Laclau 1977, Speier 1977, Haupt 1998. Heute ist eher der Begriff „Dienstleistung“ gebräuchlich, was Ähnliches meint. Spekulieren ließe sich, ob die Quote der Bediensteten (Dienstboten oder -leister) Index einer hohen Ausbeutungsrate sein könnte (das Kapital hat Geld übrig und bezahlt auch unproduktive Arbeit, Arbeitslose hingegen müssen solch niedere Dienste annehmen): 1861 gab es recht viele (MEW 23, 469; cf. 207), 1951 nur wenige (Bottomore 1967, 45 f.), Mitte der 1990er Jahre sprach man wieder von der „Dienstleistungsgesellschaft“ (Kneer 1997; cf. Ringer 1969, 204). 150 Stationen des theoretischen Abschieds von der „Klasse“ waren Geiger 1949, Dahrendorf 1957, Schelsky 1961, Bergmann 1969, Offe 1972a, Beck 1983, Hradil 1987, 2001; cf. Ritsert 1998, 88 ff. („Die fünffache Abschaffung der Klassen durch die deutsche Soziologie der Nachkriegszeit“), Diettrich 1999, 21 ff. („Vom Verschwinden der Klassen- und Schichtanalyse in der deutschen Soziologie“). Für den englischen Sprachraum Gubbay 1997, Milner 1999.

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tet Schelsky als soziologische Beschreibung eines konkreten Gesellschaftszustandes. So unterschiebt er Marx das Ziel der zeitgenössischen Soziologie (was die marxistische Soziologie vielleicht nahe legte, Fn. 24, 114). Dies treibt die Phänomenalisierung der Marx’schen Theorie, die schon bei Bernstein und Weber begegnete, auf die Spitze. Dabei hatte Schelsky es einmal besser gewusst: fünf Jahre zuvor schrieb er noch, Marx habe auch andere Klassen gekannt und gerade keine „diagnostische Feststellung“, sondern ein „Entwicklungsgesetz“ liefern wollen (1956, 334). Doch auch ein „Entwicklungsgesetz“ muss für Schelsky irgendwann vollständig realisiert sein; er kann sich Marx’ Denken in wirkenden Wesenkräften und einem irreduzibel anarchischen Tumult auf der „Oberfläche“ nicht anders vorstellen als eine Darstellung auf Raten. Selbst dieses Zugeständnis schien ihm 1961 aber zu weit zu gehen – hier bleibt es bei der wissentlich zurechtgestellten Unterschiebung einer Deskriptionsabsicht, gerade bei den offensichtlich polemischen Stellen aus dem Kommunistischen Manifest (Fn. 110). Diese vorgebliche „Beschreibung“ von Marx wird nun radikal historisiert, ganz wie es schon Schelskys Lehrer Freyer tat: Marx wird zu einem „Denker des 19. Jahrhunderts“.151 Er habe in diesem zwar recht gehabt,152 aber eben nur in diesem. Aufgrund fundamentaler sozialer Strukturveränderungen gelte seine Theorie „heute nicht mehr“ (diese seit Freyer in der Soziologie beliebte Figur hat Wurzeln bei Hilferding und Lenin; 2.2.6). Unterstellt wird, „dass die Klassenlehre eine geschichtlich eindeutige soziale Wirklichkeit bezeichnet“ (1961, 360): „Diese industrielle Klassengesellschaft gab es einmal, und es besteht kein Zweifel, dass auch unsere deutsche Gesellschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr diesen Klassencharakter annahm“ (Schelsky 1956, 334; Hvg. CH). „Dass ‚die ganze Gesellschaft sich [...] in zwei feindliche .. Klassen spaltet’ (Marx) hat es einmal [...] gegeben“ (Schelsky 1961, 360; Hvg. CH).

Diese Unterstellung ist verfehlt: einen solchen Zustand, eine „allumfassende“ Klassenzweiteilung hat es auch zu Marxens Zeiten nicht gegeben, und es war nicht Marxens Absicht, eine solche „Beschreibung“ zu liefern. Der Marx’schen „Klassentheorie“ lässt sich nur dies entnehmen (s.o.): die kapitalistische Produktionsweise breitet sich weltweit immer weiter aus. Ihr ist eine starke Ökonomisierung aller Lebensbereiche immanent. Innerhalb ihrer Logik gibt es nur zwei Möglichkeiten: wer nicht Eigentümer an Produktionsmitteln oder von Vermögen ist, ist irgendwann gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Immer weitere Bevölkerungsgruppen erfahren dies am eigenen Leibe. Beschrieb Marx 151 Freyer 1930, 306 ff.; 1931a, cf. Remmers 1994, 72 ff.; zu Schelskys Verhältnis zu Freyer vgl. G. Schäfer 1999, Rehberg 1999. Die Historisierung könnte ein Grund sein, warum Schelsky das Zugeständnis an Marx fallen ließ: eine als Erwartung gedeutete Theorie lässt sich weniger elegant historisieren als eine Beschreibung. Schon der sprachliche Ausdruck versagt dabei (‚es war real, dass Marx meinte, es würde demnächst geschehen’). 152 Schelsky nennt die Analyse von Marx implizit „richtig“ (1961, 390), obwohl er Marx zugleich Idealismus, Theologismus und Reduktionismus vorwirft (359).

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nun bestimmte Abschnitte einer gesellschaftlichen Entwicklung, so ging er zwar heuristisch von diesem basalen ökonomischen Strukturprinzip aus, ohne aber je zu behaupten, dass es nur diese zwei Klassen gibt, die sich noch dazu als „in sich homogene“ gegenüberstehen.153 Die grundlegende ökonomische Schicht der Marx’schen Theorie, ihr Herzstück, bleibt auch bei Schelsky außen vor.154 Die Unterstellung, an der bei Schelsky alles hängt, ist die, dass die Gesellschaftsstrukturen sich inzwischen von Grund auf verändert haben, und daher die Marx’sche Theorie heute „nicht mehr“ (355) zutreffe („Überwindung der Klassenstruktur“, 326, 337 – eine Wendung von Freyer 1930, 306). Dafür gibt Schelsky allerlei an: die Verbesserung der Lage der Arbeiter und gegenläufig die Deklassierung der Heimatvertriebenen (327), den „universalen Konsum“ (328) und „einheitlichen Lebensstil“ (336), die Sozial- und Steuerpolitik (336) sowie die „Konvergenz der Sozialwissenschaften“ (337), nicht mehr davon zu reden – bei den „besten Leuten“ aus Forschung und Politik sei sie schon lange diskreditiert, wie Schelsky mit Schumpeter sagt (352).155 All dies sind zunächst Beobachtungen, die damals zutreffend gewesen sein mögen. Als Argumente gegen die Klassentheorie taugen sie jedoch nicht. Sie haben den Status dessen, was Marx „unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung“ nannte (MEW 25, 800). Um die Klassentheorie zu „überwinden“ ist mehr zu tun als nur Meinungen aufzuzählen. Auf die Ebene der Theorie begibt sich Schelsky jedoch nicht. Wenn er sagt, „der Soziologe“ könne soziale Veränderungen nur „auf der Bewusstseinsebene der unmittelbar Handelnden analysieren“ (370), so gibt das die Methodik Max Webers wieder, der er sich bedient. Für die Klassentheorie heißt das, dass über sie primär in Kategorien des Gefühls („das Gefühl, nicht mehr ganz unten zu sein“, 328, 337; 343) und des „Bewusstseins“ (329, 336, 354) befunden wird. Diese liegen allerdings auf einer anderen Ebene als der von Marx. Für die Behauptung, es liege eine „ganz andere“ Wirklichkeit (338) vor, liefert Schelsky keine materialen Argumente. Er kommt aber auch mit der modernen subjektivistischen Soziologie ins Gehege, auf die er sich eigentlich stützen 153 „‚Klasse’ ist für Marx eine sozial homogene Gesellschaftsverfassung in sich“ (Schelsky 1961, 359). Dagegen Marx 1850: „der Kampf des industriellen Lohnarbeiters gegen den industriellen Bourgeois ist in Frankreich ein partielles Faktum, das [...] um so weniger den nationalen Inhalt der Revolution abgeben konnte, als der Kampf gegen die untergeordneten Exploitationsweisen des Kapitals, des Bauern gegen den Wucher und die Hypotheke, des Kleinbürgers gegen den Großhändler, Bankier und Fabrikanten, mit einem Worte, gegen den Bankerott, noch eingehüllt war in die allgemeine Erhebung gegen die Finanzaristokratie“ (MEW 7, 20). 154 Schelsky selbst meint, sogar „bewusst“ (1961, 350). 155 Cf. Weber 1922a, 167; cf. Fn. 130. Ein magisches Denken: die theoretische Rede über einen Gegenstand wird zum Indikator des Zustands des Gegenstandes selber. Das „Klassenbewusstsein“ sei erst durch die Theorie erzeugt worden (370) und werde, vor allem von Großorganisationen („Massenorganisationen der Daseinsfürsorge“) und den eigentlich funktionslosen Intellektuellen, wider den Augenschein aufrechterhalten (398 f., 414 – man bemerke die implizite Dämonisierung theoretischer Gegner). Schelsky hält diese Position allerdings nicht durch (cf. Fn. 168).

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will: damalige soziologische Umfragen zeigten nämlich, dass viele Arbeiter noch immer Klassenbegriffe gebrauchten (338, 357; nach Popitz 1957a u.a.). Daher muss Schelsky das „Sozialbewusstsein“ (354), mit welchem er die Klassengesellschaft als überwunden aufzeigen wollte, selbst noch überwinden. Er tut dies, indem er es zur Altlast erklärt, die noch aus den überwundenen Zeiten der Klassenherrschaft komme, und nur von zweifelhaften Institutionen und Personen noch aufrechterhalten werde. Die These des totalen Wandels wird dadurch nicht materialhaltiger. Vielmehr muss sich Schelsky von der subjektivistischen Soziologie, die ja immerhin reale Stimmungen und Meinungen aufzeigt (wofür er das Wort „Meinungsideologie“ kreiert, 369, 390), zurückziehen auf eine spekulative Sozialpsychologie. Der Gegenstand liegt somit weder im Objekt noch im Subjekt, sondern im sozialen Unterbewusstsein. Das ist eine recht beliebige soziologische Behauptungsebenen (cf. Jameson 1993; Assmann 1999). Schelsky führt verschiedene Gründe an, warum „neue soziale Wirklichkeiten noch unter alten sozialen Begriffen verstanden“ werden (338), etwa eine „Zeremonialisierung“ (340, 367), oder weil „tiefverwurzelte menschliche Grundantriebe“ (330) auch in einer dynamischen Gesellschaft noch dazu zwängen, sich „statischen Rangordnungen“ zu unterwerfen (343, 329). Material belegt hat er seine These damit noch immer nicht. Um ihrer willen hat er nur eine gewagte sozialpsychologische Konstruktion erdacht und sich zudem in Inkonsistenzen verwickelt.156 Eine reale Nivellierung gab es zu keinem Zeitpunkt.157 Doch selbst wenn der Momentanzustand einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (328) einmal vorgelegen hätte, hätte dies über die Klassentheorie wenig ausgesagt – in einer ökonomischen Analyse wären möglicherweise noch immer dahinter wirkende Kräfte freizulegen gewesen. Über diese aber lassen sich mit einer Analyse, die nur einen Momentanzustand oder einen kleinen Zeitraum erfasst, die sich dabei vorwiegend auf subjektive Einschätzungen stützt und nur die Sphäre des Marktes, nicht aber die der Produktion betrachtet oder sich gar völlig auf außerökonomische Faktoren beschränkt, nur sehr begrenzt Aussagen treffen. 156 Schelskys Behauptungen schwanken: Er sagt, es gab einmal eine Klassengesellschaft (1979, 334, 360), zugleich aber ist ‚Klasse’ „sowieso nur eine geistige Synthese“ (360). Die Klassendiskussion sei eine „rein akademische Angelegenheit“ (352), doch zugleich ist in der Gesellschaft ein „Klassenbewusstsein weitgehend vorhanden“ (361). Erneut wird zwischen Theorie und Wirklichkeit nicht unterschieden. Die Marxwiderlegung wird zur Obsession. Eine solche führt zu überschießenden Ketten von Beteuerungen, die sich gegenseitig neutralisieren (etwa: ‚ich habe nie einen Kuchen gesehen’, ‚ich habe den Schokoladenkuchen nicht gegessen’, ‚ich habe ihn nicht allein gegessen’). 157 „Angesichts der erheblichen Differenzierungen der Einkommens- und noch stärker der Vermögensverteilung, von Unterschieden in der Lebenshaltung, Wohnsituation und Erwerbslage erscheint inzwischen die von H. Schelsky 1950 formulierte These von der Tendenz zur Nivellierung [...] historisch überholt“. Vielmehr „gliedert objektiv die Verteilung des Produktivvermögens die Gesellschaft in die kleine Gruppe der Besitzenden und die große Zahl der Nichtbesitzenden“ (Rytlewski 1979, 115, cf. Greffrath 1976). Andere Sozialstatistiken sprechen ähnlich (Fn. 184).

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Die Behauptung einer „Überwindung der Klassengegensätze in einer sozialen Nivellierung“ (Schelsky 1956, 337) schließt Oberfläche und Wesen, Beobachtung und Theorie unzulässig miteinander kurz. Eine Analyse, die sich ökonomischer Untersuchungen enthält, kann ökonomische Aussagen schlecht widerlegen. Es stellt sich daher die Frage, was Schelskys Kampf gegen die Klassentheorie und seine immer neu ansetzende Behauptung einer neuen, übergegensätzlichen Wirklichkeit eigentlich motiviert hat. Es hat etwas mit dem speziellen deutschen „Schmelztiegel der Klassengesellschaft“ (Geiger 1949) zu tun – mit dem Nationalsozialismus. Diesen nennt Schelsky stets nur am Rande, er thematisiert und theoretisiert ihn nicht, obwohl er gerade ihm eine große Erklärungsmacht zubilligt: In einer biographischen Einleitung behauptet Schelsky, dass dieser die große Wandlung von der klassengespaltenen zur nivellierten Gesellschaft vollzogen habe. Er meint näherhin, „dass die sozialen Wandlungen, die der Nationalsozialismus, der Krieg und die Kriegsfolgen in unserer Gesellschaft hervorgerufen haben, so umwälzend waren, dass sie sowieso ganze soziologische Bibliotheken hatten zur Makulatur werden lassen“ (Schelsky 1979, 12). 1953 und 1956 nennt er nur von fern die Deklassierungen der „Heimatvertriebenen“ (327, 336), die durch den „Zusammenbruch“ bedingt sei (400), sowie den „Aufstieg der technischen, kaufmännischen und Verwaltungs-Angestellten“ (336), ohne zu fragen, wie diese so plötzlich haben aufsteigen können. 1961 bewertet er die „‚Idee der Volksgemeinschaft’“ deutlicher als „unverkennbar egalitär“ (375).158 Die alte Bewunderung eines langjährigen Mitkämpfers (11) vermischt sich mit einer versteckten Apologie des öffentlich angeklagten Täters.159 Doch was er persönlich dem Nationalsozialismus nebst seiner Folgeschäden zugesteht, stellt er soziologisch in einen größeren Zusammenhang. Das entlastet den Nationalsozialismus (und so ihn selbst) moralisch: „Das Aufkommen [...] nationalistischer Ideen [...] entspringt [...] Veränderungen der Sozialstruktur, insbesondere der wachsenden Bedeutung eines ‚neuen Mittelstandes’ [...] Diese soziale Entwicklung muss eher als Voraussetzung der Herrschaft des nationalsozialistischen Systems verstanden werden denn als deren Folge“ (Schelsky, 352).

Hier dreht er sich im Kreis. Die soziale Wandlung, die der Nationalsozialismus verursacht haben soll, bildet nun wieder seine Voraussetzung. Das nimmt ihm 158 1955 sagt Schelsky unverhohlener, dass „der Nationalsozialismus, der Krieg, der Zusammenbruch und die Politik der Besatzungsmächte in immer stärkerer Gewalt und Radikalität das Sozialgefüge veränderten, umschichteten und auf die Gleise neuer, unumkehrbarer [?] [...] Entwicklungen stießen“ (1979, 412, vgl. 12, 399). 159 „Jede ‚Bewegung’ wird in sich selber konservativ, und selbst [!] Kommunismus oder Nationalsozialismus wären in unserer Gesellschaft nur noch als Restaurationsbemühungen denkbar“ (417). Schelsky beklagte das „dem Soziologen unterstellte, oft im gleichen Atemzug als ‚Engagement’ zugemutete politische Wollen“ (370, s.o., Fn. 146). Obwohl er sonst die Ideen ontologisch vorordnet (Fn. 155), lehnt er in diesem Fall die Verantwortung der Ideengeber für eine solche Entwicklung ab. Das verübelte ihm König (1980, 189; 1987, 345).

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zwar die Ehre, die große Wandlung allein vollbracht zu haben, verleiht ihm aber retrospektiv eine demokratische Legitimation.160 Einerlei, ob der Nationalsozialismus die Veränderung oder jene ihn hervorgebracht haben soll – dass die Klassen im Dritten Reich verschwunden wären, lässt sich so oder so nicht behaupten.161 Feststellen lässt sich nur, dass darüber nicht mehr gesprochen wurde. Auch wenn Schelsky (252) es abstreitet: Das akademische „Verschwinden der Klassenanalyse“ hat auch reale Hintergründe, nur dass diese weniger die Gegenstände der Theorie, sondern eher ihre Subjekte, die Sozialwissenschaftler selbst betreffen.162 Noch die nachträgliche Kritik an den sozialpolitischen Maßnahmen des Dritten Reiches geht daran vorbei, dass eine „Volksgemeinschaft“ weder sozial noch ökonomisch, sondern nur symbolisch erreicht wurde.163 Eine „Gemeinschaft des Volkes“ (Heidegger 1927, 284) wurde nicht durch „Volkswohlstand“ (Schelsky 1956, 346) oder Volkswagen erreicht (der kam nicht dem Volk, sondern der Front zugute), sondern am ehesten durch Heinz Rühmann. Sie wurde inszeniert (Ehalt 1996). Der sich ideologisch antimodern gebende Nationalsozialismus war ästhetisch durchaus modern. Er setzte erstmals massiv moderne Massenmedien ein: Ob bei der Rolle der Parteizeitungen und des Medienzars Hugenberg für die „Machtergreifung”, der Stabilisierung der Herrschaft durch Volksempfänger und Wochenschau, Riefenstahls Inszenierungen der Parteitage für das Kino oder bei Durchhalteprojekten wie dem Film „Kolberg”: man ging so souverän mit den neuen Medien um, dass sogar das Ausland fasziniert war.164 Nicht nur durch Terror, auch mittels seiner Ästhetik erfasste der Nationalsozialismus breite Bevölkerungsschichten – durchaus nicht immer in der rück160 „Die Verwaltung totalitärer Staaten, die unzeitgemäße Volksteile der Ausrottung zuführt, ist bloß der Nachrichter längst gefällter ökonomischer Verdikte“ (Horkheimer 1947, 230/GS 5, 237). 161 Zwar gab es eine „Sozialpolitik“ (DAF, KDF etc.), die sich um eine Einbindung der Arbeiter bemühte (Mason 1977, Recker 1985, Lauermann 1998). Doch sie hat die Klassengegensätze keineswegs aufgehoben. Als erste Maßnahmen wurden 1933 die Gewerkschaften zerschlagen und die Löhne gesenkt. Dass einige Menschen schnell „aufsteigen“ konnten, lag an der Hierarchie in Partei und Armee und den Arisierungen jüdischen Besitzes (cf. Neumann 1942, Hennig 1976, Caplan 1995). Von Kriegsverlusten abgesehen, kamen Kapital und Arbeit wenig verändert aus dem Krieg; die „Restauration“ kam sehr bald (Huster 1972, cf. Schelsky 1979, 410 ff.). 162 „Diese Sonderentwicklung der Soziologie in Deutschland hat eine politische Geschichte: [...] Klassentheorie, schon in der Weimarer Republik von einer Mehrheit der Soziologen abgelehnt, wurde im Dritten Reich aus dem Sprachgebrauch verbannt. Wirtschaftswunder und Sozialpartnerschaft lösten die Volksgemeinschaft der Nationalsozialisten ab. Im kalten Krieg war jede Nähe zum Marxismus verdächtig“ (Diettrich 1999, 11). 163 Die Nationalsozialisten herrschten nicht wegen ihrer Sozialpolitik (Fn. 19, Fn. 161; siehe allerdings Aly 2005). Das für alle spürbarste Herrschaftselement war wohl die sanft erzwungene Partizipation durch die Partei (Neumann 1942, Reibel 2002). 164 Nicht nur über die Olympiade (H. Schäfer 1981, 121; Fest 1973, 513, 700, zum Einsatz der Medien Hofmann 1988, Donner 1995, Dröge 1995, Welzer 1995, Hanna-Daoud 1996, Ohr 1997).

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wärtigen Variante von Alfred Rosenberg und den Fackelaufmärschen. Es ist eine solch ästhetische Synthesis, auf die Schelsky in der frühen Bundesrepublik noch immer abzielt – symptomatisch ist das Wort „Uniformierung“ im Zusammenhang mit dem Massenkonsum (328, 337). Nach dieser ästhetischen Synthesis „sehnt“ er sich zurück.165 Die konstatierte „Überwindung der Klassenstruktur“ war allerdings vor wie nach 1945 nur ein „schöner Schein“ (Reichel 1991).166 Schelsky aber nimmt sie für bare Münze. Dass man sich von einem solchen blenden lassen wollte, hatte Schelsky in dem eingangs zitierten Satz über das „Bedürfnis der Epoche“ (1959, 22) bereits zu erkennen gegeben. Über die „Anti-Klassentheorien“ (354) dieses „Anti-Soziologen“ (Schelsky 1981) ist damit alles gesagt; der eigentliche Gegenstand der Marx’schen Klassentheorien wird an keiner Stelle berührt.167 Doch ist diese Marxvermeidung auch systematisch interessant, denn sie hat symptomatischen Charakter. Sie enthält nicht nur einen Standpunkt zum Verhältnis von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Politik in der Sozialwissenschaft, sondern sie versteht sich gegenüber Webers versteckter Werthaltung seiner Wissenschaft wieder offen als normative Theorie – als „indirekte Morallehre“.168 Denn obwohl Schelsky am 165 „Vergessen wir nicht, dass auch die Weimarer Republik an [...] zu schroff betonten Klassenkonflikten gelitten hat und dass sich eine totalitäre Bewegung [...] in den Steigbügeln einer weitverbreiteten Sehnsucht zur Überwindung des Klassenkonfliktes in den Sattel [...] geschwungen hat“ (Schelsky 1961, 348, Hvg. CH). Diese „Sehnsucht“ teilt er noch immer (cf. 326, 337, 361 etc.); ihm fehlt 1956 ein „Gefühl der Ordnung“ (343). 166 Wie jeder Schein, hat auch dieser ein fundamentum in re – etwa in den staatlichen Medienanstalten, die in den 1950er Jahren die einzigen Anbieter der neuen Massenmedien waren. Für das Fernsehprogramm hat Schelsky also recht – alle sahen dasselbe. Dass dies nicht selbstverständlich ist, wird erst nachträglich klar. Die Medienlandschaft bildet heute deutlich Klassendifferenzen ab, vom sog. „Unterschichtenfernsehen“ (Harald Schmidt) bis zu anspruchsvollen Theaterverfilmungen für die gehobeneren Schichten. Wird „König Fußball“ nicht darum so hoch gehandelt, weil er als das einzig verbliebene klassenübergreifende Fernsehereignis gilt? 167 Dies gilt auch für Dahrendorf 1957, der die Klassentheorie als eine Theorie der „Herrschaft“ deutet und damit dem zeitgemäßen „Primat der Politik“ aufsitzt, für Popitz 1957, der „Klasse“ als eine Unterscheidung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit deutet (vgl. Sohn Rethel 1972) etc. Einige „Anti-Klassentheorien“ kritisiert Schelsky selbst, etwa die „bei Dahrendorf zuweilen deutlich werdende Enttäuschung, dass keine der neueren Theorien der Sozialstruktur die Klassentheorie als ganze widerlegt habe“ (Schelsky 1961, 359). 168 Das Klassenbewusstsein der Arbeiter wird auf eine unerwartete Langlebigkeit der sozialistischen Ideologie (365f.), auf das Orientierungsbedürfnis nachwachsender Soziologen (354 f.) und auf den Einfluss „großer Organisationen“ (414) zurückgeführt. Obwohl es also ‚nur’ ein Überbleibsel und eine Einflüsterung der Intellektuellen sein soll, wird an anderer Stelle gesagt, es sei immer so, dass „wissenschaftlich-analytische Erkenntnisse in unmittelbares Sozialbewusstsein“ absänken (369 f.). Wenn die Klasse, die es nach eigenen Angaben einmal gab (334, 360), dennoch „nur eine geistige Synthese war“ (360), dann scheint es in der Macht des Sozialwissenschaftlers zu stehen, seine soziale Umwelt via „self-fullfilling-prophecy“ (390) nach Belieben zu beeinflussen (dahinter steht – bei Freyer – ein veritabler

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Ende zur selben Fragestellung kommt wie die klassische Ökonomie,169 blockt er ökonomische Fragestellungen mit der Unterstellung ab, alles sei nun ganz anders. Stattdessen gipfeln seine Aufsätze regelmäßig in moralischen Appellen: „Darum geht es hier nicht. Sondern es geht um den moralischen Appell“ (1956, 348). Des Soziologen „Aufgabe, unser wahres Bildungsbemühen sollte [!] in der Mitwirkung an den Vorgängen und Versuchen gesehen werden, in denen der einzelne heute seine eigene einmalige und unverwechselbare soziale Wirklichkeit als Person170 sich wiederherzustellen bemüht; sollte [!] in der Teilnahme an der Sorge um den Bestand und die Lauterkeit der kleinen Gruppe, der persönlichen menschlichen Beziehungen in Ehe, Familie, Freundschaft, Kollegialität, Berufsgemeinschaft usw. bestehen“ (1979, 409).

Dies sind keine Schulungen für angehende Pädagogen, sondern theoretische Abhandlungen. Hier liegt eine veritable Ethisierung sowie Ästhetisierung der soziologischen Theorie vor.171 Ethik dient hier nicht mehr als nachträglicher Ersatz für eine verlorengegangene Ökonomie wie bei Bernstein, sondern als eine aktive Ersetzung derselben. Damit hat sich die Beobachtung, die marxophobe deutsche Soziologie tendiere in Richtung eines Dualismus, der einen technoiden Unterbau (Schelsky 1979, 99 ff.; 449 ff.) durch eine „Ethik“ ergänze und im Extremfall ersetze, am ausgewählten Material bestätigen lassen. Diese Ethisierung des Denkens über Gesellschaft ist bis in die Gegenwart weiter zu verfolgen (Kapitel 3).

Klassen bei Luhmann Niklas Luhmann, der als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Soziologen gehandelt wird, hat zur Frage der Klassengesellschaft so gut wie nichts mehr zu sagen. Er begnügte sich zuletzt damit, die umlaufenden Theoreme zu erfassen (Luhmann 1998, 1055 ff.). Diese „Semantik“ – mehr ist es für ihn nicht – gehöre Nihilismus, 2.5.1). Nur kann man dies falsch oder richtig machen. Dies wird von Schelsky politisch bewertet (die Klassentheoretiker machen es für ihn offensichtlich falsch). Über diese Bewertung kommt nun ex machina die Ethik ins Spiel. Schelsky schrieb im Vorwort zu Riesmann 1957: „das Höchste, was die Soziologie [...] zu erreichen vermag, ist nur eine indirekte Morallehre“ (19). Jonas 1968 II, 251 bemerkt nicht, dass Schelsky das durchaus affirmativ meint – er wiederholt es 1965 emphatisch (Schelsky 1979, 16). Man muss nur unterscheiden lernen zwischen dem falschen „Moralismus“ (Schelsky 1959, 108; 1975) und der richtigen Morallehre, wie sie Schelsky vertritt (cf. 4.4, Fn. 41). 169 „Unsere Gesellschaftsverfassung ist bestimmt durch die Verteilung des Wohlstandes“ (Schelsky 1956, 346 – the Wealth of Nations, Smith 1776). Er stellt sogar fest, dass „ökonomische Verteilungskonflikte dominieren“ (1961, 384). 170 Schelsky spricht bereits als Anti-Soziologe. Die als realitätsarm gezeichnete soziale Welt wird entwertet. Schon Scheler hatte in der Soziologie Max Webers die „Tiefe“ der „Person“ vermisste (Jonas 1968 II, 215). 171 Den ästhetizistischen Wunsch, in der Wissenschaft „Erfahrungen erster Hand“ (Gehlen) zu provozieren (Schelsky 1979, 408, cf. Üner 1994), hätte der postmoderne Theoriepop nicht besser formulieren können, geht es doch auch ihm um Ästhetik der Existenz und (Selbst-)Inszenierungen. Von einer „Ethisierung des Klassenkampfes“ sprach bereits Max Weber (1894, 80 f.; s.u., Fn. 129).

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nach „Alteuropa“, was bedeuten soll, dass sie nur noch musealen Wert habe. Er verweist stattdessen auf die gängige „Ungleichheitsforschung“, die bestehende Ungleichverteilungen statistisch erfasst.172 Wichtig an Luhmann ist daher nicht das wenige, was er über die Klassen sagt, sondern die Begründung dafür, warum er so wenig zu sagen hat. Luhmann hat ein derzeit für gültig erachtetes Metanarrativ verfasst, mit dem die Rede von Klassen in der Soziologie weiterhin als „heute nicht mehr“ zeitgemäß bezeichnet werden kann. Allerdings ist dieses Narrativ keine soziologische Theorie. In Luhmann kulminiert die deutsche Philosophisierung der Soziologie.173 Luhmann hat im doppelten Sinne eine Systemphilosophie hinterlassen, die an Seitenzahl, Hermetik der Sprache und vom Strickmuster her nur mit derjenigen Hegels zu vergleichen ist. Die Behandlung dieses Systems ist darum erst im nächsten Kapitel sinnvoll (2.5.6). Die Frage ist allerdings, ob mit der Neuformulierung auf allerhöchster Abstraktionsebene174 auch schon etwas inhaltliches zu Einzelproblemen ausgesagt ist. Luhmann schien dies vorauszusetzen, wie sonst wollte er über Wirtschaft, Recht, Kunst und Religion ganze Bücher schreiben, ohne eigene Erhebungen zu machen? Die abstrakten Neuformulierungen beanspruchen kurzschlüssig, zugleich auch reale Prozesse wie die „Ausdifferenzierung von Systemen“ zu erfassen (1984, 25). Erneut wird idealistisch vorausgesetzt, dass die Form ihren Inhalt selbst erzeugt, oder diesem zumindest per se entspricht.175 Mit Marx kann man dem allerdings nicht blindlings folgen, sondern muss auf die Suche nach Argumenten gehen, mit denen Luhmann belegt, warum man „die Semantik von Kapital und Arbeit verabschieden muss“ (1986, 170) – und damit auch die der „sozialen Klassen“ (1985). Es gibt hier kaum neue Gehalte. Inhaltlich wiederholt Luhmann vielmehr Punkt für Punkt seinen Bielefelder Lehrstuhlvorgänger Schelsky, allerdings ohne ihn zu nennen.

172 Vgl. Goldthorpe 1985, Kreckel 1983, 1992, Hradil 1987, 2001, zur Kritik Diettrich 1999. „Niemand wird fortbestehende Verteilungsprobleme bestreiten. Niemand wird bestreiten, dass Arbeiter eine organisierte Vertretung ihrer Interessen benötigen“ (Luhmann 1986, 171). Warum dann noch die Marx’sche Theorie ausblenden? Luhmann diagnostiziert sogar einen Fall der Profitrate: „Das Verhältnis von Umsatz und Eigenkapital wird immer riskanter“ (167). Die Unterscheidung von „Kampfsemantik“ und Theorie ist als Selbstbeschreibung zu deuten (hier wird seine eigene Theorie selbstreferentiell). Er selbst führt einen „semantischen“ Kampf um eine politische Neucodierung. 173 Eine „Verweltanschaulichung“ (K. Müller 1996, 41; Schwinn 2001; 2.5.6, Fn. 254). 174 „Diese Darstellung erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muss über den Wolken stattfinden“ (Luhmann 1984, 12 f.; vgl. 2.5.7). 175 Grimm 1974, Sens 1979 und andere werten die soziologische Systemtheorie als Fortsetzung der apriorischen und „formalen Soziologie“ Simmels. Allerdings war Simmel noch klar, dass dies nur ‚rein’ formal möglich ist, dass damit also über Inhalte nichts gesagt ist: „Sowohl Geometrie wie Soziologie überlassen die Erforschung der Inhalte, die sich in ihren Formen darstellen, [...] anderen Wissenschaften“ (Simmel 1908, 12; cf. Sens 1979, 21).

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Wie Schelsky verkürzt Luhmann die Klassentheorie auf eine Deskription eines Momentanzustandes, den es einmal gegeben habe.176 Der Modus von Theorie, den er der Klassentheorie dabei unterschiebt, repliziert die lebensphilosophische Reduktion von Theorie als Ausdruck einer Praxis (2.5.4). Es handele es sich um eine „Kampfsemantik“ (1986, 165), die „Sympathien organisieren“ (158) und „Veränderungserwartungen [...] stimulieren“ solle (161; 1985, 123). Heute müsse man den Klassenbegriff jedoch „konsequent historisieren“ (1985, 152) und so relativieren.177 Der Grund dafür ist auch bei Luhmann die spekulative Geschichtsphilosophie der totalen Wandlung, die wie bei Schelsky nur vorausgesetzt und mit einigen Ausflügen in die Lebenswelt plausibilisiert wird („man frage die Hausfrauen“, 1986, 165).178 Begründet wird weder sie selbst, noch die These, dass sie die „Semantik“ von Kapital und Arbeit sowie der Klassen erübrige. Es bleibt beim Hinweis darauf, dass auch andere Theoretiker davon nicht mehr reden (1986, 152). Damit schließt er wie Schelsky idealistisch aus dem vorgefundenen Denken auf die soziale Realität.179 176 Luhmann meint wie Freyer, dass der Klassenbegriff „bestimmten Gesellschaften“ entsprach (1985, 150; eine „relative historische Übereinstimmung von Idee und Realität“, 1986, 163). 177 Die lebensphilosophische Identitätssetzung von Theorie und Praxis verwickelt Luhmann in denselben Widerspruch wie Schelsky: zwar „werden Ideen zur gesellschaftlichen Realität“ (1986, 170). Insofern haben sie eine konstruktive Macht, die dazu führte, dass die Klassentheorie einmal stimmte (163). Dass sie aber „heute nicht mehr“ stimmen soll (171), kann Luhmann nur suggerieren – unter Anleihen an Aussagen über die Gesellschaft und ihre „Großprobleme“ (171). Diese setzen eine Gesellschaftstheorie voraus, die er aber selbst nicht gibt, und die er für obsolet oder nicht vorhanden ausgibt („Die folgenden Untersuchungen [...] bieten [...] keine Gesellschaftstheorie“, 1984, 18. „Wir kennen diese Gesellschaft nicht“, 1987, 134. „Es fehlt uns eine Theorie der Gesellschaft, selbst die Konturen sind nicht sichtbar“, 1989, 435. „Die Soziologie hat [...] keine auch nur einigermaßen zureichende Gesellschaftstheorie vorlegen können“, 1998, 17; vgl. dazu auch Schwinn 2001). 178 „Nun ist diese Situation aber nicht mehr unsere“ (1985, 152), denn: „Das Gesellschaftssystem hat sich [...] inzwischen auf funktionale Differenzierung umgestellt“ (149). „Diese Situation hat sich entscheidend gewandelt“, und zwar – wie bei Habermas – durch „Staatsintervention“ (1986, 163). Obwohl Luhmann Ungleichheiten nicht wegleugnen will, tut er am Ende genau dies: sein Theoriemodell der „funktionalen Differenzierung“, das er hier keineswegs begründet, werde durch die Schichtung „konterkariert“ (119). Ob eine Terminologie wie die der Klassen „angemessen“ ist (1986, 170), kann nur eine herkömmliche Theorie entscheiden, nicht eine politische Dezision oder ein Werturteil. Das hängt die Bedeutung der Systemtheorie tiefer – sie verhält sich parasitär zu anderen Theorien, deren Ergebnisse sie lediglich aufbereitet; alteuropäisch gesagt: deren Inhalten sie eine neue „Form“ gibt. Im Falle der Wirtschaft ist diese Wirtstheorie klar die Neoklassik. Deren klassenloses, preisgesteuertes System, das keine Produktion kennt und keine Steuerung verträgt, kleidet Luhmann 1988 in das Gewand seiner technoiden „Supertheorie“. 179 Dabei schließen die anderen Theoretiker ihn selbst (1985) ein. Seine Theorie erlaubt schließlich Selbstreferenzen. Er suggeriert, erst der Theoretiker Marx habe den Klassenkampf erzeugt, indem er ein Dreierschema zu einem Zweierschema transformiert habe: „Je nachdem also, ob man ein Zweier- oder ein Dreierschema

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Zugrunde liegt aber nur eine bestimmte Theorie: die ideologische Aufteilung der Welt in normfreie Funktionen und funktionslose Normen aus der Neoklassik.180 Auf die Marx’sche Theorie geht Luhmann nicht ein. Dies führt, wie bei so vielen anderen auch, zur Übernahme höchst konventioneller Marxkritiken.181 Auch die „neue“ Epoche kennzeichnet Luhmann ähnlich wie Schelsky: ausschlaggebend für soziale Differenzierungen sei „heute“ der Konsum (165). So richtig das ist, wenn man die unmittelbare Oberfläche der Gesellschaft beschreiben will („ob man in einem ererbten Haus wohnt oder mieten muss“, 165), so unterschlägt der Differenztheoretiker Luhmann damit doch die grundlegende Differenz innerhalb des Konsums, nämlich die Frage, woraus ich ihn bestreite: aus dem Lohn, aus einer „Kapitalrente“ (Profit, Zins und Rente), oder aus Umverteilungen. Diese überaus handgreifliche und für die Gesellschaftstheorie sehr weitreichende Unterscheidung bleibt für den sonst für Unterscheidungen so offenen zu Grunde legt“ (1985, 124), ergeben sich andere Konstellationen. Und nach Marx sah es so aus: „Die Einheit, auf die hin das Individuum seine Individualität als Allgemeines projizieren kann, ist dann nur noch [durch diese theoretische Operation, CH] seine Klasse [...] im Konflikt mit der anderen Klasse“ (127). Luhmann geht über die sozialen Realitäten jener Zeit hinweg und missversteht Begriffsgeschichte als reale Geschichte. Dies ist noch dieselbe Reduktion von Theorie auf „Selbstauslegung einer Praxis“ wie bei Freyer, Korsch und Gramsci (2.5.1, 2.5.4). 180 ‚Die’ Wirtschaft sei nur „an der abstrakten Differenz von Eigentum und Nichteigentum [...] interessiert“ (1998, 367). Das trifft nur die neoklassische Theorie von der Wirtschaft. Für die reale Wirtschaft zählen viele andere Faktoren: etwa der Zinssatz und vor allem die Höhe der Löhne. Luhmann wiederholt das Bild der reinen Kräfte des Marktes und der politischen Verunreinigungen: „Die Differenz von Reich und Arm wird [...] der Politik überlassen“ (1998, 367). Er will „den Faktor Arbeit [...] durch den Begriff der Codierung von Kommunikation ersetzen“ (1988, 46). Sogar das Geld wird zum „Kommunikationsmedium“. Luhmann weiß zwar schon nach einigen Seiten, wie „die Wirtschaft“ sich „reproduziert“ (58). Doch der Leser erfährt darüber nichts – die „Selbstreproduktion von Zahlungen durch Zahlungen“ (71) lässt unklar, woher das Geld kommt. Luhmann belässt es auch hier bei Umdefinitionen. 181 Übernommen wird die Unterstellung der Absicht, die Gesellschaft mit der Klassentheorie zu „beschreiben“ (1986, 157), die „Reduktion auf nur zwei Klassen“ (161 – trotz Selbstdementi, 163) und sogar die vermeintliche Verelendungstheorie (166). Es trifft nicht zu, dass nach Marx „der Kapitalist kein existentielles Risiko eingeht“ (166) – die Konkurrenz unter den Kapitalen wird von Marx vielmehr als regelrechter „Krieg“ beschrieben (MEW 6, 421 u.ö.). Auch die Ansicht, „die Rolle des Arbeiters als Konsument fügt sich diesem Schema nicht“, trifft nicht zu: In den Reproduktionsschemen behandelt Marx ausführlich die effektive Nachfrage, die sich aus Investition und Konsum (der Kapitalisten und der Arbeiter, aus dem Mehrwert und dem Lohn) zusammensetzt. Luhmann 1985 kritisiert Marx anhand der „Konfusion“ bei seinen Nachfolgern (119, 144) und fällt darauf zurück, die Klassensemantik auf die Verteilung zu beziehen – wie die Neoklassik (128). Beim Geld entgeht Luhmann, dass Marx darüber eine ausgefeilte Theorie vorgelegt hat (Luhmann 1986, 171; 1988, 230-271; siehe dagegen 2.3.5). Die Liste ließe sich fortführen. Auch Luhmann ersetzt Marx’ Ökonomie durch eine andere Theorie, beurteilt diese als Beleg für eine veränderte Realität, und begründet damit dann nachträglich den Abschied von Marx – ein idealistischer Zirkel (siehe 2.3.1).

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Luhmann unter einer dicken „Wolkendecke“ von Abstraktionen verborgen (cf. 1984, 13). Auch die anhaltende Rede von „Klassen“, die doch durch „Aufwärtsund Abwärtsbewegungen“ (1986, 163; Schelskys „Mobilität“) heute obsolet geworden sei, erklärt Luhmann wie einst Schelsky mit der Trägheit der „Legitimationsschemata der Organisationen“ (164, der „Gewerkschaften“, 165), die die „Ungerechtigkeit der Verteilung“ (1985, 152) immer noch klassentheoretisch fehlinterpretierten. Politische Orientierungen werden also nicht verhohlen, sondern treten offen als thetische Setzungen in die Theorie hinein.182 Luhmanns Theorie gerät damit in den performativen Widerspruch, dass sie selbst in dem „Klassenkampf“ steckt, den sie mit der Zauberformel „heute [...] nicht mehr“ (1986, 164) als erledigt ausgeben will. All dies geschieht auf einer argumentativ und empirisch dünnen Grundlage. Ihre Plausibilität gründet die Systemtheorie in diesem wie in anderen Punkten nicht auf eine inhaltlichkonkrete Beweisführung, sondern auf das erdrückende Meta-Narrativ, auf die „Supertheorie“ (1984, 19; siehe dazu in 2.5.6). Die Marxvermeidung ist hier wie andernorts zu einem fachlichen Konsens kristallisiert, ohne dass es dafür eine hinreichende Beweisführung gäbe, noch je gegeben hätte. Kommen wir zu einem Zwischenfazit. Am Beispiel der Klassentheorie ließ sich in der deutschen Soziologie von Max Weber bis Luhmann eine Animosität gegenüber dem Gehalt der Marx’schen Theorie aufweisen.183 Gleichwohl zeigt das vortheoretische Alltagsbewusstsein deutlich an, und zwar in zunehmendem Maße, dass wir sehr wohl in einer Klassengesellschaft leben.184 182 „Die historische Analyse des Konzepts der sozialen Klasse impliziert auch eine Stellungnahme zu diesen Fragen“ (1985, 151). Nämlich: „Die Gewerkschaften können mit einem Kampf um Pauschalverbesserungen die wirtschaftliche Situation des Arbeiters nicht wirklich ändern“ (1986, 165). Warum? Luhmann bleibt die Antwort schuldig. Dies entspricht der radikalsozialistischen Kritik an den Gewerkschaften (cf. 168) und könnte den Klassenbegriff auch stärker machen. Diese Deutungsoffenheit („Kontingenz“) wird nicht problematisiert, sondern durch Dezision „reduziert“. Die Parteinahme steckt schon darin, dass im Klassenbegriff selbst nur eine Parteinahme der ‚anderen’ gesehen wird: „Der Klassenbegriff wird über die Dualisierung zum Kampfbegriff, und die theoretische Konstruktion dafür findet sich im Kapital“ (1985, 124; Marx „transformiert die Ordnungssemantik in eine Kampfsemantik, die Ständeordnung in einen Klassengegensatz“) – es sieht aus, als habe Marx die Realität aus seiner Theorie erzeugt. Der Vorwurf einer „Übersetzung theoretischer Unsicherheit in politische Opposition“ (1971a, 399) ist selbstreferentiell. 183 Dahrendorf berichtet, er sei von Horkheimer und Adorno, als er über Marx’ Klassenbegriff promovieren wollte, mit der Bemerkung abgewiesen worden, dies sei politisch nicht opportun (Interview im Spiegel vom 2.6.2001). Er promovierte dann doch über Marx, und zwar über dessen Ethik (Dahrendorf 1953, vgl. noch 1999). 184 „Die Zahl der Armen wächst, und das Vermögen der Reichen auch“ (so die Frankfurter Rundschau vom 27.02.01 zum Armutsbericht der Bundesregierung). Ein anderer Artikel fordert „mehr Klassenbewusstsein“ („Unsere Klassengesellschaft“, ZEIT vom 04.01.01). Nach einer Studie des Prognos-Institut ist das Vermögen zwischen oben und unten, Ost und West sehr ungleich verteilt (Berliner Zeitung vom 03.09.02). Auf Reiseumschlägen der Deutschen Bahn stand zeitweilig in großen ro-

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In Sprachräumen, die dem kalten Krieg weniger direkt ausgesetzt waren, ist diese vortheoretische Wahrnehmung auch für die Sozialtheorie kein Geheimnis.185 Gemessen an diesen beiden Korrekturinstanzen ist die Rezeption der Klassentheorie in Deutschland als stark verkürzt zu bezeichnen. Dieses Kapitel zur Soziologie zeigte, dass auch die „Gesellschaftstheorie“ den Verlust des Gegenstandes der Marx’schen Theorie, der bürgerlichen Gesellschaft, nicht rückgängig machen konnte. Dieser Verlust, der erstmals im sozialdemokratischen Dualismus von Technik und Ethik begegnete (2.1), und der sich in der entökonomisierten Politiktheorie des Leninismus (2.2) und der entsoziologisierten Ökonomie der Neoklassik (2.3) vertiefte, wurde in der ethisierten deutschen Soziologie eher bekräftigt. Außer in einigen sozialhistorischen Vermutungen wurden dafür primär ideengeschichtliche, also theorieimmanente Ursachen gesucht. Diese fanden sich in den Auswirkungen der ökonomietheoretischen Umstrukturierungen, die das vorige Kapitel freigelegt hat (2.3). Werden neoklassisch-technisierte Vorstellungen der wirtschaftlichen Basis zugrundegelegt, wie es trotz Marx auch im deutschsprachigen Bereich der Fall ist, lassen sich kaum noch theoretische Verbindungen zu kulturellen Phänomenen herstellen. Da sich die Soziologie aber arbeitsteilig gerade mit solchen Phänomenen befasste, hatte diese Fundamentalumstellung für die Soziologie gravierende Folgen – sie entökonomisierte sich. Sie konnte zwar Einzelphänomene gut beschreiben, aber sie kaum noch aus dem Zusammenhang mit der übrigen Gesellschaft erklären. Dennoch gibt es im deutschen Denken eine starke Orientierung auf die Schließung von Weltbildern (2.5.2). An die Stelle von ökonomietheoretischen Fundierungen der Sozialität traten nun im immer stärkeren Maße ethische Fundierungsversuche. Dies war die Stelle, an der die normative Philosophie, aus welcher sich die Soziologie in Deutschland allererst hatte emanzipieren müssen, wieder in die Sozialtheorie einrückte. Die Betrachtung derselben im nächsten Kapitel will erläutern, weshalb in Deutschland theoriegeschichtliche Prozesse oft als reale Prozesse missdeutet werden, und umgekehrt reale Prozesse zu geistigen gemacht werden, die in den Köpfen der Menschen und Theoretiker verorten werden. Auch hierfür gibt es noch theorieimmanente Faktoren. ten Lettern: „Mehrwert: Reisen Sie 1. Klasse“ (ein Ausdruck der Politik, den Nahverkehr zu kappen und teure ICEs auszubauen; siehe auch den Klassenbegriff in der Medizin). Die Systemtheorie hat sich gerade gegen solche Alltagswahrnehmungen immunisiert (Halfmann 1996a, 13 f., 44 f.; cf. 2.5.7, Fn. 260). 185 „Social Class is part of capitalist society” (Scase 1992, 99). Daher diskutieren nichtdeutsche Publikationen Klassenfragen selbstverständlicher (Bottomore 1967, Poulantzas 1975, Carchedi 1977, Wright 1979, Giddens 1979, Anderson 1980, Bourdieu 1982, Kaye 1984, Goldthorpe 1992, 1996, Edgel 1993, Crompton 1993, 2000, Sitton 1996, Marshall 1997, Milner 1999, Sklair 2001). Zur Historisierung der Bonner Republik Huster 1972, Berghahn 1985, Rammstedt 1992, zur Klassentheorie seit 1989 Bader 1998, Ritsert 1998, Diettrich 1999, Kößler 2001, Bischoff 2002, Vester 2004.

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2.5 „Von Marx zu Heidegger“ – Sozialphilosophie „Das Geistige allein ist das Wirkliche.“ (Hegel 1807, 28) „Die Sozialphilosophie untersucht nicht die konkrete Wirklichkeit der Gesellschaft, sondern die sozialen Normen, nach denen sie sich ableiten soll.“ (Stepina 2000, 15)

Es hat einen Grund, dass die vorliegende philosophische Arbeit die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts erst an dieser späten Stelle thematisiert. Dem liegt die kritische Einsicht zugrunde, dass Philosophie nicht voraussetzungslos ist. Ein unmittelbarer Einstieg mit der Philosophie hätte die wichtigsten Weichenstellungen der Geschichte der Marxismusrezeption schon übersprungen. Die Philosophie, die – wenn man eine Definition wagen darf – einen orientierenden Überblick über das Ganze intendiert, ist aufgrund der dafür nötigen Distanz sehr weit von der wirklichen Welt entfernt. Sie ist darum besonders anfällig für die vielfachen Brechungen, die sich zwischen die realen Sachverhalte und ihre philosophische Beurteilung schieben können – so weit, dass ihr zuweilen sogar fraglich wird, ob es eine Welt überhaupt gibt (3.4.2, Fn. 24). So kann sich die Philosophie hervorragend mit sich selbst beschäftigen. Weil diese Arbeit nicht vorschnell geschichtsphilosophische Theorien über die Entwicklung eines Diskursuniversums unterlegen möchte1 und sich daher eine methodische Beschränkung allein auf die Auswirkung von Texten auferlegt, kommen als Voraussetzungen des Philosophierens jener Zeit nur Theorien in Frage – und da zuallererst die Theorien aus der Arbeiterbewegung (2.1, 2.2) sowie solche benachbarter Wissenschaften, die die Philosophie in hohem Maße beeinflussten (2.3, 2.4). Gerade der in der damaligen Zeit dominante Neukantianismus ging ja, zumindest in der Marburger Schule, davon aus, dass sich die Philosophie auf die Wissenschaften als auf ihr „Material“ zu beziehen hätte, welches lediglich auf seine „Geltungsvoraussetzungen“ zu befragen sei. Den Inhalten meinte man nichts mehr entgegensetzen zu können. Darum tauchen Topoi aus den bereits behandelten Gebieten auch in der Philosophie wieder auf, unter den Veränderungen der Perspektive und des Stils, die für das „Feld“ der Philosophie typisch sind (Bourdieu 1988). Welches waren die systematisch relevanten Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel? Die Untersuchung der Diskussionen der Sozialdemokratie (2.1) zeigte 1 Gemeint sind solche Narrative wie der universale „Verblendungszusammenhang“, den die Kritische Theorie als Faktor der Ideengeschichte handelte, oder die Verwandlung „aller [!] Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft“ in die Warenform bei Lukács (1923, 94; cf. Sohn-Rethel 1972). Andere marxistische ‚Erklärungen’ der Geistesgeschichte waren der „Klassencharakter“ der „bürgerlichen Philosophie“ und ihre feindliche Haltung gegenüber der „großen sozialistischen Oktoberrevolution“ (Zweiling 1958, 7 ff.). An solch vorgegeben Erklärungen litt schon die Erfassung des Materials. Eine materiale Beweisführung wäre recht aufwendig und kann einer Erfassung nur folgen, nicht vorangehen. Wenn wir nach morphologischen Parallelen suchen, ist über Abhängigkeiten, kausale Beziehungen oder Chronologien noch nichts ausgesagt.

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zwischen den Flügeln von Kautsky und Bernstein eine „Dualität von ökonomischem Fatalismus und von ‚ethischem’ Utopismus“ (Lukács 1923, 214).2 Sie hat sich auch in der kommunistischen Variante bemerkbar gemacht, wo einer mechanistischen Krisentheorie (Lenins „sterbender Kapitalismus“) ein politischer Voluntarismus entgegenstand (2.2). Dies wurde als Verlust des spezifischen Gegenstandes „bürgerliche Gesellschaft“ und dessen zentraler Charakterisierung als „kapitalistisch“ bestimmt. Ein solcher Gegenstandsverlust zeigte sich auch in den folgenden Kapiteln, wo er durch eine Doppelperspektive von technisierten Theorien der Basis und Ethisierungen des Überbau aufzufangen versucht wurde: In der Ökonomie war eine Dualität von abstrakten neoklassischen Modelltheorien einerseits, moralinhaltigen, doch weitgehend theoriefreien Geschichtsschreibungen darüber andererseits zu konstatieren (2.3); in der Soziologie eine überraschend ähnliche Theoretisierung von sterilen systemischen Selbstläufern einerseits, von subjektiven und „sittlichen“ Begleiterscheinungen anderseits (2.4). Hier war auch ein Umschlagen von Theorien über das Ethische (die alltägliche, „wertgetränkte“ Aktorinnenwelt der Individuen) in selbst ethische, präskriptive Theorien zu verzeichnen – eine grandiose Unklarheit über das philosophische Grundwort der 1990er Jahre, das „Normative“. Diese Topoi kehren nun im „Feld“ der Philosophie wieder. Schon die grundlegende Architektonik der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts zeigt eine ähnlich zerrissene Struktur: einer formalen Betrachtung ausgewählter Aspekte im Neukantianismus wie in der aufkeimenden Analytischen Philosophie steht in Hermeneutik, Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie eine dezidiert „nichtanalytische“ Theorie entgegen (Wuchterl 1995, 15), die als „Kulturkritik“ oft stark wertend auftritt.3 Es geht hier nicht darum, die Geschichte der Philosophie nachzuerzählen. Auch kann unmöglich die These von Georg Lukács erneuert werden, diese Entzweiung sei allein durch das Vergessen oder Verdrängen von Marx und das Beharren auf einem „bürgerlichen Standpunkt“ verursacht worden.4 Allerdings ist das Pendel seither stark in die Gegenrichtung geschlagen.

2 Ein Auseinanderfallen von „Empirismus und Utopismus“ (Lukács 1923, 214; „Naturgesetze und Sollen“, 216). Lukács’ als Lösung dagegengestellte „Totalität“ (das Bewusstsein des Proletariats als das „identische Subjekt-Objekt des Geschichtsprozesses“, 217) hat mehr mit der Lebensphilosophie gemeinsam hat als mit Marx (2.5.4). Dennoch ist anzuerkennen dass Lukács das Problem genial gesehen hat. 3 Dies zeigt sich etwa in der Anlage des Werkes von Hügli 1992/1993, das sich trennt in einen Band zur ‚harten’ und einen zur ‚weichen’ Philosophie des 20. Jahrhunderts. 4 Der „Zusammenhang des Ganzen“ wäre nur erkennbar, wenn die Philosophie sich – wie Marx – auf die „konkrete, materielle Totalität“ richte. Aber: „Eine radikale Veränderung des Standpunktes ist auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich“ (Lukács 1923, 121). Lukács ist auf der Suche nach Weltanschauung (cf. 2.5.4). Die angereicherte Version dieses Gedankens (Lukács 1954) ist zwar nach einem ähnlichen Schema konstruiert, ist aber, liest man es rein historiographisch, ein Dokument von nur selten erreichter Durchdringung der Materie.

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Denn es ist bemerkenswert, wie in allen bislang durchleuchteten Gebieten dem Auseinanderfallen der Theorie in Technik und Ethik ein Vergessen von Marx korreliert. Wenn wir uns nun innerhalb der Sozialphilosophie jener Zeit auf eine exemplarische Spurensuche nach sichtbaren oder unsichtbaren Beeinflussungen durch Marx machen, so soll dies nicht ohne methodisches Rüstzeug geschehen. Bei der Erstellung von Kriterien für den Erweis möglicher Reaktionen auf Marx in damaligen Theorien – offen oder verdeckt – wird eine neutralere und weniger reduktionistische Variante der Lukácsthese herangezogen. Es handelt sich um einen frühen Versuch von René König (1937), den latenten „Irrationalismus“ der damaligen Sozialphilosophie als halbierte Rezeption von und vergeistigende Reaktion auf Marx zu begreifen (2.5.1). Um die Plausibilität dieser These zu kräftigen, wird ihr – wenn auch kursorisch – historische Tiefenschärfe gegeben (2.5.2). Anhand dieser Thesen werden drei paradigmatische Philosophen jener Zeit auf ihren Marxbezug untersucht: zunächst der heute vergessene, damals aber einflussreiche Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken (2.5.3), dann der Urvater des „westlichen Marxismus“, Georg Lukács (2.5.4), und schließlich der Großmeister deutschsprachigen Philosophierens im 20. Jahrhundert, Heidegger (2.5.5). Die Thesen von König lassen sich an allen dreien bestätigen.5 Den Abschluss bilden zwei Weiterungen zu Hegel und zu Luhmann (2.5.6, 2.5.7).

2.5.1 Ein Kategorisierungsversuch von René König „Wie, die Statistik bewiese, dass es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze? Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung der Schwerkräfte, Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen? Nun wir wollen es zugeben, aber damit steht auch der Satz fest: soweit es Gesetze in der Geschichte giebt, sind die Gesetze nichts werth und ist die Geschichte nichts werth.“ (Friedrich Nietzsche)

In Deutschland wird die Soziologie disziplingeschichtlich zuweilen als ein Abspaltprodukt der Philosophie betrachtet. In dem Maße, wie die sozialen Fragen einen (be-)drängenden Charakter bekamen, habe sich die Philosophie („das Wissen vom Menschen“), die nach Hegel gegenüber der Wirklichkeit ohnehin offener wurde, „soziologisiert“.6 Es lässt sich aber auch eine gegenläufige Beobachtung machen: Als die Soziologie endlich universitär verankert war, wurden viele eminent „soziale“ Fragen wieder an die Philosophie abgeschoben. Die frühe Kultursoziologie etwa war eher eine Kulturphilosophie.7 5 Andere Kapitel behandeln weitere Autoren (2.4 Gehlen und Freyer, 2.6 Horkheimer und Adorno, Löwith, Tillich und Benjamin, 3.1 Habermas und andere). Zu ihnen liegen detaillierte Einzelanalysen vor; hier geht es um diesen meist übersehenen Aspekt. 6 Rehberg 1981; Lukács 1954, 475; Schelsky 1959, 22; Fisching 1993. Dies war mehr Reaktion des geisteswissenschaftlichen Milieus als Selbstauslegung des Geschehens. 7 Simmel und A. Weber gingen in diese Richtung. Tönnies’ Eröffnungsrede (1926, 125) des ersten deutschen Soziologentages 1910 bekundete, Soziologie sei „in erster Line eine philosophische Disziplin“. F. Jonas überspitzt die Rolle, die Philosophie

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Dies stellt, auf eine griffige Formel gebracht, eine „Rephilosophisierung“ der Soziologie dar.8 Die etablierte Philosophie hatte „die soziale Frage“ lange eher abwiegelnd behandelt, ohne ihr einen Zugang zu den heiligen Hallen des Selbstverständnisses zu gewähren.9 Die richtigen Antworten meinte man bereits zu haben – oder mühelos deduzieren zu können – und nur „erzieherisch“ unter das Volk oder die herrschenden Klassen bringen zu müssen.10 Eine Soziologie nach dem Verständnis Max Webers hätte sich einen solchen Moralismus kaum leisten können, denn er bestand aus wenig mehr als „Werturteilen“. Doch nicht zufällig war Weber voller Skepsis aus der von ihm mitgegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie wieder ausgetreten: Die Soziologie trat das Erbe genau jenes „Mandarinentums“ an, welches Weber bekämpft hatte (F. Jonas 1968, 211; cf. Lübbe 1963, 184). So entstand über den Umweg der Soziologie eine gegen Fächergrenzen indifferente, von ihrem Selbstverständnis explizit normative „Sozialphilosophie“. Diese philosophische Behandlungsart sozialer Fragen konnte zwar von Soziologen durchgeführt werden, insofern blieb diese Tätigkeit Soziologie.11 Die Philosophie jedoch war die eigentliche Erbin – dabei gespielt hat: „Die Kritik der soziologischen Erkenntnis hat das Ziel [zumindest den Effekt, CH], zunächst den Wissenschaftsbegriff der Soziologie radikal einzuschränken und dann das so frei werdende Feld [...] durch eine andere, d.h. ‚höhere’ Wissenschaft zu besetzen, d.i. die Kultur- oder Geschichtsphilosophie oder die Weltanschauungslehre, wie sie Rickert als Konsequenz seines Werkes fordern sollte“ (1968 II, 165, cf. 180). Lichtblau 1997 und Kruse 1999 bestätigen diese Einschätzung, affirmieren allerdings den antiszientifischen „cultural turn“. 8 Zum Begriff vgl. Habermas 1981b I, 517; Schnädelbach 1983, 86; zur Sache siehe P. Anderson 1978, 77 ff.; König 1958, 91 („eine Philosophie statt der Soziologie“), auch K. Müllers „Verweltanschaulichung“ (1996, 41). 9 Lübbe 1963, Ringer 1969. Schriften zur „sozialen Frage“ wie v.Stein 1850, F.A. Lange 1865, A. Wagner 1871, Ludwig Stein 1897, Massaryk 1899, Oppenheimer 1912 waren politisch. 10 Eine pädagogische Ausrichtung gab es in der Nachfolge Fichtes („Erziehung der Erzieher“, Bergmann 1915 und 1928; Langbehn 1890; cf. Henning 1999) bei etlichen Philosophen, etwa Rudolf Eucken, Eduard Grisebach, Paul Natorp (1920) oder Hermann Nohl (cf. Lübbe 1963, 194 ff.; Oelkers 1989; Pascher 1997, 46 ff.; Wuchterl 1995, Kodalle 2000). Die antisoziologisch-sozialphilosophische Einstellung kommt beispielhaft zum Ausdruck in der populären Reihe „Gesellschaftsphilosophie“ aus dem Umkreis von Ottmar Spann, wo alle erdenklichen Philosophen (Meister Eckhart, Schelling etc.) als „Sozialphilosophen“ zählten. Hier setzt sich die Tendenz der Soziologie, Analyse durch Ethik zu ersetzen, in die Philosophie fort. Lion Feuchtwanger berichtet in einer bitter-ironischen Selbstdarstellung, dass im Laufe seiner Erziehung „der Name Plato 14 203mal, der Name Friedrich der Große 22 641mal, der Name Karl Marx keinmal genannt“ wurde (nach Sternburg 1999, 56). 11 Klassische deutsche Soziologen wie Simmel, Weber sowie spätere wie Gehlen oder Adorno tauchen oft in Philosophiegeschichten auf. Das Lexikon der „großen Philosophen des 20. Jahrhunderts“ etwa (Lutz 1999) nennt zwar Max Weber und Simmel, nicht aber Schulhäupter wie Cohen und Rickert. Die Generation von Gehlen und Adorno geht oft mit einer philosophischen Ausbildung in das soziologische Lehramt, so auch Mannheim oder Elias. Die Generation davor entstammte eher der Nationalökonomie (Weber, Sombart, Oppenheimer, vgl. dazu Kapitel 2.4.1).

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sie griff die angerissenen Themen dankbar auf. Die leitenden Großthesen kamen ohnehin aus ihrem Repertoire. Dass René König solche Theoreme später als „Geschichts- und Sozialphilosophie“ aus der Soziologie auszugrenzen versuchte, hat man ihm kaum verziehen, obwohl es eine folgerichtige Konsequenz aus dem wirren Wildwuchs der Großthesen dieser eklektizistischen Sparte war.12 Der Marx’schen Theorie maß König dabei einen zentralen Einfluss bei. Da er als Enkelschüler Diltheys13 eine solide philosophische Bildung besaß, sei hier kurz der Weg verfolgt, auf dem König zu dieser Einschätzung gelangt. In Königs Züricher Habilitation von 1937 lässt sich die Abgrenzungsbestrebung schrittweise verfolgen. Zunächst anerkennt König die Leistung der historisch-hermeneutischen Disziplinen, die neben ihren sachlichen Erträgen in der konkreten Erforschung einzelner Themenbereiche methodisch einer naturalistischen Reduktion des Menschen wehren. Er erhebt jedoch Einspruch gegen den praktizierten Kurzschluss von der Genesis auf die Seinsart, den er als eine bloße Umkehrung des philosophischen Idealismus ansieht: Sei jenem eine „Ontologisierung des methodischen Rationalismus“ (1937, 62) unterlaufen, so behalte die Hermeneutik diese Ontologisierung bei, nur tausche sie den „Verstand“ gegen das „Leben“ ein.14 Ein solches Denken tradiere den Satz des Empedokles, dass nur Gleiches Gleiches erkennen könne (62), und ende so letztlich in „Identitätsphilosophie“ (27) – ob in einer naturalistischen, idealistischen oder existentialistischen Variante. Das heißt systematisch, dass Theorie und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden werden. Bei der existentialen Hermeneutik stamme dieser Monismus aus einer defizitären Rezeption Hegels.15 Was Hegel von der Hermeneutik unterscheide, sei nicht der Idealismus, sondern das Gewicht, welches dem Nichtidentischen einge12 König 1959, 7 f., 88 ff., 336. Auch Lyotard 1979 wollte die „großen Narrative“ verabschieden, stiftete damit jedoch selber eines. Gegen König polemisiert Kruse 1999. 13 König war Schüler vom Dilthey-Editor Groethuysen (siehe König 1981). 14 Der genetische Kurzschluss auf die Seinsart sei „die genaue Umkehrung jener im dogmatischen Rationalismus geübten Folgerung vom verfahrensmäßigen Intellektualismus der philosophischen Geisteswissenschaften auf den Satz: Gegenstand der Erkenntnis sei darum auch das intellektuell Erschöpfbare, das Rationale“ (König 1937, 62). „Gewiss bedeutet es eine Vertiefung unserer Auffassung vom Menschen [...] , dass in seiner künstlerischen, religiösen, rechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Tätigkeit nicht etwa isolierte ‚Vermögen’ tätig sind [...] , dass der Mensch vielmehr in all diesen Betätigungsweisen in der Weise des konkreten Wirkens und damit des zeitlichen Geschehens ‚wirk’-lich ist“ (61). Dennoch sei „die Folgerung von der existenziellen Lage des handelnden Menschen in Kunst, Religion, Recht usf. auf die Existenzialität der Erkenntnis von dieser Menschenwelt keineswegs ohne weiteres schlüssig“ (62). Wir werden dies, mit Tugendhat (1993, 202), in Folge kurz den „genetischen Fehlschluss“ nennen. 15 „Zum mindesten aber bedarf diese Voraussetzung einer Begründung, wie sie im großen Stile bei Hegel vorliegt. Es ist allerdings seltsam zu sehen, wie der Existentialismus, der in der Gegnerschaft zu Hegel aufgewachsen ist, bei seiner Destruktion des Hegelschen Systems die in diesem kritisch begründete Voraussetzung von Einheit des Denkens und der Wirklichkeit ihrem formalen Schema nach übernimmt und den bekämpften Panlogismus durch einen Panexistentialismus“ ersetzt (König, 62).

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räumt werde. Dies fehle in der Hermeneutik völlig: Bei Heidegger etwa komme es nicht einmal mehr im Extrem des Todes vor.16 König deutet diesen lebensphilosophischen Idealismus als eine Reaktion auf und Verarbeitung von ursprünglich Marx’schen Thesen. Erst in der Krise „verlangt das Leben plötzlich nach neuer Bewusstheit“ (74), daher entstehe eine „Philosophie der Krise“ (75). Bei Marx stand die Krise erstmals im thematischen Zentrum der Theorie. Erst infolgedessen habe sich die innertheoretische Rangordnung von Bewusstsein und Leben verkehrt (76). Die Ausrichtung der Schriften von Dilthey und Yorck, Freyer und Heidegger sei ähnlich geblieben (77). Die Differenz zu Marx liege erst darin, dass die existentialistische Systematik „das, was seinem Wesen nach nur als [...] extremer Sonderfall angesehen werden kann, [...] kritiklos zur angestammten Bewegungsform des Lebens umbog und zugleich zur Grundlage für die Geisteswissenschaften machte“ (81). Königs Vorwurf lautet, dass die Sozialphilosophie Marx’sche Thesen durch überabstrahierende Vertiefung bis zur Unkenntlichkeit philosophisiert habe. In der Konsequenz dieser Vertiefung lauert der „Irrationalismus“: für Marx ist die bisherige wissenschaftliche Analyse der Gegenwart zwar mit Fehlern behaftet, die er konkret als solche aufzeigt und verbessert; die Wissenschaftlichkeit selbst („das Denken“) ist aber nicht von der Krise betroffen. Die idealistische Lebensphilosophie allerdings vermag in ihrer „Vertiefung“ die Theorie nicht mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Daher zieht für sie die Krise der Wirklichkeit die Theorie insgesamt mit sich, was unweigerlich zur „Krise der Philosophie“ (75) führt. Auch die Diltheyaner verorteten die Genese der Theorie in einem praktischen Prozess, nur ist diese Praxis keine mehr, die sich ihrerseits noch sinnvoll begreifen ließe, sondern eine, die als „Leben“ jeder Bewusstseinsäußerung vorgängig ist, daher selbst einer Betrachtung nicht mehr unterzogen und so recht willkürlich gedeutet wird.17 König sieht darin ein verfremdendes Umdeuten des Marxismus, der von jenem abhängig bleibt, ihn dabei aber sinnentleert.18 16 Heidegger wiederhole „die Position der ‚Identitätsphilosophie’ [...], die Hegel bereits in der ‚Phänomenologie’ überwunden hatte. So weit geht bei Heidegger das Bestreben nach Unterdrückung alles dialektischen Übergangs [...], dass schließlich auch der Tod für ihn kein anderes oder Negierendes mehr ist“ (65, cf. Sternberger 1934). 17 „Die Aussonderung der Einzelwissenschaften der Gesellschaft vollzog sich demnach nicht durch einen Kunstgriff des theoretischen Verstandes [...] das Leben selber vollbrachte sie“ (Dilthey GS I, 39; König 1937, 28 f). Von ihr will Freyer die „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“ nochmals abheben, indem er selbst den Geistes-, d.h. für ihn den Logoswissenschaften „zeitlos gültige Normen“ und damit ein „völlig lebensfremdes Schema“ unterschiebt (86); eine geistig-antigeistige Stoßrichtung, die prominent auch Ludwig Klages (1929) vertrat. 18 „An die Stelle einer echten Krise rückt in seiner [Freyers, CH] Theorie der blasse Begriff der historischen Existenz. So wird zwar für die Wissenschaft das Ausgehen vom Gegenwartsstandort gerettet, aber die akute Krisenphilosophie verdünnt, und damit ordnet sich Freyer ein in den philosophischen Abstraktionsprozess, den wir durch die äußersten Pole von Marx zu Heidegger zu umreißen suchten“ (König 1937, 94; Hvg. CH – daher der Titel zu 2.5).

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Wenn die derart umgedeutete Wissenschaft das zu Untersuchende als immer schon bekannt voraussetzt, ist sie gerade keine Wissenschaft mehr. Das tut sie dann, wenn sie den Gegenstand als wesensgleich mit dem Untersuchenden selbst betrachtet, als im eigenen Sein fundiert. Eine solche Sicht findet König exemplarisch bei Dilthey, Heidegger und Freyer.19 (Doch sie stehen nicht allein.) Es fehlt die für jede Wissenschaft unverzichtbare Distanznahme vom Objekt, ja überhaupt die Anerkenntnis eines Objektes als Objekt (105). Es ist nach König, der hiermit eine Grundeinsicht der frühen Soziologie der „Distanz“ wiedergibt, nicht von Vorteil, den Gegenstand (102) zu ethisieren (33), da er so gerade nicht erkannt wird. Wenn nämlich gilt: „Das, was ist, ist das, was wir wollen“ (33), dann gibt es für die Philosophie überhaupt nichts mehr (132): weder eine vorausgesetzte Welt (131), noch die Vergangenheit (106), in der man sich einrichten, noch Prinzipien, nach denen man sich ausrichten könnte (133).20 Der Subjektivismus der lebensphilosophischen Wissenschaftsbegründung, der die Marx’sche Krisenphilosophie formal übernommen habe, ohne deren materiales Fundament in den „positiven Wissenschaften“ zu beachten (95),21 erzeuge so einen Nihilismus. Von der „absoluten Seinsleere“ (134) gehe innerhalb der Theorien ein kompensatorischer „Primat des Politischen“ (131) aus. Diese Philosophie verfalle zwangsläufig in einen aktivistischen Gestus, der sich allerdings beschränke auf die „Biertischpolitik“ (129) der reinen Selbstbehauptung.22 Die Suche nach dem „Tatbeweis“ (Fichte) sei eine Gemeinsamkeit zwischen revolutionären Sozialisten wie Sorel und den damaligen Nationalsozialisten Freyer und Heidegger (195, Gehlen sprach vom „Tatbeweis des Nationalsozialismus“, Rügemer 1979, 88). Der durch den Idealismus induzierte Nihilismus erzeuge einen buchstäblich „haltlosen“ politischen Voluntarismus. Königs Punkte lassen sich auf die folgen-

19 „Leben erfasst hier Leben“ (Dilthey, GS VII, 136; König 1937, 54). Heidegger habe „den Leitfaden alles [!] philosophischen Fragens dort festgemacht [...] , woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt“ (55; Heidegger 1927, 38). „Hier wird das Licht der Erkenntnis, scheinwerferhaft, auf ein Geschehen geworfen, dem der Erkennende selbst [...] existentiell angehört“. In der Soziologie „finden wir immer uns selbst“ (Freyer 1930, 82 f.; König 1937, 31). 20 „Der Weg zur Praxis geht also nicht auf dem Umweg über die ‚reine’ Theorie, wie es die ‚Soziologie der Distanz’ will, vielmehr trägt die Soziologie die Möglichkeit des Praktischwerdens ihrer ganzen Struktur nach schon in sich, indem sie ihren Ausgang nimmt vom Wollen und Wirken des realen sozialen Geschehens“ (König 1937, 50; nach Dunkmann 1929; zum „Schluss vom Wollen aufs Sein“ auch Lübbe 1963, 184, zur „Fichte-Renaissance“ a.O., 199). 21 König hält den „wissenschaftlichen“ Teil des Marxismus für widerlegt (König 1937, 94). Für die Diagnose der Vererbung formaler Strukturen ohne deren Inhalt ist das unerheblich. „Die Krise wird verharmlost, indem sie ihrer Spitze beraubt wird; zugleich wird aus der dabei als Resultat erhaltenen Bewegungsform des modernen Lebens ein allgemeines Erklärungsprinzip [...] gemacht.“ Erst dies sei „die bürgerliche Repräsentationsform des Marxismus“ (95). 22 Alles „versinkt in einem [...] Brei des ziellosen Wollens“ (1937, 135; Löwith 1935).

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den Kurzformeln bringen, die in der Folge an Rudolf Eucken, Georg Lukács, Martin Heidegger und Niklas Luhmann überprüft werden: 1. Sozialphilosophie als verfremdende Reaktion auf den Marxismus 2. Als Verfremdung von Marx bleibt die Sozialphilosophie Marx verhaftet 3. Herkunft aus einer Hegeldeutung, die um das Nichtidentische kürzt 4. Umkehr der idealistischen Identitätsphilosophie in eine existentialistische 5. Kurzschluss von Genesis auf Seinsart, von Denken auf Sein 6. Problematisierung der Theorie in toto, folgend eine Krise der Philosophie 7. Verlust der Gegenständlichkeit und des Charakters der Wissenschaftlichkeit 8. Stattdessen eine leere ‚Politik’ der Identität und Selbstbehauptung

Die hier kurz vorgestellte Diagnose von König kann noch plausibler gemacht werden, indem sie philosophiehistorisch etwas unterfüttert wird. Das kann hier nur kursorisch geschehen. Es gilt vor allem, die Herkunft der Begriffe und der Denkarten des „Idealismus“ und der „Identitätsphilosophie“ anzuzeigen. Dies ist nötig, weil sich insbesondere die Rolle Hegels auch für das nachMarx’sche deutsche Denken noch als eine bis heute äußerst zentrale herausstellen wird.

2.5.2 Philosophiehistorische Vergegenwärtigung des Idealismus „Es muss eine wahrhafte Totalität geben, in der der Gegensatz von Denken und Sein aufgehoben ist.“ (Hermann Schwarz)

Der Einfluss Fichtes Wenn bei König von „Idealismus“ die Rede ist, so ist damit primär die erkenntnistheoretische Vorstellung gemeint, Gegenstände des Bewusstseins seien von diesem selbst konstituiert. Aus der richtigen Einsicht, dass der Zugang zu Dingen in der Welt nur über das Bewusstsein möglich sei, wird hier genetisch geschlossen auf die Aussage, dass die Gegenstände auch vom Bewusstsein stammen – auf eine letztlich ontologische These. Sie geht auf Fichte zurück.23 Wird, wie bei ihm, das Gedachte vom Denkenden erzeugt, sind beide identisch – daher der Titel „Identitätsphilosophie“.24 Königs Analyse hat durchaus histori23 Fichte folgert nicht, sondern setzt die Aussagen, dass „A in dem Ich, und durch das Ich gesetzt“ sei, einfach gleich (1794, 14). Der Idealismus steckt schon in den Voraussetzungen (Habermas 1968, 21). Dieser ‚Schluss’ zeigt sich später noch deutlicher: kein Ding „kann etwas anderes sein [!], als ein im Ich Gesetztes. (...) Für alles mögliche übrige [...] muss gezeigt werden, dass aus dem Ich Realität darauf übertragen werde“ (1794, 19). „Das Ich der ‚Wissenschaftslehre’ schillert ununterbrochen zwischen einer bloß erkenntnistheoretischen (und zwar subjektivistischen) Verhaltensweise und einem Prinzip der objektiven Wirklichkeit“ (Lukács 1954, 109. Nach Lask 1902, 80 ff., 99 hat Fichte diesen „Emanatismus“ später überwunden, cf. Glatz 2001, 235; insgesamt Rohs 1991, Hogrebe 1995, Gamm 1997). 24 Identität meint, dass auch das Nichtich, das „Nichtidentische“ mit dem Ich (Hegels Geist) „identisch“ ist, da es erst durch eine Selbstbegrenzung desselben möglich ist. Identität ist nicht erst bei Hegel, sondern schon bei Fichte „Identität von Identität und

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sche Tiefenschärfe: tatsächlich verschwand das „Nichtidentische“, welches Kant weislich als „x“ eingeführt hatte (KrV, A 250), aus der von Kant ausgehenden philosophischen Reflexion. Das „Ding an sich“, seit je ein Ärgernis, wurde von den Kantianern früh aus der Philosophie entfernt.25 Dies zog den „empirischen Idealismus“ nach sich, den Kant gerade hatte vermeiden wollen.26 Er lässt sich in der Formel verdeutlichen, dass hier die Form gänzlich auf den Inhalt durchschlägt:27 Es gibt hier jenseits der Erkenntnisleistungen kein „etwas“ mehr, auf das sie sich richten, denn auch der Erkenntnisinhalt wird allererst erzeugt – nicht nur der ästhetischen und begrifflichen Form, sondern auch der angeschauten Materie nach.28 Kurzschlüssig wird ein Wissen von der Art der Entstehung der Gedanken über etwas gleichgesetzt mit dem Wissen von den Gegenständen selbst, über die etwas ausgesagt wird. Die Eigenschaft eines Begriffs (er ist dort entstanden) erscheint als Ursache des Begriffenen, aus dem „wo“ wird ein „weil“ (cf. 3.1.5, Fn. 101). Wie in Psychologismus und Lebensphilosophie wird von der Genesis auf die Seinsart fehlgeschlossen. Das ist, als wolle man aufgrund einer Kenntnis der Lage des Gerichtshofes und der zugrunde liegenden Rechtsvorschriften vorhersagen, wer gegen wen bezüglich welchen Streitfalls vor Gericht ziehen wird, und was dabei herauskommt. Diese überfliegende Schlussart von Form auf Inhalt, Ort auf Beschaffenheit, Genesis auf Geltung oder Denken auf Sein ist „spekulativ“. Das Motiv hinter einem solchen Denken ist eine Beruhigung des Gemüts durch theorieimmanente Eindeutigkeit.29 Nichtidentität“, von Subjekt und Objekt: „Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nichtich entgegen“ (Fichte 1794, 30). Die zweite Auflage von 1802 nennt es „Identität des Subjekts, und Objekts: Subjekt-Objekt“ (1794, 18); ein Einfluss der Einheit von Geist und Natur bei Schelling 1800. 25 Ein Ding an sich könne nicht gedacht werden (das ist die Definition des „Dings an sich“, diese Kritik ist also tautologisch), folglich könne es ein solches nicht geben (so etwa Jacobi, Fichte und H. Cohen; cf. Seidel 1972). 26 Kant, KrV A 369 ff. Diesen hatte Kant strengstens vermeiden wollen (KrV B 275; Zeltner 1974). Idealisten wie Schopenhauer oder Heidegger zogen die erste, hierin vagere Ausgabe der KrV vor. Auch Lukács urteilt: „Indem Fichte das Ding an sich Kants aus dem transzendentalen Idealismus entfernte, verwandelte er unmittelbar erkenntnistheoretisch seine Philosophie in einen subjektiven Idealismus“ (1954, 108). 27 „Die Tätigkeit der Form bestimmt die der Materie“ (Fichte 1794, 113). Fichte will diese „idealistische“ Folgerungsart zwar „modifizieren“ (114), kommt aber nicht darüber hinaus – wieder aufgrund seiner Voraussetzungen: „der Ideal- und RealGrund sind Eins und Ebendasselbe“ (115). Auch sein „Realismus“ bleibt idealisch. 28 „Die Wissenschaftslehre leitet sonach, ohne alle Rücksicht auf die Wahrnehmung, a priori ab, was ihr zufolge eben in der Wahrnehmung, also a posteriori, vorkommen soll“ (Fichte, Werke II, 355). Sie „konstruiert das gesamte gemeinsame Bewusstsein aller vernünftigen Wesen schlechthin a priori“ (379). Plessner, der wie viele seiner Generation Fichte verhaftet war (Pietrowicz 1992, 58 f.; cf. Lübbe 1963, 194 ff.; Willms 1966, W. Schrader 1997), greift diesen Gedanken auf wie folgt: „Über sich und seine Sphäre greift das Ich nicht hinaus. Was ihm gegeben ist, ist in ihm gegeben. [...] Die Erscheinung“ ist „dem Inhalt des Bewusstseins äquivalent und [...] mit ihm identisch“ (1928, 49). 29 Schon Spinoza wollte „das Gemüt ganz friedlich“ stimmen (1677, 106; cf. das Motto

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Man kann grob zwei Stile von Philosophie unterscheiden: ein eher szientifischer orientiert sich an der Erkenntnis der realen Welt und wird sich dieser anzuschmiegen suchen, auch auf die Gefahr hin, als Theorie eine unschöne und unabgeschlossene Gestalt zu erhalten.30 Der andere, eher idealistische Stil dagegen versucht primär, ein möglichst abgeschlossenes und konsistentes Bild der Welt zu erhalten: Denken ist hier zuallererst Selbstzweck. Als Vorteil gereicht dieser Denkungsart die Eleganz und Geschlossenheit des Systems, welches sich nun konstruieren lässt, sowie die Suggestion einer Erhabenheit des Subjektes über die Welt.31 Buchstäblich alles lässt sich so als Selbstbewegung der Gedanken darstellen, wie es mustergültig dann Hegel vorführte. Paradoxerweise allerdings wird die erstrebte Eindeutigkeit durch den Idealismus gerade nicht erreicht. Denn werden die beiden Pole Denken und Sein einander zu sehr angenähert, schillert diese „eine Welt“ ständig zwischen Theorie und Realität.32 Schon die frühidealistischen Kantianern meinten dadurch, dass sie das „Ding an sich“ beseitigten, der Wirklichkeit näher zu kommen, sie endlich in Gänze zu erkennen. Die Theorie nämlich war nun vollständig und harmonisch: „Welche Einheit und Vollendung in sich selbst“! (Fichte 1800, 91/Werke II, 256). Tatsächlich aber betrieben sie dadurch die Vollendung des höchst wirklichkeitsfernen Idealismus, der dann mit Schelling und Hegel seinen Siegeszug antrat, und bereiteten damit den darin enthaltenen Nihilismus vor.33 Dieser Idealismus sive zu 3.2). Rothacker definiert dies als „Einheitsforderung“ des Idealismus der Freiheit (mit Dilthey, GS VIII): „Denn der Druck des uns bedrängenden Mannigfaltigen motiviert erst die Forderung der Einheit“, die er als „ethische“ versteht (1926, 138). 30 Man denke an Locke, Hume und – Marx. Rothacker wirft dem „Naturalismus“ vor, er vergesse „vor lauter Mannigfaltigkeit die Einheit“ (1926, 138). Doch selbst Rothackers Naturalismus wird als „Weltanschauung“ konzipiert, die nach einer „letzten Instanz“ sucht (41). Rothackers Unterteilung in „Weltanschauungen“ ist eine Diltheysche Vergeistigung. „In Rothacker findet die irrationalistische, ‚lebensphilosophische’ Tendenz Diltheys ihren stärksten [...] Ausdruck“ (Lehmann 1943, 233). 31 Plessner 1924, 61 nannte als Motiv der „Vergeistigung“ die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Die Individuen meinten sich in ihrer körperlichen Verfasstheit, die es zu überwinden gelten, voneinander abzustoßen und sahen Gemeinschaft nur „im Geisterreich“ möglich. Allerdings verbleibt Plessner 1924 selbst noch innerhalb der Vergeistigung: er beschreibt die soziale Welt seiner Zeit nicht nach realen Gegensätzen, sondern presst sie in das Muster zweier abstrakt ethischer Begriffe – in Tönnies’ Dualismus von „Gemeinschaft und Gesellschaft“. 32 Vgl. Lukács 1954, 109, 332; Taureck 2000, 21 ff. (zu Nietzsche). Dieses Schillern zeigt sich in der Unklarheit über die Referenz von Ausdrücken wie „Sein“ oder „Normativität“: sie bezeichnen sowohl etwas Innertheoretisches (Sein als erstes, allgemeinstes Prädikat; „Normativität“ als Merkmal bestimmter, präskriptiver Sätze) als auch etwas Reales (Sein als das ontisch zugrunde Liegende, das „Normative“ als Gegenstandsgebiet der Ethik, etwa Regelkodexe, Sanktionen etc.). Dieses Schillern begegnet auch in 2.4 und 3.1. 33 Gawoll 1989 zeigt an Fichte, wie ein „notwendiger Realitätsverlust [...] aus dem Konstruktionsidealismus der Vernunft hervorgeht“: „Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben“ (67, nach Fichte, Werke I.6, 251 f.). „Das Bewusstsein des Gegenstandes ist nur ein nicht dafür erkanntes Bewusstsein

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Nihilismus ist nicht auf die Erkenntnistheorie beschränkt, welche ihn nur explizit macht, sondern begegnet auch dort, wo man ihn nicht vermutet: Noch die deutsche Soziologie des 20. Jahrhunderts unterschied selten hinreichend zwischen Theorie und Wirklichkeit; mit der zu erwartenden Konsequenz, dem nihilierenden Gegenstandsverlust.34 Bei dem in Deutschland wirkmächtigsten Identitätsphilosophen, J.G. Fichte, geht das Streben nach Einheit so weit, dass er nicht nur innerhalb der theoretischen Philosophie um die Materie kürzt, sondern auch die Differenz zur praktischen Philosophie einzieht: Erst über die moralische Betätigung bekämen die gedachten Gegenstände objektive Realität.35 Die empirische Welt wird in das System eingeholt als „Material der Pflicht“. Auch die theoretische Philosophie wird moralisiert: sie wird schon im Ansatz vom Willen abhängig gemacht. Der Wille wird allerdings nichts ihm fremdes akzeptieren.36 Das ist ein „spekulativer Primat der praktischen Vernunft“ (Kroner 1921, 362). Dieser Fichteanismus war im Neukantianismus, aber auch darüber hinaus weit verbreitet.37 Im Gegenzug verliert die Moralphilosophie ihren Formameiner Erzeugung einer Vorstellung vom Gegenstande“ (1800, 57/Werke II, 221). Wir „erheben uns aus diesem Nichts [...] lediglich durch unsere Moralität“ (1800, 99/Werke II, 263). Dies, nicht Kants Beschränkung der Reichweite möglicher Erkenntnis, ist die Keimzelle des Nihilismus. Hegel 1802 hat den Fichteanismus und damit Nihilismus perfektioniert (Gawoll 1989, 72). Es ist zwischen zwei entgegengesetzten Nihilismen zu unterscheiden, die von der zugrundegelegten Ontologie abhängen: aus einem platonischem Blickwinkel ist der Verlust der Überwelt ein Nihilismusü – der Vorwurf wird auf Faktenmenschen gemünzt, die die „Ideen“ oder „Werte“ nicht sehen. Vom materialistischen Standpunkt aus ist umgekehrt der Idealist nihilistisch, da er sich über die wirkliche Welt hinwegsetzt. Wem etwa ein Menschenleben nichts gilt, weil er eine Idee umsetzen will, der ist Nihilistw. In diesem Sinne wird der Begriff hier benutzt (cf. W. Neumann 1989, Kähler 1997). Ein interner Widerspruch ist die Gefahr vieler Allgemeinbegriffe, so auch des „Realismus“: wer Begriffsinhalte für real hält, vertritt die entgegengesetzte Position wie jemand, der die Dinge für real hält. Es verwirrt unnötig, beiden Denkarten den Titel „Realismus“ zu geben und dann auf einer abstrakten Ebene zu überlegen, ob dieser oder eher ein „Anti-Realismus“ sinnvoller wäre (C. Wright 1992, Kutschera 1993). 34 S.u., Fn. 89, und 2.4.1, Fn. 31. Ein Anzeichen für diese Verwandtschaft ist es, wenn Lichtblau die frühe deutsche Soziologie ohne Bedenken mit der Systemphilosophie des deutschen Idealismus vergleicht (1997, 69 f.). 35 Auch Kant 1800 hat in seiner Anthropologie – wo es um genetische, nicht um erkenntniskritische Fragen ging – eine pragmatische Perspektive entwickelt. Dies ist aber etwas von der Moral sehr verschiedenes (cf. 3.4.1, Fn. 10). 36 Gadamer zieht diese Identitätsphilosophie unfreiwillig folgerichtig ins Xenophobische: „Die Sinngebilde, denen wir in den Geisteswissenschaften begegnen, [...] lassen sich auf letzte Einheiten des im Bewusstsein Gegebenen zurückführen, die selber nichts Fremdes mehr enthalten“ (1960, 71). Hier wird ein ideologisches Exklusionskriterium expliziert: nichts anderes soll betrachtet werden als das, was wir schon wissen oder wissen wollen (eine „Erkenntnis des Erkannten“, Rodi 1990). In dieser Selbstbestätigung der Gruppe geht es nur um uns selbst. Die Konsequenz eines Nationalismus in der Wissenschaft zog schon Fichte (1806; s.o., Fn. 227). 37 Neben Riehl, der am „Ding an sich“ festhielt, lehnte einzig Lask den „Vorrang des Ethischen im Theoretischen“ ab (Lask 1923 I, 349). Nach Riehl und Lask näherte

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lismus, da sie sich ihre Gegenstände nun selbst gibt; sogar Gott wird hier wieder „denkbar“ – auch dies etwas, was die Erbauer philosophischer Systeme erfreute. Es gibt in diesem Ansatz für die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit somit nur eine „Einheitsphilosophie“ (Kodalle 1998). Damit ist er nicht nur ontologisch eine Identitätsphilosophie, sondern auch methoden-monistisch.38

Der Einfluss Nietzsches Doch ein solcher Monismus hat seine Tücken. Denn den idealistischen Monismus, der ohnehin zwischen Theorie und Wirklichkeit oszilliert, kann man leicht vom Kopf auf die Füße stellen (wie es schon der späte Schelling versuchte). So erhielt man einen monistischen Naturalismus.39 In ihm hat nunmehr die „Natur“ den Primat und der „Geist“ das seinsmäßige Nachsehen, beispielsweise bei Nietzsche und Haeckel, im Kantianismus bei Vaihinger oder Lange. Der Monismus ist also auf zwei Arten möglich: als Monismus des Geistes, oder als Monismus der Materie – als bloße Umkehrung.40 (Die Brücke ist der „Wille“, der bei Fichte und Nietzsche an erster Stelle steht). Da inhaltlich je eine Seite das Nachsehen hat, kann ein Monismus den anderen provozieren.41 Methodisch liegt in beiden Fällen ein Idealismus vor: ausgehend von einem Prinzip (ob als Natur oder Geist, als real oder „gedacht“ gedacht), wird alles weitere aus diesem abgeleitet. Nietzsches reduktiver Naturalismus wurde als „Ideasich erst wieder Adorno dem nichtidentischen „Ding an sich“, ohne dies allerdings so zu verstehen. Lübbe 1963 und Willms 1966 sehen den Einfluss Fichtes eher in der politischen Philosophie. Zu Rickerts Fichtebezug Rickert 1923, 1938, auch Windelband 1905, Schrader 1997, Fulda 1999. 38 Gawoll findet einen solchen „Monismus der Methode“ schon bei Fichte (1989, 59). 39 Der Naturalismus ist nicht mit dem älteren Materialismus gleichzusetzen, der seinsmäßige Unterschiede zwischen Geist und Natur und die unterschiedlichen philosophischen Methoden nicht zwangsläufig leugnete, sondern die Theologie als Lehre einer Überwelt bekämpfte, die sich in die Sinnenwelt zu Unrecht einmische. Kant wurde von den Idealisten wenig beachtet – gerade solche „Systeme“ wollte er ja verunmöglichen (KrV A 260 ff.; 369 ff.; B 275 ff.). 40 „Beide Theorien operieren [...] nach demselben Prinzip. Sie setzen eine Sphäre, einmal die physische, das andere Mal die spirituelle absolut und machen jeweils die andere Sphäre von ihr abhängig“ (Plessner 1928, 5; cf. Dilthey GS V, 346 ff.). Heidegger bezichtigte Nietzsche einer „Umdrehung des Platonismus” (GA 6.1, 153; GA 43). Auch seine pragmatistische Überwindung hatte der Idealismus schon selbst antizipiert: Fichte sprach im Zentrum seiner Theorie von „Tathandlungen“ („Wenn ich handeln werde, so werde ich ohne Zweifel wissen, dass ich handle“, so Fichte 1800, 85/Werke II, 249. Marx bemerkte darum: „die tätige Seite“ wurde „vom Idealismus entwickelt“, MEW 3, 533). Der Pragmatismus verbleibt so innerhalb des idealistischen Grundansatzes (dazu in 3.4). 41 Wie etwa in Jena um 1900 (Kodalle 2000): Haeckels Monismus und Euckens Geistphilosophie (2.5.3) sind als Gegenentwürfe zu verstehen (Lübbe 1963, 177). Schon der naturalistische Determinismus im Kautskyanismus war eine bloße Umkehrung des Idealismus: “The language of determination and even more of determinism was inherited from idealist and especially theological accounts of the world and man” (Williams 1980, 31, cf. Coletti 1977).

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lismus“ begrüßt (Lichtblau 1997, 74): auch sein Denken hatte eine top-downStruktur und mündete zuletzt in Ethik. Die Popularität Nietzsches war für die Entwicklung der Sozialphilosophie überaus zentral.42 So wird der Begriff „Sozialphilosophie“ erst in Verbindung mit Nietzsche populär (Adler 1891, Winterfeld 1909, Brose 1990). Für die damaligen Gelehrten stellte das „Erlebnis Nietzsches“43 meist ein bedeutenderes Ereignis dar als eine etwaige Marxlektüre. So kommt in Webers religionssoziologischen „Zwischenbetrachtungen“ unverhohlen eine nietzscheanische Geschichtsphilosophie zum Ausdruck: Der Preis für die allenthalben um sich greifende Rationalisierung sei die unbarmherzige „Entzauberung“ aller Lebensbereiche (1920, 262, 571). Sie werde in ein „stahlhartes Gehäuse“ führen.44 Diese Entzauberungs- und Rationalisierungsthese gehört seither wie Nietzsches Verfallstheorien zum Fundus der Sozialphilosophie. Es waren also bestimmte Philosopheme, die bei der Rephilosophisierung der Soziologie vorherrschten – vor allem solche von Nietzsche und Fichte.45 42 Zu Weber Bendix 1964 und Hennis 1987, für die deutsche Soziologie insgesamt Baier 1981, Rath 1987, Brose 1991, Schluchter 1996, 166 ff.; Lichtblau 1984 und 1997, 77-177, D.Kim 1999, Ester 2001 (cf. 2.4, Fn. 8 und 141). „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, dass er gewichtigste Teile seiner Arbeit nicht leisten könnte, ohne .. diese beiden [...] , beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt“ (Weber, nach Baumgarten 1964, 554 f.; Gneuss 1987, 102, 294). Nietzsche verschob den Fokus der Sozialphilosophie von der Erklärung sozialer Prozesse zu einer ästhetischen Bewertung derselben. Positivistische Soziologie wie Sozialismus bewertete er negativ, da sie die elitären Grundlagen der „Kultur“ zu untergraben drohten (unter Ausblendung des Kapitalismus, vgl. Lukács 1954, 252, 265, 283). Dabei fiel der Terminus „Werturteil“ („Unsere Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent – er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!“ Nietzsche 1888, 139; siehe das Motto zu 2.6.3). In der Einordnung Nietzsches dominieren bis heute Geschmacksurteile (dazu Cancik, Riedel und Taureck 2000). Doch seine Ablehnung von Sozialismus und Soziologie ist kaum zu bestreiten – und gerade darin bestand sein Einfluss auf die Soziologie. Lichtblau 1997 und Kruse 1999 begrüßen diese Entwicklung, da sie als Alternative nur einen verkürzenden Positivismus sehen. Das Aufstellen dieser Alternative zeigt den Gegenstandsverlust der Soziologie an (2.4.1). 43 Ein Ausdruck von Thomas Mann (1986, 283; vgl. Bloch 1906). „Der Grundfehler, den der Marxismus und Marx selbst begeht, besteht darin, die Dekadenz als eine Form des Kapitalismus, statt den Kapitalismus als eine Form der Dekadenz zu betrachten“ (H. Fischer 1932, 31). Nach Levenstein 1914 hat auch das Leseverhalten der Arbeiter Nietzsche bevorzugt. Allerdings überzeugt die Auffassung, Nietzsche habe lediglich den Bürokratismus der Sozialdemokratie, nicht aber den Sozialismus abgelehnt, nicht (Riedel 2000, 54-68; vgl. Rentsch 2000a). Zur marxistischen Nietzschedeutung auch Lukács 1954, 244-317; Gedö 1991, Harich 1994. 44 Weber 1920, 3, 203 f.; zu Nietzsche 204, 241; vgl. Bolz 1989; 2.4.6. Zwar galt auch Marx aus dieser Sicht als „Geschichtsphilosoph“, aber als einer mit begrenzter Perspektive. A. Salomon nannte Weber den „bürgerlichen Marx“. 45 An der Wiege des Terminus „Sozialphilosophie“ steht mit M. Hess 1843 ein Fichteaner (Röttgers 1995, 1217; Lukács 1968a, 36 und 647; MEW 3, 472; Lehmann

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Sie bilden die beiden Pole des langlebigen Deutschen Idealismus, der die Theoretisierung der Gesellschaft in eine „normative Sozialphilosophie“ aufhob. Sie verbleibt bis heute in prekärer „Doppeldeutigkeit“ von Analyse und Ethik (Röttgers 1995, 1219, 1222), ohne eines davon richtig zu sein. Sie vergeistigt die Phänomene und lädt die Theorie unkontrolliert moralisch auf. Wer die Konsequenzen dieser Art zu denken skeptisch beurteilt, ist noch kein Amoralist. Der Vorteil der theoretischen Einheitlichkeit ist erkauft durch den Nachteil, dass der „Rest“, also das, was in solch apriorischen Konstruktionen nicht aufgeht (das ist aufgrund der Begrenztheit jeder Einzelperspektive eine Vielzahl von Sachverhalten), theoretisch entweder entfällt oder in eine residuale Seinsregion geschoben wird. Daher die Bezeichnung „Reduktionismus“. Praktisch läuft der Rest Gefahr, von so Denkenden verkannt oder überrollt zu werden („die eine [Welt] muss die andere unterwerfen“, Eucken 1896, 29; 2.5.3).46

Der Einfluss Hegels „Die Vernunft ist negativ und dialektisch, weil sie die Bestimmungen des Verstandes in nichts auflöst.“ (Hegel: Logik, Werke 5, 16)

Der geläufige deutsche Einwand darauf ist es nun, auf Hegel zu verweisen als denjenigen, der diese Partikularität aufgehoben habe dadurch, dass er zur philosophischen Totalitätsbetrachtung durchgestoßen sei. Tatsächlich hat Hegel einen Standpunkt erarbeitet, von dem aus sich jede bisherige Weltsicht integrieren und interpretieren ließ. Insbesondere die Entzweiung in eine formale Philosophie und ein unbegreifbares Material,47 zwischen einer äußerlichen, fremden Welt und ei1931). Noch die „Sozialphilosophie“ um 1900 war von Fichte geprägt (Schrader 1997). Röttgers bemerkt eine „elementare Doppeldeutigkeit von Deskriptivität und Normativität“ (1219). Simmels „Social-Philosophie“ (1894) ist ein Anhang zur „Moralwissenschaft“; Stammler 1896 argumentiert präskriptiv. Zur Vorherrschaft der Philosophie über die Forschung Horkheimer 1928, 1931 (2.6.1). Affirmativ von „Sozialphilosophie“ sprechen noch Honneth (1990, 1994, 2000), Wirkus 1996, Gamm 2000. 46 „Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die in ihrem Willensfanatismus weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind; denn sie leben im Geist [...] solche Transzendental-Idealisten wären bei einer gesellschaftlichen Umwälzung sogar noch unbeugsamer als die ersten Christen” (Heine 1835, 143). Dies war auch das Ergebnis einiger ‚Faschismusanalysen’, die ihn primär in einer Art zu denken verorten wollten (Glucksmann 1978a). Sie sind zwar verkürzt, aber nicht ganz falsch. Die postmoderne Verabschiedung der Theorie überhaupt bezieht ihre Plausibilität aus philosophisierenden Verfallsformen der Theoretisierung, die sie nicht als solche durchschaut, sondern als Normalfall deutet und auf Kant, Hegel und Marx zurückprojiziert. Darin ähneln sie der „existentialistischen Soziologie“. Einen ähnlichen Vergleich zogen auch Habermas 1985 und Frank 1993, 119 ff. 47 Unter das zu begreifendes „Material“, nach Kant sind das die konkreten, vom Verstand unableitbaren Anschauungen, fällt bei Hegel ganz anderes: das Ding an sich, das Sollen, und als das „Unendliche“ auch Gott selbst. Kant habe all diese schlicht unbearbeitet gelassen.

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ner auf das Subjektive beschränkten Philosophie glaubte Hegel damit überwinden zu können. Solch ein Standpunkt ist philosophisch äußerst attraktiv – zumindest solange man von dem idealistischen Stil des Philosophierens ausgeht, dem es auf solche Totaldeutungen ankommt.48 Die knifflige Frage ist allerdings, wie zu einem solchen absoluten Standpunkt zu gelangen sei. Auch Hegels Lösung hatte ja – grob gesprochen – darin bestanden, dass er eine von beiden Seiten verabsolutiert hatte: Obwohl er genau dies Fichte zeitlebens vorhielt, kam er selbst mit dem „absoluten Geist“ letztlich nicht über einen idealistischen Monismus hinweg. Was immer man sonst von Hegel halten mag – sein System wäre anders als idealistisch, also identitätsphilosophisch und methodenmonistisch, nicht einmal im Ansatz möglich gewesen.49 Hegel unterscheidet sich von seinen Vorgängern Fichte und Schelling nicht durch Stil und Absicht seines Philosophierens, sondern durch seine Gründlichkeit und methodische Reflektiertheit. Er besorgte die konkrete und umfassende Ausführung dessen, was Fichte gefordert hatte: die Rückholung alles entfremdeten Nichtichs ins absolute Subjekt (cf. 2.4.6, Fn. 145). Dazu gehörte die Bereitschaft, sich vielerlei Einzelwissen anzueignen (welches gar nicht so „absolut“ ist). Hegels Kenntnis vom Wissen seiner Zeit war enzyklopädisch.50 Die originäre Leistung Hegels war nicht der Durchbruch zum „absoluten Wissen“ (dieses hatte es in Religion und Kunst, auch bei Fichte und Schelling bereits gegeben), sondern die Erarbeitung des Wissens darum, was es eigentlich heißt, dies zu wissen.51 48 Plessner 1928 bringt den Idealstil zum Ausdruck, wenn er fordert, Philosophie müsse, „jene letzte Tiefe der Dinge sichtbar [...] machen, ohne deren Bewusstsein alles menschliche Beginnen ohne Hintergrund und sinnlos bleibt“. Marquard deutet solche Formeln als Schwundstufe der Theodizee (in: Hogrebe 1995, 225 ff.). Ein anderer Versuch der Versöhnung der Monismen war die eklektische Aneinanderreihung in einen ontologischen Stufenbau von Welten, in den Seinsregionen der Neukantianer oder im Dualismus von Technik und Moral (2.4.1). Statt Kants zwei Perspektiven auf eine Welt gibt es nun zwei Welten (Schelling 1800; Habermas 1981b I, 79 ff.). 49 „Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus“ (Werke 5, 172). Der Unterschied zwischen Hegel und Fichte liegt in der Weise der Ausführung des gemeinsamen Programms. Auch Hegel hielt „das Absolute“ für nötig für jede Erkenntnis, nur hielt er die Erkenntnistheorie dabei für bedeutungslos (Hogrebe 1987, 90 – Hegel 1807, 71 nennt sie einen „Betrug“). So blieb er erkenntnistheoretisch zeitlebens Fichteaner, wie seine Behandlungsart des Dings an sich zeigt: sie ist fichteanisch – es gibt für Hegel kein „Ding an sich“: „Die Vernunft ist die Gewissheit des Bewusstseins, alle Realität zu sein“ (Hegel 1807, 179; cf, 100 ff.; 1802, 309; vgl. für die Moralphilosophie Wildt 1982). Die Empörung Hegels gegenüber Kant rührte ja daher, dass dieser als Philosoph der „Endlichkeit“ nicht „das Erkennen des Absoluten“ zu vertreten wage (1802, 303; vgl. Pascher 1997, 24; siehe auch 2.1.5, Fn. 84). 50 „Das Wahre ist das Ganze“, das Absolute „wesentlich Resultat“ (Hegel 1807, 24). 51 König urteilt darüber: „Am Ende steht nur, was am Anfang schon war. [...] Der Weg vom Anfang zum Ende (und damit zum Ganzen) führt jedoch bei Hegel durch die Vermittlung der Dialektik. Und die Identität von Subjekt und Objekt ist keine unmittelbare, bewusstlose, sondern eine ‚durch die Reflexion im Anderssein in sich selbst’ vermittelte, eine Identität also, welche die Verschiedenheit und die Negativität in sich aufgenommen hat“ (1937, 64).

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Dazu gehört die Einsicht, dass mit der Erlangung des absoluten Standpunktes das eigentliche Wissen nicht vermehrt wird. Hegel machte es den Philosophen schwer. Es gibt bei ihm keinen privilegierten Zugang zum Absoluten: der „absolute Geist“ ist stets das Ganze, er kann daher unmöglich von einer vereinzelten Partei usurpiert werden. Es gibt auch keinen unmittelbaren Zugang zu diesem Standpunkt, sondern es bedarf des mühevollen Durchgangs durch jeden Einwand und Zweifel. Zudem bleibt das vom Geist Verarbeitete in Kraft: der „Schmerz“ (Hegel 1807, 24) bleibt bestehen, er wird „aufgehoben“ nur insofern, als er in eine Sinntotalität eingearbeitet wird – keinesfalls ist man ihn wirklich los. Selbst Hegel brauchte für diese Einsichten geraume Zeit – sicher war er 1801 zu diesem Standpunkt noch nicht durchgedrungen (Gawoll 1989, 72, cf. Siep 2000). Da der „absolute Standpunkt“ nur als nachträglicher möglich ist,52 konnten sich Hegels eigene Positionen nicht lange halten – schon deswegen, weil sich die beschriebene Welt und das Wissen über diese schnell veränderten. Als ein seriöser Denker nahm Hegel nur seriöse Gedanken über die Welt in sein System auf (eine andere Frage ist es, an welche Stelle er sie dann setzte). Er besitzt aber keine Kriterien mehr, um zu unterscheiden, welche Gedanken eigentlich seriös sind.53 Die Plausibilität des Systems ist abhängig von der Aktualität der Ausflüge in die Normalwissenschaft, mit denen es seine Relevanz zu illustrieren sucht. Nicht zuletzt darum verlor Hegels System nach seinem Tod schlagartig an Überzeugungskraft. Ihr Verschwinden riss in der deutschen Philosophie eine Lücke. Das schwierige Erbe bestand in Hegels Anspruch auf Totalität. Zu behaupten, eine solche habe es zum Zeitpunkt x gegeben (bei Hölderlin, den „Griechen“, den Vorsokratikern oder ähnlichem), imaginiert melancholisch eine ur-idealistische Position. Selbst sie aber hätte bereits einen uneingeholten Rest verdrängen müssen (so war ein blinder Fleck an Aristoteles die vorausgesetzte Sklavenarbeit, bei Hegel die spekulative „Aufhebung“ der bürgerlichen Gesellschaf). Die Frage nach Hegel war daher, ob und wie der Anspruch überhaupt noch zu halten sei. Die Junghegelianer glaubten zwar noch daran (sonst hätten sie die vollendete Theorie nicht in die Wirklichkeit übertragen, „verwirklichen“ wollen können, wie Marx ihnen vorwarf), konnten ihn aber in der Theorie nicht mehr einlösen.54 Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Überwindung der „Subjekt/Objekt-Spaltung“ das große Thema war, kam auch Hegel wieder in Mode.55. 52 Als Reflexionsbestimmung dient er nicht zum regulativen Gebrauch, sondern nur zur „ästhetischen Synthesis“ einer resumierenden Betrachtung. „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (Hegel 1821, 28). 53 Vgl. MEW 2, 63. So entsteht die Forderung nach „intellektueller Aufrichtigkeit“ (Weber 1919, 443; Habermas 1981b I, 66, vgl. Nietzsche und Jaspers): man hat keinen Außenhalt und glaubt, nur aufgrund moralischer Selbstverpflichtung oder des Gruppendrucks der Wissenschaftsgemeinschaft ‚objektiv’ zu sein. Gerade diese „Moral“ einer bestimmten Gruppe zu einer bestimmten Zeit lässt sich mit Marx jedoch sehr wohl theoretisch einholen. 54 Die philosophischen Richtungen, die sich fälschlich als antiphilosophisch verstanden (Schnädelbach 1983, 21; Landmann 1977, 11), streuten sich breit. Schon die Jung-

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Die Weltanschauungs- und Lebensphilosophie „Du deutest die neue Auffassung als das Sehen eines neuen Gegenstands.“ (Wittgenstein, PhU 401)

Der nächste größere Schulzusammenhang, der sich nach Hegel einstellte, der Neukantianismus, zeichnete sich anfangs durch die Verneinung des philosophischen Totalitätsanspruches aus.56 Allerdings entstand um die Jahrhundertwende gerade in seinem Rahmen, in erneuter Anknüpfung an Hegel, die Suche nach einer neuen philosophischen „Weltanschauung“.57 König wollte darin eine Reaktion auf den Marxismus sehen. Ist diese Einschätzung plausibel? In der anfänglichen Ausrichtung des Neukantianismus an den physikalischen Wissenschaften ist eine Reaktion auf politische Ereignisse schwer nachzuweisen.58 Anzeichen eines veritablen Einflusses sind erst in der Zeit zu erkennen, als die Sozialdemokratie ein Machtfaktor im Deutschen Reich geworden war: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neigte man wieder zu einem Idealismus: Eduard von Hartmann, Philipp Mainländer oder Eugen Dühring zeigten ein Bedürfnis nach Weltorientierung im großen Stil. Auch der wissenschaftszentrierte Neukantianismus, der positivistisch angefangen hatte, macht eine Wende zum Idealismus durch (Köhnke 1986, 257, 272 f., 404 ff.; Pascher 1997, 46 ff.; Kittsteiner 2001, F.J. Schmidt 1908). Für diese kollektive Sinnsuche sind verschiedene Erklärungen angeboten worden, etwa die Inhaltslosigkeit des deutschen Reiches, welches allein durch Macht geeint worden sei, ohne seinen Untertanen „geistige“ Identifikationsmöglichkeiten zu bieten.59 Auch wenn dies sicher nicht der einzige Faktor ist, kann man die philosophische Suche nach Weltanschauung auch als eine auf den Marxismus reagierende hegelianer griffen auf Fichte zurück (Hess 1843; cf. Löwith 1941, 113; Hogrebe 1987, 112; insgesamt McLellan 1969, Essbach 1988, Draper 1990, Fellmann 1996). 55 Prominent bei Dilthey 1906, Nohl 1907, Windelband 1910, Levy 1927; vgl. Topitsch 1967, Kiesewetter 1974 und 1995, Helferich 1979, 151 ff., Losurdo 1993. Siehe noch das Hegelverständnis Adornos (cf. 2.5.7, 2.6.3). Es ging um die „Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt, von der Max Weber ausgegangen war“ (Jonas 1968 II, 213). Zu Analysen verschiedener „Subjekt-Objekt-Beziehungen“ siehe Lukács 1916 (in der Ethik geben es ein „Vernichten des Objekts“, 149), Mannheim 1921, 205 ff. etc.; vgl. Petrowicz 1992, 45 ff. 56 Köhnke 1986 stellt den Neukantianismus daher schon im Titel zwischen Idealismus und Positivismus. „Das Streben nach ausschließenden Prinzipien, welche nicht anders sein können (d.h. nach den Machtsprüchen der Systemstifter), ist ganz aufzugeben, und dafür vollständig darzulegen, was wirklich ist“ (Beneke 1832, 88; nach Köhnke 1986, 82). A.F. Lange verkündete 1858 brieflich: „Ich halte jede Art von Metaphysik für eine Art von Wahnsinn, von nur ästhetischer und subjektiver Berechtigung“ (nach Köhnke 1986, 233). 57 Siehe Griffioen 1998, Glatz 2001, 51-154; auch Rohbeck 1999. 58 Mit Ausnahme von F.A. Lange 1866, 1870, wo Marx aber nur am Rande genannt wird. Lange verstarb zu früh, um noch Dispute mit Sozialdemokraten zu führen. 59 Es fehle eine „gefestigte nationale Staatsidee“ (Plessner 1959, 192; Lübbe 1963, 180; Hermand 1977, 77) – eine nur geforderte symbolische Vergemeinschaftung.

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Tendenz betrachten, insofern hier erstmals Alternativen zur inzwischen populären materialistischen Weltsicht erarbeitet werden.60 „Materialismus“ verstand man dabei so, als behaupte dieser, es gäbe keine anderen als materielle Faktoren in Geschichte und Politik, was zu einer völligen Sinnleere führen müsse.61 Vor allem das im jungen Reich hochgeachtete Staatsethos erschien so gefährdet (D. Schulz 2003, 180 ff.). Dass die Sozialdemokratie einer großer Angstgegner war, ist evident: überdeutlich ist etwa der Bezug der sich neu formierenden Geisteswissenschaften auf die durch die Arbeiterbewegung hervorgerufenen gesellschaftlichen Verwerfungen.62 Bei der Suche nach einer neuen Weltanschauung ist also nicht die Frage, ob es eine geschlossene und für alle gleichermaßen verbindliche Weltanschauung zuvor jemals gegeben hat – bei den unüberbrückbaren Klassenschranken in „traditionalen“ Gesellschaften ist dies auch kaum denkbar; zumindest wenn man nicht in eine mythische Frühe zurück will. Es war vielmehr die zeitgenössische Arbeiterbewegung, die eine solche verzeichnen konnte (2.1.4). Der Entwurf einer anderen, dem Materialismus widersprechenden „Weltanschauung“ war somit eine implizite funktionale Aufgabe, die die Sozialphilosophie gegenüber dem inzwischen etablierten Marxismus zu lösen hatte.63 60 Nach Jost Hermand „wird das machtpolitische Spannungsfeld der Jahrhundertwende von zwei Polen bestimmt: dem übersteigerten Nationalismus der wilhelminischen Führungsschicht und der ständig wachsenden Arbeiterklasse, die sich in der Sozialdemokratie ihre offizielle Interessenvertretung geschaffen hatte“ (1977, 7). Nach A. Weber 1931 habe sich speziell die – von Dilthey beeinflusste – Kultursoziologie „entscheidend auseinanderzusetzen mit der gegenwärtig [...] allein [!] das Feld beherrschenden materialistischen Geschichtsauffassung“ (292). 61 Die Unterscheidung von Materialismus und Idealismus ist sicher nicht ‚die’ Grundfrage der Philosophie (Joas 1992, 229). Damals wurde diese Frage allerdings überaus ernst genommen (Köhnke 1986, 257 ff.). Noch in der heutigen Analytischen Philosophie streiten Realismus und Konstruktivismus (C. Wright 1992, Hügli 1993 II; Kutschera 1993). „Materialismus“ wurde damals vage und vergeistigt verstanden, als Weltanschauung oder Richtung der Wissenschaft („Positivismus – Psychologismus – Historismus“, Wuchterl 1995, 17, 70; cf. Lübbe 1963, 124 ff.; Ringer 1969, 202 f.; auch Lange 1865, Schwarz 1912). Doch selbst Rothacker sah dahinter „die Begründer der radikalen Partei“ (1926, 44). Ähnlich sah Heimann im Positivismus die „Haltung des Arbeiters“ (1929, 55). 62 Ursache der Entstehung der Gesellschaftswissenschaft sei „das Wegfallen aller Hemmungsapparate zwischen Staatsmacht und arbeitender Klasse“ nach 1789 (Dilthey GS V, 32) und „das rapide Anwachsen der Arbeitermassen in der modernen Industrie- und Verkehrswirtschaft; zugleich stellen sich die Arbeiter mehr und mehr gegen den Staat und streben nach internationalem Zusammenschluss“ (Dilthey GS I, 83 f.; cf. König 1937, 28). 63 „Für den Politiker eine Lehre! [...] nicht nur naturmächtige Gefühle, sondern auch ein geschlossenes Gedankensystem geben der Sozialdemokratie und dem Ultramontanismus vor den anderen politischen Kräften unserer Zeit ihr Übergewicht“ (Dilthey, GS II, 91, vgl. Schäffle 1885, Eckart 1910, Eucken 1920, Ringer 1969, 53, 133, 202). Dilthey rezensierte schon 1873 Marx’ Kapital. Er kritisierte eine mangelnde Berücksichtigung der „realen Bedürfnisse des Individuums“: Marx verkenne „die

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Allerdings konnte die Lebensphilosophie dadurch, dass sie in Mode kam, gerade das nicht leisten, was sie leisten wollte: eine neue, einheitliche und verbindliche Weltanschauung zu schaffen. Sie konnte vorerst nur die vorhandenen „Weltanschauungen“ sammeln und katalogisieren. Bei Dilthey wie später bei Simmel und Mannheim war dabei das Fichtesche Einheitsmotiv wirksam: durch die Sammlung der verschiedenen Weltanschauungen sollte das ihnen Gemeinsame herausdestilliert werden und darüber eine neue, übergegensätzliche Weltanschauung synthetisiert werden.64 Der Weg zu den Gemeinsamkeiten des weltanschaulichen „Überbaus“ führte für Dilthey über die Betrachtung der fundierenden „Basis“. Allerdings verbauten Diltheys Vorannahmen ihm eine Betrachtung der wirklichen Basis, nämlich den „wirklichen Menschen“ (MEW 1, 384; cf. 241 u.ö.) und ihrer Daseinsbedingungen und Verhältnisse. Denn Dilthey will als „Geisteswissenschaftler“ nichts ungeistiges gelten lassen („Alles ist hier durch geistiges Tun entstanden“, GS VII, 147). Dennoch hat er den Anspruch, eine Totalität zu erfassen und sogar den, eine neue zu gründen. Die gesuchte Weltanschauung sollte sich also durch ihre „Totalität“ auszeichnen, doch es sollte eine Ganzheit sein, die nur „geistig“ und nur individuell war, denn Dilthey ging dabei von dem Bewusstsein aus.65 Das von Dilthey Gesuchte kann also nur eine „geistige Totalität“ sein. Sie kann die Aktorinnenwelt nicht übersteigen, entstammt also der individuellen („Teilnehmer-“)Perspektive, soll aber dennoch alles weitere begründen.66 Als Merktitel für das Gesuchte dient nun der des „Lebens“.

Bedeutung derjenigen geistigen [!] Tätigkeit, welche die Arbeit dem Bedürfnis anpasst: des Handelns“; GS XVII, 186 f., vgl. Orth 1985, 10; in dieser Linie noch Arendt 1960, Habermas 1981b). 64 Diltheys Weltanschauungstypologie (GS VIII) sammelte nur vorhandene Weltanschauungen (Lukács 1954, 344 ff.). Die Absicht solcher Sammlungen war jedoch, eine neue Weltanschauung zu erarbeiten, wie einst Hegel 1807; cf. Jaspers 1919, Spranger 1921, Mannheim 1929, auch unbekanntere Werke wie Hart 1899, Kroner 1914, Schlunk 1922 („Eine Einführung für Suchende“), Heußner 1927, Wenzl 1935 und Wyneken 1940 („Das geistige Erlebnis“, 177 ff.). 65 Wenn es ja eine Bewusstseinsphilosophie im Sinne von Habermas (1981b, 1985, 1989) gab, so kam sie nicht von Kant, sondern von Fichte, und vererbte sich von hier auf Dilthey und Husserl (man denke noch an die Philosophie des Geistes). Dilthey ging es um „den ganzen Umfang des empirischen Bewusstseins“ (GS V, 346, cf. 386 u.ö.). Zwar geht es um das Ganze, doch dies Ganze ist ein individuelles, geistiges: „Dieses Ganze ist das Leben“ (GS V, 200). „Leben ist die innere Beziehung des psychischen Leistungen im Zusammenhang der Person“ (GS V, 408; cf. Bollnow 1936, Lukács 1954, 329 ff.; Ineichen in Bärthlein 1983, Orth 1985). 66 Nur das Geistige und nur eine individuelle Perspektive war angepeilt: „könnte man sich ein einziges auf der Erde hinschreitendes Individuum denken, so würde dieses bei einer für die Entwicklung zureichenden Lebensdauer diese Funktionen (d.h. Kunst, Wissenschaft, Philosophie) aus sich entwickeln“ (Dilthey GS I 422). „Die Diltheysche Wendung besteht nur darin, dass an die Stelle der falschen Abstraktion des bloßen Verstandesgemäßen eine irrationale, angebliche Totalität des gelebten Lebens tritt“ (Lukács 1954, 335). Idealistisch war die Annahme, auf diesem Weg zugleich etwas über die „geschichtliche Wirklichkeit“ auszusagen.

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Leben es ist jedermann intuitiv zugänglich, und begründet und hält auf rätselhafte Weise alles.67 In diesem Sinne ist Dilthey Identitätsphilosoph: hier versteht Leben anderes Leben (GS VII, 136) – wie schon bei Fichte, so sind auch hier „Ich“ und „Nichtich“, Subjekt und Objekt, Leben und Erlebnis letztlich, also seinsmäßig identisch. Wegen der Unabschließbarkeit des idealistischen Monismus schillert dieses „Leben“ beständig zwischen Idealismus und Naturalismus:68 zwar nimmt es die Stelle ein, die bei den Neukantianern das Bewusstsein hatte: es produziert die Welt, und es gibt nur diese eine.69 Nur stellt das Leben nicht nur vor, sondern es „fühlt“ und „will“ auch (GS I, XVIII). Es hat einen biologistischen Beigeschmack.70 Obwohl vom „Geist“ ausgehend, ist die Grenze zum gegenläufigen Monismus fließend, wie an Diltheyschülern wie Spranger und Rothacker oder an Plessner deutlich wird. Noch der Nationalsozialismus verstand sich bekanntlich als „Weltanschauung“.71 67 „Leben ist nun die Grundtatsache, die den Ausgang der Philosophie bilden muss“ (Dilthey GS VII, 359); „hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen“ (GS V, 5). Dies ist „das alte Verfahren, ein Produkt der Abstraktion vom Konkreten zum ontologischen Grund eben dieses Konkreten zu hypostasieren und so als ‚Erklärung’ anzugeben, was in Wirklichkeit bloße Tautologie ist“ (Lübbe 1963, 185) – die „Wohlfeilste Methode, deutsch-tief und spekulativ zu erscheinen“ (MEW 3, 469). Das Gesuchte wurde nicht gefunden. Man erschöpfe sich darin, sich selbst zu fordern – so lange, bis das Modewerden dieses Forderns selbst schon als „Theorie“ aufgefasst wurde (das ist kein seltenes Phänomen, siehe 2.6.1). 68 „Vom Begriff ‚Leben’ als einer umfassenden, Körper und Geist, Kultur und Natur verbindenden Kategorie her ließ sich der Versuch unternehmen, die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden“ (Rehberg 1981, 178; vgl. Plessner 1928, 3). Es schillerte zwischen Subjekt- und Objektnähe (Lukács 1954, 332, 341; Fn. 23, 32), ähnlich wie es heute die „Hybride“ in der Aktor-Netzwerk-Theorie tun. 69 „Durch die Idee der Objektivation erst gewinnen wir einen Einblick in das Wesen des Geschichtlichen. Alles [!] ist hier durch geistiges Tun entstanden und trägt daher den Charakter der Historizität. In die Sinnenwelt selbst ist es verwoben“ (GS VII, 147). „Ehedem suchte man von der Welt aus Leben zu erfassen. Es gibt aber nur den Weg von der Deutung des Lebens zur Welt“ (291). Dilthey teilte die Welt auf „zwischen der dämonischen Kraft des Einzelwesen und der heiligenden, beharrenden Kraft geistiger Formen“ (Hofmannsthal 1911, nach Fellmann 1993, 108). 70 „Trieb, Gefühl, Leidenschaften, Volitionen sind das Zentrale in dem, was wir Leben nennen“ (GS V, XC). Als Urtyp des Lebens galt Dilthey Nietzsches blonde Bestie, der Germane (GS VII, 175; vgl. Rickert 1911). Soviel allerdings verstand man von diesem Leben, dass man es gehörig national aufladen konnte. „Faktizität der Rasse, des Raumes, des Verhältnisses der Gewalten bilden überall die nie zu vergeistigende [!] Grundlage“ (VII, 288). 71 In Hitlers Mein Kampf (München 1942, 315) heißt es: „Ohne Menschen gibt es keine menschliche Idee auf dieser Welt. [...] Bestimmte Ideen sind sogar an bestimmte Menschen gebunden. [...] Gerade dann aber ist doch die Erhaltung dieser bestimmten Rassen und Menschen die Vorbedingung zum Erhalt dieser Ideen“ (nach Hogrebe 1987, 140 f.). „Das Fehlen einer tragenden Weltanschauung [...] hat die politische Schwäche des deutschen Volkes wesentlich mitverursacht. Der Nationalsozialismus hat es als eine seiner Hauptaufgaben angesehen, diesen Schwächezustand zu überwinden. Er verbindet alle Deutschen durch eine einheitliche Weltanschauung“ (Der

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Diltheys Anspruch auf geistige Totalität greift auf einen idealistisch gedeuteten Hegel zurück (GS IV). Wie Fichte und Schlegel hatte auch Hegel bereits vom „Leben“ gesprochen. Wenn sein absoluter Standpunkt jedoch einen Namen bekommt, welcher als Eigenname für eine Entität begriffen wird, mit der man „immer schon“ identisch ist,72 gehen die genuinen Leistungen Hegels gegenüber seinen Vorgängern (und seinen Frühschriften) gerade wieder verloren: Weder ist das Wissen der Zeit tatsächlich im absoluten Standpunkt versammelt, noch ist bewusst, dass das Absolute an diesem Wissen nur ein nachträgliches ist, welches diesem Wissen nichts hinzufügt. Stattdessen wurde unter dem Titel „das Leben“ ein übergreifender Standpunkt aufs Geradewohl beansprucht, gerechtfertigt höchstens mit intensivem „Empfinden“.73 Hierin rächte sich Hegels Subjektivismus. Zwar hatte Hegel nur in begrenzten Fällen etwas „nachgeholfen“, um das System rund zu bekommen.74 Doch da er erkenntnistheoretisch zeitlebens Fichteaner blieb (Fn. 49), war etwas ähnliches fortan prinzipiell möglich: wenn allein die Selbstbewegung der Gedanken über die Welt philosophisch von Interesse ist, gibt es keinen wirklichen Halt in der Außenwelt. Hier lag das Einfallstor für philosophisch weniger disziplinierte Denker, die das, was ihnen richtig erschien, in ihr Surrogatsystem an eine ihnen richtig dünkende Stelle setzen konnten.75 Neue Brockhaus: Allbuch in vier Bänden, Bd. 4, Leipzig 1938, 68 f., zitiert von Rehberg in Rohbeck 1999; vgl. Schwarz 1933; auch 2.4.6 zu Schelsky). 72 Wenn „Leben [...] das von innen bekannte“ ist, „hinter welches nicht zurückgegangen werden kann“ (Dilthey, GS VII, 359), dann gilt: Erkenne dich selbst (Spann 1935). „Eine lebendige Wirklichkeit erkennt sich selbst“ (Freyer 1930, 82). Auch Lukács spricht lebensphilosophisch von der „Selbsterkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft“ (1923, 235; cf. 2.5.4). Schon Hegel begann (Werke 1, 378 u.ö.) und endete mit dem „Leben“ („Die unmittelbare Idee aber ist das Leben“, Logik, Werke 7, 470; cf. Hogrebe 1987, 7). Insofern ist der Hegelbezug der Lebensphilosophie gar nicht so unberechtigt – um so schlimmer für Hegel. 73 Vgl. Simmel 1910 und 1918, Misch 1930, Messer 1931, Lersch 1932, Bollnow 1933, 1936 und 1958, Feifel 1938, Glockner 1938, Lieber 1974, Dahms 1987, Baumgartner o.J., Ebrecht 1991, Fellmann 1993, Albert 1995 und 2000. 74 „Der Übergang der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in den politischen Staat ist also der, dass der Geist jener Sphären, der an sich der Staatsgeist ist, sich nun auch als solcher zu sich verhält […]. Der Übergang wird also nicht aus dem besondern Wesen der Familie etc. und dem besondern Wesen des Staats, sondern aus dem allgemeinen Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit hergeleitet. Es ist ganz derselbe Übergang, der in der Logik aus der Sphäre des Wesens in die Sphäre des Begriffs bewerkstelligt wird. Derselbe Übergang wird in der Naturphilosophie aus der unorganischen Natur in das Leben gemacht. Es sind immer dieselben Kategorien, die bald die Seele für diese, bald für jene Sphäre hergeben“ (MEW 1, 208 f., vgl. Ilting in Riedel 1975). Hegel „entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem [...] in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordenen Denken“, MEW 1, 213). Noch Lask (1902), ein Vorbild für Heidegger und Lukács, lehnte Hegels inhaltliche „Sprünge“ entschieden ab. 75 Szeliga setzte „das Geheimnis“ (MEW 63, 59 ff.); Schopenhauer und Nietzsche den „Willen“, der späte Schelling und Heidegger das unvordenkliche „Seyn“, der Historismus die „Geschichte“ an die Stelle des obersten Prinzips (zur Verwandtschaft des

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Lukács übertrieb also nicht, wenn er darin einen „Irrationalismus“ erblickte. Diese Strömungen selbst lehnten ja die ‚kalte’ wissenschaftliche Rationalität zunehmend ab („Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden“, Dilthey GS VII, 359).76 Man meinte, die Wurzel für die Fehlentwicklungen der modernen Welt in dem objektivierenden Standpunkt der positiven Wissenschaften gefunden zu haben – die sich in Form der Psychologie zudem auf das Terrain der Philosophie wagten (N. Schmidt 1995). Schon in diesem Denkansatz versteckte sich der Subjektivismus: das deutsche Denken unterstellte, dass „die Welt“ (die in den Wissenschaften konstruierte und die vom Menschen erlebte) eine von Denkleistungen konstituierte sei. Folglich galt es einen Standpunkt zu suchen, von welchem aus die Welt wieder als Ganze zu „denken“ sei.77 Misslicherweise lagen diese Überwindungen wieder nur im Subjekt vor. In der Abfolge der Schulen wiederholte sich ein Muster: das Vorgängersystem wird als zu subjektiv befunden und ihm ein objektiveres entgegengesetzt, welches erneut objektivierend überholt wird.78 Heideggers Ontologismus (2.5.5) bildete in dieser Bewegung einen nur vorläufigen Endpunkt – Arendt, Anders, Löwith und Marcuse versuchten ihn an Konkretion zu übertreffen (Rentsch 2001, 215). Doch den Fichteanismus wurde man auf diese Weise nicht los, denn er steckte in den Voraussetzungen.79 Historismus mit Hegel Schnädelbach 1983, 59 ff.); Dilthey das „Leben“, der späte Simmel mit Bergson den „Vitalstrom“, Rathenau und Klages die „Seele“, Lukács das „Klassenbewusstsein“. Noch heutige Narrative der Struktur, des Systems, der Kommunikation oder der Differenz haben eine idealistische top-down Struktur. Die Willkürlichkeit solcher Konstruktionen wird daran deutlich, dass Heidegger in einem späten Seminar, für das Gadamer seine Meisterschüler um sich geschart hatte, sämtliche Deutungen seines Werkes von sich wies. Auch die Auslegung bleibt subjektivistisch, sie legitimiert sich kraft charismatischer Autorität, die nicht übertragbar ist. Hegel, Nietzsche, Heidegger und Luhmann haben statt Schülern nur Epigonen. 76 Selbst Plessner spricht von einer „Befreiung [!] von der Herrschaft der seit der griechischen Antike die Interpretation unseres Denkens, Handelns und Hoffens beherrschten Kategorien“ (1928, 25; vgl. Klages 1929). „Leben“ kann nur dann nicht „vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden“, wenn beide als identisch gesetzt werden. 77 Die Südwestdeutschen übernahmen die „Totalität“, „Geistigkeit“ und „Intuition“ von Dilthey (Windelband 1910, 291; Rickert 1921, 265 ff., 412). Rickert überbaute seiner als ‚seiend’ konstituierten Gegenstandswelt eine ‚geltende’ Wertsphäre und kam so zum „Bewusstsein überhaupt“; Husserls Phänomenologie zergliederte die Erlebnisgehalte, die einer Ausdifferenzierung in eine äußere und eine innere Welt vorauslägen; die Lebensphilosophie wollte diesen Standpunkt im „Erleben“ wiedergewinnen (cf. Lehmann 1943, Hügli 1993, Wuchterl 1995). 78 Dem Eskapismus bei Stirner und Kierkegaard folgte Machs Positivismus, der jedoch weltlos war. Auf die Suche nach einem objektiveren Subjektivismus begaben sich dann der Neukantianismus, der Vitalismus, der Existentialismus und schließlich die philosophische Anthropologie (zu ihren idealistischen Wurzeln Rehberg 1985). Selbst die Rassenlehre kann als ein Versuch gelten, den subjektivistischen Relativismus biologistisch zu untermauern. 79 „So wird Hegel auf Fichte [...] zurückgeführt. [...] ‚Der Gegenstand ist ganz und gar

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In dieser Linie deutete Dilthey sogar die Nationalökonomie als Geisteswissenschaft. Das führte in seiner Nachfolge dazu, dass auch sie radikal vergeistigt wurde, wie man an Freyer beispielhaft sehen kann.80 Gegenüber Hegel sind damit aus dem Streben nach Totalität ganze Seinsregionen entfallen: die Natur, von deren Untersuchung Dilthey sich ja abgrenzen will, sowie die nichtgeistige Unterseite der Gesellschaft, die ursprünglich der Gegenstand der Soziologie war – ein eliminativer Idealismus. Aus dieser Perspektive bleibt nur das eigene, zudem vergeistigte „Selbst“ übrig.81 Das erinnert an Fichte, auf den sich Dilthey an zentralen Stellen bezog (GS VII, 157, 280, 333; Glatz 2001, 230). Tatsächlich lässt sich ein Fichtesches Einheitsmotiv bei Dilthey schon früh nachweisen: 1860 schwärmte er für die Hermeneutik Schleiermachers, in welcher aus „der Einsicht in die Entstehung von Texten [...] die Regeln für ihr Verständnis gewonnen werden“. 1865 wollte er den Formalismus von Kants Ethik überwinden, indem er sie der theoretischen Vernunft anglich.82 Doch wie ist ausgerechnet bei Dilthey eine solche Identitätsphilosophie erklärlich? Geht denn nicht auf ihn die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zurück? Die Antwort steckt nicht in den erklärten Absichten, sondern in den leitenden Grundannahmen. Ein in Zeiten der Theorienschwemme unverzichtbares philosophisches Geschäft ist die Herausarbeitung verschiedener Logiken in unterschiedlichen Gebieten menschlichen Handelns und Nachdenkens.83

Wissen’ [Ebbinghaus]. Das ist, im besten Fall, ein modernisierter Fichte“ (Lukács 1954, 437). Fichteanismen finden sich auch dort, wo man sie nicht vermutet: „Die Trennung von Inhalt und Form ist entweder undurchführbar oder unzutreffend“ (Horkheimer 1937a, 141; Brandom 1994, engl. 635 spricht von „norms all the way down“ und schwärmt von Hegels „absolutem Wissen“, dt. 973; cf. 4.3, Fn. 25). Die Erkenntnistheorie macht diese Annahme nur explizit. 80 Webers These über ideelle Faktoren in der Geschichte (2.4.6) wird bei Freyer zu einer über die Beschaffenheit der Wirklichkeit; er ontologisiert das Modell. Erst diese Vergeistigung auch noch der Wirtschaft ermöglicht Freyers Glauben an eine ethische Überwindung der Wirtschaft aus dem Wollen theoretisch: „Die Theorie des Kapitalismus und seiner Entwicklung geht bekanntlich mit großem Erfolg auf Weltanschauungselemente zurück [...] der innerste Sinngehalt der kapitalistischen Lebensform wird ausgemacht von einer bestimmten Moral, Metaphysik und Lebenslehre“ (1923, 39). „Die Auflösung der wirtschaftlichen ‚Sachen’ in menschliche Funktionen hat [...] die Tendenz, überhaupt die Kategorien zu zerbrechen und nur mehr das reine Subjekt [...] übrig zu lassen“ (Freund 1932, 335, cf. Schefold 1994a, Acham 1995). 81 Vgl. Lukács 1954, 333, 341. Habermas erbte diese Halbierung (1968, 178 ff.; 3.1). 82 Ineichen (in: Bärthlein 1983, 153) zitiert Diltheys Schrift „Das hermeneutische System Schleiermachers“ (1860) und seine Habilitation „Versuch einer Analyse des moralischen Bewusstseins“ (1865, aus: Dilthey, GS XVIII). 83 Man denke an Aristoteles’ Unterscheidung der Seelenteile in De Anima und die Binnendifferenzierungen innerhalb der der Vernunft in der Nicomachischen Ethik. Solche fundamentalphilosophischen Re-Formationen gab es immer wieder, besonders bei einem Überangebot an philosophischen Schulen. Aristoteles’ Weisen zu wissen, Kants Trennung des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft, Husserls phänomenologische Unterscheidung spezifischer Gegebenheitsweisen, Webers Un-

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Ähnliches strebte Dilthey an, als er die Trennung der Geschichts- von den Naturwissenschaften wie bereits von der Philosophie auf eine sichere methodische Basis stellen wollte. Dabei spiegelte er Gedanken des Neukantianismus, der die Praxis der erfolgreichen Naturwissenschaften philosophisch „begründet“ (und eigens dafür die Disziplin der Erkenntnistheorie entwickelt) hatte, in die Praxis der Geschichtswissenschaften, die er nun ihrerseits erkenntnistheoretisch „begründen“ wollte. Zwar wehrte sich Dilthey gegen eine Einteilung der Wissenschaften nach Gegenstandsgebieten (GS V, LXXIX), aber nur deswegen, weil es für ihn im Geschichtlichen gar keine Gegenstände gebe. Dieser Seinsbereich sei in allem uns umgebenden vielmehr mitgegeben (GS VII, 70). Er ging also von einer eigenen Seinsweise, von einer „geschichtlichen“ (GS VII), einer „geistigen Welt“ (GS V) aus.84 Der genetische Kurzschluss des Idealismus manifestiert sich darin, dass Gegenstand der Geisteswissenschaften für ihn nur „der Geist“ sein kann. Der lebendige Geist ist zwar ungegenständlich, aber aus seinen Kristallisationen kann älterer, „objektiver Geist“ noch nachträglich „verstanden“ werden. All das steckte Dilthey im Rücken. Die historischen Wissenschaften, die es längst gab,85 wurden von dieser Grundlegung, die ihnen als Gegenstand einen „objektiven Geist“ unterschob, nicht eigentlich „begründet“, sondern vielmehr überformt und ideologisiert. Denn warum sollten sich die historischen Disziplinen nur mit „geistigen“ Dingen (Philosophie, Religion, Kunst) auseinander setzen? Dies klingt allzu offen nach einem Klassenvorurteil verbeamteter Bildungsbürger.86 terscheidung von Wertsphären und Wittgensteins Verweis auf sich unterscheidende Grammatiken verschiedener Sprachspiele sind nur die wichtigsten davon. 84 Was Dilthey „geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit“ nennt (GS I, 26), nennt Freyer 1923 „objektiver Geist“, N. Hartmann 1933 „geistiges Sein“ – eine eigene, „geistige Welt“ (Dilthey GS V). Nicht zufällig verwies Diltheys „Kritik der historischen Vernunft“ Kants Ding an sich in die Erkenntnis der Natur, bei der Geschichtserkenntnis gäbe es kein solches, da es hier um uns selbst gehe. Auch hier muss der Anspruch auf Totalitätserkenntnis Kants kritischen Einspruch verabschieden. 85 Zur Vorgeschichte vgl. Troeltsch 1922, Mannheim 1924, Schnädelbach 1983, 51-87. 86 Warum sollte man etwas vorgängiges nicht verstehen können? Der „Geist“ gilt wohl nur deswegen als „unhintergehbar“, weil er für die eigene Gruppenidentität einsteht. Der genetische Kurzschluss ist am Werk. Auch Marx behandelte Religion, Recht, Philosophie etc., jedoch ohne sie dafür zu vergeistigen. Mit Lask 1911 kann man eine gesellschaftswissenschaftliche Erfassung nichtgeistiger Gegenstände (sozialer Strukturen, Prozesse etc.) als rationale Erfassung eines arationalen Materials beschreiben. Lask ging innerhalb des neukantianischen Ansatzes so weit, die Form von dem Material abhängig zu machen. Darum wurde er von Ernst Bloch „materialistischer Nikolaus“ genannt. Doch er verstarb zu früh, um im Neukantianismus wirksam werden zu können. Auch Karl Lamprechts Kulturgeschichte und Mannheims Wissenssoziologie stießen bei den Zeitgenossen noch auf Widerwillen. Heute gehören Wissenssoziologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte anerkanntermaßen zu den Grundlagendisziplinen. Zwar macht die symbolische Dimension jüngst wieder eine Karriere in den Geschichtswissenschaften (Francois 2000). Sie kann und will grundlegende Betrachtungen aber nicht ersetzen, sondern nur ergänzen und verdeutlichen. „Es gilt [...] , zunächst die objektive Wirklichkeit jenseits der Symbole zu ergründen,

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Die Lebensphilosophie geriet hiermit in eine Aporie: einerseits war sie mit der Abwehr der naturwissenschaftlichen Vergegenständlichung beschäftigt, umgekehrt aber bemühte sie sich selbst um ein spezifisches Gegenstandsgebiet, das nunmehr das historisch Individuelle, die „singuläre Totalität“ (Simmel), vor allem die eigene, erfassen sollte.87 Die bürgerliche Gesellschaft fiel zwischen beiden hindurch. Dilthey prinzipialisiert den Gegenstandsverlust, der schon in der Soziologie begegnete (2.4.1). Welches dieser Phänomene früher auftrat, ob es eine gemeinsame Ursache gibt oder eines das andere induzierte, ist eine hier nicht zu entscheidende Frage. Es gilt vielmehr, die Relevanz des Gegenstandsverlustes in verschiedenen theoretischen Sphären erst einmal zu sehen. Der Verlust der Gegenständlichkeit wurde sogar in der damaligen Kunst diagnostiziert und forciert.88 Sie ist ihrer Umwelt gegenüber damit gerade nicht „kritisch“, sondern undistanziert den bürgerlichen geistigen Strömungen der damaligen Zeit verhaftet. Dem theoretischen Substanzverlust ging die Forderung nach einer allumfassenden, ursprünglich leistenden Spontaneität des vorgängigen Subjekt-Objekts voran (welches es sei: das Selbst, der existentielle Lebensvollzug, das Sein, das Volk, die Sprache oder das klassenbewusste Proletariat), welches nur von toten Vergegenständlichungen oder „Verdinglichungen“ befreit werden müsse. Vollzieht man gedanklich eine solch idealistische Totalisierung, bleibt nichts, kein „Nichtich“ mehr übrig, nach dem man sich im Bemühen, sich selbst zu verstehen, irgend richten müsste oder könnte. Was allmählich als „geistige Krise“ empfunden wurde, war die Kehrseite dessen, was einmal angezielt wurde: es ist gerade der idealistische und sich nicht bescheiden könnende Anspruch, die Wirklichkeit total erkennen zu wollen, der den Nihilismus nach sich zieht.89 bevor man beurteilen kann, ob ihre symbolische Repräsentation angemessen oder ideologischer Natur ist“ (Baumgart 1991, 150). 87 Der Sinn der „Revolution im kulturphilosophischen Sinn des Wortes“ sei, dass „das Leben [...] sich gläubig zu sich selber bekennt, dies Bekenntnis aber [...] absolut setzt [...] in dem Bewusstsein, dass es nur s e i n e Kultur ist“ (Freyer 1923, 129). Es ging also um das ‚Deutsche’ (Mann 1919, Troeltsch 1922, Schnädelbach 1983, Fn. 138). Ebrecht verfolgt das Konzept der „Lebenswelt“ auf den Diltheyaner Freyer zurück (1991, 85;. Freyer 1923, 115). 88 Siehe Kandinsky 1912 (cf. Wyss 1996) oder Musils Mann ohne Eigenschaften (dazu Rentsch 2000, 292 ff.). Coletti verfolgt diese „Vernichtung der Dinge“ kritisch bis auf Hegel zurück. Sie drang über Engels und Bergson bis zu Lenin, Lukács und Marcuse (Coletti 1976, 139 ff.). Sartres nihilistischer Existentialismus prolongierte diese Stimmung nur, wie ja auch die abstrakte Malerei der 1910er Jahre erst in den 1950ern populär wurde. 89 Wie Fichte (cf. Fn. 33), macht auch Dilthey „nicht den Unterschied zwischen einem Gegenstand, der erblickt wird, und dem Auge, welches ihn erblickt“ (GS V, LXXIX). Dilthey hebt die kriteriale Unterscheidung von Subjekt und Objekt auf: das Dasein des Erlebnis sei für mich „ununterschieden von dem, was in ihm für mich da ist“ (GS VII, 139). Ein Nihilismus sollte nicht überraschen – er kommt in Form des Relativismus. Zur Krisenwahrnehmung vgl. Singer 1921, H. Heller 1926, Smend 1928, 1; Heimann 1929, 5 ff.; Mannheim 1929, 31; Fried 1931, 139 ff.; Wenzl 1935, 373 ff.; Husserl 1936, Lukács 1951, 7; Habermas 1963, 228 ff.; Kossellek 1959;

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Nur aufgrund der damaligen Selbstverständlichkeit des Idealismus wurde der in der totalen „Vergeschichtlichung“ liegende Nihilismus nicht als gefährlich empfunden. Der aggressiven zeitgenössischen Politik war dieses Denken wie maßgeschneidert.90 Nicht nur Heidegger spürte, eine wie schroffe Absage dies an Marx und an Kant war91 – nicht aber an Fichte, Hegel und Nietzsche. Provoziert nun jede „Vergeschichtlichung“ einen Relativismus, und wäre deswegen eine überhistorische Region zu reservieren?92 Oder erzeugt erst die idealistische Vergeschichtlichung, die alles erkennen zu können meint („Totalität“), darum aber nichts mehr unterscheiden kann und nur noch sich selber sieht, diesen Nihilismus? Die beschriebenen Entwicklungen legten Letzteres nahe. Ohne identitätsphilosophische Voraussetzungen sind aus einer bestimmten Genese von etwas noch keine Schlüsse auf seine Behandlungsart oder seine ontologische Wertigkeit zu ziehen.93 Liegt aber ein vereinheitlichendes Denken zugrunde, so erzeugt die Historisierung einen haltlosen Historismus, der jedes feste Wissen, selbst die den Naturwissenschaften zugrunde liegende sinnliche Gewissheit, in sich aufsaugt. Erst wenn jedem einzelnen Erkenntnisakt ein transzendental „leistender Akt“ des historischen Subjektes vorausgeht, der „unhintergehbar“ ist, so erscheint alles vormals als sicher und gewiss Geglaubte als radikal ungesichert.

Türcke 1983, Steil 1993, 197 ff., Lichtblau 1997, 392 ff.; Kodalle 2000, Savage 2002. Zu Parallelen in der Kunst Wyss 1995. 90 Siehe die neueren Analysen der deutschen Weltkriegsphilosophie (Flasch 2000, Joas 2000). Im dritten Reich galt dieser Idealismus vielen als zu weich (Lehmann 1943, 120 ff., 410). Dennoch hatte der Nationalsozialismus selbst idealistische Züge, und idealistischen Denkern wie Heidegger (Tertullian 1990), Gadamer (Orozco 1995), Rickert (Fulda 1999) oder Hermann Schwarz (Henning 1999) ließ er seinen Raum (cf. Kapferer 2002, Tilitzky 2002). 91 Lersch 1932 erstrebte mit Dilthey die „nichtgegenständliche Unmittelbarkeit der Erlebniserfahrung“ (5): „Wird für die Lebensphilosophie das Erleben in seiner Intimität und Unvermitteltheit zum Prototyp des adäquaten Wissens um Wirklichkeit, so wird die Wissbarkeit der Phänomene gerade da nicht gesucht, wo Kant sie in der Selbstbescheidung diskursiven Wissens als allein möglich erklärt hat“ (6). 92 Es „versteht sich von selbst, dass nur ein außerordentlich kleiner Teil von dem, was in der Welt überhaupt geschieht, geschichtlich ist“ (Windelband 1908, 265). Noch K. Lenk (1970, 80) meint, Mannheim behalte im Gegensatz zu Marx einen logischen Rumpf (eine „dünne logische Schicht“) bei. Dies verrät einen Einfluss der Lebensphilosophie auf Lenk: es ist umgekehrt Marx, der eine verlässliche Wissenschaftlichkeit voraussetzt und praktiziert, während Mannheim, der in seiner Frühzeit (Mannheim 1924) diltheyanisch die „Subjekt-Objekt-Spaltung“ überwinden wollte, einer solchen nicht mehr traut und sie allererst wieder vorbereiten will (2.6.1). 93 So zogen weder Kant noch Marx aus ihren empirischen (durchaus ‚naturwissenschaftlichen’) Studien derartig annihilierende Konsequenzen, lediglich durften sich Ergebnisse anderer Studien mit diesen nicht widersprechen: Kant ließ sich durch seine Studien über die Entstehung des Kosmos nicht zu einer Entwertung der Sitten oder der Religion hinreißen. Für Marx folgte aus der Entstehung des Überbaus aus der Basis weder, dass der Überbau an sich nichtig sei, noch dass beiden mit der gleichen Methode beizukommen sei (hierzu näher Kapitel 4.2).

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Nur deshalb entsteht der Eindruck, man habe es mit einer „geistigen Krise“ zu tun. In der Tat ist die Theorie hier in der Krise, aber nur, weil sie ihre Gegenstände – und damit sich als Theorie – aufgegeben hat. Die Vergeistigung steckt schon in den fichteanischen Weichenstellungen (die nicht als „Erkenntnistheorie“ explizit sein müssen). Die Sozialphilosophie kann so eigentlich gar nichts mehr erklären, geschweige denn beschreibend „verstehen“ – nicht einmal sich selbst.94 Von eventuell zugrundeliegenden realen Krisen weiß sie nichts mehr zu berichten, da sie den Kontakt zu Wirklichkeit, die Bodenhaftung verloren hat. Darin gründet die Krise der Philosophie (Kapitel 3). Sie wird besonders dann relevant, wenn das Wissenssubjekt sich politisch ungesichert wähnt, oder wenn es sich in unversöhnliche Gruppen und Weltanschauungen aufzulösen droht. Diese Geistesverfassung hat schon Mannheim aufschlussreich skizziert.95 Gehen wir damit zur Einzelbetrachtung über.

2.5.3 Rudolf Eucken als Vorläufer Ein Philosoph, der den damals grassierenden „Hunger nach Weltanschauung“ (Windelband 1910, 278) in reiner Form aufgriff, war Rudolf Eucken. Er bestimmte die allseits empfundene „Krise“ selbst, ihre Ursachen wie auch die Lösung als rein geistige Phänomene.96 Mit der Geschlossenheit dieses Bildes zielte er eine „Neue Grundlegung einer Weltanschauung“ an, er führte einen „Kampf um einen geistigen Lebensinhalt“ (Eucken 1896). Die Pionierleistung Euckens zeigt die Charakterzüge dieses Unternehmens unverstellt, denn in dieser frühen Form wird noch erstaunlich deutlich, ja zuweilen roh ausgesprochen, was später wesentlich subtiler formuliert wurde, aber doch ähnliches meinte. Eucken ist damit stellvertretend für die Suche nach „Weltanschauung“, die sich gerade auch im Neukantianismus jener Zeit herausbildete. Deren Aporien betreffen nicht nur ihn, sind bei ihm aber besonders deutlich sichtbar. 94 Hegel, Mead, Buber und Levinas haben deutlich gemacht, dass man sich selbst nur mit den Anderen ausbilden und verstehen kann. Dazu muss man den anderen anders sein lassen und nicht vorschnell mit mir ‚identisch’ erklären. Daran hapert es in den Weichenstellungen noch vieler neuerer Theorien (so übernimmt Rawls das verkürzte Menschenbild der neoklassischen Ökonomie, 3.2; und Habermas kennt nur „übergegensätzliche“ Parlamentarier, 3.1). 95 Für Mannheim (1924; 1929, 31) war das Problem der Epoche, dass alles immer schon vor-ausgelegt wäre. 96 „Von Jugend an [er ist 1846 geboren, CH] durchdrang mich die Überzeugung, dass die jetzige Menschheit sich in einer schweren Krise befindet“ (Eucken 1896a, nach Lehmann 1943, 139). Eucken spürte „eine geistige Krise, wie sie so gewaltig in der ganzen Vergangenheit nicht war“ (1908, 43). Er bekam 1909 den Nobelpreis und beeinflusste Scheler, Grisebach, Gehlen, Schwarz, Simmel und Husserl. Die Beschäftigung mit Randfiguren ist ein vielversprechender Weg zur Durchdringung eines Paradigmas: „Die Form [...] wird gerade an dem schmächtigen Leib der dürftigen Dichtung [hier: Begriffsdichtung, CH], als ihr Skelett gewissermaßen, augenfällig“ (Benjamin, GS I.1, 238).

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Eucken geht von einer krisenhaften Orientierungslosigkeit seiner Zeit aus (Punkt 6 der Königschen Thesen), welche – mit der normativen Sozialphilosophie gesetzt, der Zusammenhalt der Gemeinschaft sei ein „geistig-moralischer“ – schlimme Konsequenzen nahe lege.97 Jenem „geistigen Dunkel der Gegenwart“ tritt er entgegen (1896, V). Dabei ist sein Hauptgegner der „Naturalismus“ (7). Darunter versteht Eucken in typisch idealistischer Nichtunterscheidung von Denken und Sein sowohl die reduktionistische Denkweise wie auch das Phänomen der „technischen und industriellen Kultur“ selbst (5). Da in einer Dialektik der Aufklärung die Natur den Menschen in Form der Technik unterworfen habe, gelte es, ihr etwas entgegenzusetzen (Punkt 8).98 Aus der Bestimmung, die Eucken der Natur gibt, geht hervor, dass mit „Naturalismus“ der Sozialismus zumindest mitgemeint ist (Königs Punkt 1):99 für Eucken könne kann die Natur aus sich selbst keine Ordnung schaffen, sondern muss sich dazu „in den Dienst der Geisteswelt“ stellen (183). Deutlich wird an dieser Entgegenstellung, ausgerechnet unter der Überschrift „Die Gesellschaft“ (183 ff.), das Überspringen des Gegenstandes Gesellschaft: nach dem Muster von Hobbes sieht Eucken in der Natur nur das Einzelne.100 Als nächste Region im Stufenbau der Wirklichkeit kommt unmittelbar der „Geist“. Eine Selbstorganisation der Gesellschaft war allerdings schon im aristotelischen Naturrecht vertreten und in neuer Form in der Politischen Ökonomie seit Adam Smith untersucht und beansprucht worden. Folglich tragen nach Eucken diejenigen, die sich darauf berufen (und das taten in Deutschland anstelle des Bürgertums die Sozialisten), die Schuld an der „geistigen“ Krise, da sie den Geist übergehen. Darin steckt sicher auch ein Ressentiment sich hintergangen fühlender Mandarine. Die Sozialisten stellen die „geistig“ vorgeschriebene Ordnung vom Kopf auf die Füße.101 Der Sozialismus kranke vor allem an der „ungenügenden Behandlung des Lebensproblemes“ 97 „Dass dem heutigen Kulturleben eine alles durchdringende und zusammenhaltende [sic!] Hauptüberzeugung, ein gemeinsames Ideal fehlt, das kommt immer deutlicher zur Empfindung“ (Eucken 1896, IV). 98 „Die technische Arbeit [...] wird zum Maß unseres ganzen Lebens [...] So hat die Natur uns auf unserem eigenen Gebiete geschlagen, indem wir sie unterwerfen wollten, sind wir ihr unterlegen“ (Eucken 1896, 5 f.) 99 „Der Mensch, so heißt es, gehört ganz und gar zur Natur. (...) hinter diesen Meinungen [...] steht eine weltgeschichtliche Bewegung“ (Eucken 1896, 3 f.). 100 „Denn der Naturprozess gewährt ein eigenes Leben [...] nur dem Einzelnen. (...) Eine innere Unterordnung unter ein Ganzes“, d.h. Selbstorganisationen seien aus dieser Sicht „unbegreifliche Wunder“ (Eucken 1896, 11, cf. 185). Hingewiesen sei auf die Parallele zur atomistischen Sichtweise der neoklassischen Vorstellungen. 101 „Die Behandlung ihres [der Gesellschaft] eigenen Ergehens als eines abschließenden und ausschließenden Selbstzwecks ergibt schwere Missstände, eine Verkehrung des Lebens“ (a.O., 183 – man bemerke die Uneindeutigkeit von „Behandlung“: dies kann sich auf Theorie beziehen, aber auch auf Politik). Es muss, wenn dies „Eigenschaften des Ganzen“ werden – und das ist erst der Fall, seit der ‚selbstständige Arbeiterstand’ einen „wachsenden Einfluss in der Gesellschaft“ (288) erlangt hat – „eine innere Abwendung erfolgen“ (186).

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(290) und könne daher keinen „geistigen Lebensinhalt erreichen“ (289; Fn. 63). Er scheint sich von jenem angegriffen zu fühlen, und poltert an diese Adresse zurück: es „gesellt sich zur Verkehrtheit der Sache eine Unwahrhaftigkeit der Gesinnung“ (184). Da Eucken die Krise als eine geistige geortet hat, verspricht der Sozialismus keinen Ausweg. Vielmehr schöpfe er aus der gleichen Quelle wie die Industrialisierung (2.4.5, Fn. 106). Seine „verstandesmäßige und abstrakte Art“ zu denken entstamme der „Aufklärung“ (289); so bleibt der Sozialismus, statt eine Lösung zu sein, Teil des Problems (Königs Punkt 7 in Variation). Doch immerhin scheint auch Eucken die sozialen Probleme aufzugreifen:102 „Denken wir an die Probleme der Verteilung der wirtschaftlichen Güter und [...] die Ungerechtigkeit, welch dabei der Zufall der Geburt ergibt, [...] die überkommene Scheidung niederer und höherer Klassen usw., es bleiben hier manche Probleme, die uns viel zu tun geben“ (Eucken 1896, 288).

Wer ist dieses „uns“? Ist es, wie das Streben nach „Gemeinschaft“ (267), nach „Einheit“ und dem „Ganzen“ (12, 23, 40 etc.) vermuten lässt, das ganze Volk, das in demokratischer Selbstgesetzgebung solche Probleme angeht? Nein – Eucken will mit „Luther, Kant, Goethe, diese[n] Helden geistiger Befreiung, einer politischen Demokratie entschieden“ widersprechen (319), „diese Aufklärungstendenz aufs entschiedenste bekämpfen“ (316). Warum? Zunächst, weil er in der Diagnose keinen Kapitalismus zugrundelegt, sondern eine vormoderne ständischfeudale Gliederung, wie die Terme „Geburt“ und „überkommen“ verraten („wie aristokratisch die äußere Gliederung der Gesellschaft sein mag“, 184; cf. Sontheimer 1962, 114 ff.). Den konservativen Apologeten dieser Zeit entnimmt er die positive Bewertung „organischer“ Ganzheiten, ohne jedoch zu sehen, dass es auch im Kapitalismus kollektive Akteure (nämlich Klassen) gibt. Er übernimmt die atomistische Beschreibung der Marktgesellschaft, wie sie auch die Neoklassik betrieb, nur dass sie ihm zur normativen Ablehnung der Gesellschaft als ganzer gereicht. Zwischen der Gesellschaftstheorie und ihrem Gegenstand unterscheidet er nicht, und so beschäftigt er sich theoretisch nicht weiter mit ihr.103 Er ruft vielmehr zur „Wendung gegen die Gesellschaft“ (187),104 obwohl er zu ihr kaum etwas zu sagen hat. Eine philosophische Ethik fungiert als 102 Die „Umwälzung der Arbeit“ habe „große Wandlungen des Lebens erzeugt“ (Eucken 1896, 288 – man bemerke die Reihenfolge: erscheint hier nicht das „Leben“ als ‚Überbau’?). Zu diesen kommt Eucken aber erst im „Absteigenden Teil“, nachdem seine Theorie schon abgeschlossen ist. Er deduziert nun seine Anwendungen, ohne dass diese noch etwas für die Theorie selbst bedeuten könnten (s.o., Fn. 10). 103 Auch hier liegt eine hochidealistische Vermengung von Theorie und Wirklichkeit vor. Euckens Überspringen der Gesellschaft ist eine Kreuzung aus zwei Bewegungen: weil er die Gesellschaft als Gegenstand ablehnt („hier [...] befindet das Geistesleben“ – sprich: Eucken – „sich auf einem fremden Boden“, 188), theoretisiert er sie nicht; und weil er die atomistischen Theorien darüber ablehnt, nimmt er sie auch als Gegenstand nicht wahr. 104 Vgl. die positive Bewertung der Gemeinschaft (267). Aus Tönnies 1887 dürfte Eucken auch seine Marxkenntnisse bezogen haben.

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Ersatz der soziologischen Analyse. Eucken ist somit Sozialphilosoph par excellence. In Euckens „normativer Sozialphilosophie“ dürfen Akteure der politischen Bühne nicht der Gesellschaft entstammen: „Wird der Mensch so sehr von Naturtrieben beherrscht, ist die geistige Regung so matt, die moralische Gesinnung so unzulänglich, wie wir es [in der „Behandlung“ der Gesellschaft, also der Gesellschaftstheorie, CH] fanden, so kann die bloße Anhäufung solcher Elemente [die Masse, CH] unmöglich eine neue Ordnung, einen Stand der Vernunft erzeugen“ (185).

