Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft: Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 [1. Aufl.] 9783839407271

Dieses Buch rekonstruiert die Debatte um die Begründung der Geistes- und Kulturwissenschaften um 1900. Im Hintergrund st

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Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft: Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 [1. Aufl.]
 9783839407271

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Zur Methode: Begründung einer ›strukturanalytischen‹ Perspektive
Teil I: Zur Problem- und Sozialgeschichte der ›Krisis des Wissens
Zur ›Krise des Wissens‹: Genealogie, Ursachen, Aspekte
Krisis als »strukturelle Signatur der Neuzeit«
Der Wissensbegriff der Neuzeit
Die semantische Prägung des ›Wissens‹ im Idealismus und Neuhumanismus
Die Krisis der Wissenschaften
Die Krise der Philosophie
Teil II: Zur Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹
Diltheys Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹
Dilthey und Kant
Die ›Struktur des Lebens‹ als Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften
›Erkenntnistheorie‹ und ›Selbstbesinnung‹
Diltheys Transformation der Erkenntnistheorie
Diltheys Ansätze zur Grundlegung der Geisteswissenschaften
Resümee
Die transzendentalphilosophische Begründung der ›Kulturwissenschaften‹ im Neukantianismus
Rickerts Programmatik einer ›Rehabilitierung der Philosophie‹
Rickerts Philosophie der Begriffsbildung
Rickerts Ontologie: ›Wert‹ und ›Welt‹
Resümee
Husserls Begründung der Phänomenologie
Phänomenologie als ›strenge Wissenschaft‹
Der Gegenstandsbereich und die Methoden der Phänomenologie
Resümee
Zwischenbetrachtung: Die ›philosophischen‹ Alternativen zur Lösung der ›Krise des Wissens‹
Abgrenzungslinien zwischen Lebensphilosophie, Neukantianismus und Phänomenologie
Drei Formen der ›praktischen‹ Vernunftkritik: Holismus, Dualismus, Monismus
Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft: Vorbereitende Bemerkungen
Teil III: Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft
Simmels Fundierung der Sozialwissenschaften zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie
Der ›frühe Simmel‹ und seine Stellung zur ›Kritik der historischen Vernunft‹
Der ›mittlere Simmel‹ und die Objektivität der Kulturformen
Zur ›lebensphilosophischen Wende‹ des ›späten Simmel‹
Simmels Theorie des Wissens
Resümee: Simmels ›Kritik der historischen Vernunft‹
Webers ›wirklichkeitswissenschaftliche‹ Begründung der modernen Sozialwissenschaften
Weber und die ›Kritik der wissenschaftlichen Vernunft‹
Webers begriffstheoretische Kompromisslösung
›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹
Webers Verstehenslehre
Von Objektivität zu ›Objektivität‹
Wertphilosophie und Metatheorie des Wissens
›Wissenschaft‹ und ›Weltanschauung‹
Resümee: Webers Wissenssystematik
Theorie und Soziologie des Wissens bei Mannheim
Die ›Krisis des Wissens‹ als Mannheims Ausgangspunkt
Die philosophischen Grundlagen der Wissenssoziologie
Die Grundsystematik der Mannheimschen Theorie des Wissens
Von Existenzphilosophie zur Wissenssoziologie
Resümee: Wissenssoziologie und Lebensphilosophie
Soziologie und Phänomenologie bei Schütz
Zur grundlagentheoretischen Programmatik bei Schütz
Zu den philosophischen Ausgangspunkten im ›Sinnhaften Aufbau‹
Schütz’ sozialwissenschaftliche Methodik
Die Begründung der ›Lebenswelt‹
Resümee: Schütz’ Grundlegungstheorie zwischen Lebensphilosophie und Transzendentalphilosophie
Ergebniszusammenfassung: Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft
Literatur
Primärquellen
Sekundärquellen

Citation preview

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Daniel Suber Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft

^

Daniel Suber (Dr. rer. soc.) lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Seine Forschungsgebiete sind Soziologische Theorie, Kulturtheorie, Religionssoziologie sowie Kultursoziologie Südosteuropas.

^ Daniel Suber

Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900

Dissertation der Universität Konstanz, Tag der mündlichen Prüfung: 15.02.2006 Referent: Prof. Dr. Bernhard Giesen Referent: Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Daniel Suber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-727-1 ^

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung

9

Einleitung

13

Zur Methode: Begründung einer ›strukturanalytischen‹ Perspektive

31

Teil I: Zur Problem- und Sozialgeschichte der ›Krisis des Wissens Zur ›Krise des Wissens‹: Genealogie, Ursachen, Aspekte

41

Krisis als »strukturelle Signatur der Neuzeit« Der Wissensbegriff der Neuzeit Die semantische Prägung des ›Wissens‹ im Idealismus und Neuhumanismus Die Krisis der Wissenschaften Die Krise der Philosophie

43 44 47 54 63

Teil II: Zur Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ Diltheys Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹

75

Dilthey und Kant Die ›Struktur des Lebens‹ als Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften ›Erkenntnistheorie‹ und ›Selbstbesinnung‹ Diltheys Transformation der Erkenntnistheorie Diltheys Ansätze zur Grundlegung der Geisteswissenschaften Resümee

76 79 81 84 90 102

Die transzendentalphilosophische Begründung der ›Kulturwissenschaften‹ im Neukantianismus

107

Rickerts Programmatik einer ›Rehabilitierung der Philosophie‹ Rickerts Philosophie der Begriffsbildung Rickerts Ontologie: ›Wert‹ und ›Welt‹ Resümee

109 116 130 135

Husserls Begründung der Phänomenologie

139

Phänomenologie als ›strenge Wissenschaft‹ Der Gegenstandsbereich und die Methoden der Phänomenologie Resümee

142 148 171

Zwischenbetrachtung: Die ›philosophischen‹ Alternativen zur Lösung der ›Krise des Wissens‹

173

Abgrenzungslinien zwischen Lebensphilosophie, Neukantianismus und Phänomenologie Drei Formen der ›praktischen‹ Vernunftkritik: Holismus, Dualismus, Monismus Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft: Vorbereitende Bemerkungen

177 199 202

Teil III: Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft Simmels Fundierung der Sozialwissenschaften zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie

209

Der ›frühe Simmel‹ und seine Stellung zur ›Kritik der historischen Vernunft‹ Der ›mittlere Simmel‹ und die Objektivität der Kulturformen Zur ›lebensphilosophischen Wende‹ des ›späten Simmel‹ Simmels Theorie des Wissens Resümee: Simmels ›Kritik der historischen Vernunft‹

215 232 244 259 273

Webers ›wirklichkeitswissenschaftliche‹ Begründung der modernen Sozialwissenschaften

275

Weber und die ›Kritik der wissenschaftlichen Vernunft‹ Webers begriffstheoretische Kompromisslösung ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ Webers Verstehenslehre Von Objektivität zu ›Objektivität‹ Wertphilosophie und Metatheorie des Wissens ›Wissenschaft‹ und ›Weltanschauung‹ Resümee: Webers Wissenssystematik

279 283 288 291 316 322 330 334

Theorie und Soziologie des Wissens bei Mannheim

341

Die ›Krisis des Wissens‹ als Mannheims Ausgangspunkt Die philosophischen Grundlagen der Wissenssoziologie Die Grundsystematik der Mannheimschen Theorie des Wissens Von Existenzphilosophie zur Wissenssoziologie Resümee: Wissenssoziologie und Lebensphilosophie

346 354 365 383 396

Soziologie und Phänomenologie bei Schütz

401

Zur grundlagentheoretischen Programmatik bei Schütz Zu den philosophischen Ausgangspunkten im ›Sinnhaften Aufbau‹ Schütz’ sozialwissenschaftliche Methodik Die Begründung der ›Lebenswelt‹ Resümee: Schütz’ Grundlegungstheorie zwischen Lebensphilosophie und Transzendentalphilosophie

408 413 435 442 456

Ergebniszusammenfassung: Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft

463

Literatur

483

Primärquellen Sekundärquellen

483 488

Da nk sa gung

Mein erster Dank gilt meinen beiden Betreuern, die mich in den vergangenen Jahren auf vielfältigste Weise unterstützt haben. Prof. Dr. Bernhard Giesen (Universität Konstanz) hat meine akademische Entwicklung ermöglicht und von Beginn an begleitet. Die persönliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit ihm bedeuten daher naturgemäß weit mehr, als es hier ausdrückbar ist. Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner (Universität Konstanz) schulde ich großen Dank für den Vertrauensvorschuss, den er mir zu unterschiedlichen Anlässen großmütiger Weise gewährt hat. Für sein bereitwilliges Engagment bei meinem Prüfungsverfahren möchte ich auch Prof. Dr. Rudolf Schlögl (Universität Konstanz) herzlich danken. Sehr wertvoll waren für mich die Diskussionen mit Herrn Dr. Wolfgang K. Schulz (Universität Konstanz), der die Gedankenentwicklung stets – und kritisch – begleitet hat. Eine beständige Quelle der Motivation waren darüber hinaus auch Gespräche mit Prof. Dr. Ronald Kurt (KWI Essen) und Prof. Dr. Dirk Tänzler (Universität Zürich), die dabei nicht nur große Sachkunde, sondern auch ein gesundes Maß an Humor vermittelten. Konstante freundschaftliche sowie fachliche Unterstützung erhielt ich schließlich auch von Robin Celikates (Universität Gießen), Jason L. Mast (Yale University), Dr. Marcus Sandl (Universität Konstanz), Michaela Schäuble (Universität Tübingen), Dr. Bernt Schnettler (TU Berlin) und Dr. Meike Wulf (SSEES London). Meine Konstanzer Kollegen Gerold Gerber, Barbara Grimpe, Kay Junge, Stephan Laube, Sigmar Papendick, Valentin Rauer, Gabriele Schaub, Christoph Schneider, Robert Seyfert und Hendrik Wortmann haben auf unterschiedlichste Weise Anteil an der Fertigstellung der Arbeit gehabt. Zu danken habe ich selbstverständlich und an erster Stelle auch meiner ganzen Familie sowie meiner Freundin Sibylle Klinc, auf deren liebevolle Unterstützung ich stets zählen konnte. Für deren Verständnis und Geduld habe ich zuletzt noch folgenden Personen zu danken:

10 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT

Walid Al-Azzam, Heinrich Babel, Caroline Bettinger, Arash Firouzi, Stephanie Jochim, Danijel Kaljić, Jörg Meyhöfer, Robert Šikić, Jacqueline Weiß, Mark Weißhaupt.

»Bisher ist noch niemand mit der Welt im Denken ›fertig‹ geworden.« (Heinrich Rickert)

Einleitung

Das Untersuchungsfeld der vorliegenden Arbeit ist nicht umweglos einzugrenzen, wie sich in ihrem umständlichen Titel bereits andeuten mag. Im Zentrum steht eine wissenschaftsgeschichtlich folgenreiche Diskursformation, deren Konstellation letztlich noch die wissenschafts- und grundlagentheoretischen Debatten der aktuellen Gegenwart berühren. Ihr thematischer Kern kreist um das noch genauer zu erläuternde ›Problem des Wissens‹. Mit dieser Wendung beziehen wir uns auf ein komplexes Beziehungsgefüge, das sowohl geistes- und wissenschaftsgeschichtliche als auch lebensweltliche Aspekte einschließt. Die ›Krise des Wissens‹, so können wir vorläufig festhalten, trat ein mit dem Niedergang einer besonderen Wissensordnung, deren Wurzeln im Deutschen Idealismus einerseits und dem Neuhumanismus andererseits begründet lagen. In der ›Idee der deutschen Universität‹ wurde jene Wissensordnung zunächst systemati1 siert und schließlich institutionalisiert. Entwertet wurde im Verlaufe des über ein Jahrhundert währenden Verfallsprozesses somit keineswegs nur das Ideal einer universitären Struktur, sondern ein spezifisches, bürgerliches Bildungspathos, dessen Devaluation nicht nur unmittelbare kulturpolitische Auswirkungen zeitigte, sondern ebenso das Selbstbild der Wissenschaft und des Wissenschaftlers nachhaltig erschütterte. Als zeitliche Grenzmarkierungen dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung kann man in der einen Richtung auf den Rückgang der allgemeinen Bedeutung der Hegelschen Systemphilosophie seit den 1830er Jahren als den Einsatzpunkt der Auseinandersetzungen verweisen. Deren Schlusspunkt wurde, in der entgegengesetzten Richtung liegend, mit der Zäsur gesetzt, welche die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 für die Wissenschaftsentwicklung zur Folge hatte. Innerhalb dieses Zeitraums wurden nicht nur allgemein die Herausbildung der heutigen Fächerstruktur des Wissenschaftssystems, sondern darüber hinaus auch die methodologischen Aus1

Eine ausführliche problemgeschichtliche Darstellung dieser Entwicklung gibt der erste Teil der Arbeit.

14 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT

richtungen fast aller empirischen Einzeldisziplinen entscheidend vorgeprägt. Im Fokus der folgenden Untersuchung steht die spätestens mit Wilhelm Diltheys ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ aus dem Jahr 1883 eröffnete Debatte um die Möglichkeit einer wissenschaftstheoretischen Abgrenzung von Geistes- und Naturwissenschaften, die sich bis spät in die 1920er Jahre hinaus spannte. Die besondere, soziologisch relevante Fragestellung, die in den folgenden Studien adressiert werden soll, richtet sich auf die spezifische Position, welche den Theoretikern, die im Dienste der Begründung einer autonomen Lehre von der Gesellschaft argumentierten, innerhalb dieser Auseinandersetzungen zuzuweisen ist. Eine strukturanalytische Gegenüberstellung der erkenntnistheoretisch begründeten Wissensaxiomatiken einiger ausgewählter soziologischer Klassiker (Simmel, Weber, Mannheim, Schütz) mit den prominentesten Letztbegründungsansätzen aus der zeitgenössischen Philosophie (Lebensphilosophie, Neukantianismus, Phänomenologie) soll den Eigenwert und den philosophischen Gehalt dieser soziologischen Erkenntnistheorien ermitteln. Dass es den Gründervätern der modernen Soziologie nicht nur gelungen ist, philosophisch eigenständige und beachtenswerte Konzeptionen zur Lösung der ›Krise des Wissens‹ vorgelegt, sondern außerdem im gleichen Zuge einem modernen Wissenschafts- und Philosophieverständnis den Weg ge2 ebnet und einen »Paradigmenwechsel« herbeigeführt zu haben, stellt die essentielle Erkenntnis der Arbeit dar. Das Verhältnis von Philosophie und Soziologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist von Philosophie- wie auch Soziologiehistorikern auf höchst unterschiedliche Weise geschildert worden. Während einige hier eine Kontinuitätslinie zwischen beiden Diskursfeldern anzunehmen geneigt sind (Wahlen 1981: 13ff.; Koselleck 1991: 135ff.; Scholtz 1997: 23ff.), betonen andere dagegen eher die Gegensätzlichkeit der Anliegen beider Disziplinen. So beschreibt etwa Herbert Schnädelbach, dass ausgerechnet die Philosophie am Prozess der »Dynamisierung des traditionellen Wissenschaftskonzepts«, der im 19. Jahrhundert stattfand, »keinen aktiven Anteil« (1999: 118) hatte. Vor diesem Hintergrund erscheint die moderne Soziologie als »Erbin« (Weiß 1993b: 46) und als »moderne Nachfolgerin der Philosophie« (Krasnodebski 2003: 111), deren Entfaltung mit dem Nachweis der »Unterlegenheit und Schädlichkeit philosophischen Denkens« (Weiß 1993b: 46) einhergegangen sei. Soziologiehistoriker sprachen in diesem Zusammenhang auch von einer »›Soziologisierung‹ der philosophischen Reflexion« (Rehberg 1981: 162) bzw. einer »Soziologisierung der meisten Sinnfragen« (Clam 2002: 13) und deuten damit auf die Ersetzung von Philosophie durch Soziologie hin. Wie man auch immer heute zu 2

Wolfgang K. Schulz hat unter teilweisen Rekurs auf die gleichen Autoren einen »Paradigmenwechsel in der Kulturtheorie« (1993a: 12ff.) beschrieben.

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dem Ergebnis dieser Entwicklung stehen mag , beide Sichtweisen sind nach unserer Auffassung in ihrer radikalen Pointierung nicht stichhaltig. Vielmehr scheint, wie sich erweisen wird, beides gleichzeitig zuzutreffen: Soziologen haben sich von Anbeginn an dem Versuch zur Lösung der »genuine crisis of reason« (Alexander 1995: 4) beteiligt und sich hierbei sogar häufig auf die Leistungen der Fachphilosophen berufen. Mit dieser Feststellung darf jedoch nicht beifolgend die Möglichkeit ausgeschlossen werden, deren Reflexionsergebnisse in systematischer Hinsicht als autonom und unabhängig zu bewerten. Das folgende Rekonstruktionsunternehmen widmet sich daher in erster Linie der Aufgabe, dass hier skizzierte Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Soziologie zunächst genealogisch aufzuklären und anschließend systematisch zu analysieren. Zu diesem Zweck werden im Zuge der Diskursbeschreibung Evaluationskriterien entwickelt, anhand deren Differenzen und Konvergenzen zwischen 4 philosophischen und soziologischen Axiomen determinieren werden können. Das Bedürfnis nach systematischen Klärungen der Zusammenhänge zwischen beiden Disziplinen ist keineswegs neu und wird in regelmäßigen Abständen vorgetragen. Maurice Merleau-Ponty beanstandete bereits 1960, dass »La philosophie et la sociologie ont vécu longtemps sous un régime de séparation qui ne parvenait à cacher leur rivalité qu’en leur refusant tout terrain de rencontre, en gênant leur croissance, en les rendant l’une pour l’autre incompréhensible, en plaçant donc la culture dans une situation de crise permanente« (1960: 123).

In der gegebenen Atmosphäre eines »guerre froide« (ebd., 1960: 124) zwischen beiden Disziplinen würde jeder Vermittlungsversuch bereits im Keim erstickt. Merleau-Ponty wagte sich dennoch an die Aufgabe. An der Ausgangskonstellation, die Merleau-Ponty vorfand, hat sich in den vergangenen Dekaden einiges gewandelt. Insbesondere in den angel3

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Die wohl radikalste Soziologie-Kritik, die letztlich auf der Grundlage des Arguments von der Selbstüberforderung der soziologischen Ansprüche aufruht, hat zweifellos Tenbruck (1984) vorgelegt. Auch Clam ist der Auffassung, dass die »Soziologie sich ihr [gemeint: die Philosophie; D.Š.] nicht substituieren (konnte), zumal sie selber auf wissenschaftstheoretische Verlegenheiten stieß, mit denen sie allein nicht fertig werden konnte« (2002: 12). Unter ›Axiome‹ verstehe ich im Folgende solche Fundamentalbegriffe und Konzeptionen, die im Hinblick auf die Architektur eines bestimmten Theoriegebäudes zentral sind. Dabei ist für den folgenden Zusammenhang auch bedeutsam, dass diese Axiome nicht immer explizit ausformuliert vorliegen müssen, sondern deren fundamentale Funktion innerhalb des jeweiligen Theorierahmens auch unklar bleiben kann. Insofern kann man ›Axiome‹ mit Georg Bertram auch eher als »Implikate eines Denkens« ansehen, »deren Bestimmung nicht einfach auf der Hand liegt« (2002: 13).

16 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT

sächsischen Gefilden hat sich unter der Rubrik ›Philosophy of Social Science‹ eine kleine Publikationsindustrie herausgebildet (vgl. Sica 1998: 6f.). Freilich hat sich mit dieser Ausweitung auch das Spektrum an Verbindungsstrategien zwischen Philosophie und Sozialtheorie in einem Ausmaß erweitert, das die Frage nach dem Verhältnis beider heute geradezu als absurd erscheinen lässt. Die Alternativen an philosophischen Vorläufertraditionen, die als Geburtshelfer der modernen Soziologie ins Spiel gebracht werden, reichen weit über die im 19. Jahrhundert einflussreichen Strömungen des Positivismus, Kantianismus und Historismus hinaus bis zur Lehre von der Politik, Naturrecht, Staats- und Kameralwissenschaft, Moralphilosophie und Moralistik (vgl. Koselleck 1991: 120). Anthony Giddens hat entsprechend in seinem Definitionsversuch des »Ursprungs der modernen Soziologie« festgestellt: »Offensichtlich gibt es viele verschiedene Interpretationen der Entstehung der Gesellschaftstheorie von ihrem Ursprung im Europa des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart« (1981: 96). Der schon angedeutete Befund eines Mangels von Darstellungen, welche die Begründung der modernen Soziologie vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Grundlegungsversuche der Geisteswissenschaften beschreiben, bleibt von dieser Entwicklung unberührt. In einer wenig beachteten Dissertation hat Heinrich Wahlen 1981 einen für unseren Fragezusammenhang besonders interessanten Rekonstruktionsversuch des Verhältnisses zwischen Philosophie und Soziologie vorgelegt, bei dem es im Wesentlichen um eine erkenntnistheoretische Lektüre der Arbeiten soziologischer Klassiker ging. Zur Verdeutlichung des vorliegenden Unterfangens können wir einige Anknüpfungs- und Abgrenzungspunkte zu Wahlens Studie bestimmen. Ausgehend von der Feststellung eines Mangels systematisch vergleichender Beschreibungen (1981: 17), ging es ihm insbesondere um die Aufklärung der »›Transformation‹ eines philosophischen Aussagenzusammenhanges in verschiedene soziologische Konzepte« sowie des »Traditionsbezugs« und der »Eigenart des Erkenntniszugriffs dieser Konzepte« (ebd., 19). Während Wahlen jedoch die Gemeinsamkeiten von soziologischen Klassikern und der Philosophie ausschließlich über die Ermittlung der Bezugnahmen auf Kant erschloss, soll in der vorliegenden Arbeit der Kontextualisierungsrahmen weiter gefasst werden. Die zunächst recht allgemeine Formulierung der ›Krisis des Wissens‹ als zentrales Bezugsproblems soll es erlauben, auch andere philosophische Denktraditionen jenseits des (Neo)Kantianismus in den Blick zu nehmen. Die durch Wilhelm Dilthey begründete Programmatik einer ›wissenschaftlichen Lebensphilosophie‹ wird dabei eine besondere Rolle spielen, weil deren Einfluss auf die Soziologie bislang noch nicht systema5 tisch entfaltet wurde. 5

Auf einzelnen Gebieten scheint sich derzeit in der soziologischen Theorie ein Trend zur Hinwendung der Frage nach lebensphilosophischen Einflüssen

EINLEITUNG | 17

In einer weiteren Hinsicht können wir – nachdem nunmehr ein viertel Jahrhundert vergangen ist – unseren Erklärungsanspruch über denjenigen Wahlens hinausführen. Denn während es ihm nicht darum ging, »mit philosophischem Maßstab die Richtigkeit der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Bezugnahmen auf diese Lehre zu übertragen« (ebd., 22), sollen hier am Ende als Resultat zumindest klare Anhaltspunkte für eine solche Evaluation dastehen. Obgleich sich die klassischen Positionen von Simmel, Weber und Durkheim innerhalb der Grenzen des soziologischen Diskurses weiterhin unverminderter Prominenz erfreuen und man in deren »Reflektion erkenntnistheoretischer Probleme« noch heute »die herausragende Leistung der modernen klassischen Soziologie« (Dahme/Rammstedt 1995: 458) an6 erkennt , werden deren epistemologische Beiträge in aller Regel auch von 7 Soziologiehistorikern – ganz zu schweigen von Philosophen – nicht (sic!) als originäre Versuche der Lösung und Bearbeitung der allgemeinen ›Krise der Vernunft‹ gewürdigt. In aktuellen Nachschlagewerken würde man unter diesem Schlagwort wohl ausnahmslos die Namen von Fachphilosophen und eben keine Vertreter von Einzelwissenschaften auffinden. So charakterisiert etwa Richard Rorty in seinem historisch angelegten Versuch, die Entwicklung der modernen Philosophie nachzuzeichnen, ausschließlich Wittgenstein, Heidegger und Dewey als die Heroen, welche die seit Descartes und Locke dominierende Definition des Problems der Wissensbegründung hinter sich gelassen und eine »anticartesianische und antikantianische Revolution« (1987: 17) bewerkstelligt hätten. Trotz aller zugestandenen argumentativen Vereinfachungen unterschlägt Rorty auf diese Weise substantiell folgenreiche und wirkungsgeschichtlich bedeutsame Zwischenstationen dieser Entwicklung und verwischt damit wissenschaftshistorisch belegbare Übergänge. Über die philosophiegeschichtliche Epoche, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll, wird etwas lapidar in zwei Sätzen hinweggegangen. Nachdem Rorty immerhin anerkennend bemerkt:

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unterschiedlicher Autoren auf die Soziologie durchzusetzen. Siehe insbesondere Fitzi (2002), Delitz (im Erscheinen), Moebius (im Erscheinen), Seyfert (im Erscheinen), Šuber (2002, 2006b) sowie Junge/Šuber/Gerber (im Erscheinen). Ähnlich auch Sprondel et al. (1980: 9). Da dennoch eher selten die ignorante Haltung der Philosophie gegenüber sozialwissenschaftlichen Grundeinsichten zur Sprache gebracht wird, sei an dieser Stelle stellvertretend eine Aussage Kincaids wiedergegeben, der sehr offen seine »frustration with my philosophical colleagues who are willing to pronounce entire domains of social inquiry doomed to failure while paying little attention to what social scientists actually do« (1996: XV) bekundet. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive beklagt auch Endreß, dass die Entwicklung der Nachkriegssoziologie auch in Deutschland das »Profil eines vormals durchweg auch philosophisch interessierten und gebildeten Diskussionsmilieus innerhalb der Soziologie weitgehend zum Verschwinden brachte« (2000: 329).

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»Gleichzeitig untergruben so verschiedenartige Philosophen wie Nietzsche, Dilthey und Bergson einige dieser kantianischen Voraussetzungen«, folgt umgehend das Verdikt: »Der Geist des Spielerischen, der sich um Neunzehnhundert anschickte, in die Philosophie einzutreten, wurde jedoch im Keim erstickt« (ebd., 186). Auch bei Jürgen Habermas trifft man zuweilen auf ähnlich pauschalisierende Wendungen: »Alle diese Versuche, die Vernunft zu detranszendentalisieren, verfangen sich noch in den begrifflichen Vorentscheidungen der Transzendentalphilosophie, denen sie verhaftet bleiben. Die falschen Alternative entfallen erst mit dem Übergang zu einem neuen Paradigma, dem der Verständigung« (1992: 51).

Gegenüber diesen Darstellungen soll an dieser Stelle ohne weiteren Kommentar eine eher zeitgenössische Perspektive gestellt werden, die ein anderen Licht auf die Bedeutung dieser Epoche wirft: »In dem wissenschaftlich-philosophischen Weltbild der Gegenwart vollzieht sich eine charakteristische Verschiebung. Sie geht von der Kausalität zur Finalität, von der Analyse zur Synthese, vom Mechanismus zum Organismus, von der bloßen Zergliederung und Erklärung zur Würdigung des Sinnes und Gehaltes. Die menschlichen Dinge nehmen in diesem heraufkommenden Weltbilde einen viel größeren Raum ein; insbesondere das menschlichen Wollen und Werten, überhaupt die ganze Art des Menschen, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Seine Grundlage bilden nicht mehr in erster Linie begriffliche Konstruktionen und Abstraktionen mit starkem Verlust an Wirklichkeitsgehalt nach Art der älteren Metaphysik, sondern wie man mit einem freilich vieldeutigen Wort gern sagt, das Leben selbst« (Vierkandt 1923: 5).

Es kann als eine weitere Triebfeder unseres Projekts angesehen werden, den Nachweis zu erbringen, dass entscheidende Reflexionsbewegungen, die gemeinhin als Ausweis modernen philosophischen Denkens interpretiert werden, bereits von einigen der in dieser Arbeit behandelten Autoren nicht nur vorgedacht, sondern zum Teil sogar explizit theoretisiert und systematisiert wurden. Ohne den nachfolgenden Einzelabhandlungen zu weit vorgreifen zu wollen, sei hier zumindest angedeutet, dass auch bei den Architekten der modernen Soziologie die philosophischen Zeichen der Zeit auf eine Überwindung des klassischen Philosophie- und Wissenschaftsbegriff standen. Sie trugen wesentlichen Anteil an der Pragmatisierung und Verlebendigung der klassischen Form der (neo)idealistischen Transzendentalphilosophie, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem 8 Gros der zeitgenössischen Philosophie für bewahrenswert erachtet wurde. Die von Rorty und Habermas angelegten Kriterien für eine moderne Philo8

Eine Rehabilitierung der Begründer der modernen Soziologie in unserem Sinne wird auch von Koppetsch (2001: 362) explizit eingefordert.

EINLEITUNG | 19

sophie sollen zur Überprüfung dieser Hypothese am Ende der Untersuchung an die zuvor explizierten soziologischen Erkenntnistheorien herangetragen werden. Wir stehen damit vor der diffizilen Aufgabe, sowohl gegenüber der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte auf der einen als auch der Soziologiegeschichtsschreibung auf der anderen Seite auf die ursprüngliche, thematisch und problemgeschichtlich ableitbare, Affinität und Verbundenheit beider Disziplinen aufmerksam machen zu müssen. Von einer systematischen Kontrastierung der soziologischen Theorien des Wissens mit den zeitgenössisch prominentesten Letztbegründungsphilosophien erhoffen wir uns, hilfreiche Einsichten für eine Lösung des soziologischen »Identitätsproblems« (Giesen 1989: 113) resp. zur Bestimmung der »kognitiven Identität« (Lepenies 1981: Iff.) der modernen Sozialwissenschaften zu erhalten. Seit nunmehr fast drei Dekaden hält eine national wie international geführte Debatte um den wissenschaftstheoretischen Status der Soziologie an, in welcher die Krisenrhetorik mal mehr und mal weniger dras9 tische Töne annimmt. Es können cum grano salis zwei unterschiedliche Argumentationsstrategien differenziert werden, die regelmäßig als Zeugen 10 für das Bestehen einer ›Krise der Sozialwissenschaften‹ berufen werden: Zum einen beklagt man das Fehlen einer konsensfähigen theoretischen Auszeichnung des Gegenstandsbereichs der Soziologie. Polemisch ausgedrückt, es scheinen innerhalb der Zunft fast ebenso viele Gegenstandsdefinitionen zu kursieren wie es Soziologen gibt. Ähnlich verheerende Schlussfolgerungen zieht man desgleichen aus dem Hinweis auf die Methodenvielfalt der gegenwärtigen Sozialwissenschaften, die aus dem Blickwinkel anderer Disziplinen häufig als Ausweis einer akademischen 11 Unreife aufgefasst wird. Eine bemerkenswerte Deutung aus fachinterner

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»Keine andere wissenschaftliche Disziplin ist so uneins mit sich selbst, keine andere geht so hart mit sich ins Gericht, bis hin zur Proklamation von AntiSoziologien«, schreiben die Herausgeber eines kürzlich erschienenen Sammelbandes zu dieser Problematik (Merz-Benz/Wagner 2001). 10 Die Literaturflut zu dieser Thematik ist kaum noch übersehbar. Empfohlen sei daher die übersichtliche Darstellung bei Stehr (1991: 20ff.), der das mittlerweile vorherrschende »skeptische Selbstverständnis der Sozialwissenschaftler« (ebd., 22) historisiert. Von einigen Autoren wurde bereits sogar das ›Ende der Sozialwissenschaften‹ ausgerufen (Horgan 1997). 11 An dem Bild, das Bernhard Giesen (1976) bereits vor fast drei Jahrzehnten zeichnete, hat sich bis heute nichts grundlegend verändert. Im gleichen Jahr resümierte Richard J. Bernstein (in der englischen Originalausgabe) ebenfalls ein »totales Chaos«: »Es gibt [...] kaum einen oder überhaupt keinen Konsens über die allgemein anerkannten Resultate der Sozialwissenschaft, über die spezifischen Forschungsverfahren, über die wesentlichen Probleme oder auch über die aussichtsreichsten theoretischen Ansätze bei der Erforschung von Gesellschaft und Politik« (1979: 11). Einen sehr guten Überblick über die Hintergründe der Krisendiagnose in der Soziologie liefert Eisenstadt (1974, 1983).

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Perspektive gibt Thomas Luckmann. Er charakterisiert die jüngere Vergangenheit sowie die aktuelle Gegenwart als eine »desorientierte Epoche« 12 (1999a: 312). Aufschlussreich im Hinblick auf unsere Thematik ist dabei die Verknüpfung dieses Verdikts mit dem Befund der Absenz einer »allgemeinen und kritischen Theorie des Wissens« (1973: 144; 1980: 10). Vor diesem Hintergrund sprach Luckmann sogar von einem »kosmologischen Fiasko« (1999a) der Sozialwissenschaften. Seit mehreren Dekaden fordert er vehement die Wiederaufnahme der Suche nach einer »mathesis universalis« der Sozialwissenschaften (1980: 34). Luckmanns Diktum könnte sich der vorliegende Deutungsversuch zum Motto nehmen, denn wir teilen mit ihm die Auffassung, dass eine Neuorientierung und –Justierung der grundlagentheoretischen Gestalt der Soziologie nur über eine Selbstreflexion ihrer geistesgeschichtlichen und lebensweltlichen Ursprünge gewährleistet werden kann. Wir deuten die Feststellung, dass in den vergangenen Jahren in zunehmenden Maße Grundlagenreflexionen publiziert wurden, die teilweise schon in ihren Titeln den Anspruch der Aufklärung der ›Kritik der soziologischen Vernunft‹ tragen (vgl. Weiß 1993c; 2003; 2001; Wahl 2000; Morikawa 2001: VII; Nassehi 2006), als Ausweis für die Ak13 tualität der hier entfalteten Problematik. Autoren wie Kettler/Meja/Stehr haben angemerkt, dass die gegenwärtige »situation bears an uncanny resemblance to the problem constellation at the beginning of the present century« (1990: 1443). Konsultiert man die Experten unterschiedlicher Denkströmungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, so wird dieser Eindruck bestätigt. Ernst Wolfgang Orth (1994: 29) stellte etwa fest, dass die Orientierungskrise des 19. Jahrhunderts, welche den Rahmen für den Aufstieg der neukantianischen Bewegung abgab, auch in der Gegenwart fortbestehe. In Bezug auf den Historismus schlussfolgerte Gunter Scholtz, dass »die Geisteswissenschaften die Situation, die als Krise empfunden wurde, trotz der Gegenmaßnahmen noch kaum verlassen oder verändert (haben)« (1991: 150). Damit übereinstimmend kommentierte auch Herbert Schnädelbach: »Der Historismus ist dasjenige, dessen ›Überwindung‹ immer noch auf der Tagesordnung steht« (1999: 14 52). Mit der Anführung eines ganzen Katalogs gegenwärtig diskutierter sozialwissenschaftlicher Problemstellungen dokumentiert Oakes eindrück12 In ähnlichem Sinne spricht auch Lichtblau von einer »Irritation über das akademische Selbstverständnis der modernen Soziologie« (1994: 528). 13 Damit widersprechen wir vor einiger Zeit geäußerten Standpunkten, denen zufolge »Overcoming foundations has become the watchword and preoccupation of contemporary thought« (Winfield 1989: 1). Auch wenn heute wieder ein Interesse für Grundlageforschung aufzuflammen schein, soll hier dennoch kein vergangenes Pathos beschworen werden. Welz’, auf Husserl gemünzte, Feststellung gilt allgemein: »Verabschiedet ist heute der Versuch einer Letztbegründung des Wissens aus dem ›Geist‹. Es gibt keine Suche mehr. Wer dennoch sucht, kommt nie an« (1996: 98f.). 14 Ähnlich auch Oexle (1996: 93) und Brook (1991: 35).

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lich die Kontinuitätslinie zu Fragestellungen, welche die soziologischen Klassiker bereits umgetrieben haben. Dieser sei folglich auch zur Illustration der Themenstellungen, die in den weiteren Kapiteln angesprochen werden, im Ganzen wiedergegeben: »die Beziehung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften; das Zusammenspiel von theoretischen und außerwissenschaftlichen Interessen bei der Wahl der Erkenntnisziele; das problematische Verhältnis der Wissenschaft zu Werten, das sich in der Frage nach dem Status einer Wissenschaft widerspiegelt, die ihren Gegenstand als durch Wertbezug konstituiert begreift; die Diskussion darüber, ob die Sozialwissenschaften allgemeine und systematische Theorien anstreben sollten, sowie das damit eng verbundene Problem, ob man sie mit nomologischen Mitteln erfaßt; die Frage nach der soziologischen Relevanz einer Theorie des Handelns; das Spannungsverhältnis zwischen der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene einerseits und dem deutenden Verstehen von menschlichen Handlungen und kulturellen Schöpfungen andererseits; das Problem von sich wechselseitig ausschließenden begrifflichen Modellen und die Schwierigkeit, unabhängige Kriterien zu entwickeln, mit Hilfe derer über die jeweilige Geltung einzelner Positionen entschieden werden kann; die Auseinandersetzung um die Universalität und Notwendigkeit von solchen Rationalitätsstandards, wie sie sich im abendländischen Wissenschaftssystem herausgebildet haben; die Frage danach, ob die wissenschaftliche Rationalität eine privilegierte Stellung einnimmt oder ob wir es nicht vielmehr mit einer ganzen Reihe von aufeinander nicht rückführbaren und dennoch legitimen Rationalitätskriterien mit je eigenem Geltungsbereich zu tun haben« (1990: 11).

Trotzdem sich in den vergangenen fünfzehn Jahren insbesondere im Zuge der verschiedenen theoretischen ›Wenden‹ die Blickwinkel noch einmal verschoben haben dürften, bestärkt diese Auflistung unsere Grundansicht, dass die gegenwärtige Krise der Soziologie ohne Kenntnisnahme der Diskursformationen im Umkreis der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert weder verstanden, geschweige denn: gelöst werden kann. Es kann durchaus nicht davon ausgegangen werden, dass das 19. Jahrhundert philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich bereits vollends entschlüsselt wäre – im Gegenteil: ein Blick auf die jüngere Literatur bestätigt Köhnkes Eindruck, dass erst in der aktuellen Gegenwart »die Neubewertung der Wissenschaft der Jahrhundertwende in vollem Gang (ist)« (1996: 15 23). Die vorliegende Studie versteht sich im Sinne Rortys als »therapeutisch« (im Gegensatz zu »konstruktiv«) (1987: 17), womit gesagt sein will, dass es angesichts der Brisanz der im folgenden zu entfaltenden philosophischen Problemstellungen mehr als vermessen wäre, auch nur die Lö15 Siehe dazu auch Kühne-Bertram (1987: 14f.) und die dort angemerkte Literatur.