Obzwar es also soziale Probleme gibt, dürfen diese doch keinesfalls von den Betroffenen selbst gelöst werden, selbst wenn diese in der Mehrheit sind (sonst drohe „unsere ganze Kultur zugrunde“ zu gehen, 320). Euckens Kritik des Sozialismus kulminiert darin, dass die Arbeiter (und, wie zu ergänzen ist, ihre „instrumentelle Vernunft“) nicht selbst zur politischen Tat schreiten dürften (320): „Die soziale Bewegung behauptet einstweilen den Vordergrund des Lebens, aber sie bedarf dringend einer Ergänzung durch die Kräftigung geistiger Mächte“. Als „geistige Mächte“ treten diejenigen auf, die sich durch eine „Erhebung über den Durchschnitt“ auszeichnen (36) und die „geistige Arbeit“ leisten (16), welche schließlich immer wichtiger geworden sei („Auch die Arbeit wird mehr und mehr auf das Denken gestellt“, 9); also: die Beamten.105 Es geht zwar um Sammlung, aber nur um die der Geister (Eucken 1913). Dem Rest, der „Masse“, empfiehlt er „innere Unterordnung“ (1896, 11) unter „das Recht des Ganzen des Staates“ (318). Euckens Apotheose des Beamtentums, seine Nookratie (vgl. Henning 1999, 89), ist allerdings material nicht ausgearbeitet, sie dient lediglich einer „normativen“ Kritik des Sozialismus. Wenn schon Sozialismus – 1918 etwa schien er kaum mehr abzuweisen –, dann solle es ein „idealistischer“ sein (Eucken 1918; cf. Natorp 1920; zum „ethischen Sozialismus siehe 2.1.3). Der zuletzt von Eucken angebotene „Weg der Rettung“ (1896, 214) bleibt hinter den Versprechungen zurück: durch die „noologische Behandlung“ (216), in der die bei Hegel mühsam errungene Reflexionseinsicht der Identität von Vernunft und Wirklichkeit zu einer Introspektion verwässert wird (Königs Punkt 3),106 will er eine „überwindende Geistigkeit“ (218) aufweisen. Die Lösung entsteht „jenseits der Welt der Widersprüche“ (224), und nur in sich selbst, rein subjektiv. Dies führt zu einer ontologischen Aufspaltung der Wirklichkeit („zwei Wirklichkeiten treten auseinander“, 29).107 105 Ansätze zu einer „geistigen“ Arbeitswertlehre gab es auch bei Simmel 1900 und Habermas 1960, 193; 1968a, 79. Noch die Rede von einer „Wissensökonomie“ macht davon Gebrauch. Dazu sei nur auf den Abrutsch des neuen Marktes verwiesen. Durchschaubar ist, dass es die Intellektuellen selbst sind, die sich als ‚produktiv’ anpreisen wollen. Wäre dem so, würden die Geisteswissenschaften heute sicher nicht derart unter Kürzungsdruck stehen. 106 Euckens noologisches Geistesleben „umspannt“ den Gegensatz von Welt und „Seele“ (216). Er entwickelte diese Schrumpfform der deutschen Mystik schon 1885/88. 107 Es soll „das Leben jenseits des Konfliktes in sich selbst einen Abschluss“ vollzie-

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So kehrt bei Eucken die Aporie der Lebensphilosophie wieder: die intendierte Ganzheit wird durch ihre Vergeistigung zu einer Halbheit; zu einer „Einheit“ zwar, aber nur der „des Geisteslebens“ (1885, 1888), des „Reichs der Wahrheit“ (1918).108 Statt die Krise zu überwinden, lässt Eucken sie lediglich hinter sich und bleibt dort: er schlägt die Tür hinter sich zu. Diese Lösung besteht in einer überhöhenden Apotheose der Privatsphäre.109 Alles dem Entgegenstehende, etwa Hegels „bürgerliche Gesellschaft“,110 wird in seiner Wirkmächtigkeit gar nicht erst erfasst. Die Ethik deckt seine Realitätsverweigerung. Eucken vermengt seine Anleihen beim Deutschen Idealismus in fragwürdigem Aufguss. Die Darstellung lehnt sich an Hegels Phänomenologie an (Lehmann 1943, 140). Kants Unterscheidung der Geltungssphären von Naturwissenschaft und Ethik lehnt er ab,111 um dafür eine „Scheidung der Welten“ (220) einzuführen. In dem beschützten „Reich“ erfolgt die „Wiedergeburt und Erhöhung“ der Subjektivität (218), von hier entspinnt sich eine „neue Welt“ (218). Damit kehrt ein Fichtescher Erzeugungsidealismus wieder, allerdings nur in halbierter hen (218). Die „Welt des Beisichselbstseins“ sei eine „besondere Art des Seins“ auf nur „einem Gebiete“ (224, Hvg. CH). Damit geht ein „Auseinandertreten wie der Welt so des Lebens“ einher, jedoch dürfe diese „Zweiheit [...] nicht erschrecken“, weil die Welt „in ihrem wirklichen Bestande“ eben so sei (215). Diese Zerspaltung war Hegel jedoch zutiefst verhasst (2.5.2; 4.2.2). 108 Lehmann analysiert messerscharf, dass Eucken damit einen ontologischen Dualismus von Natur und Geist verfestigt, den „geistig“ aufzuheben (in einer „im Geiste erneuerten Natur“) ihm gerade nicht gelingt (1943, 142). 109 Die räumlichen Metaphern verweisen auf die heimische Stube, wo die Welt noch in Ordnung sei: „hier beginnt eine in sich selbst gegründete Innerlichkeit einen eigenen Gehalt zu zeigen und ihn gegen alles Fremde und Feindliche durchzusetzen“ (218) – gegen die Welt vor der Haustür. „Dies Schaffen [...] bildet ein besonderes Reich und gibt dies als die Seele des Ganzen“ (218). Wir sollen „in ihm Stellung nehmen“ und „von ihm aus alles übrige“ erleben (219), uns in dieses Reich „als in eine sichere Heimat zurückziehen“ (222). Eucken feiert die „Welt des Beisichselbstseins mit festem Eigenbesitz jenseits der Welt der Widersprüche“ (224; zur Kritik des „bürgerlichen Interieurs“ Benjamin GS IV, 88; Adorno 1933; MEW 40, 554; aber Marcuse 1964, 255). „Fast alle seiner Bücher gipfeln in der Beschreibung dieser eigentlichen Wendung von außen nach innen“ (Lehmann 1943, 141) „Wenn der Mensch sich so ins Reich der Wahrheit begibt“, dann ist er „‚bei sich selbst’, und das böse Draußen kann ihm keinen Schaden mehr zufügen“, spottet Lehmann über Euckens „illusorische Sorglosigkeit“ (143 f.). Schon Tönnies’ Begriff der „Gemeinschaft“ (1887) enthielt diese „Nestwärme“. Der Wunsch nach dieser tritt an die Stelle des Begreifens der „Gesellschaft“. 110 „Eine innere Unterordnung unter ein Ganzes [Hegels Moralität, CH], die Anerkennung eines fremden Rechts [Hegels Staat, CH], Liebe und Aufopferung [Hegels Familie, CH] sind in diesem [naturalistischen, Fn. 30, CH] Zusammenhange unbegreifliche Wunder“ (11). Die Gesellschaft fehlt. Wo sie erscheint, trägt sie die Insignien des Staates: „Die Gesellschaft drängt und beengt das Individuum in tyrannischer Weise [!], aber wäre ohne starke Mittel seine natürliche Trägheit irgendwie zu überwinden?“ (188). 111 Denn „wo eine einzige Verkettung den ganzen Lauf der Zeit umspannt,...gibt es kein eigenes Handeln“ (219).

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Form: die alte, vorgefundene und die neue, erzeugte Welt stehen unvermittelt nebeneinander („die eine muss die andere unterwerfen“, 29).112 Um den Dualismus dieser Fichteanischen Ontologisierung Kantischer Geltungssphären zu glätten, bedient sich Eucken Schellings Naturphilosophie: Die „Wiedergeburt“ im Geistesleben (218) muss als „Bewegung des Weltprozesses“ selbst anerkannt werden, und zwar dogmatisch, als notwendige „Grundüberzeugung“ (216).113 Dieser Eklektizismus vermengt unverträgliche Elemente miteinander: hochkomplexe Ergebnisse methodisch aufwendiger Spekulationen werden als schlichte Aussagen de re gewertet, die problemlos aneinandergereiht werden können. Euckens Bemühungen kommen schließlich zu einem ästhetizistischen Ergebnis: erst das in der Absonderung von der Welt entstandene „Beisichselbstsein des Lebens“ (218) verleiht der Welt ihre „Seele“ (219). Um dies leisten zu können, unterbaut ihr Eucken eigens eine „neue Welt“ (220). Aus dieser „Überwelt“, deren unmittelbarer Zugang gewiss sei,114 soll die alte Welt nicht etwa überwunden werden, sondern „in ein anderes Licht“ treten (224). „Weltanschauung“ ist hier wörtlich zu nehmen: es geht nur um eine andere Form des Anschauens.115 Der Endzweck dieser Philosophie besteht darin, den „Punkt des Zusammenstoßes“ der beiden Welten (220), den Alltag, mit „geistigen Lebensinhalt“, also mit Sinn zu füllen. Eucken ist guten Gewissens deutscher Ideologe.116 In der Analyse Euckens bestätigen sich Königs Punkte somit weitgehend: Eine Reaktion auf den Marxismus (1) zeigt sich darin, dass Euckens Ausgangspunkt die „Krise“ ist und er sich mehrfach mit dem Sozialismus auseinandersetzt. Dieser stellt für ihn einen großen Teil des Problems dar. Dass sein ästhetizistischer Gegenentwurf dabei Marx verhaftet bleibt (2), zeigt sich an dem Aufgreifen von Termini wie „Arbeit“ (22, 32, 219, 288) „Widerspruch“ (18, 214) oder „Gesellschaft“ (183 ff.), vor allem aber an der praktizistischen Wendung des Dualismus zur „freien Tat“ (48; es sei „das ganze Wesen des Menschen zur Tat und Entscheidung berufen“, 53).117 Eine verfehlte Hegeldeutung (3) tritt neben dem formalen Aufbau vor allem an der „noologischen Methode“ zum Vorschein, die 112 Das „Geistesleben bezieht sich nicht von außen her auf eine Welt“ (die vorgefundene), sondern erweitert „sich selbst von innen her zu einer Welt“ (216, vgl. 37 ff.) – einer zweiten, imaginierten Welt, dem „geistigen Sein“. 113 Auch Lübbe 1963, 181 und Lehmann 1943, 140 f. sehen Einflüsse Kants, Fichtes, Hegels und Schellings sich durchdringen. Lübbe benennt dabei ein „Selektionsprinzip“, Lehmann zieht daneben noch den vergessenen Klassiker Krause heran. 114 Wir können „eines direkten Verhältnisses zum Quell allen Lebens fähig“ werden (219, vgl. 241). Diese „direkte Wendung zum absoluten Leben“ (220) – eine „unsinnliche Unmittelbarkeit“ (320) – eröffne die neue Welt. 115 Zum ästhetizistischen Kontext von Neukantianismus und Weltanschauungsphilosophie vgl. Hermand 1977 IV, Lichtblau 1997, 178-279 sowie Krijnen 1998. 116 1914 wurde Eucken zum Bellizisten: er hat „Stahlhelm und Uniform […] ins Geistige hinein überhöht“ (Lübbe 1963, 185). Der Nationalsozialist Lehmann 1943, 137 ff. kann jedoch Euckens Eintreten für den Krieg und die „deutsche Art“ (Eucken 1896, 319, 331 ff.; 1914, 22 f.; „deutsche Freiheit“, 1919) nichts mehr abgewinnen. 117 Auch der „Tatkreis“ saß in Jena (cf. Fritzsche 1976; zum Aktivismus Linse 1983).

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Hegels „absoluten Standpunkt“ so leicht haben zu können glaubt, wie es schon Hegel seinen Vorgängern vorwarf; daneben gibt es fragwürdige Deutungen Fichtes und Schellings. Die existentiale Übernahme des Idealismus (4) besteht darin, dass „Freiheit“ zwar welthaft ist, diese „Welt“ aber ein ideelles Konstrukt bleibt (48, 116, 234).118 Das Konstruktionsprinzip ist idealistisch, allerdings seltsam halbiert, da es sich auf den „Geist“ beschränkt und diesen recht gewaltsam totalisiert (dies erinnert an den „Machtspruch der Vernunft“: „es soll [...] überhaupt kein Nicht-Ich sein“, Fichte 1794, 26, cf. 65).119 Eucken anerkennt hier die von Dilthey vorgenommene Trennung der Zuständigkeitsbereiche von Natur- und Geisteswissenschaft. Dabei nimmt er den beschriebenen Fehlschluss von Genesis auf Seinsart vor (5), da er sie als „Welten“ voneinander trennt. Auch eine Problematisierung der Theorie (6) findet sich, da speziell das rationale Denken der „Aufklärung“ für die Krise verantwortlich gemacht wird (289, 319).120 Die „Krise der Philosophie“ zeigt sich besonders darin, dass Eucken nicht bemerkt, wie gerade seine Verabschiedung der Theorie die Krise provoziert. In seinem Überspringen der Gesellschaft und seinem Verdrängen und Unterwerfen der Natur unterliegt auch Eucken dem Gegenstandsverlust (7), der in seiner „Noologie“ nur prinzipialisiert wird.121 Gegenstandsverlust und Verabschiedung der Wissenschaftlichkeit bedingen und verstärken sich. Schließlich vertritt Eucken eine resultierende Politik der Identität (8): er beschwört die „deutsche Art“ (319, 331), die „das Recht des Ganzen des Staates“ (318) der „Demokratie“ entgegensetzt (cf. Henning 2001). Die bellizistische Note ist unüberhörbar.122 Euckens Schrift ist eine frühe und typische „Sozialphilosophie“. Probleme der Zeit werden durch einen philosophischen „Filter“ hindurch wahrgenommen, welcher nichtgeistige und nichtnormative Faktoren systematisch ausklammert. So werden die sozialen Probleme, ihre Ursachen und Lösungen als „geistige“ fehlbestimmt. Das diskursive „Feld“ dieses Stils deutschen Philosophierens hat es mit Fichte und Hegel zur Bedingung gemacht, dass nur „Geistiges“ hineinkommt. 118 Lübbe sieht hierin eine „Existentialisierung des philosophischen Denkens“ (1963, 184). Der Modus des Philosophierens ist auf konkrete „Lebenshilfe“ zugeschnitten; doch es betrifft auch die Inhalte: es geht um den individuellen Lebenssinn, und wie bei Heidegger um zwei „Lebensarten“ (Eucken 1896, 29; 2.5.5). 119 Anders als Fichte und Schelling, die auch die Natur als etwas Geistiges behaupteten, will Eucken mit der Natur brechen (13, cf. 29, 107 ff., 170 f.; cf. Fn. 100 und 110). Dahinter könnte eine Rivalität zu Haeckel stehen. 120 „Der Charakter des Lebens bedarf dringend einer Befreiung vom Intellektualismus“ (127; cf. 1908, 70). Dem wird er in der Tat gerecht – anders als Hegel bezieht er keinerlei andere Wissenschaften mehr mit ein. 121 Es hat nihilistische Züge, wenn Eucken wie Fichte (Fn. 33) neben seiner moralingetränkten Geisteswelt nur eine „gähnende Leere“ ausmachen kann (1921, 66; „innere Leere“, 1908, 43). Soziale Prozesse werden vergeistigt: „Das alles [die ‚deutsche Art’, CH], wird nun abstrakten Schablonen zuliebe zurückgedrängt“ (1921, 319). 122 Es geht im „Kampf um die Weltmacht [!] des Geisteslebens“ (169 ff.) um ein „Gemeinsamwerden“ (222). Im Ersten Weltkrieg kam diese Tendenz offen zum Ausbruch, nicht nur bei Eucken (vgl. Lübbe 1963, 176 ff., 233 f.).

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Für diesen neuen „Gegenstand“, den sich die Theorie selbst „konstituiert“, hat sich mit Dilthey, Simmel und Freyer die Bezeichnung „objektiver Geist“ eingebürgert. Bei Eucken, wo die „neue Welt“ (ein „überlegenes Reich als [...] eine sichere Heimat“, 222) ihre Eierschalen noch nicht abgelegt hat, ist er noch als das Oxymoron sichtbar, als das er heute nur deswegen nicht mehr auffällt, weil man sich an seinen Klang gewöhnt hat.123 Statt solche Theorien at face value zu nehmen und die Vergeistigung noch heute mitzumachen (Simmel und Heidegger werden ja oft gelesen wie Zeitgenossen), sollte diese Einsicht ein Anlass sein, die Angemessenheit dieser Art von Philosophie insgesamt zu hinterfragen – wie es Marx schon in den 1840er Jahren getan hat. „Jedes Kind“ kennt den Unterschied zwischen hundert gedachten und hundert wirklichen Talern (KrV, A 599; MEW 3, 13; MEW 32, 552, siehe auch das Lob kindlichen Denkens bei Nietzsche und im NT). Doch die Höhen deutschen Geistes wähnen sich über solch kindliche Unterscheidungen nicht selten erhaben.124 Der Marxismus lässt sich mit Lask (1911, 60 f.) begreifen als ein Hineinragen der „Materie“, also der sich rapide umwälzenden Wirklichkeit, in die „Form“ des Denkens, in die philosophia perennis. Die Arbeiter wurden erst in ihrer Partei und deren Denkern für geistige Ohren ‚vernehmbar’.125 Erst in dieser Form, als Geist von ihrem Geiste, konnten deutsche Denker auf Marx reagieren. Speziell bei Eucken muss man von einer invertierten Rezeption sprechen. Die Verwerfungen, die der Marxismus in der philosophischen Landschaft erzeugt hat, nimmt Eucken als solche auf und füllt diese Negativfolien mit neuem Inhalt an. Er ist so im negativen abhängig vom Dasein einer marxistisch inspirierten Bewegung, ohne sich jedoch selbst mit Marx auseinander zu setzen. Marx’ Problematisierung einer solch geistigen Behandlung sozialer Probleme wird gar nicht erst angesprochen, obwohl es in der „Sozialphilosophie“ gerade um soziale Probleme geht.126 Stattdessen wird er in einem geistigen Gesamtpro123 Freyer 1923 meinte, „dass der innerste Sinngehalt der kapitalistischen Lebensform ausgemacht wird von einer bestimmten Moral, Metaphysik und Lebenslehre“ (47) – die wohlgemerkt nicht aus jener entsteht, sondern ihr zugrunde liegt: Der objektive Geist sei „ein tiefstes Apriori [!], aus dem die Teilstücke dieser Weltanschauung abgeleitet und in dem sie begründet sind“ (49, s.u., Fn. 80). Diese Vergeistigung wird unten „Supernormativismus“ genannt. 124 Cf. 2.3.2, Fn. 52. Kapitel 3 gibt exemplarische Kritiken neuerer Versionen dieses Denkens und elaboriert die methodische Frage nach der Angemessenheit dieses Philosophiestils als „Selbstreflexion der Philosophie“. Werden gedachte Taler zu wirklichen oder wirkliche zu nur gedachten erklärt, spricht das im Zweifelsfalle gegen den deutschen Geist. Kriterien solcher Entscheidungen sind die internationale Wissenschaft und der Alltagsverstand (cf. 4.1). 125 Als Überbringer der schlechten Nachricht wurde der Marxismus selbst zum Schuldigen gestempelt (cf. 2.4.5, Fn. 106). Auch er dachte ja aufklärerisch (2.1.2, Fn. 23). Er war jedoch nur insofern eine Repräsentation des Kapitalismus, als er ihn, im Unterschied zu bürgerlichen Theorien, tabulos analysierte und thematisierte. 126 MEW 3, 131 ff. Marx kritisierte die Vergeistigung mit den Worten: „Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen“

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zess verortet und so nur implizit ‚erledigt’ (Eucken 1896, 181, 215). Diese invertierte Rezeption und die dabei entstandenen Standpunkte finden sich bei späteren Autoren wieder. Der Gedanke einer Natur, die, obzwar vom Menschen besiegt, sich in Form der Technik am Menschen rächt (Eucken 1896, 5 f.), entwickelte sich zu einem Allgemeinplatz der Kulturkritik, der bei Rathenau, Simmel und Klages sowie später bei Heidegger und Adorno wiederkehrt. Er findet sich schon bei Marx (MEW 23, 530), nur dass er der Technik eine genau bestimmte und somit begrenzte Funktion zuweist (nämlich die, ständig auf eine Verbilligung und Expansion der Produktionsfaktoren hinzuwirken, 2.1.6, 2.3.3). Dies allerdings überging die Kulturkritik, wohl deswegen, weil er dies nicht in philosophischen Versen, sondern in ökonomischer Prosa entwickelte (2.4.5).127 Auch soziale und individuelle „Pathologien“ sind große Themen der Sozialphilosophen. Sie glauben mit Marx, dass man dem abhelfen müsse, nur geben sie dafür vorwiegend ideelle Ursachen an (den „Intellektualismus“, Eucken 1896, 127, 319; oder die „instrumentelle Vernunft“). Schließlich gibt es eine Verachtung der politischen Formen Westeuropas, die mit krisenhaften Phänomenen in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden. Die Formulierungen Euckens nehmen Heideggers Auslassungen über das „Man“ (1927, 126 ff.) bis in die Nuance vorweg. Auch eine Kritik der formalen Demokratie hatte bereits Marx geliefert. Doch auch hier nahm man seine Argumente nicht mehr zur Kenntnis: ging Marx von einer prinzipiell wünschenswerten und in Frankreich zeitweilig verwirklichten Demokratie aus, um deren Grenzen aufzuzeigen, so lehnte die Kulturkritik die Demokratie schlichtweg, in „abstrakter Negation“ ab (3.2.3). Das Zwischenfazit über Eucken ist ernüchternd. Wurden Marx’sche Topoi von der deutschen Philosophie dieser Zeit überhaupt aufgenommen, so nur in einer Transformation ins Philosophische, die ihnen alle kritischen Zähne zog. Übrig blieb eine Geschichtsschreibung geistiger Prozesse, deren Formulierung eine ganz andere Stoßrichtung hatte als die Marx’sche: es ging nur noch um eine Umkehr des Denkens der Individuen. Solche Deutungen halten sich in der Philosophie seit hundert Jahren, so dass der Unterschied zu Marx kaum wahrzunehmen ist (Eldred 2000). Diese Deutung ist eine Generationen von Philosophen übergreifender consensus omnium geworden. Wo, wenn nicht bei Marx, hätte man (MEW 1, 206). Zusammen mit Engels wollte er „den philosophischen Kampf mit den Schatten der Wirklichkeit, der dem träumerischen und duseligen deutschen Volk zusagt, [...] um den Kredit bringen“ (MEW 3, 13; cf. MEW 2, 60 f.). Das ist ihnen auch gelungen, allerdings blieb die Deutsche Ideologie kasuistisch. Sie ist aber nicht zusammen mit dem Denken von Bauer, Stirner etc. veraltet. Denn angesichts der an Eucken gut sichtbar gewordenen anhaltenden „Abhängigkeit von Hegel“ (MEW 3, 18, 84) bleibt auch die Marx’sche Kritik weiterhin aktuell (cf. E. Wood 1986), auch wenn sie für ihn selbst nur eine Vorstufe war (cf. 2.5.7). 127 „Dass die glänzenden Errungenschaften der Physik und Chemie einzig dem Kapital gedient, darüber besteht für denkende Köpfe heute kein Zweifel mehr“ (L. Klages 1913, 33). Dieser kapitalismuskritische Anflug ist bei Klages ebenso ornamental wie später bei Adorno (zu ihrer Verwandtschaft Honneth 1983, cf. 2.6.1, 2.6.3).

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auch auf Widerstand zu dieser Deutung stoßen sollen? Wir sahen bereits, dass der Marxismus bei den nachfolgenden Marxisten selbst zur „Weltanschauung“ regrediert war. Schauen wir nun, ob sich diese inverse Marx-Rezeption, die philosophisierende Verdrehung, sich auch an wichtigeren Autoren nachweisen lässt.

2.5.4 Georg Lukács als Mittelsmann „Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr“ (Ludwig Klages 1913, 29). Diese prägnante Formulierung benennt das „Lebensproblem“ (Eucken), vor das sich die Philosophie um die Jahrhundertwende gestellt sah. Tatsächlich ist eine Existentialisierung der Fragestellungen festzustellen: es geht, paradox genug, um allgemeine Antworten auf den individuellen „Sinn des Lebens“.128 Diese heute recht merkwürdig anmutenden Fragestellung zeigt die „Erlösungsbedürftigkeit der Epoche“.129 Wie an Eucken deutlich wurde, konnte der Marxismus der Philosophie in dieser Frage kaum behilflich sein.130 Er repräsentierte im Gegenteil die „Masse“, die durch ihre lauten Ansprüche den Status der Gelehrten zu bedrohen schien („Leer ist es auf dem Parnass“, L. Klages 1913, 29; cf. Tillich, GW II, 40; Gasset 1930, De Man 1952, Canetti 1960). Umso bemerkenswerter, dass einer, der aus gutem Hause kam und daher der „Masse“ kaum zugetan war, und der dieses „Lebensproblem“ in prägnanter Weise formuliert hat, dennoch den Weg zum Marxismus fand: Georg Lukács. Er war zutiefst von Dilthey, Simmel und Weber beeinflusst.131 128 Dies ist eine Nachfolge des spät entdeckten Kierkegaard. Heimann 1929 sieht in der „Existenz“ die Synthese der vorherigen Paradigmen „Geist“ und „Leben“ (für das 18. und 19. Jahrhundert). Der Unterschied zwischen „Leben“ und „Existenz“ ist allerdings gering – man kann die Existenzphilosophie auch als Bestandteil der Lebensphilosophie sehen. Schon Dilthey wollte sich mithilfe einer Weltanschauung von der „Masse“ möglichst distinguieren (siehe Schulenburg 1923). Zur Rolle Kierkegaards vgl. Lukács 1911, 13; 1967, 11; Rentsch 1990, 139 f. 129 Rentsch 1990, 97; cf. Bry 1924, Lukács 1954, 367; Cancik 1982, Linse 1983, Bolz 1989. Wie wir nach Freud und nach 1968 wissen, liegt der individuelle Lebenssinn im individuellen Leben. Über die „Jemeinigkeit“ lässt sich allgemein kaum etwas Sinnvolles sagen. Natürlich kann in der Bildung einer autonomen Persönlichkeit Hilfe vonnöten sein, aber weniger von Seiten der Philosophie, sondern eher von Instanzen, die zu Einzelfallbetrachtungen fähig sind (theoretisch etwa die Psychologie und Pädagogik). Wird die Suche nach individuellem Lebenssinn in die Philosophie übertragen, führt sie zu Verzerrungen – Autoren werden zu Entertainern auf der Suche nach einem Markenzeichen. Vielleicht forderte Aristoteles deswegen, man solle erst im Mannesalter philosophieren. Etwas anderes ist die formale Frage, was menschliches Leben überhaupt sinnvoll machen kann. Wer sie stellt, hat nicht sich selbst im Auge, jedenfalls nicht primär. Rickert warf der Lebensphilosophie vor, den Unterschied zwischen Theorie und Biographie einzudampfen: „In dem Lebenssumpf der Modephilosophie gibt es oft nur noch Froschperspektiven“ (1921, 33). Der Philosoph „muss über dem stehen, was er theoretisch zu erfassen sucht, also auch über sich selber“ (1934, 8). 130 Vgl. Rolfes 1971, Ehlen 1975 und das „Jugendweihe“-Buch (Buschendorf 1954). 131 Siehe das Vorwort zu Lukács 1916, 5 ff. von 1963, Rosshoff 1975, A. Heller 1977,

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Nur widerwillig wurde seine Version des Marxismus, die für den „westlichen Marxismus“ geradezu stiftend war, auf diese fragwürdige Herkunft hinterfragt;132 vielleicht, weil die anderen Autoren dieser Traditionslinie diesem Feld der bürgerlichen Philosophie selbst zu verhaftet waren, um darin ein Manko zu sehen.133 Denn die frühen Schriften von Lukács macht ihre Augenhöhe zur Kultur der Zeit aus. Man vergleiche die bigotte Redeweise von Euckens zwei „Lebensarten“: „dort der Durchschnitt der menschlichen Art und Lage als Maß, hier das Geistige über jene Stufe hinausgehoben und als Maß und Norm dem Menschen entgegengestellt; dort überall einengende Schranken einer naturhaften Besonderheit, hier ein Leben und Schaffen aus der Unendlichkeit“ (Eucken 1896, 29; vgl. 215);

mit der auf der Höhe der zeitgenössischen Kunst stehenden Version von Lukács: „Das Leben ist eine Anarchie des Helldunkel: nichts erfüllt sich je in ihm ganz [...], nie blüht etwas bis zum wirklichen Leben. Leben: das ist, etwas ausleben können. Das Leben: nie wird etwas ganz und vollkommen ausgelebt. [...] Man muss zurückfallen ins Dumpfe, man muss das Leben verleugnen, um leben zu können“ (Lukács 1911, 219).

Lukács sah nun eine Auflösungsmöglichkeit dieses Lebensproblems in der hohen Kunst: „Das Vollkommensein ist das Da-Sein [!] der Menschen in der Tragödie“ (1911, 225). Das macht es umso unwahrscheinlicher, dass ausgerechnet er sich dem Marxismus zugesellen sollte, der ja nicht unbedingt für seine Kulturbeflissenheit bekannt war.134 Doch der Schein trügt. Gerade durch diese Herkunft war Lukács’ Marxismus der „konsequente Vollstrecker“ (Luckhardt 1994, 259) der Lebens- und Existenzphilosophie.135 Die radikale Entscheidung, die der ÜberKeller 1984, Beiersdörfer 1985, Dannemann 1987, Jung 1988, Luckhardt 1994; siehe auch unten, Fn. 135, 137 und 154. 132 Außer von doktrinären Kommunisten, deren Kritik sich im Aufweis des Abweichens von der Parteilinie erschöpfte (Rudas 1924, Steigerwald 1980, Lukács 1925). 133 Auch Horkheimer, Adorno und Marcuse kamen aus gutem Hause. Es gibt „von Lukács bis Althusser, von Korsch bis Coletti“ eine „überwältigende Dominanz von Berufsphilosophen“ (P. Anderson 1978, 77). Es kam zu einer fortschreitenden „Preisgabe der ökonomischen und politischen Strukturen als Schwerpunkt der Theorie“ (76). „So legte der westliche Marxismus als ganzer paradoxerweise den Weg von Marx’ eigener Entwicklung in umgekehrter Richtung zurück. Wo der Begründer des historischen Materialismus sich von der Philosophie immer weiter weg und auf Politik und Ökonomie als die zentralen Gebiete seines Denkens zubewegt hatte, kamen die Nachfolger [...] immer stärker auf die Philosophie zurück“ (81, cf. Lichtheim 1971). Es ist im Grunde noch schlimmer: es gab meist gar keine Ökonomie, von der sie sich hätten entfernen können, und ihre Philosophie unterlief noch den frühen Marx: War dieser Hegelkritiker, so waren jene Hegelianer. Hierin liegt eine „Rückkehr zum objektiven Idealismus“ (Wellmer, in: Honneth 1977, 478). 134 Es sei denn, man deutet ihn vorab als ästhetisches Experiment (cf. Groys 1988). Zwar zog der Kommunismus viele Künstler an, und es gab Versuche, eine proletarische Gegenkultur aufzubauen, da man von der bürgerlichen Kultur meist ausgeschlossen war (Negt 1972; Gorsen 1981, 83 ff.). Aber die Intention war nicht ästhetisch (Bohrer 1978). 135 Luckhardt 1994 stellt die Rolle Simmels in den Vordergrund. Für Jung 2000 ist der

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gang zum Marxismus für Lukács bedeutete, lässt sich aus der ästhetischen Existenzphilosophie selbst am besten verstehen – ist doch die „Entscheidung“ geradezu das Urwort des Existentialismus.136 Die kultur- und ästhetiklastige Version des Marxismus, die Lukács entwickelte, stellt eine gewisse Kontinuität zu seinen groß- bzw. anti-bürgerlichen Anfängen dar. Trotz des Bruchs durch die Entscheidung zum Marxismus ist Lukács’ umfangreiches Werk eine Einheit: seine späte Ästhetik von 1963 etwa führt die von 1914-18 fort (siehe Michel 1972, Jung 1989, 30 ff.; Pasternack 1990). Was für ein Denken war es aber, von dem aus und mit dem Lukács in den Marxismus ging, und in den er ihn überführte? Ausgehend von einer „Geschichtsphilosophie“, die sich schon 1908 an der Geschichte ästhetischer Gattungen orientierte, konstatiert er kurz vor seiner Konversion für die Gegenwart ein „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“ (Lukács 1916, 157, nach Fichte). Aus diesem hofft er auf eine „neue Welt“ (157, cf. 15; 1911, 69/100; siehe Eucken), eine „neue und abgerundete Totalität aller“, die sich aber wie bei Eucken in einer geistigen Scheinwelt, nämlich in einer „reinen Seelenwirklichkeit“ abspielten soll (1916, 157).137 Damit teilt der junge Lukács die Prämissen der „Geisteswissenschaft“ – die Theorie des Romans sei dafür ein geradezu „typischer Repräsentant“, stellt der alte Lukács später fest (9). Drücken wir es in Königs Punkten aus: Auch Lukács geht von Hegel aus (Punkt 3; cf. Lukács 1916, 9 f.; 1967, 11, 22), den er existentialistisch liest (Punkt 4; Lukács 1916, 13 spricht von einem „Kierkegaardisieren der Hegelschen Geschichtsdialektik“). Dabei diagnostiziert auch er eine geistige Krise (die „transzendentale Obdachlosigkeit“, 35, cf. 6; 1951, 7 f.; Punkt 7), und verliert darüber den Bezug zur Realität (Punkt 6).138 Der letzte Punkt, das Überschlagen in eine Ethik bzw. Politik, ist mit der „neuen Welt“ nur angedeutet. Der Witz an Lukács ist, dass er darüber, durchaus im Sinne von Wittgenstein, kaum geredet, sondern wenig später eben gehandelt hat.139 Übergang zum Marxismus eine „folgerichtige Konsequenz“ (18), auch Lukács selbst habe das so gesehen (23 f.; cf. insgesamt Lukács 1981). 136 Vgl. Eucken 1896, 53, 215; Krockow 1958. Ähnlich argumentierte Sartre (1964). 137 Da Jay 1984 dem jungen Lukács verhaftet ist, übersieht er die Rolle Diltheys für Lukács’ Konzept der „Totalität“ (77 f.; cf. 155): Dilthey sprach von der „Totalität der Gemütskräfte“, die „nie von der Intelligenz ganz aufgeklärt werden“ kann (GS VII, 401; cf. Jung 1988). Jay geht bis auf Parmenides (25) und Spinoza zurück (28). Zuletzt tritt Habermas als Retter der Totalität auf (462) – derjenigen Diltheys, nicht der von Marx (Habermas 1968b, 178 ff.). 138 Nicht „einmal auf der Ebene der abstraktesten Gedanklichkeit gab es damals bei mir Vermittlungen von der subjektiven Stellungnahme zur objektiven Wirklichkeit“ (Lukács 1916, 6). Seinem Ausspruch, dass es „keine spontane Seinstotalität mehr“ gebe (32, cf. 49), stellt er ex post Gottfried Benn zur Seite: „‚es gab ja auch keine Wirklichkeit [!], höchstens noch ihre Fratzen“ (12, nach Benns Bekenntnis zum Expressionismus von 1933; vgl. 2.6.1, Fn. 20). 139 Bis auf gelegentliche antikantische Ausbrüche („Die Ethik! Das von außen Kommende! Das uns aufgedrängte, unübertretbare Gesetz!“ 1911, 213; „Das Sollen tötet das Leben“, 1916, 43) fallen Lukács’ Äußerungen zur Ethik in die Zeit nach der

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Leben und Werk gehören bei Lukács somit ebenso zusammen wie die verschiedenen Teile des Werks. Es stellt sich daher die Frage, ob der neue, marxistische Standpunkt von Lukács nicht selbst noch ein „geisteswissenschaftlicher“ ist.140 Finden sich Kontinuitäten von Lukács’ Lebensphilosophie in seinen marxistischen Werken? Stellt man die Frage so, ist sie fast beantwortet. Der alte Lukács dehnte die Kritik an seinem Frühwerk ja bis auf Geschichte und Klassenbewusstsein (ein „Überhegeln Hegels“) aus.141 Was machte Lukács’ Frühwerk näherhin aus? Auch der frühe Lukács geht, wie wir sahen, von einer „Krise“ aus, die vorrangig geistigen Charakter hat. In dieser Krise stellt sich das Lebensproblem, also die Frage: „wie kann das Leben wesenhaft werden“ (1916, 23). Lukács geht es keineswegs nur um sich selbst, sondern auch um das Individuum in einer abstrakten Hinsicht (das ist die Paradoxie des Lebensproblems). Was den „tragenden und positiven Sinn“ der Welt und des Lebens ausmacht, ist „die Totalität“ (27). Lukács versteht darunter die Geschlossenheit des Weltbildes eines Individuums. Die Verwandtschaft zu Dilthey ist unübersehbar.142 Das Problem, von dem Lukács ausgeht, ist zunächst ein individuell-geistiges, ein betont „bürgerliches“ also. Mit Simmel, der hier Mandeville modernisiert, wird ein Zusammenhang von Vergesellschaftung und Individualisierung hergestellt. Allerdings kehrt ihn Lukács gegenüber Simmel um: für Simmel (1908) wie schon für Marx (MEW 2, 127; MEW 3, 74; MEW 13, 615) ist Vergesellschaftung eine Voraussetzung der Individuierung. Lukács sieht nun die vollendete Individuierung als Voraussetzung einer höheren Vergesellschaftung an. So heißt es einmal über die Sozialistischen Entscheidung (vgl. Tillich 1933). Über Ethik spricht er 1917 nur nebenher und erkenntnistheoretisch-abstrakt. Noch 1918 erschien ihm der „Der Bolschewismus als moralisches Problem“ (1975, 27 ff.). 140 Meist wird eine Phasen eigenwilligen Denkens (von der Zeit als Volkskommissar und den frühen politischen Aufsätzen über die neuaufgefundene Selbstverteidigung von 1925 bis zu den Blumthesen von 1929, cf. Kammler 1974) unterschieden von der Zeit der Übernahme des verordneten dialektischen Materialismus. Doch der Selbstdenker Lukács kam immer wieder hervor, die Zweiteilung ist artifiziell. Coletti meint, dass Lukács im DiaMat einen ähnlichen Hegelianismus vorfand wie den, aus dem er kam (1976, 172; cf. H. Gente in Stalin 1950, 80 f.). 141 Lukács 1967, 22. Diese „Hegelsche Überspannung“ beschreibt Lukács 44 Jahre später als „eine Konstruktion, die an kühner gedanklicher Erhebung über jede Wirklichkeit objektiv den Meister selbst zu übertreffen beabsichtigt“ (25). Zur Selbstkritik vgl. auch 1968, 645. Schon die Abrechnung von 1954 hatte entschieden selbstkritische Züge, allerdings unausgesprochen, wie überhaupt viele von Lukács Schriften einen biographischen Bezug haben (Jung 2000, 23 f.; cf. Grunenberg 1976). Auch darin ist er Existentialist geblieben. 142 Cf. Jung 1988. Lukács’ „Totalität“ ist die Geschlossenheit eines Werkes: „Totalität [...] bedeutet, dass etwas Geschlossenes vollendet sein kann“ (1916, 27). Die „dialektische Totalitätsbetrachtung“ (1923, 22) – von der Lukács ebenso wenig wie später Adorno anzugeben weiß, wie sie zu erlangen sei – ist auf den Gedanken des idealistischen Systems bezogen: die größte „Antinomie des bürgerlichen Denkens“ besteht darin, dass sie es nicht zum System bringt (1923, 128; zur affirmativen Haltung zum Systemdenken bereits 1911, 29/36). Zum Konzept „Totalität“ Jay 1984.

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Romantiker (dies lässt sich, wie vieles bei Lukács, auch autobiographisch lesen): „sie hofften, gerade die heftigste Entfaltung der Persönlichkeit werde letzten Endes die Menschen einander wieder näher bringen“ (1911, 75/108). Eben diese Totalität, diese Geschlossenheit des individuellen Lebenshorizontes, ist nun aber abhanden gekommen – wie Lukács, auch hier Idealist, andeutet, vermutlich durch geistige Prozesse (1916, 16). Doch es gibt eine Macht, die das ändern könnte: Die Kunst kann individuellen Lebenssinn ermöglichen, weil, zumindest nach Diltheys Hermeneutik, Totalität „formendes Prius jeder Einzelerscheinung“ ist (1916, 27).143 Nach dem vorgeblichen Zerfallen der „Einheiten“ (1916, 31) könnte nur noch die Kunst Totalitäten aufzeigen – in dieser ästhetizistischen Kompensationsthese folgte ihm dann die Frankfurter Schule.144 Denn Kunst enthält Ganzheit, oder besser: verschiedene Kunstwerke enthalten verschiedene individuelle Ganzheiten. Lukács gibt später einen Hinweis auf die Arbeitsweise, die er, Mannheim und andere entwickelt hatten: „Es wurde Sitte, aus wenigen, zumeist bloß intuitiv gefühlten Zügen einer Richtung, einer Periode etc. synthetisch allgemeine Begriffe zu bilden, aus denen man dann deduktiv zu den Einzelerscheinungen herabstieg und so eine großzügige Zusammenfassung zu erreichen meinte“ (1916, 7).

Karl Mannheim nannte dies „Stilanalyse“. Sie war nicht zufällig der Kunstgeschichte entliehen.145 Aber es enthält zugleich das Problem, das der moderne „Stil der Stillosigkeit“ zu haben meinte: das Relativismusproblem (Simmel 1900, 591 ff.). Denn die Kunst kann „heute“ gerade keine Totalität mehr erzeugen – erst hier wird der Blick auf die Wirklichkeit gelenkt, ausgehend vom Subjekt und vermittelt über die Kunst –, weil „die Welt“ dies nicht mehr hergibt: „Totalität des Seins146 ist nur möglich, wo alles schon homogen ist, bevor es von den Formen umfasst wird, wo die Formen kein Zwang sind“ (Lukács 1916, 28). Eine „neue Welt“, wie immer sie auch aussehen mag, ist also das Fernziel. Möglich wäre sie nur über den Weg einer „neuen Kultur“, zu der wiederum „die 143 Die „Totalität des transzendenten Weltaufbaus“ – also nicht so sehr der realen Welt als vielmehr der „Weltanschauung“ – ist „für jedes Einzelgeschick das vorbestimmte, sinngebende und umfassende Apriori“ (Lukács 1916, 57). Diese dogmatische Vorordnung eines transzendental leistenden Mega-Subjektes begegnet bei Heidegger erneut (2.5.5; vgl. bereits Freyers „Apriori“ des objektiven Geistes, Fn. 80, 123). In der Gegenwart wird diese noch immer tradiert, wenn auch euphemisiert als Sage vom „normativen Rahmen“ (siehe dazu 3.1.3). 144 Zur „Bürgerlichkeit“ der Kritischen Theorie Willms 1969, 82 ff.; Riedel 1994. 145 Barboza 2002 geht der Bedeutung der Kunstgeschichte für Mannheim nach. Lichtblau 1997, 178 ff. und Luckhardt 1994 beschreiben die generelle Bedeutung der ästhetischen Dimension für die Kultursoziologie dieser Zeit. Michel 1972 versteht die Ästhetik als Klammer des gesamten Werkes von Lukács. 146 Das meint hier: innerhalb des Kunstwerks, und damit des individuellen Lebenshorizontes, das durch die Kunst geprägt wird. Das „Sein“ im Sinne von real Seiendem ist vielmehr durch das „alles“ angesprochen. Man bemerke hier übrigens den unübersehbaren Einfluss von Emil Lask (cf. Rosshoff 1975).

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einzig mögliche Grundlage nur eine Kunst“ ist (1911, 71/103). Hier gerät Lukács in einen Zirkel, der sich wenig später in anderer Besetzung wiederholen wird. Er besteht darin, dass die Menschen, die so etwas bilden könnten, gerade vor dem Lebensproblem stehen, dass die „Entfaltung der Persönlichkeit“ (1911, 75/108) eben jene Kunst voraussetzt, die sie erst schaffen sollen. Es müsste erst eine „neue Kunst“ erschaffen werden, die eine Totalitätsbetrachtung vollbringen kann, damit sich die „Totalität“ selbst bilden kann – also das Weltbild von Menschen, die in der Lage wären, eine „neue Welt“ zu schaffen. Doch diese „neue Welt“ wäre nötig, damit eine neue Kunst und neue Kultur entstehen kann. Aus diesem schlechten Zirkel kann nur ein Wunder helfen, das als deus ex machina von aussen hinzutritt. Ähnlich wie beim klassenbewusstlosen Proletariat ist es eine selbsternannte „Avantgarde“, die – woher auch immer – die Mittel und das Wissen hat, den Zirkel aufzusprengen. Hierin drückt sich die Fremdheit aus, die die Intellektuellen, die sich diese Rolle damit ja selbst auf den Leib schneidern, gegenüber der Gesellschaft empfinden, in der sie sich selbst nicht mehr verorten können.147 Zwar unterscheidet Lukács’ pessimistische Einschätzung ihn von rechtskonservativen Denkern, die eine solche Totalität dennoch in der Kunst suggerieren (wie Stefan George), oder die eine solche Homogenität gewaltsam erzeugen wollen (wie Carl Schmitt).148 Zugleich zeigt sich aber gerade hier Lukács’ Vergeisteswissenschaftlichung: eine präskriptive Ästhetik tritt formend in die Analyse hinein („Formen“ dürfen kein „Zwang“ sein) und überlässt die Einschätzungen, wann Formen Zwang sind, und wann „alles homogen“ ist, dem ästhetischen Geschmacksurteil. Am Ende von Lukács’ Frühwerk steht eine „normative Sozialphilosophie“. Doch das ist keine Errungenschaft, nach der sich heutiges Philosophieren als Vorbild zu richten hätte. Später urteilt er über die oben zitierte Methode der Stilanalyse richtig, dies seien „willkürliche Konstruktionen“ gewesen (1916, 11).149 Die Ethik stellt hier – wie schon bei Bernstein und Schelsky – eher einen Lückenfüller dar (cf. 2.1.2, 2.4.6, 2.4.3). 147 „Das Dasein [!], die Zugehörigkeit zum Leben, die Platzierung und die Stellungnahme des großen Menschen in der Gegenwart ist immer gefahrvoller und zweifelhafter geworfen“ (Lukács 1911, 69/100). Auch die Gebrüder Jünger, der Georgekreis und andere selbsternannte „Antibürger“ meinten aus der plumpen Masse herauszustechen (Bourdieu 1988, 29; Bering 1978, Bergsdorf 1982, Lepenies 1992). 148 Cf. Gangl 1994. Dieses eher liberale Geschmacksurteil könnte mit zur Beliebtheit von Lukács im Westen beigetragen haben. 149 Lukács nennt sie später einen „abstrakt-utopischen“, aggressiven und paradoxen Idealismus“ (1967, 14, 12). Erinnert sei daran, dass Nietzsche aus demselben Motiv – eine Erneuerung des (individuellen) Lebenssinnes aus der Erneuerung der Kunst – politisch exakt gegenteilige Konsequenzen gefordert hatte: er trat nicht für eine neue „Gemeinschaft“ ein, sondern für eine neue Sklaverei: „damit es einen breiten, tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muss die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnot sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit [!] soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt sein“. Für Nietzsche ist ausgemacht, „dass zum Wesen einer Kultur das Sklaven-

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Lukács wäre nicht Lukács, hätte er dies nicht selbst bemerkt. Seine Unzufriedenheit mit seinen eigenen Arbeiten gab er schon in dem Essay über den Essay zu erkennen. Er gab zu, dass die vom Essayisten gefällten Urteile nur auf Kredit gefällt seien, sie entbehrten der wirklichen theoretischen Rechtfertigung und seien „bei Gelegenheit von ...“ entstanden (1911, 27/33): „nur durch die richtende Kraft der geschauten Idee [durch den Ausweis der Urteilskriterien, CH] rettet er sich aus dem Relativen und Wertlosen – wer gibt ihm aber dieses Recht zum Gericht?“ (1911, 28/35). Der Essayist „ist ein Täufer, der auszieht, um in der Wüste zu predigen von einem, der da kommen soll [...] und wenn jener nicht kommt – ist er dann nicht ohne Berechtigung? Und wenn jener erscheint – ist er dann nicht überflüssig geworden?“ (29/36).

Diese Frühphilosophie war zutiefst bürgerlich konzipiert: Die normative Sozialphilosophie eröffnet den Ausblick auf eine „neue Welt“ (157; cf. 1911, 69). Diese ist deswegen nötig, weil nur in ihr die Kunst wieder zu einem geschlossenen Weltbild durchstoßen könne. Die Kunst wiederum ist dafür nötig, dass das Individuum sich verwesentliche (eine „Ethik der Genialität“, 1911, 69).150 Lukács’ Haltung in der ungarischen Revolution 1919 bestätigt diese Rangfolge: Politik sei „bloß Mittel, die Kultur ist das Ziel“.151 Ist in dieser Heilslehre der Kunst die Bedeutung und Wirkmacht der Kunst nicht immens überschraubt? Zumindest ist sie gegenüber Marx auf den Kopf gestellt. Der spätere Lukács distanzierte sich von ihr, wenn auch verdeckt – im Medium einer Schellingkritik (1954, 114 ff.). Wie manifestiert sich diese vergeistigte Grundorientierung nun in Lukács’ marxistischen Schriften? Eine Diltheysche Orientierung auf „geistige“ Totalität ist dort nach wie vor prägend, nur glaubt er sie jetzt gefunden zu haben. Im frühmarxistischen Oeuvre versteckt sich das in Anspruch genommene „System“ noch unter der Leerformel „dialektische Totalitätsbetrachtung“ (1923, 22). Der ältere Lukács bezog sich dann affirmativ auf den dialektischen Materialismus (der Geist Hegels aus den Händen von Engels, Lenin und Stalin),152 auch wenn er ihn in seinen Systemen, der großen Ästhetik und der großen Ontologie (Lukács 1963 und 1968), noch einmal zu modifizieren trachtete. Eine spekulative Identität von Idealismus und Materialismus ist hier mit Händen zu greifen: Lukács wirft sich

tum gehöre“ (Nietzsche 1930, 211 f.; Nachlass). Noch für Hayek und Friedman Übrigens ist die hohe Kultur ein Argument für die Ungleichheit (Friedman 1962, 168; 3.2.1). 150 Eine Ethik der „Verwesentlichung“ (zu Lukács cf. Keller 1984) tritt bei Heidegger, völkisch überformt, erneut auf (Bourdieu 1988, 88f.), und wird schließlich zum NS-Gemeingut (cf. Henning 1999, VI.4). 151 Lukács 1975 I, 94; cf. 132 ff. („Alte und neue Kultur“ von 1919). Mitten im Geschehen wurden Mitrevolutionäre angehalten, sie sollen „erst einmal ‚Die Brüder Karamasow’ von Dostojewski lesen“ (Jung 1989, 82, cf. 84). Auch später ergriff Lukács für die bürgerliche Kunst und Ästhetik des 19. Jahrhunderts Partei. 152 Zur Verwandtschaft des DiaMat mit Hegels Naturphilosophie Coletti 1976, 7-58.

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auf ein System, das sich zwar materialistisch nennt, aber nach einer ähnlich aprioristischen und deduktiven Methode verfährt wie die idealistischen Systeme. Mit der „Marx’schen Methode“ (1923, 13; cf. Bernstein 1899, 17; 2.3.2), die wie jede wissenschaftliche Arbeit sich zunächst der zugrundeliegenden Materie bzw. den Anschauungen von dieser widmet und ihr nur die Formen zuschreibt, die sich an ihr selbst ausweisen lassen, hat diese Systemphilosophie kaum noch etwas gemein (Kolakowski 1977 III, 324 ff.). Von der Angewiesenheit auf Empirie hatte sogar Lukács’ neukantianischer Lehrer Emil Lask noch mehr gewusst. Auch als Marxist bleibt Lukács dem idealistischen Systemdenken verhaftet. Sein berühmtestes Werk kritisiert das Bürgertum deswegen, weil seine Philosophie zu einer solchen Totalitätsbetrachtung („Weltanschauung“) nicht mehr befähigt sei (Lukács 1923, 122 ff.). Dies liege aber nicht an verbesserungsfähigen inhaltlichen Fehlern, sondern der Vorwurf wird in Umdrehung des genetischen Fehlschlusses auf das Subjekt der Wissenschaft verlängert.153 Wie nur in einer Identitätsphilosophie möglich, wird von der Theorie auf das Sein zurück geschlossen, obzwar dies für Lukács nicht mehr homogen, sondern in zwei Klassenlager gespalten ist. Die bürgerliche Philosophie bringt es nicht deswegen zu keiner „Totalitätsbetrachtung“ mehr, weil sie faktisch falsch philosophiert, sondern weil sie durch ihr falsches „Sein“ gar nicht anders denken kann: „dies wäre nur möglich, wenn die Philosophie durch eine radikal anders gerichtete Fragestellung, durch ein Gerichtetsein auf die konkrete, materielle Totalität des Erkennbaren [...] die Schranken dieses [...] Formalismus durchbrechen würde. [...] Es ist klar, dass die Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft hierzu unfähig sein musste [...] eine radikale Veränderung des Standpunktes ist auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich“ (1923, 121).

Der Grund für die Unmöglichkeit ist die Identität von Denken und Sein in der Vorstellungswelt von Lukács. Einem vulgärmarxistischen Determinismus entkommt man also durch eine vergeistigende Hegelianisierung gerade nicht, auch wenn es das Lehrbuchwissen über Lukács gern so hinstellt. Geschichte und Klassenbewusstsein kulminiert darin, dass es endlich den konkreten Träger gefunden habe, der als „das identische Subjekt-Objekt des Geschichtsprozesses“ (1923, 217) die Spaltung des Denkens in Subjekt und Objekt (136, 181) aufhebt – woran der deutsche Idealismus bislang vergeblich gearbeitet hatte. Darin, dass hier ein „Träger“ ins Spiel kommt, zeigt sich der idealistische Ansatz.154 Lukács entwickelt seinen Ansatz innertheoretisch. Worauf es ihm ankommt, die theoretische „Intention auf die Totalität der Gesellschaft“ (190), wird dem Proletariat eher un-

153 „Die bürgerliche Wissenschaft betrachtet die Erscheinungen der Gesellschaft [...] stets vom Standpunkt des Individuums. Und vom Standpunkt des Individuums kann sich keine Totalität ergeben“ (Lukács 1923, 40). 154 So Kammler in Lukács 1975 I, 22; P. Anderson 1978, 93 f.; Jung 1988, 86; Jung 2000, 87 (cf. Fn. 131, 135, 137).

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terschoben, „zugerechnet“ (89).155 Nicht das wirkliche Proletariat, sondern sein „Bewusstsein“ ist der entscheidende Faktor („Aus der Krise des Kapitalismus kann nur das Bewusstsein des Proletariats den Ausweg zeigen“, 88). Dies sei nicht zu verwechseln mit dem „tatsächlichen, psychologischen Bewusstseinszustand der Proletarier“ (86); es lebe vielmehr in der „Partei“ (88). In der Konstruktion dieses absoluten Geistes überschlägt sich der Idealismus: Die Identität von Denken und Sein ist schon im voraus „gesetzt“; es geht darum, dass die halbe Totalität (das Proletariat) in seinem Denken endlich die ganze Totalität „setze“, die es zwar schon sei, aber nur negativ; an sich, nicht für sich (40): „Die Totalität des Gegenstandes kann nur dann gesetzt [!] werden, wenn das setzende Subjekt [!] selbst eine Totalität ist; wenn es deshalb, um sich selbst zu denken [!], den Gegenstand der Totalität zu setzen [!] gezwungen ist. Diesen Gesichtspunkt der Totalität als Subjekt stellen in der modernen Gesellschaft einzig und allein die Klassen vor“.

Für die Arbeiterbewegung ist ein Klassenbewusstsein wichtig, damit sie geschlossen handeln und vor ihren Mitgliedern überhaupt die Legitimität als Arbeiterbewegung wahren kann. Aber damit fängt die politische Auseinandersetzung erst an. Für Lukács dagegen ist dies schon der Punkt, von dem alles weitere abhängt. Darin erst, nicht schon in der Berücksichtigung des „Proletariats“, liegt sein Messianismus: es geht ihm noch immer um die Ankunft des Geistes (um eine „Verwandlung“, 224, 228). Noch nämlich ist er nicht da – genau wie schon bei Fichte wird der Punkt der Verschmelzung von Sein und Denken in eine theoretisch mythisierte „Praxis“ gelegt (Fn. 160, 166), deren Kommen nahe bevorstehe (1923 war solch ein Versuch gerade blutig gescheitert). Hier interessieren vor allem die gravierenden Konsequenzen, die diese gewagte Konstruktion für das Verständnis von Theorie hat (Königs Punkt 7). Es geht – abgesehen von dem Appell zur Revolution um ihrer selbst willen – inhaltlich weniger um Politik (die „Machtergreifung des Proletariats“ und die „sozialistische Organisierung von Staat und Wirtschaft“ seien nur eine Etappe, 227), als vielmehr um einen geistigen Umschwung – ganz wie bei Eucken. Das Hauptproblem, von dem das Buch ausgeht, ist ein geistiges: die „Verdinglichung“. Gerade hier, im Kern, entfernt sich Lukács von Marx und greift stattdessen auf Simmel und Weber zurück (99 ff.; Jay 1984, 109). Marx benutzt den Terminus „Verdinglichung“ zweimal, und zwar für fest umrissene Phänomene, nämlich für die falschen Vorstellungen von Wirtschaft, die die bürgerliche ökonomische Wissenschaft hat:156 155 „Es gilt also das Subjekt der ‚Tathandlung’ aufzuzeigen und von der Identität mit seinem Objekt ausgehend alle zweiheitlichen Subjekt-Objekt-Formen als von ihr abgeleitet, als ihr Produkt zu begreifen“ (1923, 136). Die Frage, deren Antwort „das Proletariat“ ist (als „identisches Subjekt-Objekt“, 217), stammt von Fichte. 156 Die zweite Äußerung scheint Lukács’ These schon eher zu erlauben: „Es ist ferner schon in der Ware eingeschlossen, und noch mehr in der Ware als Produkt des Kapitals, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsbestimmungen und die Versubjektivierung der materiellen Grundlagen der Produktion, welche die ganze kapitalistische Produktionsweise charakterisiert“ (MEW 25, 887). Über eine uni-

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„Kapital-Zins, Boden-Grundrente, Arbeit-Arbeitslohn, in dieser ökonomischen Trinität als dem Zusammenhang der Bestandteile des Werts [...] mit seinen Quellen ist die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse [...] vollendet: die verzauberte [ … nicht entzauberte! CH] Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben“ (MEW 25, 838).

Genau im Sinne der Simmelschen Tieferlegung des Marxismus, die er später so scharf kritisieren sollte (Lukács 1954, 359), macht Lukács daraus eine allgemeine Aussage über alles: Die „Warenform“ sei „die herrschende, alle [!] Lebensäußerungen entscheidend beeinflussende Form“ (1924, 95), die „Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins“ (97; cf. 187). Was ist hier geschehen? Lukács hat die Marx’sche Bestimmung zunächst aus der Theorie in die Wirklichkeit geholt (ontologisiert), diese Wirklichkeit aber zugleich idealisiert, indem er sie als monoprinzipiell „konstituiert“ begreift – er spricht fichteanisch von einer „Ableitung der Kategorien“ (226). Diese Vergeistigung (von realen Problemen wird zum Denken hin weggelenkt) legt die Fixierung auf das „Bewusstsein“ schon in den Ausgangsbedingungen fest. Dadurch handelt sich Lukács allerdings ein neues Dilemma ein: wie soll in einer total verdinglichten Welt (98, 227) noch ein erlösendes „Klassenbewusstsein“ möglich sein? „Dieses Dilemma hat Lukács letzten Endes nicht lösen können“ (Jung 2000, 21; 1989, 102). Stefan Breuer (1977) wollte daraus noch fünfzig Jahre später eine „Krise der Revolutionstheorie“ ableiten.157 Damit ist etwas Richtiges getroffen: in der Tat ist es eine Krise der Theorie (Königs Punkt 6). Das Dilemma betrifft die Theorie als Theorie. Sie kommt bei Lukács vorab nur als philosophische vor, und er versucht, sie aus sich selbst heraus rund zu bekommen. Doch gerade dadurch verunmöglicht er sie. Lukács braucht in seiner Theoriearchitektonik das Klassenbewusstsein nicht für die Politik (227). Vielmehr ist die „Verwandlung“ (224), die „Aufhebung aller Verdinglichungsformen“, die das Proletariat vollbringen soll, indem es sich „wirklich praktisch verhält“ (225), für die Theorie selbst nötig. Das System braucht das Proletariat als den „Erzeuger der Totalität der Inhalte“ (135): Das nun erst mögliche theoretische „System [...] würde erst jene konkrete Totalität der Kategorien ergeben, die für die richtige Erkenntnis der Gegenwart vonnöten wäre“ (226).158 Doch wie ist die „Erkenntnis der Gegenwart“ vorher möglich? Genau an diesem Punkt verwässert Lukács die Marx’sche Theorie ins philosophisch-unfassbare,159 und zwar gerade dadurch, dass er sie durch seine idealisversale Warenförmigkeit ist aber auch hier nichts ausgesagt. Solche philosophischen Thesen hätten dem reifen Marx auch fern gelegen. 157 Wie der Terminus „Revolutionstheorie“ zeigt (schon er verschiebt die Frage auf eine innertheoretische Ebene), liest er Lukács genauso gutgläubig wie Habermas, dessen häufige Wendung „heute nicht mehr“ suggeriert, dass es zu Lukács’ Zeiten einmal ein „Klassenbewusstein“ gegeben habe (2.4.5; 3.1.3; vgl. MEW 42, 97). 158 Zur „Erfüllung im großen, erlösenden System“ Lukács 1911, 29; 1923, 128. Der „Wille zum System“ bestimmt noch die Ästhetik (1963) und Ontologie (1968). 159 Auch nach Kolakowski nahm der Marxismus „bei Lukács eine irrationale und wis-

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tische Identitätssetzung von „Denken und Sein“ (136, 221, 223) konkreter zu machen glaubt. Wie nämlich ist der Verdinglichung entgegenzutreten? Lukács geht es darum, „die verdinglichte Struktur des Daseins praktisch zu durchbrechen“ (216, Hvg. CH). Diese nach Fichtes Muster gestrickte Dramaturgie handelt sich dieselben Probleme ein, die schon Fichte hatte.160 Es folgt der nämliche Zirkel wie bereits in der Frühphilosophie (nach Fichte 1794, 12): dies kann nur das Proletariat leisten, aber nur unter Voraussetzung nicht ihres eigenen, „psychologischen“ Bewusstseins (88), sondern als Exekutoren des theoretisch konstruierten absoluten Geistes des „Klassenbewusstseins“. Dieses wiederum setzt just die Theorie voraus, die es durch sein erlösendes Handeln allererst ermöglicht. Luxemburgs politische Spontaneität wird hier auf die Theoriebildung übertragen,161 wie umgekehrt das theoretische Phänomen der Verdinglichung gesellschaftlicher Kategorien umstandslos in die Wirklichkeit projiziert wird. Dadurch aber, dass Lukács Denken und Sein hier nicht mehr unterscheidet, blockieren sie sich gegenseitig. Das ist in der Tat eine veritable Krise der Theorie (etwas, was Lukács selbst „Irrationalismus“ nannte), aber – und das ist da wichtige daran – sie geht nicht auf Marx zurück. Denn wie war Marx mit der Verdinglichung umgegangen? „Es ist das große Verdienst der klassischen Ökonomie, diesen falschen Schein und Trug, [...] diese Religion des Alltagslebens aufgelöst zu haben“ (MEW 25, 838). Anders als Lukács’ Konstruktion es vorsieht, haben also ökonomische Theoretiker die Verdinglichung durchdrungen – wie sich Naturwissenschaftler wie Kopernikus und Newton in ihren Theorien offenbar erfolgreich von dem unmittelbaren Augenschein (und „Klassenstandpunkt“) haben lösen können. Marx ist selbst einer der Theoretiker, die dieses „kritische Geschäft“ betrieben (daher sind auch Vorwürfe ad personam, wie der, Karl Marx sei doch eigentlich ein „Bürger“ gewesen, auch so gehaltlos). Was ist davon nun in Lukács’ philosophischen Marxismus eingegangen? „Man könnte [...] sagen, dass das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware den ganzen historischen Materialismus .. in sich verbirgt“ (Lukács 1923, 186). Genau das nun kann man mit Sicherheit ausschließen – vielmehr erhellt umgekehrt erst die Kenntnis der sachhaltigen Theorien von Marx dieses Kapitel.162 senschaftsfeindliche Form an“ (1977 III, 327). Er entdeckt bei Lukács einen Zirkel zwischen „Totalität“ und „dialektischer Methode“. 160 Für Rosshof 1975 ist „kein theoretisch-systematischer Unterschied bei Lukács gegenüber Fichte zu sehen“ (90, mit Verweis auf Lud). Der Anspruch der Theorie lässt sich, dermaßen überhöht, gerade nicht mehr einholen. Dafür wird nun eine fingierte „Praxis“ in Anspruch genommen, um die Probleme der Theorie zu lösen – statt beide in ihrem eigenen Recht wahrgenommen zu werden (cf. Habermas 1984, 482 ff.; 1985, 75 ff., 380 f.). 161 Es ging ihr um Institutionen, die sich im Massenstreik spontan herausbilden würden (Luxemburg 1905, cf. Lukács 1923, 39 ff., bes. 53; auch 276 ff.; zu Luxemburg siehe auch den Artikel in Neumann 1977). 162 Nach Steinvorth 1977, 6, 32 ff. ist dieses Kapitel eine Art Vorwort, welches lediglich einiges davon einführend vorwegnimmt, was im Rest des Buches (auf zwei-

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Dass theoretische Gehalte für Lukács inhaltlich keine Rolle spielen, zeigt sein Bonmot, das Kriterium für „Marxismus“ beziehe sich „ausschließlich auf die Methode“ (13). Der Gegenstandsverlust und der Abschied von Marx im Herzen des Marxismus, die die vorigen Kapitel verfolgten, werden von Lukács verfestigt.163 Er reduziert Theorie auf philosophische Theorie, will diese als ein System konstruieren („das Ganze des Wissbaren [...] einheitlich zu bewältigen“, 132), und muss sie dann auf eine utopisch-mystische „Praxis“ gründen. Auf diese Weise hat er Marx’ ökonomische Theorie verabschiedet, die Philosophie idealisiert, und die Sicht auf die reale Praxis mit spekulativem Ballast überladen und damit gerade verstellt. Die „Entscheidung“ für einen Marxismus, dessen theoretische Gestalt gar nicht von Interesse ist, ist weder politisch noch theoretisch begründet, sondern sie folgt unausgesprochen einer „geisteswissenschaftlichen“ Ethik. Ganz ähnlich wie Eucken folgt auch Lukács einer Sehnsucht nach „Gemeinschaft“ (1911, 75/108), die die bestehenden Verhältnisse und Institutionen hinter sich lassen will und erst in einer seltsamen Körperlosigkeit als möglich gedacht wird (s.u., Fn. 31). Wie daher Eucken Natur und Gesellschaft zu verdrängen gezwungen ist, so verfolgt auch Lukács in seinem im Grunde mystischen Buch das Ziel, nicht nur die „Warenform“ loszuwerden (schon dies ist ein unerreichbar abstraktes Ziel), sondern die Gegenständlichkeit überhaupt (191 ff.).164 Coletti 1976, 165 erblickt gerade darin ein Erbe Hegels.165 einhalbtausend Seiten) eingehend entwickelt wird. Der Schluss: ‚also steckt doch auch die Theorie dort drin’ ist für Marx nicht zulässig, da Das Kapital kein philosophisches Buch ist, welches im Sinne eines Systems aus Kategorien deduziert (siehe MEW 4, 125 ff.; I. Hunt 1993; 2.3.4; 2.5.7). 163 Jeder „ernsthafte [...] Marxist“ könne getrost „sämtliche einzelnen Thesen von Marx verwerfen“ (1923, 13). Ausgerechnet diese These wird von dem sonst so selbstkritischen alten Lukács aufrechterhalten (1967, 28). 164 Lukács spricht von der „Verwandlung der Gegenständlichkeit der Objekte“ (1923, 191), einem „Flüssigwerden, [...] Prozesswerden jener Gegenstände“ (192) davon, dass „das starre dinghafte Sein der Objekte [...] sich als bloßer Schein enthülle“ (196) und von der „Aufhebung aller [!] Verdinglichungsformen“ (225). Die Marxzitate dienen als Beispiele, die im Grunde austauschbar sind. Dahinter steht die deutsch-idealistische Tradition: „da das Bewusstsein hier nicht das Bewusstsein über einen ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern das Selbstbewusstsein des Gegenstandes ist, umwälzt der Akt des Bewusstwerdens die Gegenständlichkeitsform seines Objekts“ (195). Lukács hatte sich zuvor intensiv mit Meister Eckhart beschäftigt (Keller 1984, 133 ff.; Jung 1989, 56). In seiner Selbstkritik von 1967 führt er diesen „messianischen Utopismus“ (20) auf die mangelnde Unterscheidung von Entfremdung/Verdinglichung (die synonym seien, 27) und Vergegenständlichung zurück (26), die ihm erst 1930, beim Lesen der Marx’schen „Pariser Manuskripte“ von 1844 (MEW 40) aufgegangen sei (38). Der „fundamentale und grobe Irrtum“ (26) war: Vergegenständlichung lasse sich nach Marx nicht „aufheben“ (vgl. das Motto zu 2.5.7). 165 Die „Verwirklichung des Prinzips des Idealismus schließt die Auflösung des Endlichen und die Vernichtung der Welt ein“ (Coletti 1977, 42). Coletti gehört zu den wenigen Philosophen, die nicht aus Betriebsblindheit den ungeheuren Nihilismus im deutschen Idealismus übersehen. Von Jacobi bis Marcuse verfolgt er die Ge-

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Am Ende dieser akt-mystischen Kontemplation steht endlich die ersehnte „Gesellschaft der Liebe“ (Lukács 1919, in: 1975, 87), besser: die neue „Gemeinschaft“.166 Darin unterscheidet er sich kaum von Bloch. Lukács verfällt eben der Kritik, die er selbst einst an den Romantikern geübt hatte (Lukács 1911, 75/109): „Die tatsächliche Realität des Lebens entschwand vor ihren Blicken und wurde von einer anderen, von der poetischen, der rein seelischen ersetzt.“167 Lukács hat die Gegenstände der Marx’schen Theorie zu „geistigen“ gemacht („die Macht einer jeden Gesellschaft [ist] im Wesen doch eine geistige Macht“, 267; cf. 1967, 21). Für den rhetorisch glänzenden Balanceakt, den er hier vollführt, reklamierte er wirkmächtig den Titel marxistische Dialektik. Diese „Dialektik des Überbaus“ (Benjamin) hat mit Marx allerdings nur noch wenig zu tun. Der Weg zu einer sich auf Marx berufenden, damit aber eher „Lukács“ meinenden Kulturkritik von Adornos ästhetischer Theorie bis zu Habermas’ körperloser schichte der „Zerstörung des Verstandes“ (1976, 122), der deutschen Wissenschaftsfeindlichkeit (cf. Callinicos 1983, 99 f.). 166 Lukács Vorstellungen tragen durchaus die regressiven Züge, die in dem Gemeinschaftsbegriff, den er allerdings kaum verwendet (1911, 72/103), enthalten sind (Kammler 1974, 87; Jung 1989, 87). Ähnlich sprach Bloch höchst ambivalent vom neuen „Reich“ (1923, 346). Mannheim 1929 verfolgte die Übertragung der Mystik auf die Politik bei Bloch und Lukács wieder auf die Bauernkriege zurück, wo sie einmal ihren Ort hatten. Lukács 1967, 20 kritisiert, dass sein Begriff „Praxis“, weil er nicht im realen Geschehen verankert war, zu einer neuen „Kontemplation“ geführt habe – aber eine, die nicht mehr theoretisch sei. Denn gegen die Theorie (gerade auch die „ökonomische“ im Sinne der II. Internationale) war der Praxisbegriff ja ins Feld geführt worden (1923, 39, 176; vgl. Gramsci 1917). Hier benennt Lukács seine Rolle als Gründer des „westlichen Marxismus“ (P. Anderson 1978). Lukács verweist sogar auf die Rolle, die Sorel für ihn gespielt habe (1967, 12) – später eine persona non grata (1954, 27). 167 Diese vorauslaufende Selbstkritik zeigt Lukács’ auch eigenes Problem an, mit dem zeitlebens gekämpft hat: die „Suche nach Ganzheit“ (Harrington 2002) droht sich in dem Maße, wie sich diese in der Kunst oder im philosophischen System ankündigt, von der Wirklichkeit zu entfremden. Sie ist damit gerade keine Totalität mehr. Anders als der erkenntnistheoretische Idealismus, der das dem Systemschluss Entgegenstehende als irreal setzen kann („um so schlimmer für die Wirklichkeit“), ist der Materialismus allerdings auf die Realität verwiesen, die er so aber nie erreicht. Darin besteht seine Zerrissenheit. Dass eine Entscheidung zum Marxismus gerade nicht vor der Flucht in romantische Überwelten schützt, bestätigt in anderem Kontext auch Koenen. Nach ihm trug die Weltanschauung der radikalen Studenten 1968 „einen weithin monologischen, fast autistischen Charakter und zielte weder auf Wissen noch auf Verstehen im engeren Sinne. Vielmehr war es der Drang, ein noch unbestimmtes Welt- und Lebensgefühl in Metaphern oder Formeln zu fassen und sich eine Gegensphäre der Theorie, der Geschichte, der Literatur zu schaffen – in heutigen Begriffen: eine virtuelle Realität, die die empirische Gegenwart transzendierte und weithin ersetzte“ (Koenen 2001, 46 – wir nennen dies den „objektiven Geist“). Retrospektiv sieht er darin einen „neulinken Doktrinarismus“, der den altlinken Dogmatismus „im Streben nach ‚Totalität’ noch deutlich übertrumpfte“ (52). Tatsächlich las Dutschke begeistert Heidegger (46) und den frühkommunistischen Lukács (50; vgl. auch das biographische Vorwort in Krahl 1971, 19 ff. Die Weltlosigkeit kulminierte in der RAF tragisch, Koenen 2001, 362, 407).

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„idealen Kommunikationsgemeinschaft“ war damit ebenso eröffnet wie der zu ihrer Rückübersetzung in die Lebensphilosophie bei Heidegger.168 Marx ist erst durch Lukács wieder zum Philosophen geworden. Seine Gedanken haben erst in dieser Form ihren Weg in die deutsche Philosophie gefunden. Diese Philosophisierung trieb jedoch die Inhalte aus: schließlich hatte der unkonstruierbare Inhalt der rationalen Form, die Anschauung, den Systemschluss stets verhindert (1923, 130). Statt der „Vernunft“, des Denkens in philosophischen Systemen, verabschiedete Lukács den „Verstand“ – die Ratio der ökonomischem Theorie und der in ihr begriffenen empirischen Realität (Fn. 165). Auch der späte Lukács konnte sich nicht von den vergeistigenden Denkmustern lösen.169 Noch die „Ontologie“ ist lebensphilosophisch-vergeistigt: Die reale Geschichte ist ihm die Geschichte des Geistes; der Formen, Gegenstandskategorien und Kunstgattungen (Die „Geschichte [ist] die Geschichte der Veränderung der Kategorien“).170 Die Fundierung seiner eigenen Theorie in einer konkreten Analyse der Realität, die er 1967 hellsichtig einklagt, lieferte er selbst an keiner Stelle. Die Ontologie geriet zu einer „Philosophie des Marxismus“ (1967, 13), die ausgehend von Nikolai Hartmann erneut ein „System“ erbaute. Vom Realen ausgehen und dies analysieren, um seine Beschaffenheit theoretisch-systematisch darzustellen, ist eine ganz andere Art von Philosophie als von einem philosophischen Begriff des Realen auszugehen, um darauf ein philosophisches System zu errichten (Fn. 30; MEW 1, 379). Habermas’ Kritik am marxistischen „Produktivismus“ (1985, 80, 96) trifft allein diesen philosophischen Marxismus. Doch gerade weil Lukács dem „bürgerlichen“ Denken so verhaftet war, gehört er zu seinen brillantesten Kritikern und Analysten.171 Wo er andere kritisiert 168 Die abstrakte Ablehnung ‚der’ Moderne war mit Nietzsche ohnehin aus der Ecke gekommen, zu der sie mit Heidegger dann wieder zurückfindet (vgl. 2.5.5). 169 Obwohl erst die philosophische Behandlungsart seinen „abstrakt utopischen Idealismus“ (1967, 14) evoziert hat, meint Lukács, es habe am zu engen Gegenstandsgebiet gelegen. Der ‚Gegenstand’ „Natur“ müsse nun bearbeitet werden, damit die „Ökonomie“ nicht mehr wie 1923 durch das Ausblenden der Natur (und des Begriffes „Arbeit“) „eingeengt“ wird (1967, 18 f.). Er kommt auf diese Weise nicht aus dem Fliegenglas heraus; er bleibt (Sozial-) Philosoph. Sein dialektischer Materialismus ist vom Bauprinzip her nach wie vor Idealismus. 170 Lukács 1981, 237; vgl. 1923, 203; 1908; Jung 2000, 25; dagegen MEW 4, 462. 171 Lukács selbst führt seine Herkunft aus dem Bürgertum sogar als Grund dafür an, dass er sich keine Illusionen über dasselbe mache (1967, 39), während Kapitalismuskritiker aus anderen Schichten immer noch insgeheim nach der Erlangung einer gewissen Bürgerlichkeit strebten (etwa 1954, 27). Der Vorwurf, „sich auf den Boden der bürgerlichen Anschauungen zu stellen“ (1923, 214), war einer der schlimmsten, den er austeilen konnte. Allerdings ist seine Klassenzurechung eine versimpelte: wer für die Kommunisten ist, denkt proletarisch, wer politisch reformerisch denkt, ist schon bürgerlich. Gerade dieser Voluntarismus aber, der nicht auf Inhalte schaut, sondern auf „Wollungen“, verbindet ihn mit der bürgerlichen Philosophie seiner Zeit. Genau wie die Lebensphilosophie dampft er die Unterscheidungen des Verstandes und die für positive Wissenschaft unverzichtbare „Unmittelbarkeit“ zu realen Objekten ein, um von einer „höheren“ Ebene aus zu

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(sich selbst eingeschlossen), gehören seine Schriften zu den besten, die der philosophische Marxismus hervorgebracht hat. Was an seinen eigenen Versuchen kritisiert werden kann, ließe sich an anderen Autoren des westlichen Marxismus ähnlich nachweisen. Auch Gramsci (1917) zum Beispiel begann mit einer Verabschiedung der ökonomischen Theorie von Marx. Wie Lukács auf Dilthey, Simmel und Weber, baute er auf Croce, Bergson und Sorel auf und variierte deren Kulturalismus.172 Der „Marxismus“ stellt in diesem idealistischen Systemdenken wenig mehr dar als eine Entscheidung zu einem bestimmten Stil (der heute aus der Mode ist). Die lebensphilosophische Weltvernichtung und „Selbstspiegelung“ (MEW 3, 465) wurde auch vom jungen Ernst Bloch prägnant formuliert: „diese Welt ist ein Irrtum und nichtig, hat vor der absoluten Wahrheit kein anderes Recht als ihren Untergang [...] Das Nichtwissen um uns ist der letzte Grund für die Erscheinung dieser Welt“ (Bloch 1923, 287); „indes drinnen, in der gotischen Stube der Selbstbegegnung [cf. Euckens Wohnzimmer-Metaphorik, s.o., Fn. 109, CH], diese ganze [...] scheinbar so reale Welt nur selbst wie ein Bild unschädlicher Erinnerung an den Wänden hängt“ (344).

Der deutsche Linkskommunist Karl Korsch, der um 1926 für seine These bekannt wurde, in Russland sei der Kapitalismus wieder eingekehrt,173 unternahm 1923 eine ähnlich lebensphilosophische Depotenzierung der marxistischen Theorie wie Lukács. Er stellte schon die Existenz einer Marx’schen ökonomischen Theorie als Ergebnis der Entfremdung dar. Nach seiner Auffassung war der Marxismus lediglich der „Ausdruck“ der wirklichen proletarisch-revolutionären Bewegung, einer bestimmten „gesellschaftlichen Praxis“ also.174 agieren: „das Individuum steht vor der objektiven Wirklichkeit notwendig als einem Komplex von starren Dingen gegenüber [...] Nur die Klasse [...] vermag sich praktisch umwälzend auf die Totalität der Wirklichkeit zu beziehen. Und die Klasse auch bloß, wenn sie in der dinghaften Gegenständlichkeit der gegebenen, der vorgefundenen Welt einen Prozess [...] zu erblicken imstande ist“ (1923, 211). Zur „Bewältigung der unmittelbaren Wirklichkeit“ sei „das Verlassen des Standpunktes der Unmittelbarkeit vonnöten“ (212). Engels’ und Lukács’ Unterscheidung von dinghaftem und prozesshaftem Denken (MEW 19, 203 ff.) ist mit der Lebensphilosophie von Bergson eng verwandt. 172 Cf. P. Anderson 1978, 87; 1979; Kolakowksi 1977 III, 243 ff.; Milner 1999, 47 ff. Gramsci war gegen den Empirismus und für die „Erlangung eines höheren Bewusstseins“. „Der Mensch ist vor allem Geist“ (1916, in 1987, 26). Er lobte Croce, der wie Lenin den „Ökonomismus“ zurückgewiesen habe (1967, 258). Gramsci wurde postum verehrt, wohl auch, weil er erlaubte, bei Beschäftigungen mit einer autonom gefassten Kultur das marxistische Gesicht zu wahren (Laclau 1985, Milner 1999, 116 ff.). Gegenüber dem deutschen Kulturalismus von Lukács bis Adorno brachte er eine internationale Note herein (Haug 1985, 127 ff.; 1996). 173 Dafür wurde er von Stalin zitiert, Linden 1992, 44 f.; Kolakowski 1977 III, 337 ff. 174 Der Marxismus sei der allgemeine „Ausdruck der selbständigen revolutionären Klassenbewegung des Proletariats“ (Korsch 1923, 88), „der theoretische Ausdruck eines revolutionären Prozesses“ (109, vgl. noch H. Fleischer und W. SchmiedKowarzik). „Ausdruck“ ist ein Grundbegriff in Diltheys Geisteswissenschaft, die Korsch wohlbekannt war (81): „Und zwar umfasst dieser Zusammenhang von Le-

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Leider nur habe es diese „Einheit“, diesen „unzerreißbare[n] Zusammenhang von Theorie und Praxis“ nur in der Zeit von 1843 bis 1848 gegeben (Korsch 1923, 100; schon dies ist eine romantische Verklärung des Geschehens). Diese Zeit wurde auch von Lenin gegenüber dem „Ökonomismus“ der späteren Jahre verherrlicht (2.2.1, Fn. 13). Nach 1848 seien bei Marx „die verschiedenen Bestandteile dieses Ganzen [...] weiter auseinandergetreten“ (100). Der junge Marx wurde also keineswegs nur von der „bürgerlichen“ Philosophie vorgezogen. 1923 fasst Korsch Marx’ spätere ökonomische Schriften nicht als wissenschaftliche Theorie, sondern noch als Teil eines philosophisch-praxeologischen „Systems“ auf.175 Gleichwohl gibt er wenig später gerade der Wissenschaftlichkeit von Marx die Schuld an der „Krise des Marxismus“, und fordert, eine grundlegend neue Theorie – wie einst Bernstein.176 Die Krise des Marxismus besteht bei ihm nicht in der Vernachlässigung der Theorien von Marx, sondern umgekehrt darin, dass der Marxismus sich als eine Theorie missverstehe. Aufgrund seiner politischen Entscheidung für den Sozialismus gegen jeden politischen Reformismus eingestellt, verklagt er Theorie als solche des „Verfallens“ in den Revisionismus.177 Korsch will „Theorie“ nur im Sinne von Philosophie gelten lassen, und zwar derjenigen der „deutschen Idealphilosophie“ (1923, 87). Er lässt Theorie im Sinne von Dilthey lediglich als „Ausdruck“, und damit gerade nicht als Theorie gelten. Ausdruck eines wirklichen Geschehens sind auch Parteiproben, Ausdruck und Verstehen [...] die dauernden geistigen Schöpfungen, in denen die Tiefe des Schaffenden sich dem Auffassenden öffnet, oder die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden [...] es ist der Vorgang des Verstehens, durch den Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird“ (Dilthey, GS VII, nach Gerlach 1991 III, 122). Auch Korsch wollte also „Tiefe“. 175 „Das System [!] des Marxismus löst sich also bei seinen Schöpfern selbst niemals in eine Summe von Einzelwissenschaften [...] auf“ (Korsch 1923, 100). In merkwürdiger Verdrehung des Unterschiedes von Philosophie und Wissenschaft heißt es: „Eine Auffassung, welche der Theorie eine selbständige Existenz außerhalb der realen Bewegung zusprechen wollte, wäre [...] idealistische Metaphysik“ (99). Auf idealistischer Metaphysik beruht vielmehr sein Glaube, einer selbstständigen wissenschaftlichen Theorie nicht zu bedürfen, da die lebensphilosophische gedachte „Selbsterkenntnis“ der Revolutionäre schon alles an Wissen enthalte. 176 Kolakowski 1977 III, 339, 351; Korsch 1938, 1972. „Die ideologische und doktrinäre Loslösung der ‚reinen Lehre’ von der wirklichen geschichtlichen Bewegung [...] ist selbst eine Erscheinungsform der bestehenden Krise des Marxismus“, damit „eine Krise der Marx-Engels’schen Theorie“ (Korsch 1971, 167; verfasst 1931). 177 „Die einheitliche Gesamttheorie der sozialen Revolution ist umgewandelt in eine wissenschaftliche Kritik der bürgerlichen Wirtschaftsordnung und des bürgerlichen Staates [...], die nicht mehr nach ihrem ganzen Wesen notwendig verläuft in einer revolutionären Praxis, sondern ebenso gut verlaufen kann [...] in allerhand Reformbestrebungen“ (Korsch 1923, 104). Er wolle „‚das subjektive Handeln der Arbeiterklasse’ und nicht die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus zum Gegenstand der Theorie machen“ (Kolakowski 1977 III, 346). So ist natürlich „ein ‚rein theoretischer’ Marxismus [...] prinzipiell unmöglich“ (343). Korsch sei „für empirische Argumente völlig unempfänglich“ (350): „Es gibt [...] keine rationalen Erkenntniskriterien mehr“; das sei der „verborgene Antiintellektualismus“ von Korsch (350).

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gramme ohne ein Gran Theorie (www.appd.de). Da Korsch die Theorie von Marx schon im Ansatz missachtet, versteht er das Revolutionäre an ihr – die Durchbrüche in der politischen Ökonomie, die das einzige sind, was von Marx im 21. Jahrhundert übrig ist – als etwas äußerliches. Das Revolutionäre kann für Korsch nur eine politische Handlung sein. Bleibt diese aus, ist auch die Theorie hinfällig. Mit dieser Reduktion von Theorie auf Praxis waren die philosophischen Weichen dafür gestellt, dass man die Theorie schnell fallen lassen konnte, als die „Praxis“ sie nicht mehr opportun erschienen ließ – wie es die Kritische Theorie im Exil und die deutsche Sozialphilosophie spätestens 1989 vollzog. Diese Verquickung von Theorie und Praxis, von Denken und Sein auf Kosten der ökonomischen Theorie ist weiter zu verfolgen, im westlichen Marxismus (2.6) und darüber hinaus (3.1, 3.3). Zuvor ist noch die letzte Stufe auf dem „philosophischen Abstraktionsprozess [...] von Marx zu Heidegger“ (König 1937, 94) zu beleuchten. Auch Heideggers Philosophie ist als eine Reaktion auf Marx’sche Thesen zu deuten, die sie zu Philosophemen verarbeitet. Doch die Philosophisierung verläuft hier indirekter als bei Lukács. Da Heidegger auf einen Marx reagierte, der schon durch Lukács zum Sozialphilosophen transformiert war, ist die philosophische Widerlegung, die Heidegger in Sein und Zeit „implizit“ gibt (Rohrmoser 1968), nur invers auf Marx zu beziehen. Doch sie ist ein zentraler Baustein in der Geschichte der Marxrezeption.178 Heidegger radikalisiert die Vergeistigung von Marx so weit, bis sie politisch in ihr Gegenteil umschlägt.179

2.5.5 Heidegger als Ausläufer „Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe.“ (MEW 3, 218)

An Eucken ließ sich eine partielle und inverse Rezeption von Marx nachweisen, doch wird er kaum noch mehr die anspruchsvolle Philosophie gerechnet. Lukács, der schon einen besseren Ruf hat, zeigte zwar eine große Offenheit gegenüber Marx, wies dabei aber erstaunlich viele Gemeinsamkeiten mit Eucken auf: beide vergeistigten Marx’sche Thesen (und bei dieser Gelegenheit gleich die ganze „unmittelbare“ Welt der Dinge), beide endeten in einem philosophischen Kampf für eine „neue Welt“, welche sich über die „wirkliche Welt“, auf die Marx die Philosophie und deren Aufhebung verpflichtet hatte (3.4.3), seltsam hinwegsetzt; darin neben Fichte und Hegel am ehesten der Mystik nahe. Allerdings war Lukács kein amtlicher Philosoph, sondern eher Literaturkritiker. Vor allem aber war er Kommunist, und damit innerhalb der Philosophie stets ein Sonderling.

178 Heidggerschüler wie Marcuse, Löwith oder Arendt haben den philosophischen Marxismus des 20. Jahrhunderts stark geprägt (Rentsch 2001, VII; Wolin 2001). 179 Eine „(falsche) Überwindung durch Radikalisierung“ (Bourdieu 1988, 120). Sie liefert „dem Konformismus die unfehlbarste Rechtfertigung“ (89; vgl. Simmel 1900, 8; dazu auch Kapitel 2.4.2, Fn. 37).

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Die These, die Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts sei als eine mal offene, mal verdeckte Auseinandersetzung mit Marx zu lesen, der dabei entökonomisiert und vergeistigt wurde, soll noch an einem ‚Vollphilosophen’ überprüft werden, der die Philosophie bis heute stark beeinflusst: an Heidegger. Er hat die damalige philosophische Landschaft tief in sich aufgenommen und zugleich neue Gedanken entwickelt. Dabei stellt Lukács, der die deutsche akademische Szene 1919 zunächst verließ, eine versteckte Mittlerstelle zu Heidegger dar,180 ähnlich wie Tönnies für Eucken und andere: bevor Gedanken von Marx von diesen Denkern zur Kenntnis genommen wurden, mussten sie zunächst philosophisch vorverdaut („rekonstruiert“) werden. Marx schien diese Vergeistigung vorauszusehen und „verließ“ darum, nicht weil er Positivist war, die Philosophie (Brudney 1998; 2.5.7).181 Lukács aber hob nicht die Philosophie, sondern Marx in die Philosophie „auf“. Darin folgte ihm Heidegger, und damit weite Teile der Sozialphilosophie. Die Krisendiagnose Euckens (2.5.3) war kein Einzelfall. Der Philosophiehistoriker Fritz Heimann bestimmte aufgrund der übergreifenden Krisenstimmung in der damaligen Philosophie die „Krise“ als das Kennzeichen der Epoche (Fn. 89). Zwar fasst Heimann sie etwas überinklusiv als „Krise des Menschen“ (1929, 5). Doch die Ursache hierfür benennt er mit Marx als dem „kritischen Wendepunkt der Philosophie“ (a.O., XI) schon genauer. Marx sei noch immer der gefährlichste Autor der Zeit (53). Interessant daran ist, dass er als die wichtigsten „Deuter der Epoche“ Marx und Heidegger bestimmt (393). Heimann scheint ein Rückbezug Heideggers auf Marx als sicher. Doch ist dieser harmonistisch als eine kritische Weiterführung Marx’scher Topoi182 oder eher als Kampf gegen Marx zu verstehen?183 Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst Heideggers versteckte Auseinandersetzung mit Marx näher zu beleuchten – die nicht zuletzt seine „Entscheidung“ für den anderen Extremismus forcierte (1). Um der biographistischen Falle zu entgehen, die darin nur ein privates politisches „Werturteil“ sieht, das mit seiner Philosophie nichts zu tun habe, wird dann der lebensphilosophische Hintergrund Heideggers konturiert, vor dem die Motive und Methoden seines Kampfes mit Marx erst philosophisch zu entschlüsseln ist (2). Dabei wird zugleich deutlich, wie es theorieimmanent zu dem ungeheuren „Nihi180 Vgl. Gudopp 1983, Goldmann 1975 sowie bezüglich Adorno Mörchen 1980. 181 „Wir befinden uns jetzt mitten in Deutschland! Wir werden Metaphysik treiben müssen“ (MEW 4, 125; cf. 3.1.3, Fn. 38). Marx zitiert Stirner: „‚Ja, es spukt in der ganzen Welt [...] Nur in ihr? Nein, sie selber spukt, [...] sie ist der wandelnde Scheinleib eines Geistes’“ (MEW 3, 136). Marx nannte die deutsche Philosophie darum „religiös“ (137, cf. 2.6.4) – und hierin ähnelt er tatsächlich einmal Nietzsche, der allerdings 40 Jahre nach ihm schrieb. 182 Marcuse 1928, 1932, Alexos 1966, Maurer 1975, Fräntzki 1978, Eldred 2000, Servais 1998, cf. Demmerling 2003. 183 So etwa Lukács 1933, 1951 und 1954, Bourdieu 1988, Gudopp 1983, Tertullian 1990. Sozialistische Werke, für die Heidegger ein „ideologischer Agent des Monopolkapitals“ war (Zweiling 1958, 45; 1961, 25), sehen ironischerweise den Marxbezug nicht und erschöpfen sich in schematischen Klassenzurechnungen.

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lismus“ Heideggers kam, der ihn der nationalsozialistischen Selbstenthauptung so ungeschützt aussetzte.

Heidegger und Marx „Wir wollen keine Sätze mehr, wir wollen uns selbst. Und damit ist die Aufgabe gestellt: Es gilt, den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien.“ (Spengler 1920, 4)

Den Strömungen seiner Zeit, selbst dem Materialismus, machte Martin Heidegger ihren Subjektivismus zum Vorwurf. Es gelte, sich der „Fundamente“ wahrhaften Philosophierens allererst zu versichern. Dies war wenig originell, es entsprach der neuhegelianischen Suche nach Wirklichkeit (s.u., Fn. 78). Hatte schon Hegel die abstrakte Verstandesphilosophie Kants vergeschichtlicht, so ging nun auch Heidegger gegenüber der als zu rationalistisch empfundenen Philosophie der Kantianer Rickert und Husserl den Weg einer konkreteren Fassung des leistenden Subjekts. Schon die Zeitgenossen Heideggers sahen in dieser Bewegung allerdings nicht so sehr eine Nähe zu Hegels Verarbeitung von Kant, sondern eher zu der Marx’schen Kritik an Hegel.184 War doch selbst Hegel noch Intellektualist, der sich im sprichwörtlichen „Lehnstuhl“ die Selbstbewegung der Gedanken lediglich ansah, während Heideggers Fassung des leistenden Subjektes, das „Dasein“, wesentlich praktischer war, ja sogar alle Leiden des wirklichen Lebens zu durchleben schien. Da Heidegger keinen Rückbezug auf Marx anzeigt, ist von einer negativen Rezeption zu sprechen. Eine solch versteckte Abhängigkeit Heideggers von Marx ist des öfteren behauptet worden – ob direkt oder über den Umweg Lukács.185 Die Annahme einer verfremdenden Umdeutung Marxens in der Philosophie ermöglicht es, auch dort nach Spuren von Marx zu suchen, wo sein Name nicht fällt. Es macht jedoch nur dort Sinn, nach Spuren zu suchen, wo sie hinterlassen werden konnten. Eine Beeinflussung durch irgendeine Strömung ist ebenso leicht zu behaupten, wie sie unwichtig bleibt, solange damit nicht entscheidende Einflüsse oder Verzerrungen verbunden sind. Eine evidente Revozierung Marx’scher Thesen lässt sich sowohl auf der polemisch-weltanschaulichen wie auf der „streng“ philosophischen Ebene finden. Ein Großteil der weltanschaulichen Note steckt in Heideggers Ausdrucksweise und der Wahl seiner Beispiele. Es wäre denkbar, diese zu ignorieren. Dann wäre bei einer Betrachtung Heideggers eine Scheidung der „eigentlichen“ Philosophie von den weltanschaulichen und zeitbedingten Zutaten vonnöten. Allerdings zieht Heidegger in seinem Hauptwerk genau diese Differenz ein, indem er der Philosophie den Boden des alltäglichen Selbstverständnisses zuweist, auf welchem sich immer schon beides vorfindet (1927, 38, § 18, §§ 26 f.). 184 Neben König 1937 Beck 1928, Marcuse 1928, Heimann 1929 und Marcks 1929. 185 Siehe Lukács 1954, 389 ff.; 1951, 164 ff.; Rohrmoser 1968, 1974; Goldmann 1966 und 1975; Bourdieu 1988; Gudopp 1983, 212 ff. und Ebeling 1993a, 69 ff. Kittsteiners (2003) Behauptung einer Verwandschaft habe ich kritisiert in Henning 2005.

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Welches die systematischen Partien sind, ist eine strittige Frage, die hier nicht interessiert (dazu Rentsch 2001) – wir nehmen Heidegger beim Wort und machen diese Unterscheidung nicht. Sieht man sich also den Themenkatalog des „Patchworks“ Sein und Zeit (Bast 1986) auf seinen Marxbezug hin an, so zeigt sich, dass mehrere Themen des Marxismus hier auftauchen (Entfremdung und Rettung, Kritik des Idealismus, Suche nach Totalität, Reduktion der Theorie auf eine fundamentalere Basis, ein Schwerpunkt auf Geschichte etc.). Es gibt näherhin folgende Parallelen: Die Kritik der Religion, mit der Marx seine kritische Laufbahn startet, steht auch bei Heidegger am Anfang. Selbst in Konflikt mit seiner katholischen Herkunft, löst er bei seinem Marburger Kollegen Bultmann mit seiner Destruktion der Grundbegriffe (Heidegger 1927, 180, 229) geradezu eine religionskritische Initialzündung aus. Auch den erkenntnistheoretischen subjektiven Idealismus, den Marx in Bauer und Stirner, Heidegger in Neukantianismus und Phänomenologie vor sich hatte, hatten beide kritisiert, unter Beibehaltung der dort entwickelten „tätigen Seite“ des Subjektes. Dem Idealismus wird ein Primat des Lebens vor der Form entgegengesetzt: die Form gleicht sich den jeweiligen Inhalten allererst an. Diese Inhalte werden in der Analyse auf einer konkreten Ebene aufgesucht, die jedoch nicht vulgär als „vorhanden“ vorausgesetzt, sondern als eine tätig hervorgebrachte konzipiert wird. Diese leistende Praxis ist keine andere als die tatsächliche des gelebten Lebens, in welcher besonders die alltägliche „Sorge“ um das Überleben im Mittelpunkt steht. Von diesem Bereich aus erscheint die Unterscheidung von Subjekt und Objekt und somit die Erkenntnistheorie insgesamt als eine „rein scholastische Frage“.186 Mit einigem Wohlwollen könnte man die Grundlinien von Marx und Heidegger auf diesen gemeinsamen Nenner bringen, wie es im Heideggermarxismus von Marcuse, Sartre oder Kosik ja auch „abendländisch-konziliant“ versucht wurde.187 Entscheidende Unterschiede, die im Bereich der konkreten Ausführung liegen, werden so allerdings übergangen. Das ist bei Denkern, die einen Schwerpunkt auf das Konkrete legen, nicht einerlei. Denn hier unterscheiden sich die beiden auf das Äußerste: Die Themen, die Heidegger von Marx aufgreift, werden nicht im Marx’schen Sinne behandelt, sondern einer „ursprünglicheren“ Interpretation entgegengeführt. Es wird eine „radikalere“ Interpretation dieser Phänomene in Aussicht gestellt. Was aber ist die „Wurzel“ des Menschen (MEW 1, 385)? Was ist „ursprünglicher“ als der Ursprung des „bewussten Seins“ (MEW 3, 26) des Menschen in seinem „Sein“, also in seinen je historisch-konkreten materiellen und sozialen Bedingungen? Wie wir sehen werden, löst Heidegger im Gegenzug zum Materialismus in unvergleichlicher Radikalität jedes wirkliche Sein und alle weiteren denkbaren Instanzen in Nichts auf. Eher ist also von einer „verborgenen Gegnerschaft“ zu reden (Ebeling 1993a, 75): Marx und Heidegger „schließen sich von sich her aus“ (Vosskühler 1996, 420; cf. Rohrmoser 1968). 186 Marx: „Thesen über Feuerbach“ (1847), MEW 3, 533; vgl. Heidegger 1927, 203. 187 So R. Prewo in Böckler/Weiss 1987 über Löwith 1932, cf. Demmerling 2002.

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Die Kritik, die Marx an den Philosophen übte, bezog sich auf solche, die Hegel ihrerseits schon kritisiert hatten – und zwar auf eine Weise, der Heidegger sehr nahe kommt (Grondin 1994). Umgekehrt begann Heideggers Destruktion der Metaphysik zwar bei Aristoteles und Plato, allerdings unter der Unterstellung, damit auch Marx als einen letzten Ausläufer dieses Denkens in den Griff zu bekommen. Diese Sicht verrät etwa folgende Notiz: „Ideenlehre Voraussetzung für Marxismus und die Ideologienlehre. ‚Weltanschauung’ als Ideologie, Abstraktum, Überbau der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Überwindung des Marxismus?!“ (Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 325).188 Deutlich wird die Gegnerschaft, wenn die Gegensätze bei gleicher Thematik einander gegenübergestellt werden. Die werturteilende Verachtung der „Öffentlichkeit“ (Heidegger 1927, § 27, § 35), die es damals auf allen Seiten gab, erinnert an Marx’ Unterscheidung von Wesen und Erscheinung (2.4.6): Wofür Dinge gemeinhin gehalten werden, sind sie nicht wirklich; für ihre Erkenntnis bedarf es eines überlegteren Zugangs. Marx’ Weg der Erkenntnis führte über die Wissenschaft (siehe die Metapher der „Camera obscura“, MEW 3, 26). Gemäß der „idealistischen Reaktion gegen die Wissenschaft“ in der Lebensphilosophie besteht der Schwerpunkt bei Heidegger dagegen nur noch in einem vertiefteren Verständnis seiner selbst.189 Dies kann nur als „ursprünglicher“ empfunden werden, wenn im Sinne Diltheys und Fichtes als „Ursprung“ der Welt das einzelne Subjekt gilt.190 Daneben erinnert die Prätention auf „Entschlossenheit“ (§§ 60 und 62) vage – den Weltkrieg einmal beiseite gelassen (Rentsch 1990, 144) – an den von Marx beschriebenen „Kampf“ in der modernen Gesellschaft, den „Klassenkampf“, sowie an die unbedingte Leninsche Disziplin (man denke an die „Entscheidung“ von Lukács). „Entschlossen“ soll man nach Heidegger jedoch wieder nur man „selbst sein“ (1927 individuell, 1933 in Sinne des „Volkes“). Deutlicher noch wird der umgestülpte Widerhall von Marx bei der Analyse des „Verfallens“ (§ 38, § 68c; Henning 2001a), wo Heidegger den Terminus der „Entfremdung“ (178, 347) benutzt.191 Dieses „Verfallen“ ist bei Heidegger zwar unaufhebbar 188 Die Rolle Platos bei Heidegger ist zwielichtig: vielleicht projizierte er darum so viel auf ihn, weil er sich ihm so nahe fühlte. Siehe Safranski 1994, 244 ff.; Brach 1996. 189 Deutlich wird der „existentiale ‚Solipsismus’“ (1927, 188) dort, wo das „Dasein vor sein Freisein für [...] “ gebracht ist: wählen soll es wieder nur sich selbst („Freiheit des Sich-selbst-Wählens“). Die Identität von Welt und Ich wird hier transformiert in die von Dasein und In-der-Welt-Sein („die existentiale Selbigkeit des Erschließens mit dem Erschlossenen“, 188). Neben dem Verlust der Moral (Ebeling 1993a, 31 ff.) liegt hierin eine detailgetreue Replikation des deutschen Idealismus. Auch dieser hatte theoretische und praktische Vernunft vermengt (34). Die „Eigentlichkeit [...] als Möglichkeit, die es immer schon ist“ (Heidegger 1927, 188) erinnert daneben an Lukács’ „Klassenbewusstsein“: auch hier muss etwas, das „objektiv möglich“ ist (1923, 87), nur zu Bewusstsein kommen, um wirklich zu sein. 190 Lukács 1954, 395 beschuldigt Heidegger des „subjektiven Idealismus“ (Fn. 204). 191 Auch der Term „Verdinglichung“ taucht auf (Heidegger 1927, 46 und 437: „dass die Gefahr besteht, das Bewusstsein zu verdinglichen, weiß man längst“; vgl. aber 127: „Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet“). Goldmann

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(175 f.), es gilt allerdings, nach einer durchdringenden Diagnose der Ursachen, das Verfallen in einer genuinen Praxis zumindest einzudämmen. Es bedarf einer regelrechten Revolution – bei Heidegger allerdings nur der des Individuums, und nur im Denken –, welche eine entsprechende Entschlossenheit voraussetzt und auch den Kampf, gar den Tod nicht scheuen darf (§§ 58, 62). Dies kann, zumindest im hinteren Teil des Buches, nur in einem starken und geeinten Kollektiv gemeistert werden (§ 74). Mit dieser „Praxis“ wird eine historische Ebene erreicht, die eine Untersuchung dieses Themengebietes gebietet (§§ 72-77). Schon Marx war bei der Geschichte gelandet (MEW 40, 544; MEW 3, 28 ff.; daher „historischer Materialismus“). Allerdings wurzelt bei Heidegger noch die „Geschichte“ in der „Geschichtlichkeit“ (§ 74), ein Attribut des gedachten, abstrakten Individuums („Dasein“).192 Weiterhin hinterfragt auch Heidegger wie schon Lukács den in der Lebensphilosophie so unbeliebten „Dingcharakter“ der Dinge (cf. Fn. 164, 264), und zwar anhand der Unterscheidung von Zuhandenheit und Vorhandenheit. Dies ähnelt Marx’ Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert:193 beides sind je verschiedene Gegebenheitsweisen identischer Gegenstände, die einmal dem „gebrauchend-hantierenden Umgang“ (69), einmal einer komplexeren Praxis entstammen, deren lebensfernere Form aber nicht annulliert wird (sie ist „notwendig“, 426); wobei letztere von ersterer als „abkünftig“ gedacht wird.194

1975, 27 ff. vergleicht Lukács Verdinglichungskritik mit Heideggers Kritik des Präsensdenkens. Zu Heideggers Lukács- Kenntnissen Gudopp 1983, 130 ff. Heidegger kam noch einmal auf die „Entfremdung“ zurück: „Was Marx [...] als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück. Dies wird, und zwar aus dem Geschick des Seins in der Gestalt der Metaphysik hervorgerufen [!], durch sie verfestigt und zugleich von ihr als Heimatlosigkeit verdeckt. Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt [?], in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen. Weil aber weder Husserl, noch [...] Sartre die Wesentlichkeit des Geschichtlichen im Sein erkennen, kommt weder die Phänomenologie, noch der Existentialismus in diejenige Dimension, innerhalb derer erst ein produktives Gespräch mit dem Marxismus möglich wird“ (1947, 87). Zu jener Zeit saß Heidegger zwischen allen Stühlen und suchte Halt (Safranski 1994, 388 ff.). Offenbar wollte er sich empfehlen als jemand, der dieses Gespräch führen könne. Dazu kam es nicht, weil er wieder Anhänger auf der bewährten Seite fand. (Heideggers Briefpartner Jean Beaufret leugnete später den Holocaust.) 192 „Das Dasein hat faktisch je seine ‚Geschichte’ [...] , weil das Sein dieses Seienden durch Geschichtlichkeit konstituiert wird“ (Heidegger 1927, 382; s.o., Fn. 67). Das ist eine Parallele zur Geschichtlichkeit der Klassen bei Lukács 1923. 193 Bereits Lukács hatte seine Verdinglichung primär am „Warenfetisch“ abgelesen (1923, 97; MEW 23, 85 ff.). 194 Heidegger bezeichnet die „Zuhandenheit“ sogar als das „an sich“ (1927, 71). Das erinnert an Lukács’ Diskussion der praktizistischen Wendung des ‚Ding an sich’ bei Engels (MEW 21, 276): Lukács übernimmt sie formal, überführt sie aber inhaltlich aus der „Industrie“ in die „Totalität“ (Lukács 1923, 145 f.) – wie Heidegger.

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Doch Heidegger meint schon mit dieser abstrakteren Form, welche die Kantianische „Gegenständlichkeit überhaupt“ durchscheinen lässt (ähnlich wie bei Lukács), etwas erklären zu können – das Verfallen und alle Folgeerscheinungen, deren Fehler darin besteht, die Dinge als solche zu nehmen und nicht den ungegenständlichen Prozess dahinter zu sehen –, während Marx mit dem „Begriff“ nicht zufrieden ist, sondern damit allererst die tatsächliche Bewegung des unter ihm Begriffenen analysiert. Marx denunziert nicht wie später Adorno den Tauschwert moralisch, sondern nimmt ihn als eine Gegebenheit, mit der er „rechnet“. Die Analyse des realen Prozesses bei Marx hat sich bei Heidegger idealisiert (es bleibt bei der Analyse der Begrifflichkeit) und subjektiviert (Abhilfe schafft bereits ein verändertes Selbstverständnis). Dem hatten Simmel, Freyer, Lukács und andere lange vorgearbeitet.195 Auffallend ist schließlich die Parallele im Verständnis von Theorie: wie Marx ihre Genese aus der tatsächlichen gesellschaftlichen Praxis derart rückverfolgt, dass eine Theorie für ihn letztlich nur dann zu verstehen ist, wenn sie aus diesem Rahmen heraus gelesen wird, nur dann richtig entwickelt wird, wenn sie sich desselben gründlich versichert, so verortet auch der Lebensphilosoph Heidegger (Fellmann 1993, 187 ff.) die Theorie in Praxis – allerdings in einer irrationalen, in der des „Lebens“ als eines unhinterfragbaren Geschehens (cf. Fn. 68) bzw. in der der Existenz als in der ungreifbaren und „pseudokonkreten“ Personalisierung dieses Lebens (Anders 1947). All diese „ursprünglicheren“ Interpretationen ließen, wie bei Nietzsche und Eucken, in der Konsequenz auch den Marxismus als verfehltes Denken, als Symptom der Krise erscheinen (Ebeling 1993, 69 ff.). Wurde die Philosophie der Krise selbst als Symptom einer übergreifenden Krise gedeutet, so war das Ergebnis eine „Krise der Philosophie“.196 Der methodischontologische Monismus ließ es nicht zu, zwischen der Ebene des Geistes und der der Wirklichkeit hinreichend zu unterscheiden. Krisen der Wirklichkeit wurden so bereits von Antimodernisten des Kaiserreiches auf eine falsche Philosophie zurückgeführt. Man meinte damit nicht nur die wahren Schuldigen gefunden zu haben,197 sondern musste umgekehrt schon

Die Kritik an Engels ist berechtigt, aber ihre Auflösung bei Lukács ist nicht „kritisch“, sondern seinerseits wieder idealistisch. 195 Simmel hat das „Marx’sche Schema [...] weit über das wirtschaftliche Gebiet hinaus“ verlängert und dadurch entökonomisiert (Simmel 1916, 98; ökonomisch folgte er der Grenznutzenschule, cf. 2.4.1; Großheim 1991, Luckhardt 1994). Lukács setzte die „Warenform“ als „Universalkategorie“ (1923, 97) und deutete in sie die philosophischen Paradoxien hinein, die ihn schon lange quälten (Jay 1984, 109; vgl. Paschukanis 1924, Sohn-Rethel 1972, Haug 1971). 196 „Philosophie hat nicht Grundlagenkrisen, sie ist die institutionalisierte Grundlagenkrise“ (Spaemann 1978, 92). Siehe oben, Fn. 89. 197 Das Aufklärungsdenken im Ausland, die Sozialdemokratie im Inland, und zunehmend die Juden; Ringer 1969, 203, Sontheimer 1962. Hügli 1993, Wuchterl 1995 schweigen davon.

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die Möglichkeit einer krisenfreien Theorie anzweifeln.198 Wenn Philosophie in der Daseinsauslegung fundiert ist, dieses Dasein jedoch in die Krise gerät, so kann Philosophie nur dann von der Krise frei bleiben, wenn sie eine „relative Autonomie“ gegenüber dem konkreten Daseinsvollzug besitzt. Genau das wurde in der Lebensphilosophie bestritten, dieser Ansatz wurde als dualistisch und lebensfern abgelehnt. Gerade dieses Denken wollte man ja als den Verursacher der Krise ausmachen – je nach Geschmack mit Nietzsche, mit Dilthey oder auch Marx. Nun ist zu fragen: Warum eigentlich treten so viele Fragen, die im Marxismus gestellt wurden, bei Heidegger erneut, wenn auch verändert, zum Vorschein? Hatte sein Geschmack ihn nicht eher an Dilthey und später an Nietzsche verwiesen? Warum sollte die Marxismus-Verarbeitung gegenüber aus anderen Traditionen aufgegriffenen Themen, etwa des Kantianismus (so in der Konstitution von Raum und Zeit, §§ 22-24 und 70 bzw. 65 ff.), einen Vorrang haben? Dies lag auch an der sozialen Realität. Die Welt, aus der heraus Sein und Zeit geschrieben und gelesen wurde, war eine unstete, verunsichernde, als krisenhaft erlebte. Viele junge Männer hatten ihr Leben, viele Familien ihren Besitz, Deutschland seine politische Form und – wie viele meinten – seine „Ehre“ verloren (durch Versailles, nicht bei Kriegsausbruch). Es gab keine verbindlich sinnstiftende Instanz mehr; auch Heidegger hatte sich von der Kirche gelöst. Stattdessen machte sich ein „Hunger nach Weltanschauung“ (Windelband 1910, 278) breit, der inflationär und oft dilettantisch zu stillen versucht wurde. Die Erwartungen an die Philosophie waren hoch (Henning 1999, 12). Der Marxismus wusste nun auf viele dieser Fragen eine Antwort zu geben. Er beanspruchte zudem, die Blüte der Philosophie, den deutschen Idealismus, in sich aufgehoben zu haben (Engels, MEW 21, 265 ff.). Auf einen solchen Anspruch musste reagiert werden, und diese Reaktion forderte eine Entscheidung heraus.199 Nicht genug, dass Marxisten damit drohten, die alten Verhältnisse umzustürzen (die ohnehin erschüttert waren – und was fällt, soll man stoßen). Falls man von der Richtigkeit dieser Philosophie zu überzeugen war, kam man nicht umhin, daraus politische Konsequenzen zu ziehen, da die Praxis nicht nur gewichtiges Explanans, sondern auch zentrales Ziel dieser Philosophie war. Diese Frage hatte „Härte und Schwere“ (Franzen 1988). Programmatische Äußerungen Heideggers zeigen, dass er sich dieser Situation bewusst war. So stellte Heidegger seiner Habilitation von 1914 ein HegelMotto voran und verkündete an deren Ende, seine Philosophie stehe „vor der großen Aufgabe einer prinzipiellen Auseinandersetzung [...] mit Hegel“.200 Auch 198 Eine krisenfreie Zeit braucht keine Theorie, jedenfalls keine der Gesellschaft: „Deshalb haben die seligen Zeiten keine Philosophie“ (Lukács 1916, 22; cf. Hegel, Werke 12, 42: „Die Perioden des Glücks sind leere Blätter“ in der Geschichte). Bei Heidegger dreht sich das Verhältnis um – und das spricht gegen seine oft bemühte Verwandtschaft mit dem Pragmatismus (3.4.4): eine krisenhafte Zeit kann in seinem Weltbild gerade keine Theorie mehr ausbilden. 199 Nicht nur Weber, Lukács und Sartre hielten die Stellung zu Marx für eine existentielle Entscheidung (Krockow 1958). 200 Heidegger, GA 1, 193 und 411; vgl. hierzu Gudopp 1983, 87 f. und 83.

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Sein und Zeit beschließt er mit Hegel (1927, 433 ff.) und Lukács (437). Wenn ihm die Rezeption von und Stellungnahme zu Hegel eine so große Aufgabe war, so kam er um eine Stellungnahme zum größten Kritiker Hegels, zu Marx, kaum herum. Dass er dabei durchaus den Marxismus im Auge hatte, zeigt ein Aufsatz aus derselben Zeit, der zu dem Ergebnis kommt, dass „es kein Gesetz gibt, das bestimmt, wie die Zeiten aufeinander folgen“, wie es doch Engels, Kautsky, Lenin und andere behauptet hatten.201 Deutlicher zeigt dies auch die Notiz zu Plato von 1932 (GA 34, 325; s.o., Fn. 188). Zusammen mit dem nach 1945 wohlwollend aufgenommenen Bekenntnis, er habe vom Nationalsozialismus eine „Rettung [...] vor den Gefahren des Kommunismus“ erwartet, ist dem zu entnehmen, dass sich Heidegger mit dem Marxismus auseinandergesetzt und gegen ihn entschieden hat.202 Dies vermag die umfassende Aufnahme und Umarbeitung von Marxemen bei Heidegger zu erklären: da ihre Überzeugungskraft nicht ignoriert werden konnte, galt es, sie in einer alternativen Erklärung zu übertreffen. Diese Annahme plausibilisiert auch die zahlreichen stilistischen Anleihen. Da eine Vergeistigung der Gegenstände und Philosophisierung der Methode schon bei Lukács vorlag, mit dem er ja einige Einflüsse (Rickert, Lask, Dilthey) teilte, konnte Heidegger die Früchte dieser Arbeit sogar recht leicht ernten. Gegen diese Argumentation könnte nun der Einwand einer biographischen Oberflächlichkeit erhoben werden. Doch es gibt auch theorieimmanent einen Gegensatz zwischen Heidegger und Marx. Der Fortschritt Hegels gegenüber Kant war der einer Vergeschichtlichung, der der Junghegelianer gegenüber Hegel der einer Konkretisierung des Denkens gewesen, während Marx an den Junghegelianern deren Fixierung auf das alleinige Denken bemängelte: das Bewusstsein der Menschen werde vom gesellschaftlichen Sein bestimmt, welches darum bei ihm fortan im Zentrum der Analyse steht.203 Hierzu befindet sich Heidegger in denkbar extremster Opposition. Zwar nimmt er Vergeschichtlichung und Konkretisierung auf; das Sein jedoch, auf das diese Entwicklung hinausgelaufen war, wird radikal subjektiviert: „Welt ist ‚subjektiv’“ (1927, 366).204 Entitäten wie Natur, Geschichte oder Wahrheit werden seinshaft auf das Dasein reduziert.205 201 Heidegger, GA 1, 431; vgl. 1927, 418; Barash 1999. 202 Siehe den Brief an Herbert Marcuse vom 20. Januar 1948 (bei Tertullian 1990, 58; cf. Heidegger 1927, 405). 203 Diese philosophiegeschichtliche Entwicklung war weder notwendig noch zufällig – sie war zwar kontingent, doch von stringenter Folgerichtigkeit – Comte, von Stein, Moses Hess und Ciezowski dachten hierin ähnlich. 204 Die Welt ist, wofür das Subjekt sie hält: „auch in diesem ‚Draußen-sein’ beim Gegenstand ist das Dasein [...] ‚drinnen’“ (Heidegger 1927, 62). Seinen „subjektiven Idealismus“ (Gudopp 1983, 74 und 78) zeigt Heidegger selbst an, indem er „Sein ‚im Bewusstsein’“ gleichsetzt mit „verstehbar im Dasein“ (1927, 207). 205 „Nur Dasein kann [...] sinnvoll [...] sein“ (a.O., 151). „Wenn kein Dasein existiert, ist auch keine Welt da“ (365). Wird nach Ganzheit gefragt, so nach der des Daseins (372). Subjektiviert werden Wahrheit (in eine „Wahrheit der Existenz“, 221), Natur (70, 95, 106, 144, 211, 380), Geschichte (381), „Bedeutungslehre“ (166), kurz: „al-

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Und dieses Dasein ist betroffen von einem radikalen Historismus.206 Ihn kann es nicht abschütteln, doch es kann wählen zwischen einem echten und einem falschen Historismus. Der Marxismus und die ganze Soziologie sind – so sind die massiv werturteilenden Konnotationen zu entschlüsseln – der falsche, weil uneigentliche.207 Obgleich Heidegger vom Alltag seinen Ausgang nimmt (siehe bereits Einstein 1918), wird dieser letztlich negativ bewertet (1927, 334). Es geht demnach um etwas außeralltägliches, großartiges, das vor der „vulgären“ Sicht des Alltags bewahrt werden muss. Es könnte möglicherweise die Ethik sein.208 Doch auch sie wird eliminiert. Zwar sei das „Mitsein“ konstitutiv, doch die Seinsart desselben wird durchgängig negativ bestimmt (Mitsein ist an ihm selbst schon verfallen und schuldig).209 Nicht einmal das „Gewissen“ kann abhelfen. Dieses Fehlen der Ethik bei Heidegger hat auch theorieimmanente Gründe. Kant hatte das Gewissen formal bestimmt, was ihm Hegel stets vorwarf. Was es genau sagen würde, ist nach Kant nicht vorab ableitbar, durchaus vergleichbar der Unableitbarkeit des Inhalts durch die Form in der Erkenntnistheorie (2.5.2). Da Heidegger mit Fichte und Hegel meint, einen Inhalt geben zu können, ihm dies aber aufgrund der Weltvernichtung nicht gelingt, zieht er den Schluss, das Gewissen sage „nichts“ (373). Wieder wird ein Mangel in der eigenen Theorie (eine „unmögliche Aufgabe“, Lafont 1994, 144 ff.) auf die zugrunde gelegte Wirklichkeit projiziert, also von Denken auf Sein geschlossen. Dabei wird der an Descartes kritisierte Schluss von einem Vollzug auf ein Sein von Heidegger in potenzierter Form übernommen, indem er vom „Rufcharakter“ des individuellen Gewissens nicht nur auf das Sein, sondern auf das Seinsollen des Rufend-Gerufenen schließt (der Angerufene sei „aufgerufen zu ihm selbst“, 273). Das Gewissen ist somit entmoralisiert.210 le Seinsmodi des innerweltlich Seienden sind ontologisch [...] im Phänomen des Inder-Welt-seins fundiert“ (211). 206 In der je schon vorgängig ausgelegten Bewandtnisganzheit ist je schon alles ausgelegt, und zwar von der Form bis hinunter zum Inhalt: „Das Man [...] bestimmt, was man und wie man sieht“ (Heidegger 1927, 170, Hvg. CH). Symptomatisch ist die an Fichte gemahnende Schreibweise „Voraus-setzung“ (314, cf. Lafont 1994, 67 f.). 207 Zur Ökonomie: „Aus dem Besorgten errechnet sich das uneigentlich existierende Dasein erst seine Geschichte“ (1927, 390; 361). Die „Frage nach einem zu stiftenden Zusammenhang des Daseins“ – Heidegger bezeichnet auch Dasein im Plural singulär – „gründet in der Unentschlossenheit“ (390). „So bedarf es denn keiner Zuflucht zu nichtdaseinsmäßigen Mächten“ (Heidegger 1927, 278). Damit sind Fragen, die über den Horizont des einzelnen Subjektes hinausgreift, abgewiesen. „Die Frage ist nicht, was [...] noch alles geschehen [...] kann“ (330). 208 Zum Konnex von Erhabenheitserlebnis und ethischer Einsicht Vollmann 2002. 209 „Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens“ (1927, 125) – also im Gegensatz zum „Man“ (129) kein Existenzial. Die „Seinsart des Miteinanderseins selbst“ ist nicht etwa die Ethik, sondern das – uneigentliche – „Gerede“ (177). 210 Zuweilen zum „Selbstsein“ erforderlich ist etwa das „Aufgeben eines Beschlusses“ (391); Lügen ist also erlaubt (vgl. Kant, KpV, A 156, 165). Auch das Gewissen wird subjektiviert: Erst seine Subjektivität mache es objektiv (1927, 279: „Gewis-

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Sein und Sinn sind gleichermaßen entleert, theoretische und praktische Vernunft ununterschieden einem praktizistischen Nihilismus ausgeliefert. Die geforderte Revolution bleibt eine der Denkungsart: nach dem Mitvollzug der Daseinsanalyse ist es dem Leser anheimgestellt, sich nicht mehr „verfallend“ aus dem Vorhandenen zu begreifen – also eine andere Selbstinterpretation.211 Dem Philosophen bleibt die „theoretische Praxis“ der Kritik. Die ganze Philosophiegeschichte hat die wesentlichen Fragen übersehen, sie trägt die Schuld an der verfallenen Daseinsauslegung der Gegenwart. Sie muss in toto destruiert werden. Heideggers „Rettung“ vor dem Materialismus führt zu somit einem universalen Irrationalismus, da für die Gefilde des Daseins, auf das alles andere zurückgeführt wird, die „Verständigkeit“ der „Konsequenzlogik“ nicht mehr zuständig sei (315), und so zum totalen Nihilismus: es gibt in diesem Ansatz keine Natur, keine Geschichte, keine Gesellschaft, keine Moral und keine Theorie mehr. Das „nichtende Nichts“, das Heidegger evoziert (285), benennt vor allem sein eigenes Denken. Heidegger hatte nicht zuletzt darum einen solchen Erfolg mit Sein und Zeit, weil er die Konsequenzen einer Art zu denken zog, die in Deutschland weit verbreitet war. Stellt man ihn in diesen Kontext, so wird sichtbar, dass er daraus die zwar radikalen, aber folgerichtigen und populistischen Konsequenzen zieht.

Heidegger und der Nihilismus „Auch Heideggers Anziehungskraft beruhte auf einem produktiven Abbau, der ‚Destruktion’.“ (Karl Löwith, nach Lutz 1999, 280)

Die angesprochene populäre Art zu denken war der Deutsche Idealismus (2.5.2). Das Pathos von Sein und Zeit bleibt unverstanden, wenn übersehen wird, dass Heidegger alle Wissensgebiete allererst philosophisch zu fundieren beansprucht. Das aufschlussreiche Schlüsselwort hierfür ist die exklusiv beanspruchte „Ursprünglichkeit“. Heidegger hat Dilthey und damit Fichte beerbt, indem er den Schluss von dem zeitlich ersten auf das logisch und ontologisch erste unhinterfragt voraussetzt.212 Weil Dasein „zunächst“ keine Wissenschaft treibt, seien die methodischen Prinzipien der Wissenschaft „abkünftige Modi“. Heideggers Fundierung besteht einzig in ihrer Rückführung auf die formalkonkrete Verfassung des leistenden Subjektes, und zwar des vortheoretischen. Darin folgt Heidegger Diltheys „Vertiefung“, der Fundierung und Relativierung senserlebnis“). Das „Weltgewissen“ dagegen (Schwarz 1919) sei die Stimme des „Man“ (Heidegger 1927, 278). 211 Rohrmoser 1974 sieht hierin „die Faszination einer radikalen Kritik, die kraft ihres abstrakten Charakters zugleich sicherstellt, dass sich aus ihr keine praktischen Konsequenzen ergeben“ (75 f., siehe noch Rohrmoser 2002). 212 Wenn Heidegger 1927, 147 zeigt, dass „alle Sicht primär im Verstehen gründet“, so ist das eine genetische Feststellung. Aus ihr leitet Heidegger aber sogleich ab, dass dem „Anschauen sein Vorrang genommen“ sei, dass „‚Anschauung’ und ‚Denken’ [...] entfernte Derivate“, also in der Geltung sekundär seien (cf. Rauti 1999).

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aller Erkenntnis auf das „Leben“. Heidegger, der ja „dem Werke Diltheys“ dienen wollte (1927, 404), sah das Leben „als möglichen Gegenstand [...] und als Wurzel“ der Geisteswissenschaft an (398, cf. GA 59, 15 ff.). Eine idealistische Reduktion auf das leistende Subjekt (Dasein) und die damit verbundene Vereinheitlichung der Welt ist in Sein und Zeit durchgängig sichtbar, etwa auch hier (1927, 85): „Die Bewandtnisganzheit [...] ist ‚früher’ als das einzelne Zeug“.213 Die Dinge in der Welt haben keinen eigenständigen Seinswert, sondern werden in eine zeitlich und ontologisch „frühere“ Ganzheit gleichsam eingesogen: „Die Bewandtnisganzheit [...] geht letztlich auf ein Wozu zurück [...] Das primäre Wozu [...] betrifft aber immer das Sein des Daseins als dem eigentlichen und einzigen worum-willen“ (1927, 84; Hvg. CH). Hier zeigt sich eine kurzschlüssige Reduktion von Genesis auf Geltung und eine subjektivistische Verengung aller denkmöglichen Inhalte auf das Selbstsein, die ontologisch verabsolutiert wird. Identitätsdenken und existentialer Monismus sind unübersehbar. In den wissenschaftstheoretischen Passagen von Sein und Zeit hat Heidegger sublim die relativistischen Konsequenzen gezogen – nicht nur für die Geisteswissenschaften, sondern noch für die Physik. Wie geht dies zu? Die Wissenschaft ist eine Tätigkeit von Menschen, wie niemand abstreiten wird. Wenn die Seinsart dieser Menschen aber substantiell „geschichtlich“ ist, dann gibt es keinen Bereich, der vom Historismus ausgenommen ist. Eine geistige „Totalität“ wird ontologisiert und dogmatisch vorgeordnet – eine Radikalisierung des Diltheyschen Erbes. Auch die Wissenschaften haben eine Geschichte. Dies ist solange kein Problem, wie Genesis und Geltung hinreichend auseinandergehalten werden. Geschieht dies nicht, werden die Naturwissenschaften historistisch relativiert. Wie bestimmt Heidegger die mathematische Physik? „Das Entscheidende für ihre Ausbildung liegt weder in der höheren Schätzung der Beobachtung [...] , noch in der Anwendung von Mathematik [...] – sondern im mathematischen Entwurf der Natur selbst“ (1927, 362). Heidegger kontrastiert hier zwei Betrachtungsweisen, die der innerphysikalischen Kriterien (Verifikation durch nachprüfbare Beobachtung und Erklärung durch mathematische Formeln) und die der historischen Entstehung der Physik. Allerdings trennt er sie nicht voneinander, sondern bringt sie in kurzschlüssigmonistischer Weise zu etwas Drittem zusammen: es geht ihm um die „ontologische Genesis“ (362; 357; vgl. „transzendental-ontisch“). Das ursprüngliche Fundament der Physik ist somit weder die ihr eigene Logik, noch ihre Entstehungsgeschichte, sondern der existenzielle Vollzug der Wissenschaft durch ihre Subjekte. Doch diese sind nicht autonom: 213 Dies war bei Heidegger schon vor seiner existentialen Wende der Fall: in seiner Habilitation hatte er eine hermetische identitätsphilosophische Weltkonzeption entwickelt, die der Vernunft keinen Raum ließ. In der allumfassenden metaphysischen Verklammerung von Kategorie und Material „kann das Denken nur noch bestätigen, was ist“ (Gudopp 1983, 59). Erkenntnistheorie und Ontologie werden in die Logik aufgehoben (73; s.o., Fn. 222).

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„Dieser Entwurf entdeckt vorgängig ein ständig Vorhandenes (Materie) und öffnet den Horizont für den leitenden Hinblick auf seine quantitativ bestimmbaren [...] Momente“ (362). Die Wissenschaftssubjekte können nicht einer unmittelbar vorgefundenen Wirklichkeit ihre Strukturen entnehmen, sondern diese sind immer schon auf eine bestimmte Weise entworfen, und zwar „vorgängig“. Der einzelne Physiker sagt also nichts über die Wirklichkeit aus, sondern er hängt gewissermaßen am Tropf der vorgängigen Weltauslegung – die eine totale und somit eine „philosophische“ ist. Heidegger hat den Zuständigkeitsbereich der Philosophie hier ungeheuer erweitert, indem er die Hermeneutik universalisiert und so die Naturwissenschaften relativiert. So hat er sich auf elegante Weise zentraler Rationalitätsstandards entledigt: Die in der Naturwissenschaft notwendige „spezifische Exaktheit“ hält Heidegger nicht für vorbildlich (362).214 Der Philosoph muss die Einzelwissenschaft nicht als solche zur Kenntnis nehmen; es bedarf allein einer „grundbegrifflichen Ausarbeitung“ (362, vgl. 10) des vorgängigen Entwurfs, der alles weitere determiniere. In diesem Erzeugungsidealismus erzeugt das Prinzip alles.215 Statt der Intersubjektivität (keine „Verbindlichkeit für ‚Jedermann’“, 362) und der Überprüfung an Tatsachen („es gibt grundsätzlich keine bloßen Tatsachen“, 362) liegt das Kriterium für die Wahrheit von wissenschaftlichen Aussagen im leistenden Subjekt: Wissenschaftlichkeit „gründet existenziell in einer Entschlossenheit des Daseins, durch die es sich auf das Seinkönnen in der ‚Wahrheit’ entwirft. Dieser Entwurf ist möglich, weil das In-derWahrheit-sein eine Existenzbestimmung des Daseins ausmacht“ (1927, 363).216 Doch im Vollzug dieses Daseins hatte Heidegger unterschieden zwischen den Modi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit (42 ff., 126 ff., 175 ff., 252 ff.). Die kritisierte Vorherrschaft der Vorhandenheitssemantik, die in den Naturwissenschaften unverzichtbar ist, ist für ihn ein Ergebnis des Verfallens an die Welt und somit der Uneigentlichkeit. So ist also der Verweis auf den „Ursprung der Wissenschaft aus der eigentlichen Existenz“ (363) ein versteckter Hinweis darauf, worin seine Krisendiagnose und die entsprechende Therapie besteht: Die Krise der Gegenwart besteht in dem Verlust der Ursprünglichkeit. Sie ist zu erklären durch das Verfallen breiter Kreise („Öffentlichkeit“) an eine vorhandenheitssemantische (dinghafte) Weltsicht, die den Zugang zu den wichtigen Seiten des Lebens verstellt. Diese Weltsicht selbst aber gründet, wie nur der Philosoph 214 Während „Dilthey immer geneigt war, eine Gleichursprünglichkeit [...] anzuerkennen, kehrt Heidegger das naturalistische Prioritätsverhältnis der Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften einfach um und macht sie zu sekundären, uneigentlichen, ‚defizienten’ Betrachtungsweisen“ (König 1937, 57). 215 Was hier absurd aussieht, ist bis heute Merkmal deutsch-philosophischer Marxkritik: eine Ablehnung (natur-) wissenschaftlicher Standards zugunsten eines methodischen Ansatzes in transzendental-begrifflichen Analysen. 216 Vgl. Tugendhat 1970. Die existentiale Depotenzierung von Wahrheit hatte bereits ein nationalsozialistischer Kritiker bemängelt (Lehmann 1943, 402; vgl. Gudopp 1983, 191). Lehmann bezog sich auf den bezeichnenden Satz von 1914: „Nur indem ich im Geltenden lebe, weiß ich um Existierendes“ (Heidegger, GA 1, 280).

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in einer grundbegrifflichen Analyse feststellen kann, in einer vorgängigen Ausgelegtheit, in einem bestimmten, inzwischen unentrinnbar gewordenen „Entwurf“ – den Heidegger an der Antike und Descartes festmacht (89 ff). Dieser Entwurf gründet seinerseits auf einer Uneigentlichkeit (Descartes begreife die Substanz als „ein substantielles Seiendes“, 94 – das entspricht der Definition der Uneigentlichkeit –, und stiftet damit die „Dingontologie“, 100), aber diesmal auf der des „führenden Seinsverständnisses“ (362). Es bleibt nun an dem Philosophen, zu einem anderen Seinsverständnis zu „führen“. Wie er dies allerdings als Philosoph vollbringen soll, nachdem Heidegger die Kriterien wissenschaftlicher Rationalität über Bord geworfen hat, bleibt unklar (cf. Lafont 1994, 333 ff.). In der Spätphilosophie übernimmt es folgerichtig das Sein selbst. Zentrale Charaktermerkmale seiner späteren politischen Betätigung sind hier vorgezeichnet: den gesuchten „anderen Anfang“ sah Heidegger im Dritten Reich herannahen, dem er sich darum zur Verfügung stellte. Der neue „Entwurf“ könne nur von einem entschlossenen, „eigentlichen“ historischen Kollektiv mit dem richtig „geführten“ Seinsverständnis gewagt werden. Dafür muss der alte mit Stumpf und Stil ausgetrieben würde.217 Von der vormaligen Theorie jedenfalls bleibt in dieser Konzeption nicht viel übrig. Sie provoziert und forciert die Krise der Philosophie. Diese Auffassung änderte Heidegger später nicht mehr („Die Wissenschaft denkt nicht“, 1954, 133). Doch vermeiden wir den häufigen Fehler, Philosophie und Politik zu früh aufeinander zu beziehen, und bleiben noch immanent. Heideggers Bezugnahmen auf Hegel an zentralen Stellen wurde bereits erwähnt (Fn. 200). Schließlich galt es, das Vermächtnis der Systemphilosophie gegenüber den späteren Verfehlungen zu retten. Wirkungsgeschichtlich jedoch war bei der Hegelrezeption kein Vorbeikommen an der lebensphilosophischen Verkürzung, die den absoluten Standpunkt allzu leicht einnehmen zu können meinte. Ein Heideggerschüler lässt diese Sichtweise durchscheinen, wenn er Dilthey als den Vollstrecker Hegels deutet. Dilthey knüpfe endlich wieder an den Punkt an, den „schon Hegel“ erarbeitet hätte, nämlich: an „die geschichtliche Einheit von Mensch und Welt, Bewusstsein und Sein. Die Verflachung dieses lebendigen Verhältnisses [...] zur abstrakten Subjekt-Objekt-Beziehung [...] wird durch Dilthey von neuem in die seinsmäßige Einheit zurückgeführt“ (Marcuse, Schriften 1, 485, verfasst 1931). Der Historismus ist derartig totalisiert, dass nur aus dem quellenden Grund des Lebens und der Geschichte „alles eins“ ist (SDQWDUHL), und zwar auch ontologisch eins. Dilthey „überwindet“ mit dieser Einheit die verhasste SubjektObjekt-Spaltung, indem er die lebendige Einheit gegen die tote Zweiheit ausspielt. Doch er tut dies in einer Weise, die dem Hegelschen Ansatz zuwiderläuft: er setzt Einheit und Differenz einander entgegen, als vertrage die Einheit keine 217 „Wir müssen uns dann schon entschließen, Newton und Leibniz zu den Juden zu zählen“, schrieb Heidegger 1938 mit nur halber Distanzierung (GA 65, 163; cf. Stark 1937, Kather 1995, K. Fischer 1998).

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Differenz, sondern schließe sie von sich aus.218 Die Einheit ist keine reflexiv eingesehene, noch eine als vorgängig erschlossene, sondern eine als ontologisch schlechterdings behauptete. Sie kommt zu früh, wie schon Hegel (1807, 15, 22) an Schelling monierte, dass er mit dem Absoluten einfach anfing. Die wiedergefundene Einheit ist apriorisch und immer schon („von vornherein“, Fn. 218). Die Vernunft hat demnach kaum noch etwas zu tun. Tatsächlich „entfällt“ ja nach Schmidt bei Dilthey sämtliches weitere Fragen. Philosophie dünkt sich wissenschaftlicher Rationalität unbedürftig – die „Vernunft“ verabschiedet den Verstand. „Lebendig“ ist diese Einheit jedoch nur an dem zeitlich frühesten Ort seines Auftretens, im jeweiligen Alltag (cf. Lefebvre 1977). Um die unerwünschten Abstraktionen zu vermeiden, hätte man den jeweiligen Alltag zu nehmen wie er ist und auf jegliche Wissenschaft zu verzichten.219 Analog zu ihren „nichtenden“ Vorläufern in Fichte und Lukács hat diese Philosophie einen praktizistischen Fluchtpunkt: das Dasein muss sich von der uneigentlichen Geschichtlichkeit, in der das zwar vorgängige, aber unentschlossene Miteinander die Welt vorentworfen hat, radikal lösen, um sich in eine „Kampfgemeinschaft“ zu stellen (Heidegger 1922 an Jaspers; in: Biemel 1992, 29), die in „eigentlicher Geschichtlichkeit“ (1927, 390) und „eigentlichem Miteinander“ (298) eine „neue Welt“ (Eucken) erzeugt. Doch wie soll inmitten eines radikalen Historismus eine neue Welt erzeugt werden? (Siehe die beiden Zirkel von Lukács, Fn. 147, 157). Immerhin hat Heidegger von Hegel und den Junghegelianern die Geschichtlichkeit und Konkretheit der Vernunft übernommen. Die Erzeugung kann also weder in einem vereinzelten, bloß erkennenden Subjekt, noch in einem geschichtsfreien Raum vor sich gehen, wie dies bei Eucken der Fall war. Hier wird der Nihilismus zum Verhängnis, da es in der Theorie keine selbständige Welt, keine Mitmenschen, keine Theorie und keine Moral mehr gibt (alle diese gilt es ja als „eigentliche“ erst hervorzubringen). Wie wird dieses Mirakel vollbracht? (1927, 383) „Die Entschlossenheit [...] erschließt die 218 Marx kritisierte an der bisherigen politischen Ökonomie, dass diese nur Gegensätze ohne Einheit oder Einheit ohne Gegensätze vorstellen konnte (MEW 23, 127). Auch Diltheys „Leben“ hält scheinbar keine Gegensätze aus: „Indem Dilthey das Verhältnis von Mensch und Welt, Bewusstsein und Sein, Natur und Geschichte von vornherein als seinsmäßige Einheit bestimmt, entfällt für ihn die ‚abstrakte’ Frage nach ihrer kausalen oder funktionalen Beziehung“ (A.Schmidt 1990, 169; nach Marcuse, Schriften 1, 482). 219 “The attitude of the German philosopher to science is not always one of indifference. It is often a matter of open hostility” (Hook 1930, 147, nach Callinicos 1983, 100, cf. 70 f.). Marcuse blieb von der antiszientifischen Lebensphilosophie, die er hier an Dilthey beschreibt, selbst nicht frei: „Die Welt ist so lange eine entfremdete und unwahre Welt, als der Mensch nicht ihre tote Objektivität zerstört [cf. Fn. 165] und sich und sein eigenes Leben ‚hinter’ der starren Form von Dingen und Gesetzen wiedererkennt“ ( Marcuse 1941, 107, cf. 101, 133, 143, 281; 1964, 159 ff.). Auch die misslichen Analyse des Kapitalismus als einer „totalitären Gesellschaft“ gründet bei Marcuse (1964, 173) in der Totalisierung eines begrifflichen Aprioris, die er aus Heideggers Denken übernimmt.

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jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt“. Das Dasein muss sich also theorielos „entschlossen“ auf etwas schon Bestehendes werfen, und dafür in eine „eigentliche“ Gemeinschaft eintreten. Der Eintritt in die Alltäglichkeit, was das Naheliegendste wäre, ist aufgrund deren Verfallenheit verwehrt. Innerhalb des Erbes aber „verbergen“ sich Ende der 1920er Jahre Strömungen, welche der unentschlossenen Verständigkeit feind sind. Genau diese muss das „vorlaufend sich überliefernde Wiederholen des Erbes von Möglichkeiten“ (390) hervorholen. Ist dies als „formale Anzeige“ zu verstehen? Eine solche setzt etwas voraus, worauf verwiesen werden soll. Was könnte es in diesem Falle sein? Decodiert man diese Passagen aus dem damaligen politischen Kontext, sind sie zu lesen wie folgt: – Vorlaufend: praereflexiv, ohne Nachdenken. Dem Vorurteil wird stattgegeben.220 – sich überlieferndes: die Freiheit aufgebend zugunsten einer Bindung, welche im Rechtshegelianismus verstanden wurde als positive „Freiheit für“ (391). – Wiederholen des Erbes: Das deutsche Erbe zu übernehmen bedeutete politisch, speziell nach dem Verlust des Ersten Weltkrieges, einen Revanchismus.221 – von Möglichkeiten: beispielsweise die einstigen deutschen Ambitionen auf Weltmacht, angezeigt durch die häufige Gleichstellung Deutschlands mit „dem Abendland“. Denkbar wäre auch an eine mögliche Umkehr des Volkes, hin zur deutschen „Selbstbehauptung“ (Heidegger 1933).

Eine solche Lesart ist zwar nicht notwendig, da die existenziale Ebene gegenüber der existenziellen den Anspruch hat, formale Strukturen zu übernehmen. Doch viele Termini deuten an, dass Heidegger eindeutig Stellung bezogen hat für eine bestimmte Partei.222 Ein solches Verfahren, in dem partielle Seiten für das Ganze einer Sache ausgegeben werden, ist ideologisch – politische Ideologien sind ja der Anspruch einer Teilgruppe, für die Gesamtheit zu sprechen (MEW 3, 46 f.). Das ist Heidegger nicht entgangen. Doch seine Stellungnahme dazu ist eindeutig: 220 „Diesen Übergang aus der unmittelbaren, direkten in die reflexive Intention rückgängig zu machen, das schien uns damals wie ein Weg ins Freie: Das verhieß Befreiung aus dem unentrinnbaren Zirkel der Reflexion“ (Gadamer GW 3, 200 f.; zur Rehabilitierung des Vorurteils auch Gadamer 1960: GW 1, 281 ff.; 3.4.1, Fn. 16). 221 „Übernahme der Geworfenheit aber bedeutet, das Dasein in dem, wie es je schon war, eigentlich sein“ (Heidegger 1927, 325): „werde, was du bist!“ (145). 222 Termini wie Treue, Ehrfurcht, Autorität, Ständigkeit (Heidegger 1927, 391), Stoss (271), Geschick, Kampf (384), seinen Helden wählen, kämpfende Nachfolge, Treue zum Wiederholbaren (385), Gemeinschaft des Volkes (284), die Bewegung (392) u.ä. sind NS-Jargon (cf. Bourdieu 1988, Thomae 1990, Ebeling 1991, Marten 1991, Fritsche 1999). Es geht gegen das „Moderne“ (391), näherhin gegen die moderne Gesellschaft, sprich: den Liberalismus, und gegen „die Idee eines regelbaren Geschäftsganges“ (294), sprich: den Sozialismus (Fritsche 1999, 163). Zwischen beiden wird kaum unterschieden – Jünger fasste dies in die Worte: „Der Marxismus [...] ist der Kapitalismus der Arbeiter“ (Bourdieu 1988, 42; cf. Landauer 1911). Auch Lafont sieht in Heideggers „Detranszendentalisierung“ die Tendenz, zufälligfaktisches zu vernotwendigen (1994, 337; s.u., Fn. 213).

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„Aber liegt der durchgeführten ontologischen [existenzialen = formalstrukturellen, CH] Interpretation der Existenz des Daseins nicht eine bestimmte ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins zugrunde? Das ist in der Tat so [!]. Dieses Faktum darf nicht nur nicht geleugnet und gezwungenerweise zugestanden, es muss in seiner positiven Notwendigkeit aus dem thematischen Gegenstand der Untersuchung begriffen werden“ (310).

Auch der Marxismus beanspruchte, Wissenschaft zu sein und zugleich Partei zu ergreifen (2.2.2, auch 2.4.6). Diesen Zug übernimmt Heidegger. Marx hatte jedoch in seiner ökonomischen Theorie eine strenge Begründung für seine Parteinahme geliefert. Die Krisenhaftigkeit war hier insofern kein „Sonderfall“ (König 1937, 88),223 als Marx die Kriterien wissenschaftlicher Rationalität weiterhin voraussetzt. Er ist kein reduktionistischer Monist: der wirklichen Krise begegnet er mit wissenschaftlicher Disziplin, da beide Gebiete eine relative Autonomie gegeneinander haben.224 Heidegger aber begründet seine Parteinahme nicht, sondern gibt sie schlicht für notwendig aus. Er möchte die Möglichkeit einer Ideologiekritik an seinem Argument elenktisch untergraben (314): „Der gegen die existenziale Interpretation hervorgebrachte ‚Zirkeleinwand’ will sagen: die Idee der Existenz und des Seins überhaupt wird ‚vorausgesetzt’ und ‚danach’ das Dasein interpretiert, um daraus die Idee des Seins zu gewinnen. [So weit, so richtig, CH – aber: ] „In der existentialen Analytik kann ein ‚Zirkel’ im Beweis nicht einmal ‚vermieden’ werden, weil sie überhaupt nicht [!] nach Regeln der ‚Konsequenzlogik’ beweist. Was die Verständigkeit, vermeinend, der höchsten Strenge wissenschaftlicher Untersuchung zu genügen, mit der Vermeidung des ‚Zirkels’ zu beseitigen wünscht, ist nichts geringeres als die Grundstruktur der Sorge. [...] Kann aber dieses dem Dasein wesenhafte Entwerfen der Forschung versagt werden, die, wie alle Forschung selbst eine Seinsart des erschließenden Daseins, das zur Existenz gehörige Seinsverständnis ausbilden und zu Begriff bringen will?“ (314 f.).

In diesem zur Rechtfertigung von Heideggers ganzem Unternehmen zentralen Passus vom „hermeneutischen Zirkel“ stecken einige Ungereimtheiten.225 Zunächst ist es ein irrationales Erbstück der Lebensphilosophie, zu meinen, dass die Wissenschaft das Leben austreibt, gar „zu beseitigen wünscht“ (vgl. Th. Lessing 1924, L. Klages 1929). Hat nicht Heidegger selbst die Entstehung der Konsequenzlogik aus dem Daseins aufgewiesen? Wie kann er sie diesem gegenüber dann als feindlich abweisen? Es liegt erneut an dem lebensphilosophischen 223 Siehe den „Ausnahmezustand“ von Carl Schmitt (1922, 1; Heidegger 1927, 130). 224 Marx war zwar bezüglich der sich abwechselnden philosophischen Systeme ein Historizist, jedoch kein Relativist: die Wissenschaft konnte sich von der Ideologielastigkeit freikämpfen. Sie, und nicht eine bloße Klassenzurechnung ist das Kriterium für die Ideologizität kultureller Phänomene. Die Wirtschaftskrise von 1857 (H. Rosenberg 1974) trieb Marx nicht zur „Vernunftkritik“, sondern spornte seine wissenschaftliche Tätigkeit an (MEW 29, 232, 548). 225 Cf. Gadamer 1960, 270 ff.; siehe schon Fichte 1794, 12 und den „Kreis“ bei Hegel (1807, 36, 272, 559 etc.).

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Standpunkt, dass Heidegger zwischen Subjekt und Objekt, hier zwischen „Dasein“ und der alternativ benutzten Methode, eine hermetische Identität behauptet. Ist Forschung „eine Seinsart des [...] Daseins“, muss Forschung so sein wie das Dasein; in diesem Falle: irrational. Dies ist ein fataler Kurzschluss (Fn. 76). Andere Wissenschaftler haben meist betont, dass das notwendiges Konstituens jeder Forschung die gehörige Distanz zum Objekt ist („durch welche die Theorie im Verhältnis zur Praxis erst Theorie ist“, Lübbe 1963, 203). Das gilt in der Geisteswissenschaft umso mehr, gerade weil das Objekt uns hier näher angeht. Diese Distanz zieht Heidegger ein, er verwirft sie als „verfallen“.226 Bislang ist das „Dasein“ als irrational fehlbestimmt und „Methode“ als identische Seinsart des Daseins kurzgeschlossen. Immerhin hat Heidegger mit der Vorstruktur des Entwerfens, aufgrund derer „Verstehen“ immer zirkelhaft vorgehe (auch in den Naturwissenschaften), einen Punkt getroffen. Doch dies ist eine rein formale Bestimmung. Gegen den ideologiekritischen Einwand ist damit nichts gewonnen. Dessen Relevanz müsste in seinem Vollsinne besagen: ‚Eine Idee der Existenz und des Seins überhaupt wird vorausgesetzt (und zwar eine bestimmte, partielle, parteiliche), um daraus die Idee des Seins zu gewinnen (und zwar die allgemeine)’. Dies ist auch dann ein unerlaubtes Verfahren, wenn die formale Zirkelstruktur zugestanden ist. Recht verstanden wäre sie eher als Spirale zu beschreiben, da es sonst keinen Erkenntnisfortschritt geben kann. Die Erkenntnistheorie war, seit es eine solche gab, als eine kriteriale entwickelt worden. Ihr Sinn war der, innerhalb einer Vielzahl von Meinungen (GR[DL) wirkliches Wissen (HSLVWHPH) ausmachen zu können. Wie bestimmt aber Heidegger das Erkennen? „Erkennen ist ein Seinsmodus des Daseins“ (61). Aus diesem Sachverhalt, der nur frei von Erschleichungsmöglichkeiten ist, wenn „Seinsmodus“ mit „Verhaltensweise“ ersetzt wird,227 folgert Heidegger nun, dass eine Erkenntnistheorie überflüssig sei: „was soll denn noch gefragt werden, wenn man voraussetzt, das Erkennen sei schon bei seiner Welt, die es doch erst im Transzendieren des Subjekts erreichen soll?“ (61) Es müsste gefragt werden, wie innerhalb dieses Erkennens Wissen von Meinung unterschieden werden kann.

226 Heidegger benutzt wie Marx den Ausdruck „vulgär“, allerdings im entgegengesetzten Sinn: war es für Marx der den Momentanerscheinungen verhaftete Standpunkt (2.3.1, Fn. 4), so denunziert Heidegger die distanzierte Wissenschaftlichkeit und Objektivität als „vulgär“ (1927, §§ 73, 81). Zu seiner frühen „Distanzlosigkeit“ Gudopp 1983, 59, 73. „Zur Erkenntnis gehört nicht nur Seinsverbundenheit, sondern auch Seinsabstand“ (Tillich GW II, 232; cf. Fn. 20 und 129; Nietzsches „Pathos der Distanz“, KSA 5, 286; Simmel 1908, 764 ff.; Lieber 1974, 45; Elias 1983. 227 Man kann daraus die heuristische Interpretationsregel ableiten: wo Heidegger ohne eindeutigen Bezug die Worte Sein, seiend, ontisch oder ontologisch benutzt, könnte es sein, dass er sie für eine spätere Erschleichung benötigt. Schlüsselwort für die ontologistische „Erschleichung“ ist das „gründen“ (1927, 324): es verwischt Ontologie und Logik (Gudopp 1983, 59). Heilsam wäre die Transformation von Substanz- in Funktionsbegriffe (Cassirer 1911).

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Doch diese Frage stellt sich Heidegger nicht. Erkennen ist in seinem Sinne kein Erkenntnisfortschritt, sondern nur ein Schärferfassen dessen, was schon zuvor erschlossen war – eine Totalisierung der platonischen Maieutik. Das Wahrheitskriterium ist die Authentizität des Erkennenden (eine charismatische Legitimität), der Sinn von Erkenntnis ist Selbstbehauptung: „im Erkennen gewinnt das Dasein einen neuen Seinsstand zu der im Dasein je schon entdeckten Welt“ (62). Eine Diversität von Meinungen, Standpunkten, Perspektiven ist nicht vorgesehen. Das Erkennen kann nichts ihm Fremdes aufnehmen (ein Fremdes gibt es nicht), sondern dient nur dazu, die je schon vorhandenen Vorurteile zu verhärten.228 Heideggers Ideologisierung, die Verabsolutierung partieller Ansichten ist in seiner existenzialen „Erkenntnistheorie“ fundiert. Bedingung für solche „Wahrheit“ ist eine Homogenität des Wahrheitskörpers, wenn nötig unter Ausschluss des Fremden und Bekämpfung des Widersprechenden. Diese Konsequenz hat er 1933 gezogen. Die vielfach gezogene Parallele zwischen den verschiedenen Totalitarismen hat sich hier für die Philosophie bestätigt. Heidegger imitiert ein Modell, in welchem auratische Führer die Wahrheit entdecken, welche dann in verschworener Gemeinschaft umgesetzt wird – dies entspricht Lenins „Partei neuen Typus’“ (2.2.2). Wurde der Kommunismus totalitär, da ihm das Mittel vor dem Zweck stand, so Heidegger, weil er die Vernunft unterbestimmte. Dabei dominieren ähnliche Topoi, wie sie schon bei Eucken und Lukács begegneten: das Apriori einer geistigen „Totalität“, der „objektive Geist“, saugt die Theorie ins „Leben“ hinein und neutralisiert sie auf diese Weise. Die kritische Analyse der wirklichen Welt wird ersetzt durch eine „normative Sozialphilosophie“ – einer Mischung aus theoretisch verkleideten Werturteilen, appellativer Ethik und direkt praktizistischem Engagement. Dieser Vorgang ist weniger als „Wiederholung“ der Erdung zu verstehen, die Marx der Philosophie gegeben hat (und die vielfach zur Parallelisierung von Marx und Heidegger angeregt hat),229 sondern eher als eine Verweigerung dieser Erdung und ihrer politischen Konsequenzen. Sie führte zur Zwischenform eines beibehaltenen Idealismus, der verzweifelt keiner mehr sein wollte, und der durch dieses blinde Wollen nicht nur anfällig für reaktionäre politische Strömungen war, sondern als philosophische Version der „Selbstbehauptung“ (Heidegger 1933), die um die Reflexion kürzte, selbst schon eine solche darstellte. Heidegger vollzog „die konservative Revolution in der Philosophie“ (Bourdieu 1988, 81; cf. S. Breuer 1993). Dies war philosophisch vor allem eine Gegenreaktion auf Marx. Zwar können sozialphilosophische Theorien nicht wie im Vulgärmarxismus einfach auf gegebenenfalls dahinterstehende politische Interessen reduziert werden. Es ist aller228 „Geschichtlich ist, was den Verband des Lebens vertieft; unhistorisch ist, was diesen Verband zersetzt“ (F. Kaufmann über Graf Yorck, nach Jonas 1968 II, 176; s.o., Fn. 36). Statt „geschichtlich“ lässt sich auch „wahr“ einsetzen – Heideggers Pragmatismus, für den er in jüngster Zeit oft gelobt wird, ist ein recht fragwürdiger. 229 So bei Marcuse 1928, Sartre 1960, Axelos 1966, Servais 1998; vgl. Bourdieu 1988, 121; Schmidt 1990 (cf. Fn. 182).

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dings möglich, in den theoretischen Weichenstellungen selbst politische Implikationen freizulegen. Dies gilt besonders bei einer Philosophie, die gerade solche „dualistischen“ Trennungen überwinden will. Diese Freilegung ist nicht neu. Es sollte vielmehr gezeigt werden, dass darin gerade bei Heidegger auch ein gutes Stück philosophischer Marxverarbeitung steckt. 2.5.6 Die Systemphilosophie Niklas Luhmanns „Das sog. Betrachten vom Standpunkt der Gesellschaft aus heißt nichts, als die Unterschiede übersehen, die grade die gesellschaftliche Beziehung (Beziehung der bürgerlichen Gesellschaft) ausdrücken.“ (Marx, MEW 42, 189)

Auch die Systemtheorie Luhmanns gehört eigentlich in diesen Kontext: Mehr als mit der Soziologie hat sie mit der lebensphilosophischen Sozialphilosophie und deren „Hunger nach Ganzheit“ gemeinsam (Gay 1968, 99 ff.; K. Müller 1996, 38 ff.; Harrington 2002). Das verbindende Motiv einer „Marxwiderlegung“ muss hier nicht mühsam freigelegt werden, denn solche Rückbezüge schimmern von selbst regelmäßig hindurch.230 Damit liegt eine verfremdende Reaktion auf den Marxismus vor (Königs Punkt 1), wenn auch sehr vermittelt, nämlich über die Lebensphilosophie und deren technisierte Replikation bei Freyer und Schelsky. An mehreren Momenten lässt sich festmachen, dass auch diese sozialphilosophische Verfremdung Marx noch verhaftet bleibt (Punkt 2). Zunächst lässt sich eine gemeinsame Fragerichtung beobachten – das, was einst „Strukturfunktionalismus“ hieß, also eine „makrosoziologische“ Blickrichtung auf soziale Strukturen, Prozesse und Gesetze (cf. Halfmann 1996a). Diese oberflächliche Parallele führte dazu, dass Habermas seinen einst marxismusnahen Unterbau gegen einen systemtheoretischen auswechselte.231 Diese Gemengelage wurde durch die zeitweilige Aktualität der „Kybernetik“ im Ost-Marxismus noch unterstützt.232 So 230 Luhmann Vermächtnis sagt, dass seine „Ambition einer Theorie der Gesellschaft durch neomarxistische Vorgaben blockiert war“ (1998, 11). Das heißt, dass das Ziel einer „Theorie der Gesellschaft“ (ein Term Horkheimers) vom Neomarxismus vorgegeben war. (In 1984, 18 wiederum will er bewusst keine „Gesellschaftstheorie“ bieten). Er musste folglich die theoretische Auseinandersetzung mit dem Marxismus suchen. Immer wieder gibt es Seitenhiebe auf neomarxistische Theoreme („Marxisten leben heute fast nur noch von der Unzufriedenheit mit ihrer eigenen Theorie“, 1986, 163; cf. 1967, 1985), die aber bald hinter den zahlreicheren Anspielungen auf neuere Feindbilder, vor allem Habermas, zurückstehen. Der Stil von Luhmann betrachtet mögliche Gegner schon vorab als erledigt, obwohl er diese „Erledigung“ allererst erbringen müsste: „Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen [...] Gelegentlich sind Durchblicke nach unten [!] möglich [...] ein Blick auf ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen [?] Vulkanen des Marxismus“ (1984, 13). 231 Habermas 1981; noch 1992, 66 f. nennt er beide im selben Atemzug (3.1.3). 232 Cf. Klaus 1961, 1968, Heidtmann 1977. Die Plausibilität der Systemtheorie schwand mit den Wirtschaftskrisen der spätern 1960er und frühen 1970er Jahre, da sie im Geist der 1940er gerade auf Planbarkeit gesetzt hatte (ihre „öffentliche Wirk-

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lässt sich ein „Überlaufen“ vieler ehemaliger Marxisten zur Systemtheorie verzeichnen, die eine Zeitlang eine Kongruenz der Thematik offen hielt.233 Verwandt ist neben der Fragerichtung auch der Nimbus: ähnlich wie den studentischen 1968er-Marxismus umgibt auch die Systemtheorie ein Nimbus des esoterischen Geheimwissens über „das Ganze“, und eine hermetische Sprache sorgt für die Abschließung der eingeweihten Avantgarde nach außen.234 Dies ist eine Verwandtschaft zu dem bereits sozialphilosophisch transformierten Marxismus. An dieser Stelle sind die Berührungen der Systemtheorie mit, ja ihre Abkünftigkeit von dieser problematischen Sozialphilosophie von Interesse. Die Parallelen beginnen mit der Ausrichtung des Vorhabens. Was Luhmann mit seinem Forschungsprojekt von dreißig Jahren Laufzeit (1998, 11) bezweckte, war eine ‚Theorie über alles’, wie schon der Umfang und die Reichweite seiner Publikationen anzeigt. Wenig bescheiden bestimmt er den Anspruch seiner Systemtheorie als einen „universalistischen“ (1971a, 378 ff.; 1984, 9 f.), der nichts weniger als einen „Paradigmenwechsel“ vollziehe (1984, 15 ff.; 1998, 60). Dieser Wechsel der Perspektive erstrecke sich auf alles, was in der Soziologie betrachtet werden kann („alles Soziale“, 1984, 9). Angestrebt war also ein neues System in der zweiten Bedeutung des Wortes: ein geschlossener, umfassender Korpus des Wissens, wie ihn der Idealismus anzielte. Mit Hegel verbindet Luhmann aber nicht nur der Anspruch, sondern auch die Methode. Hegel wie Luhmann haben eine neue Sprache entwickelt, in der sie alles bisherige Wissen neu auszudrücken versuchten.235 Der Vorteil einer neuen Theoriesprache ist, dass sich alles in ihr ausdrücken lässt (ein „Benennungsspiel“, Rehberg 1994a, 55) sowie, dass keiner sie wirklich versteht, und Zweifler so mundtot gemacht werden können (hier gibt es durchaus eine „Privatsprache“). Hegel wie Luhmann erliegen nun dem Kurzschluss, wovon man überall reden könne, das müsse auch überall zugrundeliegen. Das Modell wird ontologisiert.236 samkeit“ erklärt sich „durch ihre sozialtechnologischen und administrativen Anwendungsversprechen“, K.Müller 1996, 311, cf. 340). Das deutsche Denken hinkte der sozialen Realität erneut hinterher (cf. 2.4.4, Fn. 77). 233 Benner 1966, Tjaden 1971, Maciewski 1973, Schürmann 1974, Greven 1974, Giegel 1975, Sens 1979, Kiefer 1991. 234 So lebt nach K.Müller die neuere Systemtheorie „ihr abgespaltenes Eigendasein in einem Jargon“ aus, „der den Eskapaden mancher ‚dialektischen Begriffsableitung’ alten Stils in nichts nachsteht“ (1996, 353, cf. Göbel 2000). 235 „Die Theorie fügt dem nur Abstraktionsgewinne hinzu“ (Luhmann 1982, 10). Breitet sich bei Hegel die Rede vom Geist über alle Gebiete des Wissens aus, so bei Luhmann die von Autopoiesis, Differenz und Kommunikation. Hegels Problem der „Naturdialektik“ umgeht Luhmann, indem er Natur und Geist („Leben“ und „Bewusstsein“) Systeme nennt, für die sich die Soziologie einfach nicht interessiere. 236 Bei Hegel wurde die Rede über alles in der Terminologie des Geistes zur Rede davon, dass alles eine Selbstentfaltung des Geistes sei (2.5.2). Da „sehr heterogene Funktionsbereiche wie Wissenschaft und Recht, Wirtschaft und Politik, Massenmedien und Intimbeziehungen“ sich in seiner Sprache „beschreiben“ lassen, so schließt Luhmann daraus sogleich (ohne die Frage nach der Angemessenheit seiner

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Sogar der Grundbaustein, die arché des Systems ist ähnlich: alles erscheint hier als Kommunikation – als „Geist vom Geist“ (MEW 3, 42).237 In diesem System der Selbstentfaltung des Begriffs ist sogar, wie bei Hegel, die Theologie erheblich „früher“ als etwa die Wirtschaft.238 Für das Wissen der Einzelheiten in der Welt reicht jedenfalls das Wissen von ihrem „Begriff“. Alteuropäischer als Luhmann kann man schwerlich denken.239 Nun ist von einer direkten Abkunft von Hegel sicher nicht auszugehen, auch wenn es mitunter Anspielungen gibt und Luhmann Hegelpreisträger ist.240 ZwiBeschreibung zu stellen oder zu sehen, dass eine Beschreibung noch keine Erklärung ist, aus der sich weiteres folgern ließe), dass sie „vergleichbare Strukturen aufweisen“ (1998, 12). Die erste ‚Setzung’ lautet denn auch, „dass es Systeme gibt“ (1984, 30). Ebenso ließen sich alle Bereiche ethnomethodologisch oder auch in Versen „beschreiben“ – daraus allein folgt aber noch nichts. 237 Nach Luhmann „besteht“ Gesellschaft „aus“ Kommunikation (1984, 192; sie sei „die einzig genuin soziale [...] Operation“, 1998, 81). „Produktion“ und „Reproduktion“ der Gesellschaft geschehen durch Kommunikationen und Unterscheidungen (1998, 96, 98). Luhmann glaubt einen Substantialismus schon damit vermieden zu haben, dass dieses Bauelement kein „Ding“, sondern ein „Prozess“ ist (1984, 193) – wie Engels und Bergson. Muss er nicht deswegen so sehr gegen Alteuropa polemisieren, weil er es selbst ungebrochen fortsetzt? Das Oszillieren des Wortes „System“ zwischen Denken und Sein, zwischen ‚System der Theorie’ und ‚Theorie des Systems’, liegt in dem idealistischen Grundansatz, der zwischen Denken und Sein nicht mehr unterscheiden zu müssen meint (1998, 32, 867). 238 Diese kommt ohnehin nur in Form der Wirtschaftstheorie vor (Luhmann 1998, 559 f.) Bereits im Einleitungskapitel stellt er die für ein universales System der Weltumschaffung zentrale Frage: „Und was wird dann aus Gott?“ (1998, 158). Das Erste, was die ab Seite 205 geborene „Sprache“ aus sich entlässt, ist die „Religion“. Ist diese erst inkarniert, ist es kein Problem mehr, die weitere Welt zu „erzeugen“ (155), denn die Religion ist „‚maßgebend’ für die Art und Weise, in der das [...] Gesellschaftssystem sich weltoffen einrichtet“ (232). Die Funktion der Religion erscheint 1977 (cf. 2000), die der Wirtschaft 1988 (cf. 1970). Luhmann ist gegen Ende seines Lebens religiös geworden. 239 „Voraussetzung für alles [!] Weitere ist [...] eine Klärung des Kommunikationsbegriffs“ (1984, 193). Luhmanns „Theorietechnik“ besteht hinsichtlich der einzelnen Funktionssysteme darin, eine jeweilige Leitdifferenz zu bestimmen (etwa „zahlen/nichtzahlen“ für die Wirtschaft, oder im Falle der Kunst auch zwei: den Code der „Schönheit“ und den verborgenen Subcode des Marktwerts eines Kunstwerkes), aus dem dann „alles Weitere“ deduziert werden kann. Zur Erkenntnis der „Gesellschaftsstruktur“ reicht daher die Beschäftigung mit ihrer „Semantik“. Doch auch hier, wie in jedem System, stellt sich die Frage von Form und Inhalt (Lukács 1923, 128; cf. Luhmann 1998, 60 ff.). Es gibt hier nur folgende „Unterscheidung“: Entweder glaubt Luhmann (und einiges spricht dafür), er könne den Inhalt aus der Form produzieren (erzeugen, ableiten, konstruieren oder wie man es nennen mag) – dann wäre er ein subjektiver Idealist. Oder er hat über den Inhalt der Formen noch gar nichts gesagt, sein System wäre dann eine rein apriorische „formale Soziologie“ nach dem Muster von Simmel (1908) und von Wiese (1926), die einige „Kategorien“ bereitstellt und erörtert, aber über „die Gesellschaft“ selbst gar nichts aussagt. Tertium non datur. Da hilft auch nicht die Ausflucht, die zweiwertige Logik irrationalistisch als „längst überholt“ (1998, 32, cf. 419, 495) auszugeben. 240 „Die Wahrheit erscheint im Prozess“ (Luhmann 1982, 11). Erkenntnistheorie, die ja

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schen Hegel und Luhmann liegt eine „Wirkungsgeschichte“, die weit bedeutsamer ist – die Lebensphilosophie und ihre Auswirkungen in der deutschen Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts (Königs Punkt 3). Wie die Rezeptionslinien genau verlaufen, sei dahingestellt; es gibt einfach deutliche Gemeinsamkeiten.241 Da ist zunächst der Fokus: hatte bereits die Lebensphilosophie alle Betrachtung von Gegenständen zurückgestellt, um sich auf sich selbst zurückzuwenden (wobei aus der „Selbsterkenntnis“ durch die Ermangelung jeden Gegenstandes eine Selbstbehauptung wurde),242 so dreht sich bei Luhmann alles um die „Selbstbeschreibung“, die Beobachtung „im Vollzug“ (1998, 15, 69).243 Er stilisiert die methodischen Probleme („Paradoxien“), die diese Selbstreferenz (Autologie) seiner Meinung nach mit sich bringe, zur Achse, um die sich die Geschichte des Scheiterns der bisherigen Soziologie gedreht habe. Dieses Präludium, welches zum liturgischen Invocavit vieler Werke gehört, ähnelt Hegels „Darstellung Gottes [...] vor der Erschaffung der Natur“ (Hegel 1812, 44). Bevor Luhmann einen neuen Abschnitt der Wirklichkeit als System „rekonstruiert“, muss er zunächst die Notwendigkeit dessen beschwören. Erst die kühne Behauptung des notwendigen Misslingens aller bisherigen Versuche in der Soziologie vermag seinen atemberaubenden „Sprung“ aus der alteuropäischen Rationalität zu plausibilisieren. (Rechtfertigen kann sie ihn nicht.)244 Dieser „Sprung“ (1998, 57) aus der Rationalität ist das zweite Merkmal, das Luhmann mit der lebensphilosophischen Sozialphilosophie vereint.245 Lukács hatte, wie vor ihm Dilthey und nach ihm Heidegger, zur „Totalitätsbetrachtung“ immer auch Erkenntniskritik ist, hätte zu fragen: wie und woher weiß Luhmann all das? Der Rummel um seine legendäre Beanspruchung einer Beobachtung „dritter Stufe“ zeigt die Verwirrung, die hierüber herrscht. Die Antwort ist einfach: Luhmann weiß es nicht, er behauptet (‚setzt’) nur. Schon die Kriterien für eine mögliche Verifikation (eine Überprüfung des Denkens am Sein, der Theorie an der Realität) bestreitet er. Die Ineinanderblendung von Denken und Sein (1998, 32) bringt nur eine nachträgliche Rechtfertigung für das Ausschalten der Erkenntnistheorie (cf. Gripp-Hagelstange 1995). 241 Vermutlich hat die Technokratiediskussion im Anschluss an den ehemaligen Lebensphilosophen Freyer und seine Schüler Gehlen und Schelsky keine geringe Rolle gespielt (2.4.5). Parsons dagegen folgte den Neukantianern (2.4.1). 242 Dies übersehen ihre Apologeten (Fellmann 1993, Wuchterl 1995, Albert 2000). 243 Luhmann 1998, 866-1150. Für den Fichte von 1801 war dem Ich ein Auge eingesetzt, das sich selbst sieht (Henrich 1966, 25 ff); bei Freyer erkennt bekanntlich „Eine lebendige Wirklichkeit [...] sich selbst“ (1930, 83). 244 Cf. Luhmann 1984, 57 ff.; 1985, 119; 1988, 44 f., 83 f.; 1998, 16 ff., 80 ff. „Eine Gesellschaft, die sich selbst beschreibt, [...] beobachtet sich selbst als einen Gegenstand ihrer eigenen Erkenntnis, kann aber im Vollzug der Operation die Beobachtung selbst nicht in den Gegenstand einfließen lassen“ (1998, 15, cf. 20, 57; 1158, Stichworte „Paradox“ und „Selbstbeobachtung“; s.u., Fn. 76). Die Plausibilität dessen zehrt davon, dass die Soziologie ihren Gegenstand verloren hat. Ob das aus den von Luhmann angeführten Gründen geschah, ist zweifelhaft. 245 K. Müller 1996, 353: Die Autopoiesis als „mythisches Systemsubjekt [...] ‚springt’ mittels einer hausgemachten Erkenntnistheorie über die Regeln der Logik hinweg“.

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sive Weltanschauung den Standpunkt des Verstandes, des gegenständlichen Denkens verlassen, um sie mit der „dialektischen Methode“, einer emphatisch überhöhten „Vernunft“ in den Begriff zu bekommen. Wie in der Lebensphilosophie hatte dies eine „Zerstörung des Verstandes“ (Coletti 1976, 122) zur Folge. Etwas ähnliches geschieht bei Luhmann, und zwar – da Denken und Sein hier eins sind (1998, 32) – auf der Ebene der Dinge und der der Logik. Luhmann ist in der Sache verdinglichungskritisch,246 und er will über das Denken in einer „zweiwertigen Logik“ hinaus.247 Die doppelte Kurzschlüssigkeit von Entdeckungen in der Physik (1984, 650; 1998, 867, 1115) und Gehirnforschung (GrippHagelstange 1995, 36 ff.) auf Logik und Ontologie zeigen die monistische und identitätsphilosophische Anlage des ganzen Systems. Schon Kant und Wittgenstein forderten, die Grenzen zwischen den Grammatiken verschiedener Sprachspiele einzuhalten. Dies praktiziert jede Wissenschaft, indem sie Ergebnisse aus der Chemie nicht als Aussagen der Informatik oder gar der Rechtswissenschaften oder Soziologie wertet. Nur wenn ich die verschiedenen Ebenen der Rede nicht unterscheide, sind die von Luhmann behaupteten Paradoxien Paradoxien.248 Luhmanns seinsgeschichtliche Unterschiebung versieht sich an der Realität. Es setzt die Regeln der Logik indes keineswegs außer Kraft, wenn ein behirntes Wesen sich Gedanken über dieses Gehirn macht, ein solches inspiziert, Ströme misst und Experimente vornimmt. All dies geschieht im Rahmen der zweiwertigen Logik. Warum soll ich nicht in einem Raum über diesen Raum sprechen? Ich bin von draußen hineingekommen, kann die Baupläne ansehen und 246 Mit Bergson: „Die Zeitdimension verhindert die dinghafte Verfestigung der Sozialdimension“ (Luhmann 1998, 45). Mit Heidegger: Für die „ontologische Metaphysik der Tradition“ gilt: Die „Welt“ (147) und auch „Das Seiende wurde unter der Form des Dings begriffen“ (1998, 56). „Weltgesellschaft ist das Sich-Ereignen von Welt in der Kommunikation“ (1998, 150). Verdinglichungskritik allein ist noch kein progressives Denken (Henning 1999, 83). 247 Auch nach K. Müller „reiht sich Luhmanns Theorie der Autopoiesis in die durchaus alteuropäische Tradition einer Meta-Politik ein, die Handlungen und politische Prozesse in eine Sprache übersetzt, die sich einer handlungstheoretischen und einer politischen Reflexion gerade verschließt“ (1996, 355). Vielleicht ist es sogar ein typisch deutsches Phänomen: „‚Even worse than Parsons’, lautete die Außenwahrnehmung James S. Colemans“ (Müller 1996, 356). 248 Luhmann reklamiert zwar die Unterscheidung von Ebenen für seine eigene Analyse (1998, 79 f., auch hinsichtlich der zwei „Stufen“ der Beobachtung), meint aber, die von ihm in Fülle aufgefundenen Paradoxien ließen sich nicht „mit Russell und Tarski durch die Unterscheidung von Ebenen lösen“ (181, cf. 58). Diese Ablehnung der sonst häufig bemühten „Unterscheidung“ verunmöglicht eine „Umwelt“, ein Außen der Systemtheorie selbst. Dies ist in der Tat paradox, weil nach eigenen Angaben zu jedem System eine Umwelt gehört. Die einzige Theorie, die sich selbst nicht beschreiben kann, ist also Luhmanns Systemtheorie. Eine ähnliche Immunisierung kann hinsichtlich Hegels versucht werden, indem man sagt, Hegels könne nicht negiert werden, weil er der Theoretiker der Negation und daher jede Negation schon „hegelianisch“ sei. Aber selbstverständlich kann Hegel negiert werden: er kann widerlegt, kritisiert, abgelehnt oder einfach ignoriert werden. Ähnlich verhält es sich mit Luhmann.

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Proben entnehmen. Ich kann auch über ihn sprechen, wenn ich in ihm bin. Ebenso verhält es sich mit unserem Planeten Erde, den ich nicht verlassen kann, oder mit einer sozialen Beziehung, aus der ich nicht heraus kann, etwa zu meiner Familie. Auch kann ich mir in der Soziologie (im Sinne der universitären Zurechnung der Gebäude oder meiner Eigenschaft als Dozent dieser Disziplin) Gedanken über die Soziologie machen (im Sinne ihrer Geschichte, der Angemessenheit ihrer Fragestellungen oder der Redlichkeit ihrer Autoren), ohne dass dies zu Paradoxien führt. Nur dann, wenn der Sinn der Worte „Soziologie“, „Beziehung“, „Gehirn“, „Raum“ oder „Gesellschaft“ so erratisch festgezurrt wird, dass keine Nichtidentität, keine Differenz mehr zwischen seinen Aspekten besteht (wie nur in der formalen Logik gilt: a = a), wird das Vorliegen einer Paradoxie suggeriert. Das ist jedoch eine künstliche und unangemessene „Operation“.249 „Dies Lehrgebäude bricht [...] zusammen, wenn man genauer nachfragt“ (1998, 27). Die spezifische Voraussetzung im Falle des vorgeblichen Paradoxes einer Selbstbeobachtung „der Gesellschaft“ ist, dass Luhmann die Menschen (Individuen, Subjekte, Akteure oder wie immer) definitorisch, also a priori ausgeklammert hat. So scheint es, als machten sich nicht Menschen Gedanken über ihre Gesellschaft, sondern „die Gesellschaft“ über sich selbst (MEW 3, 469; 2.5.7). Erst durch diese zweifelhafte Operation kann Luhmann die Paradoxien der Bewusstseinsphilosophie für sich in Anspruch nehmen. Wie Luhmann offenherzig anzeigt, wird als Ergebnis dieses „neuen“ Denkens beansprucht, die Überwindung der „Unterscheidung Denken/Sein, Erkenntnis/Gegenstand, Subjekt/ Objekt“ vollbracht zu haben (1998, 32, cf. 867). Dieser erneute Ausgriff auf „Totalität“ ist ein Nachhall der lebensphilosophischen Sozialphilosophie.250 Er redet nicht von Dingen, sondern von Prozessen, glaubt sich der Verstandeslogik überhoben, kreist um sich selbst,251 und entledigt sich lästiger Gegner 249 Auch daher spricht Luhmann von einer „Weltgesellschaft“ (1984, 585 ff.; 1998, 145 ff.): er fasst den Begriff der Gesellschaft derart erratisch, dass das Faktum, das es viele Gesellschaften gibt (die englische, die spanische, die für Soziologie etc.), zu der These wird, dass es im Grunde „nur eine Gesellschaft geben kann“ (1998, 156) – schließlich gibt es ja auch nur den einen Begriff Gesellschaft (er meint, dass „diese Analyse uns festlegt [!] auf die Annahme eines einzigen Weltgesellschaftssystems“, 78). Es ist also keine Aussage über Globalisierung; eher meint Luhmann das „Weltbild“ (156), also Diltheys geistige „Totalität“ im Denken eines Individuums (cf. Fn. 63, 252; 2.4.6, Fn. 173). 250 Luhmanns Umgang mit anderen Soziologien, die er als „Selbstbeschreibungen“ (1998, 866 ff.) ‚aufheben’ will, erinnert daran, wie schon bei Bloch „diese ganze [...] scheinbar so reale Welt nur selbst wie ein Bild unschädlicher Erinnerung an den Wänden hängt“ (Bloch 1923, 344). Sie sind als „längst überholt“ neutralisiert. 251 Der einzige Gegenstand, auf den die These der Selbstreferenz voll zutrifft, ist die deutsche Soziologie selbst. Allein sie ist – gerade durch die Fragen, die die Systemtheorie aufwirft – kontinuierlich mit sich selbst beschäftigt (Göbel 2000). Sie allein ist das mythische „‚Selbst’ der Selbstreferenz“ (1984, 622; 1985, 148). Dies könnte ein Grund dafür sein, warum gerade so viele Soziologen (und sonst kaum jemand) Luhmanns Thesen für plausibel halten – sie erkennen sich darin selbst wieder.

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durch eine vermeintlich „radikalere“ Tieferlegung der unabweisbaren Phänomene.252 Sogar die Grundprinzipien „Leben“ und „Autopoiesis“ sind sehr eng verwandt. Auch die Unterschiede im Bauplan des Rahmennarrativs sind nur klein:253 es wird von spezifischen Fällen (in der Lebensphilosophie aus dem eigenen „Erleben“, bei Luhmann aus dem radikalen Konstruktivismus) unvermittelt auf das Ganze geschlossen, so dass nichts anderes als eine „Weltanschauung“ herauskommen kann.254 Die Ausschaltung der „abendländischen“ Rationalität durch dasselbe erlaubt es nun denjenigen, die dieses Spiel beherrschen, ihre Werturteile an den herkömmlichen Kriterien für wissenschaftliche Aussagen vorbeizuschleusen – und somit auch an der „Kritik“, für die Luhmann nur Spott übrig hat.255 Ähnlich unkontrollierte Aussagen wie sie Freyer, Lukács und Heidegger glaubten, gedeckt über ihr Rahmennarrativ, im Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität machen zu können, findet man auch bei Luhmann.256 Eine politische Konservativität ließe sich aus vielen seiner theoretischen Äußerungen herauslesen, wie bereits an einem Beispiel gezeigt wurde (2.4.6).257

252 Das Attribut „radikal“ legt sich Luhmann selbst bei (1998, 35). Nach Habermas (1985, 437 ff.) kehrt die von Luhmann abgelehnte Subjektphilosophie bruchlos auf der Ebene des Systems wieder; erneut hat Luhmann die Probleme nur tiefergelegt, besser: eine Abstraktionseben höher (Fn. 234; 2.4.6, Fn. 174). K.Müller 1996 sieht, dass schon „Parsons’ ursprüngliches Interesse an der Stabilität und den Reproduktionsbedingungen des modernen Kapitalismus in die systemtheoretisch generalisierte Frage nach den Bedingungen gesellschaftlicher Ordnung schlechthin übersetzt wurde“ (1996, 284). Schon er hat also „zu abstrakt angesetzt“ (285). 253 Luhmann sagt statt Weltanschauung „Weltsemantik“ (1998, 156), statt dialektische Methode „Beobachtung zweiter Ordnung“, spricht aber auch ganz offen vom „aufheben“ (1998, 93; vgl. Wagner 1994). 254 Für Weber war eine solche „Umstülpung des ‚Weltbildes’ einer Disziplin in eine Weltanschauung“ (1922a, 401) „Banausentum“ (414). Habermas schreibt der Systemtheorie „Weltbildfunktionen“ zu (1985, 443; 2.4.6, Fn. 173). 255 Luhmann 1998, 32, 36 etc (cf. 1157). Auch hier beruht die Plausibilität auf tatsächlichen Schwächen der Kritischen Theorie; sie ist aber nicht aus den von Luhmann angegebenen Gründen schwach (cf. 2.6.1-2.6.3). 256 „Die mit der system-, später auch evolutionstheoretischen Begrifflichkeit einhergehenden Idealisierungen führen zu einer in ihren eigenen Konstruktionen gefangenen Theorie, die sich ihres Realitätsbezugs nur noch intuitiv versichern kann“ (Müller 1996, 285). Müller spricht darum bezüglich der Ergebnisse der Luhmannschen Theorie von „Willkür“ (355), was um so schwerer wiegt, als er ein Kenner der normalwissenschaftlichen Systemtheorien ist, zu deren Ruf sich Luhmann parasitär verhält. Zur Übersetzung politischer Urteile in die Philosophie klassisch Bourdieu 1988. Sens 1979 zieht eine aufschlussreiche Parallele zum dialektischen Materialismus, welcher durch eine überabstrakte, naturalistische Metatheorie beliebige politische Urteile begründen konnte. 257 Besonders sichtbar ist die Ablehnung jeder Einmischung der Politik in die Wirtschaft, die damals von Thatcher praktiziert wurde, und die implizite Befürwortung der geistig-moralischen Wende Kohls, der nach außen für „Werte“ wie Familie eintrat: „Die Einheit besteht nun darin, dass die Politik nicht die Probleme der Wirtschaft, die Wissenschaft nicht die Probleme der Politik, das Recht nicht die Prob-

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Was Luhmann über Einzelthemen sagt, ist in Fällen wie dem populären Liebe als Passion (1982) dennoch originell und zeugt von Belesenheit. Diese Seriosität als Person im Wissenschaftsleben teilt er mit Hegel. Der Witz an Luhmann ist jedoch, dass er zu diesen Aussagen sein Metanarrativ gar nicht gebraucht hätte.

2.5.7 Systematischer Kernpunkte VI: Marx und Hegel „Gegenstand! Entsetzlich! Es gibt nichts Verwerflicheres, Profaneres, Massenhafteres als ein Gegenstand – à bas der Gegenstand!“ (MEW 2, 21)

Die hegelkritischen Betrachtungen dieses Kapitels werfen nun die Frage auf: war nicht auch Marx Hegelianer, und wäre diese Kritik darum nicht auch auf ihn auszudehnen? In der Tat wurde Marxkritik oft als Hegelkritik formuliert, und umgekehrt eine Verteidigung Marxens zugleich als Verteidigung Hegels verstanden. Erst soll in Erinnerung gerufen werden, wie Marx zu dieser Sache stand (1), dann wird dem theoriegeschichtlich nachgegangen (2).

Marx als Hegelkritiker Marx verdankte Hegel wertvolle Einsichten, doch diese betrafen vor allem die Wissenschaftspraxis. So ist die zusammenhängende Darstellungsweise einer Wissenschaft ebenso eine Errungenschaft Hegels wie die Reflexion auf die Historizität der Kategorien. Der reife Marx legte Wert darauf, sowohl den konkreten Bezug einer Kategorie wie die Bedingungen seiner Entstehung zu klären, und gleichzeitig darauf (zumindest in dem veröffentlichten Teil des Kapitals), dass sein Buch kein Stückwerk, kein kunterbuntes Sammelsurium von Aussagen blieb, sondern die sachlich gegebenen Zusammenhänge theoretisch als Zusammenhänge erkennbar wurden.258 Das kann man „hegelianisch“ nennen.259 Es ist indes nur ein Versuch, einen komplexen Zusammenhang möglichst greifbar zu machen. Dieses Bemühen lässt sich kaum als Abhängigkeit von Hegel deuten. Eher ist es eine Stilfrage. Viele einzelwissenschaftliche Publikationen machen sich diese Mühe gar nicht erst – und müssen dies auch nicht, weil sie sich an ein Fachpublikum wenden. Doch immerhin das sollte die Texte verstehen können.260 leme der Familie lösen kann“ (Luhmann 1985, 150; zu seinem Konservatismus vgl. u.a. Münch 1992, Wagner 1994, K.Müller 1996, 349). 258 Um etwa zu sehen, dass Zins und Unternehmergewinn eine gemeinsame Quelle im Mehrwert haben, muss zunächst dieser erläutert werden. Die Kategorien „Profit“ und „Mehr-wert“ liegen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen, obwohl sie sich auf dasselbe beziehen können (wie sich verschiedene Äußerungen auf identische Sachverhalte beziehen lassen). Um ihren Unterschied zu sehen, stellt Marx erst das Allgemeinere dar (das „Wertgesetz“), um dann Modifikationen, die sich innerhalb desselben abspielen, erklären zu können (so die Tendenz zum Ausgleich der Profitraten und die Bildung eines Marktpreises, cf. 2.1.6, 2.3.1, 2.3.5). 259 Henrich 1961, 192 sieht darin ein „unbeirrbares Festhalten an einem Hegelschen Gedanken“; vgl. Arthur 2002, Rockmore 2002. 260 Parasitär dazu verhält sich die Makrosoziologie, wenn sie Kontraintuitivität für ein

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Sobald es um Sachfragen geht, ja schon um die Methode, mit der Hegel zu seinen Ergebnissen kommt, gehörte Marx zu den schärfsten Kritikern von Hegel – und zwar gerade weil er ihn so gut verstanden hat (MEW 2, 59 ff.). Diese Kritik beginnt schon früh. Schon in Marxens spekulativster Phase, in den Jahren vor der Deutschen Ideologie, tritt er als Kritiker der Verdinglichungskritik auf. Denn es war bereits Hegel, der die „Dinge“ und die Gesetze des Verstandes durch deren Aufhebung in das absolute Wissen „vernichtet“.261 Dahinter steht ein bestimmtes Denken, gegen das sich Marx wendet. Hegel sieht – und das machte ihn für die Positivismuskritik so attraktiv –, dass die vorgefundenen Dinge und das erkennende Subjekt nicht als einander gänzlich unverbundene vorgestellt werden können, sondern dass beide immer schon miteinander in Verbindung stehen, und zwar durch eine Tätigkeit, eine Praxis. Diesen Gedanken wusste Marx ebenso zu schätzen wie später der Pragmatismus.262 Hegels erkenntnistheoretischen Idealismus übernimmt er allerdings nicht. Das ist keine immanente Kritik an Hegel, sondern ein Einspruch gegen seine theologischen Voraussetzungen (MEW 2, 89; MEW 3, 28 u. ö.). Denn diese Praxis, welche immer es sei (ob „Erkennen“ wie bei Hegel, oder „wirkliche, leibliche“ wie bei Marx, MEW 40, 577), ändert die Seinsart der Dinge gerade nicht. Es gibt zwar diese Praxis, aber es gibt weiterhin auch die Dinge („in der Wirklichkeit bleiben“ die Dinge – Familie etc. – „bestehen“, MEW 40, 582).263 Hegel aber hebt die Dinge auf;264 die Vernunft schlägt den Verstand und die Sinnlichkeit nieder. Kriterium der Wissenschaftlichkeit hält (Halfmann 1996a, 13 f., 44 f.). So verstehen selbst Soziologen soziologische Texte nicht mehr. Bei der Philosophie ist die Darstellungsweise eine besonders prekäre Übung, weil sie ihre Themen („transzendentale Deduktion“, „eliminativer Materialismus“, „Begründungsdefizit“ u.ä.) in weit höherem Maße durch Definitionen festlegt als andere Wissenschaften. Auch hier liegt etwas Reales zugrunde, nur ist die Vermittlung des Gegenstandsbezuges langwieriger als etwa bei der Untersuchung eines bestimmten Dinges (und sei es das Gehirn) auf bestimmte Eigenschaften. Dass viele Philosophien sich nicht die Mühe machen, diesen Gegenstandsbezug noch zu klären, ist eine der Ursachen für die Rede von einer Krise der Philosophie angesichts mangelnder Fasslichkeit. 261 In der Logik geht Sein in Nichts über (wie in der Mystik ist „das reine Sein und das reine Nichts [...] dasselbe“, Werke 5, 83). Zuvor ist dem „Bewusstsein [...] das Hören und Sehen etc. vergangen“ (1807, 107; „das Ding geht [...] zugrunde“, 1807, 103; cf. 575 ff.). Zur „Vernichtung der Welt“ Rohrmoser 1961, Coletti 1977, 42 ff. 262 Darin, dass „die tätige Seite [...] vom Idealismus entwickelt“ wurde (MEW 3, 533). 263 „Und weil das Denken sich einbildet, unmittelbar das andre seiner selbst zu sein, sinnliche Wirklichkeit, also ihm seine Aktion auch für sinnliche wirkliche Aktion gilt, so glaubt dies denkende Aufheben, welches seinen Gegenstand in der Wirklichkeit stehnlässt [!], ihn wirklich überwunden zu haben“ (MEW 40, 582 f.). Jedoch: „Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn“ (MEW 13, 633). „Die Korrektur dieses Missverständnisses kann nur von außen erfolgen (Bubner 1990, 18). 264 Der Gegenstand ist nach Hegels „Aufhebung“ nur noch „das Negative“, „geistige Wesenheit“, ja „das Bewusstsein [...] selbst“ (1807, 575 f.). Trotz allem erkenntnistheoretischen Idealismus beansprucht der Term „Aufhebung“ und der Verweis darauf seitens der Hegelianer, der Dingheit der Dinge gerecht zu werden. Doch Hegel

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Zwei Voraussetzungen sind dazu nötig: zunächst die Denkungsart, die Denken und Sein derart eng aneinander kettet, dass eine Veränderung der Gedanken über das Denken auch die Gedanken über die Dinge (ihre „Seinsart“) ändern muss – das ist die Methode der Aufhebung; und eine ebenfalls vorab vorgenommene Bestimmung des Menschen als eines „spiritualistischen Wesens“ (MEW 1, 575; MEW 19, 362) – das ist das Motiv der Aufhebung.265 Weil schon die bloße „Vorhandenheit“ von Dingen Hegels Bild vom Menschsein zuwiderläuft, darum gilt ihm „Gegenständlichkeit als solche [...] für ein entfremdetes [...] Wesen des Menschen“ (MEW 1, 575), und darum gelten Hegels philosophische Anstrengungen der „Rückkehr des Gegenstandes in das Selbst“, ihrer „Einverleibung in das Selbstbewusstsein“ (576).266 Dies stellt Marx fest, um eine andere Auffassung vom Menschen dagegen zu stellen: der Mensch ist kein spiritualistisches, sondern ein Naturwesen. In der Natur gibt es eben Gegenstände, darum ist auch die Praxis des Menschen eine natürliche, und damit eine gegenständliche.267 Die Praxis, in der der Mensch den Dingen gegenübertritt, lässt die Seinsart der Gegenstände unverändert; mag sie auch, wie durch die Arbeit, ihre Form ändern.268 Daher verfällt ein Denken, welches alle Dinge verdinglichungskritisch auflösen will, der Marx’schen Kritik – wie Lukács selbst (1967) noch einsah.269

hat vor allen anderen Operationen bereits eine Entscheidung gefällt, die eben das trotz guten Willens verunmöglicht: er setzt Denken und Sein ineins („dass das Sein Denken ist“ legt Hegel bereits in der Vorrede fest, 1807, 53; cf. 1812, 32). Hegels Rede vom Setzen der „Dingheit“ durch die „Entäußerung des Selbstbewusstseins“ ist fichteanisch (Hegel 1807, 575; cf. MEW 40, 576 f.). Dafür argumentiert er nicht, davon geht er aus – und setzt es daher nicht in die Untersuchung, sondern in die Vorrede. Dem ist mit Argumenten kaum beizukommen. Kritik ist in diesem Falle gezwungen, von außen zu kommen – um die Existenz und Beschaffenheit dieses „außen“ geht es ja gerade. Dies ist das Kriterium der externen Konsistenz – die Prüfung, ob er seine Gegenstände tatsächlich erfasst (cf. 4.1). „In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit [...] seines Denkens beweisen“ (MEW 3, 533). 265 „Das Geistige allein ist das Wirkliche“ (Hegel 1807, 28: Vorrede; cf. 1812, 7). 266 Hegel sei bestrebt, „die Gegenständlichkeit aufzuheben, weil [...] sein gegenständlicher Charakter für das Selbstbewusstsein das Anstößige und die Entfremdung ist. Der Gegenstand ist daher ein Negatives, ein sich selbst Aufhebendes, eine Nichtigkeit“ (MEW 40, 579 f.). Das war das Motiv der Lebensphilosophie bis zu Lukács. 267 Man mag dies die Marx’sche Anthropologie nennen – sie ist keine ausgeführte Lehre, sondern gibt nur das Bild wieder, welches nach Darwin wohl die Mehrheit der Menschen hat („Der gemeine Mann“, MEW 1, 226): der Mensch kommt aus der Natur, kann über diese nicht hinwegspringen, und hat es ständig mit Gegenständen zu tun, die er zur Fristung seines Daseins braucht und gebraucht, vom Faustkeil bis zum Computer: er ist ein „lebendiges, natürliches, mit gegenständlichen, i.e. materiellen Wesenskräften ausgerüstetes“ Wesen. „Es ist nichts [...] Rätselhaftes dabei“ (MEW 40, 577), auch wenn er noch eine Menge mehr ist. 268 „Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ändern [...] In dieser Arbeit der Formung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist

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Bei alledem ist aber auch kein Positivist. Er nimmt die Dinge und die vorgefundenen Kategorien nicht als schlechthin gegeben und als mit dem menschlichen Leben unverbunden an.270 Vielmehr reflektiert er wie bis dahin kein anderer auf die tatsächlich dahinter stehende Praxis, und zwar in ihrer wandelbaren, konkreten historischen Konstellation. Allerdings ist er auch kein Idealist, weil das Wissen um diese Praxis – um die Genese – bei ihm weder wie bei Hegel und der Lebensphilosophie dazu führt, die Seinsart der Dinge als eine andere zu behaupten; noch dazu, die Geltung von Erkenntnissen über sie zu neutralisieren.271 Er ist ein philosophisch aufgeklärter Wissenschaftler, der um das Faktum und die Umstände der Entstandenheit seiner Begriffe weiß, ohne darum deren Geltung oder Aussagekraft spekulativ einzuschränken.272 Marx hat also zwei andere Voraussetzungen als Hegel: der Mensch ist kein rein geistiges, sondern auch und zuallererst ein natürliches Wesen, und: Denken und Sein sind nicht eins. Diese zweite Voraussetzung hat mit der ersten zu tun: wäre der Mensch ein „geistiges“ Wesen, so wären auch alle seine Gegenstände als „Geist“ vorzustellen wie bei Hegel („was Ding ist, ist das Selbstbewusstsein“, 1807, 260). Dann wäre zwischen Denken und Sein tatsächlich kein Unterschied. Nun ist der Mensch aber kein „spiritualistisches“ Wesen. Folglich gehen die Gegenstände nicht in ihrem Gedachtwerden auf – zumal der Mensch ja umgekehrt erst durch sie „gesetzt“ ist (MEW 40, 577). Das jedoch hat Konsequenzen für die Vorstellung davon, was es heißt, zu wissen: um aus Gedanken wahre Gedanken zu machen, muss sich das Denken des Seins allererst versichern. Die „adaequatio intellectus et rei“ ist keineswegs durch irgendeine Identität vorab garantiert.

sein Vater [...] und die Erde seine Mutter“ (MEW 23, 57 f.). Erinnert sei an die Behandlung der Verwirrung über die „Form“ in 2.3.5. 269 Marx kritisiert an Hegel (wie der alte Lukács am jungen), dass die „Wiederaneignung [...] nicht nur die Bedeutung [hat], die Entfremdung, sondern die Gegenständlichkeit aufzuheben“ (MEW 40, 575). Die Hegelianer übernehmen es: „Alles Wirkliche, Lebendige ist unkritisch, massenhaft, darum ‚Nichts’, und nur die idealen, phantastischen Kreaturen der kritischen Kritik sind ‚Alles’“ (MEW 2, 19). 270 Vielmehr kritisiert er noch den „falschen Positivismus Hegels“ (MEW 40, 581), insofern jener nämlich das Vorgefundene durch philosophische Überhöhung nimmt wie es ist, und somit gerade nicht hinter es zurückfragt. 271 So meinte auch der altersweise Lukács, dass der Begriff „Praxis“, wenn er nicht real gegründet wird, in eine neue Kontemplation führe – eine, die gegen die Theorie als solche gerichtet sei (1967, 20). Damit hat er auch dann recht, wenn seine eigene Gründung als begriffliche („ontologische“) noch immer ‚philosophisch’ ist. 272 „Arbeit scheint eine ganz einfache Kategorie. (...) Dennoch, ökonomisch in dieser Einfachheit gefasst, ist ‚Arbeit’ eine ebenso moderne Kategorie wie die Verhältnisse, die diese einfache Abstraktion erzeugen“ (MEW 13, 634). „Dies Beispiel der Arbeit zeigt schlagend, wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit [! ...], doch [...] das Produkt historischer Verhältnisse sind“ (636). Darum ist mit der Erkenntnis ihrer Historizität noch keine „Kritik der politischen Ökonomie“ geleistet, wie deutsche Marxisten meinten (Euchner 1972, Reichelt 2002; 2.3.5). Die theoretische Arbeit beginnt erst jenseits dieser eher propädeutischen Einsicht.

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Dazu ist – und hier liegt Marx ganz auf der Linie Kants – Anschauung vonnöten.273 Aus diesem Grund also verlässt Marx die idealistische Philosophie in Richtung der empirischen Wissenschaft (und dieser „Versuch“ ist, gegen Brudney 1998, durchaus geglückt). Diese Konsequenz ist sogar in der spekulativsten Phase von Marx’ Entwicklung sichtbar, wo er noch über keine eigenen Ansätze verfügt, sondern nur abstrakt zu solchen aufruft.274 Geschieht diese Öffnung zur Welt nicht, wird Philosophie zum „totalen“, in sich geschlossenen „System“, so kann man aus ihr nur noch „herausspringen“, will man zum wirklichen Wissen vordringen.275 Das ist der Disziplin Philosophie historisch tatsächlich widerfahren. Das heißt für die Exegese der Marx’schen Texte allerdings, dass hier keine Hegelschen „Begriffe“ vorliegen, aus denen etwas „abzuleiten“ wäre – weder „der Staat“, wie der Deduktionsmarxismus der 1970er Jahre suggerierte, noch eine „Ethik“, wie sie noch heute zu konstruieren versucht wird.276 Es ist vielmehr eine wissenschaftliche Theorie über höchst reale Gegenstände und Strukturen. Zuallererst ist sie von ihren Ergebnissen her anzugehen, nicht von ihren Prämissen. Marx war schon daher kein Hegelianer, weil er kein Philosoph war. Neben dieser ganz allgemeinen Marx’schen Kritik an Hegels Voraussetzungen (MEW 1, 384), die von außen kommt (MEW 3, 218), lassen sich auch speziellere, immanente Kritikpunkte nennen, die sich ihrerseits schon in der frühesten Phase des Marx’schen Schaffens abzeichnen. Die Identität, die Hegel zugrunde legt – nicht etwa: beweist –, erlaubt es ihm, Sachverhalte umzudrehen. Dies ist eine „dialektische“ Operation, gegen die sich Marx in vielen Fällen auflehnt. Er stellt es geradezu als den Grundfehler der Hegelschen „Methode“ heraus: „Wichtig ist, dass Hegel überall die Idee zum Subjekt macht und das eigentliche, wirkliche Subjekt, wie die ‚politische Gesinnung’, zum Prädikat. Die Entwicklung geht aber immer auf Seite des Prädikats vor“ (MEW 1, 209). Das ist der spezifische Sinn des Hegelschen Idealismus als einer Erzählung von den „Ideen“, die aufgrund sprachlicher Umkehrungen dem Leser plausibel werden und die Kontinuität zwischen den einzelnen Lehrstücken ermöglichen sollen (sie sind allerdings nur plausibel, solange dahinter eine Identitätsphiloso273 „Die abstrakte Idee, die unmittelbar Anschauen wird [§ 244 in Hegels Enzyklopädie, CH], ist durchaus nichts anderes als das abstrakte Denken, das sich aufgibt und zur Anschauung entschließt“, also dazu, „einmal die von ihr freie Natur anzusehen“ (MEW 40, 586). Zur Nähe von Marx und Kant in diesem Punkt Coletti 1976, 99 ff. 274 Bei diesem Gestus ist die Kritische Theorie meist geblieben (siehe 2.6.1, 3.1.2) 275 „Die Welt ist also eine zerrissene, die einer in sich totalen Philosophie gegenübertritt. Die Erscheinung der Tätigkeit dieser Philosophie ist dadurch auch eine zerrissene und widersprechend“ (MEW 40, 215). „Man muss ‚die Philosophie beiseite liegen lassen’ [...] man muss aus ihr herausspringen und sich als gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben“ (MEW 3, 218; MEW 1, 384; 4.1). 276 Die Normativität im „Begriff“ der Arbeit suchen Gürtler 2001 und Krebs 2002 (cf. 3.1.2, Fn. 24). Dieser gesellschaftstheoretische Ansatz geht nach wie vor von den Vorstellungen eines Individuums als Konstituens aus, nur dass diese auch den „Arbeitsbegriff“ umfassen sollen. Dem Marx’schen Ansatz läuft das jedoch zuwider.

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phie steht, die diese Austauschbarkeit gewährleistet). Zunächst wird aus den Prädikaten das Satzsubjekt, die „Substanz“; ein Tausch innerhalb des Satzes. Dann wird aus dem grammatischen das historische Subjekt; ein Sprung vom Denken ins Sein.277 Marx wehrt sich bei unzähligen Wendungen Hegels aufgrund seiner anderen Voraussetzungen gegen diese Umstellungen.278 Er karikiert sie so: „Erst wird eine Abstraktion aus einem Faktum gezogen; dann erklärt, dass dies Faktum auf dieser Abstraktion beruhe. Wohlfeilste Methode, deutsch-tief und spekulativ zu erscheinen. Z.B.: Faktum: Die Katze frisst die Maus. Reflexion: Katze-Natur, Maus-Natur, Verzehren der Maus durch die Katze = Verzehren der Natur durch die Natur = Selbstverzehren der Natur. Philosophische Darstellung des Faktums: Auf dem Selbstverzehren der Natur beruht das Gefressenwerden der Maus von der Katze“ (MEW 3, 469 f.).

Daher kommt auch Marx’ Marotte, häufig Wendungen umzukehren, denn sie meinen bei ihm, anders als bei Hegel, jeweils verschiedene Dinge und müssen daher separat genannt werden.279 Diese doppelte Hegelkritik des jungen Marx – an den Voraussetzungen, dass Sein und Denken identisch und der Mensch reiner Geist sei, und an der Methode, die die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellt – findet sich noch beim reifen Marx. Der Unterschied ist, dass er sie inzwischen nicht nur formal führt, sondern einzelne Hegelsche Aussagen (etwa über den Staat) aufgrund eigener Forschungen nun auch inhaltlich zurückweisen kann. Nahezu 30 Jahre nach der Kritik des Hegelschen Staatsrechts (MEW 1, verfasst 1843; s.o., Fn. 74) schreibt er: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“ (MEW 23, 27, aus dem „Nachwort“ von 1872). 277 „Statt sie nun als Prädikate ihrer Subjekte zu fassen, verselbständigt Hegel die Prädikate und lässt sie hinterher auf eine mystische Weise in ihre Subjekte sich verwandeln. […] Hegel verselbständigt die Prädikate, die Objekte, aber er verselbständigt sie getrennt von ihrer wirklichen Selbständigkeit, ihrem Subjekt. Nachher erscheint dann das wirkliche Subjekt als Resultat […] Eben weil Hegel von den Prädikaten der allgemeinen Bestimmung statt von dem reellen Ens (hypokeimenon, Subjekt) ausgeht, und doch ein Träger dieser Bestimmung da sein muss, wird die mystische Idee dieser Träger“ (MEW 1, 224 f.). 278 Marx übersetzt Hegel (1820), damit den „rationellen Kern“ aus der „mystischen Hülle“ (MEW 23, 27) ziehend: „‚Die Notwendigkeit in der Idealität ist die Entwickelung der Idee innerhalb ihrer selbst; sie ist als subjektive Substantialität die politische Gesinnung, als objektive in Unterscheidung von jener der Organismus des Staats, der eigentlich politische Staat und seine Verfassung.’ (...) Heißt zu deutsch: Die politische Gesinnung ist die subjektive, die politische Verfassung ist die objektive Substanz des Staats“ (MEW 1, 209). 279 Die „Kritik der Waffen“ ist nicht identisch mit den „Waffen der Kritik“ (MEW 1, 385). Oder: „Die Demokratie ist die Wahrheit der Monarchie, die Monarchie ist nicht die Wahrheit der Demokratie“ (MEW 1, 230). Wichtig daran ist das „nicht“.

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Auch hier ist die aus der Trennung von Denken und Sein resultierende Notwendigkeit empirischer Forschung mit Händen zu greifen.280 Anno 1857, also genau zwischen den beiden zitierten Schriften, hat er, gewissermaßen zur „Selbstverständigung“ (MEW 13, 7), seine Methode, die auch die der ökonomischen Klassiker ist, genauer beschrieben (vgl. dazu auch Kapitel 2.3.2): „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. [...] Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst“ (MEW 13, 632).

Nach dem vorigen überrascht die Prominenz Kantischer Termini, die gegen Hegel gewendet werden, nicht. Das zeigt Marxens tiefes Verständnis von Philosophie (Coletti 1976, 99 ff.). Die Rolle der Philosophie beschränkt sich, ähnlich wie später bei Wittgenstein, auf die Abwehr von Missverständnissen und die Ermöglichung einer „übersichtlichen Darstellung“ (PhU 122). Dazu bleibt sie aber nötig, wie unsere Geschichte der Missverständnisse lehrt (siehe 4.2.3). Eine weitere Streitfrage löst sich von den Marx’schen Voraussetzungen aus einfach auf, die Frage nämlich, ob es bei Marx eine „Realdialektik“ gebe, und ob sie den Unterschied zu Hegels „idealistischer“ Dialektik ausmache. Wie Coletti aufgezeigt hat, ist in dieser Frage zwischen Hegel und dem dialektischen Materialismus von Engels und dem Leninismus kaum ein Unterschied auszumachen, wohl aber zwischen Marx und beiden Denkarten. Wird nämlich, wie bei Hegel und Engels der Fall, der Unterschied zwischen Denken und Sein eingezogen, so wird mit theoretischen Bestimmungen uno actu etwas über die Wirklichkeit auszusagen beansprucht – einerlei, wer von beiden nun den Primat zugesprochen bekommt (zu Fichte und Nietzsche s.o, 2.5.2), oder noch deutlicher: einerlei, ob diese „Dialektik“ idealistisch oder materialistisch genannt wird. Wird aber mit Kant und jeder praktizierenden Wissenschaft zwischen Sein und Denken unterschieden, so haben sich theoretische Aussagen über die Wirklichkeit erst an dieser selbst auszuweisen, da es keine vorgängige Wahrheitsgarantie gibt.281 Aus der Methode allein folgt inhaltlich relativ wenig, außer vielleicht einigen heuristischen Hinweisen. Sie zu einem Wahrheitskriterium zu machen, ist nicht 280 „Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden“ (MEW 23, 27). 281 Für den Erweis der „empirischen Wahrheit“ verwies auch Kant auf die Erfahrung. Gerade dies missfiel Hegel. Für ihn war die Beobachtung der objektiven Realität „bloß subjektiv“. Marx’ wollte diese Verkehrung der Sachlage wieder „umstülpen“.

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anders als idealistisch zu nennen: die Form erzeugt hier den Inhalt. Zwar beschreibt Marx reale Phänomene als „Widerspruch“. Das heißt aber nicht, dass der Widerspruch ‚das’ Bewegungsprinzip der Natur oder der Gesellschaft wäre, sondern lediglich, dass Marx meinte, es sei dem Verständnis der Leser dienlich, reale Konflikte als Widerspruch zu darzustellen. So soll etwa der „Widerspruch von Ware und Geld“ (nach MEW 23, 118 f.) zwar etwas reales beschreiben (diesen Anspruch haben wohl alle Kategorien); allerdings beschreibt er nicht den Widerspruch von Ware und Geld (nach Tarskis Regel der Dequotierung), weil „Ware“ und „Geld“ abstrakte Bestimmungen sind, denen direkt nichts entspricht. Sie beziehen sich überhaupt nicht direkt auf Dinge, sondern meinen Sachverhalte und Gesetzmäßigkeiten von diesen. Ebenso verhält es sich mit der Aussage, „Kapital und Arbeit widersprechen sich“. Gesagt ist nicht, dass es ein Ding Arbeit gibt, das dem Ding Kapital real widerspricht („Realpugnanz“, cf. Ruben 1975, Holz 1995), sondern dass reale Konflikte sich besser erklären lassen, wenn hinter der reinen Beobachtung von Tarif- oder Barrikadenkämpfen die gesellschaftlichen und ökonomischen Kraftfelder betrachtet werden. Das ist gerade keine „Metaphysik“, die Dinge hinter den realen Dingen annimmt, sondern es ist eine selbstreflexive Wissenschaft, die ihre eigenen Kategorien gerade nicht als Namen von Dingen missversteht.282 Dass Marx in methodischen Exkursen gern auf physikalische Gesetze verweist, bezeugt, dass er ein gutes Verständnis der Formulierung naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten – mit Wittgenstein gesprochen: ihrer Grammatik – hatte; ein adäquateres jedenfalls als viele seiner Kritiker. Das heißt gerade nicht, dass er sich sklavisch dem „Methodenideal“ der Naturwissenschaft unterwarf, das deutschen Denkern so unbeliebt ist, sondern er sah, dass es diesen gelungen war, mit Konstruktionen, denen kein reales Ding entsprach, reale Phänomene zu erklären – so mit „Kräften“ das Verhalten von Dingen, etwa mit der Schwerkraft das Fallen des Apfels. Die Schwerkraft „beschreibt“ nicht das Fallen des Apfels, denn dann müssten alle Äpfel immerfort herunterfallen. Im Normalfall hängen sie friedlich am Baum. Der Bezug von Theorie und Empirie bedarf also auch in der 282 Steinvorth 1977 zeigt, was Dialektik als „Darstellungsmethode“ (47) meinen kann: es erfasst die Realität als etwas, für dessen Beschreibung mehrere Darstellungsebenen nötig sind. Für ihren Übergang konstruiert Marx jeweils einen Widerspruch, der insofern „scheinhaft“ ist, als er in den meisten Fällen bereits gelöst ist. So werden etwa Waren meist problemlos gehandelt. Arndt hat zutreffend darauf hingewiesen, dass dieser Widerspruch dennoch ‚real’ ist und in der Krise aus seiner Scheinhaftigkeit heraustritt (1985, 246 ff.). Dennoch geraten in der Krise eine einzelne Ware und eine Summe Geld nicht wirklich in „Widerspruch“. Dies ist vielmehr ein Satz aus dem spezifischen Kontext einer Erklärung von etwas Realem (isoliert betrachtet wäre er nur eine „Metapher“ – aber dieses Wort schafft wieder neue Probleme, statt etwas zu erklären), welches, wollte man es empirisch beschreiben, eher „Inflation“ oder „Handelskrise“ genannt und im Einzelnen noch weit näher betrachtet werden muss. Das Wort „Widerspruch“ ist eine erläuternde formale Anzeige auf etwas. „All das ist nicht mysteriös“ (MEW 23, 72).

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Physik der Vermittlung. Die physikalische Wissenschaft hatte sich von Vorurteilen des dogmatisch-metaphysischen Denkens lediglich eher freigemacht als die Ökonomie und die „Sozialphilosophie“. Dort legt noch heute die „kritische“ Erkenntnis, dass etwas „konstruiert“ ist, den Schluss nahe, dass damit entweder nichts reales erfasst sei, oder dass alles Erfassen von Realität konstruiert sei, womit der Unterschied zwischen Denken und Sein gerade wieder unterspült wird. Mag schon Hegel den Empirizismus kritisiert haben, der Worte als Namen von Dingen missverstand – er schüttete den Graben zwischen Denken und Sein wieder zu und hat so eine wirkliche Erkenntnis des Seins gerade verhindert.

Hegelmarxismus: Semantische Verschiebungen Es stellt sich nun die Anschlussfrage, warum Hegel eigentlich so lang anhaltend so populär war. Zugrunde liegt in diesem Fall eine semantische Verschiebung: „Hegel“ und die „Dialektik“ wurden in den 1960er Jahren zu einem Feld des Stellvertreterkrieges gegen „Marx“, welcher seinerseits für die Studentenbewegung und die Frankfurter Schule auf der einen, den Ostblock auf der anderen Seite einstand.283 Eingeleitet wurde diese „zweite Hegelrenaisssance“ (Riedel) durch die Gründung von zwei Hegelgesellschaften, der eher marxistischen und bald von der DDR dominierten Internationalen Hegel-Gesellschaft 1958, und der eher konservativen westlichen Internationalen Hegel-Vereinigung 1962. Der affirmative Bezug auf Hegel, den die Kritische Theorie im Positivismusstreit an den Tag legte, tat zur symbolischen Aufladung des Titels „Dialektik“ das seine. Schon Kautsky (1899) hatte gegen Bernstein die „Dialektik“ stark gemacht, ohne recht angeben zu können, was darunter anderes zu verstehen sei als die auch von Bernstein beanspruchte natürliche „Entwicklung“ (2.1.4).284 Ähnlich erging es Adorno, der seit den 1930er Jahren Analysen verschiedenster Kunstwerke in beliebiger Manier „durchdialektisiert“, d.h. mit Versatzstücken einer nur zu erahnenden Geschichtsphilosophie durchsetzt hatte. Es war nicht auszumachen, wie die im Positivismusstreit beschworene „dialektische“ Gesellschaftstheorie eigentlich aussehen mochte – diese lag ja keineswegs vor, sondern war auch von der Frankfurter Schule jeweils nur gefordert worden (2.6.1). Die „Dialektik“ war im Positivismusstreit insofern fehl am Platze, als die Position der Kritischen Theorie „undialektisch“ war: Horkheimers Forderung nach 283 Diese von außen weit hergeholt erscheinende, den Beteiligten jedoch evidente Verknüpfung bestätigt nicht nur ein Marxist wie Oskar Negt – auch der konservative Löwith sah, dass das „neue philosophische Interesse für Hegel nicht innerhalb und aus der Philosophie erwacht, sondern ihr von außen (durch Marx und den Marxismus) aufgedrängt worden“ war (in der FAZ vom 11.7.1970, nach Negt 1970, 10). Topitsch kritisierte die in der materialistischen Geschichtskonstruktion enthaltene Dialektik unter Verweis auf Petrus Damiani (Topitsch 1975, 24) und Eduard von Hartmann (Topitsch 1967) als Erschleichung. Auch Kelsen (1948) und MerleauPonty (1955) hatten der Dialektik eine eigene Aussagekraft bestritten und eine Offenheit für politische Instrumentalisierung bescheinigt. 284 Kautsky 1899; vgl. Bernstein 1899, 46/52 ff.: Dialektik als Schlinge und Fallstrick.

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dem „richtigen Zusammenleben der Menschen“ war nicht erkennbar mit konkreter soziologischer Forschung vermittelt, und Adorno stellte die „Erfahrungen einzelner“ der Wissenschaft abstrakt entgegen.285 Das Pochen auf „Dialektik“ war eine Leerformel, hinter der sich ein spätidealistisches Denken verschanzte, das gegenüber dem „bloßen Verstand“ auf die „Vernunft“ setzte, sich aber nicht mehr in der Lage sah anzugeben, was sich damit genau verbindet.286 Die Negative Dialektik von 1966 bietet keinen Ausweg, sondern sie vernebelt eher das Eingeständnis eigener Schwächen, die im Positivismusstreit deutlich geworden waren, welches eine intellektuelle Aufrichtigkeit eigentlich erfordert hätte.287 Es kam zu der seltsamen Konstellation, dass Karl Popper, der Antipode im Positivismusstreit, sich wesentlich ausführlicher und anerkennender zu Marx äußerte als die Kritische Theorie.288 Da die Münze „Dialektik“ aber einmal zu einem Zug im (theorie-)politischen Sprachspiel geworden war, konnte die Positionierung innerhalb zweier Lager dort symbolisch vollzogen werden. Ein bürgerliches Lager deutete die Dialektik idealistisch und optierte für Hegel, indem es die Dialektik zu einer rein philosophischen Angelegenheit machte, während ein marxistisches Lager eine „materialistische Dialektik“ vertrat, die sich auch auf die Politik und die Einzelwissenschaften erstreckte. Aus dieser Codierung erklärt sich die Häufung von Publikationen mit „Hegel und Marx“ im Titel.289 Ein besonderer Streitpunkt dabei war die Verortung des jungen Marx, denn dieser konnte wie ein Brückenkopf wahlweise in Anschlag gebracht werden entweder als gegenmarxistischer Erweis des Idealismus des eigentlichen, nämlich des jungen Marx,290 als materialistische Vereinnahmung noch Hegels,291 oder, dazwischen, als westmarxistische Verjüngung des allzu erstarrten Parteimarxismus.292

285 Horkheimer stritt 1959 auf dem 14. Soziologentag in Berlin mit René König, Adorno auf der Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1961 in Tübingen mit Karl Popper, Habermas befehdete sich dann mit Hans Albert (nach Wiggershaus 1986, 630 und 632; vgl. Adorno 1969a, Dahms 1994). 286 Willms 1969 vermutete, dass sich hierin ein zutiefst „bürgerliches“, um die Freiheitsrechte der Person besorgtes Denken ausspricht, welches sich als antibürgerliches nur missversteht. Eine Fichte nahestehende Entgegensetzung von Verstand und Vernunft vollzog auch Theunissen 1976 und 1992. Zum Begriff „Vernunft“ vgl. Steinvorth 2002a. 287 Cf. Wiggershaus 1986, 626 ff. Vielleicht machte dies manche Kritiker so erbittert (Steinert 1989, Morgenstern 2001). 288 Bei Popper 1944 gibt es zwar eine Verkürzung Hegels, Marx ist aber über weite Strecken gut wiedergegeben. Dies wird bestätigt, wenn Wellmer 1969, 69 ff. Marx als Positivisten bezeichnete. Der Vorwurf der Unkenntnis war oft verfehlt; HansM. Schleyer etwa wusste über Marx ebensoviel wie seine Entführer und Mörder. 289 So Bekker 1940, Hommes 1953, Landgrebe 1957, Fetscher 1960, Apel 1962, Barion 1963, Benner 1966, Hillmann 1966, Reichelt 1970, Riedel 1970, Kaminski 1978, Wolf 1979, Coster 1983; cf. Rohrmoser 1994, 55 ff. 290 So Popitz 1953, Bockmühl 1961, Israel 1972; vgl. bereits Habermas 1957, 394 ff. 291 Siehe Marcuse 1932 und 1941, Lukács 1942, Bloch 1962, Beyer 1970, Ley 1972. 292 Beispielsweise bei Korsch 1923, Marcuse 1932a, Sartre 1960 oder Negt 1970.

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Damit verlängerte sich weniger ein Klassenkampf als vielmehr ein Systemantagonismus unübersehbar in Theorie. Die eine, gründlichere Partei nutzte Hegel für die aktuelle politische Auseinandersetzung, indem sie ihn als nichtaktualisierbar behauptete und nur antiquarisch behandelte.293 Die Gegenseite zog Hegel zwar zur Legitimation ihrer aktuellen Politik heran, stellte sich ihm aber weder historisch noch philosophisch, sondern beließ es bei oft zitierten, gleichwohl hohl bleibenden Formeln über die „dialektische Methode“.294 Konnte der Brückenkopf „Hegel“ in Richtung „Idealismus“ gebracht werden (was keine Schwierigkeit darstellte, da Hegel das schon selbst getan hatte; s.o., Fn. 49), so hatte man gegenüber dem hegelmarxistischen „Marx“ schon gewonnen, da dessen Hegelbezug nun als ein „verkürztes“ oder verunglücktes Verständnis aufgewiesen war.295 Anläufe der Marxisten, Hegel zu materialisieren, endeten dagegen indes bei der naturalisierten Form der Dialektik, wie sie von Engels, Kautsky und Lenin vorgegeben war,296 oder bei den erwähnten Aporien, welche in Jahrzehnten vergeblich aufzulösen versucht wurden.297 Die Kritische Theorie trat als eigenständige dritte Partei auf, vergleichbar der osteuropäischen „Praxisphiloso-

293 Vgl. Heimsoeth, Gadamer, Riedel, Henrich und Pöggeler in Helferich 1979, 194. 294 Helferich 1979, 192f. zitiert aus DDR-Standardwerken, Hegels Dialektik sei „die größte Errungenschaft der klassischen deutschen Philosophie“ und „eine der wichtigsten Quellen des dialektischen Materialismus“ (Buhr 1972, 243). „Marx, Engels und Lenin knüpften unmittelbar an die von Hegel entwickelte dialektische Methode an, stülpten sie um und lösten den rationellen Kern aus der mystischen Hülle“ (Fiedler 1974, 165). Fortan war die Dialektik die „Wissenschaft von den allgemeinsten Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des Denkens“ (Buhr 1972, 239). Helferich nennt zwar auch anzuerkennende Ansätze in der Forschung der DDR; doch ist unübersehbar, dass man Ansätze eigenständigen Denkens dort nicht zulassen wollte – man denke an das Schicksal von Personen wie Wolfgang Harich, Robert Havemann oder Peter Ruben (letztere arbeiteten explizit zur Dialektik, vgl. Havemann 1964, Ruben 1975 sowie in Horstmann 1978, 70 ff.). Helferich nennt die Gegenüberstellung einer „‚Vergegenwärtigung’ ohne die Anstrengung historischer Detailforschung und einer ‚historischen Forschung’, die [...] zu wirklich philosophischer Aneignung nicht fähig ist“ zwar eine „grobe“, aber: „sie trifft“ (Helferich 1979, 194; nach einer Rezension von Helmut Schneider, in: Hegelstudien 7/1972, 262). 295 Göhler 1980, Coster 1983. Die Bemühungen, „Dialektik“ zurückzuführen auf ihre antike Bedeutung als „Gesprächskunst“ (so bei Gadamer und Pöggeler), hatten oft ebenfalls dieses Ergebnis, auch wenn es nicht ihr Motiv war. Zur Hegelrezeption insgesamt vgl. Beyer 1970; Henrich 1975, H. Fulda, in: Horstmann 1978, 34 f. 296 Im Osten war dies schon institutionell kaum zu vermeiden (Kapferer 1990, Eichler 1996, Gerhardt 2001; 2.2.4). 297 Sartre 1960 war der wohl bedeutendste Versuch einer Neubestimmung materialistischer Dialektik, doch auch er vermochte nicht zwischen dem subjektivistischen Ausgangspunkt und der politischen Option zu vermitteln. Seine Dialektik setzt mit dem anthropologischen „Mangel“ zu tief an. Übrigens meinten so verschiedene Autoren wie Hans Kelsen, Joseph Schumpeter und Rosa Luxemburg, die Dialektik spiele im Kapital gar keine Rolle.

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phie“, zu der es ja intensive Beziehungen gab.298 Sie kam indes zu keiner eigenständigen Position, sondern wurde, indem sie Hegel für die erwünschte „radikale Praxis“ in Anspruch nahm, zu einer Intellektualisierung Marxens veranlasst, die eine mögliche Praxis immer ferner rückte. Indem die Kritische Theorie Hegel und Marx vermengte, wurde die Beschäftigung mit Hegel zu einer ebenso akademischen wie im „bürgerlichen“ Lager. Sie unterschied sich als linker Flügel von demselben nur durch ihr stets eingeflochtenes, doch unbestimmt bleibendes „emanzipatorisches Interesse“ – am ehesten wohl Ausdruck eines Stils.299 Man wollte der Philosophie in Richtung Praxis entkommen, blieb ihr jedoch verhaftet und betrieb beides desto unkontrollierter, je weniger man sich dieses Dilemma eingestand. Adorno hat diese Entwicklung pointiert, indem er sich schließlich dem Linkshegelianismus zuordnete.300 Die marxistischen Diskussionen um Dialektik hatten meist defensiven Charakter, sie waren Notgeburten, auch wenn sich dies jeweils sehr schnell vergaß.301 Im Rückblick wird es deutlich. Diese Vergeblichkeit lässt sich am Schicksal des deutschen „Deduktionsmarxismus“ ablesen, welcher aus der Beschäftigung der Studentenbewegung mit Hegel erwachsen war. Er führt sich auf Adorno und Sohn-Rethel zurück und findet heute noch Anhänger (cf. 2.3.5, 2.4.5). Man las die Ausführungen über den Doppelcharakter der Ware nach dem Muster von He-

298 Negt 1970, 9 nannte die Kritische Theorie „dialektisch-revolutionäre Rezeption des Hegelschen Denkens in der intellektuellen Linksopposition des Marxismus“ in der Folge von Korsch und Lukács; die anderen beiden Fronten seien die „bürgerliche“ und der „Sowjetmarxismus“. Die „Praxisphilosophie“ (Kolakowski 1960, Kosik 1967, Markovic 1968, Petrovic 1969 und 1971, Bloch 1970, Stojanovic 1970, Zivotic 1972, Flechtheim/Grasssi 1973, Schmidt 1973, Vranicki 1983) hatte nach der Niederschlagung des Prager Frühlings weniger Bedeutung, Größen wie Agnes Heller gingen ins Exil. In dem Wort „Praxisphilosophie“ steckt übrigens ein ähnlicher Pleonasmus wie im „objektiven Geist“ (Fn. 160, Fn. 276). 299 Der Ausweg aus Hegels Dilemma, der „Diskrepanz zwischen Begriff und Realität“, führe „in ein Beschreiben, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit beschaffen sein müsste, wenn sie vernünftig sein soll“ (Schnädelbach in Negt 1970, 79 f.). „Aus dieser Bewusstseinsimmanenz ist Marx zufolge nur herauszukommen, wenn gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden, in denen Kategorien wie der Wert nicht mehr herrschen, wenn sich die Abstraktionsstruktur des Denkens selber verändert hat“ (Krahl in Negt 1970, 150). „Im Äußersten eröffnet Dialektik eine Perspektive, in der sich auch wahre Herrschaft aufhebt“ (Theunissen in Horstmann 1978, 356). 300 Adorno 1966, 146; 1969a, 151; Wiggershaus 1988, 633, 665; Rohrmoser 1970, 30 f.; Koenen 2001, 115; cf. 2.6.3, Fn. 67. Eine vierte Gruppe waren diejenigen, die Hegel ganz ablehnen, sowohl Marxisten wie Althusser und Coletti als auch Bürgerliche wie Topitsch 1967, W. Becker 1969, Kaltenbrunner 1970, Kiesewetter 1974. 301 Defensiv waren u.a. Kautskys (1899a) Antwort auf Bernstein, Lenin 1914 (nach dem Zerfall der Internationale), Lukács 1923 (nach den verlorenen Aufständen von 1920) und Adorno im Positivismusstreit (P. Anderson 1978, 69).

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gels Logik als „Keimzelle“ der ganzen Theorie.302 Diese „Wertformanalyse“ galt als Handwerkszeug, aus dem man alles weitere deduzieren, „ableiten“ könne: „Aus der bestimmten Form der weltlichen Grundlage – und das meint Basis – ist die Form des Auseinandertretens selber noch abzuleiten. Das gleiche gilt [...] für die Form des politischen Staates, für die Moral, Philosophie, Theologie usw. [...] Aus der zentralen, wesentlichen Verkehrung [...] sind alle anderen Formen in ihrer Bestimmtheit [...] abzuleiten“ (Reichelt 1974, 33).

Die materiale Fundierung, welche Marx dem politischen Handeln geben wollte, wird wieder ideal überstiegen: die „Basis“ habe eine Form, die im Begriff zu sich komme. Verfügte man nur über diesen, schien man auch alles weitere erfassen zu können. Eine solche Sicht vertrat bereits Freyer (1923, s.u., Fn. 80). Marx allerdings hatte einen solchen Hegelianismus scharf kritisiert: „Hat man in den logischen Kategorien das Wesen der Dinge gefunden, so bildet man sich ein, in der logischen Formel der Bewegung die absolute Methode zu finden, die nicht nur alle Dinge erklärt, sondern die auch die Bewegung der Dinge erfasst“ (MEW 4, 127). Die Schule der „Wertformanalyse“ hat mit dem deutschen Idealismus und der Sozialphilosophie somit mehr gemein als mit Marx, wie sich auch hier zeigt: „Das Absolute [...] entfaltet sich als Kapital“; „der Wert ist das Absolute“ (Krahl 1970, 142). „Bei Hegel sind die Menschen Marionetten [...]. Das Dasein eines den Menschen übergeordneten, metaphysischen Bewusstseins ist [...] das Kapital [...], die daseiende Phänomenologie des Geistes, [...] die reale Metaphysik“ (Krahl 1970, 140).

Krahl vermengt in dieser experimentellen Kette thetischer Setzungen Begriffe aus den verschiedenen Traditionen des deutschen Idealismus und des Marxismus, die schon für sich nicht adäquat erfasst sind.303 Ihr Zusammenguss vermag das kaum zu verbessern. Auch Reichelt (1974, 35 f.) folgt weniger Marx als vielmehr Fichtes Idee der grundsatzphilosophischen Wissenschaftslehre, denn die „materialistische Wissenschaft“ hat nach ihm den nicht eben geringen Anspruch, 302 Nachdem schon Lenin einen Zusammenhang zwischen Hegels Logik und der Methode im Kapital bemerkt hatte (1914, Werke 38, 170; Helferich 1979, 129, 172), brach die Frage nach dem Einfluss der Hegelschen Logik auf die Marx’sche Methode in den 70er Jahren offen aus: es gab widerstreitende Interpretationen des ersten Kapitels des Kapitals (Zeleny 1968, Krahl 1970, Euchner 1972, Haug 1974; als „Wertformanalyse“ im engeren Sinne Reichelt 1970, 1974, Sohn-Rethel 1972, Müller 1981, Behrens 1993, Backhaus 1997, Heinrich 2001; kritisch K. Holz 1993 und Hafner 1993). Kallscheuer 1977, 51 sieht den Grund für den linken Dogmatismus der 1970er Jahre im Systemwillen. Maihofer 1992, 177 nennt es „Idealismus“. Marx hatte die Ware als „Zellenform“ des Kapitalismus bezeichnet, insofern sie seine kleinste Einheit war (MEW 23, 12), nicht um etwas aus ihr zu „deduzieren“. 303 Die Menschen sind bei Hegel keine Marionetten, da sich der metaphorische „Weltgeist“ gerade in ihrer Freiheit durchsetzt. Auch die Marx’schen Begriffe werden fehlerhaft verwendet: „Das Kapital ist der sich in der Zeit entfaltende Begriff der Ware. Die Zeit wird zum Begriff des Absoluten, die Zeit wird zum Geld“ (Krahl 1970, 140). Demnach müsste gelten: Kapital = (Ware + Zeit) = Geld. Marx meinte eher: Kapital = (Ware + Geld) über Zeit.

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„nicht gleichgültig neben den anderen Wissenschaften bzw. der Philosophie zu stehen, sondern dass sie [...] ihre besondere Qualität in der Auseinandersetzung mit den sich in ein arbeitsteiliges System auseinanderlegenden Wissenschaften gewinnt, genauer, indem sie nicht nur deren Inhalt kritisiert, sondern gleichermaßen deren Form“.

Hier macht sich das Fichteanische Durchschlagen der Form auf den Inhalt bemerkbar, was es erlaubte, „bürgerliche Wissenschaft“ und Philosophie („Ihr Inhalt ist vorwegbestimmt“, 36) von dieser überfliegenden Selbsterkenntnis aus zu kritisieren, ohne sich immanent mit ihnen beschäftigen zu müssen – wie schon in der Lebensphilosophie (2.5.2, 2.5.5). Auch hier annullierte man die Geltung allein aufgrund einer vermeintlichen Erkenntnis der Genesis (Reichelt 1974, 36): „Als Philosophie ist sie in ihrer Form und ihrem Inhalt [!] bestimmt durch die – dem Theoretiker selbst undurchsichtige – Verkehrung der bürgerlichen Reproduktionsform, also ihrer eigenen materiellen Voraussetzung, zur Naturform“. Auch H.G. Backhaus will deduzieren, „warum das Wesen gerade diese oder jene Erscheinungsform annimmt“ (1969, 132), wobei das Wesen als „historische Kategorie“ begriffen wird. Scheiterten schon der deutsche Idealismus und die Lebensphilosophie an ihren überzogenen Ansprüchen, so konnte auch die Wertformanalyse ihr Ziel gar nicht erreichen: sie überanspruchte die Philosophie im gleichen Maße, wie sie die Wissenschaft vernachlässigte.304 Ihr Scheitern schob sie dann allerdings nicht auf ihren verfehlten Ansatz, sondern auf Marx. Der wurde damit doppelt fehlinterpretiert: zu Beginn der eigenen Versuche stellte man fest, Marx habe „keineswegs ein zureichendes Bewusstsein seiner eigenen Verfahrensweise“ besessen (Reichelt 1970, 75), seine Redeweise sei „völlig irreführend“ (Negt in Euchner 1972, 32, cf. 43). Dies liegt jedoch eher daran, dass Marx’ Verfahrensweise eben nicht die unterstellte Deduktion der Gesamtkultur aus dem „Wertbegriff“ und seiner spezifisch historischen Form war.305 Als die eigene „Rekonstruktion“ der Marx’schen Theorie nicht zu der gewünschten Hyper-Deduktion führte, machten sich „Zweifel in [!] die Tragfähigkeit der Fundamente“ bemerkbar (Backhaus 1978, 28). Nicht die eigene Herangehensweise war damit gemeint, sondern die Theorie von Marx (23, 32, 81).306 Ausläufer dieser Theoriefamilie deuteten das eigene Scheitern schließlich in eine „Verschwinden“ der untersuchten Gegenstände, der Revolutionstheorie (Breuer 1977), des Gebrauchswerts (Pohrt 1976), ja „der“ Gesellschaft (Breuer 1992) um. Eine Theorie, die ihre Gegenstände verfehlt, erklärt diese zuletzt für nichtexistent 304 Popper bezog sich auf dem Soziologentag auf die neoklassische Nationalökonomie. Adorno antwortete jedoch nur philosophisch ( Adorno 1969a, cf. Habermas 1963c). 305 Marx’ Theorie kann dem Anspruch, aus ihr politische Strategien oder die Totalität der Welterklärung „abzuleiten“, nicht genügen, weil sie gerade die Unableitbarkeit der konkreten Wirklichkeit, die (nicht nur) intelligible Freiheit des Menschen und die Offenheit der Geschichte zu ihrem philosophischen Kern hat (Fleischer 1969). 306 Eine ähnliche Projektion vollzieht sich bei Althusser, welcher Marx zunächst Begriffe unterschiebt, die dieser „nicht zu denken in der Lage gewesen“ sei (Althusser 1972, 34;. Kittsteiner 1980, 21), und schließlich, nach dem persönlichen Scheitern, zu verstehen gibt, dass Marx ihm nicht wirklich wichtig war (1993, 236-259).

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(2.4.5). Die philosophisch überladene Hegelianisierung des Marxismus bereitete damit den Weg für ihr Umschlagen in postmodernen Fatalismus.307 Dieses Kapitel über ältere Formen der normativen deutschen Sozialphilosophie wies eine inhaltliche Abhängigkeit von der protophilosophischen Aufbereitung der Thematik in den zuvor untersuchten Disziplinen auf: Die Wirtschaft wurde als ein technisch-selbstlaufendes System unterbestimmt, und ihre Implikationen für die soziale Welt als davon abgetrennter „normativer“ Bereich begriffen, welcher gegebenenfalls in der Lage sei, die Wirtschaft zu „führen“. Nun hat das Feld der Sozialphilosophie eine eigene Grammatik, welches in 2.5.2 in Form einer Genealogie des Deutschen Idealismus (im weiteren Sinne) vergegenwärtigt wurde. Als Erbteil der deutschen Identitätsphilosophie von Fichte bis Luhmann hat sich die Tendenz erwiesen, zwischen Theorien und Realität kaum mehr zu unterscheiden. Dadurch konnten Ereignisse in der Theoriegeschichte als Abbildungen einer realen Geschichte gedeutet werden, auch wenn sie eher in theorieimmanenten Defiziten gründeten. Als Reaktion auf die philosophisierte Diagnose zeigte sich bei Eucken und Heidegger eine ihrerseits philosophisierte Therapie: gefordert wurde ein anderes Denken – und zwar eines, welches als ein ethisiertes gerade diejenigen Unterscheidungen unterlief, welche für eine Kritik der politischen Ökonomie im Sinne von Marx, im Grunde aber schon für die Funktion einer Normalwissenschaft wie der Physik unverzichtbar sind. Ein ähnlich idealistischer Irrationalismus zeigte sich auch beim Marxisten Lukacs sowie beim Postmarxisten Luhmann. Dieser Idealismus macht die Kritik der Rezeptionsgeschichte von Marx zu einer schwierigen Angelegenheit, weil die Abweichungen von Marx hier in philosophisch-ungreifbarer Form auftreten. Dem konnte dieses Kapitel abhelfen, indem es die Methode der Vergeistigungen auf die deutsch-idealistischen Hintergründe zurückverfolgte, und so die inhaltlichen Verwehungen in der darunter liegenden Schicht freilegte. Diese entstammen oft Diskussionskontexten, die in vorigen Kapiteln untersucht wurden.

307 Man schloss sinngemäß: ohne Gebrauchswert keine Revolution, ohne Revolution keine Kritik. Auch in Frankreich ebnete die philosophische „Rekonstruktion“ des Marxismus (dort nicht hegelianisch, sondern strukturalistisch) durch ihr voraussehbares Scheitern den Weg für die Postmoderne. Diese ist zugleich Ergebnis wie Erbin des vergeblichen Versuchs, den Marxismus als Deduktionswissenschaft zu intellektualisieren. Ironischerweise überlebten Hegelianisierung wie strukturale Semiotisierung des Marxismus ihr Objekt um Jahre. Zu den marxistischen Wurzeln der Postmoderne cf. Ryan 1982, Meistner 1990, Barrett 1991, Marsden o.J., Callari 1995 und (kryptisch) jour-fixe 1999. Sichtbar ist es bei Debord 1968, Baudrillard 1970, Deleuze 1972, Castoriadis 1975, Foucault 1991. Das Motiv des Herauswindens aus dem Marxismus wird schon auch in der Vorstufe der Postmoderne, den „neuen Philosophen“ deutlich (Schiwy 1970, Glucksmann 1976). Derrida „vergeistigt“ Marx noch nachträglich (1995, 142; cf. 1.4.2, Fn. 27; Henning 2005c).

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Bevor wir zu den Folgen der finalen Implosion des deutschen theoretischen Marxismus kommen (Kapitel 3), ist noch die abstrakteste aller Marxrezeptionen zu betrachten – die theologische, unter die auch die Kritische Theorie zu rechnen ist. In einer Ironie der Geschichte konnte gerade die Theologisierung die Erinnerung an Marx über den Bruch hinüberretten. Die Entfernung der Theologie von der sozialen Realität schlug hier zum Vorteil aus. Was die Theologie darüber hinaus so wichtig macht, ist ihre Fähigkeit, das spekulative Denken still zu stellen. Theologie hat ihren Sinn nicht im Erbauen theoretischer Systeme, sondern in der Ermöglichung eines rechten Verhältnisses der Menschen zu Gott und Welt. Dieses Verhältnis kann selbst kein theoretisches mehr sein. Verliert sich die spekulative Sozialphilosophie in auswegslosen Aufstockungen, vermag ein Blick auf die Theologie zu helfen. Im gewissen Sinne ist hier alles ganz einfach. Sie hält zudem den Weg zum schlichten, karikativen Handeln offen, der sich so segensreich auswirken kann – sogar auf die Sozialphilosophie. Auch darum bedarf die Theologie hier noch einer eigenen Betrachtung.

2.6 Kritische Theorie oder die Auflösung der Kritik in Religion „es scheint mit durchaus nicht übertrieben zu sein, wenn man zwischen Thomas von Aquin und Marx größere intellektuelle Affinitäten als zwischen Marx und Adorno erkennt.“ (Hösle 1990, 63)

Wie die Fülle der bisher behandelten Marxrezeptionen zeigt, war es inzwischen kaum mehr möglich, sich dem Werk von Karl Marx wissenschaftlich in nur einer Disziplin zu nähern. Um dem abzuhelfen, wurde 1923 ein „Institut für Marxismus“ ins Leben gerufen.1 Konzipiert in den revolutionären Wirren nach dem Ende des ersten Weltkrieges, sollte es durch eine Vergegenwärtigung der Marx’schen Theorien intellektuell auf den Sozialismus vorbereiten. Dem Namen nach ist es dieser Berufung auf Marx auch nachgekommen: bis in die Zeit des Spätmarxismus (Jameson 1990), also weit bis in die 1970er Jahre, waren „Kritische Theorie“ und „Marxismus“ fast synonym. Im deutschsprachigen Raum kommt diesem Institut für die Marxrezeption daher eine entscheidende Bedeutung zu. Allerdings wollen ihre heutigen Erben von Marx kaum noch etwas wissen (3.1). Zwischen den emphatisch marxistischen Anfängen und den heutigen Reststufen Kritischer Theorie liegt eine Phase der ständigen Depotenzierung der wirklich kritischen Theorien von Marx und Kant. Diese Verflüchtigung ging so weit, dass die einst stolzen Ansprüche, Hüter ‚der’ Vernunft zu sein, sich zuletzt als Religion verkleiden mussten: sie schienen nur noch nebelhaft auf und waren theoretisch wie praktisch ungreifbar – eben wie die Religion. Wie ist dieser Wandel im Rahmen eines „Instituts für Marxismus“ zu erklären? 1 So der vom Stifter Felix Weil intendierte, vom Ministerium gewährte und vom Leiter Grünberg verteidigte Sinn des Frankfurter Instituts (Wiggershaus 1988, 19).

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Ist dieser Bezug auf die Religion berechtigt, oder ist es nicht vielmehr eine Preisgabe auch der religiösen Vernunft, wenn sie nicht um ihrer selbst willen, sondern als Lückenfüller bemüht wird? Hier ist den Hintergründen dieses sukzessiven Abrückens von Marx nachzugehen. Als Ursache für diese unbestrittene Tatsache wird meist die allgemeine Zeitgeschichte angeführt: ein Versagen des Proletariats (pünktlich zum Amtsantritt des neuen Institutsleiters), die Perversion des Kommunismus durch Stalin sowie der gesamten Zivilisation durch Hitler hätten ein Festhalten am Marxismus unmöglich gemacht. Doch dies erklärt die Wandlung nicht, sondern gibt nur die Selbstinterpretation des Institutes wieder, die ja gerade in Frage steht. Gibt es für die sukzessive Auflösung des Marxismus in den Reihen der Kritischen Theorie (und darüber hinaus, cf. Albrecht 1999) nicht auch theorieimmanente Gründe? Solche Gründe für das Abrücken vom anfangs lautstark vertretenen Marxismus werden an drei Hauptvertretern Kritischer Theorie freigelegt (2.6.1-2.6.3). Es zeigt sich, dass die Nähe zur Theologie mehr als Verlust denn als Gewinn zu bewerten ist. Dies drängt zu einer Betrachtung der tatsächlichen Theologie und ihrem Verhältnis zum Marx’schen Denken (2.4.4-2.4.6). Dies erweist sich als weit komplexer als vermutet.

2.6.1 Horkheimers Lebensphilosophie „dazu müssten aber dann die spezialisierten Einzelwissenschaften nicht mechanisch zu einer Einheit verbunden, sondern durch die innerlich vereinheitlichende, philosophische Methode auch innerlich umgestaltet werden.“ (Lukacs 1923, 121)

Der erste, 1924 angetretene Institutsleiter Carl Grünberg, vom Stifter Felix Weil berufen, weil er renommierter Wissenschaftler und bekennender Marxist war, erarbeitete keine Meta-Modelle, die die marxistische Theorie behandelten, sondern wandte letztere schlicht an, indem er empirisch die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus dokumentierte. Zwar war diese Tätigkeit in der damaligen Universitätslandschaft so ungewöhnlich wie unbeliebt, doch aufgrund der Aufgeschlossenheit der sozialdemokratischen preußischen Behörden sowie der beachtlichen wissenschaftlichen Ergebnisse2 bestand das Institut in dieser Form mehrere Jahre. Ohne dass man sich unmittelbar politisch betätigt hätte, waren viele Mitarbeiter Kommunisten, und man kooperierte mit dem Marx-EngelsInstitut in Moskau.3 Unter dem zweiten, 1930 angetretenen Institutsleiter Max Horkheimer änderte sich das Profil merklich: nicht mehr die empirische Erforschung der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit aus marxistischer Perspektive, sondern die Schaffung einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft durch interdisziplinäre Arbeit verschiedenster sozialwissenschaftlicher Disziplinen unter philosophischer Durchleuchtung und Führung war nun angestrebt. 2 Cf. Grünbergs Archiv (1910-1930). Das Buch Korsch 1923 erschien bei Grünberg, wo er und Lukács lehrten (Reijen 1990). 3 Hierzu Strelewicz in Papcke 1986, 150 ff.; auch Wiggershaus 1988, 24 ff.

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Dies war zunächst nicht mehr als ein hehres Ziel.4 De Facto war es gerade diese philosophische „Führung“, die die interdisziplinäre Arbeit nicht nur behinderte, sondern mehr und mehr auch verunmöglichte. Ich will hier nicht erneut die gesamte Geschichte des Institutes,5 sondern nur diesen durchgehend problematischen Zug (und seine Folgen) beschreiben: die weitere Philosophisierung der Marx’schen Theorie. In das nunmehr philosophische Verständnis von Marx wurden nämlich gleich mehrere der bislang behandelten verfehlten Marxlesarten eingespeist und durch das „Primat der Philosophie“ ins Prinzipielle transformiert, so dass die konkreten Anlässe kaum noch erkennbar waren. Dieses Verständnis ließ zuletzt nur noch eine theologisierte Form von Vernunft zu – eine Schwundstufe.6 Die paradoxe Verschränkung von interdisziplinärer Forschung unter philosophischer Führung machte sich schon in den wissenschaftspolitischen Gepflogenheiten des Instituts bemerkbar: die Mehrzahl der neuen Mitarbeiter um Horkheimer war philosophisch geprägt: Horkheimer selbst hatte sich soeben in Philosophie habilitiert;7 Adorno und Marcuse hatten dasselbe zumindest versucht, waren aber an ihren Lehrern gescheitert.8 Erich Fromm und Leo Löwenthal betrieben eine geisteswissenschaftliche Psychologie und Literaturwissenschaft. Lediglich Grünbergs alte Mitarbeiter Pollock und Grossmann (sowie, entfernter, Mandelbaum), blieben als Fachökonomen. Schon der Schlüssel von Führern zu Geführten ist aufschlussreich. Institutionell war das Primat der Philosophie durch die „Diktatur des Direktors“ abgesichert.9 In die an der Frankfurter Universität bereits bestehende fachübergreifende Zusammenarbeit integrierte man sich allerdings nicht.10 Die hochausgreifende interdisziplinäre Programmatik war somit eher plakativer Wahlspruch als tatsächlich geübte Praxis. 4 Horkheimer 1931. Das Programm einer interdisziplinären Sozialforschung lösten eher Neumann und Kirchheimer als der „engere Kreis“ ein (Schäfer 1994, 65). 5 Solcher gibt es viele, cf. u.a. Jay 1973, Dubiel 1978, Honneth 1985, Gmünder 1985, Benhabib 1986, Sahmel 1988, Wiggershaus 1988, Reijen 1990, Bolte 1994, Kraushaar 1998, Albrecht 1999, Claussen 1999, Demirovic 1999 und How 2003. 6 Sie war konzeptionell schon ausgeprägt, bevor sie als theoretischer Rettungsring bemüht wurde – bei indirekten Vätern des Institutes wie Bloch, Kracauer oder Tillich (siehe unten, Fn. 79) wie bei Löwenthal 1920 und Fromm 1922 (vgl. Thier und Delektat 1954, Habermas 1957, 416 ff.). 7 Schon Horkheimers Betreuer, der Erkenntnistheoretiker Hans Cornelius, war der Meinung, nur das Denken könne aus dem Elend der Zeit erlösen (Wiggershaus 1988, 59; siehe die Selbstbeschreibung in Schwarz 1931. 8 Marcuse scheiterte, wohl aus politischen Gründen, an Heidegger (Wiggershaus 1988, 122); Adorno 1927 scheiterte wie Benjamin und Löwenthal (Dahms 1994, 23) an Hans Cornelius, der dessen zu strategische Anpassung wohl durchschaut hatte (Wiggershaus 1988, 99). Adorno habilitierte sich schließlich 1931 bei Tillich (a.O., 109). 9 Horkheimer wollte „eine Diktatur der planvollen Arbeit über das Nebeneinander von philosophischer Konstruktion und Empirie in der Gesellschaftslehre [...] errichten“ (1931, 42/GS 3, 31). Der Terminus „Diktatur“ war durchaus positiv konnotiert, ganz im Sinne Lenins (Wiggershaus 1988, 52, 184, 299). 10 Außer mit Tillich, dem man viel verdankte, kam es zu keiner Zusammenarbeit, obwohl damals progressive Geister wie Adolph Löwe, Carl Mennicke, Karl Mannheim,

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Es gibt in der Geschichte des Institutes keinen Sündenfall, der durch äußere Widrigkeiten so etwas aufgezwungen hätte, sondern diese Konstellation ist bereits seit Horkheimers Antritt gegeben. Dies zeigt ein Blick auf die ersten Nummern der Zeitschrift für Sozialforschung (ZfS). Abgesehen von Aufsätzen außenstehender Autoren wie Grossmann und Borkenau finden sich in den 1932 publizierten Bänden vor allem Plädoyers für den Marxismus in den Einzelwissenschaften Ökonomie, Psychologie, Musik- und Literaturwissenschaft und Philosophie. In den Beiträgen von Pollock, Löwenthal, Fromm, Adorno und Horkheimer macht sich jedoch ein Missverhältnis zwischen dem marxistischen Anstrich – einhellig wurde eine Entfesselung der unterdrückten „Produktivkräfte“ gefordert – und der sonstigen Behandlung des Materials bemerkbar. Beide bleiben „in verblüffender Unvermitteltheit nebeneinander“ stehen (Dubiel 1978, 126).11 Der philosophische Eingriff in das jeweilige Material blieb diesem nicht nur äußerlich, er bewirkte in der Gegenrichtung auch eine Verfremdung des Imputierten. Durch die unvermittelte Eintragung von Kategorien des Marxismus (wie „Produktivkraft“ oder „Sprengen der Fesseln“) in kulturelle Phänomene verloren diese ihren wohldefinierten Sinn. Sie werden zu abstrakten Philosophemen unbestimmter Referenz, eben zu „Sozialphilosophie“, wie sie das erklärte Ziel von Horkheimer (1931) war. Schon in dieser Frühform Kritischer Theorie, vor der Emigration (und vor Auschwitz), während noch ausgewiesene Ökonomen und Juristen im Institut mit von der Partie und auch die Verbindungen zur Universität ungebrochen waren, hat sich eine für den „westlichen Marxismus“ typische Form von Theorie entwickelt. Quer zu allen Wendungen innerhalb der Institutsgeschichte12 ist dies die Auffassung, dass eine Philosophie, welche sich ihre Stichworte aus dem Marxismus beschafft, bereits dadurch autorisiert ist, in die SoziHugo Sinzheimer, Martin Buber (mit dem nur Fromm Verbindungen unterhielt) und Hendrik de Man an der Universität lehrten (Wiggershaus 1988, 127 f.). 11 In der polemischen Formulierung von Wiggershaus 1988, 136 ff.: Pollock 1932/33 belegte „nicht einmal ansatzweise“ seine These, die Anarchie der Produktion mache eine sozialistische Planwirtschaft notwendig. Die These von Fromm 1932, der Kapitalismus bringe mit der Zeit die libidinösen Kräfte gegen sich auf, „blieb eine unbegründete, dogmatische Versicherung“. Horkheimer 1931 forderte eine Befreiung der Theorie aus ihren klassenmäßigen Verengungen, doch Verweise auf dazu nötige Umwälzungen ihrer realen Bedingungen blieben nur eine „stereotype Begleitmusik“, da er sich diesen selbst nicht zuwandte. Löwenthal 1932 näherte sich Lenins Widerspiegelungstheorie, ohne reale Entwicklungen der Gesellschaft zu beleuchten oder sie in Bezug zur Literatur zu setzen. Adorno 1932 war um reale Tendenzen der von ihm geforderten Veränderung der Gesellschaft gänzlich „unbekümmert“, sondern spiegelte den Marxismus direkt in die Musik (Schönbergs Musik etwa sei „mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfassung schlechterdings unvereinbar“. Adorno übernahm sogar die kommunistische Lehre vom „Monopolkapitalismus“ als Drahtzieher des „Faszismus“). Die „Untersuchung konkreter soziologischer Vermittlungen zwischen Musik und Gesellschaft überspringend“, goss er ästhetische Urteile in eine marxistische Form (Wiggershaus 1988, 108; milder Jay 1973, engl. 41 ff. /dt. 63 ff.) 12 Benhabib 1986, 79 unterteilt in drei Phasen (1932-37, 1937-40, 1940-45), deren Wechsel politisch bedingt gewesen sei (vgl. Dubiel 1978, Söllner 1979, Bonß 1982).

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alwissenschaften lenkend einzugreifen. Dies ist der disziplinarchitektonisch diktatorische Nebensinn „eingreifenden Denkens“ (Adorno 1963a; Kneist 2001). Diese plakativ marxistische Kulturtheorie hat (Frankfurter) Schule gemacht, nicht Ergebnisse der tatsächlichen interdisziplinären Arbeit.13 Diese Konstellation veränderte sich auch in weiteren, in der Emigration zustande gekommenen Projekten nicht mehr,14 bis sie schließlich zugunsten einer nur noch philosophischen Kulturkritik ganz aufgegeben wurde.15 Doch was für ein Philosophieverständnis lag dabei zugrunde? Die Forderung der bei den engeren Mitarbeitern homogenen Theorie nach einer Entfesselung verschiedenster zu „Produktivkräften“ gestempelten Entitäten wie Wissenschaft, Charakter, Musik und Literatur aus einer kapitalistischen Knechtschaft hat eine Befreiung der Seele aus zu engen Formen zum Ziel, also einen im Grunde lebensphilosophischen Hintergrund. Der Lebensphilosophie hatte es an einem scharf konturierten Feindbild gemangelt.16 Nun scheint der „Monopolkapitalismus“ die Kriterien eines solchen Feindbildes exakt zu erfüllen. Die darin bei aller Vermeidung von Namensnennungen auffällige Affinität zu Lenin (cf. 2.2.6) läuft einer lebensphilosophischen Deutung des Marxismus philosophisch gerade nicht zuwider.17 13 Ergebnisse gab es zwar auch, zuweilen in mustergültiger Form (Horkheimer 1936, Adorno 1950). Honneth 1985 weist allerdings auf schon damals vorliegende gravierende „sozialtheoretische Defizite“ hin. Marxistisch wirkten die eingeflochtenen abstrakt vorgetragenen Forderungen nach einer „vernünftigen Gesellschaft“ und einer Theorie, die diese berücksichtige; die formalen Erörterungen darüber, wie diese Theorie auszusehen habe (Horkheimer 1933; vgl. Adorno 1963a) sowie trotz fehlender Ausarbeitungen der Anspruch, selbst ein solcher Theoretiker zu sein (Adorno 1931, 342). Angemessener war vielleicht die Selbsteinschätzung, „bürgerlich“ zu sein (Schäfer 1994, 37 f., cf. Willms 1969). Korsch und Lukács, die Vorväter der Kritischen Theorie, waren noch in die Politik eingebunden. Ihre Schriften hatten tatsächlich einen praktischen Bezug (P. Anderson 1976). 14 Vgl. Wiggershaus 1988, 173 (zu Horkheimer 1936); 201 (zur Nichtpublikation von Fromms Studie über Angestellte von 1938 sowie der von Wittvogel über China); 251 ff. (zur Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Politikwissenschaftlern Neumann und Kirchheimer) u.ö. Wiggershaus 1988, Schäfer 1994 und auch Dahms 1994 beklagen, dass Theorie und Empirie unverbunden nebeneinander blieben. 15 Spätestens mit den Thesen über die „Kulturindustrie“ (Horkheimer 1947, GS 5, 144 ff.); vgl. die Aussage Horkheimers, heutige nachbürgerliche Kultur reduziere sich darauf, „Hilfsartikel der Produktion“ zu sein (1960, 107/GS 7, 101). Im elitären Vorurteil gegenüber der populären Moderne perpetuieren Horkheimer und Adorno, aber etwa auch Günther Anders, ihre großbürgerliche Herkunft (Steinert 1993). 16 Für Bergson, Heidegger und viele andere stellte das „mechanistische Weltbild“ ein wurzelhaftes Übel dar, über dessen Herkunft man jedoch verlegen war (vgl. die verschiedenen Genesen bei Simmel 1900, Weber 1904, Rathenau 1913, Groethuysen 1927, L.Klages 1929, Husserl 1936, Horkheimer 1951). Den Einfluss der Lebensphilosophie auf Horkheimer beschreibt Jay 1973 (engl. 48 ff. /dt. 71 ff.). In Paris hat Bergson das Institut direkt gesponsert. 17 Horkheimer nimmt eine Klassenzurechnung vor (1933, 66, 68/GS 3, 71, 74), er spricht vom „Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus“ (67/73), kritisiert die Gegner Lenins von 1908 (Mach, 86/96) und nennt Veränderung als das letzte Ziel (94/105; vgl. der Bezug auf Lenins „Diktatur“ oder den „Monopolkapitalismus“

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Der lebensphilosophische Hintergrund der späteren Werke, besonders der Dialektik der Aufklärung, ist vielfach bemerkt worden.18 Er war allerdings schon länger vorhanden. Deutlich wird der lebensphilosophische Rahmen etwa dort, wo Horkheimer eben diesen bei jemand anderem brandmarkte: in seiner Kritik an Karl Mannheims Ideologie und Utopie (1929). Ohne ihm sachlich etwas entgegenzusetzen, diskreditiert Horkheimer Mannheims Ansatz als „idealistisch“.19 Horkheimer wirft ihm vor, einen „kämpferischen“ Standpunkt zugunsten eines metaphysischen aufgegeben zu haben (1930, 25/GS 2, 292). Doch das geht an Mannheims Fragestellung vorbei. Dieser hatte konstatiert, dass sich Horkheimers Parteilichkeit theoretisch nicht mehr einfachhin vertreten ließ, ohne selbst ideologisch zu werden – war doch eben die von Horkheimer aufgefahrene „Wirklichkeit“ (23, 31/283, 293 u.ö.) strittig geworden, und zwar in so gut wie jeder Sozialwissenschaft.20 Diesem Problem verweigert sich Horkheimer. Er glaubt sich im Unterschied zu Mannheim als Philosoph in eine Praxis eingebunden, die ihm diesen Vorwurf zu erlauben schien: seine Theorie sei eine der positiven „Wissenschaft und Praxis“, die Mannheims dagegen bleibe philosophisch. Damit bemüht Horkheimer selbst die Diltheysche Depotenzierung von Theorie als Ausdruck einer Praxis (cf. 2.5.4 zu Korsch). Doch von welcher „Praxis“ ist die Rede? Horkheimer gehörte weder einer Partei an, noch war er sonstig politisch oder empirisch-einzelwissenschaftlich tätig. Der einzig denkbare Grund, mit dem er diesen Anspruch stützen konnte, war die Erklärung seines Theoretibei Horkheimer und Adorno, cf. Wiggershaus 1988, 52, 184, 141, 299; auch 301). Lenin wie die Lebensphilosophie hatten Denken und Sein, Theorie und Praxis einander kurzschlüssig angenähert und dabei nicht nur die Marx’sche Theorie, sondern die Rationalität des Verstandes insgesamt untergraben (Coletti 1976, cf. 2.2.4, 2.5.4). 18 Jay 1984, Rentsch 2000, 266; s.u., Fn. 49. Ein Keim dessen liegt schon im Terminus „Sozialphilosophie“ (siehe Röttgers 1995). 19 Horkheimer 1930, 19, 23, 27/GS 2, 279, 283, 288. Er trifft nur Dilthey, den er hinter allem sieht (18/277), und hält sich bei Begriffen Mannheims auf („Menschwerden“), die indessen gar nicht dessen Erkenntnisziel bildeten. Mannheim war eher an einer Verständigung der sich immer härter bekämpfenden Lager interessiert (29/290). Dass die Geschichte „nicht die Wirkung von Kämpfen zwischen bloßen Gesinnungen“ sei (22/282), wusste auch Mannheim. Als sich Horkheimer der religiösen Position, die er Mannheim unterstellt (21, 24/281, 284), selbst genähert hatte (Fn. 36 und 76), nahm er sein Urteil über Mannheim jedoch nicht zurück (vgl. Tae-Kook 1984). 20 Der Realitätsbezug war zur Floskel verkommen. Was etwa Carl Schmitt „als objektive Realität ausgibt, ist [...] eine von subjektiven Vorentscheidungen bestimme, parteiliche Konstruktion von ‚Wirklichkeit’, mithin [...] ein wissenschaftlicher Mythos“ (Groh 1998, 251; vgl. Mannheim 1929, 209; 2.5.4, Fn. 138; zur Parallele in der Physik K. Fischer 1998). Da half auch keine Selbstanpreisung als „Materialismus“: Die versimpelnden Schriften, die als „wissenschaftlicher Sozialismus“ auftraten, sowie die Erklärung des Marxismus zu einer Weltanschauung bei Kautsky und zu einer „Ideologie“ bei Gramsci und Lenin (Eagleton 1993, 107, 139) hatten den Marxismus wissenschaftlich entwertet. Dies war nicht Mannheims Verschulden (Horkheimer 1930a, 28/GS 2, 289). Horkheimer selbst jedenfalls trug in der Folge trotz Ankündigungen (30/292) wenig zur empirischen Erhellung dieser Wirklichkeit bei.

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sierens zu einer auch real befreienden Praxis. Dies allerdings war nur möglich, wenn die realen Probleme als primär theoretische verstanden wurden. Das ist nur in einem lebensphilosophischen Rahmen, nicht jedoch in einem Marx’schen denkbar: Theorie wird zur Praxis erklärt, Praxis zugleich als theoretische verstanden.21 Das hätte allerdings auch für Mannheim gelten können. Der Fluchtpunkt dieses Denkansatzes zeigt die lebensphilosophische Prägung deutlich: Theorie um ihrer selbst willen wird von Horkheimer weder politisch noch wissenschaftlich anerkannt. Damit aber befindet er sich nicht in der erhofften Gesellschaft von Marx, welcher die Krise nicht als eine des Denkens sah, sondern der unverhofften der Lebensphilosophie: erst diese hatte die Krise in das Denken selbst verlängert (2.5.1). Was Horkheimer Mannheim vorwarf – Verbleiben auf einer bloß theoretischen Ebene, Nichtberücksichtung der realen Kämpfe, Nähe zur Lebensphilosophie – traf in höherem Maße auf ihn selbst zu.22 Auch Horkheimer verblieb in der Theorie, er erreichte seinerseits keine „Praxis“. Der Unterschied war nur, dass Mannheim das recht klar war (schließlich ging es ihm um das Wissen),23 während Horkheimer durch den suggerierten Praxisbezug den Eigensinn von Theorie depotenzierte. Wenn etwas „Ausdruck“ einer bestimmten „Weltanschauung“ war, dann war es diese Sozialphilosophie, nicht aber „Theorie“ als solche. Die einzige Verbindung von Theorie und Praxis, die es hier gibt, ist Horkheimers dezisionistische Preisgabe von beiden. Horkheimer vertrat das hier Mannheim zum Vorwurf gemachte Beharren auf der Philosophie wenige Jahre später selbst,24 und lehnte Marx schließlich ganz ab (1970a). Er machte hiermit seine lebensphilosophischen Anfänge, denen er niemals untreu geworden war, explizit (Horkheimer 1960, 1961). Eine wissenschaftliche Gesellschaftskritik war so allerdings nur schlecht möglich. Der einst gegen Mannheim aufgefahrene marxistische Rahmen war bei Horkheimer offensichtlich nur äußerlich. 21 „Denken ist selbst schon ein Zeichen der Resistenz“ (Horkheimer 1942, 34/GS 5, 318) – eine „Praxis in abstracto“ (MEW 2, 41), wie bei Althusser. Für Adorno war „heute die Praxis [...] in einem weiten Maß in die Theorie [...] hineingeschlüpft“ (1963, 13, cf. Rohrmoser 1970, 46). 22 Nicht Mannheim „erinnert an die [...] Lebensphilosophie“ (1930, 24/GS 2, 284), sondern Horkheimer. Das Ziel von Horkheimers Theorie ist theoretisch: Der Materialismus setzt „an die Stelle der Rechtfertigung des Handelns die Erklärung durch das geschichtliche Verständnis des Handelnden“ (1933, 75/GS 3, 73). Misslich ist nicht dies, sondern das Selbstmissverständnis: Reine Theorie anerkennt Horkheimer ja gerade nicht (Horkheimer 1934 /GS 4, 174 ff.). 23 Mannheim erstrebte keine politische Anwendung Marx’scher Theorie, sondern er ermöglichte ihren Gültigkeitserweis (vgl. Mannheim 1924; Lewalter 1930). Damit war Mannheim der positiven Wissenschaft näher und zudem dem Marxismus nützlicher als Horkheimer. Mannheim wurde als einer der wenigen der Gefahr des aufkommenden Nationalsozialismus gerecht, die Horkheimer hier noch ignorierte, um es später zum Hauptthema seines Philosophierens machte (cf. Jay 1980). Auch der Lebensphilosophie stellte sich Mannheim 1929 intensiv. 24 Für Horkheimer war die „Kritische Theorie der Gesellschaft“ sei „auch als Kritik der Ökonomie philosophisch geblieben“ (1937, 59/GS 4, 220; cf. Fn. 73, 181).

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2.6.2 Pollocks hermetische Staatskapitalismus-Analyse „Der Staat reguliert die Wirtschaft.“ (Horkheimer 1942, 18/GS 7, 299)

Neben dem allgemeinen Typus von Theorie, der der „interdisziplinären“ Arbeit des Institutes philosophisch oktroyiert wurde, ist auch der spezifische Inhalt zu problematisieren, der in dieser Philosophie prinzipialisiert („aufgehoben“) wurde. Gemeint ist die spezifische Fassung, die die Marx’sche Ökonomie im Verständnis von Friedrich Pollock bekommen hatte. Diese massiven Veränderungen konnte desto unbemerkter in die Rahmenphilosophie des Institutes hinübergleiten, je weniger sie von Ökonomie verstanden.25 Mit Henryk Grossmann, dessen Studie über das Zusammenbruchsgesetz eine veritable, wenn auch nicht endgültige Leistung der Krisentheorie in der Folge von Luxemburg und Hilferding war (2.1.6), verfügte das Institut über einen marxistischen Ökonomen von Rang.26 Allerdings führte die persönliche Nähe des fachlich weniger bedeutenden Ökonomen Pollock zu Horkheimer dazu, dass dieser zu dem Ökonomen des Institutes wurde.27 (Nur Benjamin ließ sich von Grossmann unterrichten.) Dies hatte, gerade weil die engeren Institutsmitglieder kaum über ökonomische Vorbildung verfügten, gravierende Konsequenzen. Pollock (1932) ging mit Hilferding, aber im Unterschied zu Grossmann davon aus, dass das wirtschaftliche Problem, an dem der Kapitalismus einmal scheitern würde, die Anarchie zwischen den verschiedenen Sektoren des Marktes sei.28 Darin sprach sich eine fundamentale Abweichung von Marx’ ökonomischer Theorie aus: Marx hatte zwar eine auf den Märkten herrschende Anarchie konstatiert, diese aber nicht als Ursache gravierender Krisen gewertet, sondern als dessen normales Fungieren bestimmt. Er hatte in seinen Reproduktionsschemen nachgewiesen, dass sich in den permanenten Marktturbulenzen langfristig ein dynamisches Gleichgewicht herstellt (2.1.5). Tugan-Baranowski und Hilferding hatten daraus eine Garantieerklärung für krisenfreies Wachstum abgelesen, sofern nur die Proportionen zwischen den Abteilungen eingehalten würden – und dies sei eine politische Option. Pollock (1941a) machte aus dieser fehlerhaften Beschreibung des Kapitalismus nun eine solche des Nationalsozialismus.29 Dieser nämlich habe die kapitalistischen Krisentendenzen dadurch gelöst, dass er den Kapitalismus „organisiert“ und den chaotischen Markt gänzlich abgeschafft habe (cf. Hilferding 1927). Wie bereits Lenin ein neuen Gesetzen folgendes Stadium des imperialistischen Monopolkapitalismus ausgerufen hatte (2.2.6; dem waren die Frankfurter Theoretiker bislang gefolgt), rief Pollock nun eine weitere neue Stufe aus: 25 Wie sich Franz Neumann dagegen wehrte, beschreibt M. Schäfer 1994, 64 f. Adorno jedoch übernahm die These unbesehen (siehe dazu Johannes 1995). 26 Grossmann 1929, zu den Hintergründen Jay 1973, 18 (engl.); Wiggershaus 1988, 42. 27 Horkheimer und Pollock hatten in ihrer Kindheit einen Freundschaftsvertrag geschlossen – hier ging Freundschaft vor Wissenschaft (Wiggershaus 1988, 56, 317). 28 Pollock 1932 und 1933; vgl. Wiggershaus 1988, 77, 138, 143 und 314. 29 Dazu neben Gangl 1987: Wilson 1982, Postone 1982, M. Schäfer 1994, 56 ff.

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„Alle fundamentalen Konzepte [!] und Institutionen des Kapitalismus haben ihre Funktion geändert: die Eingriffe des Staates in die Struktur der alten Wirtschaftsordnung haben [...] den Monopolkapitalismus in den Staatskapitalismus überführt“ (1941 b, 116).30

Da diese neue Phase des „Staatskapitalismus“ die Anarchie des Marktes politisch überwunden habe, indem die staatliche Wirtschaftsplanung das chaotische einzelwirtschaftliche Profitstreben und damit die Ursache für Wirtschaftskrisen ablöste, prophezeite Pollock ihr eine unbegrenzte Stabilität. Dieser Kurzschluss von einer speziellen politischen Entwicklung auf die Grundlagen ökonomischer Theorie hatte zur Folge, dass Marx’ Theorie auf die gegenwärtige Phase keine Anwendung mehr fand.31 Was immer zuvor der Grund für die Vernachlässigung von Marx’ ökonomischer Theorie in der Kritischen Theorie gewesen sein mag, nun hatte sie dafür eine eigene ökonomische Begründung.32 Diese war zwar wenig überzeugend, da Pollock (1929, 1932) diese Hilferding’sche Lesart von Marx bereits vor 1933 vertreten hatte. Durch die bewusst homogenisierte Struktur der Leittheorie des Institutes war diese Weichenstellung jedoch einschneidend. Eine Konsequenz war, dass sich aufgrund mangelnder Krisenaussichten („Krisenlosigkeit“; Horkheimer 1942, 20/GS 5, 301) der ohnehin angelegte Pessimismus verstärkte. Pollock hatte den „Staatskapitalismus“ zu einer konfliktlos schnurrenden Maschinerie gemacht, die ewig so weiterlaufen konnte.33 Um zwischen „Reformismus, Bolschewismus und Faschismus“, die alle in die krisengeschüttelte Wirtschaft einzugreifen versuchten,34 Unterschiede zu sehen, musste noch eine weitere Ebene zu dieser mechanistischen Annahme hinzukommen: 30 „Die Sphäre der Zirkulation wird liquidiert“ (Horkheimer 1942, 13/GS 5, 293). 31 Die Nationalökonomie habe „unter dem Staatskapitalismus [...] ihren Gegenstand verloren“ (Pollock 1941a, 91; 2.4.1), da „in einer Befehlswirtschaft alle theoretischen Gesetze der klassischen Wirtschaftstheorie [...] keine Geltung mehr haben“ (Pollock 1941b, 116; ein Zitat eines NS-Ökonomen; Dubiel 1984, 125). Das Wertgesetz sei somit suspendiert (Saage 1983, 143; Schäfer 1994, 60). Auf die dafür nötige hegelianische Vermengung von Sein und Denken sei hier nur hingewiesen. 32 Sie hatte einen Vorläufer in der von Bernstein und Lenin einhellig festgestellten Irrelevanz der Marx’schen Ökonomie für die Gegenwart. Horkheimer verschwieg Marx, vorgeblich „strategisch“ (Wiggershaus 1988, 167), und meinte, Empirie nur zur Illustration der eigenen Philosopheme zu bedürfen (a.O., 201). In der weiteren Institutsgeschichte findet sich kaum ökonomische Abhandlungen, am nächsten kommen noch die industriesoziologischen Studien der 1950er Jahre (534 ff., 740 f.; cf. 2.4.6). 33 Pollock 1941a, 90 f. Einsprüche dagegen seitens engerer Institutsmitglieder fielen auf strategischer, nicht auf ökonomischer Linie. Horkheimer ging es darum, den „Irrtum einer Parteinahme für die ‚totalitarian answer’ zu vermeiden“ (Brief vom 30. 5. 1941, nach Wiggershaus 1988, 316); Adorno deduzierte, „dass in einer antagonistischen Gesellschaft eine nicht antagonistische Ökonomie“ unmöglich sei (317 – man bemerke die Richtung des Schlusses). Die „Fugenlosigkeit ihres Funktionalismus“ (145) zeigte sich bei diesen Autoren bereits 1932, vor dem Exil. Einzig Neumann kritisierte so spitz wie klar, dass Pollocks Ansatz „den Abschied an den Marxismus eindeutig enthält. […] Der Staatskapitalismus, wie ihn Pollock konzipiert, kann Millenium werden“ (Schäfer 1994, 80). 34 Horkheimers (1942, 19/GS 5, 300; Wiggershaus 1988, 315) Totalitarismustheorie.

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Erst eine ethische Bewertung konnte den nationalsozialistischen Totalitarismus von anderen unterscheiden. Damit war ein methodischer Dualismus erreicht, der architektonisch dem missverstandenen Kantianismus Bernsteins gleicht und die auf Habermas vorweist. Nicht nur ökonomisch war der „Abschied an den Marxismus“ (Franz Neumann; Fn. 33) somit begründet, sondern zudem auch durch die Behauptung des „Primats der Politik“.35 Die Prominenz der Ethik stand jedoch im Kontrast zu der Behauptung, eine Gesellschaftstheorie zu erarbeiten.36 Bei der von außen so offensichtlichen „Bosheit“ des Nationalsozialismus war zudem kaum mehr zu begreifen, warum es den Nationalsozialismus überhaupt gab. Das Institut griff dafür auf das Zwischenglied einer psychologischen Vermittlung zurück (Horkheimer 1932a; 1936; Pollock 1941b, 110 ff.; Jay 1973, 86 ff.). Die psychologische Analyse des Faschismus lief auf die Unterstellung hinaus, die Deutschen hätten schwere charakterliche Defekte, bedingt etwa durch den Zerfall der Kleinfamilie – eine vielleicht innovative, doch angesichts ähnlicher Familienverhältnisse in anderen Ländern wenig hilfreiche These.37 Ironischerweise schien gerade diese These den Marxismus des Instituts stützen zu sollen. Eigentlich nämlich wäre es am Proletariat gewesen, sich gegen die neuen Machthaber aufzulehnen, da dies in ihrem „objektivem Interesse“ hätte liegen müssen. Dieses aber hatte versagt – so später die durchgehende Auffassung des Institutes, das unter Horkheimer jedoch kaum Interesse für dasselbe gezeigt hatte. Ein notwendiger und totaler Klassenantagonismus, den es selbst bei Marx nicht gab (2.4.6), wurde unterstellt und zugleich außer Kraft gesetzt, indem gesellschaftliche Pathologien behauptet wurden, die diesen verhinderten. Die „Fugenlosigkeit“ des theoretischen Bildes von den ökonomischen Prozessen bekam auf diese Weise noch einen spekulativ-psychologietheoretischen Überbau.38 Der Befund kehrt in anderen Untersuchungen des Institutes wieder, etwa in ästhetischen.39 Diese vorschnelle psychologische Abstützung besiegelte die durch eine mangelhafte ökonomische Analyse hervorgerufene Suggestion einer Hermetik des Faschismus und die ihr gemäße pessimistische Haltung. Die Wirklichkeit schien sich immer weiter von den „wahren“ Zielen menschlichen Fortschritts zu entfernen. Die Ethisierung brachte die zusätzliche Schwierigkeiten mit sich, dass 35 Mit Schäfer ist zu bemerken, dass Horkheimer selbst „Politik“ instrumentalistisch engführte (1994, 41, 54, 63). Das Wort „Primat der Politik“ entstammt übrigens einer Selbstdarstellung von Hitler (61, cf. Huhn 1970). 36 Horkheimer legt es in den „Willen“ (1942, 21, 33/303, 318), den „Sprung“ (25/307 f.) zum „Besseren“ (21/GS 5, 303) zu vollziehen. Zur späten Ethik Adornos (1963) Schweppenhäuser 1993, Kohlmann 1997, Knoll 2000. 37 Wiggershaus 1988, 75, 158, 171 ff. (bezugnehmend auf Horkheimer 1936). 38 Wiggershaus 1988, 140, 163 f., 173 ff. Eine Ursache für die Trennung von Fromm um 1939 war dessen Insistenz auf „Güte“, einer trotz allem hoffnungsträchtigen Kategorie (299 ff.; Fromm 1963). Das „Prinzip Hoffnung“ war wenig beliebt. 39 Marcuse, Horkheimer und Adorno projizierten ihn noch in ihre Geschmacksurteile über Hollywood und Jazz hinein (zur „Kulturindustrie“ siehe in Horkheimer 1947, Adorno 1956 oder Marcuse 1964, 76 ff.; cf. Steinert 1993).

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die einzig verfügbare Ethik – die des Bürgertums, also der „Liberalismus“ – zuvor gerade selbst als Wegbereiter des Faschismus bestimmt worden war.40 Die „Negativität“, über den die Theologie in die Analyse einrückt, wird so als Verlegenheit erkennbar. Horkheimer hatte oft „die Vernunft“ in Anspruch genommen als Garantin einer besseren Welt.41 Er fasste sie als Container auf, in der „Ideale“ (GS 7, 230) oder „Werte“ (228) enthalten seien, die es zu „verwirklichen“ gelte. Der Fehler des „Liberalismus“ bestünde darin, dass er sie nur formal aufgefasst und damit „halbiert“ habe (vgl. Habermas 1967, 45 ff.; 3.2.4, Fn. 67). Was aber wäre die vollere Vernunft, die „vernünftige Gesellschaft“? Darüber hatte man, jenseits der Formel von der „Verwirklichung“ der bürgerlichen Ideale, stets nur Andeutungen gemacht. Wurden diese einmal ausgesprochen, waren sie selbst instrumentell: Vernünftig sei es, „den gesellschaftlichen Arbeitsprozess und damit die menschlichen Beziehungen überhaupt [...] nach einheitlichen Plan im Interesse der Allgemeinheit zu regeln und zu lenken“ (Horkheimer 1936a, 323/GS 3, 382).42 Diese Ethik konnte nur sozialistisch im Sinne einer „planwirtschaftlichen“ sein (Pollock 1932). Nun hatte der Nationalsozialismus (wie der Stalinismus) in Pollocks Deutung genau diese „planmäßige Leitung der Produktion“ (Horkheimer 1942, 24/GS 5, 307) vollbracht. Diese Beschreibung des Nationalsozialismus entsprach genau der Vorstellung von „Vernunft“, die man einmal selbst vertreten hatte.43 Zusätzlich zu den persönlichen Katastrophen brachte der Nationalsozialismus das Institut so auch theoretisch in eine missliche Lage. Vielleicht war dies ein Grund, warum ihm so bereitwillig eine Zerstörung ‚der’ Vernunft zugeschrieben wurde: er hatte die eigene Theorie verunmöglicht.44 Es gab nun drei Möglichkeiten: eine Selbstkritik an den eigenen Vorstellungen von einst, ein Festhalten an denselben unter einstweiliger Verschiebung der Option in die Transzendenz, oder ein Festhalten an den Aussagen unter Verkehrung der Vorzeichen, also eine Absage an diese Vernunft, die sich nun im Natio40 Der „Liberalismus selbst“ hat „den total-autoritären Staat aus sich erzeugt“ (Marcuse 1934, 32/ZfS 174). Wer „vom Kapitalismus nicht reden will“, solle „vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer 1939, 116/GS 4, 309). Es „lechzte die deutsche Kultur, gerade wo sie am liberalsten war, nach ihrem Hitler“ (Adorno 1951/GS 4, 62). 41 „Das bürgerliche Denken beginnt als Kampf gegen die Autorität der Tradition und stellt ihr die Vernunft [...] entgegen“ (Horkheimer 1936a, 303/GS 3, 362; cf. GS 2, 229 f.; GS 5, 320 ff.; GS 7, 241 ff.; Marcuse 1937). 42 Vernunft sei das Vermögen, „die Idee des objektiv Vernünftigen zu fassen“ (1951, 50/GS 7, 25). 1935 verlangt Horkheimer nach einer „dem Stande der menschlichen Entwicklung entsprechenden gesellschaftlichen Ordnung. Die Verwirklichung dieser Ordnung ist die konkrete Gestalt der Vernunft“ (GS 12, 243). „Es ist das große Verdienst der Technokraten, [...] die technischen Möglichkeiten von heute“ aufgezeigt zu haben (Pollock 1933, 57). 43 Horkheimer meinte 1935, „Autorität“ sei eigentlich „vernünftiger [!] [...] als die Freiheit eben des Liberalismus, aus welcher sie hervorging. Nicht dass sich die Menschen einer Diktatur unterwerfen, ist die Schuld des totalitären Staats, [...] sondern dass diese Diktatur den Interessen des Volks zuwiderläuft“ (GS 12, 242). 44 „Die Stammbegriffe der westlichen Zivilisation […] zerfallen“ (GS 5, 320).

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nalsozialismus „verwirklicht“ habe.45 Die erste Möglichkeit hat Habermas erst nachträglich beigebracht, ohne dabei allerdings den grundsätzlichen architektonischen Dualismus zu überwinden, da er nur den normativen Theorieüberbau renovierte.46 Die zweite Option wird gleich an Adorno und Benjamin erläutert. Es war die dritte Option, die sich Horkheimer und Adorno im Exil und angesichts von Weltkrieg und Völkermord aufdrängte: „Die neue, die faschistische Ordnung ist die Vernunft [!], in der Vernunft selbst als Unvernunft sich enthüllt“ (Horkheimer 1942a, GS 5, 348). „Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft“ (ders. 1939, 116/GA 4, 309). In der hier zugrunde gelegten Auffassung, dass der Kapitalismus, der bereits die Verkörperung der „halben Vernunft“ war, notwendig zum Faschismus führe (Fn. 40), steckt gerade keine Kritik des eigenen kautskyanischen Fortschrittsglaubens von einst, sondern seine bloße Umdrehung: der geschichtliche Fortschritt aus der Verwirklichung der Vernunft erschien nun als ein beständiger Fortschritt der Unvernunft, bis hin zu ihrer völligen Auswicklung im Faschismus.47 Dann half es jedoch nicht, „Vernunft“ gegen denselben aufzufahren.48 Dieser Gedanke wurde in der Dialektik der Aufklärung dann durchgespielt. Spätestens mit dieser Absage an die politische Praxis spielte Marx für die „Kritische Theorie“ keine Rolle mehr, an seine Stelle traten endgültig Nietzsche und Schopenhauer.49 Die bisher angenommene Ursache für die katastrophale Entwicklung, der Staatskapitalismus, wurde verallgemeinert und seine Merkmale prinzipialisiert: schuld waren nichts geringeres als das das gesamte Abendland über ungebrochene „Prinzip der Herrschaft“,50 das für dieses verant45 Eine vierte Möglichkeit war die affirmative Anerkenntnis des Nationalsozialismus als „vernünftig“. Horkheimer konzedierte dieser Lesart erstaunlicherweise immerhin dies: „solche Stimmen, an denen es nicht fehlt, sind nicht die dümmsten, nicht einmal die unehrlichsten“ (1942, 34/GS 5, 319). 46 Den ökonomischen Theorieunterbau hielt Habermas noch ebenso mechanistisch wie Pollock, nur versah er ihn mit einem neuen systemtheoretischen Putz (3.1.1). 47 Eine Umkehrung der hegelschen Geschichtsphilosophie (so Schnädelbach 1988, 26 und Schäfer 1994, 82). „Aufklärung ist totalitär“ (Horkheimer 1947, 19/GS 5, 28). 48 „Heute gegen den Faschismus auf die kapitalistische Denkart des 19. Jahrhunderts sich berufen, hieße an die Instanz zu appellieren, durch die er gesiegt hat“ (Horkheimer 1939, 132/GS 4, 327; cf. Schäfer 1994, 52 f.). Sogar der Krieg gegen Hitlerdeutschland schien ihnen wenig sinnvoll, da die Wurzel des Übels für sie ja nicht in diesem einzelnen Regime, sondern in der instrumentellen Rationalität lag, die in den USA genauso herrsche („Auch seine Niederlage bricht nicht notwendig die Lawine“, GS 5, 232; cf. Schäfer 1994, 105 f.). 49 Dies zeigt die Reaktion Horkheimers und Adornos auf Marcuses marxistisches Exposé von 1947 (Wiggershaus 1988, 432); die ausbleibende Reaktion auf den emphatischen Einsatz von Heinz Maus für Horkheimer und Adorno (437) oder die Abwehr gegen eine Promotion Dahrendorfs über Marx (Dahrendorf 1953, cf. 2.4.6, Fn. 183). Nietzsche ist in der Dialektik der Aufklärung zentraler als Marx (Rohrmoser 1971, Koch 1973, 7; Habermas 1983, Honneth 1983, Rath 1987, Wiggershaus 1988, 207, 242). Informell vollzog Horkheimer eine Kehre von Marx zurück zum lang verehrten Schopenhauer (1961/1972a, 68 ff., 145 ff./GS 7, 240 ff.; Post 1971, Ebeling 1980). 50 Horkheimer 1942, 20/GS 5, 302; cf. Rohrmoser 1970, 14. Bereits in 2.2.6 wurde auf-

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wortliche gleichmachende „Identitätsdenken“ (somit auch die Wissenschaft – man erinnere sich an die lebensphilosophische Klage über die Verdinglichung) sowie das nochmals dahintersteckende „Tauschprinzip“.51 Es ergab sich ein hermetisches Verhängnis: Die Herrschaft war total und somit nicht zu brechen. Über Lösungsmöglichkeiten konnte nicht einmal nachgedacht werden, weil das übliche Denken der Herrschaft verhaftet blieb, ja diese stärkte.52 Nur ein anderes Denken könnte helfen, doch dieses setzte die Aufhebung des Tauschprinzips voraus. Das allerdings war durch die totale Herrschaft unmöglich – ein gigantischer Teufelskreis. Konsequenterweise hätten Horkheimer und Adorno nun entweder schweigen und ernsthaft religiös werden müssen, oder sich wie Heidegger nur noch in gegenvernünftiger Weise äußern dürfen.53 In gewissem Sinne haben sie das auch getan, wenn man etwa den hermetischen Stil spätadornitischer Schriften betrachtet, und das hat ihnen den Beifall postmoderner Vernunftkritiker eingetragen. Allerdings war bei einer solchen Totalkritik nicht auszuharren, und so sind sie in der Nachkriegszeit bald zurückgerudert. Im Positivismusstreit etwa nahm man wieder auf den „Vernunftbegriff“ Bezug – diesmal auf einen „dialektischen“ –, den es nur in der zweiten Option, der Gründung der kritischen Einsprüche auf eine als irgendwie ‚transzendent’ gedachte Vernunft, geben konnte. Allerdings schimmerte die Totalkritik immer wieder durch (wie zuletzt in der Negativen Dialektik). Über dieses stete Oszillieren kommt nun auch die Theologie in unseren Horizont hinein.

2.6.3 Adornos quietistischer Utopismus „Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in Frankreich und England bleibt, dass sie nur die Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eignen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Werthurteils nimmt.“ (Friedrich Nietzsche 1888, 139)

Das 1950 in Frankfurt neu gegründete Institut schloss sich zwar an die Mächte des Wiederaufbaus an, ließ sich aber deswegen nicht den Mund verbieten.54 gewiesen, dass die Repolitisierung vormals ökonomischer Begriffe, hier die „Herrschaft“ (auch „Vertrag“ wurde in vielen Schriften des Instituts nun durch „Befehl“ ersetzt, cf. Pollock 1941a, 80; 1941b, 112; Gangl 1987, 226; Schäfer 1994, 62), bei Hilferding und Lenin auf einer verfehlten Analyse des Monopols beruht. Dieses „Primat der Politik“ wurde nun prinzipialisiert. 51 „Die Selbstbewegung des Begriffs der Ware führt zum Begriff des Staatskapitalismus“ (Horkheimer 1942, 25/GS 5, 308) – ein rein spekulativer Rumpfmarxismus. 52 Horkheimer meinte, dass man „Freiheit nicht mehr denken“, ja „nicht mehr sprechen kann“ (1942, 33/GS 5, 318). Dies wurde in der Emigration in den USA geschrieben. „Aber warum geht man denn überhaupt ins Ausland, als um mit voller Flagge zu segeln? Im Ausland steht dem nichts entgegen“ (MEW 19, 158). 53 Eine Ähnlichkeit zum späteren Heidegger sehen u.a. Rohrmoser 1970, 36 ff., Mörchen 1980, Ebeling 1983 und Kittsteiner 2004 (dazu Henning 2004). 54 Wiggershaus 1988, 479 ff. Zur „intellektuellen Gründung der Bundesrepublik“ (Albrecht 1999) auch Koenen 2001, 115.

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Wenn auch die populäre Dialektik der Aufklärung weder theoretische Alternativen aufzuweisen noch politische Einmischung gutzuheißen vermochte, mischten sich Horkheimer, Adorno und später auch Marcuse organisations- und wortgewandt in viele Belange ein. Dabei bedienten sie sich zwangsläufig der alten Positivismus- und Liberalismuskritik aus der Zeit vor der totalen Vernunftkritik: der Kritik an der total entfalteten, aber katastrophischen Vernunft wurde wieder zurückgeschraubt auf die an ihrem positivistisch verkürzten Begriff.55 Man beanspruchte nun wieder, für die eigene Kritik aus dem reichen Fundus der anderen Hälfte der Vernunft zu schöpfen, von der man immerhin zu sagen wusste, dass sie „dialektisch“ sein müsse. Gerade von hierher rührt wohl die Popularität der Kritischen Theorie, von der zu nahezu jedem Thema ein kritisches Wort zu erwarten war.56 Wie wichtig dies für die kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik war, wird schon daraus ersichtlich, dass beinahe jede humane Fachwissenschaft einen von der Kritischen Theorie inspirierten Ableger bildete, von der „kritischen“ Psychologie Klaus Holzkamps über die „kritische“ Pädagogik Hartmut von Hentigs und die „kritische“ Dramentheorie Peter Szondis bis hin zur „kritischen“ Theologie (Oudenrijn 1972). Auch in außerakademische Bereiche strahlte die Kritische Theorie aus, wenn man Phänomene wie den Autorenfilm Alexander Kluges oder die „Gewerkschaft kritischer Polizisten“ hinzuzählt. In gewissem Sinne waren sogar die Anschuldigungen, die Studentenbewegung sei von der Kritischen Theorie angestachelt worden, nicht völlig von der Hand zu weisen.57 All dieses stellt eigentlich einen durchschlagenden Erfolg dar, der nicht in Abrede gestellt werden soll. Das einzige, was der Kritischen Theorie fehlte, war, dass sie keine Theorie war. Sie verfügte über keine Begründung ihrer Einsprüche. Eine Theorie, die alles zu kritisieren sich anschickt, jedoch die Auskunft darüber, wie es besser zu machen sei, mit dem Verweis auf das „Bilderverbot“ abweist, hat tatsächlich ein Begründungsproblem.58 Dieses Problem resultierte aus der verkürzten Marxrezeption, die für die Basis weit über den Nationalsozia55 Außer in mit der alten Totalitätsgläubigkeit kokettierenden Anflügen wie „Das Ganze ist das Unwahre“ (Adorno 1951, 80/GS 4, 55). 56 Schöttker 2000 sieht einen Widerspruch zwischen der Verurteilung der Massenmedien und der gewitzten „Organisation philosophischen Erfolgs“; er zeigt, wie die Heimkehrer ihre marxistischen Anfänge „zu verdrängen versuchten“ (Schöttker 2000, 447 f.: erst 1968 erschien der Band Kritische Theorie, zuvor versuchte Horkheimer die Anfänge des Institutes eher zu vertuschen). Die These, die Kritische Theorie sei erst 1949 entstanden (Demirovic 1999, Albrecht 1999), weist er ab. 57 Dieser Vorwurf der Politiker Filbinger und Dregger wurde philosophisch u.a. von Rohrmoser vorgetragen (durch die Verstellung des Weges von der Theorie zur Praxis werde die „Praxis theorielos“, 1970, 30 ff.). Ex post gibt ihm Koenen 2001, 115 f. recht; vgl. Wiggershaus 1978; 1988, 727 f.; Negt 1995; Kraushaar 1998. 58 „Man kann nicht bestimmen, was eine freie Gesellschaft tun oder lassen wird“ (Horkheimer 1942, 25/GS 5, 308; cf. 1972b, 150/GS 8, 331; Adorno 1957/GS X, 616; 1975, 207, 394; Wiggershaus 1988, 560). Freyer 1931 dachte überraschend ähnlich (Lukács 1954, 515; Grimminger 1997). Habermas benannte das Begründungsproblem (1981b I, 489 ff.; II, 555 ff.) und versuchte es alternativ zu lösen (cf. 3.1.1).

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lismus hinaus einen staatskapitalistischen Determinismus festschrieb, der keinen Raum für Besserungen ließ (die Studentenbewegung wurde als „Pseudoaktionismus“ gebrandmarkt),59 andererseits aber durch die Entscheidung für den Materialismus auch keine „normativen“ Sphären beanspruchen wollte. Horkheimer und Adorno haben dieses Manko mit unterschiedlicher Intensität gespürt. Horkheimer, der sich zuletzt zu einem resignierten Vernunftliberalismus durchrang, bedrückte es.60 Adorno dagegen versuchte in mehreren Anläufen, aus der Not eine Tugend zu machen. Sein Denken zog sich in den Bereich der Ästhetik zurück, über diese „Atempause“ (1966, 241) gar nicht unglücklich, entsprach sie doch seinen Interessen. Die Entitäten, mit denen die Begründungslücke zu füllen versucht wurde, lassen sich für Fromm und ansatzweise auch weitere Mitglieder des Instituts mit dem Kurztitel Psychoanalyse, für Horkheimer und Marcuse mit Kreatürlichkeit oder „Lust“,61 für Adorno mit Kunst und Religion,62 bei Habermas schließlich mit Ethik und Sprache benennen. Keiner von ihnen bezog diese Reperkussionen darauf zurück, dass der eigene emphatische Marxismus der Jugendjahre diese Lücke hinterlassen hatte – erst dieser und die von ihm versprochenen „Möglichkeiten“ hatten das Institut ja auf Distanz zu jeder verfrühten „Vermittlung“ gehen lassen, und erst die hermetische Interpretation desselben durch Pollock hatte einen Dualismus von technokratischen Basisstrukturen und ungeklärter Legitimation kultureller Ansprüche aufgerissen. Ist der Marxismus einmal zu einer dualistisch abgespaltenen technischen Angelegenheit geworden, ist es für die autonomisierte Kulturtheorie allerdings gleichgültig, ob er noch formal vertreten63 wird oder nicht. 59 Nach Krahl teilte Adorno „die Ambivalenz des politischen Bewusstseins vieler kritischer Intellektueller […], die projizieren, die sozialistische Aktion von links setze das Potential des faschistischen Terrors von rechts, das sie bekämpft, überhaupt erst frei. Damit aber ist jede Praxis a priori als blind aktionistisch denunziert und die Möglichkeit politischer Kritik schlechthin boykottiert“ (nach Kraushaar 1998 II, 674). 60 Wiggershaus 1988, 304, konstatiert dazu, einen Brief zitierend: „Im Unterschied zu Adorno bereitete dabei die ‚Schwäche der positiven Formulierungen’ Horkheimer Unbehagen (cf. Horkheimer-Adorno, 21. 6. 41).“ Horkheimer sagte 1968: „Ich bekenne mich zur kritischen Theorie; das heißt, ich kann sagen, was falsch ist, aber ich kann nicht definieren, was richtig ist“ (Horkheimer 1972b, 150/GS 8, 331). 61 Horkheimer 1936b; Wiggershaus 1988, 205 ff.; Marcuse 1937, 1955; Jay 1973, 58. 62 Der Weg führt zurück von Marx zu Hegel (Lichtheim 1971); ja noch hinter Hegel zurück, für den Kunst und Religion nur Vorgestalten des absoluten Wissens waren (3.1.5, Fn. 125). Eine am Wissen verzweifelnde Erlösung in der Kunst gab es schon bei Schopenhauer (Ebeling 1980, cf. Haug 1971, Rohrmoser 1972, Gorsen 1981). 63 Die Bekenntnisse zu Marx (zuletzt bei Adorno 1969) hatten stets etwas formelhaftes; Johannes 1995 nannte dies treffend das „ausgesparte Zentrum“. Der Versuch, Marx und die Kritische Theorie wieder in Beziehung zu setzen, findet sich erst wieder post mortem, also nach 1989 (Dubiel 1990, Postone 1993, Bolte 1995). Bezeichnend sind die Änderungen an der Dialektik der Aufklärung zwischen 1944 und 1947: „Ausbeutung“ wurde zu „Leiden“, „Produktivkräfte“ zu „Möglichkeiten“, „Klassengesellschaft“ zu „Gesellschaft“, „Kapitalismus“ zu „Bestehendes“, „Monopolismus“ zu „Kulturindustrie“ (Horkheimer 1989, 303; van Reijen 1987).

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Daher spielte sich der „Abschied an den Marxismus“ (F. Neumann) in der Frankfurter Schule fast ab.64 Doch auch wenn Marx keine konstitutive Bedeutung mehr für die eigenen Theorien hatte, so bezog sie sich doch auf ihn – und sei es in verheißungsvollem Schweigen – wie auf einen untergegangenen Heiligen. Doch was für ein Marxbild hat das Institut nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich vermittelt? Die späten Äußerungen Adornos lassen sich so deuten: Marx hatte den Versuch gewagt, Philosophie in Wissenschaft und Praxis aufzuheben. Doch beides war gescheitert: eine umfassende „Theorie der Gesellschaft“, die sich die Kritische Theorie zur Aufgabe gemacht hatte, gab es nicht, ja konnte es nach späten Äußerungen Horkheimers und Adornos auch nicht mehr geben.65 Von einer vernünftigen Ordnung der Gesellschaft konnte in West und Ost keine Rede sein,66 und die Aussichten auf eine solche schwanden. Gemessen an dieser Ausgangslage lag nichts näher, als Marx’ Aufhebung wieder zurückzunehmen. Dies vollbrachte Adorno in dem berühmten Einstieg seiner Negativen Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“ (1966, 15). In der Verteidigung der Junghegelianer gegen Marx67 zeigt sich das alte, lebensphilosophisch und le64 Wenn in der Folge im Rahmen des Instituts von Marx noch die Rede war, so konsequenterweise als von einem Philosophen. Habermas rezipierte das Denken des jungen Marx und des jungen Lukács „nicht als Kritik des Kapitalismus, sondern als eine [...] aus anthropologischer Perspektive gesehene Theorie der Verdinglichung“ (Wiggershaus 1988, 600). Auch Schmidt 1960 ging es um das „dialektische Denken“ des jungen Marx, und wie es gegen voreilig zur „Natur“ erklärte Fakten angebracht werden konnte, wie sie im Positivismusstreit vorgebracht wurden. Im Vordergrund stand hier und andernorts eher Hegel (cf. Negt 1970, noch Honneth 1992 und 2001). 65 „Die Irrationalität der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur verhindert ihre rationale Entfaltung in der Theorie [...] Parallel zur Rückbildung der Gesellschaft läuft eine des Denkens über sie“ (Adorno 1969, 359 f.; cf. Horkheimer 1967, 165; Wiggershaus 1988, 696). 1955 sprach Horkheimer von der „Abwesenheit einer zulänglichen Theorie der Gesellschaft“ (1972a, 71). „Einstimmige Theorie setzt [...] Geschlossenheit des Gegenstandes [...] voraus“ (Horkheimer). „Die anwachsende Irrationalität der Gesellschaft [...] wird unvereinbar mit rationaler Theorie. Diese kann kaum länger mehr die Gesellschaft bei einem Wort nehmen, das sie selber nicht mehr spricht“ (Adorno; beides aus dem geplanten Vorwort zu Sociologica II von 1963, nach Wiggershaus 1988, 627). „Die Begriffe des Subjektiven und des Objektiven haben sich völlig verkehrt“ (Adorno 1951, § 43/ GS 4, 76; cf. Marcuse 1964, 163). Marcuses geschichtsphilosophischer Legitimierungsversuch (Fn. 70) wurde durch Pollocks Hermetik verunmöglicht (Benhabib 1986, 107). 66 Adorno kritisierte in „Die gegängelte Musik“ (1953) die Diktaturen „jenseits des Zonengrenze“ (Wiggershaus 1988, 568; vgl. Adorno 1966, 316). Der späte Horkheimer verteidigte die westliche „Freiheit“, die er zuvor nur als Vorstufe zum Faschismus gesehen hatte (Wiggershaus 1988, 494; cf. Horkheimer 1972a, 109/GS 7, 145 ff.). 67 Siehe noch Schmidt 1973 und Honneth 2003, 274. Zum Vorwurf des Junghegelianismus Bubner 1969; Rohrmoser 1970, 46; Lichtheim 1971: ‚bürgerliche’ Philosophen verteidigen Marx gegen Adorno, denn dieser hielt „nicht die Marx’sche Vorstellung von der Aufhebung der Philosophie in Praxis für aktuell, sondern eine neue Philosophie“ (Wiggershaus 1988, 595, cf. Adorno 1963a, 1963b; 1969a, 151 etc.).

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ninistisch geprägte Verständnis von Philosophie: Philosophie bildet die Geschehnisse ihrer Zeit ab, doch sie hat gegenüber diesen keine Autonomie. So ist sie, da sie nicht „verwirklicht“ wurde (schon dies ist junghegelianisch gedacht), verurteilt zu weiterer Existenz. Doch zur Geschlossenheit kann sie nicht durchdringen, da es auch ihr Gegenstand „nicht mehr“ ist. All dies rechtfertigt ex post die Art und Weise, wie „Theorie der Gesellschaft“ hier stets praktiziert worden war: in philosophischen Fragmenten. Adorno zieht so die Konsequenzen aus Horkheimers zum 50. Jubiläum des Kapitals verfassten Grundsatzartikel „Traditionelle und Kritische Theorie“ (1937).68 Dort hat Horkheimer versucht, Marxens Impulse in die Philosophie zurückzuholen: das „Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ sei „der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft“ (1937, 56/GA 4, 219), der damit aufrechterhalten wird. Marx hatte „Aufhebung“ anders gemeint: ihm ging es um die Einlösung des philosophischen Erkenntnisanspruchs in Wissenschaft sowie die Verlagerung emanzipatorischer Gelüste aus der idealistisch überhöhten Ersatzebene der Theorie in aktive Politik (3.4.4). Ihr Unmittelbarkeitsstreben hatte er den Junghegelianern gerade auszutreiben versucht. Da sie Sein und Denken vermengten, meinten sie schon durch ihre Theorie praktisch zu sein, während ihr Tun nicht einmal wirkliche Theorie war, da sie (als deutsche Denker) weiterhin auf der Suche nach dem idealen System waren. Die einzige Einheit von Theorie und Praxis war, dass so beide verdarben. Philosophen können zwar protestieren gegen das „Elend der Welt“ (Bourdieu 1997). Wollen sie jedoch mehr leisten, müssen sie über die Philosophie hinausgehen. Marx wurde daher politisch und trieb Ökonomie. Sein Grundgedanke war einfach: Nur wenn Philosophie sich derart in die Wissenschaft „aufhebt“, kann sie daran denken, sich politisch „verwirklichen“ zu wollen.69 Zwar bleibt Philosophie als kritische Reflexion unverzichtbar – gerade darin, dass Marx die philosophische Sichtweise in die politische Ökonomie mitbrachte, bestand ja die Möglichkeit ihrer Kritik. Auf diese muss sie sich allerdings weislich beschränken.70 In der Wissenschaft selbst haben politische Wünsche oder normative Ansprüche, hat also eine philosophische „Führung“ wenig zu suchen. Gegen Parteiprogramme, die irgendeine „positive“ Philosophie vertraten, wehrte Marx sich daher vehement.71 68 Grossmann hatte ursprünglich ein Marx-Jubiläumsheft angeregt (Wiggershaus, 211). 69 Diese Fraktion „erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt [...] Kritisch gegen ihren Widerpart, verhielt sie sich unkritisch gegen sich selbst, indem sie von [...] der Philosophie ausging“ (MEW 1, 337 ff). Philosophie muss „verwirklicht“ und „aufgehoben“ werden. Verwissenschaftlichung genügte Marx ebenso wenig wie Aktivismus. Zu diesen Stellen Hartmann 1970, Fleischer 1970 und 1988, Braun 1992, Brudney 1998; cf. 3.4.4, 4.2.3. 70 „Aber außerhalb der Kritik bleibt der Philosophie kein Recht“ (Habermas 1963, 86). Dazu bedarf es weder einer „Geschichtsphilosophie“, wie Marcuse meinte (Marx’ Kategorien „schildern einen negativen Zustand im Licht seiner positiven Aufhebung“, 1941, 260; Wiggershaus 1988, 561), noch „normativer Fundamente“ (3.1.4). 71 Marx spottete über den Philosophen, der, weil er „eine magische Formel bei der

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Genau dies nimmt Horkheimer in seinem weichenstellenden Aufsatz wieder zurück: „Aus der Philosophie hat sich nicht etwa eine Volkswirtschaftslehre herauskristallisiert“.72 Statt sich in die Niederungen der Wissenschaft hinab zu begeben (Wiggershaus 1988, 208), übernahm Horkheimer Ergebnisse von Wissenschaften, die er selbst vorausgewählt hatte, direkt in die Philosophie, und zwar recht unkritisch. So findet weder eine philosophische Kritik der Wissenschaft, noch eine wissenschaftliche Analyse der Politik (oder eine eigene politische Einlassung) statt, sondern nur ein abstraktes Gegenüberstellen von Vernunft und Wirklichkeit (cf. Horkheimer 1928).73 Es bleibt bei idealen Forderungen, die wohl jeder unterschreiben könnte (Türcke 1979, 10). Der darin liegende Idealismus wird durch die verfehlte Selbstwahrnehmung als einer „befreienden Praxis“ gerade nicht erkannt und konsequent vertreten, sondern stets – meist stellvertretend an Hegel – mal aufgerufen, mal kritisiert.74 Die Tragik der Kritischen Theorie ist, dass sie auf diese Weise als Philosophie verewigt werden musste, aber nicht vollendet werden konnte. Sie blieb in dieser Konstellation auf philosophische Begründungen angewiesen, die sie zunächst nur ankündigen konnte (3.1). Statt einer metaphysischen Verankerung, wie sie Ernst Bloch und Paul Tillich versuchten, rückte sich Adorno mit seinen in verschiedenste Sachthemen unvermittelt eingestreuten utopischen Ausfällen nun in eine Nähe zur Theologie.75 Ein religiöser Standpunkt hat philosophisch den Vorteil, dass er weder referierbar noch begründbar sein muss – und in dieser abschlägigen Auskunft lässt sich der

Hand hat, sich erlassen zu können glaubt, in die ökonomischen Details einzugehen“ (MEW 4, 144). Forderungen nach einer „gerechten Verteilung“, einem „freien Staat“ und einer „gleichen Volkserziehung“ bleiben solange „Phrasen“, wie man die Bedingungen verschweigt, „die ihnen allein einen Sinn geben“ (MEW 19, 13 ff.). 72 Horkheimer 1937, 59/GS 4, 219. Siehe auch die Entsprechung bei Marcuse 1937. 73 Horkheimer geht von der Spannung „zwischen der im Individuum angelegten Zielbewusstheit [...] und der für die Gesellschaft grundlegenden Beziehungen des Arbeitsprozesses“ aus (1937, 30/GS 4, 183). Diese „Spannung zwischen dem endlichen Menschen und dem Ich als unendlicher Forderung“ (1931, 34/GS 3, 21) hat er richtig auf Fichte zurückgeführt; einzig Hegels Übertragung der Fichteschen „Selbstbesinnung“ von der „Introspektion“ auf den „objektiven Geist“ trägt die Annahme, dass damit zugleich etwas gehaltvolles über die Welt gesagt sei: „das philosophische Verständnis [...] ist jetzt zugleich [!] die Erkenntnis des Sinnes unseres eigenen Seins“ (1931, 34/GS 3, 22; zur Reduktion von Theorie auf Selbsterkenntnis vgl. 2.5.2). 74 „Die Differenz von Begriff und Realität begründet die Möglichkeit der umwälzenden Praxis“ (Horkheimer 1942, 26/GS 5, 309). Adorno fuhr Hegel gegen den Positivismus auf (1969a) und destruierte ihn zugleich (Adorno 1963b). 75 Die Zusammenarbeit mit Lazarsfeld am „Radio Research Project“ war wenig fruchtbar, da Adorno die gebotene empirische Forschung „diffus mit der Frage von Reform und Revolution“ vermischte (Wiggershaus 1988, 273; zu Lazarsfelds Brief 272). Adorno sprach sich zuletzt gegen die Ausstrahlung von Radiosinfonien aus (274) und beendete den Aufsatz „Popular music“ von 1941 mit der utopischen Ausflucht: „man needs that energy which might possibly achieve his tranformation into a man“ (276; 560, cf. MEW 1, 412; Dahms 1994, 232 ff.).

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systematische Ertrag der Negativen Dialektik zusammenfassen.76 Auch Horkheimer hat von diesem Spiel mit religiösen Chiffren Gebrauch gemacht.77 In der deutschsprachigen theologischen Marxrezeption der 1960er Jahre wurden unter dem Titel „Marxismus“ daher meist diese Restformen von Gesellschaftstheorie adaptiert. In den epochemachenden Werken von Moltmann (1964) und Metz (1968) wurde Marx selbst nur spärlich gelesen, und darum auch seine Gedanken nur in philosophisch verdünnter Form rezipiert.78 Unter diesen Vorzeichen hat der Hang der Kritischen Theorie zur Theologisierung eine adäquate weltliche Behandlung soziologischer und philosophischer Fragen eher behindert als befördert. Vom Marx’schen Oeuvre blieb nicht einmal das Primus, die Religionskritik. Eine verdeckte Religiosität hatte Adorno bereits bei seinen Vorbildern Kracauer (1922) und Bloch (1923) vorgefunden.79 Für seine Nähe zur Theologie hat Adorno jedoch zeitlebens auf Walter Benjamin verwiesen, der arbeitsteilig auch von Scholem (1975) vorrangig als religiöser Denker präsentiert wurde. Benjamin spielt in dem Komplex der theologisierenden Depotenzierung von Marx in der Tat eine Schlüsselrolle, allerdings anders, als die gängige Rezeption es will, die in ihm einen Vorläufer von Adorno und Metz sieht. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Benjamin ist einer der wenigen religiösen Denker, der Marxens Religionskritik und seine Wende zur Welt mitvollzieht. Bevor Benjamin allerdings eingeordnet werden kann, muss die Geschichte der fachtheologischen Marxrezeption wenigsten in Grundzügen nachgereicht werden. 76 „Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr“ (Adorno 1966, 394; cf. Fn. 52). 77 Bevor die totale Vernunftkritik in den Vordergrund trat, stellte Horkheimer, unter Einfluss Benjamins, in dessen Gedächtnisband der Aufsatz erschien, in einem Aufflackern der Hoffnung noch einmal die utopische Verabschiedung des Marxismus nach: „Die Lehre vom Geburtshelfertum [MEW 23, 16; CH] bringt die Revolution auf bloßen Fortschritt herunter“ (1942, 24/GS 5, 307). Damit dehnt Horkheimer Benjamins Kritik an Kautsky (siehe das Eingangszitat zu 2.1) auf Marx aus. Doch „Für den Revolutionär ist die Welt schon immer reif gewesen“ (23/305). Ökonomie wird als Dokument der Verfallenheit gedeutet (30/314), Marx’ Theorie mit Korsch historistisch auf den Ausdruck einer historischen Situation reduziert: „Sie formuliert das richtige Bewusstsein in einer bestimmten Phase des Kampfes“ (23/305). Die Menschen müssten in ihrem Willen nur den „Sprung“ (25/307 f.) vollziehen; dann werde alles „aus Übereinkunft“ (31, 22/315, 304) und „solidarisch“ (33/317) sein (cf. „Traum“, 21, 29/303, 312; „Sehnsucht“ und „Hoffnung auf den klassenlosen Zustand“, 28/312, „das andere“, 20/301; „eine bessere Möglichkeit“ 33/317; vgl. LutzBachmann 1988, 1997, Amos Schmidt 1993, Pangritz 1996, Liedke 1997). 78 Die meisten Werke gehen wie selbstverständlich von Benjamin und Adorno aus (siehe Koch 1973, Spülbeck 1977, Türcke 1979, Deuser 1980, Neuhaus 1985, Arens 1991, Brumlik 1994, Schulte 1994, Reikerstorfer 1998, Manemann 1999 und Langthaler 2000). Eine Ausnahme stellt Helmut Gollwitzer dar, der sich zudem dadurch auszeichnete, dass er über seine Marxrezeption nicht vom Glauben abfiel (vgl. die Kritik an Sölle 1965 bei Gollwitzer 1967). 79 Wiggershaus 1988, 84 ff. (zu Bloch und Kracauer); 101 ff. (zu Benjamin); im Unterschied zu diesen war Adorno weniger jüdisch (Fromm nannte er abfällig einen „Berufsjuden“) als vielmehr katholisch orientiert (88).

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2.6.4 Systematische Kernpunkte VII: Marx’ Religionskritik „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur.“ (MEW 1, 378)

Auch in der Theologie hat Karl Marx eine erstaunliche Karriere gemacht. Allerdings wurde seine eigentliche theoretische Botschaft, die Kritik und Analyse der modernen Gesellschaft jenseits und hinter der Religion, von der Theologie nur in marginalen Fällen rezipiert. Eher schon wurde er als ein sozialer Religionskritiker verstanden. Theoretisch begriff man ihn kirchlicherseits vorrangig als einen philosophischen Religionskritiker, den es zu widerlegen galt, wie in der Kirchengeschichte seit je weltliche Philosophen aufgegriffen und „widerlegt“ wurden. Eine radikale Religionskritik gab es schon weit vor Marx, ja es gibt sie fast ebenso lange, wie es Religion gibt.80 Die Auseinandersetzung der christlichen Religion mit der Religionskritik war also eröffnet, lange bevor Marx die geschichtliche Bühne betrat. Ähnliches gilt für das kirchliche Verhältnis zum Sozialismus. Im Unterschied zu den radikal atheistischen Religionskritiken, die schlicht um den Himmel mitsamt seines gesamten Inventars kürzen wollten oder ihn wenigstens für irrelevant erklärten, berührte sich der Sozialismus inhaltlich in vielem mit den Offenbarungsreligionen. Seine egalitäre Perspektive hatte eine Entsprechung in den die gesamte Religionsgeschichte über mitschwingenden egalitären Strömungen und Lesarten der jüdisch-christlichen Lehre selbst, auch wenn die Kirchen diese meist unterdrückten. Die biblische Forderung nach Gerechtigkeit im Handeln der Menschen untereinander sowie die Verheißung einer besseren Welt durch Gott waren tief genug im Gedächtnis der Menschen verankert, um sie im Sozialismus wiederzuerkennen. Dort waren sie für viele eher zu erkennen als in der sich „christlich“ nennenden Politik der Monarchien.81 Der Religion hallte es vom Sozialismus machtvoll entgegen: tua res agitur! Vielen Sozialisten war diese Nähe bewusst, und sie scheuten sie keineswegs.82 Erst Marx brach mit diesem Kokettieren. Er stellte eine Verbindung zwischen dem Sozialismus und der radikalen Religionskritik her.83 Wie kam es zu dieser Kehre? 80 Mit den Sophisten und Epikuräern, der Aufklärung und den französischen Materialisten hat es lange vor Marx eine totale Religionskritik gegeben (Ley 1966, MacIntyre 1969, Niewöhner 1999, Minois 2000). Der Begriff „Religion“ ist theologisch keineswegs selbstverständlich (vgl. Kraus 1982, Chr. Link in Gräb 1999, Ruster 2000). 81 Bei den Propheten und im Buch Hiob ist von menschlichem Handeln die Rede: als Gott am Ende durch Elia spricht, handelt er nicht selbst, sondern er fordert Hiobs Freunde auf, ihm zu helfen (so P. Stekeler-Weithofer in einer Leipziger Vorlesung im April 2001). Fragen, wo, wann und wie geartet das „Reich Gottes“ sein werde, sind sekundär gegenüber der steten Hoffnung darauf (cf. Bloch 1968, Farner 1969, siehe 1.Kor 13). Auch bezüglich der Rolle der Frau war das frühe Christentum noch recht egalitär, wie im Lukasevangelium sichtbar wird. 82 Frühsozialisten wie Cabet, Saint-Simon oder Weitling (1845) kämpften für ein „neues Christentum“ (Uertz 1981, 112, cf. Gerlich 1920, Ramm 1955, Höppner 1975, Opitz 1988, Euchner 1991). Noch in der Sozialdemokratie kämpfte man um die wahre „Nachfolge“, nun aber gegen die Religion (Dietzgen 1903, Lannert 1989, 98 ff.). 83 Siehe Marx’ Kritik der religiösen Sozialisten: „Nichts leichter, als dem christlichen

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Die stärksten Anstöße zur Religionskritik in Deutschland nach den Impulsen der Aufklärung waren die Werke der Junghegelianer – ein Umfeld, dem auch Marx entstammte.84 Der entscheidende Unterschied der Marx’schen Religionskritik zu der seiner Vorgänger war, dass jene, von Heraklit über Holbach bis zu Feuerbach, eine theoretische Antithese aufstellten und sonst nur noch „gutes Handeln“ forderten – was indessen auch schon die Religion getan hatte. Marx hingegen ließ die theoretische Antithetik hinter sich und ging das von beiden Seiten nur geforderte Handeln selbst an, in Theorie und Praxis. Er ist daher ein „Post-Atheist“.85 Die Leistung, die er damit theoretisch erbracht hat, lässt sich als eine Freistellung der Politik von der Religion bezeichnen. Es ist somit unerheblich, was Marx selbst geglaubt oder nicht geglaubt haben mag.86 Diese Leistung ist kurz zu erläutern, weil sie selten erfasst wurde. Der Abstoßungspunkt von Marx war die Philosophie Hegels.87 Diese gipfelte in Theologie.88 Nicht dass Hegel über „theologische“ Inhalte sprach ist damit gemeint, sondern dass er die Inhalte seiner Philosophie in eine seinen christlichen Hintergründen abgeschaute „christologische“ Form brachte. Die Selbstbewegung des Geistes, seine Selbstentäußerung und sein Zurückkommen zu sich selbst trugen nur zu offensichtlich das Mal des Tübinger Stiftlers, wie der Pfarrersohn Nietzsche bösartig bemerkte. Hegel machte daraus auch gar keinen Hehl, wie Asketismus einen sozialistischen Anstrich zu geben. Hat das Christentum nicht auch gegen das Privateigentum, gegen die Ehe, gegen den Staat geeifert? Hat es nicht die Wohltätigkeit und den Bettel, das Zölibat und die Fleischesertötung, das Zellenleben und die Kirche an ihrer Stelle gepredigt? Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der Pfaffe den Ärger des Aristokraten einsegnet“ (MEW 4, 484; MEW 3, 521 ff.). Es sei, „nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“ (MEW 1, 378 f.). 84 Vor allem Strauß (1835), Bauer (1841/42) und Feuerbach (1842), vgl. Löwith 1941, Post 1969, McLellan 1974. 85 Nach Walter Kern, in: Rolfes 1974, cf. A. Schmidt 1960, 28 ff. Für Marx war in Absetzung von Feuerbach der theoretische Atheismus schon 1844 passé: „Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit, hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewusstsein des Menschen und der Natur als des Wesens. Er ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewusstsein des Menschen“ (MEW 40, 546, cf. 537) – und daher auch wieder frei zu glauben. Die Religion ist aus einer Begründungspflicht für weltliche Verhältnisse befreit. Ohne dass dies vom Christentum abhängig wäre, gibt es doch eine Kongruenz mit der Botschaft Jesu (s.u.). Diese erklärt vielleicht die zeitweilige Nähe so vieler Christen zum Marxismus. 86 Die Godesberger Erklärung von Ollenhauer stellte die Motive der Parteiarbeit frei, da sekundär (Wehner 1985, 91). Im Erfurter Programm war Religion „Privatsache“. 87 Marx’ Theorie lässt sich insofern als „kritisch“ bezeichnen (Bolte 1995), als sie sich stets in der zähen und ausdauernden Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern entwickelte; erst mit Hegel, dann mit der politischen Ökonomie. 88 Hegel, Werke 12, 540, 559; Löwith 1949, 55 ff.; Iljin 1946, Theunissen 1970, Küng 1970, Weischedel 1971, 283 ff. (als Klassiker). Es ist auf fast jeder Seite deutlich.

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seine häufige – und an vielen Stellen sinnwidrige – Rede von „Vater“, „Sohn“ und „Geist“ zeigt.89 Marx wusste Stilmittel von Sachaussagen zu unterscheiden, daher störte ihn weniger dies, als eher die Voraussetzung, die Hegel machte (2.5.7): Hegel setzte den Menschen schon vorab als ein primär geistiges Wesen, und so war es keine Schwierigkeit mehr, den Geist auch wieder als Resultat zu erhalten.90 Verkürzt, aber im Sinne Hegels gesagt, ist in einer solchen Darstellung „alles eins“, insofern alle Inhalte in einer Form, in einer Sprache präsentiert werden. Dabei ist durch die Identitätssetzung von Denken und Sein unterstellt, dass der sprachlich-logische Übergang zugleich einen realen benennt. Im Zuge einer solchen umfassenden Darstellung lässt sich nun buchstäblich „alles“ darstellen. Es bedarf keiner empirischen Forschung, sondern nur entsprechend konsistenter „geistiger“, d.h. sprachlicher Darstellung. Im Notfalle genügen dafür Etymogeleien, wie man sie beim späten Heidegger findet. Marx meinte, dass Hegels Schüler diese Art, rein aus dem „Geist“ zu philosophieren und damit nahezu beliebiges beweisen zu können, von Hegel übernommen hätten. Was Marx primär als „Religion“ kritisiert, sind also weniger Aussagen von Hegel91 als vielmehr solche der Junghegelianer (MEW 3, 40). Der Unterschied war, dass Hegel auf diese Weise Aussagen traf, die Marx Respekt abverlangten (nicht wegen, sondern trotz seiner Methode), während dies bei den meisten seiner Schüler nicht der Fall war, mit Ausnahme vielleicht von Eduard Gans und Feuerbach. Diese haben Hegel in seinen Inhalten als einen Theologen erkannt und kritisiert – die inhaltliche Religionskritik der Junghegelianer erkannte Marx ja an.92 Doch dabei haben sie übersehen, dass seine eigentliche Theologie weniger in den Inhalten als vielmehr in den „Voraussetzungen“ steckt, die sie noch teilen.93 89 „Der Christ kennt nur eine Fleischwerdung des Logos, trotz der Logik; der Philosoph kommt mit der Fleischwerdung gar nicht zu Ende“ (MEW 4, 127; MEW 2, 60). Hegels Deutung der christlichen Religion nahm als „Transformation von Mythologie in anthropologische Konstitutionsanalyse“ die Entmythologisierung vorweg (Rentsch 2000, 244). Was als Deutung der Religion sinnvoll ist, berechtigt noch nicht dazu, alles als Religion zu deuten. Der Universalitätsanspruch bezieht sich zwar intern auf „alles“; aber das erübrigt andere Betrachtungsweisen gerade nicht. Auch die Physik etwa bezieht sich auf „alles“: es gibt physisch nichts, das sich nicht einer physikalischen Betrachtung unterziehen ließe (nichts „meta-physisches“). Die Einsicht der modernen Theologie, dass Physik und Theologie nebeneinander bestehen können, sofern man ihre unterschiedlichen Geltungsmodi auseinander hält (und nicht Darwin mir der Bibel „widerlegen“ will), findet sich in Hegels Einheitssprache nicht. 90 Die Voraussetzungen kehren in den Resultaten wieder, da Hegels Denken kaum empirische Falsifikationsinstanzen zulässt. 91 Er kritisierte Hegel in der Sache (so die Übergänge im Staatsrecht, der Phänomenologie des Geistes und der Logik, cf. 2.5.2, Fn. 72). 92 „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt“ (MEW 1, 378). Als „Resultate“ der Junghegelianer anerkennt Marx nur „religionsgeschichtliche Aufklärungen über das Christentum“ (MEW 3, 20). 93 „Die Herrschaft der Religion wurde vorausgesetzt“ (MEW 3, 19); mehr noch: „in Wahrheit bildet die Religion zur Philosophie keinen wahren Gegensatz“ (MEW 1, 294). Bauer 1941 etwa bekämpft Hegel mit Hegel, indem er unter der Maske des In-

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Als „theologisch“ bezeichnet Marx weniger die tatsächliche Theologie als einen philosophischen Beweismodus, der an diejenigen der Theologie erinnert.94 Der spekulativ-„theologische“ Beweis funktioniert nur, wenn man den Menschen vorab als primär geistiges Wesen versteht und eine Identität von Denken und Sein voraussetzt – schon das sind idealistische, spekulative, für Marx eben „theologische“ Vorannahmen. Marx behandelt also nicht die historische Religion selbst, sondern kritisiert es, dass etwas anderes als Religion auftritt.95 „Religionskritik“ bei Marx heißt demnach nicht primär Kritik der Religion, sondern Kritik des religiösen Auftretens höchst weltlicher Dinge. Dies ist ein Zug, den es auch im Judentum und Christentum gab – wenn daraus auch nicht geschlossen werden kann, dass Marx’ jüdisch motiviert oder vom Christentum abhängig sei.96 quisitors aufzeigt, dass Hegel eigentlich „Atheist und Antichrist“ sei. Er wendet sich mit Hegels Methode gegen einige seiner Inhalte. Damit bleibt er ihm verhaftet und ist noch „Theologe“ im Marx’schen Sinne. 94 MEW 2, 67, 115; MEW 3, 19, 81, 98; MEW 16, 105. Der Witz daran ist, dass es in der Theologie gerade keinen streng wissenschaftlichen Beweis gibt (sondern am ehesten einen Autoritätsbeweis aus der Schrift oder vom kirchlichen Oberhaupt). Zwar müht man sich seit Jahrhunderten um einen rationalen „Gottesbeweis“. Aber das missversteht den Status religiöser Rede: Glaubt man, bringt man also das sacrificium intellectus und setzt Gott voraus, dann beweist er sich selbst (und zwar eher praktisch als logisch). Doch das ist gegenüber jemandem, der diese Voraussetzung nicht schon teilt, von keinerlei Beweiskraft. Glaube kann nur vorgelebt, nicht deduziert werden. Das bedeutet nicht, dass Theologie keine Wissenschaft ist – sie ist wichtig, um ein Verständnis zentraler Texte und wichtiger Traditionen und so ein rationales Weltverhalten zu ermöglichen. Nur kann sie außerhalb ihrer Reichweite nichts „beweisen“. Der Glaube muss schon mitgebracht werden. Will man ihn verstehen, so muss man sich die Praxis ansehen, in der die jeweilige Rede von „Gott“ einen Zug darstellt. In diesem Sinne meinte Marx: „Hier heißt auch Kants Kritik nichts“ (MEW 40, 370). Eine bestimmte Vorstellung kann praktische Resultate haben, kann in einer Praxis eine große Rolle spielen, obwohl sie nur eine Vorstellung ist. Das Vorgestellte aber damit als „seiend“ beweisen zu wollen, wäre Unfug: „Die Beweise für das Dasein Gottes sind [...] nichts als hohle Tautologien – z.B. der ontologische Beweis hieße nichts als: ‚was ich mir wirklich (realiter) vorstelle, ist eine wirkliche Vorstellung für mich’“ (a.O.). Die Rede von „religiösen“ Gegenständen gilt nur innerhalb einer bestimmten Praxis: „Bringe Papiergeld in ein Land, wo man diesen Gebrauch des Papiers nicht kennt, und jeder wird lachen über deine subjektive Vorstellung. Komme mit deinen Göttern in ein Land, wo andere Götter gelten, und man wird dir beweisen, dass du an Einbildungen und Abstraktionen leidest“ (a.O.). Man muss sich die dahinterstehende Praxis genau ansehen, um zu verstehen, was gemeint ist. 1841 vergleicht Marx Gott mit dem Geld. Auch das Geld kann nur durch die reale Praxis erklärt werden (Geld ist ja „ein gesellschaftliches Verhältnis“, MEW 4, 107), nicht durch philosophische Grübeleien über den „Sinn“ der „Kategorie“ (2.3.5). Marx nimmt damit den post-Wittgensteinianischen Kulturalismus vorweg. 95 „Der historische Materialismus sagt über Gott, Welt, Seele, Ewigkeit, Sünde, Erlösung usw. überhaupt nichts. Der historische Materialismus ist keine Weltanschauung, sondern [...] Arbeitsmethode“ (Eckert 1927, 18). 96 Diesen Überstieg machen, begeistert von ihrer Entdeckung, Türcke 1983 und ISF 2000 (eine Gruppe von Theologen). Die Rede von Marx als „Propheten“ war indes meist polemisch (Schumpeter 1942, 5 ff.; Popper 1944 II, 242; Löwith 1949, 46;

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Das Erste, was der Marx’schen Religionskritik verfiel, waren Theorien – zuerst solche der Junghegelianer, später solche der Ökonomen.97 Dies kann als die erste Stufe der Kritik bezeichnet werden: die Kritik daran, dass Dinge wie der „Staat“ oder das „Geld“, die als religiös erscheinen, ohne es zu sein, auch theoretisch als religiös bezeichnet werden. Etwas anderes, zumindest wenn man mit Marx Sein und Denken auseinander hält, ist die zweite Stufe der Kritik, die Frage nämlich, warum diese Dinge überhaupt als religiös erscheinen können.98 Diese Frage ist allerdings keine Frage der Religionskritik mehr, da „religiös“ am Staat und am Geld nur der „Schein“, nicht das „Wesen“ ist.99 Es ist eine Frage der Wissenschaft der dahinterstehenden Strukturen. Nennt man auch diese Strukturen religiös, bliebe man gerade diesem Schein verhaftet, um dessen theoretische Aufklärung Marx bemüht war: „Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht“ (MEW 23, 649). „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik“ (MEW 1, 379).