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sung eines einzigen beanspruchen zu wollen. Dem gegenüber geht es hier primär darum, problemgeschichtliche Linien und systematische Problemzusammenhänge zwischen zwei Disziplinen zu rekonstruieren, die heute nicht selten zwei verschiedenen ›Kulturen‹ (Lepenies 1985) zugerechnet werden. Nachstehend soll der Argumentationsgang der nachfolgenden Kapitel in nuce umrissen und dabei die jeweiligen Interpretationsziele vorgezeichnet werden. An zentraler Position fungiert ein Bezugsrahmen, der für fachbezogene Fragestellungen eher unüblich breit ist und dessen Erörterung aus diesem Grunde gesonderter Platz in der vorliegenden Arbeit gewidmet sein soll. Entsprechend beschäftigt sich der erste Teil mit der Explikation der Genese der ›Krise des Wissens‹, ihrer konkreten ideen- und sozialgeschichtlichen Hintergründe und ihrer unterschiedlichen Aspekte. Krisenphänomene wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts auf den unterschiedlichsten intellektuellen und gesellschaftspolitischen Kulturfeldern diagnostiziert. Von daher bedarf die hier im Vordergrund stehende ›Krise des Wissens‹ einer genaueren Eingrenzung und Konturierung. Der anschließende zweite Teil konzentriert sich auf eine besondere Manifestierung der ›Krise des Wissens‹, nämlich in der Form, wie sie sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in der philosophischen Reflexion ausgeprägt hat. Zu diesem Zweck sollen drei unterschiedliche philosophische Grundlegungsentwürfe aufgeführt und verglichen werden. Gemeinsam ist ihnen der Anspruch, eine originäre und allgemeingültige Lösung der Wissensproblematik dargeboten zu haben. Im Einzelnen werden die lebensphilosophische, neokantianische (Badischer Provenienz) und phänomenologische Grundlegungsaxiomatik vorgestellt, welche in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht sowohl in der Wahrnehmung der Zeitgenossenschaft als auch der Philosophiegeschichte von größtem Einfluss gewesen sind (vgl. Kusch 1995: 161). Es sei hier bereits zugestanden, dass man mit oberflächlichen Sammelbezeichnungen wie Lebensphilosophie, Neukantianismus oder Phänomenologie, wie sie hier nur zur allgemeinen Identifizierung herangezogen wurden, nicht weit kommt. Es wird von daher in der Rekonstruktion primär darum gehen, den systematischen Gehalt des jeweiligen Theoriegebäudes anhand der Untersuchung der zentralen Begrifflichkeiten und der charakteristischen Aufbaulogik der Theoriesystematik herauszustellen. Einer solchen synoptischen Übersicht können schließlich diejenigen zeitgenössischen, philosophischen Relevanzkriterien entnommen werden, die im Hinblick auf die Aufgabe der Einschätzung des philosophischen Gehalts der soziologischen Fundierungskonzeptionen orientierungsweisend sind. Es kann hier vorweggenommen werden, dass am Ende des zweiten Teils drei unterschiedliche theoriearchitektonische Spielarten einer Erneuerung der Philosophie differenziert werden: eine lebensphilo-

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sophisch-holistische, eine neukantianisch-dualistische und schließlich eine phänomenologisch-monistische Grundlegungsprogrammatik. Im dritten Teil der Studie sollen diese drei Alternativen gewissermaßen einem praktischen Test unterzogen werden, bei welchem es letztlich darum geht, das sozialwissenschaftliche Fundierungspotential der jeweili16 gen Ansätze zu ermitteln. Zu diesem Zweck wählen wir zunächst Simmel und Weber als vermeintliche Adepten einer neukantianisch-dualistischen Grundlegungsstrategie (Backhaus 1999: 68), Mannheim als Repräsentanten einer holistisch inspirierten Konzeption der Soziologie und schließlich mit Schütz den mutmaßlichen Begründer einer ›phänomenologischen Soziologie‹ (Grathoff). Zunächst ist es jedoch durchaus berechtigt, über die Frage zu streiten, inwiefern etwa Max Weber seine methodologischen ›Gelegenheitsarbeiten‹ (Tenbruck) als eine einheitlich-systematische ›Wissenschaftslehre‹ aufgefasst haben wollte. In der soziologischen Theorie firmierten sie mindestens so lange unter dieser Titulatur, bis Friedrich H. Tenbruck 1959 in einem wegweisenden Aufsatz auf die speziellen Entstehungshintergründe der ›Aufsätze zur Wissenschaftslehre‹ hinwies. Ebenso liegt der Zusammenhang von Simmels geschichtsphilosophischen Positionen mit einer allgemeinen Wissenstheorie zum einen und mit der Grundlagenproblematik der Sozialwissenschaften zum anderen keineswegs offen zutage. Aus diesen Gründen wird es eines der wichtigsten Interpretationsziele sein, zunächst die mehr oder weniger explizit geäußerte oder auch nur implizit enthaltene systematische Intention der soziologischen Autoren zu rekonstruieren. Im anschließenden Schritt wäre dann die besondere Zusammenhangslogik zwischen unterschiedlichen Untersuchungsgebieten bei diesen Autoren aufzusuchen. Unter Systematizität wird im Folgenden also nicht ausschließlich strenge philosophische Systematizität (etwa im Sinne 17 Kants) präjudiziert, sondern schon ein vergleichsweise loser Beziehungszusammenhang von verschiedenen theoretischen oder argumentationslogischen Einzelbausteinen, wie er etwa in Max Webers Kriterium der ›sinnhaften Adäquanz‹ (WuG: 5) zum Ausdruck kam. Entsprechend diesem Maßstab wäre bereits sinnlogisch miteinander verknüpften Theorieelementen ein systematischer Zusammenhang attribuierbar. Diese Differenzierung ist insofern von Belang, als eine der zentralen hermeneutischen 16 In diese Richtung weist auch ein von der Studiengruppe ›Philosophische Grundlagen der Wissenschaften‹ initiierter Reflexionsversuch (Marx 1987), bei welchem es darum ging, »Philosophische Grundbegriffsgestaltungen auszuprobieren, sie in der Auseinandersetzung mit den Einzelwissenschaften auf ihre sachliche Verwendbarkeit zu überprüfen und den Blick für zu kurzschlüssige Vereinfachungen zu schärfen« (Funke/Marx 1987: 9). Getestet werden hier hegelianische, neukantianische, phänomenologische und fundamentalontologische Grundlegungssysteme. 17 Hierzu wird im ersten problemgeschichtlichen Teil der Arbeit Näheres auszuführen sein.

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Direktiven interpretatorische Offenheit gebietet, die man sich durch ein stures Festhalten an einem restriktiven Begriff von Systematizität von vornherein verbauen würde. Ausgeschlossen würde dadurch etwa die Möglichkeit der Erfassung der systematischen Gründe, aus denen heraus etwa ein Georg Simmel auf strenge philosophische Systematizität gerade verzichten wollte. Ebenso würde man übersehen, dass Weber aus Gründen, die jenseits irgend welcher methodologischer oder gar philosophischer Problemlagen angesiedelt waren, und im wesentlichen mit dessen Sicht auf das ›So-und-nicht-anders-Gewordensein‹ der modernen okzidentalen Kultur in Beziehung standen, zu einer Neubestimmung der Fundierungsbasis der Wissenskonstitution angeregt wurde. Aus diesen beiden Exempeln leuchten bereits einige der grundlegenden Schwierigkeiten hervor, mit denen jeder Versuch der Bestimmung der Systematizität und Argumentationslogik von soziologischen Erkenntnis18 theorien konfrontiert ist. Diese an dieser Stelle im Einzelnen auszuführen, erscheint daher angebracht. Der Anspruch, in Simmels Denkentwicklung eine systematische Linie herauslesen zu wollen, sieht sich vermeintlich unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber gestellt. Simmel genießt bis heute den Ruf des unsystematischen Philosophen par excellence (Köhnke 1996: 14). Nicht nur seine unmittelbaren Zeitgenossen unterstellten ihm eine philosophische »Bodenlosigkeit« (Dilthey, Yorck, Windelband), die teilweise sogar auf seine 19 jüdische Abstammung zurückgeführt wurde , sondern auch noch in der Gegenwart bestreiten Autoren wie Coser (1965: 3) und Frisby (1981: 69, 101) die methodologisch-systematische Einheit seines Denkens. Erst in jüngster Zeit treten einige Autoren mit der Ambition auf den Plan, die 20 ›Einheit der Wissenschaftslehre Georg Simmels‹ nachzuweisen. Vor fast zehn Jahren hatte Michael Großheim die »Verortung seines Werks im Spannungsfeld von Soziologie und Philosophie« zu einer der zentralen »Aufgaben der nächsten Zeit« gezählt (1996: 11). Auf diese Forschungslücke reagiert die hier eingenommene Rekonstruktionsperspektive insofern, als es ihr primär darauf ankommt, jenen roten Faden zu rekonstruieren, der sich durch Simmels außerordentlich vielseitige Denkaktivitäten und Beschäftigungsfelder hindurch zieht und dessen Absenz man allgemein beklagt. Um zum wissenssystematischen Kern in Simmels Gedankenarbeit vorzustoßen, von welchem her sich das Themenspektrum seines 18 Mit dieser Wende meine ich keine soziale Epistemologie im Sinne Fullers (1988), sondern beziehe mich allgemein auf die erkenntnistheoretischen Arbeiten von soziologischen Klassikern in Abgrenzung zu den Konzepten von Fachphilosophen. Die sich hier aufdrängende Frage nach dem jeweiligen Selbstverständnis der hier als Soziologen aufgeführten Autoren wird in den jeweiligen Kapiteln des dritten Teils der Arbeit diskutiert. 19 Siehe dazu die maßgeblichen Studien von Köhnke (1995; 1996: 116ff.). 20 Die Paraphrase des programmatischen Titels der klassischen Weber-Studie Dieter Henrichs (1952) sei an dieser Stelle gestattet.

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Werks entfalten lässt, empfiehlt es sich – seiner Fragment gebliebenen autobiographischen Skizze folgend –, Simmels Anknüpfung an Kant zu be21 leuchten. Darin wird sich nicht nur offenbaren, dass Simmel eine eigenständige Position gegenüber Kant entwickelte, die unabhängig von allen kursierenden Varianten eines Neukantianismus zu erachten ist, sondern auch, dass er noch vor Wilhelm Windelband, dem Begründer der Badischen Schule des Neokantianismus, einen auf kantianischen Prinzipien 22 fundierten Versuch einer »Kritik der historischen Vernunft« entworfen hatte. In der Analyse dieser frühen Konzeption werden wir herausstellen, dass Simmels äußerlich kantianische Wissenssystematik spätestens nach der Abfassung der ›Großen Soziologie‹ (GSG 11) immer mehr durch lebensphilosophisch-pragmatistisch inspirierte Denkfiguren unterfüttert und getragen wurde. Gerade die Erforschung der ›soziologischen Apriori‹ brachte Simmel zu der Einsicht, dass eine strenge dualistische Differenzierung zwischen den ›Formen der Vergesellschaftung‹ einerseits und ihrem ›fundierenden Material‹ andererseits nicht weiter aufrecht zu erhalten war. Simmels Wissenschaftsverständnis, so können wir vorerst resümieren, konstituiert sich somit aus (zwei) philosophisch disparaten Quellen, deren Spannungsverhältnis charakteristisch für alle Schaffensphasen des Autors bleiben wird. In methodologischer Hinsicht formulierte Simmel auf dieser Basis ein relationistisches Wissenschaftsmodell, das in mehreren gewichtigen Punkten zu der von den vorherrschenden philosophischen Hauptströmungen eingeforderten Form der Wissensbegründung in Kontrast stand. In gewisser Hinsicht liegt im Falle Webers eine gegensätzliche Problemkonstellation als bei Simmel vor. Denn während man in Bezug auf Letzteren erst in jüngster Zeit auf die Homogenität seines Denkens aufmerksam zu machen beginnt, ist man in der Weber-Interpretation mittlerweile schon länger dabei, die von Henrich bereits 1952 postulierte ›Einheit 23 der Wissenschaftslehre Max Webers‹ zu dekonstruieren. Tenbrucks maßgeblicher Aufsatz zur ›Genesis der Methodologie Max Webers‹ (1959b) hatte an dieser Entwicklung maßgeblichen Anteil. Darin wies er auf die Entstehungshintergründe der einzelnen ›Auftragsarbeiten‹ hin, die 21 Eine ähnliche Empfehlung ist aus Ziemanns (2000: 21) Ausführungen ableitbar. 22 Dieser Formel bediente sich der junge Dilthey in Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1860 (Misch 1933: 120) – also 23 Jahre (!) vor der Veröffentlichung des ersten Bandes der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ – zur Kenzeichnung des Desiderats einer allgemeinen Theorie des geisteswissenschaftlichen Wissens. Noch in seinem Spätwerk sprach er von einer solchen ›Kritik‹ (GS VII: 191). 23 Das Verdienst, die erste systematische Interpretation der Weberschen Wissenschaftslehre gegeben zu haben, gebührt allerdings zweifellos Alexander von Schelting (1934), dessen Hauptwerk noch heute zu den maßgeblichen Arbeiten der Weber-Forschung zu zählen ist.

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gegen Webers Willen zu einer ›Wissenschaftslehre‹ hypostasiert worden seien. Die angedeutete Diskrepanz in der Deutung von Max Webers wissenschaftstheoretischen Beiträgen durchzieht auch noch die gegenwärtigen 24 Debatten um die Einschätzung von Webers methodologischer Autorität. Vorwiegend jüngere Interpreten verabschieden sich von dem jahrzehntelang verfolgten Projekt, nach einem vermeintlichen Zentrum in Webers Denken zu suchen, von welchem aus schließlich Webers Gesamtwerk zu erschließen sei (vgl. Endreß 1990: 11; Wagner/Zipprian 1994: 24f.; Lichtblau 2000: 128). Stattdessen zeigt sich zunehmend die Tendenz, die Interrelationen zwischen Webers methodologischen, ethischen, politischen und soziologischen Schriften zu erkunden, anstatt wie bislang von einem dieser Erkenntnisbereiche ausgehend die anderen zu erschließen (vgl. Zingerle 1989: 380f.; Scaff 1989: 7ff.). Die Gründe, weshalb sich Weber mit Sachfragen einer ›kulturwissenschaftlichen Logik‹ (GAWL: 215) zu befassen begann, müssen auf anderem Terrain gesucht werden als in der ›Wissenschaftslehre‹ allein. Unsere Suchrichtung nimmt einen Hinweis Sam Whimsters auf, welcher besagt, »daß Webers methodologische Schriften sämtlich auf seinen Aufsatz ›Wissenschaft als Beruf‹ hinführen« (1988: 382). In seinem berühmten Vortrag deutete Weber – eher implizit als explizit – auf einige Verbindungslinien zwischen seinen theoretischen und materialen Arbeiten hin, die im Hinblick auf die Exploration der wissenstheoretischen Grundintention seines Schaffens von Gewicht sind. Das ›Problem des Wissens‹, so dürfen wir vorausgreifen, konstituierte sich für Weber weniger aus wissenschaftsimmanenten Problemlagen heraus, sondern aus einer eigentümlichen Sichtweise auf die Entwicklung der okzidentalen Moderne. In ›Wissenschaft als Beruf‹ entwarf er eine Skizze eines über zwei Jahrtausende umfassenden Prozesses der ›Intellektualisierung‹ und ›Rationalisierung‹ der Welt, dessen genealogische Aufklärung wohl mit einigem Recht als das Hauptinteresse des Weberschen Denkens angesehen werden darf. Diese Entwicklung habe Weber zufolge nicht nur zur ›Entzauberung der Welt‹, sondern auch zur Entfremdung des modernen Menschen von seiner lebenspraktischen Umwelt geführt. Vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung sich widerstreitender ›Wertsphären‹ und ›Lebensordnungen‹ seit der Aufklärung, mussten die Ausgangspunkte der Wissenskonstitution auf neue Grundlagen gestellt werden. Als diejenige Wissensquelle, die Weber als einzig mögliche Quelle der Rationalität unter den Bedingungen der Moderne ansah, erwies sich das ›Individuum‹. Nicht nur im Rahmen seiner Ethik, sondern auch in der Begründung einer ›verstehenden Soziologie‹, die den ›subjektiv gemeinten Sinn‹ individueller Akteure zum Aus24 Hier sei stellvertretend auf die Beiträge hingewiesen, die im Berliner Journal für Soziologie anlässlich des 100jährigen Jubiläums des Erscheinens von Webers ›Objektivitätsaufsatz‹, versammelt wurden (2004). Einen Gesamtüberblick geben Wagner/Zipprian (1994: 11ff.).

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gangspunkt nimmt, galt ihm ausschließlich das individuelle Subjekt als ›Träger von Sinn‹. Inwiefern sich auch in Webers ›Wissenschaftslehre‹ und insbesondere in der Idealtypenlehre die von Tenbruck behauptete »Subjektivierung der Kulturwissenschaften« (1959b: 618) manifestierte, wird sorgfältig zu überprüfen sein. Neben der Auszeichnung des individuellen Subjekts als Zentrum der Wissenskonstitution, ist in Webers Methodologie noch eine zweite Grundtendenz zu bemerken, die im Hinblick auf die Abgrenzung gegenüber der zeitgenössischen systematischen Philosophie im Allgemeinen und dem Neukantianismus im Besonderen von Gewicht ist. Ähnlich wie Simmel rekurrierte auch Weber zur Fundierung der ›verstehenden Soziologie‹ auf hermeneutische Argumentationsfiguren und brachte sich damit zugleich in Distanz zu seinem vermeintlichen Gewährsmann Rickert. Gegenüber dem notorisch repetierten Vorurteil, dass Webers »theory is practically identical with that of Rickert« (Burger 1976: xii), soll die Eigenständigkeit von Webers Wissenschaftsverständnis herausgestellt werden. Anders als bei Simmel und Weber war die Frage nach der Systematizität, die sich hinter Karl Mannheims Formulierung der ›Soziologie des Wissens‹ verbarg, lediglich eine Frage für Spezialisten und nicht von all25 gemeinem Interesse. Sein Status als soziologischer Klassiker verdankt sich im Grunde ausschließlich dessen wissenssoziologischen Einzelstudien. Die sozialwissenschaftliche Rezeptionsgeschichte der Wissenssoziologie wurde für lange Zeit überschattet von der Debatte um das Verhältnis der Mannheimschen Soziologie des Wissens zur (marxistischen) Ideologiekritik (vgl. Meja/Stehr 1982a: 13ff.). Durch diese Fokussierung geriet das ursprüngliche Anliegen, von welchem der Philosoph Mannheim ausgegangen war, in den Hintergrund. Erst seit der Veröffentlichung zweier wichtiger Manuskripte (SdD), aus welchen der Übergang von Mannheims philosophisch orientierten Frühschriften zur Soziologie des Wissens ersichtlich wird, lässt sich die ursprüngliche grundlagentheoretische Programmatik Mannheims rekonstruieren. Die beiden Arbeiten belegen eindrücklich, dass der ›junge‹ Mannheim von der ›Krise des Wissens‹ unmittelbar betroffen war. Nicht eine ›Kritik der historischen Vernunft‹ nach dem Vorbild Diltheys, doch immerhin ein »Novum Organon der Geisteswissenschaften« (SdD: 164) in Anknüpfung an Bacons Opus Magnum war das Fernziel, an welches er sein Philosophieren ausrichtete. Er entwickelte diese Konzeption programmatisch in Abgrenzung gegenüber allen idealistischen, d.h. an Kant orientierten, Lösungsversuchen, denen er mangelnde philosophische Radikalität vorhielt. Sie scheiterten seiner Ansicht nach allesamt an der Aufgabe, die der ›jun-

25 Herausragend unter den Rekonstruktionsversuchen der Gesamtentwicklung Mannheims sind die Studien von Kettler/Meja/Stehr (1984; 1989), Loader (1985) und Woldring (1986).

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ge‹ Mannheim für unhintergehbar hielt, nämlich die systematische Aufarbeitung der »alltäglichen bzw. ›allgemeinen Welterfahrung‹« (ebd., 150). Allerdings entdeckte er in Wilhelm Dilthey denjenigen Philosophen, in dessen Arbeiten er einen »kongenialeren philosophischen Boden« (ebd., 178) fand, von dem aus die Grundlegungsprobleme mit größerer Erfolgssaussicht angegangen werden konnten. Er übertrug schließlich einige der zentralen, von Dilthey in die Wissenschaftstheorie eingeführten, lebensphilosophischen Denkfiguren auf eine explizit kulturwissenschaftliche Verstehenstheorie bzw. eine ›Theorie des konjunktiven Erkennens‹. Eines der Hauptanliegen unserer Rekonstruktion wird sein, die bestehenden theoretischen Verknüpfungen und Zusammenhänge zwischen der Wissenssoziologie auf der einen Seite und seiner frühen, unpubliziert gebliebenen »dynamisch-historischen Lebensphilosophie« (Kettler/Meja/ Stehr 1980: 19) auf der anderen, zu extrahieren. Die Komplexität dieser Aufgabe ergibt sich daraus, dass die von Mannheim unmittelbar nach der Abfassung der lebensphilosophisch inspirierten Arbeiten entwickelte ›Lehre von der Seinsgebundenheit des Wissens‹ auf eine vollkommen neue Terminologie und Argumentationsstrategie gesetzt hatte, so dass der originelle entstehungsgeschichtliche Ideenhintergrund der Wissenssoziologie verschüttet gehen konnte. Gleichwohl stützen mehrere Indikatoren den Eindruck, dass auch die Soziologie des Wissens von Beginn an ein hermeneutisches Unternehmen war und die Diskussion um die vermeintlich marxistischen Wurzeln der Wissenssoziologie von ihrem ursprünglichen systematischen Anliegen wegführt. Damit begeben wir uns in eine Gegenposition zu der heute weit verbreiteten Tendenz, die philosophischen Implikationen, welche die Wissenssoziologie transportiert hatte und die wohl letztlich auch der Hauptauslöser des ›Streits um die Wissenssoziologie‹ darstellten, von der Wissenssoziologie als empirischer Forschungsmethode 26 abzutrennen. Entgegen dieser Deutungsrichtung soll gezeigt werden, dass die Soziologie des Wissens von Karl Mannheim das konsequente Ergebnis eines philosophischen Reflexionsprozesses darstellt, welcher seinen Ausgangspunkt von der ›Krise des Wissens‹ nahm. Aus wiederum einer anderen Konstellation heraus als in den vorgenannten Fällen, treten einem systematisierenden Interpretationsanliegen mit Bezug auf Alfred Schütz’ Sozialphänomenologie besondere Hindernisse entgegen. Zunächst ist es keineswegs einfach zu entscheiden, ob in dessen Neukonzipierung der ›verstehenden Soziologie‹ im ›Sinnhaften Aufbau‹ (ASW II) oder in der geplanten, jedoch nicht ausgeführten protosoziologischen ›Theorie der Lebenswelt‹ das soziologische Hauptvermächtnis des Autors zu sehen ist. Von größerem systematischem Gewicht 26 In dieser Hinsicht wirkten im angelsächsischen Sprachraum die einflussreiche Interpretation Robert K. Mertons (1969: 495) und im deutschsprachigem Wissenschaftsraum vor allem Berger/Luckmanns ›Theorie der Wissenssoziologie‹ (1992: 15).

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ist jedoch die Frage, auf welchem philosophischen Boden Schütz die Soziologie errichten wollte. In dieser Frage stehen sich zwei antagonistische Interpretationsrichtungen gegenüber. Auf der einen Seite wird fest behauptet, dass Schütz’ Übertragung der Husserlschen Transzendentalphänomenologie in eine »phänomenologische Soziologie« (Psathas 1973; Grathoff 1995) letztlich noch innerhalb des von Husserl vorgegebenen Theorierahmens verbleibt (Grathoff 1978: 76). Die Gegenposition behauptet dagegen, dass Schütz’ Mundanisierung transzendentalphilosophischer Grundbegriffe theoretische Folgen evoziert hat, die mit Husserls Grundintention inkompatibel sind (Kockelmans 1979: 38; Welz 1996: 171). Autoren wie Luckmann (1980b: 9), Srubar (1988: 279) und Soeffner (1999a: 35) haben in den vergangenen Jahren auf den anthropologischen und pragmatischen Unterbau der Schützschen Sozialphänomenologie hingewiesen und damit die Distanz zu Husserls Transzendentalphänomenologie mindestens implizite bestätigt. Vor diesem Hintergrund wird das besondere Augenmerk darauf gerichtet werden müssen, inwiefern sich mit Schütz’ Ontologisierung von Husserls transzendentalphilosophischen Konzepten – wie zum Beispiel Husserls ›einsames Ego‹ oder auch die ›Lebenswelt‹ – und deren Transplantation in einen pragmatistisch gedüngten Boden die ursprüngliche Bedeutung der phänomenologischen Begriffe modifiziert. Ist dies der Fall, müsste geklärt werden, auf welchen axiomatischen Fundamenten Schütz sein Theoriegebäude schließlich in Wirklichkeit, unabhängig von seinen eigenen Auszeichnungen, errichtet hatte. Die in den entsprechenden Kapiteln eingehender zu begründende Hypothese behauptet, dass im Laufe von Schütz’ Denkentwicklung die lebenspragmatischen Motive auf Kosten der transzendentalphänomenologischen immer mehr an Gewicht gewinnen, wie sich insbesondere anhand der Intersubjektivitätsproblematik belegen lässt. Diese Entwicklung steigert sich weit genug, um die These zu stützen, dass Schütz’ protosoziologische Lebenswelttheorie nicht auf phänomenologischem, sondern lebensphilosophisch-pragmatischen Grund steht. Damit begegnen wir hier einem ähnlich hybriden Kompromissgebilde, wie wir es oben bereits für Simmel und Weber angedeutet hatten. An dieser Stelle soll bereits erwähnt werden, dass im Fall von Schütz’ Vermittlungsversuch von Transzendentalphilosophie und empirischer Sozialwissenschaft weniger Diltheys Ansatz als Inspirationsquelle für pragmatistische Denkmotive fungierte, als die lebensphilosophischen Ausführungen Bergsons und Schelers. In dem abschließenden Resümee werden die Einzelergebnisse des dritten Teils zu einem Gesamtbild über die ›soziologische Kritik der philosophischen Vernunft‹ synthetisiert und weiterführende Schlussfolgerungen aus diesen Ergebnisse gezogen.

Zur Methode : Be gründung einer ›s truk tura na l ytischen‹ Perspektive

Nachdem nunmehr die Objektseite unseres Vorhabens beleuchtet wurde, sollen im Folgenden dessen interpretationstheoretische Richtlinien vorgestellt werden. Im Zentrum unserer Analyse stehen wissenschaftstheoretische Texte aus dem Umfeld der Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften vom Zeitraum des ausgehenden 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Spätestens seit der ›linguistischen Wende‹ in der Geschichtsschreibung darf sich auch der Forscher, der sich primär mit Texten auseinander setzt, nicht mehr auf die seinen Quellen vermeintlich schon inhärente ›Ob1 jektivität‹ verlassen. Das Problem, mit welchem insbesondere Michel Foucault die Historiker konfrontiert hat, lässt sich genauer als »Vertextungsproblem« (Baßler 1995: 11) bezeichnen. Dahinter steckt die Frage: »Wie verknüpfe ich die Fakten zu einem legitimen Zusammenhang, der sie erst zu ›historischen‹ Fakten macht?« (ebd.) Die methodologischen Grundsätze, an die sich die folgende Rekonstruktion orientiert, sollen daher an dieser Stelle dargelegt und begründet werden. ›Rekonstruktion‹ als Interpretationsverfahren lässt sich zunächst unter Berufung auf den Philosophiehistoriker Ulrich Claesges gegenüber der ›historisch-philologischen Exegese‹ abgrenzen. Er theoretisiert deren Differenz folgendermaßen: »Von der Exegese unterscheidet sich die Rekonstruktion zunächst dadurch, daß für sie der Text nicht sakrosankt, nicht letzter Maßstab ist. […] Eine Rekonstruktion übernimmt nicht einfach den Wahrheitsanspruch des Textes, sondern dient

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Einen prägnanten Überblick über die methodologisch-historiographischen Konsequenzen dieser Umgestaltung gibt Bödeker (2002).

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dazu, die Frage nach der Wahrheit des Gesagten allererst einer begründeten und begründbaren Entscheidung zuzuführen« (Claesges 1990: 197).

Claesges’ Unterscheidungskriterien paraphrasierend, könnte man zuspitzend formulieren, dass eine exegetische Deutung den Sinn ihrer Aussagen direkt aus den Textvorlagen bezieht, während eine Rekonstruktion aus dem Text, unter Zugrundelegung spezifischer Gesichtspunkte, zunächst ein allgemeines Ideenkonstrukt extrahiert, das nicht auf den philologischen Sinn der Einzelaussagen reduzierbar ist. Einzelaussagen eines Textes wären in einer ›rekonstruktiven‹ Perspektive also auf einen lediglich implizit im Text enthaltenen Kontext zu beziehen. Der Sinngehalt von einzelnen Theoriebausteinen und Argumenten wird hier im Vergleich zur Exegese nur mittelbar, sprich: über einen Kontext, erschlossen. Damit rückt die Frage nach der Bedeutung des Kontextes in den Vordergrund. Wenn nun schon nicht der Aussagegehalt der Texte selbst für ›objektiv‹ genommen werden darf, so lässt sich die Frage präzisieren, verbürgt dann zumindest der Bezugskontext ein gewisses Maß an ›Objektivität‹? Diese Frage möchten wir sogleich mit dem Hinweis darauf verneinen, dass der für die folgende Rekonstruktion maßgebliche Interpretationskontext der ›Krise des Wissens‹ nicht als ein realgeschichtlich ›wahrer‹ Hintergrund betrachtet werden darf, sondern zunächst als eine vom Interpreten fingierte ›Konstruktion‹. Es kann folglich erst am Ende der Arbeit darüber befunden werden, ob die interpretatorische Entschlüsselung der Textquellen unter der Annahme eines vorherrschenden ›Krisenbewusstseins‹ erfolgreich war. Die hier gegebene Einschränkung ist insofern von Relevanz, als sogleich ausgeschlossen werden kann, dass wir auf den folgenden Seiten tatsächliche Beeinflussungs- und Wirkungsbeziehungen zwischen verschiedenen Autoren und Denkrichtungen nachweisen wollten. Ein solcher Anspruch würde schon am Zitationsverhalten unserer Hauptdarsteller scheitern. Den geltungstheoretischen Status der nachstehenden Schlussfolgerungen könnte man daher am besten mit dem von Max Weber (unter Rekurs auf Johannes von Kries) eingeführten Begriff der ›objektiven Möglichkeit‹ umschreiben. Insofern wir nur eingeschränkt Aussagen über tatsächliche Wirkzusammenhänge tätigen, wäre das Anliegen der Arbeit eher als ein systematisches denn als ein historisches charakterisierbar. Das Untersuchungsdesign der vorliegenden Studie lässt sich ferner in den Begriffen der Diskursanalyse konkretisieren. Einer von Foucault inspirierten Diskursanalyse geht es in erster Linie darum, »das historische ›Apriori‹ von Texten, d.h. die Bedingung der Möglichkeit ihrer Sinnproduktion, ihre Poetik (Paul de Man), über die Analyse von diskursiven und interdiskursiven Formationen näher zu bestimmen« (Fohrmann/Müller 1988: 17). Jene Möglichkeitsbedingungen von Texten werden dabei weniger in biographischen und sozialgeschichtlichen Hintergründen gesehen als in unterschwelligen, abstrakten Formationsregeln und Generierungs-

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mechanismen, auf deren Enthüllung es dieser Forschungsrichtung gerade ankommt. Innerhalb solcher Diskurse erhalten ›Aussagen‹ im Sinne Foucaults ihren ›Sinn‹ über ihre spezifische Funktion innerhalb des Diskurses und nicht etwa aus einem Bezug zu subjektiven Lebensbedingungen oder gar abstrakten Sinngebilden wie beispielsweise Weltanschauungen, Ideologien oder ›Kollektivsingularen‹ (Koselleck). In folgenden Aspekten sind die interpretationstheoretischen Leitideen der vorliegenden Rekonstruktion an Foucaults Diskursmodell angelehnt: (1) Zunächst soll es nicht darum gehen, die eigentliche Intention der Autoren herauszustellen. Sie setzt sich vielmehr zum Ziel, jene wissenstheoretischen Grundslegungsaxiomatiken zu eruieren, die insbesondere im Falle der Begründer der Sozialwissenschaften häufig sogar jenseits ihres schriftlich manifestierten Anspruchs lagen. Wir gehen folglich von der metatheoretischen Annahme aus, dass wissenschaftliche Theorien, oder wie Simmel allgemeiner ausdrückte: »ideelle Objektivitäten« (GSG 9: 285), prinzipiell einen objektiven Sinngehalt tragen, der unabhängig vom 2 ›gemeinten Sinn‹ (Weber) ihrer Urheber gedeutet werden kann und muss. Als philosophischen Gewährsmann einer solchen Theorieauffassung können wir Quine heranziehen, für den wissenschaftliche Theorien mit einem »von Menschen geflochtenen Netz« vergleichbar sind, »das nur an seinen 3 Rändern mit der Erfahrung in Berührung steht« (1979: 47). (2) In Kontrast zu externalistischen Deutungsansätzen wie etwa den 4 unterschiedlichen wissenssoziologischen Schulrichtungen , der Bourdieuschen Praxeologie oder der Historischen Sozialwissenschaft (Bielefelder Schule) werden wir die theoretischen Sinngehalte nicht auf außertheoretische Konstitutionsbedingungen zurück beziehen. Stattdessen soll gezeigt werden, auf welche Weise das ›Problem des Wissens‹ bei allen behandelten Autoren im Sinne eines »historischen Apriori« (Foucault 1997: 184) wirkmächtig war und dass es sich bei diesem um das diskursformative und -strukturierende Formationsmoment handelt. Der im anschließenden Kapitel genauer auszuzeichnende problemgeschichtliche Zusammenhang war für die Wissenschaftlergenerationen der Jahrhundertwende so selbstverständlich, dass er in vielen Publikationen nicht mehr eigens der Explikati2

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Dass selbst in der Philosophie kein Konsens über die grundlegenden Werkzeuge des Wissenschaftlers besteht, hat die hilfreiche Zusammenstellung von Zima (2004) jüngst wieder eindrücklich belegt. Siehe dazu insbesondere das Vorwort (ebd., ixff.). Damit soll natürlich nicht einem Neoplatonismus das Wort geredet werden, demgemäß das ›Reich der Ideen‹ realer sei als das ›Reich der Erfahrung‹. Hier wären etwa die ›Merton-Schule‹ (Merton 1974; Breithecker-Amend 1992), die verschiedenen Spielarten eines ›Strong Programme‹ (Bloor 1976; 1981; Woolgar 1988; Fuchs 1992; Kusch 2000; Alexander/Smith 2003), Randall Collins’ Ansatz eines empirischen Relativismus (1998), und die ›hermeneutische Wissenssoziologie‹ (Soeffner 1999a; 2004b) zu unterscheiden.

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on für nötig befunden wurde. Insofern zeichnet sich der Bezugskontext unserer Rekonstruktion gerade durch eine gewisse Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit aus. Er bewegt sich im wahrsten Sinne des Wortes zumeist ›zwischen den Zeilen‹. Dessen formative Wirkung kann entsprechend nur mittelbar über die Beobachtung der Anordnung von Themen, der Verwendung von bestimmten Argumenten und Denkfiguren, der impliziten Zitation anderer Autoren, des Gebrauchs allegorischer, metonymischer oder metaphorischer Wendungen und die Verwendung von so genannten »TitelWörtern« (Reichardt 2000) erschlossen werden. (3) Die postmoderne Geschichtstheorie (vgl. Sandl 2002) hat eine weitere geschichtsmethodologische Norm etabliert. Sie richtete sich dabei im Wesentlichen gegen dasjenige Geschichts- und Entwicklungsmodell, welches der ›traditionellen Ideengeschichte‹ (vgl. Bödeker 2002: 10) zugrunde lag. Diese Innovation geht nicht ausschließlich auf Foucault zurück, sondern wurde von Vertretern der ›französischen Epistemologie‹ (Bachelard, Canguilhem) sowie dem polnischen Mediziner Ludwik Fleck vorbereitet (vgl. Vogl 1997). Den genannten Autoren war eine kritische Haltung gegenüber der »Teleologie der erkennenden Vernunft« (ebd., 117) gemein, also einem linear-teleologischen Geschichtsverständnis, von dem Foucault die genealogische Geschichtsbetrachtung folgender Maßen abgrenzte: »Die Genealogie […] hat die Einmaligkeit der Ereignisse unter Verzicht auf eine monotone Finalität ausfindig zu machen; sie muß den Ereignissen dort auflauern, wo man sie am wenigsten erwartet und wo sie keine Geschichte zu haben scheinen – in den Gefühlen, der Liebe, dem Gewissen, den Instinkten« (1978: 83).

Aus dieser Programmatik folgt die Maßgabe, historische Zusammenhänge nicht nach aktuellen Relevanzkriterien zu ordnen bzw. ›von hinten‹ zu erzählen, sondern aus einer »Perspektive der Zeitgenossenschaft« (Köhnke 1993: 10). Die Befolgung dieser Regel verbietet es keineswegs, etwa auf rezeptionsgeschichtliche Bezüge einzugehen. Gemäß unserer oben ausgeführten Zielsetzung, soll es in den Beiträgen des dritten Teils der Untersuchung sogar explizit auch darum gehen, die Wirkungsgeschichte unterschiedlicher Ansätze mit dem sachlichen Gehalt der jeweiligen Systematiken zu kontrastieren. Dabei gilt es jedoch, auf die sorgfältige Trennung beider Interpretationsebenen penibel zu achten. Die soziologischen Klassiker werden im Weiteren also nicht als Klassiker gelesen, sondern stattdessen als Partizipienten eines bestimmten Diskurses, welcher um das epochale Problem der Wissenskonstitution unter den Bedingungen der Moderne etabliert wurde. Dies sei deutlich herausgestellt, um nochmals dem Eindruck entgegen zu wirken, dass hier ein exegetisches Ansinnen verfolgt wird. In gewissem Sinne werden die Gründerväter der Soziologie nicht einmal als Soziologen behandelt, da deren materialen Arbeiten nur geringe und den konzeptionellen Beiträgen umso

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größere Beachtung geschenkt wird. Dazu berechtigt zum einen die Begebenheit, dass sich von den betroffenen Autoren keiner primär als Soziologe wahrgenommen hatte. Darüber hinaus ist der Umstand ausschlaggebend, dass die Wissensproblematik keine Angelegenheit einzelner Disziplinen war, sondern über alle Fächergrenzen hinweg allgemein diskutiert wurde. Nicht nur die ›kognitive Identität‹ (Lepenies) der Soziologie, sondern auch die wissenschaftstheoretische Gestalt anderer Einzelfächer er5 hielten im Zuge dieser Auseinandersetzungen ihre moderne Prägung. In einer nicht unwesentlichen Hinsicht weicht das vorliegende Unterfangen von den Prämissen einer foucaultianischen Perspektive ab. Im Folgenden geht es nicht ausschließlich um die Bedingungen der Möglichkeit des Wissensdiskurses, sondern darüber hinaus, wie bereits erörtert, darum, problemgeschichtliche Verbindungslinien zwischen unterschiedlich ausgerichteten Autoren und Disziplinen zu ziehen. In diesem Sinne steht der Text durchaus noch im Zentrum des Bildes und wird nicht als Effekt von »Regelsystemen« (Foucault 1978: 95) an den Rand geschoben. Im Unterschied zu unserem Interesse will die ›Archäologie‹ kategorisch »keine Kontinuitätslinien ziehen« (ebd., 89). Unsere Neubetrachtung der erkenntnistheoretischen Entwürfe der Gründerväter der modernen Sozialwissenschaft soll nach systematischen Kriterien erfolgen. Während an Vergleichsstudien mittlerweile kein Man6 gel mehr herrscht , sind die Versuche einer systematisch-philosophischen Würdigung soziologischer Erkenntnistheorien, wie schon Wahlen bemäkelte, noch im Ansatz begriffen. Auch der vorliegende Deutungsvorschlag kann kaum mehr für sich beanspruchen, als bereits vorliegende Erkenntnisse zusammenzuführen und zu klassifizieren. Damit soll zugleich ausdrücklich gesagt sein, dass dem aktuellen Forschungsstand auf den jeweiligen Sachgebieten ganz dezidiert Rechnung getragen werden soll. Der Versuch einer ›Neuerfindung des Rads‹ wäre bei der Breite und Allgemeinheit der gegebenen Themenstellung nicht nur kontraproduktiv, sondern geradezu fatal. Die Vorarbeiten der jeweiligen Experten müssen allein aus arbeitstechnischen Gründen gezielt herangezogen werden. Auch auf die Gefahren hin, den Anmerkungsapparat dadurch über die Maßen aufzublähen und wenig originell zu erscheinen, soll hier dem ersten Gebot wissenschaftlicher Nachweisführung Priorität eingeräumt werden. Zum Abschluss unserer methodologischen Erklärungen sollen nun die erörterten Orientierungspunkte zu einem Gesamtkomplex komprimiert werden. Zu diesem Zweck können wir an eine methodologische Konzeption anschließen, die Karl Mannheim in seiner Dissertation über ›Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie‹ erstmalig entwickelt und angewendet 5 6

Dies kann u.a. für Germanistik, Sprachwissenschaft, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Anthropologie behauptet werden. Die maßgeblichen Arbeiten werden in den jeweiligen Einzeluntersuchungen behandelt.

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hat. Die wesentlichen Ausgangspunkte dieser ›Strukturanalyse‹ seien aus diesem Grund expliziert. Mannheim deduzierte dieses Interpretationsverfahren aus neukantiani7 schen Quellen und operationalisierte es für eine Analyse der Methode der Philosophie, genauer der unterschiedlichern Formen der logischen Begründung (SAdE: 5f.), wobei er sich zunächst erstaunt darüber äußerte, »daß es bisher noch keine in concreto ausgeführte Logik der Philosophie gibt« (ebd., 7). Er unterschied zunächst die »Logik der Systematik« als gesonderten Interpretationsgesichtspunkt von der traditionellen Gepflogenheit, unter alleiniger Zugrundelegung der »Logik des Urteils« (Rickert, Husserl) oder der »Logik des Begriffs« (Hegel) philosophische Denkgehalte zu entschlüsseln (ebd., 8). Als Begründung für seine abweichende Forderung brachte der ›junge‹ Mannheim das Argument an, »daß mit einem jeden Begriff implicite, als dessen unausgesprochene und zumeist auch gar nicht ins reflektierende Bewußtsein gehobene Voraussetzung, gewisse Zusammenhänge, gewisse über den scheinbar isoliert gesetzten Begriff hinausragende Totalitäten mitgesetzt sind, [...] (es) läßt sich zeigen, daß der Sinn des einzelnen Begriffes im ganzen Zusammenhang verankert ist« (ebd., 8f.).