Wenn Marx bestimmte Phänomene des Kapitalismus als trinitarische beschreibt, dann nicht, weil sie übernatürlich sind, sondern weil sie, solange man sie nicht richtig versteht, als solche erscheinen können und so zum „Fetisch“ werden, zum Gegenstand religionsgleicher Unterwürfigkeit.100 Beispielsweise „scheint“ es so, als ob sich Geld selbst vermehrte, es daher ein „automatisches Subjekt“ sei (MEW 23, 169). Für die Wahl dieser Sprache ist zu beachten, dass für Marx die Kritik der Religion „im wesentlichen beendigt“ war (MEW 1, 378), er sie also

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Klages 1972, 83; 2.4.2, Fn. 37). Der erste Säkularisator ist die jüdisch-christliche Religion selbst – die Propheten waren ja Religionskritiker (MEW 2, 137; cf. Fn. 80, 151). Ein anonymer Artikel von 1842 bezeichnet den „Feuer-bach“ daher doppelsinnig als das „Purgatorium der Gegenwart“ (nach Post 1969, 89). Marx kritisierte die Junghegelianer, indem er durch Überspitzung ihrer Thesen aufzeigte, dass diese eigentlich „theologische“ sind – in dem Sinne, dass sie von den Hegelschen Voraussetzungen ausgehen und nun beliebiges beweisen, bis hin zur These, die ganze Welt sei ein „Spuk“, ein „Gespenst“ (MEW 3, 115, 136 etc.; cf. Derrida 1995). Die Art und Weise, wie Marx und Engels sich hier der christlichen Redeweise bedienen, zeigt, dass sie mit ihr bis ins Detail vertraut waren (Buchbinder 1976). Die spätere Kritik am Fetischismus von Geld, Ware und Kapital (MEW 23, 85 ff.; MEW 25, 404 ff., 837; MEW 26.3, 447) ist eine Kritik an ökonomischen Theorien, die den alltäglichen „Schein“ zur ‚Theorie’ erheben. Der Schein hat allerdings eine reale Basis, und um diese geht es Marx. „Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode“ (MEW 23, 393; cf. 3, 6). Nach Feuerbach war ja das „Wesen“ des religiösen „Scheins“ der Mensch selbst. MEW 23, 169; MEW 25, 822; siehe ähnlich MEW 1, 213; MEW 2, 9; MEW 3, 107. Zum Begriff des Fetischs siehe R. Schröder in Fleischer 1994, 138 ff.

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auch an dieser Stelle nicht erneut ausführen wollte, sondern voraussetzt. Innerhalb der christlichen Lehrinhalte ist die Trinität eine der unfassbarsten Formeln – ein „Mysterium des Glaubens“.101 Etwas als trinitarisch darzustellen heißt demnach, die Absurdität auf die Spitze zu treiben, die sich ergibt, wenn man eine Erscheinung kurzum zum Wesen seiner selbst erklärt, wenn man also eine Teilbeobachtung vorschnell verallgemeinert. Dadurch soll den Lesern deutlich werden, dass dieses Verständnis verfehlt ist.102 So löst Marx den Schein der wunderbaren Geldvermehrung theoretisch auf, indem er zeigt, wie er in der Realität entsteht, und wo der Fehler der fetischisierenden Theorie liegt.103 Mehr ist zur Marx’schen Religionskritik kaum zu sagen. Sie lässt die Religion weitgehend wie sie ist, will jedoch den religiösen Schein nichtreligiöser Sachverhalte aufklären, in den Theorie wie in der Wirklichkeit.104 Damit steht Marx in der Tradition der Aufklärung (2.1.2, Fn. 23). Will man diesen Schein loswerden, genügt es nicht, ihn als solchen auszusprechen, sondern dafür müssen die dahinterstehenden Strukturen erkannt und verändert werden.105 Doch dafür gibt es triftigere Motive als ausgerechnet eine Kritik der Religion. 101 „Übrigens gehört das theoretische Bekenntnis des Glaubens an die göttliche Natur in dieser dreifachen Qualität zur bloßen klassischen Formel eines Kirchenglaubens, um ihn von andern aus historischen Quellen abgeleiteten Glaubensarten zu unterscheiden, mit welchem wenige Menschen einen deutlichen [...] Begriff zu verbinden imstande sind, und dessen Erörterung mehr den Lehrern in ihrem Verhältnis zueinander [...] zukommt ..., der bloße Buchstabenglaube aber, die wahre Religionsgesinnung eher verdirbt als bessert“ (Kant 1794, 196). 102 Auch wer an religiösen Redeweisen festhält, kann diese Redeweise eigentlich nur für Gott zulassen (und selbst hier nur in Annäherung), gerade nicht für etwas anderes. Hegel sah das anders: In einem Zirkel übertrug er diese Redeweise erst auf alle Phänomene, um daraus dann auf das Dasein Gottes rückzuschließen. Darin kann man auch eine Unfrömmigkeit sehen, die in der Tat viele Gläubige verstörte: Hegel hält einen „Beweis“ Gottes für nötig, und meint diesen im Denken erbringen zu können. So stellt er die Philosophie über die Religion – und über Gott. Gerade dieser Gedanke ermöglichte dann die junghegelianische Religionskritik, Gott als Produkt des Denkens zu ‚entlarven’. Hegel erwies der Religion einen Bärendienst. 103 Auf der realen Ebene gibt es das Phänomenen, dass Geldbesitzer noch mehr Geld bekommen (G-W-G’). Wird diese Beobachtung von Teilphänomenen, die andere Phänomene ausblendet (nämlich die Frage, was es mit diesem ‚W’ eigentlich auf sich hat, das diese Wunder vollbringt), als eine Eigenschaft von G behauptet, die es „an sich“ hat (jenseits des Verhältnisses, in das es als G-W-G’ eingegangen ist), so wird das Geld theoretisch zum Fetisch gemacht, wie bei den Merkantilisten (MEW 23, 170; cf. Rakowitz 2001; 2.3.5, Fn. 160). 104 Ausführlicher Reding 1957, Bockmühl 1961, Gollwitzer 1962, Rich 1962, Post 1969, Bosse 1970, Kadenbach 1970, Oudenrijn 1972, Kröner 1977, Frostin 1978, Brechtkern 1979, Hirsch 1980, Monz 1995, Gross 2000, 215 ff. 105 „Indem man aber die gesellschaftlichen Charaktere, welche Sachen, oder die sachlichen Charaktere, welche gesellschaftliche Bestimmungen der Arbeit auf Grundlage einer bestimmten Produktionsweise erhalten, für bloße Zeichen [erklärt], erklärt man sie zugleich für [ein] willkürliches Reflexionsprodukt der Menschen. Es war dies beliebte Aufklärungsmanier des 18. Jahrhunderts, um den rätselhaften Gestalten menschlicher Verhältnisse, deren Entstehungsprozess man noch nicht entziffern

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Die Religion um ihrer selbst willen war Marx recht einerlei. Gerade weil er sich so entschieden hatte, hielt er die Religionsfreiheit für eine wertvolle politische Freiheit; darin bestand die zentrale Kritik an Bruno Bauer.106 Er nahm an, dass die Menschen weniger religiös sein würden, wenn sie eines Tages nicht nur politisch, sondern auch „menschlich emanzipiert“ (MEW 1, 352) wären.107 Aber diese Freiheit von Religion war weder sein Motiv, noch hängt von der Triftigkeit dieser Annahme theoretisch etwas ab. Richtig an dieser Annahme scheint immerhin, dass die Religion in den emanzipierteren und reichen westlichen Gesellschaften zwar nicht verschwunden ist, sich aber grundlegend verändert hat. Sie hat an politischer Bedeutung verloren, insofern sie – wie zu Marx’ Zeiten nur in den USA, dem „Land der vollendeten politischen Emanzipation“ (MEW 1, 352) – Privatsache geworden ist. Nur noch fanatische Sekten widersetzen sich der sachlichen Ausdifferenzierung der Sprachspiele, indem sie Darwin boykottieren oder Kreuzzüge befürworten. In ärmeren Teilen der Welt erfreuen sich die Religionen jedoch großer Beliebtheit (siehe Bielefeldt 1998). Es ist nun noch ein möglicher Zweifel auszuräumen: Ließ Marx tatsächlich die wirkliche Religion wie sie ist, kritisierte er nur die Verfallsformen? Oder war er nicht doch ein Atheist, wie ihm viele Kritiker vorwarfen? Einen Anhaltspunkt für diesen Atheismusvorwurf lieferte Marx’ funktionale Betrachtung der Religion. Er stellte methodenkritisch fest, dass die Geschichtsschreibung sich bislang auf die Chronologie und Glorifizierung von politischen Herrschern („die Gedanken der herrschenden Klasse“, MEW 3, 46) oder, wie in Deutschland, von philosophischen Ideen beschränkt hat (41), und dabei übersah, dass beide erst dann wirklich verstanden sind, wenn man sie in ihrem Zusammenhang begreift. konnte, wenigstens vorläufig den Schein der Fremdheit abzustreifen“ (MEW 23, 105 f.). Marx fordert von der Aufklärung die zweite Stufe ein (die Holbach anthropologisch gab). „Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen“ (MEW 23, 94) – oder: „es kömmt drauf an, sie zu verändern“ (MEW 3, 7). „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche“ (MEW 1, 379). 106 „Das Privilegium des Glaubens ist ein allgemeines Menschenrecht!“ (MEW 1, 363). Marx jüdische Abstammung könnte die Einsicht verstärkt haben, „dass der Mensch [...] durch ein notwendiges Medium sich befreit, indem er sich politisch befreit“ (MEW 1, 353). „Die Zersetzung des Menschen [...] in den religiösen Menschen und in den Staatsbürger [...] ist keine Umgehung der politischen Emanzipation, sie ist die politische Emanzipation selbst“ (357). 107 „Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit. (...) Wir behaupten nicht [wie Bauer von den Juden, CH], dass sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben müssen, um ihre weltlichen Schranken aufzuheben. Wir behaupten, dass sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben, sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben. Wir verwandeln nicht die weltlichen Fragen in theologische. Wir verwandeln die theologischen Fragen in weltliche“ (MEW 1, 352; man vgl. Bonhoeffer, s.u., Fn. 207).

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Wie die Eigenart von Herrschergestalten erst verstanden ist, wenn man weiß, warum sie überhaupt herrschten und warum gerade sie herrschten, über wen und vor allem wie (MEW 8, 560), so die von Ideen nur dann, wenn man weiß, was mit ihnen begriffen wurde, von wem und für wen dieses Wissen gedacht war. Die Fragestellung muss mit den „wirklichen Voraussetzungen“ (MEW 3, 20, 28) anfangen, nicht mit den Interpretationen, die die Menschen von sich, diesen Verhältnissen und der Welt hatten, oder die die in der „Arbeitsteilung“ zum Zwecke der Bildung und Pflege solcher Interpretation freigestellten Menschen anstellten (31, 37 ff.; Heym 1970).108 Diese funktionale Betrachtung ergab bei Marx etwa folgende Sicht: In frühen Religionen wurde „zunächst“ (MEW 3, 26) die noch übersichtliche Totalität des gesellschaftlichen Lebens ideell wiedergegeben.109 Dies verselbständigt sich im Laufe der Entwicklung zunehmend, so weit, dass die Religion zur restlichen Gesellschaft sogar „in Widerspruch“ treten konnte (MEW 3, 31 f.).110 Die spätere Religionssoziologie bestätigte dies.111 108 „Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens [...] erklären“ (MEW 13, 9; cf. MEW 3, 39). „Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess“ (MEW 3, 26). Dies ist nicht die „Teilnehmerperspektive“, die Habermas gegen funktionalistische ‚Reduktionen’ stark machen will, wie er sie bei Luhmann und Marx vermutet. Habermas wie Marx beziehen sich auf Vicos Satz „verum et factum convertuntur“ (MEW 23, 393), allerdings wendet Habermas ihn nur auf Ideen („Normen“, 3.1.5) an. Reduziert man ihn darauf, wird man wieder „die Illusion dieser Epoche teilen müssen“ (MEW 3, 39, cf. 47), gerade wenn es die eigene ist. Marx nimmt das ‚factum’ ernster: „Selbst die Gegenstände der einfachsten ‚sinnlichen Gewissheit’ sind [...] nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben. Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in unsre Zone verpflanzt worden und wurde deshalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der ‚sinnlichen Gewissheit’ [...] gegeben“ (43). Vico wollte übrigens „Gesetze der Geschichte“ erkennen (1744; Fenske 1997, 332), er ist somit weit spekulativer als Marx. 109 MEW 3, 26. „Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form“ (MEW 1, 378). Marx wusste, wovon er sprach: er kannte die Bibel und Luther bestens, und beschäftigte sich im Rahmen seiner Tätigkeit als Journalist auch mit anderen Religionen (Marx 1976). 110 Marx versieht diese Stelle mit dem Zusatz: „Religion“. Der „Widerspruch“ ist kein rein ‚geistig-moralischer’ (obwohl ein solcher prinzipiell möglich ist, 39), er wird erst triftig, wenn er in realen Konflikten gründet, wenn also die gegen die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ aufbegehrenden Gruppen über soziale, letztlich wohl meist ökonomisch fundierte Macht verfügen (31 f.). Engels zeigt etwa für die Bauernkriege als Hintergrund der Reformation solche Hintergründe auf (MEW 7, 329 ff.). Noch nicht einmal die Bibel lässt sich ohne solche Hintergründe (etwa die periodische Versklavung des Volkes Israel) verstehen. 111 Man hat versucht, neben instrumentellen Funktionen irreduzible“ andere aufzuweisen: Gehlen die „symbolische“ oder Durkheim die der „Solidarität“. Doch wäre es verfehlt, Marx derart reduktionistisch zu lesen, dass man ihn damit ergänzen müss-

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Wird eine soziologische Funktionalisierung nun als Versuch der Widerlegung von Religion gedeutet, scheinen dahinter oft politische Gelüste durch, die eigene Religion vor der historischen Kritik abzuschirmen. Nicht umsonst entwickelt Marx seine schärfsten religionskritischen Gedanken in seiner Auseinandersetzung mit der preußischen Zensur (MEW 1, 10 ff., 86 ff.). Diese versuchte gewaltsam, ein rationales Hinterfragen zu ersticken – es war aber kein Hinterfragen der Religion, sondern der religiösen Ummantelungen repressiver Politik.112 In der Theologie hat sich hier inzwischen viel verändert, auch durch die Rezeption des Marxismus. Es ist heute wohl unumstritten, dass die Religion eine solche historische Reflexion aushalten können muss. Dazu gehört die historisch-kritische Bibelexegese, die sich damals erst herausbildete – gerade bei den Junghegelianern; die Anerkenntnis der zu weiten Teilen unrühmlichen Kirchengeschichte und eben auch die sozialanthropologische Frage nach Funktionen, die Religion seit frühester Menschheit ausübte und zweifellos noch immer ausübt.113 Es wäre zumal merkwürdig, wenn eine Historisierung einer Religion gefährlich werden sollte, die sich selbst „historisch“ versteht. Der Vorwurf, die funktionale Betrachtung habe die Religion zerstören wollen, mag die Praxis sozialistischer Staaten getroffen haben. An der Binnenlogik der Marx’schen Theorie geht es aber aus mehreren Gründen vorbei. Da Marx die Religion für ein Symptom hielt, hatte er gar kein Interesse, sie abzuschaffen. Er vermutete vielmehr, dass sie unter den gegebenen Bedingungen sofort wieder emporsprösse, würde sie gewaltsam abgeschafft – ähnlich wie das Geld. Ihre theoretische „Aufhebung“, die die religionskritischen Fragmente vornehmen, ist gerade keine „Vernichtung“ te (er spricht bei der Ideologie von der „Darstellung“ eines partikularen Interesses als eines Allgemeinen, MEW 3, 34). Vielmehr sind auch diese Funktionen nur zu verstehen, wenn zunächst gefragt wird, wie die betrachtete Gesellschaft sich überhaupt reproduziert. Die hermetische Solidarität in frühen Formen von Gesellschaft war für das Überleben notwendig. Mag die Solidarität „symbolisch generiert“ sein, das ändert nichts daran, dass sie eine ökonomische Funktion ausübt (man denke an den Zusammenhalt einer Gruppe von Menschen auf der Mammutjagd oder, mit Gehlen, an die „Zähmung des Urrindes“). Die Gesellschaftlichkeit kommt nicht zur Funktionalität hinzu, sondern die Reproduktion ist immer schon vergesellschaftet. 112 „Das Christentum schließt die Möglichkeit ‚jedes neuen Verfalls’ aus, aber die Polizei muss wachen, dass die philosophierenden Zeitungsschreiber es nicht zum Verfall bringen. [...] Das Christentum ist seines Sieges gewiss, aber es ist [...] seines Sieges nicht so gewiss, um die Hülfe der Polizei zu verschmähen“ (MEW 1, 93). 113 Was Marx hier sagte, ist selbstverständlich geworden. Fanatische Formen von Religion, wie sie in der nichtwestlichen Welt auftreten, lassen sich aus der Marx’schen Perspektive recht gut erfassen: Alte Eliten bangen um ihre Pfründe, die wohl kaum das „Purgatorium des Feuer-bachs“ überstehen dürften (Fn. 96); potentielle Gegeneliten kleiden ihre Ansprüche in religiöse Form. Zugleich ist Religion „Ausdruck des wirklichen Elendes“, das in solchen Ländern oft herrscht. Die „Protestation gegen das wirkliche Elend“ (MEW 1, 378; cf. Bosse 1970) kann gezwungen sein, sich religiös zu äußern, weil der politische Weg demokratischer oder sozialistischer Modernisierung so oft und so sichtbar gescheitert ist (vgl. Riesebrodt in Bielefeldt 1998, 67 ff.) – woran, wäre eine zweite Frage.

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wie die Hegelsche (Coletti 1977, 42); denn Dinge, die nur theoretisch aufgehoben werden, „bleiben bestehen“ (MEW 40, 582; cf. MEW 1, 207). So hebt Marx etwa auch die Naturwissenschaft historisch auf;114 doch ist er weit entfernt davon, ihr damit die „Gültigkeit“ bestreiten zu wollen. Der Vorwurf, Marx habe die Religion zerstören wollen, geht von jener Identitätssetzung von Denken und Sein aus, die Marx als fälschliche Theologisierung kritisiert hat (2.5.7). Es gibt einen zweiten Anhaltspunkt für den Verdacht, Marx’ Religionskritik würde die Religionen selbst angreifen. In den nicht zur Veröffentlichung bestimmten Notizen von 1844 gibt es eine Stelle, die die „Schöpfung“ zu bezweifeln scheint (MEW 40, 545 f.). Greift Marx hier nicht doch die Religion selbst an?115 Die Antwort ist: Nein. Wie eine spätere Stelle zeigt, war Marx klar, dass Menschen nicht Neues „schöpfen“, sondern nur Bestehendes verändern können. Es geht nicht um eine Übertragung göttlicher Attribute auf den Menschen.116 Vielmehr nennt Marx hier zwei Punkte, die auch für die Theologie relevant sind. Im ersten Argument bemerkt Marx, dass die Rede von der Schöpfung wenig Sinn macht, wenn man sie als einen physischen Akt versteht: einerseits, weil sie so in Konkurrenz zur Physik kommt – und in dieser unterliegt;117 andererseits, weil in diesem physikalischen Status der Rede von Gott „Gott“ nicht mehr Gott wäre.118 Dieses kosmologische Gottesverständnis wird seit langem kritisiert, auch von Theologen; der Streit um den „Gott der Philosophen“ ist Jahrtausende alt (1. Kor 1, 18 ff., Kol 2, 8; Apg 17, 16). Ist der griechische Gott, den man theoretisch ertüfteln und folglich auch widerlegen kann, derselbe wie der jüdische, der sich als Liebender und Handelnder nur selbst offenbart?119 Die Kritik des physikalischen Gottesverständnisses ist nicht notwendigerweise ein Angriff auf ‚die’ Religion. 114 Etwa: „wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft?“ (MEW 3, 44). 115 So die katholische Apologetik bei Voegelin 1959, 33 ff., Ehlen 1982, Senge 1985, Hofmann 1987. Weltanschaulich „entscheidend und mit dem christlichen Schöpfungsglauben [...] unvereinbar ist Marxens Lehre, durch die [...] ‚gesellschaftliche Arbeit’ sei der Mensch Schöpfer seiner selbst“ (Nell-Breuning 1985, 262). 116 „Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ändern. Fn.: ‚Alle Erscheinungen des Weltalls, seien sie hervorgerufen von der Hand des Menschen oder durch die allgemeinen Gesetze der Physik, sind nicht tatsächliche Neuschöpfungen, sondern lediglich eine Umformung des Stoffes’“ (MEW 23, 57; das Zitat stammt von Pietro Veri aus dem Jahre 1771; cf. MEW 3, 37). Der alte Vorwurf einer Vergöttlichung des Menschen wurde erneut von Kuenzlen 1997, 109 ff. gegen Marx erhoben; vgl. dagegen u.a. Reding 1957, Horský 1972, Buchbinder 1976, Kröner 1977. 117 „Die Erdschöpfung hat einen gewaltigen Stoß erhalten durch die Geognosie, d.h. durch die Wissenschaft, welche die Erdbildung, das Werden der Erde, als einen Prozess, als Selbsterzeugung darstellte. Die generatio aequivoca ist die einzige praktische Widerlegung der Schöpfungstheorie“ (MEW 40, 545). 118 „Man nehme z.B. an, dass Gott, insofern er als Objekt bestimmt ist, Realgrund unseres Wissens sei, so fällt er ja, insofern er Objekt ist, selbst in die Sphäre unseres Wissens, kann also für uns nicht der letzte Punkt sein, an dem diese ganze Sphäre hängt“ (MEW 40, 368; vgl. Schelling, Ausgewählte Werke 1, 55). 119 Diese Trennung vollzog auch Moses Hess 1862 (cf. Gollwitzer 1957). Zur Entmy-

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Der zweite Schwerpunkt in jener frühen Notiz ist die soziale Form, in der Marx die Religion antrifft: in ihr wird die Knechtschaft, die weltlich bedingt ist, ideell und spirituell verewigt.120 Das Modell von Herrscher und Untertan wird auf das zwischen Gott und seine Geschöpfe übertragen.121 Die Kritik meint weniger Gott als vielmehr die Kirche und andere Herrscher „von Gottes Gnaden“. Über die weltliche Rolle, die das Christentum spielen sollte, gibt es ebenfalls einen uralten, noch anhaltenden Streit. Soll die Religion sich zur Stützung weltlicher Mächte hergeben, oder wäre sie nicht vielmehr gehalten, den egalitären Forderungen ihrer Verkündigung nachzugehen? Auch diese Frage muss nicht entschieden werden, um zu sehen, dass Marx mit der Kritik am knechtischen Christentum nicht notwendigerweise ‚die’ Religion per se angreift. Marx greift ihre Instrumentalisierung für politische Unterdrückung an – das ist etwas anderes.122 Wer in diesen beiden Punkten eine fundamentale Religionskritik sehen will, legt einen Alleinvertretungsanspruch und ein kosmologisches Gottesverständnis thologisierung, die auch eine Entkosmologisierung ist, siehe nach Kant Bultmann 1942, cf. Rentsch 2000, 180 ff. Marx bezieht sich auf Tertullian und den „tüchtigsten und konsequentesten Teil protestantischer Theologen“ (MEW 1, 92). 120 „Ein Mensch, der von der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines andern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat ..., mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine eigne Schöpfung ist. Die Schöpfung ist daher eine sehr schwer aus dem Volksbewusstsein zu verdrängende Vorstellung. Das Durchsichselbstsein der Natur und des Menschen ist ihm unbegreiflich, weil es allen Handgreiflichkeiten des praktischen Lebens widerspricht“ (MEW 40, 544 f.). 121 Zwar gibt es Stellen, die vom „Knecht Gottes“ sprechen (5. Mos 32, 36; Ps 34, 23), aber selbst in ihnen steckt ein progressives Moment, weil der Gehorsam gegenüber Gott gerade vom Gehorsam gegenüber den Menschen freistellt (Apg 5, 29, 1. Kor 7, 23). An anderen Stellen ist statt „Knechtschaft“ die Rede von der Beziehung zu einem gütigen Vater (Mat 23, 9) sowie von der Liebe zu Gott und unter den Menschen (Mat 5, 44; Röm 13, 8). Dies verträgt sich mit irdisch-knechtischen Beziehungen nur schlecht (Sölle 1968a, Türcke 1979, 112 ff.). 122 „Der Feind Gottes [...] ist nicht der Atheismus; es sind die Götzen“ (Ernesto Cardenal, in: Thomas 1993, 236). „Die religiösen Tagesfragen haben heutzutage eine gesellschaftliche Bedeutung. [...] Nur noch der Theologe kann glauben, dass es sich um Religion als Religion handle“ (MEW 3, 232). „Der sogenannte christliche Staat verhält sich dagegen politisch zur Religion und religiös zur Politik. Wenn er die Staatsformen zum Schein herabsetzt, so setzt er ebensosehr die Religion zum Schein herab“ (MEW 1, 358). „Der sogenannte christliche Staat ist der unvollkommene Staat, und die christliche Religion gilt ihm als Ergänzung und als Heiligung seiner Unvollkommenheit. Die Religion wird ihm daher notwendig zum Mittel [!], und er ist der Staat der Heuchelei“ (a.O.). „Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariers, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen“ (MEW 4, 200) – oder selbst den NS (Scholder 1977). Dieser Kritik ist nicht durch Argumente, ihr wäre nur durch politische Positionierungen zu entgehen (Gollwitzer 1962). Differenzen zwischen Europa und den USA betreffen auch diesen Punkt.

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an den Tag, und begreift Religion zudem nach dem Modell von Herrschaft. Marx „zerstört“ nicht „die“ Religion, doch er hat doch einige theologisch ernst zu nehmende Kritikpunkte formuliert. Wie gehen die Religionen mit dieser Kritik um? Kann sie nicht durchaus in ihrem Sinne sein? Erregt ihr Bekämpfen nicht den Verdacht, dass tatsächlich Weltliches vergottet wird? Dies muss die Religion mit sich selbst abmachen. Betrachten wir nun, auf welche Weisen das geschah.

2.6.5 Religionskritik als Politikum „Hat nicht vor allem das Christentum Staat und Kirche gesondert? Leset den heiligen Augustinus ‚De civitate Dei’, studiert die Kirchenväter und den Geist des Christentums, und dann kommt wieder und sagt uns, ob der Staat oder die Kirche der ‚christliche Staat’ ist!“ (MEW 1, 101)

Zu Auseinandersetzungen des Marxismus mit der Religion hätte es nicht notwendigerweise kommen müssen,123 es war kontingent. Mit seinem „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385), vertrat Marx eine Politik, die damaligen Machthabern nicht gelegen war. Und zu ihnen gehörte auch die Kirche. Sie war damit in Widerspruch zu ihrer eigenen Herkunft und Lehre geraten.124 Obwohl mit dem Naturrecht, der neuzeitlichen Staatstheorie, der Aufklärung und den politischen Reformen und Revolutionen die Religion immer mehr aus der Politik zurückgedrängt worden war, hatte sie sich in Gegenrevolutionen einiges Terrain sichern können. Mit dem „Gottesgnadentum“ der Krone und der „Heiligen Allianz“ unter Metternich stemmten sich die Monarchien europaweit im Namen Gottes gegen politische Emanzipationen. Dies war der Hintergrund für das Abrücken so Vieler von der Kirche und das positive Aufgreifen des Marxismus seitens christlicher Kirchenkritiker: die kirchliche Parteinahme für die Herrschenden, selbst noch die repressivsten.125 Marx griff die christliche Religion nicht im religiösen Sinne an wie noch Wilhelm Weitling und später Eugen Dühring, sondern, da sie sich zur Legitimationsideologie des „christlichen Staates“ Preußen hatte hergeben lassen, gezielt im politischen Sinne. Zwar waren Teile der Christen aufgrund der unübersehbaren Benachteiligung der Arbeiterschaft gegenüber den Forderungen nach sozialen Verbesserungen aufgeschlossen.126 Doch die politische Theologie des protestantischen Staatskirchentums und des katholischen Ultramontanismus konnte gegen123 Marx hat die Trierer jüdische Gemeinde juristisch unterstützt (MEW 27, 416; Hirsch 1980, Monz 1995, 146, 153). 124 „Handelt der größte Teil euerer Prozesse und der größte Teil der Zivilgesetze nicht vom Besitz? Aber es ist euch gesagt, dass eure Schätze nicht von dieser Welt sind“ (MEW 1, 101; siehe beispielsweise Mat 6, 19; Mat 19, 24; Mat 22, 21; Luk 6, 20; Joh 18, 36; Röm 14, 17; vgl. Troeltsch 1912, Farner 1969). 125 Siehe dazu u.a. Luxemburg 1905, Dirks 1947, Fuchs 1952, Gollwitzer 1962, Lochmann 1974, Reisinger 1985. 126 Die Sozialenzyklika de rerum novarum (1891, BKAB 1991; Baader 1865) zeigt es.

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über einer auf Selbstbestimmung setzenden Bewegung nicht offen sein.127 Die christliche Reaktion auf die Sozialdemokratie bestand konsequenterweise darin, Teile der Forderungen in eine „christlich-soziale“ Formulierung zu überführen, der Bewegung aber gerade damit politisch die Spitze zu brechen. Vorrangig galt es, die verirrten Schäflein wieder in das bewährte Bündnis von Thron und Altar zu überführen.128 Diese Reaktion der Kirchen zeigt, dass sie den Sozialismus ganz richtig begriffen: er wurde als politische Gefahr empfunden. Selbst das kirchliche soziale Engagement war von einer abstrakten Negation des Sozialismus getragen, die keineswegs theologisch, sondern höchst politisch motiviert war – durch eine für selbstverständlich erachtete Parteinahme für Kaiser und bestehende Obrigkeit, die als „gottgewollt“ angesehen und ausgegeben wurde. Die Innere Mission Johann Hinrich Wicherns, die gern als Beleg zur sozialen Einsicht der Kirche angeführt wird, nannte sich 1875 offen „Verein zur Bekämpfung der Sozialdemokratie“.129 Die christliche Auseinandersetzung mit dem Sozialismus hatte also weniger theologische als vielmehr politische Motive – und diese waren durchaus nicht demokratisch, sondern eher nationalistisch, monarchistisch und feudalistisch.130 Marx hat das frühzeitig gesehen, und überführte darum seine Religionskritik in eine Analyse der Politik. Die Gretchenfrage des Christentums gegenüber dem Sozialismus war mitnichten die nach einer „sozialen Gerechtigkeit“ (die einzufordern ein leichtes ist) oder nach deren immanenter oder transzendenter „Begründung“, sondern wer diese einzuführen berufen sein würde: die Kirche, nicht zuletzt, um dabei ihre angegriffene Hegemonie zu stützen; der patrimoniale Staat, wie es dann von Bismarck bis zu Helmut Schmidt geschah; oder am Ende die Arbeiter selbst, wie es Marx forderte (2.2.2). Dies setzte allerdings politische Veränderungen voraus, und darin endlich bestand der Stein des Anstoßes. Die Kirche verweigerte sich politischen Reformen. Das Bündnis von Thron und Altar war im 19. Jahrhundert derart eng geschmiedet, dass beide kaum zu unterscheiden waren.131 Diese Kirche erschien der Sozialdemokratie nicht als geeigneter Gesprächspartner. 127 Invektiven des Vatikans richten sich vor allem gegen Bestrebungen der praktischen Selbstverwaltung, welche die kirchliche Hierarchie untergraben, etwa beim Laienabendmahl. An der Befreiungstheologie bekämpfte er nicht die Nähe zum Sozialismus, sondern die Antastung der Kirchenhierarchie. Steht hinter der Polemik gegen die neuzeitliche „Selbstermächtigung“ (Schmitt 1970) nicht das Wunschbild einer kleriko-politischen Bevormundung? 128 Cf. Lindt 1957, 211 ff.; Sorg 1974, Goeggelmann 1987; siehe noch Kral 1920, Brunstäd 1926; speziell zum Katholizismus cf. Höffner 1949, Dülmen 1989, 174 ff. 129 Beuys 1982, 481; Fuchs 1955, 17 ff., Eckart 1910; siehe auch F. Bodelschwingh. 130 Heutiger christlicher Antimarxismus (Rohrmoser 2000) kann eine Kontinuität entweder nur erschleichen, oder er gefährdet das Bekenntnis zur Demokratie. Die damalige Polemik war von Grund auf gegendemokratisch. 131 Geistliche „galten als verlängerter Arm der Obrigkeit und waren als ‚Schwarze Polizei’ gefürchtet“ (Beuys 1982, 481; cf. Stahl 1853). Als es 1914 und 1933 zur Entscheidung kam, wählte die Kirche, mit wenigen Ausnahmen, konsequent und überkonfessionell den Thron. Eine „Deutschkirche“ war das Ergebnis (Scholder 1977).

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Zudem gab es wenig Anlass, die politischen Differenzen ausgerechnet auf religiösem Feld auszutragen. Dies erfuhren Pfarrer wie Adolf Stoecker oder Paul Goehre, die sich in Arbeiterversammlungen wagten, um für neue Parteien zu werben, am eigenen Leibe. Wichern, Stoecker, Goehre und Naumann warben im Namen des Christentums für Parteien, die Sozialreformen versprachen, aber monarchistisch und zum Teil imperialistisch orientiert waren (2.1.2, Fn. 45). Die Sozialdemokratie durchschaute die dahinterstehende politische Attacke. August Bebel verallgemeinerte: „Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser. Der sogenannte gute Kern im Christentum [...] ist nicht christlich, sondern allgemein menschlich“ (Bebel 1874, nach Beuys 1982, 482; auch Gollwitzer 1977, 40).132 In der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und später speziell dem Marxismus waren offizielle Vertreter von Theologie und Kirche von Anbeginn bemüht, eine Außengrenze zu etablieren, nach dem bewährten Schema von „Freund und Feind“.133 Doch aus solchen Bemühungen wurde oft eine unwillkürliche Infragestellung der eigenen Position, und die Grenze verwandelte sich zu einer Innengrenze: der Sozialismus fand sich im eigenen Lager wieder (wie es auch säkulare Antisozialisten gab und gibt), sowohl in geschichtlichen Vorläufern wie etwa den Franziskanern als auch in äußerst gegenwärtigen Arbeiterpriestern.134 Die Kritik an der Sinnentleerung des Kultus und an der Vernachlässigung der sozialen Pflichten traf die Religion am Lebensnerv. Ihr musste daher aus substantiellem Eigeninteresse an einer Auseinandersetzung mit dieser Religionskritik gelegen sein – ob nun im Interesse der Abwehr, da eine Gefährdung der Standesprivilegien drohte, oder der Selbstbelebung, falls die geistige und geistliche Ödnis selbst empfunden wurde. Und so führen Theologie und Kirche über die Jahrzehnte hin einen konstanten „Dialog“ mit dem Sozialismus, der vom Kampf mit härtesten Bandagen bis zu freundschaftlichen Begegnungen – dies allerdings nur um 1968 – über die verschiedensten Stationen führte (und wohl nur erloschen ist, weil der Partner verschwand).135 Es lassen sich nun Grundlinien der dabei führenden Positionierungen zu Marx unterscheiden.

132 Die Religion „wird nicht ‚abgeschafft’“, sie „verschwindet“ (Bebel 1879, 485; Kautsky 1903). Der von Bebel angegriffene katholische Prediger Wilhelm Hohoff (1908) variierte Bebel dahingehend, dass Christentum und Kapitalismus sich ausschlössen wie Feuer und Wasser. 133 Dieses Schema (Schmitt 1932) ist vorbereitet in E.M. Arndts „Volkhass“ (1813). 134 Eine Art „Re-Entry“ (Luhmann) der System-Umwelt-Differenz im System. 135 Cf. Heimann 1955, Fuchs 1956, Garaudy 1966, Kellner 1966, Girardi 1968, McIntyre 1968, Duchrow 1969, Nell-Breuning 1969, Stockmaier 1970, Rolfes 1974, Soelle 1974, Kern 1976, Bienert 1979, Reisinger 1983.

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2.6.6 Vier theologische Positionen zu Marx Ablehnung wegen „Atheismus“ „Marxismus ist nicht Atheismus.“ (Max Adler 1913) „Heute gibt es nur noch eine Position, die gegen den Marxismus antreten könnte, und das ist das Christentum.“ (Lay 1975, 419)

Den kirchenkritischen Theologen fiel auf, dass die Bindung des Kulturprotestantismus und seiner Theologie an den deutschen Staat der Religion alles andere als gut tat. Der Basler Kirchengeschichtler Franz Overbeck sprach 1873 der Theologie die Christlichkeit rundweg ab.136 Doch die Amtskirche war von dieser Sicht weit entfernt. Eine breite Front der Ablehnung definierte sich über den Marx zum Vorwurf gemachten Atheismus. Wir sahen bereits, dass dies kaum berechtigt war. Marx ging von den vorgefundenen realen Verhältnissen aus. Diese mussten zwar in eine theoretische Ordnung gebracht werden, aber diese Ordnung hatte dem Material zu folgen und nicht umgekehrt. Nirgends ging er von theoretischen „Grundätzen“ aus; das Ableiten aus obersten Prinzipien war ein ihm wie allen empirischen Wissenschaften fremder Theorietyp. Doch für eine dem Mittelalter entnommene Ordophilosophie,137 die selbst nun einmal von obersten Grundsätzen ausging und von ihnen ableitend in Richtung bloßer Materie immer weiter in Richtung Nichts herunterschritt, erschien eine Theorie, die nicht vom Sein Gottes ausging, als eine Theorie, die vom Nichtsein Gottes ausging. Damit schien sie ihr schon inakzeptabel. Ökonomische Theorie muss allerdings ohne Gott auskommen (Fn. 177). Doch diesen grammatischen Unterschied von ökonomischer und theologischer Theorie überging man. Der Vorwurf des „Atheismus“ beruht also auf der Unterschiebung eines vereinheitlichenden Theoriemodells.138

136 Erst sein Freund Nietzsche lehnte Judentum, Christentum und Sozialismus ab, indem er letzteren aus ersterem ableitete (cf. Cancik 2000). Er zieh das Christentum des Kultes der Schwäche und zugleich seiner Stützung der wilhelminischen Kultur. Was mag ihm als Gegner Bismarcks und Bebels eigentlich vorgeschwebt haben? 137 Der Papst erklärte den Thomismus im Jahre 1879 (aeterni patris, bekräftigt 1931; cf. W. Eucken 1948) für bindend. Von Thomas hätte man aber auch progressivere Politik lernen können (Farner 1969, 77 ff.; Fenske 1997, 212 ff.). 138 „Der Grundfehler dieser ‚christlichen’ Kritik liegt darin, dass die Enderwartungen des Christen und des Marxisten auf einer Ebene gesehen werden“ (Wünsch 1962, 89). Ob ein Physiker Christ ist, spielt für die Gültigkeit seiner Theorien keine Rolle. Auch wenn Marx Jude oder Christ geblieben wäre, hätte es an seiner Theorie nichts geändert. Wichtig wäre diese Frage allein bei der Suche nach biographischen Motiven. Eine Aussage ad personam leistet indes noch keine Kritik der Theorie. Marx beklagte, dass „von allen Philosophien der Vergangenheit ohne Ausnahme jede des Abfalls von der christlichen Religion durch die Theologen bezichtigt wurde, selbst die des frommen Malebranche und des inspirierten Jakob Böhme, dass Leibniz als […] Atheist […] angeklagt wurde“ (MEW 1, 92). Frühen Christen wie Celsus und Julianus warf man Atheismus vor. Marxisten verglichen sich mit als Ketzern verurteilten Naturwissenschaftlern (Bruno, Galilei; MacIntyre 2002).

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Mögen motivational andere Merkmale des Marxismus wie seine Befürwortung der Demokratie, der Frauenemanzipation und der Religionsfreiheit sowie seine Ablehnung der Nationalstaatlichkeit, der Staatsbesoldung des Klerus oder des religiösen Schulunterrichts ausschlaggebend gewesen sein, vorgehalten wurde ihm stets der „Atheismus“.139 Je nach politischer Stärke der Arbeiterbewegung oder der sozialistischen Staaten wurden zwar auf untergeordneter Ebene mitunter politische Zugeständnisse gemacht, zumindest programmatisch. An der grundsätzlichen und gerade damit an der Sache vorbeigehenden Ablehnung änderten sie jedoch nichts. Aber nicht nur die Kirchen wetterten gegen den Materialismus (und trafen damit eher den Monistenbund). Die Sozialdemokratie nahm den Fehdehandschuh auf und versuchte in der Linie der französischen Aufklärung, die Kirchen der Illegitimität zu überführen. Sie wurden offensiv als per se unzeitgemäß und rückschrittlich erklärt.140 Die Selbstinterpretation des Marxismus als einer umfassenden „Weltanschauung“ (2.1.4, 2.2.4), die keine andere neben sich dulden wollte, lud zum Vorwurf des Atheismus geradezu ein. Beide Seiten deuteten den Marxismus mit Engels, Kautsky und dem Dialektischen Materialismus als naturalistisches System der Welterklärung.141 Wird Marx als Weltanschauungsproduzent gelesen, kann er leicht abgelehnt (Senge 1985, Thomas 1993) oder auch aus zweifelhaften Motiven bejaht werden (Hoffman 2000). Doch nicht nur die Marx’sche Theorie ist als Weltanschauung fehlinterpretiert. Auch beim Christentum stellt sich die Frage, ob es als solche zu verstehen ist, oder ob es, wird es ernst genommen, nicht vielmehr selbst radikale Praxis ist. Egalitäre Ausrichtungen des Christentums sind meist gescheitert – an der Kirche. Sie war an einer den status quo in für sie günstiger Weise stabilisierenden Theologie interessiert, wobei sie sich den feudalen Staaten stark assimilierte.142 139 So ex cathedra Quadragesimo anno (1931, cf. Reisinger 1985), philosophisch Wetter 1952; Koch 1961, Ehlen 1961, Bienert 1979, 45 ff.; Senge 1985. Für Wehner (1985, 58) stellte die Gründung der CDU den Versuch dar, das Christentum für eine „weltanschauliche Sammlung gegen den Marxismus“ zu benutzen, in Kontinuität mit dem NS (Uertz 1981 und den „Modernisteneid“ 1910). Nell-Breuning konzentrierte sich polemisch auf den Atheismus, obwohl seine Wirtschaftstheorie stark von Marx abhing: „Für die katholische Soziallehre ist Marx der große Gegner, mit dem sie sich auseinanderzusetzen hat. Bei dieser Auseinandersetzung geht es nicht um Marx als Ökonomen, [...] sondern um Marx als Philosophen“ (1985, 262 f.). 140 Bebel 1874, Dietzgen 1908, Steigerwald 1973; vgl. Fetscher 1973, 58-78; Schlette 1975. Voltaire, der giftigste Gegner der Kirche, war keineswegs Atheist: „Wenn es Atheisten gibt, ist niemand anders daran schuld als die gedungenen Zwingherren der Seele, die uns gegen ihre Schurkereien aufbringen und manche schwachen Geister dazu zwingen, den Gott zu leugnen, den diese Ungeheuer schänden“ (Voltaire 1984, 73). Er beruft sich dafür auf Jesus, der gegen die Kirchen zeuge (49 ff.). Bemerkenswert sind die Aufsätze zum Thema von Franz Mehring (1983, 241-288), der einmal hatte Priester werden wollen und von G.E. Lessing ausging. 141 Fetscher 1967, McMurtry 1978, Ehlen 1982, A. Woods 1995, Steigerwald 2000. 142 Die katholische Kirche tat dies vor allem in Spanien und Frankreich, vgl. Duve 1976, 13 ff., Hanson 1987 und Kallscheuer 1994, 19 ff.; die protestantischen Kirchen vor allem in England und Deutschland.

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„Abweichlerische“ Gruppen hatten damit zu rechnen, verboten und verfolgt zu werden wie einst die Albigenser, oder in der „Abgeschiedenheit“ einer Nischenexistenz zu existieren wie die Bettelorden.143 Die siegesgewisse christliche Selbstanpreisung erinnert an diese imperiale Selbstbehauptung. Sie praktizierte das, was sie den Marxisten vorwarf: dogmatische Voreingenommenheit und „Unwissenschaftlichkeit“.144 Ob Propheten, Apostel, Kirchenväter, Reformatoren oder kirchliche Laien: mit verkrusteten Hierarchien hatten noch alle zu kämpfen. Dies ist vielleicht die greifbarste Parallele zum Marxismus.

Toleranz trotz Atheismus „Karl Marx’ bleibendes Verdienst liegt in der kühnen Denunziation des menschentötenden Antlitzes der kapitalistischen Welt oder, theologisch gewendet, in der Erkenntnis der gesellschaftlichen Sünde in concreto.“ (Arthur Rich)

Im deutschsprachigen Raum stießen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur theologische Ausnahmeexistenzen wie Wilhelm Hohoff, Rudolf Todt oder Christoph Blumhardt zu einer Kenntnisnahme Marxens vor.145 Diese kleine, gemäßigte Front hatte zwar an entscheidenden Stellen theologische Vorbehalte gegenüber der radikalen Praxis, tolerierte aber dennoch die Politik der Arbeiterbewegung, zumindest in Teilen.146 Auch in der Sozialdemokratie gab es bereits früh dialogbereite Stimmen: Nach Rosa Luxemburg etwa sei der Sozialdemokratie die Gegnerschaft von der Kirche aufgezwungen worden, da diese es stets mit den Mächtigen gehalten habe. Die auf Gerechtigkeit verpflichtete Kirche solle nunmehr endlich ihre zweite Chance nutzen, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.147 Sie wurde so weder bekämpft noch bejaht, sondern zur Zusammenarbeit aufgerufen. 143 Troeltsch 1912, Bloch 1968, Farner 1969, zum Mittelalter Cohn 1988; Deschner 1989. „Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klassen herzugeben. [...] Die Beute wird, wie das so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. [...] Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ (Benjamin GS 1.2, 695 f.). 144 Wetter 1952 erklärte den Marxismus für unwissenschaftlich, weil er seinen „Gottesbeweisen“ nicht folgte (Wünsch 1962, 61, 73; als Antwort Klaus 1958. Die Parallele zwischen DiaMat und Scholastik diagnostizierte Wetter selbst). Wünsch nannte solche Polemik eine „Flucht ins Christliche“ (85), „falsche Überlegenheit der christlichen Eschatologie“ (92): „Aber warum die Theologie bemühen?“ (84). 145 Zu Blumhardt siehe Thurneysen 1926; insgesamt Sorg 1974, 67 ff. 146 Die Vorbehalte gingen in dem Maße zurück, in dem sich die Sozialdemokratie zur Kirche hin öffnete (und gegen Marx verschloss). Das Godesberger Programm markiert den Wendepunkt (vgl. Prümmer 1965, Wehner 1985). In den stärksten Zeiten des Sozialismus räsonierte die Theologie sogar darüber, dass die Kirche nicht an ein bestimmtes Wirtschaftssystem gebunden sei. Sie hat sich damit nicht dem Gedanken des Sozialismus, sondern seiner Rolle als nächster potentieller Machthaber akkomodiert. Dieser machiavellistische Hintergrund kommt in der Zelebration der abstrakten „Erinnerung“ in der neuen politischen Theologie meist nicht mehr vor. 147 Luxemburg 1905, ähnlich Max Adler 1913. Auf Seiten der Kirche ließen sich für

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Diese Option war meist zur Marginalität verurteilt.148 Die Situation änderte sich in Deutschland erst mit dem Zusammenbruch der Monarchie, als Staat und Kirche erstmals getrennt wurden. Es gab nun keinen zwingenden institutionellen Grund mehr, gegen den Sozialismus zu sein (dies war man nunmehr einfach „aus Tradition“, Duve 1976). Vielmehr sahen sich die Theologen durch die gewachsene Bedeutung der Sozialdemokratie zu einer näheren Auseinandersetzung ermutigt. Inzwischen hatte auch die Theologie Nachhilfestunden in puncto Moderne genommen, bei ihren Kritikern Kierkegaard und Nietzsche ebenso wie bei ihren Systematikern Kant und Weber. Man begann zu begreifen, dass (im Doppelsinne) nicht von oben herab zu theologisieren sei, da man auf diese Weise weder die christliche Botschaft recht versteht, die immer schon ‚unten’ ist, noch die Welt, die nicht hierarchisch nach apriorischen Prinzipien konstruiert ist. Warum soll sich ein Christ in säkularen Fragen nicht so oder so entscheiden können? Die Entscheidung über Weltliches sollte auch weltlich gefällt werden können („Dem Kaiser, was des Kaisers ist“, Mat 22, 21). Diese Interpretationslage führte dazu, dass die christliche Kirchenkritik und die sozialistische Religionskritik in der Sozialkritik zueinander fanden. Es war nunmehr für Christen möglich, Sozialisten zu sein und umgekehrt.149 Schließlich war die Frage des „Atheismus“ für Marx unwichtig: Mit der Erkenntnis, dass durch die scholastische Behandlung dieser Frage nichts für die Wirklichkeit zu gewinnen sei, war Marx ja angetreten. Er hat die Frage nicht so oder so beantwortet und daraus Konsequenzen gezogen, sondern sie auf sich beruhen lassen, und die Fragen der Welt als autonome betrachtet. Zu ihrer Beantwortung braucht man die philosophische Gottesfrage in den wenigsten Fällen.150 Weil man auf säkularer Grundlage zu durchaus verschiedenen politischen Urteilen kommen kann, gab es auch unter den Christen einige, die aufgrund säkularer Überlegungen zum Sozialismus neigten. Es war eine weltliche Frage, auch für Christen oder Juden. Dies war kein religiöser oder „christlicher“ Sozialismus, denn die Welt ist mündig geworden (Bonhoeffer 1949, Briefe vom Juni 1944).151 Eine Rezeption des

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diese Mittelposition nennen Friedrich Heiler, Gottfried Naumann und später Fritz Lieb (vgl. Kambas 1985, Faber 1994, 84 ff.). Siehe 2.1.3. Später aber lebte die „Kirche im Sozialismus“ von ihr (Thumser 1996). Erwin Eckert brachte dies in einer Flugschrift 1926 auf den Punkt: „Die religiösen Sozialisten Deutschlands [...] wollen vielmehr der Überzeugung Ausdruck verleihen [...]: dass es vom Evangelium zum Sozialismus einen Weg gibt, und dass es vom Sozialismus einen Weg zum Evangelium gibt“ (nach Balzer 1993, 68). Marx sagte sinngemäß nicht: ‚Es gibt keinen Gott, also ...’, sondern eher: ‚Egal wie ihr die Frage nach Gott beantwortet, in diesem Fall bringt sie uns nicht weiter. Von denen jedenfalls, die sich keck auf Gott berufen, ist keine Besserung der Lage zu erwarten. Lassen wir diese Frage also hinter uns.’ Er meinte, dass selbst „der Atheismus anfängt, ausgetragen und verschlissen zu werden“ (MEW 1, 539; Fn. 85). Cf. Kraus 1982, Gräb 1999. Die Akzeptanz dessen liegt in der Konsequenz der monotheistischen Buchreligion: Wie man über Weber von Nietzsche hatte lernen müssen, war die Freisetzung einer entgötterten Welt in die Vernunft des Menschen auch eine welthistorische Leistung der biblischen Religion selbst. Nach Nietzsche

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Marxismus jenseits der unsinnigen Frage nach dem Atheismus war so ermöglicht.152 Es finden sich in der Folge Theologen, die Marx produktiv lasen, auch jenseits der Theologie (so Heimann, Fuchs, Wünsch oder Gollwitzer, cf. 2.6.7).

Religiöser Sozialismus Doch bleibt ein Theolog ein Theolog, auch wenn er nicht theologisiert. Eine weitere Gruppe sah gerade in der von den gemäßigten Gruppen abgelehnten radikalen Praxis nicht eine von säkularer Vernunft, sondern eine vom Christentum geforderte und bemühte sich daher um eine Vermittlung. In einigen Schriften der Sozialisten machte es ja den Anschein, als seien diese die wahre „Nachfolge“ angetreten, besonders was die Lehre Jesu (Mat 19, 24),153 den Kommunismus des Urchristentums (Apg 4, 32)154 oder die Reformation betraf.155 Mit Kutter konnte man dies auch unabhängig vom Selbstverständnis der SPD vertreten.156

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hatte das Christentum alles in der Welt solange vor die Vernunft gebracht, bis es schließlich selbst vor sie kam – und zu leicht wog (MEW 2, 137; Gogarten 1953, Bosse 1970, Tenbruck 1975). Paradox wäre es, diesen weltlichen Standpunkt aufgrund seiner Genese selbst als „christlich“ (oder, wie Stahl und Tillich, als protestantisch) zu behaupten; das höbe die Weltlichkeit wieder auf, wie es methodisch Genesis und Geltung vermengt. Islam und Judentum haben es zu ihrer eigenen säkularen Aufklärung gebracht, weit eher sogar; auch wenn sie heute defensiv ist. Die philosophische Kategorie „Unsinn“, die Wittgenstein für die Sorte von Frage verwandte, auf die keine Antwort möglich ist (1984, 50, 63), entspricht den Ausführungen von Marx zur Gottesfrage: „Frage dich, wie du auf jene Frage kömmst; frage dich, ob deine Frage nicht von einem Gesichtspunkt aus geschieht, den ich nicht beantworten kann, weil er ein verkehrter ist? [...] Wenn du nach der Schöpfung [...] fragst, so abstrahierst du also vom Menschen und der Natur. Du setzest sie als nichtseiend, und willst doch, dass ich sie als seiend dir beweise. Ich sage dir nun: gib deine Abstraktion auf, so gibst du auch deine Frage auf [...] Denke nicht, frage mich nicht, denn sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion [...] keinen Sinn“ (MEW 40, 545). „Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort“ (Wittgenstein 1984, 85); „denk nicht, sondern schau!“ (277). Voegelin 1959, 33 erblickte hierin nur ein „Denkverbot“ (obwohl er Marx zugleich als Gnostiker hinstellt). Eher sollte man es als eine Reaktualisierung der Differenzierung verschiedener Geltungsebenen philosophischer Rede betrachten: Schon Kant legte dar, dass man von „spekulativen“ Sätzen über die Weltentstehung nur einen „regulativen“ Gebrauch machen könne – aus ihnen ist nichts weiteres zu folgern (KrV A 509, A 672 ff.). Für Marx ist ihre Beantwortung praktisch irrelevant, da aus ihnen nichts folgt. Vielmehr bringen sie von ‚irdischen’ Fragen ab; ja es droht die Gefahr, dass man sich in ihnen wie in einem „Fliegenglas“ verfängt (Wittgenstein 1984, 378; cf. MEW 2, 60; MEW 3, 40; s.u., Fn. 196; auch 4.1). Vgl. Machovec 1972, Fetscher 1974, Rolfes 1974. „Jesus ist die soziale Bewegung“ (Barth, in: Gollwitzer 1972, 7). Siehe hierzu neben Farner 1969 detailliert Martin Leutzsch, in: Faber 1994, 77 ff. Siehe Engels, MEW 7, 531 ff.; Kautsky 1895 und 1908, Blochs 1921. Hermann Kutter, neben Leonard Ragaz der erste „Religiös-Soziale“ und zentral für Barth, meinte in Sie müssen (1903), die Sozialdemokratie sei, „unbewusst vom lebendigen Gott getrieben, der erschlafften Kirche als Ansporn zu überindividueller Reichsgottesarbeit erstanden“ (RGG2 Bd III, 1442; Kutter 1965, Zademach 1973).

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So propagierte man einen neuen „religiösen Sozialismus“, sowohl von christlicher Seite („Theologie der Revolution“) wie von marxistischer (Bloch, Metzger).157 Diese überschwängliche Konzeption führte allerdings zu einer „elliptischen“ Theologie (Barth): sie hatte mit Gott und Welt nun zwei Zentren, deren genauere Verhältnisbestimmung nicht immer glücklich konzipiert wurde. Eine von beiden musste im Zweifelsfall geopfert werden, und es war nicht im voraus auszumachen, welche das sein würde. Tillichs Freund Eugen Hirsch konnte ebenso leicht zu Nationalismus und Nationalsozialismus überwechseln wie Barths Freund Gogarten. Der religiöse Sozialismus unterschied sich im Prinzip wenig vom alten Bündnis von Thron und Altar oder der neuen Theologisierung des Völkischen. Ungewollt übernahm so gerade der radikalste Flügel der religiösen Sozialisten ein Erbe der „bürgerlichen Religion“ (Metz), indem er die Kultur sakralisierte. Dies war eben mit jeder Kultur möglich: mit der liberalen (Harnack, Troeltsch) ebenso wie mit der sozialistischen (Tillich, der frühe Barth) oder nationalistischen (Gogarten, Hirsch). Weltliche Gegensätze gewinnen durch eine sakrale Aufladung nur wenig. Sie werden so nur verhärtet. Ironisch an der Sakralisierung ausgerechnet des Marxismus war nun, dass sie erst durch die Ablehnung derselben eingeleitet wurde. Ernst Troeltsch, ein durch die Freundschaft mit Max Weber soziologisch geschulter Theologe, griff wie dieser den „historischen Materialismus“ als Methode partiell auf; doch er glaubte, ihn als Weltanschauung theologisch widerlegen zu müssen (Bosse 1970, 17). Hierauf verwandte er mehr Mühe als auf die tatsächliche Anwendung der von ihm akzeptierten Methode – wie in der deutschen Sozialwissenschaft ja gern „Methodenstreite“ geführt werden, bevor überhaupt Ergebnisse in Sicht sind. Als führender Vertreter des Kulturprotestantismus brachte Troeltsch Christentum und neuzeitliche Rationalität in einer „europäischen Kultursynthese“ in Verbindung.158 Er hat so zwar „die Kultur“ theologisiert, innerhalb dieser aber in einem Vorurteil vorsortiert: der Marxismus fiel aus dieser Sakralisierung von vornherein heraus. Er galt nicht als „Kultur“ – ein Erbteil Nietzsches. Theoretisch gründete Troeltschs weltanschauliche Ablehnung des Marxismus in seiner idealistischen Theologie. Er verortete die Religion in einer autonomen geistigen Überwelt,159 wie sie sich im Weltanschauungsmarxismus kaum wieder157 Siehe hierzu etwa Breipohl 1970, Balzer 1973, Deresch 1977, Ewald 1977, Peter 1995, Bai 1996 oder Ewald 1997. 158 Vgl. Zahrnt 1966, 54. Ähnlich dachten Ernst Robert Curtius oder Max Scheler. 159 Als Ritschlschüler lässt Troeltsch, wie später Bultmann, für geistige Wirkungen nur geistige Ursachen zu (Bosse 1970, 76). Das „ideelle Eigenleben der Seele“ (83) ist ein „metaphysisches Prinzip“ (75). Dieser ontologische Dualismus räumt dem Geistigen ein eigenes, wenn auch begrenztes Recht ein. Das Dasein der Religion wird objektiv-genetisch, ihre „Wahrheit“ psychisch begründet (138). Die Religion sei selbstständig, da das Bedürfnis nach Religion aus keiner Materie ableitbar sei, diese vielmehr transzendiert werde. (Man könnte mit Marx sagen: der Mangel in der Welt ruft Religion hervor.) Da ‚die’ Kultur meist die Religion bekämpfe (cf. Weber 1920, 544 ff.), könne auch sie nicht ihre Mutter sein (73). Troeltsch meint,

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finden ließ – für den metaphysischen Theologen Grund genug, ihn abzulehnen. Obwohl es um die Möglichkeiten des Menschen auch im protestantischen Denken nicht allzu gut bestellt war,160 legte Troeltsch dies als theologische Palastrevolte aus: „Dialektik und Naturgesetz [sind] an Stelle Gottes getreten und die Religion nicht bloß beseitigt, sondern auch ersetzt“ (Tillich GS III, 341). Die verfehlte nichtweltliche Interpretation des Marxismus führte so dazu, ihm sowohl seine Weltlichkeit wie auch seine Nichtweltlichkeit vorzuwerfen. Erst 1919, anlässlich des Historismusbuches, las Troeltsch Marx intensiver (Bosse 1970, 92), unterschied ihn jedoch nicht von Engels’ und Kautskys naturalistischem Determinismus (96). Er hat den Marxismus deswegen abgelehnt, weil er ihn wie Kautsky als eine quasireligiöse Weltanschauung verstand, die dem Christentum illegitimerweise Konkurrenz machen wolle. Marx wurde so zum Theologen gestempelt. Der totalisierenden Denkungsart des orthodoxen Marxismus, die ihn erst in Konkurrenz zur „Absolutheit“ des Christentums (Troeltsch) brachte, entsprach auf der anderen Seite die Unwilligkeit der Theologen zur „nichtreligiösen Interpretation“ (Bonhoeffer) nicht-theologischer Fragen. Die aufwertende Sakralisierung des Marxismus im religiösen Sozialismus hat also in der abwertenden der liberalen Theologie der Kultur seine Vorgeschichte: Deren religiöse Deutung der Kultur erleichterte es, den immer „kulturbedeutsamer“ werdenden Marxismus nun auch positiv zu sakralisieren – man musste nur das Zeichen vor der Klammern umdrehen. Genau dies tat dann Paul Tillich.161 Tillich sah Marx in der Linie der jüdischen Propheten, und interessierte sich nur soweit Marx kenne wegen seines ökonomischen Reduktionismus keine Religion (106). Marx allerdings sah in der Religion gerade eine „Protestation gegen das wirkliche Elend“ (MEW 1, 378), die er nur deswegen ablehnte, weil sie allein nichts bewirkte (und wenn, dann oft zum schlechteren). Auch Stähli 1976 sieht diesen Dualismus bei Troeltsch: einer reinrationalen Welt steht ein weltloses Christentum gegenüber („Kultur und Askese“, Troeltsch GS II, 625). Vom Christentum bleibt in der Wirklichkeit sozial nichts übrig, es beugt sich dem Gesetz des Stärkeren (wie bei Naumann; cf. Wünsch 1962, 12; Göggelmann 1987). Die religiöse Protestation ist zusammen mit der Weltlichkeit untergegangen. „Der religiöse Subjektivismus ergänzt eine allgemeine Ethik gut“ (Stähli 1976, 35). Dieses „Ergänzen“ zeitigt als unverbundenes Nebeneinander keine Wirkungen, sondern wirkt als Quietiv; trotz der Versicherung: „das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“ (Troeltsch 1912, 979). 160 Nach Kant lässt sich in der Welt keine „Freiheit“ auffinden, solange man sie unter naturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet. Moral und Religion unterscheiden sich nach Kant nicht ontologisch – sie betrachten keine andere Welt –, sondern in der Perspektive („Transzendenz ist dasselbe – anders gesehen“; Luhmann 1989, 313). Wie bei vielen deutschen Denkern war bei Troeltsch die Unterscheidung der Perspektiven durch die Etablierung einer Einheitsperspektive durch Fichte und Hegel zu einer ontologischen geworden (cf. 2.5, 3.1). Gerade die Metaphysizierung der Freiheit aber machte sie leicht „widerlegbar“. Die fichteanische Gleichsetzung der Freiheit des Handelns mit dem Sein des Geistes ist nicht lutherisch: die „Hure Vernunft“ entgeht der Kreatürlichkeit nicht (Luther 1525; Pohl 1999). 161 Wie Troeltsch sakralisierte Tillich die Kultur („Heiligung des Kulturlebens“, GW II, 27) und wollte „Synthese“ (129): „Ein neues Zeitalter der Einheit hebt an“ (16).

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für ihn, wie er das hergab.162 Gegen Ende der Weimarer Republik sah Tillich mit Sorge, dass zwei moderne Religionen gegeneinander ständen: die „prophetische“ des Sozialismus und die „tellurische“ des Nationalismus. Er wollte nun für eine „Sozialistische Entscheidung“ (1933) werben, indem er deren Plausibilität theologisch herleitete. Marx wurde so erneut in eine an Abhängigkeit grenzende Nähe zum Christentum gebracht. Das erhellt zwar die persönlichen Motive von Tillich, konnte aber aus zwei Gründen politisch nur begrenzt wirksam sein (das Buch wurde ohnehin eingestampft): erstens konnte es Nationalsozialisten nicht sonderlich beeindrucken, die, wie oft der Fall, Christentum und Marxismus gleichermaßen ablehnten. Zweitens musste es auch die Christen nicht notwendig überzeugen, da sich die behauptete Nähe des Marxismus zum Christentum ebenso gut gegen ihn wenden ließ. Sofern man sich über den pauschalen Atheismusvorwurf hinauswagte, wurde Marx’ Deutung der Geschichte abgelehnt, weil sie eine „Heilsgeschichte“ ohne Gott sei; die der Entfremdung, weil sie der unaufhebbaren Erbsünde nicht Rechnung trage; die der Arbeit, weil sie den Schöpfergott ignoriere; oder seine Anthropologie, weil sie den „geistigen Werten“ keinen eigenen Raum lasse.163 Auch die konservativen Theologen werteten Marx also als einen der ihren, nur sei seine Theologie eben defizitär und deswegen zu kritisieren.164 Damit machten es sich beide Seiten zu leicht. Zu den relevanten Inhalten von Marx’ Theorien, die ja auf säkularer Ebene liegen, drang man kaum vor.165 162 „Ja sagte ich zu den prophetischen, humanistischen und realistischen Elementen, Nein sagte ich zu den kalt berechnenden, materialistischen und von Ressentiment diktierten Elementen in seinen Analysen, Streitschriften und seiner Propaganda“ – also zur gesamten ökonomischen Theorie (Tillich GW XII, 68; nach Wehr 1979, 39 f.). Dies gilt auch für Leonard Ragaz (Stähli 1976, 98; die These von Marx als „Propheten“ Fromm 1963, 15 und erneut Monz 1995). Für Wünsch war es zwar eine „Anerkennung, Marx als Propheten zu bezeichnen, wenigstens in der Art wie Tillich es tut [...] Allerdings beginnt hier schon der abwertende Charakter der Kritik und deren Umschlag in die Polemik. Ihr Mittel ist, zu zeigen, dass Marx in Wirklichkeit der nicht ist, der er vorgibt zu sein, nämlich nicht Wissenschaftler, sondern eben Prophet, und zwar ein falscher“ (1962, 80). Auch der Vergleich des christlichen und marxistischen „Menschenbildes“ (Rich 1962, Bienert 1979) denkt theologisch: dies suggeriert erneut, Marx gehe wie die Theologie von obersten Prinzipien aus (‚der Mensch ist so, folglich ...’; cf. 4.3.4, Fn. 29). Übrigens ist hier nur die Rede von der Theorie der „religiösen Sozialisten“, nicht von ihren politischen und karitativen Anstrengungen. 163 Der Dadaist Hugo Ball (1919) wurde Extremkatholik, Sozialist und polemischer Antimarxist (und Antisemit), nicht zuletzt wegen Marx’ resistenter Weltlichkeit. 164 „Fast alle christlichen Theologen, die sich mit Marx beschäftigen, sehen in ihm einen Konkurrenten [...] Dabei kommt [...] ein Zerrbild an Übertreibung heraus. Da ist die Rede vom titanischen Dynamismus, der den leer gewordenen Thron Gottes einnehmen will, von ‚Mystik’ der Arbeit, von der Erwartung der endgültigen Erlösung des Menschen zu Erdenglück [...] , von der schließlichen Bereinigung aller geschichtlichen Konflikte in der klassenlosen Gesellschaft. Das Subjekt dieser Entwicklung ist der ‚kollektive Mensch’ als Heiland und Erlöser der Welt [...] Diese Erwartung, weil phantastisch, müsse dann an der Realität scheitern, es folge die Enttäuschung [...] Religiöse Menschen können sich schwer eine atheistische Hal-

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Auf diese Weise wurde der Marx’sche Ansatz im religiösen Sozialismus und seinen theologischen Gegnern übersprungen: gab es vor ihm christliche Sozialisten (Cabet, Saint-Simon, Weitling etc.), so gab es nun auch sozialistische Christen (Blumhardt, Ragaz, Mennicke, Tillich etc.). Den weltlichen Marx konnte man so aus der Ahnenliste streichen. Für das bisher Behandelte ist festzuhalten, dass mitunter wichtige Elemente der Marx’schen Methodik in die Theologie einflossen, obwohl der Marxismus weltanschaulich abgelehnt wurde, wie in den kirchensoziologischen Werken von Troeltsch oder in der Wirtschaftstheorie von Nell-Breuning; mitunter aber auch umgekehrt Theologen sich trotz einer weltanschaulichen Bejahung des Marxismus nicht mit den eigentlichen Marx’schen Theorien auseinander setzten, wie bei Tillich oder Moltmann der Fall. Die „gewaltsame, gekünstelte Theologisierung von Marx“ (Wünsch 1962, 86 ff.) verhinderte hier wie da ein nüchternes Bedenken der Marx’schen Theorien. Die Haltung gegenüber Marx blieb in seiner postumen Theologisierung eine Dezision – die politische „Entscheidung“ stand meist schon vor der Theologisierung fest und gewann durch diese nur wenig dazu.166 Diese Konstellation wurde theoretisch erst mühsam aufgelöst – praktisch gibt es noch heute politische Gruppen, die im Namen des Christentums sprechen zu können vorgeben. Doch bevor die Trennung dieses Gemisches betrachtet wird (trennen = gr. krinein, daher „Kritik“), ist darauf einzugehen, wie sich die Beibehaltung der Vermischung auswirkte. Ein wichtiger philosophischer Nachhall dieser theologistischen Vermengung war die Säkularisierungsthese.

Exkurs: Kritik philosophischer Säkularisierungstheorien „Alle prägnanten Begriffe des modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ (Schmitt 1922, 49)

Die deutsche Philosophie, die eine Wissenschaft der Bestimmung von Grundbegriffen sein wollte, bevor die anderen Wissenschaften sie auslegen (Heidegger GA 18, GA 22, GA 29, GA 51; cf. 2.5.5), übernahm in vielen Fällen eher nachzeitig sedimentierte Interpretationen aus einzelwissenschaftlichen Diskursen, die sie zu „Grundbegriffen“ verunklarte. So vererbte sich auch die Theologisierung von Marx aus der Theologie in philosophische Säkularisationstheorien. Sie identifizierten Gedanken über die Weltgeschichte als solche über ein Heilsgeschehen. tung vorstellen, ohne sie zur Religion, natürlich einer falschen, zu erklären“ (Wünsch 1962, 76, cf 50, 81). F. Naumann lehnte schweren Herzens Christentum und Sozialismus zugunsten seines „Realismus“ ab und bestätigt so den Zusammenhang ex negativo (20 f.; vgl. Nietzsche, Fn. 136, 178). 165 „Die Zustimmung des Religiösen Sozialismus zu der soziologischen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft durch Marx bedeutet nicht ohne weiteres seine Zustimmung zu seiner ökonomischen Theorie“ (Tillich, GW II, 167). Wie ist das eine ohne das andere möglich? Tillich berücksichtige nur die Frühschriften (1962, 151). 166 Aus der Frage nach der Stellung zu Marx wurde ein unnötiger Glaubenskrieg. Wichtiger wäre der Kirchenkampf gegen die „Deutschen Christen“ gewesen.

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Das Wort „Säkularisierung“ hat historisch einen präzisen Sinn: es meint den Übergang kirchlichen Grundbesitzes in weltliche Hände, wie er besonders nach der französischen Revolution auftrat (Lübbe 1965). Übertragen in die Philosophie wird es allerdings schwammig. Philosophische Säkularisierungstheorien beschränken sich ja nicht auf die soziologische Lehrbuchformel, dass sich in „der“ Moderne alles nach und nach verweltliche (bereits diese Beobachtung beruht auf einer überabstraktiven Verallgemeinerung), sondern sie liefern bestimmte Sinndeutungen dieser Allerweltsformel, in die persönliche Wertungen eingehen. Schon die Verallgemeinerung des Wortes „Säkularisierung“ auf kulturelle Prozesse unterstellt, dass vor der Moderne, in den traditionalen Gesellschaften, dieses fragliche „alles“, die gesellschaftliche Totalität, religiös gewesen sei. Was soll das heißen? Man unterschiebt auf diese Weise der Religion eine ursprünglich setzende Kraft, die das „alles“ aus sich entlassen habe – selbst die sozialen Verhältnisse zwischen Herren und Knechten wären religiös codiert, und hätten sich erst im Laufe der Moderne „ausdifferenziert“.167 Wird für diesen Narrativ vom Zerfall der ursprünglichen Einheit168 das Wort „Säkularisierung“ benutzt, so suggeriert dies zudem, die ursprüngliche Besitzerin des „alles“ sei die Kirche gewesen (Fn. 172). Aus dem klaren Wort wird ein philosophischer Ursprungsmythos, eine „Kategorie des geschichtlichen Unrechts“ (Blumenberg 1966, 60). Folgende Fragen werden so eher überdeckt als geklärt: Erschien denn wirklich alles in religiöser Form? Das ist doch mehr als zweifelhaft. Aber selbst wenn unterstellt wird, dass „alles“ religiös artikuliert worden sei, muss darum auch die „Substanz“ religiös gewesen sein? Und selbst wenn man idealistisch unterstellt, dass die Menschen einmal von Religion gelebt hätten,169 warum soll dann jedes weitere Stadium als von diesem Ursprung abhängig gedacht werden? Und wenn auch dies so gedacht wird, ist dann der Vorwurf an ein bestimmtes späteres Den167 Die Systemtheorie, die sich methodisch über die „Teilnehmerperspektive“ hinwegsetzt (Halfmann 1996a, 30), bleibt in ihren Inhalten derselben um so eher verhaftet: beschrieben wird meist der Wandel der Selbstverständnisse. Nur wenn Denken und Sein identisch sind, kann das zugleich als eine „Beschreibung“ der Realität gelten. 168 Dies ist nicht mehr ist als die Projektion einer Verallgemeinerung auf einen antedeluvianischen Zustand im Stile der Romantik. Tatsächlich waren frühere Gesellschaften derart zerspalten („stratifikatorisch“), dass es zwischen ihren Mitglieder kaum je „Kommunikation“ gab. Was soll sich da noch „ausdifferenzieren“? 169 „Soviel ist klar, dass das Mittelalter nicht vom Katholizismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte“ (MEW 23, 96; cf. MEW 3, 39, 47; aber C. Schmitt 1932a). „Auf keinem Gebiete die Substanz voraussetzen – heißt ...: kein vom Denken unterschiedenes Sein, [...] kein vom Subjekt unterschiedenes Objekt, keine von der Theorie unterschiedene Praxis [...] anerkennen“ (MEW 2, 150). „Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als ‚Substanz’ und ‚Wesen des Menschen’ vorgestellt, was sie apotheosiert und bekämpft haben, ein realer Grund, der dadurch nicht [...] in seinen Wirkungen und Einflüssen auf die Entwicklung der Menschen gestört wird, dass diese Philosophen als ‚Selbstbewusstsein’ und ‚Einzige’ dagegen rebellieren“ (MEW 3, 38; cf. MEW 1, 216 ff.; G. McCarthy 1992, Pike 1999).

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ken, es sei „nur“ eine säkularisierte Form religiösen Denkens, nicht sinnlos, da er sich aus methodischen Gründen auf jedes spätere Denken erstreckt (auf Liberalismus und Demokratie ebenso wie auf den Sozialismus)? Bezüglich dieser weniger scheidenden als vermengenden Marxkritik stellt sich zuletzt die Frage der Richtung: wird bemängelt, dass Marx zuviel „säkularisiert“ hat, dass er also nicht Jude oder Christ geblieben sei, oder umgekehrt, dass er zuwenig „säkularisiert“ hat, also dass seine Religionskritik nicht radikal genug gewesen sei?170 Dies geht oft durcheinander. Die philosophische Formel „Säkularisierung“ erweist sich als unpräzise. Ihr Sachgehalt ist durch zahlreiche identitätsphilosophische Gleichsetzungen und Assoziationsketten kaum mehr greifbar. Philosophische Probleme werden so nicht gelöst, sondern vielmehr übersprungen. Der Vorwurf, Marx habe Gedanken der Religion säkularisiert, unterliegt einer Kette von logischen Sprüngen. Er vereint die bunte Schar der Marxgegner unter einem politischen Kampfbegriff, der Widersprüchlichstes enthält. Eröffnet wurde die philosophische Säkularisierungsthese von Carl Schmitt. Hatte Max Weber (1904) nur von Strukturanalogien zwischen der protestantischen Ethik und dem „Geist des Kapitals“ (MEW 23, 295) gesprochen,171 so las Carl Schmitt das als bloßen Formwandel einer identischen „Substanz“, die ihm als genuin religiöse („theologische“) galt, und die daher wieder „politischtheologisch“ interpretiert und vertreten werden müsse (cf. 2.6.7).172 170 Wäre eine neue Einheit von Religion und Politik (so Schmitt und Voegelin, cf. Kiel 1998) eigentlich wünschenswert? Das ist nicht nur eine Frage des Kopftuches. 171 Dies tat auch Marx („Kultus des abstrakten Menschen“ MEW 23, 93). Er sah allerdings mehr als Weber: das Christentum hat sich nicht nur dem Kapitalismus, sondern zuvor auch anderen Formen perfekt eingepasst, und würde dies notfalls auch mit dem Sozialismus tun (MEW 4, 200, 484). Es beruht auf einer perspektivischen Täuschung und idealistischen Voraussetzungen (2.5.7), die Religion als Ursache des Kapitalismus zu werten (was nicht Webers Absicht war, wohl aber seine Wirkung). Wenn Weber die innerweltliche Askese „Geist des Kapitalismus“ tauft, beschreibt er eine vorkapitalistische Formation: die Geldfunktion der „Schatzbildung“ (MEW 23, 144 ff.; MEW 24, 488 ff.). „Der Schatzbildner opfert daher dem Goldfetisch seine Fleischeslust. Er macht Ernst mit dem Evangelium der Entsagung“ (MEW 23, 147; 2.3.5, Fn. 155; 2.4.6, Fn. 138). Die Askese der erweiterten Reproduktion (die Akkumulation muss aus dem Mehrwert bezahlt werden, MEW 23, 615) ist im Kapitalismus nicht mehr dieselbe: sie wirft, jedenfalls im Glücksfalle, eine hohe Rendite ab, so dass sich die Rede von „Askese“ oder „Abstinenz“ (MEW 23, 623) erübrigt: „Produktion und Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter gehen [...] ihren Gang ohne alle Dazwischenkunft jenes wunderlichen Heiligen, [...] des ‚entsagenden’ Kapitalisten“ (MEW 23, 625; zum Luxuskonsum MEW 24, 402 ff.). Kurz 1994, 172 wirft seltsamerweise Marx eine protestantische Arbeitsethik vor. 172 Die Behauptung einer Umbesetzung setzt voraus, dass die Kirche göttlich sei (sie „persönlich repräsentiert Christus“, Schmitt 1923, 56). Diese Gottessubstanz („die übernatürliche Dimension der Kirche“, Senge 1985, 312) habe sich in den Staat säkularisiert („Die ‚Allmacht’ des Gesetzgebers ist nicht nur linguistisch von der Theologie abhängig“ (Schmitt 1922, 38; cf. 42, 45 – wie sonst, wenn nicht substantiell?). Zur Kritik Kodalle 1973, Faber 1975, 2001, Mehring 1989, Bröckling 1993, Wacker 1994, Groh 1998, Kiel 1998, Pircher 1999, Gross 2000.

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Eine ganze Familie von Interpreten im Schweizer Exil der 1930er Jahre übernahm diese These des damaligen Nationalsozialisten Schmitt. Der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar, der Soziologe René König und die Philosophen Karl Löwith und Jacob Taubes untersuchten das Verhältnis der modernen „Geschichtsphilosophie“ zur jüdisch-christlichen Eschatologie.173 Wie in der Theologie galt Marx von vornherein als falscher politischer „Prophet“ (Fn. 162). An der bekanntesten Version, Löwiths Buch über die „theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie“ (1949), lassen sich die Voraussetzungen dieses Denkens beispielhaft freilegen. Löwith übernimmt Schmitts substantialistische Interpretation, ohne sie zu nennen,174 wenn er den Marxismus als „Pseudomorphose des jüdisch-christlichen Messianismus“ bezeichnet (1949, 49) – unerachtet der Tatsache, dass diese Vermengung an die nationalsozialistische Rede von einer „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ erinnert; Löwith verlegt Marx’ unbewussten Messianismus sogar in seine „Rasse“ (48).175 Weiterhin teilt Löwith mit den katholischen Apologeten das idealistische top-downDenken: von einem obersten Grundsatz werde alles abgeleitet, und es komme nur darauf an, welcher dies sei.176 Da Marx kein Theologe war, konnte es also nur der „Atheismus“ sein, der sein Denken und Handeln auf diese Weise vorprogrammierte.177 Die Frage ist nur: Was ist ein „Reich Gottes, ohne Gott“ (46)? 173 Schmitt 1922, Balthasar 1936, Taubes 1947, Löwith 1949, König 1987, 90 ff.; cf. Voegelin 1952, 158 ff., 235; Kröner 1977, Vondung 1988. Taubes’ Doktorvater König war mit Löwith befreundet. Von ihm angeregt, hatte er in Zürich Vorlesungen über Marx gehalten. (Auch Balthasar war in Zürich.) Taubes griff sie auf (König 1980, 8, 140; 1987, 435). Überschwängliche Formen des Marxismus, des sich prophetisch gerierenden im Westen wie des Staatskultes im Osten, gaben der Säkularisierungsthese ihre Plausibilität. Sie ist inzwischen ein Allgemeinplatz (vgl. das konservative Paradox, dass ‚die’ Moderne auf Voraussetzungen beruhe, die sie nicht selbst garantieren könne, Böckenförde 1991, 112; 2.4.3, Fn. 57). Der Bezug auf Marx war allerdings fraglich. Für Schmitt gibt es zwei säkularisierte Religionen („nemo contra deus nisi deus ipse“), den messianischen Sozialismus (Behemoth), den er verurteilte, und den „katholischen“ Staat (Leviathan), den er vertrat (Schmitt 1923a, Gross 2000, 155 ff., 225 ff.; 2.6.7). 174 Carl Schmitts Schriften waren Löwith allerdings wohlbekannt, siehe Löwith 1935. 175 Hier ähnelt Löwith Plenge, auf den er sich aber nur bezüglich Hegels bezieht. „Ich habe Marx schon damals 1911 in seiner letzten Eigenheit als ‚Juden’ gekennzeichnet“ (Plenge um 1933, nach Käsler 1986, 411 f.; cf. Berlin 1994). 176 Voegelins Voraussetzung für die „neue“ Wissenschaft von der Politik etwa ist „eine durchgearbeitete Ontologie, die alle Seinsbereiche, vor allem den weltjenseitigen, göttlichen, als real anerkennt“ (1952, 16; s.o., Fn. 137). 177 „Auf der Grundlage [!] dieses [...] Atheismus unternahm Marx seine radikale Kritik [...] Die Leugnung der menschlichen Abhängigkeit von einer bestehenden Schöpfungsordnung ist die atheistische Voraussetzung [!] der materiellen Weltrevolution“ (Löwith 1949, 49 f.). Der Materialismus habe eine „atheistische Begründung“ (50). Wie Nietzsche macht Löwith die Alternativ auf: „ist das oberste Maß unseres Daseins das Sein der Welt oder der christliche Gott“ (1949, 198)? Tertium datur: Von einem solch spekulativen ‚obersten Maß’ hängt bei Marx theoretisch ebenso wenig ab wie in Newtons Physik (Newton war fromm, dennoch praktizierte er ei-

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Wie soll ein Atheismus messianisch sein? Nur weil Löwith selbst die Struktur des theologischen Denkens beibehält, erscheint ihm Marx’ „historischer Messianismus“ als (fern-)gesteuert vom „Geist des Prophetismus“: „Das kommunistische Manifest ist in erster Linie ein prophetisches Dokument“ (Löwith 1949, 46). „Die grundlegende Voraussetzung [!] des kommunistisches Manifestes [...] liegt [...] darin, dass die eine Klasse Kinder der Finsternis und die andere Klasse Kinder des Lichts sind“ (47).

Die theologistische Prämisse in Löwiths Denken178 ist so stark, dass er noch die Religionskritik von Marx in sein Narrativ einbaut (49 ff.), obwohl sie dies dementiert.179 Diese Sicht verhärtet sich darin, dass Löwith Marx’ Theorie von vornherein nicht als Wissenschaft zur Kenntnis nimmt.180 Darin ist Löwith Kind seiner Zeit: er übernimmt vom deutschen Bürgertum die typische Geringschätzung für westliche Politik und „westliche“ Wissenschaft. So wird Marx, für den das „Weltlich-Werden der Philosophie“ (MEW 40, 328) der Ausgangspunkt war, als spekulativer Theologe gelesen. Obwohl Löwith sich zeitlebens nur mit Marx’ Frühschriften beschäftigte, scheinen gerade deren Errungenschaften, die Religions- und Philosophiekritik, an ihm abgeperlt zu sein; wie an so vielen seiner Genen methodischen Atheismus, „etsi deus non daretur“, wie Grotius für das Naturrecht sagte) oder in Kants Ethik – auch wenn biographisch für Marx „der vornehmste Heilige ...im philosophischen Kalender“ Prometheus war (MEW 40, 263). 178 Obwohl Marx mit Bibelanspielungen nicht spart (eher um die Positionen der Gegner als absurd zu überführen als um die eigene anzupreisen, Buchbinder 1976), benutzt erst Löwith die Begriffe „Erbsünde“ (1949, 47), „letztes Gericht“ (46), Christus, Kreuz, Auferstehung und Erlösung (48; Löwith wechselt unbesehen vom Marx „rassisch“ zugehörigen Judentum ins Christliche). Bereits Nietzsche führte einen Kampf „gegen das latente Christentum (z.B. in der Musik, im Sozialismus)“ (1887, 1021; der Terminus „Mein Kampf“ fällt hier fünfmal). 179 Die Religionskritik, die Löwith äußert, ist sinngemäß – und überspitzt – die, dass Geschichtsdenken zu Marx führe und die jüdische Religion zum Geschichtsdenken, so dass es also vom bürgerlichen Standpunkt praktisch klüger sei, nicht religiös zu werden, jedenfalls nicht in der jüdisch-christlichen Variante. Das ist eine prudentielle Klugheitsregel mit katholisch-atheistischen Zügen (cf. Gross 2000, 155 ff; Faber 2001), aber noch keine theoretische Kritik. 180 „Der Marxismus gehört in den Zusammenhang der Kirchen- und Ketzergeschichte, nicht der Wissenschaftsgeschichte“ (Hofmann 1987, 12). Löwith betrachtet nur das Manifest (2.1.1, 2.4.6). Es sei „keineswegs [...] eine rein wissenschaftliche, auf empirische Fakten gegründete Analyse“ (1949, 46). Die Wissenschaft bei Marx sei „verkehrte Form“ (48; was nur zeigt, dass diese Lesart sie nicht unterbringen kann): „Es ist nicht möglich, die Vision der messianischen Berufung des Proletariats wissenschaftlich zu beweisen und Millionen von Anhängern durch eine bloße Feststellung [...] zu begeistern“ (49 f.). Das trifft Sorel und Gramsci und wurde auch Kautsky vorgeworfen (2.1.4, Fn. 72). Bezüglich Marx aber ist dies ein Hinweis, dass er eben aus diesem Grund nicht „messianisch“ gelesen werden kann. Löwith spürt, dass seine eschatologische Lesart nicht mit dem Textbefund übereinstimmt, doch projiziert er sein eigenes Problem auf Marx: „Marx’ Antwort auf diese Frage ist keineswegs überzeugend“ (49). Für Marx stellt sich diese Frage nicht. Zwar spielt Agitation im Manifest eine große Rolle, aber seine Endabsicht ist säkular.

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neration.181 Karl Löwith, der angetreten war, die Geschichtsphilosophie zu bekämpfen, hat eine neue Modewelle der Geschichtsphilosophie mit eingeleitet. Marx hatte über Dinge in der Geschichte gesprochen, und davon ausgehend heuristische Gesetzmäßigkeiten benannt. Er rief dazu auf, die sich bietende Möglichkeit einer anderen Wirtschaftsordnung zu nutzen. Geschichtsphilosophie aber lehnte er dezidiert ab.182 Löwith dagegen sagt nichts über geschichtliche Ereignisse, sondern löst deren Form (Geschichte) von ihrem Inhalt (geschichtliche Ereignisse) ab, um darüber im Medium der Auslegung von anderen Geschichtsphilosophien apriorische Betrachtungen anzustellen. Wie die Junghegelianer, deren Hagiograph er wurde, saß er im Fliegenglas des „Geistes“ fest und kam nicht heraus.183 Löwith ist somit noch eher als Theologe zu bezeichnen als Marx:184 Die politischen Kämpfe seiner Zeit waren Löwith, einem Sohn großbürgerlicher Eltern, fremd geblieben.185 Von den Erschütterungen seiner Zeit – die daran 181 Löwith liest Marx nicht nur als Propheten, sondern auch als Hegelschen Philosophen: „Das allgemeinste Prinzip von Marx ist dasjenige Hegels: die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit“ (53). Wenn irgendetwas in Marx’ Werk kontinuierlich ist, dann der Kampf gegen eben diese idealistische Hegelsche Voraussetzung (2.5.7). Doch für Löwith ist und bleibt Marx Philosoph („aber auch als ‚Materialist’ blieb Marx Philosoph“, 1949, 38; das erinnert an Horkheimer 1937, 59/GS 4, 219, cf. Fn. 73). Er nahm „die künftige Philosophie [!] vorweg“ (1949, 39). Außerdem habe er moralisch argumentiert (47) – was nicht recht zum gleichzeitig unterstellten Hegelianismus passen will, dafür aber eine noch heute beliebte Marxlesart tradiert (cf. Spengler 1923, 471 f.; Popper 1944 II, 243 ff.; Wildt 1997; siehe 3.1.4). 182 Marx wandte sich eindeutig gegen den „Universalschlüssel einer geschichtsphilosophischen Theorie“, „deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“ (MEW 19, 111 f., cf. MEW 13, 616; F. Jonas 1968 I, 217; siehe 2.1.4, Fn. 71; 2.4.5). Über seine „allgemeinsten Resultate“ (MEW 3, 27, cf. MEW 40, 467; MEW 13, 8) meinte er: „Diese Abstraktionen haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert. [...] Sie geben [...] keineswegs, wie die Philosophie, ein Rezept oder Schema, wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können“ (MEW 3, 27). Vgl. dazu Vollgraf 1996 und 1998, Behrens 1997. 183 Das philosophische Fliegenglas der Hegelianer (Fn. 152) führte noch bei Löwith (Fn. 196) zu einer Auffassung ähnlich der von Marx beschriebenen, dass „mein wahres religiöses Dasein mein religionsphilosophisches Dasein, mein wahres politisches Dasein mein rechtsphilosophisches Dasein, [...] mein wahres menschliches Dasein mein philosophisches Dasein [ist]. Ebenso ist die wahre Existenz von Religion, Staat, Natur, Kunst: die Religions-, Natur-, Staats-, Kunstphilosophie“ (MEW 40, 582). Geschichte und Geschichtsphilosophie wären in diese Liste zu ergänzen. Eine Brisanz hatten die deutschen Diskussionen über die Geschichte bereits durch die Unklarheit über den wissenschaftstheoretischen Status der Geschichtswissenschaften (Dilthey 1883, Rickert 1896). Doch die Frage der Gegebenheitsweise des Gegenstandes „Geschichte“ wird von Löwith, einem Husserlschüler, nicht gestellt. 184 Marx (MEW 3, 40) verspottete „die wichtige, neuerdings mehrfach behandelte Frage: wie man denn eigentlich ‚aus dem Gottesreich in das Menschenreich komme’, als ob dieses ‚Gottesreich’ je anderswo existiert habe als in der Einbildung und die gelahrten Herren nicht fortwährend […] in dem ‚Menschenreich’ lebten“. 185 Löwith verließ München 1919, weil ihm die Revolution „zu laut“ geworden war. Auch der Angriff der Japaner auf Pearl Harbour 1941 ließ den soeben von Japan in die USA Übergesiedelten kalt (Lutz 1999, 280 ff.).

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wahrlich nicht arm war – hielt er diejenigen des Geistes für die schwerwiegendsten: ihm und seinem Studienfreund Leo Strauß erschien der „Historismus“ als das Problem der Epoche. Zwar war Marx für die Entstehung dieses Paradigmas in der Geisteswissenschaft wichtig. Wie der junge Marx hatte sie sich von Hegels Geschichtskonstruktion ab- und der „wirklichen“ Geschichte zugewandt.186 Doch der an den deutschen Universitäten wirksame Historismus, also die auf Marx bereits reagierende Version, hatte die materialistische Relation der Theorie auf eine politökonomische Basis gestrichen und an dessen Stelle die irrationale Basis des „Lebens“ gesetzt (2.5.2). Dieser Nihilismus machte zwar die historische Relativierung der vormals für autonom gehaltenen „geistigen Gebilde“ mit, nicht aber deren Relationierung auf eine historisch stringent zu verfolgende Geschichte der Basis.187 Die Vergeisteswissenschaftlichung des Historismus bei Dilthey und Heidegger erblickte „Sinn“ erst innerhalb eines emphatisch „historischen“ Horizontes – innerhalb eines isoliert betrachteten Überbaus (2.5.2). Aus dieser Optik hatte Löwith den Eindruck, in dem steten Wechsel, den der Historismus konstatierte, ohne ihn erklären zu können, sei eigentlich kein „Sinn“ zu finden. Marxens Thematisierung geschichtlicher Ereignisse und künftiger Möglichkeiten las Löwith idealistisch als Metaphysik ‚der’ Geschichte – unter Ausblendung der Basis. Wenn aber, wie bei Löwith, innerhalb der Marx’schen Theorie die zentralen empirischen Momente, wenn die Reflexionen auf das Verhältnis dieser veränderten Form von Theorie sowohl zu ihrer kontemplativen Vorgängerin wie zur politischen Praxis, wenn schließlich der besondere Charakter politischer Rhetorik in einzelnen dieser in die Praxis eingelassenen Texte ignoriert, die einschlägigen Partien also ohne Beibringung ihres Kontextes zitiert werden, dann mag diese Theorie einer mythischen Geschichtsphilosophie ähneln.188 Diese entfernte Analogie auf der textualen Ebene – die niemand bestreiten wird, die aber als solche wenig besagt – wird allerdings nicht näher untersucht. Mit der formalen Entsprechung des eindimensional-philosophisch gelesenen Marxismus zu ausgewählten religiösen Mythen wird eine Abhängigkeit desselben zu jenen schlechterdings behauptet, ohne dafür noch Belege anzubringen.189 186 Löwith 1958; Lutz 1999, 279. Zur „Überwindung des Historismus“ Mannheim 1924, Schnädelbach 1974, 160 ff. 187 Zu Ranke, Droysen, Treitschke etc. Schnädelbach 1974. Troeltsch 1922 ist selbst noch Historist. „Die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhangs der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozess fließend, nichts bleibend“ (Dilthey, GS V, 9; vgl. Lukács 1954, 349). 188 Darum haben Schul- und einführende Lehrbücher, die Marx als Geschichtsphilosophen hinstellen, zunächst einmal recht; Einführungs- und Schulbücher müssen vereinfachen (cf. Ständeke 1981, Angehrn 1991, Schaefler 1991). Zur hinreichend philosophischen Erfassung Marxens reicht dies aber bei weitem nicht aus. 189 Gegen Ähnliches bei Toynbee (A Study of History II, 178) richtet sich Popper (1975 II, 312): „‚Die entschieden jüdische Inspiration des Marxismus […] ist die apokalyptische Vision einer gewaltsamen Revolution […] die wohlbekannten Züge der traditionellen jüdischen Apokalypse treten durch diese fadenscheinige Verkleidung hindurch zutage [...].’ Es ist nicht viel in dieser vortrefflichen Stelle enthalten,

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Eine andere Ebene als die textuale berücksichtigt Löwith nicht. Löwith unterstellt, wie schon Carl Schmitt (Fn. 172), einen Formwandel einer identischen Substanz. Gegen diesen Popanz einer marxistischen Geschichtsmetaphysik will Löwith nun jegliche Sinnerwartung von der Geschichte abziehen.190 Er weist jede Aussage über sie ab, die über die Konstatierung eines „Zufalls“ hinausgeht.191 Gegenüber seinem „Auszug aus der Geschichte“ in die Natur192 verschmelzen alle Theorien, die irgend von Geschichte handeln – antike Historiographie, jüdische Prophetie, mittelalterliche mythische Heilsgeschichten, die Geschichtsschreibung der Aufklärung, ihre Radikalisierung im historischen Materialismus sowie die wenigen Entwürfe zu einer „Universalgeschichte“ (Herder, Condorcet, Hegel) – zu einem erratischen Block. Dadurch gerät Löwith die Realität aus dem Blick.193 Seine verüberallgemeinernde Denkart verstellt Löwith die Sicht auf seine Gegner: Einst kritisierte er den theologisierenden Dezisionismus der deutschen Zwischenkriegsphilosophie.194 Doch wenn er meint, in Marx die Wurzel dieses Denkens getroffen zu haben, so übersieht er, dass dieser bereits von jenem getroffen werden sollte (2.5.2). Löwith gerät damit in eine Zweideutigkeit: er ist gegen Marx und dessen konservativ-revolutionäre Gegner zugleich. Indem er sie nicht mehr angemessen unterscheiden kann, ist seine eigene Position kaum dingfest zu machen. Sie ist damit genauso „pseudokonkret“, wie es Anders 1947 dem gemeinsamen Lehrer Heidegger vorwarf. In einer solchen Zweideutigkeit war schon Löwiths Vorbild Jacob Burckhardt stecken geblieben: gegen die Geschichtsphilosophie eingestellt, vertritt er doch

womit ich nicht übereinstimmen würde – solange man nicht glaubt, dass hier mehr vorliegt als eine interessante Analogie. Aber wenn man glaubt, dass eine ernsthafte Analyse gegeben worden ist …, dann muss ich Einspruch erheben“. 190 Dramaturgisch ist der Gipfel der Geschichtsmetaphysik, direkt vor dem rettenden Burckhart, die Marx’sche (1949, 38 ff.). Vom Sozialismus und Faschismus in Löwiths drei Heimaten Deutschland, Italien und Japan ist keine Rede. 191 Löwith fragt: „denn ist die Geschichte nicht etwas völlig Zufälliges, verglichen mit der ewigen Bewegung der Himmelskörper und ihrer kosmischen Notwendigkeit?“ (1949, 197). Auch Natur hat eine Geschichte. Marx bezog sich neben Darwin auf die geologische Formationstheorie von P. Trémaux (cf. Irrlitz in Fleischer 1994, 113). Löwith übernimmt den Gegensatz von Natur und Geschichte von Feuerbach, den bereits Marx kritisiert hatte (MEW 3, 39, 43; cf. Löwith 1941). Die Forderung, keine Sinnerwartung in die Geschichte hineinzutragen („Enttäuschungen gibt es nur, wo etwas erwartet wird“; Löwith 1949, 13), kann nur meinen, keine Werturteile in die Beschreibung des Geschehens zu mengen, nicht aber, geschichtliche Prozesse gar nicht mehr zu betrachten. Doch selbst die „profangeschichtliche Methode Voltaires“, die erste „wissenschaftliche Theorie der ‚wirklichen’ Geschichte“, lehnt Löwith ab (1949, 11). Gleicht das nicht einer Absage an jede „Geschichte“ zugunsten eines melancholischen amor fati, das sich um Einzelheiten nicht kümmern will? 192 Vgl. Bolz 1989. Wenn es in der Geschichtsphilosophie je ein Theologoumenon gab, dann ist es dieser Exodus, das verheißene Ende (Niethammer 1989, Meyer 1993). 193 „Mit Marx verglichen, ist Hegels Philosophie realistisch“ (Löwith 1949, 54). 194 Löwith 1935. Nach 1945 blieb er ein Kritiker Heideggers (Löwith 1953, 1986).

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selbst eine solche, nur eben eine andere.195 Sich prinzipiell gegen die Religion erklärend, verklärt Löwith sie am Ende selbst – wie schon Nietzsche oder der „religiöse Sozialismus“.196 Aus dem Fliegenglas des Geistes ist kein Entkommen, wenn der Primat des Geistes schon in den Ausgangsvoraussetzungen steckt: Wenn die historischen Katastrophen, die den unausgesprochenen Hintergrund der Erörterungen Löwiths bilden, nur als Ausflüsse eines Glaubens gelten, dann kann nur ein anderer Glaube abhelfen (oder eine andere, skeptische Philosophie, wie Odo Marquard vorschlug).197 Löwith bemühte sich folglich um ein „anderes Denken“ – wie sein Lehrer Heidegger, nur in einer bescheideneren Variante. Wohl aufgrund seines reingeistigen Blickwinkels übersah Löwith, dass ihn seine Lösungsversuche gerade wieder in Marx’ Nähe brachten: angefangen mit der epikureischen Grundhaltung, waren seine Entwürfe zur Anthropologie wie seine Forderung nach einer „wissenschaftlichen Behandlungsart“ der Geschichte (nach Maßgabe der antiken Schriftsteller; 1949, 16) bereits von Marx vorweggenommen und durchgeführt worden.198 Allerdings war Marx dadurch aus der reinen Philosophie – und damit aus dem Gesichtkreis Löwiths – hinweggeführt worden. Das Säkularisierungsnarrativ wurde nun von vielen Autoren geteilt, die sich lediglich in der Bewertung dieses Narrativs unterschieden: plädierte Löwith für eine heidnisch-antike Eliminierung der Geschichte199 und gegen den überall unterschobenen „jüdischen Messianismus“, so Taubes für Letzteren. Behauptete 195 Der „dünne Faden bloßer Kontinuität“ bei Burckhardt (Löwith 1949, 32) kann selbst geschichtsphilosophisch, ja theologisch interpretiert werden – als Position die der Gegenreformation. Ihr ging es darum, den „Ausnahmezustand“ weltlicher Veränderungen auszuschließen (2.6.7). Löwith ignoriert diesen, obwohl er längst da war: „Sollte wirklich eine radikale Krise die Kontinuität unserer Geschichte sprengen, so würde dies ihr Ende sein“ (1949, 28). Von einer solchen Krise war damals pausenlos die Rede (2.5.2, Fn. 89). Auch übernahm Löwith 1936a Nietzsches hochgradig geschichtsphilosophische „ewige Wiederkehr des Gleichen“. 196 Wie Jacob Burckhardt den Asketismus des frühen Christentums lobte und sich eine Rettung vor der „allgemeinen Unruhe“ nur durch diese vorstellen konnte (Burckhardt 1910, 207; vgl. Löwith 1936b; Martin 1947), so kam Löwith zu einer Naturverehrung, die stoische Züge trug (Habermas 1991, 195 ff.). Löwiths Schlusswort lautet: „Der neuzeitliche Geist ist unentschieden, ob er heidnisch oder christlich sein soll [...] Daher ist seine Sicht notwendigerweise trübe, verglichen mit dem entweder griechischen oder biblischen Denken“ (1949, 189). Die Option für ein radikales Christentum ist offen gelassen. Ein eigenes Denken in Neuzeit und Moderne anerkennt Löwith dezidiert nicht. Er ist gefangen im „Geist“, die klassische Bildung hat ihn der sozialen Realität entfremdet (vgl. Cancik 2000 zu Nietzsche). 197 Löwith 1950 unterstellt einen neuzeitlichen „Glauben“ an die Wissenschaft und die Geschichte. Auch der Kommunismus war für Löwith vor allem ein „Glaube“ (1949, 49). Damit argumentiert Löwith eben „theologisch“. 198 Eine Anthropologie entwarf Löwith in seiner Habilitation (1928) und späteren Schriften, wo die „Natur“ eine prominente Rolle spielt. Auf diese Weise ließ sich Marx allerdings schlecht aushebeln (Fn. 191; cf. 2.1.4, Fn. 74). 199 Schon hierin liegt ein hermeneutisches Defizit, weil sich „die Antike“ so nicht zurechtstellen lässt. Auch sie hat Geschichtsschreibung wie Geschichtsspekulation gekannt, sogar Forschrittsdenken hat es gegeben (Cancik 1983).

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Carl Schmitt, die Übertragung theologischer Kategorien in die Politik werde erst dann unrechtmäßig, wenn die Theologie der Herrschaft ausgetrieben sei (oder eine Theologie der Freiheit sich erdreiste, sie zu nutzen),200 so entgegnete Hans Blumenberg (1966), die „Selbstbehauptung“ der Neuzeit sei eine durchaus legitime gewesen. Eine weitere Variante dieses Narrativs war die Unterstellung eines gnostischen Dispositivs bei Marx, welche entweder zu einer Verurteilung Marxens aus christlicher Sicht führte – die zwar eine religiöse, aber nur eine christkatholische Politik dulden wollte (Voegelin 1959); oder zu einer Verurteilung aus kritisch-rationalistischer Sicht, die gar keine Vermengung der Religion mit der Politik duldete (Topitsch 1961). Schon diese Fülle unterschiedlicher religiöser Aufladungen des Marxismus zeigt ihre Unschärfe. Blumenberg ragt insofern aus diesen polemischen Schriften heraus, als er die allreligiöse Voreingenommenheit gerade vermeiden will. Doch auch er sah die Kontinuität in diesem Bruch rein geistesgeschichtlich: es sei in den Epochenbrüchen um „große Fragen“ und die Unmöglichkeit ihrer Beantwortung gegangen, die schließlich in der Neuzeit besser beantwortet wurden.201 Die einzige Perspektive ist die von Texten, die sich wieder auf andere Texte beziehen und so fort. Der synchrone Realitätsbezug der Texte oder die Realität hinter den Texten wird nicht berührt.202 Marx wird also auch von den Geschichtsphilosophen zu einem Theologen gemacht. Doch ist es kein Zeichen eines vertieften Religionsverständnisses, wenn man überall Religion erspäht.203 Das tat Marx weniger als seine geschichtsphilosophischen Kritiker. 200 Schmitt hieß eine solche Übertragung solange gut, wie die gegenreformatorische Theologie sich damit „theologisch“ rechtfertigen ließen – unter Missachtung des konfessionellen Neutralitätsprinzips von Bodin, wie sie schon Hobbes praktizierte (Kriele 1994, 55, 96 ff., 105). Er wandte sich gegen protestantisch-profane politische Veränderungen im Liberalismus und gegen jüdisch-messianische im Marxismus, nicht aber gegen die katholische Idee eines universalen, „ordnenden“ Reiches. Schmitt war politischer Konfessionalist. 1934 rechtfertigte er das neue „Reich“ trinitarisch (als Staat, Bewegung, Volk). Marx benutzt theologische Begriffe zur Karikatur der Politik, Schmitt zu ihrer Sakralisierung. 201 Eine ausgeführte Kritik (cf. Faber 1984) müsste vor allem die Lutherdeutung problematisieren: Blumenberg (1966) suggeriert, Ockhams nominalistische Verjenseitigung Gottes und Luthers Prädestinationslehre hätten Gott in eine Ferne gerückt, die einen weltlichen Neuanfang erzwungen hätte. Durch diese Reduzierung der Geschichte auf Religionsgeschichte entgeht Blumenberg der doppelte Freiheitsgewinn dieser Operation: individuell wurde eine personale Gottesbeziehung so gerade erst eröffnet, nicht entstellt, und politisch war so der bedrückenden und repressiven „politischen Theologie“ von Mittelalter und Gegenreformation der Boden entzogen. Wenn ein weltlicher Neuanfang provoziert wurde, dann durch die verfehlte politische Inanspruchnahme Gottes (2.6.7), nicht durch seine Ferne. 202 Leo Strauß hatte den Mut, dies gutzuheißen und sich als Platoniker zu bezeichnen (Lutz 1999, 428; s.u., Fn. 209). 203 Mit Bonhoeffer lässt sich entgegenhalten: Wer weiß, wie es in der Religion zugeht und wo der angemessene Ort dafür ist, der wird nicht in jeder Kleinigkeit einen Beleg für mögliche „religiöse Voraussetzungen“ sehen, nicht alles vermengen müssen. Gerade weil Gott groß ist, ist er in religiösem Verständnis nicht auf die Welt angewiesen; weil er gut ist, lässt er den Menschen die Freiheit, sich um ihre Belan-

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Dessen ungeachtet wurde der Titel „Geschichtsphilosophie“ ablehnend wie zustimmend als eine Chiffre für „Marxismus“ gebraucht, von den 1890er Jahren bis heute.204 Die Geschichtsphilosophie hat in manchen geschichtsmächtigen Varianten des Marxismus tatsächlich eine Rolle gespielt, doch sie war schon dort kompensatorisch: so im orthodoxen Marxismus Kautskys (2.1.4) und Lenins (2.2.6), ähnlich in der Frankfurter Schule (2.6.2); jeweils zumindest auch, um das erstrebte „Endziel“ mit der ihm zuwiderlaufenden Taktik oder Forschungsweise zu „versöhnen“. Die philosophischen Debatten um die Geschichtsphilosophie hatten einen doppelt verschobenen Charakter: in ihnen wurde stellvertretend der Marxismus verhandelt, welcher in seiner Geschichtsphilosophie jedoch selbst nur in Form einer Ausflucht gegenüber Einwänden vorhanden war.205 Ein verwandtes Feld solch stellvertretender Auseinandersetzung war die Debatte um Mythos und Wissenschaft in der Marx’schen Theorie. Dieses Thema hatte den Vorteil, dass es im Marxismus selbst umstritten war.206 Unverkennbar ist auch hier eine geschichtsphilosophische Schlagsseite. Popper eröffnete diese Auseinandersetzung für die Nachkriegszeit. Er wies Marx als unwissenschaftlich zurück, nicht aber wegen seiner Ökonomie, sondern wegen seines „Historizismus“, seiner „deterministischen Geschichtsphilosophie“ (1944 II, 197; 1957). Er übernahm damit die Einteilung des Marx’schen Werkes in einen einzelwissenschaftlichen und einen mythisierenden Teil, die schon Bernstein und Sorel vorgenommen hatten. Allerdings waren sich Philosophie wie Geistes- und Sozialwissenschaften je für sich, untereinander und zudem gegenüber den Naturwissenschaften über ihre spezifische Wissenschaftlichkeit selten einig.207

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ge selbst zu kümmern (Kraus 1982, Link 1999). „Die Welt ist heute weltlich geworden“ (Metz 1968, 1). Ein Zeitungsartikel lobt: es „begreifen auch katholische Theologen allmählich, dass Säkularisierung, Entflechtung von Hoheitsansprüchen und Religion, dem Kern der christlichen Botschaft durchaus entspricht“ (Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung, 21.12.2002, cf. Steinbüchel 1950). Dennoch tritt Kulturkritik noch immer gern als Religionskritik auf (Luckmann 1963, Jacob 1996). Die Synonymisierung zieht sich von P. Barth 1897 über Freyer 1930 und O. Marquard 1973 bis zu Rohbeck 2000 (2.4.4, Fn. 67). Es gab auch Marxisten, die dies affirmierten, so Conrad Schmidt oder die Frankfurter Schule (Horkheimer 1930, Schmidt 1976, Lutz-Bachmann 1988, Bolz 1989, Bialas 1994, Wegerich 1994, Behrens 1996, Herrmann 2000). Zur russischen Geschichtsspekulation (Dostojewski, Solowjew, Berdjajew) cf. Meyer 1993, 70 ff.; Groys 1996. Die Wende zur Geschichtsphilosophie kann in allen drei Fällen als abstrahierende Ausflucht gegenüber der Aufforderung verstanden werden, eine sachliche Berechtigung der eigenen Ansprüche beizubringen. Eine solche direkte oder indirekte Aufforderung hatte Kautsky durch Bernstein, Lenin durch die „Ökonomisten“ und Horkheimer durch Mannheim erfahren (in Form einer Problematisierung der vorausgesetzten Wirklichkeit, cf. 2.6.1). Siehe etwa Wetter 1958, Topitsch 1961, Zeleny 1968, Negt 1969, A. Schmidt 1970, Tomberg 1973, Büsser 1974, Reichelt 1974, Szczesny 1975, Kittsteiner 1977, Callinicos 1983, Sandkühler 1983, Sheehan 1985, Kitching 1994. Siehe dazu u.a. Apel 1979, Mittelstrass 1979, Oelmüller 1988, Plümacher 1996.

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Der scheinbar schwerwiegende Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“ war daher recht beliebig auffüllbar. Wetter 1952 warf sie Marx vor, weil er die Gottesbeweise nicht akzeptierte. Popper bescheinigte sie Marx, weil er Platon so nah war, Leo Strauß, weil er ihm so fern war.208 Der Vorwurf der „Mythisierung“ findet sich nun auch bei den Theologen. Heinz-Horst Schrey etwa (1954, 145) erörtert die Wissenschaftlichkeit in Bezug auf die Geschichte: „Wir sind der Ansicht, dass es sich bei Marx nicht um ein aus wissenschaftlicher Objektivität stammendes Verhältnis zur Geschichte handelt, sondern um eine im Dienst der sozialen Heilslehre stehende Mythologie, für die der wissenschaftliche Begründungszusammenhang zwar subjektiv notwendig [?], aber keineswegs konstitutiv ist.“

Der mythisierende Marxismus von Sorel hatte die Geschichtsbetrachtungen von Marx gerade nicht als Mythos, sondern als Wissenschaft betrachtet (1908, 92, 158, 163). Sorel stellte ihnen den Mythos des Generalstreiks gegenüber, der den proletarischen Massen ihre eigene Stärke versinnbildlichen sollte (1908, 163 ff.). Dazu bediente er sich einer bewussten Entintellektualisierung und offenen Anpreisung der Gewalt.209 Dies war sehr wohl als Mythisierung zu kritisieren.210 Die Fixierung des Mythos-Vorwurfs gerade auf die Geschichte muss dagegen als spezifisch deutsche Variante gelten, die wohl deshalb so brisant wurde, weil man hier ohnehin Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie hatte.211 Eben diese wurden nun in den Marxismus hineingesehen. Denn wie begründet Schrey seine „Ansicht“, Marx mythisiere ‚die’ Geschichte? „Ginge es um objektive Wahrheit bei Marx, so müsste ihn die Frage leiten: was kann man aus der Geschichte lernen? Ihn leitet dagegen eine [...] Vorstellung vom Endziel“ (1954, 146). Obwohl historische Objektivität eingefordert wird, setzt die Diskussion um Marx an einem historischen Abschnitt an, in welchem es bereits zu schwerwiegenden Verzerrungen gekommen war – an Bernsteins Diskussion des „Endziels“ (2.1.2). Schreys Sichtweise trennt zwischen zwei Hälften des Marxismus, von denen die eine wissenschaftlich triftig, aber belanglos, die andere politisch wirksam, aber irrational sei.212 So konnte man den Marxismus politisch kritisieren, ohne auf die wissenschaftlichen Gehalte weiter eingehen zu müssen. Der unübersehbare Hintergrund solcher Einlassungen ist der kalte Krieg. 208 Vgl. Strauß 1956, 1975 (Gawoll 1989, 126). Als Verfechter des Fortschritts sei Marx zwar das Gegenstück zu Platon als dem Verfechter der Veränderungslosigkeit (stasis), er teile aber mit jenem über Aristoteles und Hegel Züge wie den „Essentialismus“ (Popper 1944 II, 213) oder die Feindschaft zur „offenen Gesellschaft“. 209 Zu Sorel siehe Lichtheim in Sorel 1908; Freund 1932, H. Barth 1959. 210 Vgl. im Ansatz Lukacs 1933, König 1937. Für den frühen Lukács und für König war Sorel wichtiger als Marx (Lukács 1967, 12; König 1980, 101, vgl. 4.4, Fn. 38). 211 Sowohl die Realgeschichte wie auch die methodischen Grundlagen ihrer theoretischen Betrachtung bereiteten in Deutschland Probleme: man denke an die Debatten über den Status der Geschichtswissenschaft seit Droysen, Windelband, Rickert und Dilthey (Rickert 1896, Theodor Lessing 1919, Koselleck 1977; 2.5.2). 212 Die unterstellte Mythologie ähnelt der Theologie der Revolution, Tillichs kairoshaftem „Jetzt“ (Schrey 1954, 150).

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Die kommunistische Herrschaftsikonographie praktizierte tatsächlich eine politische Mythologie.213 Zwar hätte man den Sowjetkommunismus auch direkt angreifen können, ohne den Umweg über Marx. Erst die Vermengung aber gewährleistet diese Kritik des Sowjetkommunismus im Gewande einer Marxkritik.214 Vielleicht wollte man auf diese Weise diplomatisch sein. Erneut aber wurden Theorie und Realität einander so stark angenähert. Adressat der entmythologisierenden Kampfschriften war auch bei bei Ernst Topitsch weniger Marx als vielmehr Sowjetrussland. 1941 Teilnehmer des deutschen Vernichtungsfeldzuges gegen Russland, beendete er seine philosophische Karriere mit einem antirussischen Pamphlet, das auch seine früheren Einlassungen zu Marx fragwürdig macht.215 Topitsch sah in Marx eine religiös verbrämte und machtgierige Person, die mit Hilfe einer Mythologie „Kaiser“, ja „Gott“ habe werden wollen. Er habe sich als „Erlöser“ (Topitsch 1975, 18) in den Mittelpunkt seiner apriorischen Konstruktion der Weltgeschichte gestellt. Die Wissenschaft habe ihm lediglich dazu gedient, nach den Enttäuschungen von 1848 seinen naiv-optimistischen „Glauben“ zu bewahren.216 Als Wissenschaft begreift Topitsch einzig die zu Geschichtsgesetzen hochstilisierte Selbstlegitimierung stalinistischer Machthaber, die Geschichtsphilosophie des „dialektischen Materialismus“ (Poppers „Historizismus“). Das projiziert den Stalinismus auf Marx. Der Effekt einer solchen Projektion ist aus drei Gründen misslich: Weder werden die politischen Verhältnisse im Realsozialismus damit wirklich getroffen, weil über sie nur stellvertretend verhandelt wird, noch wird sie Marx gerecht, da er von vornherein in ein Raster gepresst wird, das ihn als Gründer des Stalinismus hinstellt (es gibt kaum eingehende Textexegesen), noch finden sich Reflexionen auf den Mythosbegriff, obwohl dieser im 20. Jahrhundert Gegenstand eingehender Betrachtung geworden ist.217 Der diffuse Vorwurf der „Mythologie“ er213 Zur Ästhetik des „Totalitarismus“ siehe Damus 1981, Groys 1988 oder Tabor 1994. 214 Die mythologisierende Autodepotenzierung des Marxismus, etwa im „Proletkult“ (Gorsen 1981, 83 ff.), regte die Rückverlängerung dieses Angriffs auf Marx an (cf. Fn. 20; 2.1.4, Fn. 66; 2.2.4, Fn. 59; 2.4.2, Fn. 41). 215 Topitsch 1985 meint, dass „der ganze Krieg in seinem politischen Kern ein Angriff der Sowjetunion gegen die westlichen Demokratien war, bei dem Deutschland und Japan dem Kreml nur als militärische Werkzeuge dienten“, dass man „dem Opfergang des deutschen Soldaten auch einiges verdankt“ u.ä. (nach Kahl 1999, 426 ff.). Topitsch 1990 dagegen holt wieder Thesen aus Topitsch 1958 hervor. 216 Topitsch charakterisiert Marxens Person: „als beherrschendes Motiv ein nachgerade cäsarischer Machtwille, verbunden mit einem messianischen Sendungsbewusstsein, unbändigen destruktiven Gelüsten und einer unverkennbaren Tendenz zur Selbst-vergottung [...] So hat Marx [...] eine Ideologie geschaffen, die es [...] ermöglicht, unter dem Deckmantel der Befreiung [...] nach totaler Macht und Herrschaft zu greifen“ (1975, 13); sein großes Idol sei Napoleon gewesen. Ähnliche Ausfälle ad personam gibt es bei Schwarzschild 1954, Künzli 1966, Pilgrim 1990, Löw 1996 und Bild Dresden („Marx & Co: so waren sie wirklich“, 14. 11. 2002). 217 Vgl. u.a. Cassirer 1923, Bohrer 1983, Frank 1988. Die Dechiffrierung biblischer Mythen bei Bultmann und in der Psychoanalyse nimmt keine Säuberung eines rationellen Kerns von einer mystischen Hülle vor, sondern eine existenziale Ausle-

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laubte es gerade wegen diese Diffusität, den Marx noch verhafteten Begriff der „Ideologie“ zu vermeiden218 und das Problem Marx dadurch aus der Welt schaffen, dass er diskreditiert und auf diese Weise am besten gar nicht mehr gelesen würde.219 Diese Technik wurde auch gegen die Studentenbewegung angewandt, als der Marxismus nicht mehr nur als vergangene oder als erzwungene Gestalt des Geistes von jenseits der bundesdeutschen Grenze von Interesse war.220 Allerdings erklärt der kalte Krieg die anhaltende Popularität der Geschichtsphilosophie in Deutschland nach 1945 nur halb. Es gab weitere Gründe: Die Frage nach dem Sinn von Geschichte war in Deutschland nach dem erneut verlorenen Krieg, in welchem man sich zu ungeheuerlichen Greueltaten hatte hinreißen lassen, schmerzlich aufgerissen.221 Das lag nicht zuletzt daran, dass die Nationalsozialisten die deutsche Geschichte mit viel Aufwand nach rückwärts stilisiert hatten, für die Zukunft ein „Tausendjähriges Reich“ versprachen und in der Gegenwart (unter dem „größten Feldherrn aller Zeiten“) alle historischen Bezüge sprengten. Musste man nicht fragen, was der weltliche Aufstieg nutzte, den Deutschland nach 1871 und 1933 erlebt hatte, wenn im nächsten Moment wieder alles – und noch weit mehr – verloren war? Es gab ein Interesse daran, solche Fragen möglichst philosophisch zu halten (eine Flucht in die Abstraktion), denn mit solchen Verallgemeinerungen konnte vom Schlimmsten abgelenkt werden. Man fragte nicht: Was genau ist geschehen? Wer hat das zu verantworten? Wie war das möglich? Dies wurde als Nestbeschmutzung empfunden. Man fragte nach dem Sinn des Ganzen, unabhängig von den Einzelheiten. „Die Frage nach dem Wesen der Geschichte kümmert sich nicht um einzelne Ereignisse in der Geschichte“ (Taubes 1947, 3).222

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gung, die den Mythen selbst einen rationalen Sinn abgewinnt (selbst bei der Gnosis, die Voegelin 1959 und Topitsch 1961 Marx vorwarfen; siehe H. Jonas 1964). Der Mythos kann ein reflektiertes Erzählmittel sein. Eine direkte Kritik des Sowjetkommunismus konnte sich affirmativ auf Marx beziehen – gängig war etwa die Kritik, es gäbe im Realsozialismus eine neue Klassengesellschaft (vgl. Cliff 1955, Marcuse 1958, Leonhard 1962, Hillmann 1966 und 1967, siehe 2.2.3, Fn. 40; parallel Nolte 1977, 86 ff. zur Studentenbewegung). Cf. Tucker 1963, Albert 1964, Topitsch 1969, Senge 1985, Thomas 1993, Khella 1995, Löw 1996, Kelpanides 1999. Helmut Kohl sagte 1998 in einer Fernsehshow, er habe nicht eine Zeile des Kapitals gelesen (cf. 3.4.3, Fn. 45). Ralf Dahrendorf, dessen Vater im sozialdemokratischen Widerstand war, verstörte nicht die Auseinandersetzung mit den Nazi-Vätern, sondern die Abqualifizierung der bestehenden Institution Universität, die für seine Generation die Erfüllung eines großen Traumes bedeutete (Der Spiegel, 2. 6. 2001). Um ihrer wegen war die Niederlage so bitter: als Sieger hätte man darüber hinweggehen können, als Verlierer war man doppelt gedemütigt: einmal durch die Niederlage, und zusätzlich durch die Konfrontation der eigenen Schuld. Verallgemeinert wurde mit dieser Frage nicht nur ihr Gegenstand, sondern auch das fragende Subjekt: nicht Einzelne befragten sich gegenseitig, sondern „man“ fragte – und zwar ins Leere. Bei dieser Übung kam man recht schadlos davon. Ein Artikel wollte gerade hierin eine Permanenz der Mentalität der „Volksgemeinschaft“ erblicken („Deutsche Lebenslügen“, Die Zeit, 3. 10. 2000; vgl. Koenen 2001, 13 ff.).

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Die Debatten um die Geschichtsphilosophie hatten den Vorteil, dass sie durch ihre religiöse Aufladung und Unentscheidbarkeit, sowie durch das Oszillieren des Verhältnisses der Geschichtsphilosophie zur „Eschatologie“ (Fn. 173) endlos diskutierbar waren, ohne dass man über diese Frage hinaus kam. Es gibt eben Fragen, deren Sinn darin besteht, nicht beantwortet zu werden. Doch stellt man die Frage anders, sind selbst sie zu lösen. Ein vielversprechender, wenn auch oft ausgeschlagener Weg dorthin ist Marx’ „Umstülpung“ der Frage in die, wie es kommt, dass etwas überhaupt als philosophisch oder gar als religiös erscheint (Fn. 97). Der Fundus der Philosophie wird dadurch radikal verschlankt, da sich viele ihrer Fragen lösen, indem sie anders beantwortbar werden. Dies lässt sich durchaus positiv, als Purifizierung der Philosophie begreifen, denn es bleiben, anders als Engels meinte (MEW 20, 24; MEW 3, 27), genügend philosophische Fragen übrig.223 Dies wäre eine Kritik im Ursinne des Wortes: Trennung.

Trennung von Religion und Politik „Silete Theologi in munere alieno!“ (Alberico Gentili)

In dem „Dialog“ zwischen Christentum und Marxismus, der sich in den 1960er Jahren entwickelte, und den versteiften Fronten beider Seiten, die allein schon den Dialog beargwöhnten, machte sich ein Dilemma bemerkbar: Der Marxismus konnte den Christen und allen sich ihnen nähernden Marxisten vorwerfen, dass ihre Frömmigkeit eine weltlose sei und zwar vom Guten rede, sich aber nicht daran begebe, es auch zu tun, ja dies von der Theologie gerade verhindert werde. Die Christen hielten dagegen, dass der Marxismus und alle sich ihm nähernden Christen eine religiös unhaltbare Verschmelzung von Irdischen und Göttlichem vornähmen, wodurch das Weltliche über Gebühr sakralisiert werde. Die Alternative bestand scheinbar zwischen völlig weltlosem Christentum und restloser Heiligung des Erdenlebens. Denen, die sich dazwischen bewegten, konnte wahlweise das eine oder das andere vorgeworfen werden.224 Und in der Tat hatten politischtheologische Autoren oft zwischen widersprüchlichen Aussagen geschwankt.225 223 Die Freiheit des Willens kann neurologisch ebenso wenig widerlegt werden wie Gott durch die Astronomie; die Biologie kann kein „gutes Leben“ bestimmen etc. 224 Garaudy, der in der Paulusgesellschaft mit den Theologen Rahner und Metz diskutiert hatte, wurde aus seiner Partei, der KPF, ausgeschlossen (später wurde er Moslem). Rom belegte den Befreiungstheologen Gutierrez noch 1985 mit einem einjährigen Bußschweigen (auf Betreiben Ratzingers; Thomas 1993, 193 ff.). 225 „Aus dieser Doppelheit der Dimensionen in der Reich-Gottes-Idee folgt das Ja und Nein in allen Urteilen über künftige Geschichte“ (Tillich 1962, 148). Zwar könne „der Kampf um eine neue soziale Ordnung nicht zu einer Erfüllung im Sinne des Reiches Gottes führen“ (1962, 55); aber: „dass aber in einer bestimmten Zeit bestimmte Aufgaben gestellt sind, ein bestimmter Aspekt des Reiches Gottes sich zeigt als Forderung und Erwartung“. Das heißt: nein, aber ja. Die Verbindung wird durch Phrasen hergestellt. „Theonomie ist nicht Erfüllung, aber [?] sie ist das innergeschichtliche Abbild der Erfüllung“ (149). „Das Reich Gottes bleibt immer

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Doch einige Theologen hatten eine differenziertere Sichtweise entwickelt; so Karl Barth, das Haupt der dialektischen Theologie. Ähnlich wie Tillich versuchte Barth, eine theologische Brücke zwischen Religion und Sozialismus zu schlagen.226 Ein Dissens zwischen Barth und Tillich ergab sich daraus, dass die Theologisierung des Sozialismus bei Tillich von der Kultur ausging (Fn. 161), während Barth den Sozialismus umgekehrt deswegen theologisierte, weil dieser die Welt überwand – eine „Revolution Gottes“ („Jesus ist die soziale Bewegung“).227 Barth neigte dem Sozialismus zu, weil ihn die Bibel darauf hinstieß, Tillich sah im Sozialismus selbst sakrale Elemente – für Barth eine Unmöglichkeit. Er hatte bereits an Kutter und den Religiös-Sozialen die religiöse Aufladung der Sozialdemokratie abgelehnt.228 Sozialismus sei zwar gottgewollt, aber nicht selbst das „Reich Gottes“, sondern nur dessen „Spiegelung“, sein „Gleichnis“.229 Der 2. Römerbriefkommentar warnte innerhalb derer, die wie Barth sahen, dass ein Christ Sozialist sein müsse, vor „unverschämten Identifikationen“.230 Theologisierte Tillich den Sozialismus von der Welt her, so Barth von Gott. In beiden Fällen drohte er theologisiert zu werden. Barth allerdings gestand ihm konsequent zu, dass er die Welt als Welt betrachtete (Tillich sprach zwar davon, hielt es aber nicht durch). Er sprang theologisch erst auf den Zug der politischen Praxis auf. Man kann diesen Gedanken sinngemäß so wiedergeben: Welt und Gott sind radikal zu trennen, ein Reich Gottes auf Erden ist von Menschenhand nicht zu erbauen. Dennoch fordert der biblische Gott schon auf Erden Gerechtigkeit ein und stellt eindeutige Bedingungen für den Einlass in sein Reich.

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jenseitig; aber [?] es erscheint als Gericht einer gegebenen und als Norm einer kommenden Gesellschaftsform“ (56). Was ist mit „nein, aber“ gemeint, wenn nicht „ja“? (Mat 5, 37; Kor 1, 17 f.; Jac 5, 12). Tillich vertritt die Neutralität der Welt (GW VII, 133 ff.), hält aber gerade sie für protestantisch (cf. Stahl 1853). Siehe Gollwitzer 1972, Marquard 1972, Schellong 1985. Dagegen sparen E. Busch 1998 und Pfleiderer 2000 dies eher aus. Barth 1951 (KD III/4), mündlich 1918 (nach Gollwitzer 1972, 14, 7; cf. Fn. 153). Tillich (GW VII, 216 ff.) warf 1923 Barth vor, die Krise sei ihm nicht mehr Durchgang, sondern werde selbst zum Absoluten; er vermisste das Positive. Dies sah bei Barth bei Tillich im Überfluss vorhanden: eine „breite Glaubens- und Offenbarungswalze“ gehe über alles hin und verwische jede Grenze (Zahrnt 1966, 34, 410; F. Marquard 1972, 42, 257; Pangritz 1996, 57 ff.). Dieser Dissens verhinderte eine von beiden Schulhäuptern gewollte gemeinsame Aktionsbasis. Schon Barths Tambacher Vortrag von 1919, den er in Vertretung von Ragaz hielt (obgleich er ihn im Vortrag ablehnte), bewirkte unnötige Irritationen (Ewald 1977, Einleitung). Barth in Safenwill (Gollwitzer 1972, 19) und 1947 (Christengemeinde, a.a.O., 21). „Es ist etwas anderes, ob wir die Identität von Reich Gottes und Sozialismus erkennen, oder ob wir unseren Sozialismus [...] mit dem Reich Gottes identifizieren. Im ersten Fall folgen wir der Bewegung des Evangeliums ...; im zweiten Fall bedienen wir uns Gottes für unsere Zwecke“ (Gollwitzer 1972, 9 f.). F. Marquard 1972 zeigt die bei Barth gleichwohl vorausgesetzte Option für den Sozialismus. Die Formel des 1. Römerbriefes: „sozialdemokratisch, aber nicht religiös-sozial“ (Barth 1919, 390) legt Gollwitzer so aus: „keine Erhöhung unserer Gehorsamsversuche zur Religion, zur Heilslehre; denn ‚Religion ist Unglaube’“ (1972, 28).

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Es kann darum nicht falsch sein, auf ein Reich Gottes auf Erden hinzuwirken; genau das forderte ja der Erlöser von den Gläubigen. Die frohe Botschaft besagt: mit Jesus Christus ist das Reich Gottes bereits angebrochen, und es ist an den Menschen, es voranzubringen. Damit ist nicht die Hybris verbunden, dass der Mensch es vollenden könne,231 sondern die Hoffnung, dass der Messias einst wiederkehrt und es durch sein Zutun vollbringt. Es liegt kein veritabler theologischer Grund vor, der gegen ein sozialistisches Engagement spräche, wohl aber gibt es viele, die dafür sprechen – wenn auch nur abstrakt. Man kann also aufgrund seiner Christlichkeit zum Sozialismus motiviert werden; innerhalb desselben kann man sie aber nicht mehr als Argument benutzen. „Gott will es“ kann jeder sagen, auch die Gegner des Sozialismus; es fügt den Argumenten wenig hinzu. An der Theologie ist es vielmehr, unbotmäßigen Sakralisierungen des Politischen zu wehren: sie weiß, dass es allein Gottes Sache ist, sein Reich zu errichten. Niemand darf für sich das exklusive Recht beanspruchen, die Sache Gottes zu vertreten, die Kommunisten nicht, aber auch nicht Kirche und Staat. Weder darf der Sozialismus sakralisiert, noch das Evangelium politisch instrumentalisiert werden. Dennoch, und nur so, können beide eine Verbindung eingehen, die nicht einen von beiden Teilen unrecht tut. Eine radikale Trennung ist dazu unerlässlich. Man könnte dies „dialektisch“ als eine politische Einheit beschreiben, die die theologischen Differenzen nicht einebnet, sondern als Differenzen bestehen lässt, aber eben dadurch zum Handeln kommt. Insofern ist die „dialektische Theologie“ sehr wohl dialektisch (anders Rentsch 1990, 100), nur nicht in der Theorie, sondern in der durch sie wieder ermöglichten „freien“ politischen Praxis. Sie ist jedenfalls die einzige, die aus der Theologie „ein produktives Gespräch mit dem Marxismus“ (Heidegger 1947, 87) führen konnte.232 So klar wie diese Konzeption war, sie wurde in der Theologie nur wenig beachtet. Es bedurfte der spiegelbildlichen Entwicklung dieses Gedanken von Seiten eines überaus populären Marxisten, bis er – wenn auch verdreht – in die etablierte deutsche Theologie eindrang. Die Rede ist von Walter Benjamin, einem Marxisten, der zugleich von der Theologie aus argumentierte.

2.6.7 Walter Benjamins als politische Theologie „Das Ordal wird durch den Logos in Freiheit durchschlagen.“ (Walter Benjamin)

Von Benjamin war bereits oben als von einem Vorbild Adornos die Rede (2.6.3). Zwischen Benjamins und Adornos Bezug auf Religion gibt es jedoch einen zentralen Unterschied: Anders als Benjamin verstand Adorno das „Kleiner- und Un231 „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann. Deswegen ist aber doch dem Menschen nicht erlaubt, in Ansehung dieses Geschäfts untätig zu sein“ (Kant 1794, 141; Pannenberg 1959, Dittmer 1997; Bloch 1968, Sölle 1968). 232 Turneysen 1923; Farner 1969, 139 ff.; Gollwitzer 1962 und 1972; Plonz 1995.

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sichtbarwerden der Theologie“ (Pangritz 1996, 214) als Freibrief für den Zugriff auf herrenlos gewordene theologische Gehalte.233 Um den für eine Kritik der theologistischen Marxlesart zentralen Unterschied zu sehen, sei Benjamins Denken abschließend näher betrachtet. Das schwierige Verhältnis von Theologie und Marxismus hatte er in seinem Bild von dem „Schachautomaten“ ja nur angedeutet. Doch wurde er oft so verstanden (und diese Deutung verdankt sich Adorno), dass der historische Materialismus die Theologie deswegen „in ihren Dienst nimmt“, weil er selbst in einer hoffnungslosen Lage sei. Von einer solchen Kompensationsbedürftigkeit ist jedoch bei Benjamin keine Rede: er baute eher auf den historischen Materialismus als auf die Theologie – diese, nicht der Materialismus ist für ihn „heute [1940, CH] bekanntlich klein und hässlich“.234 Die rigide Marx’sche Kritik an der herrschenden Theologie als einer Theologie der Herrschaft hat Benjamin in seiner abgelehnten Habilitationsschrift mit dem vielsinnigen Titel „Der Ursprung des deutschen Trauerspiels“ appliziert, und zwar auf den zeitgenössischen Theologen der Herrschaft, auf Carl Schmitt. Dieser hatte durch eine Neubewertung des absolutistischen Staates des 17. Jahrhunderts den sich anbahnenden totalitären des 20. Jahrhunderts „theologisch“ zu legitimieren versucht (Schmitt 1922). Benjamin kritisierte diese Konzeption immanent, mit seinerseits theologiehaltigen Argumenten.235 Doch ist er sich bewusst, dass diese Kritik im Absolutismus des Barock noch nicht möglich war – ein glänzendes Beispiel historischen Bewusstseins. Damals nämlich war eine solch befreiende theologische Kritik der angemaßten Göttlichkeit usurpierter Herrschaft nicht denkbar: die Gegenreformation war durch ihren im Wortsinne durchschlagenden Erfolg (dahinter standen nicht Argumente, sondern Kriege) derart hegemonial, dass jeder Zugang zu Gott über ihre Theologie ging.236 233 Die Rede ist oft von „Versöhnung“, „Erlösung“, „Entrückung“ u.ä. (siehe Wiggershaus 1988, 212 f. zu Adornos „Marginalien zu Mahler“ von 1936; s.u., Fn. 75). 234 Nach Benjamin könne der historische Materialismus „es ohne weiteres mit jedem aufnehmen“, wenn er die Theologie, „die heute bekanntlich klein und hässlich ist“, in Dienst nimmt (GS I.2, 691, These 1). 235 Der „Ausfall der Eschatologie“ aus der Theologie der Gegenreformation war bedingt durch den unbedingten weltlichen Machtwillen der Kirche (sie nämlich trägt „das Schwert“ und „garantiert“ diesen Ausfall; GS I.1, 259 – das entspricht dem Moment des Katechontischen bei Schmitt, cf. Grossheutschi 1996). Damit war die barocke Rede des sich „als säkularisierte Heilsgewalt sich erweisenden Königtums“ (260) theologisch verunmöglicht, da es sich nur „auf der Ebene des Schöpfungsstands“ behaupten konnte (263 f.), wo es solches Heil gerade nicht gibt. Diese gelebte Unmöglichkeit scheint im Trauerspiel darin auf, dass die sich gotthaft dünkenden Tyrannen dem Wahnsinn verfallen (265, 277). Sie entkommen der Kreatürlichkeit nicht – nicht nur, weil sie kreatürlich sind, sondern weil sie selbst mit dem „Ausfall aller Eschatologie“ für den Wegfall der Transzendenz gesorgt haben. Der allgemeinen Kritik der Schmittschen Theologisierung sowie der „Entscheidungsunfähigkeit des absoluten Monarchen“ bei Heil (1996, 134) entgehen diese theologischen und gegenwartsbezogen Pointen Benjamins. 236 Der „unmittelbare Weg ins Jenseits“, die „religiöse Lösung“ der „religiösen Anliegen“ war den protestantischen Barockdichtern versagt, weil „die Verweltlichung

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Die von Hobbes und Schmitt als neutraler Schlichter anempfohlene absolute weltliche Herrschaft sowie das legitimierende Naturrecht waren selbst noch konfessionell.237 Nach Benjamin gelang es ihr, die hoffnungseröffnende Perspektive der Eschatologie, in der jegliche irdische Herrschaft ihr Ende findet, im Interesse ihrer eigenen Herrschaft gänzlich zu verdrängen.238 Erst eine weltliche Befreiung von dieser Herrschaft (wie sie nach den Religionskriegen und dem schließlich sich durchsetzenden aufklärerischen Naturrecht stattfand) ermöglichte wieder eine geistliche Zuversicht. Doch dies weiß nur der historische Betrachter, die damals Lebenden wussten es nicht. Dieses Wissen beruht auf einer harten historischen „Praxis“.239 Theorie ist zwar nicht selbst Praxis, doch das Wissen einer Zeit enthält (oder verdrängt) praktische Erfahrungen ihrer „Vorgeschichte“.240 Benjamin vertritt hierin eine ähnliche Stellung der Juden und Christen zur Politik wie Barth: das Gottesreich kann zwar nicht von Menschenhand erbaut werden, wie chiliastische Bewegungen und theokratische Herrscher meinten, doch

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der Gegenreformation in beiden Konfessionen sich durchsetzte“. So kam es zum „Ausfall der Eschatologie“ „durchs Schwert der Kirche“ (Benjamin GS I.2, 258 f.). Dadurch waren die Gegner des Absolutismus genötigt, sich auf die weltliche Ebene zu werfen. Das ist gegenüber gängigen Säkularisierungsthesen originell: die eigentliche Verweltlichung kam mit der Gegenreformation, die ihre religiöse Macht weltlich ausnutzte. Diese weltliche Besetzung des Religiösen verbaute die Möglichkeit, dem religiös zu opponieren, und forcierte die Entwicklung einer weltlichen Opposition. Tatsächlich stützte sich der Protestant Pufendorf im Naturrecht auf Descartes statt auf Thomas, um sich den weltlich-katholischen Ansprüchen zu widersetzen. „Katholisch“ heißt ja „universal“. Dieser Skandal erregte nicht nur protestantische Naturrechtler wie Pufendorf, sondern selbst Friedrich II. von Preußen (es solle ein jeder nach seiner Facon selig werden, doch dürfe der Staatsherr keine besondere Religion bevorzugen). Auch Marxens Argument gegen den „christlichen Staat“ war, dass dieser zwar allgemein christlich zu sein vorgebe, aber letztlich doch nur eine besondere Konfession vertrete (MEW 1, 12, 101). Zur extremen Katholizität Carl Schmitts u.a. Schmitt 1923, Wacker 1994, Kiel 1998, Faber 2001. Dies ist das luziferische Moment des Katechontischen („Geist des Satan“, GS I, 406). Dieses Motiv tritt bei Schmitt schon 1922 in der Figur des „Großinquisitors“ auf; Grossheutschi 1996, 116 datiert es auf 1932. Das Weltende wird, obzwar von Gott verhängt, als böse angesehen. Diese Verteufelung überträgt Schmitt auf die Sozialisten, die auf ein Ende der feudalen „Vorgeschichte“ Europas hinwirken. Der Bezug zur Bibel ist zweifelhaft (vgl. Leutzsch und Faber in Wacker 1994, 175 ff.; 257 ff.). Schmitt stellt sich auf die Seite der Macht, die das Christentum von unten verfolgt und dann durch das von oben ersetzt hat – Rom (Faber 2001). Der Sinn einer „rettenden Kritik“ besteht darin, „im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen“ (Benjamin GS I.2, 691 ff., These VI), also nachträglich die damals noch fehlende Perspektive aufzuzeigen. Benjamin war von Lukács und Korsch beeinflusst. Er übertrug deren Praxeologie auf die Religion: Der einzige Weg zu gültigem Wissen ist auch hier gelingendendes Handeln. „Das Wissen vom Guten, als Wissen, ist sekundär. Es erfolgt aus der Praxis” (GS I, 407; vgl. GS II 304; GS III 319, 350; ein Brief vom 16. September 1924 bemerkt, dass „eine definitive Einsicht in die Theorie an Praxis [...] gebunden ist“ Briefe I, 355). Das Trauerspiel nennt ein Wissen ohne Praxis „böse“ (GS I, 402 f.). Ließe sich dies nicht auch als eine antizipierte Adornokritik lesen?

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Hindernisse auf dem Weg zu ihm, wie im 17. Jahrhundert die weltliche und religiöse Bevormundung der Untertanen durch den Staat sowie jede Totalisierung der weltlichen Herrschaft ausgerechnet im Namen der Religion,241 können und müssen sehr wohl ausgeräumt werden (Thielen 1991, Plonz 1995).242 Die Pointe der Verbindung der Theologie speziell zum Marxismus ist, dass Benjamin auch den Kapitalismus als Religion beschreibt, die sich – so ist das bekannte Fragment (GS VI, 100 f.) zu ergänzen – zwischen Gott und die Menschen schiebt, wie einst die Gegenreformation.243 Der Theologe kann schlecht behaupten, dass das Werk des Marxisten selbst heilig sei. Wohl aber kann er zu der Auffassung gelangen, dass die politische Praxis des Sozialismus Gott wohlgefällig sei, insofern sie den Dienst am gefräßigen Götzen Kapitalismus und die ihm zahlreich dargebrachten Menschenopfer hinwegzuräumen trachtet. Der Theologe kann diese Praxis als Religionskritik an falschen Götzen gutheißen. So kommt es zur Koinzidenz der Religion mit dem Sozialismus, ohne ihn selbst religiös aufzuladen. Am 29. Mai 1926, kurz nach der Fertigstellung des Trauerspielbuches schreibt Benjamin an seinen Freund Scholem: „‚gerechte’, radikale Politik, die eben darum nichts als Politik [!] sein will, wird immer für das Judentum wirken und [...] immer das Judentum für sich wirksam finden“ (Briefe I, 426). Benjamins Verständnis vom Judentum, welches als assimilierter Berliner sicher nicht das orthodox-tribalistische, sondern eher das universalere des Gottesvolkes Israel war,244 kann in etwa wie folgt rekonstruiert werden: Gott und die 241 Hierin steckt eine Verurteilung speziell des politischen Katholizismus, welche sich nicht nur im Trauerspielbuch, sondern durchgehend zeigt: „Katholizismus – Prozess des Heraufkommens der Anarchie: Das Problem des Katholizismus ist das der (falschen, irdischen) Theokratie“ (Benjamin VI, 99; vgl. II, 203; VI, 688 und öfter). Karl Barth war so konsequent, den ‚Verdacht’ auf den Protestantismus auszudehnen – mit Recht (cf. Stahl 1853). 242 Zwischen Benjamin und Carl Schmitt besteht somit keine „gefährliche“ Nähe (Heil 1996, dort auch weitere Literatur), sondern ein Gegensatz. Adornos Verschweigen der Beziehung Benjamins zu Schmitt geht ebenso an diesem Gegensatz vorbei wie der Verweis auf eine Nähe in der Meinung, hier berührten sich die Extreme (Rumpf 1976, Figal 1992). Vermutlich scheute Adorno die Konfrontation mit Schmitt, weil er dessen Deutung der Säkularisierung als einer substantiellen Transformation der Theologie in Politik zu nahe stand. Benjamin hatte die Nähe Schmitts (wie die von Klages, Fuld 1981) wohl gesucht, um ihn zu widerlegen. Der Terminus „Herrschaft des Christentums“ (GS I.1, 258) deutet auf die Wahrnehmung des Gegners als Christentum der Herrschaft hin (cf. Oudenrijn 1970, 155 ff.). 243 Vgl. Baecker 2003. Ähnlich dachten neben Barth, Tillich („Dämonie“) und Benjamin der Wirtschaftsethiker Wünsch 1925, Türcke 1983, F. Wagner 1985 – und Papst Johannes Paul II. (Nell-Breuning 1983, BKAB 1992). Wie erwähnt begriff Marx den Kapitalismus nicht primär als Religion: Man versteht den Kapitalismus nicht besser, wenn man ihn als Religion beschreibt, da die Religion noch weit rätselhafter ist als dieser. Vielmehr versteht man moderne Religionsphänomene erst, wenn man den Kapitalismus thematisiert. Etwas anderes ist es, von der Religion aus eine Bewertung des Kapitalismus vorzunehmen, wie die Genannten es taten. 244 Die exklusiv jüdische Deutung Benjamins bei Scholem 1975, die Heil 1996, 141 ff. übernimmt, relativiert den Geltungsumfang seiner Gedanken auf das Judentum. Fa-

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Menschen waren und sind immer aneinander interessiert.245 Doch da der Mensch frei ist, kann er dies bejahen oder ablehnen.246 Im Zustand der gefallenen Schöpfung ist Politik augustinisch eine Notwendigkeit, Menschen müssen in Gruppen handeln. Nun kann sich eine Gruppe in eine Situation manövrieren, in der der Weg zu Gott „verstellt“ ist (GS I.1, 258, auch „versagt“, „beschränkt“).247 In solch gottesfinsteren Situationen können die Menschen Gott nicht zwingen, wie Hiob es versuchte. Sie können sich höchstens neue Götzen und goldene Kälber schaffen. Doch sie können, um wieder zu Gott zu finden, in einem Exodus alles hinter sich zurücklassen – wie Mose, als er das Volk in die Wüste führte, oder Jesus, der die Händler aus dem Tempel trieb (Mat 21, 12). Die Menschen können sich also zumindest bereit machen („glückswürdig“, Kant, KpV 234). In die Politik übersetzt bedeutet die Zerstörung des goldenen Kalbes (GS VI, 99) radikale Kritik jeder Theokratie und politischen Theologie (II, 203). Über diese Reinigung und Purifizierung kann kein religiös motiviertes politisches Handeln hinausführen („weil es sinnvoll politische Ziele nicht gibt“, Briefe I, 426; Mai 1924).248 Nur in solchen Akten „durchdringen sich das politische und das eschatologische Element“ (GS III, 100; II, 200). Ein „absolutes Wissen“ oder

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ber 1985 zeigt dagegen bei Benjamin auch christliche und pagane Bezüge auf. Benjamins Judentum war das eines assimilierten Berliner Juden, der sich retrospektiv und reflexiv gebrochen der jüdischen Tradition näherte, aber nicht ‚in’ ihr lebte (Mayer 1994, 388 ff.; anders Schulte 1994). Gewisse „religiöse Anliegen“ waren dem Barock ein „Stachel“ (GS I.1, 258). Auch dem „guten Gott“ – ein jüdischer Gedanke – ist an den Menschen gelegen. Die im Fall errungene Freiheit ist die „Freiheit zu verneinen“ (Max Scheler). Bezüglich der Freiheit des menschlichen Willens gegenüber Gott lässt sich mit Kant sagen, dass wer von Sünde spricht, die Freiheit schon voraussetzt. Sonst erscheint Gott als ein gnostisches Monstrum, das die Menschen für etwas bestraft, was sie nicht verschuldet haben. Luthers Servo arbitrio (1525) behauptet die Unmöglichkeit einer Unmittelbarkeit zu Gott und der Natur (Benjamin GS II, 154), doch er beeinträchtigt nicht die Freiheit in menschlichen Angelegenheiten. Biblische Beispiele dafür sind Sodom und Gomorra, Ninive, Babylon – und Rom (cf. Benjamin GS IV, 123; Faber 2001). Damit ist nicht der lebensphilosophische „Exodus“ aus der Wirklichkeit und dem Verstand gemeint, den es auch gibt. Er ist nicht mit dem aus einer falschen Vergottung gleichzusetzen, wie Bolz 1985 nahelegt. Bei Schmitt geht es aus der Weltlichkeit heraus in mythische Scheinwelten (zu Schmitts Mythisierungen Kodalle 1973, Groh 1998, Gross 2000). Bei Benjamin wie schon bei Marx geht es umgekehrt aus solchen Mythen heraus, hinein in die Wirklichkeit. Fraglich ist, ob Marx’ Schweigen über mögliche klassenlose Gesellschaften „religiös“ interpretiert werden muss. Marx wollte vermeiden, den vielen ideologischen Luftschlössern ein weiteres hinzuzufügen, während Adornos Verweis auf das „Bilderverbot” umgekehrt dazu benutzt wird, Fragen des Verstandes abzuwehren. „Die wissenschaftliche Gewissheit des Marxismus bezieht sich auf das Proletariat nur negativ, insoweit es ökonomisch der dialektische Gegensatz der Bourgeoisie ist. Positiv dagegen [...] muss die Bourgeoisie erkannt werden. Weil ihr Wesen im Ökonomischen liegt, musste Marx ihr auf das ökonomische Gebiet folgen“ (Schmitt 1923a, 74; Benjamin, These XII).

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Proklamationen der Göttlichkeit wie bei Benjamins Zeitgenossen Ludwig Derleth oder Alois Dempf können die zwei Reiche nicht verbinden. Dies ist zugleich der Fingerzeig zur Auflösung des Trauerspielbuches: Zwar kennt das Barock offiziell keine Eschatologie (GS I, 246). Das Geheimnis des deutschen Trauerspiels ist, dass die Eschatologie dennoch die versteckte Bedingung seiner Möglichkeit war. Denn: „Die Anschauung des Determinismus kann keine Kunstform bestimmen“ (GS I, 308), und anders als im katholischen Spanien war auch kein mythischer Ersatz mit dem protestantischen Glauben zu vereinbaren. Was bestimmt diese Kunstform aber dann? Der versteckte „Schlüsselstein“ der Gattung des deutschen Trauerspiels ist die Eschatologie;249 nur konnte sie nicht konstitutiv verwendet werden, da jede Theologie von der herrschenden politischen Philosophie besetzt war.250 Das deutsche Trauerspiel beschränkte sich darauf, die Ausweglosigkeit der gegenreformatorischen Situation negativ aufzuzeigen. Diese protestantische Verweigerung brachte die Hoffnung außer Sichtweite, es war eine zu negative Theologie. Die „objektive Möglichkeit”, die die Dramaturgen damit verloren und die daher vom Kritiker „gerettet“ werden muss, ist: „Der gewaltige Entwurf dieser Form ist zu Ende zu denken“ (GS I, 409). Der Widerspruch des christlichen Glaubens zur mythischen Herrschaftsvergottung muss bis ins Extrem gebracht werden, um eine „allegorische Totalität“ zu erreichen. Erst diese hätte dem Trauerspiel „Einsatz und Ausgang zugleich“ gewiesen (I, 409). Das ist beim Lukácsleser Benjamin als theoretisches Selbstbewusstein und befreiende Praxis zu übersetzen.251 Es geht um den „einen Umschwung“ (406).252 Dieses Geheimnis wird „erst im rückgewandten größten Bogen und erlösend“ deutlich (406). Noch in späteren Arbeiten zielt Benjamin auf diesen „Umschlag“ (II 299, III 108), den er auch „Umkehr” (I, 1232), „Errettung“ (401), „Schwelle“ oder „Erwachen des Kollektivs“ (V 491) nennt. Es ist die befreiende Distanzierung von aller weltlichen Herrschaft und Verblendung, aus dem Wissen um Gottes Heilsversprechen – theoretisch wie praktisch. Das Trauerspiel zeigt, was geschieht, wenn diese Praxis versäumt wird: die Gnosis kehrt wieder (I, 395; cf. Blumenberg 1966), Christen zweifeln, ob Jesus 249 Darauf weist der „letzte Tag“ (GS I.1, 409) sowie die Rekonstruktion der Sehnsucht nach „Auferstehung“ (406) aus der allegorischen „Versenkung“ in die Vergänglichkeit. „Zuletzt springt in den Todesmalen des Barock [...] die allegorische Betrachtung um“ (407) – in die eschatologische. „In Gottes Welt erwacht der Allegoriker“ (407). Gott ist am Ende stärker als die irdischen Katechonten, auch als „jene Welt, die sich dem tiefen Geist des Satans preisgab“ (406, gemeint ist auch lutheranisch die „Restaurationstheologie der Gegenreformation“, 308). 250 Vgl. den Term „Umbesetzung” in der Säkularisierungsdebatte. Scholem nennt die Rolle des Messianismus für Benjamin eine „regulative Idee“ (nach Heil 1996, 142). 251 „Das deutsche Trauerspiel hat [...] den Silberblick der Selbstbesinnung [...] nie zu erwecken vermocht“ (I, 335) . 252 Biblisch verursacht die eschatologische Wende schon jetzt eine Umkehr: „Indem also die Botschaft vom Kommen der Gottesherrschaft, wie vom Willen Gottes, den Menschen hinweisen auf sein Jetzt als letzte Stunde, im Sinne der Stunde der Entscheidung, bilden beide eine Einheit, ja sie fordern einander” (Bultmann 1926, 91).

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der Christus ist (359),253 Wissen (407) und Politik werden böse (306), und die resultierende Passivität der Menschen („Verzweiflung“, 257) verschlimmert die Situation noch, indem sie hermetisch wird.254 Dies ist der Sieg des Mythos: die Freiheit ist verschwunden, Geschichte (267),255 Gefühl (322), Natur (308) und Religion (396), alles dies wird mythisiert – wie bei Carl Schmitt (aber auch in der Dialektik der Aufklärung). Doch diese Aporien sind nicht das Ergebnis des christlichen Glaubens als solchem, sondern seiner Vermengung mit der gegenreformatorischen politischen Philosophie. In dieser Situation müssen Politik und Religion rigoros getrennt werden.256 Benjamin tut dies, indem er Erlösung von Befreiung unterscheidet.257 Zuerst muss das Joch von den Schultern genommen werden (GS II, 438), denn es gibt keine spirituellen Dinge ohne materielle.258 Andernfalls ist jede proklamierte Erlösung Kitsch, Ideologie, Mythos.259 Darum gab es bei den barocken Protestanten keine Eschatologie. Die diesseitige, Gott für sich in Anspruch nehmende gegenreformatorische Herrschaft war zu erdrückend.260 Zwar ist, wie Barth sagt, Heiligung keine menschliche Möglichkeit, doch was die Menschen am nötigsten haben, ist Befreiung. Und dies müssen sie selbst tun. Nur wenn man den „wirklichen Ausnahmezustand”, den Schmitt (1922, 9) für Benjamin gerade verhindern will (GS I, 245, 1231), erzeugt, wird der Blick auf Gott wieder frei. 253 In Hobbes Leviathan (1651) wird beschwörend oft wiederholt: „Jesus is the Christ“. 254 Dies impliziert eine Stellungnahme zu Kierkegaard, der hiermit geschichtsmaterialistisch „aufgehoben“ wird, aber auch gegenüber der späteren Faschismusanalyse des Institutes, die sich wieder in einer Hermetik verlief (2.2.6). 255 Die „Essenz des mythischen Geschehens ist die Wiederkehr” (Benjamin I, 1234). 256 „Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks” (II, 202). 257 „Werden sich diese Menschen befreien? Man ertappt sich auf dem Gefühl, dass es für sie, wie für arme Seelen, nur noch eine Erlösung gibt“ (Benjamin GS III, 538). Auch in Goethes Werther fühlen sich die Protagonisten zwar erlöst, aber nicht befreit (GS III 709; 552, 589; zur späteren „Theologie der Befreiung“, die ähnlich argumentierte, Gutiérrez 1973, Buhl 1989, Löwy 1990, Thielen 1991, Kern 1992). 258 „Der Klassenkampf [...] ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine [...] spirituellen gibt“ (Benjamin GS I.2, 691 ff., These IV). „Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich habe, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe“ (Mat 5, 23). Buber, den Benjamin kannte, formulierte ähnlich: „Heißt das, Gott könne die Welt nicht ohne unsere Mitwirkung erlösen? Es heißt, dass Gott eben das nicht können will (Buber 1935, 55). Auch mit Kant ist dies verträglich. 259 Auch darum verstanden sich das aufklärerische Naturrecht wie später viele Marxisten atheistisch: zuerst muss wieder ein Weg zu Gott eröffnet werden. Das ist nur radikal weltlich, jenseits der theologischen Hyperbel möglich. Benjamin illustriert die Sinnlosigkeit einer religiösen Revolte in theologisch düsteren Zeiten an Kafka, der Entscheidungen so lange hinauszögert, bis der Himmel so düster ist wie die Erde (GS II, 681; GS III 528; zu den Kafkaessays Faber 1985, Pangritz 1996, 138 ff.). 260 Benjamin entziffert dies auch in barocken Bildern mit schwerem, wolkenverhangenem Himmel (GS I.1, 258). Etwas Ähnliches mag Benjamin im Dritten Reich selbst empfunden haben, bis er sich schließlich das Leben nahm.

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Befreiung und Erlösung sind somit zwar verbunden, sie sind nur gemeinsam denkbar.261 Entscheidend aber ist, dass nur Gott sie vermitteln kann.262 Dies verunmöglicht jeden totalitären Anspruch wie auch jede Ästhetisierung. Die weltliche Geschichte hat keine direkte Verbindung mit der Eschatologie. Diese war ohnehin nie das „Ziel“ der Geschichte, da sie von oben hereinbricht. Doch wer religiös ist, kann einzelne geschichtliche Ereignisse in eschatologischer Hinsicht bewerten, wenn auch nur negativ: die Herrschaft Gottes verunmöglicht jedes „Heil“, mit dem weltliche Herrschaft sich gegen die Vernunft der Menschen zu verabsolutieren sucht. Die Botschaft des zitierten Briefes von Benjamin an Scholem ist nach alldem wie folgt: in dieser historischen Periode haben Judentum und Marxismus die gleichen Motive. Indem Marx begreifbar macht, was für die modernen Mythologeme verantwortlich ist, verspricht er die besten Mittel, ihnen abzuhelfen und damit die Menschen zu befreien. Geschieht dies nicht, droht eine alles beherrschende Mythologie und im Zuge dessen eine Mythologie der Herrschaft. Daher machte Benjamin noch in den 1930er Jahren, als Kunstkritiker, Gebrauch von der „revolutionären Chance im Kampf um die unterdrückte Vergangenheit” (These XVII): Er zieht die Aporien seiner Zeit soweit ins Extrem, bis die „allegorische Totalität“ und damit beim Betrachter die entscheidende Wende provoziert wird (zur Methode der „rettenden Kritik“ Faber 1985). Kommen wir an dieser Stelle auf den Unterschied zu Adorno zurück. In der Beanspruchung religiöser Insignien seitens weltlicher Mächte hatte das Problem bestanden, das seinerzeit die Dichter des Trauerspiels zu einer radikalen, doch aussichtslosen Weltlichkeit verurteilte.263 So geschah es bezeichnenderweise in 261 Cf. 2.2.1, Fn. 7. „Es schwingt [...] in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit“ (Benjamin GS I.2, 93); „wie eine Kraft durch ihren Weg ein andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen [!] das Kommen des messianischen Reiches. Das Profane ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine [...] seines leisesten Nahens“ (GS II.1, 204). Benjamin wehrt damit die Identitätssetzung von Befreiung und Erlösung ab, wie es sie bei den religiösen Sozialisten oder Bloch gab, doch reißt er sie auch nicht auseinander wie die katholische Apologie, für die sich Weltliches und Göttliches nur in der eigenen Herrschaft berührt (in ihrem „theokratischen Anspruch“, GS I, 145; II, 203), während sie autonomes menschliche Handeln verurteilt – noch immer ist für sie die „sog. ‚menschliche Emanzipation’ [...] das genaue Gegenteil [!] des biblischen Befreiungsbegriffs, welcher jedes derartigen Befreiungsbegriffs entbehrt“ (Hofmann 1987, 8). Das alte Testament kennt fast nur solche Befreiungen, kaum eine Erlösung. „Nicht Warten auf die göttliche Initiative von oben, sondern politische Aktivität bringt das Zeitalter des Messias näher“ (C. Schulte 1994, 203; nach H. Cohen 1915). 262 Nur darin liegt auch der Sinn des von Benjamin zitierten Ausspruches von Hegel: „Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen” (GS I.2, 693, These IV). Gott ist für das religiöse Sprachspiel immer mit im Spiel, auch in der säkularisierten Welt, sonst wäre er nicht Gott. 263 Ähnlich im Passagenwerk (GS V): hier ist das von der Technik ausgehende Versprechen einer besseren Welt von der unverändert ungerechten Gesellschaftsordnung gebannt worden. Erst damit erhält die Technik mythisch-dämonische Züge.

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der Zeit eines erneuten weltlichen Absolutismus mit religiösem Siegel, im Nationalsozialismus, dass auch Benjamin auf Theologoumena radikal verzichtete (aus einer dem Trauerspiel analogen Situation: wo nicht einmal Befreiung ist, erübrigt sich die Rede von Erlösung),264 während Adorno sich gerade in dieser Situation darum bemühte, Benjamin und Horkheimer zu größerer Offenheit gegenüber einer religiösen Redeweise zu bewegen.265 Damit wird der Sinn, den Religion bei Benjamin hatte, verdreht: Benjamin hat in besonderen Kontexten einer bestimmten Epoche an theologische Probleme gerührt, die nur politisch lösbar waren. Adorno übernahm das als allgemeine Methode.266 Fortan sprach er von „Rettung“, „Erlösung“ und „Sprengung“, als sei es eine verbriefte geisteswissenschaftliche Methode, und als sei der theologische Gehalt, der damit reklamiert, aber nicht ausgewiesen wurde, gratis verfügbar.267 Der Bezug auf Benjamin war allerdings fraglich. Dieser hatte keine voreilige Beimischung religiöser Zutaten in eine theoretische Suppe erstrebt, sondern ihre strenge Scheidung. Er hatte die historisch-politische Bedingtheit der Theologie erkannt, darunter auch die Möglichkeit religiöser „Einbahnstrassen“, die eine radikale Weltlichkeit erzwangen – ad maiorem dei gloriam. Wo Benjamin sich stellvertretend für die verunmöglichte Theologie politisch betätigte,268 da wich Adorno umgekehrt aufgrund einer von ihm als unmöglich beurteilten Politik in seine „Theologie“ aus.

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Den bislang versäumten Weg aus dieser Aporie sieht Benjamin erneut nur in dem „immer dringlicher sich erweisenden Akt, mit dem das Proletariat sich in den Besitz der Technik bringen sollte“ („Eduard Fuchs“, 1937, nach Wiggershaus 1988, 228). Solange dies versäumt wird, ist jedes Sprechen von „Erlösung“ mythische Erschleichung, etwa wenn Adorno sie in elitären Kunstwerken durch „Durchdialektisierung“ modellhaft vorweggenommen sah („Über den Fetischcharakter der Musik“, 1938, in: Adorno 1956, nach Wiggershaus 1988, 239). Im Passagenwerk gibt es „Analogien [...] zu dem Barockbuch“ (GS V, 1117). Wiggershaus 1988, 216 f.; vgl. Pangritz 1996, 169 ff. Dem Überspringen des historischen Hintergrundes entspricht formal die Kürzung um die Kategorie des Besonderen in der Negativen Dialektik (Rentsch 2000, 262 ff.). Adorno theologisierte bereits in seiner Habilitation von 1931, ungeachtet der Tatsache, dass Kierkegaard selbst schon Theologe war und keineswegs „gerettet“ werden musste. Trennte Benjamin am Barock das Weltliche vom Religiösen, verlegte Adorno umgekehrt die Transzendenz in die Immanenz hinein, wobei er schon 1931 die Ästhetik als Ort der „Versöhnung“ dachte (Wiggershaus 1988, 110; Pangritz 1996, 136 f.). Der Schluss der Minima Moralia mengt Religion in einer Wissenschaft verunmöglichenden Weise ein: „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint“ (1951, 333/GS 4, 281). Es sei „das Motiv der Sehnsucht nach universaler Gerechtigkeit [...] das ihn, Adorno, zum Gebrauch theologischer Kategorien veranlasse“ (Brief an Horkheimer vom 25.1. 1937, nach Pangritz 1996, 162). Die neue Musik habe „alle Dunkelheit und Schuld der Welt [...] auf sich genommen“ (1949, 119/GS 12, 126, cf. 122). „Adornos Arbeiten schlossen regelmäßig mit dem Ausblick auf Erlösung“ (Wiggershaus 1988, 213; vgl. auch 350, 560). Dieser Kampf wird besonders deutlich in seinem Pariser Exil (vgl. Kambas 1985). Gogarten hat den Barthischen Ansatz 1920 auf den Punkt gebracht: „Der Raum wurde frei für das Fragen nach Gott“ (nach Kambas 1985, 285).

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Hat Benjamin das, was nach weltlicher Befreiung aussah, stets begrüßt (auch Anarchismus, Surrealismus und populäre Kultur) und darin wie Tillich nur wegen der radikalen Weltlichkeit einen religiösen Widerschein sehen können;269 so hat Adorno diese Elemente abgelehnt – sowohl die Annäherung an das Proletariat wie die populäre Kultur und schließlich auch die Studentenbewegung.270 In diese eher werturteilende als argumentierende weltliche Ablehnung sowie in seine dafür erarbeiteten ästhetischen Ausdeutungen ausgewählter moderner Kunstwerke hat Adorno religiöse Anflüge beigemengt – und zwar als theoretische „Arbeitshypothese“ genau der Art, wie sie Bonhoeffer abgelehnt hatte. Seine Theologizität hat es Benjamin erlaubt, aktiv einen radikal weltlichen Marxismus zu vertreten – radikaler noch als die kommunistische Einheitsfrontpolitik im Pariser Exil.271 Bei Adorno dagegen bewirkte die Religion das Gegenteil: der utopisch gefärbte Anstrich seiner Forderung nach einer „besseren Gesellschaft“ – so hochgesteckt und abstrakt, dass ihm keine Praxis genügte – behinderte auch noch die verschobene Ausarbeitung der Gesellschaftstheorie. Dieser Gegensatz zwischen Adorno und Benjamin auf theoretischem, religiösem und politischem Gebiet wurde dadurch verdeckt, dass Benjamin zu Lebzeiten von Adorno in einer Abhängigkeitsbeziehung stand und sich ihm gegenüber daher mäßigen musste, während erst dieser ihn später bekannt gemacht hat und damit seine Lesart desselben recht stark machen konnte (Adorno 1970a; Wiggershaus 1988, 238; Jay 1973, dt. 237). Benjamin ist erst postum berühmt geworden, zuerst in der Studentenbewegung,272 dann in der neuen politischen Theologie. Dort ist unter Verweis auf Benjamin oft die Rede von „Eingedenken“, „gefährlicher Erinnerung“ und verschiedenen Zeitverständnissen, doch meist ohne ein konkretes Politikum zu berühren. Es sieht so aus, als ob alles am rechten „Zeitverständnis“ hänge – wieder wird von obersten Grundsätzen ausgegangen, von denen alles abzuhängen scheint, so dass eine Betrachtung derselben schon als per se „politisch“ verstanden wird.273 269 Im Aufsatz über „Goethes Wahlverwandtschaften“ zeigt Benjamin, dass sich die „Versöhnung“ den Liebenden gerade deswegen entzieht, weil sie sich nicht entschlossen zur Praxis hin öffneten, nie „zum Kampf erstarkten“ (GS I, 201). Denn man braucht „nur mit der Liebe Ernst zu machen, um auch in ihr eine ‚profane Erleuchtung’ zu erkennen“ (GS II, 298). Vgl. Tillich, „Prinzipien des Protestantismus“ (1942): „Wenn die profanen Sphären zu ihrem eigenen Grund und Ziel durchstoßen, sind sie nicht mehr profan“ (GW VII, 138). 270 Zu diesem Unterschied Wiggershaus 1988, 218: Adorno verwarf Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ (1934), weil dieser darin eine Nähe zum Proletariat forderte. 271 Vgl. Der Autor als Produzent (1934; GS II, 701), dazu Kambas 1985, 268. 272 Vielleicht veranlasst durch surrealistische und andere Experimente (Bohrer 1970). 273 Während Benjamin in den sog. „geschichtsphilosophischen Thesen“ (1940, GS I. 2, 691 ff.) von politischen Dingen spricht (Klassenkampf, Niederlage, Hass und Opferwille, Revolutionen etc.), von denen ausgehend er Überlegungen über das Verhältnis zum historischen Erbe und den zugrunde gelegten „Begriff der Geschichte“ anstellt, waren für die neue politische Theologie allein die Gedanken über die Zeit

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Gerade dieses idealistische Denken hatte Marx „theologisch“ genannt (2.6.4). So wurde im Namen des Marxismus noch die Grundvoraussetzung des Marx’schen Denkens, die Religionskritik, preisgegeben. Dieses Kapitel 2.6 zeigte, dass auch die Kritische Theorie die theoretisch vorgegebenen und misslichen Gehalte, speziell die ökonomische Marxverhinderung der Neoklassik und die Entökonomisierung des leninistischen „Primats der Politik“, recht unkritisch übernahm. Zuletzt flüchtete sie sich theoretisch – über die Umwege Psychologie und Ästhetik – in die Theologie. In einer Ironie der Geschichte erwies sich gerade diese letztmögliche Abstraktionsform, die theologische Reststufe eines einst von Marx inspirierten kritischen Denkens, gegenüber den intellektuellen Anfechtungen aufgrund des Epochenbruches von 1989 als resistent. Die theologische Wirtschaftsethik nämlich ist die einzige von den vielen Varianten deutschen normativistischen Denkens, die sich eine Erinnerung an Marx’sche Inhalte und Argumentationsmuster bewahrt hat (3.3.2).274 Das mag auch an der stärkeren Nähe mit den „wirklichen Menschen“ liegen, den die Theologie über die kirchlichen sozialen Dienste im In- und Ausland hat. Den anderen sozialphilosophischen Versuchen, die Gegenwart auf den Begriff zu bringen, auch der heutigen Kritischen Theorie, ist nach 1989 der Referenzpunkt Marx entschwunden, und damit auch ein Gutteil Realitätssinn. Denn wenn der normative Überbau der Sozialtheorie seinen materiellen Unterbau – und sei er noch so technizistisch zurechtgestellt – verliert, wird der Normativismus übergreifend; er wird zum „Supernormativismus“ (4.2.5). Sehen wir zu, wie sich dieses buchstäblich haltlose Denken entfaltet, nachdem der Bezug auf die Marx’sche Theorie 1989 weitgehend verschwand.

von Interesse, unabhängig davon, was sich in ihr abspielt. Isoliert von ihrem politischen Hintergrund sind diese Gedanken spekulativ-räsonierenden Charakters (s.o. zu Löwith; cf. Moltmann 1964, Metz 1972, Manemann 1999). Hugo Assmann kritisierte, dass hier „Marx und Hegel [...] theologisch noch nicht verdaut“ seien, so dass zuviel davon und darüber geredet werde, statt zu den Sachen selbst zu kommen (in: Feil 1969, 218, 221 f.; vgl. Thomas 1993, 190; Türcke 1979, 9 ff.). 274 Der Marxismus „scheint [...] heute fast nur noch von Theologen ernst genommen zu werden“ (Hofmann 1987, 11, siehe dazu jüngst Baecker 2003).

3. Marx heute: Kritik der Gegenwartsphilosophie

„Marx ist tot, Jesus lebt.“ (Norbert Blüm um 1990)

Die politische Wende, die mit dem Fall der Mauer eintrat, brachte nicht nur für Menschen aus dem real existierenden Sozialismus große Veränderungen. Auch der Sieger des kalten Krieges, die demokratische Marktwirtschaft des Westens, untergeht seither immense Veränderungen, über die die Diskussionen um die Globalisierung Rechenschaft abzulegen suchen. Man muss kein Marxist sein, um darin eine triumphale Rückkehr des alten Kapitalismus zu erblicken: während sich ökologische Probleme und internationale Konflikte verschärfen, schwinden soziale Sicherungen und staatliche Eingriffsmöglichkeiten zusehends, wobei eine Untergrenze bislang nicht in Sicht ist (Brecher 1994 nennt dies „race to the bottom“). Begründungen dafür von Seiten der Akteure gehen so unverhohlen vom Primat der Ökonomie aus (etwa vom Konkurrenzdruck des „Weltmarkt“, cf. Altvater 1987), dass es eigentlich keines weiteren Beleges für die These bräuchte, die theoretische und sozialphilosophische Antwort darauf könne nur die Rückbesinnung auf Marx’ umfassende Analyse des Kapitalismus sein (Kapitel 1.2).1 Doch Basis und Überbau bilden nach Marx keine unmittelbare Einheit. Die relative Eigendynamik des Überbaus führt dazu, dass Argumente und Fragestellungen aus der Konstellation des kalten Krieges ihre Basis überleben. Während die Wirtschaftsteile besserer Tageszeitungen regelmäßig auf Marx verweisen, nimmt die deutschsprachige Philosophie nach 1989 von Marx kaum Notiz; wenn man von dem alten, kurzschlüssig auf Marx projizierten Antikommunismus absieht (zuletzt Löw 2001, Gehrhart 2002). Der Marxismus als Denkschule war in Deutschland allerdings schon vor 1989 tot. Teil 2 dieser Arbeit hat den Nachweis erbracht, dass die philosophischen Marxismen und Marxwiderlegungen großteils auf dem Sand des deutschen „Geistes“ erbaut waren. Das Motiv, Marx wegzuer1 Und zwar gerade dann, wenn das Wahnbild einer „kommunistischen Weltrevolution“ vom Tisch ist, die doch bei den Marxisten nur zu einer Geringschätzung der ökonomischen Schriften von Marx geführt hat (2.2.6, 2.3.3, 2.6.2).

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klären, fand sich oft schon im Ansatz philosophischer Paradigmen. Sie konnten nur darum so erfolgreich sein, weil der deutsche Marxismus dieser stellvertretenden Auseinandersetzung „auf dem Gebiete des Geistigen“ (Mannheim 1928) stark vorgearbeitet hatte. Die betrachteten philosophischen Marxkritiken hielten einem zweiten Blick nicht stand. Dem Weg der heutigen Philosophie zu Marx steht daher eigentlich nichts mehr entgegen, außer jenen diskursiven Gewohnheiten, die in der praxisfernen Philosophie noch zähflüssiger sind als andernorts. Diese philosophische Marxvergessenheit wirkt sich für die Erfassung der Realität allerdings negativ aus. Der folgende Teil 3 zeigt an Beispielen, dass Marx’ Philosophiekritik auf heutige Philosopheme anzuwenden ist. Als Marx nach 1989 aus dem philosophischen Bewusstsein entschwand, schwand damit in vielen Fällen der theoretische Halt sozialphilosophischer Entwürfe an der Basis. Wenn es nur noch um Normen geht, und zwar unter der idealistischen Voraussetzung, diese „konstituierten“ oder „generierten“ Gesellschaft, eskaliert die normative Blickverengung zur normativistischen Sozialphilosophie – einer theoretische Überfrachtung der Normativität, die immer haltloser wird, je mehr sie sich von der sozialen Realität abkapselt. Die Kapitel 3.1-3.4 zeigen, wie wichtig die in Kapitel 2 geleistete Kritik an den historischen Grundlagen dessen ist. Je weiter die Darstellung dort ging, desto mehr war der Bezug auf Marx’ Theorie über die Wirkungsgeschichte vermittelt. Daher kam die Sozialphilosophie erst an später Stelle. Ihr Gegenstandsbezug ist insgesamt problematisch. Heute hat sie einen sich stets verändernden Themenkatalog mit recht beliebigen Methoden. Oft beschränkt sich die „Methode“ darauf, die Terminologie eines gerade aktuellen Autoren zu übernehmen. Die Referenz dieser Termini – etwa „die Normativität“ oder „die Gemeinschaft“ – bleibt meist unklar. Die Sozialphilosophie vernachlässigt den Gegenstandsbezug zugunsten eines oft unkontrollierten Nachwirkens begrifflicher Weichenstellungen aus ihrer eigenen Geschichte. Vor die wirkliche Welt gestellt, erweist sich diese Lage als misslich. In einer solchen Lage ist ein theoriegeschichtlicher Ansatz nicht mehr äußerlich: es sind „kategoriale Rahmen“ und sich über Schulzusammenhänge erstaunlich kontinuierlich tradierende „Hintergrundannahmen“, die die Sicht auf die Dinge und Theorien hier prägen – nicht zuletzt auch emotional. Die exemplarische Analyse heutiger deutschsprachiger Sozialphilosophie beginnt mit einer Kritik von Habermas als der direkten Fortsetzung der Kritischen Theorie (3.1). Habermas teilt deren Problematik, eine mit der Basis unverbundene ethisierte Überbauphilosophie nicht mehr mit Theorien über die Basis verbinden („begründen“) zu können. Er transformiert diese Aporie durch mehrere Theoriemoden hindurch, von der Anthropologie (3.1.1) über die Transzendentalphilosophie und Rationalitätstheorie (3.1.2) bis hin zur normativistischen, nur noch ethischen Sozialmetaphysik (3.1.3). Schließlich laufen die zwei Reduktionismen, die technizistische und die moralistische, in einer an Hegel erinnernden Konstruktion zusammen (3.1.5). In ihr ist das Problem allerdings nur insofern gelöst, als die Gesellschaft nun ganz aus dem Blickfeld der Theorie verschwunden ist.

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Das macht der Vergleich mit den Marx’schen Konzeptionen von Ethik und Recht deutlich, die zum Abschluss dieses Kapitels betrachtet werden (3.1.4, 3.1.6). Eine zweite Variante normativistischer Sozialphilosophie war die deutsche Rezeption der verschiedenen US-amerikanischen Gerechtigkeitstheorien. Kapitel 3.2 macht zunächst Rawls’ Konzeption als eine ethisierte Spiegelung des verkürzten Gesellschaftsmodells der ökonomischen Neoklassik deutlich (3.2.1), die aufgrund ihrer Dehnbarkeit kaum praxistauglich ist (3.2.2). Auch der an den Historismus gemahnende Kommunitarismus verbleibt innerhalb der normativen Betrachtungsebene (3.2.3). Diese innernormativistische Debatte lässt sich theoriearchäologisch als Wiederkehr der zwei Ethisierungen von Basis und Überbau kennzeichnen (2.4.3). Dennoch, oder deshalb, wurde diese Debatte im postmarxistischen Deutschland begeistert aufgenommen. Die wiederum hegelianischen Versuche der deutschen Sozialphilosophie nach 1989, diese beiden Ethiken zu versöhnen, besiegeln erneut den Verlust des Gegenstandes „Gesellschaft“, die in keiner der beiden „normativen Theorien“ noch eigens thematisiert wurde (3.2.4). Das Kapitel zur Wirtschaftsethik (3.3) zeigt noch einmal die Wichtigkeit eines theoriegeschichtlichen Problembewusstseins auf. Denn die Intuition dieses Zweiges ist eine überaus kritische (3.3.1) – hat sich doch insbesondere die Theologie eine Erinnerung an die Marx’sche Kapitalismuskritik bewahren können (3.3.2). Das unerkannte Walten der in Kapitel 2 theoriegeschichtlich aufgewiesenen Fehlrezeptionen von Marx und der funktional marxvermeidenden Theorieumstellungen bewirkt jedoch, dass sich die kritischen Intentionen ins Gegenteil verkehren, und die Wirtschaftsethik weitgehend zur Apologie wird. Dies gilt im besonderen Maße für die Betriebswirtschaftsethik (3.3.3), aber auch für die historistische Wirtschaftsethik (3.3.4). Die verschiedenen wirtschaftsethischen Versuche, technizistische und normativistische Sozialphilosophien zu synthetisieren, führen zu einer abermaligen Neuauflage des Hegelianismus, solange der eigentliche Gegenstand, die bürgerliche Gesellschaft, nicht oder nur auf die beschriebene Weise verzerrt ins theoretische Blickfeld gerät (3.3.5). Die Reaktion der Globalisierungskritik, auf Theoretisierungen weitgehend zu verzichten, ist vor diesem Hintergrund verständlich (3.3.6). Auch sie bringt Marx wieder ins Spiel – bislang aber nur als Ikone. Für philosophisch fruchtbare Auseinandersetzungen mit der heutigen realen Welt allerdings sind empirische und einzelwissenschaftliche Betrachtungen unerlässlich. Dass Philosophie einen Beitrag dazu leisten kann, indem sie die Rezeptionsblockaden des Marx’schen Theorien aufspürt und richtig stellt, zeigt diese Arbeit im Vollzug. Die Betrachtung einer weiteren Theoriemode, der Renaissance des Pragmatismus (3.4), erlaubt Überlegungen über die Grundstruktur und Genese des deutschen Supernormativismus. Ein Vergleich der Grundoperation des Pragmatismus, der Umstellung der Fundamente der bisherigen Geistesphilosophie auf das menschliche Handeln (3.4.2), mit der Marx’schen Konzeption der Philosophiekritik (3.4.4) macht überraschend klar, dass man auch den Pragmatismus funktional als eine Marxvermeidungsstrategie interpretieren kann – gerade weil er eine

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ähnliche Grundoperation vollzieht wie Marx (3.4.3). Die Anwendung pragmatischer Gedanken auf die deutschsprachige Theoriearchitektur, die sich bereits weitgehend von dem Hegelschen Geistmodell gelöst hatte, führt zu einer ReIdealisierung philosophischen Denkens, zu einer basale Unterscheidungen unterlaufenden Einheitsphilosophie (3.4.1). Das Kapitel 3 zeigt in seinen verschiedenen Unterkapiteln so eine starke Tendenz zur Rehegelianisierung der Sozialphilosophie auf. Diese machen eine Besinnung auf Marx, als einen der wichtigsten Hegelkritiker, auch theorieimmanent plausibel.

3.1 Jürgen Habermas oder die Rückkehr der Philosophie des Rechts „Dieser Widerstand bei den einfachsten Dingen und den selbstverständlichsten Forderungen bestätigt den alten Erfahrungssatz, dass keine herrschende Klasse durch Gründe zu überzeugen ist, wenn sie nicht die Gewalt der Umstände zur Einsicht und zur Nachgiebigkeit zwingt.“ (Bebel, Die Frau, 1879; s.o., Fn. 69)

Da die Halbwertszeit philosophischen Wissens so kurz geworden ist wie die der Mode, sieht man sich philosophische Lehrbücher vergangener Jahrzehnte nur noch aus antiquarischem Interesse an. Doch philosophische Fragen werden kaum je gelöst, sondern eher vergessen oder anders gestellt. Insofern kann eine Historisierung der philosophischen Gegenwart heilsam sein – besonders hinsichtlich der vermeintlichen philosophischen Epochenschwelle von 1989 ist dies der Fall. In älteren Lehrbüchern wurde Marx mit großer Selbstverständlichkeit abgehandelt, und stets wurde als vielversprechender Kandidat eines „kritischen Marxismus“ Jürgen Habermas genannt. Im 20. Jahrhundert gab es kaum einen deutschsprachigen „linken“ Autoren, der derartig vielschichtig zu rezipieren, zu diskutieren und zu stimulieren in der Lage gewesen wäre wie er. Was heute staunen macht ist weniger dies – daran hat man sich gewöhnt – als vielmehr die Tatsache, dass er es einmal im Namen des „Marxismus“ tat, oder zumindest lange so verstanden wurde (in China noch im Jahre 2000). Außer den Schulzusammenhängen und einigen frühen affirmativen Bezügen (1957, 1960) sowie gab es für eine solche Verortung kaum einen Anhaltspunkt. Dass Habermas sich nach 1989 nicht mehr auf Marx beruft, stellt insofern keinen Bruch dar, als er es auch vorher eher selten tat (und wenn, dann als Negativfolie, cf. 1976b, 1; 1981b II, 549). Eine mögliche Erklärung liegt bei einem derart osmotischen Denker besonders nahe: wäre ein Marxismus kompetent vertreten worden, hätte er sich sicherlich näher mit ihm befasst. Zwar hat er in dem Streben, „emanzipatorische“ Politik philosophisch angemessen zu formulieren, fast alle bedeutenden Schulen seiner Zeit kommentiert und inkorporiert. Doch da Marx bereits für die meisten von diesen kein Thema war (außer in der Pflichtübung einer Widerlegung), wundert es kaum, dass von den marxismustheoretischen Anfängen so wenig übrig blieb.

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Bei Habermas’ Hauptgesprächspartnern war von Marx keine Rede,2 und mit Ausnahme von Abendroth nahmen, wie wir sahen, selbst seine marxistischen Bezugspersonen (wie Adorno, Marcuse oder Dutschke) Marx für die Gegenwart im Grunde nicht ernst. Es bestand aus der Perspektive der „Theorieproduktion“ kein Anlass, sich mit Marx näher auseinander zu setzen. Hierin deutet sich allerdings eine unkritische Wertschätzung der jeweils aktuellen Theorien um ihrer selbst willen an: „Theorie“ als solche wird von Habermas zwar in Einzelpunkten zuweilen scharf kritisiert, doch scheint sie schon durch ihr bloßes Auftreten als autoritativer Repräsentant der Wirklichkeit gerechtfertigt zu sein. Dies schließt blendet Denken und Sein jedoch voreilig ineinander. Das ist ein prinzipieller Unterschied zu Marx: kritisierte dieser auch noch die Wissenschaften (allerdings nicht von außen, wie Heidegger und Adorno, sondern indem er sie fortentwickelte), so baute Habermas Ergebnisse aus verschiedensten Einzelwissenschaften in sein philosophisches System bedenkenlos ein. Doch so etwas kann Folgen haben. Als ein disziplinierter Denker bezog sich Habermas auf jeder Stufe der Systementwicklung auf ihm bedeutend scheinende Vorgänger zurück; darunter immer wieder auch Marx. Anhand dieser Rückbezüge auf Marx wird nun die Entwicklung des Habermasschen Denkens bis auf die Gegenwart vergegenwärtigt und dabei zurückgefragt, welche Auswirkungen die jeweilige Systemstufe auf das Marxverständnis hatte. Anhand dessen werden ganze Spektren von Folgeuntersuchungen verschiedener anderer Autoren in den Blick geraten, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie auf Ideen von Habermas zurückgehen. Habermas ist daher doppelt repräsentativ für die Philosophie der Gegenwart: er schmiegt seine Theorien stets der Augenblicksverfassung an, in denen aktuelle theoretische Entwürfe die Welt malen; und er beeinflusste damit ganze Generation von Philosophen der Gegenwart.3 Folgen wir nun der Genese der Marxvergessenheit in den Entwicklungsstufen dieses letzten deutschen Systemdenkers. 2 Chronologisch waren solche Gegenüber Erich Rothacker, Arnold Gehlen, Martin Heidegger, Hannah Arendt, Hans-Georg Gadamer, Joachim Ritter, Hans Albert, Niklas Luhmann, Karl-Otto Apel, Dieter Henrich, Ernst Nolte, Michel Foucault, John Rawls und Robert Brandom (cf. Reese-Schäfer 2000, Horster 2000). 3 Einen Doppelsinn von „Gegenwartsphilosophie“ gibt es bei Lukacs 1923, 230 f.; Grisebach 1928 und Lehmann 1943: nicht nur ist die Philosophie gemeint, die gegenwärtig betrieben wird, sondern die unmittelbare „Gegenwart“ ist selbst Thema und Hauptfokus dieses Philosophierens. Daher muss sie eine kurze Halbwertszeit haben: nicht mehr der Sinn in oder hinter dem Wechsel der Zeiten ist von Interesse, sondern jeweilige Momentanzustände werden isoliert verstanden und philosophisiert. Auch der ebenso populäre wie ungenaue Term „Moderne“ gibt diese eher journalistische Orientierung wieder. Es ist eine Übersetzung des Vorhandenheitsdenkens in die philosophische Theorieproduktion. Die „Konsenstheorie der Wahrheit“ (Habermas 1973a) machte die Annahme, dass es keinen Zugang zur Objektivität, sondern nur eine Annäherung durch die „Intersubjektivität“ gebe, nur explizit. Von hier aus ist jede Theorie schon per se wahrheitswürdig. Es gibt keine andere Instanz der Kritik als die jeweils von den anderen Wissenschaftlern geübte. Aufgrund der Zufälligkeit derselben kann das allerdings philosophisch nicht befriedigen – der „Vorrang des Objek-

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3.1.1 Anthropologische Anfänge Wir hatten gesehen, dass die von der alten kritischen Theorie diagnostizierte Ausweglosigkeit theoretisch in der Hermetik ihrer politischen Ökonomie begründet war (2.6.2). Habermas, der an genau dieser aporetischen Stelle in die Frankfurter Schule einrückte,4 hatte für diese tragische Hermetik andere, nämlich anthropologische Hintergründe (Rehberg 1981). Diese liefen zwar auf eine ähnliche Konsequenz hinaus wie bei Adorno – nämlich, mit Gehlen und Freyer, auf Resignation.5 Doch sie eröffneten zugleich auch andere Möglichkeiten, der Hermetik zu entkommen: nicht mehr durch eine ökonomische Kritik, wie es nötig gewesen wäre, oder durch ästhetische Ausweichmanöver, wie sie Adorno und Marcuse unternommen hatten, sondern durch anthropologische Gegenthesen.6 Für Habermas’ anthropologische Prägung waren neben seinem Studium bei Erich Rothacker, dem Bonner Kulturanthropologen mit zwielichtiger Vergangenheit (cf. Rothacker 1934), die Werke Arnold Gehlens ausschlaggebend. Er nannte sie „mit Recht berühmt“ (Habermas 1956, 101 ff.). Darin könnte sich eine biographische Parallele ausgewirkt haben: Wie Marcuse und später Habermas kam auch Gehlen von einer idealistischen Philosophie her, von der er sich bereits in seinen frühen Schriften lossagte, um mithilfe einer „empirischen Philosophie“ (Gehlen 1956, 8) dem „wirklichen Geist“ näher zu kommen.7

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tes“ (Adorno 1966, 185) ist entschwunden. Der frühe Kritiker Willms hat diese sophistische Vorstellung pointiert: Diskurs sei „die Übertragung des liberalen Marktmodells auf die Wahrheitssuche“ (1973, 204). Habermas (1981b I, 489 ff.; 1985, 130 ff.) war selbst der beste Kritiker des „Begründungsdefizit“ der Frankfurter Schule: Durch ihre radikale Vernunftkritik, bei gleichzeitiger Berufung auf dieselbe; analog: bei ihrer steten Forderung nach Totalitätsbetrachtung (der „Blick auf das Ganze“), die gleichzeitig als unmöglich (oder heute unmöglich) bezeichnet wurde („das Ganze ist das Unwahre“, Adorno 1951, 80/GS 4, 55), war ihre Position aporetisch: die Aussagen hoben sich gegenseitig auf. So fiel die Kritische Theorie weniger durch Ergebnisse als durch Polemiken gegen verschiedenste Projekte auf – auch gegen solche, die ihr ähnlich waren (z.B. Mannheim, Neurath, Heidegger, Popper, König; cf. 2.6). Diese „Eingriffe“ beruhten auf einer eher diffusen Gesinnung. In der Begründung ihrer Ausfälle wies die Theorie große Lücken auf. Diese Verlegenheit ist der Hintergrund, der in der Folge ausgerechnet auf Marx projiziert wird, der ja für die Kritische Theorie im Grunde unwichtig war. Gehlens negative Anthropologie (1940) ließ ‚den’ Menschen auf Institutionen angewiesen sein, die in der „Industriegesellschaft“ die Lebensqualität zwar herabsetzten (1957), durch „subjektivistische“ Kritik jedoch nur gefährdet werden konnten (1969). Gehlen empfahl daher, sich dem Geschehen mit dem Pathos des Wissens auszuliefern („der Schlüssel der wahrhaften politischen Ethik“ erschöpft sich „in der Forderung ..., das Gesetz, das schon ist, zu bejahen”, Gehlen 1980, 147; vgl. Freyers „Anpassung“ und Heidegger „Gelassenheit“; Grimminger 1997). Dies motivierte noch die Intellektuellenschelte bei Schelsky 1975; cf. Habermas 1991b, 107 ff.; 1992, 619. Erich Fromms Weg verlief ähnlich, was zur Trennung vom Institut geführt hatte. Gehlen 1931, cf. Jonas 1968 II, 211 ff.; Rügemer 1979, 15 ff.; Böhler 1981, Üner 1994, Rehberg 1994; Thies 2000.

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Diese junghegelianische Tendenz führte Gehlen folgerichtig zunächst zu Fichte (1935), dann zur Anthropologie (1940) und schließlich zu den Institutionen (1956).8 Damit repräsentierte er eine Philosophie, der Habermas nach seinem Bruch mit der spätidealistischen Philosophie Heideggers und Schellings nahe stand: „Auf der Suche nach Wirklichkeit“, ohne den idealistischen Hintergrund völlig zu negieren.9 Nicht zufällig las Habermas Gehlen vor einer marxistischen Folie:10 die Perspektive einer wissenschaftlichen und empiriehaltigen Philosophie, die den Schwerpunkt auf die Handlung legte, drängte regelrecht dahin; zumal auch der für den jungen Habermas zentrale Marcuse (1955, 1964) den Weg von Marx zurück zu Feuerbach, zum Menschen im allgemeinen gegangen war.11 Nun stellten die Werke von Gehlen und Arendt bereits eine implizite Marxkritik dar;12 wie sich ja auch Marcuse am entschiedensten von Marx verabschiedet hatte. Der anfangs optimistischen Rezeption der Anthropologie Gehlens und Rothackers in Marx’scher Lesart13 entspricht so, als Habermas mit Horkheimer 8 Die Junghegelianer waren stark von Fichte beeinflusst (Hess 1843; Hogrebe 1987, 112). Ihr anthropologisches Pendant ist Feuerbach, ihr institutionelles die Kritik von Kirche und Staat (cf. Löwith 1941, Pepperle 1985). 9 Der Bruch mit Heidegger wurde ausgelöst durch dessen Wiederveröffentlichung von Texten aus der NS-Zeit: „Bis zum Erscheinen der Heideggerschen Einführung in die Metaphysik, das war 1953, waren meine politischen und meine philosophischen Konfessionen [...] zwei völlig verschiedene Dinge. Es waren zwei Universen, die sich kaum berührten“ (Habermas 1979, 515). Zur Rolle Schellings (Habermas 1954a, 1963b) vgl. Keulartz 1995. Zum „idealistischen“ Hintergrund Gehlens (der „transzendentalen Handlung“ 1931 oder der „doppelten Reflexion“ 1933 – ein „Aufhören der Materialität der Dinge“, 1931, 176) siehe Boehler 1973, Rügemer 1979; zum Einfluss auf Habermas Glaser 1972. 10 Gehlen beschreibe „prinzipiell nichts anderes als der junge Marx“ (Habermas 1956, 103): die Entfremdung. Selbst Freud liest Habermas „Gehlensch“ (1968, 342 f.). Auch Harich und Lukács lasen Gehlen marxistisch (Rehberg 2000). Gehlens Dialektik, der Mensch sei „von Natur aus ein Kulturwesen“ (1940, 38) kam Lukács nah. Ähnlich war für Habermas auch Arendts emphatischer „Begriff der Praxis [...] eher marxistisch als aristotelisch“ (Habermas 1976a, 238; Negt 1993, Brunkhorst 1999). 11 „Der Mensch als Gattungswesen diesseits von allen Klassengegensätzen ist eine Bedingung der Möglichkeit der klassenlosen Gesellschaft“ (Marcuse 1977, 25; zitiert nach Habermas 1977, 281; cf. Schmidt 1973). Marcuse war für Habermas der wichtigste ‚kritische Theoretiker’ (cf. Habermas 1977, 266, 279; 1985a, 216; 1991a, 53). 12 „Der Aufstieg der Anthropologie zur ersten Philosophie ist die vielleicht geschichtlich wirksamste Gestalt impliziter Marxismuskritik“ (Rohrmoser 1974, 57 – Arendts Anteil daran sei „gering“, 81; vgl. Marquard 1973). Rothacker kritisierte den Marxismus explizit, indem er als die „wahren Unterbauten des historischen Geschehens“ die Lebensstile einführt – etwas vorwiegend geistiges (Rothacker 1932; zitiert nach Dahms 1994, 366). Rothacker 1934, 94, sieht – mit Fichte – als historischen „Motor“ nicht das Können, sondern das „Wollen“. 13 Habermas nennt auch Rothacker und Marx in einem Atemzug (1954b, 28; cf. Morf 1970, 134 ff.). Zwar kannte Gehlen eine zweite, mimetische Handlungsform, die in die „Erkenntnis“ mündet. Doch auch diese sei, „wie Hegel und Marx bereits wussten, durch Arbeit vermittelt“ (1958, 28). Das erst von Plessner hervorgehobene Ausdrucksverhalten (29) sowie die resultierenden Konstitutiva „Lebensstil“ und „Welt-

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gegenüber der bloß instrumentellen Perspektive skeptischer wurde,14 eine Verabschiedung zwar nicht von Gehlen, wohl aber von Marx. Mit der anthropologischen Kritik an Marxens vorgeblichem „Produktionsparadigma“ (1985, 95 ff.) war jedoch extensional nur Gehlen getroffen, dem Habermas bislang gefolgt war – und weiter folgte.15 Er sieht ihn in Marx hinein statt in Gehlen; das marxistische Vokabular blieb ein Ausflug. Waren die Aporien der kritischen Theorie einmal auf ein anthropologisches Modell gebracht, ließen sie sich auch anthropologisch lösen. Hannah Arendt (1960) machte genau ein solches Angebot: sie teilte mit anderen deutschen Denkern wie Gehlen und Marcuse die Festschreibung der Ökonomie auf eine rein funktionelle und geschichtlich ausweglose Perspektive,16 indem sie die krisenhaften modernen Phänomene unter dem Begriff „Arbeit“ subsumierte. (Wie die kapitalistische Realität sich aus diesem Begriff entwickelt haben soll, blieb offen.) Dieser stand merkwürdigerweise – und stark von Marx abweichend – das „Herstellen“ gegenüber, in dem nun all die Kreativität, die dem biologisierten Arbeitsprozess aberkannt wurde, gesammelt erschien (vgl. noch Joas 1996).17 Den Gipfel bildete das „Handeln“, welches nun in vollendeter Weltlosigkeit („ohne Vermittlung der Materie“, 1960, 4) die der antiken Polis ästhetizistisch nachempfundene „reine“ Politik darstellte. Wie Arendt entwarf Habermas einen Stufenbau:18 Der vermeintlich Marx’schen „Reduktion des Selbsterzeugungsaktes der Menschengattung auf Arbeit“ (Habermas 1968, 58; cf. 1968a, 45) setzte er das bild“ (Rothacker) sind „eingelassen in ein bestimmtes ‚System’ gesellschaftlicher Arbeit, in Produktionsverhältnisse“ (31). Dies reduziert nicht auf Arbeit, sondern behauptet deren übergreifende Dominanz – wie bei Marx. 14 Sie ist bei Marx nicht gegeben, schon gar nicht in den Frühschriften (Arndt 1985, 17 ff.; Böhm 1998). Gehlen wollte die „Normen“ zu erklären, indem er sie auf ihre Funktion für das Überleben reduzierte (Habermas 1956). 15 Noch in Habermas 1992, 77 und 40 sowie 1999, 20 und 30 begegnen Gehlenianismen. Sie passen gut in den integralen Normativismus (4.2.5), denn erst die funktionalistische Verkürzung erforderte die ethische Ergänzung. 16 Arendt 1960, 314 befürchtet von der Vorherrschaft des „Animal laborans“ (in der Antike ein Titel für den Sklaven – man bemerke den Nietzscheanischen Unterton des „Sklavenaufstandes“, der sich in Arendts Endzweck der Politik bestätigt: dort zählt nur „der unvergängliche Ruhm großer Taten und Worte“, 190), dass die Neuzeit „schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, [...] dass der Mensch sich anschicken könnte, sich in die Tiergattung zu verwandeln, von der er seit Darwin abzustammen meint“. 17 Die Gegenüberstellung ist verfehlt: in beiden Fällen wird gearbeitet und etwas hergestellt. Sie hinkt schon etymologisch (1960, 77). „Arbeit“ meint hier primär Industriearbeit (sie ist nichtig, da sie „nichts [...] hinterlässt“, 81 – ein Klassenvorurteil); „Herstellen“ dagegen das kleinbürgerliche „Handwerk“ (77) oder das großbürgerliche „Kunstwerk“ (154). Arendt schwankt: Mal ist jedes Produkt ein Werk, während die Arbeit nur der Prozess seiner Erzeugung ist (81), mal ist die Arbeit das Herstellen von niederen Produkten wie Konsumtionsmitteln (132), mal auch ist Arbeit die Tätigkeit des Sklaven, während die Freien herstellen (84). 18 Erst später räumte Habermas ein: „Von Hannah Arendt habe ich gelernt, wie eine Theorie des kommunikativen Handelns anzugehen ist“ (1991b, 405; 1992, 182 ff.).

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höhere Stockwerk der „Interaktion“ obenauf (1968a, 9 ff., 62 f.; 2.4.2, Fn. 37). Damit wurde die Marx unterschobene reduktionistische Anthropologie Gehlens weniger kritisiert als vielmehr aufgestockt – und so festgeschrieben. Habermas’ Bezugnahmen auf die „Naturgeschichte der Menschengattung“ (1968a, 161; 1968, 243) überspringen Marx ganz wie die ältere deutsche Sozialphilosophie: Er ergänzt die reduktionistische Verkürzung auf bloß technisches „Arbeiten“ durch höhere menschliche Verhaltensweisen, die sich in entsprechenden „Wissenschaften“ manifestieren. Eine Synthese theoretischer Fehlenentwicklungen behebt jedoch keine davon – in der bloßen Kombination von reduktionistischer „Technik“ und materialfreier „Interaktion“ verliert die Gesellschaftstheorie ihren Gegenstand.19 In der Marxkritik steckt bei Habermas ein gutes Stück Biographie.20 Die anthropologische Aufstockung der eigenen reduktionistischen Anfänge mag originell sein; als Marxkritik kann sie jedoch nicht durchgehen.21 Ohne auf Filiationen allzu großen Wert zu legen, ist deutlich, dass auch die Dreiteilung in ein technisches, praktisches und emanzipatorisches Erkenntnisinteresse (1968a, 155) Hannah Arendts „Arbeiten, Herstellen und Handeln“ entspricht, insofern die Arbeit rein technisch begriffen wird, das Herstellen sich vorwiegend auf die künstlerische Tätigkeit (den vormals „objektiven Geist“) und 19 Der Synthese von rein technischer Instrumentalität und weltloser Moralität entschlüpft der Gegenstand Kapitalismus (2.4.1; ähnlich Türcke in Bolte 1989, 35). Doch Habermas kompensiert die theoretische Lücke nicht, sondern malt die Wirklichkeit nach ihrem Bilde: er erklärt die Lücke zum Abbild einer gewandelten Wirklichkeit: „Die Basisideologie des gerechten Tausches [...] brach praktisch zusammen“ (1968a, 75; 1973, 54). Diese geschichtsphilosophische Rahmenkonstruktion ist als ein theorieimmanentes Erfordernis zu begreifen. Noch Jahrzehnte später wird die Lücke vernotwendigt: Den Sozialwissenschaften sei der „Zugriff auf die soziale Realität verwehrt“ (1991a, 204) – Habermas macht aus einer Beobachtung recht schnell ein „müssen“ (wie bereits Heidegger, cf. Lafont 1994, 337). 20 Habermas hat anfangs selbst eine „arbeitsdialektische“ Sicht vertreten, gegen die er sich dann wandte (Keulartz 1995, 146 f., 170): „Arbeitend verdankt der Mensch sein Dasein sich selbst, seine Geschichte ist die Geschichte seiner Arbeit“ (Habermas 1958, 22); „wenn alles von Menschenhand Geschaffene auch in der Verfügung der Menschen eingeht, kann erst das wahrhaft Unverfügbare freigesetzt [...] werden – [...] erst die durchgeführte Rationalität des Lebensnotwendigen gestattet die Irrationalität des Lebensüberflusses“ (1957, 442). 21 Diese „zunächst nur positivismuskritisch beabsichtigte Überlegung“ wurde nachträglich auf Marx projiziert (Honneth 1980, 215). Die Technokraten hatten Marx als frühen Positivisten eingestuft (H. Klages 1964; cf. 2.4.5, Wellmer 1969, Simon Schäfer 1974). Frühformen der Unterscheidung finden sich in Habermas 1967, 15 ff.: „Individuen, die nur noch über technisch verwertbares Wissen verfügten und keine rationale Aufklärung über sich selbst [...] erwarten dürften“, würden „ihre Identität verlieren“, wendet Habermas ein gegenüber Albert – gewiss kein Marxist (72). Angesichts der Äußerlichkeit dieses Dualismus in der Kritik an Marx sah bereits Willms 1973, „wie die Fixiertheit auf jenen problematischen Ausgangsdualismus [...] entweder in die angenommene Ausgangsproblematik zurückbiegt oder andere Ergebnisse einfach ignoriert“ (178, vgl. 33 ff., 70 ff., 138 ff., 162). Cf. Sensat 1979, Heller 1982, Cerruti 1983, Bolte 1989, Rockmore 1989, Roderick 1989, Bohmann 1999, McBride 2000.

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ihre hermeneutische Aufbereitung bezieht, und Arendt (1963) das politische Handeln als ein „befreiendes“ begriff.22 Sogar eine „Sprechakttheorie“, ein „kommunikatives Handeln“ war bei Arendt zu finden, da sie, inspiriert durch Jaspers, als das Medium des politischen Handelns das Sprechen bestimmt hatte.23 Für das Marxverständnis folgten aus diesem anthropologischen Ansatz Verzerrungen. Zunächst wurde durch das unverbundene Nebeneinanderstellen verschiedener Handlungsformen die problematischen Züge einer jeden von ihnen festgeschrieben. „Arbeit“ wurde inhaltlich unterbestimmt, wenn sie mit Hilferding, Pollock und Gehlen für ein geschlossenes technisches System gehalten wurde – Marx’sche Theorien kamen so nicht mehr zum Ansatz. Bei der kategorialen Analyse als „Arbeit“ (die sich beim jungen Marx auf mehr erstreckte als nur Begriffsbestimmungen) ließ man es bewenden;24 es gibt auch aus Habermas’ Umkreis keine ökonomischen Analysen. Die hermetische Interpretation wurde zudem verewigt, indem sie der Kritik gegenüber abgedichtet wurde: in einem Dilthey nahekommenden Dualismus, wo sich Geist nur auf Geist richtet, wurde die Arbeit den „Fachwissenschaften“ überlassen (den neoklassischen),25 während die Philosophie sich auf die höheren, geistigen Angelegenheiten richtete – „ohne Vermittlung der Materie“ (Arendt 1960, 4).26 Marx wurde weniger wegen seinem „eingeschränkten philosophischen Selbstverständnis“ (Habermas 1968, 59) oder durch die Zweite Internationale zum Objektivisten, sondern eher durch diese Interpretation. Habermas hatte einst richtig beklagt, dass eine philosophische Marxinterpretation zu kurz greife (1957, 402; 2.4.4, Fn. 71). Dieser Defekt wird kaum dadurch behoben, dass die Philosophie Marx völlig aus den Augen verliert – und

22 Dahms 1994, 370 sieht darin (mit Hans Albert) eine Verwandtschaft zu den Wissensformen Max Schelers, welcher zwischen Herrschafts-, Bildungs- und Heilswissen unterschied (Scheler GW 9, 114; insgesamt GW 8). 23 Schon bei Arendt macht sich der idealistische Fehlschluss von der Form auf den Inhalt (cf. 2.5) bemerkbar: nur weil in der Sprache von der Politik gehandelt wird, heißt das keineswegs, dass sie darum vom „Arbeiten“ und „Herstellen“ ‚rein’ gehalten werden muss. Eine Politik, die diese Topoi ausspart, ist gar keine. 24 Zur Philosophisierung des Arbeitsbegriffs Marcuse 1933, Honneth 1980b, Lange 1980, Gürtler 2001, Krebs 2002. Für die „deutsche Sozialphilosophie“ reicht „der Begriff der Arbeit [...] vollständig hin“ (MEW 3, 472; 2.5.7; Fn. 276). 25 Arendt 1960 vertritt einen in der Konsequenz neoklassischen Ansatz, indem sie der vollentfalteten Gesellschaft bedenkenlos ein „‚reibungsloses Funktionieren“ zutraut: in ihr wird „wirklich [!] mit ‚unsichtbarer Hand’ regiert“ – und genau dies sei etwas, „Was Marx nicht verstand“ (45). In eigenartiger Konfusion bezeichnet sie gerade die bürgerliche als eine „kommunistische Gesellschaft“ (45) – gegenüber ihrem schroffen Antimodernismus verschwimmen die modernen Gegensätze konturenlos ineinander (vgl. Brunkhorst 1999, 91). 26 Diese Konstellation findet sich noch in der Auseinandersetzung mit Luhmann, dessen Argumente Habermas in ihrem vermeintlichen Geltungsbereich unbesehen übernimmt; ihnen wird lediglich eine höherwertige Handlungsform übergeordnet – so eben das „kommunikative“ Handeln (Habermas 1971, cf. noch 1981).

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mit ihm weite Teile der materialhaltigen, „nichtnormativen“ gesellschaftlichen Wirklichkeit, um deren Erfassung es doch einmal gegangen war.27

3.1.2 Die Transformation in Rationalitätstypen Die anthropologische Schichtung konnte, als die philosophische Mode wechselte, leicht in eine terminologisch modernisierte „rationalitätstheoretische“ überführt werden. Sie musste dies sogar, da sie außer elementarsten Formen der Vergesellschaftung nur wenig erklärte.28 Eine solche Transsubstantiation findet sich nun in Erkenntnis und Interesse (1968). Schon die Anthropologie Rothackers kannte eine Interessengeleitetheit der Erkenntnis.29 Dessen „Kulturanthropologie“ unterschied sich darin von der instrumentalistischen Variante Gehlens, dass sie geisteswissenschaftlich vorging. Damit ging eine Aufteilung in verschiedene Gegenstandbereiche einher.30 So erbte Habermas den Neukantianismus: Die alte Unterscheidung von Welt und Wert wurde nun terminologisch aufgepeppt. Hatte Rothacker Diltheys Erkenntnispsychologie in eine kulturalistische Anthropologie überführt,31 so verlegte Habermas den archimedischen Punkt nun in die Wissenschaftsgeschichte. Die Unterscheidung der erkenntnisleitenden In27 Marx wird sogar dort aus den Augen verloren, wo er thematisiert wird: Habermas 1960 lässt sich die Thesen vom „organisierten Kapitalismus“, einer Ablösung der Ausbeutung durch die „Entfremdung“ und des Verschwindens des Proletariats kritiklos vorgeben, ohne noch auf den genuin Marx’schen Sinn dieser Kategorien zu reflektieren, die solche Thesen kaum erlauben (228 f.; Anzeiger für geschichtsphilosophische Thesen dieser Art sind die Formeln „nicht länger“ und „heute nicht mehr“). Von ökonomischer Theorie ist nur selten die Rede, „Empirie“ kommt stattdessen vor in Form der Entwicklungspsychologie, Linguistik oder Systemtheorie (die doch gar keine Empirie kennt). Dahms vermisst in einer rückblickenden Aufzählung von Habermas die „pragmatische Deutung der Naturwissenschaften“ – die neben dem „Verstehen“ und der „Selbstreflexion“ einfach fehlt (1994, 363; Habermas 1967, 9). 28 Mead, Durkheim und Gehlen hatten Gesellschaft anthropologisch zu erklären versucht, waren aber über Spekulationen über deren Anfänge kaum hinausgekommen. Eine „Schichtung der Persönlichkeit“ kannte schon Rothacker 1938. Habermas war mit Plessner klar, dass sich das Stufenschema innerhalb einer Stufe „nicht wiederum anwenden“ lässt, dass es dort wegen ihrer Einheit keine Abgrenzungen der Schichten (und somit keinen Leib/Seele-Dualismus) mehr geben kann: selbst die elementarsten Regungen des Menschen (Lachen, Weinen) sind geistig durchformt (und umgekehrt, cf. 1958, 24). Hat er sich diese Einsicht bewahrt? 29 Zur Rolle Rothackers für Habermas vgl. insgesamt Dahms 1994, 361 ff., Keulartz 1995, 106 ff. Apel 1988, 98 bemerkte in diesem Sinne über Habermas 1968, dass die „erkenntnisanthropologischen Einsichten [...] uns beiden aus der Bonner Studienzeit vertraut waren“. Zu dieser gemeinsamen Zeit vgl. auch Habermas 1990. 30 „Während die Naturwissenschaften mit Naturdingen zu tun haben, beschäftigen sich die Geisteswissenschaften mit Menschenwerken“ (Dahms 1994, 268, Rothacker paraphrasierend). Methodologie wird zur Ontologie. 31 „Er [Rothacker] verankert die Grundhaltungen, die für Weltanschauungen konstitutiv sind, nicht länger in der psychischen Struktur des Menschen, sondern fasst sie als Kern kultureller Lebensstile auf“ (Keulartz 1995, 109).

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teressen entnahm er aber nicht den Typen oder Schichten der Person wie Dilthey (GS II), auch nicht geschlossenen Kulturen wie Rothacker,32 sondern nun einer „Rekonstruktion“ der verschiedenen Wissenschaften (1968, 9). Damit will Habermas eine „Gesellschaftstheorie“ vorbereiten – die als eine „kritische“ im Sinne Horkheimers dadurch erkennbar wird, dass es sie noch gar nicht gibt (1968, 9). Mit der Erklärung der „Selbstreflexion“ der Wissenschaften (1968, 143 ff., 204 ff., 262 ff.) zur Gesellschaftstheorie überfrachtet er aber nicht nur die Wissenschaftstheorie, sondern er verliert zudem auf dreifache Weise den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität: zunächst kennt er diese nur noch durch die Brille der jeweils vorliegenden Wissenschaften (die, wie wir sahen, den Kapitalismus ja selbst aussparen), deren Ergebnisse werden unkritisch nur hingenommen,33 und es geht ihm nur um die subjektive Seite des Forschungsprozesses.34 Das Motto des Vorworts, „dass radikale [?] Erkenntniskritik nur als Gesellschaftheorie möglich ist“ (1968, 9), ist daher umgekehrt zu lesen: hier löst sich Gesellschaftskritik in Erkenntnistheorie auf. (Die Frage, ob durch diese spekulative Überfrachtung nicht auch die Erkenntnistheorie verunmöglicht wird, wäre separat zu stellen.) Die Motive für diesen transzendentalen Umweg der Rechtfertigung emanzipatorischer „Interessen“ lagen sicher im Positivismusstreit.35 Doch statt konkreter Polemik gegen die vorgeblichen Positivisten, die doch eigentlich gemeint sind (vgl. Habermas 1985a, 15 ff.),36 nimmt er eine Zurechtstellung ganzer Wissenschaftszweige vor, die den Anlass einer Polemik weit übersteigen. Besonders für das Marxverständnis hatte diese Umdeutung Konsequenzen: ohne dass sich Habermas inzwischen der Marx’schen Inhalte näher angenommen hätte, wird ihm nun weniger eine Reduktion vorgeworfen37 als vielmehr eine erkenntnistheoretische Defizienz: „Eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Gesellschaftstheorie hat er [Marx] nicht für nötig gehalten“ (1968, 62). Eine solche hatte Marx 32 Rothacker sprach von den „Negern“ oder „den Griechen“ („ein herrliches Menschentum im Ringen um den Siegespreis seiner maß- und zuchtvollen Vollendung“, 1948, 71), auch von Förstern und Dichtern (1948, 161). 33 Habermas beschränkte die Rolle der Philosophie einst darauf, Ergebnisse der Wissenschaften hinzunehmen und zu deuten (1958, 20). Wenn er nun „Reflexion“ als vom Material unabhängig begreift, unterläuft er gerade dies: es bleibt reine „SelbstReflexion“ (1968, 86, 244), deren Protagonist nicht zufällig Freud ist (262 ff.). 34 Die „Interessen“, schon bei Horkheimer (1937; 2.6.1) eine Ausflucht, haben etwas intentionales, subjektivistisch verkürztes. Sie sind der Versuch eines transzendentalen Berechtigungserweises von Wunschkatalogen. 35 Noch in Habermas 1992, 17 finden sich Spuren des Positivismusstreites im Schreckgespenst des „Funktionalismus, der alles, was aus der Beteiligtenperspektive noch Verbindlichkeit oder [...] Bedeutung hat, neutralisiert“. 36 „Dass wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus“ (1968, 9), unter den hier selbst noch Dilthey fällt (224 ff.). 37 Der Vorwurf von Habermas 1968a war, „dass Marx nicht eigentlich den Zusammenhang von Interaktion und Arbeit expliziert, sondern unter dem unspezifischen Titel der gesellschaftlichen Praxis eins auf das andere reduziert, nämlich kommunikatives Handeln auf instrumentales zurückführt“ (45, anders 1968, 71).

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auch nicht gebraucht, denn für seine politische und ökonomische Theorie – die Habermas nicht diskutiert – zählt allein ihre explanatorische Kraft.38 Eine „Rechtfertigung“ brauchte allererst die in die Ecke gedrängte Kritische Theorie, die hier erneut ihre Schwäche in Marx hineinprojiziert.39 Erkenntnistheorie konnte sie ebenso wenig erbringen wie Psychoanalyse, Evolutionsbiologie oder Moralphilosophie. Statt die kritisch-theoretischen Inhalte aus der Sache zu begründen, wurden sie aus merkwürdig auswechselbaren theoretischen Überbauten zu deduzieren versucht, die extra zu diesem Zweck errichtet wurden – unter der idealistischen Voraussetzung, dass die Form auf ihren Inhalt durchschlägt. Nicht nur die Metatheorien wurden für diesen transzendentalen Berechtigungserweis instrumentalisiert, allzu gewollt interpretiert;40 auch die Inhalte gewannen dadurch wenig. Sie konnten so kaum dieselben bleiben.

3.1.3 Der Mythos der „normativen Fundamente“ „Was soll man [...] von einer Wissenschaft denken, die von diesem großen Teil der menschlichen Arbeit vornehm abstrahiert und nicht in sich selbst ihre Unvollständigkeit fühlt, solange ein so ausgebreiteter Reichtum des menschlichen Wirkens ihr nichts sagt.“ (MEW 40, 543)

Fassen wir die bisher aufgefundenen Verzerrungen von Marx zusammen: die interaktionistische Dimension wurde Marx in einem ersten Schritt aberkannt, um ihm in einem zweiten genau dies anzukreiden. Die verfehlte instrumentalistische Deutung von Marx wurde dadurch zementiert. So verlor er seine Brisanz. Dass eine „normative Sicht“ auf die Dinge in bestimmten Fällen wenig sinnvoll ist, kann ja auch an der untersuchten Wirklichkeit liegen.41 Diese wird aus der Höhe des „Transzendentalen“ aber kaum mehr berührt.

38 Warum hätte Marx die transzendentale Logik durch eine „Synthesis durch Ökonomie“ ablösen sollen (Habermas 1968, 43 f., cf. 379)? So dachte erst Sohn-Rethel (1972, 123 ff.). Diese Philosophisierung verführt zur Spekulation: „Das Tauschprinzip [...] ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip“ (Adorno 1966, 149). Marx’ Polemik gegen derlei ist von bleibender Aktualität: „Wir befinden uns jetzt mitten in Deutschland! Wir werden Metaphysik treiben müssen, wo und während wir politische Ökonomie treiben“ (MEW 4, 125; cf. 2.5.5, Fn. 181). 39 Ihr Problem lag darin, dass sie oft Werturteile abgab – etwa gegenüber dem unscharf eingegrenzten „Positivismus“, für sie aber selten sachhaltige Kriterien angeben konnte (Dahms 1994, 138 ff., 318, 392). Das Problem der „Kritischen Theorie“, die inhaltliche Lücke (Habermas 1968a, 9), wurde erneut formal abzufangen versucht: mit einem erkenntnistheoretischen Berechtigungserweis der polit-ästhetischen Bewertung (vgl. zur Erkenntnistheorie auch Adler 1936, Sohn-Rethel 1972, Sandkühler 1973, Halfmann 1976, Kerber 1981, Pabst 1992, Behrens 1993). 40 Habermas bekennt selbstkritisch: „Ich glaube, dass ich mir die fremden Zungen, hermeneutisch gesehen, auf brutale Art und Weise zu eigen mache“ (1985a, 206). 41 Etwa dann, wenn Grausamkeiten mit vollem Recht geschehen: nicht trotz, sondern wegen und im Namen der Normativität – das ist nicht erst seit Foucault bekannt (3.1.6). Das theoretische Beharren auf einer ‚höheren’ menschlichen Sphäre muss

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Schließlich wurde der Marxens Theorie eine Abhängigkeit von der Erkenntniskritik unterschoben. Dass die nachträgliche Rekonstruktion der „radikalen“ Erkenntniskritik das ihr äußerliche Erklärungsziel einer „Gesellschaftstheorie“ verfehlte, zeigt sich ex post darin, dass die Leerstelle in der Theorie durch weitere philosophisierte Disziplinen angereichert werden musste: mit Entwicklungspsychologie (1976b), Sprechakt- (1981b) oder Moraltheorie (1983, 1991c). Die Kritische Theorie wurde dadurch vollends weltlos und entökonomisiert. Statt ihre kritischen Einwürfe gegen Einwände zu verteidigen, reichte sie den Vorwurf an Marx weiter: seine Kritik sei nicht gerechtfertigt gewesen, da er sie in Form der Naturwissenschaften vorbrachte (1968, 85).42 Der Vorwurf gerinnt darauf, dass er Geistes- und Naturwissenschaften nicht dualistisch geschieden habe, oder vielmehr: dass er nicht Gustav Schmoller war. Statt nun, was das Normale gewesen wäre, sich von Marx zu verabschieden, wurde Marx noch in das eigene Theoriemodell zu integrieren versucht – als defizienter Vorgänger. Dafür war allerdings eine „Rekonstruktion“ durch eine andere „Theoriesprache“ nötig (1976b).43 Diese erstreckte sich zunächst auf den „dialektischen Zusammenhang von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ (1968a, 46). Dabei verschwand allerdings gerade dieser Zusammenhang, indem dem selbstgenügsamen System der Arbeit44 ein ebenso selbstgenügsamer institutioneller Rahmen nebengeordnet wurde.45 solche Wirklichkeiten entweder verklären, oder ihnen utopisch normative Wunschkataloge entgegenstellen. Beides schien Marx wenig sinnvoll. 42 Wenn die Gesellschaftstheorie den Kontakt mit der Realität verliert, da sie sonst keine „Selbstreflexion“ (1968, 262 ff.) mehr ist und der erkenntnistheoretischen Defizienz unterliegt (4.1, Fn. 2), lässt sich nur noch eine rein formale Erkenntniskritik an der generellen Praxis der Wissenschaften (daran hatte Marx kein Interesse – eher schon Heidegger, cf. 2.5.5) sowie ein abstrakter Moralismus formulieren (auch dieser war für Marx nicht von Interesse, da so die Moral selbst gerade nicht mehr verstanden wird). Eine Kritik aus bestimmten materiellen Argumenten heraus wird nicht mehr geführt – sie wäre zu „positivistisch“. Die Aporetik der Kritischen Theorie wurde durch Erkenntnis und Interesse nur verschärft: noch höheren Ansprüche stehen noch weniger konkrete Ergebnisse gegenüber. 43 S.u., Fn. 61. Wozu rekonstruieren, wenn nicht, um die Inhalte zu verändern? Doch wenn die Inhalte verändert werden, warum dann überhaupt an Marx anknüpfen? Mit Wittgenstein ist zu entgegnen, dass bei einer Rekonstruktion „alles auf einer Ebene“ liegt: Wir haben nur eine Beschreibung durch eine andere ersetzt – noch dazu durch eine, die das Bezugssystem, also den Bedeutungshorizont der Begriffe radikal verschiebt. Sie werden so eher verunklart, gar ad absurdum geführt (cf. Rorty 1989, 99) – eine „Kaputtrekonstruktion“ (Bolte 1989, 16). 44 In der antiken Begrifflichkeit hat die poiesis ihren Zweck außer sich, nur die praxis ist selbstzweckhaft. Im Kapitalismus produziert der Arbeiter für den Kapitalisten; das System aber reproduziert sich selbst. Luhmanns „Autopoiesis“ spiegelt diesen Wandel wider; eine Verpuppung von Marx’ „Reproduktion“ (Brunkhorst 1999, 76). 45 Hahn 1970, 73 bemängelte, dass Habermas den „gesellschaftlichen Charakter der Produktion“ unterschlage und so einen anthropologisierten „Geschichtsdualismus“ entwerfen müsse, wobei Herrschaft und Ideologie „einzig“ (Habermas 1968, 58) aus der „Interaktion“, also idealistisch begriffen werde (s.u., Fn. 58; Rüddenklau 1982).

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In der Folge fokussierte Habermas’ nur noch diese Residualkategorie „kommunikatives Handeln“ (1968, 71), die unabhängig von dem Inhalt der Komplementärkategorie „Verfügung“ (1968, 65, 83) behandelt wurde.46 Deutlich wird dies in den Überlegungen zur „Diskursethik“ (1978, 1983, 1991c). Zwischen den anthropologischen Annahmen, die nach wie vor die Theorie bestimmen (Honneth 1980a, Honneth 1992, Habermas 1999, 37 f.), und den formalethischen Prinzipien, die den Diskurs regeln, liegt dieser selbst als ein ergebnisoffener. Sein Ergebnis ist bei Habermas aber immer schon vorweggenommen: er bezieht sich in einem „ewigen Gespräch“ nur auf sich selbst, um seine eigenen Möglichkeitsbedingungen zu garantieren. Inhaltliches ist kaum vorgesehen.47 Die Diskursethik kappt hier vollends die Verbindung zur Welt.48 Die Ethisierung und Psychologisierung, die den Verlust der Konkretion auffing, bedeutete allerdings keinen Bruch mit der Kritischen Theorie – schon diese hatte die Brüche in ihren Theorien „sozialpsychologisch“ zu kitten versucht (2.6.2). Auch in den falsifizierbaren Aussagen über das „System der Arbeit“, auf die sich Habermas festlegte, beerbte er die Frankfurter Schule: mit dem unterstellten Primat der Politik werden Marx’ Aussagen über die Wirtschaft – ohnehin schon als defizitär eingeordnet – geschichtlich relativiert und für die Gegenwart außer Kraft gesetzt.49 Der „dialektische Zusammenhang“ wich einem Antago46 Die „Verfügung“ entstammt Habermas’ idealistischem Frühwerk (Roderick 1989, 181 f.; cf. Fn. 9, Fn. 142). Spätere Titel dafür waren Synthesis durch Arbeit, technisch verfügbares Wissen, instrumentelles Handeln oder Systemintegration. Die rekonstruierten Produktionsverhältniss ohne Produktion figurierten dagegen unter den Namen Interaktion, Dialektik der Sittlichkeit, Lebenswelt oder Sozialintegration. Die rigorose Trennung war als eine der Kategorien inauguriert. Damit wurde aber verschiedenstes beschrieben – zuletzt hypostasierte Gegenstandsbereiche, wie die Redeweise von den „Systemen zweckrationalen Handelns“ (Habermas 1968a, 46) und dem „institutionellen Rahmen“ (73) manifestierte. Sie wuchs sich zum „Geschichtsdualismus“ von System und Lebenswelt aus (1981b, cf. Fn. 59). 47 Das „kommunikative Handeln“ ist vom instrumentellen und strategischen säuberlich geschieden. Wie schon bei Arendt erinnert das an die antike Polis („das Modell einer Rechtsgemeinschaft, die sich über die gemeinsame Praxis der Staatsbürger selbst bestimmt“, Habermas 1999, 105), wo die Dinge des Lebens schon geregelt sind (und zwar repressiv), wenn der Diskurs beginnt. Siehe auch Habermas’ affirmative Verweise auf Freyer (1930), der eine solche leere Selbsterfassung offen propagierte (Habermas 1963, 461; 1967, 82, 109). Die Diskursethik, die alle Beteiligten mitentscheiden lassen will, lässt inhaltlich nichts übrig, worüber entschieden werden könnte. 48 Die kognitionspsychologischen Stufen, die Habermas von Piaget und Kohlberg übernahm, waren kein Schritt in Richtung Empirie, sondern in Richtung noch weiterer Abstraktion (Habermas 1976b, 167 f.). 49 Da die Technik „Produktivkraft“ geworden sei, gebe es statt „Kapitalismus“ jetzt Technokratie. Das Argument dafür war der „Staatsinterventionismus“, der nicht analysiert, sondern als das letztgegebene Signum der Epoche begriffen wird. Darin steckt eine unkritische Übernahme von Pollocks „Staatskapitalismus“ (2.6.2) und der Technokratiethese (2.4.5) – nicht diese, sondern „die Wissenschaft“ begriff er ja als „Ideologie“ (1968a, 88 f.). „Wenn sich die Gesellschaft nicht mehr [!] autonom [...] als eine dem Staat voraus- und zugrundeliegende Sphäre selbstregulierend erhält, stehen

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nismus verschiedener abstrakter Logiken, als deren Väter auf der einen Seite Gehlen, auf der anderen Piaget stehen.50 Dreizehn Jahre nach Erkenntnis und Interesse findet sich eine weitere integrierend-verkürzende Behandlung von Marx, diesmal als „Rationalitätstheoretiker“: Marx wird hier in eine Linie gestellt mit Weber, Lukács, Horkheimer und Parsons. Er erscheint nun als jemand, der versucht hätte, eine abstrakte „Handlungstheorie“ aufzustellen (1981b II, 489 ff.). Dem ging erneut die Diagnose voraus, das eigentliche Problem sei „heute nicht mehr“ eine „Verelendung“ (die Habermas für die Vorzeit als Argument wertet, 1977, 304), sondern die freiheitsund sinngefährdende „Rationalisierung“.51

Staat und Gesellschaft nicht länger [!] in einem Verhältnis, das die Marx’sche Theorie als das von Basis und Überbau bestimmt hatte. Dann kann aber eine kritische Theorie auch nicht mehr [!] in der ausschließlichen Form einer Kritik der Politischen Ökonomie durchgeführt werden“ (75; man bemerke die Geschichtsphilosophie des „heute nicht mehr“, cf. 2.4.6 zu Schelsky). „So werden Technik und Wissenschaft zur ersten Produktivkraft [zur „unabhängigen Mehrwertquelle“], womit die Anwendungsbedingungen für Marxens Arbeitswerttheorie entfallen“ (79, cf. 1960, 256; 1968, 66). Wissenschaft und Technik waren schon immer in den Kapitalismus involviert – nicht als „Produktivkraft“, sondern indem sie die Produktivität erhöhen. Unter „Produktivkraft“ ist kein technisches System zu verstehen, dem alles andere von außen gegeben wird (noch G.A. Cohen 1978, 28 ff., 128 ff. begreift „Produktivkraft“ isoliert von den Produktionsverhältnissen; vgl. Wildt 1977; zur „Produktivkraft“ cf. 2.6.1; Habermas 1976b, 184; 1992, 57, 184, 188). 50 In einem Zwischenbericht scheint Habermas auf Hahn 1970 (Fn. 45) einzugehen, indem er nun zwischen „Arbeit“ und „gesellschaftlicher Produktion“ differenziert (1976b, 145 ff.). Doch damit wird die „theoriestrategisch“ bereits erfolgte Weichenstellung mit einer Fülle von herangetragenem Material nur nachträglich abgesichert. Das zeigen schroffe Wendungen wie „Nun müssen wir aber die Ebene des kommunikativen Handelns von der Ebene des [...] strategischen Handelns trennen“ (a.O., 160). Warum müssen wir dies? Weil der auf „Technikgeschichte“ reduzierte Marxismus (185, unter Verweis auf Gehlen) „auf eine strukturelle Analyse der Weltbildentwicklung angewiesen“ sei (186); weil also das Bewusstsein („kognitive Strukturen“) das gesellschaftliche Sein bestimme. (1971, 491 hatte er „Weltbild“ noch mit Marx als „Ideologie“ beschrieben.) Die sich empirisch gebenden Ausflüge in die Evolutionstheorie wollen die abstrakten moralischen „Organisationsprinzipien“ (1976b, 168) und „Lernmechanismen“ (173) rechtfertigen. Auch sie werden von den marginalisierten ökonomischen Theorien radikal getrennt und zudem als das „heute“ entscheidende bestimmt: „Die Identität einer Gesellschaft ist normativ bestimmt [!] und hängt von ihren kulturellen Werten ab“ (189). Diese Werte „dürfen wir [?...] allenfalls in den Grundstrukturen sprachlicher Kommunikation suchen“ (189). Damit liegt, obwohl Marx noch positiv erwähnt wird (1968, 71), eine Ethisierung und Psychologisierung der Gesellschaftstheorie vor. Sie erinnert an die ältere Marxkritik von Rudolf Stammler 1896, der die Wirtschaft vom Recht abhängig machen wollte und das Recht von der Sittlichkeit des Volkes (Henning 1999, 92). 51 Die Verelendungstheorie, die besagt, dass der Arbeitslohn immer knapp über dem Existenzminimum liege, gab Marx bereits 1846 auf (2.1.1, Fn. 11). Nach dem differenzierteren Konzept der Ausbeutung bleibt das Wachstum des realen Lohnes geringer als das des Profites (und der Produktivität). „Ausbeutung“ ist also keineswegs an

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Dies nimmt weniger Marx’ Kapitalismustheorie als vielmehr Webers nietzscheanische Kulturkritik an der Bürokratisierung auf.52 Von Marx interessiert nur die Kritik am Warenfetisch (1981b I, 477 f.), der Rest wird abgelehnt. Die Voraussetzung dafür ist der Dualismus, der sich inzwischen von einer „Ergänzung“ zu einer „Ersetzung“ fortentwickelt hat: „Allein [!] diese kommunikative Rationalität, die sich im Selbstverständnis der Moderne spiegelt, verleiht dem Widerstand gegen die Mediatisierung der Lebenswelt durch die Eigendynamik verselbständigter Systeme eine innere Logik – und nicht nur die ohnmächtige Wut der revoltierenden Natur“ (Habermas 1981b II, 491).

Entsprechend lautet die Kritik an Marx: Weil er „System und Lebenswelt“ nicht auseinander halte (498; die neuen Titel für Natur und Geist, Arbeit und Interaktion, instrumentelle Vernunft und kommunikatives Handeln) und die Zweckrationalität totalisiere (503), könne er die Probleme des neuen Stadiums „Spätkapitalismus“ (504) nicht erklären. Er habe die „Ausdifferenzierung“ übersehen und daher der neuen Rolle des Staates keine Beachtung geschenkt, der die alten Probleme gelöst und dafür neue geschaffen habe (505 ff.).53 Da die ökonomischen Probleme „heute nicht mehr“ im Vordergrund stünden, versage der Marxismus vor dem neuen „Typus von klassenunspezifisch ausgelöster Verdinglichung“ (1981b II, 513); eine Replikation der alten Industriegesellschaftsthese (2.4.5). Das war eine triftige Kritik des real existierenden Sozialismus (cf. Michels 1910, Marcuse 1958, A. Heller 1979) – eine Analyse der westlichen Länder war es nicht. Deren Wirklichkeit ließ sich nicht unter einigen handlungstheoretischen Differenzierungen und deren Einbau in eine übergreifende Systemtheorie (1981b II, 229 ff.) fassen. Sie bewegt sich misslicherweise genau in der Lücke zwischen reduktionistischem Funktionalismus und totalisierter Prinzipienethik, und diese kann durch eine bloße Verknüpfung der beiden noch nicht geschlossen werden. In der These der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (1981b II, 522) galt also „nicht mehr“ die Wirtschaft als die problematische Dimension, sondern das sozialpsychologische Phänomen, dass das Individuum in seinen Entfaltungsmöglichkeiten gegenüber dem politisch-ökonomischen „Komplex“ zu sehr eingeschränkt sei. Die unbeabsichtigte Weichenstellung dieser Auslegung war eine Interessen„Verelendung“ gebunden und bedarf auch keiner Zuflucht zur sozialpsychologisch verstandenen „Entfremdung“. 52 Dem ist zu entnehmen: erstens teilt Habermas 1981b den alten Frankfurter Glauben an ein „neues Stadium“ des Kapitalismus, nach dem die Politik das Primat über die Ökonomie übernommen habe und Marxens ökonomische Theorie nur noch von historischem Interesse sei. Zweitens gerät Habermas mit dieser Konstellation in eine eigentümliche Nähe zur ästhetisierten konservativen Kulturkritik (Gehlen, Arendt, Forsthoff etc.), die von einer politischen Steuerung stets den Verlust an Größe und Kriegstugend – eine „Entfremdung“ – beklagt hatte.HelHEld 53 Habermas 1976b, 182 spekuliert, dass die einst „knappe Ressource“ Wert „heute“ kein Problem mehr sei: die sozialen Bewegungen hätten ja „in den sozialstaatlichen Massendemokratien [...] zum Ziele“ geführt. Stattdessen seien „heute“ Macht und Sicherheit verknappt, künftig wohl die „Ressourcen“ Motivation und Sinn (Fn. 122).

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koalition mit dem Neoliberalismus. Dieser hatte dem Realsozialismus stets dessen Unfreiheit vorgehalten und mehr (wirtschaftliche) Freiheit gefordert.54 Mit dem Untergang der sozialistischen Regime verschwand das unterdrückende „System“, und die neugewonnene Freiheit führt nun auch in den westlichen Regionen zu einer regelrechten Welle von Deregulierungen und Privatisierungen. Schien sich nicht hiermit das Projekt der Moderne (1990a, 32 ff.) zu vollenden? Nicht nur die verbliebene marxistische, auch die von Habermas beeinflusste Linke war gegenüber der neuen Konstellation regelrecht paralysiert – was sollte man auch einwenden gegen das, was man selbst so lange gefordert hatte? Es erstand ein Gegner, den man seit Jahrzehnten unterschätzt hatte: der Kapitalismus. Unter dem Codenamen „Globalisierung“ greifen die sozialpsychologischen Forderungen von einst weit in die Wirklichkeit aus: endlich kann man ein freies und selbsterfülltes Leben führen – als dynamischer Jungunternehmer.55 Die traditionellen Werte der „Lebenswelt“ (die Familie, die Dorfgemeinschaft) kommen wieder zum Zuge – zwangsläufig, da die staatlichen Sicherheiten zunehmend wegbrechen. Sich diesem neu-alten Kapitalismus zu stellen hätte gehießen, die eigenen Voraussetzungen jahrzehntelangen Theoretisierens zu überdenken. Was in der sich progressiv gebenden Philosophie nach 1989 praktiziert wurde, war jedoch weder ein vorbehaltloses Beobachten der realen Geschehnisse, noch eine Korrektur der eigenen Ausgangsvoraussetzungen, sondern paradoxerweise ein gegenüber dem Denken vor 1989 noch verstärktes Hervorheben der „normativen Fundamente“.56 Demgegenüber ist – wie immer, wenn etwas in der Philosophie aufstößt – eine einfache Frage zu stellen: Was soll mit den „normativen Voraussetzungen“ eigentlich begründet werden, die Theorie oder die Wirklichkeit? Beide „Begründungen“ sind fragwürdige Veranstaltungen: Die Wirklichkeit begründen zu wollen wäre ein müßiges Geschäft – es sei denn, man entschlösse sich dazu, Transzendentalphilosophie zu betreiben, als welche die Gesellschaftstheorie wohl kaum wird auftreten wollen.57

54 Cf. Willms 1973 (s.u., Fn. 96). Rolf Johannes zitiert ein zustimmendes FAZ-Votum von 1982 (in: Bolte 1989, 63). 55 Neoliberale Pamphlete kleiden sich gern im marxistischen Chic (cf. Baer 1999, Hamel 2001, Levinson 2002; kritisch Boltanski 1999). Das Zentrum der kritischen Theorie war das bürgerliche Individuum (Willms 1969, Riedel 1994, Albrecht 1999). 56 Siehe Schneider 1976, Wellmer 1979, Lohmann 1980, Benhabib 1992, Baynes 1992, Holz 1993, Honneth 1992, 1993, 2000, Koorsgard 1996, Brunkhorst 1999a, Gosepath 1999, Cannon 2001; s.u., Fn. 110 und 3.1.6. 57 Die Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaftlichkeit überhaupt (so etwa die Fragestellung von Simmel oder Alfred Schütz) verraten über eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt nichts. Honneth 1980, 197 scheint aber genau eine solch „transzendentale Theorie der Gesellschaft“ (Schelsky 1959, 95) im Sinn zu haben: „Marx kann [...] nur [!] entwickeln, wie das Proletariat sein [...] Emanzipationsbewusstsein [...] intellektuell zu präzisieren und strategisch [...] umzusetzen lernt – in welcher Weise jedoch der Bildungsprozess dieses Emanzipationsbewusstseins selbst“ möglich sei, erscheint als die eigentliche Frage. Honneth kann also nur

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Bleibt die Forderung, eine Theorie zu begründen. Begründet werden müssen allerdings nicht so sehr Theorien über etwas (diese werden verifiziert), sondern vielmehr moralische Forderungen und Ansprüche, hier speziell die zu einem anthropologischen „Interesse“ geronnene Anspruchshaltung einer ganzen Theoriefamilie. Die Gesellschaftstheorie wurde aber erst in der deutschen Theorieentwicklung wieder zu einer „normativen“ gemacht (2.1.2).58 Habermas hatte Gesellschaftstheorie weichenstellend erst als Erkenntniskritik, dann als Moraltheorie bestimmt. Erst dieses Konglomerat aus transzendentalen Aussagen und politischen Wünschen musste separat philosophisch „begründet“ werden. Noch in Schriften der späteren Habermasschule hat es den Anschein, dass zwischen Theorie und Wirklichkeit kaum unterschieden wird,59 dass sie idealistisch kurzgeschlossen werden. Doch statt diese fragwürdigen Weichenstellungen kritisch zu betrachten, übernahm man gerade sie und maß umgekehrt Marx und die Wirklichkeit an ihnen – nicht eben zum Vorteil eines tieferen Verständnisses von beiden. Erst die Ausblendung der eigenen Theoriegeschichte führte so zu der Projektion auf Marx. Ganz unnötigerweise: Da Marx seine Theorie von vornherein nicht als „normative“ konzipiert hat, ist auch die Suche nach höherstufigen normativen Begründungen dafür sehr einfach: es gibt sie nicht – ebenso wenig, wie es bei Marx erkenntnistheoretische, handlungstheoretische oder semiologische „Begründungen“ gibt. Bevor wir in der Werkgeschichte von Habermas weitergehen, ist dieser Punkt genauer zu klären. die Wirklichkeit begründen wollen (zur Kritik daran Kersting 1997, 123 ff.) – daher seine Neigung zur Sozialphilosophie (1990 u.ö., cf. 3.2.4). 58 Habermas 1985 bringt prägnant zum Ausdruck, „dass die Emanzipationsperspektive gerade nicht aus dem Produktionsparadigma, sondern aus dem Paradigma verständigungsorientierten Handelns hervorgeht. Es ist die Form der Interaktionsverhältnisse, die geändert werden muss“ (103). Es geht um die Rechtfertigung einer politischen Demokratie, in der die Bürger formal frei sind (für Osteuropa damals eine sinnvolle Forderung), „nicht mehr“ darum, gegenüber materieller Ausbeutung und ihren komplexen Folgen aufzubegehren oder Bedingtheiten und Begrenzungen konkreter Demokratien aufzuzeigen. Habermas hat das Thema der Theorie ausgewechselt und seine Behandlungsart ethisiert (es geht um „normative Gehalte“ und den „normativen Gebrauch“ von Unterscheidungen, 102). 59 Habermas’ tiefer Dualismus lässt sich nicht verorten (Fn. 21, Fn. 46): er sitzt auf anthropologischer Ebene (in Interessen der Gattung), in verschiedenen Kategorien (teilnehmend oder beobachtend, wertend oder analysierend), in individuellen Handlungs- bzw. Denkarten (instrumentell oder kommunikativ), in gesellschaftlichen Handlungssphären (Dialektik der Sittlichkeit versus Dialektik der Arbeit, Systemintegration oder Sozialintegration) und in voneinander getrennten Seinsbereichen (System und Lebenswelt). Er sitzt überall zugleich, er ist „transkategorial“. Die Verortungen widerstreiten einander, es können nicht alle zugleich zutreffen (so kann ich in der Lebenswelt sehr wohl instrumentell handeln etc.). Derlei ist nur möglich, wenn Theorie und Wirklichkeit eine Einheit bilden. Auch Honneth 1980 übergeht die realen Hintergründe des Marx’schen Werkes: er meint, Marx habe deswegen auf das Proletariat gesetzt, weil ihn ein „arbeitsphilosophischer“ „Denkzwang“ (191, 197) dahin geführt hätte. Wie Lange 1980 ist er auf „Begriffe“ fixiert, glaubt aber, damit auch etwas über die Wirklichkeit auszusagen (s.o., Fn. 24; 2.3.5, Fn. 125).

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3.1.4 Systematische Kernpunkte VIII: Marx und die Ethik „Der Marxismus ist nicht Ethik, aber er lehrt uns erkennen, in welchem Sinne die ethischen Kräfte zu gesellschaftsbildenden Kräften werden.“ (Adler 1928, 41)

Kaum jemand, besonders in der Linken, würde theoretisch davon ausgehen, dass „charismatische Führer“ oder ein „Persönlichkeitskult“ eine besondere Rolle zu spielen hätten. Nun hat Jürgen Habermas für die deutsche Sozialphilosophie eine solche Rolle gespielt. Vergleichbar den von Max Weber kritisierten Auswirkungen des Bismarckkultes im 19. Jahrhundert führte dies dazu, dass die Eigenständigkeit des Denkens bei nicht wenigen Berufsphilosophen darunter arg litt (was sicherlich nicht Habermas anzurechnen ist). Dies ist speziell in der Beurteilung von Marx der Fall. Denn es war Habermas, der in Weiterführung der Kritischen Theorie Marx’ Theorien eine ausreichende Orientierung nicht mehr entnehmen zu können glaubte. Dieser Abschied setzte viel voraus: eine historische Relativierung der Marx’schen Theorie, ihre instrumentalistische Reduzierung, eine moraltheoretische Transformation der Emanzipation, und zuletzt eine philosophisierende Fokussierung auf eine Begründung der Letzteren. Zwar ist reine Theoriegeschichte kein philosophisch befriedigendes Geschäft. Doch wenn die Sozialphilosophie es versäumt, sich zu ihrer Geschichte in Beziehung zu setzen, muss die Kritik dies nachholen. Dieses Geschäft ist dringend, denn fast alle deutschsprachigen Beiträge zum Thema „Ethik und Marx“60 gehen von Unterscheidungen aus, die Habermas getroffen hat, obwohl sie Marx kaum gerecht werden. Diese Beiträge tragen für ein angemessenes Marxverständnis wenig aus; vielmehr sind sie symptomatisch für die fatale Lesart von Marx, die nach 1989 aus endogenen Gründen verstummt ist. Mit Habermas hatte man sich so weit vom Gegenstand „Kapitalismus“ entfernt, dass man nichts mehr über ihn zu sagen wusste, als er triumphal wiederkehrte. Obwohl man mit der Marx’schen Theorie „heute nicht mehr“ arbeiten zu können meinte (Fn. 43), wollte man weiter an sie anknüpfen.61 Dabei wurde die Marx’sche „Gesellschaftskritik“ mit M. Hess und Bernstein, Sorel und Spengler (1923, 471) – und mit Habermas – als eine „normative“ verstanden. Nun hatte Marx sich explizit gegen eine moralisierende Kritik ausgesprochen (MEW 19, 359; MEW 23, 189; MEW 25, 351 etc.). Folglich sah man sich vor dem folgenden Dilemma (Wildt 1986, 150): „Einerseits sagt Marx nirgendwo, der Kapitalismus [...] sei ungerecht [...]. Andererseits spricht Marx vom Kapitalismus als einem System des Zwangs, der Unfreiheit, Knecht60 Fetscher 1972, Honneth 1977, 1980; Angehrn 1986, Lohmann 1991, Wildt 1997, 2001. Die Vorstöße von Arnason und Honneth (in: Jaeggi 1980) bleiben auf halbem Wege stecken: sie übernehmen Habermas’ „kategorialen Rahmen“ und reichern ihn nur an. Für englische Werke ist Rawls zentral (Brenkert 1983, Lukes 1985, Miller 1989, Kain 1991, West 1991, Churchich 1994, Fraser 2001, cf. 3.2, Kamenka 1962). 61 Wildt 1977, 207 meinte daher mit Korsch, Habermas und Castoriadis, eine „geschichtliche Fortsetzung des Marxismus“ gelinge am ehesten, indem man ihn mit aufgebe, zugunsten eines neuen „Gedankensystems“.

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schaft und Despotie und kennzeichnet die [...] Ausbeutung wiederholt als Betrug, Diebstahl, Raub, [...] diese Bestimmungen bezeichnen doch offenbar etwas Ungerechtes.“

Dieses Dilemma löst sich bei Marx recht einfach auf: Natürlich sind diese Tatsachen nach dem natürlichen Empfinden etwas ungerechtes. Nur ist es, jenseits der Freude am derben Ausdruck, den Marx mit Luther teilt, recht nutzlos, sie so zu nennen, wenn die jeweilige „Idee der Gerechtigkeit“ diese Zustände gerade nicht transzendiert (wie Autoren, die sie in einer anderen „Logik“ fundieren wollen, annehmen), sondern ihnen allererst entspringt – wie Historiker meist konzedieren (Fn. 134). Die „Idee der Gerechtigkeit“ gegen diese ökonomische Wirklichkeit aufzubieten, hieße nur, diese Wirklichkeit ideell zu verdoppeln.62 Man kann Missstände ungerecht nennen, nur ist das noch keine Kritik. Dies hilft weder in der Gesellschaftstheorie weiter, noch in der Politik – denn das kann jede Seite sagen. Vielmehr haben diese Verhältnisse die bürgerliche Moral auf ihrer Seite. Das Unbehagen an diesem Missverhältnis motiviert den Weg zum Kapital. Dort zeigt Marx (wie schon Hegel), dass das auf der Tauschebene beruhende abstrakte Vertragsrecht die Menschen als freie und gleiche behandelt, was sie in ihrer Eigenschaft als Menschen qua Menschen ja auch sind. Insofern ist das bürgerliche Recht mitsamt der sie krönenden Menschenrechte unhintergehbar.63 Indem sie aber zunächst und zumeist „wirkliche individuelle“ Menschen sind (MEW 1, 370), und das heißt im Kapitalismus: Verkäufer von Arbeitskraft oder Eigentümer von Produktionsmitteln (bzw. Bezieher von Mitteln aus Umverteilungen), ist der „Gebrauchswert“ dessen, was sie im „gerechten“ Äquivalententausch jeweils erlangen, radikal verschieden: der Arbeiter bekommt seine Arbeitskraft ersetzt, der Kapitalist erlangt den geschaffenen Wert der Arbeit und behält aus diesem nach Abzug der Unkosten für verbrauchtes fixes und variables Kapital (inklusive des Arbeitslohnes) das Mehrprodukt ein.64 62 „Aber streitet nicht mit uns, indem ihr an euren bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung, Recht usw. die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums messt. Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ..., dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse“ (MEW 4, 477). „Die Marx’sche Kritik der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit will keine moralische Kritik sein, die diese Wirklichkeit im Lichte ewiger menschlicher Werte oder irgendeiner normativen Idee beurteilen will: sie will nur [...] im Bereich des wissenschaftlichen Denkens eine Kritik zum Ausdruck bringen, die in der zu untersuchenden Wirklichkeit selbst als Virulität [...] enthalten ist“ (Goldmann 1966, 252 f.; Fleischer 1969, 118; 1980; Lukes 1983). ‚Normative Kritik’ macht es Machthabern leicht, Forderungen als bereits erfüllt hinzustellen. So nahm Helmut Kohl 1997 den Studentenstreiks dadurch den Wind aus den Segeln, dass er sich hinter ihre abstrakten Forderungen stellte. Die normative Verdopplung war harmlos. 63 Das macht es schwierig, von Marx auf die Moskauer Prozesse oder schlimmeres zu schließen, wie es Wildt 1977, 392 kokettierend, Lohmann 1999 mit nachträglicher Polemik vollzieht (cf. Brenkert 1986, Fleischer 1997). 64 „Das Gesetz des Austausches bedingt Gleichheit nur für die Tauschwerte der gegeneinander weggebbaren Waren. Es bedingt sogar von vornherein Verschiedenheit ih-

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Aus diesem werden die Mittel nicht nur für weitere Investitionen (und damit für die Vergrößerung seiner Verfügungsgewalt), sondern auch für ein meist weit luxuriöseres Leben geschöpft, als es dem Lohnarbeiter jemals möglich sein wird, trotz aller Lohnzuwächse.65 Letztlich erklären sich daraus die gigantischen, aber eben „rechtmäßigen“ Ungleichheiten im nationalen wie im globalen Rahmen. Dieser Sachverhalt wird auch dann deutlich, wenn er nicht noch zusätzlich als „böse“, „unsittlich“ oder „ungerecht“ bezeichnet wird. Marx führt die wertenden („normativen“) Begriffe nicht auf etwas empirisches zurück – er ist also kein „Reduktionist“. Er braucht sie einfach nicht, da er von etwas anderem spricht. Es ist nach Marx sogar unsinnig, mit den Begriffen – oder einer „Theorie“ – des Rechts oder der Gerechtigkeit dagegen angehen zu wollen, da das bürgerliche Recht diesen Ungleichheiten gerade entspricht.66 Das Beharren auf einem moralischen oder juristischen Verständnis dieser Konflikte lenkt die Betrachtung von ihrem Gegenstand zu früh ab, da er in den ethischen Theorien nicht mehr vorkommt.67 Einzig die für ebenso möglich wie wünschenswert gehaltene Überwindung dieses gesamten Zustandes verspricht für

rer Gebrauchswerte, und hat absolut nichts zu tun mit ihrem Verbrauch, der erst nach geschlossnem und vollzogenem Handel beginnt“ (MEW 23, 611; s.o., Fn. 141). 65 In den westlichen Ländern sind die Löhne zwar absolut zwar gestiegen (Geldlohn), aber nicht immer relativ zum Gesamtprodukt (Reallohn). Sie müssten mit der Produktivitätssteigerung bzw. dem Anstieg der „Kapitalerträge“ verglichen werden, um zu sehen, ob die Ausbeutung zu- oder abnimmt. Der Augenschein hilft nur wenig. 66 Da Moral an Begriffsbestimmungen orientiert ist, kommt sie gegen solche Verfehlungen schlecht auf, weil sie jenseits ihrer „begrifflichen“ Ebene liegen (Ausbeutung wird in der bürgerlichen Moral nicht „gut“, sondern gar nicht genannt – zu einer Ausnahme 3.3.3). Lohmann 1999 erreicht den Gehalt der Marx’schen Rechtskritik nicht: wie schon 1986 und 1991, sucht er einen wahren „Begriff“ vom Recht, der nicht gegenüber Ungerechtigkeiten „blind“ ist. Doch Blindheit gegenüber Besonderheiten gehört zum Wesen des Rechts, sonst wäre es keines. Weiterhin soll es erklärtermaßen die öffentliche Ordnung aufrechterhalten. Wenn diese selbst zu Missständen führt, kann das Recht, das diese sanktioniert, nicht zugleich gegen sie aufgerufen werden. Zwar kann es ein anderes Recht geben – aber erst dann, wenn es andere Verhältnisse gibt, die in diesem neuen Recht ausgedrückt werden. Vordem wäre die Formulierung eines solchen „Rechtes“ (etwa auf kostenlose Gesundheit) Utopismus, der keinerlei Aussicht auf Rechtskräftigkeit hätte. „ Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen“ (MEW 2, 126). Für Lohmann dagegen muss auch die Antwort auf die Globalisierung eine „normative“ sein (1999, 4; s.u., Fn. 137). Das erinnert an den umweltbewegten Witz, nach dem im Wald ein Schild mit der Aufschrift hängt: „Waldsterben verboten. Die Bundesregierung“. 67 Eine praktische Befürwortung juristischer Konfliktlösungen wird davon nicht berührt: gerade Marx hat solche rigoros befürwortet, etwa in der Frage der Gewerkschaften und des Arbeitsschutzes. Chr. Schefold 1970 und Böhm 1998 machen auf eine Phase beim jungen Marx um 1842 aufmerksam, wo er eigens rechtliche Verbesserungen für Außenseiter forderte (z.B. MEW 1, 115). Doch schon hier sah Marx die Grenzen des Rechts: „Die Form hat keinen Wert, wenn sie nicht die Form des Inhalts ist“ (MEW 1, 146; cf. MEW 4, 477; MEW 23, 99).

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Marx eine wirkliche Veränderung der Lage. Dieser Standpunkt ist unbequem, aber es lässt sich schwerlich behaupten, dass er „paradox“ wäre (Wildt 1997). Man kann sich zu dieser Marx’schen Theorie nun so oder so verhalten. Doch lässt sie sich nicht auf der Grundlage einer Entscheidung für die Ethik als „letzte Instanz“ für inkonsistent erklären;68 noch dazu, wenn die Argumente dafür rein „begrifflich“ sind – eine Stufe des Philosophierens, die hinter Marxens Hegelkritik zurückfällt. Gegen den Aufweis der Hilflosigkeit normativer Begriffe gegenüber einer nach eben diesen Begriffen geregelten Wirklichkeit ist es nicht effektiv, eben diese Begriffe nochmals aufzufahren. Man kann zwar darauf bauen, dass die Wissenschaftsgemeinschaft diesen Zug unterstützt – nur wird er dadurch noch nicht wahr.69 Sogar wenn man kontrafaktisch annimmt, die Subjekte hätten ihre „normativen Maßstäbe“ in herrschaftsfreier Kommunikation ausgehandelt (Fn. 127), kommen sie gegen die von Marx beschriebenen Missstände der Wirklichkeit insofern nicht an, als diese Maßstäbe als Oberflächenphänomen desselben Prozesses zu verstehen sind. Sie geben denselben „Inhalt“ noch einmal wieder, in normativ vernebelter „Potenz“ (MEW 42, 170).70 Die Wurzeln der wirklichen Probleme werden so nicht erreicht – natürlich hält sich eine jede Partei für die „gute“. Nur ein Paradigma, das hermetisch zwischen verschiedenen Welten trennt (hier zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen),71 kann die Normativität als eigenständige und von Haus aus unabhängige betrachten. Eine Begründung dieses Dualismus gibt Habermas auch hier nicht – er versucht lediglich, den Normativismus aus sich selbst heraus zu erweisen.72 Doch damit ist gegen Marx noch nichts gewonnen. 68 Apels „Letztbegründung“ der Ethik lässt sich als Gegenentwurf verstehen zu Engels Bestimmung, kulturelle Phänomene seien im Kapitalismus „in letzter Instanz“ ökonomisch bestimmt (MEW 37, 463; MEW 39, 206). Die Verwendungsweise bei Habermas 1992 zeigt einen ähnlichen Bezug. Hier scheinen die Gegensätze überdeutlich auf: über kommunikatives Handeln wird „letztlich“ (eine nicht etwa zurücknehmende, sondern eine sehr starke Aussage) die Gesellschaft integriert (43) und das Recht „erzeugt“ (52, über den Umweg der „Solidarität“). 69 Vgl. Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit (1973a). „Wenn sie in ihrem Garten einen Apfelbaum haben und hängen nun an denselben einen Zettel, auf dem steht: Dies ist ein Feigenbaum! – ist denn dadurch der Baum zum Feigenbaum geworden? Nein, und wenn Sie [...] alle Einwohner des Landes herum versammeln und laut und feierlich beschwören ließen: dies ist ein Feigenbaum – der Baum bleibt, was er war, und im nächsten Jahr wird sich’s zeigen, da wird er Äpfel tragen und keine Feigen“ (Lassalle: „Über Verfassungswesen“, 1862; 1987, 145). 70 „The moral ideals in terms of which we judge capitalism arise from capitalism as an idealised version of what actually is there. Then, when we judge what is actually there […] against those ideas, capitalism will approximate them and thus appear as good and justified” (Reiman 1991, 159). Wildt 2002 sieht auch hier „Nebel“ (429). 71 Zu den „zwei Reichen“ (Pohl 1999, 102 ff.) Habermas 1968, 77; 1968a, 46; 1971, 500 f.; 1976b, 157 ff.; cf. Fn. 46. 72 Nur unter der deutsch-idealistischen Unterstellung, die Form reiche bis auf den Inhalt hinunter („all the way down“, Brandom 1994, 635) kann sich die formale „kommunikative Ethik“ als Lösung sozialer Konflikte anbieten.

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Marx hat für seine Theorie keine moralischen Werturteile („normative Gehalte“) gebraucht, und musste solche darum auch nicht nochmals begründen (2.4.6). Seine Theorie hat ein anderes Thema. Erklärt das aber auch, warum Marx das moralische Vokabular so konsequent vermeidet?73 Dies lässt sich vielleicht damit verständlich machen, dass Marx um die Trägheit politisch-philosophischer Diskurse wusste: da der Sozialismus eine Tendenz hatte, sich als ein „ethischer“ zu verstehen (MEW 4, 191 ff.), und das hegemoniale „bürgerliche“ Denken versuchen würde, den Sozialismus über die „Ethik“ zurück in das „vaterländische“ Lager zu ziehen, erschien es klug, diese Begriffe ganz zu vermeiden.74 Vielleicht wäre Marx als Philosoph im Staatsdienst anders verfahren und hätte einen „umfassenden Gerechtigkeitsbegriff“ gesucht.75 Dies nicht getan zu haben, ist kein triftiger Vorwurf: Marx war kein Moralphilosoph, sondern Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft und zudem an politischer Wirksamkeit interessiert. 73 Marx hat sich Bewertungen durchaus erlaubt: „Indem im Creditwesen die moralische Anerkennung eines Menschen [...] die Form des Credits erhielt, tritt [...] die unmoralische Niedertracht dieser Moralität [...] hervor“ (MEW 40, 450; cf. Fn. 140; MEW 1, 360). Er hätte dies noch exzessiver tun können. Ein Dilemma entsteht erst, wenn eine wertende Theorie auch ihren Gegenstand zu etwas „moralischem“ erklärt. 74 „Das Wort [... ‚Arbeitsertrag’, auch ‚gerechte Verteilung’ passt, CH], auch heutzutage wegen seiner Zweideutigkeit verwerflich, verliert so allen Sinn“ (MEW 19, 18, cf. Menger 1886). „Erbauliche Worte, um bestimmte Fragen apologetisch zu umgehen!“ (MEW 2, 118; cf. 2.1.4, Fn. 80). Auch von Stein verzichtete auf Moralismen: „Mit dem Bemühen, die soziale Bewegung als logische Konsequenz bestimmter geschichtlicher Umstände zu deuten, tritt Stein insoweit in Widerspruch zum herrschenden Zeitgeist, als dieser auf eine moralistische Denunzierung radikaler Theorie und Praxis ausgeht“ (Quesel 1989, 143). Wer soziale Konflikte „moralisch buchstabiert“, ist für Marx in einer einhegenden Sicht gefangen, die nicht einmal theoretisch über den Oberflächenschein der Gegenwart hinausgehen will. Natürlich kann eine moralische Sprache versuchen, sich von diesen Präformierungen frei zu machen (vgl. Steinvorth 1999, 245 ff.; Wildt 2002a). Doch dabei müssen die Grenzen klar sein: dies wird keine Sozialtheorie sein, sondern eine ethische Bewertung, und zwar eine, die der hegemonialen Bewertung entgegenstünde – nicht aus theoretischen Gründen, insofern führt eine „rationale Diskussion“ hier voraussichtlich nicht weiter als bis zur Formierung einer sektenhaften Kleingruppe, sondern aus harten materialen, täglich sich global erneut vollziehenden Gründen. 75 Lohmann 1986, 178 f. Schon dem jungen Marx war klar, dass Missbräuche der „wahren“ Moral, die Lohmann hier sucht, in der Moralphilosophie hegemonial waren und den Streit um Worte gewinnen würden, einfach deswegen, weil sie die Moral seiner Zeit waren: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“ (MEW 3, 44). „Nicht durch Reflektion entsteht daher jenes wahre Gemeinwesen, es erscheint [...] durch die Not und den Egoismus der Individuen“ (MEW 40, 451). Dies kann man so wiedergeben: wovon wir nicht reden können, sollen wir schweigen. Die moderne Moralphilosophie ist eine theoretische Übung, die desto aporetischer wird, je mehr sie sich von ihrem tatsächlichen Ort entfernt. Schaut man aber auf ihre Orte, so ist klar, was richtig und falsch ist (es „erscheint“). Zumindest in Fragen der Moral gilt also mit Wittgenstein (und Levinás): „Denk nicht, sondern schau“ (PhU 66). Marx’ Schwager Ferdinand von Westphalen war übrigens preußischer Innenminister.

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Vielleicht war es einfach politische „Klugheit“, auf moralische Bewertungen seines Sujets, die innerhalb der Theorie ohnehin keinen Beweisstatus hatten, zu verzichten, weil sie die Bedeutung des Gewonnenen bei den Lesern gleich wieder zu verzerren drohten.76 Versuche, diese Bewertungen nachträglich beizubringen,77 stellen Wert und Welt oft wieder so unvermittelt gegenüber wie der Neukantianismus, und fallen so hinter Hegels und Marx’ Reflexionsniveau zurück (Fn. 88). Zum besseren Marxverständnis tragen sie wenig bei. Dessen transzendental-ethische Transformation bei Habermas war derart hegemonial, dass die Alternative dazu nur darin zu bestehen schien, zugunsten des Marxismus auf die „bürgerliche“ Moral zu verzichten.78 Voraussetzung dieser Alternative aber war, wie erwähnt, viererlei: eine historische Relativierung, eine mechanistische Reduzierung und eine ethische Ergänzung der Marx’schen Theorie sowie eine Philosophisierung dieser ergänzenden Entitäten. Ging Kritik hier einmal über die Theorie hinaus, war sie keine Kapitalismuskritik mehr, sondern eine Kritik am Staat, an der Bürokratisierung, am System – eine politische Kritik. Diese war für Marx die Vorstufe zur gesellschaftlichen und ökonomischen Kritik (MEW 1, 120 f.). In seiner frühen Hoffnung auf eine „allseitige Entwicklung der Individuen“ (MEW 3, 424) steckt zwar ein „Humanismus“ (siehe 2.4.5), doch dieser hat für seine Theorie keine Begründungsfunktion. Er tritt in Selbstverständigungspartien der „Jugendschriften“ auf und liegt der Theorie damit voraus.79 Wenn der Sinn der Marx’schen Schriften nicht mehr erfasst wird oder der 76 Auch Benjamin erläuterte anhand des Trauerspiels, wie eine eigentlich gutgehießene Position derart unrettbar von einer Gruppe usurpiert wurde, dass es den anderen nötig erschien, diese Terminologie aufzugeben (2.6.7; siehe auch Böhm 1998, 85; MEW 2, 213; MEW 3, 223; MEW 8, 115 ff., MEW 20, 86 f.). 77 Lohmann 1980 will in den „narrativen“ Partien des Kapitals eine „hermeneutische“ Sicht der „Lebenswelt“ aus der „Bebachterperspektive“ erblicken, die nur in eine moderne „Theoriesprache“ zu bringen sei (cf. 1991, 78 f.) – wie dies Habermas dann tat, unter Verweis auf Lohmann (1981b II, 497f.). Diese Ästhetisierung verkennt Marxens Umgang mit „schöner Literatur“: einen sozialistischen Roman zerpflückt er (MEW 2, 172 ff.; vgl. Böhm 1998, 64). 78 Theoretisch Wood 1981, Haug und Wood in Angehrn 1986, Steigerwald 1977, Holz 1987, Klenner 1987 (politischer Immoralismus á la Stasi und RAF ist nicht gemeint). Wildt sieht hier „Rätsel“ (1997, 211), da er die 150-jährige Wirkungsgeschichte, in der er selbst steckt, übergeht und umstandslos von heutigen Moralphilosophien in Marx’sche Texte springt. So verrätselt er sie erst selbst. Seine drei Deutungen (1997, 214) verlassen die Philosophie nicht. Wildt steht vor dem alten Rätsel, wie man von der Philosophie in die Realität kommt (MEW 2, 60; MEW 3, 40 f., 83 u.ö.): „Das Problem, aus der Welt der Gedanken in die wirkliche Welt herabzusteigen, verwandelt sich in das Problem, aus der Sprache ins Leben herabzusteigen“ (MEW 3, 432). 79 Cf. 2.6.6, Fn. 138; 2.5.7, Fn. 264. Hätte Marx humanistisch-normativ „begründet“, hätte das Kapital aus genau einer Seite bestanden, auf der erfasst wird, was die Arbeiter fordern: „gerechten“ Lohn, „geregelte“ Arbeitszeit, ein „gutes“ Leben, und dazu die „Begründung“, dass dies „moralisch“ sei (cf. Adorno 1966, 150). In diesem Fall hätte Marx ein Begründungsdefizit, da er noch Prinzipien angeben müsste (‚das Sittengesetz fordert Gleichheit’ o.ä.). Doch diese oder ähnliche Prinzipien galten durchaus, und dies half den Betroffenen nur wenig.

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Sozialismus pervertierte Formen annimmt, muss dieses Vorausliegende ins Gedächtnis gerufen werden. Die Reaktualisierung des Marx’schen „Humanismus“ kam nicht zufällig aus Osteuropa, wo es in der Tat keinen Kapitalismus, sondern eine autokratische Verhärtung zu kritisieren gab, sowie aus Frankreich, wo es eine dominante, aber in ihren Strukturen erstarrte KP gab.80 Er kann zudem, wie der „ethische Sozialismus“ versuchte, Menschen, die sich nicht als Marxisten verstehen und keine Arbeiter sind, zur Koalition mit ihnen bewegen (auch wenn die Sozialdemokratie diese Chance vertat, 2.1.3). Alles dies ist möglich, solange man nicht glaubt, damit etwas über Marx’ Theorie auszusagen. Diese wird von anderen Bewertungen nicht betroffen, da auch diese ihr vorausliegen: auch wer kein Revolutionär ist, kann sie verstehen.81 „Intellektuelle Aufrichtigkeit“ hätte es von Theoretikern, die andere Wertmaßstäbe hatten als den Humanismus der „allseitigen Entwicklung“, erfordert, sinngemäß zu sagen: „Ich lehne die radikalen Konsequenzen dieser Theorie und darum auch diese selbst ab. Das ist eine Dezision. Ich kann meine Entscheidung für das Bestehende nachträglich rechtfertigen, indem ich die relative Güte desselben aufzeige. Dafür nehme ich das Prinzip in Anspruch, dass die Behandlung von Begriffen etwas über die Welt aussagt.“ Manche Neukantianer des 19. Jahrhunderts hatten diese Größe – im 20. sucht man sie meist vergebens. Sinn gemacht hätten „Diskurse“ über die inhaltliche Frage, wie weit man in einer Interessenkoalition würde kommen können, sowie darüber, ob das Begriffsprinzip gegenüber Marxens Theorie überhaupt zu verteidigen sei.82 In den Diskussionen über „Marx und Ethik“ wurde beides nicht behandelt: man trieb weiter Begriffsphilosophie und schwieg über konkrete Fragen (Fn. 24). Die Entscheidung gegen den Marxismus vor der Sichtung seiner Argumente ist nur solange kein Dezisionismus, wie eine solche Entscheidung sich auf gute Gründe stützen kann. Wenn aber die Entscheidung über eine Theorie in die Theorie selbst hineinprojiziert wird, werden Theorie und Entscheidung nicht mehr hinreichend unterschieden – es bleibt nur noch die Entscheidung, welche nachträglich „gerechtfertigt“ wird, nachdem die Theorie schon durch ein anderes Paradigma entstellt ist. Erst dies ist Dezisionismus (2.4.1). Er ist bei Habermas eher zu finden als im ethischen Sozialismus der Neukantianer: seine Entscheidung für etwas bestimmtes, die sich sogleich als universal ausgibt, wird von einem „Interesse“ 80 Etwa Merleau-Ponty 1957; Kolakowksi 1960, 1979 III, 496 ff.; Schaff 1965, 1992; Massiczek 1968; Garaudy 1969; Horský 1972; Zivotic 1972; Sik 1979; Vranitzky 1983, 731 ff.; Schlette 1991, Petersen 1997, Sayers 1998. 81 In der Verhandlung von Marx unter dem Thema der „Ethik“ steckt ein Erbe Heideggers, für den das Voraus-gesetzte eine buchstäblich fatale Macht hatte (2.5.5). Entscheidet Ethik über alles weitere, wird die Theorie selbst unwichtig: sie wird ethisch „widerlegt“. Möglich ist dies nur in fichteanisch-hermetischem Denken (4.2.2). 82 Hösle zieht die Konsequenz, offen für eine Erneuerung des „objektiven Idealismus“ einzutreten, da nur er eine apriorische Sozialphilosophie erlaube (1990, 1996; Fn. 125). Er sei von dieser immer schon vorausgesetzt. Die Diagnose ist richtig, doch kann dieses Zuende-Denken auch eine Revision des gesamten Ansatzes veranlassen.

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gesteuert, und droht der „rationalen Diskussion“ so gerade zu entschlüpfen.83 Marx’schen Argumenten begegnet Habermas einzig durch die Entscheidung für einen anderen „kategorialen Rahmen“, in dem sie nicht mehr vorkommen. Eine rationale Diskussion ist das gerade nicht, sondern eher eine Vermeidung derselben – und zwar eine monologische. Marx wird Kant besser gerecht als Habermas, indem er theoretische Aussagen von solchen über moralische Positionierungen trennt (4.2.1). Es stellt sich die Frage nach den Kriterien für die Wahl dieses Rahmens. Wer hat ihn gewählt und warum, und wie ist die Angemessenheit dieses Rahmens zu beurteilen? Ein mögliches Kriterium dafür wäre der Grad der theoretischen Erfassung der im Alltagsleben bereits erfahrenen Realität, die dafür natürlich nicht schon innerhalb eines modischen Theorierahmens künstlich verrätselt werden darf. Unterstellt werden kann vielmehr, dass hierzulande jeder vernünftige Mensch weiß, wie es um die Welt steht. Das „lebensweltliche Hintergrundwissen“ umfasst weniger moralpsychologische Stufengerüste und transzendentalphilosophische Rekursionsketten als vielmehr reale und alltägliche Zusammenhänge – etwa den, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, dass die natürlichen Ressourcen schwinden o.ä. (siehe 1.2, 4.1). Kriterien für die Habermas-Schule scheinen dagegen eher die Neuheit der entsprechenden Theorie sowie die Frage zu sein, wer in der Wissenschaftsgemeinschaft sie ernstnimmt. Wird sie an strategisch wichtigen Orten diskutiert, wird sie rezipiert.84 Es wird nicht mehr gefragt, ob eine Sozialtheorie überhaupt einen Gegenstand hat, und wenn ja, ob sie ihm auch gerecht wird. Die Kritische Theorie beansprucht mit der Fixierung auf formale Prozeduren auch gar keinen Ge-

83 Den Universalitätsanspruch, den Habermas 1970 noch zurückwies, hat er 1976 dann selbst vertreten. Das „Interesse“ wird als universales und vorgängiges immer schon vorausgesetzt (s.u., Fn. 118). Das Erbe von Heideggers Antiszientismus (2.5.5) machte sich beim jungen Habermas ähnlich wie beim jungen Marcuse bemerkbar. Für sie lassen sich „bestimmte Fragestellungen mit Hilfe wissenschaftlicher Daten nie widerlegen [...]. Wissenschaftliche Daten besitzen hinsichtlich des philosophischen Entwurfs keine entscheidende Beweiskraft, schreibt Habermas noch 1960 in einem Aufsatz über Ernst Bloch“ (Keulartz 1995, 133). „Mit der Einführung von Erkenntnisinteressen entsteht die Gefahr des Dezisionismus“ (131). „In der Kontroverse zwischen Kritik und Dogmatismus ergreift die Vernunft Partei, [...] sie lässt das Moment der Entscheidung nicht außer sich“ (Habermas 1963, 307 f., vgl. 1973, 194 ff.; Verweis 1992, 393). Was – oder wer – ist denn diese Vernunft? McBride 2000 sieht bei Habermas 1999a sogar eine fatale Nähe zu Carl Schmitt: Habermas „entscheide“ sich für den Stärksten und umgebe ihn mit dem Nimbus von „Moral“ und „Demokratie“. So werde aus einer tragischen Zwangslage ein kühler Triumph der Vernunft – das Ende der Kritik. McBride erklärt das aus dem Übergehen der „Basis“ (siehe nun Habermas 2003, 2003a; cf. 1.4.1, Fn. 22). 84 Texte der Habermasschule stellen sich eingangs meist keine Sachfrage, sondern beziehen sich auf theoretische „Debatten“, an denen sie teilzunehmen begehren, meist durch Vermittlungsvorschläge (Honneth 1993, 2003). Es sind Debatten aus Berkeley oder Yale, nicht aus Mexico oder Indien. Dieser Aktualitätsdrang bewirkt die Kurzlebigkeit der Theorien („Gegenwartsphilosophie“ im Doppelsinn, Fn. 3).

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genstand mehr zu haben (Habermas 1958, 14; 1991a, 204; 1992, 349).85 Ist der Gegenstand aber „heute“ wirklich verschwunden, wie der Kurzschluss von Theorie auf Wirklichkeit unterstellt (2.1.4), oder ist er erst durch Weichenstellungen der eigenen Theorie außer Sicht geraten? 86

3.1.5 Die prozeduralen Strukturen „Um sein System zu retten, entschließt er sich, die Basis desselben zu opfern.“ (MEW 4, 89)

Das zentrale Feld der Untersuchungen von Habermas ist das „soziale Handeln“. Die Instanzen, die aus der Sicht einer Handlungstheorie primär ins Blickfeld kommen, sind normative Vorstellungen handelnder Individuen (siehe 2.4.6 zu Weber). Das soziale oder kommunikative Handeln als spezifische Teilgruppe individueller Handlungen ist auf das Handeln anderer Individuen bezogen, und dabei sind bestimmte Wertvorstellungen leitend, die intersubjektiv „generiert“ werden. Zwar sind diese Normen ihrer Natur nach sozial, doch sie interessieren nur als „Rahmen“ eines von einzelnen Aktoren her gedachten Handelns. Normen haben also nur unter der Voraussetzung einen unmittelbar „sozialen Sinn“, dass Gesellschaft als Aggregat von Einzelhandlungen gedacht wird, die sich an Normen orientieren. Dieses Amalgam aus Neukantianismus und ökonomischer Neoklassik wurde insbesondere durch Parsons (1937) in die Soziologie reimportiert. Der Hauptunterschied zwischen Marx’ Herangehensweise und derjenigen von Parsons und Habermas liegt nun darin, dass Marx von objektiven, überpersönlichen Strukturen und deren Auswirkungen auch auf die Individuen ausgeht, während jene der aktorzentrierten Perspektive das Primat geben. Für Marx’ Strukturalismus haben Normen keinen explanatorischen Wert: die gesellschaftstheore85 Der Gegenstandsverlust wird kompensiert durch das Einführen eines neuen Gegenstandes, der Prozedur. Ist deren Rolle richtig bestimmt, wenn das Wunschbild einfach als real behauptet wird? „Habermas’ Prozeduralismus ist eine schlechte Ausflucht vor der Aufgabe, die gleiche Freiheit inhaltlich zu bestimmen. Denn die normlegitimierenden rationalen Diskurse [...] gibt es nicht“ (Steinvorth 1999, 79). 86 Ein eigentümliches Missverhältnis besteht in der jüngeren Habermasschule zwischen den aufwendigen „Begründungen“, „Rechtfertigungen“ und „Ableitungen“ einiger formaler Prinzipien einerseits, der kritiklosen Hinnahme der Ausgangsvoraussetzungen, die diese Maßnahmen allererst motivieren, andererseits. Eine unhinterfragte Voraussetzung waren schon die denkgeschichtlichen Blöcke von Ontologie, Bewusstseinsphilosophie und, nach dem „linguistic turn“ (Rorty 1967), der Sprachtheorie. Dieses „Narrativ“ wird seit der „Wiederentdeckung des Geistes“ (Searle 1993) unauffällig wieder begraben. Für die praktische Philosophie hingegen wird vorausgesetzt, dass es früher substantielle Werte „gegeben“ habe, die das Leben einer Gemeinschaft geregelt hätten (eine zurechtstellende und „idealistische“ Annahme – als gäbe es nur eine Geschichte der Ideen), während diese „heute nicht mehr“ gegeben seien. Forst 1999, 107 f. etwa meint, dass „unhinterfragt geltende, substantielle Prinzipien des Richtigen und Guten verloren gegangen sind“. Dieses Narrativ übernimmt Forst der „gegenwärtigen Debatte“ (105, cf. Honneth 1992, 13; 2000, 106), ohne sich seiner an heutiger oder vergangener Realität zu versichern (2.6.6, Fn. 196).

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tisch relevanten Bezugsgrößen sind soziale und ökonomische Klassen sowie reale Bestimmungsgründe ihres Handels. Ihre Mitglieder stehen unter Zwängen, die nicht primär moralisch sind. Folgen der individuellen Handlungen können nur bedingt als intendierte begriffen werden – die handlungskanalisierenden gesellschaftlichen Strukturen sind schon da, bevor ein empirisches Individuum zu handeln oder zu denken beginnt – auch wenn sie sich dadurch stets verändern.87 Aus drei Gründen ist das „kommunikative Handeln“ also ungeeignet, das Fundament einer Gesellschaftstheorie zu liefern: aufgrund der verkürzten Sicht auf die Individuen, der weiteren Verkürzung auf deren Vorstellungen, und schließlich aufgrund der nochmaligen Verkürzung derselben lediglich auf normative Vorstellungen.88 Nun hat sich Habermas selbst gegen die „Bewusstseinsphilosophie“ gewandt. Wie schon Heidegger 1961 machte er ihr ihren Mentalismus und Atomismus zum Vorwurf (1981b, 1985, 1988). „Nachmetaphysisch“ belehrt, will Habermas die Instanzen der Subjektphilosophie: isolierte Individuen und vermeintliche Über- und Innenwelten, „nicht mehr“ in Anspruch nehmen, indem er stattdessen auf prozedurale Strukturen reflektiert. (Allerdings wurde auch das Selbstbewusstsein meist prozedural begriffen, siehe Frank 1991.) In diesen Prozeduren sind zwar Handlungen von Individuen involviert, dennoch hat 87 Vgl. 2.4.6, Fn. 133. Giddens kommentiert den Satz: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber [...] nicht unter selbstgewählten [...] Umständen“ (MEW 8, 115) trocken mit: „So ist es“ (1984, 35). „Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner unsinnlichen Vorstellung und unlebendigen Abstraktion zum Atom aufblähen, d.h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnislosen, absolut vollen, seligen Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung, jeder seiner Sinne zwingt es, an den Sinn der Welt und der Individuen außer ihm zu glauben [...] Da aber das Bedürfnis des einen Individuums keinen sich von selbst verstehenden Sinn für das andere egoistische Individuum, das die Mittel, jenes Bedürfnis zu befriedigen, besitzt, [...] so muss jedes Individuum diesen Zusammenhang schaffen, indem es gleichfalls zum Kuppler zwischen dem fremden Bedürfnis und den Gegenständen dieses Bedürfnisses wird. Die Naturnotwendigkeit also, die menschlichen Wesenseigenschaften, [...] das Interesse halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zusammen“ (MEW 2, 127 f.). „Es zeigt sich [...] von vornherein ein materialistischer Zusammenhang der Menschen untereinander, der durch die Bedürfnisse und die Weise der Produktion bedingt und so alt ist wie die Menschen selbst – ein Zusammenhang, der stets neue Formen annimmt und also eine ‚Geschichte’ darbietet, auch ohne dass irgendein politischer oder religiöser Nonsens existiert, der die Menschen noch extra zusammenhalte“ (MEW 3, 30). Ideen können diesen Zusammenhang modifizieren, doch muss begriffen sein, was modifiziert wird – Abweichungen ersetzen die Regel nicht (2.1.2, Fn. 46). Zum „Strukturalismus“ Althusser 1968, 182 ff.; Descombes 1981, 151 f. 88 Willms 1973, 164 kritisierte: „Ausgangspunkt für die ganze Theorie ist das bürgerliche Reflexionssubjekt, von dem her das Denken auf die Handlungsebene fixiert bleibt. Aus Aufklärung und Junghegelianismus wird ein Begriff von Kritik aktualisiert, der [...] die ‚Systemebene’ [...] der Ebene subjektiven Handelns nur negativ gegenüber festhalten kann. Die Errungenschaften Hegels und des Historischen Materialismus werden insofern übersprungen“. Habermas 1968 begriff Institutionen als Pathologien (335), als verzerrte Kommunikation (343).

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man es hier scheinbar mit harten Fakten, mit „Institutionen“ zu tun. Greift Habermas also zuletzt auch auf Strukturen zurück, wie Balkenhol 1991 und Gimmler 1998 meinen? Ein zweiter Blick enttäuscht diese Erwartung. Nach den Hauptinstanzen theoretischer und praktischer Vernunft „verflüssigt“ Habermas (1992) nun auch das Recht prozeduralistisch.89 Wozu eigentlich? Vergegenwärtigen wir dafür seine erkenntnisleitenden Interessen. Habermas’ Rekonstruktionen versuchen, Einsichten der philosophischen Tradition für „die Moderne“ so zu reformulieren, dass sie „anschlussfähig“ werden. Die Notwendigkeit einer solchen Rekonstruktion hängt von den unterstellten Vorstellungen von der Tradition und der Moderne ab. So ging die inzwischen selbst schon veraltete Diskursethik davon aus, dass ‚die’ Tradition bestimmte metaphysische Hintergrundannahmen gemacht habe, die „heute nicht mehr“ haltbar seien, dass der Moderne jede Überlieferung zweifelhaft geworden sei, und dass es keinen simplen Gegenstandsbezug mehr geben könne. Habermas wollte nun die universalistische Ethik Kants „retten“, und meinte sie dafür aus der vermeintlich „metaphysischen Verklammerung“ lösen und „modern“ rekonstruieren zu müssen. Die Debatten um die Diskursethik hinterfragten nur selten diese Vorannahmen, die eine solche Rekonstruktion überhaupt als erforderlich erschienen ließen. Sie sind jedoch in beiden Hinsichten problematisch: keineswegs nahm Kant eine intelligible „Hinterwelt“ an.90 Und warum sollen der Sozialtheorie keine Inhalte

89 Siehe Habermas’ Wahrheitstheorie (1973a; 4.2.3, Fn. 12) und Diskursethik (1983, 1991c). Die Idee der „Verflüssigung“ ist nicht neu: Bereits Kant und Hegel, ja schon Plato bestimmte die Vernunft als rechenschaftsablegende Tätigkeit, keineswegs als Substanz (siehe auch Cassirer 1911, Luhmann 1969, Stekeler-Weithofer 1995, Steinvorth 2002). In diesem Prozess ist sie allerdings angewiesen auf konkrete, inhaltliche Argumente. Zur Kritik u.a. Narr 1994. 90 Kants Transzendentalphilosophie war über ihren Status aufgeklärt: sie war eine kriteriale und sah sich als eine solche. Habermas unterschiebt Kant die „metaphysische Hintergrundannahme“ einer „intelligiblen Welt“ (1991, 84; 1992, 25; 1999, 17). Kant ging es um den Nachweis der Gegenständlichkeit überhaupt – etwas, das vor allen bestimmten „invarianten Strukturen“ einer Kultur liegt (dies ist nur die „empirisch allgemeine Form“, 1999, 29). Habermas sucht dasselbe, erkennt darin aber nicht mehr die Kantische Frage („Der Bezug zum selben Objekt muss auch unter verschiedenen Beschreibungen festgehalten werden können“, 1999, 45. Das war der Sinn von Kants „Ding an sich“, welches er kurz zuvor abgewiesen hat, 1999, 31). Kant benötigte dafür kein „transzendentales Subjekt“ wie Fichte, und der „transzendentale Idealismus“ meinte gerade keine Hinterwelt (Habermas 1999, 31; KrV, B 275). Die Wurzel dieses Kantverständnisses dürfte die objektiv-idealistische Kantdeutung Schellings (1800) sein, über den Habermas promovierte (1954a). Da Habermas die so verstandene „transzendentale Fragestellung beibehalten“ will (1999, 38), übernimmt er die fehlinterpretierten Züge der Subjektivität und der Überwelt: die „Lebenswelt“ ersetzt die objektive Realität (inter-)subjektivistisch, und sie hat einen eigentümlich „quasitranszendentalen“ Charakter (1999, 41). Dies überspannt das Erklärungsziel der Transzendentalphilosophie. Die „Detranszendentalisierung“ von Habermas (2001) ist eher eine Retranszendentalisierung (4.2.5). Habermas hat deutlich mehr offene Beweislasten als Kant. Auch in der Ethik unterschiebt Haber-

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mehr zugänglich sein? Erst die Diskursethik löste die Bedeutung von Begriffen wie „gut“ oder „gerecht“ in Bestimmungen über die Art seines Zustandekommens auf (Fn. 91). Lediglich die Formel, dass alle Beteiligten einer Norm zustimmen können müssten, gewährleistete noch die Legitimität derselben. Weder bei Kant noch bei Habermas stimmen die Individuen wirklich darüber ab (Fn. 127). Kants Subjekt hatte aber noch vernünftige Kriterien der Entscheidung, während Habermas gerade diese als metaphysisch und monologisch abwies, und sie stattdessen auf eine fiktive und körperlose Gemeinschaft verschob. Dies hat einen extremen Formalismus zu Folge. Es ist fraglich, ob damit je Informationen über ethische Fragen zu gewinnen wären. Hegels Einwände treffen zwar nicht auf Kant, wohl aber auf die Diskursethik zu.91 Habermas interessiert sich für Strukturen also nur, insofern sie relevant für das kommunikative Handeln sind – für geistige, näherhin normative Strukturen. Nur solche machen im aktorzentrierten und normativistischen Modell „Sinn“.92 Intersubjektiv daran ist allein die Genesis der Normen: sie entstehen sozial.93 Ihre Bezugsgröße aber ist und bleibt das abstrakte Individuum. Die Selbstbeschreibung als „intersubjektivistisch“ beruht auf dem deutsch-idealistischen Kurzschluss von Genesis auf Seinsart (2.5.1, Fn. 14). Die Prozeduralität der normativen Struktur repliziert den Gehalt des einstigen Terminus „Interaktion“: Ausgangspunkt bleiben verständigungsorientierte Handlungen von Individuen, und nur diese. Sie bedient nach wie vor die Subjektphilosophie (Fn. 97).94 mas Kant zusätzliche Begründungslasten („why be moral?“). Eine „Überwelt“ (1991, 84) dient der Beantwortung dieser Frage nicht, da sie der Autonomie zuwiderliefe. 91 Nach Habermas 1991c, 9. Hegel monierte an Kant, Widerspruchsfreiheit allein erzeuge noch keinen ethischen Inhalt (1821, § 135). Er übersah, dass Maximen je schon gegeben sind: Der „kategorischen Imperativ“ ist ein Prinzip der Überprüfung ethischer Maximen, sie werden aus ihm nicht deduziert oder erzeugt. Er rekurriert auf Instanzen wie Vernunft und Menschenwürde. Dies ist erst bei Habermas unmöglich (alle inhaltlichen Normen müssen von „Diskursen [...] abhängig gemacht werden“, 1983, 104). Er deutet ein Wissen davon, wo oder wie eine Norm idealerweise entsteht (bzw. wo oder wie über sie abgestimmt wird), als Wissen davon, was diese selbst inhaltlich besagt. 92 Luhmanns subjektfreie Neubestimmung des Wortes „Sinn“ (1984, 92 ff.) traf Habermas’ System daher im Nerv. Seine Gegenkritik lautete, bei Luhmann kehre das Subjekt in Form des Systems wieder (Habermas 1985, 409 ff.). 93 Hierfür greift Habermas (1981b) auf Mead und Durkheim zurück. Es hätte auch Marx sein können: „Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft“ (MEW 2, 138). „Mein Verhältnis zu meiner Umgebung ist mein Bewusstsein“ (MEW 3, 30; cf. MEW 13, 616). Die Entstehung der Normen (Joas 1997) vollzieht sich jedoch konkret und material, nicht in einer fiktiven transzendentalen Genese. 94 Das erhellt vielleicht, warum sich Habermas so vehement gegen sie wandte. Behabibs Vorwurf, Habermas betreibe „Subjektphilosophie“ (1992, 220, 235 f.), nahm schon Willms vorweg: Habermas sei ein „extrem bürgerliches Subjekt“ (1973, 32), von „suggestiver Reflexivität“ und dabei „merkwürdig konservativ“ (1973, 8). Auch die „Teilnehmerperspektive“ verweist auf Einzelne und übersieht, dass in den Augen der Beteiligten oft der Schein vorherrscht (2.4.6). Auch wenn Habermas sich über

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Habermas hatte den Blick von realen Subjekten und Objekten und den Strukturen, in denen sie zueinander stehen, abgewandt, und dafür auf den fiktiven Ersatzgegenstand des „idealen Diskurses“ gelenkt. Dieses ideale Modell hatte allerdings das Manko, dass es eben nur dies war – Modell. Die neoaristotelische Kritik daran war stets, dass es so etwas in Wirklichkeit gar nicht gebe. Der Rechtsstaat bot auf diese Kritik nun eine Antwort: Zum einen ist er (oder besser: die Gewährleistung von Rede-, Vereinigungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit durch ihn) die institutionelle Voraussetzung für das Zustandekommen unbeschränkter Diskussionen, wie auch Aristoteliker und Kantianer zugeben müssen.95 Zum anderen aber wird in der spezifisch juristischen Argumentation tatsächlich Freiheit und Gleichheit der Rechtssubjekte unterstellt (Alexy 1978). Während der Aufweis der Voraussetzung („Antizipation“) eines herrschaftsfreien Zustands im Alltagsleben etwas künstliches hatte, da sie als solche kaum je intentional vollzogen, ihr vielmehr laufend zuwidergehandelt wird, meint dies im Recht nur den Zustand der Rechtsgeltung. Diese Voraus-Setzung ist im juristischen „Sprachspiel“ ein tatsächlicher Zug. Erst dort spielen die freigelegten sprachlichen Antizipationen und Unterstellungen die Rolle, die ihnen Habermas und Apel zugedacht haben. Die Diskurstheorie entspricht daher dem formalen Recht moderner Verfassungsstaaten. In ihm greifen die rekonstruierten Prinzipien tatsächlich – es ist eine instituierte Wirklichkeit, die rationale Strukturen hat; und aus der Perspektive des Rechts haben die Bürger es sogar selbst verfasst. Es war also eine Entwicklungsdynamik innerhalb des Habermasschen Werkes, die ihn veranlasste, die in jahrzehntelanger Arbeit analysierten Geltungsbedingungen des rationalen Diskurses im rechtlichen Gefüge des demokratischen Verfassungsstaates zu verorten.96 Das Recht erschien der in Bedrängnis geratenen Diskurstheorie als ein Rettungsanker. Es wird weniger um seiner selbst willen untersucht, sondern es soll die tief in Habermas’ Ansatz verankerte Lücke zwischen sinnfreier Technik und immaterieller Interaktion, zwischen System und Lebenswelt schließen.97 diese Feststellung wundert (1996, 353; 2000): Es gibt massive Bezüge seiner Rechtstheorie zum früheren Werk. In der „Doppelperspektive“ (1992, 89) von systemisch und normativistisch kehrt die Schichtung von Arbeit und Interaktion wieder. Die Frontstellung gegen die Technokratie (1992, 70) und die Dreiordnung von pragmatischem, ethischen und moralischen Fragen (197 ff.; 1991c, 100 ff.) erneuert die von naturwissenschaftlichen, hermeneutischen und kritischen Wissenschaften (1968). 95 Aristoteles band die notwendige Einübung in die Tugend daran, dass die Gemeinschaft eine sei, von der man derlei lernen kann. Darum geht die Nichomachische Ethik nahtlos in die Politik über, wo die politischen Formen daraufhin untersucht werden, welche von ihnen ein gutes Leben ermöglichen. Für Kant ist Moral zwar der Geltungsgrund des Rechtes, dieses aber der Seinsgrund der Moral (XI, 224). Das Recht hat insofern auch bei ihm ein Primat. 96 Anregend dafür war sicher die Kritik von Wellmer 1986 (cf. Benhabib 1992, 203 ff.). Forst glättet diese Entwicklung, wenn er meint, eine „Theorie der Demokratie“ wäre zur Diskursethik hinzugetreten (1999, 120). 97 „Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische

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Diese „systemische Schließung“ der seit Jahrzehnten aporetischen Kritischen Theorie der Gesellschaft repliziert nun erneut den schon in der Herangehensweise steckenden Dualismus. Habermas nähert die Diskurstheorie an das moderne Recht an, indem er es als „Transmissionsriemen“ (102, 108, 662) zwischen seine beiden Instanzen System und Lebenswelt einbaut. Er untersucht es sowohl aus einer normativistisch verkürzten Teilnehmer- wie aus einer systemtheoretisch verkürzten Beobachterperspektive, und schließt aus dieser „Doppelperspektive“ seiner Theorie (1992, 89) auf die Natur des behandelten Gegenstandes zurück: Im Recht gingen diese beiden Welten, Faktizität und Geltung, die gesuchte Synthese ein. Dieser Titel könnte nun gelesen werden als „Gesellschaft und Recht“. Gemeint ist jedoch nur die Faktizität und Geltung des Rechtes selbst (41). Statt einer Theorie, die das Recht sozialtheoretisch durchleuchtet, liegt hiermit nur eine Explikation des Selbstverständnisses des Rechtes vor, die – das ist das Novum – an funktionalistische Perspektiven „anschlussfähig“ gemacht wird. Allerdings war das Recht bereits in der Systemtheorie aus einer gesellschaftlichen Sichtweise herausgefallen. Sie relationierte das Recht nicht auf die Gesellschaft oder gar auf die Wirtschaft.98 Ist über die Gesellschaft weder in der funktionalen Rechtstheorie als Theorie eines autopoietischen Systems, noch in den unterstellten normativen Selbstverständnissen rechtlicher Individuen etwas ausgesagt, so ergibt auch ihre Synthese keine „Gesellschaftstheorie“ (1992, 19). Während wir, von Marx ausgehend, als die verfehlte Mitte der Sozialtheorie den Gegenstand „Kapitalismus“ benannt hatten, tritt jetzt das Recht an diese Stelle.99 Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik“ (MEW 1, 216). Die Diskursethik hatte sich Fragen wie die gestellt, ob die Entscheidung zur Vernunft noch vernünftig begründbar sei. Mit ethisch relevanten Fragen in der Wirklichkeit hatte sie die Tuchfühlung verloren. Habermas meint selbst, dass das „entschränkte kommunikative Handeln die ihm zufallende Bürde der sozialen Integration [!] weder abwälzen noch ernstlich tragen kann.“ Das Recht sei daher ein „plausibler Ausweg aus der Sackgasse“, da es von der Verständigung zehrt, und doch Zwangscharakter hat (1992, 56). „Eine Moral, die auf das entgegenkommende Substrat geeigneter Persönlichkeitsstrukturen angewiesen bleibt, bliebe in ihrer Wirksamkeit beschränkt, wenn sie die Motive der Handelnden [!] nicht auch noch auf einem anderen Wege als dem der Internalisierung erreichen könnte, eben auf dem Weg der Institutionalisierung eines Rechtssystems, das die Vernunftmoral handlungswirksam ergänzt“ (146). Das Manko der Diskursethik war, dass neben der Evokation eines integralen Moralismus (2.5.2, Fn. 29) nichts bestimmtes sagte. Wenn das Diskursprinzip aber noch dem Recht vorauslag, konnte man wieder allerlei moralphilosophisch „begründen“ (1992, 155, vgl. Gosepath 1999a, Burckhart 2000, Kersting 2000, 202 ff., Nida-Rümelin 2000). 98 Bei Luhmann bildet das Recht ein autonomes Subsystem, welches „autopoietisch“ ist und mit anderen Systemen nur bedingt „kommunizieren“ kann (Luhmann 1969, 1972, 1983 und 1993). Eine „gesellschaftstheoretische“ Betrachtung des Rechtes ist dies gerade nicht. Der Normativismus wird so nicht „sozialer“ (so Gephart 1993). 99 Beide beziehen sich auf die „bürgerliche Gesellschaft“, nur unter anderer Perspektive: das Recht versteht sich selbst als „bürgerliches“ (BGB), die politische Ökonomie untersuchte die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft.

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Das Recht verdrängt die Gesellschaft aus der Theorie: es selbst wird als Vergesellschaftungsmodus begriffen, in dem sich die funktionale und die normative Perspektive vereinigen (49).100 Die theoretische Lücke wird in das Recht hineinverlagert – es soll in einer „Ausfallbürgschaft“ die „Sozialintegration“ (99) erbringen, die die anderen Systeme nicht zuwege brächten. Nach einer Funktion des Rechtes für die Vergesellschaftung kann nicht mehr gefragt werden, wenn es selbst schon diese ist. Eine Ausfallbürgschaft übernimmt es so allenfalls für die Theorie des kommunikativen Handelns, welche die Erklärung eben dieser Integration nicht erbracht hatte. Indem das Recht innertheoretisch zur Stütze der Moral wird, ist es zugleich Rettungsring für die an einer philosophisierten Moral hängende Sozialtheorie. Dafür wird es allerdings überstrapaziert und entstellt. Das Recht mag ein Medium der „sozialen Integration“ sein (wenn auch diese dualistische Unterscheidung fragwürdig ist),101 doch damit ist es noch nicht ihre Wirkursache. „Mechanismen“ der „systemischen Integration“ ragen gravierend in das Recht hinein, machen doch wirtschaftliche und politische Konflikte den überwiegenden Inhalt dessen aus, was in der Form des Rechtes erscheint.102 100 Auch die Rechtstheorie, die Habermas der normativen Philosophie gegenüberstellt (1992, 61 ff.), ist ethisiert – die soziologische Systemtheorie war seit Parsons seinerseits normativistisch (Habermas 1981b II, 304 ff.). 101 Lockwoods Unterscheidung (1964) setzt sauber getrennte Funktionsbereiche voraus, die nur in Parsons Modellen (Habermas 1992, 43) zu haben sind. Zwar gibt es Grenzfälle einer systemischen, nicht sozialen Integration (etwa bei Gefängnisinsassen) oder einer sozialen, nicht systemischen (etwa beim Kirchenasyl). Doch gemeinhin hat das „systemisch“ Genannte so tiefe soziale Implikationen (und umgekehrt), dass die Trennung theoretisch wenig sinnvoll ist. Was soll ein soziales System jenseits einer sozialen Integration auch darstellen? 102 So schon die Kritik an der Konsenstheorie bei Steinvorth: ihr gelte etwas als gerechtfertigt nicht nur wenn, sondern weil es allgemeine Zustimmung verdiene (1990, 88 ff.; 1999, 19). „Die juristischen Formen [...] können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen“ (MEW 25, 352). Noch die Rede von einer „Verrechtlichung“ (Kübler 1985) bezieht sich ja auf etwas, das es zu verrechtlichen gelte. Habermas deutet diese Relationierung als Vernichtung. Marx sei als Durchgangsstation auf dem Weg von Hobbes zu Luhmann zu vernachlässigen, weil er das Recht zum „bloßen Schein“ (1992, 66) herabgesetzt habe. Erneut wird Unbeliebiges, hier an der Systemtheorie, auf Marx projiziert (der Funktionalismus habe alles „neutralisiert“, 17). Bei Marx ist das Recht indes kein bloßer Schein, es gehört als Verkehrsform der Produktion sogar zur Basis. Allerdings erzeugt es aus seiner Formalität keine neuen, sondern verarbeitet gegebene Inhalte. Habermas benennt solche Inhalte (1992, 59), was aber in die Theoriebildung nicht weiter eingeht. Er unterstellt beim ganzen Recht normative und intentionale Implikationen (dies zu hintergehen wirft er Luhmann vor, 70), während dies doch nur an der Schaltstelle zur Ressource „Solidarität“ der Fall sein dürfte, nicht aber bei den Ressourcen „Geld“ und „Macht“, die per se systemisch und dennoch rechtlich geregelt sind (59). Hier wird der überbordende Normativismus inkonsistent. Habermas geht davon aus, dass das normativ gespeiste Recht sich aus den anderen Systemen (Wirtschaft und Politik) herausgelöst habe (100). Folglich interessiert er sich nicht für die „Freiheits- und Teilhaberechte“ (104 f.), sondern für die der entökonomisierten und entpolitisierten „Zivilgesellschaft“, die „Staatsbürgerrechte“ (110; 101, 106,

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Unter die „Mechanismen“ der „sozialen Integration“ sind eher die Familie (Verwandtschaft) und die Gesellschaft (Ausbildung und Beruf sowie darüber vermittelte Grundfunktionen wie soziale Beziehungen, Nahrung, Kleidung, Wohnung und Unterhaltung) zu rechnen als das zwingende Recht. Habermas beschreibt Verschränkungen verschiedener Teilbereiche aus der Perspektive des Rechts, doch es ist fraglich, ob das Recht diese bereits erklärt. Wer das so verstandene Recht als Letztinstanz hinstellt, setzt ein freischwebend autopoietisches Sein normativer Ideen voraus – die einzige „metaphysische Hintergrundannahme“ weit und breit (Rehberg 1994a, 65). Was aber, wenn wir das Recht mit Marx als Form eines Inhalts nehmen, der nicht selbst wieder normativ ist (2.3.5)? Habermas beendet seine kritische Karriere gerade dort, wo Marx, ein studierter Jurist, sie begonnen hatte: beim Recht. In der zweifellos vorhandenen und innerhalb des juristischen Diskurses berechtigten juridischen Sicht auf die Gesellschaft sieht er kurzschlüssig auch die Ursache von derselben. Dass es diese normative Sicht auf die Gesellschaft innerhalb des Rechtes gibt, ist eine Tautologie; diese als „Theorie der Gesellschaft“ zu deuten, eine Verwechslung. Habermas vertritt eine juridisch verkürzte Sozialphilosophie (Böhm 1998, 45). Dafür muss er zuvor das Recht begriffsphilosophisch verkürzen und ethisieren. Wenn das Recht eine egalitäre Stoßrichtung hat, wie in den Verfassungen von 1919 und 1949 der Fall, kann es politisch progressiv sein, an der Formalität des Rechtes festzuhalten.103 Doch Habermas deutet die normative Sphäre selbst schon als material; ein Widerhall der Philosophie des objektiven Geistes.104 109 ff.), jene also, die auf kommunikativem Handeln beruhen (das entspricht Hannah Arendts „reiner Politik“). Diese kommen im Rechtsalltag nur selten vor, da es hier um die historisch meist transzendente Rechtssetzung geht. Das Ergebnis beläuft sich darauf: man muss Autor seiner Rechte nicht so sehr sein, sondern sich als ein solcher sehen dürfen (s.u., Fn. 127). Diese Formel ist instrumentalisierbar. 103 Die marginale KPD wurde 1956 unter Verweis auf eine material gedeutete „FdGO“ verboten. Schon die NS-Rechtstheorie berief sich auf materiales Recht (Werte, Volkszugehörigkeit etc., Rüthers 1991). I. Maus unterscheidet eine vorrechtliche Materialität, die zu berücksichtigen das Recht auflösen würde, von einer nachrechtlichen Materialität, welche mit der Rechtsgleichheit in Einklang zu bringen sei („soziale Rechte“, 1987, 251). Dahinter steht der Unterscheidung zwischen der Arbeiterbewegung, die die Rechtsgleichheit material „verwirklichen“ wollte und daher an der Formalität orientiert blieb, und der Konservativen der 1930er und 1980er Jahre, die zugunsten realer Ungleichheit die Formalität aufzugeben trachteten. 104 Der „nicht mehr rückgängig zu machende“ Sozialstaat (Habermas 1992, 556) sei aus den „Klassenschranken hervorgetreten“ (374 – das Argument für die Irreversibilität ist moralpsychologisch, Benhabib 1992, 168 f.). Weil Klassenschranken im Recht keine Rolle spielen, schließt Habermas, dass es sie nicht gibt. Er kann dies, weil er soziale Konflikte vorab „begrifflich“, also a priori ausspart (cf. Beer 1999). Dieses Aussparen ist der Witz der Rechtsgleichheit: geurteilt wird ohne Ansehen der Person. Diese juristische Sprache darf nicht als empirizistische Beschreibung von Realität missverstanden werden: „der Sozialstaat hat in Europa und anderen OECD-Gesellschaften während des dritten Viertels unseres Jahrhunderts die sozial unerwünschten Folgen eines hoch produktiven Wirtschaftssystems tatsächlich [!]

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Hier ist zurückzukommen auf Marxens Einwände gegen Hegel (2.5.7): Die „Aufhebung“ sozialer Konflikte ins Recht ist noch keine Lösung der verrechtlichten Probleme, sondern eine neue Ebene der Auseinandersetzung. Noch weniger kann eine Rechtstheorie sie lösen. „Das materielle Leben der Individuen [...] ist die reelle Basis des Staats und bleibt es auf allen Stufen“ (MEW 3, 311; Hvg. CH; cf. MEW 40, 581; MEW 23, 118; methodisch Steinvorth 1977, 12 ff.). Wie bei Hegel, ist auch an Habermas’ System weniger die Kontrafaktizität zu kritisieren als vielmehr seine Realität. Hier bleibt nur wenig zu „verwirklichen“, obwohl die soziale Realität in vielen Hinsichten kritikwürdig ist. Die Fixierung auf die Grammatik der Rechtssphäre beeinträchtigt die Wahrnehmung materialer Probleme (McBride 1999a, Fraser 2003). Das Recht sollte daher ein Gegenstand der Kritischen Theorie, nicht ihr Ersatz sein. Schon Hegels Philosophie gipfelte ja in der Apotheose des Staatsrechts. Daher ist die Entwicklung von Habermas der von Hegel zu parallelisieren (vgl. Habermas 1992, 9).105 weitgehend ausgeglichen. Der Kapitalismus hat zum ersten Mal die Einlösung des republikanischen Versprechens der gleichberechtigten Inklusion aller Bürger nicht behindert, sondern ermöglicht“ (1999b). Nicht nur Recht und Realität, auch formales und materiales Recht verschwimmen: Demokratie und Sozialstaat werden ‚begrifflich’ deckungsgleich, „wenn wir den Text unserer Verfassungen in diesem materiellen Sinn der Verwirklichung einer sozial gerechten Gesellschaft verstehen“ (1999b). Was im Sozialstaat erreicht wurde, hatte neben der „Idee [!] der Selbstgesetzgebung“ auch mit dem Systemantagonismus und konkreten Verteilungskämpfen zu tun. Solche Kämpfe sind schwer zu vermeiden, eine „Idee“ kann höchsten darum werben, sie nicht militant zu führen. Die „instrumentellen“ und „strategischen“ Gründe einer Gewährung sozialer Rechte (etwa die Gewährleistung sozialen Friedens im Inland und politischen Friedens nach außen) werden normativistisch verschmäht. „Heute wird uns bewusst, dass diese Idee bisher nur im Rahmen des Nationalstaates verwirklicht worden ist“ (1999b). Die erstrebte „politische Schließung“ (1998, 96) eines europäischen Rechtscodes kann allerdings erst erfolgen, wenn die Rechtsverhältnisse (und dahinter die realen Verhältnisse) dies hergeben. Eine Verrechtlichung allein kann die Lage der Menschen kaum verbessern. Sie entstammt auch nicht der „Idee“: „Beim Aufbau des Sozialstaates haben sich im Europa der Nachkriegszeit Politiker aller Richtungen von diesem dynamischen Verständnis des demokratischen Prozesses leiten lassen“ (1999b). Wieder wird der Ort zur Ursache. „Diese [...] Bestimmungen [...] waren keineswegs Produkte parlamentarischer Hirnweberei. Sie entwickelten sich allmählich aus den Verhältnissen heraus [...] Ihre Formulierung, offizielle Anerkennung und staatliche Proklamation waren Ergebnis langwieriger Klassenkämpfe“ (MEW 23, 299). 105 Jan Ross nennt Habermas den „Hegel der Bundesrepublik“ (Die Zeit 42/2001), und dieser seine Friedenspreisrede nach Glauben und Wissen (2001a, cf. Hegel 1802). Bei beiden folgt auf eine überschwängliche Jugendphase zunächst eine erkenntnisgenetische Orientierung über das Gesamt des verfügbaren Wissens (Hegels Phänomenologie, vgl. Habermas 1968), dann eine Logik (bei Habermas die „Wahrheits-“ bzw. Diskurstheorie als formales Instrumentarium, 1973a, 1983), ein „System“ (vgl. Hegels Enzyklopädie mit dem Mammutwerk Habermas 1981b) und abschließend eine Rechtsphilosophie (Habermas 1992). In einer Ironie der Geschichte entdeckt die Vollendung des Habermasschen Systems den Rechtsstaat just „im Augenblick seines Sturzes“: die 1990er Jahre machten seine Ausgangsvoraus-

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Neben dem „objektiven Geist“ bekommen auch weitere idealistische Bestimmungen erst am Recht eine fassbare Bedeutung: etwa die „Wirklichkeit der Idee“, die Hegel der Kantischen Moralphilosophie entgegengestellt hatte, oder die „Reflexion“, also die nachträgliche Selbstverständigung über bereits gefallene Entscheidungen und schon vollzogene Handlungen.106 Allein Reflexion ist noch keine „Selbstreflexion“, auch wenn sie sich so nennt. Nachdem die menschliche Endlichkeit und damit die Perspektivität und Relativität des Erkennens in schmerzhafter Weise in den philosophischen Kanon integriert wurden,107 sind von einer solchen Selbstreflexion keine Meta-Begründungen mehr zu erwarten, sondern eher bescheiden machende Einsichten. Unter Selbstreflexion sei verstanden die Überlegung darüber, was man eigentlich tut, wenn man solche Reflexionen anstellt. Sie erlaubt eine Topik: eine Verortung der verschiedenen Theorien in ihrem Bezug zur Wirklichkeit, die wir – dies ein wichtiges Ergebnis recht verstandener Selbstreflexion – stets schon als gegeben voraussetzen müssen (4.1, cf. Bubner 1990). Genau dies fehlt in der normativen Sozialphilosophie im Umkreis von Habermas.108 Das komplexe Gerüst begrifflicher Zusammenhänge, von Prinzipien, Grundsätzen und deren „Begründungen“ (Burckhardt 2000), hängt für den Betrachter seltsam in der Luft. Ein Bezug zur Wirklichkeit wird nicht methodisch gesichert, sondern entweder nur suggeriert (etwa über das „Hintergrundwissen der Lebenswelt“), oder kurzschlüssig hergestellt. So spricht ein repräsentativer Aufsatz von Rainer Forst unvermittelt von „der Gerechtigkeit“ – es scheint, als habe er die Lösung für eine gerechte Gesellschaft in den Händen. Tatsächlich aber wägt er nur verschiedene Theorien gegeneinander ab, die versucht haben, ausgewählte gesellschaftliche Praxen modellhaft in bestimmte Prinzipien zu fassen und diese philosophisch zu begründen. Das kann nicht mehr erbringen als eine Bewertung eben jener Theorien, welche sich in setzung, die sozialstaatliche Einhegung des Kapitalismus, hinfällig. So wiederholt sich an Habermas die Tragik Adornos, der glaubte, es sei zu spät (1966, 7 und 400). 106 Das Gefühl des endlich-gefunden-Habens mag Hegel zu dem Schluss veranlasst haben, hiermit sei die Philosophie zu einem Ende gekommen. Marx’ Kritik daran lautete sinngemäß, Hegel habe dabei geschummelt (Böhm 1998, 32 ff.). Auch Marx konzedierte, dass mit der Demokratie (das „aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“, MEW 1, 230 f.) das Ende der politischen Emanzipation erreicht sei – wenn diese auch erst die halbe sei (361 f.). 107 Schmerzhaft, weil es lange Zeit Widerstände gegen Freud und Marx gab – weniger gegen Nietzsche; wohl, weil dieser die Bescheidenheit nicht durchhielt und sich dem „Philosophieren mit dem Hammer“ ergab (Nietzsche 1888, cf. Heidegger 1927, 154), der reinen Selbstbehauptung eines blinden Willens zur Macht (2.5.2). Für Habermas (1985, 104 ff.) ist Nietzsche die „Drehscheibe“ der Postmoderne. 108 Habermas 1968, 262 ff. dagegen lädt der „Selbstreflexion“ eine Begründungslast auf, die von der Behandlung der Sachfragen suspendiert (vgl. die Selbstkritik von 2000). Dies ist der idealistische Keim des Gedankens, in der Sprache selbst, jenseits ihrer Inhalte, liege die Grundstruktur praktischer Vernunft. Habermas ist durch die Philosophie nach Hegel gerade nicht bescheidener geworden (1981b II, 583 f.; cf. 1983, 9 ff., 1991b, 15 ff.; 4.2.4, Fn. 19).

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großem Abstand zur sozialen Realität befinden. Solange auch der Bewertungsmaßstab noch erfahrungsabstinent („apriorisch“) bleibt, verharrt die Analyse im luftleeren Raum. Theorie und Wirklichkeit verschwimmen.109 Die geforderte Selbstreflexion könnte man als eine Übung ansehen, die man anstellen kann oder nicht, ohne dass sich an der Theorie etwas ändere.110 Doch hier wird die Konfrontation mit Marx relevant. Nach Marx hat Hegels Philosophie zwar einiges für sich (sie habe einen „rationellen Kern“, MEW 23, 27); aber sie missversteht ihren Standpunkt in der Welt. Hegel zeichnete aus, dass er eine solche Selbstreflexion angestellt hat. In der Beziehung zwischen Theorie und Wirklichkeit gab er dem „Begriff“ das Primat – in diffiziler Weise zwar, doch sehr bewusst. Marx, der an Hegel gerade die Vermittlungen zwischen Begriff und Wirklichkeit schätzte, behauptete nicht äußerlich, Hegels Standpunkt sei falsch, sondern zeigte (wie später bei der Ökonomie) am Gegenstand, dass aus

109 Obwohl Forst 1999 nur in die „Debatte um die Möglichkeit der Begründung einer Theorie politischer und sozialer Gerechtigkeit“ klärend eingreifen will (105), wird der Begriff der Gerechtigkeit kurzschlüssig objektiviert. Die Erörterung bewegt sich auf einer Ebene, die aufsteigend die Beschreibungsebenen: soziale Welt (1), darin handlungsleitende Vorstellungen mit dem Namen „Gerechtigkeit“ (2), Theorien davon (3), deren Begründung (4) sowie die Problematisierung derselben (5) hinter sich lässt, um schließlich selbst noch die Debatten darüber (6) aus einer Metaperspektive zu betrachten (7). Es ist kaum nachzuvollziehen, wie aus dieser Ebene (7) einfach Rückschlüsse auf „die Gerechtigkeit“ (1/2) sollen gezogen werden können. Zwar gesteht Forst 1999 ein, dass auch seine „Konzeption der Gerechtigkeit“ daneben „auf wissenschaftliche Analysen der sozialen Realität angewiesen“ sei (167). Dieser Passus fällt jedoch erst im Nachwort, nachdem die „‚autonome’ Begründung“ (112) bereits erarbeitet ist. Das „Daneben“ verrät eine dezente Elimination der Erfahrung: Die philosophische Theorie scheint einen Zugang zu diesen Phänomenen zu haben, der ihrer nicht bedarf; andere Wissenschaften werden als Hilfsdisziplin nur geduldet. Forst titelt: „Nichtmetaphysische versus nachmetaphysische Gerechtigkeit“ (112) – bei dem, was er tut, müsste es eigentlich heißen: „Nichtmetaphysische versus nachmetaphysische Theorie von den Prinzipien der Prinzipienfindungen in den Vorstellungen von einer sozialen Gerechtigkeit“. Dieser idealistische (Forst nennt es „konstruktivistisch“) Kurzschluss ist nur möglich, weil eine Selbstreflexion auf das eigene Tun fehlt. Diese stellt keine nochmalige Abstraktion dar (der vorliegende Abstraktionsgrad: „Vor aller Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien“, 107, ist schwerlich zu überbieten), sondern eine Verortung des Gesagten: was ist der Gegenstand, auf welcher Abstraktionsstufe befinden wir uns jeweils, wie geschieht der Übergang von einer zur nächsten, und wo werden diese eingeführt? Wo haben die Abstraktionsstufen eine Entsprechung in der Wirklichkeit, und was bedeutet das Behauptete für sie? „Ein philosophisches Problem hat die Form: ‚Ich kenne mich nicht aus´“ (Wittgenstein 1984, PhU 123, cf. 109). 110 Dies ist eine Bestimmung, die für die Tätigkeit von Habermas („Rekonstruktion“ oder „Reflexion“) gilt: wen es drängt, der mag sie anstellen, aber dadurch allein kann sich an ihrem Gegenstand nichts ändern. Die Reflexion ist „rekursiv“ (Forst 1999, 109): am ideellen Gegenstand, am „Begriff“ (sei es die Tugend, die Gerechtigkeit, das Gute oder die Toleranz) wird zurückgefragt nach Implikation und begrifflichen Voraussetzungen.

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dieser Verortung Verzerrungen in der Wahrnehmung der Realität folgten.111 Über den Gegenstand mochte in der Reflexion richtiges gesagt worden sein; die Verortung derselben als Selbstbewegung des Begriffs aber war als Fehlbestimmung aufzuweisen. Ex post zeigte sich, dass Hegels Selbstreflexion verfehlt war.112 Umso folgenschwerer ist es, wenn eine verortende Selbstreflexion gar nicht mehr stattfindet. Der Anspruch der Vermittlung auf begrifflicher Ebene wird bei Habermas, im Unterschied zu Hegel, nicht ausdrücklich gemacht und methodisch gesichert, sondern einfachhin praktiziert.113 Gemäß der Marx’schen Hegelkritik reicht es nun nicht aus, nur zu behaupten, dass Habermas die Selbstreflexion verabsäumt habe oder die Struktur der ganzen Theorie „idealistisch“ sei.114 Es ist vielmehr aufzuweisen, dass diese normative Begriffsphilosophie zentrale Aspekte der zu begreifenden Wirklichkeit, von der ein Vorbegriff von ihr ja durchaus weiß (1.2), nicht erfasst. And here we are: Die entfallenden Gegenstände sind die bürgerliche Gesellschaft und die wirkliche Geschichte. Die Behandlungsart von Rechtsstaat und Demokratie ähnelt dem älteren Neohegelianismus. Schon an ihm wurde die methodische Chimäre einer Theorie und Praxis kontaminierenden „ontologischen Genese“, einer „genetischen Begründung“ kritisiert (2.5.5). Habermas fragt zwar nach der Entstehung der Geltung, doch dabei kommt nicht die tatsächliche Entstehung eines bestimmten Rechtes zum Tragen, sondern eine abstrakte „Generierung“ der „Geltung“ – eine transzendentale Geschichte („logische Genese“, 1992, 155).115 Zentrale Tatsachen, etwa die sozialen Kämpfe, 111 Marx’ Hegelkritik beschränkte sich nicht auf die Begriffe, sondern betraf das unter dem Begriff Gefasste. Gegenüber der Unterstellung, der Begriff leiste die Vermittlung, konnte Marx in der Sache zeigen, dass eine Vermittlung auf diese Weise gerade nicht zustande kam – etwa am Beispiel der aus dem Recht fallenden „armen Klassen“ (MEW 1, 115), des aus dem „Begriff“ der Gesellschaft herausfallenden „Proletariats“ (MEW 1, 390; MEW 2, 37; MEW 3, 47 u.ö.), der aus den Begriffen der Tauschgesellschaft herausfallenden Produktion etc. (2.5.7). 112 In Anerkennung der Leistung der Reflexion unter gleichzeitiger Kritik ihres überzogenen Anspruches sprach Marx von Entzweiung (MEW 40, 215; 2.5.7, Fn. 274). 113 Die Dialektik, die eine verortende Absicht hatte (Bubner 1990; www.hegelsystem.de), ist im Positivismusstreit aus Habermas’ Vokabular verschwunden („Versuchen wir es mit etwas weniger Dialektik“, Habermas 1990a, 223; cf. 1954b, 1963c, vor allem Dahms 1994, 373 ff.). Offen ist, wo Habermas’ Positionierungen in der Realität eigentlich stehen. 114 Habermas gesteht den Idealismus sogar zur Hälfte ein (1992, 60; cf. 1963, 313; 1968, 349; vgl. Marcuse 1937). 115 Es gibt nur eine Geschichte des Begriffes: die unter „nicht mehr“ verbuchten Entwicklungen sind begrifflich (die praktische Vernunft etwa sei „zerborsten“, Habermas 1992, 17), werden aber als reale Entwicklungen genommen: die Begriffsgeschichte scheint wie bei Heidegger das reale Geschehen transzendental zu dirigieren (ein „Defizit“ in Marxens Theorie hat die reale Geschichte Russlands bestimmt, 1992, 617 f.; die „Resignation“ Adornos wird in die ganze Bundesrepublik hineingesehen, 619, etc.). Manifest wird die surrogative Transzendentalgeschichte zuerst in der Behauptung einer eigenständigen historischen „Evolution“ nach den Stufen von Piaget und Kohlberg (1976b, 63 ff., 129 ff.). Hier wird reale Geschichte durch Theorie ersetzt (s.u., Fn. 84). Habermas verschiebt die Kritische Theorie von der

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werden ausgeblendet und gegen eine imaginierte Transzendentalgeschichte der Normfindung substituiert. Zugleich aber wird die so vergeschichtlichte Geltung derart mit ihrer transzendentalen Entstehung vermengt, dass auch die tatsächliche Geltung aus dem Blick fällt – ist doch jede konkrete Geltung intern zeitlos.116 Das Fehlen einer expliziten Selbstreflexion, welche Antwort auf die Fragen geben könnte, was genau unter das Recht fällt, was es für diesen Gegenstand bedeutet, darunter zu fallen, wo die Theoretisierung des Rechts in der Realität zu verorten ist und welche Bewertung daraus gezogen wird, zwingt dazu, in den Texten nur angedeutete implizite Positionierungen dazu archäologisch freizulegen.117 Hierfür müssen wir ein wenig zurückblicken. Eine Veränderung der politischen Ausrichtung Kritischer Theorie war die Aussage von Claus Offe: „Zum Verfassungsprogramm liberaler (oder auch sozialstaatlich komplettierter) Demokratien gibt es keine Alternative“ (1972, 103). Wenn Habermas sich nach dieser Vorarbeit der Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus annahm (1973b), dann war gegenüber den kulturkritischen Anfängen ein Positionswechsel vollzogen: er machte sich nicht mehr wie die frühe Kritische Theorie und die Studentenbewegung zum Anwalt des bürgerlichen Subjektes gegen den als übermächtig und freiheitsberaubend empfundenen Staat und seine Bürokratien, sondern er sah nun gerade diesen Staat als Bollwerk gegen die systemischen Imperative, von denen eine kulturelle Verarmung drohte. Habermas sorgt sich nunmehr um die Legitimitätsressourcen des bestehenden Staates (der damals SPD-regiert war).118 Kritik der Gesellschaft zurück in eine Kritik an Theorien (für Marx nur eine Vorstufe). Das macht nur unter der Unterstellung Sinn, dass Theorien die Wirklichkeit per se enthalten (1976b, 184 f.; 1992, 60). 116 Geltendes Recht kann nicht zugleich seine historische Relativität behaupten. Entweder es gilt, dann gilt es bis neues Recht es ersetzt, oder es gilt nicht. Es kann nicht „ein bisschen“ gelten. Auch die Geschichte der Mathematik hat in Berechnungen nichts zu suchen. Sie ist kein Zug in diesem Sprachspiel. 117 Habermas hat sich einst offen für Wertungen innerhalb der Theorie ausgesprochen (1963, 307; 1973b, 194) und hält die Philosophie noch später für „unmittelbar politisch“ (1999, 332; s.u., Fn. 83). Es sollte daher nicht allzu schwer sein, solche Wertungen aufzufinden. Dieses Verfahren ähnelt einer Kohärenztheorie. Die Vorstellung, Theorie sei an der Realität zu messen, ist nur befremdlich, solange man philosophiert. Im normalen Leben weiß jeder, was wirklich ist; es wäre ein performativer Fehlschluss, das zu leugnen. Marx zog daher den Schluss, dass man mit dieser Wirklichkeit anzufangen habe – jedoch nicht nur so, wie sie sich dem Individuum „im Bewusstein“ gibt, wie es dann Husserl tat, oder wie wir sie gern hätten, wie es der junghegelianische Freyer anstrebte (cf. Über 1994). 118 Habermas 1981b II, 483; H. Berndt in Bolte 1989, 95. Die „Normen der heutigen politischen Theorien sind [...] bei den meisten Zeitgenossen, anerkannt“ (Steinvorth 1999, 77). Warum setzen sie sich nicht durch? „Ein Grund dafür könnte gerade ein Mangel der [...] normativen Theorie sein: dass diese nicht überzeugend geklärt hat, wie die gleiche Freiheit konkret zu verstehen und zu verwirklichen ist [...] eine rein normative Aufgabe, bei der man nicht darauf schielen darf, welche Interessen den Ideen genug Schubkraft [...] geben könnten. Andernfalls machte sich [...] der Theoretiker zur ‚Beifallssalve der gerade aufsteigenden Mächte´“ (78, nach M. Weber).