Die für unseren Zusammenhang ausschlaggebende Einsicht Mannheims ist hier darin zu sehen, dass Begriffe ihren Sinn aus dem theoretischen Zusammenhang, in den sie verwebt sind, beziehen. Diese Erkenntnis spielt insofern eine entscheidende Rolle, als sich in den methodologischen Arbeiten Simmels, Webers, Mannheims und Schütz’ regelmäßig konzeptionelle und terminologische Anleihen bei ihren vermeintlichen philosophischen Gewährsmännern auffinden lassen. Nicht wenige Interpreten sind in die Falle getappt, bereits aus Begriffsübernahmen auf eine systematische Abhängigkeit zu schließen. Eine strukturanalytisch angeleitete Beobachtungsperspektive richtet dagegen ihren Blick aufmerksam auf den jeweiligen Theorierahmen, in welchen die philosophischen Konzepte jeweils transplantiert wurden. Sie legt also stets nur theorieimmanente Beurteilungskriterien zur Evaluation einzelner Begriffe an und entgeht dadurch der Gefahr vorschneller Rückschlüsse auf vermeintliche Abhängigkeitsbeziehungen. Mannheim ging weiter von der Grundannahme aus, dass ›Systematisierung‹ eine »unumgängliche Form des Denkens ist«, was sich darin niederschlage, dass sie auch »jene mitmachen (müssen), die ›aus Prinzip‹ sich gegen jedes System wehren und absichtlich ›unsystematisch‹ denken möchten« (ebd., 17). Ein Denksystem ist in dieser Perspektive nur unter Kenntnisnahme der »logischen Struktur der Systematisierung« (ebd., 18)

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Insbesondere aus Emil Lasks ›Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre‹ (1911).

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bzw. des ihm zugrunde liegenden »Systematisierungswillen(s)« (ebd., 7) zu verstehen. Auch die ›Architektonik‹ eines Denkgebildes stellt gegenüber Letzterem nur »ein völlig sekundäres Gebilde, ein bloßes ›Darstellungsmittel‹« (ebd., 19) dar. In der Anwendung dieses Betrachtungsstandpunkts auf den Gegenstand ›Erkenntnistheorie‹ fand Mannheim die Bestätigung, dass die Unterschiede zwischen Systemen aufgrund der ihnen jeweils zugrunde liegenden »Ursystematisierungen« zustande kamen. In den zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Ansätzen notierte er drei solcher »Ursystematisierungen: Ontologie, Logik und Psychologie« (ebd., 76), aus denen er schließlich drei unterschiedliche Typen der Erkenntnistheorie de8 duzierte. Nach dem Vorbild, wie Mannheim durch die fokussierte Blickrichtung auf die den diversen Erkenntnistheorien zugrunde liegenden Grundstrukturen zu einer Klassifikation unterschiedlicher Systematisierungstypen kam, soll es im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung darum gehen, die systematischen Unterschiede zwischen den Varianten einer Lösung der ›Krise des Wissens‹ zu identifizieren. Eine offenbar unabhängig von Mannheims Ausgangsmodell entwickelte Strukturanalytik hat Frank Welz zwecks Bestimmung des »Denktypus der phänomenologischen Theorie« (1996: 15, 17) – nach unserer Einschätzung gewinnbringend – zur Anwendung gebracht. Welz’ Beschreibung dieser Methode ist nicht nur weitgehend kompatibel mit derjenigen Mannheims, sondern eignet sich auch in hervorragendem Maße zur Illustration ihrer Zweckmäßigkeit im Hinblick auf die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung, denn: »Schließlich zielt sie auf den kognitiven Kern differenziert ausgeformter Theoriekonstruktionen« (ebd., 179). In der von Welz eingesetzten Variante kommt es der Strukturanalyse darauf an, die einem Begriff oder Theorem »zugrundeliegenden Denkformen hervorzukehren« (ebd.,) und »die Organisationsstrukturen der untersuchten Ansätze einsich9 tig zu machen« (ebd., 181). Im Ergebnis konnte Welz schlüssig aufzeigen, dass Schütz’ Applikation Husserlscher Grundkonzepte mit dem Ziel, eine ›Phänomenologie der Sozialwelt‹ zu begründen, in systematischer Hinsicht zu einem Resultat führte, das Schütz’ eigenem Anspruch als auch der allgemeinen Einschätzung der Schütz-Interpretation diametral entgegenstand. Denn die Übertragung transzendentalphilosophischer Kategorien auf ›mundanen‹ Boden führte in unlösbare Aporien, sodass Welz resümieren musste, dass Schütz’ epistemologische Position keinesfalls als phäno10 menologisch ausgewiesen werden könne. Dieses Beispiel belegt die 8 9

Siehe dazu eingehender das Kapitel zu Mannheim. Befremdend ist allerdings, dass Welz in einigen Formulierungen die Strukturanalyse schon mit einer wissenssoziologischen Perspektive gleichsetzt (1996: 18, 28, 181, 199). Der Verweis darauf, dass »das wissenssoziologische Verfahren seinen Gegenstand im Prozeß der Geistesgeschichte analysiert« (ebd., 28), dürfte als Qualifikation kaum hinreichen. 10 Siehe hierzu ausführlicher das Kapitel zu Schütz.

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Fruchtbarkeit einer strukturanalytischen Perspektive, die dadurch gewährleistet ist, dass sie sich weder an Intentionen und expliziten Bekundungen der Autoren orientiert, sondern ausschließlich systematische Gründe für ihre Konklusionen gelten lässt. Nach ähnlichem Muster soll im dritten Teil der Studie die Übernahme neukantianischer und lebensphilosophischer Argumentationsfiguren bei Simmel, Weber und Mannheim ausgelotet werden.

Teil I: Zur Problem- und Sozialgeschichte der ›Krisis des Wissens‹

Zur ›Krise des Wissens ‹: Ge ne alogie, Ursac he n, As pe kte

Bei dem Begriff der ›Krisis‹ handelt es sich um einen abstrakten Topos, dessen allgemeine Verbreitung nicht nur in den wissenschaftstheoretischen Debatten seit der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist (vgl. Drehsen/Sparn 1996), sondern, wie im Folgenden erörtert werden soll, um einen »Begriff« im Sinne der von Reinhart Koselleck konzipierten ›Begriffsgeschichte‹. Koselleck bestimmt die genuine Leistung von ›Begriffen‹ folgendermaßen: »Ein Begriff bündelt die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einen Zusammenhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahrbar wird« (2000: 120). Die in dieser Festlegung angedeutete Disposition von ›Begriffen‹ ist nach Koselleck nicht mit einer vermeintlichen semantischen Geschlossenheit erklärbar, sondern verdankt sich gerade der für ›Begriffe‹ typischen Mehrdeutigkeit und Abstraktheit. Erst eine bestimmte semantische Unschärfe ermögliche es ›Begriffen‹, über weltanschauliche, politische und sozialstrukturelle Grenzen hinaus auf einer weiteren Erfahrungsebene sinngenerierend zu wirken: »Sie müssen strittig bleiben, um diskursive Turbulenzen zu entfachen« (Bollenbeck 1994: 88). ›Begriffe‹ verweisen also in der Perspektive der historischen Semantik keineswegs nur auf theoretische und wissensgeschichtliche Aspekte ihrer Verwendung, sondern darüber hinaus auch auf gesellschaftlich relevante Dimensionen und vorwissenschaftliche kommu1 nikative Praktiken. Die nachfolgende problemgeschichtlich ausgerichtete Synopse dient dem Zweck, die Hintergründe der Entwicklung der modernen Wissen1

»Sie handeln vorrangig von gesellschaftlicher Kommunikation, von allgemeinem Weltwissen und seiner Handlungsanbindung« (Bollenbeck 1994: 17).

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schaften seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert rekonstruieren (vgl. Šuber 2005). Dabei soll demonstriert werden, dass auch die Herausbildung der noch heute als zentral erachteten Institutionen und Disziplinen der Wissensbegründung nicht nur ihre moderne Prägung (erst) im 19. Jahrhundert erhalten haben, sondern ohne Bezugnahme auf eine spezifisch szientifische Form des Krisenbewusstseins überhaupt nicht angemessen bewertet werden können. Dass die Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen steckt, lässt sich als Generalerkenntnis aus Klaus Christian Köhnkes einschlägiger Studie über die ›Entstehung und Aufstieg des Neu2 kantianismus‹ (1993) resümieren. In historiographischer Detailarbeit belegt er den während des 19. Jahrhunderts stattgefundenen und bislang weitgehend undokumentiert gebliebenen Prozess der Abkehr der Wissenschaften von der spekulativen Geistphilosophie Hegels hin zur allmählichen Institutionalisierung wesentlicher Kernelemente einer modernen Wissenschaftsauffassung. In seiner Rekonstruktion zeichnet Köhnke ein neues Bild über die Genese und semantische Bedeutung von so zentralen Konzepten wie u.a. ›Erkenntnistheorie‹, ›Wissenschaftstheorie‹ ›Voraussetzungslosigkeit‹, welches im Hinblick auf das Verständnis der Ursachen der ›Krisis des Wissens‹ von hohem Aufschluss ist. Über Köhnkes Beitrag hinaus sind in den letzten Jahren weitere innovative Studien auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts vorgelegt worden, die der folgenden Skizze der historischen Semantik des ›Wissens‹ seit dem 17. Jahrhundert eine solide Fundierung geben. In vorliegenden Untersuchungen zu diversen Ausformungen eines Krisenbewusstseins im 19. Jahrhundert wird zumeist mehr eine dokumentarische als eine analytische Perspektive unterbreitet. Dies gilt tendenziell sogar für die einflussreiche Pionierstudie von Fritz K. Ringer, welche in breitester Ausführung diverse Manifestationen des Krisenbewusstseins auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilgebieten – Wissenschaft, Politik, Kultur, Bildung, Erziehung – belegt, ohne dabei jedoch auch den Ursachen systematisch nachzuspüren. Bezeichnenderweise findet sich an dem Punkt, an dem eine solche Erklärung anzusetzen hätte, bei Ringer lediglich folgender Hinweis: »ihrer Substanz nach entstand die Krise lange bevor sie formell als solche benannt wurde« (1987: 263). An der Korrektheit dieser Aussage ist nicht zu zweifeln, jedoch bleibt die angedeutete »Substanz« bei Ringer im Dunkeln. Sein chronologischer Blick geht über das Jahr 1890 nicht hinaus und begnügt sich stattdessen hinsichtlich der Erklärung des Ursprungs des Krisenbewusstseins mit einer Wiederholung eines bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert etablierten und bis in die Gegenwart tradierten »Geschichtsmythos« (Köhnke 1993: 59), welchem zufolge dem Ende des Hegelianismus, der spätestens seit den 1830er Jahren 2

Vgl. auch Lessing (1988: 271).

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heftigsten Attacken ausgeliefert wurde, in der Philosophie eine Phase der Ver(w)irrung und Orientierungslosigkeit gefolgt sei, die – in den Worten Ringers – schließlich »zu den Irrtümern des Materialismus, Positivismus und Psychologismus geführt habe« (1987: 264). Nicht nur Ringers Untersuchung, sondern auch Studien jüngeren Datums – exemplarisch Lichtblau (1996: 398) und Bambach (1995: 5) – beschränken sich bei der Erklärung der Ursachen der Wissenschaftskrisis der Jahrhundertwende auf den Zeitraum zwischen 1880 und 1890 und verbleiben damit ebenso an der Oberfläche. Diese Pauschalisierungen als solche zu entlarven und genealogisch zurückzuverfolgen, bildet das erklärte Ziel von Köhnkes Rekonstruktionsunternehmen. Dass auch ansonsten gut informierte Philosophiehistoriker sich zuweilen mit einem oberflächlichen Blick auf die Philosophie des Vormärzes begnügen, soll hier stellvertretend anhand einer Schilderung Gadamers bezeugt werden, in welcher er unter Berufung auf Rudolf Heym darlegt, »daß die Philosophie als Ganzes sozusagen bankrott ging und der Zusammenbruch der Hegelschen Weltherrschaft des Geistes nur eine Folge des Bankrottes der Philosophie überhaupt war« (1976: 36). Den hier geschilderten neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts gilt es Rechnung zu tragen. Zur Vorsicht vor der Übernahme von Allgemeinplätzen ist insbesondere auch in Bezug auf die Genealogie der Wissensproblematik in der spezifischen Konstellation, in der sie sich am Ende des 19. Jahrhunderts präsentierte, geboten, da man hier auf höchst unterschiedliche Deutungen trifft.

Krisis als »strukturelle Signatur der Neuzeit« Diese Formulierung des Begriffshistorikers Reinhart Koselleck (1982: 627, 629) soll eine markante Wendung im Gebrauch des Begriffs ›Krise‹ anzeigen, die sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an zeitgenössischen literarischen Quellen ablesen lässt. In diesem Zeitraum wird ›Krise‹ zum »Epochenbegriff« (ebd., 627), welcher als allgemeiner Ausdruck für die spezifische Zeitwahrnehmung fungieren konnte. Somit wird ›Krise‹ überhaupt erst im eigentlichen – genauer: im Koselleckschen Sinne – zu einem ›Begriff‹. Die Bezeichnung ›Krise‹ diente den Repräsentanten unterschiedlichster ideologischer und weltanschaulicher Richtungen im 19. Jahrhundert dem Zweck, eine bestimmte Situation, die auf eine Auflösung bzw. Entscheidung hindrängte, zu kennzeichnen: »Er konnte sowohl den langfristigen Wandel wie einmalige Zuspitzungen meinen, Endzeithoffnungen oder skeptische Befürchtungen zum Ausdruck bringen« (ebd., 635). Die angedeutete Ausweitung seines Gebrauchs führte letztlich zu einer Inflation des Krisenbegriffs, sodass Koselleck das 19. Jahrhundert zum »Zeitalter der Krise« (ebd.) schlechthin erklärte. In seinem Verlauf breitete sich ›Krise‹

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in zahlreichen Begriffsvariationen aus, wobei für den deutschsprachigen Raum von Bedeutung war, dass sich der semantische Gehalt des alltagssprachlichen Gebrauchs nicht in erster Linie an demjenigen auf dem Gebiet der Ökonomie – wie im Großteil des westlichen Europas – orientierte, sondern vielmehr an der politischen Verwendungsweise (ebd., 623). Bedauerlicherweise wird die ›Krise der Wissenschaft‹ in Kosellecks begriffsgeschichtlichen Analysen weitestgehend ausgeblendet und den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Aspekten nachgeordnet. Es bleibt daher die Aufgabe bestehen, den im Begriff des ›Wissens‹ kondensierten Zusammenhang von Wissenschaft, Alltagswahrnehmung und politisch-weltanschaulicher Bedeutung für das 19. Jahrhundert zu rekonstruieren. Koselleck selbst wies auf die Widrigkeiten eines solchen Unterfangens hin und erblickte in der semantischen Fülle, die einen ›Begriff‹ auszeichnet, eine der Hauptschwierigkeiten. Es sei kaum möglich, eine für einen bestimmten Zeitraum allgemein und über-subjektiv geltende Bestimmung ausfindig zu machen. Solche »gelebten Begriffe« (Fellman 1983: 20ff.) seien durch ihre Ambivalenz geradezu konstituiert (Koselleck: 1982: 649). Mit diesem Hinweis trifft sich schließlich auch Ringers Diagnose: »Es fällt schwer, diese Krise zu definieren oder zu beschreiben« (1987: 229). Der konkrete Grund liegt für ihn in der »Unklarheit« (ebd., 229, 233) der literarischen Primärquellen selbst. Um erste Anhaltspunkte ausfindig machen zu können, an denen sich das Problematischwerten des Wissens im 19. Jahrhundert markieren lässt, wenden wir uns zunächst derjenigen Wissensordnung zu, deren Legitimität im 19. Jahrhundert scheinbar unwiderruflich erschüttert wurde.

Der Wissensbegriff der Neuzeit Der Wissenschaftshistoriker Alwin Diemer (1968a: 3) erblickte im Zeitraum um 1800 den endgültigen Wendepunkt von einer ›klassischen‹ hin zu 3 einer ›modernen‹ Wissenschaftskonzeption. Er hat jedoch eine Vorgeschichte, die hier angerissen werden soll. Die sich im Zuge der Renaissance ereignende ›Revolutionierung des 4 Wissens‹ bildete die Geburtsstunde des klassischen Wissenschaftskonzepts und entfaltete sich in Abarbeitung und Erweiterung der Tradition der Wissensdefinition und -Klassifikation nach dem Aristotelischen Modell, welches die mittelalterliche Scholastik und der Humanismus tradiert hat-

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Vgl. dazu auch Mandelbaum (1976: 713). Erstmals wurde dieser Topos mit Bezug auf diesen Gegenstandsbereich von Alexandre Koyrée und Herbert Butterfield eingeführt (vgl. Shapin 1996: 1ff.).

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ten. Der Beginn der genuin ›modernen‹ Wissenschaft steht in Verbindung mit dem erstmaligen Auftreten der »erkenntnistheoretischen Situation« (von der Stein 1970: 105) und ist mit dem Namen Descartes verknüpft. Das Problem des Wissens erhielt hier einen ›erkenntnistheoretischen‹ Sinn zum einen dadurch, dass hier eine strikte Trennung zwischen ›Geist‹ (res cogitans) und materialer ›Welt‹ (res extensa) sowie zwischen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ eingeführt, zum anderen dadurch, dass »Wahrheit neu als Gewißheit« (Strub 1998: 829) verstanden wurde. Spätestens mit Kant wird dann die ›Erkenntnistheorie‹, wenn auch noch nicht exakt unter dieser terminologischen Etikettierung, zur »Fundamentalwissenschaft« (Rorty 1987: 14). Heute gilt Descartes zumindest in der Analytischen Philosophie noch immer als Begründer eines ›mentalistischen Paradigmas‹ (Rorty 1991: 27ff.; Brandom 2001: 14), welches den ›Geist‹ als Ursprungsort des 6 Denkens, Handelns und Sprechens unterstellt. Mit dieser Cartesianischen Wendung, so resümiert Manicas, »the problem of truth took on a new, individualist cast« (1987: 11). In Zusammenhang damit steht dessen berühmtes ›cogito ergo sum‹, welches Descartes auch als ›le premier principe de la philosophie‹ (Mittelstraß 1970: 384) akzentuiert hatte. Zum Problem wurde seither die Frage, »how to come to know what is not in the individual mind« (Manicas 1987: 11). Damit habe er »the modern problem of knowledge« konstituiert, so Manicas weiter (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser neuartigen konzeptionellen Ausgangskonstellation bekam die moderne Wissenschaftskonzeption ihre besondere Prägung. Die architektonischen Grundpfeiler dieser ›klassischen‹ Wissensordnung seien hier in aller gebotenen Kürze rekapituliert. Ein elementares Merkmal des klassischen Wissensbegriffs ist in dem Anspruch auf die ›Systematizität‹ des Wissens einbegriffen. Weder Descartes noch Spinoza hatten den Systembegriff, den sie der zeitgenössischen Geometrie entnahmen, selbst verwendet oder den Anspruch der Systematizität für ihre eigenen Arbeiten reklamiert, obgleich deren Philosophien schon früh jeweils als ein ›System‹ rezipiert wurden. Erst Leibniz beantragte für sein Philosophieren explizit den Titel einer ›systematischen‹ 7 Philosophie (Strub 1998: 830). Wie Gerhard Wiesenfeldt (1999: 98) darlegt, lässt sich das im 17. Jahrhundert vorherrschende Verständnis dessen, was ein philosophisches System charakterisierte, auf das pädagogische und philosophische Programm von Petrus Ramus zurückführen. Hier wurde 5

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Zur Systematik siehe Diemer (1968a: 15ff.). Zur historischen Würdigung von Aristoteles’ Einfluss auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Denkgeschichte sei die informative Darstellung bei Luce Giard (1991: 26, 42ff.) empfohlen. Generell wird Descartes heute innerhalb der Analytischen Philosophie des Geistes als »Anti-Held« (Baker/Morris 1996: 23) behandelt. Lauth (1998: 202ff.) sieht im Gegensatz zu dieser verbreiteteren Auffassung, die erst mit Leibniz den Beginn der ›Systemphilosophie‹ ansetzt, bereits bei Descartes Kriterien einer solchen vorliegen.

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das System des Wissens noch analog zu realen Strukturen gedacht (Strub 1998: 826). Jedoch sollte es durch Anwendung der richtigen Methode möglich sein können, die einzelnen Wissensbereiche zu klassifizieren. Ramus suchte nach einer Methode und bereitete so den neuzeitlichen Methodenbegriff vor (ebd.). Die Nachwirkungen dieses Modells manifestierten sich schließlich in der Gliederung der Fächerordnung und den Curricula an den Universitäten (Wiesenfeldt 1999: 98). Da Ramus letztlich noch auf drei methodische Gesetze zur Einteilung der Disziplinen rekurrierte, war es erst Descartes’ ›Discours‹, der die ursprüngliche Forderung von Ramus nach einer einzigen Klassifikationsmethode einlöste. Descartes’ Suche nach einer ›scientia universalis‹ mündete schließlich in die so genannte ›mathesis universalis‹ als der »Lehre von den Größen und Größen8 verhältnissen« (Mittelstraß 1970: 429). Diese Grundwissenschaft umfasste Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Mechanik, Optik, Musik und Hydraulik. Descartes’ Wissensbegriff betrachtete ausschließlich mathematischquantitative Bestimmungen der Körper als ›real‹. Alles Qualitative war ihm zufolge auf verborgene materielle Bewegungsvorgänge zu reduzieren. Mechanismen konnten und mussten nach Descartes in mathematischer Sprache ausgedrückt werden. Damit verbannte er die Suche nach Ursprungs- und Bewegungskräften von seelischen und materiellen Erscheinungen aus dem Bereich der Philosophie. Der in der scholastischen Philosophie enthaltene Wissensbegriff, den Descartes hier attackierte, basierte auf der Unterscheidung zwischen ›Form‹ und ›Inhalt‹ (vgl. Clarke 1992: 260), die natürlich unterschiedliche Ausprägungen hatte. In der scholastischen Wissensordnung wurden Erfahrungen von konkreten Gegenständen auf der Basis der Annahme einer dahinter liegenden ›Idealität‹ bzw. allgemeinen ›Form‹ desselben Gegenstandes erklärt. Die einzelnen Instantiierungen oder ›Inhalte‹ der allgemeinen ›Idee‹ oder ›Form‹ wurden aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen. Dieses Wissens- und Erklärungsmodell erklärte Descartes als redundant bzw. ungültig und wollte es durch eine Erklärungsstrategie, welche sämtliche Gegenstände mechanisch erklärte und mathematisch beschrieb, ersetzen. In der Tat reklamierte er damit diejenige Rolle für sich, die er selber der Bedeutung des Aristoteles zugewiesen hatte (vgl. Hall 1983: 197). Gegenüber Bacon, Kepler und Galilei, von deren Wirkung und naturwissenschaftlichen Einsichten er selbstverständlich geprägt blieb, meinte er sich dadurch zu unterscheiden, dass er sich nicht mit dem Auffinden von einzelnen Naturgesetzen begnügte, sondern darüber hinausgehend darum bemüht war, »to provide an unchanging fabric whose relevance to particulars is the sole remaining subject of inquiry« (ebd.). War für Galilei die mathematische Darstellung der Natur noch das Ergebnis einer Induktion, so ist sie spätestens bei Des8

Auf Schwierigkeiten und Interpretationsfehler dieses komplizierten Begriffs hat Gerten (2001: 75ff.) hingewiesen.

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cartes »eine neue Anschauung der Dinge, die sich ihrerseits auf eine neue Einstellung zu den Dingen gründete« (Ponsetto 1991: 205). Spätestens Christian Wolff hat schließlich den Systemgedanken mit dem Nexus der Wissensbegründung in Zusammenhang gebracht und Kriterien begründet, die noch für Kant verbindlich blieben (vgl. von der Stein 1968: 12). Entscheidend für Wolff war dabei die formal korrekte Deduktion einzelner Sätze aus ursprünglichen Begriffen, um auf diese Weise die Qualität des Wissens zu verbürgen. ›Systematizität‹ wird jedoch erst bei Kant zu einem direkt benannten Wissenschaftlichkeitskriterium, »Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft macht, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht« (von der Stein 1970: 107). ›Totalität‹ und ›Konsistenz‹ bildeten ihm dabei die Substanz des Systems. Kants Philosophie kann insofern zugleich als »Höhepunkt« und als »Umschlagspunkt« des klassischen Wissenschaftskonzeptes gelten (Diemer 1968a: 3), weil seine transzendentalphilosophische Wende den Kern von ›Systematizität‹ nicht mehr in äußerlichen Eigenschaften, sondern in der Beschaffenheit der menschlichen Vernunft selber erkennt und reflektiert. Von daher verwundert die Beharrlichkeit, mit welcher Kant den Satz, dem zufolge gültiges Wissen nur als System möglich ist, wiederholt, kaum weiter. Bis zu Hegel, für den ebenfalls vollständige Wahrheit nur die Gestalt eines ›Systems‹ annehmen konnte, sollte diese Form des Wissens (nicht nur des philosophischen, sondern des Wissens überhaupt) bindend bleiben.9

Die semantische Prägung des ›Wissens‹ im Idealismus und Neuhumanismus Im Hinblick auf die Aufklärung des Ursprungs der Wissenschaftskritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist es unumgänglich, auf die einzigartige Färbung sowie den spezifischen semantischen Gehalt, welche dem Begriff des ›Wissens‹ in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verliehen wurde, einzugehen. Der Ausgangspunkt dieser Prägung lässt sich nicht mit einem philosophischen Hauptwerk oder gar einem einzigen Namen angeben. Vielmehr arbeiteten an der Verwirklichung der ›Idee der deutschen Universität‹, die hier angesprochen ist, parallel zahlreiche Geister. Im Folgenden soll der semantische Unterbau, welcher die Gestalt der deutschen Universität seit dem 19. Jahrhundert entscheidend beeinflusst, den ›Geisteswissenschaften‹ ihr spezifisches Gepräge verliehen, dem ›Bildungsbürgertum‹ eine eigentümliche Form der Identität gestiftet hatte und

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Weiter unten wird der seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Abschied von der Systemphilosophie en détail referiert werden.

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somit auch von zentraler gesellschaftspolitischer Bedeutung gewesen ist, schematisch rekonstruiert werden. Mit Georg Bollenbeck lässt sich dieser ›Unterbau‹ als ein spezifisch deutsches »Deutungsmuster« charakterisieren, dessen gesellschaftspolitische Bedeutung zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Interpreten höchst divergierend eingestuft wurde, wobei es in seinem Wesenskern dennoch konstant blieb. Deutungsmuster im Sinne der historischen Semantik ähneln der Wirkungsweise von ›Habitus‹, die Bourdieu auf folgende Weise beschrieben hat: »Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen« (1999: 101).

Auf ähnliche Weise präzisiert auch der Historiker Bollenbeck die soziale Funktion von Deutungsmustern: »Das Deutungsmuster leitet Wahrnehmungen, interpretiert Erfahrenes und motiviert Verhalten« (1994: 19). Der Verweis auf diese Wirkungsmechanik ist insofern von Relevanz, um die außergewöhnliche Tradierungs- und Wirkungsgeschichte von ›Begriffen‹ verständlich zu machen. Die von Bollenbeck beschriebene Geschichte des um die Begriffe ›Bildung‹ und ›Kultur‹ zentrierten Deutungsmusters ist in besonderem Maße dazu geeignet, die Vehemenz der um den Begriff des ›Wissens‹ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geführten Debatten zu erklären. Fragen wir anfangs nach: In welcher geistesgeschichtlichen Tradition liegen die Wurzeln dieses Deutungsmusters? Verkürzend ließe sich resümieren, dass diese zeitlich in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts verortet werden müssen. Seine Geburtsstunde ging mit einer »semantischen Innovation« (Bollenbeck) von Begriffen wie ›Kultur‹, ›Bildung‹, ›Geist‹, ›Erziehung‹ einher. Das Medium, über welches sich diese ›Umwertung‹ vollzog, bildete zunächst die Philosophie – genauer diejenige des Deutschen Idealismus einerseits und des Neuhumanismus andererseits. Realgeschichtliche Folgen konnten diese ›Ideen‹ jedoch erst auf der Grundlage einer gesellschaftspolitisch »einmaligen historischen Konstellation« (ebd., 158) zeitigen, nämlich dem Zusammentreffen geschickt agierender philosophischer Praktiker mit reformwilligen Herrschaftshäusern, Adligen und 10 Ministerialbeamten. Eine weitere zentrale Vorbedingung für die Wirkun10 Auch Schnädelbach sieht, dass die Neugründung der Berliner Universität »offenbar nur möglich war in dem allgemeinen, durch den Zusammenbruch Preußens (1806/07) herbeigeführten Reformklima« (1999: 36).

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gen, die diese neuen Auffassungen entfalten konnten, liegt in deren Aufnahme durch das ›Bildungsbürgertum‹, das sich nach dem Ende des Ancien Régime zu den Hauptträgern einer »bürokratisch-etatistischen Modernisierung« (ebd., 95) in Deutschland entwickelte und insbesondere aus dem neuhumanistisch geprägten Bildungsbegriff seinen Orientierungsanspruch ableitete. Das hier etablierte Deutungsmuster wurde somit zum »funktionellen Bestandteil der Ideologie des Mandarinentums« (Ringer 1987: 96f.). Gleichzeit wurde auf diese Weise das Schicksal des Deutungsmusters mit dem Schicksal des Bildungsbürgertums als dessen Trägerschicht unmittelbar verknüpft (Bollenbeck 1994: 25). Einige wichtige Stationen der Entwicklungsgeschichte dieser Erscheinung sollen an dieser Stelle herausgehoben werden. Der Konstitutionsprozess des angedeuteten Deutungsmusters fand zu einer Zeit statt, als die deutsche Universitätslandschaft bereits wieder in Auflösung begriffen war. Manifest wurde dieser Zerfallsprozess am deutlichsten in der zunehmenden Anwendung des wohl denkbar drastischsten Mittels seitens der politischen Autorität, nämlich der Schließung der Universitäten. Die Wahl dieser Maßnahme wurde häufig unter Berufung auf die ungenügenden Lehrerfolge an den betroffenen Universitäten legitimiert. Vor diesem Hintergrund erscheint der Vergleich der Etablierung der Humboldtschen Universität um 1800 mit einem »Wunder« (Ellwein 1992: 11 111) durchaus nicht übertrieben. Die Verfechter der ›Idee der deutschen Universität‹ vertraten zwar durchaus divergierende Wissenskonzepte, waren sich jedoch einig in den grundsätzlichen Ausrichtungen, für die wiederum mehrere philosophische Gewährsmänner – Herder, Kant, Schiller, Pestalozzi – Pate standen. Bollenbeck zufolge ging dabei der »entscheidende theoretische Impuls« (1994: 178) von Kants Schrift ›Der Streit der Fakultäten‹ aus. Hier fand sich ein Gedankengang formuliert, der schließlich in Gestalt der neuen Universität institutionalisiert wurde und ein wesentliches Grundaxiom des geisteswissenschaftlichen Wissensbegriffs konstituierte. Er lässt sich formelhaft folgendermaßen veranschaulichen: Kant wertete die traditionelle, zweck- und praxisbezogene, Grundorientierung des gelehrten Wissens zugunsten des zweckfreien und lediglich vernunftverpflichteten Wissens ab und schlug eine entsprechende Umgliederung der Fakultätsordnung vor. Dieser gemäß sollte die philosophische Fakultät an der Spitze stehen und gegenüber der medizinischen, juristischen und theologischen Fakultät eine Leitfunktion ausüben. Schließlich, so Kant, sei allein die Philosophie ausschließlich der Vernunft verpflichtet. Die übrigen Fakultäten dagegen gliederten sich bloß nach Verstandeszwecken. In diesem Sinne wurde die Phi-

11 Erinnert sei daran, dass Humboldt ursprünglich gar die traditionelle Bezeichnung ›Universität‹ für die von ihm konzipierten Lehranstalten abgelehnt hatte (vgl. Bollenbeck 1994: 177; Schnädelbach 1999: 37f.).

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losophie auch bei Hegel zur höchsten Form des Wissens erklärt: ›Wissenschaft‹ und ›Philosophie‹ werden zu austauschbaren Begriffen (vgl. Dierse 2003: 17). Eine zu Kants und Hegels Konzeption analoge Struktur erhielt schließlich die von Humboldt 1810 in Berlin gegründete Universität (Schnädelbach 1999: 41), wobei der Umbildungsprozess in kleinen Schritten und innerhalb des gegebenen institutionellen Rahmens verlief (vgl. Ellwein 1992: 112f.). Von 24 Ordinarien war die Hälfte der philosophischen Fakultät zugeordnet, die im Zentrum des wissenschaftlichen Studiums stand (Bollenbeck 1994: 181). Das Primat der ›allgemeinen‹ Bildung vor der ›fachlichen‹ Spezialbildung schlug sich schließlich auch – über das Universitätswesen hinausweisend – in der Restrukturierung der Elementarschulen sowie der Gymnasien nieder, die nun erstmals als ein zusammenhängender Komplex betrachtet wurden. Mit der Durchsetzung der Universitätsreform im weiteren Verlauf des angehenden 19. Jahrhunderts transportierte sich zugleich das spezifische Wissensideal, »welches den vielen Klagen über spätere Entwicklungen als Maßstab zugrunde liegt« (Ellwein 1992: 116). Neben der Idee einer strikten Trennung der Theorie von der Praxis beinhaltete dieses Ideal noch weitere wichtige philosophische, genauer: idealistische, Grundannahmen, die in Bezug auf die Semantik der Begriffe ›Wissen‹, ›Geist‹ und schließlich ›Geisteswissenschaft‹ von Relevanz sind. Diese können an dieser Stelle lediglich andeutungsweise vorgestellt werden. Ein wesentlicher, zumeist dem Neuhumanismus zugeschlagener, Grundgedanke lässt sich ideengeschichtlich weiter auf einige Theoretiker der Aufklärung zurückführen, nämlich derjenige von ›Bildung‹ als eines »zielbestimmten Prozesses des individuellen Selbstbildens« (Bollenbeck 1994: 113f.). Als philosophische Taufzeugen dieser Idee können u.a. Leibniz, Shaftesbury, Rousseau und schließlich auch Kant gelten. Bei diesen Philosophen trifft man auf die Ansicht, dass die ›Individualität‹ als höchste Einheit und Zentrum des philosophischen Zugangs zu gelten habe. Den Schutz der intellektuellen Freiheit dieses Individuums gegenüber potentiellen äußeren Einflussfaktoren schrieben sie sich auf die Fahnen. Leibniz’ Monadologie konzipierte das Individuum als eine Entität, die einerseits der Form nach in perfekter Übereinstimmung mit dem Universum und der Außenwelt stünde, andererseits jedoch eine innere, spontane Kraft in sich trage, die zu spezifischer Selbsttätigkeit antreibe. Auch bei Shaftesbury findet sich die Vorstellung einer Seele, »die sich zu innerer Schönheit und Gestalt nach immanentem Formgesetz bildet« (ebd., 115). Von herausragender wirkungsgeschichtlicher Bedeutung für die Rezeption der Idee einer sich selbst bildenden Individualität dürfte zweifellos Rous-

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seaus ›Émile‹ gewesen sein. Darin wird der Endzweck sämtlicher erzieherischer Maßnahmen in der Förderung und Entfaltung der autonomen Subjektivität mit einem vehementen emanzipatorischen Pathos vorgetragen, das sich strikt gegen jede Einflussnahme im Dienste der Gesellschaft zur Wehr setzte. In diesem Sinne sollten in Deutschland schließlich Schiller und Kant den Gedanken der Autonomie des Individuums aufgreifen. Erwähnt sei dazu lediglich Kants anthropologische Doktrin, wonach der Mensch das einzige Wesen sei, das sich einen Endzweck setzen könne. Insbesondere seine moralphilosophischen, geschichtsphilosophischen und Aufklärungsschriften lassen sich als Beiträge zur Erklärung der Frage auffassen, weshalb das freie und selbstbewusste Individuum, trotz seiner negativen Natur, sich den sittlichen Gesetzen unterwerfen müsse. Denn schließlich sei nicht das Individuum Träger der Vernunft, sondern die Gattung. Ein vorläufiges Resümee ziehend, dürfen wir festhalten, dass mit der ›semantischen Innovation‹, die in Deutschland in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts errungen wurde, ein Bruch mit der neuzeitlichen Auffassung von Bildung, welcher zufolge Bildung stets Nützlichkeitserwägungen untergeordnet sei, einher ging. Diese Denkbewegung manifestierte sich sowohl in den Systemen der Philosophie des Deutschen Idealismus als auch im Neuhumanismus. Beide Denkströmungen griffen den in der Aufklärung begründeten Primat der Individualität gegenüber dem Kollektiv resp. dem Staat auf und »(geben) die bürgerlichen Bewährungsfelder und den Bereich des Sinnlich-Empirischen vollends auf« (ebd., 127). Vor diesem Hintergrund lassen sich die diversen idealistischen Systeme von Hegel, Schelling und Fichte als Anstrengungen interpretieren, die überkommene Trennung zwischen dem Bereich des ›Empirischen‹ und ›Theoretischen‹ bzw. der ›Praxis‹ und der ›Theorie‹ systematisch aufzuheben – um bereits mit Hegel zu sprechen. Dies kann anhand von Hegels Anspruch, die »Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft« (Hegel 1986: 73) zu veranschaulichen, stellvertretend für die benachbarten Systeme exemplifiziert werden. Hegel dachte sich die Differenz von ›Denken‹ und ›Sein‹ als aufgehoben in einer dialektischen Einheit, die er als ›Identität der Identität und Nichtidentität‹ (Schnädelbach 1999: 18) umschrieb. Diese Einheit könne dem ›Bewusstsein‹ bzw. dem ›Geist‹ jedoch lediglich auf einer bestimmten Reflexionsstufe ›erscheinen‹, nämlich auf der Stufe des ›Absoluten‹, in der die Vernunft vorherrsche. Auf dieser Stufe wisse sich der ›Geist‹, so Hegel, als Ergebnis vorausgegangener Entwicklungsprozesse. Als getrennte Elemente erschienen ›Sein‹ und ›Denken‹ dem Bewusstsein dagegen auf 12 Der Eindruck, den insbesondere Rousseaus kulturkritische Werke auf Kant hinterließen, ist allgemein bekannt. Bekanntlich zierte das berühmte Porträt Rousseaus, das ihn mit russischer Pelzmütze zeigt, als einziges Dekor das Arbeitzimmer Kants.

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der Ebene des ›Verstandes‹, in dem eine ›natürliche Einstellung‹ die Perspektive bestimme. Hegel sah beispielsweise im Kantischen System eine Form der analytischen Logik repräsentiert, die er als Logik des ›bornierten 13 Verstandes‹ (Lask 1923: 63) bekrittelte. Kants Begriffslogik ging von der kategorischen Prämisse einer grundlegenden Differenz von ›Begriff‹ und ›Anschauung‹, ›Allgemeinem‹ und ›Besonderem‹, ›Form‹ und ›Inhalt‹ aus und erachtet diesen ›Hiatus‹ für prinzipiell unüberbrückbar. Solchen Erkenntnisformen hielt Hegel schlicht die »Furcht vor der Wahrheit« (Hegel 1986: 70) vor. Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ definierte dagegen den Anspruch, »alles vorhandene Wissen [...] als im absoluten System enthalten und eben dadurch als vernünftig begreifbar darzustellen« (Schnädelbach 1999: 20f.). Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass in dieser Systematik sowohl die Geistes- als auch die Naturgeschichte integ14 15 riert waren. Die Natur erschien hier als ›entäußerter Geist‹. Hatte Kant zuvor sauber die Bereiche der ›reinen‹ Vernunft von der ›praktischästhetischen‹ Vernunft geschieden, so nahm Hegel auch in diesem Bezugspunkt eine folgenreiche ›Überwindung‹ vor. In deren Folge »rückte Geist auf zu einem jener großen Singularbegriffe, der mehr noch als Revolution, Geschichte, Fortschritt oder Entwicklung ein Deutungsmonopol für die gesamte Welt erhielt, für Geschichte und Gesellschaft, und anfangs auch modern gesprochen für die Natur« (Koselleck 1991: 112).