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In der Unterstützung des demokratischen Rechtsstaates trifft sich Habermas mit dem jungen Marx. Die Verfassung der USA galt bereits ihm als Vorbild. Marx hielt mit den wenigen Demokraten seiner Zeit eine politische Emanzipation für nötig (MEW 2, 122). Der Unterschied beginnt erst dort, „wo die Spekulation aufhört“ (MEW 3, 27). Habermas sieht in solchen Forderungen bereits eine Gesellschaftstheorie. Dies setzt die idealistische Annahme voraus, Gesellschaft werde von Normen konstituiert. Marx lenkte demgegenüber die Perspektive vom Staat auf die Gesellschaft. Begreift man den Staat als Form, die sich die Gesellschaft gibt, wie es der Kontraktualismus will, so ist der Sinn von „Autonomie“ nicht Selbstgesetzgebung des Politischen, sondern Selbstbestimmung durch es. Doch die dahinter stehende Gesellschaft ist kein einheitliches Subjekt.119 Sie bewegt sich in Antagonismen, die durch den Staat hindurch greifen, national wie international. Er kann im schlimmsten, doch nicht seltenen Fall zu einem Klassenstaat werden, welcher die Arbeiterorganisationen zerschlägt und die Industrie mit dem Staat zu einem autoritären Regime verbindet. Eine juristische Perspektive (die „Idee kommunikativer Freiheit“, die nach Honneth 1999a, 295 gegenüber Marx den – zweifelhaften – Vorteil hat, die Nachteile auszublenden) gelangt an solche und ähnlich problematische Prozesse schlecht heran, da sie auch legal, unter der Form des Rechts geschehen können. Das Recht ermöglicht auch sie. Habermas’ theoretische Hintergrundannahmen hatten seine Kehre erleichtert.120 Gilt aufgrund „begrifflicher“ Vorentscheidungen als ausgemacht, dass der Staat als Manifestation der reinen Politik auf kommunikativem Handeln beruht, so kommen Bedrohungen durch ihn weniger infrage als solche durch andere Imperative. Als eine solche Bedrohung musste die Befassung mit mehr als kommunikativen Belangen schon begrifflich erscheinen. Der Sozialstaat wurde darum als Belastung der Legitimität des Rechtsstaates gedeutet.121 119 „Die Gesellschaft als ein einziges Subjekt betrachten, ist, sie überdem falsch betrachten – spekulativ“ (MEW 13, 625). „Diese Auffassung kann nun wieder spekulativ-idealistisch, d.h. phantastisch als ‚Selbsterzeugung der Gattung’ (die ‚Gesellschaft als Subjekt´) gefasst und [...] als ein einziges Individuum vorgestellt werden, dass das Mysterium vollbringt, sich selbst zu erzeugen“ (MEW 3, 34). Marx war kein Bewusstseinsphilosoph (Habermas 1985, 79 f.). 120 Praktische Hintergründe sind sicher auch in der prekären Staatsfeindlichkeit der extremen Linken zu suchen (die bis hin zur paradoxalen Bejahung der DDR und zu terroristischen Attentaten ging, cf. Koenen 2001) sowie in der damit unweigerlich verbundenen Diskreditierung marxistischen Gedankenguts für die Öffentlichkeit. 121 Diese rechtshegelianische Diskussion wurde seit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft geführt (Forsthoff 1968, Tohidipur 1978). Habermas hatte anfangs eine „Askese“ gefordert (in 1954b, nach Kreulartz 1995, 60; cf. Gehlen 1949, 54) und rekurriert 1992 auf die „unerwünschten [von wem? CH] Folgen der sozialstaatlichen Fürsorge“ (472; cf. 1981b II, 530 ff.). Die Veranlassung, sich gegen den Sozialstaat zu stellen, war selten ein demokratisches Ethos (Autoren wie Forsthoff, Huber, Gehlen und Schmitt hatten oft steile NS-Karrieren hinter sich), sondern wohl eher die Angst vor Statusverlust wie vor politisch eventuell noch weitergehenden Ansprüchen (vgl. H. Klages 1979).

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Schien die staatliche Legitimität bereits durch die technische Erosion der Kultur sive Lebenswelt dezimiert, so wurde der Legitimitätsbedarf des Staates durch sein Eingreifen in die Wirtschaft noch erhöht. Die systemtheoretische Sichtweise verstellt nun eine konkrete Adressierung dieser politischen Diagnose: Unterschiede innerhalb der Systemumwelt werden nicht gemacht, die Masse der „Bürger“ nur als einheitliche politische Subjekte (citoyens) begriffen. Habermas will das Recht zwar demokratisieren, doch er umgeht die nötige Konkretion. „Legitimation“ ist ein vierstelliges Prädikat: Person A legitimiert gegenüber Person B Umstand C mit Umstand D. Die Frage des Adressaten (B) bleibt bei Habermas ungeklärt: wem gegenüber hat der Sozialstaat ein höheres Legitimitätssoll? Er hat dies weniger gegenüber Empfängern von Wohn-, Kinder-, Erziehungs-, Kranken- und Arbeitslosengeld, von BAFöG und Sozialhilfe, Altersübergangsgeld und Rente (einem Großteil der Bevölkerung), sondern gegenüber der Wirtschaft, die mit höheren Abgaben belastet zu werden droht (Lohnnebenkosten, Steuern etc.). Die theoretische Verabschiedung von Marx führt so funktional zu einer politischen Parteinahme. Damit begibt sich Habermas weitergehender Möglichkeiten einer Kapitalismuskritik. Dagegen steht allein die geschichtsphilosophische Rahmenthese, dass eine solche Ideologiekritik „heute nicht mehr“ zu formulieren sei. Sie will, dass im „Spätkapitalismus“ die Technokratie (1968a) und der Sozialstaat (1973b) die alten Probleme gelöst habe.122 Diese problematische Rahmenthese, die Voraussetzung des Verschwindens des Gegenstandes Kapitalismus, begründet Habermas nicht mehr. Er operiert unter Voraussetzung ungeprüfter Annahmen. Auch er hat also ein „Begründungsdefizit“, nur liegt es auf empirischer Ebene.123 Die stringent argumentierten Ausführungen über Demokratie, Recht und Gerechtigkeit verstehen sich als progressiv. Termini wie „radikale Demokratie“ oder „politische Kultur“ haben jedoch keinen klaren Bezug. Die Frage, worauf genau sie sich beziehen, bleibt unbeant122 Statt des Privatkapitalismus gebe es „heute“ das Primat der Politik (1973b, 15), einen neuen Komplex von Ökonomie und Staat, in den alte Probleme wie die systematische Benachteiligung ganzer Bevölkerungsgruppen „nicht mehr“ hineinreichen (cf. 1968a, 74 f.; 1970; 1973b, 49 ff.; 1976b, 182; 1981b II, 505 ff. u.ö.). „Nur auf einer Basis, die aus Klassenschranken hervorgetreten ist [!]..., kann sich das Potential eines freigesetzten kulturellen Pluralismus voll entfalten“ (1992, 374). Warum gibt es die Klassenschranken „heute nicht mehr“? Weil die „gleichen Staatsbürgerrechte“ sie aufgehoben haben (374). Habermas deutet den juristischen Ausdruck als eine Beschreibung empirischer Wirklichkeit. Die „liberalen Rechte“ haben sich nur „historisch gesehen [! ...] um die gesellschaftliche Stellung des privaten Eigentümers kristallisiert“ (1992, 104). Auch das gelte „heute nicht mehr“. Sie und die „paternalistisch“ verliehenen „sozialen Rechte“ fördern vielmehr die „privatistische Abkehr von einer Staatsbürgerrolle“ (105). Die „soziale Frage“ wird für gelöst und stattdessen nun diese Rechte zum Problem erklärt (cf. Fn. 104). Sogar Schelskys altes Wort der „Nivellierung“ fällt dabei (106, cf. 2.4.6). 123 Solch „empirische, nicht etwa [...] konzeptuell notwendige Zusammenhänge“ (1992, 105) gehen nicht in die apriorische Sozialphilosophie ein. Auch semiempirische Theorien will sie „überspringen“ (350; Honneth 2003).

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wortet. Die Implikationsanalyse normativer Begriffe, die dem Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaates entstammen, betreibt so im Grunde eine „Hermeneutik der Demokratie“ (Höffe 1996, 137). Habermas liefert eine transzendentale Deduktion der Bundesrepublik.124 Die Frage, was diese normativ rekonstruierten Begriffe in der politischen Wirklichkeit bedeuten und wo der Autor innerhalb dieser steht, kann nicht mehr aus den Begriffen, sondern muss aus der Wirklichkeit gestellt werden. Nur ein naiver Materialismus oder Idealismus würde eine der beiden Dimensionen, Begriff und Wirklichkeit, ganz leugnen. Für ihre Verhältnisbestimmung bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder wird in einer Logik der Verwirklichung unterstellt, die Ideen hätten den Primat, nach denen die Wirklichkeit modelliert wird. Dies sei „schwacher Idealismus“ genannt. Oder aber die Wirklichkeit hat selbst schon eine bestimmte Struktur, welche in den Ideen noch einmal vergegenwärtigt wird – dies ist der „schwache Materialismus“ von Marx. Er begreift normative Ideen als Teil der Realität. Erst so lässt sich die Frage nach dem Bezug von Begriff und Wirklichkeit überhaupt stellen. Der „schwache Idealismus“ hingegen übt die Sozialkritik, dass die Ideen „noch nicht“ – oder nicht ganz – verwirklicht seien. Er hat das zusätzliche Begründungsproblem, sagen zu müssen, woher diese „normativen Gehalte“ eigentlich kommen, wenn sie nicht der materiellen sozialen Realität zu entnehmen sind. Dies ist das junghegelianische Muster der Kritik, dem noch die Kritische Theorie folgte (2.6.3, Fn. 67). Bei Habermas ist es in Apologie umgeschlagen, die seit je die Kehrseite des Hegelianismus war (Lübbe 1962). Das hat theoriegeschichtliche Hintergründe im Idealismus der deutschen Sozialphilosophie (2.5). Theorie und Praxis, bei Kant methodisch klar getrennt, verschmelzen bei Habermas, wie schon bei Fichte, zur „Einheit“. Daraus entsteht die unglückliche Forderung an die Theorie, alles aus einem Prinzip abzuleiten.125 Wie schon Freyer 1930 unterstellt Habermas, die soziale Wirklichkeit sei nicht vorgegeben, sondern werde von uns gelebt und sei daher rational zu rekonstruieren. Kronzeuge dafür ist Vico („verum et factum convertuntur“, Habermas 1963, 271, 51 ff; 1992, 65 f.; cf. 2.6.4, Fn. 108). Alles in der Menschenwelt Begegnende erscheint als selbstgemacht, ob geschichtlich oder geplant. Folglich gibt es keine Instanz, die dem kommunikativen Handeln und der theoretischen Erfassung seiner Resultate entgegenstünde, das ist schon „kategorial“ ausgeschlos-

124 Vgl. Benhabib 1992, 175. Scheyli 2001 vermisst eine Deduktion der Schweiz. 125 Zu Fichte cf. Habermas 1963, 310 ff.; 1968, 253 ff. „Einsicht und Emanzipation“ (1963, 17), Erkenntnis und Interesse bilden eine „Einheit“ (1968, 234, cf. 244, 257; 1999, 238; Jonas 1968 II, 213, 250; cf. I, 135 ff.; Joas 1980, 55, 219; Hösle 1986, Schönrich 1994, 171 ff.). Der „quasitranszendentale“ Anthropologismus („Kant mit Darwin“, 1999, 17) vermengt theoretische und praktische Fragen. Kants „Reinheit“ in der Bestimmung der Prinzipien missversteht Habermas als eine generelle Gegenstandslosigkeit. Davon ist bei Kant keine Rede. Habermas gibt immerhin noch Gründe an für das, was anderen eher aus Unachtsamkeit unterläuft: die mangelnde Berücksichtigung der Realität.

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sen.126 Die Menschen geben sich selbst das Gesetz, also handeln sie auch danach.127 Ex post betrachtet, waren die „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ und der „herrschaftsfreie Diskurs“ die etwas überschwänglichen Vorstufen des „demokratischen Verfahrens“ (1992, 365 ff.), nur dass dieses nun nichts mehr zu verwirklichen übrig lässt. Die Theorie wird hermetisch – und ideologisch. So treffend einzelne Bestimmungen dieses Entwurfes sind, eine „Kritische Theorie der Gesellschaft“ gibt es nicht ab. Denn die Gesellschaft selbst wird hier ja theoretisch kaum thematisiert. Kommen wir damit noch einmal zum Recht.

3.1.6 Systematische Kernpunkte IX: Marx und das Recht „Die materialistische Determination kultureller Charaktere ist möglich nur vermittelt über den Gesamtprozess.“ (Adorno an Benjamin, 11. 11. 1938)

Faktizität und Geltung initiierte erneut eine Theoriemode. Folgetheorien orientierten sich nun primär am rechtlichen Diskurs (zuletzt Honneth 2001). Das Muster dieser Theorien bestand darin, in verschiedenen Begriffen normative Implikationen freizulegen. Solche Begriffe sind allerdings kaum zu mehr zu gebrauchen als zu einer normativen Bewertung. Selbst die Rechtssprechung enthält mehr Empirie als diese „juridisch enggeführte“ Sozialphilosophie (Böhm 1998, 45). 126 Die Freiheitsliebe ging – wie bei Fichte – so weit, dass auch die theoretische Philosophie keine „Natur“ mehr zur Verfügung hatte: in der Konsenstheorie der Wahrheit (1973a) sind Aussagen allein durch die Übereinstimmung der Wissenschaftsgemeinschaft „wahr“. Kant ging es um die transzendentale Wahrheit, den Gegenstandsbezug überhaupt, Habermas um die Frage nach der empirischen Wahrheit. Nach Kant galt hier nach wie vor die „adequatio rei at intellectus“ (KrV A 58). Habermas transzendentalisiert noch die Empirie (was er später etwas eindämmt, cf. 1999, 15 f.). Selbst sein „schwacher Naturalismus“ (1999, 36, 279) kennt noch immer keine Gegenstände, sondern nur ein anderes Verfahren (das sozialevolutive „Lernen“ der Erkenntnisanthropologie). 127 Dies ist die maximale Verlängerung von Habermas’ Aussagen. Sie wird indes niemals erreicht, es handelt sich um eine (immerhin bewusste) Idealisierung: Die Bürger sind insofern autonom, nicht als sie selbst die Gesetze machen, sondern als sie sich als ihre Autoren „verstehen dürfen“ (Habermas 1992, 52, zum Begriff „Autor“ MEGA I.6, 179). Gerecht sind Gesetze, bei denen denkbar ist, dass alle Beteiligten und Betroffen würden zustimmen können. Sie sollen sich lediglich vorstellen, dass sie das könnten. Eigentlich sollen sich nur die „Autoren“ solcher Transzendentaldeduktionen vorstellen, dass die Subjekte sich dieses vorstellen können müssen. „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“ (1992, 138). Wann wäre das der Fall? Quis iudicat? Gegenüber der Verkürzung der Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ kann diese Verkürzung noch ideologischer sein, da sie die Notwendigkeit (des „Zwangsrechts“, 51) selbst noch als Freiheit bezeichnet. Habermas setzt sich gegen den Idealismusvorwurf zur Wehr (1996, 335 ff.), doch der plötzlich angeführte common sense der „substantiellen Gründe“ (342) widerspricht seinen Grundannahmen. „Hier bleibt noch viel zu tun“ (354). Die jüngste Selbstkritik der theoretischen Grundlagen geht recht weit (Habermas 1996, 342, 353; 1999, 15 f., 50 f.; 2000, 12 ff.). Was folgt daraus für seine ethischen Theorien?

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Vor einer Urteilsfindung müssen Beweise und Zeugen aufgebracht werden, und es gibt die Kontrollinstanz der Schöffen. Mangel an Empirie war in Deutschland allerdings selten ein Hindernis bei der Entwicklung philosophischer Systeme. So hob die dritte Generation der Frankfurter Schule verstärkt „normative Fundamente“ hervor:128 behandelt wurden „radikale Demokratie“, „Anerkennung“, „doppelte Anerkennung“, „wechselseitiger Respekt“ und „Toleranz“, Recht, Menschenrechte, Gerechtigkeit (3.2) und ähnlich Wünschenswertes.129 Sicher gab es dafür endogene Gründe wie die Popularität der Sozialphilosophie von John Rawls und des Kommunitarismus, die sich um eben diese Fundamente stritten (Honneth 1999a, 282). Doch diese Popularität ist selbst erklärungsbedürftig. Vielleicht ahnte man, dass die rechtlichen Errungenschaften einer Erosion ausgesetzt sein würden. Doch ging auch der neoliberale Zeitgeist der Gründerjahre Ost in den Tonfall ein. Wenn Honneth (1992) seine moralische „Kritik der Macht“ fortsetzte, erinnerte dies an die politische Forderung nach Steuersenkungen, und wenn Joas die „Kreativität des Handelns“ (1996) pries, hätte man meinen können, er vergebe Kredite an Unternehmer. Die Orientierung am Recht ist nicht neu (man denke an Kants „Gerichtshof“ der Vernunft, KrV, A 751). Die sich am Recht orientierende Sozialtheorie zielte allerdings weniger auf die Beweisverfahren als auf die „Normativität“ als solche. Diese Fixierung auf die „Geltung“ ist ein Erbe des Neukantianismus. Nun kann das Recht als ein normatives Abbild der Gesellschaft verstanden werden – gesellschaftliche Zusammenhänge erscheinen so unter dem Blickpunkt ihrer rechtlichen Relevanz. Die normativistische Sozialtheorie im Anschluss an Habermas ist von dieser Perspektive derart fasziniert, dass sie sich des spezifisch juridischen Hintergrundes und seiner Grammatik kaum noch entsinnt. So entstammt der Begriff der „Anerkennung“, von dem sich Honneth viel erhofft (1992, cf. 3.2.4), der Rechtssphäre. Er besagt dort wenig mehr, als dass das Recht voraussetzt, dass sich die Individuen als Rechtssubjekte „anerkennen“. Dies wird auch dort vorausgesetzt, wo dem zuwidergehandelt wird. Bedenkt man diese Funktion der „Anerkennung“ im juristischen Sprachspiel, ist es eine müßige Übung, eine solche Anerkennung „verwirklichen“ zu wollen. Sie ist immer schon wirklich („stets schon vorgängig garantiert“, Honneth 1992, 72), da sie eine Eingangsregel zur juristischen Spielregel darstellt. Sie wird in der Diskurstheorie ontologisiert: Nun baut sich Gesellschaft scheinbar tatsächlich dadurch auf, dass sich ihre Mitglieder in einem ortlosen Akt gegenseitig anerkennen, wobei sie nur einige Einzelheiten wie die Anerkennung des „Anderen“ vergessen, die die Kritische Theorie dann nachreicht. Das kann im Einzelnen sehr löblich sein, die Frage ist aber, was dadurch mit der Theorie passiert. Unerkannt scheint hier ein Herüberwech128 Philosophische „Begründungen“ sind typisch deutsch – Richard Bernstein führt das Bonmot im Mund: „The Germans are always obsessed with ‚the ground’“. 129 Habermas 1992, 13; Honneth 1992; Wingert 1993, 190 ff.; Gosepath 1999; Brunkhorst 1999a, Forst 2000.

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seln genau jener rechtlichen Fiktionen in die Gesellschaftstheorie vorzuliegen, die schon Marx als Idealismus gebrandmarkt hat.130 Die Dissertationen von Andrea Maihofer (1992) und Andreas Böhm (1998) haben genauer untersucht, wie Marx die Rolle des Rechts begreift.131 Diese Arbeiten zeichnen entgegen landläufigen Marxkritiken und Marxismen das folgendes Bild: Marx bestimmt das Recht als eine aus verschiedenen Rechtsdiskursen bestehende eigene, doch nicht eigenständige Sphäre, die nur in letzter Instanz von der Ökonomie abhängig ist. Dieses Verständnis verbietet es, das Recht als monokausal abhängig von einzelnen Instanzen wie der Warenform, dem Tausch, der Produktion oder einzelnen herrschenden Interessen abhängig zu denken. Eine solch reduktionistische Sichtweise der marxistischen Rechtstheorien (Maihofer kritisiert exemplarisch etwa Paschukanis 1924, Negt 1975 und Poulantzas 1979) führte zu einer berechtigten Ablehnung seitens der konventionellen Rechtstheorie. Diese schüttete allerdings das Kind mit dem Bade aus. Marxens Position stellt gegenüber beiden Positionen, Reduktionismus wie Normativismus,132 eine Alternative dar. Wie ist das genau zu verstehen? Aus der Sicht von Marx ist das Recht eingebunden in das Gesamt der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche neben der ökonomischen Sphäre (welche mehr umfasst als ‚den’ Tausch und ‚die’ Produktion, Maihofer 1992, 150) auch andere kulturelle Bereiche umfasst. Es reagiert auf Veränderungen in der ökonomischen Sphäre (man denke etwa an das Patent- oder Kartellrecht), aber auch auf Entwicklungen in der eigenen133 wie in der kulturellen Sphäre (der Sitten, der Religion, der Kunst oder auch der Philosophie). Nur dürfen diese Teilbereiche nicht als selbstgenügsam abgesonderte Subsysteme missdeutet, sondern sie müssen 130 „Die Gesellschaft beruht aber nicht auf dem Gesetze. Es ist das eine juristische Einbildung“. Der „Code Napoleon [...] hat nicht die bürgerliche Gesellschaft erzeugt. Die im 18. Jahrhundert entstandene [...] bürgerliche Gesellschaft findet vielmehr im code nur ihren gesetzlichen Ausdruck“ (MEW 6, 245). „Bei ihm [Wagner] ist erst das Recht da und dann der Verkehr, in der Wirklichkeit geht´s umgekehrt zu: erst ist der Verkehr da, und dann entwickelt sich daraus eine Rechtsordnung“ (MEW 19, 377). 131 Vgl. Renner 1903, Negt 1968, C. Schefold 1970, Rottleuthner 1975, Mückenberger 1976, Steigerwald 1977, Tohidipur 1978, H.Holz 1987, Klenner 1987, Maus 1986, Harms 2000; zudem Wolff 1971, Tigar 1977, A.Hunt 1981, Spitzer 1983, Stone 1985, Ghai 1987, Kryzier 1990, C. Varga 1993, Czarnuta 1994, Rokumotom 1994. 132 Dies meint solche Theorien, die dem Recht eine völlige Unabhängigkeit von anderen gesellschaftlichen Bereichen unterstellen. Hierunter fallen systemtheoretische wie diskurs-idealistische Theorien. Letztere nehmen wie erstere an, das ausdifferenzierte Recht sei als solches eigenständig, unterstellen ihm aber zudem eine gesellschaftliche Steuerungswirkung (daher „Normativismus“) – verstehe man also die Normen, habe man schon die nach ihnen sich ausrichtende Gesellschaft erklärt. Eine Brücke zwischen beiden Normativismen stellt Parsons dar. 133 Das Recht hat auch eine Eigenzeit (Maihofer 1992, 160 ff.). „Jede Ideologie entwickelt sich aber, sobald sie einmal vorhanden, im Anschluss an den gegebenen Vorstellungsstoff, bildet ihn weiter aus; sie wäre sonst keine Ideologie, d.h. Beschäftigung mit Gedanken als selbständigen“ (Engels, MEW 21, 303).

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jeweils in ihrer eigenen Verwiesenheit auf die ökonomische Sphäre verstanden. Sie sind selbst schon von der Produktionsweise beeinflusst.134 Marx benutzt für diesen Zusammenhang nicht mechanische Metaphern, als ob die Ökonomie ihren Überbau „erzeuge“,135 sondern organische: Ökonomie sei die „Quelle“ oder der „Boden“ des Rechts, wie der Boden die Basis für einen Baum ist. Begreift man die Wirtschaft als „Stoffwechsel“ einer Gesellschaft, so ist die Entwicklung einzelner Organe davon keineswegs determiniert, wohl aber sind ihr Möglichkeitsspielräume gesetzt (2.1.5, 2.1.6, 4.3.2), wie man ja auch bei Körpern von einer Konstitution spricht.136 Weiterhin ist das Recht keine bloße Ideologie, sondern selbst eine Praxis, und zwar eine der Regelung anderer Praxen bzw. der Aufdauerstellung der Selbstregulierung dieser Praxen. Da es von Anbeginn auf diese bezogen ist, auch historisch nach ihnen kommt, kann es weder überhöhend als das Konstituierende, noch reduzierend als „bloßer Schein“ (Fn. 102) begriffen werden. „Für Marx sind die rechtsphilosophischen Vorstellungen keineswegs ‚nichts anderes als der idealisierte [...] Markt’ [Paschukanis ... ] Sie sind – und dies gerät einer bloß ideologiekritischen Perspektive aus dem Blick – als historisch bestimmte reflexive Ausarbeitungen gesellschaftlicher Verhältnisse und Bewusstseinsformen Beschreibungen, wie gesellschaftliche Verhältnisse als Rechtsverhältnisse gelebt, gedacht und empfunden werden [...] die traditionellen Rechtsvorstellungen entsprechen den Gesellschaftsverhältnissen nicht nur, sie sind die Art und Weise, wie gesellschaftliche Rechtsverhältnisse gelebt werden!“ (Maihofer 1992, 198 f.)

134 Engels’ späte Briefe (MEW 37, 463) bestätigen die Frühschriften (MEW 3, 37; Röhrich 1980, 56 ff.). Wenn normative Sozialtheorie dies als „objektivistisch“ ablehnt, mag sie sich in Fächern wie der Geschichte, Ethnologie und der historischen Anthropologie oder politischen Geographie umsehen, um nicht nur erdrückendes Material, sondern auch einen Fachkonsens festzustellen (vgl. Tigar/Levy 1978, Reuber 2001). Die Behauptung ist basal: in auf Agrarwirtschaft beruhenden Gesellschaftsformen wird es eher den Landbau betreffende Gesetze geben (in Rom etwa kämpfte heftig man um Ackergesetze), während nomadisierende Völker andere Belange zu regeln haben, und darum auch andere Rechtsformen und -inhalte entwickeln. Nachdem die Frauen einmal in die Kriegsproduktion eingezogen waren, war die Frauenemanzipation auch rechtlich kaum mehr abzuwenden. Der Einfluss der Pille auf die Sexualmoral und die Abschaffung des „Kuppeleiparagraphen“ ist bekannt. Die Liste ließe sich verlängern. 135 Dies wäre die bloße Umkehr des Erzeugungsidealismus, wie ihn die Wertformanalyse praktizierte (2.5.7). Nur aufgrund solcher Verzerrungen ist der Vorwurf verständlich, Marx sei noch ein „Bewusstseinsphilosoph“ (Fn. 119). 136 Simmels Gleichnis von der Rose, die auch auf dem Misthaufen blühe (Rentsch 2000, 196), sagt gegen Marx nichts aus. Abgesehen davon, dass Mist ja bester Dünger ist, ist der Einfluss des Klimas und der natürlichen Gegebenheiten für eine Kultur seit Montesquieu und Herder ein Thema der Sozialtheorie, und es wäre seltsam, dies etwa aus Pietät wieder zurückzunehmen. Es macht sich für die Rose oder einen anderen Anbau sehr wohl bemerkbar, wenn dieser Mist chemisch oder radioaktiv belastet ist (vgl. das Bild vom Kirschbaum, MEW 3, 43).

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Die Grundannahme der Kritischen Theorie, man habe die bürgerlichen Verhältnisse an ihren Normen zu messen, traf die Marx’sche Intention gerade nicht. Denn die Rechtsverhältnisse sind selbst die gesellschaftlichen Verhältnisse, lediglich, wie Marx mit Schelling sagt, „in einer anderen Potenz“ (MEW 42, 170). Marx maß Hegels Dialektik so viel Bedeutung bei, weil sie dieses Verhältnis „darstellen“ konnte: Unterschied und doch Identität zweier Seinsbereiche, eine Einheit Entgegengesetzter. Habermas dagegen ist Identitätsphilosoph im Sinne Fichtes: die Form schlägt auf den Inhalt durch, die Identität ist eine unmittelbare – scheint sich doch bei ihm im Recht die Gesellschaft selbst darzustellen, „Sozialintegration“ sich nicht nur rechtlich, sondern durch das Recht abzuspielen. Marx nimmt das Recht also ernster als die Normativisten: Gerade weil das Recht eine eigene Logik und eine Eigenzeit besitzt, bewirkt die Übersetzung gesellschaftlicher Zusammenhänge in das Recht auch eine Verschiebung. Es bleibt eine Nichtidentität, es kann nicht alles von einer Potenz in die andere hinübergenommen werden, der in die „Form“ aufgehobene „Inhalt“ bleibt nicht derselbe (2.5.7).137 Freiheit und Gleichheit, die Essenz des Rechts, werden von Marx weit substantieller begründet als im Normativismus: er sieht sie sowohl im Kontext ihrer geschichtlichen Entstehung in der bürgerlichen Emanzipation wie auch ihrer synchronen, täglich neu vollzogenen Fundierung durch die materielle gesellschaftliche Praxis.138 Aufgrund dieser Fundierung auf eine gesellschaftliche Praxis kann Marx auch kritische Aussagen über die Reichweite des Rechtes treffen. 137 Anders Habermas 1999, 328. Hier liegt ein Unterschied zwischen Marx und Adorno: auch Marx kennt „Nichtidentisches“, doch dieses lässt sich deutlich benennen. Aufgrund seiner muss nicht die Vernunft oder das Recht zugunsten ästhetizistischer „Mimesis“ aufgegeben werden. Lohmann 1991 biegt Marx mit Simmel und Adorno auf die Analyse des Tausches zurück. Den Witz der Marx’schen Rechtstheorie, nämlich die Bewegung, hinter das gegebene Recht zurückzufragen, bewertet er als „Kollaps der Kritik“ (1991, 26, 278 ff.). Was soll aber dann Kritik sein? Sie wäre so nur noch als rechtliche möglich – es gäbe keine Möglichkeit zur Kritik des Rechtes mehr (vgl. Reiman 1991). 138 „Während in normativistischen Philosophien das Gesetz [...] die Verbindung [...] gewährleistet, werden bei Marx Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse die wichtigsten Träger von Universalität, auf denen die Verbindung von Freiheit und Vernunft beruht“ (Böhm 1998, 106). „Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, [...] der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, [...] sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben; als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer andren Potenz“ (MEW 42, 170). „Regel und Ordnung ist selbst ein unentbehrliches Moment jeder Produktionsweise, die gesellschaftliche Festigkeit und Unabhängigkeit von bloßem Zufall oder Willkür annehmen soll. Sie ist eben die Form ihrer gesellschaftlichen und daher ihrer relativen Emanzipation von bloßer Willkür und bloßem Zufall. Sie erreicht diese Form bei stagnanten Zuständen sowohl des Produktionsprozesses wie der ihm entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch die bloße wiederholte Reproduktion ihrer selbst. Hat diese eine Zeitlang gedauert, so befestigt sie sich

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Es kann beispielsweise dem, was nicht in es aufgehoben wird, nicht „gerecht“ werden. Marx benutzt dafür die Metaphern von „Form und Inhalt“.139 Das Spezifische dieses der Rechtsform vorausliegenden Inhalts liegt im Kapitalismus nicht in der Distributions-, sondern in der Produktionssphäre. Die hier vorliegende und sich stets erweitert reproduzierende Ausbeutung – mitsamt ihrer Folgeerscheinungen (3.2.3, Fn. 46) – geht in das bürgerliche Recht und die von ihm abgeleiteten Rechtsideen nicht ein.140 Sie können auch nicht in es eingehen, da es ja gerade dazu dient, die Wirtschaftssubjekte in Freiheit zu setzen. Eine umfassende normative „Regulation“ würde der Rechtsgleichheit widerstreiten und so das bürgerliche Recht auflösen.141 Die „Inhalte“ der Produktionssphäre zeigen sich also nicht, solange man sie juristisch deutet (nach dem Muster des Äquivalententausches, Habermas 1981b II, 385). Unterscheidet man aber Tauschwert und Gebrauchswert, so zeigt sich, dass es eine Ware gibt, wo beide auseinander fallen – die Arbeitskraft.142 Theorien, die diesen Schritt nicht zu gehen vermögen, sind in Marx’ Augen Apologie. Denn die Crux ist, dass „in den einfach gefassten Geldverhältnissen alle immanenten Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft ausgelöscht erscheinen, und nach dieser Seite wird wieder zu ihm geflüchtet, von der bürgerlichen Demokratie mehr noch als von den bürgerlichen Ökonomen [...] zur Apologetik der bestehenden ökonomischen Verhältnisse“ (MEW 42, 166). „Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohnes oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und als Brauch und Tradition und wird endlich geheiligt als ausdrückliches Gesetz“ (MEW 25, 801; MEW 3, 61 ff.; MEW 23, 99, 189 f.; s.o., Fn. 131). 139 „Dies erst durch und im Austausch selbst entspringende faktische Verhältnis erhält später rechtliche Form im Vertrag etc; aber diese Form schafft weder ihren Inhalt, den Austausch, noch die in ihr vorhandene Beziehung der Personen untereinander, sondern vice versa“ (MEW 19, 377). „Die juristischen Formen [...] können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen“ (MEW 25, 352). „Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben“ (MEW 23, 99). 140 „Das Kapital ist die konzentrierte gesellschaftliche Macht, während der Arbeiter nur über seine Arbeitskraft verfügt. Der Kontrakt zwischen Kapital und Arbeit kann deshalb niemals auf gerechten Bedingungen beruhen“ (MEW 16, 169), er ist „Gerberei“ (MEW 23, 191). Die Verbesserungen des Lebensstandards sind weniger auf von oben erteilte „soziale Rechte“ (Marshall 1950), sondern primär auf enorme Produktivitätssteigerungen sowie von der Arbeiterbewegung geführte Verteilungskämpfe zurückzuführen (2.1.1, 2.4.1). Die Rechte drückten dies nachträglich aus und versuchen das Erreichte zu verstetigen, zu institutionalisieren (Luhmann 1972). 141 Kambartel etwa will wie Gesell den Zins verbieten (1998, 20; cf. 3.3.2, Fn. 20; 2.3.5, Fn. 111) und missdeutet die „Gewinnrate“ politisiert-entökonomisiert (2.2.6) als „gesellschaftliche, insbesondere durch die Politik der Zentralbanken festgelegte [...] Größe“ (55). Seine Ratschläge werden in dem dilemmatisch zerrieben (cf. 4.4). 142 „Der beständige Kauf und Verkauf der Arbeitskraft ist die Form. Der Inhalt ist, dass der Kapitalist einen Teil der bereits vergegenständlichten fremden Arbeit, die er sich unaufhörlich ohne Äquivalent aneignet, stets wieder gegen größeres Quantum lebendiger fremder Arbeit umsetzt“ (MEW 23, 609; s.u., Fn. 64).

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grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie“ (MEW 23, 562).

Theorie der Gesellschaft, die mehr als Apologie sein will, muss daher irgendwo die Perspektive des Tausches – so wichtig sie ist – überschreiten. Denn nur beim „Scheiden von dieser Sphäre [...] des Warentausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und [normativen, CH] Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft [...] entlehnt, verwandelt sich [...] die Physiognomie unserer dramatis personae“ (MEW 23, 190 f.). Noch in den 1990er Jahren sieht Habermas sich genötigt, sich von Marx abzusetzen.143 Er muss dies in der Tat, denn sollte die Marx’sche Theorie für die Gegenwart Gültigkeit besitzen, träfen zentrale Grundannahmen von Habermas „nicht mehr“ zu – nämlich die, dass der Klassenantagonismus durch den Sozialstaat aufgehoben und das zentrale Problem der Politik der Schutz der Bürger vor staatsinterventionistischen Eingriffen sei, und dass juristische und moralische Normen eine Quelle für die Gesellschaftstheorie sein können. Eine topographische Verortung der Theorien von Habermas in der sozialen Wirklichkeit muss ihnen den nämlichen Gegenstandsverlust vorwerfen, der schon an der älteren deutschen Soziologie und Sozialphilosophie konstatiert wurde (2.4 – 2.6). Indem Habermas Sozialphilosophie als normative betreibt, vollbringt er eine ähnliche Operation wie jene: er erklärt reale Strukturen zum Epiphänomen einer eigentlich „geistigen“ Ursache (der Intentionen von Sprecher-Subjekten). Der Unterschied zu älteren Versionen besteht darin, dass nicht mehr partikulare geistige Inhalte, sondern „universale normative Gehalte“ als erzeugend gedacht werden. Durch die Unterbestimmung der Basis als eines selbstgenügsamen Systems wurde sie jahrzehntelang ausgeblendet – solange, bis auch sie als „Geist vom Geist“ begriffen wurde (MEW 3, 37, 42, 91 f.): systemische Strukturen wurden schließlich als Sedimente der Normativität begriffen. Dies ist eine Wiederkehr des Oxymorons des „objektiven Geistes“ (4.2.6).144 Reale Probleme der Gegenwart, die im globalen Kapitalismus zu großen Teilen wirtschaftliche Fundamente haben (Sassen 1988), lassen sich aus dieser Sicht nur schwer erfassen. Zumindest ein Grund für die Theorieentwicklung von Habermas dürfte die verkürzte Marxrezeption gewesen sein. Er übernahm missliche Marxdeutungen, die a) ein neoklassisches, am Tauschmarkt orientiertes Verständnis von Ökonomie hatten und diese Zusammenhänge daher schon ökonomisch nicht erfassten (2.3.1); die b) das Recht als ein in umgekehrtem Idealismus „erzeugtes“ Produkt der Ökonomie begriffen (cf. 2.5.7) und so eine überbordend normativistische 143 Habermas greift zurück auf Argumente von Popper, Arendt und Löwith (1992, 66 f. und 617 f.; 1999, 323 f.; vgl. 2.6): Geschichte sei nicht voraussagbar, und eine geplante Gesellschaft werde totalitär. Er zieht sogar einen seiner ältesten Begriffe wieder hervor: „Verfügung“ (1992, 393; vgl. 1954a; Kreulartz 1995, 35 f.). 144 Das Recht „erzeugt“ am Ende Normen und Organisationen (Habermas 1992, 190; cf. 42), wie die Kommunikation zuvor die „Institutionen“ zimmerte (1968, 343).

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Gegenbewegung motivierten, die die Zusammenhänge übersah; und zuletzt c) solche, die Marx auf das 19. Jahrhundert relativierten und so mit dem neuverkündeten Primat der Politik die Möglichkeit eröffneten, dem Recht eine übergroße Wirkkraft zuzuschreiben (als „Steuerungsmedium“). Dies schien zuletzt auch eine Konfrontation der Rechtsform und der nochmals formalisierten Reflexion auf diese mit ihrem Inhalt zu erübrigen. Habermas hat das alte Dilemma der Kritischen Theorie solange durch verschiedene Kategorienapparate hindurchgeschleust, bis es als Problem verschwand, weil eine Kritik auf diese Weise kaum mehr zu artikulieren war. Doch erst die Kritische Theorie hatte ein Begründungsproblem für ihre moralischen Forderungen, weil es den Marx’schen Gegenstand, die bürgerliche Gesellschaft, in der Sache nicht mehr adäquat erfasste und ihre Invektiven losgelöst von einer normalwissenschaftlichen Fundierung vortrug. Statt hinter die Kritische Theorie auf Marx zurückzugreifen, versuchte Habermas, die Instanz der Sozialkritik dadurch mit den jeweils gerade aktuellen – und selbst problematischen – Theorien über die reale Wirklichkeit in Einklang zu bringen, indem er das Problem als ein anthropologisches, ein erkenntnistheoretisches, ein rationalitätstheoretisches, ein moralphilosophisches und schließlich als ein rechtstheoretisches zu reformulieren suchte. Doch da sich Inhalte nicht beliebig in verschiedene Formen bringen lassen, ohne sich selbst zu verändern, mündete dieses Projekt spätestens in der „Rechtsphilosophie“ in eine Apologie, die der Hegelschen kaum nachsteht. Kommen wir damit zur zweiten normativen sozialphilosophische Großtheorie.

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3.2 John Rawls oder die Apotheose des Nichtwissens „Man sieht, es ist kein Interesse vorhanden, die Realgründe der Objekte zu untersuchen: Es handelt sich bloß um eine Beruhigung des erklärenden Subjekts.“ (MEW 40, 277)

Der von uns in der Habermas-Schule beobachtete Normativismus ließ sich als eine juridische Sozialphilosophie kennzeichnen und kritisieren. Dies ist auch in der Philosophie der Fall, die ein zweites Hauptthema der Auseinandersetzungen der 1990er Jahre gebildet hat: der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Auch hier ist die Bezugsgröße von vornherein das Recht,1 welches allerdings in einer gegenüber Habermas doppelt verschobenen Perspektive erscheint: zunächst soll es nicht in einer verengt normativen Variante, sondern auch aus der Rechtswirklichkeit heraus untersucht werden.2 Zweitens sind nicht die zu legitimierenden Vorzüge des Rechtes im Fokus, sondern die ihm strukturimmanenten Nachteile, die es zu minimieren gilt.3 Rawls untersucht weder die Binnenstruktur der Normativität, noch sucht er für sie eine Begründung, sondern er will untersuchen, wie die Institutionen beschaffen sein müssten, um sozial gerechter zu werden (74 ff.). Zumindest kündigt er das an. Die Frage ist, ob er der sozialen Realität wirklich näher kommt als Habermas.4 Die verbreiteten Kritiken an Rawls haben sich in der Diskursethik auf die leitende Konzeption von Normativität, im Kommunitarismus auf das zugrunde gelegte Menschenbild eingespielt. Problematisch ist jedoch eher Rawls’ Vorstellung von Realität. „Unter den wichtigsten Institutionen verstehe ich die Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse“ (Rawls 1971, 23). Es ist schwierig, ausgehend von einigen kondensierten ethischen „Grundsätzen“ (81 ff.) etwas über die soziale Realität auszusagen oder sie gar zu kritisieren. Wer der „Grundstruktur“ (23) der sozialen Realität normative Gehalte entnehmen will, diese Realität 1 „Gerechtigkeit“ ist terminologisch vor allem ein Bewertungsmaßstab geschriebenen und gesprochenen Rechts (Kelsen 1960, 1985, Rüthers 1991, Wesel 2003). Rawls dagegen nimmt den Begriff als Modell der ganzen Sozialität. 2 Habermas wirft Rawls vor, dieser werde der „Wirklichkeit“ (der „sozialen Faktizität“ oder „Basis“ [!], 1992, 89 f.) nicht gerecht. Für jene steht bei Habermas die realitätsferne systemtheoretische Rechtssoziologie (1992, 88). Für Rawls „ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen“ (Rawls 1971, 23, cf. 74; siehe noch Steinvorth 2003 und die Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2/2003). 3 „Die gesellschaftlichen Institutionen begünstigen also gewisse Ausgangspositionen. Dies sind besonders tiefgreifende Ungleichheiten. (...) Auf diese Ungleichheiten – die wahrscheinlich [...] unvermeidlich sind – müssen sich die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit [...] beziehen“ (Rawls 1971, 23 f.). „Habermas setzt normative politische Theorie und deskriptive soziologische Theorie in ein falsches Verhältnis. Sein Interesse gilt den Bedingungen, welche die Verwirklichung der Normen fördern; zu beachten aber sind die Bedingungen, die sie behindern“ (Steinvorth 1999, 77). 4 Änderungen, die Rawls (1993, 2003) angebracht hat, betreffen die Begründung seiner Thesen, nicht diese selbst. Da es um diese geht, bleiben wir beim Original von 1971.

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allerdings selbst der „Verfassung“ entnimmt, begeht einen Zirkelschluss. Zudem wird die Bewertung der „wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse“ je nach der näheren Erfassung dieser Realität anders ausfallen. Rawls verlässt sich unkritisch auf die Vorgaben der neoklassischen Ökonomie (3.2.1). Offenbar geht es ihm wie Habermas um eine Legitimationsbeschaffung bestehender „Strukturen“.5 Mit dieser Legitimierung wären aber noch weit schlechtere gesellschaftliche „Grundstrukturen“ zu rechtfertigen (3.2.2). Dennoch hat Rawls’ Konzept die nachfolgenden Diskussionen regelrecht kanalisiert. Die reaktive, zwischenzeitlich recht einflussreiche Strömung des Kommunitarismus ist ohne die „Theorie der Gerechtigkeit“ kaum zu verstehen (3.2.3).

3.2.1 John Rawls als Neoklassiker In seinen zwei „Grundsätzen der Gerechtigkeit“ hat Rawls die Bedingungen angegeben, denen eine „wohlgeordnete Gesellschaft“ (1971, 21) zu genügen hätte: (1) „Jedermann hat [ein] gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist“ (336, vgl. 282, 81), und (2) „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen“ (81, vgl. 104, 336).

Diese Grundsätze widersprechen sich: entweder gibt es Gleichheit – an Rechten, Freiheiten, Grundgütern oder was immer –, oder es gibt sie nicht.6 Die Exposition eines Widerspruches, aus dem sich alles weitere entwickelt, könnte als „dialektische Darstellungsweise“ gemeint sein.7 Doch das liegt Rawls fern. Er setzt einfach voraus, dass diese Grundsätze gelten (die platonische Methode der hypothesis) und fragt, was der Fall sein muss, damit sie auch wirken. Er sieht nun mehrere Möglichkeiten, sie zu deuten: a) eine manchesterkapitalistische Variante (87 f.), wo „jedermanns Vorteil“ als utilitaristisch addierter optimaler Gesamtnutzen verstanden wird, und „jedem offen“ als das Leistungsprinzip, angewandt unter gegebenen gesellschaftlichen Umständen; b) eine ordo-liberale Variante (93), in der gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten der Ausgangsvoraussetzungen zu minimieren versucht werden; c) eine genetokratische Deutung (94), in der „naturbedingte“ Unterschiede zwischen den Menschen zum Wohle aller genutzt werden; und d) eine „demokratische“ Variante, in der 5 „Viele der herkömmlichen Tätigkeiten der Regierung lassen sich so rechtfertigen“ (301; vgl. 23, 34, 626 ff.). 6 Es „kann der Freiheitsgrundsatz auch das Prinzip der unbedingten Gleichheit heißen, weil er jedem eine unbedingte Gleichheit in den Grundfreiheiten sichert, und der Gleichheitsgrundsatz das Prinzip der bedingten Ungleichheit, weil er soziale Ungleichheiten unter einer Bedingung erlaubt“ (Steinvorth 1999, 100). 7 So ließe sich der zweite Grundsatz, der eine Einschränkung des ersten darstellt, aber seinerseits eingeschränkt wird, als „Negation der Negation“ verstehen. Es könnte auch den „Widerspruch“ von Staat und Gesellschaft darstellen.

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auch natürliche Unterschiede ausgeglichen werden (95). Rawls „wählt“ diese letzte Variante. Diese Wahl ist wertabhängig – sie wird nur konditional begründet und ist keineswegs notwendig.8 Einerlei, zu welcher Lesart die „Realität“ in Bezug gesetzt wird (Nozick und Buchanan würden die erste Lesart bevorzugen, andere eher den Egalitarismus), entscheidend bleibt die konzeptionelle Erfassung der Realität. Wie geht diese nun in die Rawlsschen Bestimmungen ein? Nach Rawls „hängen ethische Grundsätze von allgemeinen Tatsachen ab“ (1971, 298). Diese Formulierung enthält den Kern der Theorie: ethische Grundsätze verweisen nicht auf ein apriorisches „Faktum der Vernunft“ wie bei Kant, sind aber auch nicht auf konkrete Anschauung gegründet wie bei den schottischen Moralphilosophen (70), sondern liegen dazwischen. Das kann nur bedeuten, dass Rawls seine Grundsätze auf eine Theorie gründen will, denn nur solche behandeln „allgemeine Tatsachen“. Es ist eine bestimmte Theorie, die hier zugrunde liegt.9 Darauf gibt es viele Hinweise: Schon die Beschäftigung allein mit der „Grundstruktur“ bei der Untersuchung sozialer Gerechtigkeit (1971, 23; 1992, 45 ff.) ist in der Wahl des Theorienparadigmas parteiisch: Gegenüber Sozialismus wie Keynesianismus hatten Neoklassik und Neoliberalismus stets eingewandt, staatliche Vorgaben müssten sich auf die „Grundstruktur“ beschränken, um den Bürgern ihre sonst bedrohte Freiheit zu lassen.10 Auch die Annahme des zweiten Grundsatzes (81), soziale Ungleichheiten wirkten sich über eine höhere Produktivität zum Vorteil aller aus, ist ein Grundbaustein der Neoklassik, auch wenn Rawls mit dem „Maximin-Prinzip“ eine ega8 Sie gelte nur, „wenn man jedermann als moralisches Subjekt gleich behandeln will und die Anteile der Menschen an den Früchten und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit nicht durch [...] Zufälligkeiten bestimmen lassen möchte“ (1971, 95). Bei einer „Theorie der Gerechtigkeit“ ist es unverständlich, warum ausgerechnet diese zentralen Annahmen als unbegründete „Vorbemerkungen“ erscheinen. Nur diese Variante hat sozialdemokratische Züge: „Die Gerechtigkeit geht der Pareto-Optimalität vor und verlangt gewisse nicht pareto-optimale Veränderungen“ (1971, 100). Das Materielle bleibt jedoch peripher. Rawls hat diese Typologie weiterverarbeitet, doch nicht mehr selbst veröffentlicht (Pogge 1994, 131). Einen Ausgleich natürlicher Unterschiede (wie ein Stundenlohn umgekehrt proportional zur Ausbildung) kann nur ein starker Staat vollziehen, der damit die Privatsphäre verletzt, begrifflich wie rechtlich. Dagegen wehrten sich Habermas, Nozick und Sandel (Forst 1994, 32). 9 Rawls deutet seine Abhängigkeit von einer bestimmten Theorie an: „Die verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen sind der Ausfluss verschiedener Vorstellungen von der Gesellschaft [...] Will man eine Gerechtigkeitsvorstellung völlig verstehen, so muss man die ihr zugrunde liegende Vorstellung von der gesellschaftlichen Zusammenarbeit herausarbeiten“ (1971, 26; vgl. Pogge 1994, 129 ff.). Genau dies tun wir. 10 Populär etwa Milton Friedman 1962, 200: „The central defects of these measures [governmental reforms, CH] is that they seek through government to force people against their own immediate interest in order to promote a supposedly general interest [das ist schon die Struktur der späteren kommunitaristischen Kritik an Rawls]. They seek to resolve what is supposedly a conflict of interest … not by establishing a framework [sic!] that will eliminate the conflict, but by forcing people to act against their own interest” (200); vgl. hierzulande W. Eucken 1952 etc. (cf. 3.3.4).

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litäre Perspektive einzubringen versuchte (entscheidend über die Güte der Verteilung sei nicht der Gesamtnutzen, sondern die Verbesserung der am schlechtesten Gestellten). Die Gerechtigkeit wird somit in Parallelität zur Neoklassik nach (regel-)utilitaristischem Muster begriffen: „Das zweite Problem ist also, aus den gerechten und praktikablen Verfahrensordnungen diejenigen auszuwählen, die am ehesten zu gerechten und wirksamen Gesetzen kommen. Das ist wieder Benthams Problem der künstlichen Gleichmachung der Interessen [!], nur dass hier die Regeln (das gerechte Verfahren) auf eine Gesetzgebung (das gerechte Ergebnis) abzielen, die den Gerechtigkeitsgrundsätzen und nicht dem Nutzenprinzip genügen soll“ (226).

Marx hat den Utilitarismus in dem ideologischen Kerngefüge des Kapitalismus verortet („Freiheit, Gleichheit, Eigentum, und Bentham“, MEW 23, 189, vgl. MEW 3, 393 ff.). Rawls meint nun, „dass die Gerechtigkeitsgrundsätze Teil einer Theorie der politischen Ökonomie sein können“ (291). Bei ihm sind sie es in der Tat. Er holt sie tautologisch aus der Theorie, die er zugrunde legt.11 Die benutzte ökonomische Literatur entstammt eindeutig dem Paradigma der Neoklassik (er beruft sich auf Arrow, Buchanan, Edgeworth, Jevons, Olson, Pareto, Sen etc.). Bereits der Gebrauch von Worten wie „Markt“, „Gleichgewicht“ oder „perfekte Konkurrenz“ verrät dies. Rawls selbst deutet die Herkunft seiner Theorie an: „man muss feststellen, welche Grundsätze vernünftigerweise in der Vertragssituation zu akzeptieren wären. Dadurch hängt die Theorie der Gerechtigkeit mit der Theorie der vernünftigen Entscheidung zusammen“ (1971, 35; cf. 174, 292). Die rational choice-Theorie (auch collective, social oder public choice genannt)12 ist eine soziologische Generalisierung der neoklassischen Basisannahme von nutzenmaximierenden Individuen. Eine weitere fundamentale Modellannahme der ökonomischen Neoklassik, der „vollständige Wettbewerb“ (perfect competition, cf. 2.3.3, Fn. 86), dient Rawls als „Idealmodell ..., das zeigt, wie die Gerechtigkeitsgrundsätze verwirklicht werden könnten“ (343). Die Neoklassik hatte die Rawls’sche Arbeit eigentlich selbst schon geleistet, in dem in rational choice-Theorien ein von den Grundsätzen der Neoklassik ausgehender und insofern „gerechter“ Staat entworfen worden war. Rawls bemängelt lediglich, dass die Frage der Gerechtigkeit in diesen Theorien hinter der der Effizienz zurückgeblieben wäre (40 ff.). Dies wollte er nachholen, ohne dabei gravierende Änderungen der paradigmatischen Grundannahmen vorzunehmen. Nach wie vor sind es Individuen, die nach Maßgabe ihrer Interessen über eine soziale Ordnung entscheiden. Der Unterschied liegt in der Konstruktion der Entscheidungssituation: 11 Höffe sah die Tautologie, ohne ihre Wurzel zu erkennen: „Rawls Gerechtigkeitsprinzipien sind in einem gewissen Sinne tautologisch. Sie sind nämlich nichts anderes als die Explikation der Vernunft-Attribute, die zuvor in die Definition der ursprünglichen Lage [...] eingegangen sind“ (Höffe 1979, 187). Das tat nicht erst Rawls. 12 Vgl. etwa Neumann 1944, Arrow 1951, Downs 1957, Buchanan 1962 und 1968, Baumol 1965, Sen 1970. Noch heute werden diese Ansätze in immer neuer Form diskutiert (Becker 1976, Behrens 1986, Pies 2000).

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Die Einzelnen wissen einige Dinge nicht, dafür haben sie einen „Sinn“ mehr, nämlich den für Gerechtigkeit (66, 346). Die Basisannahmen bleiben erhalten.13 Die Arbeit von Rawls muss daher als philosophische Explikation der die Neoklassik leitenden Basisfiktionen gelten. Erst in dieser Interpretation bekommen Züge der Theorie, die sonst nur schwer einzusehen ist, einen überraschenden Sinn. Im Theoriemodell der Neoklassik wurde die Wirtschaft als ein großangelegter Tausch gedeutet (2.3.1). Alle Beteiligten sind in diesem Modell „gleich“: nämlich auf ihren Nutzen bedachte Individuen, die auf dem Markt ihre Waren tauschen. Sie sind auch „frei“, da sie aus rein ökonomischen Motiven handeln und nicht politisch oder anderweitig fremdbestimmt werden. Ohne äußere Hindernisse wird sich zwischen Angebot und Nachfrage daher ein „Gleichgewicht“ herstellen, welches die Preise festlegt. Dieses „Verfahren“ und damit sein Ergebnis ist „gerecht“, weil alle Beteiligten gleich behandelt werden (wer Geld hat, kann kaufen, sei er schwarz oder weiß), und das Ergebnis des Verfahrens als ein „demokratisches“ interpretiert werden kann (per Definition wird niemand bei der Tauschaktion übervorteilt). Das Paradigma der Neoklassik wie auch der Verfahrensgerechtigkeit ist der „gerechte Tausch“, nur mit je anderer Betonung.14 Doch dieses Modell hat mehrere Schwächen, wenn es als Erklärung der ganzen Wirtschaftszusammenhänge benutz wird. Die Ausblendung der Produktionssphäre mitsamt ihrer Verhältnisse und Entwicklungstendenzen sowie der Konkurrenz und ihrer Konsequenzen sind nur die offensichtlichsten.15 Rawls modelliert nun nicht nur die ganze Wirtschaft, sondern auch noch die Totalität der Gesellschaft nach ihm. Schon in der Bestimmung des zu erklärenden Gegenstandes ist dieser Einfluss zu erkennen. Rawls setzt als Grundmodus der Vergesellschaftung den der „Kooperation“ an.16 Die ist zwar realistischer als Habermas’ „Konsens“, doch es ist noch immer keine Erfassung sozialer Realität, 13 Rawls lehnt diese Arbeiten nicht ab, sondern will sie ergänzen: „Trotz gewisser Ähnlichkeiten [...] unterscheiden sich [...] der ideale Markt und die ideale Gesetzgebung in wesentlichen Punkten. [...] Bisher jedenfalls gibt es keine Theorie der gerechten Verfassung als eines Verfahrens, das zu gerechten Gesetzen führt, so wie es eine Theorie des konkurrenzbestimmten Marktes als eines Verfahrens gibt, das zur Optimalität führt“ (1971, 397). 14 Rawls benutzt dieses Marktmodell affirmativ (1971, 304 ff., besonders 308). Noch bei Höffe spiegelt sich diese Dependenz, allerdings auf deutsche Weise – er spricht von einem „transzendentalen Tausch“ (1998, vgl. 1991). 15 Die „perfekte Konkurrenz“ (Rawls 1971, 305; s.o.) ist gerade die Abwesenheit von Konkurrenz: alle Anbieter übernehmen den Marktpreis passiv, kein Anbieter führt kostensparende Investitionen ein (vgl. 2.2.6, 2.3.3). 16 Rawls nimmt an, „Gesellschaft“ sei eine „in sich abgeschlossene [self-sufficient] Vereinigung von Menschen, die [...] gewisse Verhaltensregeln als bindend anerkennen“, und „diese Regeln beschrieben ein System der Zusammenarbeit [cooperation], das dem Wohl seiner Teilnehmer dienen soll. Dann ist [...] die Gesellschaft ein Unternehmen [im Original venture, ein riskanter Akt] zur Förderung des gegenseitigen Vorteils“ (Rawls 1971, 20). Zur tiefsitzenden Dominanz der Tauschgerechtigkeit im Gedanken der „Kooperation“ siehe Axelrod 1984, Honneth 1999a (zu Dewey).

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sondern seinerseits eine Ontologisierung theoretischer Annahmen, nur nicht solcher der Rechtstheorie wie bei Habermas, sondern der ideologisch verkürzten ökonomischen Modelltheorie der Neoklassik.17 Sie unterstellt kooperativen Gesellschaften das Wirtschaftsmotiv einer „Bedarfsdeckung“. Für Marx waren die relevanten Einheiten der kapitalistischen Wirtschaftsmotivation die Kapitalbesitzer, denen es nicht um die Bedarfsdeckung der Gesellschaft geht, sondern zwangsläufig um die Erzielung eines immer größeren Profites.18 Erst aus dem Konflikt dieser privaten Aneignung mit der Bedarfsdeckung der Gesellschaft (allen, die kein Produktivvermögen haben, die Kapitalbesitzer als Menschen sowie das Gemeinwesen als solches) ergeben sich die Probleme, auf die der politische Streit um Gerechtigkeit eine Antwort sucht. Rawls blendet dieses Problem schon in seinen Ausgangsvoraussetzungen aus.19 Die neoklassische Theorie ist als Modelltheorie vor allem auf Konsistenz bedacht: die mathematischen Modellrechnungen haben zunächst keine Verbindung zu irgendeiner wirtschaftlichen Realität.20 Rawls konstruiert einen Vierstufengang, der der Anwendung einer solchen Modelltheorie auf die Wirklichkeit bis ins Detail entspricht. Der „Urzustand“ (34 ff., 140 ff.) entspricht dem ersten, dem Modellstadium der Theorie: „Im Urzustand kennen die Beteiligten nur [...] Einzeltatsachen,“ also Alltagswahrnehmungen, allerdings nichts über ihre eigene Position. Sie kennen aber zugleich auch „die ersten Grundsätze der Gesellschaftstheorie“ (228). Das unvermittelte Nebeneinander von Wissen über Einzelnes und Allgemeines, nicht aber über Besonderes, ist aus sich heraus kaum verständlich. Für Marx waren die Interessen in die unmittelbare Realität des Alltags eingewoben (MEW 2, 85 u.ö.). Bei Rawls ist das Wissen über Einzelheiten von dem Wissen über eine abstrakte Theorie begleitet, die nichts mit den Einzelheiten zu tun hat. Sie ist nicht an der Empirie, sondern ‚apriorisch’ gewonnen (ein „Idealmodell“, 343). Die Vorstellung, die Beteiligten könnten zwar „Einzeltatsachen über Menschen wie ihre gesellschaftliche Stellung, ihre natürlichen Eigenschaften, ihre besonderen Interessen“ (226) wissen, aber „nicht ihre eigene gesell17 Rawls strebt ja eine noch „höhere Abstraktionsstufe“ (1971, 12) als die bei Locke, Rousseau und Kant an. 18 Die Unterscheidung von Wirtschaftsmotiven ist keine isoliert psychologische, sondern eine gesellschaftliche (strukturfunktionelle). Zu den „Wirtschaftsstilen“ vgl. Sombart 1912, Müller-Armack 1938, Schefold 1993. 19 „Bestimmt man [...] Gesellschaften als Kooperationen zum wechselseitigen Vorteil aller, so geht man gerade über die Seite aller bisherigen Gesellschaften hinweg, die wohl der wichtigste Grund für Klagen über ihre Ungerechtigkeit war“ (Steinvorth 1999, 97). Rawls berührt Fragen der „Rahmenregelung“ nur sporadisch, unter verteilungstheoretischen Gesichtspunkten (1971, 343). Marx wird nur gestreift (292, 339). 20 Zum Platonismus der Neoklassik cf. 2.3.1, Fn. 22 In Gesprächen haben Ökonomen diese Auffassung stets bestätigt. „Eine Gerechtigkeitsvorstellung lässt sich nicht aus evidenten Voraussetzungen [wie bei Kant] oder Bedingungen [wie bei Marx] für die Grundsätze ableiten; vielmehr ergibt sich ihre Rechtfertigung aus der gegenseitigen Stützung vieler Erwägungen, daraus, dass sich alles zu einer einheitlichen Theorie zusammenfügt“ (1971, 39).

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schaftliche Stellung“ kennen (225), suggeriert, der reine Geist schwebe gleichsam über den Dingen und nehme nur zufällig diese oder jene Gestalt an. Diese seltsame Annahme wird verständlich, wenn man ihn als Reflex der Neoklassik interpretiert, die Rawls seit seiner Jugend aufgesogen hat (Pogge 1994, 22). Ihre Grundannahmen übergehen die empirische Wirklichkeit, indem sie den Blick vom Kapitalismus weglenken, hin auf eine vermeintlich ewige „Natur“ des Wirtschaftens (2.3.1, Fn. 12; 2.4.1, Fn. 22). In diesen Modellannahmen stecken schon Rawls’ Aussagen über Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Dem Festlegen der Gerechtigkeitsgrundsätze, welches Rawls im „Urzustand“ verortet, entsprechen die abstrakten Urteile über die Wirklichkeit von jener apriorischen Theorie aus.21 Das Ergebnis der Wahl von Grundsätzen wird von Rawls festgelegt, obwohl doch die (Kantische) Freiheit „rekonstruiert“ werden soll – ein Widerspruch, an dem auch die Diskurstheorie krankt (3.1.3, Fn. 47). Rawls verfügt nicht über hellseherische Fähigkeiten, die ihm eingeben, was diese so seltsam beschaffenen Individuen im „Urzustand“ wählen würden, sondern ganz wie die Individuen in seinem Modell entnimmt er diese Grundsätze der „sozialwissenschaftlichen Theorie“ der Neoklassik. Dem „Schleier des Nichtwissens“, der die Neutralität des Rechtes rekonstruieren soll, entspricht dort die Ausblendung der Produktionssphäre. Denn diese beinhaltet genau diejenigen „allgemeinen Tatsachen“, die hinter der „veil of ignorance“ verborgen bleiben.22 Die nächsten beiden Stufen, die Verfassungs- und Gesetzgebung, kennen nun genau solch „allgemeine Tatsachen bezüglich einer Gesellschaft, etwa ihre Größe oder ihr[en] wirtschaftliche[n] Entwicklungsstand, ihre institutionelle Struktur, ihre natürlichen Umweltbedingungen“ (228). Die Kenntnis derselben geht (wie in der Neoklassik) nicht in die Sozialwissenschaft ein, sondern dient allein der Anwendung oder Konkretisierung der aus der abstrakten Theorie bezogenen Wertungen. Gerecht oder ungerecht sind nicht einzelne Verhältnisse, sondern die Verfassung sowie konkrete einzelne Institutionen und Gesetze. Wenn Rorty später den Gehalt solcher Theorien durch die Aussage pointierte: „I’m just an Ame21 An solchen Urteilen hat sich auch die Diskurstheorie festgebissen: ich kann von meinen „normativen Folien“ aus sagen: „Sklaven sind unfrei“, oder „Es ist ungerecht, wenn Menschen in Afrika verhungern“. Ich gebe damit den Common sense meiner Zeit wieder, die ich nur bei Strafe grober Naivität aus der Theorie ausblenden kann. Rawls muss die Moral in seinem „Gerechtigkeitssinn“ voraussetzen (493). Gewonnen wird so nichts. „Ein solcher Urzustand erklärt nichts. Er schiebt bloß die Frage in eine graue, nebelhafte Ferne” (MEW 40, 511). 22 Der „veil of ignorance“ wäre daher besser als „Verschleierung durch Ignoranz“ zu übersetzen (genitivus subiectivus). Rawls erneuert das Werturteil des Kontraktualismus. „Was für Marktkritiker wie Marx ein bewusstloser Prozess ‚hinter dem Rücken der Warenproduzenten’ war, ‚worin sich die Regel nur als blind wirkendes Durchschnittsgesetz der Regellosigkeit durchsetzen kann’ ‚mit der blind zerstörenden Wirkung eines Naturgesetzes’ [... MEW 23, 121, 117, 511], das ist Hobbes gerade wegen seiner Blindheit, die auf Herkunft und Person sowenig achtet wie die blinde Justitia, die Garantie für die Gerechtigkeit des Marktes“ (Steinvorth 1998, 317). Hier wird indes die Differenz zwischen Ökonomie und Politik verschliffen.

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rican“, so trifft er durchaus die Intention von Rawls.23 Hatte dieser in seinen späteren Schriften seine universalen Absichten immer mehr zurückgenommen, so ist schon in der ersten und stärksten Version von 1971 unverkennbar, dass er die USA meint, deren Institutionen durch die vermeintliche Allgemeingültigkeit seiner Theorie nur ideologisch überhöht werden. Sobald die Individuen des Urzustands zu konkreten Entscheidungen kommen, gleichen die ins Leben gerufenen Institutionen denen der USA aufs Haar.24 Die Theorie der Gerechtigkeit ist somit als „transzendentale Deduktion“ der USA zu lesen.25

3.2.2 Rechtfertigung von Stachanov „Hennecke, geh du voran!“ (Sprichwort aus der DDR)

Misslich an solchen Deduktionen moderner Staaten ist nicht, dass sich die Reichweite dieser Deduktionen auf einzelne Länder begrenzt – auch wenn dies dem Selbstverständnis der Verfasser widerspricht –, sondern eher der Umstand, dass sie (quasi-)transzendental ist. Denn aus einer solch apriorischen Sicht, die nicht nur aus obersten Prinzipien ableitet, sondern selbst diese noch apriorisch „konstruiert“, sind die realen Strukturen einer ganzen Gesellschaft kaum einzuholen. Allenfalls lässt sich die Binnenstruktur der Selbstauslegung einer spezifischen Gesellschaft rekonstruieren, und zwar nur aus der normativ-rechtlichen Perspektive, und auch dies nur unter gewagten Annahmen.26 An dieser Rekonstruktion des normativen Selbstverständnisses einiger politischer Institutionen der gegebenen amerikanischen Gesellschaft hob die Kritik des 23 Richard Rorty mündlich 1985, zitiert von K.O. Apel, in Blasche 1988, 122. 24 So gibt es eine verfassungsgebende Nationalversammlung (1971, 224, 251), Parteien (162), Abgeordnete (224, 255), Wahlmänner (253), Religionsfreiheit (241 – diese musste von den USA aufgrund der disparaten Zusammensetzung der Bevölkerung 1776 „erfunden“ werden), Redefreiheit (255), Kartellgesetze (306), Verbrauchssteuern (312) und den wirtschaftlichen und politischen Liberalismus (274), auf den sich Rawls’ Kritiker dann stürzten. „Der Vier-Stufen-Gang wird durch die Verfassung der Vereinigten Staaten nahegelegt“ (224, cf. 23). 25 Cf. 3.1.5, Fn. 124 zu Habermas. Die Bedeutung des Wortes „Deduktion“ deckt sich mit der von „Begründung“ und „Rechtfertigung“: es geht in beiden Fällen um den Erweis der Rechtmäßigkeit einer Sache (Kersting 1997, 121 ff.). Der „Konstruktivismus“ der Moralphilosophie gleicht einer apriorischen Prinzipienphilosophie. 26 Durch den „Kontrakt“ oder den „Diskurs“ soll das, um dessen Umsetzbarkeit sich Natur- und Vernunftrecht bemüht hatten, allererst erzeugt werden. Steinvorth 1999, 92 sieht darin eine „peinliche Verwechslung“. In der Tat wird damit, trotz des Selbstverständnisses, „postmetaphysisch“ zu sein (Habermas 1988, Rawls 1971, 289 f., Rawls 1993: „political, not metaphysical“), die bei Kant in begrenzter und reflektierter Weise benutzte Transzendentalphilosophie (sie diente als Grundlage der Kritik an hypertrophen Vernunftansprüchen) sinnwidrig auf empirische Fragen ausgedehnt (3.1.5, Fn. 90 und 126). Mit dem Versuch, den Kontraktualismus „auf eine höhere Abstraktionsebene zu heben“ (Rawls 1971, 12; vgl. Habermas 1976b, 167 f.) werden vielversprechende Differenzierungsmöglichkeiten von Kant in eine „Einheitsphilosophie“ verwischt (siehe insgesamt 2.5.2, 4.2.5).

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Kommunitarismus an, der sich hier nicht richtig repräsentiert fühlte (3.2.3). Die Theorie kommt aber auch dann in Schwierigkeiten, wenn man mit dem Erzeugungspathos der Autoren die entsprechende Gesellschaft nicht schon als „gegeben“ ansetzt. Denn mit dem Differenzprinzip lassen sich noch ganz andere Gesellschaften rechtfertigen. Die wenig egalitären „realsozialistischen“ Staaten haben nach diesem Prinzip funktioniert, und es ließen sich noch extremste kapitalistische Ungleichverteilungen damit rechtfertigen.27 Mit Ulrich Steinvorth ließe sich dies in einer starken Lesart als Falsifikation der Theorie deuten, in einer schwachen Lesart zumindest ihre ungeheure Dehnbarkeit kritisieren.28 Entweder haben wir es also mit einer Auslegung des normativen Selbstverständnisses von bestehenden Institutionen zu tun. Dann ist allerdings die Herangehensweise umwegig und missverständlich, und auch das universalistische Selbstverständnis wäre verfehlt. Die konkurrierenden libertären Vertragstheoretiker (Buchanan, Nozick) hätten eher recht als Rawls, weil sie nichts hinzuerfinden und insofern näher an den „allgemeinen Tatsachen“ bleiben.29 Oder aber, wenn der universale Anspruch erhalten bleibt, ist diese Theorie in ihrer schwachen Lesart als überinklusiv, in ihrer starken Lesart durch eine vielfache Falsifikation der Grundannahmen schlicht als falsch zu bezeichnen. Die Theorie der Gerechtigkeit wird in beiden Lesarten ideologisch. 27 Dass Ungleichheit besser für alle sei, unterstellte der Sozialismus in der NÖP (2.2.2, Fn. 18) und im Stachanov-System bzw. der Aktivistenbewegung (Dittrich 1987). „Höhere Löhne und andere Privilegien [...] sollen zu einem größeren Gesamtprodukt stimulieren [...] Aus dem größeren Sozialprodukt kann [...] die niedrigste Lohnklasse einen größeren Lohnkuchen herausgeschnitten bekommen [...]. Die sozialistischen Staaten stützen sich auf diese Vorstellung, als sie [...] ‚Helden der Arbeit’ Prämien zahlten und ihren Funktionären Datschen, Intershops und Auslandsreisen gönnten“ (Steinvorth 1999, 84). Im Kapitalismus steigen die Löhne nicht im selben Maße an wie die Produktivität (cf. 2.1, Fn. 11 und 137; auch 2.3.3). Wenn etwa die Produktivität um 10 Prozent steigt, die Gewinne der Unternehmen um 50 Prozent, die Löhne jedoch nur um 2 Prozent, so ist dieses durchaus realistische Szenario nach Rawls „gerecht“. Ähnlich wird heute alltäglich gewertet. 28 „Ein Gerechtigkeitsprinzip aber, mit dem unvereinbare Handlungsweisen gerechtfertigt werden können, kann nicht mehr zwischen gerecht und ungerecht unterscheiden und ist so unbrauchbar wie eine Theorie, aus der widersprüchliche Aussagen ableitbar sind“ (Steinvorth 1999, 85). 29 Nozick 1974 und Buchanan 1975, die die neoliberale („libertäre“) Antwort auf Rawls 1971 gaben, gingen bewusst von den bestehenden Verhältnissen sowie den Vorstellungen der in ihnen lebenden Menschen aus. Da auch sie sich stark von den Annahmen der neoklassischen Theorie leiten lassen („Der ökonomische Tausch ist für Buchanan der Archetyp des freien Umgangs miteinander”, Kersting 1994, 327; bei Nozick „sind alle politischen Organisationsformen von den Marktstrukturen absorbiert worden“, a.O. 316), kommen sie zu einer offenen Verteidigung des status quo und zur Befürwortung einer das Kapital stützenden Politik. Mit Recht ist zu sagen, „dass Buchanans radikaldemokratische Entscheidungsregel für öffentliche Güter [alle müssen zustimmen können, CH] ein Veto-Prinzip ist, mit konservativer Gravitation; die politische Petrifizierung der bestehenden Eigentumsverhältnisse ist ihre heimliche Konsequenz“ (Kersting 1994, 341; vgl. Koller 1987, Kley 1989).

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Trotz seiner egalitären Intentionen verlässt sich Rawls auf eine Theorie, die das Ergebnis und die Tendenz seines Buches in ihr Gegenteil verkehrt. Wollte er wirklich das Recht oder die Situation der unteren Klassen stärken, wie es zuweilen den Anschein hat und oft zugunsten von Rawls hervorgehoben wird, wäre er besser beraten gewesen, sich deren konkrete Situation anzuschauen; in den USA, falls es um diese ging, in der Welt, wenn dies das Ziel gewesen wäre (Rawls 1994, 2002, Pogge 2002). In beiden Fällen kann sich eine Theorie, die zu Gunsten der „weniger Begünstigten“ (127, aber auch: „Arbeiterklasse“, 99) sprechen will, nicht auf Mechanismen des Marktes verlassen, da gerade dieser Markt die neue Armut erst erzeugt oder zumindest verschärft hat.

3.2.3 Die Reaktion des Kommunitarismus Rawls Theorie war insofern egalitär, als sie eine „gerechtere Verteilung“ forderte. Daher lagen angelsächsische marxistische Kritiker mit ihren Versuchen, diese Forderungen zu übertrumpfen, auf einer falschen Fährte: als Forderungen sind sie kaum zu übertreffen.30 Marx’ Kritik war anders gewichtet: Solche Forderungen können trotz aller augenscheinlichen Progressivität dahin führen, sich mit dem bestehenden Zustand abzufinden, da er bereits rechtmäßig ist (MEW 4, 105). Die wohlklingende „soziale Gerechtigkeit“ und die „radikale Demokratie“ sind in der „Grundstruktur“ längst gegeben. Angestrebt ist in den Theorien von Rawls und Habermas weder eine Erklärung noch gar eine Veränderung realer Ungleichheiten, sondern eine Änderung der Sichtweise.31 Eine bloß veränderte 30 Rawls lässt die Frage ausdrücklich offen, ob die Marktgesetze (die „wohlgeordnete Gesellschaft“) nicht auch im Sozialismus zur Anwendung kommen könnten (1971, 305; Experimente mit Marktsegmenten waren im Realsozialismus eine Häresie, cf. Sik 1972). Zur linken Rawlskritik in den USA siehe Wood 1972, Miller 1974, DeMarco 1980, Francis 1980, Young 1981, A. Buchanan 1982, DiQuattro 1983, Reiman 1991, Fraser 1997. Kymlicka fragt, ob links von Rawls überhaupt noch Platz sei (1990, 169). Hier wirkt der „Schleier der Unwissenheit“, der durch die Orientierung der Neoklassik am Tauschmodell (und der Sozialphilosophie an der Rechtssphäre) bedingt ist: Kymlicka problematisiert die Rechtssphäre nicht und bleibt daher bei der Feststellung stehen, Rawls und seine marxistischen Kritiker hätten die gleichen Forderungen. Es wäre weiterzufragen, wie diese Forderungen behandelt werden. 31 „Die hier vorgelegte Gerechtigkeitsvorstellung dürfte [...] unsere Sicht [!] der sozialen Welt verändern und uns mit den Fügungen der Natur [...] aussöhnen“ (Rawls 1971, 556). „Erst wenn die Menschenrechte in einer weltweiten demokratischen Rechtsordnung [...] ihren ‚Sitz’ gefunden haben ..., werden wir auch auf globaler Ebene davon ausgehen dürfen, dass sich die Adressaten dieser Rechte zugleich als deren Autoren verstehen können“ (Habermas 1999a, Hvg. CH; cf. Honneth 1999a, 283). Die globale Geltung der Menschenrechte ist ein hehres Ziel, aber selbst in diesem Fall wären die einzelnen Menschen nicht die „Autoren“ dieser Rechte. Als solche ansehen können sie sich schon jetzt; der Aspekt des „Sehens“ fügt der Sache wenig hinzu. Marx’ kritisierte, die Junghegelianern veränderten bloß die Sichtweise (2.5.7). Zum dekonstruktivistischen Ziel einer Änderung der Sichtweise „eines jeden“ cf. Fraser 1997, 48.

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Sichtweise ist, solange sie im Normativen verbleibt, durch geschickte Traktate von der Gegenseite leicht einzuwickeln: Sie muss lediglich auf die gegebene Rechtmäßigkeit der Verhältnisse und Maßnahmen sowie auf fehlende Alternativen hinweisen (3.1.4, Fn. 62). Solange das Recht als Ort begriffen wird, an dem die Theorie ihre normativen Forderungen abladen kann, die dann nur noch umgesetzt werden müssen, ist Marx’ Rechtskritik übersprungen: das Recht hat die Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit bereits inkorporiert, zumindest in den westlichen Staaten. Die Forderung schlägt in Apologie um.32 Die Form des Rechts hat darum in der Folge eine Kritik provoziert, die es nicht nur aufheben, sondern aufgeben zu wollen schien: Den Kommunitarismus, der sich als Kritik an Rawls konstituierte.33 Der Schwerpunkt dieser Reaktion auf den theoretischen Liberalismus war die Problematisierung des abstrakten Charakters der Theorie. Dabei hat man Argumente bedient, die es auch schon bei Hegel und Marx gab (Taylor 1975, Walzer 1990, 159). Für diese aber war die „Form“ des Rechts eine Errungenschaft der modernen Gesellschaft. Die abstrakte Negation der Kommunitaristen spiegelt Rawls’ undialektische Konzeption von Recht und Gesellschaft ins Gegenteil: dort wird „Recht“ als völlig mit „Gesellschaft“ kongruent betrachtet, hier – zunächst – als gar nicht. Dieser Streit zwischen den US-amerikanischen Denkrichtungen des Liberalismus und Kommunitarismus wird missverstanden, sieht man ihn als Konflikt zwischen idealistischen „Normativisten“ und wirklichkeitsnäheren „Realisten“. Es handelt sich vielmehr um einen Konflikt zwischen verschiedenen Konzeptionen des Normativen. Der Kommunitarismus problematisierte die Angemessenheit von Rawls’ Modell, indem er ein anderes normatives Modell dagegenstellte. Letztlich streiten hier nur Bekenntnisse: „ein trockenes Versichern gilt aber gerade so viel als ein anderes“ (Hegel 1807, 71, vgl. 180). Der innernormativistische Streit drehte sich um die Ebene, auf welcher die sozialen Bindungskräfte und die zentralen gesellschaftlichen „Mechanismen“ theoretisch zu konzipieren wären. Diese Kritiker teilten Rawls’ Auffassung, dass Gesellschaft aus einem Kontrakt entstehe, nur musste es für sie kein rechtlicher sein. 32 Zur Parallele bei Habermas siehe 3.1.5. Das Recht kann nur Verhältnisse verrechtlichen, die bereits ansatzweise bestehen und daher als verrechtlichte möglich sind (3.1.5, Fn. 102). Für die Verrechtlichung des Schutzes von Minderheiten oder der Umwelt muss daher material argumentiert werden. Will man in Regionen außerhalb der westlichen Hemisphäre für elementare Menschenrechte eintreten, sollten diese aus den vorliegenden Verhältnissen und Traditionen entwickelt werden, um sie nicht nur imperial überzustülpen. Dies dürfte in den meisten Regionen möglich sein. 33 So Honneth 1993, 8; Reese-Schäfer 1994, 13 ff; Kallscheuer 1994, 126, Krebs 2000, 7. Natürlich gab es in der kommunitaristischen Strömung verschiedene Standpunkte – einzelne Vertreter grenzten sich sogar kokettierend von ihm ab (etwa Taylor und Walzer). Doch erst innerhalb einer Gemeinsamkeit können spezifische Differenzen auftreten. Diese Gemeinsamkeit ist die kritische Reaktion auf Rawls, die eine (ethnische, kulturelle oder auch sexuelle) „Gemeinschaft“ in den Vordergrund stellt. Da sich diese Gemeinschaft nur über eine „Differenz“ identifizieren kann, sind auch Theorien der Differenz zum kommunitaristischen Paradigma zu rechnen.

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Es komme darauf an, welche Vorstellungen die Vertragsschließenden hätten – egoistische Interessen plus Gerechtigkeitssinn (Rawls 1971, 20 f.), oder vorgängig warmherzige Gemeinschaftsgefühle.34 In dieser Kritik wurde Rawls allerdings schon so viel zugestanden, dass man entweder nur interne Einzelheiten korrigieren wollte, oder aber gar nicht die Theorie selbst, sondern die von ihr gemeinten Gegenstände problematisierte: So wurden in der kommunitaristischen Kritik an Rawls andere Vorstellungen eingebracht, die vor allem den Begriff der „Person“ und seiner Implikationen (Sandel 1984a, Taylor 1985), die Frage des Vorrangs des substantiell Guten vor dem formal Gerechten (MacIntyre 1981) sowie eben die Form des Rechtes betrafen (Forst 1994, 55 ff.). Man sah richtig, dass es Entitäten gab, für die das Recht blind war: vorrangig die Zugehörigkeit zu Minderheiten kultureller, religiöser oder sexueller Art. Nicht nur sei das im Kontraktualismus zugrundegelegte Subjekt substantieller zu „denken“, sondern auch die Eingebundenheit in seine irreduziblen sozialen Kontexte anzuerkennen – ein antiliberales Argument seit Burke und Hegel. Reale Probleme wie materielle Ungleichheit oder soziale Diskriminierung lassen sich jedoch durch ihre bloße „Anerkennung“ nicht beseitigen, und sei sie noch so zwischen Ethik und Recht differenziert. Eher besteht die Gefahr, dass sie so festgeschrieben werden.35 Daher wurde von liberaler Seite dagegen eingewandt, dass die Gewährleistung gesellschaftlicher Freiheit durch den Rechtstaat aller Vielfalt innerhalb eines Staatswesens vorausgehe, dass daher die „Identität“ einer bestimmten Gruppe nicht gegen den Rechtsstaat ins Feld geführt werden könne. Dieser etwas reflektiertere Liberalismus dürfte den Endpunkt der Debatte anzeigen, da auch viele Kommunitarier ihm zustimmten (Walzer 1996). 34 Sandel 1982 war besorgt um die Bindungskraft einer atomistischen Gesellschaft, wie er sie in Rawls Konzeption vorfand: „Voraussetzung des Teilens ist die [...] Gemeinschaft, innerhalb derer geteilt werden soll“ (Reese-Schäfer 1994, 18; vgl. zuvor bereits Taylor 1975 und MacIntyre 1981). Walzer 1983, 133 nennt den Gesellschaftsvertrag ein „moralisches Band“ – kein nur nutzenorientiertes. Zum Tönniesbezug vgl. Rehberg 1993. 35 „Assimilation ist die Todsünde gegen das Ideal der Authentizität“ (Taylor 1992, 29). Slavoj Zizek mokierte sich über die Festlegung indigener Völker auf museale, gesellschaftlich benachteiligte Bilderbuchrollen, welche durch das Pochen auf Identität und Anerkennung verstärkt würde (mündlich in New York 1997, cf. Altvater 1992). Diese Ambiguität belastet auch den Feminismus: entweder erstrebt er eine rechtliche Gleichbehandlung der Geschlechter, dann werden Frauen jedoch strukturell benachteiligt; oder das „spezifisch Weibliche“ wird rechtlich berücksichtigt – dann aber werden Frauen auf bestimmte Stereotype festgelegt. „Die Theoretiker der Anerkennung beziehen sich zu unrecht auf Hegel, [...] nicht [nur] weil Hegel den Ausdruck ‚Kampf um Anerkennung’ nicht verwendet, sondern weil [...] es geradezu ausgeschlossen ist, dass es einen Kampf um Anerkennung geben kann“ (Luckner 1995, 145, hierin bestätigt ihn Stekeler, a.O. 211). Der Kampf geht „nicht um Anerkennung, sondern ist schon eine bestimmte Form der Anerkennung“. Der Ausdruck „Kampf um Anerkennung lege „nahe, dass dieser Kampf bei erreichter wechselseitiger Anerkennung beendet sei“ (145). Siehe auch Siep 1979, Wildt 1982, Amengual 1990, Girndt 1990, Luckner 1995.

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Auf dem Wege zu diesem Formelkompromiss hatte die als Kritik am zu abstrakten Liberalismus gemeinte Denkrichtung viel vom einstigen Gegner übernommen, etwa in Schlagworten wie „Autonomie“ oder „Anerkennung“ (Walzer 1983, 356 ff., Taylor 1992) – primär rechtliche Kategorien, die in außerrechtliche Gebiete übertragen wurden.36 Dadurch erhoffte man sich eine rechtliche Anerkennung, etwa die gesetzliche Festschreibung der Gleichstellung der Frau, gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften oder der sprachlichen Eigenständigkeit kultureller Minderheiten wie der Frankokanadier (Taylor 1992). Diese Übertragung rechtlicher Kategorien des theoretischen Liberalismus auf andere Gebiete war aber eher gegen die eigenen konkretistischen Intentionen. Doch hat man sich einmal auf das Feld des Normativen begeben, bleibt das Recht der Sieger, insofern es die notwendige Stütze aller modernen Moral ist (3.1.5, Fn. 95). Gegen den Liberalismus wurden also konkretere Ebenen betrachtet, auf sie aber doch wieder die Vorzüge der politischen Sphäre übertragen. Das kommunitaristische Konzept der civil society etwa (Walzer 1991, Taylor 1993) nimmt aus der politisch-rechtlichen Sphäre das Konzept der „normativen“ Integration, wo es seinen Ort hat, verlegt ihn aber von Staat und Recht, die als zu abstrakt erscheinen, in die Gesellschaft, bzw. die Ethik als deren philosophisch verdünnten Platzhalter. Der Formalismus und die selbstgewählte „Blindheit“ gegenüber der Wirtschaft wird auf diese Weise nicht überwunden, sondern noch auf die gesellschaftliche Sphäre ausgedehnt.37 Eine Ursache dafür ist die Unklarheit darüber, was Theorie hier überhaupt leisten will. Wollte sie zu politischer Tätigkeit aufrufen, war die Wahl des Mediums Theorie sicherlich eine verfehlte. Wollte sie Kritik üben, hätte sie dies durch das detaillierte Aufzeigen von Missständen besser erreicht. Indem sie aber versuchte, alternative Theorien der Gerechtigkeit oder des Guten aufzustellen, ersetzte sie einen „verschönerten Schatten dieser Gesellschaft“ (MEW 4, 105) durch einen anderen.

36 „Der politische Diskurs der Gegenwart dreht sich im wesentlichen um Rechte“ (Taylor 1993, 117). Auch Walzer gibt zu: „our situation is largely captured by that vocabulary“ (1991, 14). „In der Geschichte der Philosophie ist Anerkennung der Begriff, der bei Fichte und Hegel gewissermaßen den Staatsvertrag Hobbes’ als Grundlegung des Rechts und des Staates ersetzt. Anerkennung meint den Prozess der gegenseitigen Wechselwirkung, durch den sich die einzelnen Bewusstseine bilden, indem sie zugleich den allgemeinen Willen bilden, innerhalb derer sie für Personen, d.h. für Rechtsträger gehalten werden“ (Amengual 1990, Hvg. CH). 37 Walzer 1991, 20 erhofft sich von der „Civil Society“, was im 17. Jahrhundert nur der absolute Staat vollbringen konnte: Religionskriege zu befrieden. Aufgaben des Staates werden in die Gesellschaft hineingeblendet. Das gilt sogar für den Sozialstaat: er soll durch eine „Sozialgesellschaft“ ersetzt oder ergänzt werden (Reese-Schäfer 1998, 96). Das Konzept der „Civil Society“ hat den Bürger nur als Citoyen und nicht als Bourgeois im Blick (Cohen 1995, 36), es ist entökonomisiert. Es bleibt mit Walzer (1987, 7, 30, 107) in der platonischen „Höhle“. Nicht nur bei den theoretischen Liberalen hängt also ein „veil of ignorance“ über der sozialen Realität. Zur „Blindheit“ wiederum Steinvorth 1999, 98.

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Diese konnte weder mehr Wissenschaft noch Kritik sein – es blieb beim evokativen Bekenntnis. Ist es so, wie der Kommunitarismus sagt, so besteht kein Anlass zur Sorge. Ist es nicht so, beklagt er Missstände, so bedarf es einer Analyse der Ursachen (die der Kommunitarismus nicht gab) sowie nüchterner Überlegungen über politische Strategien. Die Beobachtung, dass das Gemeinwesen an vielen Stellen erodiert, ist richtig. Doch das bloße Ausrufen ethischer Appelle38 lenkt von möglichen realen Ursachen eher ab; zumal solche Appelle kaum wirklich praktisch-politisch gemeint sein können, wenn sie zugleich eine „Theorie der Gesellschaft“ geben wollen. Den Kontext und das teilnehmende Gruppenverständnis transzendiert nicht erst die universalistische Moral (diese wird moralische Forderungen höchstens anders begründen), sondern schon die ursachenbezogene Theoretisierung. Über eine solche aber verfügt keine der beiden Seiten. Pikanterweise lässt sich nicht nur eine schleichende Übernahme rechtlicher Kategorien verzeichnen, sondern auch eine der impliziten Apologie des Marktes, obgleich einst eine modernismus- und damit marktskeptische Einstellung den Impuls gab.39 Schon der Konservatismus in Deutschland machte eine „Wende“ durch vom generellen Antimodernismus zu einer Bekämpfung der sozial modernisierenden Strömungen unter Anerkennung der technischen Modernisierung (inklusive der Produktionsverhältnisse).40 Ähnlich vollbrachte es der Kommunitarismus schon in seinem zweiten Grundbuch, die Kritik des Marktatomismus zur kulturkritischen Makulatur einer sonst affirmativen Theorie werden zu lassen:41 Michael Walzer versuchte in seiner alternativen Theorie der Gerechtigkeit, die soziale Wirklichkeit unter dem Paradigma der „Verteilung“ zu erfassen, indem er verschiedene Zusammenhänge wie Freundschaft, Sozialversicherung, Waschmaschinen, Ämter, Arbeitsstellen, Freizeit, Bildung, Liebe, Religion und Macht als Güter (goods, also in Warenform) begriff. Das Paradigma des Marktes ist auch 38 „Join the associations of your choice“ (Walzer 1991, 25). Oder auch: „Machen Sie mit!“ (Etzioni 1995, 277). 39 „Um der Demokratie das Überleben zu sichern, musste der Konzentration ökonomischer Macht eine vergleichbare Ballung politischer Macht entgegengestellt werden“ (Sandel 1984b, 92, vgl. Bellah u.a. 1994). „Ohne Bändigung der destruktiven Energien des kapitalistischen Ökonomie wird es [...] auch keine Zukunft für die liberalen und demokratischen Gesellschaften des Westens geben“ (Wellmer 1993, 189). 40 Vgl. Schmitt 1919, Mannheim 1925, Greifenhagen 1971, zum zweiten Mohler 1949, Faber 1981, Breuer 1993. Es ist diese Parallele, die einen Vergleich nahe legt (vgl. Rehberg 1993 und Joas 1993): die Pervertierung der Ideen von Gemeinschaft durch die Nationalsozialisten ist nicht strittig, von Interesse ist jedoch, dass der damalige Antimodernismus sehr ähnliche Triebkräfte hatte: auch damals war man gegen den kalten Markt und für warme Gefühle – aus ‚normativer’ Sicht allein ist das noch nicht böse. Es gilt einzusehen, dass gut und böse nicht schon auf ‚begrifflicher’ Perspektive zu scheiden sind, dass erst die Realität die Probe auf die (hier sehr ähnliche) Theorie ist. Die Theorie Marxismus, die viele als historisch falsifiziert ansehen wollen, ist weit komplexer als das, was davon umgesetzt werden konnte. Der Nationalsozialismus dagegen hat seine Ziele umgesetzt. 41 Sandel 1982 war das erste, Walzer 1983 das wichtigste Buch des Kommunitarismus. Diese Sozialutopie entspricht dem Selbstverständnis der USA (448; Sandel 1984a).

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bei Walzer zur Leitvorstellung der Gesellschaftstheorie geworden, nur sieht er verschiedene Märkte vor. Er übernimmt die optimistische Deutung des Marktes. Die Grundvorstellung vom Marktmodell, an dem die ganze Theorie hängt, indem Verteilungsprinzipien als Generalnenner dienen, ist positiv: „Man könnte fast sagen, dass die Güter sich selbst unter die Menschen verteilen“ (Walzer 1983, 31). Den wirtschaftlichen Markt im Besonderen bewertet Walzer als unproblematisch. Ähnlich wie er hätten auch Ronald Reagan oder Bill Gates sagen können: „Der Markt ist der Ort, an dem das Geld [!] seine Arbeit verrichtet. [...] Und wenn wir erst einmal jeden ungerechten Tausch blockiert haben ..., dann brauchen wir uns als Gemeinschaft über die Antworten, die der Markt gibt, auch keine weiteren Sorgen zu machen“ (1983, 163, 167). „The market [...] is without doubt the economic formation most consistent with the civil society argument“ (1991, 17).

Doch statt wie Rawls die Marktkräfte auch als das sozial verbindende Band zu sehen, sieht Walzer die einzig als Gegenkraft sinnvoll zu fordernde moralische „Gemeinschaft“ schon auf der deskriptiven Ebene als ein solches an. Das macht aus einem Sollen ein Sein; Gesellschaft erscheint als konstituiert durch Ethik (2.4.3). Walzer fordert zwar, dass die Auswirkungen der wirtschaftlichen Marktsphäre auf andere Lebensbereiche eingeschränkt werden sollten.42 Es gelte, zwischen den verschiedenen „Märkten“ Grenzen zu errichten. Gerecht sei eine Gesellschaft, wenn die Grenzen ihrer „Distributionssphären“ eingehalten würden: „Gute Zäune garantieren gerechte Gesellschaften“ (1983, 449). Doch wenn die Grenzen schon in der Theorie gezogen werden, sind viele soziale Probleme kaum noch sichtbar; etwa die ungebremste Ausdehnung der wirtschaftlichen Marktsphäre sowie die Verdeckung der dahinterstehenden Produktionssphäre.43 Die Ausdifferenzierung theoretischer Sphären wird zu einer der Gesellschaft ontologisiert, und so die Möglichkeit zur Kapitalismuskritik verstellt. 42 „But were the markets to be set firmly within civil society, politically constrained, [...] limits might be fixed on it’s unequal outcomes” (Walzer 1991, 19). Dies ist der Wunsch, der vom Staat auf die Gesellschaft übergeht. Nicht die Marktungleichheiten sollen beseitigt werden, sondern ihre Übertragung auf andere soziale Bereiche. Die Grenzen sind allerdings „ethisch“: Vereine (Assoziationen) und „Ideen“ sollen die Nachteile abfangen. 43 Lohmann 1994, 231 kritisiert, hiermit werde Luhmanns restlose Aufteilung der Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme ethisiert. Walzers Sphärentheorie bleibt zudem „auf den Nationalstaat angewiesen“ (Reese-Schäfer 1998, 87). Damit ist gegenüber dem staatsfixierten Monoprinzipialismus von Rawls wenig gewonnen, auch Walzer kann nur fordern, wie die plurale Verteilung stattfinden sollte. Seine ethische Diskussion der Verteilung von „harter Arbeit“ begnügt sich mit einer Liste von Vorschlägen (1983, 268: höhere Entlohung, Pflichtdienst, Rotation; vgl. Walzer 1988). Der Marktskeptiker Bellah sieht die Wurzel des Marktes nicht in der Produktion, sondern in der Moral: „Gelegenheiten, in einem mit anderen geteilten Leben eine verantwortliche Rolle zu übernehmen, halten nicht nur das Familienleben aufrecht, sondern auch das Schul- und Gemeinschaftsleben, das von religiösen Organisationen und Wirtschaftunternehmen, [und] das von Staaten“ (Bellah 1994, 60). Er fordert eine „‚Kultivierung’“ und mehr „Sitten“ (72 f.) – wie das geschehen soll, bleibt offen.

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Die Trennung der „Sphären der Gerechtigkeit“ bewirkt das Gegenteil ihrer durchaus emanzipatorischen Intention. Die Frage bleibt: Wer legt denn solche Grenzen fest, und aufgrund welcher Kriterien? Auch Walzer kann trotz seiner Rede von „Gemeinschaft“ den übergreifenden Sozialkitt nur in der gemeinsamen „Mitgliedschaft“ des einzig übergreifenden Vereines, nämlich des Staates, verankern. Nur die gemeinsame Mitgliedschaft im Staat verbindet alle Mitglieder einer Gesellschaft (das höchste Gut sei die „citizenship“, 1983, 65). Nur der Staat kann die von Walzer geforderten „Grenzen“ setzen (399). Doch er tut dies anders, als Walzer es sich vorstellt. Reale Grenzen wie die protektionistischen Stacheldrähte an der zu Mexiko werden in dieser Ethisierung fortabstrahiert. Der Liberalismus hatte die übergreifende Bedeutung des Marktes für die moderne Gesellschaft noch berücksichtigt – wenn auch nur implizit (Rawls) oder apologetisch (Buchanan). Ihm aber in der Theorie andere, gleichwertige Sphären postulatorisch gegenüberzustellen ist entweder, als Forderung, noch normativer und weltloser als der Liberalismus, oder, als Beschreibung, eine Beschönigung der realen Verhältnisse. Denn auch Benachteiligungen von ethnischen, religiösen, geschlechtlichen oder sexuellen Minderheiten haben oft ökonomische Implikationen.44 Aus der Einsicht in die Materialität und Krudheit der „bürgerlichen Gesellschaft“, die Hegel errungen hatte (2.1.1, Fn. 6), ist hier eine normativistische Überblendung gerade dieser Züge geworden. Wie schon in der älteren zahnlosen Kulturkritik der normativen Sozialphilosophie (2.5) werden nicht materielle Zwänge als Ursachen der Pathologien benannt, sondern ein ethischer Verfall. Das Gemeinsame zwischen den verschiedenen Sphären sieht Walzer nicht in der abstrakten Rechtssphäre wie Rawls, sondern in den scheinbar konkreteren „shared understandings“ der Bürger (Forst 1994, 229 f.). Beide begreifen soziale Integration als „normativ“, der Streit geht darum, was genau ihre nochmalige, höherstufig „normative Grundlage“ sei. Der Unterschied liegt darin, dass Walzer die normative Regelung nicht von einer zentralen Perspektive aus (Thomas Nagels „view from nowhere“), sondern aus den jeweiligen Zusammenhängen vornehmen will. Gegenüber dem Platonismus von Rawls will er in der Höhle bleiben (1988, 7), die Selbstverständnisse der jeweils Beteiligten also nicht transzendieren – obwohl diese das durch ihre je verschiedenen Rollen jederzeit selbst tun. Ließe sich ein Verteilungsprinzip nur aus der internen Perspektive verstehen, wie wäre es dann möglich, es zugleich zu kritisieren, ohne den Kontext zu transzendieren?45 Der exklusive Kontextualismus führt so deutlich zum Relativismus. 44 Menschen, die keine Rechte geltend machen können, lassen sich besser ausbeuten (cf. Fraser 2003). Die postmarxistische Welle der 1980er Jahre hat den Blick für solche Implikationen verstellt (cf. Hirsch 1990). Es waren oft bessergestellte Gruppen, die ihre „Differenz“ betont außerökonomisch zu Schau trugen. Doch das war eine Selbstbeschreibung – ein Appartement in Greenwich Village muss man sich erst einmal leisten können (Milner 1999, 145 ff.). 45 Für Walzer 1987 ist jede nicht-ethische eine „asoziale Kritik“, eine „Intervention von außen“ (77). Ganz wie Rorty meint er: „Es ist besser, Geschichten zu erzählen“ (78).

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Diese Blindheit ist erneut nur die „abstrakte Negation“, die Kehrseite von Rawls’ liberalem „veil of ignorance“: kann jener vor Prinzipien die Wirklichkeit nicht sehen, so jener vor Identität nicht die kontextübergreifenden Faktoren. Die Prinzipiengläubigkeit des Liberalismus wird so nicht überwunden, sondern nur pluralisiert: zwar möge jeder Bereich nur nach seinem Prinzip fungieren, aber für das Verständnis eines Bereiches reicht schon die Kenntnis des Prinzips. Das normativistische Grundverständnis von Philosophie und Gesellschaft bleibt unangetastet. Funktional führen diese Verkürzungen zu ähnlichen Ergebnissen. Der Grund dafür ist kein philosophischer mehr: in der Wirklichkeit selbst nämlich breitet sich der Markt immer weiter aus, wobei er jene Probleme erzeugt, aufgrund derer überhaupt Sozialphilosophie getrieben wird. Die kapitalistische Wirtschaft ist die Meta-Institution moderner Gesellschaften. Nach 1989, in der neuen Phase ungehemmter „Globalisierung“, ist der Kapitalismus, der moderne Gesellschaften schon immer geprägt hat, zum entscheidenden Faktor geworden. Theorien, die ihn nicht adäquat zur Kenntnis nehmen, laufen Gefahr, ihm zuzuarbeiten. Das ist eine Herausforderung für die Sozialphilosophie. Doch sieht der theoretische Liberalismus diese systematische und reale Untergrabung seiner Prinzipien aufgrund seines realitätsenthobenen Normativismus nicht, so scheint der Kommunitarismus deswegen nicht in der Lage zu sein, die strukturellen Nachteile der Marktvergesellschaftung46 zu erfassen, weil er eine kontextübergreifende Perspektive per se ablehnt. Funktional decken sich daher die praktischen Forderungen des Kommunitarismus mit denen des Neoliberalismus: Sozialleistungen sollen, wenn auch aus je anderen Gründen, aus staatlicher in private Hand überführt werden.47 Entweder haben die Gemeinden die Fürsorge 46 Das durchschnittliche Nettoeinkommen in den USA stieg seit 1980 um 0,5 %, beim obersten Prozent jedoch um 157 % (Assheuer 2003). Die reichsten 13 000 Familien haben hier mehr Geld als die 20 Mio. ärmsten (ein Verhältnis von 1/1540). Die Chefs großer Konzerne erhalten im Schnitt 37,5 Mio. $ jährlich (aus: Paul Krugman, Zeit Nr. 46/02). Das oberste Prozent, nämlich 834 000 Haushalte in den USA, besaß Ende der achtziger Jahre 5700 Mrd. $ – mehr als die restlichen 90 % zusammen, die über 4800 Mrd. verfügten (Suvin 1998, 79, nach Philipps 1990, Chomsky 1993). Die höchsten Steuern für leitende Angestellte sanken dort von 94 % anno 1945 auf 28 % anno 1991. Von 1980 bis 1988 stieg die Zahl der Millionäre dort um mehr als das doppelte: von 574 000 auf 1,3 Mio. Zehn Prozent der Deutschen leben in Einkommensarmut (unter 1200 Euro brutto monatlich pro Haushalt; bei Daimler/Chrysler verdient ein Vorstandsmitglied 4 Mio. Euro im Jahr – ein Verhältnis von 1/178. Derzeit wird versucht, Einkommen der Vorstände offenzulegen). Hier leben 17 % der Heranwachsenden in finanziell unsicheren Verhältnissen (nach Assheuer 2003). Weltweit starben in den 1980er Jahren schätzungsweise 40 Mio. Menschen jährlich an Hunger (nach UNDP 1996, 20). 47 „Im Gegensatz dazu ist der Kommunitarismus der Traum vom Ende alles Schnorrertums“ (Walzer 1990, 171). Der Kommunitarismus eignet sich „als ideologische Verbrämung von Sozialabbau“ und impliziert „Ausgrenzungsstrategien“ (Reese-Schäfer 1998, 98; Reich 1992; vgl. Kersting 2000, 251). Auch Walzer, der mit dem Sozialismus sympathisiert (1983, 20, 164, 186, 448), unterlegt eine neoklassische Konzeption: „je perfekter der Markt, desto geringer die Einkommensunterschiede“ (179).

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zu übernehmen – dies heißen die Kommunitaristen gut, da es die sozialen Kräfte der Gemeinschaft wieder stärker fördert, und die Neoliberalen, weil es die Staatsquote verringert; oder, falls dies die Gemeinden überfordert, ein privates Unternehmen. In beiden Fällen ist es denkbar, dass Gefühle von „Identität“ in der Bevölkerung zunehmen, wie es die deutsche Kriegs- und Nachkriegszeit gezeigt hat. Doch um welchen Preis? Eine weitergehende materielle Ungleichheit zwischen der „Gemeinschaft“ der Verarmten und den Profiteuren der Privatisierung, sowie eine verstärkte Schutzlosigkeit vor Ausgrenzungen und aggressive Zurückweisungen von Minderheiten sind zu erwarten.48 Fraglich bleibt, was damit für die Gerechtigkeit und ihre Theorie gewonnen wird. Ein „gutes Leben“ wird auf diese Weise jedenfalls nur für wenige möglich. Zusammenfassend ist also zu sagen, dass der Kommunitarismus und anschließende Diskurse in den letzten zwei Jahrzehnten skeptische Intuitionen generalisiert haben, die schon sehr viel länger gegenüber der Staatsform des Westens – dem demokratischen Rechtsstaat und seiner Leittheorie des Liberalismus – formuliert worden sind. Er steht dabei auf den Schultern von Hegel und, was das emanzipatorische Pathos angeht, von Marx. Doch anders als Marx weiß er sich keiner sachhaltigen Ebene mehr zu vergewissern, sondern er verbleibt auf der Ebene unterstellter normativer Selbstverständnisse. Er muss vor dem Hintergrund der globalen Aussichtslosigkeit des politischen Marxismus als „Ersatzideologie“ gelten – die Funktion, die in Frankreich die Postmoderne und in Deutschland die Kritische Theorie hatte (cf. 3.4.3, Fn. 54). Diesem Diskussionszusammenhang fehlt weniger eine philosophische „Vermittlung“, sondern es fehlen sachhaltige Kriterien. Dieses Fehlen wurzelt auch in dem verfehlten Glauben der Sozialphilosophie, ihrer gar nicht erst zu bedürfen.49 Die Forderung nach einer oder die Unterstellung von einer Politisierung der Gesellschaft und einer entsprechenden „Moralisierung der Politik“ (Etzioni) versuchte den Brückenschlag zwischen beiden Normativismen – in Deutschland un48 „Das dogmatische Festhalten am Konzept lebensübergreifender und gleichsam geschlossener Identitäten führt [...] dazu, dass der faktischen Aushöhlung vor allem so fundamentaler Bildungsfaktoren wie Beruf, Familie und Ehe [...] nur noch mit kulturkritischer Ablehnung begegnet werden kann. Dabei wird übersehen, dass mit der Auflösung traditioneller Sinnstiftungsinstanzen verbundene Leiderfahrungen häufig genug daraus resultieren, dass die Freiheitsräume, die sich mit der Verabschiedung überkommener Orientierungsmuster im Prinzip öffnen, in der Praxis allein einer privilegierten Minderheit zugänglich sind, während eine Mehrzahl propagandistisch mit Identitätssurrogaten abgespeist wird. Möglichkeiten, Identitäten zu erweitern, verkehren sich so in Identitätsbedrohung, weil sich der gesellschaftliche Wandel [...] real über massive Ausgrenzungen vollzieht. Gerade vor diesem Hintergrund kann dann eine Rückkehr zu traditionellen Orientierungsmustern gar nicht anders als über eine autoritäre Ordnungspolitik bewerkstelligt werden“ (Steinfath 1994, 89). 49 Zu Habermas 3.1.4, Fn. 85; 4.1, Fn. 2. Reese-Schäfer 1998, 102 wirft den theoretischen Liberalen die Auffassung vor, sie könnten „unbehelligt von der schlechten [...] politischen Diskussion, am Schreibtisch ihre Modelle dessen konstruieren, was für gerecht gehalten werden soll“. Dies trifft den Kommunitarismus mindestens ebenso.

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ter dem Titel „demokratische Sittlichkeit“ oder „Verfassungspatriotismus“.50 Aufgrund der Übertragung in die Sprache des Rechtes ließen sich die verschiedenen Diskurse sogar als Aspekte der „Anerkennung“ in ein abgerundetes System bringen.51 Diese erneute „Synthese“ zweier Debatten hat zwar den metatheoretischen Dissens aufgelöst, doch damit ist für eine Erkenntnis der rechtlichen und sozialen Wirklichkeit nur wenig gewonnen. Vielmehr drohen materiale Probleme der Gesellschaft aus dieser Perspektive normativ überblendet zu werden. Zudem verliert die Formalität des Rechtes ihre freiheitsverbürgende Pointe. Erneut hat deutsche „Einheitsphilosophie“ die Theorie auf eine Weise perfektioniert, die sie als Totalität von der Wirklichkeit gerade entfernt.52

3.2.4 Reaktionen in der deutschen Philosophie nach 1989 Der Disput zwischen diesen zwei Lagern US-amerikanischen Denkens wurde ein großer Exportschlager. Wie ist dies zu erklären? War die Ausgangslage in Euro50 Rawls 1993 strebt einen „overlapping consensus“ an, der das „Faktum des Pluralismus“ ernstnimmt und die tatsächlichen Moralvorstellungen der verschiedenen Gruppen nicht transzendiert. In diesem Punkt ergänzen sich Rawls und Walzer. Auch Honneth setzt die Alternative als innernormative an, indem er fragt, „welche moralischen Motive und Bindungen als notwendig angesehen werden müssen, um die freiheitsverbürgenden Institutionen einer modernen Demokratie am Leben zu erhalten“ (in: Zahlmann 1994, 119). Der Formelkompromiss einer „demokratischen Sittlichkeit“ soll nun beide Parteien moraltheoretisch zufrieden stellen. 51 Das Theoriegebäude, in welches Forst 1994 die Debatte inkorporieren will, arbeitet mit Äquivokationen verschiedener Redeweisen von Anerkennung. Seine „‚abstrakt’ begründete Theorie“ (305) besteht neben Besprechungen von Literatur aus der Definition, rechtfertigende Vernunft habe „reziprok und allgemein“ zu sein (134). Forst will trotz des hohen Allgemeinheitsgrades der Theorie „nicht auf Konkretion verzichten, denn die von ihr ausgezeichnete Grundstruktur [!] stelle einen Rahmen dar, in dem Personen auf je verschiedene Weise intersubjektiv anerkannt sind: als ethische Personen in ihrer ethischen Selbstbestimmung des guten Lebens, als Rechtspersonen in ihrem Anspruch auf ‚equal concern and respect’ (Dworkin), als politisch autonome und gleichberechtigte Bürger einer politischen Gemeinschaft und schließlich als moralische Personen, als Menschen ‚überhaupt’“ (Forst 1994, 305, vgl. 424). Die Theorie stellt den Rahmen dar für die praktische Anerkennung, die sich gleichwohl immer schon vollzogen hat. So etwas lässt sich nur in idealistischen Bahnen denken (3.1.4, Fn. 82). Praktisch-politische Probleme erscheinen in den einzelnen synthetisierten Theorien entweder als schon gelöst (ethische Gemeinschaften erkennen sich an: als Definition ist dies tautologisch, als Aussage über die Wirklichkeit in vielen Fällen falsch), oder gar nicht mehr. Was die Theorie des Rahmens mit ihrer innertheoretischen Synthetisierungsoperation sachlich aussagen will, ist schwer zu erkennen. Die „Muster intersubjektiver Anerkennung“ stammen von Honneth. Schon bei ihm überwiegt die rechtliche Grammatik: die Muster die der rechtlichen Anerkennung (nur sie heißt so), emotionale und solidarische Zuwendung (1992, 151; auch 2001; s.u., Fn. 35 f.; zur Rolle Hegels Kojeve 1947, Siep 1974, Wildt 1982, Luckner 1995). 52 Cf. 2.5.7, Fn. 274. „Einheitsphilosophie“ tritt auch im Gewande der „Differenz“ auf, indem sie ein Konzept bietet, das alle Differenzen inkorporiert (Fn. 33, 44). Wozu eine „Theorie über alles“, die im Einzelnen gar nichts mehr aussagt (2.5.2, Fn. 29)?

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pa mit seinem weit stärkeren Sozialstaat und der vergleichsweise homogenen Bevölkerung nicht eine andere?53 Durch ein größeres historisches Bewusstsein wurden die Argumente auch nicht als neu empfunden, hatte es doch ähnliche theoretische Konflikte zwischen den an Kant und den eher an Hegel oder Aristoteles anknüpfenden Theorien längst gegeben.54 Eine wirkmächtige Rezeptionswelle macht sich in Deutschland erst bemerkbar, als mit dem Fall der Mauer der real existierende Sozialismus von der Bühne verschwunden war: in den 1990er Jahren, mit zehnjähriger Verspätung, strömt eine regelrechte Welle des Kommunitarismus herein (cf. Brumlik 1993, Honneth 1993, Zahlmann 1994, Forst 1994). Der Inkriminierung des Marxismus nach seinem anschaulichen und allgemein begrüßten Scheitern kam es entgegen, dass diese reimportierte „Debatte“ auf keiner Seite mehr auf Marx bezugnahm, jedenfalls nicht essentiell.55 Der Streit um den Vorrang universaler und formaler Prinzipien oder substantieller, doch relativer Bestimmungen des „Guten“ war zu führen, ohne dass man sich auf die veränderte Realität einlassen musste. Es schien zu genügen, zwischen beiden theoretischen Konzeptionen von Normativität eine „Synthese“ oder, wie es nun pragmatischer genannt wurde, einen „Mittelweg“ zu suchen. So wurden zwar die osteuropäischen Dissidenzbewegungen als Kronzeugen der „Zivilgesellschaft“ gehandelt, doch weniger unter Beachtung der real vorliegenden Kontexte als vielmehr unter der formalen – und damit performativ widersprüchlichen – Betrachtung des darin georteten „Kontextualismus“. Die unhinterfragte Prämisse der Debatten, die Auffassung, Gesellschaften seien insgesamt „normativ“ integriert, verlor damit in der deutschen Rezeption die Unschuld, die sie in den USA noch gehabt haben mochte.56

53 Vgl. Nida-Rümelin 2000, 348 f., nach Esping-Andersen 1990 und Schmid 1996. 54 Siehe etwa 1969, Arendt 1974, Schnädelbach 1986. Zur Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs Nell-Breuning 1980, Kramer 1992, Huber 1996, Steinvorth 1998. 55 Rawls erwähnt Marx zuweilen (1971, 292 und 339), auch seine Kritiker bezogen sich mitunter auf ihn (A. Buchanan 1982, Brenkert 1983, Nussbaum 1990 oder Sheldon Wolin. Charles Taylor war in den 1970er Jahren Gastgeber der „analytischen“ Marxisten). Frühe Rawlslesarten thematisierten Marx (Wood 1972, Miller 1974 in Höffe 1977; in Höffe 1998 ist Marxens Spur getilgt). Die vorgebliche Marxrenaissance im Kommunitarismus hat nicht erst in seiner vorgeblich „zweiten Phase“ begonnen (so Honneth 1999, 644, cf. Fn. 30). Eher wäre ein beginnendes Schmelzen deutscher Marxrezeptionsblockaden zu verzeichnen (Honneth 1989a, 2002). Honneths Auffassung, man hätte in der deutschen akademischen Marxrezeption der 1970er Jahre bereits das Ergründenswerte durchleuchtet, ist abzuweisen. Diese Schriften (Honneth erwähnt E. Lange, G. Lohmann, Wildt, Zimmermann) waren doch oft recht einseitig. 56 Sie war in den USA unschuldig insofern, als maßgebliche Theorieströme (etwa Parsons) dort tatsächlich davon ausgegangen waren (cf. 3.4). Zudem konnte die Integration der Immigranten so verschiedener Völker in Teilen wirklich über die Werte zustande kommen, die die amerikanische Verfassung ihren Bürgern verbriefte. In Europa, wo die „Staatsgemeinschaften“ auf eine wesentlich längere Geschichte zurückblicken und wo auch Theorietraditionen gänzlich anderer Ansicht (Aufklärung, Materialismus, Marxismus, auch der Faschismus) lange Zeit dominierten, lässt sich eine sol-

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Von der Suche nach kleinerformatigen Ersatz-Erzählungen, von der die deutsche Sozialtheorie nach 1989 getrieben wurde, gewinnt man ex post den Eindruck, es sei statt einer notgeborenen Beschränkung auf diese normative Perspektive um den Beweis gegangen, dass dies die einzig sinnvolle Perspektive der Gesellschaftstheorie sei. Die andere, dunklere Hälfte der Gesellschaftstheorie, die bei Habermas bislang stiefmütterlich behandelt worden war, indem für sie die Systemtheorie bemüht wurde, die aber zugleich als „instrumentell“ oder „strategisch“ denunziert wurde, fiel auf diese Weise endgültig aus der Betrachtung heraus. Sieht man sich maßgebliche Werke der jüngsten Zeit auf diese materielle Seite hin an, zeigt sich erstaunlich durchgängig eine rein normative Sicht – unabhängig davon, ob eher eine liberale, eine kommunitäre oder eine libertäre Variante vertreten wird. Dieser Normativismus sei abschließend an einigen Vertretern deutscher Sozialphilosophie aufgewiesen.

Otfried Höffe Der positivistischen Verkürzung von Staat und Recht versucht Otfried Höffe eine „normative“ Interpretation derselben gegenüber zu stellen (Höffe 1987, 1995, 1996). Allerdings scheint sich ihm durch seine langjährige Beschäftigung mit Rawls (1977, 1998)57 der Eindruck aufgedrängt zu haben, normative Philosophie habe es ihrerseits mit Normen zu tun. Das muss aber keineswegs der Fall sein. Die zuweilen recht kruden materiellen Fakten: Leiden, Krankheit und Tod, Hunger, Ausgrenzung und Unterdrückung, rufen weit eher zu einer normativen Betrachtung auf, als die im ganzen doch recht erfreulichen bestehenden Normen. Diese unerfreulichen Fakten „sollen“ nicht sein. Es gibt niemanden, der dem abstrakt nicht zustimmen würde – dazu bedarf es keiner weit ausholenden „philosophischen“ Begründung. Vielmehr bedürfte es Untersuchungen darüber, warum trotz so zahlreich vorhandener Ressourcen und so viel guten Willens Besserungen nicht in Sicht sind. Höffe dagegen kommt nach langjährigen Studien zu dem Schluss, dass „normative“ Fragen politischer Gerechtigkeit „abgekoppelt“ von der Ökonomie zu stellen seien.58 Was bleibt dem Philosophien dann noch zu tun, außer einer apriorischen Konstruktion derselben? So etwas wird in der normativistischen Sozialphilosophie seit Jahren geübt (3.1, 3.2). Wer hier etwas Neues leisten will, muss kreativ sein. Zur Erklärung moralischer Normen will Höffe darum nicht auf die „Vernunft“, sondern auf andere, schon bestehende Normen zurückgreifen: „Den Menschenrechten liegt eine Moral zugrunde, die [...] sich mit einer Ethik der [...] Tauschgerechtigkeit zufrieden gibt“ (Höffe 1998, 37). che Sicht jedenfalls nicht mehr naiv vertreten. Habermas ist dieser Unterschied im Rahmen des Krieges schmerzlich zu Bewusstsein gekommen. 57 Höffe macht sich um die Rezeption der Klassiker praktischer Philosophie verdient: er gab Lexika, Kommentarbände sowie die Reihe Klassiker Auslegen heraus. 58 „Die Legitimation [der Menschenrechte, CH] ist beispielsweise abzukoppeln von der Debatte um ökonomische Voraussetzungen“ (Höffe 1998, 30). Das größte Problem wird so von Anbeginn herauseskamotiert.

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So „begründet“ er eine Normativität in der anderen – allerdings im affirmativen Sinne. Genau diese Entsprechung, unter der gleichzeitigen Beobachtung, dass sich trotz der Geltung des Rechtes wenig zum Besseren wandte, war für den „Klassiker“ Marx ein Anlass, die rein normative Sphäre theoretisch zu transzendieren. Bei Höffe findet sich nichts dergleichen. Am Ende dieser selbstbewusst vorgetragenen Philosophie steht die Forderung nach „globaler Menschenliebe“ (Höffe 1999, 413). Wer außer Carl Schmitt könnte auch diese Forderung nicht unterschreiben? Es fragt sich allerdings, was unter einer solchen „Weltrepublik“ (Höffe 2000, vgl. 1995, 249 ff.) zu verstehen sei, wenn sie schon in einer globalen „Tauschgesellschaft“ fundiert werden kann, und wenn die sonstigen wirtschaftlichen Zusammenhänge schlicht ausgeblendet werden.59 Ein solches, wiederum freiwillig „blindes“ Denken stellt funktional eine „normative“ Verklärung des globalen Freihandels dar. Zwar spricht Höffe kaum von demselben,60 aber seine Rede von den „Normen“, als seien diese schlechthin gegeben und als sei mit ihrer Geltung alles erreicht, lenkt das philosophische Denken von einer Durchleuchtung der realen Geschehnisse eher ab. Er belässt es zuletzt bei einer Forderung nach weiteren zu verwirklichenden Normen, die er in einem Katalog präsentiert, der einen linksliberalen common sense wiedergibt: Weltwettbewerbsordnung, Weltwirtschaftspolitik, Weltsozialpolitik, globale Solidarität und Weltumweltschutz. Dies stellt eine erneute Replikation des alten Dualismus von funktionalistisch-neoklassischer Reduktion der Wirtschaft und ihrer Ergänzung durch normative oder ästhetische Idealisierungen dar. Hätte Sozialphilosophie nicht vielmehr zu fragen, wie diese beiden Ebenen eigentlich zusammenhängen?

Wolfgang Kersting Im Gegensatz zu Höffe ist Wolfgang Kersting der Auffassung, dass es im Interesse der Wirksamkeit bestehender Normen nicht im Vordergrund steht, „normative“ Wunschlisten aufzustellen, sondern eher, den Forderungskatalog zugunsten der basalsten Normen zu minimieren.61 So wird eine staatliche Ausgleichung von Einkommensunterschieden als paternalistische Einschränkung der libertären 59 „Eine nüchterne [auf weitergehende Ansprüche verzichtende, CH] Gerechtigkeitstheorie beruft sich [...] auf die Tauschgerechtigkeit als ihr neues [?] Paradigma“ (Höffe 1998, 38, mit Verweis auf Marcel Mauss, Levy-Strauss und Axelrod 1984). Skeptiker hätten einen „zu engen, [...] ‚ungeduldigen’, [...] ‚kleinlichen’ Tauschbegriff“ (41). Auf dem Kantkongress 2000 in Berlin, wo Höffe eine „Begründung“ sozialer Rechte nicht extern, sondern aus den Normen selbst herleiten wollte, stellte ihm Onora O’Neill die Frage, warum er auf das Schwinden des Staates nicht eingehe. Der Grund liegt wohl darin, dass dies kein „normatives“ Phänomen ist. 60 Höffe 1999, 399 ff. spricht von globalen Wettbewerbsordnungen – nicht bemerkend, dass er die bestehenden Strukturen, normativ überhöht, noch einmal fordert. Zu einer Kritik derselben jetzt etwa Ziegler 2002. 61 Obwohl Kersting auch zu Klassikern publiziert hat (1988, 1992 und 1993) steht bei ihm der neuere Kontraktualismus im Vordergrund (1994, 1997, 2000 und 2000a). Auch eine Auseinandersetzung mit Höffe findet sich (1996).

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Bürgerfreiheiten und kommunitären Bürgertugenden angesehen. Im Sinne des Kommunitarismus (Kersting 1997, 397 ff.) gehe es vielmehr darum, den der Politik vorgängigen Bürgerstatus (die „demokratische Tugend“) zu gewährleisten. In der Überlegung, was das heißen könnte, blendet nun auch Kersting die Wirtschaft aus, so dass Autonomie nur „ethisch“, nicht aber materiell abgesichert werden kann. Diese Ethik steht den oft beschworenen „sozialen Rechten“ (Marshall 1950) bewusst entgegen. Indem Kersting die sozialen Rechte des Individuums gegenüber dem Staat einschränken will, bietet er den wirtschaftlichen Interessengruppen nicht nur implizit eine philosophische Stütze wie Höffe, sondern er setzt sich auch explizit für die ohnehin herrschende Tendenz des Sozialabbaus ein.62 Die Endabsicht einer so verstandenen „Bürgertugend“ besteht darin, vormals nur „alimentierte“ Personen wieder „marktfähig“ zu machen. Was aber hieße das konkret? Es ist absehbar, dass diese Personen (Arme, Alte, Kranke, Behinderte, Studenten, Mütter, Langzeitarbeitslose, Ungelernte u.ä.), wenn überhaupt, so meist nur auf dem Billiglohnsektor eine Chance haben. Die Situation, von der Kersting ausgeht, war auch schon der Ausgangspunkt des Beginns neuzeitlichen politischen Philosophierens: ein „Kampf aller gegen alle“ (Hobbes) um scheinbar von „Natur“ aus knappe Ressourcen. Allerdings hatte die Philosophie einmal den Anspruch, sich nicht von dem ohnehin herrschenden Schein blenden zu lassen, sondern dahinter zurück zu gehen und die wirklichen Zusammenhänge zu erfassen. Indem Kersting mit einer suggestiven Vorstellung von „Natur“ arbeitet, gibt er diesen Aufklärungsanspruch preis: „Es sollte der privaten Mildtätigkeit der Ameise überlassen bleiben, ob sie die Grille im Winter an ihr Feuer und an ihre Vorräte lässt. Es kann nicht gerecht sein, wenn die Grillen die Ameisen in Versorgungshaft nehmen“ (2000, 223). Schon das Beispiel ist paradox: entweder liegt das unterschiedliche Verhalten in der „Natur“, dann können sich die Ameisen ihren Fleiß nicht anrechnen; oder es ist freiwillig und damit „verdient“ – dann aber ist diese Naturalisierung gerade unangemessen. Die Sozialität, die als Bereich sui generis zwischen Natur und Moral liegt, wird damit im Ansatz verfehlt – von der spezifischen Gesellschafts62 Kersting 2000 ist gegen den „Monetarismus des Sozialdemokratismus“ (254), weil dieser „ethisch blind“ sei (255). Es scheint also „ethisch“ zu sein, für wenig Geld viel zu arbeiten. Daher verlangt Kersting „Maßnahmen zur Durchbrechung der unverantwortlichen Arbeitsmarktblockade der Tarifkartelle“, denn „die effektivste Sozialpolitik [ist] die Schaffung von Arbeitsplätzen“ (250). Er macht sich gegen die sozialstaatliche „Betreuungsmaschinerie und Entmündigungsagentur“ (250) stark, die aufgrund ihrer „Daseinswattierung“ eine „Bürgerlichkeitsverhinderungs- und Bürgerlichkeitsgefährdungsanstalt“ sei. Der Abbau staatlicher Hilfen wird nicht mit knappen Kassen begründet, wie in der Politik, oder mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, wie in Unternehmerverbänden, sondern ethisiert: „es sind auch moralische Überzeugungen, die die Minimierung [...] der Wohlfahrtsstaatsbürokratie verlangen“ (249). Das Ziel der Sozialpolitik sei die „Herbeiführung der Marktfähigkeit“; denn: „Der Markt ist nicht für den Wohlfahrtstaat da, [...] sondern der Wohlfahrtsstaat ist für den Markt da“ (247). Erinnert sei an Webers Ausspruch aus 3.1.5, Fn. 118.

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formation des modernen Kapitalismus der Gegenwart ganz zu schweigen. Wer meint, etwaige Ungleichheiten in der Gesellschaft ließen sich auf solche in der Natur zurückführen und seien deshalb nicht zu korrigieren – Reichtum sei also per se „verdient“ –, der fällt hinter die Erkenntnisse der Soziologie und Ökonomie schon des 18. Jahrhunderts zurück (2.4.1). Kersting verlässt sich folgerichtig auch nicht auf eine soziologische Unterfütterungen seiner Prinzipien, sondern auf die neoklassische Theorie. Seine „Verdienstethik“ sucht nach dem Muster von Böhm-Bawerk (1884), den Profit als langfristigen Gewinn aus Verzicht auf kurzfristigen Konsum zu legitimieren. Die von Egalitaristen wie Dworkin verfochtene Wohlfahrtsgleichheit würde „dazu führen, dass die Fleißigen die Aussteiger alimentieren und die Selterstrinker die Champagnertrinker subventionieren“ (2000, 223). Sein „verdienstethischer Naturalismus“ (237), die „verdienstethische Entdramatisierung der Differenz von Natur und Freiheit“ (233), stellt den alten Dualismus von Natur und Freiheit auf den Kopf: Er will die Vorteile aus der gesellschaftlichen Natur als solche der Freiheit, des „Verdienstes“ legitimieren, während „moralische“ Forderungen vor dieser Hayekschen „Natur“ als nicht bestehend abgewiesen werden: „Wohlfahrtsgleichheit würde auch die Ungleichheiten begradigen, die durch unterschiedlichen Arbeitseifer, Ehrgeiz und Einsatz entstehen“ (223). Kersting hält die Ablehnung dieses Prinzips schon für eine sozialphilosophische Analyse. Die Bedeutung von Normen für die Sozialphilosophie wird auf diese Weise sehr hoch veranschlagt. Begibt diese sich, wie Kersting fordert, in eine „begründungstheoretische Abhängigkeit [...] von normativen Prinzipien“ (Kersting 1997, 138), hat sie es nicht mehr nötig, die Realität zu befragen. Ein solches Denken übersetzt den sich naturwüchsig einstellenden Schein nahtlos in die Theorie und vertritt damit offensiv die Interessen der ohnehin stärksten Gruppe. Vielleicht hätte die Spitzfeder Marx dafür polemisch den Titel „Vulgärphilosophie“ vergeben (cf. 2.3, Fn. 4, 57, 61; 2.5.5, Fn. 226).

Axel Honneth Gegenüber solchen Tendenzen hat Axel Honneth noch das Selbstverständnis, „progressiv“ zu sein. Er will innerhalb der „begrifflichen Weichenstellungen“ der Frankfurter Schule, auf die er sich als Nachfolger Horkheimers gar nicht erst berufen muss (2000, 47 f., 89 ff.), zu einer „normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie“ gelangen (1992, 7). Die Frage aber, wie eine Philosophie normativ und zugleich gehaltvoll sein soll, stellt sich auch ihm nicht. Vielmehr gibt es einen inflationären Gebrauch der Worte „begrifflich“ (d.h. a priori), „normativ“ (d.h.: Aussagen nicht über die Wirklichkeit, sondern über Ansprüche und Wünsche) und „moralisch“.63 Ziele, die er sich auf diese Weise stecken kann, sind „norma63 Vieles wird „normativ“ uminterpretiert, so die „moralisch motivierten [!] Kämpfe sozialer Gruppen, [...] wodurch die normativ gerichtete [!] Veränderung von Gesellschaften praktisch vonstatten geht“ (Honneth 1992, 149). Allein im Abschnitt Honneth 2003, 131-139 fallen die Worte „normativ“ und „moralisch“ 33 mal.

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tiv gehaltvollere“ Begriffe, beispielsweise der „Arbeit“ (1980) oder „Anerkennung“ (1992, 2003). Dies kann dazu dienen, einen Wunsch oder Anspruch differenzierter vorzutragen als etwa Adorno, der je nur zu der Forderung sich durchrang, die Welt möge doch endlich „erlöst“ werden (dazu Honneth 1985). Doch wie Höffe meint auch Honneth, mit solchen Katalogen von Wünschen bereits Aussagen über die Wirklichkeit gemacht, also eine „kritische Gesellschaftstheorie“ erarbeitet zu haben (2000, 88 ff.). Das kann systematisch nur funktionieren, wenn in einem objektiven Idealismus angenommen wird, diese normativen Begriffe konstituierten die soziale Wirklichkeit (Hösle 1990; 3.1.4, Fn. 82). Honneth gehört wie Kersting zu den Rezeptionsförderern des Kommunitarismus. Doch wie bei jenem unterbleibt auch bei Honneth eine systematische Kenntnisnahme der Realität weitgehend – auch wenn genau das oft programmatisch gefordert wird (1992, 111 f.; 2000, 110 ff.; 2003, 131; gerade das ist eine Nachfolge der älteren Kritischen Theorie, cf. 2.6.3. Fn. 58; Habermas 1968, 9). Die einzige Empirie, die näher untersucht wird, liegt auf dem Feld der Moral: Die universalen moralischen Prinzipien sollen entwicklungspsychologisch „begründet“ werden. Erliegt Honneth hier nicht dem naturalistischen Fehlschluss? Warum sollen Sozialtheoretiker die vorgefundenen Normen und Ansprüche eigentlich noch einmal „konstruktiv begründen“ müssen? Sie sind je schon gegeben. Zunächst wären sie empirisch zu erfassen (wer fordert in welcher Situation was von wem), und dann auf ihren Zusammenhang mit der sozialen Realität zu hinterfragen (mit welchem Recht, mit welchem Effekt). Dafür allerdings müsste jene zunächst hinreichend empirisch und theoretisch durchdrungen sein. Diese primäre Aufgabe der Sozialtheorie steht noch immer aus. Mit einer moralpsychologischen Philosophisierung ist für sie nichts gewonnen.64 Schon die empirische Erfassung der vorgefundenen normativen Ansprüche („Unrechtsempfindungen“, 2000, 100) ist durch die Zielvorgabe blockiert, mit ihnen das Dilemma der Kritische Theorie systematisch lösen zu wollen (2000, 110 ff.). Der Einfluss des Kommunitarismus (1993) und von Foucault (Honneth 1986, 121 ff.) führt bei Honneth dazu, die schon bestehende normative Theorie von Habermas (cf. Honneth 2000, 66 f., 98, 113) „material“ – also mit gehaltvolleren Normen – aufzufüllen. Er bewegt sich somit eine Abstraktionsebene höher als Höffe, der die vorgefundenen normativen Forderungen noch direkt aufgreift. Honneths „normative Sozialphilosophie“ fordert nicht nur „gleiche Freiheit“ oder ein faires Verfahren bei der Gewinnung formaler Prinzipien, sondern „substantiellere“ Garantien, die für die Ausbildung einer intakten Persönlichkeit vonnöten seien. Diese theoretischen Forderungen („Ansprüche“) an unbestimmte Adressaten werden von der Theorie in abstractu zusätzlich erhoben. Sie bedürfen somit im Denkmuster des Normativismus auch einer zusätzlichen „Rechtfertigung“. 64 Nicht zufällig trifft man hier auf eine neoklassische Verkürzung der Ökonomie: was bei Hegel noch „Arbeiten und Genießen“ hieß (1805, 213), heißt bei Honneth Konsum und Tausch (1992, 85). Siehe die Kritik bei Fraser 2003.

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Diese will Honneth nun in einer Bewegung einholen, die der Letztbegründung bei Apel erstaunlich analog ist, nämlich in einem sich empirisch verstehenden Aufweis solch substantieller Ansprüche als „immer schon“ antizipierter.65 Das Ergebnis dieser „Phänomenologie“ des normativen Geistes (2003, 135 f.) ist es, dass ein „normativer Minimalkonsens“ „stets schon vorgängig garantiert“ sei (1992, 72).66 Was leistet dieser Verweis auf die „vorgängige Intersubjektivität“ (52)? Entweder soll bereits sie die Probleme lösen – dann würden sie jedoch nur theoretisch verdeckt. Oder sie löst sie nicht – dann fragt sich, wozu der Aufweis derselben theoretisch dienen soll, außer eben dazu, die „normativen Ansprüche“ (2000, 107, 113) einer Kritischen Theorie zu rechtfertigen, von der allerdings nicht mehr gesagt wird, worin sie eigentlich bestehen. Honneth wünscht sich wie der Kommunitarismus eine „kommunikative Basis“, „auf der die durch das Rechtsverhältnis voneinander isolierten [!] Individuen sich noch einmal [! ...] zusammenfinden können“ (1992, 44). Das ist ein Appell zur ideellen Verdopplung der Rechtsverhältnisse, der wie die Forderungen von Rawls und dem Kommunitarismus immer schon erfüllt ist (Fn. 32). Für die Sozialphilosophie fangen die eigentlichen Fragen hier erst an. Wer stellt hier Forderungen, und an wen? Welche realen Strukturen und Prozesse stehen dahinter? Aus welchen Ideen und Traditionen speisen sich diese Forderungen, und mit welchem Recht werden sie erhoben? Wie wären sie zu erfüllen? Wie stehen sie im Verhältnis zu den tatsächlichen Prinzipien des liberalen Rechtsstaates, der rechtlichen Gleichheit und der wirtschaftlichen und politischen Freiheit? Welche politischen Änderungen wären vonnöten, um sie ansatzweise 65 Bezog sich Habermas auf Piaget und Kohlberg, so Honneth 1992, 157 ff. (wie schon Wild 1982) auf Donald W. Winnicot. Doch die Frage ist, was für die Liebe zu „beweisen“ ist (es ist schlecht, Menschen zu schaden, weil [...] ?). Für das Recht behauptet Honneth mit Marshall 1950, einer populären Vorlesung der Nachkriegszeit, dass mit den „sozialen Rechten“ die Verteilungskämpfe des 19. Jahrhunderts, die sich primär um „Mitgliedschaft“ gedreht hätten, beendet seien. Das erinnert an Walzers Zurechtstellung sozialer Kämpfe zu einem Gerangel um Vereinsrechte (1983, 1991). Hegels staatliche Dimension der „Solidarität“ wird umgedeutet zu einer gesellschaftlichen Dimension der „Wertschätzung“ (s.u., Fn. 37). Auch sie wird am Ende nicht erwiesen, sondern gefordert (1992, 287). Sozialforschung kann nicht aus der empirischen Mannigfaltigkeit gerade passende „Beweise“ für ihre Thesen heranziehen (auf diese Weise ließe sich alles „beweisen“), sondern müsste mögliche Falsifikationen ihrer Thesen ausräumen. 66 Brumlik sprach zunächst kritisch von einer „Phänomenologie moralischer Konflikte“ (in: Edelstein 2000, 81). „In die Struktur der menschlichen Interaktionsbeziehungen ist die normative Erwartung, auf die Anerkennung durch die anderen Subjekte zu stoßen, zumindest in Form der impliziten Unterstellung eingebaut, in den Handlungsplänen des Anderen positiv Berücksichtigung zu finden“ (Honneth 1992, 75). Seit Habermas wird im Begriff der Interaktion die materielle Reproduktion systematisch ausgeblendet. „Gesellschaft“ wird wie im Neukantianismus gedacht als „konstituiert“ durch bewusste wertorientierte („normative“) Handlungen von Individuen. In diesem „subjektiv gemeinten Sinn“ wird das ‚Material’ gefunden, mit dem Apels formale Letztbegründung angereichert wird.

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zu erfüllen, und welche Grenzen wären einem solchen Strukturwandel zu ziehen? Wie wäre eine solche Änderung der politischen Struktur praktisch in die Wege zu leiten? Wie ist den theoretischen Gegnern solcher Maßnahmen zu begegnen, und wie den politischen? Mit Spannung harrt man auf die Beantwortung dieser Fragen. Honneth 1992 belässt es bei einer Anreicherung des Forderungskataloges („Liebe, Recht, Solidarität“) und einer historisch ausholenden Behandlung von Gedanken darüber beim jungen Hegel und G.H. Mead. Er stützt sich auf Fragmente von Hegels System der Sittlichkeit von 1802, welches eher einen religiösen Traktat als ein republikanisches Manifest darstellt (siehe die „wechselseitige Anschauung“, Honneth 1992, 44).67 Die Berufung auf den „frühen“ Hegel erinnert etwas an Heideggers Mythologisierung der „Frühe“ sowie auf die „antimarxistische Hegelstrategie“ (R. Mehring 1989) der deutschen Philosophie der 1950er Jahre (2.5.7). Auch die Berufung auf Mead überzeugt soziologisch wenig, denn dieser interessierte sich als Psychologe vorrangig um die Genese von Bewusstsein. Wenn die Gesellschaft vorkam, dann hinsichtlich der Rolle, welche die Vorstellung von der Gesellschaft auf das Verhalten des Einzelnen nimmt. Was daran soziologisch ist, ist idealistisch („the ideal society“, Mead 1934, 317, cf. 3.4.2, Fn. 34). Wo ist also die versprochene „empirische“ Einlösung (1992, 8) der normativen Forderungen? Der Gewinn von Honneths Theorie ist die negative Herleitung der normativen Ansprüche der Theorie aus dem Verweis auf eine reale „Verletzung von impliziten Regeln“ (1992, 256; 2000, 88 ff.). Das ist eine einfallsreiche, doch auf den zweiten Blick tautologische Feststellung (zur Affirmation des Zirkels im deutschen Denkens siehe in 2.5.5). Ein Regelverstoß kann vielleicht als ratio cognoscendi der verletzten Regeln dienen, „erklären“ kann er diese Regel allerdings kaum. Eine theoretische Liste von Ansprüchen, die den Individuen als Intention unterstellt wird, kann nur dann eine Gesellschaftstheorie sein wollen, wenn zugleich unterstellt wird, Gesellschaften entstünden durch diese Normen und entwickelten sich durch diese. Folgerichtig evoziert Honneth das Bild einer gerichteten Evolution der Gesellschaft, die durch den transzendentalen Mechanismus des moralischen „Kampfes um Anerkennung“ produziert wird.68 Das ist, wie schon in Luhmanns Behauptung, „Gesell67 Hegels Korrektur an Hobbes war, dass sich die Personen schon im Naturzustand anerkennen. Sie tun dasselbe wie bei Hobbes, nur ist die Erklärung „normativ gehaltvoller“. So bekommt der Staat noch eine weitere Stütze. Hegel geht es darum, sich versöhnt zu wissen – hier mit dem Staat. Es dürfte schwer fallen, damit eine Kritische Theorie oder gar eine „emanzipatorische“ Politik zu begründen. Eher ist Hegel als Religionsphilosoph zu deuten (2.6.4, Fn. 88). 68 Die Geschichte wird zu einer Geschichte von Normenauswicklungen: „in jeder [...] Epoche stocken sich die individuellen Vorgriffe auf erweiterte Anerkennungsverhältnisse erneut zu einem System [!] von normativen Ansprüchen auf, deren Abfolge die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt zu einer permanenten [d.h. bruchlosen] Anpassung an den Prozess der fortschreitenden Individuierung zwingt“ (1992, 135). Die „Basis“ ist „kommunikativ“ (44; cf. 1.3, Fn. 21). Honneth unterstellt unverblümt eine moralische Evolution der Gesellschaft, die insofern identitätsphilosophisch ist, als die

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schaft“ bestünde aus Kommunikation (2.5.6, Fn. 237), ein klassischer Erzeugungsidealismus. Er setzt als transzendentales Subjekt die Intersubjektivität, wie es schon Fichte und Hegel getan hatten. Honneth bleibt auf ihrer Linie, nur nennt er das Ganze – darin liegt der Unterschied zu Luhmann (2.5.6) – zusätzlich noch „normativ“.69 Marxens Kritik an Hegel trifft auch auf Honneth zu, ja sogar verstärkt, da selbst Hegel der Ökonomie noch mehr Raum beimaß und den Individuen nicht als Explanans eine übergroße Intentionalität unterstellte. Axel Honneths langjähriger Weggefährte Hans Joas (siehe Honneth/Joas 1980, 1986 und 1987) vollbrachte eine ähnliche theoretische Bewegung in etwas anderer Ausrichtung: ausgehend von den normativistischen Weichenstellungen von Habermas versuchte auch er, in der Berücksichtigung alternativer Theorieströmungen (etwa von G.H. Mead und James Dewey) die normativistische Position „gehaltvoller“ zu präsentieren. Ein Ergebnis dieser Bestrebung war ein Buch, welches sich mit der „Entstehung von Werten“ befasste (Joas 1997). Es beschreibt Theorien, in denen andere Autoren, von Nietzsche bis Charles Taylor, sich die Entstehung der normativen Wertvorstellungen der Menschen zu vergegenwärtigen versucht hatten. Joas wie Honneth legen auf die allen Vereinzelungen und formalen Vergesellschaftungen vorausliegende transzendentale „Intersubjektivität“ theoretisch großen Wert – trotz der Absetzung von Habermas (Honneth 1986, 144 ff.; Joas 1992, 171 ff.). Angesichts ihrer geraten reale Konflikte etwas aus dem Blick.70 Struktur der Sittlichkeit „in allen Fällen die gleiche“ (30) sei. Die normativen Begriffe und Prinzipien sind erkenntnisschwanger, weil sie selbst die Gesellschaft machen: Für Honneth werden „soziale Kämpfe“ durch Argumente geführt und entschieden (188). Dieser normative Vicoismus stammt von Habermas (cf. 2.6.4, Fn. 108). 69 Honneth kritisiert zwar Fichte und Hegel für ihre „Bewusstseinsphilosophie“, doch dies ist die einzige Kritik. Sie beruht auf der hermeneutischen Verengung, die Habermas vorgegeben hat (3.1.5, Fn. 90, Fn. 125). Luckner 1995 verortet Honneth (und Taylor) auf dem Level von Fichte und Hegel. In der Tat entwickelt sich alles aus einer „vorgängigen“ Sittlichkeit des Anerkanntseins, nur dass nicht der althegelianische „sittliche Staat“ alles lenkt, sondern eine zivile „Bürgergemeinschaft“. Auch die prinzipialistische Geschichtskonstruktion wird neu aufgefahren (unter signifikanter Benutzung Marx’scher Termini, Fn. 68). Selbst Joachim Ritter und MacPherson wussten noch mehr über die prominente Rolle der kapitalistischen Wirtschaftsweise im Herzen des modernen bürgerlichen Rechtes. 70 Etwa, wenn Honneth die Geschichte der sozialen Kämpfe hegelsch in die Selbstentfaltung moralischer Vorstellungen umschreibt (Fn. 68). Marx umschrieb das Verfahren, „das Schlechte auszumerzen und eine Kategorie als Gegengift gegen die andere zu verabreichen“, so: „es gibt keine Dialektik mehr, es gibt höchstens nur noch pure Moral“ (MEW 1, 125 ff.). Honneth 1988a will Sartres Negativität fortreflektieren, um die „Idee kommunikativer Freiheit“ (74) nicht zu gefährden: Sartre sei „nur deswegen zu einer negativistischen Konstruktion der menschlichen Interaktion gezwungen, weil er bereits in seinen Grundbegriffen die Möglichkeit persönlicher Identität ausschließt“ (80). Die Analyse bewegt sich auf rein begrifflicher Ebene und bleibt der Realität „menschlicher Interaktion“ seltsam äußerlich – grundlegende Negativität ist eines ihrer Grundmerkmale, sie bleibt auch in jeder noch so gelungenen Bewältigung in Kraft (Rentsch 2000, 11 ff., 109 ff.). Joas 1993, 43 ff. will den negativen As-

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Zwar kann man in der Genese des Selbstbewusstseins so erfreuliche und theorieimmanent wichtige Dinge wie eine Kreativität des Handelns (Joas 1996) oder „praktische Intersubjektivität“ (Joas 1980) aufspüren. Doch wäre es ein genetischer Fehlschluss (2.5.1, Fn. 14), wollte man hieraus aktuellen Konflikten ihre Schärfe nehmen. Die hohe Wertschätzung von Normen kann den Blick auf die mit ihnen konfligierende Realität, die eben nicht in „Normgenesen“ aufgeht, theoretisch leider auch verstellen (3.3). Dieses Kapitel 3.2 zu verschiedenen Theorien der Gerechtigkeit, die aus den USA kamen und besonders im ersten postmarxistischen Jahrzehnt die deutsche akademische Sozialtheorie beherrschten, konnte das Ergebnis von Kapitel 3.1 bestätigen: der übergroße Schwerpunkt, der hier auf normative Phänomene gelegt wurde, hat den Blick auf die realen Fundamente des Normativen vielfach verstellt und theoretische Betrachtungen darüber sogar weitgehend ersetzt. Besonders die Debatte zwischen dem Rawlschen theoretischen Liberalismus und dem eher hegelianischen Kommunitarismus wurde als eine innernormativistische deutlich, die über die realen Strukturen der sozialen Welt und damit über die Verortung des Normativen selbst nur wenig zu sagen hatte. Zugleich wurde deutlich, dass die Rolle der Theorie sich vom distanzierten „Erklären“ sozialer Prozesse auf ein Rechtfertigen ihrer Ergebnisse verlagert hat. Bevor wir die methodischen Wurzeln dieses „pragmatischen“ Philosophieverständnisses untersuchen (3.4), ist noch eine Disziplin zu betrachten, die eine Manifestation des Aufschwungs des Normativen in der Philosophie ist: die Wirtschaftsethik (3.3). An ihr lassen sich die gewonnenen Kritikpunkte erneut als relevant erweisen, da diese Disziplin verschiedene bislang untersuchte philosophische und protophilosophische Ansätze für ihre Zwecke nutzt. Welche Zwecke dies jenseits einer bloßen Anwendung ethischen Vokabulars sein können, zeigt erst der zweite Blick. Auch bei Autoren dieses Kapitels werden hehre Absichten durch begriffliche Weichenstellungen funktional ins Gegenteil verkehrt.

soziationen der „Gemeinschafsrhetorik“ damit einen Unbedenklichkeitsnachweis liefern, dass in Amerika vieles anders verlaufen sei (vielleicht daher die Vorliebe für US-Autoren, cf. 3.4). Joas 2000a verurteilte den damaligen Kosovokrieg in wünschenswerter Deutlichkeit. Doch aus seiner theoretischen Optik scheinen Kriege primär insofern interessant zu sein, als sie Menschen auf universale Werte hindrängen – also meist erst dann, wenn sie vorbei sind. Honneth 1992 unterläuft die Antinomie zwischen sozialen und politischen Rechten (3.1.5, Fn. 121), indem er darin nur eine „sukzessive Erweiterung“ sieht (189). Bismarck vergab Teilhaberechte eher anstelle von Teilnahmerechten, die dadurch sogar paternalistisch eingeschränkt wurden (Metzler 2003, cf. 2.4.1). Der Normativismus macht für die entscheidende RechtsAntinomie zwischen Freiheit und Gleichheit unempfindlich, da sich der Streit dieser Normen erst außerhalb der normativen Sphäre bemerkbar macht.

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3.3

Wirtschaftsethik: eine „normativ gehaltvolle“ Gesellschaftstheorie?

3.3.1 Hintergründe des Aufstiegs dieser Disziplin „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen.“ (Karl Homann) „[D]ie Bereicherung als solche als Selbstzweck der Produktion.“ (MEW 24, 63)

Schon in den 1980er Jahren war der Zug der „neuen sozialen Bewegungen“ nahezu gänzlich ohne den Marxismus abgefahren, was wohl an den erstarrten Strukturen der kommunistischen Parteien und dem ergebnisarmen, aber verbissenen Dogmatismus der Marxzirkel lag.1 Dieses Abrücken von Marx verstärkte sich nach 1989 noch erheblich. War es politisch befreiend, sich von den bevormundenden selbsternannten Avantgarden zu lösen (im Westen etwas früher als im Osten), so hinterließ der Marxismus im theoretischen Bereich doch eine Lücke. Auch wenn seine zahlreichen Spielarten intern gravierende Mängel aufwiesen (Kapitel 2), so war er doch die Instanz, die die tiefgehendste „Kapitalismuskritik“ geäußert hatte, wie meist zugestanden wurde. In der Friedens- über die Umweltbewegung bis zur Frauen- und Schwulenemanzipation wehrte man sich nun bewusst gegen Theoretisierungen und theoretisch verkleidete Bevormundungen, die die Vielfalt der Bewegung einengen würden; ein Zug, den noch heutige Globalisierungskritiker wie attac an den Tag legen. Aufgrund seiner internen Mängel hätte der damalige Marxismus eine solche theoretische Leitungsfunktion allerdings gar nicht erfüllen können, gelangte er doch selten, jedenfalls selten überzeugend, zu den geforderten „konkreten Analysen der konkreten Situation“ (Lenin). Doch an solchen hingen sich die neuen Bewegungen auf (NatoDoppelbeschluss, Startbahn West, Wackersdorf etc.). An die Stelle der fehlenden übergreifenden Theorie traten nun diverse andere Narrative: in der Umweltbewegung machten sich neben schlichter Empörung bald esoterische Tendenzen bemerkbar,2 die Friedensbewegung hatte etwa über die Kirchentage stets eine Nähe zur Religion,3 und in die sexuellen Befreiungsbewegungen konnte bald der poststrukturalistische Identitäts-Diskurs einfließen.4 1 Vgl. Thompson 1980, Habermas 1985a, Roth 1987; Haug 1982, Hirsch 1980, 1990. 2 Diese konnten seriöse Naturphilosophie sein (Jonas 1979, Meyer-Abich 1984, Schefold 1988, Hösle 1991), aber auch in versponnenen Romantizismus oder Nationalismus ausarten (Gruhl 1978, Bahro 1991, Geden 1996, Ditfurth 1997, Markovits 1997). Zu den Ursprüngen ökologischer Kapitalismuskritik Waibl 1989, 119-155. 3 Neben der marxistischen Friedensforschung (Senghaas 1979) etwa Weizsäcker 1977, Schulte 1987, Drewermann 1991. Auch die Psychologie wurde oft bedient, wohl nicht ganz ohne Berechtigung. Über die Ablösung nichtmarxistischer Strömungen aus dem Bewegungsmarxismus berichtet aus der Innerperspektive Koenen 2001. 4 Der Poststrukturalismus erlebte in Deutschland nur eine epigonale Rezeption, er war besonders in Frankreich und den USA populär. Dort sind Marx-Substitute deutlich erkennbar: Baudrillard, Lyotard und Foucault etwa entstammten direkt dem einen oder anderen Marxismus, dem sie sich dann zu entwinden trachteten. Sie fallen aus

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Keines dieser Narrative vermochte es aber, eine übergreifende Erklärung der gegenwärtigen Weltlage zu leisten, oder gar über sich und sein Verhältnis zur Gegenwart Rechenschaft abzulegen. So wurden die neuen Forderungen, philosophisch betrachtet, zu einem der Wirklichkeit fremd gegenüberstehenden Sollen.5 Diese Tendenz zur Moralisierung fand in der akademischen Welt zwar auch ihre Verächter, insgesamt aber erlebte die philosophische Ethik eine regelrechte Boomphase.6 Und so macht zugleich mit dem scheinbar endgültigen Wegfall des Marxismus eine Disziplin Karriere, die noch „die Ökonomie“ selbst in das Ethische zieht oder zumindest ethisch deutet: die Wirtschaftsethik.7 Zwar fanden die Vorbereitungen zu diesem Aufstieg bereits Mitte der 1980er Jahre statt, aber es ist doch zu beobachten, dass gegen 1989 eine regelrechte Flut von wirtschaftsethischen Publikationen losbricht.8 Ein Hintergrund dafür mag gewesen sein, dass es nach Öffnung der innerdeutschen Grenze eine Zeitlang so aussah, als sei die Zukunft der DDR noch offen, so dass von akademischer Seite Überzeugungsarbeit zur sozialen Marktwirtschaft vonnöten schien – traditionelle Wirtschaftsethik war ja wenig mehr als der Versuch einer philosophischen Legitimation der schon gefallenen ordnungspolitischen Grundentscheidung zur „sozialen Marktwirtschaft“, gegen den Sozialismus.9 Doch schnell wurde klar, dass sich mit der Wende auch im Westen einiges ändern würde, und so erwecken die diversen Wirtschaftsethiken der Nachwendezeit ex post eher den Eindruck, als

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unserem Themenbereich heraus, und wurden bereits eingehend kritisiert (Ferry 1987, Taureck 1988, Habermas 1985, Frank 1983, 1993, 119 ff.). Auch Derrida kommt kaum über Wortspiele zu Marx hinaus (1995, 2004, cf. Henning 20005c). Diese Tendenz hatte im marxistischen Lager ihre Vorläufer und Parallelen (2.1.4, 2.6.3). Die bürgerliche Soziologie war wesentlich moralistisch aufgebaut (2.4.3). Zudem war der herrschende Zeitgeist, das System Kohl (Friedbert Pflüger), gegenüber neuen Gedanken kaum durchlässig (Hess 1988). Zwar versuchten Gruppen wie die Kommunarden und alternativen Lebensgemeinschaften auf dem Lande, ihre Ideale zu leben; aber dies unter Abstraktion vom Rest der Welt. Die Filme Idioten und Zusammen behandeln diese Problematik treffend. Zum Ethikboom siehe Türcke 1989, Hösle 1991, Taureck 1992, Piper 1998, Thurnherr 2000. Verächter waren die Rechtshegelianer Marquard 1964, Ritter 1969, Gehlen 1973, Lübbe 1987, Luhmann 1978 und 1989. Etwa bei Ulrich 2001 wird „die Ökonomik [...] nicht mit der, sondern in die Ethik integriert“ (Korff 1999 I, 871). Auch Koslowski 1988 gliedert die Wirtschaftsethik in eine übergreifende „ethische Ökonomie“ ein (s.o., Kapitel 3.3.4). Nach Koslowski 1982, Sen 1987 und Rich 1987 vgl. etwa Enderle 1988, Hesse 1988, Koslowski 1988; Molitor 1989, Pappi 1989, Waibl 1989; Rich 1990, Schauenberg 1990, Ulrich 1990; EKD 1991, Hengsbach 1991, Steinmann 1991; Furger 1992, Homann 1992, 1992a, Rich 1992, Spiegel 1992, Enderle 1993, Wieland 1993 etc. Nach einer Tagung in St. Gallen 1985 war 1986 eine Arbeitsgruppe und 1989 im „Verein für Sozialpolitik“ ein ständiger Ausschuss „Wirtschaftswissenschaft und Ethik“ gebildet worden. Mittlerweile gibt es mehrere Lehrstühle für Wirtschaftsethik und ein „Deutsches Netzwerk Wirtschaftsethik“ (vgl. die Zeitschrift Forum Wirtschaftethik). Cf. Müller-Armack 1946, Eucken 1952, Heimann 1955, Erhard 1957, Grosser 1988, Rich 1990, Zinn 1992.

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sollte hier der Geist der alten Bundesrepublik noch einmal festgehalten, ja beschworen werden (als Nachhut vgl. Merkel 2000, cf. Reuter 2001). Als diese Grundentscheidung auch für die Beitrittsgebiete gefällt war, wurde der politische Streit zwischen übereifrigen Apologeten dieser Ordnung und denen, die aufgrund sich häufender Missstände10 eine kritischere Sicht darauf entwickelten, verstärkt im Medium der nun etablierten Wirtschaftsethik ausgetragen; allerdings ohne dabei zu einer so grundlegenden Kapitalismuskritik zu gelangen, wie sie in den 1970er Jahren verbreitet war. Die Popularität dieser Disziplin erreichte schließlich in einer 3000-seitigen Summa (Korff 1999) ihren Abschluss. Inzwischen ist in Form der Globalisierungskritik die Kapitalismuskritik wiedergekehrt. Noch in dieser lebt die Wirtschaftsethik fort: auch hier wird bislang eher ethisch argumentiert, und es gibt eine gewisse Theorieabstinenz (3.3.5). Die kurze Blüte der Wirtschaftsethik soll nun weniger in ihren zuweilen verdienstvollen Einzelheiten als in ihren argumentativen Weichenstellungen verfolgt werden, denn diese sind symptomatisch. Warum besinnt sich erst die außerakademische Globalisierungskritik wieder auf Marx? Wie ist das Phänomen der inflationären Wirtschaftsethiken aus einer Marx nicht ignorierenden Sicht einzuordnen? Die effektvoll aussehenden Argumente der Wirtschaftsethik sind ja keineswegs neu (3.2.3), sondern entstammen in ihrer Substanz Diskussionskontexten, die in der historischen Betrachtung der Reaktionen auf Marx schon begegnet sind; hauptsächlich denen der Religion und Theologie (2.6), der neoklassischen Ökonomie (2.3) und des Historismus (2.5). Allerdings sind diese zum Teil miteinander unverträglich: Schnell machte sich in der Wirtschaftsethik eine Aporie bemerkbar zwischen einer theologisierendabstrakten Kritik „der Wirtschaft“ (3.3.2) und ihrer betriebswirtschaftsblind vorlaufenden Apologie (3.3.3). Ein dritter, hegelianischer Weg betrachtete den „Begriff“ ethischen Wirtschaftens zwar als wirklich, aber noch nicht ganz realisiert (3.3.5). Doch eine „Integration“ von Weltferne und Affirmation führt über keines von beiden hinaus, sondern birgt noch den zusätzlichen Nachteil, dass die Wirtschaftsethiker nun selbst nicht mehr wissen, was sie eigentlich sagen: Die Rede von der „Ökonomie“ und gegebenenfalls der „Kritik“ an ihr lässt unklar, ob von der Wirtschaft oder von ihrer Theorie die Rede ist. Hinsichtlich der Stoßrichtung einer Kritik ist das allerdings ein gravierender Unterschied. Er wird jedoch gar nicht erst als Problem angesehen. Zur Unklarheit in inhaltlicher gesellt sich so eine in methodischer Hinsicht. In dieser Verlegenheit befinden sich die meisten der deutschsprachigen Wirtschaftsethiken, am stärksten in der historistischen Variante (3.3.4). Die folgende nähere Betrachtung soll zeigen, ob die Anreicherung der normativen Gehalte eine bessere Gesellschaftstheorie ergibt. 10 Wachsende Arbeitslosigkeit, Armut, Sozialabbau, Fremdenfeindlichkeit; wachsende Staatsverschuldung, nationale und internationale Vertiefung der Ungleichheit, Zerstörung der Umwelt, das Wiederaufleben von Kriegen und nationalem wie religiösen Fanatismus (vgl. Kapitel 1.2).

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3.3.2 Theologische Wirtschaftsethik Frühe wirtschaftsethische Publikationen im präskriptiven Sinn hatten in Deutschland einen religiösen Hintergrund. Hier hatte man sich recht offen mit der Sozialdemokratie auseinandergesetzt und ging mitunter sogar so weit, den „Sozialismus“ zu bejahen, allerdings meist ohne Marx’sche Theoreme zu übernehmen (2.6.6).11 Erklärbar ist dies mit der Äquidistanz der christlichen Religion, die der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund des „eschatologischen Vorbehalts“ ebenso reserviert gegenüberstehen sollte wie das Proletariat es lange Zeit tat. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mat 6, 24). Die sozialrevolutionären Implikationen weiter Teile der Bibel lassen sich nur mit großer hermeneutischer Mühe in eine marktapologetische Sicht einbinden – ein Problem, welches aufgrund seines Schriftprinzips (sola scriptura) besonders den Protestantismus betraf. Die zentrale Forderung nach tätiger Nächstenliebe (3. Mos 19, 18; Mat 5, 44; Röm 13, 8) verpflichtete in der Bundesrepublik aber auch Katholiken auf eine umverteilende Gemeinwohlorientierung (Uertz 1981). Zwar hat sich diese Annäherung auf den Großteil der Arbeiterbewegung eher mäßigend ausgewirkt – was zur Verdammung seitens der Marxisten führte. Doch ist nach 1989 eine gegenläufige „Dialektik der Mäßigung“ zu beobachten: schwindet von zwei Polen (a, c), zwischen denen eine Vermittlung (b) angestrebt war, der eine (a) gänzlich, so kann das Vermittelnde (b) inzwischen so viel von jenem (a) aufgenommen haben, dass es, wenn auch gemäßigt, gegenüber dem verbliebenen Extrem (c) nun zu seinem (a’s) Platzhalter wird. Dies ist nicht nur dort der Fall, wo nach dem Verschwinden oder der Niederschlagung sozialistischer Bestrebungen ähnliche Forderungen nun im Namen der katholischen Soziallehre erhoben werden, wie jüngst in Argentinien, sondern auch in der deutschen Wirtschaftsethik. Wie ein Wärmespeicher wurde die Theologie, als den gesellschaftlich und ökonomisch Benachteiligten die Fürsprecher ausblieben, zum funktionalen Äquivalent der Kapitalismuskritik, die sie einst zu „widerlegen“ versucht hatte. Die zentralen Anstöße zur Belebung der Wirtschaftsethik um 1989 entstammen daher dem Kontext der theologischen Sozialethik.12 Die theologische Ethik hatte nur geringe Berührungsängste mit Marx, auch wenn er meist nur als moralistischer „Entfremdungstheoretiker“ in Erscheinung trat.13 Allerdings gab es hierbei das Problem der Unschärfe. Die ethischen Impe11 Cf. Scheler 1919, Wünsch 1927 und Heimann 1931. Heimann 1929 „musste sich [...] der Marx’schen Sichtweise bedienen, auch wenn Marx’sche oder marxistische Einzeltheorien abgelehnt wurden“ (308). 12 Siehe außerdem Rich 1987/1990, EKD 1991, Hengsbach 1991, Herms 1991, Furger 1992, Spiegel 1992, Duchrow 1994, Utz 1994, Erfurt 1997, Schramm 1997. 13 Vgl. bereits Rich 1951, 1962, Duchrow 1969. Duchrow 1994 bezieht sich auf Altvater, Kurz und darüber auf Marx (30 ff.). Spiegel nennt einige Marx’sche Argumente (1992, 177 u.ö.). Hengsbach, Lehrstuhlnachfolger Nell-Breunings, anerkennt die zivilisierende Wirkung, die die Arbeiterbewegung gehabt, wenn auch nicht intendiert habe: „Auf längere Sicht muss man anerkennen, dass die alten und neuen sozialen

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rative, die aus der Religion gewonnen werden, können zwar auf die Gegenwart appliziert werden, aber diese Applikation wirkt den gegenwärtigen Verhältnissen gegenüber oft seltsam äußerlich. Um die gewonnenen Imperative auf den Gegenstand anwenden zu können, müsste dieser zunächst hinreichend erschlossen werden. Durch ihre scheinbare ethische Überlegenheit droht sich eine priesterlich einherschreitende Ethik aber einer genaueren Zurkenntnisnahme des zu beurteilenden Gegenstandes überhoben zu dünken. So wird die Abstraktheit des Applicandums („Ethik“) durch die Unbestimmtheit des Applicans („Wirtschaft“) noch verschärft. Eine Applikation erzeugt nicht selbst ihr Applicans, sondern muss dieses als gegeben hinnehmen (3.2.2). Eine Ethik mag noch so gut sein, sie kann dennoch ihren Gegenstand fehlbestimmen – ein Problem, was aus der Genethik und anderen Anwendungsfällen bekannt ist. Dass die theologischen Wirtschaftsethiker meist keine Fachökonomen sind, muss noch kein Nachteil sein, sind doch die Fachökonomen aufgrund des neoklassischen Paradigmas selbst betriebsblind geworden (siehe 2.3.1). Durch ihre geringeren Berührungsängste mit dem Kapitalismuskritiker Marx hat die christliche Wirtschaftsethik nun die Chance, den Kapitalismus besser zu bestimmen als die Fachökonomie. Doch wie geht sie mit ihm um? „Wir nennen gewöhnlich den Ökonomen, der das Eigentumsrecht an Kapital vertritt, einen Kapitalisten. Diese Benennung wird von idealistisch orientierten Moralpredigern benützt, um einen gierigen Gewinnhasardeur zu kennzeichnen. Der Finalethiker dagegen beginnt bei der Erfahrung und sucht nach der ursprünglichen Definition und zwar für den Status, in dem noch von keiner Eigentumsordnung gesprochen werden kann. Das ist ein zwar empirisch gewonnener, aber doch abstrakter Begriff: Mittel der Steigerung der Arbeitsproduktivität im Hinblick auf die Bedarfsdeckung des Menschen“ (Utz 1994, 6).

Bestimmungen wie diese hinterlassen ein Staunen, welches bekanntlich der Beginn philosophischen Nachdenkens ist. Denn hier liegt gleich eine Fülle von Ungereimtheiten vor. Analysieren wir diese Stelle einmal etwas genauer: „Wir nennen gewöhnlich den Ökonomen, der das Eigentumsrecht an Kapital vertritt, einen Kapitalisten.“ Die übliche Redeweise meint mit „Kapitalist“ nicht den Ökonomen, sondern den Eigentümer des Kapitals. Hier zeigt sich eine Vermengung von Theorie und Wirklichkeit. Bewegungen den Kapitalismus in Europa gezähmt, vielleicht gar umgebogen haben“ (1992, 80). Schon der Terminus „Kapitalismus“ signalisiert, dass es weniger Berührungsängste mit Marx gibt als bei den Fachökonomen, die eher von „Marktwirtschaft“ reden: von Markt oder Marktwirtschaft sprechen im Titel wirtschaftsethisch Kapp 1963, Rich 1990, Koslowski 1991, Forum für Philosophie 1994, Thielemann 1997 sowie globalisierungskritisch Saul 1997 und Klein 2001 – das ist ein Theologe neben sechs Nichttheologen; von Kapital oder Kapitalismus sprechen Waibl 1989, Furger 1992, Duchrow 1994, Jacob 1996 und Walk 2002 – drei Theologen neben zwei Nichttheologen. Sogar die Wirtschaft benutzt dieses Wort (Breuer 1999), nur die apologetische Theorie scheut ihn. Koslowski 1988 titelt „Kapitalismus“ und spricht im Buch vom „Markt“. Unentschieden bleibt die abstrakte Rede von „Wirtschaft“ und „Ökonomie“ (Horn 1996, Karmasin 1996, Ulrich 2001).

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„Diese Benennung wird von idealistisch orientierten Moralpredigern benützt, um einen gierigen Gewinnhasardeur zu kennzeichnen.“ Marx, der harsche Kritiker von Idealismus und Moral, der zweifelsohne angepeilt ist, wird hier selbst zu einem Moralprediger, noch dazu einem idealistischen. Zu dieser Fehlwahrnehmung führt allein die eigene Vergeistigung der Phänomene, die nur noch „Geist vom eigenen Geiste“ wahrnimmt (2.5.2, 3.4.3). Wie schon ein flüchtiger Blick ins Kapital zeigt, wollte Marx keineswegs auf Grundlage einer Anthropologie („Habsucht“, Kant 1800, 605 ff.) Einzelne anklagen.14 „Der Finalethiker dagegen beginnt bei der Erfahrung und sucht nach der ursprünglichen Definition, und zwar für den Status, in dem noch von keiner Eigentumsordnung gesprochen werden kann. Das ist ein zwar empirisch gewonnener, aber doch abstrakter Begriff.“ Eine Berufung auf Empirie und Erfahrung ist immer löblich. Doch „ursprüngliche Definitionen“ sind in der Erfahrung nicht gegeben – genau dieses Problem hat bei Kant die moderne Philosophie allererst hervorgerufen. Utz geht nun weniger von dieser als vielmehr von einer Teleologie aus: Der „Finalethiker“ weiß schon a priori, was „gut“ ist und muss daher Mittel und Zweck, Gesinnung und Folge nicht mehr unterscheiden. Zugrunde liegt hier gerade keine Erfahrung, sondern nur eine theologische „Denkerfahrung“. Der finalethisch vorgegebene „abstrakte Begriff“ wird keineswegs „empirisch gewonnen“, denn hier wird von der geschichtlichen Realität gerade abgesehen. Irgendeine „Eigentumsordnung“ gibt es schließlich immer, das „Kapitalverhältnis“ (MEW 23, 417 u.ö.) ist ja selbst eine historische Eigentumsordnung. Wie will man von ihr etwas ausmachen, indem man sich in einen „Urzustand“ hinein imaginiert und noch von dem Gesuchten selbst abstrahiert? Obwohl er sich jenseits jeder Eigentumsordnung wähnt, weiß Utz schon im nächsten Satz jedoch recht präzise Angaben über das Kapital zu machen: es sei ein „Mittel der Steigerung der Arbeitsproduktivität im Hinblick auf die Bedarfsdeckung des Menschen.“ Der Finalethiker findet auf diesem abstrakt-empirischen Weg „die ursprüngliche Definition“ von Kapital, die er zuvor selbst versteckt hat. Die Ethisierung des Kapitals wird vollbracht, indem eine seiner Funktionen (sofern es in neue Technologien investiert wird, steigert es die Produktivität) isoliert und zum alleinigen Zweck erklärt wird. Dieser entspricht dem ebenso finalethisch gesetzten Wirtschaftsziel „Bedarfsdeckung“ (1994, 6) perfekt. Von der Kapitalismuskritik bleibt nichts übrig. Utz polemisiert sogar gegen das Stillhalten einer kirchlichen Denkschrift (EKD 1991) gegenüber den Gewerkschaften: „Eigenartigerweise kritisiert die Denkschrift die Politik des Deutschen Gewerkschaftsbundes nicht“ (Utz 1994, 47). „Ist eine der Ursachen der Fehlentwicklung nicht auch darin zu sehen, dass die Haushalte zuviel Geld in der Hand haben? Ohne Rücksicht auf die wirt14 Marx erläutert dort schon im Vorwort [!]: „es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt [...] den Einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt“ (MEW 23, 16; „Charaktermaske“, a.O. 100; cf. Gamm 2001, 52 ff.).

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schaftliche und soziale Gesamtentwicklung werden die Löhne hochgetrieben“ (158); durch „äußeren Druck, vor allem von Seiten der Gewerkschaften“ (144). „Vor allem der Streik von Angestellten des öffentlichen Dienstes zielt darauf ab, die friedliebenden Bürger zu quälen“ (223).

Der theologische Wirtschaftsethiker Utz vertritt damit offen eine neoliberale Position.15 Auch kritischere theologische Wirtschaftsethiker werden durch theoretische Unachtsamkeiten in Positionen gedrängt, die ihren Intentionen schnurstracks zuwiderlaufen. So führt schon der Grundbegriff der religiös inspirierten Wirtschaftsethik, die „Lebensdienlichkeit“, in ein folgenreiches Dilemma: entweder nämlich wird der Begriff als faktischer Zweck des Wirtschaftens behauptet, wie dies in der Neoklassik mit der „Bedarfsdeckung“ der Fall ist. Dann mündet eine solche Wirtschaftsethik zwangsläufig in Apologie: wie auch sollte eine per Definition dem Leben dienende Wirtschaft diesem zugleich schaden können?16 Oder aber der Begriff wird als eine kontrafaktische „normative Vorgabe“ (Rich) gelesen – dann ist nicht zu sehen, wie eine solche Wirtschaftsethik über fromme Forderungen hinauskommen sollte.17 Diese können von fachökonomischen Ökonomen doppelsinnig als „jenseitig“ abgewiesen werden.18 15 Sie kulminiert in dem Patentrezept: „Bescheiden leben, fleißig arbeiten und sparen“ (Utz 1994, 160). Da die Moraltheologie dass schon „in allen Jahrhunderten“ wusste (160), kann Utz die Gegenwart schlicht übergehen. 16 „Die Dienlichkeit, die Lebensdienlichkeit, ist der primär gottgewollte Zweck der Wirtschaft“ (E. Brunner 1932, 387; Ulrich 2000, 204; Rich 1990, 23, 140). Von einer Bedarfsdeckung als Ziel ‘der’ Wirtschaft gehen wie selbstverständlich aus: Molitor 1989, 36; Utz 1994, 6; Horn 1996, 24; Wieland 1996, 54 („Bedürfnisbefriedigung“/„Allokation knapper Mittel“); Korff 1999 I, 30; Reuter 2000, 342; Ulrich 2001, 11. Eine neoklassische Begriffsdefinition (siehe das Motto zu 2.3) wird kurzschlüssig als Beschreibung der Wirklichkeit genommen – eine Springquelle des Idealismus. Diese Definition ist völlig unspezifiziert: ist sie deskriptiv oder normativ? Wie wird sie gewonnen? Trägt sie einen historischen Index? Einen solchen hatte Marx speziell für die kapitalistische Wirtschaftsweise geliefert: hier gilt „die Bereicherung als solche als Selbstzweck der Produktion“ (MEW 24, 63), also gerade nicht die Befriedigung ‚der’ Bedürfnisse (vgl. Kapitel 2.3.1). Kriterium für die Wahl der Definition sollte sein, mit welcher Definition sich mehr erklären lässt. 17 Wenn Rich (1987, 173) die „Mitmenschlichkeit, Mitgeschöpflichkeit, Partizipation“ als „normative Vorgaben“ aufruft, bleibt unklar, was das heißen soll und wie es umzusetzen wäre. Dasselbe gilt für die „wirtschaftsethischen Leitthesen“ von Spiegel 1992 (Befriedigung der Grundbedürfnisse, Umverteilung, Gesundsein, Recht auf Arbeit, Humanisierung der Arbeit, Partizipation und Kontrolle, Erhalt der natürlichen Ressourcen und der Umwelt, Begrenzung des Wachstums, Ende der Verschwendung, Einhaltung eines menschlichen Maßes) und Hengsbach 1991 (Gleichstellung der Frau, humane Arbeitsgestaltung, ökosozialer Umbau der Gesellschaft, weltweite Gerechtigkeit; Leben, Würde, Beteiligung). Was ist damit gesagt, wenn es nicht Forderungskataloge sind, die der Wirklichkeit unvermittelt gegenüberstehen? 18 Dabei weist man sich die „Jenseitigkeit“ gegenseitig zu: Homann (1994, 11) wirft – in Anschuldigungen nicht sparsam – Kant, H. Jonas, Ulrich, Steinmann, Honneth und Kambartel einen „ethischen Imperialismus“ vor, welcher „abstrakt“ und „unfruchtbar“ bleibe. Ulrich (2001, 102 f.) gibt diesen Vorwurf an Steinmann und insbe-

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Mit Bedacht hatte Georg Wünsch einst wegen dieser Weltfremdheit theologischer Ethik auf einer anspruchsvolleren Vermittlung – und das heißt zunächst: Unterscheidung – von ökonomischer und theologischer Logik bestanden.19 Eine voreilige Vermischung der Perspektiven macht sich auch bei Ulrich Duchrow (1994) bemerkbar. Er bestimmt den Kapitalismus in kritischer Absicht, aber aus zweiter Hand, und kommt so zu einer fatalen Entgegensetzung von „Geld“ und „Leben“. Kommentieren wir einen Abschnitt (Duchrow 1994, 28): „Der entscheidende Punkt des Übergangs zur Marktwirtschaft des Industriekapitalismus war, dass [...] nicht nur Güter, sondern auch Arbeit, Boden und Geld [...] zu Waren wurden“. Hier werden konträre Theoriestränge vermengt: die Begriffe „Marktwirtschaft“ und „Güter“ entstammen der Neoklassik, die Begriffe Ware und Industriekapitalismus dem Marxismus. Sie laufen einander zuwider und lassen sich nicht ungestraft aneinanderreihen (2.3.3). Wie man sieht: „Das ist aber eine ungeheure Abstraktion oder Fiktion. Denn offensichtlich sind Arbeit, Boden und Geld konkret gesehen keine Waren, d.h. zum Kauf oder Verkauf produziert“ (1994, 28). Duchrow möchte seinen kritischen Impetus konkretisieren. Doch durch sein „konkretes Sehen“ übergeht er, dass diese Dinge im Kapitalismus durchaus zu Waren werden. Was er sagen will ist wohl, dass sie nicht aus zeitlos-notwendigem Zwang Waren sein müssen. Es gab Epochen, in denen es nicht so war, und es könnte erstrebenswert sein, so etwas neu anzustreben. „Konkret gesehen“ ist es aber derzeit so, dass der Arbeiter seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkauft, dass man Geld auf dem Geldmarkt und Boden auf dem Grundstücksmarkt handelt: die Preise dieser Waren bezeichnet Marx als Lohn, Rente und Zins. Es ist schlicht falsch zu sagen, dass Güter hier nicht für den Verkauf produziert würden. Durch eine methodische Unachtsamkeit wird der Kapitalismus zur Fiktion, zu einem geistigen Phänomen herabgesetzt. In letzter Konsequenz hieße dies, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt (Duchrow 1994, 28): „Das verweist auf das grundlegende Problem der kapitalistischen Marktwirtschaft [sic!]: sie ist zutiefst abstrakt, sie geht nicht vom konkreten Leben aus, sondern sie stülpt dem konkreten Leben das eiserne Gesetz des Geldvermehrungsmechanismus über“. Anders als Marx, der gerade auf dem Markt Naturkräfte wirken sah, setzt Duchrow das „Leben“ dem „Geld“ abstrakt entgegen. Wie es zu dem gegennatürlichen Kapitalismus kommen konnte, wird ebenso rätselhaft wie schon seine fiktionalisierte Existenz. Zudem liefert sich Duchrow der Gefahr einer sozialdarwinistischen Glorifizierung des Lebens aus. Dies wird manifest, wo er sich affirmativ auf den völkischen Kaufmann und Literaten Silvio Gesell bezieht (38, 248): dieser hatte im Interesse der „Hochzucht“ der sondere Koslowski weiter, welcher ihn wohl seinerseits zurückweisen würde (immerhin ist seine „Ethik des Kapitalismus“ eine naturrechtliche, das Sollen liegt bei ihm also „in der Natur der Sache“). Die kreisrunde Weitergabe widerlegt den Vorwurf aber keineswegs – er bleibt bei allen Genannten berechtigt. 19 Die „Eigengesetzlichkeit des Wirtschaftens“ dürfe „nicht mit den Maßstäben der christlichen Ethik gemessen werden [...], da man sonst beide verderbe“ (Wünsch 1932, Sp. 1969; cf. 2.6.6). Auch der Klassiker der modernen Ethik hat religiöse Begründungen abgelehnt, da ihre Reichweite stets partikular sei (H. Jonas 1979, 99).

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menschlichen Rasse eine Weltsicht entworfen, in welcher der Zins alles beherrscht. Er müsse lediglich abgeschafft werden, um wieder einen „naturgemäßen“ Konkurrenzkampf zwischen den Kapitalisten zu gewährleisten. Diese Position war in sich unstimmig und politisch hochgradig anfällig. Dass die Nationalsozialisten so viel von dem Denken der „Freilandbewegung“ übernehmen konnten (etwa die „Brechung der Zinsknechtschaft“), mag von diesem nicht beabsichtigt gewesen sein, ist aber konsequent.20 Obwohl sich Duchrow kritisch zur „Marktwirtschaft“ verhalten will, wird er durch Defizite in der Durchdringung des Stoffes in fragwürdige Ecken gedrängt. Die Beispiele zeigen: Der Bezug auf Marx ist in der theologischen Wirtschaftsethik missglückt. Es bleibt bei der Anwendung neoklassischer Theoreme, zu denen auch die keynesianischen zu rechnen sind (neben Utz und Duchrow auch bei Rich 1990, Hengsbach 1991, Furger 1992 und Schramm 1996). Diese Schriften führen wieder in das marktapologetische Lager. Sie unterscheiden sich nur durch das Maß an Interventionen, den sie zum gegebenen Zeitpunkt für zulässig halten. Nicht nur, dass diese Ethik über Andeutungen nicht hinauskommt und in der Praxis äußerst dehnbar ist,21 auch dass sie ausgerechnet im Zeitalter der Globalisierung mehr staatliche Sicherungen eingeführt wissen will, zeigt ihren „abgeschiednen Geist“. Sie fasst nicht ihre Zeit in Begriffe, sondern die Ideale der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wird die hier praktizierte Vergeistigung des Phänomens kritisch, führt sie dahin, Kapitalismus als Religion zu deuten. 20 Der Gedanke geht auf die Sozialreform zurück, in der John Ruskin u.a. „das Leben“ gegen die negativen Folgen des Kapitalismus ausspielten. Er konnte so leicht sozialdarwinistisch gelesen werden (zu Gesell vgl. Senft 1990, Bartsch 1994, Ditfurth 1994, Geden 1996, 152-167). „Marktwirtschaft ohne Kapital“ ist in der Moderne ein Widerspruch: Waren, die auf dem Markt getauscht werden, müssen irgendwo produziert werden. Werden sie kapitalistisch, also unter Konkurrenz produziert, wird dafür Kapital benötigt, und zwar immer mehr, je billiger produziert werden muss. „Naturwüchsig“ entsteht so eine steigende Geldnachfrage, die natürlich über den Geldhandel abgedeckt wird. In einer „Marktwirtschaft“ lassen sich also weder das Kapital noch der Zins abschaffen. Dieser Vorstellung liegt eine verkürzte Teilnehmerperspektive zugrunde: der Kleinhändler leidet unter mangelnder Nachfrage. Seine Fragestellung beschränkt sich darauf, wie die Menschen mehr Geld (bei ihm) ausgeben könnten: Man denke sich zu einem gegebenen Zeitpunkt einen Faktor weg (etwa den Zins, so Gesell 1916, oder das Geld, so Proudhon), und die gegebenen Waren scheinen sich einmalig günstiger tauschen lassen (für eine Seite). Dabei bleibt offen, wie es zu den Waren gekommen ist, wie sie und die sie tauschenden Menschen sich reproduzieren und welche Rolle Geld und Zins über den einfachen Tausch hinaus spielen. Marx hat diese „Philisterutopie“ eingehend kritisiert (MEW 4, 98 ff.; MEW 42, 87 ff.; MEW 13, 69; MEW 23, 82 f., 99 f. Nach Rakovitz 2000, 77 ff. bestimmt diese Thematik den Aufbau der Grundrisse, MEW 42). Heutige Aufgüsse dieses Gedankens wollen mit Zins und Zinseszins materielle Ungleichheiten zwischen „Geldbesitzern“ und Normalmenschen erklären (Creutz 1983, Kennedy 1991, www.systemfehler.de). Dies übersieht, dass die größten Zinszahler Unternehmen sind, die folglich auf anderem Wege reich werden. Nach Marx ist der Zins ein Anteil des Profites, keinesfalls dessen Ursache (MEW 25, 350 ff.; 2.3.5). 21 Cf. 3.2.2, Fn. 28. Neoliberale wie Buchanan 1962 wollen einen „Minimalstaat“.

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Marx’ Weg von der Religionskritik zur Kritik der politischen Ökonomie wird wieder umgedreht (2.6.3; cf. Wagner 1985, Jacob 1996, Binswanger 1998). Zwar sah Marx, dass der Kapitalismus religiöse Züge trägt, doch nahm er diese Züge nicht als Explanans, sondern als Explanandum. Sich auf die Oberflächenstruktur einer „Religion“ zu beschränken, ja diese als „Grund“ für die materiellen Strukturen zu betrachten, galt ihm als Mystizismus. So kommen etwa dem Geld als Ding Eigenschaften zu, die nicht mehr verstehbar sind.22 Eine Religionskritik kann zwar ethisch die Macht des Geldes beklagen, aber theoretisch affirmiert sie diese Sicht so gerade. Die Eigenschaften, die die Theologen am Geld kritisieren, legen sie ihm erst selbst bei (Delektat 1953, Hörisch 1983, Türcke 1983, Wagner 1985). Ein so verstandenes Geld karikiert die Paradoxie des Christentums: ein malum wird beklagt und zugleich für notwendig erklärt; credo quia absurdum.23 Die theologische Wirtschaftsethik wurde zwar ein Platzhalter der Kapitalismuskritik, doch aufgrund ihrer Fehlbestimmungen des Objekts Wirtschaft und der Vergeistigung seiner Merkmale bis hin zur Theologisierung wurde sie zerrissen zwischen einem äußerlich bleibenden Moralismus in der „Ethik“ und einer unfreiwilligen Apologie in der Theorie der „Wirtschaft“. Zwischen ihnen oszilliert sie unentschieden. Die theologische Wirtschaftsethik hat zwar wichtige Fragen aufgeworfen, muss aber zur Beantwortung derselben verlassen werden.

22 „Der Standpunkt, auf dem man sich mit solchen Geistergeschichten begnügt, ist selbst ein religiöser, weil man [...] die Religion als causa sui auffasst [...], statt [...] nachzuweisen, wie bestimmte industrielle und Verkehrsverhältnisse notwendig mit einer bestimmten Gesellschaftsform, damit einer bestimmten Staatsform, und damit einer bestimmten Form des religiösen Bewusstseins verbunden sind“ (MEW 3, 137). Daran hielt er fest: „Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode“ (MEW 23, 393, vgl. 2.6). Den Theologoumena bei Marx und Engels kommt keinerlei Erklärungsoder gar Begründungsfunktion zu; sie sind – wie die „Dialektik“ – als dramaturgische Darstellungsmethode und heuristische Metaphorik zu interpretieren (Buchbinder 1976, cf. 2.5.7, 2.6.4). 23 Als felix culpa gelten sonst der Sündenfall und der Tod Christi (cf. MEW 40, 446, 562 ff.). Anlässlich der defizitären „modernen Ökonomie“ (MEW 23, 97) sagte Marx: „Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten [...] ist das Christentum [...] die entsprechende Religionsform“ (93). Die Vorstellung vom Kapital als dem Absoluten, „größer als er selbst“ (170), dem „automatischen Subjekt“ (169), vertritt nicht Marx, sondern er kritisiert dies als „Fetischismus“. Die Vergleiche des ISF 2000 führen in die Irre: „Man hat auf seine theologisierende Metaphorik [...] zu achten, um zu erkennen, worin die skandalöse Spitze und der denunziative Nerv der Kritik der politischen Ökonomie besteht: In nichts anderem als darin, dass, was Jahrhunderte sich unter ‚Gott‘ nur im Ungefähren vorzustellen vermochten, in Begriff und Sache des Kapitals zum Bewegungsgesetz der Wirklichkeit geworden ist – zum ‚automatischen Subjekt‘. Diese leichthin gebrauchte Floskel [...] ist an sich und objektiv unverständlich, ist so objektiv arational, wie es sich für eine ‚verrückte Form‘ gehört“ (21). Der Fetisch wird hier affirmiert (cf. 2.6.4, Fn. 103; Rakowitz 2001).

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3.3.3 Betriebswirtschaftliche Wirtschaftsethik „Die Moral der Nationalökonomie ist der Erwerb.“ (MEW 42, 551)

Die traditionelle Vertreterin des Faches konnte sich so berufen fühlen, die Initiative zu übernehmen, und eine sachgemäßere Wirtschaftsethik zu vertreten. Molitor 1989 etwa tritt mit dem Gestus auf, erst einmal die „Grundtatsachen“ des Wirtschaftens klarzustellen, bevor über etwas Ethisches überhaupt gesprochen werden könne („Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, so Brecht in der Dreigroschenoper). Dabei wird die traditionelle „Wirtschaftsethik“ fortgesetzt, die eine Ordnungshypothese zur Legitimierung der marktwirtschaftlichen Institutionen war: ausgehend von neoklassischen Basisannahmen (den „Grundtatsachen“, dass das Ziel der Wirtschaft Bedürfnisbefriedigung und ihre Grundkraft der Tausch sei) ging es darum, im Systemwettstreit nach außen die Marktwirtschaft zu legitimieren, nach innen die Interventionen klein zu halten (Fn. 9). Die Marktwirtschaft sei nicht nur das effizientere Modell, sondern räume den Menschen auch mehr Freiheit ein. Zu den klassischen Argumenten, die seit Locke prominent von Hayek, Friedman und Walter Eucken vertreten wurden,24 kommen in der neueren Wirtschaftsethik ökonomische Erwägungen hinzu, denen eine zusätzliche Moralität zugeschrieben wird (Molitor 1989, 73): „Es ist [...] nicht allein der Freiheitsgrad und die Kapazität zur Produktivitätssteigerung, die die Marktwirtschaft auszeichnen. Dieser Ordnungstyp hat seinen moralischen Charakter darin, dass er dem Konsumenteninteresse den Vorzug einräumt und selbsttätig dafür sorgt, dass Produktivitätssteigerungen an den Haushalt weitergegeben werden.“

Dieses Argument ist keineswegs gegen eine reine Effizienzbetrachtung gerichtet. Produktivitätssteigerungen führen dazu, dass mit demselben Ausgangswert an Produktionsmitteln mehr produziert werden kann, sich die Gewinnspanne also erhöht. Dieser zusätzliche Gewinn könnte nun dadurch an die „Konsumenten“ weitergegeben werden, dass auch deren Löhne stiegen. Das reduzierte zwar Moralität auf Effizienz – denn eine Umlegung der Produktivitätssteigerung auf den Konsum ist an sich nicht „moralischer“ als die Produktivitätssteigerung selbst – , doch immerhin könnte man von einer „gerechten“ Verteilung des zusätzlichen Gewinnes auf Unternehmer und Arbeiter sprechen. Aber das ist bei Molitor nicht gemeint. Vielmehr steckt in der Art, wie Produktivitätssteigerungen weitergegeben werden sollen, eine Spitze gegen die Arbeiterbewegung. Das ist keine ideologiekritische Unterstellung, Molitor sagt es selbst: Sie können nämlich nur „an den Haushalt weitergegeben werden“, wenn die Löhne langsamer steigen (118), sonst würde der Effekt der Güterverbilligung aufgeso24 John Locke meinte, dass ein Indianerhäuptling, da sein Volk nicht arbeite, schlechter lebe als der ärmste Engländer: „a king of a large and fruitful territory there feeds, lodges, and is clad worse than a day-labourer in England“ (Second Treatise, 1681, § 41). Mandeville moralisierte dieses Argument (Fable of the Bees, 1714; vgl. Steinvorth 1981, Waibl 1988).

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gen. Moralisch ist es folglich, dass die Gewinne steigen, die Löhne aber nicht – der „Konsument“ profitiert nur davon, dass die Waren sich verbilligen. Davon profitieren allerdings auch die Unternehmen, da sich ja auch die Produktionsmittel verbilligen. In Wirklichkeit tritt Molitor also für die Verschärfung der Ausbeutung ein. Früher hätte man dies einen „bürgerlichen Klassenstandpunkt“ genannt. Er steckt schon in den dahinterstehenden neoklassischen Grundannahmen eines statischen Modells: zwar sieht dies, dass billiger produziert wird, nicht aber, dass zugleich auch mehr produziert wird. Das Angebot wächst insgesamt, auch daher fordern die Gewerkschaften eine Erhöhung der Massenkaufkraft durch höhere Löhne. Dass neben Reinvestitionen oder Löhnen auch die Unternehmensgewinne anwachsen können, wie seit den „Reagonomics“ verstärkt der Fall ist, erwähnt Molitor nicht. Der „Fall Ackermann“ beispielsweise erscheint von hier aus als undenkbar. Seine Positionierung wird auch an der Verteilung der Rollen von „Moral“ und „Natur“ deutlich: der „natürliche“ Wettbewerb bedürfe keiner Moral. Diese sei erst gefragt, wenn das natürliche Gleichgewicht, Hayeks „spontane Ordnung“, gestört sei – etwa, wenn Gewerkschaften aufträten. Erst hier ist Moral nötig – um die Gewerkschaften zu mäßigen: „Bildet sich der Arbeitspreis nicht wie andere Faktorpreise am Markt, sondern wird er durch periodische Verhandlungen [...] festgesetzt, ergeben sich spezifische volkswirtschaftliche Probleme“ (Molitor 1989, 117). „Wo im wirtschaftlichen Bereich nicht der Wettbewerb lenkt [...], muss auf der Moral der Beteiligten [...] ein besonderer Nachdruck liegen. Das ist offensichtlich der Fall beim Typ Verhandlungspreisbildung durch festgefügte Arbeitsmarktorganisationen“ (a.O., 121).

Warum stören Gewerkschaften in Molitors Augen das Gleichgewicht? Was für ein Gleichgewicht ist gemeint? Das Auftreten dieser Akteure auf dem Arbeitsmarkt wird vom Kapital deswegen als Regelverstoß gewertet, weil das „gesellschaftliche Gesamtkapital“ (MEW 23, 428) hier nicht wie sonst zugleich Anbieter und Käufer, sondern nur Käufer ist und daher naturgemäß einen Preis zu zahlen hat. Das widerspricht den Regeln des Marktes keineswegs: der Markt ist ja selbst nichts anderes als eine „periodische Verhandlung“ (man denke etwa an die Börse). Für Molitor sind hier nicht mehr die Regeln des Marktes natürlich (Löhne können niedriger oder höher sein, je nach Marktlage), sondern nur die Interessen der Unternehmer: niedrige Löhne.25 Molitors vorgebliche „Grundtatsachen“ sind nur die neoklassischen Modellannahmen. Sie scheinen nur deswegen als Tatsachen zu „existieren“, weil Molitor sie jeder Kritik entzieht. Erneut sind Theorie und Wirklichkeit ununterscheidbar, Denken und Sein sind eins. Im Unterschied zur theologischen Wirtschaftsethik wird die Marx’sche Kapitalismuskritik in der betriebswirtschaftlichen Wirt25 Mit Koslowski 1982 ist festzuhalten, dass Rahmeninstitutionen des Marktes wie die Gewerkschaften derselben Evolution unterliegen wie jener. Die Natur kann also schwerlich gegen soziale Institutionen ausgespielt werden.

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schaftsethik nicht mehr nur fehlerhaft, sondern gar nicht mehr rezipiert.26 Hier werden nicht Merkmale des Kapitalismus vergeistigt, wie in der theologischen Variante, sondern umgekehrt Theoriemodelle ontologisiert. Die „Lösung“ ethischer Probleme besteht bei Molitor nur darin, dass sie fortdefiniert werden: sie sind in diesem Kontext nicht denkbar (das ist durchaus richtig), also scheinen sie auch nicht zu existieren.27 Weit eher wäre jedoch an diesen Problemen die Theorie zu überprüfen (nach dem Kriterium der externen Konsistenz, cf. 1.5; 4.1). Der betriebswirtschaftlichen Wirtschaftsethik entgeht die Besonderheit des Kapitalismus, und sie stellt zudem die Ethik auf den Kopf. Sie will „Synthese sein, und [...] ist ein zusammengesetzter Irrtum“ (MEW 4, 144). Zur Überprüfung dieser These seien weitere Vertreter betrachtet. Symptomatisch ist etwa die Position von Karl Homann, dem einstigen Nestor der Wirtschaftsethik an der Katholischen Universität Eichstätt. Auch er vertritt die traditionelle Ordnungsethik, dass heißt: auch er schreibt den Axiomen einer bestimmten Theorie objektive Realität zu (Homann 1994): „Marktwirtschaft ist [...] das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller“ (14). „Gewinnstreben dient der Solidarität aller“ (15). Wenn dem so wäre, fragt sich, warum es überhaupt jene Probleme geben sollte, die eine „Wirtschaftsethik“ auf den Plan gerufen haben. Will man diese nicht völlig ignorieren (Homann gibt ja durchaus „Missstände“ zu), so können sie nicht aus der Logik des Marktes kommen, sondern nur aus etwas anderem, externen (2.4.1). Dieses „Andere“ rechnet Homann nun der Individualmoral zu. Dies entspricht funktional der damnatio über die Gewerkschaften bei Utz und Molitor: „Kommunikatives Handeln [...] ruiniert die Wirtschaft, wenn es per Gesetz und Plan [...] durchgesetzt werden soll (Sozialismus)“ (Homann 1994, 15). Nach Homann, der sich hierfür auf Luhmann bezieht (Homann 1993, vgl. Wieland 1996), kann 26 Ein Sonderfall der betriebswirtschaftlichen Wirtschaftsethik ist die Unternehmensethik. Sie beschäftigt sich nicht mit der Rahmenordnung, sondern mit dem Verhalten in und von Firmen. In ihrem Rahmen kann sie keine Apologie der Marktwirtschaft leisten, folglich muss eine Reflexion der Kapitalismuskritik hier auch weniger vermisst werden. Da diese Sparte praxisorientiert ist, hat sie für Unternehmen und mögliche Kapitalismuskritiker einen höheren Nutzwert. Es dürfte selbst aus marxistischer Perspektive nichts gegen eine Unternehmensethik einzuwenden sein, die sich für ein verbessertes Klima unter den Mitarbeitern, für kundenfreundliche, nachhaltige oder umweltschonende Geschäftsstrategien einsetzt (cf. Steinmann 1994, 1998, Wieland 1996, 1998, 1999, Bank und Umwelt 2002). Nur ist die Frage, wie Regeln des Marktes umgesetzt werden, nicht mit der zu verwechseln, ob sie gut sind. 27 Bei der Globalisierung stellt Molitor (1989, 64) realen Problemen theoretische Axiome als höhere Wirklichkeit gegenüber, hinter denen die Realität verschwindet: „Dass die sog. ‚soziale Dimension’ in einem voll ausgebauten gemeinsamen Markt Schaden nehmen müsste, ist sachlich schwer einzusehen. Hauptgewinner sind ohnehin die privaten Haushalte als Konsumenten. Aber auch die Faktorbeschäftigung erreicht ein höheres Niveau mit den entsprechenden Konsequenzen namentlich für die Durchschnittslöhne. Im übrigen erlaubt die volle Chance zur Freizügigkeit für den, der sie wahrnimmt, eine Verbesserung des individuellen Nutzenmaximums“.

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es „in der Moderne“ (Homann 1994, 22) eine Individualethik „nicht länger mit Kant“ geben, da „heute“, in der Marktwirtschaft, wie sie das neoklassische Axiom sehen will, Klugheit eo ipso moralisch sei, die alte Moral dagegen schädlich: „Es ist die auf Kant zurückgehende Trennung von Moral und Klugheitserwägungen, die uns in den vergangenen Jahrzehnten blind gemacht hat dafür, dass alle Moral auf sozialer Kontrolle gegründet sein muss“ (1994, 22 Fn.). Damit wird die Ebene kantischer Moral eliminiert. Sie wird „in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ (MEW 4, 465). Die basale lebenspraktische Unterscheidung, 50 Euro entweder „aus Pflicht“ an eine Hilfsorganisation zu überweisen, oder aufgrund von Klugheitserwägungen auf ein Internetkonto mit hohen Zinsen (oder am Fiskus vorbei auf ein Schweizer Nummernkonto), lässt sich nicht mehr vornehmen. Homann will in einer gewagten geschichtsphilosophischen Konstruktion der marktstörenden Individualmoral den Boden entziehen, nennt aber gerade diese amoralistische Operation „ethisch“. Das mag „theoriestrategisch“ (Homann 1994) geschickt sein, doch es verdreht den Sinn des Wortes „Moral“.28 Dies ist eine „Umwertung aller Werte“, die wie schon Nietzsche (1887) das Prädikat „gut“ nur an denjenigen vergibt, der im Überlebenskampf der Stärkere ist.29 Dem Supernormativismus bei Habermas, der das System als Ausfluss der Moral behandelte, folgt hier die Dekapitation: der überflüssige Kropf Moral fällt, das System selbst wird zum wahren Hort der Ethik. Wie kommt es zu dieser Kehre? Homann gibt darauf keine Antwort, sondern ontologisiert nur noch einmal eine theoretische Konstruktion – diesmal das in rational choice-Theorien prominente Gefangenendilemma (1994, 23; cf. Blum 2000, 392 f.). Obzwar von Ahistorismus der Neoklassik (2.3.1, Fn. 12) als zeitloses entworfen, wird dies nun zu dem Kennzeichen unserer Epoche (vgl. Homann 1997). In ihm sei moralisches Handeln „nicht mehr“ möglich, da schon ein Dagegenhandeln, und sei es nur potentiell, die Befolgung einer moralischen Norm für alle unmöglich mache. Ein mögliches Dagegenhandeln war indes noch nie 28 „Unternehmensethik nach dem Strickmuster Homann sollte dazu stehen, dass sie keine ist“ (R.Pfriem, in: Maak 1998, 484). Selbst ein Kollege urteilt über Homann: Dieses Denken „basiert auf einem statischen neoklassischen Marktmodell“ (Korff 1999 I, 846). Homann kenne gar keine moderne Ethik, der „Anspruch als Ethiktheorie“ sei daher „fraglich“ (847). Eindeutig verfalle Homann seinem eigenen Hierarchiemodell: Dominanz der Ökonomik über die Ethik (Homann 1994, 11). 29 Siehe 3.2.4 zu Kersting. Zur theoriegeschichtlichen Voraussetzung, der Unentscheidbarkeit von gut und böse im dualistischen neoklassischen Modell siehe 2.4.1. Marx entging diesem Nietzscheanismus, indem er die Sprache der Moral gar nicht benutzte (3.1.4). Er sah sehr wohl, dass tatsächliche Verhältnisse und Entwicklungen der Moral hohnsprachen. Doch weder schloss er die Augen vor der Realität, noch beschönigte er es moralisch – er nahm es schlicht zur Kenntnis. Fetscher 1999, 136 deutet Marx’ Wertung der britischen Herrschaft in Indien als Opferung des Individuums (MEW 9, 133). Das projiziert fälschlich die antiindividualistische leninistische ‘Ethik’, wie sie in Brechts Maßnahme aufscheint, auf Marx zurück. Der vorgebliche Amoralismus bei Marx aber beschrieb nur, was ist. („Diese Klasse muss immer einen Teil ihrer selbst opfern, um nicht ganz zugrunde zu gehen“, MEW 40, 473).

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ein Argument gegen moralische Normen, und ist es auch „heute“ nicht. Homann weicht hier nicht nur von Kant, sondern auch noch von Luhmann ab: Normativität ist sogar bei jenem durch Enttäuschungsresistenz gekennzeichnet.30 Homann gleicht das Sollen an ein Können an: „Eine moralische Norm hat keine Gültigkeit, solange ihre Durchsetzbarkeit nicht sichergestellt ist“ (Homann 1993, 37).31 Das ist eine Umdrehung des naturalistischen Fehlschlusses: nicht mehr wird von einem Sein auf ein Sollen, sondern von einem Nichtkönnen auf ein Nichtsollen geschlossen. Am möglichen Nichtkönnen zerschellt das Sollen – das Ende der Moral. Gründe für ein Nichtkönnen sind bekanntlich sehr schnell bei der Hand. Bei Kant hieß es daher umgekehrt: Du kannst, denn du sollst (KrV, A 542 ff.; KpV, 54). Homann vertritt dagegen einen vollendeten Reduktionismus: „Ohne ‚pragmatische Reduktion’ (Suchanek 1994) ist Integration nicht möglich“ (Homann 1994, 20 – gemeint ist die „Integration“ von Ethik und Ökonomik, vgl. Ulrich 2001). Diese begriffliche Umwertung verunmöglicht die moralische Sichtweise.32 Übrig bleibt eine von „normativen Gehalten“ wie von wirtschaftlicher Empirie gleichermaßen „reine“ Ordnungslehre: Einen „individualethischen Ausweg gibt es nicht; es gibt nur den ordnungsethischen Ausweg, der auf Individualinteressen fußt“ (Homann 1994, 23). Nötig sei die „Umstellung der Ethik von der kleinen, überschaubaren Gruppe [...] auf einen anderen Steuerungsmechanismus“ (13). Diese Spielregeln sind „natürlich“ die bewährten der Marktwirtschaft ohne Adjektive. Wie Molitor vertritt auch Homann eine mehr als marktapologetische Sicht, nämlich eine direkte „Ethik des Kapitals“. Eher unfreiwillig tritt dies hervor, wenn Homann trotz der steten Versicherung, alles regele sich von selbst, auf repressives Vokabular zurückgreift („Steuerungsmechanismus“, 1994, 13, „Kontrollmechanismus“, 18, „soziale Kontrolle“ 22). Andere Autoren variieren dieses Markt-transzendentale Argument. So wertet auch Ilse Horn die Basisfiktionen der Neoklassik nicht als abstrakte theoretische 30 „Kognitive Erwartungen sind mithin durch eine [...] Lernbereitschaft ausgezeichnet, normative Erwartungen dagegen durch die Entschlossenheit, aus Enttäuschungen nicht zu lernen“ (Luhmann 1972 I, 43; Habermas 1992, 70). 31 Suchanek 2001 nennt das: „unsere moralischen Intuitionen mit der Wirklichkeit [!] in Einklang [...] bringen“ (VIII). Die Argumentation ähnelt derjenigen von Gehlen 1973, verteidigt aber statt des Staates nun den Markt. 32 Homann sieht das anders – für ihn gibt es keinen „ökonomischen Imperialismus“: „ich habe diese Position nie vertreten“ (1994, 11; vgl. aber 1990, 105 f.). Dennoch bezeichnet er diese Sicht als „lohnend“ und empfiehlt, „in dieser Richtung weiterzuarbeiten“ (1994, 27). Homann beansprucht kein Reduktionist zu sein, weil er den Reduktionismus fälschlich auf eine dualistische Position festlegt. Er folgert, dass er „keinen Dualismus und deswegen auch keinen ökonomischen Reduktionismus vertritt“ (19). Doch reduktionistisch ist gerade jener Monismus, der die eine Seite streicht, indem er sie auf die andere reduziert – wie bei Homann: Moralische Normen sind „pragmatische Kurzfassungen langer ökonomischer Kalkulationen“ (18). „Würde, Humanität, Pflicht [...] sind Kategorien der (Moral-)Philosophie ...; sie können in dieser Form [...] keinen direkten Eingang in die Ökonomik finden. Ohne eine Übersetzung in das Paradigma der Ökonomik haben sie in dieser keinen Platz“ (17).

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Modelle, sondern als reale Züge der Wirklichkeit und zugleich auch noch als Beweis ihrer „Moralität“ (Horn 1996, 137): „Schließlich ist die Eigennutzhypothese der Neoklassik wie auch schon die Annahme der Rationalität der Wirtschaftssubjekte im Grunde ein ethisch wertvolles Postulat“ (Horn 1996, 82). „Der Markt begrenzt die Möglichkeiten selbstsüchtigen Verhaltens, denn im Wettbewerb kann nur bestehen, wessen Handlungen zugleich für andere nützlich sind [!]. Selbstsucht, Materialismus [!], Unmoral – das sind Verirrungen [...] Der Markt bezieht seinen ethischen Wert aus seiner ihm innewohnenden Fähigkeit, mit diesen untugendhaften Verhaltensweisen umzugehen und sie in sozial wertvolle Ergebnisse umzumünzen“.

Selbst Hayek musste zugeben, dass der Markt gegen „gut und böse“ allenfalls neutral ist.33 Eher noch wäre zu sagen, dass er „Selbstsucht, Materialismus, Unmoral“ fördert. Denn man kann Böses auf dem Markt, gerade wegen seiner Indifferenz gegenüber der Moral, gut verkaufen, sogar als „gut“ verkaufen: einmal praktisch, indem man Waren wie Waffen, Horrorfilme, Drogen, kriminelle Dienstleistungen und sogar Menschen dort sehr profitabel absetzen kann („Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut“, MEW 40, 564; cf. 2.4.3, Fn. 50); daneben theoretisch, mit Hilfe der betriebswirtschaftsethischen Reduktion von „moralisch gut für Jemanden“ auf „quantitativ nützlich für eine rechnerische Gesamtheit“.34 Diese Verkehrung vollzieht Horn: „Moralisch ‚gutes’ Verhalten senkt die Transaktionskosten des wirtschaftlichen Austausches“ (Horn 1996, 127). „Die Wirtschaftsubjekte sollen sich systemkonform verhalten, denn innerhalb der marktwirtschaftlichen Regeln wird das Verhalten der Menschen durch ökonomische Anreize in die moralisch gewünschten Richtungen gelenkt, und nur das ungehinderte [!] Wirken des Leistungswettbewerbs kann zu der ethisch erwünschten gesamtwirtschaftlichen Effizienz führen“ (Horn 1996, 127; Hvg. CH; cf. Sen 1985).

33 „Der Begriff ‘soziale Gerechtigkeit’ gehört nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns wie der Ausdruck ‘ein moralischer Stein’“ (Hayek 1973 II, 98 f.). Daher sei die Marktwirtschaft auch nicht „sozial“ zu nennen. Das ist deskriptiv und präskriptiv gemeint: „weil wir alle im Kosmos des Marktes ständig Wohltaten empfangen, die wir in keinem Sinn moralisch verdient haben, sind wir verpflichtet, gleichermaßen unverdiente Einkommensminderungen ebenfalls hinzunehmen“ (131) – als ob in beiden Fällen von demselben „wir“ die Rede wäre! Klassen sind bei Hayek schon definitorisch ausgeräumt. Eine Umverteilung sei auch für die Verlierer von Nachteil, weil eine Verletzung der „Spielregeln“ ihre Chancen herabsetze, einmal Gewinner zu werden. 34 Mandeville 1714 hatte noch die Größe, dieses „privat vices“ auch als solche zu benennen; nicht als „Verirrung“, sondern als Regelfall. Auch Adam Smith sprach, trotz „unsichtbarer Hand“, den „Reichen“ Selbstsucht, Raubgier, Bequemlichkeit und unersättliche Begierden zu (1759, 316). Der junge Marx beklagte, dass Nationalökonomie und Moral einen „entgegengesetzten Maßstab“ anlegten (MEW 40, 551). Das Geld korrumpiere, löse Moral auf: „ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer“ (564); eine „verkehrte Welt“ (566, cf. Helmich 1980). An Shakespeares Diagnose (564) hat sich nicht viel geändert.

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Das einzige Problem an dieser Umdeutung ist die übliche Verwendungsweise der Begriffe Ethik und Moral. Dem soll auch hier Homanns geschichtsphilosophische Reduktion abhelfen (53): „die sozialethische Perspektive dient auch der Aufklärung der Individualethik“. Die begriffliche Elimination aller vorigen Moral führt bei Horn zu einer selbst bei Hayek ungekannten Lobpreisung des Marktes durch die kapitalistische Ethik. Die „Aufklärung“ besteht darin, dem Markt zuzusprechen, was der Individualethik vorher abgesprochen wurde: „Die Marktwirtschaft stellt unter sozialethischen Gesichtspunkten die beste wirtschaftliche Gesellschaftsform dar – daran besteht kein Zweifel“ (Horn 1996, 135). „Der systematische Platz der Moral in der Marktwirtschaft ist der Ordnungsrahmen“ (127), dessen Ziel aber bekanntlich „das ungehinderte Wirken des Leistungswettbewerbs“ (127).

Auch Andreas Suchanek folgt der Homanschen Verkehrung. Er definiert: „Ökonomische Ethik befasst sich mit den (empirischen) Bedingungen der Möglichkeit, wie Moral und Eigeninteresse im Falle ihres Konflikts miteinander kompatibel bzw. füreinander fruchtbar gemacht werden können“ (Suchanek 2001, 30). „Das Grundproblem der Unternehmensethik besteht darin, zur Lösung des Konflikts von Gewinn und Moral [...] beizutragen“ (104).

Die Verbindung von „empirisch“ mit „Bedingung der Möglichkeit“ lässt aufhorchen – diese Vermengung kündigt ihre Kurzschlüssigkeit bereits semantisch an (zum Quasitranszendentalismus vgl. 3.1.5, Fn. 90; 3.4.4, Fn. 66). Tatsächlich löst Suchanek keine der von ihm aufgeworfenen „empirischen“ Fragen.35 Vielmehr legt er die „Bedingungen der Möglichkeit“ (30) dafür fest, dass sich ein solcher Konflikt nicht mehr denken lässt (vgl. die Parallele in 3.1.4). Diese transzendentale Operation ist an keiner Stelle empirisch. Wie geht er dabei vor? Zunächst formuliert er einen „Imperativ der ökonomischen Ethik“ – der in seinem appellativen Zuschnitt der zuvor geäußerten Intention auf „Spielregeln“ statt auf Individualethik (16) seltsam zuwiderläuft: „Handle so, dass dein [unternehmerisches, CH] Handeln stets zugleich eine Investition in die Verbesserung der Bedingungen künftiger gesellschaftlicher Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil darstellt“ (Suchanek 2001, 69, vgl. die anderen Versionen 68, 70). Was gewährleistet nun das geforderte „stets zugleich“? Gemäß dem schon von Homann behaupteten welthistorischen „Übergang“ (16, cf. 75) von der Indi35 Etwa: „Ein Industrieunternehmen stellt Vorprodukte her, die auch für die Produktion von Rüstungsgütern geeignet sind. Soll es auf einen lukrativen Auftrag aus einer ‚Krisenregion’ im Nahen Osten verzichten?“ (Suchanek 2001, 103). Die empirischen Beispiele gehen im weiteren Verlauf verloren. Aufschlussreich zur „Lösung“ im Sinne Suchaneks ist seine Auffassung, „dass den Unternehmern Verantwortung zugemutet wird, die sie möglicherweise gar nicht adäquat wahrnehmen können“ (104). Der Konflikt wird also zum transzendentalen Schein. Denn folgt daraus nicht, dass das Industrieunternehmen liefern wird, und dies wirtschaftsethisch (und im Wortsinne) in Ordnung ist? Es wäre jedenfalls keine gute „Investition in Beziehungen“ (114), nicht zu liefern. Das Ethos von Geschäftsbeziehungen basiert ja nicht zuletzt auf Diskretion, vorbei an der öffentlichen Meinung, die ‚Krisenregionen’ tabuisiert.

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vidualethik auf institutionelle Rahmenethik kann es einzig die Unterstellung sein, dass dies im Markt immer schon der Fall sei. Die transzendentalempirische „Bedingung der Möglichkeit“ für die Lösung des Konflikts im Sinne seiner Nichtdenkbarkeit besteht in der Ontologisierung des neoklassischen Modells (2.4.1, Fn. 22). Diese „Folgerung“ ist denn auch nur eine repetative Explikation der neoklassischen Prämisse: „Die Marktwirtschaft stellt das beste bislang bekannte Instrument für eine (wirtschaftliche) Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil dar, indem jeder Akteur mit Anreizen versorgt wird, in diese Zusammenarbeit zu investieren“ (Suchanek 2001, 80). In dieser Marktwirtschaft ohne Adjektive ist den Forderungen des „ökonomischen Imperativs“ immer schon Folge geleistet. Suchanek wiederholt nur deren Apriori. Auch er vertritt wirtschaftsethisch eine neoliberale Position, unter der obligatorischen Kritik von Interventionen (84 ff.). Wo darüber hinaus etwas „empfohlen“ wird (24, 69), ist dies so wenig anwendbar und praxisvermittelt, wie es sonst Peter Ulrich vorgeworfen wird (hier 105 f.). Neu an dieser Wirtschaftsethik ist gegenüber älteren Vertretern des Argumentes wie Locke, Mandeville, Smith und Hayek (Fn. 24), dass das Gewinnprinzip zu einer „moralischen“ oder „sittlichen Pflicht“ umgebogen wird (Homann 1992, 38): „Langfristige Gewinnmaximierung ist nicht ein Privileg der Unternehmer, für das sie sich ständig entschuldigen müssen, es ist vielmehr ihre moralische Pflicht“.36 Diese Position reduziert sich auf eine „reine“ Marktapologie. Sie bedient sich der Termini „Wirtschaft“ und „Ethik“ zu Unrecht: Von der Wirtschaft ist kaum etwas sichtbar, außer jenen spärlichen Modellannahmen, die immer wieder als moralisch angepriesen werden, ohne ihre Anwendbarkeit auf eine empirische Wirklichkeit („objektive Realität“ im Sinne Kants) nachzuweisen. Auch die für überholt ausgegebene kantische Ethik wird unterbestimmt. Denn wenn Suchanek meint, „dass die moderne Gesellschaft nicht mehr werte- sondern vielmehr regelintegriert ist“ (96), und deswegen für „heute“ fordert: „Die Menschen müssen sich selbst und gemeinsam die Spielregeln ihres Zusammenlebens geben“ (Suchanek 2001, 19), so ist das gerade die Position Kants, die er die menschliche „Autonomie“ nannte.37 Diese Autonomie des Menschen ist „heute“ jedoch immer stärker

36 Ulrich 2001 zitiert daneben (172 und 406) einen Unternehmer, für den „das unternehmerische Handeln selber erste sittliche Pflicht“ ist: „Zwischen dem ökonomisch Gebotenen und dem moralisch Richtigen besteht für ihn insoweit kein Gegensatz: beide fallen zusammen“ (401, Zitat Gert Habermann). Diese „normative Überhöhung“ geht allerdings nicht, wie Ulrich meint (400), auf M. Friedman zurück, denn dieser hatte wie Hayek das Gewinnmachen als „Ethos“ des Unternehmers gekennzeichnet, welches „moralisch“ gerade neutral sei. 37 Kant sprach allerdings nicht von Spielregeln, sondern vom „Gesetz“. Der Ausdruck „Spiel“ suggeriert eine Nähe zur Debatte über „Regelfolgen“ in der analytischen Philosophie. Doch der Vergleich hinkt (Fn. 45): Das Spielen eines Spiels setzt eine Distanz zum Alltag voraus: man spielt in der Freizeit, etwa, um Menschen einander näher zu bringen; jedenfalls nicht um des Spielens willen (das wäre eine Spielsucht).

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bedroht, und zwar genau durch jene Instanz, die hier glorifiziert wird: durch den Markt und die hinter ihm stehende kapitalistische Produktionsweise. Wegen der hier auftretenden Probleme ist die Wirtschaftsethik allererst auf den Plan getreten.38 Diese Problemebene wird von der sich „Wirtschaftsethik“ nennenden transzendentalen Betriebswirtschaftslehre á la Homanns gar nicht erst erreicht.

3.3.4 Historistische Wirtschaftsethik Gegenüber solch überapologetischen Tendenzen im Namen der Ethik regten sich sogar im Lager der Wirtschaftsethik Bedenken. Doch will man die wissenschaftsinternen Reaktionen einordnen, sind die institutionsgeschichtlich bedingten Brechungen eines Diskurses im spezifischen Feld der akademischen Wissenschaft zu berücksichtigen. Speziell in den deutschsprachigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften schwelt seit langer Zeit ein Streit zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Paradigmen (cf. 2.4.3). Dieser erlebt in der Wirtschaftsethik nun eine Neuauflage, ein „Re-Entry“ (Luhmann). Diese ist nur bedingt den realen Phänomenen, also den Gegenständen dieser Wissenschaften zuzuschreiben; mindestens ebensosehr geht sie auf den Konflikt zwischen Moral und Ökonomie als Wissenschaften zurück. Der Fehdehandschuh einer reduktionistischen Ökonomik, die sich ausgerechnet mit dem Lorbeer „Ethik“ schmückt, wurde von der geisteswissenschaftlichen Fraktion allzu gern aufgenommen. Nicht zufällig war der institutionelle Hintergrund der Etablierung der Wirtschaftsethik an den Universitäten der „Verein für Sozialpolitik“. Dieser schon für Max Weber wichtige Verein entstand innerhalb des Denkrahmens der historischen Schule. Weber war auch einer der ersten, die das Wort benutzten: in seiner Religionssoziologie untersuchte er die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (Weber 1920a, 237 ff.). Wirtschaft war aus dieser Perspektive etwas, das innerhalb eines kulturellen Gesamtrahmens stand, welcher wiederum durch einen bestimmten „Geist“ geprägt war. Es schien also über „die“ Wirtschaft etwas ausgemacht werden zu können, indem man sich die Kultur, den „Geist“ einer Epoche ansah – von welchem die Ethik ja ein bedeutender Bestandteil ist.39 Die Regeln der „Marktwirtschaft“ sind ernst zu nehmen, sie determinieren zunehmend das Gesamt der Verhältnisse (Sandemose 2001). 38 Dazu aus amerikanischer Sicht Hartley 1993, Wieland 1993a. Über zum Normalfall gewordene „violations of the public trust“ Werner 2001, Klein 2001, Mander 2002. 39 Max Weber war aufgrund seines Methodenbewusstseins vorsichtiger: er beschränkte sich auf die Analyse der Motivationen der Subjekte und ihrer Genese („die in den psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen gegründeten praktischen Antriebe zum Handeln“, 1920a, 238; 2.4.6), und stützte sich auf reiches empirisches Material. Doch die ausgesprochen deutsche Rezeption dessen ließ die soziologische Analyse des Geistes bald wieder zu einer unkontrolliert „philosophischen“ werden (2.5.2), so bei Freyer 1920 oder Werner Sombart, der den Kapitalismus in jedem Buch auf andere geschichtliche Verhältnisse zurückführte. „Der Kapitalismus ist in erster Stelle kein ökonomisches System der Besitzverteilung, sondern ein ganzes Lebens- und Kultursystem. Dieses System ist entsprungen aus den Ziel-

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Doch wird sie in der Theorie nicht selbst wieder als Verkehrsform der realen Verhältnisse an diese zurückgekoppelt, so ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch Wirtschaftskrisen oder strukturelle Probleme „geistig“ zu erklären – als könnten „geistig-moralische“ Haltungen der Einzelnen über so etwas wie Geldwertstabilität, ihren Beschäftigungsstatus oder die Höhe ihres Lohnes bestimmen.40 Aus historistischer Perspektive brandet der Kampf also weniger um die politischen Konsequenzen der reduktiven Ökonomik als um die innerakademische Deutungsmacht des Phänomens „Wirtschaftsethik“. Es geht zumindest auch um universitäre Besetzungspolitik, Profilierungsmöglichkeiten für aufstrebende Wissenschaftler und ähnliches. Darin liegt auch ein Weltanschauungskampf, in dem jede Seite ihre Position im Duktus von „Grundtatsachen“ (Molitor) vorträgt; immerhin stehen ganze Lebensentwürfe in Frage. Allerdings führen stilistische Differenzen nicht notwendigerweise zu einem anderen Ergebnis. Ein versierter Vertreter geisteswissenschaftlicher Wirtschaftsethik ist der Religionsphilosoph Peter Koslowski. Seine mehrfach aufgelegte Ethik des Kapitalismus (1998) vermag es kennerhaft, aus scholastischen Traktaten (28) ebenso wie aus Leibniz (38) die „Metaphysik des Kapitalismus“ herzuleiten („katallaxia versus oikonomia“): „Jede menschliche Kultur verfügt über eine soziale Metaphysik, in der ihre letzten allgemeinen Prinzipien der ‚Weltanschauung’ beschlossen liegen, und diese [...] übt einen entscheidenden Einfluss auf die Konzeption des Wirtschaftssystems aus“ (Koslowski 1998, 29; vgl. Freyer 1923, 39).

Auf diese Art wird der Kapitalismus schon in den Grundbegriffen vergeistigt, er wird zu einer „Sozialtheorie“ (70), einem Stadium der „Entwicklung des europäischen Geistes“ (18). Kein Wunder, dass der Gastkommentator des neoklassischreduktionistischen Stils, James Buchanan, das nicht versteht („ich verstehe nicht, was diese Worte bedeuten sollen“, 80 f.). Theoriestrategisch wird so nämlich klar, dass der Kapitalismus nicht auf die Geisteswissenschaft verzichten kann.41 setzungen und Wertschätzungen eines bestimmten biopsychischen Typus Mensch, eben des Bourgeois“ (Scheler, „Die Zukunft des Kapitalismus“, 1913, in: 1999, 113). 40 In eigenartiger Verkehrung von Basis und Überbau wollte schon Scheler den Kapitalismus „gesinnungsmäßig“ umgestalten, gegen die Sozialdemokratie (so noch die Empfehlung „zur Lösung der Arbeitslosenfrage“ bei Utz 1994: „bescheiden leben, mehr arbeiten [...] und sparen“, 159 f.). Eine ökonomische Voraussetzung für diese Ethisierung ist erneut die Neoklassik, nach der Arbeitslosigkeit als freiwillig gilt. Ein Arbeiter finde immer Arbeit: „Es genügt, dass er seine Lohnforderungen ermäßigt oder Beruf und Arbeitsort wechselt“ (Mises 1940, 546). 41 Cf. 3.2.4, Fn. 67. Für „geistige“ Feinschmecker hat Koslowski Delikatessen parat: Webers These etwa, der Kapitalismus sei eine ungewollte Folge des Calvinismus, der sonst bedenkenlos gefolgt wird (Ulrich 2001, 134 f.), setzt er entgegen, dass die Motive „Privateigentum“, „Gewinn- und Nutzenmaximierung“ und „Marktkoordination“ lediglich geistig aus ihrer „Einbettung“ gelöst werden mussten (Koslowski 1998, 17), was neben Hobbes (23) vor allem die Jesuiten vollbracht hätten (25). Die Vermittlung von Mechanismus und Teleologie habe nicht Smith, sondern schon

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Koslowski macht das nochmals deutlich, indem er ein „Wertproblem“ aufwirft (42, 48, 68): der Kapitalismus entlasse die Menschen in die Freiheit, sage ihnen aber nicht, was sie tun sollten.42 Über den Kapitalismus ist damit wenig gesagt, wohl aber ist so die Ethik, das Lebenselixier der Geisteswissenschaft, als Disziplin legitimiert. Doch nachdem die Ethik ihren festen Stand hat, erfüllt sie genau jene Funktion, die sich die Homannschule von ihrer Abschaffung versprochen hatte: die bessere theoretische Legitimierung und politische Stützung der „Marktwirtschaft“. Denn mit Ernst Jünger (erneut eine Geschmacksfrage) orakelt Koslowski: falls der Markt nicht unangetastet bleibe, drohe der „Terror“ (67). Koslowski erweist sich somit gegenüber den Reduktionisten als der bessere Ideologe, zumindest als der dem alten Europa gemäßere. Er sagt funktional dasselbe, nur unter Vermeidung von stilistischen und brancheninternen Tabus.43 Er fängt die populären Vorbehalte gegen eine „reine“ Marktwirtschaft besser ab als jene.44 Inhaltlich muss er dafür nicht mehr zulassen als den Minimal- oder Nachtwächterstaat, den auch härteste Reduktionisten noch für nötig erachten.45 Leibniz geleistet (39). Die Nationalökonomie gerät ihm so kurzschlüssig zur Theodizee (38). Recht unvermittelt ist auch der Sprung von Tertullian („ökonomische Trinität“) zu Marx („ökonomische Heilsgeschichte“, 39; cf. 2.6.6). 42 Koslowski bezieht Kants ethischen Formalismus auf genau den historischen Übergang, mit dem Homann und Suchanek sich Kant gerade entwinden wollen; schließlich sei Kant ein Smithkenner gewesen (1998, 49; vgl. 1982). 43 Koslowski ist vor allem Rhetor: er bedient sich eines anderen Stils, um dieselben Inhalte zu transportieren wie die Ökonomik. Wenn er etwa fordert, die „Subsistenzbedürfnisse“ müssten gesichert sein (1998, 64), so klingt das innovativ; doch es ist nur eine Neuauflage der Verelendungstheorie: Real können daraus Senkungen der Löhne und der Sozialleistungen abgeleitet werden. Auch seine der Ungleichheit scheinbar entgegenwirkende „Konsumentensouveränität“ (59; Egalisierung durch Durchschnittskonsum) repliziert lediglich Molitors Argument der Verbilligung durch Produktivitätssteigerung – auch hier durften ja die Löhne auf keinen Fall steigen. Wenn Koslowski sagt: „Wir bedürfen der Institutionen“ (63), kann er damit in Europa der Zustimmung sicher sein. Die Frage ist nur: welcher? Nach Koslowski jedenfalls nicht solche einer Demokratisierung der Wirtschaft: „Es ist mit dem Übergang vom Markt zur Abstimmungsdemokratie kaum etwas gewonnen“ (63). 44 Auch der Papst hatte dekretiert: „Der ‘harte’ Kapitalismus [„capitalismus rigidus“, „capitalismus primitivus“, CH] bleibt nach wie vor unannehmbar“ (Laborem exercens, nach Waibl 1989, 178; cf. Forrester 1997, Gruppe von Lissabon 1997, Saul 1997, Nürnberger 1999, Jenner 1999, Klein 2001, Strasser 2001 etc.). Zweifelhaft ist, ob für eine solche Mäßigung der „andere“, vorgeblich ethischere Adam Smith (Meyer-Faje 1991) in Anspruch genommen werden kann, sah er doch seine Ethik nicht als Begrenzung der Wirtschaft an, sondern umgekehrt die Wirtschaft als Beförderung seiner Ethik (Binswanger 1998, 122; vgl. Ballestrem 2000). 45 So spricht Buchanan gern, wenn auch sinnfremd, von „constitutions“ (1962, 1990, sowie in Koslowski 1998). Auch Friedman, Hayek oder Nozick haben sich für eine „Rahmenordnung“ ausgesprochen (3.2.2, Fn. 29). Koslowski wendet sich gegen Hayek und Buchanan, solange diese nur die „unparteiischen Spielregeln“ sehen wollen und das zu jedem Spiel gehörende Neuverteilen der Spielkarten ignorieren (1998, 57). Doch was meint mit „Wiedereinbettung des Marktes [...] in soziale und ethische Normen“ (55); sind sie nicht auch bei ihm immer schon beisammen? Es handelt sich

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Seine Herleitung desselben kann die Kapitalismuskritik aufnehmen, indem er der „reinen“ Marktvergesellschaftung, die von niemandem außer der Homannschule vertreten wird, eine „ethisch“ geordnete entgegenstellt (40). Dem Kapitalismus droht hieraus keine Gefahr, denn in wunderbarer Dialektik entsprechen sich Markt und Staat als harmonisch Entgegengesetzte – Koslowski spricht prosaisch von einer „Konvergenz“ (53). Darauf deutet ja schon der Titel hin, der bei geistigen Werken selten zufällig gewählt ist – es heißt nicht: „Ethik und Kapitalismus“ (cf. Scheler 1999, Waibl 1989), sondern „Ethik des Kapitalismus“. Koslowskis historistische Wirtschaftsethik begründet die Apologie der Marktwirtschaft also nicht anders, sondern doppelt.46 Er hat neben der affirmativen Theorie des Marktes auch eine der „sozialen Genese und normativen Rechtfertigung der Präferenzbildung[...], der sozialen Institutionen [...] und [...] der politischen Korrektur von ‚Kapitalismus-Versagen’“ (1998, 71). Von einer solch harmonistischen „Ethischen Ökonomie“ hat der Markt nicht einmal theoretisch etwas zu befürchten. Dem haben jedoch andere Historisten etwas entgegenzusetzen. Hier wiederholt sich das in der Wirtschaftsethik zwischen Theologie und Betriebswirtschaft aufgetauchte Dilemma in einem anderen Gewand. Denn auch die der Überaffirmation unharmonisch entgegengesetzte abstrakte theologische Kritik kann in historistischer Form neu aufgelegt werden. Dies ist der Fall bei Peter Ulrich. Seine Forderung, das „Gewinnprinzip“ der Moral unterzuordnen, es „moralisch“ einzuschränken, kommt der kapitalistischen Wirklichkeit nicht näher als die Modellkonstrukte Homanns und Koslowskis, auch nicht durch seinen aufwendigen moralphilosophischen „Unterbau“ (Ulrich 2001, 124, 429; cf. 1.3; Fn. 21; 3.2.4, Fn. 68). Der Unterschied ist nur, dass jene einen Seinszustand unterstellen, während Ulrich dem abstrakt ein Sollen gegenüberstellt. Er erstrebt folgenden Sollzustand: „Legitimes Gewinnstreben ist stets moralisch begrenztes Gewinnstreben“ (415). Möchte er vermeiden, dass dieser Satz legitimatorisch gelesen wird, nämlich als: „Gewinnstreben ist legitim und daher immer schon moralisch begrenzt,“ dann muss er zur Unterfütterung dieser Forderung noch eine zweite stellen, nämlich die nach dem „Primat der Politik vor der Logik des Marktes“ (334).47 Folglich bemüht sich Ulrich zunächst, eine an der Diskursethik orientierte „Begründung“ seiner moralischen Forderung zu leisten (Kapitel 1, 2 und 6), um ihr dann mit einer politischen Ethik die erforderlichen institutionellen Settings maßzuschneidern (Kapitel 7, 8 und 9). um eine theoretische Wiedereinbettung. Für Marx ist es ein Truismus, dass sich kapitalistische Produktions- und Verkehrsverhältnisse in entsprechenden Rechtsverhältnissen sedimentieren (3.1.6). 46 Zum historistischen Hintergrund Koslowski 1995, 2000; 1988 stützt er sich auf Scheler, 1991 auf Schmoller. 47 Ulrich spricht äquivok auch vom „Primat der politischen Ethik“ (2001, 267, cf. 145, 147), vom „Primat der Ethik über die Ökonomik“ (121) und vom Primat des „moralischen Wollens“ (25). Bereits dies zeigt ein Schlingern zwischen Theorie und Wirklichkeit, Denken und Sein an. Ethik scheint hier selbst schon Politik zu sein.

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Allerdings verharrt beides im Normativen.48 Ulrich löst sogar den Zwang zur Gewinnerzielung, dem die Unternehmen bei Strafe des Untergangs unterliegen, normativistisch auf, indem er den Verweis darauf als zu positivistisch brandmarkt: hier werde eine „normative Frage [...] empiristisch umgedeutet“ (403), es liege ein „Reflexionsstopp“ (100) vor – als könne man sich durch immer weiteres Reflektieren der Wirklichkeit überheben.49 Die eingeklagte ethische Dimension, die zunächst im Gewande eines an Habermas orientierten Dualismus einherkam („Erforderlich ist [...] eine dualistische Gesellschaftstheorie“, 145), mausert sich so zum Gegenstück der reduktiven Ökonomik, zum ethischen Reduktionismus („Es gibt letztlich nur ein Prinzip: das [...] Moralprinzip“ (415). Möglich ist dieser Übergang nur durch die konsequente Vergeistigung des Phänomens: Ulrich meint die „Urgeschichte“ der Vergeistigung des Kapitalismus, Webers Narrativ („Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein“, 1904, 203; s.u., Fn. 39), nicht nur wörtlich nehmen (2001, 134 ff.), sondern zudem auch umdrehen zu können, als handele es sich nicht um eine Vergangenheit bzw. eine idealtypische Konstruktion derselben. Verwandelte Homann das Nichtkönnen in ein Nichtsollen, so dreht Ulrich Webers Müssen in ein Wollen zurück: Der Zwang des Marktes sei kein echter Zwang, sondern nur das Wollen derjenigen, die es eben wollen („wollen“ setzt Ulrich mehrmals kursiv, vgl. 138, 140, 143, 144). Dafür gebe es keine materiellen Ursachen, nur geistige Gründe (131 – „das, was ist, ist das, was wir wollen“, König 1937, 33; cf. 2.5.1). Erst die Unternehmensethik nämlich lade die „als ob“-Annahme (415) „Gewinnprinzip“ normativ auf, obwohl sich die „Geltung“ (399) des Gewinnprinzips „rational nicht begründen“ lasse (401). So gründet zuletzt alles nicht in realen Strukturen, sondern in einer „Metaphysik des Systems“ (142, siehe Koslowski).50 48 Die verbleibenden Kapitel 3-5 und 10 kritisieren die traditionelle Wirtschaftsethik; auch sie kommen also nicht über die normative Binnenperspektive hinaus. 49 Statt zu einer normativen Letztbegründung kommen Begründungen vielmehr irgendwann an ein Ende, wo sich der „Spaten“ zurückbiegt und man nur noch sagen kann: „So handle ich eben“ (Wittgenstein, PhU 217; ÜG 110, 192, 204); in diesem Fall: „it’s economy, stupid“. Doch Ulrich hat ein deutsches Philosophieverständnis: „Integrative Unternehmensethik versteht sich als permanenter Prozess der [...] Reflexion“ (2001, 428; vgl. 3.1.5, 3.4.3). 50 Ulrich stellt die Geschichte zurecht, wenn er meint, früher sei alles normativ („voll und ganz von den Normen [...] durchdrungen“, 132) und ganzheitlich gewesen („keine gesonderten Bereiche mit einer speziellen Lebensordnung“, 133). Auch früher gab es abgetrennte Reproduktionswelten, man denke an die Sklaverei oder die Unterdrückung der Frau (im Überblick Krätke 2002). Geschichte wird auf Ideengeschichte reduziert: Untersucht werden nicht vorliegende Probleme, sondern Theorien (hier von Arendt und Sandel). Werden diese nicht mehr im realen politischen Diskurs verortet, werden Theorie und Wirklichkeit ununterscheidbar. Nach Ulrich habe etwa Adam Smith einen „epochalen Bruch“ mit der Wirtschaftsethik vollzogen (132; obwohl er nicht der erste Ökonom war, der Ökonomie nicht mehr als Unterklasse der Ethik trieb). Wenige Zeilen später meint er aber, „dass sich Smiths liberale Politische Ökonomie letztlich nur von seiner Moralphilosophie her erschließen lässt“. Wo ist der Bruch geblieben? Die geschichtliche Besonderheit der materiellen Bedingungen,

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Ist das reale Problem erst einmal in ein begriffliches uminterpretiert, so scheint dem eine philosophische Operation abhelfen zu können – Ulrichs kategorisch-kategoriale Vorordnung der ethischen Legitimität vor der ökonomischen Rationalität (428). Der Preis für diesen theoretischen Radikalismus ist allerdings eine politische Naivität: Gefahren, die mit einer „Sachzwangbegrenzungspolitik“ (162) drohen, werden kaum mehr beleuchtet. Die Machtfülle, die eine solchen Politik zu ihrer Umsetzung erheischen würde, scheint nur wenig Probleme zu machen. Woher soll sie aber kommen? Wäre nicht weiter zu fragen: „Wer legt fest, welche Werte als oberste Zielpunkte des Wirtschaftens für alle verbindlich zu gelten haben? Wird die Wirtschaft von irgendeiner Instanz auf einheitliche Zielwerte verpflichtet, dann haben wir es sehr bald mit einer Lenkungswirtschaft zu tun, die autoritär-paternalistische Züge aufweist, weil sie in Anspruch nimmt zu wissen, was den Menschen gut tut und was sie einheitlich zu wollen haben (Waibl 1989, 153; Hvg. CH).

Ulrich müsste zuallererst politische Umwälzungen fordern. Doch es bleibt bei philosophischen Operationen. Einzig über die begriffliche Unterstellung eines solch rousseauistischen einheitlichen Wollens kann Ulrich den „Primat der Politik“ einschmuggeln. Die Benennung der Wirtschaftsbürgerrechte und -tugenden als „republikanisch“ klingt zwar gut (293 ff., cf. Lorenzen 1991, 63), sie übergeht aber gerade diesen entscheidenden Punkt, der bereits die Umweltbewegung gespalten hat.51 Auf nationaler Ebene können vorgegebene Richtlinien durch Kapitalflucht recht einfach umgangen werden („exit option“, Altvater 1996, 343 f.; Habermas 1998, 106). Eine mögliche „diskursethisch begründete“ und wie auch immer politisch erzwungene „Geltung“ solcher Begrenzungen könnte sich darum als wirkungslos erweisen, da die „unmoralischen“ Wirkungen des Gewinnprinderen Resultat die normativen Überhöhungen der ökonomischen Ethik und normativen Sozialphilosophie sind, kommt nicht vor. Wenn Ulrich erklärt, es gehe um die „Wiederherstellung zwangloser politisch-ökonomischer Verständigungsverhältnisse unter mündigen Bürgern“ (124), so sind in dieser Aussage Ethik, Politik, Ökonomie und Reflexion etwas undurchsichtig vermengt. 51 Die Umsetzung dieser Sachzwangbegrenzungspolitik ist kaum anders als autoritär vorstellbar (Fn. 20). Die autoritären Tendenzen scheinen Ulrich nicht zu stören; die angestrebte Position wird schlicht „Republikanischer Liberalismus“ (296) genannt, ohne den darin angelegten Widerstreit zu sehen: ein spekulativ-„dialektischer“ (319) Zusammenfall der Gegensätze. Ein Konzept ist nicht schon damit legitim, dass es irgendwie genannt wird. Vertraut Ulrich dagegen der „konsensbasierten Dissensregelung“, die sich auf den „Basiskonsens über die formalen Grundsätze und Prozeduren“ beschränkt (314), wäre seine Position zwar politisch moderater, die inhaltlichen Forderungen aber kaum erfüllbar – sie verurteilten sich zur Belanglosigkeit. Vorgeschaltet ist der „Ethik“ erneut eine Fehlbestimmung des Objektes, die eine Handlung letztlich erübrigt, da „im Grunde“, in den Grundkategorien, bereits alles zum besten bestellt ist. Die andere, sozialdarwinistische Lesart seines Grundbegriffs „Lebensdienlichkeit“, den er zwar im Titel führt, aber nicht erläutert, übergeht Ulrich. Am ehesten kommt Ulrich dem Elitismus von Habermas nahe, dessen Legitimation über Argumente nicht auf reale gesellschaftliche Entscheidungen, sondern auf eine „kritische Prüfung“ durch Intellektuelle hinausläuft (148).

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zips (Ausbeutung, Umweltbelastung, Krisenanfälligkeit) damit nur verlagert werden, und zudem als nur kurzfristig, da ein Nationalstaat mit einer solchen Kapitalflucht nicht lange wird leben können, und daher solche Regelungen entweder selbst umgehen oder wieder zurücknehmen wird.52 Der deutsche Supernormativismus kommt also in der historistischen Wirtschaftsethik nicht aus seiner „geistigen“ Selbstghettoisierung heraus, er kommt nicht in die wirkliche Welt hinein (cf. MEW 3, 40). Er beschränkt sich auch hier auf ein Aufstellen von Forderungskatalogen. Nicht das Fordern als solches ist misslich, sondern ein Fordern von etwas, das unter gegebenen Umständen entweder unmöglich oder immer schon erfüllt ist. Zugrunde liegt auch hier die deutsch-philosophische Unterbestimmung sozialer Wirklichkeit, von der die „Normativität“ nur ein kleiner Teil ist. Sie wird umso weniger verstanden, je mehr sie isoliert wird. Das Dilemma der Wirtschaftsethik, zwischen der abstrakten Kritik der Theologie und der ebenso abstrakten Überaffirmation der Betriebswirtschaft unvermittelt hin und her zu schwanken, hat sich auch durch seine Übertragung in „geisteswissenschaftliche“ Gewänder nicht auflösen lassen. Die philosophischen Anbauten haben das Problem nicht gelöst, sondern verschärft.

3.3.5 Der Hegelianismus der Wirtschaftsethik Im deutschsprachigen Kontext fiel angesichts dieses unversöhnten Gegensatzes zweier theoretischer Positionen das Augenmerk bald auf einen Denker, dessen Spezialität das Aufheben theoretischer Gegensätze war: auf Hegel. In der Tat fehlt hier die Mitte, weil das zugrundeliegende Kind „Kapitalismus“ mit dem Bad „Marx“ zugleich ausgeschüttet wurde. Angesichts der fehlenden „Synthese“ zwischen den Extremen erhebt nun jede Position unter Bezug auf Hegel den Anspruch, selbst schon diese Synthese zu sein: Es geht darum, mit der eigenen Wirtschaftsethik zugleich die „vermittelnde Mitte“ aller anderen Ethiken zu sein. Doch „ein trockenes Versichern gilt [...] gerade so viel als ein anderes“ (Hegel 1807, 71). Der Bezug auf Hegel ändert an den einzelnen Positionen nichts. Er zeigt den Kampf um Deutungsmacht nur noch einmal an. Bezeichnenderweise erhebt Karl Homann, der am wenigsten philosophische unter den Wirtschaftsethikern, den Anspruch auf die wahre Nachfolge Hegels am offensten. Es gelte, „den Dualismus schon im Ansatz zu vermeiden“ (Homann 1994, 11): „Eine in Hegels Sinne systematische Integration von [...] Moral und Ökonomie verlangt [...], sie aus einer ursprünglichen Einheit – Identität – abzuleiten“ (a.O., 13). Dies war Homann und seiner Schule ja gründlich gelungen: aus dem „Paralleldiskurs“ (17) von Ökonomik und Ethik ist dadurch, dass eine der beiden Seiten durch begriffliche Vorentscheidungen verabschiedet wurde, eine „Identitätsphi52 Ulrich streift diese Fragen am Ende (2001, 377-91), ohne dass sie Einfluss auf die Forderungen hätten. Es würden sich „über kurz oder lang Leitplanken [...] aufdrängen“ (384), eine globale „vitalpolitische Einbindung“ sei unaufhaltbar, sei nur erst die realidealistische Verkehrung von Voraussetzung und Folge verstanden (385).

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losophie“ (12) geworden: „Ökonomik ist – lediglich – Ethik mit anderen, zusätzlichen Mitteln“ (18). Eine reduktive Elimination ist aber weder eine Synthese noch eine Aufhebung. Wer Hegel nahe steht, muss den Bezug auf Hegel hier als missglückt bezeichnen. (Man könnte aber auch umgekehrt argumentieren, dass gerade ein solches Vorgehen die „Wahrheit“ Hegels ist.)53 Koslowski zehrt ebenso vom Nimbus Hegels, wenn er unbescheiden eine philosophische „Theorie der Gesamtwirklichkeit“ zu geben beansprucht (1994, 4). Bei ihm wird die Ethik dank der beispiellosen Vergeistigung zwar nicht eliminiert, doch als eine dem vorliegenden Marktmodell immer schon entsprechende wird sie auch von ihm zurechtgestellt. Seine ideologischen Verherrlichungen des gesellschaftlichen Gesamtorganismus gegen eine bloß moralisierende Kritik stellen eine Replikation weniger Hegels als vielmehr des Rechtshegelianismus dar. Auch der Linkshegelianismus erlebt seinen wirtschaftsethischen „redivivus“: Zunächst ganz Hegelsch will Peter Ulrich „die Zwei-Welten-Konzeption von Ethik und reiner Ökonomik [...] von Grund auf überwinden“ (2001, 119). Doch was ist dieser „Grund“? Das schon in der Fragestellung vertheoretisierte Problem meint Ulrich auflösen zu können, indem er die ethischen Begriffe in der bei ihm gegenüber Theorie und Praxis indifferenten „Ökonomie“ selbst entdeckt.54 Will er damit keine offene Affirmation betreiben, ist er gezwungen, die Begriffe zu verändern. Zur Kritik an realen Phänomenen scheint es auszureichen, bestimmte Geisteshaltungen oder Rationalitätstypen zu brandmarken, die seinen Begriffen nicht gerecht werden. Er beschränkt sich wie die Linkshegelianer auf die Kritik an Begriffen. Die Analogie reicht bis ins Detail der Religionskritik: Ulrich verfolgt den „Wirtschaftsliberalismus“ als Theologie. „Die naturalistische Systemperspektive des ‚freien’ Marktes [als Theorie, CH] ist demnach die ‚natürliche’ Perspektive [nicht etwa einer material bestimmten Gruppe, CH, sondern] derjenigen, die eine ökonomisch determinierte Marktgesellschaft als normativ richtig und sinnvoll begründen wollen, weil sie an die immanente Sinnhaftigkeit [...] des von der ‚unsichtbaren Hand’ wohlgeordneten ökonomischen Kosmos glauben [!]“ (Ulrich 2001, 143).

Ulrich kann das Gewinnprinzip deswegen so problemlos preisgeben, weil es für ihn nur ein von Theoretikern wie Erich Gutenberg (397 ff.) erdachter Glaube ist („Überall hatte man es nur mit Dogmen und dem Glauben an Dogmen zu tun“, MEW 3, 19). Diesen Glauben will Ulrich ins „‚höhere’“ (144) aufheben. Die begriffliche Operation seiner Wirtschaftsethik läuft also darauf hinaus, ein „neues Denken“ zu fordern (siehe zu dieser Bewegung bereits Heidegger und Löwith, 2.5.5, 2.6.6). Daher stellt er nach seiner Ökonomismuskritik neue Kategorien be53 Der Reduktionismusvorwurf lässt sich auf Hegel ausdehnen, auch wenn er auf etwas anderes zurückführt. Immerhin hat schon Hegel in seinen „Synthesen“ das, was sich gegen eine „Aufhebung“ sperrte (Kants Freiheit, die Natur, das Ding an sich), durch begriffliche Operationen eliminiert (vgl. Kapitel 2.5.2, Fn. 74; 2.5.7, 4.2.2). 54 Ulrich will „das Normative [...] im ökonomischen Denken und [!] Handeln“ entdecken (2001, 117; 3,1.2, Fn. 24). Der Begriff der „ökonomischen Vernunft“ umschließt hier Theorie und Praxis – was vernünftig ist, ist auch wirklich.

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reit. Eine versöhnlichere Beschreibung desselben Phänomens ist aber nur eine etwas verdecktere Affirmation (ein „verschönerter Schatten“, MEW 4, 105).55 Marx bemerkte dazu vorwegnehmend: „Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über alle Wassergefahr erhaben“ (MEW 3, 13 f.; cf. 7).

Angesichts der Komplexität heutiger Wirtschaftskreisläufe, die schon von herkömmlichen ökonomischen Theorien nicht vollends erfasst werden, kann die Forderung nach einer nochmaligen Änderung der „Kategorien“ nicht sonderlich überzeugen. Will die Ethisierung der Kategorien mehr sein als Prolegomenon, so müsste die „Wirtschaftsethik“ über ihren Gegenstand weit mehr inhaltliches sagen. Solange sie dies verabsäumt, kann sie mit ihren gefälligen Grundbegriffen die problematische Wirklichkeit gerade nicht mehr erfassen – und überlässt sie so den Praktikern und deren offenen Apologeten.56

55 Was heißt „kritische Reflexion der ethischen Voraussetzungen legitimen Gewinnstrebens“ (395)? Was ist am „systematische[n] Bedenken der unauflöslichen Wechselbeziehungen“ (396) kritisch, wenn sie „unauflöslich“ sind? Ulrichs Website (www.iwe.unisg.ch/iwe/web.nsf) fordert eine „Wirtschaftsethik, die [...] das Normative allererst in den ökonomischen Kategorien und Denkmustern sucht“. Wenn er fortfährt: „und kritischer Reflexion zugänglich macht“, dementiert er zugleich den Anspruch, die Kategorien nur hermeneutisch „aufzudecken“ (2001, 13). Es kommt ihm darauf an, sie zu verändern. Ulrich 1986 fordert ein anderes „Denken“ über Wirtschaft (2001, 13, 397 ff.; Suchanek 1994). Schon der esoterische Teil der Umweltbewegung forderte ein Umdenken: „Was not tut, ist eine Wirtschaftskultur, die uns befähigt, in weiträumigen und langfristigen Zusammenhängen zu denken [!], und die uns zur Einsicht befähigt, dass es einen Gegensatz von Ökonomie und Ökologie gar nicht gibt, sondern nur den Gegensatz von Kurzzeit- und Langzeitökonomie“ (Waibl 1989, 152). Die Einsicht ist offensichtlich bereits gegeben. Wird eine Kultur grundlegender von einer „Einsicht“ oder ihren materiellen Strukturen geprägt? Was hindert diese Einsicht daran, sich durchzusetzen? Ulrich stellt wie die Junghegelianer die Ideale der Wirklichkeit gegen diese selbst, ohne ihre dialektische Einheit zu sehen: „die philosophischen Grundideen [!] des politischen Liberalismus [...] sind zu wichtig, um sie resignativ der Aushöhlung [...] zu überantworten“ (260). Die Wirklichkeit ist bereits eine „Realisierung“ dieser Begriffe, da sie dieser erst entspringen. Sie gegeneinander aufzufahren heißt, die Wirklichkeit in der Idee zu verdoppeln (3.1.6). „Diese Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen“ (MEW 3, 20). 56 Ulrich hebt mehrmals hervor, dass er nur eine Programmatik vorlege: Es werde eine „‚Denklinie’ zu legen versucht“ (2001, 15; „Ein integratives Ethikprogramm [...] würde idealerweise ....“, 461, etc.). Ein materiales Defizit beklagen auch Korff 1999 I, 870 und R. Pfriem: „Ulrich sollte sich dazu durchringen, dass eine [...] Entwicklungsperspektive [...] allenfalls zustande kommt über Beiträge zur [...] Entwicklung moderner Gesellschaften – jedenfalls nicht über die prinzipielle Verurteilung des Gewinnstrebens“ (in Maak 1998, 484).

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Wie einst der Kapitalismuskritik der Kirche oder der Völkischen droht ihr die Gefahr, aufgrund ihrer Vagheit eine erbauliche Begleitmusik zur ungebremsten Weiterentwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu werden.57 Nur unter der Unterstellung, dass mit diesen theoretischen Operationen auch praktisch etwas gewonnen ist, ist die Rede von einer „Einbettung“ (Polanyi) mehr als Begriffsdichtung. Aber eben diese Unterstellung ist problematisch: Dem Predigen der Moral läuft bei den rechts- und linkshegelianischen Wirtschaftsethiken ein Überspringen der Welt entgegen. Ulrich trifft sich mit Homann darin, dass im Begriff der „Ökonomie“ Theorie und Gegenstand zu wenig unterschieden werden.58 Die „Synthese“ von Ökonomie und Moral wird dadurch ermöglicht, dass ökonomische Begriffe sich ethisch ausdeuten lassen – bei Homann durch eine „Freilegung“ unterschobener moralischer Implikate des Marktes, bei Ulrich durch eine „begriffliche“ Unterordnung desselben unter die Moral. Theorie und Praxis, Sollen und Sein, Denken und Wirklichkeit werden von beiden als Einheit gefasst, nur gilt in dem identitätsphilosophischen Konglomerat „Wirtschaftsethik“ hier der Begriff der Wirtschaft, dort der der Ethik als das wirklichere – ein subjektives Subjekt-Objekt steht gegen ein objektives Subjekt-Objekt (Hegel 1801, 17 f., 85). Voraussetzung für beide Synthesen ist die vorgängige Vergeistigung des Phänomens. Auch bei der Wirtschaftsethik fällt der Gegenstand „Kapitalismus“ durch alle theoretischen Netze hindurch.

57 Päpstliche Forderungen sprechen von einem ethischen „Prinzip des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital“ (Laborem exercens, nach Waibl 1989, 182). „Ohne den freien Markt abzuschaffen, sollte man doch den Wettbewerb in Grenzen halten, die ihn gerecht und sozial, also menschlich machen“ (Populorum progressio, a.O., 179). Einerseits, andererseits; doch was geschehen soll, erfährt man nicht. Politisch beschränkte sich die Kirche darauf, ein anderes Denken zu fordern. So wurde nur das Bestehende normativ überhöht: Die „berufsständische Ordnung“ soll zu einer „einträchtigen Zusammenarbeit der Stände“ führen, die Menschen sollen sich „jenseits des Unterschieds zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ als „höhere Einheit“ begreifen (Quadragesimo anno, a.O., 183). „Es handelt sich bloß um eine Beruhigung des erklärenden Subjekts“ (MEW 40, 277). Die Völkischen forderten von der Wirtschaft eine „Dienstbarkeit dem Volke gegenüber“ (F. Nonnenbruch, nach Waibl 1989, 158). „Das Volk lebt nicht für die Wirtschaft ..., sondern die Finanz und die Wirtschaft, die Wirtschaftsführer und alle Theorien [!] haben ausschließlich diesem Selbstbehauptungskampf unseres Volkes zu dienen“ (Hitler, a.O. 261 f.). Mithilfe von Vergeistigungen machten auch sie daraus eine Operation des Denkens: „Der Besitz der Wirtschaft durch das Volk ist keine materielle, sondern eine seelische und geistige Tatsache“ (Nonnenbruch, a.O. 259). Für Moeller van den Bruck war die „Wirtschaft ein Überbau, während die Ideen, Macht, Recht, Staat der Unterbau sind, der die Wirtschaft trägt“ (a.O., 157). 58 So „etwas wie ‚Erkenntnis der Wirklichkeit’ ist kein sinnvolles Forschungsprogramm“ (Homann 1994, 21). Auch Ulrich will keine „Problemlösungen für konkrete Fragen wirtschaftlichen Handelns bzw. wirtschaftspolitischen Gestaltens“ bereitstellen, sondern nur die „Form vernünftigen Denkens“ klären (2001, 14).

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3.3.6 Globalisierungskritik als Platzhalter Angesichts dieser Selbstabschließung des Gedankens gegen die Wirklichkeit verließ die ökonomische Vernunft die Seminar- und Vortragsräume und ging, um mit Hegel zu reden, in ihr Anderes über: Sie ging auf die Strasse. Auch ohne dass der Gedanke zur Wirklichkeit drängte, kam nun die Wirklichkeit zum Gedanken (MEW 1, 386). Es waren weniger die praktischen Ökonomen, die den theoretischen ins Wort fielen,59 sondern die von Marx stets beschworenen wirklichen Menschen in Form der „Massen“, die die gegenwärtigen Diskussionen um die ökonomische Weltlage angefacht und verändert haben. Aus dieser Sicht markiert nicht nur das Jahr 1989 einen Epochenbruch, sondern auch das Jahr 1999.60 Die in dem dazwischenliegenden Jahrzehnt praktizierte Ethisierung (Kuschel 1999, Weiler 1999) und die von ihr genutzten Institutionen werden geschildert wie folgt – und damit ist zumindest die Intention der radikalsten Fraktion der Wirtschaftsethik wiedergegeben: „Das Denken in Interessen, in Macht- und Herrschaftsverhältnissen wurde nach dem Epochenbruch von 1989 für obsolet erklärt. Vor allem die VertreterInnen der lobbyistischen Nichtregierungsorganisationen (NGO) versuchen, ‚die Wirtschaft’ davon zu überzeugen, dass es in ihrem eigenen ‚wohlverstandenen Interesse’ läge, weltweit eine sozialere und ökologischere Politik zu machen“ (Tatort Globalisierung, wie Fn. 60, 2).

Schon die Initialzündung der „Ethisierung“ hatte sich vorwiegend als Politikberatung verstanden (H. Jonas 1979, 153 ff.). Diese Erbschaft war in den Folgejahrzehnten eher an die Unternehmensberatung übergegangen (Steinmann 1994, Wieland 1999). Angesichts mangelnder Ergebnisse wird die Ethisierung von der Globalisierungskritik kurzum für gescheitert erklärt: „Eine andere Welt ist nur möglich,61 wenn wir sie auch erkämpfen. Diese Gegenkräfte dürfen sich nicht an ‚den Staat’ oder ‚die Politik’ mit der Bitte wenden, er möge doch bitte für eine ökologischere und sozialere Politik sorgen“ (2). Als wichtigste Frage wird die in der akademischen Theorie vernachlässigte nach dem Subjekt empfunden (cf. 2.2.2, 2.6.5). Dahingestellt, ob sich die Globalisierung auf konkrete Exekutoren zurückverfolgen lässt (daher die Rede von einem „Tatort“, cf. Gray 1999) oder ob eher anonyme, nicht zuschreibbare „Sachzwänge“ dahinterstehen (Altvater 1987); die „Verlierer“ der Globalisierung (Mander 2002) haben selbst begonnen,

59 Cf. Tobin 1978, Scott 1997, Gray 1999, Krugmann 1999, Soros 1999, Stiglitz 2002. 60 „Spätestens mit den Protesten in Seattle 1999 wurde offenbar, dass ein breiter Protest in den Metropolen nicht nur möglich ist, sondern die versteinerten Verhältnisse auch zum Tanzen bringen kann. Es folgten: Davos, Prag, Göteborg, Genua im Sommer 2001. Sie alle gelten als Synonyme eines weltweiten vielstimmigen Aufbruchs und militanter Verweigerung gegenüber dem globalisierten Kapitalismus und seinen desaströsen Auswirkungen“ (Tatort Globalisierung. Die Zeitung zum BUKO 25 – Kongress, Fr/M, 9.-12. Mai 2002, 1). 61 Zu dieser Losung von attac vgl. Cassen 2002, Grefe 2002, Löwy 2002.

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sich zum Zwecke des Widerstands gegen ihre Folgen als politisches Subjekt zu konstituieren.62 Doch was sagt diese Politisierung über die Wirtschaftsethik aus? Die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Hemisphäre lässt sich verkürzt wiedergeben wie folgt: aufgrund sozialer Fehlentwicklungen wie der Verarmung breiter Schichten und der wachsenden Einkommensschere kam es politisch wiederholt zur „direkten Aktion“ der Betroffenen. Sie provozierte von Seiten des Staates eine Verrechtlichung auch sozialer Ansprüche, um den Klassenkampf stillzustellen und der zwischenzeitlich entstandenen Systemalternative etwas entgegenzusetzen.63 Dies erwirkte eine weitgehende Besserung der sozialen Lage, aber auch eine paternalistische Entpolitisierung. Doch diese Entspannung war nur in den Zeiten des wirtschaftlichen Nachkriegsbooms möglich. Nach dem Krisenjahrzehnt 1967-1977 setzte eine globale „Liberalisierung“, also eine Reprivatisierung und ein Abbau weniger von Protektionen als vielmehr von staatlichen Sozialleistungen ein (Huffschmid 1999, 98 ff.). So wich die Institutionalisierung einer Re-Individualisierung sozialer Nachteile (Beck 1983). Das Schwinden verrechtlichter Strukturen aus der sozialökonomischen und ökologischen Sphäre bedeutet, dass die dortigen Standards nicht mehr erzwingbar sind, sondern nur mehr auf Freiwilligkeit, auf „Selbstverpflichtung“ beruhen.64 Der damit einhergehende Verlust an Rechtssicherheit und materiellen Errungenschaften des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Dahrendorf) kann allerdings ethisch kaum kompensiert werden (3.2.3). Die Ethisierung wird funktional zum Deckmantel institutionellen Abbaus. Mit der fortschreitenden Auflösung der 62 Bezeichnenderweise sind Teile der Kirchen, die ja schon die Dekade der „Wirtschaftsethik“ einläuteten, wieder mit von der Partie. Die Kirche fungiert nun nicht mehr als Stellvertreterin der Entrechteten in einem nur theoretischen Diskurs, sondern kann gemäß ihrer alten Rolle nun wieder vermittelnd eingreifen (2.6.6, 3.3.2). 63 Zur „Verrechtlichung“ Habermas 1981, Kübler 1985. Unter Maßgabe gegebener materieller Verbesserungen in der Arbeiterschaft hatte der westliche Marxismus der Nachkriegszeit selbst eine „ethische“ Linie eingeschlagen: es ging nicht mehr um weitere Verbesserungen, sondern um unversehrte Identität, mehr Freiheit und „Repolitisierung“ (vgl. 2.6.3, 3.1.1, 3.2.4). 64 In der Unterstützung dieser Entinstitutionalisierung sind sich die Wirtschaftsethiker einig: Voraussetzung für eine „ethisch-vernünftige“ Praxis ist nach Ulrich (2001, 13) ein verändertes Denken – Denken können aber nur Individuen. Ulrich vertraut auf den „guten Willen zur autonomen moralischen Selbstverpflichtung aus Einsicht in deren menschliche Bedeutung für uns selbst und für andere“ (25). „Die im Wettbewerb stehenden Unternehmen [auch eine Antwort auf die Frage nach dem Subjekt, CH] legen [...] Standards ihres Verhaltens fest, z.B. hinsichtlich des Umweltschutzes [...] wichtigste Form einer solchen kollektiven Selbstbindung ist die einer freiwilligen Selbstverpflichtung. Solche Selbstverpflichtungen lassen sich definieren als [...] rechtlich unverbindliche Erklärung“ (Suchanek 2001, 117). Dies bleiben meist schöne Worte, denn: „Wichtige Voraussetzungen für eine solche Strategie sind: [...] Die Selbstverpflichtung muss für die teilnehmenden Unternehmen grundsätzlich vorteilhaft sein (117). Doch das Zurückgehen staatlicher Macht ist nicht generell: Der Schutz der „Sicherheit“ wird innen (Polizei, Verfassungsschutz) wie außen (Militär, Bündnispolitik) heute eher verstärkt (Hirsch 1996, Zugehör 1998, 105).

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Verrechtlichung sozialer Konflikte ist die Rückkehr zur politischen Aktion eine verbleibende Möglichkeit zur Veränderung: es kommt wieder vermehrt zu Streiks und Großdemonstrationen. Das ist die von der deutschen Theorie lange geforderte „Repolitisierung“.65 Ex post ist die „Ethisierung“ als ein Interludium im Zuge der säkularen Entrechtlichung zu lesen. Langsam ähnelt die Situation auch äußerlich wieder der, von der Marx einmal ausgegangen war. Es ist kein Zufall, dass in dieser Konstellation eine Rückbesinnung auf ihn erfolgt. Allerdings beschränkt sie sich bislang auf feuilletonistische Beschwörungen und epigonale Alleinvertretungsansprüche überlebter Kaderparteien gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung.66 Solange der Marxismus sich seiner eigenen katastrophalen Geschichte verweigert, ist die Angst vor erneuter dogmatischer Erstarrung berechtigt. Auf diese Weise wird es zu einer Aufgabe der Philosophie, der Begriffslosigkeit angesichts der weltpolitischen Umbrüche abzuhelfen. Sie ist nicht unmittelbar praxisrelevant und daher des Extremismus unverdächtig. Es ist an ihr, die Gehalte des Marx’schen Denkens präsent zu halten. Dieses Kapitel 3.3. zeigte in der Analyse eines weiteren Zweiges deutscher normativer Sozialphilosophie auf, dass aus der älteren dualistischen Aufspaltung in Technik und Ethik (Kapitel 2) nach dem Ende des theoretischen Marxismus ein ethischer Alleinvertretungsanspruch geworden ist. In ausdrücklichem Bezug auf Hegel wird versucht, aus je einer ethisierten Perspektive – auch der vormals normfrei verstandenen – die soziale Totalität zu erfassen, ohne dass die Theorie damit gehaltvoller geworden wäre. Sie hat sich durch diese hegelianische Absonderung von der Welt vielmehr anfälliger für eine Marx’sche Kritik gemacht.

65 Der islamistische Terrorismus ist kaum als Gegenbewegung zu bewerten, da er den Verlust sozialer Errungenschaften wie Toleranz, Religionsfreiheit und Gleichberechtigung sowie den Übergang zu einem militarisierten „Sicherheitsstaat“ eher beschleunigt. Er arbeitet den unangenehmen Seiten der Globalisierung zu, für die er sich im Übrigen auch gar nicht interessiert. El Quaida geht es um ein Ende der amerikanischen „Besatzung“ Saudi Arabiens; es ist eine klassische Gegenelite, die sich auf halbwegs gut ausgebildete, aber relativ schlecht situierte junge Männer stützt. 66 Einen Artikel der Financial Times Deutschland vom 22.8.2002 schmückt ein Portrait von Marx (cf. 1.1, Fn. 4). Auf der 2001 von Slavoj Zizek ins Leben gerufenen Konferenz über Lenin stritten in Realsatire übriggebliebene marxistische Splittergruppen über die Hegemonie über die Globalisierungskritik (cf. Bensaid 2002).

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3.4 Neopragmatismus oder die Permanenz Hegels Bei der Betrachtung der sich um verschiedene Wertvorstellungen streitenden und sich in Synthesen „versöhnenden“ (Habermas 1996, 65 ff.) Philosophien der Gegenwart stießen wir auf den seltsamen Sachverhalt, dass über die zugrunde liegenden Gegenstände kaum noch etwas ausgesagt wurde. Dies wäre als Rückkehr der Prinzipienphilosophie zu deuten, stünde dem nicht das post- bzw. „nachmetaphysische“ Selbstverständnis im Wege.1 Was für eine Art Philosophie ist das? Der Blick auf die Genese dieses nichtmetaphysischen Prinzipialismus stößt bald auf den Einfluss einer älteren Richtung, die schon genau dies zu sein beanspruchte: den Pragmatismus.2 Er stellte von Peirce bis Brandom eine nochmals reflektiertere Philosophie dar, welche sich auf die selbst schon gegenstandslose Philosophie richtete (eine Philosophiephilosophie, Raatzsch 2000; Dilthey, GS VIII). Er wollte nicht die Inhalte, sondern die Art des Philosophierens umkrempeln, und zwar, wie schon der Name sagt, von einer „dualistischen“ und kontemplativen Philosophie in den Bahnen von Descartes und Locke zu einem um das Handeln zentrierten Neuansatz. Diese Transformation der Philosophie hat für die USamerikanische Tradition eine Überwindung damals vertretener, vermeintlich alteuropäischer Idealismen erkämpft und die „amerikanische Philosophie“ allererst begründet. Nach dem Verebben der analytischen Tradition kam diese uramerikanische Philosophie wieder zum Vorschein, protegiert u.a. von Rorty. Dies soll nicht erneut gewürdigt werden, sondern vielmehr ist zu fragen, was diese Transformation gegenüber der in Europa bereits vollzogenen eigentlich an systematischen Gewinnen brachte (3.4.2). Aus der Perspektive einer immanenten Funktionsanalyse von Texten (1.4) kann man in der „Renaissance des Pragmatismus“ (Sandbote 2001) auch, zumindest was die politischen und sozialphilosophischen Momente angeht, eine Reaktion auf die Wellen des westlichen Marxismus der 1970er Jahre sowie, nach seinem Ende in den 1990er Jahren, einen theoretischen Rettungsring für Ex- oder Postmarxisten sehen. Der Neopragmatismus rückte in eine Lücke ein, die das Verschwinden der Marxismen in der akademischen Welt nach 1989 gerissen hat (3.4.3). Dies war möglich durch eine oberflächliche Verwandtschaft von Marxismus und Pragmatismus. Einem näheren Blick erschließen sich jedoch prägnante Unterschiede (3.4.4). Speziell in Deutschland eröffnete die spät einsetzende ernsthafte Rezeption des Pragmatismus die Möglichkeit, alte Positionen deutschen Denkens nicht abzulegen, sondern modernisiert zu „rekonstruieren“. Daher ist kritisch anzufragen, ob die deutsche postmarxistische Rezeption des eher technizistisch orientierten Pragmatismus nicht als normativistische Re-Idealisierung zu verstehen ist. Die anhaltenden Debatten darüber lassen diese Möglichkeit zumindest offen. Man kann den Neopragmatismus hier wie dort als neu aufgelegten Hegelianismus verstehen (3.4.1). 1 Habermas 1988, Rawls 1993, siehe auch Forst 1999. 2 Apel 1975; 1973 II, 157ff.; Habermas 1968, 116ff., 1988, 187ff.; R. Bernstein 1971.

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3.4.1 Die deutsche Pragmatismusrezeption als Problemanzeige In der deutschen Philosophie, die im 19. Jahrhundert noch Weltruhm hatte, hat es lange vor dem amerikanischen Pragmatismus einen Bruch gegeben, und zwar den mit Hegel.3 Nötig geworden war er wegen der Unhaltbarkeiten der nachkantischen Einheitsphilosophie, vor allem derjenigen Hegels. Kierkegaard, Nietzsche und, beide vollendend, Heidegger verabschiedeten sich von zentralen Rationalitätsstandards der Philosophie (2.5.5). Sollte Philosophie nach Heidegger noch weiter betrieben werden (und dies war oft ein existentiell empfundenes Problem), musste sie hinter den Bruch zurück, ohne sich Hegels Hypotheken aufzuladen. Die nötig gewordene „Transformation der Philosophie“ (Apel) wollte also dem „Bruch“ mit der Philosophie zuvorkommen.4 Nun wurde bereits deutlich, dass es vergleichbare Hypotheken bei Kant nicht gab. Er hatte die wissenschaftliche Rationalität in kritischer Reflektiertheit sowohl behandelt wie praktiziert (2.5.2). Und schon Marx hatte einen Bruch mit Hegel vollzogen, ohne zugleich mit der Rationalität zu brechen (2.5.7). Diese Transformation der Philosophie hat das deutsche Denken lange Zeit befruchtet, wenn auch je nur partiell oder defizitär (2.4-2.6). Zwar war Marx dabei aus der Philosophie ausgeschert, doch war er im Rahmen der Philosophie Kants integrierbar, wie Ansätze im Austromarxismus zeigten (2.1.3, 4.2.3). Etwa die Rolle, die hierzulande Marx gespielt hat, spielte in Amerika der Pragmatismus. Auch dort hatte es, mit einiger Verspätung, einen einflussreichen Hegelianismus gegeben, der Spuren noch in seiner Überwindung hinterließ (Fn. 15). Wohl daher wurde der Pragmatismus nach dem Verschwinden des Marxismus von der philosophischen Bühne in Deutschland begeistert aufgegriffen. Doch was soll eine neuerliche „kopernikanische Revolution“ leisten?5 Warum wird sie für nötig gehalten? Was bewirkt die erneute „Transformation“ einer Philosophie, die bereits in ein soziologisch aufgeklärtes Denken transformiert wurde?6 3 Cf. Löwith 1942. Autoren wie Kierkegaard, Bakunin oder Ciesowski gehören in den weiteren Kontext der „deutschen Philosophie“, da sie in Hegelschen Bahnen dachten. Französische und englische Autoren dagegen hatten einen solchen Bruch oft weniger nötig, da in Materialismus und politischer Ökonomie längst „weltlich“ gedacht wurde. Die Internationalität der Rezeption auch solcher Schriften unterschied Marx von den Junghegelianern. 4 Habermas hat „den amerikanischen Pragmatismus von Anfang an als die [...] dritte produktive Antwort auf Hegel verstanden“ (1985b, 215). „Der eigentliche Durchbruch in der Rezeption des Pragmatismus (...) ist [...] das Verdienst von Karl-Otto Apel“ (Joas 2000, 9). Apels Peirce-Vorworte (1967, 1970) leisteten Pionierarbeit; Konsequenzen zog Apel 1973; cf. 1988. 5 Fn. 33. Der Pragmatismus gleicht einer Gegenrevolution: Kant fragte nach den Möglichkeitsbedingungen. Der Pragmatismus lenkte den Blick auf die Folgen (Fn. 27). 6 Marx muss weder re- noch detranszendentalisiert werden, da seine Methode – wie jede ernstzunehmende Wissenschaft – den von Kant ausgewiesenen „transzendentalen“ Voraussetzungen schlicht unterliegt (3.4.4, 4.2.3). Howard 1985 und Negt 2003 beleuchten bezüglich Kant und Marx andere Zusammenhänge (siehe bereits 2.1.3).

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In der bundesdeutschen Nachkriegsphilosophie war es erstmals wieder zu einer ernsthaften Rezeption angelsächsischen Denkens gekommen. Dies riss viele deutsche Denker aus ihrem dogmatischen Schlummer. Im Vordergrund stand dabei die analytische Philosophie, die die Sprache als eine neue Instanz zwischen alte philosophische Probleme und ihre Beantwortung schob.7 In Reflexion auf die Sprachvermitteltheit des Denkens machte man sich an die Strukturen derselben, in der Hoffnung, dadurch Aufschluss über alte Fragen zu gewinnen, oder wenigstens „sinnlose“ Fragen auszusortieren. Der Hauptunterschied innerhalb dieser Bewegung ähnelte dem zwischen Rawls und den Kommunitaristen (3.2.3): glaubte eine Fraktion, die zentrale Struktur der Sprache in der reinen Aussage (Proposition) ausmachen und alles weitere davon abhängig machen zu können (Russel, der frühe Wittgenstein, Carnap, Brandom), so ging die andere Fraktion von einem irreduziblen Pluralismus von Sprachspielen aus (der späte Wittgenstein, Austin, Searle). Gemeinsam war man der Auffassung, dass eine Untersuchung der Sprache fortan das erste und wichtigste Betätigungsfeld philosophischer Analysen sein müsse. Diese Analyse konnte man freilich auf unterschiedliche Weisen durchführen, entsprechend kam man auch zu verschiedenen Ergebnissen (siehe im Überblick Hügli 1992, Blume 1998, Demmerling 2002). Die Frage ist nun: welche Konzeption steht hinter dieser Weichenstellung? Der im wahrsten Sinne „grundlegende“ Baustein war die Auffassung, dass die menschliche Wirklichkeit sprachlich konstituiert sei („Die Logik erfüllt die Welt“, Tractatus 5.61; cf. Carnap 1928). Einerlei, ob dies mehrere unterschiedliche „Sprachhandlungen“ oder ein zentraler Mechanismus der Weltkonstitution vollbringt, wird das Sprechen so primär als welterzeugendes Handeln, weniger als ein Ausdrücken von Gedanken oder Gefühlen begriffen (Lafont 1994). Durch die Fokussierung auf die Sprache wurde diese in der Reflexion allerdings zu einem ähnlichen Schleier zwischen Subjekt und Objekt, wie es zuvor „Vorstellung“ und „Empfindung“ waren. Die Frage, wie das Subjekt zu einem Objekt kommt, war so keineswegs überwunden, sondern nur verschoben auf die Frage, wie sich Worte auf Gegenstände beziehen.8 So fiel in der Reflexions-Reflexion, der Reflexion auf die Voraussetzungen und Implikationen der ihrerseits schon reflexiven analytischen Philosophie, das Augenmerk bald auf den Pragmatismus.

7 Ein Trostpflaster für philosophische Patrioten mag gewesen sein, dass zentrale Gründerväter derselben wie Frege, Wittgenstein und Carnap deutschsprachig waren. Ähnliches galt ja auch für die Reimporte der Soziologie, denn auch die US-Soziologie verstand deutsche Denker wie Marx, Simmel und Weber als Gründerväter (2.4.1). 8 Mit Quine 1960; oder wie sich „Sätze“ auf „Tatsachen“ beziehen (Wittgenstein 1984). Die veränderte Stellung der Frage ist indes noch nicht ihre Lösung. Auch die analytische Sprachphilosophie entkam den in Deutschland besonders gefürchteten Dualismen (von Geist und Körper etc.) nicht; siehe dazu jüngst Demmerling 2003.

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Dieser hatte nicht nur wichtige Schritte hin zu einer Analyse der Sprache zurückgelegt,9 sondern auch die nötige fundamentale Weichenstellung vollbracht. „Nicht mehr“ das vorgeblich einst als konstitutiv betrachtete Bewusstsein stand im Mittelpunkt wie in der „Bewusstseinsphilosophie“, sondern das Handeln.10 In der Rolle, die der Pragmatismus dem Handeln und Sprechen zuspielte, schien bereits eine vorgängige Intersubjektivität zu liegen, die die Rezipienten dazu einlud, die leidigen Dualismen aufzulösen, und zugleich die in ihren Ergebnissen bislang dünne Sozialphilosophie alternativ zu „fundieren“ (Habermas 1968). Doch kann der Pragmatismus diese Aufgabe überhaupt übernehmen? Eine „Begründung“ der Sozialphilosophie hatte der Pragmatismus am wenigsten angepeilt. Ihm ging es um ein anderes Konzept der Logik, und er wollte die Ergebnisse der idealistischen Systemphilosophie in eine zeitgemäße Form bringen.11 Dabei kam es natürlich darauf an, was für ein Verständnis desselben an den Tag gelegt wurde. Fatal wirkte sich daher aus, dass die Optik sowohl des Pragmatismus wie seiner Adepten nicht hinreichend zwischen Kant und Hegel unterschied: Die Binnendifferenzen innerhalb der Kantischen Philosophie wurden aus der durch Fichte und Hegel getrübten Sicht eingezogen. Auf die Philosophie Kants, auf die man nun einmal fixiert war, wurden so Schwächen projiziert („psychologische Requisiten“, „metaphysische Hintergrundüberzeugungen“, „Idealismus“), die eher Fichte und Hegel zukamen (3.1.5, Fn. 125). Doch zugleich erwartete man von ihr genau das, was die Philosophie Hegels versprochen hatte. Nur aufgrund dieser zu hohen Erwartung an Kant, zusammen mit einer vereinheitlichenden Wahrnehmung, erschien eine „Transformation der Philosophie“ überhaupt als notwendig. Darum sah es im Weltbild des Neopragmatismus so aus, als gebe es eine Einheitsphilosophie, die es lediglich von ihrem vermeintlich überweltlich-metaphysischen Ross zurück auf die Erde zu bringen gelte, aber ohne dass sie aufhörte, „transzendental“ zu sein.12 Die Plausibilität dieses Zieles

9 „Another such deception is to mistake a mere difference in the grammatical construction of two words for a distinction between the ideas they express“ (Peirce, Collected Papers – fortan kurz CP –, 5.399). 10 Die Tiefendimension des Pragmatismus bestand weniger in der „pragmatischen“ Lösung philosophischer und anderer Fragen (obwohl er dies propagierte), sondern in der erkenntnistheoretischen Berücksichtigung der Konstitutionsleistung der Handlung (gr. pragma) vor allem Denken (Nagl 1998). Als „Bewusstseinsphilosophie“ prominent war aber nicht die Philosophie Kants, sondern in Deutschland vielmehr die Fichtes, in den USA eine Mischung aus Lockescher Psychologie und Emersonschem „Transzendentalismus“ (s.u., Fn. 15). 11 Dewey 1920, 60 forderte einen neuen (epistemischen, nicht metaphysischen) Idealismus. Schon Peirce sah den Pragmatismus als den „wahren Idealismus“ an (CP 8.284; „pragmatism is closely allied to the Hegelian absolute idealism”, CP 5.436). Die Ansätze waren aber ganz dem alten Idealismus verhaftet – ein Diamant ist erst hart, wenn man ihn als harten wahrnimmt (CP 5.403/Apel 1975, 147). 12 Beliebte „Detranszendentalisierer“ waren Wittgenstein und Heidegger (Apel 1973, Rentsch 1985, Habermas 2001). Doch allein im Inhaltsverzeichnis von Apel 1973 II

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hing allerdings an der zu vereinheitlichenden Auffassung und Lesart von Philosophie. Es kam zu misslichen Ergebnissen, da die neopragmatische Transformation auf die verschiedenen Teile der durch Marx bereits transformierten Philosophie (3.4.4) gleichermaßen angewandt wurde, sowohl auf die wissenschaftliche Theorie und ihre Reflexion, wie auf Ethik und Politik und die Reflexion auf sie. Die bei Kant und Marx wohlunterschiedenen Disziplinen der Fundamentalphilosophie und der Gesellschaftstheorie werden einander derart angenähert, dass am Ende beide verderben. So hört die Philosophie auf, Grundlagenreflexion zu sein: die immanenten Möglichkeitsbedingungen von Theorie und Moral werden „detranszendentalisiert“, obwohl sie das nicht vertragen – ein Apriori lässt sich per Definition nicht aposteriorisch einholen.13 Zugleich wurde die Theorie der Gesellschaft „retranszendentalisiert“, indem der Theoriepragmatist Habermas sie nacheinander von der Erkenntniskritik, der Ethik und einer transzendentalisierten Sprache abhängig machte (3.1). Jede Einzelwissenschaft hört auf, Wissenschaft zu sein, wenn ihr sinnfremde „philosophische“ Begründungslasten aufgebürdet werden (3.2.4). Zu konkreten Urteilen kann man mit einer solch iterierten Begründungspflicht nicht kommen.14 Theoretische und moralische Urteile werden vermengt (3.3) und geraten im Laufe ihrer kumulativen „Begründungen“ aus dem Blick. Empirische Wahrheit und moralische Urteilskraft werden abstrakt in Frage gestellt. Die Ergebnisse dieser „normativen Sozialphilosophie“ haben die vorigen Kapiteln (3.1-3.3) bereits kritisiert. Der theoriegeschichtliche Hintergrund dieser re-idealisierenden Transformation sei nun daraufhin untersucht, ob und inwiefern er als ein Äquivalent zur Marx’schen Transformation dienen kann.

kommt das Wort „transzendental“ noch sechsmal vor, vgl. Rentsch 1990, Habermas 1999, 29; auch Schelsky 1959, 95; Kersting 1997, 41 ff., 121 ff.; cf. 3.1.5; Fn. 90. 13 Apel 1973 II, 163 verfocht eine sprachanalytische und semiotische „Detranszendentalisierung des erkennenden Subjekts“, Habermas will es mit Hegel „in diesseitige Kontexte“ zurückholen (Habermas 1999, 191, 186; 2001). 14 Habermas wendet sich zwar gegen den vorgeblichen „Mentalismus“ Kants (1999, 189), möchte aber das „transzendentale Bewusstsein [...] sozialisiert und vervielfältigt“ wiedergewinnen (28). Schon Apel wollte zu Kant „zurückfinden“ (besser: zu Quasi-Kant, 1973 II, 161 f., 173). Kant wurde als Erzeugungsidealist interpretiert (Habermas 1999, 209). Erst Habermas problematisierte, was bei Kant noch fest stand: Er wollte die Geltung der Wahrheit im Diskurs „begründen“. Dies scheiterte, da ein herrschaftsfreier Diskurs niemals stattfindet, während Wahrheit doch ständig „geschieht“. Der Diskurs beschrieb nur eine vielversprechende Genese von Wahrheit (Habermas 1973a) bzw. forderte sie in seinen „Ansprüchen“ (1981b). Selbst den „transformierten“ kategorischen Imperativ wollte Habermas noch begründen (1983, 104). Dies kann nach Kant nicht gelingen, da das Sittengesetz unbedingt ist: es kennt keine „transzendentale Deduktion“, vielmehr weist es allererst „Freiheit“ auf. Es ist „Faktum der Vernunft“ (KpV, 81, cf. 56), der Wahrheit und Realität in der Wissenschaft vergleichbar (KrV, A 371).

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3.4.2 Eine Transformation des Deutschen Idealismus? „Sie wissen es nicht, aber sie tun es.“ (MEW 23, 88) „The proof of the pudding is the eating.“ (Engels)

Die sich erst im 19. Jahrhundert herauskristallisierende Wissenschaftslandschaft der USA bewegte sich anfangs in starker Abhängigkeit von europäischen Ideen. Diese wurden allerdings in eigenständiger Weise vertreten. Aufgrund der Vorherrschaft des Idealismus im philosophischen Europa jener Zeit (2.5.2) waren es folglich auch bestimmte Formen des Idealismus, die den „point of departure“ für den Pragmatismus bildeten.15 Von diesen wollte sich der Pragmatismus absetzen. Das gelang ihm nur bedingt, da er die Fragestellungen übernahm, und sie nur einer anderen Beantwortung unterzog. Der „Gründer“ Peirce etwa fühlte sich lebenslang Kant verpflichtet: er wollte eine neue Transzendentalphilosophie entwerfen, die den Naturwissenschaften näher kam. Peirce ist daher mit dem zeitgenössischen fichteanischen Neukantianismus zu vergleichen (so erstellte er 1867 eine „New List of Categories“): Eine Naturalisierung des Erkenntnissubjektes hat es auch dort gegeben.16 Originell war hingegen sein Ausweichen nicht in die Psychologie, sondern in die Semiotik, sowie sein scotistischer Unversalienrealismus.17 Für unser Thema ist Peirce nur mittelbar von Interesse, nämlich aufgrund seiner Idee des „logischen Sozialismus“ (Apel 1973, 177; 1975, 367), mit der er die „Sozialphilosophie des Pragmatismus“ (Schlüter 2000) und des neopragmatischen Normativismus erst ermöglicht hat. Wie kam es dazu? Schon Peirce hat in seiner Naturalisierung die Differenz von apriorischem und empirischem Wissen eingezogen.18 Dadurch war nicht mehr eindeutig zu 15 Gemeint sind etwa der Neohegelianismus von F.H. Bradley und B. Bosanquet oder der Tranzendentalismus von R.W. Emerson und Thoreau (vgl. Tenbruck 1985, 239 f., cf. 198; Baumgarten 1938, im Überblick H. Schneider 1957). 16 Peirce, CP 6.545 ff., Apel 1975, 78; vgl. A.F. Lange 1866 oder Vaihinger 1911. Die Naturalisierung steckt bei Peirce nicht in der Neubestimmung des denkenden Subjektes, sondern in der des Denkens selbst: Peirce bemerkte die pragmatische Genese der Theorie („irritation of doubt ...is the motive für thinking“; „belief is a rule für action“, CP 5.397), reduzierte nun aber auch die Inhalte und den Geltungsmodus auf diese Genese („and nothing else“, CP 8.13). 17 Zur Semiotik Schönrich 1990, zu Peirce’ scotistischen Realismus Honnefelder 1990. 18 Peirce legt die von Kant als „transzendental“ gekennzeichneten Denkstrukturen in den tatsächlichen Forschungsprozess. Das vermengt Genesis und Geltung: „Dass Peirce 1877 einer subtilen Variante der ‚naturalistic fallacy’ erlegen ist, lässt sich kaum bezweifeln“ (Apel 1975, 121): „tief engagiert in der Analyse der Bedingungen des konkreten Forschungsprozesses, reflektiert er nicht auf die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen wissenschaftstheoretischen Analyse“ (123). Eine „‚Verkürzung’ der Transzendentalphilosophie“ (75) besteht darin, dass Peirce die geltungsrelevante Funktion der apriorischen Sätze (die bleibt, auch wenn sie nur jeweilig sind) mit einer genetischen Betrachtung kurzschließt: „Die Kantische Unterscheidung zwischen ‚Phainomena’ und ‚Noumena’ wird [...] durch die Unterscheidung zwischen faktisch Erkanntem und unendlich Erkennbarem ersetzt [...] an Stelle der Kantischen

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bestimmen, wann ein Satz wahr ist. Er war gezwungen, die Postulatenlehre der Metaphysik schon für einfachste Dinge einzuführen.19 Durch seine Naturalisierung verliert Peirce also genau das, was bei Kant das Zentrum ausgemacht hat: wie schon bei den Kantianern und bei Heidegger gerät das Verlangen, das „Ding an sich“ loszuwerden,20 zu einem Verlust der sicheren Erkenntnis empirischer Sachverhalte (2.5.2, Fn. 25). Nun kann der common sense mit einer Theorie, die behauptet, wir wüssten weder, was wahr, noch was real sei, wenig anfangen, denn im Alltag funktionieren diese Worte sehr wohl. Kant wusste dies. Die Ablehnung der einzigen durchgeführten common-sense-Philosophie, Kants Lehre vom „Ding an sich“,21 führt letztlich – hier wie dort – zu aufwendigen Konstruktionen. Sie werden auch dann nicht verständlicher, wenn sie sich auf den „common cense“ berufen.22 Alternative von synthetischen Sätzen a priori und [...] a posteriori tritt der fruchtbare Zirkel von Hypothese [...] und Erfahrungskontrolle“ (74; Kempski 1952). 19 For „every premise we require faith … this is overlooked by Kant and others who drew a distinction between knowledge and faith” (Peirce, nach Apel 1975, 29 und 77; Murphey 1961, 27; vgl. Hegel 1802, James 1897). Wie bei Fichte war damit auch die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft hinfällig. Für Kant ist ein Satz empirisch wahr, wenn er mit der Realität übereinstimmt. Die „transzendentale Wahrheit“, die objektive Gültigkeit der Kategorien, erzeugt noch keine empirische. Dass die analytische Philosophie Schwierigkeiten mit der „Theorie der Wahrheit“ bekam, hat auch damit zu tun, dass sie viele Unterscheidungen Kants preisgab (etwa analytisch und synthetisch bei Quine 1960). Im Gegensatz zum Hegelianismus geht diese Arbeit von der so Unterscheidung von Denken und Sein aus. Damit ist auch der Unterschied zwischen Glauben und Wissen wieder fassbar: Wissen richtet sich auf Seiendes und ist prinzipiell wahrheitsfähig, da es empirisch überprüfbar ist. Glauben folgt einer anderen Grammatik (2.6.4, Fn. 94, Fn. 101). 20 Dass dieses auch Peirce leitete, zeigt Apel 1975 (29, 67; Peirce, CP 5.452, 5.525). 21 Es gibt verschiedene Perspektiven auf denselben Gegenstand. Dies ist eine täglich erfahrene Tatsache (deine Sich ist nicht meine, und wie es sich „wirklich“ zutrug, weiß niemand). Dennoch zweifeln wir nicht an der Realität. Als problematisch erscheint diese Tatsache erst, wenn man auf sie reflektiert: Durch die Mehrheit der Perspektiven wird der Gegenstand einer vollständigen Erkenntnis entrückt und wird zum „Ding an sich“. Damit wird jedoch nur die Alltagswahrnehmung gegen überhöhte Ansprüche der Wissenschaften festgehalten. 22 Peirce beruft sich 1905 auf den „Critical Common-sensism“ (CP 5.438, vgl. James 1907, 111 ff.; Mead 1968, 402. Peirce, James und Dewey vermengen das sichere Wissen, welches im Alltag wie in den Einzelwissenschaften gegeben ist, mit einem vorgeblich metaphysischen „Wissen“ von Überwelten und Urprinzipien. Daher verabschieden sie mit der Aufgabe des letzteren auch das erstere. Dies ist eine Erklärung der Ausnahme zur Regel, eine Umkehr der Theorie der Krise in die Krise der Theorie (cf. 2.5.1). Kant hatte das Kennzeichen „pragmatisch“ für den Ausnahmefall reserviert, dass bei nichtvorhandener Erkenntnis gehandelt werden müsse: „Der Arzt muss bei einem Kranken, der in Gefahr ist, etwas tun, aber er kennt die Krankheit nicht. Er sieht auf die Erscheinungen [!] und urteilt, weil er nichts besseres weiß, es sei die Schwindsucht. Sein Glaube ist selbst in seinem eigenen Urteil bloß zufällig, ein anderer möchte es vielleicht besser treffen. Ich nenne dergleichen zufälligen Glauben, der aber dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewissen Handlungen zu Grunde liegt, den pragmatischen Glauben“ (KrV, A 824, vgl. die „hypothetischen

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Die Alternativlösung von Peirce machte nun die „objektive Gültigkeit“, also die Wahrheit von Sätzen, zugleich aber auch die Realität des Satzinhalts, von einem Konsens der Meinungen darüber abhängig: „consensus... constitutes reality“ (CP 8.16). „Real“ und „wahr“ sei das und nur das, worauf sich alle Wissenschaftler letztlich einigen – was allerdings „noch nicht“ der Fall ist. Der Konsens wurde, angesichts des anhaltenden Dissenses unter Wissenschaftlern, in die ungewisse Zukunft der „final opinion“ (CP 8.17) verlegt und so noch weiter abstrahiert.23 Dies war eine ungedeckte Rekonstruktion der Geltungsbedingungen der Rede von Wahrheit nach der Preisgabe der „transzendentalen“ Unterscheidung von Denken und Sein. Sie übertrifft ihren vorgeblich „metaphysischen“ Vorgänger Kant allerdings deutlich an Spekulativität. Die Erklärung der „Realität der Außenwelt“ wurde zum Problem, ähnlich wie schon bei Berkeley (und noch bei Dilthey, GS V, 90 ff., cf. 2.5.2). Nicht zufällig griffen Peirce wie James gerade auf Berkeley zurück.24 Besonders bei James, dem Popularisator des Pragmatismus, wird der „Weltverlust“ (Putnam 1998, 30) manifest. Zwar vertritt er in seiner Wahrnehmungstheorie einen „natürlichen Realismus“, aber seine „conception of truth“, die viele ablehnende Reaktionen hervorrief, lässt davon wenig übrig.25 Klugheitsimperative“ der Ethik). Der Pragmatismus prinzipialisiert diese Ausnahme zur Regel: Anders als im Modus des „Glaubens“ sei keine Erkenntnis möglich (Peirce 1877 in „Fixation of Belief“, CP 5.358 ff.; James 1897). 23 „Everything, therefore, that will be brought to exist in the final opinion is real, and nothing else“ (CP 8.13). „The opinion which is fated [!] to be ultimately agreed to by all who investigate, is what we mean by the truth, and the object represented in this opinion is the real“ (CP 5.407). Leider nur ist gerade der „catholic consent“ (CP 8.13) eine anfechtbare Behauptung, auch historisch: auf soziale und ethische Fragen etwa gibt es keine eindeutige Antwort. Neben anderen unterschlägt Peirce hier die transzendentale Dialektik: „non entis nulla sunt praedicata“ (KrV, A 793). Eine, und zwar eine zeitlich verjenseitigte Sicht wird zur einzigen erklärt. Nimmt man diese Stelle ernst, kommt ein futurischer, scientio-spekulativer Onto-Monismus heraus, der sich neben Ernst Bloch nicht schämen müsste. 24 „Berkeley’s Criticism of ‚matter’ was [...] absolutely pragmatistic“ (James 1907, 68). Pragmatismus sei „kaum mehr als eine konsequente Durchführung der ‚pragmatischen’ Methode“, die Locke und Berkeley „als erste benutzten“ (James 1912, 10; cf. Peirce, CP 5.219, 5.310, 6.481, 8.30). Lenins hergeholt wirkender Vergleich des Pragmatismus mit Berkeley (1908, 355) traf also durchaus. Kant erfasste das Dilemma: „Der transzendentale Realist stellt sich also äußere Erscheinungen [...] als Dinge an sich selbst vor [... Er] ist es eigentlich, welcher nachher den empirischen Idealisten spielt, und nachdem er fälschlich von Gegenständen der Sinne vorausgesetzt hat, dass [...] sie an sich selbst auch ohne Sinn ihre Existenz haben müssten, in diesem Gesichtspunkt alle unsere Vorstellungen der Sinne unzureichend findet, die Wirklichkeit derselben gewiss zu machen“ (KrV, A 369). Mead hatte übrigens einmal vor, bei Dilthey zu promovieren. 25 Erst im NS wurde der Pragmatismus ernstgenommen (Baumgarten 1938, Gehlen 1940, 295). Zu den frühen Diskussionen in Deutschland vgl. Joas 1992, 114 ff.; zur Rezeption im italienischen Faschismus Diggins 1972. Putnam 1998 betont unter Verweis auf Russels und Austins Rezeption von James seinen „natürlichen Realis-

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Die reflexive Bestimmung von Peirce, dass der Begriff eines Dinges für uns identisch ist mit den Vorstellungen, die wir von den Wirkungen des Dinges haben,26 wurde bei James zu einer reduktionistischen „Theorie der Wahrheit“. Diese besagte, dass „wahr“ genau die Annahme ist, deren langfristige Folgen sich als „gut“ herausstellen. Dies ist zwar nicht falsch, aber keine Vollbestimmung des Begriffes.27 Diese Unterbestimmung führt in die Nähe dessen, was man im pejorativen Sinne „pragmatisch“ nennt: Wird der common sense nicht nur als Fundament alles höherstufigen Wissens gesehen, sondern fälschlich selbst zu einer „Theorie“ erhoben (4.1, Fn. 4), kann er andere Theorien schwerlich noch auf einen identischen Gegenstand beziehen und muss sie abweisen. James’ „natürlicher Realismus“ kann so einer kritischen Prüfung von Aussagen über die Realität entgegengestellt werden. Aus immanent-funktionaler Perspektive betrachtet hat diese „Theoriestrategie“ eine Stützung von Vorurteilen und Ideologien gegen wissenschaftliche Aufklärung zur Folge (siehe 2.5.5). Trotz aller Unterschiede zwischen James und Nietzsche gibt es eine große Gemeinsamkeit. Beide gaben einer vitalistischen Vorstellung von Wahrheit statt, die „Wahrheiten“ vor ihrer Überprüfung damit abweisen konnte, dass sie schädlich für „das Leben“ seien.28 mus“. James kommt allerdings dem Idealismus Husserls („natürliche Einstellung“) und dem „kritischen Realismus“ von Külpe und Schwarz näher (Henning 1999, 54 ff.), heißt es doch Will und nicht Reason to belief (1897). 26 Was „ein Ding bedeutet, besteht einfach in den Verhaltensweisen, die es involviert” (CP 5.400). Dabei geht es primär um Begriffe: „Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our concept to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object” (CP 5.402, Apel 1975, 143). 27 Eine Begriffsbestimmung kann es nicht bei einzelnen Beispielen belassen, sie muss die Sache soweit bestimmen, dass sich die Beispielfälle als Anwendungen des Begriffes verstehen lassen. Sie hat wenig zu tun mit Befriedigung: „Why should truth be at the service of our interest, yield satisfaction rather than frustration, pleasure rather than pain?“ (Diggins 1998, 220). James dagegen propagierte die „attitude of looking away from [...] principles ..., and of looking towards [...] fruits“ (1907, 47). Von den unzähligen Formulierungen dieser Theorie sind sicherlich einige besser als andere. Es ist jedoch fragwürdig, eine davon herauszupicken, um diese, technisch verbessert, zum Maßstab der anderen zu machen, und auf diese Art Kritik an James als „Missverständnisse“ abzutun. James hat nun einmal unmissverständlich gesagt: „Sollen wir nicht wirklich immer das glauben, was für uns besser ist?“ (James 1907, 77). Diesen epistemischen Voluntarismus muss man beim Wort nehmen; zumal genau dieses technisierte Denken (Fn. 40) sogar Peirce veranlasst hat, seine eigene Theorie in „Pragmatizismus“ umzubenennen. 28 „The method of ‚pragmatic hermeneutics’ may only lead to a consensus-contrived interpretation that reflects little more than a specific generations subjective dispositions“ (Diggins 1998 224). James’ Vorstellung von Wahrheit ist subjektivistisch („eine zufriedenstellende Beziehung zu anderen Teilen unserer Erfahrung“, 1907, 57 – eine hedonistische Kohärenz), technoid („Wahrheit unserer Gedanken“ ist gleichbedeutend „mit ihrer Macht zu wirken“, 57), utilitär („Ein Gedanke ist solange wahr, als der Glaube an ihn für unser Leben nützlich ist“, 75; „Das Wahre ist [...] das, was uns in unserem Denken nützt“, 222); konstruiert („Die Wahrheit wird [...] erzeugt“, 218), oberflächlich („Die pragmatische Methode bedeutet ein Wegsehen von den

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Andere Theorien können so leicht abgelehnt oder ignoriert (oder, wenn sie einen höheren „vitalen Wert“ haben, auch einmal übernommen) werden. Dies kennzeichnet wohlgemerkt ein pragmatisches Verhalten, nicht eine „Theorie“. Doch gerade daran will der Pragmatismus herkömmliche Theorien ja messen. Er muss sich folglich auch selbst daran messen lassen. Kant hatte das Wort „pragmatisch“ in der Bedeutung „folgenorientiert, provisorisch“ benutzt. In genau dieser Bedeutung griff es Peirce auf.29 Er wollte damit der Intuition Ausdruck verleihen, dass ein festes Wissen von den meisten Dingen nicht möglich sei, sondern dass wir oft mit einer Wahrscheinlichkeit vorlieb nehmen müssen. Es würde hier ausreichen, sich bei der Erkenntnis einer Sache „pragmatisch“ an ihre Folgen zu halten. Dem hätte Kant für den Alltag und Aristoteles bezüglich der phronesis wohl zugestimmt. Der Philosophie geht es allerdings weniger darum, selbst solch festes Wissen zu erzeugen, sondern vielmehr darum, sinnkritisch zu bestimmen, was wir mit den Worten „Wissen“ und „Wahrheit“ dort, wo sie ihren Platz haben, überhaupt meinen, und wie sie möglich sind. Wenn Peirce meint, mit den Folgen bereits die „ganze ‚Bedeutung’ eines Begriffes“ zu haben, macht er aus dem pragmatischen Notfall eine pragmatistische Regel.30 Bei einem Sammeln von Beispielen für mögliche Folgen muss ich aber sagen können, was diese zu Folgen macht – so Kant (KrV, A 790): „Wenn die Gründe, von denen eine gewisse Erkenntnis abgeleitet werden soll, zu mannigfaltig oder zu tief verborgen liegen: so versucht man, ob sie nicht durch die Folgen zu erreichen sei. Nun wäre der modus ponens, auf die Wahrheit einer Erkenntnis aus der Wahrheit ihrer Folgen zu schließen, nur alsdann erlaubt, wenn alle möglichen Folgen daraus wahr sind [...] Dieses Verfahren [...] ist untunlich, weil es über unsere Kräfte geht, alle möglichen Folgen von irgendeinem angenommenen Satze einzusehen.“

Eine alleinige Folgebetrachtung ist also nach Kant eine Unterbestimmung der Begriffe von Wahrheit und Realität. Dies ist auch eine Kritik an Berkeley, von dem Peirce’s Maxime inspiriert ist (CP 6.481, s.o., Fn. 24).31 Wenn die richtige grundlegenden Dingen“, 54) und irrationalistisch (es geht „antiintellektualistisch“, 54, um „vitale Vorteile“ in den „praktischen Kämpfen des Lebens“, 77; „Wenn wahre Gedanken [...] nichts enthielten, was für das Leben dient, oder wenn die Kenntnis dieser wahren Gedanken nachweislich nachteilig und falsche Gedanken die einzig nützlichen wären, dann wäre es eher unsere Pflicht, die Wahrheit zu meiden“, 76). 29 Apel 1975, 109 verweist auf Stellen bei Peirce, wo er auf seine Anregung durch Kant eingeht (CP 5.1, 5.412). Die von uns für zentral gehaltene Stelle (pragmatisch = zufälliger Glaube, KrV, A 824, s.u., Fn. 22) ist nicht darunter. Hochkeppel 1989 erläutert den Alltagsgebrauch so: „Der Führungsstil eines Politikers wird [...] als ‚Pragmatismus’ bezeichnet“, wenn er „seine Entscheidungen danach [trifft], ob sie sich hier und heute bewähren“, und wenn sie sich „nicht an einer übergreifenden Theorie ..., sondern [...] nach den gegebenen Erfolgsaussichten richtet“. Das entspricht funktional der Rolle Bernsteins gegenüber Marx (270, s.o., Fn. 49). 30 The „whole ‚meaning’ of a conception expresses itself in practical consequences“ (Pierce CP 5.2; s.o., Fn. 22). 31 Auch der Begriff des „Regelfolgens“ ersetzt den der Wahrheit nicht, sondern erläutert nur dessen Genese. Lernen an Beispielen bleibt vage, Theorie braucht Exaktheit.

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Einsicht, dass sicheres Wissen im Ergebnis der Wissenschaft selten zu haben ist (etwa weil sich Faktoren kaum wirklich isolieren lassen), zu einer Voraussetzung derselben prinzipialisiert wird, so hört sie auf, Wissenschaft zu sein; es bleibt ein okkasionelles Problemlösen, ein bloßes „Durchwursteln“. Am Endpunkt dieser pragmatistischen Depotenzierung wissenschaftlicher Rationalität steht Deweys agnostische Forderung, man habe „heute“ die Begriffe „Notwendigkeit“ und „Regel“ aufzugeben.32 Schon die wissenschaftliche Grundoperation, der Schluss aus allgemeinen Gesetzen und Antecedensbedingungen (Hempel/Oppenheim 1948), wäre so nicht mehr möglich. Ohne Regeln sind auch keine Regelverstöße mehr denkbar, womit die Erkenntniskritik gleichfalls entfällt. Indem diese Probleme aus den Augen des Pragmatisten „verschwinden“, erfahren sie allerdings nur Scheinlösungen. Auf diese Weise verschwindet allein die wissenschaftliche Rationalität – dies gleicht einer Zerstörung des Verstandes (Coletti).33 Die Pragmatisten haben sich nicht davor schützen können, zu Idealisten und Metaphysikern sowie, was die politische Philosophie angeht, zu Ideologen zu werden.34 32 „Wie Notwendigkeit und die Suche nach einem einzigen allumfassenden Gesetz für die geistige Atmosphäre der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts typisch waren, so sind Wahrscheinlichkeit und Pluralismus die Merkmale des jetzigen Standes des Wissenschaft“ (Dewey 1939, 80). Dewey „überwindet“ auch die Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft. Er führt Ergebnisse der Wissenschaften an; diese waren nie so eindeutig, wie Dewey suggeriert. Doch um zu ihnen zu kommen, müssen logische Notwendigkeit wie die Wirksamkeit von Gesetzen, welche man sucht, vorausgesetzt werden. Dewey kontaminiert wie Peirce den philosophischen Aufweis der Möglichkeitsbedingungen von Wissenschaft mit ihren Folgerungen. 33 2.5.4, Fn. 165, cf. Habermas 2001, 21. „We do not solve them, we get over them. Old Questions are solved by disappearing” (Dewey 1910, 14; cf. Wittgenstein 1984, 85). Rortys Aufgabe der Erkenntniskritik (1979) liegt in der Konsequenz der Dualismus-Überwindungen seit Peirce. Kants Unterscheidungen waren kriteriale, der Kritik dienende. Die von uns geforderte Verschlankung der Philosophie ist das Gegenteil dieser Beschränkung der Wissenschaft. 34 Rorty beklagt den mangelnden Patriotismus der Philosophen (Rorty 1999, 252; in Joas 2000, 339; s.o., Fn. 55). Die Philosophie solle ohne Entsprechung zur Realität, ohne Wesensbegriffe und Prinzipien arbeiten und stattdessen politische Hoffnungen artikulieren und warme Gruppenidentitäten erzeugen („Solidarität“, Rorty 1989). Die „Begründung der Demokratie durch die Logik“ (Westbrook in Joas 2000) fordert lediglich eine Demokratisierung der Wissenschaft (jeder soll berechtigt sein, an den Hypothesen mitzufeilen). Das ähnelt dem „Kommunismus“ Feuerbachs (Joas 1980, 55, 138 vergleicht Mead mit den Junghegelianern, cf. Habermas 1985b, 215). Deweys Begriff von „Demokratie“ ist abstrakt (er beschreibt nicht das konkrete Fungieren politischer Institutionen eines Landes) und appellativ-fordernd, zuweilen predigend (Joas 1980, 214). Peirce und James wollten Gott beweisen, Mead war Sohn eines Theologen, Royce selbst einer. Dewey schrieb 1939, „er habe sich ein Leben lang darum bemüht, die religiösen Werte explizit zu machen, die im Geist der Wissenschaft stecken, und ebenso ‚the religious values implicit in our common life, especially in moral significance of democracy as a way of living together’. Die Demokratie wird Deweys säkularisierte Religion“ (Joas 2000, 157; das Thema der „Sakralisierung der Demokratie“ wehrt er ab, 17). Die wenig pragmatische „ideale Gesellschaft“ (Peirce CP 5.311, Mead 1934, 317) hatte religiöse Züge. Marx formu-

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Ein theoretischer Okkasionalismus (cf. Löwith 1935) zeigt sich nicht nur an Äußerlichkeiten, sondern selbst in den Fundamenten pragmatistischer Theorien. Joas (1979) bemerkte, der Unterschied der Anthropologien von Gehlen und Mead sei in ihrer verschiedenen politischen Stellung begründet. Das ist ein Beispiel für den theoretischen Relativismus: die philosophische Anthropologie, die ein Fundament für alle weiteren Humanwissenschaften sein will, ist selbst noch einmal abhängig – von Werturteilen. Wenn wahr ist, was „für uns gut“ ist, so hängt unsere Auffassung davon, was „wahr“ sei, zunächst davon ab, wer „wir“ sind,35 sodann davon, was wir für gut halten. Erst danach werden verfügbare „objektive“ Sätze um diese Entscheidungen herumgruppiert. Dies mag eine zuweilen treffende Beschreibung gesellschaftlicher Meinungsbildung sein. Das fehlende Wahrheitskriterium ersetzt es jedoch nicht. Viele Pragmatisten verschrieben sich folgerichtig direkt der politischen Agitation – und zwar durchaus nicht nur einer für die Demokratie, sondern auch für den Sozialismus oder den italienischen Faschismus (siehe 2.5.1, Punkt 8).36 Im Bewusstsein der Neopragmatisten übriggeblieben ist nur die „demokratische“ Variante, die sich für eine Richtung einsetzte, die „wir“ für noch immer maßgeblich erachten (Honneth 1999a, Joas 2000). Darum erscheint dieser theoretische Voluntarismus als ein verzeihlicher, dem nur weitere „Begründungen“ nachzureichen sind. Doch erst wenn der „präreflexive Voluntarismus“ seiner Grundlagen bewusst wird, lässt sich der Pragmatismus als sinnvolles Ganzes deuten. Der Neopragmatist Rorty etwa hat zunächst konsequent pragmatistisch die Erkenntnistheorie verabschiedet (1979), um dann, vor allem in der Linie Deweys, die „Demokratie“ an die Stelle der Theorie zu setzen. Wenn „die Demokratie“ allerdings ahistorisch in der menschlichen Natur verankert wird (Dewey 1918, Mead 1934), so hat der Pragmatismus sich damit selbst aufgehoben, hatte er sich doch einst aus dem Motiv der Ablehnung solch metaphysischer Großbehauptungen gespeist. Die Pragmatisten vertraten zuletzt eigene metaphysische Systeme, genau wie damalige europäische Denker auch.37

lierte bedacht: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt“ (MEW 1, 378, Hvg. CH. Im Umweg über den Kommunitarismus bewahrte sich Habermas seine Wurzeln im Gummersbacher Pietismus, 1985b, 202). 35 Auch Karl Mannheim diagnostizierte eine „Seinsverbundenheit“ des Denkens (1929, 229 ff.), er wollte sie aber durch Aufdeckung entschärfen. Rortys „Wir“ (1989, 108, 307) ist dehnbar und leer – und zuweilen patriotisch (Rorty 1999a). 36 Darauf macht Diggins 1992 und 1998 aufmerksam. Der Pragmatist William Y. Elliot (The Pragmatic Revolt in Politics) setzte sich für den Faschismus ein (Diggins 1972), Deweys Schüler Sidney Hook für den Marxismus (Hook 1933). 37 Cf. Peirce 1891 (Apel 1975, 259 ff.), James 1912, Dewey 1929. Der pragmatistische Voluntarismus hatte im deutschen Denken eine Parallele, die sich kontingenterweise anderen Inhalten verschrieben hatte (2.5.2, 2.5.5, Joas 1992, 114 ff.; 1993). Auch Horkheimers Diktum, das Interesse bleibe der Vernunft nicht äußerlich, war von dieser Art. Daher ließ sich Kritische Theorie trotz früherer Skepsis (Dahms 1994, 191 ff.) gut mit dem Pragmatismus verbinden.

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3.4.3 Neopragmatismus und Marxismus als feindliche Brüder Angesichts der Schwierigkeiten der Vergleichbarkeit von Theorien aus verschiedenen Kontexten ist zunächst die Frage zu stellen, was eine philosophische Großoperation eigentlich theoretisch und – darüber vermittelt – gesellschaftlich leisten soll.38 Das immanent-funktionale Verständnis hängt an der Interpretation der theoretischen Ausgangslage aus den Augen der Agenten. Die Wahrnehmung Kants etwa war sowohl bei den Kantianern wie auch bei Peirce eine psychologistische (Fn. 10): Kants Termini wurden als Eigennamen von Entitäten verstanden, die ja irgendwo „sein“ mussten: sie lägen entweder „im Bewusstsein“ (eine Interpretation, die sich durch die Permanenz des britischen Empirismus aufdrängte)39 oder in einer „Überwelt“, wie der Einfluss des angelsächsischen „Transzendentalismus“ nahe legte.40 Beides erschien als unattraktiv. Hegel lag den Pragmatisten weniger fern, da sie sein spekulatives „Bedürfnis“ teilten.41 Ein Bedürfnis 38 Rehberg 1985, 61 f.; Tenbruck 1985. Der Pragmatismus verglich sich mit der kopernikanischen Wende (Dewey 1899, 13) und der Reformation (Dickstein 1998, 3). 39 Peirce deutete Kant als Vertreter des „psychological transcendentalism“ (Apel 1973 II, 168, nach Murphey 1961, 26). Seine Transformation war eine von einer einsamen Naturalisierung zu einer intersubjektiven: Kants „höchster Punkt“ wurde, diesen verdinglichend, verschoben „on the future thought of the community“ (Peirce CP 5.316; Apel 1973 II, 169). Verfehlt ist aber schon die erste Lesart, die hier lediglich verlegt wird. Nicht die Strukturen des Subjekts „rechtfertigen“ eine sichere Erkenntnis, sondern umgekehrt: die Sicherheit der empirischen Erkenntnis lässt rückschließen auf die Strukturen des Denkens. „Wo“ diese „sind“ ist philosophisch eine uninteressante Frage, die Kant nicht zu beantworten beanspruchte (KrV A 141). Wichtig ist, dass wir selbst diese vollziehen, und zwar „immer schon“. Kant ist keineswegs „nothing but a [...] confused pragmatist“ (CP 5.525; Apel 1973 II, 169). 40 S.o., Fn. 10, 15; 3.1.5; Fn. 90. „All philosophies of the classic type have made a fixed and fundamental distinction between two realms of existence. […] Over against this absolute and noumenal reality which could be apprehended only by the systematic discipline of philosophy itself stood the ordinary empirical, relatively real, phenomenal world of everyday experience” (Dewey 1920, 42 f.). Die normale Welt der Menschen ist nie die „reine“ Welt der Physik gewesen, der noch einmal eine Überwelt gegenüberstand, wie Dewey meint (35; dieser „common sense“ war höchstens das Weltbild einiger Ingenieure im 19. Jahrhunderts, Hortleder 1970). Auch die metaphysische Tradition meinte meist die von Dewey angepeilte „Welt“. Bei der Betrachtung derselben kam sie allerdings zu kritischen Unterscheidungen – welche Dewey aufgibt, weil er ihnen keinen Sinn mehr abringen kann. Dafür ist er um so freigiebiger in selbst metaphysischen Behauptungen (etwa: „every individual into the full state of his possibility“, 147; „liberating of human capacity“, 164 – das sind konventionell metaphysische Positionen). 41 „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, [...] entsteht das Bedürfnis der Philosophie“ als eines nach Einheit (Hegel 1801, 22). Zum Hegelianismus bei Pierce vgl. Apel 1975, 30, 50; bei Mead vgl. Joas 1980, 57 ff., Honneth 1992 und Nagl 1998, 89 ff.; bei Dewey vgl. Rorty 1994 und Joas 2000, 124 und 228. Peirce behauptete von sich eine „enge Verwandtschaft“ mit Hegel, indem er eine „objektive Logik“ anerkenne und „gleich Hegel“ bemüht sei, „die Wahrheit, die aus vielen System zu gewinnen ist, zu assimilieren“ (CP 8.283). Er

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nach Überwindung des „quälenden Dualismus“ (Joas 2000, 16) von Geist und Körper, Subjekt und Objekt, Religion und Wissenschaft, eine „Revolt against Dualism“ (Lovejoy 1929); ein Bedürfnis nach „Einheit“ und „Versöhnung“ (2.5.2, Fn. 29), scheint nämlich auch den Pragmatismus getrieben zu haben. In der Tat hat er Geltung und Genese, Theorie und Praxis, Logik und Ethik wieder „zusammengedacht“ – sprich: vermengt, wie dies schon vor Kant und im deutschen Idealismus praktiziert wurde.42 Wie die deutsche Weltanschauungsphilosophie war auch die pragmatistische Einheitsphilosophie so gezwungen, voluntaristisch vorzugehen, „parteiisch“ zu sein (Fn. 36). Ihre abweichenden Grade an Beliebtheit haben mit diesen Parteinahmen zu tun.43 G.H. Mead praktizierte die Parteinahme der Philosophie, indem er unter dem Banner des „Amerikanismus“ in erster Linie gegen Europa, in zweiter Linie gegen die Ostküste polemisierte.44 meint, „dass die einzige verständliche ‚intelligible’ Theorie des Universums diejenige des objektiven Idealismus ist, dass die Materie erstarrter Geist ist“ (CP 6.25/6.605, cf. Apel 1975, 20). Für Dewey war Hegel die „Quintessenz des wissenschaftlichen Geistes“ (Early Works 3, 134; nach Rorty 1994, 35). 42 Habermas will mit Heidegger das „Subjekt-Objekt-Modell der Bewusstseinsphilosophie“ überwinden und rechnet die „bewusstseinskritischen Richtungen“ Sprachphilosophie und Verhaltenstheorie dem Pragmatismus zu (1981b II, 11; zu Peirce’ „Wille zum System“ Apel 1975, 30 ff.). Ein Einheitsstreben findet sich auch bei James, der oft von „Versöhnung“ spricht (1907, 33, 55, 172). Obwohl er damals einen vorschnellen Monismus abwies (108), vertrat er ihn bald selbst (James 1912). Ähnlich Dewey, dessen Begriffe der „Gewohnheit“ (Dewey 1922) und „Erfahrung“ über- und vorgegensätzliche sein wollten, mit Anleihen bei Bergson (Dewey 1929; vgl. Rorty 1982, 72 ff.; Shusterman 2000). Joas nennt als Motive Meads die Vereinheitlichung des Wissens (mit dem Vorbild der „experimentellen Naturwissenschaften“, 1980, 40) und eine „Aufhebung der Trennung von praktischer und theoretischer Vernunft“ (41; Rehberg 1985, 63 und 83). Der Pragmatismus war primär eine Weltanschauung. 43 The „great systems have not been free from party spirit exercised in preconceived beliefs” (Dewey 1920, 41); „what philosophy has been unconsciously […], it must henceforth be openly and deliberately” (46). Die Philosophie soll also offen parteilich sein (2.2.2). „Wenn die Philosophie nicht die Begründung von Erkenntnis, sondern die Erzeugung von besserer gelebter Erfahrung [?] für ihr pragmatisches Ziel hält, dann braucht sie sich weder auf den Bereich diskursiver Wahrheiten noch auf irgendwelche Sprachspiele für deren Rechtfertigung beschränken. Die Philosophie kann viel direkter [reflexionslos, CH] auf das praktische Ziel der Verbesserung von Erfahrung abzielen, indem sie für entsprechende Praktiken eintritt oder diese verkörpert“ (Shustermann 2000, 108). Auch Heidegger konnte 1933 in Konsequenz der Einheitsphilosophie nur noch proklamieren: „Wir wollen uns selbst!“ (2.5.5). 44 Tenbruck 1985 verortet Mead in seinem Kontext. Die Abhängigkeit von politischen Strömungen wie des „social science movement“ (eine Gruppe von Technokraten, die das „hull house“ betrieb) habe die amerikanische Soziologie unprofessionell starten lassen, wie A. Small später zugab (190). Mead verfechte kruden Amerikanismus: „So führt Mead uns den Menschen nicht vor, wie Erfahrung, Biographie und Geschichte ihn zeigen, sondern wie die ‚American Community’ ihn wünscht“ (229). „‚The American pioneer was spiritually stripped for the material conquest of a Continent and the formation of a democratic community’. Er benötigte für seine Handlungen und Entscheidungen keine andere Rechtfertigung als die spürbare Verbesserung des Lebens in der Gemeinde“ (197). Der „Erklärung der Unabhängigkeit von

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Theorien, die ihm nicht „gut“ schienen, wurden ausgeschlossen (nach James’ Wahrheitstheorie ist das legitim); darunter, kaum überraschend, die von Marx.45 Durch diesen Voluntarismus wird sowohl Meads Theorie wie auch die untergemengte Ethik fragwürdig.46 An Deweys Prinzipialisierung dieser Parteinahme halten Neopragmatisten allerdings noch heute fest.47 Wenn es Kritikern auch selten geglückt ist, dem Pragmatismus inhaltlich beizukommen, hier konnten sie eine Angriffsfläche finden: in der Parteinahme für etwas steckte auch eine Parteinahme gegen etwas.48 Dass unter diesen Feindbildern des Pragmatismus auch der Marxismus zu finden ist, sollte niemanden überraschen. Einen Versuch, die „Demokratie“ gegen den Marxismus auszuspielen, hatte es bereits bei Eduard Bernstein gegeben (2.1.1). Wie viel näher musste eine solche Abwägung in Ländern liegen, die eine weit demokratischere Kultur haben?49 Mead, Dewey und Rorty wenden sich funktional, ob implizit oder explizit, gegen den Marxismus, indem sie sich für „die“ Demokratie aussprachen, sie sogar der Philosophie vorordneten. Ihre „Sozialphilosophie“ (Schlüter 2000) erhält damit allerdings einen atheoretischen und dezisionistischen Beigeschmack. Denn der europäischen Kultur folgt dann ein Preislied, das den Pragmatismus als die richtige Philosophie der amerikanischen Demokratie und Nation verherrlicht [...] Wer sich auf die europäische Kultur einließ, musste seine amerikanische Seele aufgeben“ (197 f.). Der Amerikanismus barg auch eine inneramerikanische Konkurrenz (Brooks 1915). Mead, der in Chicago lehrte, trat gegen die Ostküste für den mittleren Westen ein (Tenbruck 1985, 199, 228), dessen Idealvorstellungen er als universale Realität (213) oder als Ziel der Geschichte (200) propagierte. 45 Zur Meads Marxrezeption Joas 1980, 50, 56, 138 f. Mead wollte dem Interessengegensatz von „capital and labor“ mit Erziehung beikommen („organization of common attitudes“, „social control“, 1934, 323). Der Begriff „Interesse“ wird im Rahmen der „theory of the self“ vorab subjektiviert. Noch Rorty gibt an, Marx nie richtig gelesen zu haben (1999, 210), um dessen ungeachtet zur Erklärung anzusetzen, warum man das auch nicht müsse (220, cf. 1998). Auch Rorty hat vorab um die Theorie gekürzt (vgl. insgesamt T. Schäfer 2001). 46 Tenbruck kritisiert die Unterbietung der deutschen Problemstellungen, obwohl Mead in Deutschland studiert hatte (1985, 183, 203, 206; vgl. Diggins 1998, 216). „Meads Ethik ist kaum mehr als eine engagierte Verbrämung der Kulturideale seiner Gesellschaft“ (213). „Durchweg gibt die idealisierte Erfahrung der amerikanischen Gemeinde das Muster für Mensch, Moral und Gesellschaft vor [...] Meads Ethik ist eine unablässige Polemik gegen alle Auffassungen, die dem Individuum eine Fähigkeit oder gar Pflicht zumuten, eigene ‚standards and criteria’ [...] zu besitzen. In seiner Unschuld darf der amerikanische Adam [Lewis 1955] nicht vor die moralische Wahl zwischen ‚conflicting ends’ gestellt sein (...). All sein Wollen ist unschuldig, weil natürlich, und gewinnt seine moralische Dimension erst in der Gemeinschaft“ (209, cf. 242). Vgl. Dewey: „Growth itself is the only moral ‚end’“ (1920, 141). 47 Dewey 1918; 1920, 46; 1939; cf. Rorty 1989, 84 ff.; Putnam 1992, Joas 2000; vgl. Ryan 1995, Westbrook 1991, sowie ihre Beiträge in Joas 2000, in denen sie Demokratie und Logik einander annähern. 48 Diggins (1998, 219) und Fraser (ebd., 172) sehen z.B. einen verdeckten Rassismus. 49 Schon Bernsteins Argument war an England abgelesen: er strebte nach einer „Einheit von Theorie und Wirklichkeit“ (brieflich 1898, nach Lehnert 1983, 95). Meads Position stütze sich wiederum explizit auf die deutschen Revisionisten (Joas 1980, 34).