›Geist‹ wurde bei Hegel zur Letztinstanz des Wissens schlechthin aufgewertet. Denn er gewährleiste nicht nur Einheit von ›Wirklichkeit‹ und ›Vernunft‹ bzw. ›Erfahrung‹ und ›Erkenntnis‹ (um mit Kant zu sprechen), sondern er ermöglichte es den ›Geisteswissenschaften‹, »vom subjektiven Bewußtsein des modernen Menschen zu überindividuellen Zusammenhängen fortzuschreiten« (ebd., 121f.) und dabei einheitliche Begründungszusammenhänge zu postulieren. Die viel besagte Unübersetzbarkeit der spezifisch deutschen Ausprägung des Geistbegriffes hat in dieser eigentümlichen dialektischen Grundkonzeption ihren Ursprung. Deren Besonderheit bedingt darüber hinaus auch bis in die Gegenwart, dass der deutsche Terminus ›Wissenschaft‹ weit mehr umfasst als etwa deren angelsächsische 13 Diese Auseinandersetzung führte Hegel bekanntlich in der Einleitung der ›Phänomenologie des Geistes‹ (1986: 68-81). 14 Ernst Cassirer sah darin die »Achillesferse« (1961: 35) von Hegels System. 15 Inwiefern insbesondere Hegels Naturphilosophie von den meisten Zeitgenossen als »abschreckendes Beispiel für die Verirrungen philosophischer Spekulation« wahrgenommen wurde und die Abwendung vom philosophischen Systemdenken beschleunigte, wird bei Schnädelbach (1999: 100f.) eingehend erläutert. Symptomatisch: Der junge Dilthey trug am 26.03.1859 in sein Tagebuch dazu folgende Bemerkung ein: »Diese vernünftige Gestaltung der Welt erwies sich als Illusion in Natur und Geschichte« (Misch 1933: 82).

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Äquivalente ›science‹ oder das französische ›science‹, wie u.a. Ringer (1987: 97) treffend festgestellt hat. Die Bedeutung und Relevanz der hier auf philosophischem Terrain hervorgebrachten Denkfigur lässt sich kaum überschätzen, da sie nicht nur das Selbstverständnis der später als ›Geisteswissenschaften‹ bezeichneten Disziplinen entscheidend geprägt und somit die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts mitbestimmt hat, sondern auch den in der Gegenwart regelmäßig aufflammenden Debatten über den Status und Nutzen der Geisteswissenschaften zugrunde liegt (vgl. Mittelstraß 1991: 26, 31; Lepenies 1989: 148; Koselleck 1991: 127). Um den sich hier aufdrängenden Eindruck zu zerstreuen, als habe sich Hegels abstrakte philosophische Spekulation unmittelbar auf die Neugründung der Berliner Universität niedergeschlagen, wie es die »preußischdeutsche Geschichtslegende« (Bollenbeck 1994: 129) insinuiert, soll eine kurze sozialgeschichtlich informierte Kontextualisierung das bisher gezeichnete Bild ergänzen. 16 Tatsächlich erwiesen sich die Systeme des »absoluten Idealismus« als viel zu abstrakt, um eine unmittelbare Wirkung und praxistaugliche Übersetzung zu gewährleisten. Wirkungsgeschichtlich betrachtet ist deren Resultat am ehesten darin resümierbar, einer besonderen Wissensordnung den Weg geebnet zu haben, die auch noch für die nachfolgenden Systematiker als zentrale Orientierungsinstanz – wenn auch später häufig im negativen Sinne – fungierte. Auf die konkrete Struktur der Universitätslandschaft zeitigten die Systemphilosophien höchstens mittelbar Effekte, indem sie den von Bollenbeck so benannten »philosophischen Praktikern« (ebd., 100, 136, 148) einen allgemeinen, wenn auch zuweilen höchst abstrakten, Denkrahmen zur Verfügung stellten, aus dem diese ihre Verände17 rungsansprüche ableiten konnten. Aus diesem Kreis, so Bollenbeck, müsse man Schiller und Humboldt als herausragende Vermittlungsfiguren und Diplomaten des idealistischen Bildungs- und Wissenskonzeptes herausheben. Durch ihren geschickten politischen Einsatz beförderten sie die Institutionalisierung des idealistisch-neuhumanistisch geprägten Bildungskonzeptes in der Form der ›deutschen Universität‹. Die Universitäten wurden in der Folgezeit als ›nationale Heiligtümer‹ (Ringer 1987: 98) verehrt. Man wird von dieser Epoche entsprechend als dem »Jahrhundert der Bildung (im spezifisch deutschen Sinne des Wortes) und des Bildungsbürgertums« (Schnädelbach 1999: 35) sprechen. Glaubt man gegenwärtigen Interpretationen, so wird sich an diesem Status sogar bis 1933 nichts Wesentliches ändern (vgl. Ringer 1987: 241ff.; Schnädelbach 1999: 35). Das 16 Schnädelbach (1999: 17) subsumiert unter diesen Titel ausschließlich die Systeme Hegels, Fichtes und Schellings und grenzt sie damit von bildungsund alltagssprachlichen Konnotationen des Idealismusbegriffs ab. 17 Bollenbeck erklärt ganz unmissverständlich: »Nicht die großen Philosophen, sondern die philosophisch gebildeten Praktiker verhelfen dem Deutungsmuster mit ihren pädagogischen Konzepten zum Durchbruch« (1994: 148).

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Verdienst, das man den Protagonisten dieses Bildungskonzeptes – neben Humboldt und Schiller wären auch noch Friedrich Ast, Ernst August Evers, Johann Samuel Ith, Reinhold Bernhard Jachmann, Friedrich Jacobs, Friedrich Immanuel Niethammer und Johann Wilhelm von Süvern zu nennen (vgl. Bollenbeck 1994: 149) – zuerkennen muss, bestand in der »Vereinfachung des Gedankens der sich selbstvervollkommnenden Persönlichkeit, in der Verstofflichung der Bildungsmittel und in der Stabilisierung des Bildungsideals durch Institutionen« (ebd.) – nicht etwa in der Vertiefung philosophischer Gedanken. Vereinfachung erweist sich nicht nur in diesem Fall – wie sich diversen begriffsgeschichtlichen Studien als Quintessenz entnehmen lässt – als Möglichkeitsbedingung im Hinblick auf erfolgreiche Tradierung und Realisierung philosophischer Ideen. Nur in mundanisierter Form eigneten sich die abstrakten idealistischen Konzepte zur Übernahme durch eine politisch aufstrebende Schicht, die sich auf das hier beschriebene Deutungsmuster nicht nur berufen wird, um ihre politischen Forderungen zu formulieren, sondern deren Identität als Bildungs18 bürgertum daran direkt gekoppelt war. Die weiteren Bedingungen, die schließlich zur Festigung und Institutionalisierung des Deutungsmusters 19 beitrugen, können an dieser Stelle vernachlässigt werden. Im Hinblick auf die nun nachfolgenden Ausführungen zur Krisenwahrnehmung der Wissenschaften im späteren Verlauf des 19. Jahrhundert, bildete die Explikation der semantischen Prägung des idealistisch geprägten Wissensbegriffs eine unumgehbare Zwischenstation. Im nächsten Schritt springen wir direkt zu einer der Hauptfiguren der vorliegenden Arbeit, um über eine zeitgenössische Perspektive einen unmittelbaren Eindruck über die weitere Entwicklungsgeschichte des idealistischen Bildungspathos zu gewinnen.

Die Krisis der Wissenschaften Selten sprach sich Wilhelm Dilthey, der ja sein ganzes Lebenswerk als »ein Ausführen des Denkens und Planens seiner Jugend« (Misch 1933: V) erachtete, so deutlich über die Motive und Quellen seines Schaffens aus, wie in folgendem Schreiben an seine Mutter zu Beginn der 1880er Jahre, in welchem es heißt: »Die große Krisis der Wissenschaften und der europäischen Kultur, in der wir leben, nimmt mein Gemüth so tief und ganz 18 Bernhard Giesens (1993: 122ff.) Studie über ›Die Intellektuellen und die Nation‹ entwickelt und differenziert die unterschiedlichen symbolischen Codes, auf deren Prämissen erstmals eine ›nationale Identität‹ der Deutschen konstruiert wurde. 19 Insbesondere im Kontext der Beschreibung der Entwicklung der Philosophie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert wird auf diese Hintergründe noch näher rekurriert werden müssen.

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befangen, daß in ihr von Nutzen zu sein jeden äußeren persönlichen Ehrgeiz getilgt hat« (ebd.). Es ist heute ein Allgemeinplatz innerhalb der Dilthey-Forschung, dass sich Diltheys mannigfaltige und sich zum Teil konzeptionell widersprechende Lösungsansätze, die einander im Verlauf seiner Denkentwicklung ablösten, in dem einen Punkt treffen, nämlich dem Anspruch, den Geisteswissenschaften ein allgemeingültiges und tragfähiges wissenschaftstheoretisches Fundament zu erarbeiten. Dilthey wurde auch nie müde, diesen Zusammenhang an entsprechenden Stellen immer wieder herauszustellen. Dennoch kontrastiert mit diesem Bild der hierzu in Widerspruch scheinende Befund, wonach das hinter diesem oberflächlichen Anliegen liegende Grundmotiv von Diltheys Lebensaufgabe keineswegs als ergründet gelten könne. Am deutlichsten hat Jong-Uk Choi belegt, dass »das Motiv des Diltheyschen Denkens und damit der Hintergrund seiner Philosophie verborgen« (1987: 9) geblieben sind. Die Frage, worin Dilthey die in dem obigen Zitat indizierte Verbindung zwischen ›Krise der Wissenschaft‹ und der ›Krise der europäischen Kultur‹ gelegen sah, stellt sich jedoch keineswegs nur für Choi. Auch Charles Bambach (1995: 127ff.) sieht in Diltheys Hinweis auf den Mangel einer tragfähigen geisteswissenschaftlichen Theorie des Wissens offenbar keineswegs eine hinreichende Bestimmung von dessen Krisenbewusstsein und hat aus diesem Grund eine Neuinterpretation unter diesem Blickwinkel vorgeschlagen. Uns begegnet hier also eine eigentümliche und signifikante Konstellation wieder, die oben bereits anhand von Ringer exemplifiziert wurde, wonach ›Krisis‹ eher als ein Indikator für ein unspezifisches und vage empfundenes Unbehagen fungierte als das der Begriff eine eindeutige Situationsbeschreibung anzeigte. Dass die angedeutete Begebenheit durchaus keinen zufälligen Einzelfall darstellt, belegt eindrücklich eine Feststellung, die Ernst Wolfgang Orth in Bezug auf Husserls über drei Jahrzehnte später erfolgte Bezugnahme auf die ›Krisis der europäischen Wissenschaften‹ in seinem gleichnamigen Spätwerk: »Es ist in der Tat merkwürdig - zumal im Hinblick auf den Titel Krisis -, daß wir nicht nur im 1936/37 publizierten Text, sondern auch in den zunächst unveröffentlichten Texten des Aus- und Weiterarbeitens keinerlei Aussagen über die ›Zeitumstände‹, über konkrete kulturelle, soziale und politische Verhältnisse finden« (1999: 12).

Bei Dilthey finden wir in den systematischen Schriften und Vorlesungen im Grunde überhaupt nichts Signifikantes und Explizites über konkrete Ursachen der diagnostizierten Krise seiner Gegenwart. Und dennoch, so kann m.E. ohne jegliche Übertreibung notiert werden, dürfte Diltheys Zeitgenossen sowohl dessen spezifisches Anliegen als auch das besondere Pathos, das er in seinem Philosophieren und Argumentieren für eine Neu-

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fundierung der Geisteswissenschaften an den Tag legte, als der damaligen Situation durchaus natürlich und angemessen erschienen sein. Dieses Paradoxon, dem wir hier bei Dilthey und Husserl begegnen, stellt einen wichtigen Beleg für unsere Ausgangshypothese dar, dass – zumindest unter Akademikern und so genannten ›Gebildeten‹ – zwischen dem Zeitraum von 1880 und 1933 die Wahrnehmung einer ›Krise des Wissens‹ so allgemein verbreitet war, dass jede Anstrengung, deren Plausibilität zu erweisen, für redundant befunden wurde. In Anlehnung an die Ausführungen des vorausgegangenen Teilkapitels soll im Folgenden demonstriert werden, dass Dilthey sowohl im Hinblick auf die Krisenbeschreibung als auch in der Auswahl von Lösungsmitteln innerhalb des Rahmens des oben dargelegten bildungsbürgerlichen Deutungsmusters verblieb und insofern als typischer Repräsentant dieser Gattung gelten kann. Inwiefern nun die im Anschluss an Dilthey zu behandelnden Autoren diesem typischen Muster entsprachen, soll eine die weiteren Kapitel begleitende Fragestellung bilden. Symptomatischer Weise finden sich innerhalb des von Dilthey hinterlassenen Schriftkorpus die gehaltvollsten Hinweise auf dessen Krisenwahrnehmung in unveröffentlicht gebliebenen Manuskripten und Skizzen. Insbesondere erweist sich ein Fragment mit dem Titel ›Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie‹ (GS VIII: 190ff.) als von Aufschluss. Darin unternahm Dilthey eine Aufgabenbestimmung der Philosophie, die auch einiges Licht auf die der zeitgenössischen Krise zugrunde liegenden Ursachen wirft. Dass Dilthey sich implizit der liberalen, ›gebildeten‹ Trägergruppe des idealistischen Bildungsbegriffs zurechnete, geht aus folgender, Trauer bekundenden Äußerung eindrücklich hervor: »Das idealistische Pathos ist wirkungslos geworden. [...] Unser Lebensgefühl steht dem von Voltaire, Diderot oder Friedrich dem Großen in dieser Beziehung näher als dem von Goethe und Schiller« (ebd., 191). Diltheys Anspielung gibt uns zunächst wieder Gelegenheit, aus der immanenten Interpretation hinauszutreten, um die darin enthaltenen äußeren Bezugshorizonte zu extrapolieren. Dies scheint nicht zuletzt deswegen angebracht, weil das Bild, das Dilthey in dieser Skizze ausmalt, fragmentarisch geraten ist und der zusätzlichen Erläuterung bedarf. Die von Dilthey antizipierte Tendenz lässt sich unter Berufung auf jüngere ideen- und sozialgeschichtliche Untersuchungen von Autoren wie Bollenbeck, Giesen, Ringer, Schnädelbach, Scholtz u.a. konkreter in Kontext setzen. Folgt man Bollenbecks Beschreibung, so setzte seit der zweiten Jahrhunderthälfte »ein komplizierter und langwieriger Prozeß der Auflösung« (1994: 232) des bildungsbürgerlichen Deutungsmusters ein. Als primärer Auslöser dieses Wandlungsprozesses lässt sich zunächst die im Verlauf des Jahrhunderts zunehmend offensichtlich gewordenen »Diskrepanz zwischen gepflegter Semantik und sozialer Realität« (Bollenbeck 1999: 19) angeben. Eine Kluft zwischen bildungsbürgerlichem Anspruch

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und sozialer Wirklichkeit zeigte sich dabei auf den verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten und lässt sich mit unterschiedlichen politischen und kulturellen Ereignissen in Verbindung bringen, insbesondere natürlich der Revolution von 1848. An dieser Stelle lässt sich auch der oben angebrachte Hinweis, wonach das Schicksal des Deutungsmusters mit demjenigen seiner bildungsbürgerlich-liberalen Trägerschicht eng verknüpft war, wiederaufnehmen. Bernhard Giesen hat unter besonderer Fokussierung auf die Entwicklung der ›Preußischen Schule‹ der Geschichtswissenschaft den Prozess beschrieben, wie vormals liberale Intellektuelle, die ihre Identität zunächst über die »Distanz zur Politik« (1993: 202) gewannen, nach 1848 diese Distanz allmählich aufgaben, um als »Lehrer der Nation« (ebd., 208) »Verantwortung für das Ganze« (ebd., 205) zu übernehmen. Dabei leiteten sie ihren nationalen Führungsanspruch aus ihrem Bildungsauftrag ab und wurden häufig zu aktiven Politikern in Land- und Reichstagen (ebd., 208f.). Die Historiker nahmen innerhalb des Bildungsbürgertums »gerade durch diese pädagogische Differenz zwischen den verantwortungsbewußten und eingeweihten Lehrern einerseits und dem erziehungs- und lenkungsbedürftigen Volk andererseits« (ebd., 217) eine herausragende Stellung ein. Die Geschichtswissenschaften stiegen schließlich um die Jahrhundertmitte zur führenden Bildungsmacht auf und übernahmen damit die vormalige Position der Philosophie (ebd., 213). In der Folge jedoch traten politische Entwicklungen ein, welche die Voraussetzungen der abgeleiteten Autorität der Mandarine, nämlich die Einheit von Kultur und Politik, unterhöhlten. Wie Giesen beschreibt, erschien die politische Sphäre nun immer mehr als »ein eigengesetzlicher und nicht weiter begründungsbedürftiger Bereich« (ebd., 218), der nicht mehr durch Moral oder Kunst überboten werden konnte. Diese Erfahrung spiegelte sich entsprechend immer deutlicher auch in den Ausgangskonzepten der Historiker wider. Der ›Staat‹ wurde schließlich zum Grund- und Hauptbegriff der ›Preußischen Schule‹. Er ist nun in den Augen des liberalen Bürgertums immer weniger diejenige Instanz zur Verwirklichung von individueller Freiheit, sondern Zweck an sich, den es zu befördern galt. Historiker wie Droysen, Dahlmann, Sybel und Treitschke wurden zu glühenden Verfechtern einer ›kleindeutschen‹ Lösung der nationalen Frage, weil diese die besten Aussichten auf einen starken Staat bot (ebd., 220). Deren Idee der ›Staatsnation‹, welcher zufolge sich der Staat seine Gesellschaft bzw. Nation schafft, ersetzte die liberale Vorstellung der Auflösung des Staates in der Gesellschaft. Mit der Ausrufung des deutschen Kaiserreiches durch Bismarck 1871 erfüllte sich der von den ›kleindeutschen‹ Historikern herbeigesehnte Traum, der entsprechend gefeiert wurde und die »Versöhnung zwischen dem nationalliberalen Bildungsbürgertum und der preußischen Krone« (ebd., 230) ermöglichte.

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Mit dem Ende der liberalen Ära und dem gleichzeitig initiierten Industrialisierungsschub zwischen 1873 und 1895 änderten sich die politischen Gewichte nun eindeutig zu Ungunsten des ›Idealismus‹ der liberalen Bildungsschicht und begünstigten den Aufstieg eines vermeintlichen ›Rea20 lismus‹. Politisch kam das Ende des Liberalismus zugunsten des Konservatismus spätestens mit dem Ausgang des Verfassungskonfliktes um die preußische Heeresreform (Wehler 1994: 32). Bedingt durch die militärischen Erfolge der preußischen Truppen in den drei Kriegen zwischen 1864 und 1871 wandelte sich schließlich auch unter den Gebildeten die Universalsemantik von ›Kultur‹ und ›Bildung‹, wobei die Richtung dieses Wandels als »Aufwertung des Militärischen« (Bollenbeck 1994: 235) gedeutet 21 werden muss. Als ›verbürgerlichtes Kriegerethos‹ qualifizierte Norbert Elias die sich unter den Mandarine breit machende Attitüde, Krieg und Gewalt als legitime Mittel der Politik zu akzeptieren. Die Koalitionen der Liberalen mit Bismarcks Führung anlässlich des ›Kulturkampfes‹ und der ›Sozialistengesetze‹ mögen die angedeutete »genuflection of the liberals before the altar of Prussianism« (Willey 1978: 17) belegen. Vor diesem Hintergrund wird schließlich auch die überaus ernüchternde und bedenklich machende Einmütigkeit in der Stellungnahme der deutschen Professoren zu den ›Ideen von 1914‹ (im hermeneutischen Sinn) verständlicher. Einhergehend mit dieser »mentalen Militarisierung« (Bollenbeck 1994: 236) schrumpfte zugleich das vormals wirkungsvolle emanzipatorische Potential der liberalen Ideen. Die Grundidee von Bildung als ›Selbstbildung‹ selbst geriet unter Beschuss durch zahlreiche selbst ernannte Kulturkritiker. Die wohl vornehmlich von Nietzsche initiierte ›kopernikanische Wende in der Kultur- und Moralphilosophie‹ (Lichtblau 1996: 111), welche von belletristischen Bestsellern wie Langbehns ›Rembrandt als Erzieher‹ (1890) und Lagardes ›Deutsche Schriften‹ (1878) flankiert wurde, brach mit dem Anspruch auf ›allgemeine Bildung‹ zugunsten der ›Bildung Weniger‹. Bei Letzterem ging diese ›geistesaristokratische‹ Grundhaltung sogar unvermittelt zusammen mit explizit anti-liberalistischer und nationalistisch-chauvinistischer Polemik. Programmatisch hatte bereits Hermann Baumgarten in seinem berühmten Aufsatz ›Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik‹ 1866 den noch heute in den Geschichtswissenschaften diskutierten Rückzug des Liberalismus aus der Politik vollzogen. Darin erschien nun nicht mehr die Tradition des Liberalismus als Garant der deutschen Einheit, sondern der Preußische Staat, die Monarchie und das Militär. Der sich auch unter liberalen Zeitgenossen ausbreitende ›Kulturnationalismus‹ ersetzte die vormals am Humanismus und Idealismus orientierte Semantik und es kam zu einer Umwertung des Deutungsmusters. In der 20 Noch Alfred Weber (1927: 76) wird 1910 in diesem kulturpolitischen Sinne einen fundamentalen Gegensatz zwischen dem Prinzip des Idealismus und demjenigen des Realismus aufmachen. 21 Zitiert nach Bollenbeck (1994: 235).

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Regel bedeutete dieser Wandel nicht automatisch eine vollständige Abwertung des Idealismus als genuin deutsche Kulturleistung. Das belegt etwa das vehemente Engagement und die besondere kulturpolitische Auslegung des Kriegsausbruchs im Jahre 1914 seitens der Mehrzahl der Repräsentanten des deutschen Mandarinentums, die Deutschlands Eintreten in den Weltkrieg als entschlossenen Versuch interpretierten, eine »Renaissance des ›Idealismus‹« herbeizuführen und somit nochmals die Deutungsmacht an sich zu reißen (vgl. Bollenbeck 1994: 272ff.; Ringer 1987: 169ff.). Der skizzierte Deutungswandel in der politischen Selbstwahrnehmung des liberalen Bürgertums, den Bernhard Giesen (1993: 118ff.) anschaulich beschreibt, hatte also keineswegs die Aufgabe des weltanschaulichen Führungsanspruchs seitens der Intellektuellen zur Konsequenz. Vielmehr bezeugt das Aufkommen der so genannten ›Weltanschauungsphilosophie‹ sowie das explizit hervorgekehrte Selbstverständnis der deutschen Aka22 demiker das Gegenteil. Auch von dem schwindenden gesellschaftspolitischen Einfluss des Bildungsbürgertums war das Selbstbild dieser Schicht noch keineswegs mit tangiert. Allerdings, so hat Bollenbeck wohl treffend analysiert, reflektiert der seitens der Mandarine gebetsmühlenartig wiederholte und zu jedem Anlass nach außen getragene Orientierungsanspruch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer weniger die tatsächlichen Verhältnisse, sondern bezeugt vielmehr das Ende der ›heimlichen Herrschaft‹ des Bildungsbürgertums (Bollenbeck 1994: 245f.). Wenn sich Dilthey in der oben zitierten Passage auf das geschwundene ›idealistische Pathos‹ bezog, so reagierte er auf den hier beschriebenen Wandlungs- und Auflösungsprozess des bildungsbürgerlichen Deutungsmusters. Er diagnostizierte für seine Gegenwart das Vorherrschen des Realismusprinzips oder, in seinen eigenen Worten ausgedrückt, des »Wirklichkeitssinns« (GS VIII: 190), welcher den Idealismus zurückgedrängt habe. Der Modus, in welchem Dilthey das Schwinden des idealistischen Pathos wahrnahm, offenbart gleichwohl, aus welcher Perspektive er eine ideengeschichtliche Erklärung dieser Entwicklung unternahm. Er zeichnete nämlich eine Geschichte des Wissens (sic!) nach, welche von der »Begründung der mathematischen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert«, durch die »ein neues Stadium der Menschheit« (ebd., 191) eingeleitet wurde, ihren Ausgang nahm. Das naturwissenschaftliche Denken hätte, so Dilthey, im Verlauf des 19. Jahrhunderts »die Voraussetzungen immer mehr aufgelöst, welche dem religiösen Glauben und den philosophischen Überzeugungen der früheren Jahrhunderte zugrunde lagen« (ebd., 193). 22 Es genügt hier wohl darauf zu verweisen, dass eine wissenschaftsethische Position, wie sie etwa von Max Weber in seinem ›Werturteilsfreiheitspostulat‹ vertreten wurde, vor dem Hintergrund der unter den Berufskollegen verbreiteten Stimmungslage keine Chance auf Durchsetzung und Verbreitung gehabt hatte (vgl. Ringer 1987: 315ff.; Schluchter 1995: 289ff.).

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Mit besonderem Bezug auf die Entwicklung in der Philosophie griff er den Einfluss des französischen Positivismus, der diese Entwicklung auf diesem Gebiet wesentlich getragen habe, als Prügelknaben heraus. Doch auch die deutsche Tradition des Historismus trug nach Dilthey Anteil an der Auflösung des Zusammenhangs der Wissenschaften mit der Kultur. Denn er habe letztlich »die Relativität jeder metaphysischen oder religiösen Doktrin« (ebd., 194) vor Augen geführt und auf diese Weise den gegenwärtigen Skeptizismus und Pessimismus genährt. An dieser Stelle interessieren zunächst weniger die detaillierten Ausführungen Diltheys, als mehr das Faktum, dass Dilthey die Ursachen für die aktuelle ›Krisis der europäischen Kultur‹ bei keiner anderen Instanz aufsucht als der ›Wissenschaft‹ selbst. Erst in dieser keineswegs selbstverständlichen Verknüpfung des Schicksals der ›europäischen Kultur‹ mit demjenigen der ›Wissenschaft‹ offenbart sich das eigentümliche Krisenbewusstsein, das noch für die Dilthey nachfolgende Wissenschaftlergeneration verbindlich bleiben wird. Gerade die sich in Diltheys krisendiagnostischen Ausführungen manifestierende Vorrangstellung des ›Ideellen‹ vor den vermeintlich ›realen‹ Bedingungsfaktoren lässt ihn als typischen Rep23 räsentanten des deutschen Bildungsbürgertums erscheinen. Als letzte Beglaubigung für diese These können wir auf den von Dilthey angedeuteten Lösungsweg zur Überwindung der Wissenschaftskrise verweisen: »Es gilt, das Problem des Wissens so universell als möglich zu stellen, es gilt, durch neue, sichere Methoden die Auflösung dieses Problems vorzubereiten. Allgemeine Wissenschaftslehre ist die Aufgabe der heutigen Philosophie, überall wo sie Sicherheit des Wissens erstrebt« (ebd., 195).

Was die inhaltliche Ausführung dieses Programms betrifft, ist hier wieder24 um nicht der Ort einer genaueren Prüfung. Herausgehoben werden soll an dieser Stelle, dass die von Dilthey empfohlene Lösungsstrategie charaketristisch für die idealistische Weltauffassung ist. Nicht nur das Ausgangsproblem der Krise wird in der Wissenschaft loziert, sondern auch wissens(chafts)theoretische Reflexion wird als alleiniges Mittel geltend 25 gemacht, das über diese hinausführen kann. Ringers gegenüber dem idealistisch geprägten Intellektuellenmilieu lancierter Vorwurf, lässt sich durchaus auch auf Dilthey applizieren. Nach Ringer war dieses nämlich 23 Chois Schlussfolgerung, »daß bei Dilthey die politisch-sozialen Probleme auf die der Wissenschaft reduziert werden« (1987: 313), bestätigt dieses Bild. 24 Der Verweis auf das folgende Kapitel muss an dieser Stelle genügen. 25 Vgl. auch mit Riedel, der – mit unserer Interpretation übereinstimmend – feststellt, dass Dilthey »der idealistischen Philosophie und ihrem Emanzipationsideal eine neue Wirkung in der Gegenwart« (1993: 18) sichern wollte.

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»nie imstande – oder bereit –, sich ein komplexeres und indirekteres Verhältnis zwischen dem Wissen und der gesellschaftlichen Praxis vorzustellen, als eben das Verhältnis, welches in seiner eigenen Tradition gegeben war. Es betrachtete sich stets als eine Priesterklasse, die einer bäuerlichen Bevölkerung letzte Werte vorschreiben konnte« (1987: 243).

Im Einklang mit Ringer und Choi können wir zusammenfassend die Grenzen des Diltheyschen Denkens mit denjenigen des damaligen Bildungsbürgertums identifizieren (1987: 315). Diltheys Vision einer Lösungsstrategie zur Überwindung des Krisenzustandes wurde an diesem Punkt näher ausgeführt, weil, wie sich noch zeigen wird, sie von paradigmatischer Wirkung gewesen ist. Wie aus der bereits zitierten Stelle hervorgeht, überantwortete er der Philosophie, genauer einer ›allgemeinen Wissenschaftslehre‹, die Aufgabe, das gesamte Wissen auf eine neue und einheitliche Grundlage zu stellen. In seinen eigenen Worten: »Die Relativitäten müssen mit der Allgemeingültigkeit in einen tieferen Zusammenhang gebracht werden« (GS VIII: 204). Die Philosophie habe eine »Generalisation« zu vollziehen, die »eine höhere Stufe 26 als alle bisherigen« (ebd., 204f.) erreicht. Sich im Klaren darüber seiend, dass in diesem Programm tendenziell eine Überforderung der traditionellen Wissenschaftstheorie angelegt, war, führte Dilthey schließlich einen eigenen Titel für die neue Grundlegungsdisziplin ein: ›Philosophie der Selbstbesinnung‹. Das ihr zugewiesene Gegenstandsgebiet sollte folgende Bereiche umfassen: »Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Erfassung des Wirklichen und als Inbegriff derselben Theorien über Bestimmung von Werten und Handelns nach Zwecken« (ebd., 179). In dieser Auflistung finden sich gleich mehrere der in der damaligen Diskussion gegenwärtigen alternativen Fundierungsdisziplinen, über die im folgenden Teilkapitel noch im Einzelnen zu verhandeln sein wird, zu einem synkretistischen Gebilde vereint. Die prometheische Aufgabenstellung, die Dilthey der ›Selbstbesinnungsphilosophie‹ übereignete, reflektiert in erster Linie eine tief empfundene Erschütterung über den Zustand der zeitgenössischen ›Kultur‹ im Allgemeinen und der ›Wissenschaft‹ im Besonderen. Das Bild von Diltheys Philosophiebegriff klärt sich weiter auf, wenn wir seine späten Betrachtungen über ›Das Wesen der Philosophie‹ hinzuziehen. Hier stellte er nun ausdrücklicher als zuvor seine Grundanschauung heraus, »daß die Philosophie eine Funktion im Zweckzusammenhang der Gesellschaft ist, welche durch die der Philosophie eigene Leistung bestimmt ist« (1984: 34). Ihr sei zu allen Zeiten die Aufgabe zugefallen, »das Bewusstsein von Begründung, Zusammenhang und Ziel des Wissens lebendig zu erhalten« (ebd.). Eine philosophisch angeleitete ›Selbstbesin26 Gadamers Zweifel sind alles andere als unberechtigt: »Aber gibt es einen bruchlosen Übergang von dieser [Relativität; D.Š] zu den höheren Allgemeinheiten wissenschaftlicher Objektivität?« (GGW 4: 417)

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nung‹ war in Diltheys Augen ein restauratives Unterfangen, durch welches eine ursprüngliche Wissensordnung wiederhergestellt werden sollte. Die Philosophie erfülle hier im Grunde nichts weiter als ihre »eigentlichen Funktionen« und ihre »Mission« (GS VIII: 179). Dilthey hielt den Orientierungsanspruch der Philosophie für so selbstverständlich (vgl. GS I: 378; GS V: 152), dass er ihn höchst selten explizierte, geschweige denn einer eigensten Legitimation für bedürftig erachtete. Um die Tragweite der hier nur in ihrer äußeren Hülle dargelegten Programmatik anzudeuten, soll auf ein über ein halbes Jahrhunderts nach Diltheys ›Einleitung‹ erschienenes Grundlagenwerk verwiesen werden. Auch dieses nahm Ausgang von einer Krisendiagnostik, die von einem ursprünglichen Harmonieverhältnis von Wissenschaft und Kultur ihren Ausgang nahm und deren Auseinandertreten seit der Begründung der neuzeitlichen Wissenschaft beklagte. Die Rede ist selbstverständlich von Husserls Abhandlung mit dem bezeichnenden Titel ›Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‹ (Hua VI). Erst kürzlich hat Ernst Wolfgang Orth (1999: 179) auf die Analogie zwischen Diltheys und Husserls Krisendefinition aufmerksam gemacht. Es ließen sich erstaunliche Parallelen sowohl in zeitdiagnostischer als auch lösungspragmatischer Hinsicht zwischen deren programmatischen Ausgangspunkten 27 aufzeigen. Jedoch können diese an dieser Stelle nur angedeutet werden. Ähnlich wie für Dilthey, war auch für Husserl die ›Krisis der europäischen Wissenschaften‹ bereits in der Grundlegung des neuzeitlichen Wis28 senschaftskonzeptes durch Galilei angelegt gewesen. Husserl setzte – wiederum analog zu Dilthey – zur Bestimmung der Krisenursachen auf eine wissensgeschichtliche Analyse, in deren Vollzug er »erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische und methodologische Fehlprogrammierungen der innerphilosophischen und innerwissenschaftlichen Entwicklung« (ebd., 13) diagnostizierte. Auch deren Folgen für die gegenwärtige Situation werden von den beiden Protagonisten identisch beurteilt. Hatte Dilthey die »Herrschaft der Wissenschaften über das Leben« (GS VIII: 193) beanstandet, so bemerkte auch Husserl einen Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit (Hua VI: 3f.). In der Wahl des konzeptionellen Gegenmittels rekurrierte Husserl auf eine analytische Grundhaltung, der wir gleichfalls bereits bei Dilthey begegnet sind, nämlich einer radikalen ›Selbstbesinnung‹. Husserl definierte seine phänomenologische Philosophie explizit »als universalste und konsequenteste Durchführung der Idee der Selbsterkenntnis« (Hua I: 193). Es gäbe »nur eine radikale Selbstbesinnung, das ist 29 die phänomenologische« (ebd., 179).

27 Eine systematischere Zusammenschau liefert unsere ›Zwischenbetrachtung‹. 28 Auch Dilthey hatte bei Galilei den Ursprung der neuzeitlichen Wissenschaften gesehen (GS VIII: 191). 29 Siehe dazu auch die Studie von Pfafferott (1985).

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Ohne auf die Divergenzen an dieser Stelle näher eingehen zu können, sollten diese Hinweise die Kontinuität und Beständigkeit der im Folgenden zu untersuchenden Problemdimensionen andeuten. Die hier bereits anhand von Dilthey und Husserl extrapolierten Topoi von ›Krise‹ und ›Selbstbesinnung‹ werden auch bei den meisten anderen der hier zu behandelnden Autoren wiederkehren und stellvertretend einen ganzen spezifischen Problemzusammenhang symbolisieren, dessen Wurzeln letztlich mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückreichen und welcher hier als ›Krise des Wissens‹ resümiert wurde. Diese ›Krise‹ soll nun anschließend noch aus einer genuin philosophiegeschichtlichen Perspektive analysiert werden, um das Spektrum der im 19. Jahrhundert vorhandenen konzeptionellen Lösungsmittel und Vorschläge auszuleuchten.

Die Krise der Philosophie Wenn in der Darstellung der Programmatik von Diltheys ›Selbstbesinnungsphilosophie‹ der Eindruck vermittelt wurde, dass Dilthey hierbei lediglich ein bildungsbürgerliches und zu seiner Zeit verbreitetes Deutungsmuster rezitierte, dem zufolge die Philosophie die Krone des Wissens darstelle und den Einzelwissenschaften ihren Weg zu weisen habe, so bedarf dieses Bild der Korrektur bzw. Ergänzung. Wie Herbert Schnädelbach zutreffend feststellt, ging bereits mit Hegels Tod die Zeit zu Ende, in der die Philosophie ihre Führungsrolle im Kosmos der Wissenschaft glaubhaft machen konnte – und dies (ironischerweise) gleichwohl diese Rolle in der Humboldt-Universität gerade erst institutionalisiert worden war (1999: 88f.). Diese Tatsache war seitens Dilthey keineswegs unbemerkt geblieben. Bereits 1859 eiferte der 26-jährige Studiosus gegen eine »philosophische Eitelkeit [...], welche von einer Suprematie über die ›Einzelwissenschaften‹ träumt« (Misch 1933: 81). Und er fügte dem hinzu: »Als wäre nicht die Philosophie auch eine ›Einzelwissenschaft‹« (ebd.). Schnädelbachs Beschreibung zufolge geriet die Philosophie seit Beginn des 19. Jahrhunderts in eine »tiefgreifende Identitätskrise« (1999: 22, 89, 119, 121), die allerdings keineswegs zu einem Stillstand der philosophischen 30 Entwicklung führte, wie der von Köhnke entlarvte ›Geschichtsmythos‹ der Philosophiegeschichtsschreibung suggeriert. Nicht Stillstand, so konstatiert Schnädelbach unisono mit Köhnke, sondern eine »Revolution des Wissenschaftskonzepts überhaupt« (ebd., 22) war der Erfolg der philosophischen Entwicklung nach Hegels Tod. Dieser Umbildungsprozess, der 30 Bei Willey liest man: »Perhaps only in the barren interval between the death of Leibniz and Kant’s inaugural dissertation had German philosophy seemed more sterile than in the 1850s« (1978: 24).

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nicht abrupt, sondern allmählich vonstatten ging, wirft nicht nur ein anderes Licht auf die Hintergründe der Krisenwahrnehmung Diltheys, sondern zeitigt auch Resultate, die in konzeptueller Hinsicht für die Grundlegungsdebatte der Jahrhundertwende von Bedeutung sein wird. Hegel höchst persönlich führte an der Berliner Universität einen Kampf gegen eine neue Tendenz, die sich etwa in der Geschichtsauffassung Friedrich Carl von Savignys, dem Begründer der Historischen Rechtsschule und Kollegen Hegels an der Berliner Universität, bekunde31 te. In seinem programmatischen Vorwort zum ersten Band der neu gegründeten Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft schrieb Savigny gegen Hegel gerichtet: »Die Geschichte ist [...] nicht mehr bloß Beispielsammlung, sondern der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes« (1815: 4). Damit wandte sich Savigny gegen ein Geschichtsdenken, das man zu seiner Zeit als ›Geschichtsphilosophie‹ bezeichnete und automatisch mit Hegels Geschichtsmetaphysik identifizierte (vgl. Schnädelbach 1999: 58). Hier wurde folglich Geschichtswissenschaft gegen Geschichtsphilosophie gestellt und somit die Einheit von ›Geschichte‹ und ›Systematik‹, für die Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ stand, gesprengt. Eine ›Revolutionierung‹ des vorherrschenden Wissenschaftskonzeptes lag hier insofern vor, als im Namen der Wissenschaftlichkeit die Abkehr vom idealistischen Wissenschaftskonzept begründet und somit die wenige Jahre zuvor an den deutschen Universitäten institutionalisierte Stellung der Philosophie attackiert wurde. Die Philosophie geriet nicht nur 32 in Gegensatz zur ›Geschichte‹ und zur Geschichtswissenschaft, sondern zur Wissenschaft schlechthin, mit der sie seit Aristoteles identifiziert wor33 den war. Die Naturwissenschaften hatten sich seit den 1860er Jahren von der Philosophischen Fakultät abzuspalten begonnen. Auf allen Gebieten entstanden neue Disziplinen. Es kam zu einem fundamentalen, die alten Fakultäts- und Disziplingrenzen sprengenden Strukturwandel der Wissenschaft, den Schnädelbach als einen Prozess der »Dynamisierung« des Wissens (ebd., 106) kennzeichnet. Dass die Geschichtswissenschaft schließlich der Philosophie den Rang als führende Bildungsmacht mit Erfolg streitig machen konnte, ist ein vielfach beschriebenes, oben bereits ange-

31 Beschrieben werden diese Auseinandersetzungen, die einen ihrer Höhepunkte sicherlich in dem erfolgreichen Versuch der Vertreter der Historischen Schule hatte, in Kollaboration mit Schleiermacher Hegels Berufung in die Berliner Akademie der Wissenschaften zu hintertreiben, bei Rothacker (1930: 291ff.), Iggers (1971: 89ff.) und Schnädelbach (1999: 291f.). 32 Zur Entstehung des Begriffs ›Geschichte‹ als »Kollektivsingular« während der »Sattelzeit« zwischen 1750 und 1850 Jahrhunderts, siehe Koselleck (1972). 33 Zur Geschichte der Verbindung von Philosophie und Wissenschaft ist die Studie von Alwin Diemer (1968b) noch immer instruktiv.