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diese Ablehnung von Marx beruht nicht auf Argumenten. Denn folgt man der pragmatischen Maxime, sind die Theorien von Marx nicht mehr von ihren „Folgen“ – also der Gestalt des politischen Marxismus – zu unterscheiden. So zeigt sich etwa in der Auseinandersetzung Deweys mit Trotzki, dass Dewey (1938) kaum auf einen theoretischen Gehalt eingeht. Er erklärt sich mit Trotzki gegen eine „absolutistische Ethik“ und natürlich gegen Stalin, wehrt aber den Marxismus ab.50 Was aber hat er gegen Marx einzuwenden? Da sind zunächst die Vorbehalte gegen eine vorgeblich deterministische Geschichtsphilosophie und einen ökonomischen Reduktionismus. Es ist in Kapitel 2 deutlich geworden, dass diese Vorwurfe an den Theorien von Marx vorbeigehen.51 Daneben opponiert Dewey der Behauptung, „dass menschliche Zwecke in die Struktur und Beschaffenheit der Existenz eingewoben“ seien. Da er ebendies sonst selbst vertreten hatte,52 wird an diesem Beispiel der Dezisionismus gut deutlich. Man kann angesichts dessen wohl die These wagen, dass der Pragmatismus, der zunächst nur ein Name für eine uneingelöste Programmatik ist, seine anhaltende Popularität vor allem dem verdankt, dass er kein Marxismus ist.53 Er 50 Dewey setzte sich während der Moskauer Prozesse von den USA aus für Trotzki ein, welcher damals in Mexiko weilte (Deutscher 1972, 403 ff., Kohlmann 2001). 51 Dewey 1939, 14, 75 ff. Wells 1957 räumt diesen Vorwurf pikanterweise sogar an Schriften Stalins aus (211 f.). Dewey will dem eine „pluralistische“ Faktorentheorie entgegenstellen (23, 80). Soweit dies die Unvoreingenommenheit des Sozialwissenschaftlers vor einer Analyse abbildet, ist sie berechtigt. Sie kann aber keine Ergebnisse vorwegnehmen (Noch Münch 1984 macht aus dieser methodischen Erwägung vorschnell eine inhaltliche Vorentscheidung über die „Struktur der Moderne“). Deweys Ergebnis ist jedoch selbst monofaktoriell: für ihn ist die (amerikanische) Gesellschaft „heute“ von der Moral abhängig (164 ff.): „Alles, was die grundlegend [!] moralische Natur des Sozialproblems verwischt, ist schädlich“ (171). 52 Dewey 1938, nach Joas 1980, 141. Eine Verankerung menschlicher Zwecke in der Natur vertrat Dewey in der Ethik (1908, 1922), der Demokratietheorie (1918, 1939) und Kosmologie (1929). Darin gerade steckt ja die für Dewey so charakteristische Verbindung von Hegel und Darwin (Rorty 1994, cf. Dewey 1910, Heyer 1982). 53 Zum Pragmatismus als Gegenmodell zu Marx vgl. Wells 1957, 206 ff. („Deweys Angriff auf den marxistischen historischen Materialismus“) oder Novack 1975, 269 ff. („Deweyism and Marxism“ – diese Kampfschrift hatte noch Trotzki beauftragt). Weder Lenin 1908 noch Wells 1957 oder Novack 1975 sahen die Stärken des Pragmatismus. Sie blieben an philosophischer Einsicht in vielem noch hinter ihm zurück, ihre Kritik läuft leer. Zudem setzen sie einer Parteinahme nur eine andere entgegen, ohne darüber noch Rechenschaft abzulegen. (Novack gehört heute zu den Unterzeichnern von Walzer 2002). Goff 1980 wie Joas 1978 und 1980 bemühten sich um eine „Synthese“ zwischen Pragmatismus und Materialismus. Eine vage Erinnerung an die Nähe von Dewey und Marx gibt es nach Gavin 1988 wieder bei Honneth 1999a. Aus amerikanischer Sicht vgl. Wald 1987, 118 ff.; Diggins 1992, Guibaut 1997, 41 ff.; Lloyd 1997. Die obige Wendung soll daran erinnern, dass Apel einst in allen dreien die philosophisch noch gangbaren Wege sah: Nur „Marxismus, Existentialismus und Pragmatismus [...] haben das Problem der vorgängigen Vermittlung des theoretischen Sinns durch reale“ oder „zukünftige Praxis“ erkannt (1975, 61, 138, vgl. auch 11 ff. sowie Sartre 1964, 1965). Im philosophischen Bewusstsein blieb allerdings nur der letztere.

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erlaubte es, dasjenige, was am Marx’schen Denken für die Philosophie wichtig erschien, in einer Weise zu „denken“, die von Marx unabhängig machte, indem sie es alternativ „rekonstruierte“ (Dewey 1920, cf. 2.5.5, 3.1.3). Nach dem Untergang der „großen Erzählungen“ (Lyotard 1979, 31 ff.), besonders nach 1989, wurde Dewey so zur Auffangstation vieler amerikanischer Intellektueller; marxistischer, postanalytischer oder post-poststrukturalistischer.54 Er konnte dies aufgrund seiner theoretischen Indifferenzen: Jeder kann das ihm Zusagende herausgreifen. Darin steckt aber auch ein Stück jener „Selbstbehauptung“, die den Vergleich mit der deutschen Lebensphilosophie so nahe legt.55 Doch warum sollte man nun den Pragmatismus eigentlich mit Marx vergleichen?56 Die Antwort liegt auf der Hand: weil Marx bereits 50 Jahre vor den Pragmatisten theoretisch eine „praktische Weltkonstitution“ vertreten hatte, und dabei ebenso wie sie von Hegel ausging, sich dann aber auf materiale Untersuchungen stützte.57 Was also unterscheidet die beiden Ausarbeitungen dieses Gedankens theoretisch, jenseits der verschiedenen Parteinahmen? Bereits Kant war sich darüber klar, dass die grundlegenden Kategorien von den Menschen selbst vollzogen werden (KrV, A 141; Kaulbach 1978). Hegel hatte diese Einsicht historisiert: gerade die reinen Verstandesbegriffe selbst seien noch geschichtlich entstanden. Die Frage, wie die Einsicht in die Historizität der Begriffe sich auf ihre Geltung auswirkt, blieb offen.

54 „Not long before I made my break with Marxism-Leninism, I [...] argued [...] that Marxism should no longer be taught as the official doctrine… What I was suggesting [...] was [...] a different way of thinking, one more congenial to the American spirit … I had in mind the philosophy of John Dewey” (Ph. Selznick in Walzer 1995, 128f.). „On my view, James and Dewey were not only waiting at the end of the dialectical road which analytic philosophy travelled, but are waiting at the end of the road which [...] Foucault and Deleuze are currently travelling” (Rorty 1980, xviii). Dewey lag vor allem am Ende der Straße von Rorty selbst, die einmal von Trotzki ausgegangen war (Rorty 1999, 3 ff.). Aber tatsächlich setzt auch Lyotard an die Stelle der großen Erzählungen nun „Pragmatismen“ (1979, 18 ff.). 55 „Die Begriffe der ‚Rationalität’ oder der ‚Demokratie’ enthalten offensichtlich genug Spielraum, um sehr unterschiedliche Bezüge auf sie zuzulassen. Sie allein verhindern nicht, dass Ethik zum äußerlichen ideologischen Gegenargument gegen soziale Bewegungen wird“ (Joas 1980, 138; cf. 3.1). Die amerikanische Selbstbehauptung in der Philosophie war in Rortys Lektion sichtbar, die Welt könne erst als „verwestlichte“ in Frieden leben (Ende 2001 in einem Berliner Vortrag, cf. Rorty 1999, 252 ff.; 1999a). Auf die Frage, ob es nur einen westlichen Weg gebe, wirkte Rorty konstaniert. Zwischen Amerika und Europa hatte er bislang nicht unterschieden (jetzt Rorty 2003, zur militärischen Selbstbehauptung vgl. Walzer 2002). Diese Bemerkungen sind übrigens schon daher nicht „antiamerikanisch“, weil sie am Pragmatismus gerade die Nähe zum deutschen Denken kritisiert. 56 Diese Frage stellte sich bereits bei der Lebensphilosophie (2.5.2). Ihre Nähe zum Pragmatismus hob Joas 1996, 173 hervor – ohne noch auf die Gemeinsamkeit mit dem Marxismus einzugehen (dagegen Joas 1980, 41, 56, 138). 57 Zwar hat Dewey eine praktische Weltkonstitution vor Heidegger und Wittgenstein vertreten (Joas 2000, 8 mit L. Hickman), aber Marx war noch früher – und reicher.

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Hegel hatte die Geschichte in die Geschichte des Begriffs hineingesogen, so dass das richtige Verständnis der Begriffe (nämlich Hegels) sie mit der Geschichte wie auch der sonstigen Wirklichkeit „versöhnte“. In dieser „Aufhebung“ der Dualismen erkannte der Pragmatismus sein Vorbild, nur wollte er die intellektualistische Fixierung vermeiden. Zu einer „Einheitsphilosophie“ ist schließlich auch er gekommen; die Modifikation gegenüber Hegel bestand in der Darwinisierung des Monismus. Dies kam zwar durchaus in die Nähe des dialektischen Materialismus, es war aber nicht die Lösung von Marx.58

3.4.4 Die Bewahrung von Rationalität und Normativität bei Marx „Sie haben daher gehandelt, bevor sie gedacht haben.“ (MEW 23, 101)

Marx hat die Fundamentalphilosophie, ganz wie angekündigt, „beiseite liegen lassen“ (MEW 3, 218; cf. 4.1). Er hat sich für Fragen der Transzendentalphilosophie nicht interessiert. Sie war um 1840 ohnehin kaum von Bedeutung (Köhnke 1986, 23 ff.). Dennoch suspendierte Marx Kants Aussagen zur Gegenstandskonstitution und Kausalität nicht, wie Hegel und die Pragmatisten, sondern er wandte sie schlicht an, indem er materiale Forschung betrieb.59 Indem Marx hinsichtlich der Grundlagen wissenschaftlicher wie praktischer Vernunft genetische Fragen von denen der Geltung trennte, ging er von Hegel zurück auf Kant. Marx’ besondere Begriffe unterscheiden sich von denen Hegels, doch prinzipiell weicht er nicht von Kant ab. Kant hatte der empirischen Forschung stets Raum gelassen (KrV, A 820). In diesem Raum der wissenschaftlichen Gründe, jenseits bloßer Werturteile, bewegte sich Marx. Er wusste um „die tätige Seite“ in der Weltkonstitution (MEW 3, 5; MEW 40, 573), versuchte allerdings nicht wie Hegel, diese selbst noch einmal fundamentalphilosophisch einzuholen – was als in Theorie aufgehobene Praxis zu jenen Kopfgeburten führt, die Marx so treffend kritisierte, und die nach Kant nicht möglich sind. Er versuchte vielmehr, die pragmatische Konstitution von bestimmten Begriffen aposteriorisch, erfahrungswissenschaftlich aufzuweisen (2.6.4, 3.1.4, 3.1.6).60 58 Wie James Wert darauf legte, „anti-intellectualist“ zu sein (1907, 47), so wollte auch Dewey die Philosophie weniger wissenschaftlich, sondern vielmehr als „a form of desire, of effort at action“ verstanden wissen (1918, 43). Dieser „naturalisierte Linkshegelianismus“ (A. Ryan in Joas 2000, 320) blieb Hegel verhaftet (cf. Fn. 41). Merkwürdig ist, wie selten die strukturelle Parallele dieses Monismus zum „dialektischen Materialismus“ vermerkt wurde. 59 Für Engels blieb neben der Ideengeschichte auch die Logik in Kraft (MEW 20, 24). Genau daraus macht Dewey dem Marxismus einen Vorwurf: er sei „hinsichtlich seines Anspruches, besonders wissenschaftlich zu sein, veraltet“ (Dewey 1939, 80). 60 Aus reinen Begriffen ohne Anschauung lässt sich nichts folgern. Die Behauptung der Hegelianer, Hegels „Begriffe“ seien doch erfahrungsgesättigt, bleibt eben das – Behauptung. Sie wird als solche erkennbar an den zahlreichen Fehlbestimmungen in den Details, auf die es in der Erfahrung gerade ankommt. Nur weil Marx die Details je für sich untersucht hat und feststellte, dass sie sich eben nicht der Hegelschen „Lo-

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Ihre Geltung erwies sich ihm oft als eng umgrenzt und als eine die realen Verhältnisse nur insofern transzendierende, wie jeder Begriff von etwas das unter ihm Begriffene transzendiert, ohne dass im Geisterreich etwas zu Verwirklichendes übrig bliebe.61 Marx wusste wie Hegel, dass auch ethische Begriffe eine Geschichte haben, nur konnte er, weil er Genesis und Geltung trennte, die wirkliche Geschichte, denen die Begriffe entstammten, gegen ihre „Aufhebung“ in Hegels transzendentale Geschichte der Begriffe stark machen, in der sich die Begriffe gegenseitig erzeugten. So machte Marx es zur Hypothek, zu jedem philosophischen Begriff die konkret dahinterstehende Praxis sowie ihre Geschichte zu betrachten, und zwar ohne schon in diese Beschreibung eigene Wünsche und Forderungen („normative Gehalte“) einzuschmuggeln.62 Damit ging er forschungspraktisch weit über Hegel, die Lebensphilosophie und den Pragmatismus hinaus. Der Pragmatismus von Marx bestand nicht in dem Versuch, seine eigene Theorie durch eine mysteriöse Praxis „wahr“ zu machen, wie es Lenin, Lukács und Korsch verstanden (2.5.4), sondern aus der Ausbuchstabierung dessen, was im Pragmatismus eine abstrakte Formel blieb. Marx unterscheidet sich aber nicht nur forschungspraktisch, sondern auch methodisch vom Pragmatismus. Seine „Transformation der Philosophie“ vermied zwei missliche Schritte: Er hat gegenüber der pragmatistischen Version die Rationalität und die Normativität nicht hegelsch „vernichtet“ (2.5.2; Fn. 88). Er hat die Wissenschaftlichkeit nicht untergraben müssen, wie es die Gefahr im Pragmatismus ist, und wofür neuerdings Rorty das beste Beispiel ist.63 Marx war weit entfernt davon, die „alteuropäische“ gik“ fügen (2.5.2, Fn. 74), konnte er sagen, Hegels Methode stehe auf dem Kopf. Diese Aussage ist Resultat, kein Prinzip (2.5.7, 3.1.6). 61 Man mag den darin liegenden Kontextualismus wertend verdammen – argumentativ ist damit wenig gewonnen. Philosophische Debatten um Realismus und Universalismus wurden meist begrifflich, kaum je konkret und sozialhistorisch unterfüttert geführt. Auf diese Weise – wenn sie die Ebene, auf der sich ihre „begrifflichen“ Operationen zu bewähren hätten, von vornherein ausblendet – gewinnt die „normative Philosophie“ allzu leicht. 62 Dies ist nur in einem Denken möglich, das die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft eingezogen hat. Dies taten außer Fichte und Heidegger auch Peirce (Apel 1975, 77) und Dewey (1930, 77). Lohmann 1980 und 1991 will bei Marx die Welt der Technik (die erst seine eigene Lesart auf eine solche reduziert) um eine Lebenswelt aufstocken, in deren „Beschreibung“ er die Normen finden will, die er in Marx’ Erklärung derselben nicht zu finden vermag. Dabei geht es auch Marx mitunter um Normen, nur eben nicht „normativ“. Lohmann hat vorab entschieden, „Kritik“ könne nur normativ sein. Dies verstellt ihm die Sicht auf das Material, das theoretische wie das sozial Gegebene (3.1.4, Fn. 66, 77, 137). 63 Die kriteriale Unterscheidung von Repräsentation und Gegenstand ist eine vorletzte Frage, die in einer gegebenen Forschungs- oder Alltagssituation nicht zu ersetzen ist. Sie wird untergraben, wenn sie in eine „letzte Frage“ darüber uminterpretiert wird, was diese Repräsentationen eigentlich seien. Der Neopragmatismus von Rorty 1979 und Brandom 1994 will statt Repräsentationen (der „Repräsentationalismus“ sei eine verfehlte erkenntnistheoretische ‚Theorie’) nur noch konkrete Sprachhandlungen in einer Sprachgemeinschaft zulassen. Diese Philosophisierung der Wissenschaftspra-

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Rationalität nachmetaphysisch aufzugeben. Und wie er sich im Raum der Gründe aufhielt, soweit es die Wissenschaft betraf, so unterstellte er sich der unbedingten Forderung, was das Handeln betraf. Dem Schweigen zu Begründungen des kategorischen Imperativs entspricht seine schlichte Befolgung.64 Marx räumte den Übergang der praktischen Vernunftideen zur Praxis frei, indem er sie gegen den theoretizistischen Rabulismus wieder zur Anwendung hin öffnete. Anders als die Pragmatisten lieferte Marx nicht Vermutungen oder Appelle, sondern handfeste Analysen über konkrete pragmatische Zusammenhänge.65 Durch die Konkretion seiner einzelnen Analysen der pragmatischen Konstitution sozialer Phänomene und Begrifflichkeiten hat Marx es vermieden, mit ungedeckten und letztlich ideologischen Begriffen hantieren zu müssen. Indem er die tatsächlichen Bedeutungsspielräume solcher Termini wie „Praxis“, „menschlich“ oder „Gerechtigkeit“ aufwies, indem er Analysen der wirklich dahinterstehenden Praxis und ihrer Geschichte so weit wie möglich mitlieferte, wusste er zugleich um die Begrenzung solcher großen Worte. Dadurch wurde er xis klärt jene nicht auf, sondern verbaut vielmehr ein Verständnis ihrer Binnenlogik. Dahinter steht der ungebrochen idealistische Glaube, alles hänge von „letzten Fragen“ ab (cf. 2.6.4, Fn. 107; 2.6.6, Fn. 177). 64 Kants Imperativ „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 428) präzisierte Marx in dem „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist“ (MEW 1, 385). Den Primat der praktischen Vernunft nahm Marx ernst, indem er von praktischen Vernunftideen nicht redete (außer, um deren „transzendentale Dialektik“ nachzuweisen), sondern sie anwandte. Die Einsicht in die Nichttheoretisierbarkeit der moralisch-praktischen Fundamente setzte er fundamentaler um als Wittgenstein, der sich in eine private „Praxis“ als Klostergärtner und Volksschullehrer flüchtete (Rubinstein 1981), und Heidegger, dessen politische Praxis irrational war (2.5.5). Der common sense sagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ (Erich Kästner). Was „gut“ ist, weiß wohl jeder. Warum dies gilt, ist eine eitle Frage, die an der Geltung zudem nichts ändert. Es gilt, zu eruieren, was genau zu tun ist, und dies umzusetzen. 65 Deweys „Sozialphilosophie“ lief auf die Aussage hinaus, dass Projekt der amerikanischen Demokratie sei noch „in the making“. Man müsse wieder an „den Menschen“ glauben, damit „gemeinsam handelnde Menschen die individuelle Freiheit erwerben können, die zu brüderlicher Gemeinschaft führen wird“ (1939, 164, cf. Fn. 40). Seine verkürzte Sozialgeschichte der Philosophie will, dass eine elitäre Philosophenkaste seit der Antike mit „Überwelten“ eine überkommene Herrschaft habe absichern wollen („But when it comes to convincing men of the truth of doctrines which are no longer to be accepted upon the say-so of custom ..., there is no recourse save to magnify the signs of rigorous thought [...] Thus arises that appearance of abstract definition and ultra-scientific argumentation”, 1920, 41). Dem habe stets ein rein technisches Wissen entgegengestanden („the matter of fact positivistic knowledge“, 1920, 34, s.o., Fn. 40). Dabei ist jedes, auch das technische Wissen, eingelassen in holistische Verweisungszusammenhänge, um so mehr, je länger man in der Geschichte zurückblickt. Deweys Klassenzurechnung ist ähnlich reduktionistisch wie die des dialektischen Materialismus. Daneben unterschlägt er die progressive Philosophie, die nie in nur technischem Wissen aufging.

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davon abgehalten, zum Ideologen zu werden, zu dem er dank seiner Wortgewalt und seines aufbrausenden Wesens wahrlich das Zeug hatte. Zugleich verfügte er damit über ein Handwerkszeug, um andere, die sich diesem Geschäft hingaben, der Ideologizität zu zeihen.66 Wo wäre im Pragmatismus vergleichbares geleistet worden? Die unvermittelte Anwendung des Pragmatismus in der gegenwärtigen deutschen Philosophie nach Marx ist nach alledem ebenso fragwürdig, wie es dessen Verständnis der europäischen Tradition war. Die neopragmatistisch „detranszendentalisierte Vernunft“ dient ironischerweise gerade einer Respiritualisierung der Soziatheorie („Idealisierung“, Habermas 2001, 5, 33 ff.). Der Pragmatismus versuchte, die Tätigkeit der Philosophie alternativ zu begründen. Er hat somit einen methodenkritischen und wissenschaftstheoretischen Schwerpunkt, der aber in diesem Kapitel gegenüber den Marx’schen Reflexionen als defizitär aufgewiesen wurde. Speziell die deutsche Rezeption des Pragmatismus hatte eine zweifelhafte Wirkung, da sie ihn für die notorischen Begründungsprobleme ihrer „normativen Sozialphilosophie“ einspannte (eines Amalgams aus unvollendeter Gesellschaftstheorie und partikularen Werturteilen). Die Rezeption des Pragmatismus diente der normativen deutschen Sozialphilosophie als – nachgereichte – „Begründung“ ihrer „Ansprüche“, die dadurch allerdings kaum „gehaltvoller“ wurden. In ihrem Gefolge war selten auszumachen, was als Philosophie und was als Wissenschaft zu verstehen sei, was der theoretischen und was der praktischen Seite zugehörte.67 Die „Dualismen“ von Theorie und Praxis, Philosophie und Wissenschaft, Ethik und Politik, Denken und Sein wurden auf eine Weise „überwunden“, die einen unverdaulichen Block hinterließ. Die Marx’sche Philosophiekritik ist also auch durch den Pragmatismus nicht hinfällig geworden. Gehen wir damit zur systematischen Auswertung dessen über, was in den Kapiteln 2 und 3 am Material untersucht wurde.

66 Marx behauptete nicht abstrakt, kein Begriff könne seinen Kontext transzendieren, sondern zeigte, dass bestimmte Begriffe nur in einem besonderen Kontext Sinn machen. Wer sie sinnfremd „universalisiert“, unterliegt der Ideologiekritik, und kann selbst keine solche mehr artikulieren: Der moralische Universalismus verunmöglicht die Ideologiekritik, wenn er erhobene „Ansprüche“ immer schon als berechtigt unterstellt. „Kontextualismus“ ermöglicht eine Ideologiekritik, solange er nicht Denken und Sein, Geltung und Genese vermengt. 67 „Es ist [...] nahezu unmöglich, in den Werken von [...] Mead oder Jürgen Habermas den genuin philosophischen und den sozialwissenschaftlichen Argumentationsgang klar zu trennen“ (H. Wenzel in Joas 2000, 237). H.P. Krüger nennt dies nobel „Interpenetration“ (Joas 2000, 199). Dewey wollte das „Projekt“ Bacons von Skrupeln befreien (1920, 61). Die Forderung einer technischen „Verbesserung“ der Welt erhob bereits Descartes (1637, 53); nur war ihm klar, dass dafür sicheres theoretisches Wissen vonnöten ist, während moralische Fragen einer anderen Behandlungsart zuzuführen sind. Diese Unterscheidungen weicht Dewey auf.

4. Folgerungen für die Philosophie nach Marx

Angesichts der Persistenz des Kapitalismus will diese Arbeit dazu beitragen, den Sozialwissenschaften und der Philosophie wieder ein unverkrampfteres Verhältnis zu Marx zu ermöglichen, von dem die noch immer stringenteste Theorie des Kapitalismus stammt. Allerdings ist diese Theorie durch ihre politische und akademische Wirkungsgeschichte derart verstellt, dass sie von diesen Überlagerungen erst befreit werden muss. Zu diesem Zweck nahm Kapitel 2 eine kritische Revision einiger sonst meist verdeckter Aspekte in der Entwicklung hin zur deutschen „Sozialphilosophie“ vor. Mithilfe dieser theoriegenetischen Tiefenschärfe konnten in Kapitel 3 missliche kategoriale Weichenstellungen der gegenwärtigen Sozialphilosophie exemplarisch kritisiert werden. Zu konstatieren war vor allem eine erstaunliche Kontinuität von Denkmustern des Deutschen Idealismus. Eine solche Kasuistik könnte fortgesetzt werden. Offen ist hingegen noch die Frage, was daraus für die Möglichkeiten und Grenzen der Sozialphilosophie und ihr Verhältnis zur Marx’schen Theorie systematisch zu folgern ist. Dieses letzte Kapitel zeigt nun auf, welcher Begriff von Philosophie mit der hier geübten Kritik verträglich, ja für sie leitend ist. Anfangs wird noch einmal das vorgeschlagene Kriterium der Philosophiekritik präzisiert, das der frühe Marx für seine Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach entwickelt hat: ihre Überprüfung an der alltäglich erfahrenen und medial durchaus präsenten sozialen Realität (4.1, cf. 2.5.7, 3.1.5). Ein solch vortheoretisch-lebensweltlicher Blick liefert keine weitere Theorie, sondern erlaubt es, bestehende Theorien gegenüber anderen Theorien und gegenüber der sozialen Realität kritisch zu verorten. Eine solche „übersichtliche Darstellung“ (Wittgenstein, PhU 122) wird dann für verschiedene Varianten der Sozialphilosophie gegeben (4.2). Hier werden die problematischen Inbezugsetzungen von Denken und Sein, Modell und Wirklichkeit, Theorie und Praxis in den analysierten Theorien systematisch reflektiert. Damit wird ein Philosophiebegriff erarbeitet, der der Gegenwart und der philosophischen Tradition gerechter wird. Dieser ist nicht mehr gehalten, Marx’ Theorien aus traditionellen „Denkzwängen“ oder aktuellen Tagesmoden auszu-

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blenden, wie es bislang oft der Fall ist. Im Ergebnis erweist sich der differenzierte und magere Philosophiebegriff von Kant und Wittgenstein, den auch Marx teilt, dem deutschen Einheitsdenken von Hegel über Heidegger bis zu Honneth als überlegen. So lassen sich viele Missverständnisse auflösen, etwa bezüglich der Rolle, die die „Wissenschaft“ und die Rede von „Gesetzen“ im Marx’schen Denken spielt (4.3). Misslich wirkte sich hier vor allem die neoklassische Überformung des Marxismus aus. Wird die Marx’sche Rede von Gesetzen philosophisch fehlbestimmt, kommt es in der Reaktion zu den nämlichen ReHegelianisierungen und Ethisierungen der Theorie, wie sie in dieser Arbeit häufig begegneten, und die zu kritisieren waren. Sie verkörpern eine Kontinuität des Deutschen Idealismus an Marx vorbei (4.4).

4.1 Die Rolle der Realität als Maß der Verortung Es hat sich im Laufe der Arbeit mehrfach erwiesen, dass das folgende Zitat von Marx aus dem Jahre 1841, das eigentlich auf Aristoteles und Hegel gemünzt war, heute noch treffend ist:1 „Die Welt ist also eine zerrissene, die einer in sich totalen Philosophie gegenübertritt. Die Erscheinung der Tätigkeit dieser Philosophie ist dadurch auch eine zerrissene“ (MEW 40, 215). Eine Ursache für diese Deckung liegt in der Persistenz der Hegelschen Philosophie im deutschen Denken, selbst noch über 170 Jahre nach seinem Tod. Eine Parallele zu Hegel ließ sich an Habermas (3.1.5), an der Wirtschaftsethik (3.3.5) und besonders am Neopragmatismus feststellen (3.4.2), und der Kommunitarismus berief sich zumindest auf denselben, ohne allerdings ähnliche Vermittlungsleistungen zwischen moralischem Appell und Realität zu erbringen wie jener (3.2.3). Zuvor hatte sich bereits gezeigt, dass auch die traditionelle Sozialphilosophie von Eucken, Lukács, Heidegger und Luhmann sich nach dem Hegelschen Vorbild ausrichtete (2.5.32.5.6). Sogar die Kritische Theorie berief sich auf Hegel (2.6.3), was noch bis in die spekulative Geldphilosophie der „monetären Werttheorie“ nachwirkte (2.3.7). Diese Hegelianismen rühren sicher nicht, jedenfalls nicht bei allen, aus einer ausgeprägten Vorliebe für schwerverständliche Texte aus dem frühen 19. Jahrhundert her. Vielmehr ist die „Methode“, mit der Hegel gearbeitet hat, in Deutschland dermaßen attraktiv, dass sie auch der benutzen kann, der kein großer Kenner von Hegel ist. Es handelt sich dabei um die Substitution eines direkten Gegenstandsbezuges, der vielfach immer noch unter Positivismusverdacht steht (Wellmer 1969, 69 ff.; Negt in Euchner 1972, 44), durch die Einkreisung eines Phänomens mittels einer „Synthese“ verschiedener schon vorliegender Theorien, die sich im engeren oder weiteren Sinne mit dem Phänomen beschäftigen (2.5.2). Schon Adorno propagierte eine solche „Konstellationsanalyse“ (1931, 335 f.; 1966, 164 f.). Die Meisterschaft in der synthetisierenden Sekundäranalyse errang 1 Siehe Kapitel 2.5.7, Fn. 274; 3.1.5, Fn. 112 sowie 3.2.3, Fn. 52.

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jedoch Habermas.2 Doch gerade dies ähnelt einer positivistischen Haltung am meisten, nur dass an die Stelle einer unkritischen Aufnahme des Gegebenen (cf. Schnädelbach 1971) die unkritische Aufnahme gegebener Theorien tritt (3.1.1; 4.3). Ohne etwas über Intentionen auszusagen, ist doch als funktionaler Effekt Hegelscher Elemente in der Sozialphilosophie die sukzessive Abschottung gegenüber der sozialen Realität durch den identitätsphilosophischen Glauben zu benennen, das vorliegende Denken und seine Begriffe enthielten bereits das Sein. Für Hegelianische Syntheseleistungen gab es im deutschen Denken ein gesondertes Bedürfnis. Besonders in den Anfangskapiteln (2.1 bis 2.4) hat sich herausgestellt, dass bisherigen Überlegungen über die Gesellschaft, wie sie von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu Marx angestellt wurden, nach dessen Tod in Theorien über Technik und über Ethik auseinander fielen. Diese Zerrissenheit trat erstmals in dem sozialdemokratischen Streit zwischen naturalistischer Orthodoxie und ethisierendem Revisionismus auf (2.1). Sie fand sich auch in der leninistischen Weltanschauung wieder, wo einem fatalistischen Krisenszenario eine voluntaristische Praxismystik unverbunden gegenübertrat (2.2), sowie in dem Auseinandertreten von technisierten Modellen der Neoklassik und ethisierten Gegenentwürfen des Historismus in der ökonomischen Theorie (2.3). Auch durch die Soziologie und Kritische Theorie ging dieser Riss, indem den an der Neoklassik orientierten ontologisierten Modellen eines selbstlaufenden Systems Theorien gegenübertraten, die sich primär an den normativen Vorstellungen von Individuen orientierten (2.4, 2.6). Wenn nun der etwa im angelsächsischen Empirismus gängige Weg einer direkten Überprüfung solch disparater Behauptungen an der Realität nicht beschritten wird, so bleibt neben der Dezision nur noch ihre Synthese. Der Effekt einer solchen Synthese ist eine doppelte Entfernung von der sozialen Realität. War diese schon in den zugrundegelegten Theorien – vor allem in der Neoklassik, die via Hilferding noch im Leninismus wirkt – nicht treffend erfasst, so kann deren philosophische Umdeutung und Verschmelzung mit anderslautenden Theorien diesen Mangel nicht beheben, sondern nur verstärken (2.4.3, 3.1.1, 3.3.5). Ein solches theoretisches Verfahren lässt sich philosophisch zwar durchführen. Die Frage bleibt bei derlei Großbauten jedoch, wie sie sich zur sozialen Rea2 Wer in der Philosophie unvermittelt über Gegenstände spreche, hintergehe die kommunikative Wende und mache sich eines naiven Realismus oder Naturalismus schuldig. „Die Gesellschaftstheorie muss sich also auf einer metatheoretischen Ebene bewähren, wo ihr ein direkter Zugriff auf die soziale Realität verwehrt ist“ (Habermas 1991a, 203). Man müsse sich fachfremder „Empirie“ und Fachsprachen bedienen (so der Moral- und Sprechakttheorie sowie der Entwicklungspsychologie, 204). Warum der Zugang zur Welt verwehrt sei, erfährt man nicht, es bleibt bei der Behauptung eines seinsgeschichtlichen Einschnittes: „nach der linguistischen Wende ist uns ein solcher sprachlich unvermittelter Zugriff auf eine innere oder äußere Realität verwehrt“ (1999, 20). „Nachdem der praktischen Vernunft das Subjekt genommen worden“ (1992, 629), sei sie „zerborsten“ (1992, 17; vgl. die voreilige Rede vom „Wegfall“ oder „Zerfall“ des Marxismus bei Honneth 2003, 149, 276; auch 4.2.4, 4.2.5).

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lität verhalten. Es kommt zu jener Situation, die in dem mehrfach gebrauchten Marxzitat anklingt. „Die Welt ist also eine zerrissene“ heißt hier, dass die Theorien über die Welt in unversöhnliche Hälften auseinanderfallen (2.4.1). Werden sie in der Philosophie miteinander versöhnt, so wird diese zu einer „in sich totalen“. Dadurch entfernt sie sich von der realen Welt um so mehr, und wird „auch eine zerrissene“, da sie doch eigentlich gerade diese Welt zu erfassen beansprucht (MEW 40, 215; cf. 2.5 ff.). Diese Diagnose wird beispielsweise auch von Nancy Fraser geteilt. Ihre Analyse des „normativen Monismus“ der Anerkennung bei Axel Honneth (2003, 10) kommt ebenfalls zu dem Schluss: „Honneth ist jedoch nicht gewillt, Erfahrungen zu überprüfen. [...] Was daraus entsteht, ist ein überraschend traditionelles Theoriegebäude: eine Konstruktion mit festem Fundament, in der die Moralpsychologie die politische Soziologie, die Gesellschaftstheorie und Moralphilosophie trägt und über Gebühr beschränkt, in der [soll heißen: indem, CH] sie unzulässigerweise diese Forschungsfelder zurechtstutzt und in ihre relative Eigengesetzlichkeit eingreift“ (Fraser 2003, 237 f.).

Die Betrachtung normativer Vorstellungen der Individuen, hier in der Variante einer philosophisierten Moralpsychologie, wird nicht betrachtet als das, was sie ist: als Untersuchung eines begrenzten und nur empirisch zu erfassenden Bereiches; sondern sie wird zu einer philosophischen Synthese der sich zuwiderlaufenden Perspektiven von Moralphilosophie und Gesellschaftstheorie stilisiert. Jene beiden Disziplinen werden dabei zwar verändert, doch gerade nicht, wie unsere Analyse als nötig herausstellt, über eine Überprüfung an der zugrunge liegenden sozialen Realität, sondern über eine Hegelianische „Aufhebung“. Dass dies zugleich auch politische Philosophie sein will (2000, 7), zeigt die identitätsphilosophische Ausgangsvoraussetzung, dass mit den Spekulationen über Theorien anderer zugleich etwas über die soziale Realität ausgesagt sei. Dagegen lehnt sich Fraser zurecht auf. Der „normative Monismus“ Honneths, der hier nur als Beispiel dient, ist eine Spielart der ethisierten deutschen Sozialphilosophie im Gefolge von Habermas. Schon Kapitel 3.1.5 hat das Fazit gezogen: Solchen monologischen Theoriebildungen fehlt die Instanz der Schöffen, die dem vielleicht naiv, aber bestimmt widersprochen hätten, wie das Fraser hier tut. Neben unserer Rolle als Philosophierende sind wir „zunächst und zumeist“ (Engels, MEW 25, 7) auch Menschen, und hier wissen wir recht eindeutig, was wirklich ist. Wir hören von Elend und Krieg, spüren natürliche Triebe und müssen sehen, wie wir unsere Rechnungen bezahlen. Von einem solchen Vorgriff auf den common sense (Reid 1784; 1.2; Henning 2001), der in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der unseren durchaus mehr wissen kann als die Fachwissenschaft, gehen wir hier aus. Das ist auch möglich, ohne über eine detaillierte sozialökonomische Theorie zu verfügen. Der lebensweltliche Vorgriff dient ja nicht als weitere Theorie, sondern nur als Kriterium der Bewertung anderer Theorien.3 3 Ein Medium der Verständigung über solche Vorbegriffe der sozialen Realität ist die Presse, besonders das Feuilleton (cf. 1.1, Fn. 4; 2.4.6, Fn. 184; 3.2.3, Fn. 48). Auch

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Ein solches Vorgehen gibt es auch bei anderen Autoren. Steinvorth etwa zielt auf ähnliches ab, wenn er als ein Kriterium zur Überprüfung der Angemessenheit von philosophischen Rekonstruktionen ethischer Prinzipien empfiehlt, sich an unsere Intuitionen zu halten (1999, 36 f., 64). Solche Intuitionen (cf. Shklar 1992) sind keineswegs schon eine vollgültige Falsifikationsinstanz. Doch sie dürfen als Wegzeichen nicht ignoriert werden. Sie müssen im Zweifelsfall Anlass sein, die bezweifelte Theorie zu überprüfen. Auch Hilary Putnam geht mit William James davon aus, dass im Falle des Zweifels an abgehobenen Theorien, hier analytischen Erkenntnistheorien, ein „direkter Realismus“ Kriterium der Überprüfung ist (1995, 30; 1998, 46; 1994, 78 ff., Bashkar 1986). Ähnliches inspirierte ferner Husserls Betonung der „Lebenswelt“, die in dem Moment einsetzte, als wissenschaftliche Theorien nicht mehr einsehbar waren (1936, § 28).4 Diese Einsicht ist nicht neu. Ähnlich wie Heidegger und Wittgenstein (Rentsch 2003) empfahl schon Marx für Fälle, in denen aufgrund des „kategorialen Rahmens“ oder anderer „Verhexungen der Sprache“ ein Zugang zur Wirklichkeit verbaut schien, einen therapeutischen Realismus: „Die Philosophen hätten ihre Sprache nur in die gewöhnliche Sprache, aus der sie abstrahiert ist, aufzulösen, um sie als die verdrehte Sprache der wirklichen Welt zu erkennen und einzusehen, dass weder die Gedanken noch die Sprache für sich ein eignes Reich bilden; dass sie nur Äußerungen des wirklichen Lebens sind“ (MEW 3, 432 f.; vgl. Lassalle 1987, 130 ff.). „Zurück auf den rauen Boden!“ (Wittgenstein, PhU 107; Engels, MEW 20, 19). „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigen“ (PhU 309; vgl. Nietzsche, Morgenröte 444, siehe 2.6.6, Fn. 152). Weil „die durchschnittliche Alltäglichkeit das ontische Zunächst [...] ausmacht, wurde sie und wird sie immer wieder in der Explikation des Daseins übersprungen. Das ontisch Nächste [...] ist das [...] in seiner ontologischen Bedeutung ständig Übersehene“ (Heidegger 1927, 43). der Theoretiker der bürgerlichen Öffentlichkeit bedient sich seiner (Habermas 1962, zuletzt 1999a, 2001a, 2003, 2003a). „Wie der Kapitalismus funktioniert und welche Verteilungsmuster er hervorbringt, liest man heute in fast jeder Tageszeitung“ (Habermas 2000, 15). Selbst wenn dem so wäre, scheint sich die Sozialtheorie gegen solch „feuilletonistische“ Einsichten zu immunisieren. Schon Marx begann seine Laufbahn bekanntlich – wenn auch notgedrungen – als Journalist (MEW 1, 97 ff.; cf. Winkler 2003). Auch ist es wichtig, Wahrnehmungen von jenseits des deutschen und des US-amerikanischen Tellerrandes zu berücksichtigen. 4 Diese Intuition hatte schon N. Einstein 1918. Sie wurde überformt, indem sie selbst wieder als Theorie aufgefasst wurde. So setzt bei Husserl bereits im nächsten Paragraphen eine Theoretisierung und Subjektivierung der Lebenswelt ein (als ein „Reich des Subjektiven“, 1936, § 29). Sie führt in der Konsequenz daher nicht zur Verortung verschiedener Rationalitäten, sondern wird zum Gegenmodell zur objektwissenschaftlichen Rationalität verdinglicht (so noch Habermas 1981b II, 173 ff, 470 ff.), bis hin zu dessen Ersetzung (cf. 2.5.5). Der Begriff der „Lebenswelt“ stellt übrigens einen Nachfolger des „Geistes“ dar (Ebrecht 1991, 85; Wirkus 1996, 277, cf. Freyer 1923, 115).

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Die Philosophie muss es sich gefallen lassen, in die reale Welt eingeordnet zu werden. Dies geschieht am besten „weltlich“ – nicht rein philosophisch, doch philosophisch reflektiert:5 „Man muss ‚die Philosophie beiseite liegen lassen’ [...] man muss aus ihr herausspringen und sich als gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben“ (Marx, MEW 3, 218). Dieses Verfahren führt nicht zu einer Reduktion der philosophischen Probleme, sondern zu ihrer Verortung.6 Aus der Sicht eines der Philosophie Kundigen, der die rein immanente Sichtweise außer Kraft setzt und auf die Zusammenhänge verschiedener Theorien, auf ihre Lage in der gegenwärtigen Wirklichkeit und ihre möglichen funktionalen Trends bezüglich dieser schaut, können bestimmte ihrer Kernaussagen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Da dieser Ansatz die Trends aus den Texten selbst herausliest, und nicht aus einer Theorie der gesellschaftlichen Basis, auf welche die verschiedenen Theorien reduziert werden, wurde er bereits in Kapitel 1.4.1 mit Karl Mannheim (1926) „immanent-funktionale Interpretation“ genannt. Die folgende „übersichtliche Darstellung“ (Wittgenstein) fasst in dieser Absicht die systematischen Ergebnisse für die verschiedenen philosophischen Rahmen zusammen, die sich im Laufe dieser Arbeit ergeben haben. Eine solche Verortung lässt die Prinzipienphilosophie Kants unangetastet, da Kant die weltliche Rationalität freigesetzt und lediglich formale Bestimmungen erfasst hat, innerhalb derer noch immer vielerlei möglich ist. Konsequenzen hat sie jedoch für eine Philosophie, die aus Erkenntniskritik und Begriffsanalyse eine Sozialphilosophie zimmert, die sich für ihre normativen Aussagen über empirische Sachlagen hinwegsetzt und diese stattdessen anthropologisch, diskursethisch oder moralpsychologisch zu begründen versucht. Hier wird die zentrale, nämlich die gesellschaftliche Ebene übersprungen, von der aber zugleich angenommen wird, sie sei auf eine bestimmte Weise beschaffen – ein Gegenstandsverlust der normativen Sozialphilosophie (2.1.5, 2.4.1, 2.4.4, 2.5.2).

4.2 Topologie der Sozialphilosophie Die Kapitel 2 und 3 haben die Entwicklung der normativen deutschen Sozialphilosophie in Beziehung zur Marx’schen Theorie gesetzt. Beim Versuch, sie zu integrieren – sei es, um sie abzuwehren oder um sie aufzugreifen –, wurde sie meist philosophisiert (2.5.1, Fn. 8). Dabei hat sich herauskristallisiert, dass dies in vielen Fällen aus einem philosophischen Rahmen heraus geschah, der in irgendeiner Weise von Hegel beeinflusst war. Unsere These war es dagegen, dass 5 Die Philosophie muss zunächst verstanden sein, kann dann aber auch nichtphilosophisch behandelt werden. Zur Nähe von Marx und Wittgenstein Rubinstein 1981, Steinvorth 1985, 149 f., Kitching 1988, 2002, Pleasants 1999. 6 Schon Karl Mannheim wollte aus der „für die außertheoretische Erfahrung gegebenen originären Totalität“ (1921, 92; „vorwissenschaftliche Totalität“, 95) den „logischen Ort“ (93) der Einzelforschungen bestimmen (cf. Schelsky 1959).

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die Marx’sche Theorie in einen Kantischen Rahmen voll integrierbar gewesen wäre (siehe 2.1.3, 2.5.2, 3.1.5, 3.1.4), dass dieser aber in der deutschen Philosophie nur in Ausnahmefällen zugrunde lag. An dieser Stelle soll noch einmal systematisch aufgezeigt werden, worin der Unterschied zwischen dem nüchternen Kantischen und den verschiedenen überfliegenden Hegelschen Rahmen liegt. Erläutert wird dafür zunächst die vereinfachte Topik der Philosophie bei Kant (4.2.1). Die Marx’sche Theorie kommt hier nicht mit überzogenen Ansprüchen der Spekulation in Konflikt. Es folgt die Operation „Überwindung des Dualismus“ bei Hegel (4.2.2), die alternativen Transformationen der Hegelschen Philosophie durch Marx (4.2.3) und den Pragmatismus (4.2.4), sowie zuletzt die Gestalt der doppelt transformierten Philosophie im Supernormativismus (4.2.5).

4.2.1 Topik der Philosophie bei Kant Die Kantische Topologie sieht, kurz gesagt, aus wie folgt: auf die einheitliche, reale Welt, die uns im Alltag „immer schon“ vortheoretisch gegeben ist, beziehen wir uns in der Wissenschaft theoretisch, und in ethischen Urteilen und politischen Handlungen praktisch. Die Kritik der reinen Vernunft (KrV) reflektiert auf das theoretische Weltverhalten und zeigt seine Grenzen auf. Keineswegs „begründet“ sie die Wissenschaften oder enthält sie wissenschaftliche Sätze über die Welt. Im Unterschied zur empirischen Wissenschaft hat die theoretische Philosophie keinen gegenständlichen Weltbezug.7 Das ist solange kein Problem, wie zwischen Philosophie und Wissenschaft unterschieden wird. Die Kritik der praktischen Vernunft (KpV) reflektiert auf die Möglichkeitsbedingungen praktischen Weltverhaltens, ohne bestimmte ethische Vorschriften zu machen oder sich als „Politik“ misszuverstehen. Moralphilosophie ist selbst noch keine Praxis. Theoretische und praktische Philosophie sind hier also wohlunterschieden. Sie werden auch nicht mit ihrer Thematik, dem wissenschaftlichen und dem praktischen Weltverhalten, kurzgeschlossen. Die Einheitsfunktion hat die Welt selbst inne: über sie als das Zugrundeliegende können mannigfache Aussagen getroffen werden, ohne dass sie je in einer Zugangsweise ganz zu haben wäre. Keine Theorie oder Philosophie kann die Welt ganz abbilden – was solange kein Problem ist, wie dieser Anspruch gar nicht erst gestellt wird. Dem dient die begrenzende Erkenntniskritik. Die theoretische Philosophie reflektiert auf die Welt als auf einen Grenzbegriff, welcher wissenschaftlich nie eingeholt werden kann (wir können nicht alles „wissen“), dennoch aber stets vorausgesetzt wird, wie dies im Alltag ja ständig geschieht (KrV, A 419, 519). Praktische Philosophie reflektiert auf die Welt als auf eine praktische Vernunftidee (KrV A 808), die nie ganz einsichtig wird, die wir aber 7 Sie spricht in reflexiven Sätzen, die nicht „die Welt“ beschreiben, sondern unsere Sätze über die Welt in eine Ordnung bringen (so etwa in der Freilegung der Implikationen der Rede von „Raum“ und „Zeit“, KrV A 23 ff.).

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ebenfalls im Handeln immer schon voraussetzen. Es gibt keine Totalperspektive, von der aus Aussagen über alles zugleich zu machen wären. Redeweisen, die eine „Weltanschauung“ geben, etwa in Kunst und Religion, sind klar als nichttheoretische, sondern als emotiv-expressive, reflexive und „subjektive“ (KdU, A 297 f.), also als gruppenspezifische einzuordnen. Da die Marx’sche Theorie als Wissenschaft von der bürgerlichen Gesellschaft weder als alternative Erkenntnistheorie oder Moralphilosophie noch gar als „Weltanschauung“ auftritt, ist sie in diesen philosophischen Rahmen problemlos integrierbar. Damit ist über ihre sachliche Berechtigung noch nichts ausgesagt. Diese muss sich auf sachlichem Gebiet – und hier allein – erweisen.

4.2.2 Überwindung des Dualismus bei Hegel „Ist Hegels Begriff das Wahre, so spart man Taten und Jahre.“ (Grillparzer)

Hegel empfand Kants Unterscheidungen als Dualismen, und er vermisste eine innertheoretische Einheitsfunktion (2.5.2, 2.5.7) Das „Bedürfnis der Philosophie“ sei das nach Einheit (1801, 26). Seine philosophische Operation bestand – verkürzt gesagt – darin, möglichst viele der vorfindlichen „Dualismen“ zu tilgen. Ausgehend von Nicolai und Fichte beseitigte er zunächst das „Ding an sich“. Dieses hatte jedoch für die kritische Einsicht gestanden, dass obwohl die Wissenschaft objektive Realität hat, also wahre Sätze formulieren kann, diese doch nicht in eine Superwissenschaft von der Wirklichkeit an sich überführt werden können. Hegel schuf dieses „absolute Wissen“ nun handstreichartig, indem er den „Dualismus“ zwischen Philosophie und Wissenschaft aufhob: weil die Philosophie darauf reflektieren könne, dass den verschiedenen wissenschaftlichen Ansichten ein einheitliches Etwas zugrunde liegen müsse, habe sie dieses selbst bereits „erkannt“.8 Bei Kant erzeugt Reflexion gerade kein eigenes und neues Gegenstandswissen (KrV A 260 ff.). Ähnlich hob Hegel die praktische Politik in die Philosophie auf, indem sie erst in der Philosophie (des Rechtes) ihre eigentliche Begründung erfuhr. Moralität und Recht wurden in einer nochmals höheren, spekulativen Entität vereinigt (im Staat, dem „wirklichen Gott“, als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, 1821, 398, 403). Als weiterer „Dualismus“ entfällt die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft, die in Hegels Einheitsphilosophie ihre „Synthese“ erfuhren, obwohl es in dieser eigentlich weder Erkenntniskritik noch eine eigene Ethik gab. Sie wurden insofern nicht wirklich aufgehoben, sondern eher – wie bei Heidegger (2.5.5) – abgeschafft.

8 Die Philosophie Kants gehe „vom Anerkennen, dass es Erscheinung des An-sich ist, nicht zum Erkennen des An-sich fort“. Im Schluss von Denken auf Sein meint Hegel, so sei „die Welt [!] ein in sich Zerfallendes“ (1802, 309).

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Die Einheitsfunktion ging von der „Welt“ an die Philosophie über: die Überwindung der Gegensätze vollzieht sich nun in der Philosophie – im „Begriff“.9 Die Vernunft, in der Denken und Sein „eins“ seien (Hegel 1807, 53), wurde „alle Realität“ (179). Die Intuition ist verständlich. Hegel mag gedacht haben: erfahre ich tagtäglich „Einheit“, warum soll ich sie dann nicht auch darstellen können? Allerdings hat jeder Versuch, die „Welt“ so auszusprechen, wie sie ist, den Nachteil, nichts bestimmtes mehr kontrolliert aussagen zu können.10 Übrig bleibt eine Einheitsphilosophie oder Supertheorie, welche als eine kontemplativ-mystische keineswegs missverstanden ist. Sie missversteht sich vielmehr selbst, wenn sie glaubt, zugleich noch etwas anderes sein zu können (cf. 2.1.5, Fn. 84; 2.5, Fn. 106, 166, 261, 277). Auf diese Weise würde sie nur ideologisch.

4.2.3 Transformation der Philosophie (Hegels) bei Marx „Man kann die geistige Stellung von Marx [...] kaum übertreiben.“ (J. Plenge)

Angesichts dieser totalen Philosophie war eine intellektuelle Reaktion provoziert. Es gab hier die eine Möglichkeit, ganz mit der wissenschaftlichen Rationalität zu brechen, wie dies Kierkegaard, Nietzsche, Dilthey und Heidegger, aber auch der Positivismus taten. Sie „sprangen“ unvermittelt aus der Einheitsphilosophie in die Welt. Nun hatten sie zwar „Wirklichkeit“, ohne dort jedoch noch etwas sagen zu können, was einen wissenschaftlichen Anspruch gehabt hätte, weil sie die dafür nötige Distanz gerade eingezogen hatten. Da sie aber Philosophen blieben, kehrten sie zuweilen in den verwaisten Schoß des Absoluten zurück, um mythische Allaussagen zu treffen (über „das Leben“, „das Sein“ oder die ewige Wiederkehr des Gleichen). Insofern trifft Marx’ Kritik an den Junghegelianern auch diese – sie hatten Hegel nicht überwunden. Ein Effekt dessen ist es, dass in junghegelianischen Ansätzen Empirie und Abstraktion noch heute unvermittelt nebeneinander stehen. Marx’ Strategie dagegen war, die Hegelsche Philosophie zugleich „aufzuheben“ und zu „verwirklichen“ (MEW 1, 337 ff.). Weniger pathetisch ausgedrückt heißt das, dass die Rationalität wieder in ihre angestammten Rechte in Wissenschaft und Politik einzusetzen ist – wo sie bei Kant und vielen anderssprachigen Theoriefamilien ja schon ist. Die Philosophie „aufheben“ meint, vom Kopf auf die Füße gestellt, sie eine Etage tiefer anzusiedeln, um sie an Problemen arbeiten zu lassen, die sie auch lösen kann – in der Wissenschaft und der Reflexion auf sie (sie lässt sich nicht „aufheben, ohne sie zu verwirklichen“, MEW 1, 384). „Verwirklichen“ meint, philosophische Ideale wie Freiheit und Gleichheit einer politischen Umsetzung zuzuführen. 9 Die Idee, „das absolute Aufgehobensein des Gegensatzes, [...] ist die einzige wahrhafte Realität“ (Hegel 1802, 303). 10 Das Allgemeinste ist zudem subjektiv: „Was geht mich die Geschichte an? Meine Welt ist die erste und einzige! Ich will berichten, wie ich die Welt vorfand“ (Wittgenstein 1984, 177).

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Dies kann nicht gelingen, ohne zuvor illusionslos untersucht zu haben (etwa in der politischen Ökonomie), was sie genau bedeuten, und mag dies noch so ernüchternd sein (sie lässt sich nicht verwirklichen, „ohne sie aufzuheben“). Die philosophische Ebene Kants hat Marx in seinen Schriften kaum behandelt. Doch dies steht durchaus im Einklang mit dem Selbstverständnis derselben, lässt diese doch die Welt, wie sie ist (Wittgenstein, PhU 126). Ihre Geltung bleibt ungefragt vorausgesetzt (3.4.4). Marx war gegenüber metaphysischen Grillen und „theologischen Mucken“ (MEW 23, 85) ebenso auf der Hut wie Kant, und bezog sich explizit auf den kategorischen Imperativ (MEW 1, 385). Zentral bei Marx ist vielmehr die Rolle der wissenschaftlichen Theorie: sie ist zur Empirie (zu Beobachtungen über die Welt) und zur Abstraktion (zu Philosophemen) hin offen, hat ihren Sinn aber gerade darin, dass sie zwischen ihnen vermittelt. Daher waren sowohl Versuche zu kritisieren, aus einzelnen Momentanbeobachtungen sogleich gegen Marx eine neue Theorie der Epoche zu zimmern (2.1.2, 2.2.6, 2.4.1, 2.4.5 f.), wie auch der gegenläufige Versuch, aus einigen unanalysierten Abstraktionen heraus die vorgefundene soziale Wirklichkeit „rechtfertigen“ zu wollen (3.1, 3.2). Beide Versuche gehen an der Struktur und an dem Ort der Theorie von Marx vorbei. Die Topologie von Kant ist bei Marx nahezu wiederhergestellt: die primäre Rolle, die Begründungen hier spielen, ist die sachliche Begründung moralischer Urteile und politischer Handlungen. Zu diesem Zweck entstand lange vor Marx die politische Ökonomie. Normative Sozialphilosophien wie das Naturrecht waren eher in die Politik verwobene moralische Urteile. Jede Seite eines Streites versuchte ihre Ansicht dadurch untermauern, dass sie es „Naturrecht“ nannte. Dadurch wurde ihre Position aber nicht richtiger oder besser.11 Die politische Wissenschaft beabsichtigte, einen solchen Streit argumentativ auszutragen. Sie gewährleistete eine sachlich, nicht „normativ“ – also werturteilend – begründete Entscheidung. In dieser Hinsicht war die klassische Ökonomie „politisch“ (2.3.1). Auch für die Gesellschaftstheorie lässt sich kaum ein anderer Primärzweck denken als die Möglichkeit, politische Auseinandersetzungen wohlinformiert zu pazifizieren. Dafür ist sie auf Sachlichkeit verwiesen und hat sich versteckter Werturteile zu enthalten.12 11 Es gab ein „Naturrecht“, das den Staat vor den Bürgern (Hobbes), und eines, das die Bürger vor dem Staat schützen wollte (Locke). Der noch heute von Hobbesianern vertretene Anspruch, eine „neutrale“ Instanz zu sein, war selbst parteilich: er ließ sich nicht konkret ausweisen, und wurde von der angewandten Politik Lügen gestraft (2.6.7, Fn. 200 und 237; Mannheim 1925, 128 f.; Habermas 1963, 89 ff.; Ilting, Artikel „Naturrecht“, in: O. Brunner 1972). 12 Kant wandte sich gegen die objektlose „Überredung“, die ihren Grund nur „in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts“ (etwa seiner kulturellen Identität) hat; ein sokratisches Erbe. Ein Konsens schafft gerade keinen Gegenstandsbezug, sondern setzt ihn voraus: „Wahrheit aber beruht auf der Übereinstimmung mit dem Objekte, in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen [...] alsdann ist wenigstens eine Vermutung, der Grund der Einstimmung al-

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So sie praktiziert wird, spielt die Philosophie dabei eine kritische Rolle: sie überprüft die wissenschaftliche und die politische Praxis auf mögliche Sinnverstöße hin. Sie fungiert als öffentliche Richterin (Fn. 3), ohne selbst Einzelwissenschaft oder Politik zu sein.13 Historisch gesehen war es zumindest auch das Fehlen dieser beiden kritischen Instanzen, die den Marxismus oft in so fragwürdige weltanschauliche Systeme und irrationale politische Handlungen hinabgleiten ließ.14 Dabei hätte die Philosophie auch im Marx’schen Paradigma ein praktikables Selbstverständnis ausbilden können. Man muss nicht um der Philosophie willen mit Marx brechen oder umgekehrt. Eine kritische Philosophie nach Marx kann aber auch nicht im Namen der „Vernunft“ den Verstand und die Wissenschaften überspringen oder nur selektiv zur Illustration nutzen. Voraussetzung dafür ist ein differenziertes Kantverständnis, welches ihn nicht fichteanisch als Frühform eines Produzenten von normativen Ausfallbürgschaften, sondern als negativ-kritische Instanz begreift, sowie eine politische Gelassenheit, die beim Nennen des Namens Marx nicht gleich in eine atheoretisch-reflexhafte Abwehrstellung geht. Dafür soll hier plädiert werden (siehe Henning 2005b).

ler Urteile, unerachtet der Verschiedenheit der Subjekte untereinander [das Faktum des Pluralismus, Rawls 1993], werde auf dem gemeinschaftlichen Grunde, nämlich dem Objekte beruhen“ (KrV, A 820 f.). Konsens ist kein Kriterium, sondern nur Anzeige von „Wahrheit“ (Fn. 41). Für Mannheim war, „wenn wir in die gegenwärtige, oft wirklich in die Verzweiflung führende Denklage [...] einigermaßen eine Klärung bringen wollen, die soziologische [...] Fragestellung unerlässlich“ (1928, 368 f.). 13 Diese Funktionsbestimmung ist keine kognitivistische oder technokratische: nicht die Wissenschaft selbst handelt, sondern erst die Politik, die einer anderen Logik gehorcht als jene. Sie ist allerdings auf Faktenwissen angewiesen, und zwar zunehmend. Auch dieses „Faktenwissen“ steht unter philosophischer Beobachtung: Überfliegender Szientismus und naturalistische Fehlschlüsse sind ohne Rücksicht auf kurzfristige Folgen aufzudecken. Habermas hat eine ähnliche Konstellation angestrebt: angefangen von der Positivismuskritik und den Versuchen, Marx zu integrieren (1957, 1963a, 1976b, 1981b), über die Auszeichnung der Rolle der kritischen Öffentlichkeit (1962) bis zu späteren Rückbezügen auf Kants Rechtsphilosophie (1992). Ob er dieses Ziel erreicht hat, darüber lässt sich streiten (3.1). 14 Die historischen Gründe für das Fehlen der Philosophie bei Marx und im Marxismus liegen auf der Hand: Die „kopernikanische Revolution“ Kants war noch zu frisch, um nüchtern betrachtet und umgesetzt werden zu können – sie rief auf Seiten von Gegnern und Befürwortern zunächst starke emotionale Reaktionen hervor. Zudem wurde sie alsbald durch die Hegelsche Systemphilosophie absorbiert. Sozialgeschichtlich hatten die Philosophen nicht nur große Probleme mit der wachsenden Bedeutung der „Wissenschaft“ als solcher, sondern auch damit, sich speziell mit einer solchen Wissenschaft zu arrangieren – schließlich stand eine politische Bewegung dahinter. Ansätze zu einer glückenden marxistischen Kantrezeption stellte der Austromarxismus bereit (Mozetic 1987, cf. 2.1.3).

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4.2.4 Transformation der Philosophie (Hegels) im Pragmatismus Es wurde bereits deutlich, dass dieses Verständnis von Kant und Marx nicht das des Pragmatismus war. Ihm ging es vielmehr darum, „Dualismen“ zu vermeiden, um dann möglichst viel einheitsphilosophisch zu „begründen“ (3.4). Dies erwartete man von der Philosophie. Durch die Hegelsche Brille, in der man die Philosophie wahrnahm, konnte sie dies allerdings nicht leisten. Es kam also darauf an, sie zu verändern. In der pragmatischen „Transformation der Philosophie“, die erst im 20. Jahrhundert eine späte, aber um so gründlichere Wirkung auf das deutsche Denken entfaltete, wird die von Hegel herrührende überhöhte Erwartung an die Philosophie beibehalten.15 Sie wird lediglich aus der Spekulation heruntergefahren auf einen flacheren Modus, der an der Physik und Biologe orientiert ist.16 Die Verortung des Neopragmatismus „zwischen Hegel und Darwin“ (Rorty 1994) ist so zu interpretieren, dass er den Anspruch der Einheitsphilosophie mit den Mitteln der experimentellen Naturwissenschaften einlösen wollte.17 Das Ergebnis ist ein „naturalisierter Linkshegelianismus“ (A. Ryan in Joas 2000, 320), in welchem weder zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, noch zwischen Philosophie und wissenschaftlicher Theorie angemessen unterschieden wird. Er hat sich zwischen alle Stühle gesetzt. Auf diese Weise können weder mehr wissenschaftlichen Aussagen über die Gesellschaft getroffen werden, weil sie sogleich in eine „quasitranszendentale“ Optik geraten. Noch lassen sich konkrete ethische Grundsätze gewinnen, da diese „transzendentalisiert“ und somit gegenstandslos gemacht wurden. Auch philosophische Bestimmungen sind nicht mehr zu treffen, weil ihre „Apriorizität“ und „Notwendigkeit“ als „nicht mehr“ zugänglich scheint. Es lassen sich lediglich aus der einen Überperspektive Aussagen über alles treffen, deren Status allerdings notorisch unklar bleibt. „Begründungen“ werden nun für alles Erdenkliche beansprucht, ohne deren Verortung oder ihren Geltungsmodus noch klären zu können.18 15 „Im Neopragmatismus und in der Dewey-Forschung ist unstrittig, dass Kant und der deutsche Idealismus, darunter insbesondere Hegel, einen für Deweys Transformation der philosophischen Tradition konstitutiven Bezugspunkt bilden“ (H.-P. Krüger in Joas 2000, 228) – auch für Peirce, Mead, Apel, Habermas, Honneth und Homann. 16 Nach Peirce stellen die pragmatischen Prinzipien „das dar, was die Hegelschen hätten sein können, wenn er in einem physikalischen Laboratorium statt in einem theologischen Seminar erzogen worden wäre“ (Peirce, CP 8.283; cf. Apel 1975, 30). Noch für Dewey (1939) ist die experimentelle Naturwissenschaft der Maßstab. 17 „Erkennbarkeit [...] und Sein sind [...] metaphysisch dasselbe“, „synonym“ (Peirce CP 5.274; cf. Apel 1975, 54). 18 Man denke an die „Begründung“ der Demokratie durch die Anthropologie oder die Logik, die der Wahrheitsgeltung durch eine zum Denken erst zwingende Handlungsblockade, die Begründung der Wissenschaftlichkeit durch den wachsenden Nutzen o.ä. (3.1.5, Fn. 86). Nach Peirce gelte es, „eine Philosophie wie die des Aristoteles zu schaffen ..., die so umfassend ist, dass [...] die gesamt Arbeit der menschlichen Vernunft [...] als eine Ausfüllung ihres Rahmens mit Details erscheinen wird“ (CP 1.1; Apel 1975, 33; vgl. Mead 1987 I, 60 ff.). James schrieb: „You want a sys-

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Vergleichbar dem Idealismus Berkeleys stellt sich, wenn auch unfreiwillig, gerade durch die Totalisierung des philosophischen Anspruchs ein „Weltverlust“ ein („The world well lost“, Rorty 1982, 3 ff.; Putnam 1995, 30, 72). Durch das Einziehen der Differenz von Philosophie und Wissenschaft geht der Witz sowohl der Kantschen wie auch der impliziten Marx’schen Philosophie verloren: die Wissenschaften bedürfen, bevor sie praxiswirksam werden, einer eingehenden philosophischen Kritik. Dies kann die Einheitsphilosophie nicht mehr leisten, wenn sie sich selbst schon aus den Einzelwissenschaften definiert oder sich von ihnen ihre Ergebnisse vorgeben lässt. Ähnliches gilt für die „Übersetzung“ zwischen anderen Bereichen:19 bevor man etwa der Politik einen philosophischen Begriff von Demokratie oder Solidarität zur Praktizierung anempfiehlt, wäre ein solcher Begriff erst einmal sozialökonomisch zu hinterfragen. Begründet man ihn wie Dewey aus der Logik (obwohl auch diese schon einheitsphilosophisch überformt und so im Grunde keine Logik mehr ist), hat man die soziale Realität und die Rolle der Demokratie in dieser übersprungen und wird – horribile dictu – zum Ideologen.20 Doch wer soll eine solche Kritik leisten, wenn die Wissenschaft selbst schon einheitsphilosophisch „aufgehoben“ ist? In jüngster Zeit fraternisieren Neopragmatismus und Poststrukturalismus so unter dem Logo der „Postmoderne“ (Nagl 2001). Statt nun das große Narrativ gläubig hinzunehmen, es gäbe vernünftige Subjekte und einen Zugang zu realen Objekten „heute nicht mehr“ (eine epistemische Geschichtsphilosophie, Fn. 2), empfiehlt eine Philosophie nach Marx, zunächst die Möglichkeiten der Rationalität nüchtern zu bestimmen. Viele Probleme lösen sich dann von selbst auf. Wie schon der Linkshegelianismus (4.4), so war auch der Pragmatismus in der Krise der Philosophie des 19. Jahrhunderts nur ein heuristisches Durchgangsstadium: denkt man ihn zu Ende, kann man nicht Pragmatist bleiben. So trieben die Urpragmatisten zur vorkritischen Metaphysik (Peirce 1891, James 1912, Dewey 1929, zuletzt Searle 1993). In Deutschland hat der Pragmatismus vor allem die Tendenz zur Ethisierung verstärkt – bis hin zum „normativen Monismus“. Einige Anhänger sind auch zum „historischen Materialismus“ durchgestoßen (3.4.3). Das lag weniger daran, dass dieser so vielversprechend, sondern vielmehr daran, dass jener nur viel versprechend, aber so wenig einlösend war.

tem that will combine both things, the scientific loyalty to facts ..., but also the old confidence in human values (…) I offer the oddly-named thing pragmatism as a philosophy that can satisfy both kinds of demands“ (1907, 26, 33). Dewey, der neben der Logik und Anthropologie auch zur Pädagogik, Ästhetik, Ethik und Religion schrieb, sah sich zuletzt als einen „System“-Denker (vgl. Lukács 1923, 128, 226; Husserl 1936, § 3; Habermas 1981b II, 583 f.). 19 Diese hält Habermas (1999, 328) für die primäre Aufgabe der Philosophie. Das ist indes kein „bescheideneres und realistischeres Selbstverständnis“ (326), sondern eine große Ausweitung ihrer Zuständigkeit (3.1.5, Fn. 108). 20 Zur Kritik der Ideologisierung der „Demokratie“ Diggins 1998, 1994, Lloyd 1997.

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4.2.5 Supernormativismus: Doppeltransformierte Philosophie Die deutsche Pragmatismusrezeption stellt nun eine eigene Variante dar. Hierzulande pflegt man geisteswissenschaftliche Vorbehalte gegen jede Naturalisierung. Da das Einheitsdenken ohnehin deutsche Ursprünge hatte,21 ließ sich eine dem Normativismus des deutschen Denkens gemäße Variante des Pragmatismus leicht erarbeiten. Schon Apels Interpretation des „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ als der „Grundlage der Ethik“ (Apel 1973 II, 358 ff.) machte aus dem Pragmatismus eine Ethik – eine solche allerdings, die weniger konkrete moralische Urteile zu bilden erlaubte (das tat sie nur selten),22 sondern die die Aufgaben der praktischen Philosophie (etwa die „Letztbegründung“), der Gesellschaftstheorie (Habermas 1968, 1981; Joas 1992, 1997; Honneth 1992, 2003), der theoretischen Philosophie (Habermas 1973)23 und sogar der „Welterzeugung“ übernahm (der „schwache Naturalismus“ von Habermas 1999, 32 ff.). Allerdings war, anders als in den USA, die vom Pragmatismus vorgefundene Topologie des Wissens eine durch Marx bereits transformierte. Die „Detranszendentalisierung“ bezog sich daher auf keine idealistische Einheitsphilosophie mehr, sondern auf ein ausdifferenziertes Gefüge von Disziplinen. Diese wurden nun allererst wieder idealistisch enggeführt. In Kapitel 3 war zu sehen, wie der deutsche Normativismus (eine Beschränkung auf das Ethische unter weitgehender Ausblendung des als abgetrennt begriffenen Funktionalen) seine idealistischen Fundamente gegen pragmatische eintauschte. Aufgrund der idealistischen Verwurzelung des Pragmatismus aber blieb diese Transformation idealistisch. Diese allzuständige Philosophie der „normativen Genese“ sämtlicher voriger Gebiete wird so zum Supernormativismus: das Funktionale wird nicht mehr nur übergangen, sondern selbst noch ethisiert, also „normativ“ erklärt. Der Pragmatismus hat die Inhalte dieser Philosophie zwar nicht determiniert, doch er passte nur zu gut auf eine Sozialphilosophie, die sich nur noch um transparentes und angenehmes „Intersubjektives“ kümmern zu müssen meinte (Interaktion, Verständigung, Diskurs, Anerkennung, Selbstgesetzgebung, Solidarität etc.). Die Objektivität, die in der Sozialphilosophie größtenteils entfallen ist,24 kann es nach der pragmatistischen Erkenntnistheorie gar nicht geben: da es nichts „Zeichen-nacktes“ gibt, ist eben alles intersubjektiv, und dass heißt aus dieser 21 Zu Fichtes Rolle für den Pragmatismus siehe Joas 1980, 52, 145; Oehler 1995, 172 ff. Sowohl James’ Psychologie wie auch der unmittelbare Schluss Meads von einem Mikro-Selbst (self) auf ein Makrosubjekt (community) trägt fichteanische Züge; er findet sich auch in Heideggers „eigentlicher“ Gemeinschaft (2.5.5; 3.1.5, Fn. 125). 22 Apel 1988a sah sich daher gezwungen, noch einen „Teil B“ einzuschieben. 23 Bestrebungen einer ethischen „Fundierung“ der Logik hatte es bereits bei Rickert gegeben (Lask 1923 I, 349). Auch die Erlanger Schule hat an einer pragmatischen Rekonstruktion der Logik gearbeitet (cf. Gethmann 1991). 24 Sie leugnete solch „Objektives” zwar nicht – vgl. das Verdikt über den Idealismus von Mead bei Habermas 1981b II, 369 –, verlor es aber aus den Augen (2.4, 2.5, 3.1). Es waltet in die Gehalte der Theorie nun unerkannt hinein.

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Optik: „normativ“, und damit nur aus der Teilnehmerperspektive erfassbar. Der Weltverlust in der Sozialphilosophie wurde durch die Rezeption des Pragmatismus daher gerade nicht korrigiert.25 An die Stelle des Supernormativismus ließen sich auch andere Metatheorien setzen. An „Theorien über alles“ herrscht kein Mangel – man denke an die Systemtheorie (2.5.6), den Interpretationismus, den reduktive Materialismus und anderes. Es genügt an dieser Stelle, auf die problematische Ausgangskonstellation zu verweisen: unabhängig davon, was jeweils den „versöhnenden“ Platz in der Mitte einnehmen soll, ist schon der apriorische Versuch, eine solche „Supertheorie“ überhaupt aufzustellen, von Marx her in Frage zu stellen (Rentsch 2003a).

4.3 Funktion und Reichweite der Theorie nach Marx „It has often been said that those who ignore history are condemned to repeat it. To this it should be added that those who ignore theory are condemned to reconstruct it.“ (Anwar Shaikh)

Der Witz der vorliegenden Arbeit ist es nun, dass sie als einen Hauptfaktor für diese ideengeschichtliche Entwicklung die Absetzung von Marx aufwies. Marx hatte noch wie Kant eine ganze Welt im Blick, die er aus verschiedenen Perspektiven interpretierte.26 Indem nun in Reaktion auf Marx die Neoklassik die ökonomische Theorie entsoziologisierte (2.3.1), kam sie zu einer rein funktionalen Theorie, die durch ethische Erwägungen ergänzt werden musste (2.4.1). Die von dieser Zerteilung ausgehenden technoiden und normativen sozialphilosophischen Spekulationen wurden in der Folge entökonomisiert (2.4.3, 2.4.5).

25 Das jüngste System des Neopragmatismus, die Fundamentalphilosophie Robert Brandoms, trifft sich mit dieser Philosophie in der Ambition: seine Rekonstruktionen malen alles „normativ“ (Brandom 1994, 635; 2000a, Seel 2002). Debatten darüber problematisieren meist weniger den Ansatz als vielmehr Details der Ausführung. 26 Schon die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert ist keine ontologische, sondern eine perspektivische. Faktisch gibt es keinen Tauschwert ohne Gebrauchswert, doch spielen sie in der gesellschaftlichen Praxis je andere Rollen, und deswegen betrachtet die Theorie sie unter verschiedenen Blickwinkeln (MEW 23, 53). Auch die Frage, ob man die einfache Zirkulation als W-G-W oder als G-WG betrachtet, ist eine des Blickwinkels (2.3.7). Das Prädikat „bürgerlich“ zeigt an, dass eine Theorie etwas nur unter einem bestimmten Blickwinkel erfasst hat, was andere Phänomene zwangsläufig ausblenden musste (Marx benutzt den Terminus „Standpunkt“, siehe MEW 23, 171, auch 22, 120, 128, 141, 176, 204 u.ö.; MEW 25, 41, 97, 270, 325, 333, 337, 366, 493 u.ö., MEW 1, 351; MEW 3, 7 und 14. Max Weber 1920a, 633 geht vom „Standpunkt der Staatsinteressen“ aus). Nancy Fraser nennt den Dualismus von Umverteilung und Anerkennung einen „perspektivischen“ (in Honneth 2003, 9, 13 ff.; cf. Kaulbach 1990). Derzeit arbeit sie an einer nunmehr dreifaltigen Gerechtigkeitstheorie – man darf darauf gespannt sein.

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Das Problem dieser intellektuellen Arbeitsteilung war allerdings, dass sich die Perspektiven nicht mehr recht miteinander verbinden ließen. In diesem sich forterbenden und zunehmend ontologisch interpretierten Dualismus (Natur und Geist, Subjekt und Objekt, Arbeit und Interaktion, System und Lebenswelt) beschäftigte sich das deutsche sozialphilosophische Denken fast nur noch mit der normativen Sphäre; vulgärmarxistisch gesagt: mit Überbauphänomenen (2.5, 2.6; 3.1, 3.2). In einem antipositivistischen Affekt wurde das vermeintlich rein Technische meist abgeblendet. Jede dieser Seiten hielt allerdings seine Perspektive für die einzig wahre, und so gab es auf beiden Seiten eine „Ethik“ (2.4.3), auch auf Seiten der gegenläufigen Technokratie, Systemtheorie und Betriebswirtschaft (2.4.5, 2.5.6, 3.3.3). Es ist die Struktur des „Deutschen Idealismus“ im weiteren Sinne, alles aus einem Prinzip zu erklären, einerlei ob vom Geist, von der Natur, oder von einem „höheren“ Dritten aus (sei es der Wille, die Warenform, die Kommunikation oder die Normativität; 2.5.2; Kittsteiner 2001). Eben dieser Idealismus machte sich nun nach 1989 in der deutschen Sozialphilosophie verstärkt bemerkbar, als im Postmarxismus Betrachtungen über funktionale und systemische Aspekte weitgehend unterblieben, und auch diese Phänomene noch „normativ“ zu erklären versucht wurden (3.1-3.4; 4.2.5). Diese neuhegelschen Systeme sind in ihrer theoretischen Geschlossenheit und maximalen Praxisferne als Wiederkehr der früheren Sozialphilosophien des „objektiven Geistes zu deuten. Es war zu zeigen, dass selbst spekulativste sozialmetaphysische Systeme wie das Luhmannsche im negativen noch vom Marxismus abhängig waren (2.5.6). Bei einer Absetzung von etwas ist nun entscheidend, wie und als was man dieses Etwas genauer fasst. Ein Ergebnis dieser Arbeit ist, dass der Charakter der Marx’schen Theorie (siehe die „Vergegenwärtigungen“) dabei meist verfehlt wurde. Wie die Topologie gezeigt hat (4.2), ist ihre Redeweise primär eine wissenschaftliche (cf. Little 1986), und ihr Thema ist die bürgerliche Gesellschaft (2.1.5, 2.4.1). Um diese Redeweise zu erreichen, musste sich Marx allerdings zuvor von der hypertrophen Systemphilosophie absetzen. Daher finden sich in seinen Texten noch Bezüge auf spekulative philosophische Formeln. Obwohl diese meist ironischer Natur sind, reichte dies in der deutschen Rezeption aus, um den Geltungsstatus der Marx’schen Rede zu verunklaren – und zwar bis heute.

4.3.1 Grundzüge der Theorievermeidung in der Marxkritik Zusammenfassend lassen sich vier systematische Hauptzüge der Fehlrezeption benennen: erstens wurde als Untersuchungsfeld der Marx’schen Theorie nicht mehr die Gesellschaft, sondern die Natur gesehen (2.1.4, 2.2.4, 3.1.1). Damit veränderte sich zweitens das Verständnis von Marx’ Gebrauch des Terminus „Gesetz“: unter ihm wurden nicht mehr Aussagen über spezifisch ökonomische Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise verstanden, sondern ihm wurde umstandslos der Charakter eines Naturgesetzes zugeschrieben. Ein solches Verständnis traf den Sinn der Marx’schen Texte nicht (2.1.5, 2.1.6; MEW 23, 649;

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MEW 25, 374, 409). Doch so wurde sie immerhin noch als Wissenschaft aufgefasst, wenn auch als Naturwissenschaft. Das dritte Hauptmissverständnis lag darin, dass diese wissenschaftliche Redeweise in eine philosophisch-spekulative umgedeutet und damit auf Hegels Redeebene zurückgehoben wurde. Dadurch erschien der Marxismus als eine naturalistische „Weltanschauung“, die sich kaum noch wissenschaftlich kritisieren oder verbessern ließ, und die keine Binnendifferenzierungen mehr erlaubte wie noch die Kantische Philosophie (2.5.4, 2.6.6). Der letzte Schritt war schließlich der, dass diese Weltanschauung in einer lebensphilosophischen Hermeneutik als Ausdruck einer Praxis gelesen wurde. Dadurch wurde sie an eine bestimmte historische Konstellation gebunden. Sie wurde damit nicht nur voreilig historisiert, sondern zudem noch empirizistisch fehlbestimmt (2.1.2, 2.4.6, 2.5.4). Nur wenn unterstellt wurde, die Marx’sche „Weltanschauung“ habe ihre Gegenwart „beschreiben“ wollen, konnten andere Momentanwahrnehmungen sie „widerlegen“. Naturalisierung, Philosophisierung und Empirizismus kamen also darin überein, dass sie sich dem Status der Marx’schen Theorie als einer komplexen Wissenschaft verweigerten. Von diesen Fehldeutungen zehrten Hauptmotive der Absetzung von Marx. Von den theologischen Widerlegungsversuchen (2.6.5) bis zum postmodernen Verzicht auf „große Erzählungen“ (Lyotard 1979, Laclau 1985) las man Marx als politischen Weltanschauungsliteraten. Als Reaktion wurden Gebiete ausgewiesen, die nicht der Natur zuzurechnen und keinen „Naturgesetzen“ unterworfen seien (4.4, cf. 2.5.3, 2.5.5, 2.6.3, 3.1.2, 3.2.3, 3.3.2), oder es wurde in einer geschichtsphilosophischen Stufenfolge ein neues Stadium ausgegeben, in dem die Marx’schen Gesetze „nicht mehr“ gälten (2.2.6, 2.3.3, 2.4.4, 2.5.6, 2.6.2. 3.1.3). Marx wurde damit missdeutet: ihm ging es nicht um „die Natur“, sondern um die bürgerliche Gesellschaft (2.4.6), und er wollte nicht deren Oberfläche beschreiben, sondern deren verborgenes Bewegungsgesetz erklären. Diese Thematisierung der Gesellschaft ist aus sozialphilosophischen Betrachtungen nach Marx erstaunlich oft heraus gefallen (2.1.5, 2.4.1, 2.5.2, 3.1.1, 3.3.5). Die funktionale Abwehr der Natur schob den Ort gesellschaftstheoretischer Überlegungen in den Geist und eine spiritualistische „Geschichte“ zurück (2.5.5, 2.6.6) – was jedoch nur Fichte und Hegel traf.27 Es ließ sich indes ein Verständnis der Marx’schen Gesetze erarbeiten, deren spezifischer Sinn sie sowohl von der Rede von Gesetzen der „Natur“ wie von hermeneutischen Vermessungen eines „Geistes“ unterscheidet. Sie erschöpfen sich auch nicht darin, momentane Beobachtungen darzustellen, sondern sie beanspruchen gerade die Gesetzmäßigkeit im permanenten Wandel der bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen (siehe die „Systemati27 Schon im Titel Dilthey 1883, Eucken 1896, Weber 1904, Sombart 1913, Bloch 1923, Freyer 1923, Schmitt 1923, Gehlen 1931, Jaspers 1931, Plessner 1959, sachgemäß Scheler 1999, Lukacs 1923, Adorno 1944, Habermas 1968, zuletzt Boltanski 1999 und Franck 2002. Der Antinaturalismus der Rede von Interaktion und Normativität erweist sie als funktionale Äquivalente der älteren asoziologischen Formel des „Geistes“ (s.o., Fn. 4 zur „Lebenswelt“).

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schen Kernpunkte“). Wird dieses Verständnis zugrunde gelegt, entfallen zentrale Aufhänger der impliziten Marxwiderlegung und funktionalen Marxvermeidung, die die normative Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts so geprägt haben.

4.3.2 Marx’ Theorie ist kein Determinismus Der Sinn von Wissenschaft ist es, mit möglichst wenig Annahmen möglichst viel zu erklären. Seit den ersten Reflexionen auf Wissenschaftlichkeit bei Platon stellte sich die Anschlussfrage, wie sich „das Eine“ zu dem „Vielen“, wie sich das vereinheitlichende Denken zur Mannigfaltigkeit des Seins, wie sich also die wissenschaftlichen Gesetze zu den von ihnen umfassten Phänomenen verhalten (vgl. Platons Dialoge Sophistes, 137c ff., Parmenides, 250e ff. und Philebos, 11a ff.). Kaum jemals, jedenfalls nicht in der neuzeitlichen Naturwissenschaft, wurde der Gesetzesbegriff so verstanden, als determiniere er die Verhaltensweise der Phänomene bis ins kleinste Detail. Diese Ansicht entstand bei der Übertragung von Zügen, die man im wissenschaftlichen Weltverhalten zu erkennen glaubte, in eine deterministisch-mechanistische Weltanschauung (Borkenau 1934), bis hin zum heutigen Naturalismus. Es waren erst die philosophischen Kategorien von Natur, Determination und Gesetz, also derivate Modi der Wissenschaft, die die wiederum philosophischen Gegenbewegungen im Namen von „Geist“, „Freiheit“ und „Normativität“ motivierten. Ein wissenssoziologischer Blick kann kaum übersehen, dass dabei nicht nur Sachprobleme zur Debatte standen, sondern funktional auch soziale Ansprüche – von abstrakten kulturellen „Deutungshoheiten“ (der Kirche, des Adels, des Bürgertums oder einer Schicht von „Mandarinen“, siehe Mannheim 1929, Ringer 1969, Bourdieu 1992) bis hin zu konkreten Pfründen und Posten. Solch vortheoretische Motive sind auch in der Auseinandersetzung mit Marx zu vermuten (2.4.2). Denn der Determinismusvorwurf (er sei ein „Calvinismus ohne Gott“, Bernstein 1899, 32; Popper 1944, 197) trifft Marx in der Sache gerade nicht. Der Sinn der Formulierung eines Naturgesetzes besteht nicht darin, einen Verlauf eindeutig in allen Einzelheiten vorherzusagen, sondern es will in den stets mannigfaltig bleibenden Erscheinungen Gesetzmäßigkeiten entdecken. Mit einem Gesetz wird ein Möglichkeitsspielraum aufgedeckt, innerhalb dessen die Erscheinungen sich bewegen. Die Geltung des Gesetzes der Schwerkraft impliziert eben keineswegs, dass pausenlos Äpfel von den Bäumen auf die Köpfe berühmter Physiker fallen (2.1.1, Fn. 15; 2.5.7).28

28 Es „ist für Menschen ungereimt [...] zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könnte, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen [...] begreiflich machen werde“ (Kant, KdU, B 338).

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4.3.3 Marx’ Thema ist die bürgerliche Gesellschaft Die relative Offenheit des Gesetzesbegriffes gegenüber den Phänomenen des Alltags, wie sie bereits in den recht verstandenen Naturwissenschaften vorliegt, verstärkt sich noch einmal, wenn nicht naturhafte, sondern gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Der Unterschied ist keineswegs der, dass es hier keine Gesetze geben könne, weil der Mensch alles selbst mache. Dies war eine funktional verständliche, aber sachlich kaum treffende Invektive gegen den Anspruch naturwissenschaftlicher Erklärungsmuster auf dem Herrschaftsgebiet der Geisteswissenschaften – eine „Spiritualisierung der Sozialtheorie“ (Wirkus 1996, 276; 2.5.2). Sie übersah, dass der Mensch keineswegs nur „Geist“ oder schwebende Normativität ist. Die Freiheit und Selbsttransparenz geht selbst bei einzelnen Menschen niemals so weit, dass sie sich immerfort und einzig selbst bestimmen (Rentsch 2000, 81 ff.) – um so weniger, wenn man an das primordiale, von äußeren Zwängen durchwirkte und stets geschichtlich überformte Zusammenleben von Menschen denkt. Der Unterschied ist vielmehr der, dass die Faktoren, mit denen die politische Ökonomie rechnen muss, weniger fixiert sind als in der Natur. Ökonomische Gesetze gelten nur in bestimmten historischen Konstellationen.29 Sie setzen sich nicht in mechanischer Gleichförmigkeit durch, sondern werden vielfach gebrochen und transformiert. Doch es bleiben Gesetze – wie heute etwa am vergeblichen Bemühen der Politik abzulesen ist, soziale Prozesse auf Knopfdruck zu verändern. Die philosophische Abwehrreaktion auf den Marx’schen „Determinismus“ und seine vermeintliche Reduktion auf bloß „instrumentelle“ Bezüge geht also doppelt fehl: sie unterschätzt die Komplexität des Gesetzesbegriffs schon in der Naturwissenschaft, und sie übersieht, dass Marx nicht die Natur, sondern die moderne kapitalistische Gesellschaft untersucht. Kultur, Interaktion und Normativität spielen sich ja in dieser ab. Marx thematisiert die Kultur nur am Rande, und wenn, dann nur an besonderen Fällen, nicht in einer Theorie ‚der’ Kultur. Seine Gesellschaftstheorie kann solche Phänomene jedoch besser erfassen als ein der Natur antithetisch gegenübergestelltes Geistmodell, das mit normativen Vorstellungen von als frei von naturalen Zwängen und sozialen Bezügen gedachten Individuen arbeitet (3.1, 3.2). Marxistische Analysen von Kunst und Literatur – von Lukács bis Bredekamp – haben dies oft gezeigt. Dagegen ist noch die Postmoderne mit ihrer Stilisierung von Pluralität und „Differenz“ von einem zurechtgestellten Feindbild der Naturalisierung abhängig, das sie auch Marx unterschiebt. Sie stellt dem abstrakt eine Regellosigkeit gegenüber, die die Eigenart der bürgerlichen Gesellschaft und den Spielräume offenlassenden Charakter ökonomischer Gesetze nur überspielt (2.1.6; Milner 1999, 115 ff.). 29 Marx sagte gegen Adolph Wagner, dass seine analytische Methode „nicht von dem Menschen, sondern der ökonomisch gegebenen Gesellschaftsperiode ausgeht“ (MEW 19, 371; cf. MEW 23, 637; Petersen 1997, Sayers 1998, Hann 1999).

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Die Kombination von Bestimmtheit, aber nicht Determiniertheit, und von rationaler, doch nicht unmittelbarer Einsichtigkeit des Sozialen (2.4.6, Fn. 133) unterscheidet Marx sowohl von der Auflösung des Sozialen ins Individuelle in Hermeneutik und rational choice-Theorien wie auch von der totalen Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft bei Spencer und Luhmann.

4.3.4 Neoklassische Umbesetzungen der ökonomischen Theorie Es reicht nun nicht, wenn die Sozialphilosophie sich wieder stärker den positiven Wissenschaften zuwendet. Plädiert wird hier vielmehr für ein kritisches Bewusstsein dafür, auf welchen theoretischen Grundlagen die philosophischen Gebäude erbaut werden. Die Philosophie muss auch den Wissenschaften gegenüber kritisch sein und darf sich nicht alle ihre Daten von den zufällig gerade hegemonialen Wissenschaftsströmungen vorgeben lassen (cf. Honneth 2003, 137). So ist es nicht gleichgültig, auf welche ökonomischen Theorien man zurückgreift, um reale Entwicklungen philosophisch zu beleuchten. Die meisten Wirtschaftsphänomene kommen aus Marx’ Sicht besser in den Blick als aus neoklassischer oder keynesianischer Perspektive. Neoklassiker und Keynesianer müssen Zusatzannahmen machen, um die Existenz von Wachstum und Krisen zu erklären, für Marx sind diese die Ausgangsvoraussetzung (2.3.1). Gibt es verschiedene theoretische Ansätze zur Erklärung eines Phänomens, darf dasjenige Modell, welches mehr erklärt, nicht vorschnell verabschiedet werden, auch nicht aufgrund missliebiger politischer Implikationen. Gerade moderne Sozialphilosophien der abstraktesten Art gehen allerdings von neoklassischen ökonomischen Vorannahmen aus (3.1, 3.2). Sogar vieles von dem, was heute als egalitär oder gar als Marxismus auftritt, erwies sich als argloser innermarxistischer Widerhall der vorangegangenen „bürgerlichen“ Marxabwehr (Heinrich 2001, Gerlach 2003, 21 ff.; cf. Henning 2004). Marxistische Narrative wie das Primat der Politik (2.2.6) oder die technoide Epocheneinteilung in Fordismus und Postfordismus (2.4.5) gehen implizit von den harmonistischen Modellvorstellungen der Neoklassik aus, mit der die Brisanz der Marx’schen Theorie einst zu neutralisieren versucht wurde (2.3.2). Die neoklassische „Widerlegung“ von Marx mit ihrer Reduktion der Wirtschaft auf das Marktgeschehen („Tausch“) verlängerte sich noch bis in Adornos Verhängnisthese (2.6.3), und somit negativ auch in die zahlreichen „normativen“ Gegenentwürfe (3.1). Marx’ Theorie wird als Theorie selten ernst genommen, sondern eher als vormodernes Philosophem gelesen (als Geschichtsphilosophie, „Arbeitsmetaphysik“ etc.), das es „heute“ zu überwinden gelte.30 Die Philosophiekritik der vorlie-

30 Darin treffen sich Backhaus 1997, Bonschab 1999, die meisten Aufsätze in Demirovic 1998 und Gerlach 2003, Gorz 1989, Heinrich 2001 (einer der wenigen, der ökonomisch argumentiert, aus dem Arsenal von Keynes – der überholter ist als Marx), ISF 2000, Kurz 1994, Lohmann 1991, Losurdo 1995, Parijs 1993 und Wildt 2002.

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genden Arbeit betraf daher nicht nur das „bürgerliche“ Denken, sondern auch den spekulativen Neomarxismus und die neuere Kritische Theorie.

4.3.5 Der Nebenschauplatz Dialektik als diskursive Verschiebung Für unsere unspektakuläre Sicht auf Marx und die Philosophie könnte man nun Gewährsmänner suchen.31 Durch deren Exegese würde man aber wieder in jene historisch-textualen Auseinandersetzungen verwickelt, denen es gerade zu entrinnen gilt. Die meisten der in Deutschland dominanten Diskussionskontexte zu Marx stehen diesem nüchternen Verständnis eher entgegen. Da ist etwa der Hegelmarxismus, wie er sich im Anschluss an die Wertformanalyse etabliert hat.32 Es ist zwar offensichtlich, dass Marx sich des Wortes „Dialektik“ bedient hat, wenn auch zunehmend in reduziertem Sinne (Göhler 1980). Doch lassen sich diese Stellen auch nüchtern lesen (2.3.5, 2.5.7). Marx stellt einander scheinbar widerstrebende reale Entwicklungen als zusammenhängende dar. Heute wäre etwa zu denken an die zunehmende Verarmung breiter Schichten bei großem gesellschaftlichen Reichtum (Botwinick 1993), an die Zunahme der Arbeitslosigkeit trotz Wachstums der Wirtschaft (Eatwell 1996, Howard 1975, Kap. 11), an die Abnahme des Profits bei zunehmender Produktivität (Shaikh 1987, 1992) und an den immer skrupelloseren Raubbau natürlicher Ressourcen trotz immer besserer technologischer Möglichkeiten. Solche Phänomene stellte Marx nicht unverbunden nebeneinander, sondern legte ihren gemeinsamen Ursprung frei (Demirovic 1998, 87, cf. 2.4.1). Zwei sich scheinbar widerstreitende Beobachtungen A und B können zugleich wahr sein, wenn sie theoretisch vermittelt, also erklärt werden. Es geht um den Ausweis von „Verträglichkeitsbedingungen“ für einander widerstreitende Phänomene im Sinne von realen Ursachen für dieselben (Steinvorth 1977, 14 ff., 24 f.). Es besteht kein Anlass, diese Pointe von Marx als ein Kippen der normalwissenschaftlichen Darstellung in eine philosophischspekulative „Dialektik“ zu deuten. Vielmehr ist die Darstellung der Hegelschen genau entgegengesetzt: Hegel ging nicht von realen Phänomenen aus, sondern von deren Begriff, den er positivistisch vorfand (MEW 40, 572, 580). Er kam, wie noch Backhaus, so oft zu Widersprüchen, weil er zu weit abstrahierte. Natürlich widersprechen sich verschiedene Dinge, wenn ich sie zu einem Begriff zusammenfasse (MEW 2, 59; 2.5.2, Fn. 33). Doch das heißt nicht, dass der „Begriff“ sich widerspricht und entwickelt, sondern es könnte auch heißen, dass der Begriff falsch gewählt ist. Ebenfalls abzuweisen waren Fetischisierungen des Abstraktionsbegriff, die über Begriffe wie die „Realabstraktion“ oder die „abstrakte Arbeit“ Marx philosophisieren wollen (2.4.5, 2.5.7). 31 Einige neuere Marxbücher weisen in diese Richtung (Berger 2004, Heinrich 2004). 32 Zur Wertformanalyse in 2.3.5 und 2.5.7. Als heutige Vertreter eines hegelianisierenden Marxismus wären zu nennen – trotz interner Differenzen: Backhaus 1997, Behrens 1993, Braun 1992, Brentel 1989, Brudney 1998, K. Holz 1993, H. Holz 1997, ISF 2000, Rakowitz 2000, Reichelt 2002, Rockmore 2002, Wildt 1997, Wolf 2003.

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Marxens Abstraktionen sind nicht selbst schon seine Theorie, sie bewähren sich erst durch ihre Funktion innerhalb derselben. Auch diese Termini sind nur als nichtmetaphysische sinnvoll zu interpretieren. Allein in neoklassischen und gerechtigkeitsphilosophischen Modellen werden Abstraktionen unmittelbar als Erklärungen hingestellt (2.4.1, 3.2.1). Da hier die Mittelglieder fehlen, wird so allerdings nichts erklärt, sondern nur eine Meinung verfestigt (2.4.3). Die Funktion ist hier explizit eine „Rechtfertigung“ (3.2.2) – also eine Ideologisierung.

4.3.6 Die Aufgabe einer Kritik der normativen Sozialphilosophie Als verfehlt hat es sich erwiesen, Marxens Theorie als empirische Beschreibung zu lesen (2.1.2, 2.4.6). Sie ist ein theoretisches Modell, das die Gesetzmäßigkeit zentraler sozialer Erscheinungen der Moderne systematisch zu erfassen und zu erklären beansprucht. Der umgekehrte Fehler war es, Marx’ Theorie als philosophische zu lesen (2.4.4, 2.5.4, 2.6.1, 4.2.3). Ihr Ort zwischen Alltagswahrnehmung und philosophischer „Beschreibung“ wurde in beiden Fällen verfehlt. Die Berechtigung eines Modells hängt weder an einer philosophischen Bewertung einiger herausgegriffener Momente, noch an einer occasionellen „empirischen“ Überprüfung einzelner Aussagen am momentanen Augenschein, sondern an der explanatorischen Kraft der ganzen Theorie.33 Wer Marx kritisieren will, muss hier ansetzen. Da die untersuchte ökonomische Marxkritik jedoch nicht als triftig gelten kann (2.3.2, 4.3.4), erlaubten es funktional erst die Philosophisierungen, die Marx’sche Theorie in der Sozialphilosophie zu umgehen – nunmehr mit philosophischen Argumenten. Dafür musste er jedoch erst zum Philosophen gemacht werden. An einigen Beispielen war zu sehen, wie Versuche, ihn „philosophisch“ zu rekonstruieren, damit enden, dass er aufgrund dieser Rekonstruktion als überholt ausgegeben wird (2.3.5, 2.4.4, 2.6.2, 3.1.3). Das kann auch ein Indiz dafür sein, dass die „Rekonstruktion“ missglückt ist. Die hier untersuchten Anstrengungen, die Marx’sche Theorie als philosophische zu deuten und zu widerlegen, waren als verfehlt abzuweisen. Sie verfälschten allzu oft den Sinn von Marx’ Aussagen. Es gab zumindest hier keine treffende Kritik der Marx’schen Theorie der Gesellschaft, die seine weitere Vernachlässigung legitimieren könnte. (Was daraus politisch folgt, ist eine andere Frage.) Statt, wie so oft, Marx’ Theorie philosophisch zu kritisieren, konnte hier umgekehrt die deutsche Sozialphilosophie von der Marx’schen Theorie aus kritisiert werden – auch ohne auf simple Klassenzurechnungen oder eine politische Ökonomie der Gegenwart zurückzugreifen. Denn aus der Marx’schen Theorie ergeben sich wichtige Konsequenzen über philosophische Hintergrundannahmen, die das Verhältnis von Theorie und Empirie betreffen. Ist es überhaupt möglich, in 33 Duhem 1954, 187; Callinicos 1983, 121; Janich 1997. Marx kritisiert Ansätze, die „dem Alltagsleben ohne weitere Kritik“ ihre Kategorien entlehnt: „Dass in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen Ökonomie“ (MEW 23, 559) und Philosophie.

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„begrifflicher“ und somit apriorischer Weise über die Wirklichkeit zu sinnieren, um allgemeine Aussagen über sie zu treffen? Der adelnde Lichtschein des Normativen auf Strukturen, die vorher nicht kritisch analysiert wurden, ist philosophisch unzulässig. Ohne eine Analyse der Empirie und der jeweiligen Deutungen derselben keine Sozialphilosophie (Zinn 1987, 35), und schon gar keine „normative“. Man kann aus einer begrenzten Anzahl von Seinsfällen nicht den Funken des Sollens schlagen. Wenn derlei in aktuellen Diskussionen etwa um neue technische Möglichkeiten in der Medizin oder Nahrungsmittelproduktion unterschwellig versucht wird, muss eine methodisch aufgeklärte Philosophie hier die „normative“ Erschleichung bloßlegen – und nicht auch noch selbst eine solche begehen, um sie der ersteren abstrakt gegenüberzustellen. Die Marx’sche Philosophiekritik lässt sich wie folgt zusammenfassen: in unserer Topologie von Kant gesprochen (4.2.1), bildet die Philosophie keinen Abschluss nach „oben“ wie bei Hegel, sondern sie muss immer wieder nach „unten“, in die Welt, hinabsteigen (2.5.7, 3.1.5). Der erstaunlich ungebrochen nachwirkende Deutsche Idealismus hingegen meint, die Philosophie könne bestehende Probleme innertheoretisch auflösen – mit einer neuen philosophischen „Theorie“. So kommt es zur iterierten Bildung von Meta-Diskursen und Meta-MetaTheorien, die wiederum Fragen nach Selbst- und Letztbegründungen aufwerfen. Dadurch wird der heilsame Blick in die soziale Wirklichkeit – der „fröhliche Positivismus“ – nur immer weiter verstellt. Dies gereicht nicht nur der Güte philosophischer Themen und Thesen zum Schaden, sondern auch der sozialen Wirklichkeit selbst. Kritische Intelligenz, deren Einmischung sie brauchen könnte, wird auf diese Weise von wichtigen realen Fragen eher abgezogen. Seit Aristoteles hat sich die Philosophie auch Fragen der Wissenschaft und des Wirtschaftens gewidmet. Diese Perspektive gilt es mit Marx nun wieder zu erringen. Eine Philosophie nach Marx darf sich nicht als Hegelsche (4.2.2) oder nachhegelsche Superphilosophie gerieren (4.2.4, 4.2.5). Sie muss vielmehr mit Kant auf die vorgefundene Wissenschaft und Politik („Theorie und Praxis“) reflektieren, ohne dabei den Verstand zu überspringen. Zu dieser Reflexion gehört auch die kritische Verortung von Theorie und Praxis aus Sicht der Politischen Ökonomie. Dies wäre eine Rückkehr zu Kants Philosophiebegriff (4.2.1), mit dem Unterschied, dass die Gehalte nun dem 21. Jahrhundert entstammen.

4.4 Normative Theorie: Ethik als Erklärungssubstitut „Ethik hat Hochkonjunktur.“ (Kohlmann 1997, 11/Knoll 2000, 7)

Diese Arbeit hat zeigen können, dass die Inhalte und der Charakter der Marx’schen Theorie bei Gegnern und Befürwortern selten adäquat verstanden wurden. Dies wirkte sich nun auch bei den Gegenentwürfen aus. Diese orientierten sich nicht an dem Bekämpften selbst, sondern an dem Bild, das sie von ihm hatten.

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Der Vorstellung einer reduktiven materialistischen Weltanschauung, die man sich von der Marx’schen Theorie gemacht hatte, stellte man daher scheinbar zweckmäßig eine ethische Weltanschauung gegenüber – die Geburt der „normativen Sozialphilosophie“ aus dem Geist einer fehlgehenden Polemik. Noch heutige sozialphilosophische Entwürfe teilen diesen normativistischen Charakter, auch wo ein funktionaler Antimarxismus nicht mehr oder kaum noch erkennbar ist (3.1-3.4). Wie lassen sich die Ergebnisse hinsichtlich der an Marx orientierten Kritik der normativistischen Sozialphilosophie systematisch zusammenfassen? Der Witz an Marx ist, dass er seine Theorie in Auseinandersetzung mit solch ethischen Sozialphilosophien entwickelt hat (2.5.7). Der Term „Sozialphilosophie“ stammt von Moses Hess, einem zeitweiligen Mitstreiter von Marx.34 Er bezog sich darauf, dass die vormals weltlose Philosophie sich nunmehr mit weltlichen Dingen, vor allem der sozialen Frage und den aufkommenden sozialistischen Strömungen auseinander setzte. Seit ihrem Beginn bei den Junghegelianern lag die deutsche Sozialphilosophie somit zwischen dem weltlosen philosophischen Idealismus und einer direkten weltlichen Betätigung, die zuweilen unvermittelt ineinander übergingen. Sie stand theoriegeschichtlich zwischen der idealistischen Systemphilosophie und der normalwissenschaftlichen soziologischen Theorie. Auch ihre Redeweise als „Deutung“35 steht zwischen Sachaussage, ethischer Wertung und partikularem politischen Appell. Sie ist somit, ähnlich wie der Pragmatismus (4.2.4), ein Phänomen des Übergangs (Freyer 1930, 221). In der heutigen Situation, die bereits eine „politische Emanzipation“ (MEW 2, 122; MEW 1, 342 ff.) im Sinne eines demokratischen Rechtsstaates erreicht hat, stellt es daher keinen theoretischen Gewinn mehr dar, aus der nunmehr eröffneten weltlich-politischen Betätigung und der illusionslosen normalwissenschaftlichen Durchleuchtung derselben in eine normative Sozialphilosophie zurückzuweichen (2.6.3, Fn. 67). Moral und Recht können noch heute ein Mittel sein, partikulare Ansprüche als allgemeine durchzusetzen (etwa durch negative Diskriminierung in Quotenregelungen oder in Grundsätzen der Besteuerung). In der Regel enthält diese Form bereits eine Mäßigung und Abschleifung der Ansprüche – schon deshalb, weil ihr Zeithorizont nachzeitig ist (Hegel 1821, 28). Sich bereits vollziehende Konflikte sollen im Recht stillgestellt, zumindest befriedet werden. Es wäre daher misslich, politische und soziale Forderungen sogleich in rechtlicher oder moralischer Form vorzubringen, wie dies bürgerliche Marxgegner seit je verlangt haben (A. Menger 1886). Noch misslicher aber ist es, wenn die Sozialphilosophie diese Forderungen schon vorab auf normative zu reduzieren versucht (3.1.5, jüngst Honneth 2001 und 2003). So sind moralistische 34 Bezeichnenderweise ist „diese Begrifflichkeit von K. Marx und F. Engels nicht übernommen worden“ (Röttgers 1995, 1218; MEW 3, 472, cf. MEW 1, 405, 539. Zu Hess siehe I. Berlin 1994, insgesamt Löwith 1941, McLellan 1969, Essbach 1988, Draper 1990). Nach Hess benutzte erst wieder Tönnies den Begriff (2.5.2, Fn. 45). 35 Cf. Dilthey 1910, 232 f.; Weber 1922, 4 f.; Adorno 1931, 334; Rothacker 1934, 98; Ständeke 1981, Rehberg 1986.

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Ideologien gerade nicht mehr kritisierbar. Mit der materialen Betrachtung von Recht und Moral wird zudem die Frage nach dem Subjekt übergangen. Nach Marx lassen sich ähnliche Inhalte nicht bruchlos in verschiedene Formen übersetzen (2.5.7, 4.3).36 „Normative Sozialphilosophie“ übersieht, dass sich Autonomie nicht anwaltschaftlich vertreten lässt. Wenn etwa Interessen von Arbeitern nicht von diesen selbst, sondern von bürgerlichen Bürokratien in Form des Rechtes in die Hand genommen wurden, waren es nicht mehr die Interessen der Arbeiter. Darin liegt eher eine Parallele zu ihrer Bevormundung durch leninistische Kaderparteien (zur Autonomie 2.2.2, 2.6.5, 3.3.6). Mit der eigentümlichen Zwischenlage dieser Übergangsdisziplin erbt die heutige Sozialphilosophie von ihren historischen Vorgängern die alte Zweideutigkeit (Röttgers 1995). Eine Disziplin, die statt über materiale Sachverhalte über ethische Dispositionen nachdenkt, und die sich dabei zudem selbst nicht als deskriptiv, sondern als „normativ“ versteht, steht vor einem folgenschweren Dilemma. Sofern die Ethik eine Gesellschaftstheorie abgeben soll, schlägt sie entweder zur Verklärung des Bestehenden aus, indem das Sollen hegelianisch als bereits maßgeblich im Sein verankert behauptet wird, oder sie wird platonisch zu einem weltlosen Sollen, das der Welt in nicht anschlussfähiger Form abstrakt gegenübertritt (2.4.3). Karl Mannheim hat diese prekäre Lage der liberalen Sozialphilosophie plastisch geschildert. Er konturierte eindrücklich ihre Zwischenlage zwischen dem ekstatisch-religiösen Utopismus, der die Welt aus dem „Geist“ völlig neu schaffen will, und dem gegenrationalistisch-affirmativen „Bedingtheitsbewusstsein“ (1929, 199) des konservativen Denkens.37 In dieser Arbeit ließ sich vor allem die konservativ-quietistische Schlagseite des Normativismus aufzeigen, sei sie intendiert oder nicht (2.1.2, 2.4.3, 2.5.6, 3.1.5, 3.2.1 f., 3.3.3 f.; jüngst Rifkin 2000, Turner 2001, Schulze 2003). Doch waren auch Anflüge der utopisch-anarchistischen Kehrseite des Normativismus sichtbar: seine „geistigen“, alle Institutionen überfliegenden und daher latent autoritären und destruktiven Tendenzen waren zu erahnen im Trotzkismus (2.2.5), bei Eucken, Lukács, Heidegger und Adorno (2.5.3 ff., 2.6.3) sowie in einigen Zweigen der Wirtschaftsethik (3.3.2, 3.3.4). Auch Habermas’ Sozialphilosophie tendiert, wo sie nicht affirmativ ist, zumindest implizit in Richtung einer seltsam ortlosen und elitären Nookratie (3.1.5, Fn. 127). Die Preisgabe der sozialökonomischen Theorie zugunsten einer „normativen“ Identitätspolitik setzt zumindest 36 Marx steht hier zwischen der zu optimistischen Bestimmung der Philosophie als universaler Übersetzerin bei Habermas (Fn. 19) und der postmodernen Verweigerung von Übersetzungsfunktionen (Lyotard 1987, 92; 3.2.3, Fn. 37). 37 „Die liberale Idee ist adäquat nur verstehbar als Gegenspielerin des oft hinter rationalistischen Konstruktionen sich verbergenden chiliastischen Durchbruchserlebnisses, das stets potentiell historisch und sozial den Liberalismus rücklings zu überfallen droht, zugleich aber auch als Kampfruf gegen eine sich auf das Herkommen und das Gewordene stützende Schicht, die das ‚hic et nunc’ zunächst instinktiv, dann aber auch in der Reflexion zu beherrschen vermag“ (Mannheim 1929, 196, cf. 192).

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auch die Möglichkeit des Irrationalismus frei (Maalouf 2000). Das ist schon an George Sorel zu sehen, der ja ein Anhänger Bernsteins war.38 „Normative Sozialphilosophie“ bewegt sich zwischen diesen gleicherweise misslichen Polen wie auf der glatten Fläche einer Vitrine, die über ihrem eigentlichen Gegenstand liegt.39 Ein Tertium kann die Gesellschaftstheorie nur erreichen, wenn sie aus der ethisierten Übergangsform heraustritt, wie dies wegweisend für die ganze Soziologie eben Marx getan hat. Sein denkerischer Fortschritt bestand darin, die ethischen Ideen nicht mehr nur als „normative Folie“ und unhinterfragte „begriffliche Grundlage“ zu benutzen wie die liberale Sozialphilosophie (die nicht identisch ist mit dem Liberalismus als politischer Bewegung), sondern diese selbst noch zu thematisieren. Er betrachtete die Ideen eher als Bestandteil der materialen Geschichte und darum auch als Gegenstand der Theorie.40 „Universal“ nennen kann sich fast jeder moralische Anspruch. Darüber entscheiden, wie seine politische Umsetzung sich auswirken würde, kann allerdings nicht er selbst – jedenfalls nicht in einem theoretisch seriösen Sinne. Vielmehr sind bestimmte „normative“ Vorannahmen von der Gesellschaftstheorie aus als Ideologien von nur beschränkter Reichweite erkennbar, die 38 „Nichts ist so geschehensjenseitig wie das rational geschlossene System, nichts birgt unter Umständen mehr irrationale Wucht als das völlig in seine eigene Welt gebannte Gedankengebilde“ (Mannheim 1929, 190). Sorels mythischer Neomarxismus ging von der ethisierten Neujustierung des Sozialismus bei Bernstein aus (1906, 13 f.; 1908, 164). Er nutzte für die neue Identitätspolitik das destruktive Revolutionsethos, das Bernstein gerade ausschließen wollte. Er nimmt den westlichen Marxismus in vielem vorweg: er formulierte ein Bilderverbot (Sorel 1906, 7 f., 1908, 165), berief sich auf Vico (Kolakowski 1979 II, 176 ff.), gab eine Pragmatik der Erkenntnisinteressen (1906, 60 f.) sowie eine Betonung des Symbolischen und Institutionellen: „Aber gerade die symbolischen Stellen, deren Wert früher als zweifelhaft erschien, sind es, die den bleibenden Wert des [Marx’schen, CH] Werkes ausmachen“ (1906, 62). „Der Marxismus ist eine Geschichtsphilosophie der gegenwärtigen Institutionen“ (1908, 52). Sorel verwandelt material-konkrete Fragen in normativ-abstrakte, indem er fragt, „wie bereits heute die Moral der künftigen Produzenten geschaffen werden kann“ (1908, 272, cf. Landauer 1911). Zu seinen begeisterten Lesern gehörten Lukacs (1967, 12) und Gramsci (Kolakowski 1979 II, 174; vgl. 1979 III, 337 zu Korsch). König schätzt Sorels Einfluss auf das deutsche Denken hoch ein (1937, 195): „Durch Sorels Brille gesehen erschien mir Karl Marx [...] als die ‚jüdische Großmutter’ des Nationalsozialismus“ (König 1980, 101; siehe 2.6.6, Fn. 210). 39 Dies zeigen noch jüngste Diskussionen in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (2/2003, 233 ff.), in denen der weltlose philosophische Egalitarismus gegen einen scheinbar aufgeklärteren, aber ebenso normativistischen Anti-Egalitarismus (Krebs 2000) austariert und nach philosophischen Kompromissformeln gesucht wird (cf. 3.3.3). „Ethik ist über ihren Rang als Teil einer abstrakten Theorie hinausgewachsen. Von nun an ist sie die Philosophie, welche die anderen Gebiete sich einverleibt“ (Spengler 1923 I, 470). 40 „Eine unerhörte Umkehrung, eine unheimliche kopernikanische Tat lag darin, nicht nur sich selbst, nicht nur den Menschen, sondern auch das Sein, Gelten und Wirken dieser Ideen als bedingt zu erleben und das Werden dieser Ideen als seinsverbunden, als hineinversenkt in den Prozess zu sehen (Mannheim 1929, 211).

FOLGERUNGEN | 569

eine konkrete Analyse oft nicht ergänzen, sondern ersetzen (2.4.3; 3). Der politische Änderungswille kann erst durch eine materiale Theorie zwischen den zwei Gefahren einer ineffektiven, weil affirmativen Moralpredigt und einer putschistischen, weil weltüberhobenen Weltverbesserung hindurchgesteuert werden. Zudem können harte Auseinandersetzungen meist erst durch die zeitweilige Suspendierung moralisch verhärteter „Geltungsansprüche“ (sinngemäß: ‚mir gehört das größte Stück Kuchen’) versachlicht werden (4.2.3). Diesen Gewinn geben Normativismus und Supernormativismus unnötigerweise wieder preis.41 Die philosophische Ethik selbst ist eine legitime und wichtige Disziplin, heute mehr denn je. Problematisch ist erst der Versuch, mit ihrer Hilfe eine Sozialtheorie zu entwerfen. Die jeweilige politische Ethik ist so kein Gegenstand einer kritischen Analyse mehr, sondern wieder deren weltjenseitiger Maßstab. Sie wird so zum blinden Fleck. Systematisch liegt hierin eine blockierende Aufstufung: Eine Forderung, die auf etwas gegenständliches in der Welt „hingilt“ (Emil Lask), wird in ihrer philosophischen Behandlungsart zu einer repetitiven Selbstbehauptung dieses Forderns als eines philosophischen, ohne noch ihren Gegenstand zu erreichen. Aus der sozialphilosophischen Optik ist dieser vielmehr entfallen (4.1). Die Intention auf die Welt kommt nicht mehr in die Welt hinein, sondern bleibt in der Philosophie gleichsam stecken. Eine Instanz der Vermittlung kristallisiert zum Selbstzweck, der den Zugang zum ursprünglich gemeinten Inhalt gerade verbaut (2.6.7, Fn. 236; ähnliches geschah im Neomarxismus, der aus den Marx’schen Texten nicht mehr zur Welt kam).42 Recht verstanden, verspricht eine Neubewertung von Marx, die sich von den gängigen Interpretationsrastern löst, Auswege aus diesen normativistischen Dilemmata. Wenn vorliegende Arbeit dieses Ziel ein Stück näher bringen konnte, so hätte sie ihr Ziel erreicht. Der Vorwurf eines reduktionistischen Naturalismus hat sich jedenfalls bezüglich Marxens als verfehlt erwiesen, und der deutsche normativistische Gegenentwurf als gegenstands- und aussichtslos. Etwas anderes als trial and error hat die Wissenschaft nicht zu bieten – drum frisch ans Werk, und, mit Luther gesprochen: peccate fortiter!

41 „Viel zu normativ gerichtet war dieses Bewusstsein, um auf das Sein, wie es eben ist, einzugehen. Es baute sich deshalb aus dem Sollen eine eigene idealische Welt auf“ (Mannheim 1929, 192). Konservative Denker erhoben oft den Vorwurf, normatives Denken werte den Gegner nicht nur politisch, sondern auch moralisch ab (Schmitt 1932, Gehlen 1969, Lübbe 1987, Luhmann 1978, 1989) – was eine eigene Ethik nicht verhinderte (Fn. 11; 2.4.3, 2.5.6). Indem Dewey und Habermas Politik und konsensuelle Wahrheitsfindung einander angleichen, ziehen sie den Unterschied zwischen Theorie und Praxis ein. Wie Schmitt entziehen sie die „Entscheidung“ so dem Verstand und legen sie in die Ethik – das ist das Gegenteil der Neutralität, die im 17. Jahrhundert erstrebt war (2.6.6, Fn. 200; 3.1.4, Fn. 83). 42 Die Parallele zur Kirche lud zum Vorwurf der „Priesterherrschaft“ ein (Schelsky 1975, Tenbruck 1984; Weber 1922, 688). Zur Soziologie des postmodernen Intellektuellen Milner 1999, 145 ff.; Bourdieu 1989, 1992; Giesen 1999.

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592 | PHILOSOPHIE NACH MARX Flechtheim, Ossip K. u.a.: Der Marsch der DKP durch die Institutionen. Sowjetmarxistisch Einflussstrategien und Ideologien, Fr/M 1980 Flechtheim, Ossip K. (Hg.): Marx heute. Pro und Contra, Hamburg 1983 Flechtheim, Ossip K: Zur Einführung: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Hamburg 1986 Fleischer, Helmut: Marxismus und Geschichte, Fr/M 1969 Fleischer, H.: Marx und Engels. Die philosophischen Grundlinien ihres Denkens, Freiburg/München 1970 Fleischer, H.: Sozialphilosophische Studien. Kritik der marxistisch-leninistischen Schulphilosophie, Berlin 1973 Fleischer, H.: „Parteilichkeit und Objektivität im Geschichtsdenken nach Marx“, in Kosellek 1977, 337 ff. Fleischer, H.: „Über die normative Kraft im Wirklichen“, in: Honneth 1980, 402-422 Fleischer, H.: Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewußtseins, Fr/M 1987 Fleischer, H.: „Karl Marx: Die Wendung der Philosophie zur Praxis“, in: Speck 31988, 220-266 Fleischer, H.: Epochenphänomen Marxismus, Hannover 1993 Fleischer, H. (Hg.): Der Marxismus in seinem Zeitalter, Leipzig 1994 Fleischer, H.: „Karl Marx diesseits und jenseits des Marxismus“, in: Logos (Neue Folge 4, Heft 3) 1997, 173-196 Foley, Duncan: Money, Accumulation and Crisis, Chur 1986a Foley, Duncan: Understanding Capital. Marx’s Economic Theory, Harvard 1986 Fornet-Betancourt, Raúl: Ein anderer Marxismus? Die philosophische Rezeption des Marxismus in Lateinamerika, Mainz 1994 Forrester, Viviane: Der Terror der Ökonomie, Wien 1997 Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit, Fr/M 1994 Forst, Rainer: „Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit. Rawls’ Politischer Liberalismus und Habermas’ Diskurstheorie in der Diskussion”, in: Brunkhorst 1999 Forst, Rainer (Hg.): Toleranz: Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Fr/M und New York 2000 Forsthoff, Ernst (Hg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968 Forsthoff, Ernst: Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971 Forsthoff, Ernst/Hörstel, Reinhard (Hg.): Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnodl Gehlen zum 70. Geburtstag, Fr/M 1974 Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Markt und Moral. Die Diskussion um die Unternehmensethik, Bern u.a. 1994 Foster, J.B. (Ed): The Theory of Monopoly Capitalism, New York 1986 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Fr/M 1974 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens (1969), Fr/M 1973 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Fr/M 1972 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit III: Die Sorge um sich, Fr/M 1987 Foucault, Michel: Remarks on Marx. Conversations with Duccio Trombadori, New York 1991 Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992 Fourastié, Jean: Die große Hoffnung des XX. Jahrhunderts, Köln 1949, Köln-Deutz 1954 Francis, Leslie Picker: „Responses to Rawls from the Left”, in: Blocker 1980, 463-493 Franck, Georg: „Mentaler Kapitalismus“, Vortrag gehalten beim Philosophicum Lech 2002, erscheint in: Liessman, Konrad Paul: Die Kanäle der Macht, Wien 2003 Francois, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001 f. Frank, Manfred: Einführung in den Neostrukturalismus, Fr/M 1984 Frank, Manfred: Vorlesungen über die Neue Mythologie II: Gott im Exil, Frankfurt 1988 Frank, Manfred (Hg.): Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre, Fr/M 1991 Frank, Manfred: Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der marxschen Dialektik, Fr/M 21992 Frank, Manfred: Conditio moderna. Essays, Reden, Programm, Leipzig 1993 Fräntzki, Ekkehard: Der missverstandene Marx. Seine metaphysisch-ontologische Grundstellung, Pfullingen 1978

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598 | PHILOSOPHIE NACH MARX Grossmann, Henryk: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Leipzig 1929, Fr/M 1970 Grossmann, Henryk: Marx, die klassische Nationalökonomie und das Problem der Dynamik (1941), Fr/M 1969 Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München/Wien 1988 Groys, Boris: Die Erfindung Russlands, München/Wien 1996 Gruber, Helmut: International Communism in the Era of Lenin. A documentary History, New York 1967 Gruhl, Herbert: Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Fr/M 1978 Grünberg, Emil: Der Mittelstand in der kapitalistischen Gesellschaft, Leipzig 1932 Grünberg, Carl (Hg.): Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Leipzig 1910 (ff.) Grundmann, Reiner: Marxism and Ecology, Oxford 1991 Grunenberg, Antonia: Bürger und Revolutionär. Georg Lukács 1918-1928, Fr/M 1976 Gruppe von Lissabon: Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung des Wettbewerbs und die Zukunft des Menschen, München 1997 Gubbay, Jon: „A Marxist Critique of Weberian Class Analysis“, in: Sociology 31 (1997), 73-89 Gudopp, Wolf-Dieter: Der junge Heidegger. Realität und Wahrheit in der Vorgeschichte von ‚Sein und Zeit’, Berlin 1983 Guibaut, Serge: „New York 1935-1941: Die Ent-Marxisierung der Intelligenz“, in ders.: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und kalter Krieg (1983), Dresden/Basel 1997 Gumbel, Erich Julius: Klassenkampf und Statistik, Amsterdam 1928 Gürtler, Sabine (Hg.): „Schwerpunkt: Arbeit und Gerechtigkeit”, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5/2001, 686-760 Gustavson, Bo: Marxismus und Revisionismus. Edurad Bernsteins Kritik des Marxismus und ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen, 2 Bde., Fr/M 1972 Gutiérrez, Gustavo: Die Theologie der Befreiung. Perspektiven, München und Mainz 1973 Habermas, Jürgen: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Bonn 1954a Habermas, J.: „Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum“ (1954b), in: Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt. Aufsätze 1954-1970, Amsterdam 1970 Habermas, J.: „Arnold Gehlen: Der Zerfall der Institutionen“ (1956), in: ders. 1991b, 101-106 Habermas, J.: „Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus“ (1957), in: ders. 1963, 387-463 Habermas, J.: „Anthropologie“, in Alwin Diemer/Ivo Frenzel (Hg.): Das Fischer Lexikon Philosophie, Fr/M 1958 Habermas, J.: „Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik“ (1960), in: ders. 1963, 228-289 Habermas, J.: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt/Neuwied 1962 Habermas, J.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (1963), Fr/M 41971 Habermas, J.: „Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Kontraktion Gottes“ (1963b), in: 1963, 172227 Habermas, J.: „Nachtrag zu einer Kontroverse: Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“ (1963c), in: Adorno 1969a, 155-192, erneut in Habermas 1967, 15-44 Habermas, J.: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Erweiterte Auflage (1967), Fr/M 51982 Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse (1968), Fr/M 1973 Habermas, J.: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’, Fr/M 1968a Habermas, J.: „Bedingungen für eine Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme“, in: Bloch 1970, 134-145 Habermas, J.: „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“ (1970), in: Bubner, Rüdiger (Hg.): Hermeneutik und Dialektik II, Tübingen 1970, 73-104; auch in: Apel, Karl-Otto u.a.: Hermeneutik und Ideologiekritik, Fr/M 1973, 120-159 Habermas, J.: „Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann (1971): Systemtheorie der Gesellschaft oder Kritische Gesellschaftstheorie?“, in Luhmann 1971/Habermas 1967, 369-502

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602 | PHILOSOPHIE NACH MARX Heidtmann, Bernhardt u.a.: Marxistische Gesellschaftsdialektik oder ‚Systemtheorie der Gesellschaft’? Berlin (Ost) 1977 Heil, Susanne: „Gefährliche Beziehungen“ – Walter Benjamin und Carl Schmitt, Stuttgart 1996 Heilbronner, Robert: Kapitalismus im 21. Jahrhundert, München/Wien 1994 Heimann, Eduard: Die sittliche Idee des Klassenkampfes und die Entartung des Kapitalismus, Berlin 1926, Auszüge in Seidel/Jenker 1968, 232-266 Heimann, E.: Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik (1929), Fr/M 1980 Heimann, E.: Kapitalismus und Kommunismus, Tübingen 1931 Heimann, E.: Vernunftglaube und Religion in der modernen Gesellschaft. Liberalismus, Marxismus und Demokratie, Tübingen 1955 Heimann, Fritz: Neue Wege der Philosophie: Geist, Leben, Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1929 Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835), Berlin und Weimar 1991 Heine, Michael/Herr, Hansjörg: Volkswirtschaftslehre. Eine paradigmenorientierte Einführung in die Mikor und Makroökonomie, München 1999 Heinrich, Michael: „Hegel, die ‚Grundrisse’ und das ‚Kapital’. Ein Nachtrag zur Diskussion um das ‚Kapital’ in den 70er Jahren“, in: PROKLA. Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik, Heft 16 (4/1986), 145-160 Heinrich, Michael: „Was ist die Werttheorie noch wert? Zur neueren Debatte um das Transformationsproblem und die Marxsche Werttheorie“, in: PROKLA, Heft 72 (3/1988), 15-38 Heinrich, Michael: „Gibt es eine Marxsche Krisentheorie? Die Entwicklung der Semantik von ‚Krise’ in den verschiedenen Entwürfen zu einer Kritik der politischen Ökonomie”, in: Beiträge zur Marx-Engels Forschung, Neue Folge, Hamburg 1995 Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politische Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster 22001 (zuerst 1991) Heinrich, Michael: „Monetäre Werttheorie. Geld und Krise bei Marx“, in: Prokla, Heft 123 (2/2001a), 151-172 Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2004 Heinsohn, Gunnar/Steiger, Otto: „Warum Zins? Keynes und die Grundlage einer monetären Werttheorie“, in: Hagemann, H./Steiger, O. (Hg.): Keynes’ General Theory nach fünfzig Jahren, Berlin 1988 Heinsohn, Gunnar/Steiger, Otto: Eigentum, Zins und Geld – Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Hamburg 1996 Heiseler, Johannes Henrich von (u.a., Hg.): Die Frankfurter Schule im Lichte des Marxismus. Zur Kritik der Philosophie und Soziologie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas, Fr/M 1970 Heller, Agnes: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács, Fr/M 1977 Heller, Agnes: Diktatur über die Bedürfnisse: sozialistische Kritik osteuropäischer Gesellschaftsformationen, Berlin 1979 Heller, Agnes: „Habermas and Marxism”, in: Held/Thomson: Habermas – A Critical Reader, London 1982 Heller, Hermann: „Die Krisis der Staatslehre“ (1926), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 21991, 3-30 Helmich, Hans-Joachim: ‚Verkehrte Welt’ als Grundgedanke des Marxschen Werkes. Ein Beitrag zum Problem des Zusammenhanges des Marxschen Denkens, Fr/M 1980 Helms, Hans G: Fetisch Revolution. Marxismus und Bundesrepublik, Neuwied 1969 Hempel, Carl G./Oppenheim, Paul: „The Logic of Explanation“, in: Philosphy of Science 15 (1948), erneut in: Feigl, Herbert/Brodbeck, May (eds.): Readings in the Philosophy of Science, Ney York 1953 Henderson, J./Quandt, R.: Mikroökonomische Theorie. Eine mathematische Darstellung (1958), München 51983 Hengsbach, Friedhelm: Wirtschaftsethik, Aufbruch, Konflikte, Perspektiven, Freiburg u.a. 1991 Hennig, Eike/Hirsch, Joachim/Reichelt, Helmut/Schäfer, Gert: Karl Marx/Friedrich Engels: Staatstheorie. Materialien zur Rekonstruktion der marxistischen Staatstheorie, Fr/M u.a. 1974

LITERATUR | 603 Henning, Christoph: Vom unselbstischen Handeln zur handelnden Ewigkeit: Der Denkweg von Hermann Schwarz: 53 Jahre Philosophie in Deutschland (1892-1945), Magisterarbeit 1999 Henning, Christoph: „‚Deutsche Philosophie’: Funktion und Begriff des ‚Arteigenen’ in der Philosophie vor und nach 1933”, in: H.W. Heister (ed.): ‚Entartete Musik’ 1938 – Weimar und die Ambivalenz, Saarbrücken 2001, 287-307 Henning, Christoph: Artikel „Verfallen“: in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11, hrg. von J. Ritter et al., Basel 2001a, 634-636 Henning, Christoph: Artikel „Vorgriff; Vorhabe, Vorsicht”, in Ritter, Joachim u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001b, 1188-1190 Henning, Christoph: Artikel „Zuhanden“ und „Zeug“ in Ritter, Band 12, Basel 2004 Henning, Christoph: „Die Rückkehr des Ökonomischen. Michael Heinrich bringt das Marxsche Erbe (fast) auf den Punkt“, in: Literaturkritik.de, September 2004 (a) Henning, Christoph: „Geplänkel im Überbau. Zur Kritik neuerer Marxliteratur“, in: Philosophische Rundschau, 2/2005, 124-143 (zu M. Iorio, M. Berger, F. Kittsteiner und H.-J. Lenger) Henning, Christoph: „Arbeit und Selbstwerdung. Ideengeschichtliche Bemerkungen zur Arbeit am Begriff ‚Arbeit’“, erscheint in: Manfred Moldaschl (Hg.): Subjektivierung von Arbeit, Bd. 3, München (Hampp) 2005 (a) Henning, Christoph: „Auch eine Metakritik der Marxkritik: Zum Versuch einer philosophischen Rehabilitation“, in: Schwerpunkt: Was bleibt vom Marxismus? Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005 (b), 268-276 Henning, Christoph: „Messianismus aus Abstraktion“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1/2005 (c), 150-152 (zu Neuerscheinungen von J. Derrida, M. Postone und M. Heinrich), Henning, Christoph: „Die institutionelle Ökonomie entdeckt Marx. Zur Tagung an der Leukorea über ‚Karl Marx’ kommunistischen Individualismus’ in Wittenberg vom 6.-8. September 2004“, in: Marx-Engels Jahrbuch 2004, Berlin 2005 (d), 247-255 Henning, Christoph: „Zeit, Arbeit und Deduktionsmarxismus. Moishe Postone füllt alten Wein in alte Schläuche“, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2004, Berlin 2005 (e), 255-261 Henning, Christoph: „Entgrenzung des Schönen – Vollstreckung der Kunst? Ästhetizistische Tendenzen in Anti- und Postmoderne“, erscheint 2005 (f) in: Hanns-Werner Heister (Hg.): Die Ambivalenz der Moderne, Berlin (Weidler), 4 Bde. Henning, Christoph: „Privat Virtues, Public Vices? Sozialphilosophische Implikationen der Rede von Korruption“, in: Birger Priddat/Stephan A. Jansen (Hg.): Korruption: Unaufgeklärter Kapitalismus – Multidisziplinäre Analysen zu Funktionen und Folgen der Korruption, Marburg 2005 (g), 189-204 Henning, Christoph: „Zur Soziologie funktionaler Gefühle im Kapitalismus“, Vortrag gehalten auf der internationalen Konferenz „Intersubjektivität der Gefühle“ am IUC Dubrovnik, Juni 2005, erscheint vor. in den ZU-Schnitten, Zeppelin-University, Friedrichshafen 2005 (h) Henning, Friedrich-Wilhelm: Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914, Paderborn 1974, 81993 Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987 Henrich, Dieter: „Karl Marx als Schüler Hegels“ (1961), Hegel im Kontext, Fr/M 1971, 187-207 Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt 1966 Henrich, Dieter: „Die Grundstruktur der modernen Philosophie. Über Selbstbewusstsein und Selbsterhaltung“ (1970), in ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982 Henrich, Dieter (Hg.): Ist systematische Philosophie möglich? Stuttgarter Hegel-Kongress 1975, Bonn 1977 Henrich, Dieter: Nach dem Ende der Teilung. Über Identitäten und Intellektualität, Fr/M 1993 Henwood, Doug: Wall Street. How it works and for whom, New York 1997/London 1998 Herkommer, S./Bierbaum, H.: Industriesoziologie. Bestandsaufnahme, Kritik, Weiterentwicklung, Stuttgart 1979 Hermand, Jost: Epochen deutscher Kultur von 1879 bis zur Gegenwart. Band 4: Stilkunst um 1900, Fr/M 1977 Hermand, Jost/Grimm, Reinhold (Hg.): Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Acht Beiträge, Königstein 1978 Herms, E.: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991

604 | PHILOSOPHIE NACH MARX Herrmann, Joachim u.a.: Geschichtsphilosophie. Kolloquium zum 70. Geburtstag von Wolfgang Eichhorn, Berlin 2000 Hess, Henner u.a.: Angriff auf das Herz des Staates, 2 Bde., Fr/M 1988 Hess, Moses: „Philosophie der Tat“, in: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, hrg. von Georg Herwegh, Zürich 1843, erneut Leipzig 1989, 426-452, auch in: Ausgewählte Schriften. Ausgewählt und eingeleitet von Horst Lademacher, Köln 1962, 131-147 Hesse, Helmut (Hg.): Wirtschaftswissenschaft und Ethik, Berlin 1988 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Neue Folge Band 171) Heußner, Alfred: Die philosophischen Weltanschauungen und ihre Hauptvertreter. Eine Einführung in das Verständnis philosophischer Probleme, Göttingen 71927 Heyer, Paul: Nature, Human Nature, and Society. Marx, Darwin, Biology, and the Human Sciences, Westport 1982 Heym, Stefan: Radek. Roman, München 1995 Hilferding, Rudolf: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus (1910), Berlin 1947 Hilferding, R.: Böhm-Bawerks Marx-Kritik, Wien 1904 (Marx-Studien 1)/Eberle 1973, 144 ff. Hilferding, R.: „Geld und Ware“, in: Die Neue Zeit (30. Jg., Bd. 22.1) 1912, 773-782 Hilferding, R.: Organisierter Kapitalismus. Referat und Diskussion (1927), Giessen o.J. Hillmann, Günter: Marx und Hegel. Von der Spekulation zur Dialektik. Interpretation der ersten Schriften von Karl Marx im Hinblick auf sein Verhältnis zu Hegel (1835-1841), Fr/M 1966 Hillmann, Günther: Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek 1967 Hillmann, Günter: Die Befreiung der Arbeit. Die Entwicklung kooperativer Selbstorganisation und die Auflösung bürokratisch-hierarchischer Herrschaft, Reinbek 1970 Himmelweit, S.: „The Continuing Saga of the Falling Rate of Profit – A Reply to Mario Cogoy“, in: Bulletin of the Conference of Socialist Economists II.9, 1974 Hirsch, Helmut: Marx und Moses. Karl Marx zur Judenfrage und zu den Juden, Fr/M 1980 Hirsch, Joachim: Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals, Fr/M 1974 Hirsch, Joachim: Der Sicherheitsstaat. Das ‚Modell Deutschland’, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen, Fr/M 1980 Hirsch, Joachim/Roth, R.: Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum PostFordismus, Hamburg 1986 Hirsch, Joachim: Kapitalismus ohne Alternative? Hamburg 1990 Hirsch, Joachim: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin/Amsterdam 1996 Hobbes, Thomas: Leviathan, or The Matter, Forme, and Power of a Common-Wealth ecclesiastical and civil (1651), hrg. von C.B. MacPherson, London 1968 Hobsbawm, Eric J.: Revolution und Revolte. Aufsätze zum Kommunismus, Anarchismus und Umsturz im 20. Jahrhundert, Fr/M 1977 Hobsbawm, Eric J.: The Age of Empire 1875-1914, London 1987, dt.: Das imperiale Zeitalter 1875-1914, Fr/M 1989 Hobsbawm, Eric J.: The Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991, London 1994/Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995 Hobsbawm, Eric u.a.: Das Manifest heute – 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg 1998 Hobson, John A.: Imperialism. A Study, London 1902 Hochberger, Hugo: „Probleme einer materialistischen Bestimmung des Staates“, in: Gesellschaft 2, hrg. von H.-G. Backhaus, Fr/M 1974, 155-203 Hochkeppel, Willi: „Pragmatismus“, in: Seiffert, Helmut/Radnitzky, Gerard (Hg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, 270-275 Hodgson, Geoff: „A Theory of Exploitation without the Labour Theory of Value“, in: Science and Society 44.3 (1980), 275-273 Hodskin, Thomas: Labour defended against the claims of Capital: By a labourer, London 1825, erneut London 1964 Hoeges, Dirk: Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und ‚freischwebende Intelligenz’ in der Weimarer Republik, Fr/M 1994 Höffe, Otfried (Hg.): Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, Fr/M 1977 Höffe, O.: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Fr/M 1987

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606 | PHILOSOPHIE NACH MARX Honneth, A.: „Arbeit und instrumentelles Handeln. Kategoriale Probleme einer kritischen Gesellschaftstheorie” (1980b), in ders. 1980, 185-233 Honneth, A./Bonß, Wolfgang (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Thorie, Fr/M 1982 Honneth, A.: „Anthropologische Berührungspunkte zwischen der lebensphilosphischen Kulturkritik und der Dialektik der Aufklärung“, in: F. Heckmann/P. Winter (Hg.): 21. Deutscher Soziologentag 1982, Opladen 1983 Honneth, A.: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Fr/M 1985 Honneth, A./Joas, Hans (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Fr/M 1986 Honneth, A/Joas, Hans: „War Marx ein Utilitarist?” in: Helmut Steiner (Hg.): Karl Marx und Friedrich Engels. Ihr Einfluss und ihre Wirksamkeit in der Geschichte und Gegenwart der soziologischen Theorie, Berlin (Ost) 1987 Honneth, A.: „Kampf um Anerkennung”, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongress, Reinbek 1988, 73-83 Honneth, A. (u.a., Hg.): Zwischenbetrachtungen im Prozess der Aufklärung, Fr/M 1989 Honneth, A.: „Logik der Emanzipation. Zum philosophischen Erbe des Marxismus“ (1989a), in: Krämer, Hans Leo/Leggewie, Claus (Hg.): Wege ins Reich der Freiheit, Berlin 1989, 86106 Honneth, A.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Fr/M 1990 Honneth, A.: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Fr/M 1992 Honneth, A. (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Fr/M und New York 1993 Honneth, A.: „Posttraditionale Gemeinschaften. Ein konzeptueller Vorschlag“ (1993a), in: Brumlik 1993, 260-270 Honneth, A.: „Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie“ (1994), in ders. (Hg.): Pathologien des Sozialen, Fr/M 1994, 9-69; erneut in ders. 2000, 11-69 Honneth, A.: „Individualisierung und Gemeinschaft“ (16-23) und „Die Herausforderung des Kommunitarismus“ (118-123), in: Zahlmann 1994a Honneth, A.: „Ungleichzeitigkeiten der Marx-Rezeption. Philosophie-Kolumne“, in: Merkur 53.7 (1999), 643-651 Honneth, A.: „Demokratie als reflexive Kooperation. John Dewey und die Demokratietheorie der Gegenwart”, in: Brunkhorst 1999a, 37-65/Honneth 2000, 282-309 (Zitate von dort) Honneth, A.: „Jürgen Habermas“ (1999b), in: Dirk Käsler (Hg.): Klassiker der Soziologie 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München 1999, 130-251 Honneth, A.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Fr/M 2000 Honneth, A.: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001 Honneth, A. (Hg.): „Schwerpunkt: Marx in der Diskussion”, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3/2002, 393-453 Honneth, A. (Hg.): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Fr/M und New York 2002a Honneth, A./Fraser, Nancy: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Fr/M 2003 Honneth, A. (Hg.): Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter FoucaultKonferenz 2001, Fr/M 2003a Hook, Sidney: „A Personal Impression of Contemporary German Philosophy“, in: Journal of Philosophy XXVII.6 (1930) Hook, Sidney: Toward the understanding of Karl Marx. A revolutionary interpretation (1933), New York 2002 Hook, Sidney: Marx and the Marxists: The Ambigous Legacy, New York 1955 Hook, Sidney: Marxism and Beyond, Totowa 1983 Höppner, Joachim/Seidel-Höppner, Waltraud (Hg.): Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx, 2 Bde., Leipzig 1975 Hörisch, Jochen: Gott, Geld und Glück, Fr/M 1983 Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften (GS), 18 Bde., hrg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schid Noerr, Fr/M 1985 ff.

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LITERATUR | 611 Kant, I.: Kritik der Urteilskraft (KdU, zuerst 1790) Werkausgabe Band X Kant, I.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794), separat Stuttgart 1974 Kant, I.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1800), Werkausgabe Band XII, 399-690 Kapferer, Norbert: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR (19451988), Darmstadt 1990 Kapferer, N.: Die Nazifizierung der Philosophie an der Universität Breslau, Münster 2002 Kapp, K. William: Soziale Kosten der Marktwirtschaft (1963), Fr/M 1979 Karady, Victor: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Fr/M 1999 Karmasin, Matthias: Ethik als Gewinn. Zur ethischen Rekonstruktion der Ökonomie, Wien 1996 Käsler, Dirk (Hg.): Klassiker des soziologischen Denkens, 2. Bde., Heidelberg 1976 und 1978 Käsler, Dirk: „Der Streit um die Bestimmung der Soziologie auf den deutschen Soziologentagen 1910 bis 1930“, in: Lepsius 1981, 199-244 Käsler, Dirk: Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen 1984 Käsler, Dirk: Soziologische Abenteuer: Earle Edward Eubank besucht eruopäische Soziologen im Sommer 1934, Opladen 1985 Käsler, Dirk (Hg.): Klassiker der Soziologie, 2 Bde., München 1999 Kather, Regine: „Die Wahrheit der Wissenschaft: ‚Deutsche und Jüdische Physik’“, in: Goodman-Thau 1994 II, 121-128 Kaulbach, Friedrich: Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin/New York 1978 Kaulbach, Friedrich: Philosophie des Perspektivismus, 1. Teil: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietsche, Tübingen 1990 Kautsky, Karl: Der Einfluss der Volksvermehrung, auf den Fortschritt der Gesellschaft untersucht, Wien 1880 Kautsky, K.: Karl Marx’ oekonomische Lehren. Gemeinverständlich dargestellt und erläutert (1887), Berlin/Bonn 261980 Kautsky, K.: Thomas More und seine Utopie, Stuttgart 1888 Kautsky, K.: Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil erläutert, Stuttgart 1892, erneut Berlin 1965 Kautsky, K.: Die Vorläufer des neueren Sozialismus, 2 Bde., Stuttgart 1895, erneut Berlin 1947 Kautsky, K.: „Die materialistische Geschichtsauffassung und der psychologische Antrieb“, in: Die Neue Zeit (1895) Kautsky, K.: Bernstein und das Sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik (1899), Berlin/Bonn 1976 Kautsky, K.: „Bernstein und die Dialektik“ (1899a), in: Die Neue Zeit (17. Jg., 2. Bd.), 4-16 Kautsky, K.: Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie, Berlin 1893, erneut als Parlamentarismus und Demokratie, Berlin 1911 Kautsky, K.: Die soziale Revolution, Berlin 1902 Kautsky, K.: Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche, Berlin 1903 Kautsky, K.: Der Ursprung des Christentums, Stuttgart 1908 Kautsky, K.: Der Weg zur Macht, Berlin 1909 Kautsky, K.: Die Diktatur des Proletariats, Berlin 1918 Kautsky, K.: Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution (1919), Berlin 1990, ein Auszug in P. Lübbe 1981, 87-96 Kautsky, K.: Von der Demokratie zur Staatssklaverei, Berlin 1921 Kautsky, K.: Die materialistische Geschichtsauffassung, 2 Bde., Berlin 1927 Kaye, Harvey J.: The British Marxist Historians. An Introductory Analysis, Oxford 1984 Keel, Othmar: „Berthold Brecht und das erste Testament“, Bibel und Kirche 50 (1995), 13 ff. Keller, Ernst: Der junge Lukács. Antibürger und wesentliches Leben. Literatur- und Kulturkritik 1902-1915, Fr/M 1984 Kelpanides, Michael: Das Scheitern der Marxschen Theorie und der Aufstieg des westlichen Neomarxismus. Über die Ursachen einer unzeitgemäßen Renaissance, Bern 1999 Kelsen, Hans: Sozialismus und Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus (1920), hrg. von Norbert Leser, Wien 31965 Kelsen, Hans: Anhang: „Das Problem der Gerechtigkeit“, in: Reine Rechtslehre (1928), Wien 2 1960, 355-444 Kelsen, Hans: The Political Theory of Bolshevism, Berkeley 1948

612 | PHILOSOPHIE NACH MARX Kelsen, Hans: Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze (1926-1954), hrg. von Norbert Leser, Wien 1967 Kelsen, Hans: Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons. Aus dem Nachlass hrg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1985 Kemper, Peter (Hg.): Martin Heidegger – Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, Fr/M 1990 Kempski, Jürgen von: Ch. S. Peirce und der Pragmatismus, Stuttgart/Köln 1952 Kennedy, Margrit: Geld ohne Zinsen und Inflation. Ein Tauschmittel, das jedem dient, München 1991 Kerber, Harald: Transzendentalismus und kritische Gesellschaftstheorie: zur Kritik der erkenntnistheoretischen Begründung der Marxschen Theorie durch Max Adler, Osnabrück 1981 Kerber, Harald/Schmieder, Arnold (Hg.): Soziologie. Arbeitsfelder, Theorien, Ausbildung. Ein Grundkurs, Reinbek 1991 Kern, Bruno: Theologie im Horizont des Marxismus. Zur Geschichte der Marxismusrezeption in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, Mainz 1992 Kern, H./Schumann, M.: Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein. Eine empirische Untersuchung über den Einfluss der aktuellen technischen Entwicklung auf die industrielle Arbeit und das Arbeiterbewusstsein, 2 Bde., Fr/M 1970 Kern, Lucian (H.): Probleme der postindustriellen Gesellschaft, Königstein/Ts. 1984 Kern, Walter: Atheismus-Marxismus-Christentum, Innsbruck u.a. 1976 Kersting, Wolfgang: Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt 1994 Kersting, Wolfgang (Hg.): Gerechtigkeit als Tausch? Auseinandersetzungen mit der politischen Philosophie Otfried Höffes, Fr/M 1996 Kersting, Wolfgang: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, Fr/M 1997 Kersting, Wolfgang (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000 Kersting, Wolfgang: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000a Kessler, Rainer/Los, Eva (Hg.): Eigentum: Freiheit und Fluch. Ökonomische und biblische Einwürfe, Gütersloh 2000 Kesting, Hanno/Popitz, H. u.a.: Technik und Industriearbeit/Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen 1957 Kesting, Hanno: Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, Heidelberg 1959 Kettner, Matthias (Hg.): Das Politikum der angewandten Ethik, Fr/M 2000 Keulartz, Jozef: Die verkehrte Welt des Jürgen Habermas, Hamburg 1995 Keynes, John Maynard: The General Theory of Employment, Interest and Money (1936), New York 1964 Khella, Karam: Mythos Marx – Eine Geschichts- und Theorierevision, Hamburg 1995 Kiefer, Josef: Die Marxsche Theorie als Computersimulation. Versuch einer systemtheoretischen Explikation des Marxschen Forschungsprogramms, Fr/M 1991 Kiel, Albrecht: Gottesstaat und Pax Americana. Zur politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven 1998 Kienbaum-Studie: Pressemeldung der Kienbaum Management Consultants GmbH, 04.04. 2003: „Aufsichtsratsbezüge: Missverhältnis zwischen Vergütung und Aufgabe“, siehe unter www.Kienbaum.de Kiesewetter, Hubert: Von Hegel zu Hitler. Eine Analyse der Hegelschen Machtstaatsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus, Hamburg 1974, neu bearbeitet als Von Hegel zu Hitler. Die politische Verwirklichung einer totalitären Machtstaatstheorie in Deutschland (1815-1945), Fr/M 21995 Kim, Duk-Yung: „Nietzsche und die Soziologie. Georg Simmel und Max Weber“, in: Klingemann, Carsten u.a. (Hg.): Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1995, Opladen 1999, 87-122 Kim, Kyung-Mi: Hilferding und Marx. Geld- und Kredittheorie in Rudolf Hilferdings ‚Das Finanzkapital’ und im Marxschen ‚Kapital’, Köln 1999 King, J.E. (ed.): Marxian Economics, 3 Vls., Adlershot 1990 Kiss, Garbor: Marxismus als Soziologie. Theorie und Empirie in den Sozialwissenschaften der DDR, UdSSR, Polens, der CSSR, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens, Reinbek 1971 Kitching, Gavin: Karl Marx and the philosophy of praxis, London 1988 Kitching, Gavin: Marxism and science. Analysis of an Obsession, Pennsylvania 1994

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614 | PHILOSOPHIE NACH MARX Kocka, Jürgen: „Karl Marx und Max Weber. Ein methodologischer Vergleich“, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (122), 1966, 328-357; erneut in Wehler, Hans Ulrich (Hg.): Geschichte und Ökonomie, 1972 Kocka, Jürgen: „Karl Marx und Max Weber im Vergleich. Sozialwissenschaften zwischen Dogmatismus und Dezisionismus“, in: Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 1977 Kocka, Jürgen: Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986 Kocka, Jürgen (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988 Kocka, Jürgen: Arbeiterverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrundert, Bonn 1990 Kodalle, Klaus-Michael: Politik als Macht und Mythos. Carl Schmitts ‚Politische Theologie’, München 1973 Kodalle, Klaus-Michael: „Fichtes Einheitsphilosophie: ‚Erpresste Versöhnung’?“ in: Herfried Münkler u.a. (Hg.): Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1998 Kodalle, Klaus-Michael (Hg.): Angst vor der Moderne: philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900-1940, Würzburg 2000 Koenen, Gerd: Die großen Gesänge: Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts, Fr/M 21992 Koenen, Gerd (Hg.): Deutschland und die russische Revolution 1917 – 1924, Wuppertal 1998 (West-östliche Spiegelungen 5) Koenen, Gerd: Utopie der Säuberung – Was war der Kommunismus? Berlin 2000 Koenen, Gert: Das rote Jahrzehnt – Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, Köln 2001 Koestler, Arthur: The god that failed: Six Studies in Communism, hrg. von Richard H. S. Crossman, London 1950 Koestler, Arthur: Sonnenfinsternis, Schwäbisch-Gmünd 1953 Kohlmann, Ulrich (Hg.): Karl Kautsky, Leo Trotzky, John Dewey: Politik und Moral. Die Zweck-Mittel- Debatte in der neueren Philosophie und Politik, Lüneburg 2001 Köhnke, Klaus Christian: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Fr/M 1986 Kojeve, Alexandre: Hegel. Vergegenwärtigung seines Denkens (1947), Fr/M 1975 Kolakowski: Leszek: Der Mensch ohne Alternative, München 1960 Kolakowski: Leszek: Towards a Marxist Humanism. Essays on the Left today, New York 1969 Kolakowski, Leszek: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall, 3 Bde., München 1979 Kolesnikov, Sonia: „Asia Central Banks upping Gold Reserves“, in: Business and Economic Desk, United Press International (UPI), 13. Oktober 2002 Koller, Peter: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987 Kondylis, Panjokis: Marx und die griechische Antike. Zwei Vorträge, Heidelberg 1987 König, René: Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie. Ein Beitrag zur Begründung der objektiven Soziologie (1937), München 1975 (Zitatvorlage)/Schriften 3, Opladen 1998 König, R. (Hg.): Das Fischer Lexikon: Soziologie, Fr/M 1958 König, R.: Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Biographie (1980), Fr/M, Berlin, Wien 1984 König, R.: „Soziologie in Berlin um 1930“, in: Lepsius 1981, 24-58 König, R.: Soziologie in Deutschland. Begründer, Verfechter, Verächter, München/Wien 1987 Konratieff, N.D: „Die langen Wellen der Konjuktur“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 56.3, Tübingen 1926 Korff, Wilhelm (Hg.): Handbuch der Wirtschaftsethik, 4 Bde., Gütersloh 1999 Kornai, János: The Socialist System. The Political Economy of Communism, Oxford 1992 Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie (1923), hrg. von Erich Gerlach, Fr/M 1966 Korsch, Karl: „Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky“, zuerst Leipzig 1929, jetzt in ders. 1971, 3-130 Korsch, Karl: Gesamtausgabe Band 5: Krise des Marxismus. Schriften 1928-1935, Amsterdam 1996 Korsch, Karl: Karl Marx. Marxistische Theorie und Klassenbewegung (1938), Reinbek 1981

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638 | PHILOSOPHIE NACH MARX Rose, Günther: „Industriegesellschaft“ und Konvergenztheorie. Genesis, Strukturen, Funktionen, Berlin 1974 Rose, Klaus: Grundlagen der Wachstumstheorie, Göttingen 61991 Rosenberg, Arthur: Geschichte des Bolschewismus (1933), Fr/M 1966 Rosenberg, Arthur: Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre (1937), Fr/M 1962 Rosenberg, Arthur: Entstehung und Geschichte der deutschen Republik, Fr/M 1955 Rosenberg, Hans: Die Weltwirtschaftskrise 1857-1859 (zuerst 1934), Göttingen 1974 Rosshoff, Hartmut: Emil Lask als Lehrer von Georg Lukács. Zur Form ihres Gegenstandsbegriffs, Bonn 1975 Rostow, Walt W.: The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge, Mass. 1960, deutsch als: Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1960 Rostow, Walt W.: Theorists of Economic Growth from Daiv Hume to the present. With a Perspective on the Next Century, Oxford 1990 Roters, Karl-Heinz: Reflexionen über Ideologie und Ideologiekritik, Würzburg 1998 Roth, Guenther: The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working-Class Isolation and National Integration, New Jersey 1963 Roth, Günther: „Das historische Verhältnis der Weberschen Soziologie zum Marxismus“, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1968 (20), 433 ff. Roth, Roland: Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Bonn 1987 Rothacker, Erich: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (1926), Bonn 1948 Rothacker, Erich: „Geschichtsphilosophie“, in: Handbuch der Philosophie IV: Staat und Geschichte, München/Berlin 1934, erneut 21952 (Zitate von dort) Rothacker, Erich: Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig 1938 Rothacker, Erich: Problem der Kulturanthropologie (1942), Bonn 1948 Röttgers, K.: „Sozialphilosophie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 9, hrg. von J. Ritter u.a., Basel 1995, 1217-1227 Rottleuthner, Hubert (Hg.): Probleme der marxistischen Rechtsphilosophie, Fr/M 1975 Rousseau, Jean Jacques: Discourse sur l’ origine de l’ inégalité parmi les hommes (1754), „Abhlandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in: Frühe Schriften, hrg. von W. Schröder, Leipzig 1965, 97-246 Rousseau, Jean Jacques: Du contrat social ou Principes du droit politique (1762), dt. als Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1981 Rowthorn, Bob: Capitalism, Conflict and Inflation. Essays in Political Economy, London 1984 Ruben, Peter: „Über Sozialismus und Kommunismus. Was ist gemeint? Wie wäre zu denken?“, lose Blätter, o.J. Ruben, Peter: Widerspruch und Naturdialektik, Dissertation B, Ost-Berlin 1975 Rubin, Issak I.: Studien zur Werttheorie (1926), Fr/M 1972 Rubinstein, David: Marx and Wittgenstein. Social Praxis and Social Explanation, London 1981 Rudas, Ladislaus: „Die Klassenbewusstseinstheorie von Lukács“, in: Arbeiter-Literatur Nr. 10, Wien, Oktober 1924 Rüddenklau, Eberhard: Gesellschaftliche Arbeit oder Arbeit und Interaktion? Fr/M 1982 Rudolph, Günther: „Ferdinand Tönnies und die Lehre von Karl Marx. Annäherung und Vorbehalt“, in: Clausen, Lars/Schlüter, Carsten (Hg.): Hundert Jahre ‚Gemeinschaft und Gesellschaft’. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, 301 ff. Rügemer, Werner: Philosophische Anthropologie und Epochenkrise. Studie über den Zusammenhang von allgemeiner Krise des Kapitalismus und anthropologischer Grundlegung der Philosophie am Beispiel Arnold Gehlens, Köln 1979 Russell, Betrand: German Social Democracy (Lectures 1896), New York 1965 Ruster, Thomas: Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion, Freiburg 2000 Rüthers, Bernd: Das Ungerechte an der Gerechtigkeit. Defizite eines Begriffs, Zürich 1991 Ryan, Alan: John Dewey and the High Tide of American Liberalism, London/New York 1995 Ryan, Michael: Marxism and Deconstruction, Baltimore 1982 Rytlewski, R./Opp de Hipt, Manfred: Die Bundesrepublik Deutschland in Zahlen 1945/49-1980. Ein sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, München 1987

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640 | PHILOSOPHIE NACH MARX Schaefer, Alfred: Das Dogma – Wegbereiter der Diktatur. Analyse von Stalin-Texten. Zur dialektischen Methode in ‚Das Kapital I’, Cuxhaven/Dartford 1997 Schaeffler, Richard: Einführung in die Geschichtsphilosophie (1980), Darmstadt 41991 Schäfer, Gerd: „Leo Trotzki – die Tragödie eines revolutionären Marxisten“, in: Bergmann 1993, 17-55 Schäfer, Gerd: Gewalt, Ideologie und Bürokratismus, Das Scheitern eines Jahrhundertexperiments, Mainz 1994 Schäfer, Gerhard: Soziologe und Intellektueller. Studien zu einer Intellektuellen-Biographie, Diss. zu Schelsky, Bremen 1999 Schäfer, Hans Dieter: Das gespaltene Bewusstsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945, München 1981 Schäfer, Michael: Die „Rationalität“ des Nationalsozialismus. Zur Kritik philosophischer Faschismustheorien am Beispiel der kritischen Theorie, Weinheim 1994 Schäfer, Thomas u.a. (Hg.): Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys, Fr/M 2001 Schaff, Adam: Marxismus und das menschliche Individuum, Wien 1965 Schaff, Adam: Ökumenischer Humanismus, Salzburg 1992 Schäffle, A. („k.k. österr. Minister a.D.): Quintessenz des Sozialismus, Gotha 81885 (erstmals 1874), mit Ergänzung: Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie. Drei Briefe an einen Staatsmann, Tübingen 1885 Scharrer, Manfred: Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1983 Schauenberg, Bernd (Hg.): Wirtschaftsethik. Schnittstellen von Ökonomie und Wirtschaftstheorie, Wiesbaden 1990 Schefold, Bertram u.a.: Arbeit ohne Umweltzerstörung. Strategien für eine neue Wirtschaftspolitik, Fr/M 1988 Schefold, Bertram: „Nationalökonomie und Kulturwissenschaften: Das Konzept des Wirtschaftsstils“, in: ders 1994, 215-242; jetzt auch in ders.: Wirtschaftsstile. Band 1: Studien zum Verhältnis von Ökonomie und Kultur, Fr/M 1994, 73-110 Schefold, Bertram u.a. (Hg.): Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994a Schefold, Bertram u.a. (Hg.): Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, Stuttgart 1998 Schefold, Christian: Die Rechtsphilosophie des jungen Marx von 1842, München 1970 Scheler, Max: „Versuche über die Philosophie des Lebens. Nietzsche-Dilthey-Bergson“ (1913), in ders.: Gesammlte Werke III, Bern/München 1955, 311-339 Scheler, Max: Ethik und Kapitalismus. Zum Problem des kapitalistischen Geistes, hrg. von Klaus Lichtblau, Berlin 1999 Schelling, F.W.J.: System des transzendentalen Idealismus (1800), jetzt in: Ausgewählte Schriften Band 1: 1794-1800, hrg. von Manfred Frank, Fr/M 1985 (AW 1), 395-702 Schellong, Dieter: „Jenseits von politischer und unpolitischer Theologie. Grundentscheidungen der ‚Dialektischen Theologie’“, in: Taubes 1985, 292-315 Schelsky, Helmut/Boehrs, Hermann: Die Aufgaben der Betriebssoziologie und der Arbeitswissenschaften, Stuttgart u.a. 1954 Schelsky, Helmut: „Industrie- und Betriebssoziologie“, in ders./Gehlen, Arnold (Hg.): Soziologie, Düsseldorf/Köln 1955 Schelsky, H.: „Gesellschaftlicher Wandel“ (1956), in ders. 1979, 333-349 Schelsky, H.: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959 Schelsky, H.: „Die Bedeutung des Klassenbegriffs für die Analyse unserer Gesellschaft“, zuerst im Jahrbuch für Sozialwissenschaften XII, 3 (1961), erneut in Schelsky 1979, 350-392 Schelsky, H.: „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“ (1961a), in 1979, 449-499 Schelsky, H.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, erneut als gekürzte Neuauflage München 1979 (Zitate von dort) Schelsky, H.: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975 Schelsky, H.: Rückblicke eines Anti-Soziologen, Opladen 1981

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642 | PHILOSOPHIE NACH MARX Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich/Weiß, Johannes: Aufklärung und Ideologie. Die Rolle von Philosophie und Soziologie im gesellschaftlichen Umbruch der ‚realsozialistischen Staaten’, Kassel 1991 (Ost-West-Kongreß, Bd. 3) Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich/Eidam, Heinz: Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis. Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Würzburg 1995 Schmitt, Carl: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1921), Berlin 61994 Schmitt, C.: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München/ Leipzig 1922 Schmitt, C.: Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923 Schmitt, C.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923a), Berlin 1991 Schmitt, C.: „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ (1932a), in ders.: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1987 Schmitt, C.: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1934 Schmitt, C.: „Die andere Hegel-Linie – Hans Freyer zum 70. Geburtstag“, in: Christ und Welt, Jg. 10, Nr.30, 25. Juli 1957 Schmitt, C.: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970 Schnädelbach, Herbert: Erfahrung, Begründung und Reflexion. Versuch über den Positivismus, Fr/M 1971 Schnädelbach, Herbert: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg/München 1974 Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831-1933, Fr/M 1983 Schnädelbach, Herbert: „Was ist Neoaristotelismus?“, in Kuhlmann, Werner (Hg.): Moralität und Sittlichkeit, Fr/M 1986 Schnädelbach, Herbert (Hg.): Hegels Philosophie: Kommentare zu den Hauptwerken, 3 Bde., Fr/M 2000, darin ders., Bd. 1: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Fr/M 2000 Schneider, Herbert W.: Geschichte der amerikanischen Philosophie (zuerst New York 1946), Hamburg 1957 Schneider, Michael: Das Ende eines Jahrhundertmythos. Eine Bilanz des Sozialismus, Köln 1992 Schneider, Peter K.: Theorie normativer Vernunft oder worauf die Linke nicht verzichten kann, München 1976 Schoenberner, Gerhard: Der gelbe Stern. Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945, Fr/M 1991 Scholder, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich. Band 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen, 1918-1934, Frankfurt/M und Berlin, 1977 Scholem, Gershom: Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, Fr/M 1975 Schöler, Uli: Ein Gespenst verschwand in Europa. Über Marx und die sozialistische Idee nach dem Scheitern des sowjetischen Staatssozialismus, Berlin 1999 Schönrich, Gerhard: Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce, Fr/M 1990 Schönrich, Gerhard: Bei Gelegenheit Diskurs. Von den Grenzen der Diskursethik und dem Preis der Letztbegründung, Fr/M 1994 Schorske, C.F.: Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905-1917 (1955), Berlin 1981 Schöttker, Detlev: „Die Organisation des philosophischen Erfolgs. Zur Dynamik der kritischen Theorie“, in: Merkur 5.54, Mai 2000 Schrader, Fred E.: Restauration und Revolution. Die Vorarbeiten zum Kapital von Karl Marx in seinen Studienheften 1850-1858, Hildesheim 1980 Schrader, Fred E.: „Die Auflösung der ‚Politischen Theologie’ Hegels. Von der nominalistischen Abstraktionskritik Feuerbachs (1843) zu Marxens Kritik der ideellen Verdoppelung (1857/58)“, in: Taubes 1985 Schrader, Wolfgang H. (Hg.): Fichte im 20. Jahrhundert. „200 Jahre Wissenschaftslehre – die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes“, Fichte-Studien Band 13, Amsterdam/Atlanta 1997

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Die Titel dieser Reihe:

Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen Oktober 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-364-X

Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik August 2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 3-89942-367-4

Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge

Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-211-2

Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.) Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie 2003, 334 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-159-0

Hans-Joachim Lenger Vom Abschied Ein Essay zur Differenz 2001, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-75-0

Juli 2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-273-2

Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie März 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-325-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de