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sprochenes, Resultat dieser Auseinandersetzungen. Einer der Hauptursachen, die zu diesem Ergebnis führten, dürfte darin zu konstatieren sein, dass sich die Philosophie bis in die 1860er Jahre gegen die auf allen Ge35 bieten vorherrschenden Tendenzen zum »Realismus« gesperrt hatte und, dadurch bedingt, die Ablösung von der idealistischen Tradition naturgemäß einen länger währenden diskursiven Prozess in Anspruch nahm. Auf welche dramatische Weise die Philosophie insbesondere in der Restaurationsphase nach der ›gescheiterten‹ Revolution von 1848 in existentielle Bedrängnis geraten war, hat Köhnke eindrucksvoll rekonstruiert. Der tragende Faktor dieser Entwicklung sei dabei jedoch keineswegs philosophieimmanenter Natur gewesen, sondern stand maßgeblich mit der spezifischen gesellschaftspolitischen Konstellation der Restaurationsphase in Verbindung. Die äußeren Indikatoren dieser ›Krise‹ lassen sich mit dem 36 ›Massensterben‹ philosophischer Zeitschriften , dem zunehmenden Schwinden des Einflusses der Philosophie auf die Öffentlichkeit (Köhnke 1993: 116ff.), dem Desinteresse von Studienanfängern an der akademischen Philosophie (ebd., 144ff.), dem ›Absterbenlassen‹ philosophischer Lehrstühle (ebd., 140), einer generell restriktiv gehandhabten Berufungspolitik (ebd., 309ff.) und schließlich dem Rückgang der Dozentenzahlen (ebd., 311) konkret angeben. Ein streifender Blick über die Einzelschicksale philosophischer Gelehrter verstärkt diesen Gesamteindruck und lässt zugleich die weltanschaulichen Hintergrundmotive des allgemeinen Misstrauens gegenüber der Philosophie zum Vorschein kommen. So wurden beispielsweise dem Trendelenburg-Schüler Karl von Prantl 1852 und im folgenden Jahr sogar niemand geringerem als Kuno Fischer die venia legendi entzogen (vgl. ebd., 126ff.). In beiden Fällen war hierfür jeweils der Vorwurf des »Pantheismus« ausschlaggebend gewesen. Dass im Klima dieser Zeit säkulare Auffassungen von Philosophie – zu dieser Zeit war im deutschen Reich die Trennung von Staat und Kirche noch kaum vollzogen – keine Chancen auf beruflichen Erfolg in Aussicht stellten, bezeugt schließlich paradigmatisch auch nichts deutlicher als das Schicksal von so

34 Unter anderen beschrieb auch Foucault in seiner »Archäologie der Humanwissenschaften« das 19. Jahrhundert als das »Jahrhundert der Historie« (1978: 103). Siehe insbesondere auch Foucault (1974: 447ff.). 35 Schnädelbach bezeichnet mit diesem Konzept »den Mentalitätsumschwung [...], der um 1830 einsetzt und der vom idealistisch-neoklassizistischen Bildungs- und Kulturideal wegführt zu einem neuen Realismus auf allen Gebieten, zu anti-romantischen Haltungen, zur Politisierung der Gebildeten im Vormärz, aber auch zur Konjunktur des populären Materialismus als der Weltanschauung jenes neuen Realismus« (1999: 102). 36 »In diesem Augenblick giebt es, so viel wir wissen, kein einziges Journal, in welchem ein philosophischer Artikel von streng wissenschaftlicher Haltung Aufnahme zu finden hoffen dürfte« schrieben 1852 die Herausgeber der gerade neu gegründeten Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik ins programmatische Vorwort (Köhnke 1993: 121).

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epochalen Figuren wie Schopenhauer, Feuerbach und Marx, denen ausschließlich eine außer-universitäre Laufbahn beschieden war (ebd., 116). Zuletzt gerieten selbst eher konservativere Vertreter der Zunft, wie etwa Erdmann und Braniß, unter den Verdacht des Pantheismus. Zur Veranschaulichung sei hier stellvertretend der »publizistische Höhenpunkt der Verleumdungskampagnen der politischen Führung gegen die Philosophie« (ebd., 140) wiedergegeben: »Es ist über die Philosophie ein wohlverdientes Gericht ergangen. Die kirchliche Bewegung am Anfang und die politische Bewegung am Ende der vierziger Jahre haben zum zweitenmal vor aller Welt offenbar gemacht, daß die Denkart, welcher die ganze neuere (rationalistisch-pantheistische) Philosophie angehört, zu ihrem Kern die Läugnung des lebendigen Gottes hat, und daß die Zerstörung in Kirche und Staat nur die letzte thätige Erfüllung der philosophischen Lehren ist, die man so lange bewundert hat. [...] Die Philosophie hat seit so langem Zeitraum die Vernunftreligion, Deismus und Pantheismus gelehrt, die Thatsachen der christlichen Offenbarung als unwahr und unmöglich erklärt, wie konnte es ausbleiben, daß endlich auch unternommen wurde, Deismus und Pantheismus als Volksreligion aufzurichten?« (ebd.)

Dieses Plädoyer für eine ›Abschaffung der Philosophie‹ wurde 1854 von dem ehemaligen Rektor der Berliner Universität Friedrich Julius Stahl verfasst und stellte seinerzeit keineswegs eine Ausnahmeposition dar. Unter diesen schwierigen Umständen behalf sich die Mehrzahl der Philosophen mit unterschiedlichen Strategien der Selbstbeschränkung. 37 Man wandte sich entweder philosophiehistorischen Themen zu oder orientierte sich alternativ an methodologischen Spezialfragen der Einzelwissenschaften. Dabei bestand unter damaligen Philosophen ein allgemeiner Konsens darüber, dass man sich aus weltanschaulichen Fragen zum Wohle der eigenen Disziplin heraushalten würde. Wissenschaftsgeschichtlich stellt das Datum 1848 insofern eine Zäsur für die philosophische Zunft dar, als diese seither im Grunde niemals wieder die gesellschaftliche Zentralstellung erlangen sollte, die sie bis zur ›Revolution‹ unzweifelhaft innehatte. Der viel beschriebene Verwissenschaftlichungsprozess der Philosophie (vgl. Scholtz 1991: 11, 133ff.; Schnädelbach 120ff.) hatte also seine tieferen, gesellschaftspolitischen Wurzeln in jenem geistigen konservativtraditionellen Klima der Restaurationsphase des Nachmärzes. Doch auch aus einer innerwissenschaftlichen Dynamik heraus nahm der Legitimationsdruck auf die Philosophie zu. Jenes »Wissensproblem« (Köhnke 1993: 45, 101, 110), dem wir bei Dilthey bereits begegneten, ent37 In Umlauf kamen in den folgenden Jahren u.a. folgende Neo-Ismen: Neoaristotelismus, Neothomismus, Neofichteanismus, Neohegelianismus, Neoleibnizianismus, Neomarxismus und natürlich Neokantianismus (vgl. Schnädelbach 1999: 122).

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stand wiederum als Resultat des oben geschilderten Prozesses der Dynamisierung und Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Wissens, in dessen Verlauf sich nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch andere Disziplinen (Jurisprudenz, Ökonomie, Geschichtswissenschaft) aus dem ursprünglichen Verbund mit der Philosophie herauslösten. Als Reaktion wurde seitens der Philosophie eine spezifische Programmatik formuliert, welche die Möglichkeit der ›Aufhebung‹ sämtlicher Wissensdimensionen im Rahmen eines universalen philosophischen Systems kategorisch als undurchführbar ausschloss. Die Begründer einer solchen ›Philosophie ohne System‹ waren Erich von Berger und insbesondere dessen Schüler Friedrich Adolf Trendelenburg. Der eingeschränkten Alternative der Vormärzphilosophie: entweder Festhalten am deduktiv-apriorischen Systemtypus in der Tradition Reinholds und Fichtes oder Orientierung am methodisch-enzyklopädischen Systemansatz Hegels, stellten die genannten Autoren die Konzeption eines »System der Betonung des wissenschaftlichen Wertes der Einzelerscheinung gegenüber jeglichem Prinzipiendenken« (ebd., 32) als dritte Option entgegen. Dies bedeutete eine erhebliche Aufwertung des ›Empirischen‹, welches bislang aus dem Rahmen des klassischen Wissenssystems heraus gefallen war (Dierse 2003: 18). Köhnke sieht in diesem Ansatz, der im Übrigen von den zahlreichen Trendelen38 burg-Schülern wirkmächtig fortgesetzt wurde, jenes von Rothacker noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermisste ›System‹ der Historischen Schule (Köhnke 1993: 32), welches nachzutragen im Übrigen bereits der explizite Anspruch von Diltheys ›Einleitung‹ gewesen war (GS I: XVI). Trendelenburg hielt an einem Erfahrungsbegriff fest, der nun nicht mehr von einem philosophischen System abhängig war, sondern vielmehr von der konkreten wissenschaftlichen Praxis. Diese Neuausrichtung an faktischen Problemen empirischer Einzelwissenschaften stellte nun die Philosophie nicht mehr über die anderen Disziplinen, sondern vielmehr in deren Dienst. Auch wenn hier Parallelen bestehen, war in Trendelenburgs Konzeption keineswegs der Anspruch der Positivisten Comte und Mill nachgeahmt, die Philosophie durch die (Einzel)Wissenschaften zu erset39 zen. Trendelenburg schlug vielmehr eine ›Synthese‹ vor: »Als Theorie der Wissenschaft muß sie in Prinzipien eingehen, welche den übrigen Wissenschaften angehören und welche sie von ihnen erst überkommt; und 38 Zu diesen zählen so prominente Namen wie Brentano, Cohen, Dilthey, Dühring, Eucken, Prantl, Laas und Paulsen (vgl. Köhnke 1993: 117). 39 Nach Köhnkes (1993: 137ff.) Darstellung hat sich unter den deutschen Philosophen bereits mindestens ein Jahrzehnt vor dem ›offiziellen‹ Einströmen positivistischen Gedankenguts nach Deutschland – das bekanntlich mit dem Erscheinen von Karl Twestens Aufsatz zu ›Lehre und Schriften August Comte’s‹ in den ›Preußischen Jahrbüchern‹ von 1859 datiert – eine philosophische Einstellung herausgebildet, die einer positivistischen Orientierung am Beobachtbaren und Empirischen gleichkommt.

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doch kann sie im philosophischen System der Disciplinen nicht wohl nachfolgen; denn sie soll ihnen den Grund sichern und den Bau vorzeichnen« (Köhnke 1993: 47).

In dieser Aufgabenbestimmung wurde, so Köhnkes Feststellung, die moderne Konzeption der ›Wissenschaftstheorie‹ als Fundierungsdisziplin 40 erstmalig eingeführt. Auch die Institutionalisierung einer modern verstandenen ›Erkenntnistheorie‹ wurde im Kontext dieser Auseinandersetzungen um die Grenzen der Systemphilosophie und deren vermeintlicher 41 ›Voraussetzungslosigkeit‹ vorbereitet. Deren Initiator war nun niemand geringeres als Schleiermacher, bei welchem Trendelenburg gehört hatte 42 und dessen Dialektik-Vorlesung eine entsprechende Programmatik enthielt (ebd., 58). Spätestens mit dem Aufkommen der Konzepte ›Wissenschaftstheorie‹ und ›Erkenntnistheorie‹, so lässt sich festhalten, wurden bereits jene innerwissenschaftlichen Probleme auf dem Feld der Philosophie sichtbar und virulent, welche schließlich auch Dilthey und sogar noch 43 Husserl als ›Problem des Wissens‹ identifizieren werden. Die ›Grundlegungsproblematik‹ entsprang also keineswegs einer spontan oder akzidentell entstandenen Begebenheit, sondern bildete vielmehr einen gewichtigen Drehpunkt, welcher die Entwicklung der deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt hatte. In dieser Epoche der deutschen Philosophie, die man als Vermittlungsphase zwischen idealistischem Systemdenken und der Entstehung der neukantianischen Bewegungen betrachten kann, wurden fast ausnahmslos alle Theoreme, die man schließlich gegen Ende des Jahrhunderts zur Lösung der Wissenschaftskrise in Anschlag 44 bringen sollte, bereits geformt. An dieser Stelle können nur diejenigen Vorwegnahmen angedeutet werden, welche geeignet sind, einer ›Heroisierung‹ der Leistungen Diltheys und der Südwestdeutschen Neokantianer

40 Bislang hatte die Wissenschaftsgeschichtsschreibung erst in Dühring, einem Schüler Trendelenburgs, den Begründer der ›Wissenschaftstheorie‹ gesehen (Köhnke 1993: 38). 41 Köhnke (1993: 50ff.) rekonstruiert eine Begriffsgeschichte dieses Terminus, wonach er in den 20er Jahren noch positiv konnotiert war und u.a. gegenüber Descartes geäußert wurde, um darauf hin schließlich als polemischer Begriff gegenüber der ganzen Epoche des Deutschen Idealismus verwendet zu werden. 42 Erstmals hielt Schleiermacher seine bekannte Vorlesung im Jahre 1811. In turnusmäßigen Abständen wiederholte er sie in den folgenden Jahrzehnten (vgl. Köhnke 1993: 58). 43 Vgl. den überlieferten Dilthey-Husserl – Briefwechsel, in dem das ›Problem des Wissens‹ immer wieder und in verschienen Formen adressiert wurde (Hua Dok III/6: 43ff.). Siehe auch Misch (1967: 37, 180f., 192). 44 Köhnke (1993: 14, 302ff.) erklärt die philosophiegeschichtliche Ignoranz des 20. Jahrhunderts gegenüber dieser Übergangsepoche vornehmlich damit, dass man bis in die Gegenwart hinein bereitwillig den Selbststilisierungen der ›eigentlichen‹ Neokantianer aufgesessen war.

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vorzubeugen. Die folgenden Ausführungen, mit denen wir unseren problemgeschichtlichen Abriss zur ›Krise des Wissens‹ beschließen wollen, sollten zugleich auch als vorbereitende Erörterungen im Hinblick auf die Darstellungen des zweiten Teils der Untersuchung eingeordnet werden. Einige der Grundmotive, die in der Regel der Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts zugeschriebenen werden, lassen sich auf das im Gefolge von Trendelenburg etablierte Wissenschaftsverständnis der unmittelbaren Vor- und Nachmärzphilosophie zurückführen. So kann mittlerweile Friedrich Eduard Beneke als einer der ersten Verfechter einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Begründungsprogrammatik gelten, die man am Ende des Jahrhunderts als ›Psychologismus‹ zumeist ablehnen wird (vgl. Kusch 1995: 101ff.; Köhnke 1993: 73ff.). Beneke forderte eine Grundlegung der Wissenschaft mittels der Psychologie, welche folglich die fundierende Rolle der Logik zu beerben hätte. Dieser Ausgang vom ›Standpunkt des reinmenschlichen Bewußtseins‹ (Köhnkte 1993: 78) ist als Alternative zur zeitgenössischen Systemphilosophie und hegelianisierenden Geschichtsphilosophie zu deuten. Psychologie wurde in Benekes Entwurf – in Abgrenzung zu Schleiermacher und Hegel – sowohl der Logik als auch der Metaphysik vorgeordnet. Ähnlich wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen wollte auch Beneke die Philosophie wieder ausschließlich in den Dienst der ›reinen‹ Wissenschaft stellen. Dass Beneke zunächst dennoch bei seinen Fachkollegen auf Ablehnung stieß und seiner Karriere ei45 nige Steine in den Weg gelegt wurden , hat Köhnke verdienstvoller Weise für das wissenschaftsgeschichtliche Gedächtnis konserviert. Von Interesse ist Benekes Ansatz insbesondere auch deswegen, weil sich seine Psychologie auf eine Grundunterscheidung gründete, die später bei Dilthey an zentraler Position wiederauftauchen würde, nämlich der Unterscheidung 46 zwischen ›innerer‹ und ›äußerer Wahrnehmung‹. Der Anspruch von Benekes auf der inneren Erfahrung zu begründender Philosophie war kein geringerer, als auf diesem Wege die Fehlerquellen der äußeren Erfahrung zu vermeiden und somit den Genauigkeitswert der naturwissenschaftlichen Psychologie noch zu übertreffen (Kusch 1995: 101). Konkret hatte Beneke seiner Psychologie die Aufgabe übertragen, die einfachsten Komponenten der inneren Wahrnehmung herauszulösen und daraus schließlich alle geistigen Phänomene zu erklären. 45 Auch auf Anraten Hegels wurde ihm schließlich sogar die Lehrbefugnis entzogen (Köhnke 1993: 72ff.). 46 Ohne damit einer konkreten Ableitungsbeziehung das Wort reden zu vollen, sei erwähnt, dass Dilthey sich namentlich in seinen über drei Dekaden regelmäßig wiederholten und weiterentwickelten Psychologie-Vorlesungen intensiv mit diversen zeitgenössischen psychologischen Schulen auseinandersetzte und in diesem Rahmen selbstverständlich auch auf die Werke Benekes stieß (GS XXI: 32, 44f.). Dass es kaum möglich ist, eine einzige für Diltheys Abgrenzungsstrategie von Geistes- und Naturwissenschaften leitende Vorbildfigur zu bestimmen, hat Dierses (2003: 31) Studie bestätigt.

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Mit diesem Hinweis auf Benekes Programmatik sollte ein Problemzusammenhang angeleuchtet werden, innerhalb dessen nicht nur ein genuin ›wissenschafts-‹ und ›erkenntnistheoretisches‹, sondern auch ein ›psychologistisches‹ Grundlegungsprogramm formuliert werden konnten. Philosophiegeschichtlich von Bedeutung ist in diesem Kontext zudem, dass es im Zuge der Auseinandersetzungen um Benekes ›Seelenlehre‹ »zur erstmaligen Klassifikation der Wissenschaften unter der Dichotomie von Geistesund Naturwissenschaften« (Köhnke 1993: 86) kam. Noch bis zu Kant und Hegel waren die Wissenschaften nicht nach Erkenntnisgegenständen (Geist, Natur), sondern nach Erkenntnisarten eingeordnet worden. Bekanntlich war es der romantische Naturphilosoph Lorenz Oken, der die Wissenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ›Geisteswissenschaften‹, ›Sinneswissenschaften‹ und ›Naturwissenschaften‹ eingeteilt hatte (vgl. Dierse 2003: 16f.). Einen klassifikatorischen Sinn hatte der Terminus ›Geisteswissenschaft‹ bis zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht, wie bereits Alwin Diemer festgestellt hatte (Köhnke 1993: 86, 457). Eine solche Einteilung wurde erst von Ernst Adolf Calinich 1847 vorgenommen, 47 um sich von Benekes Ansatz abzugrenzen. Dabei schloss Calinich zunächst noch unmittelbar an Benekes Abgrenzungskriterium ›innere/äußere Wahrnehmung‹ an, um im Anschluss gegenüber Beneke darauf zu beharren, dass die Gegenstände der inneren Erfahrung nicht auf naturwissenschaftliche Grundtatsachen zurückgeführt werden könnten (ebd., 87f.). Die sich daran knüpfende Frage, inwiefern eine direkte Rezeptionslinie von diesem Punkt aus schließlich zur Ausgangsproblematik Dilthey führte, muss hier ebenfalls offen bleiben. Sie könnte lediglich anhand des Studiums der Primärquellen ermittelt werden, was den Bearbeitungsrahmen der vorliegenden Studie übersteigt. Dass das Problem der Begründung des Wissens seine philosophiegeschichtlichen Ursprünge in der Entwicklung der deutschen Philosophie seit ca. 1830 hat und keineswegs allein mit der Herausforderung durch die philosophische Begründung der ›Einheitswissenschaft‹ in den positivistischenzyklopädischen Systemen Mills und Comtes ausreichend erklärt werden kann, sollte anhand dieser Darstellung deutlich geworden sein. Im Verlauf der folgenden Kapitel wird sich erweisen, dass viele der Problemkomplexe, die im Diskurs um die Abgrenzung der Geistes- und Naturwissenschaften im Zentrum standen, in den geschilderten Zusammenhängen ihre problemgeschichtlichen Ursprünge haben. Es würde zu einem stark verzerrten 47 Einwände gegen diese ideengeschichtliche Einordnung Calinichs trägt Dierse (2003: 20f.) vor. Er sieht erst in der Rede des Altphilologen Friedrich Thierschs ›Ueber das Verhältnis des Wissenschaften des Geistes und der Natur‹ sowie den Vorträgen Hermann von Helmholtz’ und Heymann Steinthals eine völlige Abkoppelung vom klassisch-idealistischen Wissenschaftsbegriff und eine deutliche Trennung von ›Geistes‹- und ›Natur‹wissenschaften aufkommen (ebd., 25ff.).

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Bild führen, wenn man nach dem Muster der oben als Abgrenzungsfolie eingeführten Darstellungen Ringers, Lichtblaus und Bambachs, die historischen Hintergründe dieses Diskurses nur bis in die 1880er oder gar nur die 1890er Jahre zurück verfolgte. Denn weder die modernen Konzeptionen von ›Erkenntnistheorie‹ und ›Wissenschaftstheorie‹, geschweige denn die dramatische Rhetorik, welche sich noch in Husserls Spätwerk bekundet, wären ohne Berücksichtigung der geschilderten sozialen und philosophischen Entwicklungen nicht adäquat einzuschätzen.

Teil II: Zur Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹

Dilthe ys Programmatik einer ›Kritik de r historisc he n Ve rnunft‹

Nachdem im obigen Teil der problem- und sozialgeschichtliche Spannungsbogen umrissen wurde, innerhalb dessen man sich in den Wissenschaften mit der Frage nach eines neuen Ansatzes zur Wissensbegründung konfrontiert sah, soll es nunmehr darum gehen, Diltheys Grundlegungsansatz als den ersten systematischen Versuch einer wissenschaftstheoretischen Lösung der skizzierten Wissensproblematik vorzustellen. Ausgeblendet bleiben dabei wegbereitende Vorläuferfiguren wie Mill, Comte, Droysen sowie die Initiatoren der Philosophischen Hermeneutik von Chladenius und Ast bis zu Schleiermacher (vgl. Grondin 1991; Kurt 2004). Im Zentrum unserer Rekonstruktion von Diltheys Konzeption einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ steht primär deren theoretische Grundarchitektur. Das Unterfangen wird durch den Umstand beeinträchtigt, dass Dilthey im Laufe seiner lebenslangen Suche nach einem tragfähigen Fundament der Geisteswissenschaften mehrere Neuansätze unternahm und sich dabei zum Teil auf philosophische Strategien stützte, die sich nach allgemeiner Empfindung wechselseitig ausschließen. Die Frage, welcher dieser Ansätze nun das Zentrum von Diltheys Systematik ausmacht, ist entsprechend seit jeher eines der dominanten Diskussionsthemen in der DiltheyLiteratur gewesen. Selbst die hier gewählte Titulierung von Diltheys Programmatik als ›Kritik der historischen Vernunft‹ ist – symptomatisch – durchaus anfechtbar, denn sie suggeriert eine positive Fortführung von Kants Vernunftkritiken und ignoriert damit zugleich, dass Diltheys Konzeptionen – wie im Weiteren gezeigt werden soll – allesamt von Ausgangspunkten ausgehen, die den Kantischen Begründungsrahmen von vornherein sprengen. Wir wählten diesen Obertitel aus zweierlei Erwägungen heraus: Zum einen, weil er für Dilthey selbst zeitlebens verbind-

76 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT 1

lich blieb und insbesondere deshalb, weil er die Dimensionalität und Radikalität seines Unternehmens am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Dem Ratschlag von Rudolf A. Makkreel (1991: 28) folgend, nähern wir uns dem Verständnis von Diltheys Wissenstheorie dadurch an, indem wir zunächst mit einem systematischen Vergleich der Grundlegungsstrategien Diltheys und Kants einsetzen.

Dilthey und Kant Bereits in seiner Baseler Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1867 erhob Dilthey zur »universale(n) Aufgabe der Philosophie«, in offenkundiger Anlehnung an Kant, die »kritische Grundlegung« (GS V: 12). Auf der Grundlage dieses Vortrags könnte Dilthey ohne weiteres als orthodoxer Neukantianer durchgehen – deshalb etwa, weil er darin die programmatische Forderung erhebt: »die Philosophie soll über Hegel, Schelling und Fichte weg auf Kant zurückgreifen« (ebd., 13). Die zentrale Idee, für welche, Dilthey zufolge, Kant Autorschaft beanspruchen dürfe, resümierte Dilthey wie folgt: »Es gibt [...] keine strenge Erkenntnis als von dem in der Erfahrung Gegebenen. Und zwar ist der Gegenstand dieser strengen Erkenntnis der gesetzmäßige Zusammenhang aller Erscheinungen. Also die übersinnliche Welt ist keiner wissenschaftlichen Forschung zugänglich: sie ist auf der Gesinnung des Menschen gegründet« (ebd., 12).

Nicht die Welt ›an sich‹, sondern ausschließlich die Welt in der Weise ihres ›Erscheinens‹ im theoretischen Bewusstsein des Menschen (als ›Gattung‹) wurde gemäß der Kantischen »Revolution der Denkart« (KrV: B XI) zum alleinigen Gegenstand des philosophischen Denkens. Wiederum 2 unisono mit den prominenten neukantianischen Programmatiken forderte Dilthey schließlich auch einen »Fortgang über Kant« (GS VIII: 174). In dem gleichlautend betitelten Fragment aus dem Nachlass skizzierte Dilthey in wenigen Sätzen die konkrete Richtung dieses »Fortgangs«:

1 2

Vgl. oben S. 25, Anm. 22. Die berühmte Formel ›Zurück zu Kant‹ wird in der Philosophiegeschichte sowohl Otto Liebmann, der mit dem »Schlachtruf: ›Also muß auf Kant zurückgegangen werden!‹« jedes einzelne Kapitel seines Werks ›Kant und die Epigonen‹ beendete, als auch Hermann von Helmholtz zugeschrieben. In der Sache sind beide Varianten sicherlich berechtigt. Vgl. die unterschiedlichen Argumentationen bei Schnädelbach (1999: 308) und Köhnke (1993: 200, 310). Windelband (1897: 11; 1904: 4) selbst betrachtete im Übrigen Kuno Fischer, dessen Schrift ›Geschichte der neueren Philosophie‹ von 1860 ein breites Publikum fand, als Initiator der neukantianischen Bewegung.

DILTHEYS ›KRITIK DER HISTORISCHEN VERNUNFT‹ | 77

»Die Kritik Kants hat nicht tief genug in den Körper der menschlichen Erkenntnis eingeschnitten. Der Gegensatz von Transzendenz und Immanenz bezeichnet nicht die Grenzlinie der möglichen Erkenntnis. Die Wirklichkeit selbst kann in letzter Instanz nicht logisch aufgeklärt, sondern nur verstanden werden« (ebd.).

Diese grobe Zeichnung von Diltheys Anknüpfung an Kant antizipiert die in der Sekundärliteratur heftig debattierte Problematik der Stellung der ›Kritik der historischen Vernunft‹ Diltheys zu Kants ›Kritik der reinen Ver3 nunft‹. Noch jenseits dieser prinzipiellen Ebene, auf die wir uns noch später begeben müssen, ist die Frage, inwiefern Dilthey mit der Ablehnung 4 von Kants strengem Dualismus zwischen ›Anschauung‹ und ›Begriff‹ zugleich den durch Kant inaugurierten theoretischen Begründungsrahmen verlässt, alles andere als unberechtigt. Wir werden uns in dieser Frage der Tendenz (damit nicht gleichbedeutend der sachlichen Argumentation) von Peter Kraussers Interpretation anschließen, die in Diltheys ›Kritik‹ eine 5 »Revolution der allgemeinen Wissenschafts- und Handlungstheorie« ergründet. Um diese »Revolution« für unseren Untersuchungszweck eingehender charakterisieren zu können, werden wir uns auf die Explikation eines im Hinblick auf Diltheys Grundlegungssystematik zentralen Axioms konzentrieren, dem er den eigenwilligen Titel ›Selbstbesinnung‹ gab. Dilthey installierte diese ›Philosophie der Selbstbesinnung‹ als Oppositionsbegriff zu Kants Version der ›Erkenntnistheorie‹ und erachtete beide als miteinander unvereinbar (GS XIX: 79). Die theoretischen Bausteine dieser Konzeption sollen im Folgenden zunächst differenziert und am Ende wieder zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Wir sind zu diesem Verfahren gezwungen, weil Dilthey selbst in keiner seiner Arbeiten seine verschiedenen Lehrstücke in ihrem systematischen Zusammenhang erörtert hatte. Nur über die Durchsicht seiner zu Lebzeiten publizierten und vor allem aber der posthum nachgelassenen Fragmente und Entwürfe lässt sich das architektonische Gerüst ermitteln, welches die einzelnen Versatzstücke zusammenhält. Relative Einmütigkeit zwischen den Befürwortern und Gegnern der These von Diltheys theoretischer Autonomie gegenüber Kant besteht in Bezug auf die Gültigkeit von mindestens zwei Argumenten, mit denen Dilthey Kants Begründungsystematik herausforderte, wobei man hinsichtlich der Einschätzung der sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen wiederum divergiert. Die Gegner der Autonomiethese sehen in Diltheys Übertragung des Motivs der Vernunftkritik auf das Gebiet der Geschichte keine grundsätzliche »Transformation von Kant« (de Mul 1996: 95), sondern lediglich 3 4 5

Einige Stationen dieser Debatte werden in der ›Zwischenbetrachtung‹ zur Sprache kommen. Ineichen (1984: 58) beschrieb die Überwindung von Kants Form/Materie – Dichotomie als das Hauptanliegen von Diltheys Kantexegese. So der Untertitel seiner einflussreichen Studie (1968).

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eine ›notwendige Erweiterung‹ und ›Weiterentwicklung‹ Kantischer Grundmotive. Bevor diese Fragen wieder aufgenommen werden, sollen die beiden erwähnten Argumente, die Dilthey scheinbar in Abgrenzung zu Kant einwarf, im Einzelnen veranschaulicht werden. Ich möchte sie im Weiteren unter die Kurzformeln ›Erweiterung von Kants Subjekt- und Erfahrungsbegriff‹ bzw. ›Dynamisierung und Historisierung von Kants Apriori-Begriff‹ resümieren (vgl. Lembeck 1996: 51; de Mul 1996: 86). Das erste Argument basiert auf der wohl am häufigsten zitierten philosophische Aussage Diltheys überhaupt: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dieses wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen« (GS I: XVIII).

Dieses Postulat stellt insofern eine Schlüsselstelle für die Interpretation von Diltheys systematischem Grundanliegen dar, als es sowohl Deutungspotential für eine starke – im Sinne einer radikalen Abkehr von der Vernunftphilosophie im Anschluss an Kant – als auch schwache – im Sinne einer Anknüpfung an dessen kritischem Unternehmen – Auslegung bietet. Manfred Riedel (1993: 35) sah sich beispielsweise genötigt, das ›Missverständnis‹ aufzuklären, demgemäß in der zitierten Passage eine »antirationalistische« Grundhaltung Diltheys zum Ausdruck komme. In der Regel wird der Befund einer antirationalistischen Haltung bei Dilthey direkt mit einer Ablehnung oder sogar der Behauptung einer prinzipiellen Unlösbarkeit des Projekts einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ verbunden. An dieser Stelle wäre eine endgültige Stellungnahme zu dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung verfrüht. Es sei daher vorerst resümiert, dass die Richtung von Diltheys ›Anknüpfung‹ resp. ›Kritik‹ an Kants Begründungsansatz, wie sie sich in dem Zitat ausdrückt, als Anthropologisierung des transzendentalen Subjekts gelesen werden kann. Sie zielte auf eine systematische Berücksichtigung der volitiven und emotionalen Aspekte des menschlichen Weltzugangs gegenüber der rein erkenntnismäßigen Wahrnehmung. Dilthey sprach des Öfteren auch vom »Intellektualismus« (GS XX: 128, 170ff., 272ff.) der Transzendentalphilosophie, den es zu überwinden gelte. Der zweite Einwand Diltheys, der als epochale Kant-Kritik Eingang in das Gedächtnis der Philosophiegeschichte gefunden hat, behauptete: »Das a priori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen des Bewußtseins, wie ich sie begreife, sind lebendiger geschichtlicher Prozeß, sind Entwicklung« (GS XIX: 51). Hier wandte sich Dilthey gegen Kants

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formal-universale bzw. transzendental-logische Festsetzung des Erkenntnissubjekts. Dem gegenüber forderte Dilthey, die konkreten Bedingungen, unter denen Menschen Erfahrungen machen, zur Grundlage auch der erkenntnistheoretischen Überprüfung zu nehmen. Dilthey erweist sich hier als ›Kind‹ der Historischen Schule, deren Grundmaxime spätestens seit Herder in der Auffassung lag, dass jegliche Behauptung einer überhistorischen Wahrheit grundsätzlich abzulehnen sei. Über den Weg einer systematischen Inkorporierung des Historischen auf das Gebiet der theoretischen Wissensbegründung, beanspruchte Dilthey schließlich, der Historischen Schule ein adäquates und solides wissenschaftstheoretisches Fundament bereitgestellt zu haben (GS I: XVI). Nicht wenige Interpreten erachten Diltheys konsequente Hinwendung zur Geschichtlichkeit und zum ›ganzen Menschen‹, die in den beiden zitierten Passagen in markanter Form zum Ausdruck kommen, als die wichtigste Innovation von Diltheys philosophischem Denken (Bollnow 1936: 24; Krausser 1968: 89; Rickman 1988: 135; Jatzkowski 1998: 27). Im Vergleich mit Kants ›Vernunftkritik‹ scheinen diese beiden Postulate eine eigenständige Aufgabenstellung zu formulieren. In jedem Fall findet sich darin die Richtung eines ›Fortgangs über Kant‹ deutlich angezeigt. Aus6 gangspunkte bilden zum einen der Subjektbegriff , zum anderen der Erfahrungsbegriff der klassischen Erkenntnistheorie. Die These, dass Diltheys Ansatz den Rahmen der Transzendentalphilosophie hinter sich beließ und sich einem gesonderten Erfahrungsbereich zuwandte, der außerhalb des Kantischen Begründungsbodens gelegen war, soll im Folgenden ausgeführt werden.

Die ›Struktur des Lebens‹ als G e g e n s t a n d s b e r e i c h d e r G e i s t e sw i s s e n s c h a f t e n Suchte man nach dem Hauptbegriff von Diltheys Grundlegungsphilosophie, so würden sich aufgrund der anfangs geschilderten Komplexität von Diltheys Opus verschiedene Alternativen anbieten. Zu den vielleicht wichtigsten zählen die Idee der ›Struktur‹ (Metzger 1966: 36; Krausser 1968: 17), die Idee des ›Subjekts‹ (Johach 1983: 93) und der Begriff der ›Erfahrung‹ (WuM: 209f.; Habermas 1994: 178ff.; Orth 1995: 29, 31). Die vorliegende Rekonstruktion wählt dagegen den eigentümlichen Begriff des ›Lebens‹ zum Ausgangspunkt, von dem aus die Gesamtsystematik erschlossen werden soll. Trotz dessen Vagheit (vgl. Rodi 2003a: 21f.) und seiner Verwendungsweise zur Kennzeichnung einer bestimmten Richtung

6

Riedel spricht von einer »Entdogmatisierung des Erkenntnissubjekts« (1978: 81).

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des Philosophierens , scheint er aufgrund der besonderen Ausprägung, die er im Rahmen von Diltheys Grundarchitektur zugewiesen bekam, für eine Abgrenzung gegenüber Konkurrenzansätzen am besten geeignet zu sein. Die Etikettierung von ›Leben‹ als dem Zentralbegriff von Diltheys Gedankenarbeit ist zurückdatierbar auf Diltheys unmittelbare Schüler Frischeisen-Köhler (1912: 33f.), Misch (1984: 132) und Bollnow (1936: V, 2ff.), die Diltheys Gesamtwerk aus dessen Spätphilosophie heraus interpretier8 ten. Gleichwohl soll unsere Entscheidung nicht nur historisch, sondern auch inhaltlich begründet werden. Der Begriff ›Lebensphilosophie‹ fungiert heute wie damals in der Regel entweder als Sammelbezeichnung für so unterschiedlich ausgerichtete philosophische Unternehmungen eines Schopenhauers, Kirkegaards, Nietzsches, Bergsons und Simmels oder wird im wörtlichen Sinne als eine Philosophie über das Leben gebraucht. Dilthey mag vor allem aus dem Grund auf eine Einreihung in diese Denkrichtung verzichtet haben, weil dieser im Allgemeinen eine wenigstens wissenschaftsskeptische und zuweilen auch antiwissenschaftliche Intention zugeschrieben wurde. In Anbetracht ihrer fundierenden Zielrichtung muss man Diltheys Lebensphilo9 sophie eindeutig abgrenzen gegenüber der ›populären‹ , wissenschaftskritischen Lebensphilosophie eines Nietzsche etwa, welchem der »Wille zur Wahrheit« als »lebensfeindliches zerstörerisches Prinzip« (Bollnow 1958: 65) galt. Karl T. Glock hat zur Charakterisierung von Diltheys Ausführung einer Lebensphilosophie in einer heute vergessenen Abhandlung die glückliche Formel »wissenschaftliche Lebensphilosophie« (1935) ge10 wählt. Hinter dem Begriff des ›Lebens‹ verbarg sich bei Dilthey keineswegs eine geheimnisvolle metaphysische Entität nach dem Modell der geläufigen substantialistischen Geistbegriffe Hegelscher oder anderer geschichtsmetaphysischer Provenienz, sondern ein konkreter und darüber hinaus äußerst komplexer ›Strukturzusammenhang‹. Aufgrund dieser im Folgenden zu konkretisierenden Eigenschaft des ›Lebens‹, unternahm Dilthey erst gar keinen entschiedenen Versuch, es abschließend zu definieren. Im Gegenteil, er führte bei verschiedenen Gelegenheiten die Einschrän7

Böhme und Potyka sehen darin den »wohl problematischste Begriff seiner Erkenntnistheorie« (1995: 44). 8 Dilthey selbst hat diesen Terminus offensichtlich nie selbst zur Kennzeichnung seines Philosophierens herangezogen. Ringer (1987: 301) vermutet jedoch, dass Dilthey ihn noch zu diesem Zweck zu Lebzeiten gebilligt hatte. 9 Diese Bezeichnung fasst die insbesondere nach 1900 in Deutschland emporschießenden, weltanschaulich ausgerichteten Lebensphilosophien zusammen. In diesem Sinne wird der Begriff gebraucht bei Kühne-Bertram (1983) und Heilmann-Vollmer (1985) und Fritz K. Ringer (1987: 301f.) verwendet. 10 Auch Plessner (1990/91: 293) hatte auf diesen Unterschied zwischen einer ›populären‹ und ›wissenschaftlichen‹ Lebensphilosophie aufmerksam gemacht.

DILTHEYS ›KRITIK DER HISTORISCHEN VERNUNFT‹ | 81

kung an, dass es letztlich ein »Rätsel« bleiben werde (GS XIX: 310, 344; GS XX: 236). Dennoch sei ein repräsentativer Eindruck von Diltheys Definitionsbemühungen nicht vorenthalten: »Der Ausdruck Leben drückt hier zunächst das aus, was jedem das Bekannteste, Intimste ist. Was Leben sei, ist so in der Erfahrung gegeben. Wir erleben es, und es ist uns doch ein Rätsel. Aber wir wissen, wie es auftritt und sich darstellt. Es ist, wo eine Struktur besteht, welche von Reiz zu Bewegung geht. Dieser Fortgang von Reiz zu Bewegung ist überall an die Erscheinung eines Organischen gebunden. In dieser Struktur, welche vom Reiz zur Bewegung geht, pulsiert gleichsam das Geheimnis des Lebens. Die Lebenseinheit ist immer in dem Zusammenhang dieser Struktur« (GS XIX: 344).

Vor dem Hintergrund dieser Bestimmung wird einsichtig, weshalb Dilthey eher selten von dem ›Leben‹ als solchem sprach, sondern zumeist von der ›Struktur‹, dem ›Zusammenhang‹ oder dem ›Strukturzusammenhang‹ des Lebens. Verständlich erscheint nun auch, dass man dieses Gebilde von den unterschiedlichsten perspektivischen Einstellungen aus analysieren kann, wie dies Dilthey im Verlauf seiner Denkentwicklung selbst unternommen hat. Unter Berücksichtigung dieser Definition erscheinen die disparaten Anläufe, die Dilthey im Verlauf seines Lebens zum Zwecke einer »Objektivierung des Lebenszusammenhangs« (GS VIII: 178) genommen hatte, keineswegs als konträr, sondern als einander ergänzend und komplemen11 tierend. Die folgende Darstellung von Diltheys Philosophie des Lebens orientiert sich an der Maßgabe, zunächst dessen Erläuterungen zur Beschaffenheit des ›Lebens‹ genauer zu beleuchten und in Anlehnung daran, seine spezifischen methodologischen Grundaxiome in Bezug auf die Fundierung einer Theorie des Wissens zu erörtern.

›Erkenntnistheorie‹ und ›Selbstbesinnung‹ Bisher haben wir eine recht allgemeine Bestimmung des Gegenstandsbereiches von Diltheys Begründungsgeschäft vorliegen und müssen nun näher untersuchen, in welche systematischen Überlegungen Dilthey das Konzept des Lebens integriert hatte. 11 Über einen langen Interpretationszeitraum wurde die Diskussion um Dilthey von der Frage nach der Beziehung zwischen dem früheren ›psychologistischen‹ und dem späteren ›hermeneutischen‹ Ansatz bestimmt. Festgeschrieben wurde diejenige Interpretationslinie, die von der Unverträglichkeit der mittleren und späten Schaffensphase in Diltheys Werk ausging, bekanntermaßen in Bernhard Groethuysens ›Vorbericht‹ zum siebten Band der ›Gesammelten Schriften‹. Zu dieser Diskussion siehe exemplarisch Lessing (1984: 23f.), Makkreel (1991: 341ff.), Johach (1984: 98), Gadamer (GGW 4: 407), Riedel (1993: 53ff.), Rodi (2003b: 73ff.), Ströker (1985: 84).

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Zur Kennzeichnung seines philosophischen Gesamtprogramms führte er zunächst einen Neologismus ein, der zunächst an keine traditionelle Form der Philosophiebegründung erinnert. Dabei grenzte Dilthey dieses Vorhaben mit dem ausnehmenden Titel »Selbstbesinnung« explizit von der empiristischen und rationalistischen Grundlegungsphilosophie ab, die in den Augen Diltheys auf dem Modell der klassischen Erkenntnistheorie 12 basierten. Die »Philosophie der Selbstbesinnung« sollte dagegen auf anderen Prämissen aufruhen als die tradierten Systeme. Zum »obersten Satz der Philosophie« (GS V: 90) erklärte Dilthey den ›Satz des Bewußtseins‹, der auch als ›Satz der Phänomenalität‹ in seinem Werk firmiert. Diesem zufolge »steht alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewußtseins zu sein; auch jedes äußere Ding ist mir nur als eine Verbindung von Tatsachen oder Vorgängen des Bewußtseins gegeben; Gegenstand, Ding, ist nur für ein Bewußtsein und in einem Bewußtsein da« (ebd.).

Ideengeschichtlich führte Dilthey dieses Postulat auf die vedische Philosophie zurück. Erst mit der Begründung der neuzeitlichen Wissenschaft habe dieses Philosophem Eingang in die europäische Philosophie gefunden (GS XX: 169). Dieses Axiom wird häufig als Beleg für Diltheys Nähe zu Kant angeführt (Ineichen 1984: 59). Dilthey verwarf jedoch diejenigen Fassungen des Konzeptes, die von empiristischen Philosophen im Anschluss an Berkeley formuliert wurden, ebenso wie rationalistische Varianten von Kant bis Fichte und sogar Schopenhauer allesamt als fehlerhaft, da sie dem »Irrtum« aufgesessen seien, »dass die Elemente der äußeren Wirklichkeit Vorstellung allein seien« (GS XX: 171). Dilthey sprach hier auch von einer »intellektualistischen Umdeutung« (ebd.). Von einem solchermaßen beschränkten Standpunkt aus, sei der »Zusammenhang der Lebendigkeit, in welchem die Tätigkeiten des Menschen verbunden sind, (nicht) zu erfassen. Erst die Selbstbesinnung erfaßt den fundamentalen Satz aller Philosophie: Zusammenhang als ein realer ist nur in der Struktur des Lebens gegeben« (ebd., 236).

Im ersten Schritt zur Begründung einer solchen ›Selbstbesinnungsphilosophie‹ ersetzte Dilthey den für ihn unzureichenden Begriff des ›Erkenntnissubjekts‹ durch denjenigen der »Totalität unsres Bewußtseins« (ebd., 152). Entsprechend handelte es sich auch nicht lediglich um das Problem der ›Wahrnehmung‹ im Sinne der Erkenntnistheorie, sondern um dasjenige der

12 Logik und Erkenntnistheorie seien, so Dilthey, die Erben der Metaphysik als der »grundlegenden Wissenschaft der Philosophie« (GS XX: 235).

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›Erfahrung‹ (ebd., 153). Es ging ihm also nicht ausschließlich um eine Erweiterung des transzendentalphilosophischen Subjektsbegriffs. Zur Disposition gestellt wurden vielmehr die Grundpfeiler des klassischen Wissenschaftskonzeptes und dessen Grundaxiome in toto. Die Grundsätzlichkeit von Diltheys lebensphilosophischem Anliegen geht auch aus folgender, oben bereits zitierter Zusammenfassung der verschiedenen Gegenstandsdimensionen von Diltheys Selbstbesinnungskonzept eindrücklich hervor: »Eine Grundlegung […] umfasst Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Erfassung des Wirklichen und als Inbegriff derselben Theorien über Bestimmung von Werten und Handeln nach Zwecken« (GS VIII: 179). Selbst bei denjenigen Zeitgenossen, die mit der Krisensituation der Wissenschaften vertraut gewesen sind, dürfte dieses nicht gerade unprätentiöse Ersetzungsprogramm zum Teil sicherlich auch gemischte Ge14 fühle geweckt haben. Die Radikalität dieses Denkens kann überhaupt nur aus der oben geschilderten Betroffenheit Diltheys von der als lebenserschütternd empfundenen ›Krisis des Wissens‹ adäquat eingestuft werden. Es ist nun bemerkenswert, dass Dilthey offensichtlich bereits im Jahre 1865, also ganze 18 Jahre vor der Veröffentlichung des ersten Bandes der ›Einleitung‹, ein systematisches Grundgerüst erarbeitet hatte, das seitdem für ihn verbindlich geblieben war und auch noch den Horizont für seine späteren Ansätze absteckte. Dieser Architektonik zufolge sollte das, was Dilthey in der Vorrede zur ›Einleitung‹ als »erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften« (GS I: XIX) angekündigt hatte, folgende Elemente umfassen: zunächst eine ›erkenntnistheoretische‹, genauer (erkenntnis)›psychologische‹ oder ›bewusstseinsphänomenologische‹ Analyse, darauf folgend eine ›logische‹ Untersuchung und schließlich die eigentliche ›methodologische‹ Begründung des Zusammenhangs der Geis15 teswissenschaften. Im weiteren Verlauf dieses Teilkapitels wird im Einzelnen zu beleuchten sein, wie weit Dilthey mit der Ausführung der jeweiligen Projekte fortgeschritten war. Um diese systematische Ebene zunächst an die bereits geschilderte allgemeine Grundprogrammatik Diltheys anzuknüpfen, mag Diltheys unaufhörlich geäußerter Anspruch, der Philosophie zu einem »volleren, reiferen Bewußtsein der Wirklichkeit« (GS XIX: 306) verhelfen zu wollen, kontextualisiert werden. Denn in Diltheys Wahrnehmung war der »Niedergang der großen europäischen Kulturvölker« letztlich dem »furchtbaren Ende der intellektualistischen Richtung« zuzu-

13 Für eine theoriegeschichtliche Kontextuierung von Diltheys Erfahrungsbegriff siehe Šuber (im Erscheinen a). 14 In der zitierten Formulierung wurde das Konzept allerdings erst posthum publik. 15 Für eine genauere Übersicht siehe die von Johach und Rodi entwickelte Synopse, die einen exakten Eindruck über den Aufbau und den Entwicklungsstand des zweiten Bandes der ›Einleitung‹ liefert (1982: XLf.).

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schreiben, welche die »Verkümmerung der vollen, ganzen, menschlichen Wirklichkeit« hervorgebracht hatte (ebd., 378f.). Dilthey musste es vor diesem Hintergrund um eine Redefinition der Philosophie gehen: »Die Philosophie, so verstanden, ist die Wissenschaft des Wirklichen« (ebd., 172). In dieser Formulierung erweist sich Dilthey als getreuer Schüler Trendelenburgs, der – wie im vorausgegangenen Kapitel erörtert wurde – zu den Hauptprotagonisten eines »‹organischen Weltbildes‹ [...], das dem Empirischen in den Wissenschaften den höchs16 ten Rang einzuräumen bereit ist« (Köhnke 1993: 25), zu rechnen ist. Diltheys Theorie des Wissens verabschiedete sich von der metaphysischspekulativen Systemkonstruktion des Hegelianismus ebenso wie von den starren Prämissen der idealistischen, von Kant ausgehenden Grundlegungsphilosophie. Lieber hat in Bezug auf Dilthey mit Recht von einer »lebensphilosophischen Wende der Transzendentalphilosophie« (1974: 30) gesprochen. Die von Dilthey initiierte Hinwendung der Philosophie zur ›Wirklichkeit‹ kehrte sich gegen alle Formen der Vorherrschaft des Konstruktionsgedankens in der Philosophie. Eine Applikation des Lebensbegriffs schien ihm, trotz der diesem anhaftenden und aus Diltheys Blickwinkel sicherlich zweifelhaften Konnotationen, der geeignete Ansatz, eine solche Hinwendung anzuzeigen. Nun gilt es, im Anschluss an die Erläuterung der programmatischen Ausführungen die theoretischen Behelfsmittel, die von Dilthey in den Dienst der philosophischen ›Selbstbesinnung‹ gestellt wurden, genauer zu analysieren.

D i l t h e ys T r a n s f o r m a t i o n d e r E r k e n n t n i s t h e o r i e Aus der bisherigen Darlegung ist bereits hervorgegangen, dass Dilthey gegenüber der Erkenntnistheorie als »Fundamentalwissenschaft« (Rorty 1987: 14) gewisse Vorbehalte hegte. Deren Prämissen waren Dilthey zufolge ungeeignet zur Erfassung des ›Lebens‹. Bevor er daran ging, das Fundament der Geisteswissenschaften von neuen theoretischen Ausgangspunkten heraus zu bearbeiten, setzte er sich akribisch mit den Prämissen des klassischen Wissenschaftsbegriffs auseinander.

1. Der Gegensatz von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Erfahrung Einen der Grundpfeiler der klassischen Erkenntnistheorie erblickte Dilthey in dem Gegensatzpaar von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Erfahrung. Hierzu scheinen zunächst einige ideengeschichtliche Bemerkungen opportun.

16 Vgl. zur diesbezüglichen Relevanz Trendelenburgs für Diltheys Ansatz auch die Ausführungen von Rodi (2003a: 67ff.).

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Kant hatte als Erster dem Gegensatz von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Erfahrung eine systematische erkenntnistheoretische Funktion zugewiesen (vgl. Knauss 1972: 619). Wenn er in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ den Bereich der inneren Erfahrung als gegenüber demjenigen der äußeren Erfah17 rung nachgeordnet deklarierte , setzte er im Grunde die von Aristoteles ausgegangene Grundtendenz in der Philosophie fort, das Besondere – um mit Letzterem zu sprechen: das »akzidentell Seiende« (Metaphysik: 223) – prinzipiell als Erkenntnisgegenstand aus der Wissenschaft auszuschließen. Bei Kant wird das Urteil lauten, dass es vom Besonderen keine ›apodikti18 sche‹, sondern lediglich ›empirische‹ Gewissheit geben kann. Erst die von Hegel etablierte Wissenssystematik überwindet die von Aristoteles bis zu Kant tradierten Zuordnungen. Hegels dialektische Begriffslogik begründete die Möglichkeit, »auch den Begriff der Erfahrung aus der Sphäre der Sinnlichkeit in die Sphäre der reinen Begriffe« (Stegmaier 1997: 206) zu übertragen. In Kontrast zu Kants starrer Bewusstseinskonstruktion stellte Hegel mit diesem Grundgedanken die Fähigkeit des Bewusstseins in Rechnung, durch fortwährende Selbsterkenntnis und -Beobachtung seine Vorstellungen und Begriffe immer wieder neu zu justieren und anzupassen. Das hier angedeutete Spannungsverhältnis zwischen den beiden philosophischen Traditionslinien, für die wir paradigmatisch Kant und Hegel als Hauptfiguren herangezogen haben, reflektiert sich noch in Diltheys Situationsbeschreibung. Er antizipierte das traditionelle »Mißtrauen gegenüber dem innern Erleben und der in ihm gegeben Objektivität, ein Mißtrauen, das dann in der herrschenden naturwissenschaftlichen Schule sich geltend macht als die Behauptung, nur in dem Gebiete der Außenwelt und ihrer Gleichförmigkeiten gibt es ein Wissen; sobald wir es überschreiten, dem Innern uns zuwenden, verfallen wir der Subjektivität, individualistischen Meinungen und Täuschungen« (GS XX: 279).

Eine Überwindung dieses »Mißtrauens« gegenüber der ›inneren Erfahrung‹ wurde zu einer der beherrschenden Herausforderungen für Dilthey. Dabei war er durchaus nicht der erste Philosoph, der eine Neuformulierung des Verhältnisses von innerer und äußerer Erfahrung für notwendig befand. Nach dem im ersten Teil genauer beschriebenen Heraustreten der Naturwissenschaften aus dem traditionellen Wissenschaftsverbund und der damit verbundenen Ausdifferenzierung zahlreicher neuer Wissensbereiche, entstand das Bedürfnis nach einer entsprechenden Klassifizierung der 17 So in eindringlicher Form in seiner »Widerlegung des Idealismus«, wo er gegenüber Berkeley darlegt, »daß selbst unsere innere, dem Cartesius unbezweifelte, Erfahrung nur unter Voraussetzung äußerer Erfahrung möglich sei« (KrV: B 274, 275; W 254). 18 Bereits Aristoteles unterschied die Wissenschaften aufgrund der Möglichkeit, apodiktisches Wissen zu erzeugen (Metaphysik 85).

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Disziplinen. Beneke und Calinich hatten schließlich die Distinktion von innerer und äußerer Wahrnehmung zu diesem Zweck bemüht. Allerdings verfolgten beide Autoren keine systematischen Interessen, so dass deren diesbezüglichen Ausführungen in wissenschaftstheoretischer Hinsicht nur wenig Aufschluss lieferten. Erst bei Dilthey wurde die Taxonomie in einen systematisch abgeleiteten Grundlegungsrahmen eingebettet. Zunächst referierte Dilthey, dass sich die Naturwissenschaften dahingehend von den Geisteswissenschaften unterschieden, »daß jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten« (GS V: 143). Seit jeher ist Diltheys Abgrenzungsphilosophie Gegenstand von Missinterpretationen gewesen. Bis in die Gegenwart ist es üblich, das Diltheysche Unterscheidungsprinzip zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als ein ontologisches zu qualifizieren. In diesem Sinne haben auch bereits die Vertreter des »Konkurrenzunternehmens« (Riedel 1978: 100), Windelband (Präl II: 142), Rickert (KuN: 12, 29, 70ff.) sowie auch Max Weber (GAWL: 12), heftige Attacken gegen Dilthey lanciert (vgl. Harrington 2001b: 313ff.). Dilthey selbst widersetzte sich einer solchen, seiner Intention widersprechenden, Deutung und stellte klar, »daß die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften nicht logisch korrekt als zwei Klassen gesondert werden können durch zwei Tatsachenkreise, die sie bilden« (Aufbau: 92). Die sich in diesen beiden Positionen entblößende Diskrepanz lässt sich unter Rekurs auf Diltheys bereits angedeuteten ›phänomenalistischen‹ Ausgangspunkt auflösen. Unter den im ›Satz der Phänomenalität‹ enthaltenen Prämissen kann es sich bei dem vermeintlichen Dualismus von innerer und äußerer Erfahrung nicht um eine absolute, sondern nur um eine relative Unterscheidung handeln. Die beiden Erfahrungsbereiche sind, genauer gesagt, nicht ontologisch zu differenzieren. Es handelt sich dabei vielmehr um unterschiedene Modi des Gegebenseins im Bewusstsein. Dilthey sprach in diesem Sinne auch von zwei getrennten »Kreisen innerhalb des Bewußtseins« (GS XIX: 339). Sowohl die Wahrnehmung von äußeren Dingen als auch von Gefühlen und Gedanken seien über Bewusstseinsprozesse vermittelt. Der Interpretationsfehler, dem nicht nur die zitierten Zeitgenossen aufsaßen, sondern sich auch in der Gegenwart noch beliebig nachweisen ließe, übersieht, dass Dilthey – unter dem Gebot des ›Satzes der Phänomenalität‹ – gerade nicht (sic!) von der Erkenntnismöglichkeit einer außerhalb des Bewusstseins gelegenen Welt ausging. Den Unterschied zwischen der Zugangsweise der Natur- und Geisteswissenschaften beschrieb Dilthey als einen vermittlungsbedingten. Während der Naturforscher einen lediglich ›mittelbaren‹ Zugang zu seinen Objekten habe, seien diese dem Geistes-

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wissenschaftler ›unmittelbar‹ gegeben. Für den Naturforscher ergebe sich dadurch das Problem, die Kluft, die sich hier zwischen Subjekt und Objekt auftat, mit Hilfe von Abstraktionsregeln und Behelfshypothesen überbrücken zu müssen. Im Hinblick auf die gegenstandstheoretische Begründung der Autonomie der Geisteswissenschaften nahm sich Dilthey dagegen den »Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung« (GS I: 20; GS V: 90f.) vor. Geradezu euphorisiert bekundete Dilthey seine Entdeckung, die er seinen Kollegen mitzuteilen hatte: »Wie anders ist uns das Seelenleben gegeben! Im Gegensatz zur äußeren Wahrnehmung beruht die innere Wahrnehmung auf einem Innewerden, einem Erleben, sie ist unmittelbar gegeben« (GS V: 170). Dieser selbstbewussten Äußerung steht jedoch Diltheys Jahrzehnte währendes, zähes Ringen darum, diesen Befund in eine adäquate philosophische Form resp. eine allgemeine Theorie des Wissens umzusetzen, unstimmig gegenüber. Für die weiteren Ausführungen wird es daher notwendig sein, sensibel zwischen Diltheys Anspruch einerseits sowie den objektiven Resultaten seiner philosophischen Entdeckungen andererseits, zu differenzieren. Es lassen sich in Diltheys überlieferten Aufzeichnungen eben auch solche, nach Verzweiflung und Resignation klingenden, Töne vernehmen – so etwa, wenn er feststellt, dass »die wissenschaftliche Energie«, das Leben über sich selbst aufzuklären, »in sich einen Widerspruch, sonach etwas Tragisches (enthält)« (GS XIX: 356ff.).

2. ›Erkennen‹ versus ›Innewerden‹ Ein weiteres Grundmotiv von Diltheys Revision der klassischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie tangiert wiederum die Frage nach der Qualität des eigentümlichen Gegenstandes von Diltheys ›Selbstbesinnungsphilosophie‹. Deren allgemeine Zielrichtung wurde bereits erörtert und dabei die beiden Momente der Abkehr von dem traditionellen Modell der ›Erfahrung‹ einerseits und der Hinwendung zur ›Wirklichkeit‹ der im Bewusstsein stattfindenden Prozesse und Zusammenhänge andererseits herausgestellt. Diltheys Reformulierung der Erkenntnistheorie soll in der vor-

19 Die berühmte Passage, auf die man sich regelmäßig zur Erörterung von Diltheys Abgrenzungstheorie bezieht, soll hier nicht unzitiert bleiben: »Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich für die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist, Für die Geisteswissenschaften erfolgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (GS V: 143f.).

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liegenden Arbeit als Grundlegung eines holistischen Erkenntnisbegriffs 20 präzisiert und ausgeführt werden. Dilthey hat das Bild beschrieben, wonach die Aktivität des Erkennens nur einen Aspekt eines Gesamtzusammenhangs der körperlich-sinnlichen Wahrnehmung darstellt. Aufgrund der untrennbaren Verbundenheit des Erkennens mit weiteren Wahrnehmungsfunktionen stellte Dilthey den Sinn einer bloß auf einen Teilaspekt der Gesamtwahrnehmung beschränkten Fundierungsdisziplin für die Grundlegung der Geisteswissenschaften grundsätzlich in Frage. Er sonderte zunächst auch »Wollen«, »Fühlen«, und »Vorstellen« – neben dem »Denken« – als gleichursprüngliche Welt21 bezüge des Bewusstseins heraus. Diese konstituierten laut Dilthey »drei Seiten des psychischen Lebens« (GS XX: 162). Diltheys Vorstellung nach handelte es sich dabei nicht um arbeitsteilig organisierte Funktionen einer Einheit nach dem Modell eines Organismus, sondern um ungetrennte Funktionen, die bestenfalls mit Hilfe einer angemessenen psychologischen Methode ›zergliedert‹ und einzeln ›beschrieben‹ werden könnten. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt führte Dilthey abermals einen Neologismus ein. Das so genannte »Innewerden« nahm hier diejenige Funktion ein, welcher dem Begriff des ›Erkennens‹ oder des ›Wahrnehmens‹ im traditionellen Verständnis von Erkenntnistheorie zugekommen war. Dilthey definierte weiter: »Dieses Innewerden ist nicht ein Vorgang, in welchem ich mir zum Objekt werde« (ebd., 153). Es handelt sich dabei also um ein nicht-bewusstes und unmittelbares Wahrnehmen. ›Innewerden‹ zeichnet sich gegenüber den klassischen Erfahrungsbegriffen dadurch aus, dass dabei nicht nur reflexive Denkprozesse im Spiel, sondern ebenfalls volitive und emotionale Aspekte inbegriffen waren. Dilthey fügte diesen Ausführungen schließlich auch die argumentationstheoretisch gewichtige Grundidee hinzu, wonach reflexive Denkvorgänge auf diesen primären Prozessen aufbauten. Dieser prozessuale Begriff des ›Innewerdens‹ markierte in Diltheys ›Erkenntnistheorie‹ die eigentümliche Gegebenheitsweise des Lebens und bildet in diesem Sinne diejenige Kategorie, auf welcher Diltheys lebensphilosophische Grundlegungsaxiomatik aufruht. Er leitete aus den dargestellten Bestimmungen eine seiner zentralsten Schlussfolgerungen ab, die er an den unterschiedlichsten Stellen seines Opus entsprechend hervorhob. In ihrer minimalistischsten Variante behauptete diese: »Hinter das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen« (GS VIII: 180). Dilthey bediente sich dieser und ähnlich klingender Formulierungen zumeist in der 20 Zur Definition und Aktualität eines holistischen Philosophiebegriffs siehe Bertram/Liptow (2002: 7ff.). 21 Insbesondere in seinen Psychologie-Vorlesungen, die heute in den Bänden XXI und XXII der GS dokumentiert sind, nahm sich Dilthey der Aufgabe an, »die zu schematische Einteilung in Erkennen, Fühlen und Wollen in eine differenzierte und tiefere und damit lebensnähere Anschauung zu überführen« (van Kerckhoven/Lessing 1994/95: 73).

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Absicht, die Untauglichkeit der bisherigen Erkenntnistheorie für die geisteswissenschaftliche Wissensbegründung zum Ausdruck zu bringen. Zuweilen radikalisierte er den von ihm etablierten Gegensatz zwischen ›Le22 ben und Erkennen‹ zu einem unüberbrückbaren: »es gibt keine Wissenschaft, welche einander binden könnte diese beiden Seiten des menschlichen Wissens: Wissen als Erkennen und Wissen als Erleben und Verstehen« (GS XX: 327). An diesem Argumentationspunkt lässt sich der theoretische Zusammenhang zwischen Diltheys programmatischer Richtung mit der ihr zugrunde liegenden sachlichen Dimension verdeutlichen. Aus dem Befund einer ursprünglicheren Wahrnehmungsform, die gegenüber der reflexiven Wahrnehmung in einer tieferen Bewusstseinsschicht begründet lag, erschloss Dilthey das Erfordernis einer allgemeineren Fundierungsdisziplin: »In der Selbstbesinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund seelischen Lebens umfaßt, hat sie [die Erkenntnistheorie, D.Š.] ihre Grundlage: Allgemeingültigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit werden von diesem Befund aus erst nach ihrem Sinn bestimmt« (GS V: 151f.).

Diesen Argumentationszusammenhang möchte ich im Weiteren als Diltheys lebensphilosophische Grundfigur adressieren. Diese Idee bildet den Kern von Diltheys Wissenstheorie. Bereits aus der bisher gebotenen Perspektive lassen sich vorläufige Abgrenzungen zu geläufigen Interpretationen vornehmen. Diltheys Ausgangspunkt ist kein idealistischer im Sinne des (Neu-)Kantianismus. ›Leben‹ benennt für Dilthey eine ›wirkliche‹ Struktur, welche empirisch zu fassen ist und eben keine ›transzendentale Idee‹ (vgl. Ermarth 1978: 109). Diltheys Lebensbegriff scheint näher verwandt mit dem Hegelschen Beg23 riff des ›Geistes‹, wobei beide – symptomatisch – ähnlichen Fehlinterpretationen ausgesetzt waren. Nämlich auch der von Hegel begründete »Singularbegriff« (Koselleck 1991: 112) des ›Geistes‹ war keineswegs primär abstrakt, sondern konkret intendiert gewesen. Die Parallelität beider Begriffsschöpfungen beschreibt auch Gudrun Kühne-Bertram: »Dilthey setzt an die Stelle der ›allgemeinen Vernunft Hegels‹ das ›Leben in seiner Totalität‹« (2004: XXI). Ausgezeichnet wird hier jeweils eine ›Struktur‹, die für einen komplexen Zusammenhang von unterschiedlichen Funktionen steht. Sowohl ›Geist‹ wie auch ›Leben‹ sind in diesem Sinne

22 So auch der Titel einer der wichtigsten, posthum veröffentlichten Entwürfe für die Fortführung des zweiten Bandes der ›Einleitung‹ (GS XIX: 333ff.). 23 Auch von Seiten der Dilthey-Experten ist angemerkt worden, dass sich Hegels Einfluss auf Dilthey insbesondere in Diltheys Verständnis der Philosophie als ›Selbstbesinnung‹ manifestiere (vgl. Kühne-Bertram 2004: XXI).

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holistisch , im Gegensatz zu einer »atomistischen Interpretation des Lebens« (GS XIX: 341; Hervorhebung D.Š.), konzipiert. Damit ist auch impliziert, dass Dilthey keine ontologische Herleitung der Geisteswissenschaften bezweckte. Der lebensphilosophische Standpunkt nimmt einen grundlegenden Perspektivenwechsel vor, der nicht etwa eine Trennung von Außenwelt und Innenwelt auf neue Weise begründet und legitimiert, sondern diese untergräbt und für ›relativ‹ nimmt. Aus diesem Grunde ist Diltheys Philosophie ubiquitär: Sie betrifft alle Bereiche des philosophischen Themenspektrums und ist nicht nur auf eine Überwindung der Metaphysik (Riedel 1968/69; 1978) oder des Positivismus (Brown 2005: 201) beschränkt.

D i l t h e y s An s ä t z e z u r G r u n d l e g u n g d e r G e i s t e sw i s s e n s c h a f t e n Nachdem bisher die gegenständliche Dimension von Diltheys Wissenstheorie beleuchtet und deren Anspruchshaltung in Abgrenzung gegenüber dem klassischen Wissensmodell herausgestellt wurde, soll nun im Anschluss Diltheys ›Theorie der Methode‹ (Frischeisen-Köhler 1912: 35) entfaltet werden. Diltheys Schüler Frischeisen-Köhler antizipierte mit dieser Wendung die Frage nach der »Art, wie wir das im unmittelbaren Erlebnis Erfahrene begrifflich zu erfassen und in Urteilszusammenhänge darzustellen vermögen« (ebd.). Es geht im Folgenden daher um die methodologische Fundierungsschicht von Diltheys Theoriegebäude. Die Dilthey-Rezeption unterscheidet in der Regel zwischen einer ›mittleren‹ und ›späten‹ Schaffensphase, wobei erstere jene Zeitspanne zwischen 1880 und 1896 umfasst, in welcher sich Dilthey primär dem Projekt der Vollendung der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ widmete. Im Zentrum stand hier der Versuch, über eine ›hermeneutische Psychologie‹ (Kerckhoven/Lessing 1994/95: 66) die geisteswissenschaftlichen Disziplinen einheitlich zu begründen. Die einschlagende Kritik des Physiologen Hermann Ebbinghaus an Diltheys ›Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie‹ brachte schließlich Diltheys Beschäftigung mit der Grundlegungsproblematik für eine Zeit zum Erliegen. In der Spätphase ab 1900 wandte er sich dieser Aufgbabe jedoch von neuem zu, wobei er nun offensichtlich auf grundlegend andere konzeptionelle Mittel setzte als vor der Jahrhundertwende. Nachdem man aufgrund dieser Bewandtnis häufig auch eine inhaltliche Abwendung von seiner allgemein theoreti-

24 Vgl. mit Rodis folgender Beschreibung: »In this sense ›structure‹, along with ›nexus‹, ›articulation‹, ›differentiation‹, etc., belongs to the basic categories of a holistic approach to the entirety of the facts of consciousness as lived experience« (1987: 110).

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schen Richtungsorientierung hin zur Beschäftigung mit der Verstehenslehre vermutet hatte, herrscht heute relative Einhelligkeit über die Kontinuität 25 von Früh- und Spätwerk vor. Diltheys unmittelbare Schülerschaft hatte das Gesamtwerk zunächst von der Spätphilosophie aus erschlossen, wodurch der inhärente Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ansätzen nur schwach zum Vorschein trat. Die posthume Veröffentlichung der von Dilthey hinterlassenen Manuskripte, Ausarbeitungen, Skizzen und Entwürfe erlauben seit Beginn der achtziger Jahre einen genaueren Einblick in Diltheys Denkwerkstatt. Jedes Unterfangen, einen Zusammenhang zwischen den diversen, thematisch zum Teil weit aus auseinander liegenden Ansätzen in Diltheys Werk herzustellen, steht folglich vor einigen Schwie26 rigkeiten. Die vorliegende Rekonstruktion wird sich auf dasjenige Themengebiet beschränken, welches in Diltheys Systematik als ›erkenntnistheoretische‹ Grundlegung – neben der ›logischen‹ und ›methodologi27 schen‹ – firmiert. Die Gliederung erfolgt nach den unterschiedlichen Perspektiveneinstellungen, aus denen Dilthey jeweils versuchte, eine Selbstbesinnung des sowie über das Leben zu vollziehen. Dabei variierten spezifische Akzentsetzungen, die jeweils in verschiedenen Schaffensphasen leitend waren. Obgleich auch die ›erkenntnistheoretische‹ Grundlegung nicht in zusammenhängender Form überliefert ist, bieten insbesondere die Bände V, VII, VIII, XVIII und XIX Materialien, auf deren Basis sich ein ungefähres Bild zusammenfügen lässt. Bei der Darstellung werden gleichfalls nur die groben Konturen und Umrisse der unterschiedlichen Grundlegungsansätze in Bezug auf die bereits erörterte Gesamtprogrammatik ausgemalt.

1. Psychologie als Erkenntnistheorie Diltheys erster Umsetzungsversuch seiner lebensphilosophischen Ausgangspunkte führte ihn zu psychologischen Untersuchungen. Zu diesem Zeitpunkt stand die Psychologie entsprechend der allgemeinen Fächerord28 nung noch innerhalb der philosophischen Fakultät. Seit der zweiten Jahr25 Siehe dazu die oben S. 81, Anm. 11 aufgeführte Literatur sowie zusammenfassend Rodi (2003a: 19ff.). 26 Eine Gesamtdarstellung auf Basis der Bände XVIII bis XXI liegt bis heute noch nicht vor. 27 Dilthey verzichtete trotz seiner bereits skizzierten Vorbehalte gegenüber der klassischen Erkenntnistheorie nicht auf die konventionelle Terminologie. Derartige Inkonsequenzen haben zweifelsohne zum Entstehen von sachlich überflüssigen Kontroversen und Missverständnissen beigetragen. Wo Dilthey sich positiv auf ›Erkenntnistheorie‹ bezog, sprach er seine wirklichkeitsorientierte und erfahrungsgesättigte ›Selbstbesinnungsphilosophie‹ an. 28 Erst seit 1913 wurde offiziell eine Abspaltung der naturwissenschaftlich verfahrenden Psychologie von der Philosophie gefordert (Vollhardt 1986: 29). Siehe dazu auch Kusch (1995: 190ff.) und Schnädelbach (1999: 126, 309).

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hunderthälfte florierten unter diesem Label eine Vielfalt inhaltlich durchaus heterogener Programme, die entweder von einem mehr philosophisch oder aber physiologisch orientierten Blickpunkt aus formuliert wurden. Von daher muss man Diltheys Rekurs auf Psychologie zunächst als konventionell betrachten. Eine negative Konnotation erhielt die Verbindung von Erkenntnistheorie und Psychologie endgültig wohl erst durch die Psychologismus-Kritiken Husserls und Freges. Husserls Rundumschlag nahm Diltheys ›Ideen‹ aus dem Jahre 1894 jedoch explizit von der Kritik aus (Hua IX: 35). Wie viele seiner prominenteren philosophischen Kollegen, darunter Eucken, Natorp, Riehl, Stein und Windelband, bezog er sich durchaus positiv auf Diltheys ›geisteswissenschaftliche Psychologie‹ (vgl. 29 30 Kusch 1995 166f.). Die breite Zustimmung erklärt sich dabei mehr über die programmatische Richtung, welche Diltheys Psychologie einschlug, als über den Nachvollzug ihrer konkreten inhaltlichen Ausführung. Die ›Ideen‹ wurden in den Fachkreisen als eine polemische und willkommene Kritik an der seit mehreren Jahren an Einfluss gewinnenden, naturwissenschaftlich orientierten ›experimentellen Psychologie‹ aufgenommen. Die Vertreter der naturwissenschaftlichen Psychologie hatten zuvor mit Erfolg begonnen, eine Abspaltung von der Philosophie zu betreiben, die naturgemäß von den Repräsentanten der ›reinen Philosophie‹ (Kusch) mit größtem Argwohn beobachtet wurde. Diltheys Psychologie, die sich als ›hermeneutische‹ ausgab, wurden in erster Linie als ein programmatischer Entwurf wahrgenommen und von der überwiegenden Gruppe der ›reinen‹ Philosophen begrüßt. Wie sah nun eine solche ›geisteswissenschaftliche‹ Psychologie aus? Dilthey formulierte zu Beginn seiner Ausarbeitung den »Anspruch der Geisteswissenschaften [...], ihre Methoden ihrem Objekt entsprechend selbständig zu bestimmen« (GS V: 43). Seiner ›analytischen Psychologie‹ übertrug er konkret die Aufgabe der »Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist« (ebd., 152). Die enge Verbundenheit dieser spezifischen ›Theorie der Methode‹ mit Diltheys lebensphilosophischen Ausgangspunkten wird schon in der hier beobachtbaren Terminologiewahl bemerkbar. Die Psychologie ist nicht etwa auf die Analyse des erkennenden ›Subjekts‹ gerichtet, sondern auf den ›Zusammenhang des Seelenlebens‹, dessen Grenzen im weiteren Argumentationsverlauf noch ausführlicher bestimmt werden müssen. Der 29 Zur Rezeptionsgeschichte von Diltheys ›Ideen‹ siehe die vollständige Zusammenstellung der zeitgenössischen Reaktionen bei Lessing (1985). 30 Eine berühmte Ausnahme bildet Troeltsch (1903: 15ff.), gegen dessen Einordnung der Diltheyschen Psychologie unter den ›Psychologismus‹ Letzterer sich zur Wehr setzte (GS XXIV: 269ff.). Siehe dazu auch Kühne-Bertram (2004: XXXVIf.).

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analytische Blick von Diltheys Psychologie richtet sich entsprechend nicht auf die Konstituentien des ›Erkennens‹, sondern des ›Erlebens‹: »Sie stellt diesen Zusammenhang des inneren Lebens in einem typischen Menschen dar« (ebd., 152). Bereits auf der oberflächlichen Beschreibungsebene tritt somit die Frage auf, inwiefern der Titel ›Psychologie‹ hier überhaupt angemessen ist. Nicht nur in der methodischen Ausrichtung, wie noch zu zeigen sein wird, sondern bereits im Hinblick auf die Gegenstandsbestimmung kontrastierte Diltheys Programmatik mit dem geläufigen Bild von ›Psychologie‹. Die traditionellen Grenzen zwischen Psychologie und 31 Anthropologie verschwimmen hier. Hierfür symptomatisch ist auch der von Johach und Rodi eingeführte Kunstbegriff ›Erkenntnisanthropologie‹ (Johach/Rodi 1982: XXIIff.; Johach 1983: 96), der diese Ambivalenz in Diltheys Axiomatik antizipiert. Es liegt nahe, Diltheys eigentliche Intention unter Rückgriff auf seine Einwände gegenüber der naturwissenschaftlichen Psychologie zu ermitteln. Dilthey stellte sich in Gegensatz zu traditionellen apperzeptions- und assoziationspsychologischen Ansätzen, die nach den Ursachen von ›Vorstellungen‹ und deren Verhältnis zu äußeren Gegenständen fragten. Als das den erklärenden Psychologen gemeinsam geteilte Vorgehen beschrieb Dilthey das Bilden von Hypothesen, wobei er dieses Verfahren als das Resultat der Übertragung der gängigen naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen auf das Gebiet der Psychologie auffasste. Erst mit Hilfe von dergestalt unterlegten Begriffen und Konstruktionen schließe die erklärende Psychologie auf einen psychischen Zusammenhang. Zu diesem Ausgangspunkt merkte Dilthey kritisch an, »daß Hypothesen innerhalb der Psychologie keineswegs dieselbe Rolle spielen als innerhalb des Naturerkennens« (GS V: 144). Schließlich sei »in der Psychologie gerade der Zusammenhang ursprünglich und beständig im Erleben gegeben« (ebd.). Ein hypothesenbildendes Verfahren in der Psychologie stand nach Dilthey folglich in einem Unverträglichkeitsverhältnis zu ihren gegenstandstheoretischen Prämissen. Als unumstößlichen Beleg für die von ihm gegenüber der erklärenden Psychologie behaupteten Diskrepanz zwischen den gegebenen psychologischen Begebenheiten einerseits und den vorgeschlagenen methodologischen Zugangsweisen andererseits, führte Dilthey den Befund an, dass trotz aller experimentellen Bemühungen der Vertreter dieser Forschungsrichtung noch keine einzige Hypothese zu einem naturwissenschaftlichen Gesetz aufgewertet werden konnte (ebd., 165). Zur Auflösung des angedeuteten Dilemmas bedurfte es also einer den vorliegenden psychischen Begebenheiten angepassten Methodologie. Das von Dilthey vorgeschlagene ›beschreibende und zergliedernde‹ Analyseverfahren meldete diesen

31 Nicht von ungefähr trugen bereits Diltheys frühesten psychologischen Vorlesungen den Titel ›Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft‹. Vgl. hierzu van Kerckhoven/Lessing (1994/95: 68).

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Anspruch an. Ihr Ausgangspunkt unterschied sich vom erklärenden Verfahren bereits in folgender Hinsicht: »Die beschreibende und zergliedernde Psychologie endigt mit Hypothesen, während die erklärende mit ihnen beginnt« (ebd., 175). Er bestimmte deren Aufgabe näher, »von dem allgemeingültig erfaßten Zusammenhang des Seelenlebens ausgehend, die einzelnen Glieder dieses Zusammenhangs zu analysieren und ihre Bestandteile und die sie verbindenden Funktionen zu beschreiben« (ebd.). Hermann Ebbinghaus’ (1984) viel beachtete Kritik an Diltheys Psychologie hatte zunächst zu Recht darauf hingewiesen, dass jeder psychologische Zugang, Diltheys Ansatz inbegriffen, auf hypothetische Annahmen angewiesen sei. Die Voraussetzungen der ›beschreibenden und zergliedernden Psychologie‹ sollen daher detaillierter extrapoliert werden. Diltheys Psychologiekonzept setzte zum einen voraus, dass es ein grundlegendes Strukturgesetz gab, welches die Relationen zwischen den Willenshandlungen, dem Trieb- und Gefühlsleben umschloss (GS V: 32 176). Er behauptete weiterhin, dass dieser Strukturzusammenhang ›teleologisch‹ und ›kausal‹ war (ebd.) und also eine innere Richtung und Entstehungsursache aufweise. Als ein zweites ›Grundgesetz des Seelenlebens‹ formulierte er das Prinzip der ›Entwicklung‹, dem zufolge seelisches Leben nicht als statisch aufgefasst werden dürfe. Schließlich behauptete eine weitere Annahme, dass sich Bewusstseinszustände regelmäßig abwechselten, wobei jeder einzelne Akt auf die Wirkung des ›Totalzusammenhangs des Bewusstseins‹ zurückführbar sei (ebd., 177). Diese Prozesse des Wechsels von Bewusstseinszuständen und Triebregungen entzögen sich, so Dilthey, der inneren Erfahrung und könnten nicht direkt erschlossen werden. Aus diesem Grund sollte ein psychologischer Ansatz die Erfahrungen zunächst beobachten und differenzierend ›beschreiben‹. Dass auch hier letztlich ein hypothetisches Verfahren empfohlen wird, gab Dilthey unumwunden zu (ebd., 140, 178). Er forderte jedoch den Beobachter zu Neutralität und Besonnenheit und dazu auf, auf die Applikation von »Anekdoten, welche aus einer Psychologie in die andere übergehen« (ebd., 179), zu verzichten. Erst recht sei von unbewussten und physiologischen Mutmaßungen über solche Zusammenhänge Abstand zu halten, um die erst über Beobachtung herauszustellenden Verhältnisse nicht von vornherein zu verzerren. Dilthey hatte ein klares Bewusstsein davon, dass die psychologische Forschung seiner Zeit noch keine sichere Erkenntnis über die einzelnen Vorgänge zu bieten hatte und blieb entsprechend mit seinen Forderungen an einer ›geisteswissenschaftlichen‹ Psychologie bescheiden. Sie sollte vorderhand eine ›Beschreibung‹ von solchen elementaren Bewusstseinsaktivitäten wie ›Vergleichen‹, ›Verbinden‹, ›Gleichsetzen‹, ›Reproduktion‹, 32 In einem anderen Zusammenhang sprach er auch von dem »psychischen Grundgesetz aller Lebewesen« (GS V: 95).

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›Wiedererkennen‹ und ›Assoziation‹ (ebd., 184) leisten. Ferdinand Fellmann hat diesen Ansatz vielleicht am treffendsten als einen »psychologischen Relationismus« (1994/95: 16) charakterisiert, weil Dilthey Bewusstseinszustände mit Hilfe seines psychologischen Verfahrens zunächst in Verhältnissen von singulären Bestandteilen des ›Wollens‹, ›Fühlens‹ und ›Vorstellens‹ auflöst. Wie gleich erörtert werden soll, stellt diese Perspektive lediglich die eine Seite der Wissensfundierung dar, mit welcher sich Dilthey jedoch keineswegs beschied. Neben dieser ›beschreibenden‹ Perspektive umfasste Diltheys Programmatik einer »Strukturpsychologie« (GS VI: 305, 317) auch einen spezielleren Teil, welcher der ›Analyse‹ der oben bereits erwähnten »drei Seiten des psychischen Lebens« (GS XX: 162): »Intelligenz, Trieb- und Gefühlsleben und Willenshandlungen« (GS V: 180), gewidmet war. Auch hier musste Dilthey zunächst wieder relativierend feststellen: »Aber so wichtig und zentral diese Zustände sind, so hartnäckig widerstehen sie der Zergliederung« (ebd., 185). Das analytische Vorgehen habe daher zu versuchen, die einzelnen Bestandteile der Gefühls-, Trieb- und Willenszustände, genauer deren »Antezedenzien«, tentativ herauszufiltern (ebd., 188). Dilthey unterschied die ›Analyse‹ dahingehend von einem ›erklärenden‹ Verfahren, dass die einzelnen Willensmotive, Antriebe und Gefühlsregungen nicht als Grund für singuläre Handlungen oder Ereignisse gedeutet, sondern stets vor dem Hintergrund des jeweils erworbenen individuellen Gesamtzusammenhangs eines Bewusstseins und der hierin begriffenen 33 Grundrichtung ›verstanden‹ würden. ›Verstehen‹ ist nach Dilthey bedingt durch das »Zusammenwirken aller Gemütskräfte in der Auffassung« (ebd., 172) und habe in dieser ›Struktur‹ seine psychologische Grundlage. Aus diesem Grund erscheint Diltheys Rückgriff auf eine ›zergliedernde‹ Psychologie zum Zwecke der Analyse des Lebens auf dem zweiten Blick als paradox, denn letztendlich »bildet also dieser Zusammenhang, welcher konstant auf die einzelnen Willenshandlungen wirkt, den Hauptgegenstand der psychologischen Analyse« (ebd., 189). Die extrapolierten Elemente des Bewusstseinslebens sollten keineswegs zum Zwecke einer genaueren sinnesphysiologischen Analyse zergliedert werden. Stattdessen wurden sie schließlich wieder zu einem Gesamtgebilde synthetisiert und mit anderen Phänomenen verglichen. Diltheys psychologisches Methodenprogramm brach damit exakt an dem Punkt ab, an welchem die damalige experimentelle Psychologie und Physiologie einsetzte: »Der Zusammenhang einer Sinneswahrnehmung stammt nicht aus den Sinneserregungen, welche in 33 Die Kategorie des erworbenen Bewusstseinszusammenhangs erinnert stark an Franz Brentanos Begriff der ›Intentionalität‹, auf den Dilthey sich jedoch – in seiner Psychologie – äußerst selten direkt bezog. Fellmann (1994/95: 24) hat gezeigt, dass Intentionalität bei Dilthey auf andere Weise theoretisch integriert wird und somit einen mit Brentanos und Husserls Konzeption unvereinbaren Sinn erhält. Dazu wird unten noch Weiteres vermerkt werden.

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ihr verbunden sind. Also entsteht er erst aus der lebendigen, einheitlichen Tätigkeit in uns, welche ja selber Zusammenhang ist« (ebd., 193f.). Auf diesem Hintergrund wird deutlich, aus welchen Gründen es Dilthey ohne Aufgabe seiner systemphilosophischen Grundintention möglich war, eine Wende zur Hermeneutik zu vollziehen. Denn er hatte seine Psychologie von vornherein als eine geisteswissenschaftlich-hermeneutische Psychologie konzipiert, in deren Zentrum die holistische und spätere, gestalttheoretische Ansätze vorwegnehmende, Grundfigur des ›Zusammenhangs des Bewusstseins‹ stand und die mit den konventionellen Forschungsmethoden der erklärenden Ansätze in Konflikt stand. Fellmann formulierte mit Blick auf Diltheys Psychologie: »Man kann seine Position somit durchaus als pragmatisch bezeichnen« (1994/95: 18). Das hermeneutische Potential, welches in Diltheys beschreibender Psychologie inbegriffen war, soll nun eingehender herausgestellt werden.

2. Psychologie und Hermeneutik Der Übergang von Diltheys ›mittlerer‹ Schaffensphase, in welcher die Fundierung der Psychologie im Vordergrund stand, zu Diltheys Konzeption einer ›Hermeneutik des Lebens‹ ist Thema der nachfolgenden Ausführungen. Es soll gezeigt werden, dass sich diejenigen hermeneutischen Argumentationsfiguren, auf welchen Dilthey den ›Aufbau der geschichtli34 chen Welt in den Geisteswissenschaften‹ fundierte, bereits in Diltheys Psychologie enthalten waren. Zunächst scheint eine Verbindung zwischen Psychologie und Hermeneutik, die gemeinhin als »Gegenpole« (Rodi 2003a: 19) gesehen werden, nur über weite Umwege herstellbar, zumal auch Diltheys Spätphilosophie offenbar radikal mit der Psychologie brach: »Hier ist es nun ein gewöhnlicher Irrtum, für unser Wissen von dieser inneren Seite des psychischen Lebensverlauf, die Psychologie einzusetzen« (Aufbau: 95). Dilthey unterschied später penibel zwischen dem Verstehen eines geistigen Gebildes einerseits und der Kenntnis der dabei involvierten psychischen Prozesse andererseits. In den ›Ideen‹ hatte er dagegen noch geglaubt, die Konstitution der großen Kultursysteme – Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Wissen – unmittelbar aus dem Seelenleben ableiten zu können (GS V: 148; GS XX: 162f.). Der Zusammenhang, welcher ›Verstehen‹ ermöglichte, wurde in den späten Arbeiten nicht mehr in psychologischen Kategorien beschrieben, sondern als »Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen« (Aufbau: 98). Das Zentrum von Diltheys Aufmerksamkeit im Hinblick auf eine Fundierung der Geisteswissenschaften verschob sich damit merklich zu Themengebieten hin, deren Zusammenhang mit der Psychologie nicht

34 So der Titel seiner letzten Monographie (1993).

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unmittelbar evident ist. Bereits Rodi (1969: 80ff.) hat rekonstruiert, dass sich das Axiom des ›Erlebnisses‹, welches im Mittelpunkt von Diltheys Hermeneutik stand, bereits in den ästhetischen und poetologischen Arbei36 ten seit den 1870er abzeichnete. Rodi bemerkte jedoch auch, »daß Dilthey innerhalb des Bereichs der Poetik (und der Ästhetik insgesamt) den hermeneutischen Ansatz nie so konsequent durchgeführt hat, daß damit die psychologische Betrachtungsweise ausgeschaltet worden wäre« (ebd., 85). Man versteht hieran, dass sich auf Basis der werkgeschichtlichen Entwicklung von Diltheys Psychologie und Hermeneutik die Behauptung einer abrupten ›Wende‹ nicht aufrechterhalten lässt. Wir finden weiterhin, dass die für Diltheys Wissenstheorie bezeichnende Thematik der ›Geschichtlichkeit‹ bereits auf verschiedenen Ebenen in Diltheys Strukturpsychologie angelegt war. Diltheys Adaption hergebrachter Denkformen der Psychologie zum Zweck der Grundlegung des geisteswissenschaftlichen Wissens, so lässt sich vorerst festhalten, ging mit einer Dynamisierung traditioneller psy37 chologischer Verfahrensweisen einher. Die geisteswissenschaftliche Psychologie war in diesem Sinne nicht darauf ausgerichtet, in statischer Einstellung bestimmte Bewusstseinszustände ausschließlich als Kausalfaktoren für bestimmte Handlungen und Einstellungen des Menschen herauszustellen. Psychische Ereignisse sollten stattdessen im Hinblick auf die Entwicklung eines Individuums als Ganzes interpretiert werden. Entsprechend titulierte Dilthey seine psychologischen Einzelfallstudien auch als »Beiträ38 ge zum Studium der Individualität« (GS V: 241). In diesen Studien ging es primär darum, den jeweils »erworbenen seelischen Zusammenhang« (ebd., 221f.) historischer Persönlichkeiten zu ›beschreiben‹. Dilthey empfahl insbesondere das Studium genialer Persönlichkeiten, da sich allein aufgrund der ausschließlich bei diesen epochalen Gestalten überlieferten Informationen eindrücklicher als bei anderen Personen der Zusammenhang zwischen singulären inneren Zuständen und deren Auswirkungen auf die Charakter- und Denkentwicklung des jeweiligen Individuums nachweisen 35 In Wirklichkeit jedoch hatte sich Dilthey seit jeher mit historischen und ästhetischen Studien hervorgetan. Seine Reputation als Gelehrter basierte keineswegs auf seinen philosophisch-systematischen Arbeiten, sondern auf seinen literatur-, ideen- und -kulturgeschichtlichen Kenntnissen. 36 In der Abhandlung über ›Die Einbildungskraft des Dichters‹ von 1887 trat der Erlebnisbegriff mit seinem für die Hermeneutik zentralen Gehalt in Erscheinung (vgl. Rodi 1969: 87). 37 An diesem Punkt manifestiert sich das bis heute fortwirkende Innovationspotential von Diltheys Psychologiekonzeption. Fellmann (1994/95) beispielsweise sieht im ›symbolischen Pragmatismus‹, der in Diltheys Psychologie angelegt sei, eine tragbare Möglichkeit der Neubegründung der Theorie hermeneutischen Wissens. 38 »[…] die Aufgabe der beschreibenden Psychologie (ist), unsere Erfahrungen über die Individualität zu sammeln, die Terminologie für ihre Beschreibung herzustellen und sie zu analysieren« (GS V: 228).

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lasse. Weiter grenzte er seine psychologischen Studien gegenüber der herkömmlichen, naturwissenschaftlich orientierten Psychologie ab: »Stellte jene metaphysische Theorie das Allgemeine und das Individuelle beziehungslos, oder doch nur ästhetisch vermittelt, nebeneinander, so ist gerade die Aufsuchung der Beziehungen, in welchen zu dem Allgemeinen das Eigentümliche steht, schon in der Schilderung des Geschichtsschreibers oder Dichters wie in der Reflexion der Lebenserfahrung das einzige Mittel, die Individualität gleichsam zur Aussprache zu bringen« (ebd., 228).

In dieser Passage klammerte Dilthey sämtliche Spielarten einer sinnesphysiologisch-mechanistisch argumentierenden Psychologie aus seinem Relevanzfeld aus. Bewusstseinszustände werden bei Dilthey, wie wir zusammenfassen können, auf ihre symbolische Dimension hin untersucht (Fellmann 1994/95: 16ff.). Damit überschreitet Dilthey endgültig den Rahmen einer solchen psychologistischen Axiomatik, wie sie von Husserl 1900 39 heftig attackiert wurde. Allgemein wird Diltheys Antrieb zu einer Reformulierung seines ursprünglichen Ansatzes zurückgeführt auf seine Lektüre von Hegels Theorie des objektiven Geistes anlässlich seiner Arbeit an der ›Jugendgeschichte Hegels‹, vor allem aber auf seine Rezeption von Husserls ›Logische Un40 tersuchungen‹. Die Folgen seiner Begegnung mit Husserls Psychologismus-Kritik manifestierten sich vor allem darin, dass er an der Möglichkeit, den gesamten Lebenszusammenhang ausschließlich und direkt aus dem Bewusstsein heraus begründen zu können, zu zweifeln begann. In Brentano und Husserl fand er schließlich eine angemessene Methode angedeutet, welche »indirekt« verfahre bzw. »durch den Ausdruck hindurchgeht« (GS 41 VI: 318). Inwiefern Dilthey und Husserl in diesem Punkt unterschiedli42 che Positionen einnahmen, erhellt nicht erst der kurze Briefwechsel. Diltheys Programm der Überwindung des Intuitionismus unterscheidet sich von der Husserlschen Variante dahingehend, dass Ersterer, durch He43 gel inspiriert , mit der Kategorie des ›Ausdrucks‹ eine Vermittlungsinstanz zwischen aktuellen und stets individuellen Erlebnissen einerseits und

39 Siehe zu Husserls Behandlung von Diltheys Psychologie in den ›Logischen Untersuchungen‹ die Ausführungen bei Brugger (1967: 294), Jensen (1978: 428) und Makkreel (1991: 20). 40 Siehe hierzu Gadamer (WuM: 212), Ricœur (1973: 188), Bollnow (1985: 42), Riedel (1993: 53), Kühne-Bertram (2004: XV). 41 Eine Deutung des Verhältnisses zwischen den Ansätzen Diltheys und Husserls aus der Perspektive des Ersteren, gibt Lessing (1991: 325ff.). 42 Ein systematischer Vergleich der Grundpositionen erfolgt erst in der ›Zwischenbetrachtung‹. Siehe dazu auch Šuber (im Erscheinen b). 43 Zu Diltheys ambivalentem Verhältnis zu Hegel, siehe die instruktiven Ausführungen bei Kühne-Bertram (2004: XXf.).

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deren erlebnismäßigem Nachvollzug andererseits installiert hat. Wie Makkreel (1991: 335ff.) ausgeführt hat, nahm Dilthey die Husserlsche Bedeutungstheorie zwar zum Anlass für eigene Reflexionsanstrengungen, doch könne von einer Entsprechung in diesem Punkt keine Rede sein. Bereits im Rahmen seines psychologischen Ansatzes, dies sei zur Unterstützung der These der Kontinuität von Psychologie und Hermeneutik erwähnt, hatte Dilthey den Begriff des ›Typus‹ eingeführt (GS V: 279ff.), den man von seiner theoretischen Funktion her als einen Vorläuferbegriff 45 des ›Ausdrucks‹ begreifen kann. Eine Selbstbesinnung des Menschen über sich selbst kann also in Diltheys Ansicht nicht mehr vollständig aus dem Zusammenhang des Bewusstseins heraus erfolgen, sondern muss ei46 nen Umweg über das ›Verstehen‹ (im Sinne Diltheys) nehmen. Auf der Grundlage dieser Einsicht hatte Dilthey bereits in den ›Ideen‹ das »Material« der geisteswissenschaftlichen Psychologie wie folgt definiert: »An der Gleichförmigkeit der einzelnen Gebilde, welche der Mensch hervorbringt, an den großen und durchgreifenden Zusammenhängen, welche diese Gebilde zu Systemen der Kultur verknüpfen, an dem konstanten Bestande mächtiger menschenverbindenden Organisationen [...] hat die Psychologie ein festes standhaftes Material, das eine wirkliche Analysis menschlichen Seelenlebens auch in Bezug auf seine inhaltlichen Grundzüge ermöglicht« (ebd., 226).

Der Erklärungsbereich von Diltheys Psychologie ging also weit über die individuelle Seele oder Psyche hinaus und erstreckte sich quasi über alle Formen menschlichen Zusammenlebens, die der Mensch hervorbringt. Im ›Aufbau‹ schließlich wird man dieses Programm in folgenden Lettern übersetzt wieder finden: »nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sich selbst« (Aufbau: 98f.).

44 Gegenüber häufigen Fehlinterpretationen soll betont werden, dass ›Nacherleben‹ bei Dilthey nicht mit empathischem Nachfühlen zu konfundieren ist. Vielmehr basiert Diltheys Hermeneutik auf dem Grundaxiom einer Strukturgleichheit zwischen Selbst und Welt (vgl. Makkreel 1991: 18). 45 Fellmann resümiert in unserem Sinne: »Im Begriff des Typischen treffen sich Psychologie und Hermeneutik« (1994/95: 29). 46 Diltheys Einführung einer Vermittlungsinstanz wird im Übrigen von Stephan Otto übersehen bzw. angezweifelt. Er kommt deshalb zu dem folgenschweren Fehlschluss, der in ähnlicher Form auch bei Rickman u.a. vorliegt, wonach Diltheys Grundansatz innerhalb der Grenzen des Kantischen Denksystems verbleibe. Es sei dem Einfluss Schleiermachers, so Otto, zuzuschreiben, dass Dilthey die Notwendigkeit einer transzendentalen Begründung der Hermeneutik letztlich doch erkannt habe. Es verwundert kaum weiter, dass Otto (1988: 59) Diltheys Ausführung dieses angeblichen transzendentalphilosophischen Begründungsprogramms für defizitär befindet, denn ein solches lag in Wirklichkeit jenseits von Diltheys Interesse.

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Eine weitere hermeneutische Grundfigur, der man bereits implizit in Diltheys Psychologie begegnet, drückte sich in der weiter oben bereits zitierten, längeren Passage aus den ›Ideen‹ aus, in welcher er beschrieb, dass die Beziehung zwischen ›Individuellem‹ und ›Allgemeinem‹ nur über die Instanz der »Reflexion der Lebenserfahrung« ermittelbar sei. Unschwer bemerkt man hier das Vorliegen der Grundstruktur des klassischen hermeneutischen Zirkels. Das psychologische ›Studium der Individualität‹ setzte damit den Bestand eines strukturellen Zusammenhangs zwischen drei Kategorien schon voraus, die Dilthey erst im ›Aufbau‹, genauer: im Rahmen der Explikation der Trias von ›Erleben, Ausdruck, Verstehen‹, explizieren sollte. Das vermeintlich eindrücklichste Unterscheidungskriterium zwischen Psychologie und Hermeneutik wird man wohl in der unterschiedlichen Tragweite der ›Geschichtlichkeit‹ des Menschen erblicken müssen. Diltheys ›Studien zur Individualität‹ belegen jedoch, dass auch die ›geisteswissenschaftliche‹ Psychologie ihr Material in der Vergangenheit fand. Nicht nur in thematischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht erlangte die Kategorie der ›Geschichtlichkeit‹, auf deren Entdeckung durch Dilthey Heidegger sich später emphatisch beziehen sollte, eine besondere Aus47 zeichnung in Diltheys später Systematik. Der die Geisteswissenschaften fundierende Strukturzusammenhang zwischen Erlebnis, Ausdruck und Verstehen umfasst mehrere Erfahrungsschichten, die mit jeweiligen zeitlichen Indizes versehen wurden. ›Verstehen‹ stellte dabei einen rekonstruktiven Zugriff auf vergangene ›Erlebnisse‹ dar. Die Bedeutung des ›Ausdrucks‹ lässt sich vielleicht am deutlichsten darlegen, wenn man Diltheys Theoriestrategie mit derjenigen Husserls vergleicht. Dabei lässt sich zunächst allgemein formulieren, dass Husserls ›egologisches‹ Reduktionsverfahren, in welchem die unterschiedlichen Bewusstseinsschichten herauspräpariert und analysiert werden sollten, eher mit Diltheys strukturpsychologischem Ansatz wahlverwandt ist, als mit der hermeneutischen Methode des Spätwerks. Insbesondere das von Dilthey im Rahmen seiner Hermeneutik hervorgehobene Konzept des ›objektiven Geistes‹ markiert Diltheys Fortgehen über einen egologischen resp. individualpsychologischen Zugang hin zur Geschichtlichkeit. Wie Makkreel treffend formuliert hat, »bezeichnet der Begriff den Gegenstand der Geschichte« (1991: 354), denn er verbürgt, dass – wie Dilthey sich ausdrückte – »die Vergangenheit dauernde und beständige Gegenwart für uns« (GS VII: 208) ist. Der ›Satz des Bewußtseins‹ wird mit diesem ›Fortgang‹ keineswegs untergraben, denn der Zusammenhang des Lebens ist dem Bewusstsein stets immanent und konstitutiv für die Bewegung des hermeneutischen

47 Bereits Bollnow sah in dieser »Vereinigung einer Philosophie des Lebens mit dem Problem der Geschichte [...] die eigentümliche und entscheidende Leistung Diltheys« (1936: 24). Ähnlich auch Ricœur (1973: 116).

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Zirkels des Verstehens. In Vergleich mit der phänomenologischen Deutungsrichtung kann man daher für Diltheys Hermeneutik resümieren, dass sich die Geisteswissenschaften von zwei Seiten her immer tiefer in die Wirklichkeit »einbohren – vom Erleben der eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistigen aus« (Aufbau: 141f.), während Husserl von der ›natürlichen Einstellung‹ des mundanen Subjekts direkt, d.h. ohne eine bewusstseinstranszendente Vermittlungsinstanz zwischenzuschalten, zur ›transzendentalen Subjektivität‹ vordringen wollte. Insofern zeigt insbesondere der Begriff ›Ausdruck‹, welchen Dilthey absurder Weise Husserls ›Logische Untersuchungen‹ entliehen hatte, 48 das Hinausgehen über einen ›individualpsychologischen‹ Ansatz an. Das Strukturmodell, das wir bisher nur anhand von Diltheys ›Ideen‹ expliziert hatten, stellt sich nun auf dem Boden einer hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften wie folgt dar: »Das Nächstgegebene sind die Erlebnisse. Diese stehen nun aber, wie ich hier früher nachzuweisen versucht habe, in einem Zusammenhang, der im ganzen Lebensverlauf inmitten aller Veränderungen permanent beharrt; auf seiner Grundlage entsteht das, was ich als den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens früher beschrieben habe; er umfasst unsere Vorstellungen, Wertbestimmungen und Zwecke, und er besteht als eine Verbindung dieser Glieder. Und in jedem derselben existiert nun der erworbene Zusammenhang in eigenen Verbindungen, in Verhältnissen von Vorstellungen, in Wertabmessungen, in der Ordnung der Zwecke. Wir besitzen diesen Zusammenhang, er wirkt beständig in uns, die im Bewußtsein befindlichen Vorstellungen und Zustände sind an ihm orientiert, unsere Eindrücke werden durch ihn apperzipiert, er reguliert unsere Affekte: so ist er immer da und immer wirksam, ohne doch bewußt zu sein« (ebd., 90).

An keiner Stelle hatte Dilthey wohl auf markantere Weise den psychischen ›Lebenszusammenhang‹ umschrieben als in dieser Passage aus dem ›Aufbau‹. Was hierin besonders deutlich wird, ist die direkte Anknüpfung an seine psychologische Beschreibung dieses Zusammenhanges, der also auch im Spätwerk, trotzdem er nunmehr über das ›Verstehen‹ das Seelenleben deuten wollte, verbindlich blieb. Das frühere Strukturmodell brauchte also nicht eigens erweitert oder modifiziert werden, um die Geisteswissenschaften in »diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen« (ebd., 99) zu fundieren. Wir haben im Vorstehenden versucht, die gemeinsamen Wurzeln auszugraben, aus denen sowohl Diltheys Konzeption einer ›geisteswissen48 Darauf, dass Dilthey nicht nur diesen Begriff, sondern auch andere begriffliche Übernahmen von Husserl letztlich in einem anderen Sinn verwendet hatte, wurde bereits von Bollnow (1985: 44ff.) und Kim (2001: 27) hingewiesen.

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schaftlichen‹ Psychologie als auch dessen ›Hermeneutik des Lebens‹ erwachsen sind. Dabei zeigte sich, dass Dilthey die Prämissen einer ›erklärenden‹ Psychologie von Beginn an durch holistische Grundfiguren, die er bereits in den epistemologischen Ausführungen des ersten Bandes der ›Einleitung‹ entworfen hatte, ersetzte. Die ›beschreibende‹ Psychologie lässt sich daher sogar als ein genuin ›hermeneutisches‹ Unternehmen deuten, in dem es von vornherein nicht um die Bestätigung naturwissenschaftlicher Hypothesen und deren Erhebung zu ›Gesetzen‹ ging, sondern um eine »wirkliche Analysis menschlichen Seelenlebens« (GS V: 226). Die von Dilthey häufig verwendete Bezeichnung ›Strukturpsychologie‹ zur Markierung seiner ›beschreibenden und zergliedernden Psychologie‹ bringt die holistischen Voraussetzungen, auf welchen nicht erst Diltheys späte Lebenshermeneutik, sondern bereits die Psychologie aufruhten, zum Ausdruck.

Resümee In unserer Rekonstruktion von Diltheys Grundlegungsansatz haben wir unsere Aufmerksamkeit auf die Ermittlung der zentralen Argumentationsfiguren, auf denen eine ›lebensphilosophische‹ Grundlegungsarchitektonik basiert, fokussiert. Zum Vorschein kam ein komplexer Zusammenhang von teils traditionellen, teils originellen erkenntnistheoretischen Konzeptionen, welche von Dilthey in die Form einer ›Strukturlehre‹ inkorporiert wurden. Durch diese eigentümliche Verbindung erhalten althergebrachte epistemologische Grundkonzepte wie ›Erkennen‹, ›Erfahren‹, ›Subjekt‹ einen eigentümlichen und modifizierten Bedeutungsgehalt. Das charakteristische Merkmal dieser Strukturtheorie ist die Voraussetzung eines fundamentalen Lebenszusammenhangs, in welchem alle Aktivitäten des Menschen aufgehoben sind und von welchem aus diese ausschließlich analysiert werden könnten. Diese Erkenntnis führte Dilthey schließlich auch zur Relativierung der ›Erkenntnistheorie‹ als autonomer Fundierungsdisziplin und deren Substitution durch eine ›Philosophie der Selbstbesinnung‹. Der Ausgangspunkt von der ›Struktur des Lebens‹, in welcher die ›reflexiven‹ Wahrnehmungsformen mit ›volitiven‹ und ›emotionalen‹ Weltbezügen einen einheitlichen Zusammenhang bilden, führte Dilthey letztlich auch dazu, die vor allem von Kant proklamierte Trennung zwischen ›theoretischer‹ und ›praktischer‹ Vernunft zu relativieren. Riedel (1978: 66ff.) hat in der Überwindung dieses »Sophismus«, durch welchen Dilthey die Philosophie in Verruf gekommen sah, letztlich sogar das Zentralmotiv von 49 Diltheys ›historischer‹ Vernunftkritik ausgemacht.

49 Vgl. auch Jensen (1978: 435f.) und Scholtz (1997: 41).

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Bei Dilthey selbst offenbarten sich die theoretischen Schwierigkeiten, die mit dieser Erweiterung des philosophischen Reflexionsgebietes um den Bereich der ›Wirklichkeit‹ resp. ›Praxis‹ verbunden waren, allein in der Tatsache, dass er immerzu von neuen theoretischen Ansätzen ausgehend den Zusammenhang zwischen ›Leben‹ und ›Denken‹ zu beleuchten versuchte. Sein resolutes Bemühen, die im ersten Band der ›Einleitung‹ ausgebliebene ›erkenntnistheoretische‹ Grundlegung der Geisteswissenschaf50 ten im zweiten Band nachzuliefern , verweist wiederum auf den oben beleuchteten zeitspezifischen Zusammenhang, den Gadamer antizipiert hat: »Man muß von der tatsächlichen Ortlosigkeit der Philosophie im Zeitalter der Wissenschaft ausgehen, um die proteushafte Verwandlungsfähigkeit zu begreifen, die Dilthey in seinem Werk beweist« (GGW 4: 409). Trotz der scheinbaren Widersprüche und Verstrickungen, in die sich Dilthey offenbar begeben hatte, erwies unsere Rekonstruktion eine enge Verbindung zwischen dem (mittleren) psychologischen und (späten) hermeneutischen Ansatz. Eine Differenz zwischen beiden besteht nicht in prinzipieller Hinsicht, sondern in methodischer. Es handelt sich dabei konkret um zwei unterschiedliche Erfassungsweisen des ›Lebenszusammenhangs‹. Während Dilthey zunächst noch glaubte, das ›Leben‹ vollständig und unmittelbar aus seiner Gegebenheitsweise im Bewusstsein deduzieren zu können, so eröffnete ihm nicht zuletzt die Beschäftigung mit Husserls früher Phänomenologie die Möglichkeit, mit Hilfe eines indirekten Verfahrens eine Selbstbesinnung des Menschen über das Medium der Geisteswissenschaften auszuführen. Heute herrscht zumindest in den Sozialwissenschaften einhellig das Urteil vor, dass Diltheys Grundlegungssystem unhaltbar sei (Lessing 1984: 304; Schnädelbach 1974: 135). Dabei wird diese Schlussfolgerung zumeist unter Verweis auf das unvollendet gebliebene Projekt der ›Einleitung‹ oder auf die Relativismusproblematik gezogen. Trotz dieses Einvernehmens wird die philosophiegeschichtliche Bedeutung von Dilthey insgesamt höchst unterschiedlich bewertet. In den Sozialwissenschaften firmiert sein Name in der Regel unter den Vorläufern eines sozialwissenschaftlichen Verstehensbegriffs (Kurt 2004: 127; Brown 2005), wobei der systematische Einfluss, den es im weiteren Verlauf unserer Untersuchung zu präzisieren gilt, zumeist im Dunkeln bleibt. Dem gegenüber gilt er manchem Ideen- und Wissenschaftshistoriker als Ausgangspunkt einer »epochalen Wende« (Koselleck 1991: 133) und »Revolution« (Krausser 1968; Ricœur 1973: 127) in der Geistesgeschichte. Seine mittelbare Wirkung kann womöglich damit angemessen resümiert werden, dass er weniger in der Form der Prägung neuer innovativer Konzepte und Ideen maßgebend war als

50 Ein Brief an Jodl, von dem Kühne-Bertram (2004: XIV) berichtet, belegt Diltheys diesbezüglichen Ehrgeiz noch für das Jahr 1907 auf eindrückliche Weise.

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dadurch, dass er seine Zeitgenossen und Nachkommen mit seiner Konzipierung einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ ein weites und schwierig zu beackerndes Feld von wissenschaftstheoretischen Fragen und Problemen hinterlassen hat. Für den jungen Heidegger etwa bedeutete Diltheys Philosophie »eine notwendige Station auf dem Wege der Philosophie, im Gegensatz zur leer formalen Transzendentalphilosophie« (HGA 59: 154). Heidegger sah sich auch als denjenigen, der sich als Einziger zu einer Zeit mit Diltheys systematischen Schriften auseinandergesetzt habe, »als es noch unanständig war, ihn in einem philosophischen Seminar zu nennen« (HGA 26: 178). So konnte es auch geschehen, dass die phänomenologischen Projekte Heideggers und Husserls, deren lebensphilosophische 51 Wurzeln in der Gegenwart wiederentdeckt werden , Diltheys Leistung für eine lange Zeit in den Hintergrund drängten. Gadamer artikulierte auf angemessene Weise jene Tragik, die darin bestand, dass einer der renommiertesten zeitgenössischen Philosophen über die »Aporien des Historismus« (WuM: 205) stolperte: »Das Schicksal des Diltheyschen Werks ist vielmehr von symbolhafter Bedeutung für das Verhängnis des historischen Bewußtseins, das unser aller geistige Lebensluft ist. Und dies sinnbildliche Schicksal des Diltheyschen Werks ist überdies ein charakteristisch deutsches Schicksal« (GGW 4: 426).

Wie nicht erst aus dieser Perspektive zu entnehmen ist, gehörte Gadamer noch einer Gelehrtengeneration an, welcher der allgemeinere Problemzusammenhang, der in Husserls und Heideggers Schaffen ebenso wirkmächtig war wie bereits beim jungen Dilthey, sprichwörtlich noch in Fleisch und Blut steckte. Dennoch stellt Gadamers Einschätzung der Konsequenzen von Diltheys Philosophie auch aktuell noch eine Minderheitenposition dar, wie sich am markantesten anhand von dessen Position zur Relativismusproblematik darlegen lässt. Gadamer zufolge äußere sich gerade »in der radikalen Anerkennung dieser Konsequenz« (ebd., 427) Diltheys Größe. So verteidigte Gadamer Dilthey vor dem Relativismusvorwurf gegenüber dessen Kritikern, indem er darauf hinwies, dass das ›Problem des Relativismus‹ »gar nicht seine eigene wirkliche Frage gewesen ist. Er wußte sich vielmehr in der Entfaltung der historischen Selbstbesinnung, die ihn von Relativität zu Relativität führte, immer schon unterwegs zum Absolu-

51 Seit dem Erscheinen von Heideggers Vorlesungen und Vorstudien aus der Marburger und Freiburger Zeit sind in der Frage nach dem Verhältnis von Fundamentalontologie und Lebensphilosophie neue Erkenntnisse zutage befördert worden. Siehe Boeder (1984), Rodi (1986/87), Pöggeler (1986/87), Hogemann (1986/87), Großheim (1991), Gethmann (1993), Bambach (1995), Jung (1995), Scharff (1997), Escudero (1999), Kim (2001), Gander (2001). Ähnliches lässt sich für die Forschung des Husserl-DiltheyVerhältnisses zeigen. Siehe hierzu unten S. 185, Anm. 18.

DILTHEYS ›KRITIK DER HISTORISCHEN VERNUNFT‹ | 105

ten« (WuM: 23). Das Philosophieren über das Leben, so kann man (mit Gadamer) Diltheys Grundüberzeugung bezeichnen, war für Letzteren immer schon selbst eine »Objektivation des Lebens« (ebd., 223). Die Objektivität geisteswissenschaftlichen Forschens war nach Dilthey durch die Zirkelstruktur des Verstehens selbst sanktioniert und bedurfte keines weiteren – wie auch immer gearteten – methodologischen Ausweises (Aufbau: 52 347). In diametralem Gegensatz zu Gadamer erblickte Carlo Antoni in den Folgen von Diltheys Philosophie »eine neue Versklavung des Geistes« (1950: 54) und schließlich sogar die Ursache der »Krisis des ganzen deut53 schen Geistes« (ebd., 56). Zu den ›Relativisten‹ wurde Dilthey nicht erst bei Antoni, sondern bereits 1899 im ›Wörterbuch der Philosophischen Begriffe und Ausdrücke‹ gerechnet (Köhnke 1996: 473), ebenso wie später sogar von Husserl (PhasW: 323ff.) und Plessner (1990/91: 297). Aus einer Bemerkung Arnold Metzgers geht die eigentümliche Dramatik, die noch für spätere Philosophengenerationen mit einer Anerkennung des Relativismus konnotiert war, eindrücklich hervor: »Den ›Relativismus‹ verstehen, besagt, ihn als den geschichtlichen Prozeß verstehen, der zu seiner ihn vollendende Grenze das Dasein des Menschen hat, das aus der Gewißheit genommen bzw. – was der äquivalente Ausdruck dieser geschichtlichen Lage ist – in die Situation der Verzweiflung gebracht ist« (1966: 121).

Dilthey selbst hatte anlässlich seines 70. Geburtstages angedeutet, dass er das Ziel der Begründung einer allgemeingültigen Erkenntnis vor sich sehe, jedoch noch nicht erreicht habe (GS V: 9). Auf welche Weise Dilthey Nachwirkung auf die Konstitution der modernen deutschen Soziologie genommen hat, soll diskutiert werden, nachdem die alternativen systematischen Positionen des Neukantianismus und der Husserlschen Phänomenologie rekonstruiert und die entsprechenden Beurteilungskriterien aus dem Diskurs um die Möglichkeit einer autonomen Sozialwissenschaft extrahiert worden sind.

52 »Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, daß das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und Allgemeinen« (Aufbau: 173). 53 Ähnlich – wenn auch gemäßigter im Ton – auch Scholtz: »Das aufgebrochene Problem wird also von der neuen Wissenschaftstheorie, die Dilthey liefert, eher verschärft als bewältigt – das Problem, zwar eine Fülle von historischem Tatsachenwissen zu haben, in dessen Spiegel aber keine sinnvolle Geschichte« (1997: 23).

Die transze ndentalphilosophische Be gründung der ›Kulturw issenschaften‹ im Ne ukantianismus

Aufgrund der inhaltlichen Unterschiede in den systematischen Positionen von Diltheys Grundlegungsphilosophie auf der einen Seite und derjenigen der Vertreter des Badischen Neukantianismus auf der anderen, sowie der zumindest partiell aggressiven Tonlage in den wechselseitigen Stellungnahmen, wird die ursprüngliche, gemeinsam geteilte problemgeschichtliche Konstellation, von denen beide Bewegungen ausgegangen waren, heu1 te häufig übersehen. Allein der Hinweis darauf, dass das Erscheinen von Rickerts ›Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung‹, worin die zuvor von Windelband initiierte neukantianische Grundlegungsprogrammatik (›südwestdeutscher‹ Prägung) gründlich ausgearbeitet wurde, offenbar großen Anteil daran hatte, dass Dilthey für lange Zeit seine Arbeit an der Fertigstellung des zweiten Bandes der ›Einleitung‹ unterbrochen hatte (Riedel 1978: 88f.; 1993: 53), mag für den tatsächlich bestehenden und sachlich begründeten Zusammenhang stehen. Der allseits wahrgenommene Eindruck einer Konkurrenzbeziehung zwischen den beiden Ansätzen wird durch die wechselseitigen öffentlichen Stellungnahmen 2 der beteiligten Autoren bestätigt. Rickerts Traktierung von Diltheys Grundlegungsprogramm in seiner Generalabrechnung mit der lebensphilosophischen Strömung (PhdL) spiegelt sich wider in dem seit 1926 beigefügten neuen Vorwort zu ›Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft‹, in 1 2

In regelmäßigen Abständen treten Spezialisten auf den Plan, um den gemeinsamen Entstehungskontext in Geltung zu bringen. Siehe u.a. Makkreel (1969), Jalbert (1988), Bambach (1995), van der Hoeven (1998). Über persönliche Kontakte zwischen Dilthey und den Neukantianern ist mit Ausnahme eines kurzen Briefwechsels zwischen Dilthey und Windelband anlässlich der Erscheinung von Diltheys ›Ideen‹ wenig bekannt.

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dem er bekundete, dass er sich »in systematischer Hinsicht stets im Gegensatz zu ihm [gemeint war: Dilthey; D.Š.] gefühlt habe« (KuN: 13). Dilthey vermied eine offene Auseinandersetzung mit der Badischen Schule 3 aus nicht sicher ermittelbaren Gründen heraus. Jedoch war Diltheys Psychologie im Jahre 1896 bereits von Ebbinghaus scharf attackiert worden, so dass man annehmen kann, dass Dilthey einen ›Zwei-Fronten-Krieg‹ tunlichst vermeiden wollte. Demgemäß blieben vereinzelte Ansätze Diltheys zu Erwiderungen gegen Windelband und Rickert, von denen man 4 heute weiß, lediglich Fragment (Thielen 1999: 124). In der Sekundärliteratur überwiegt der Eindruck, nach dem die Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus die theoretischen Diskussionen innerhalb der deutschen Philosophenzunft nach 1900 dominierte (vgl. Fellmann 1980: 178; Vollhardt 1986: 188; Tenbruck 1994: 71). Insbesondere der Hinweis auf Max Weber und dessen durchsichtigen Anleihen bei Rickertschem Gedankengut werden häufig in Anschlag gebracht, um den vermeintlich (neu)kantianischen Ursprung der deutschen Soziologie zu belegen. Im nachfolgenden Teil der Arbeit wird es darum gehen, diese Allgemeinvorstellung kritisch zu prüfen. Zunächst sollen für dieses Vorhaben die Voraussetzungen geliefert werden, indem die philosophischen Ausgangspunkte des neukantianischen Grundlegungssystems analysiert werden. Dabei soll Heinrich Rickert die Hauptrolle spielen. Obgleich er in gewissem Maße den theoretischen Vorgaben, die sein philosophischer Mentor Wilhelm Windelband skizziert hatte, folgte, muss schließlich Rickert – zumal in systematischer Hinsicht – als »der eigentliche Begründer« (Brelage 1965: 76; Krijnen 2001: 81) der Südwestdeutschen Richtung gelten. Ähnlich wie bei Dilthey, lässt sich auch im Falle Rickerts ein Grundbegriff herausstellen, dessen systematische Stellung innerhalb der Gesamtaxiomatik Rickerts von herausgehobener Bedeutung ist, nämlich der Begriff ›Wert‹ (vgl. Bast 1999: XXI). In welchen Hinsichten Rickerts neukantianisch begründete ›Kulturwissenschaft‹ die Gegenposition zu Diltheys ›Kritik der historischen Vernunft‹ einnahm, soll eine die folgende Exposition von Rickerts Grundlegungsansatz begleitende Fragestellung bilden. Erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass man insbesondere seitens der Soziologiegeschichte Rickerts Position nur in seltenen Fällen gerecht worden 3

4

Bei Rickert fällt auf, dass er – ähnlich wie Husserl – tunlichst darauf bedacht war, Dilthey als ›Nur-Historiker‹ (Misch 1967: 32) und in philosophischsystematischer Hinsicht irrelevant darzustellen. Siehe als Beleg etwa folgende Passage aus Rickerts ›Die Philosophie des Lebens‹: »Wir erwähnen ihn trotzdem erst jetzt, weil er nicht eigentlich als Systematiker und noch weniger als Modephilosoph gelten kann. Er ist hauptsächlich Geisteshistoriker« (PhdL: 27). Siehe auch Rickert (KuN: 13). Diltheys Erwiderungsansätze sowohl gegenüber Ebbinghaus’ Kritik (GS XXII: 337ff.) als auch gegenüber Rickert (GS XXIV: 267ff.) sind mittlerweile publiziert.

DIE TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE DES NEUKANTIANISMUS | 109

ist. In der Regel nahm man ihn ausschließlich als ›philosophischen Gewährsmann‹ Webers und damit nur durch eine beschränkte, nämlich von Weber voreingestellte, Optik wahr. Dies hat konkret dazu geführt, dass man Rickert in der Soziologie lediglich als ›Wissenschaftstheoretiker‹ rezipiert und dabei zugleich den ›Wertphilosophen‹ und ›Systematiker‹ aus dem Fokus gestellt hat. Entgegen dieser Verkürzung unternimmt die folgende Rekonstruktion den Versuch, gewissermaßen den ›ganzen Rickert‹ zum Ausgangspunkt einer Untersuchung des sozialwissenschaftlichen Fundierungspotentials des Badischen Neukantianismus zu nehmen.

Rickerts Programmatik einer ›Rehabilitierung der Philosophie‹ Christian Krijnen hat die allgemeine Motivlage, von welcher aus Windelband und Rickert eine ›Wertphilosophie‹ entwarfen, wie folgt resümiert: »Die Wertphilosophie überhaupt – und damit auch die neukantianische Wertphilosophie – läßt sich als Versuch begreifen, die nachidealistische Kluft zwischen Sein und einem (nicht bloß ethisch gedachten) Sollen philosophisch zu überbrücken« (2001: 74f.). Er deutet zudem an, dass die in der Neukantianismus-Interpretation vorherrschende Tendenz, die Programmatik dieser Strömung auf die Etablierung der Erkenntnistheorie als Fundamentaldisziplin zu reduzieren, zu einer einseitigen und verengten Sichtweise geführt habe, die der Radikalität dieser Theoriebewegung nicht gebührend Rechnung trage. Insbesondere, so Krijnen weiter, trete dabei das eigentümliche »Krisenbewußtsein« des Badischen Neukantianismus in den Hintergrund (ebd., 78). Auch Tenbruck hat den Entstehungszusammenhang für die Gesamtbewegung allgemein rekonstruiert und hierbei gefolgert: »Nicht ein festes Sachproblem hielt die Neukantianer zusammen, sondern eine Kulturaufgabe, die auf die Frage hinauslief, wie die moderne Kultur, in der der Mensch zu sich selbst kommen sollte, zu verwirklichen sei« (1994: 80). Insbesondere im umfangreichen Werk von Rickert manifestierte sich die »fundamental-philosophische Ausrichtung der südwestdeutschen Wertphilosophie« (Krijnen 2001: 89). Es ist allein aus diesem Krisenbewusstsein heraus zu begreifen, dass Rickert neben seinen theoretischen Büchern immer wieder auch polemische und provokative Stellungnahmen 5 6 zu den »philosophischen Modeströmungen« seiner Zeit publizierte. Man 5 6

So heißt es im Untertitel zu ›Die Philosophie des Lebens‹ (PhdL). Dazu zähle ich neben dem schon erwähnten Werk ›Philosophie des Lebens‹ auch ›Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft‹, ›Probleme der Geschichtsphilosophie‹, sowie programmatische Aufsätze wie ›Lebenswerte und Kulturwerte‹, ›Die gegenwärtige Lage der europäischen Philosophie‹, ›Kant als Philosoph der modernen Kultur‹ und ›Wissenschaftliche Philoso-

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muss ihn insofern – ebenso wie Dilthey – zu einem typischen Repräsentanten des deutschen Mandarinentums (im Sinne der Beschreibung von Ringer) rechnen, als er die höchsten Erwartungen an die Philosophie stellte, die seinerzeit überhaupt denkbar waren. Er grenzte ihren Gegenstandsbereich und Fragehorizont prinzipiell gegenüber allen einzelwissenschaftlichen Belangen ab. Während die Einzelwissenschaften ausschließlich mit der »Erfahrungswelt« und somit nur mit »Weltteilen« (GdP: 106) befasst seien, bleibe allein der philosophische Zugang mit der zentralen Aufgabe der Erkenntnis des ›Weltganzen‹ betraut. Sowohl Windelband wie Rickert ließen keinen Zweifel daran, dass das Erkenntnisziel der Philosophie die 7 Etablierung einer lebensdienlichen ›Weltanschauung‹ sei. Jedoch muss hier postwendend hinzugefügt werden, dass es sich dabei um die Vorstellung einer philosophischen »Weltanschauung ohne Pathos« (Griffioen 1998: 65) oder besser: einer »Weltanschauungslehre« handelte, die keinesfalls mit dem zeitgenössischen, von Windelband und Rickert heftig attackierten, »existenziell und emotional eingestellten Weltanschauungsdenken« (PA: 319) zu verwechseln ist. Es wird noch en détail herauszustellen sein, dass die Generierung einer solchen ›Theorie der Weltanschauung‹ in systematischer Hinsicht das letzte und damit voraussetzungsvollste Element in Rickerts Gesamtsystematik darstellt. Die Philosophie nahm bei Rickert jene herausgehobene Ausnahmestellung ein, die ihr traditionell bis zur Erschütterung des Wissenschaftssystems seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugekommen war. In Form einer systematisch entwickelten »Rehabilitierung der Philosophie« (Krijnen 2001: 77) sollte bei Rickert die Krise der europäischen Wissen8 schaften überwunden werden. Aus heutiger Distanz betrachtet erscheint diese lebensnahe Motivik nicht ohne weiteres mit der Abstraktheit der systematischen Ausführung von Rickerts Programmatik in Einklang stehend. An diesem Punkt entschied sich wohl auch das Rezeptions-Schicksal von 9 Rickerts Philosophie insgesamt. Glaubt man der Darstellung Griffioens, so habe Rickert selbst an seinem Lebensabend, am Ende seiner philosophischen Weisheit angekommen, mit einer »bewundernswerten Ehrlichkeit« zugegeben, dass »keine eindeutige und inhaltliche Kultursynthese möglich ist« (1998: 71). Er gilt folglich, selbst bei seinen gegenwärtigen Aposteln, als gescheiterter Systematiker.

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phie und Weltanschauung‹. Die meisten der aufgezählten Aufsätze liegen seit kurzem in einer Zusammenstellung vor (PA). Siehe etwa Windelband (Präl II: 1) und Rickert (PA: 3ff., 405). Vgl. für Windelband auch Schulz (1994: 474ff.), für Rickert siehe Signore (1994: 485) und Krijnen (2001: 121ff.). Noch im Jahre 1934 fand Rickert (PA: 347) die Situation vor, dass der Philosophie der Charakter einer Wissenschaft überhaupt abgesprochen werde. Siehe auch Rickert (PA: 325). Noch bis in die Gegenwart gilt, dass er »zu den am meisten vergessenen« (Bast 1999: VII) Philosophen überhaupt gehört.

DIE TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE DES NEUKANTIANISMUS | 111

1. Rickerts Erweiterung des philosophischen Gegenstandsbereichs Die thematische Ausrichtung und inhaltliche Ausgestaltung von Rickerts Grundlegungssystematik lässt sich am einfachsten begreifen, wenn man die Gründe nachvollzieht, weshalb Rickert eine Neubestimmung des philosophischen Gegenstandsbereichs für dringlich erachtete. In seinem programmatischen Aufsatz ›Vom Begriff der Philosophie‹, der 1910 die neu begründete Zeitschrift ›Logos‹ eröffnete, resümierte Rickert im Hinblick auf die Lösung des von ihm als zentral erachteten philosophischen »Weltproblems« zwei traditionelle Lösungsansätze, den ›Objektivismus‹ und den ›Subjektivismus‹. Eine Reihe von philosophischen Streitfragen seien letztlich auf diesen Gegensatz zurückzuführen, so Rickert (PA: 7). Beide Grundrichtungen erschienen in seinen Augen in jeweils spezifischer Hinsicht als reduktionistisch und defizitär. Die ›objektivierende‹ Philosophie gehe von der Annahme aus, dass die Welt nur über ›Objekte‹ erklärt werden könne. Hier erkennt man die den naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen zugrunde liegende Kosmologie, welcher zufolge schließlich auch psychische und geistige Prozesse in diesem Sinne ›objektiviert‹ werden müssten. Allerdings könne der Objektivismus laut Rickert auch in nicht-naturalistischem Gewand auftreten, in welchem die Anerkennung der Eigenart des psychischen Lebens voll anerkennt würde (ebd., 5). Geistige Einheiten oder ›Subjekte‹ würden hier physiologischen Prozessen und/oder physischen Körperbewegungen subsumiert und zu Gliedern einer kausal gegliederten Weltvorstellung reduziert. ›Subjektivistische‹ Philosophie sei mit diesen Voraussetzung dahingehend unvereinbar, weil die im Objektivismus unterstellte Kausalität im Rahmen einer ›subjektivistischen‹ Erklärung lediglich als eine »Form des erkennenden Subjektes« (ebd., 6) angesehen werde. ›Objekte‹ stellen in dieser Auffassung lediglich ›Er10 scheinungen‹ dar. Folglich könnten sich zwar die Einzelwissenschaften, die lediglich mit Ausschnitten der Welt befasst seien, mit Objektbeschreibungen begnügen, die Philosophie, welche die Welttotalität beschreiben müsse, jedoch keinesfalls (ebd.). Provisorisch stellte sich Rickert zunächst auf die Seite des ›Subjektivismus‹ und ersah im »Ich« diejenige »Pforte, die wir zu diesem Zwecke zu durchschreiten haben« (ebd.). Nur vom Subjekt her, welches der ›Objektivismus‹ vergessen wolle, sei das ›Ganze der Welt‹ in den Blick zu bekommen. Rickert erblickte jedoch in der Gegenüberstellung von Objektivismus/Subjektivismus ein Grundproblem, welches aus dem unhaltbaren Zustand rühre, dass sich einzelwissenschaftliche Erkenntnis einerseits und philosophische Erklärung andererseits sachlich widersprechen würden. Letztlich würden sich nach Rickerts Überzeugung die Interessen der Spe10 Kant ist selbstverständlich der Pate einer solchen Weltansicht.

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zialwissenschaften durchsetzen (ebd., 11). Das Hauptargument gegen eine subjektzentrierte Welterklärung erblickte Rickert schließlich darin, dass der Sinn der Welt keineswegs dadurch erfasst werden könne, dass subjektive Kategorien einfach auf das Ganze der Wirklichkeit ausgedehnt würden (ebd.). Hier antizipierte er augenscheinlich die Problematik des Relativismus in Form eines Subjektivismus, von dem aus der »Sinn des Lebens« (ebd., 12) nicht tiefgründiger erfasst werden könnte als im Objektivismus und welcher mit dem klassischen Wissenschaftsideal, an dem Rickert durchgängig festhielt, unvereinbar war. An diesem Argumentationspunkt brachte Rickert nun die seine Philosophie prägende theoretische Wendung an. Er definierte die hier vorliegende Problemkonstellation als »Wertproblem«: »Weltanschauung als Weltverständnis kann nie aus einem bloßen Subjektverständnis sondern nur aus einem Wertverständnis entspringen. Erst wenn wir der Werte gewiß sind, wird das Subjekt, das zu diesem Werte Stellung nimmt, wichtig« (ebd.). Rickert führte damit eine neue Dimension in die bisherige Wissenstheorie ein, die jenseits der Alternative von Objekt- bzw. Subjektzentriertheit angesiedelt war. Man könnte in präsentistischer Manier von einer ›wertphilosophischen Wende‹ sprechen. An diesem Punkt justierte Rickert schließlich auch das Ziel der philosophischen Grundlegung neu: »Das Subjekt muß positiv verankert werden, wenn wir eine Deutung des Lebenssinnes gewinnen wollen, und der Grund, den wir dazu brauchen, kann nur ein Reich der Wertgeltungen, niemals aber die Wirklichkeit des Subjektivismus sein« (ebd.). Es empfiehlt sich auch im vorliegenden Fall (ähnlich wie bei Dilthey), zunächst danach zu fragen, in welcher Weise Rickert an Kant angeknüpft hatte, um jenseits der programmatischen Ebene weiteren Aufschluss über die philosophischen Motive dieser ›Wendung‹ zu erhalten.

2. Rickert und Kant Im Vergleich zu Windelband hatte Rickert ein distanzierteres Verhältnis 11 zu Kant. Während Windelband die Standpunkte seiner eigenen Philosophie relativ uneingeschränkt mit denjenigen Kants als ›identisch‹ auffasste (Krijnen 2001: 104), lag für Rickert die Größe Kants gerade darin, »daß seine Philosophie nicht entweder gänzlich angenommen oder gänzlich abgelehnt werden muß, sondern die Grundlage für positive Weiterarbeit bildet« (Bast 1999: XXIX). In der letzten Gesamtdarstellung seines eigenen philosophischen Werkes hatte Rickert systematisch zu klären versucht, an welchen Punkten des Kantschen Opus er eine Fortsetzung bzw. Rich-

11 »Er geht sehr viel weiter über Kant hinaus als z. B. Alois Riehl und Hermann Cohen oder als sein eigener Lehrer Wilhelm Windelband«, schrieb bereits August Faust (1927: 2).

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tungsänderung ansetzen würde. Er stellte seiner Kantinterpretation sogar explizit die programmatische Wendung »Kritik des Kritizismus« (PA: 351) 13 voran, was sein undogmatisches Verhältnis zu der Epochalfigur belegt. Eingangs ist in diesem Zusammenhang zu vermerken, dass sich Rickert gegen die Grundtendenz der Verengung des Kritizismus auf Erkenntnistheorie bzw. Wissenschaftslehre, wie sie durch die ›Kritik der reinen Vernunft‹ effektuiert wurde, gewandt hatte. Paradoxerweise wurde exakt derselbe Einwand häufig gegen Rickerts eigene Wissenschaftstheo14 rie vorgetragen. Eine vollständige Übersicht über Kants ›Theorie der Wissenschaften‹ erforderte Rickert zufolge die Berücksichtigung sowohl der Kritik der ›praktischen‹ als auch der ›ästhetischen Vernunft‹ (ebd., 352f.), aus welcher zum Vorschein kommen würde, dass Kant »nicht lediglich ›erkenntnistheoretische‹ Fragen, wie man heute sagen würde, sondern ebenso auch metaphysische, oder, allgemeiner ausgedrückt, ontologische Probleme [...] im Auge hatte« (ebd., 353). Der zentrale Angelpunkt von Rickerts Kantauslegung steht in enger Verbindung zu seiner bereits erörterten Bestimmung der Fundamentalfrage der Philosophie im Allgemeinen, nämlich derjenigen nach einer universalen theoretischen Weltdeutung. Von daher verwundert es nicht, dass Rickerts ›Kritizismuskritik‹ direkt von Kants Bestimmung des Verhältnisses von ›theoretischer‹ und ›praktischer‹ Vernunft ansetzte. Rickert stellte zunächst unmissverständlich heraus, dass damit keine Scheidung zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis im modernen Sinne intendiert war, sondern dass auch noch die ›praktische‹ Vernunftkritik auf dem Boden der ›theoretischen‹ Philosophie stünde (ebd., 380f.). In concreto nahm Rickert Anstoß an Kants Axiom des ›Primats der praktischen vor der theoretischen Vernunft‹, welches nun in aller Kürze ausgeführt werden soll. Während dem Anspruch der vor-kantischen Ethik nach aus der ›theoretischen‹ Reflexion ganz selbstverständlich Schlüsse für ›praktisches‹ Handeln deduziert werden sollten, so habe Kant, wie Rickert feststellte, Eigenschaften des Praktischen herausgestellt, »die es der Unterordnung unter die theoretische Vernunft entziehen« (ebd., 381). Genauer gesprochen: Kant hatte entdeckt, dass ›Freiheit‹ und ›Sittlichkeit‹ nicht aus der ›theoretischen‹ Reflexion, sondern ausschließlich aus der ›praktischen‹ Vernunft heraus begründet werden könnten. Er etablierte damit quasi eine Zwei-Welten-Theorie, wobei der Mensch beiden notwendig angehöre. Während die ›theoretische Vernunft‹ auf das Gebiet raum-zeitlicher An12 In der Monographie ›Kant als Philosoph der modernen Kultur‹ (1924) setzte sich Rickert nur sehr oberflächlich mit Kant selbst auseinander. In systematischer Hinsicht ist daher die ›Systematische Selbstdarstellung‹ (PA) weitaus ergiebiger. 13 Es ist sogar überliefert, dass Rickert für sich die Bezeichnung ›Neukantianer‹ abgelehnt hatte (Bast 1999: X). Siehe dazu auch Kuttig (1987: 211ff.). 14 Siehe dazu die einleitenden Bemerkungen zu diesem Teilkapitel.

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schauungen begrenzt war, definierte Kant den Bereich seiner Moralphilosophie geradezu in Abgrenzung zu demjenigen der ›Natur‹. Hatte die ›Kritik der reinen Vernunft‹ zunächst den Vernunftgebrauch unter Bedingungen der Sinnlichkeit untersucht, so ging es in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ schließlich darum, »nur die Prinzipien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen vollständig ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur« (KpV: A 15) anzugeben. Rickert unterbreitete nun eine spezifische, ›wertphilosophische‹ Lesart des Kantischen Satzes des ›Primat der praktischen Vernunft‹. Dabei etablierte er den ›Akt des Wertens‹ als eine Instanz, die sich gewissermaßen zwischen die Theorie/Praxis-Dichotomie schob. Folglich verhalte sich auch der vermeintlich bloß ›Erkennende‹ insofern bereits ›praktisch‹, als er »in Urteilen rein theoretischer Art zum Wert der Wahrheit Stellung« (PA: 382) bezieht. Krijnen bezeichnet diese Wendung als eine »Axiotisierung des Theoretischen« (2001: 452). Das Moment des ›Wertens‹ gehe folglich dem ›theoretischen‹ wie dem ›praktischen‹ Verhalten immer schon voraus. Aus der Perspektive Rickerts bot diese wertphilosophische Wende eine theoretische Möglichkeit, die traditionellen Einteilungen der philosophischen Fachgebiete zu überdenken bzw. deren Grenzen neu auszumessen. Er argumentierte, dass auf diese Weise der Metaphysik, welche 15 Kant noch als Angelpunkt seiner Moral- und Freiheitslehre auffasste , der Boden entzogen werden könne (PA: 386). Rickert erweiterte somit den Gegenstandsbereich des klassischen Philosophiebegriffs – er sprach hier vom philosophischen ›Weltbegriff‹ – nicht nur um die Wertdimension, sondern vielmehr wird das Konzept des ›Wertes‹ bei Rickert zum »Zentralbegriff der Philosophie« (Bast 1999: XXI) schlechthin (vgl. Seidel 1968: 10ff.). Der Akt des ›Wertens‹ wird dabei nicht nur als moralstiftend, sondern zugleich auch als erkenntnisfundierend philosophisch nobilitiert. Somit verschob sich auch die Problemdimension des philosophischen Grundlegungsunternehmens. Er hatte das »alte ontologische Gegenstandsproblem [...] in ein Geltungs- bzw. Wertproblem« (ebd.) transformiert. Bereits Kant hatte das traditionelle Erkenntnisproblem, wie sich menschliches Denken auf die Gegenstandswelt bezieht, zu einem philosophisch 16 nicht auflösbaren Problem erklärt und eine »De-Ontologisierung« der Erkenntnissphäre eingeleitet. Kant argumentierte dabei, dass der Mensch im Denken die Welt immer schon in Begriffen hat und somit das Ver-

15 Darauf weisen bereits die Titel seiner moralphilosophischen Arbeiten hin, die jeweils als ›Metaphysik‹ ausgeschrieben sind. 16 Dieser Begriff meint eine Abkehr von empiristischen Vorstellungen des Verhältnisses von Geist und Materialität, die Kant attackiert hatte. In erweitertem Sinne wird er neuerdings von Clam (2002) zur Differenzierung verschiedener philosophischer Grundorientierungen in Anschlag gebracht.

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gleichskriterium wiederum in das Erkenntnissubjekt fallen würde. Die Erkenntnistheorie hatte folglich ausschließlich die »Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft« (KrV: A 59) zu prüfen. Damit fiel die Geltungsfrage von Erkenntnissen selbst wiederum in das Gebiet der Erkenntnisfundierung bzw. der Erkenntnismethode zurück. Rickerts Version einer De-Ontologisierung des Erkenntnisproblems erfolgte aufgrund der zentralen systematischen Bedeutung, welcher er dem ›Akt des Wertens‹ zuschrieb. Als eine dritte, vermittelnde Instanz stelle die Wertstellungnahme eine Verbindung zwischen der Ebene der transzendenten Werte einerseits und dem Wirklichkeitsbereich auf der anderen Seite her. Er wies den ontologischen Status dieser Instanz als »prophysisch« aus. Der dualistische Grundzug, der die neuzeitliche Wissenstheorie im Gefolge Descartes kennzeichnete und sich noch in Kants ›kopernikanisch‹ gewendeter Wissensbegründung konservierte, blieb auch für Rickerts Adaption durchaus bestimmend. Die ›irreale‹ Geltungsebene der Werte sowie die ›reale‹ Welt der Gegenstände konstituierten sich hier jedoch über eine dritte Erkenntnisebene, die bislang philosophisch unerforscht geblieben war. In folgender Umschreibung aus dem ›System der Philosophie‹ kommt der eigentümliche ontologische Status der ›Wertgeltungen‹ vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck: »Die Wertgeltungen, auf die alles ankommt, liegen weder im Gebiet der Objekte noch in dem der Subjekte […]. Sie gehören weder zur Außenwelt noch zur Innenwelt, weder zur realen Natur noch zum realen Geist, weder zur Tat noch zum Leiden, weder zum Willen noch zur Vorstellung« (System: 147).

Die Werttheorie an sich sollte keineswegs die Erkenntnistheorie ersetzen, wie oberflächliche Lesarten häufig unterstellten, sondern zunächst die Beziehungen zwischen diesen drei Welt- bzw. Geltungssphären aufklären. Später erweiterte Rickert seinen Weltbegriff um die vierte Dimension, nämlich derjenigen der ›Metaphysik‹ (nicht im Kantschen Sinne) bzw. der 18 ›Religion‹ und ›Weltanschauung‹. Insbesondere muss vor diesem Hintergrund Rickerts spezifische und häufig missverstandene Zieldefinition seiner Philosophie, eine ›Weltanschauung‹ zu generieren, gelesen werden. Rickert folgerte aus seiner Bestimmung keineswegs etwa eine Herabsetzung der Erkenntnistheorie in ihrer fundierenden Funktion, obgleich er zugleich formulierte, dass »das Freiheitsproblem auch für den theoretisch denkenden Menschen besteht« (PA: 384), sondern sie erhielt nun vielmehr 17 Vgl. die übersichtliche Rekonstruktion von Kants Argumentation in Stegmaier (1997: 21ff.). 18 In übersichtlicher Form entfaltete Rickert seine Vierweltentheorie in seiner ›Systematischen Selbstdarstellung‹ (PA: 401ff.). Sie wird unten zur Darstellung kommen.

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erst recht »system-axiotische Bedeutung« (Krijnen 2001: 461). Das Tätigkeitsfeld des ›Erkennens‹ wird um die Dimension des ›Wertens‹ erweitert und hebt auf diese Weise den Gegensatz von Theorie und Praxis auf neuer Ebene auf. Zugleich erwirbt die Erkenntnistheorie damit ihre den gesamten Wissens- und Tätigkeitsbereich des Menschen tragende Relevanz. Sie kann aufgrund der Erweiterung um eine Theorie des Wertens – anders als etwa bei Dilthey – ihre ursprüngliche Funktion im Neokantianismus Rickerts konservieren.

Rickerts Philosophie der Begriffsbildung Vor dem Hintergrund der Entwicklung der akademischen Philosophie in Deutschland seit der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts, in deren Verlauf sich die Philosophie – unter Entrichtung hoher Kosten – von ideologischen Orientierungsansprüchen emanzipierte und sich konkreteren Sachfragen zuwandte, erscheint die skizzierte Programmatik der Rickertschen Wertphilosophie in bestimmten Hinsichten als rückwärtsgewandt. Rickert war sich dieser Dissonanz offenbar völlig bewusst und antizipierte, dass er bei seinen zeitgenössischen Kollegen »auf nichts weniger als auf allgemeine Zustimmung rechnen darf« (KuN: 168). Und er sollte darin 19 Recht behalten. Es kann gleichwohl kein Zweifel darüber bestehen, dass er die wertphilosophische Lösungsstrategie als alternativlos einschätzte. Ähnlich wie Dilthey, hielt Rickert an seiner Axiomatik zeitlebens fest. Bevor sich also dem allgemeinen Urteil angeschlossen wird, scheint es geboten, ein von der Rezeptionsgeschichte unabhängiges Bild über die inhärenten Aporien in Rickerts Grundlegungssystematik zu rekonstruieren. Nachdem zunächst eine grobe Skizze dieses Systems gezeichnet wurde, soll im Anschluss daran die Bedeutung der Wertssphäre im Hinblick auf die Wissens- und Erkenntnisfundierung eingehender betrachtet werden. Rickert entwickelte sein »System der Philosophie« (PA: 231, 319) erst nachdem er sich in früheren, genuin wissenschaftstheoretischen Studien, vor allem in den ›Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung‹ (1896; 1902) und in ›Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft‹ (1899), am Diskurs um die Abgrenzung von Geistes- und Naturwissenschaften beteiligt hatte und dabei zunächst überwiegend auf positive Resonanz gesto20 ßen war. Im Rahmen dieser Arbeiten nahm Rickert häufig direkten Be19 Einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der Wertphilosophie Rickerts geben Miller-Ristowska (1955: 36ff.) und Vollhardt (1986: 189ff.). 20 Dies wurde von Rickert selbst enthusiastisch festgestellt (KuN: 12f.). Die allgemeine Abwendungsbewegung von Rickerts Wertesystematik erfolgte tendenziell erst seit Ende der 1920er Jahre und war weniger mit Rickerts Begründungslogik der Kulturwissenschaften als mit seiner Wertphilosophie verbunden.

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zug auf Diltheys Abgrenzungsvorschlag, zu dem er eine Alternativlösung projizieren wollte. Dilthey repräsentierte in Rickerts Augen den Stellvertreter (wenn nicht sogar Urheber) der zum damaligen Zeitpunkt noch in der Zunft üblichen materialen Einteilung der Wissensgebiete, die auf einer für Rickert unzulässigen Ontologisierung von ›Natur‹ und ›Geist‹ beruhte (KuN: 27). Als Beleg für die Untauglichkeit einer gegenständlich begründeten Einteilung der Wissensgebiete führte Rickert schlicht den wissenschaftstheoretischen Status der Psychologie an. Diese würde sowohl von Natur- wie auch Geisteswissenschaftlern betrieben, was dem sachlichen 21 Abgrenzungsprinzip widerspreche. Rickert hielt an dem Grundsatz fest, dass es »nur eine empirische Wissenschaft geben (kann), da es nur eine 22 empirische Wirklichkeit gibt« (ebd., 30). Eine materiale Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, die auch Rickert keineswegs kategorisch ausschloss, dürfe sich deshalb nicht auf zwei geteilte Wirklichkeitsbereiche berufen. Schließlich differenzierte er die sachlichen Gebiete der Einzelwissenschaften unter Verweis auf die »besondere Bedeutung oder Wichtigkeit« (ebd., 31), die manche Gegenstände für den Betrachter haben und andere nicht. In klassisch erkenntnistheoretischer Terminologie ließe sich das hier unterbreitete Unterteilungsprinzip als subjekttheoretisch im Gegensatz zu gegenstandstheoretisch qualifizieren. Der oben bereits angeführte ›Akt des Wertens‹ kommt an dieser Stelle ins Spiel, weil Rickert Kulturgegenstände – er führte dafür den Begriff ›Güter‹ ein – als denjenigen Bereich des ›Wirklichen‹ bzw. der ›Natur‹ auszeichnete, der von Menschen mit einem ›Wert‹ behaftet würde (ebd., 36). Prinzipiell könne die Wirklichkeit im Hinblick auf beide Betrachtungsweisen oder Erkenntnisinteressen betrachtet werden. Rickert resümierte: »Durch die Beziehung auf Werte, die entweder da ist oder nicht da ist, können wir demnach mit Sicherheit zwei Arten der Objekte der Wissenschaften trennen« (ebd.). Die sich hier abzeichnende und später noch auszuführende ›Wertbeziehungslehre‹ stellt das Herzstück von Rickerts Wissenschaftstheorie dar, die bis heute auch regelmäßig als Haupthinterlassenschaft des Rickertschen Werkes hervorgehoben wird. Das Bedeutungsgewicht dieses Theoriestücks im Rahmen der Gesamtkonzeption konstituiert sich jedoch weniger aus dem abgrenzungstheoretischen Kontext, sondern hängt mit darüber hinaus weisenden, grundsätzlicheren und geltungstheoretischen Problemaspekten zusammen, die im Folgenden angezeigt werden sollen.

21 Windelband (Präl II: 143) hatte diese Argumentation bereits in seiner berühmten Rektoratsrede vorgebracht. 22 Siehe auch Rickert (Grenzen II: 368).

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1. Rickerts transzendentale Methode Rickerts Begründung der Kulturwissenschaften rekurrierte also dezidiert auf ein formales (an Stelle eines ontologischen) Abgrenzungskriteriums. Man bezeichnet diesen Ansatz zuweilen auch als eine »transzendentale Kulturphilosophie« (Bohlken 2002: 13). Diese Titulatur verweist auf einen grundlegungstheoretischen Untergrund, der im Hinblick auf den in dieser Arbeit zu untersuchenden Fragekomplex von besonderer Relevanz ist. Angesichts des Sachverhalts, dass man von einer »zunehmenden Ontologisierung im Spätwerk« (Kuttig 1987: 60) Rickerts spricht, erscheint es unabdingbar zu verstehen, in welchem Sinne man bei Rickert genau von einem transzendentalphilosophischen Ansatz reden kann. Bohlken zufolge müsse man im Falle von Rickerts Grundlegungsphilosophie sogar von einem spezifisch »modernisierten Verständnis der Transzendentalphilosophie« (2002: 13) sprechen. Dieses unterscheide sich zum einen dahingehend von dem klassischen kantischen Ausgangspunkt, als darin weniger eine exklusive Orientierung auf die »theoretische Philosophie und insbesondere auf die Erkenntnistheorie« (ebd.) vorliege, und zum anderen dort ein höheres Potential enthalten sei, »dem historisch-kontingenten Charakter des Explanandums Kultur [...] gerecht zu werden« (ebd., 14). In der Darstellung der Ausgangsproblematik seiner Erkenntnislehre im ersten Kapitel der ›Grenzen‹ zeichnete Rickert ein offensichtlich eng an Kant angelehntes Bild. Hatte dieser in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ das Erkenntnisproblem in Bezug auf das Verhältnis von ›Begriff‹ und ›Anschauung‹ folgendermaßen festgeschrieben: »Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können« (KrV: A 50),

so erschien auch bei jenem die Kluft zwischen ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ als die Ausgangsproblematik der Wissenschaftslehre. Die Aufgabe der Wissenschaftstheorie wurde bei Rickert sogar gewisser Maßen auf Begriffsbildungsphilosophie reduziert. Im Hinblick auf die Auflösung dieser Ausgangsproblematik unterscheiden sich jedoch die Richtungen der Vorschläge Kants und Rickerts. Kants dezidiert transzendentalphilosophischer Ansatz war darauf angesetzt, über alle Erfahrungen hinauszugehen bzw. diese zu transzendieren. Rickerts Lösung war dieser Position in derjenigen Hinsicht diametral entgegengesetzt, dass er vom Wissenschaftler forderte, seine Anstrengungen auf das Bilden immer konkreterer und inhaltsvollerer Begriffe zu fokussieren. Namentlich in seinen frühen Arbeiten wandte sich Rickert sogar sehr explizit gegen eine transzendentalphilosophische Fassung des Erkenntnisproblems: »Es gilt, auf dem Boden des

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empirischen Realismus eine Erkenntnistheorie zu errichten, die von einem Transzendenzproblem überhaupt nichts weiß« (GdE: 127). In diesem Sinne hat auch Iso Kern hervorgehoben, dass Rickerts philosophischer Standpunkt in den ›Grenzen‹ noch nicht derjenige des transzendentalen Idealismus, sondern noch von der Position eines »empirischen Realismus« aus formuliert wurde (1964: 395, 409). Dies sei etwa daran ablesbar, dass hier »das reale oder empirische, nicht aber das erkenntnistheoretische Subjekt« bzw. das ›Ich der reinen Apperzeption‹ an die Wirklichkeit herantritt (ebd., 396). In einem seiner späteren Werke wandte sich Rickert wiederum gegen einen »erkenntnistheoretischen Realismus« und bekannte sich zu einem »erkenntnistheoretischen Idealismus« (GdP: 50ff.). In der hier nur angedeuteten Ambivalenz mag man den Unterschied zwischen einem ›modernisierten‹ und einem ›orthodoxen‹ Verständnis des transzendentalphilosophischen Standpunkts antizipieren. Diese Grundspannung zwischen Idealismus/Realismus wird sich als charakteristisch für Rickerts Theorie erweisen, sodass wir bei der nachfolgenden Betrachtung von Rickerts Begriffstheorie und Spätphilosophie einen besonderen Blick auf deren jeweiliger Auflösung werfen müssen.

2. ›Wirklichkeit‹ und ›Form‹ Im Vergleich zu Kant gab sich Rickert mindestens ebenso viel Mühe, die Unausweichlichkeit einer transzendentalphilosophischen (im Gegensatz zu einer empiristisch-sensualistischen) Position anhand der Qualifizierung der Erscheinungsweise der ›Wirklichkeit‹ im Bewusstsein zu legitimieren. In transzendentaler Einstellung beschrieb er die ›Wirklichkeit‹, also deren »Erscheinung« (Grenzen II: 31), als ein »heterogenes Kontinuum« (ebd., 36), das niemals in toto beschrieben werden könne. In den ›Grenzen‹ liest man über die Gegebenheit der ›Welt‹: »Sie bietet sich [...] als eine zeitlich und räumlich unübersehbare Mannigfaltigkeit von Gestaltungen dar, von denen jede von jeder andern quantitativ und qualitativ verschieden ist« (Grenzen III: 25). Berühmt wie berüchtigt ist Rickerts Schlussfolgerung: »Alle diese Gestaltungen, so wie sie sind, einzeln zu erkennen, ist eine für den endlichen Menschengeist prinzipiell unlösbare Aufgabe. Jeder Versuch in diese Richtung wäre geradezu widersinnig« (ebd.). Wir können hier zunächst zwischen zwei unterschiedenen Argumenten differenzieren. Die Wirklichkeit sei zum einen aufgrund ihrer ›extensiven Mannigfaltigkeit‹ nicht erfassbar. Damit bezog sich Rickert auf die Begebenheit, dass ein Erkennen eines historischen Zusammenhangs deswegen ausgeschlossen sei, weil letztlich jedes einzelne Datum in unzähligen Verbindungen mit anderen Daten stünde und ein Gesamtbild aus diesem Grunde grundsätzlich unerreichbar sei. Dies gelte gleichermaßen für die Erkenntnis von singulären Ereignissen: Auch jeglicher Versuch, ein Einzeldatum – Rickert sprach von ›historischen Individuen‹ – zu isolieren, müsse zwangsläufig

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daran scheitern, dass wir bei diesem Versuch auf immer mehr Relationen treffen, so dass sich das Erkennen auch aufgrund dieser ›intensiven Man23 nigfaltigkeit der Wirklichkeit‹ nicht erschöpfen könne. Der Standpunkt 24 der naiven Abbildtheorie , der dem menschlichen Intellekt die getreue Wiedergabe der Realität zutraute, war damit in Rickerts Augen philoso25 phisch überführt. Darüber hinaus stand mit dieser Bestimmung fest, dass jeder Ausdruck des im Bewusstsein »anschaulich gegebenen Materials« (Grenzen II: 33) in diesem Sinne lediglich als Ergebnis eines »Umbildens« und »Vereinfachens« – im Gegensatz zum »Abbilden« – konstituiert wür26 de (KuN: 50). Aus diesem Problemzusammenhang erklärt sich also Rickerts sensible Aufmerksamkeit für die Theorie und Praxis der Begriffsbildung. Das Problem der Bildung von Begriffen wurde die Gretchenfrage der neukantianischen Wissenschaftstheorie schlechthin: »Das Ergebnis der Erkenntnis (steckt) im Begriff« (ebd., 57). Damit verschob sich die wissenschaftstheoretische Betrachtungsperspektive von den Gegenständen auf das erkennende bzw. begriffsbildende Subjekt. Rickert deduzierte aus seiner Konzipierung der Wirklichkeit als ›extensive und ›intensive‹ ›Unübersehbarkeit‹ zwei vorrangige Arten der Begriffskonstruktion. Der im Bewusstsein reflektierte Stoff könne auf zwei unterschiedliche Weisen geformt werden, sodass einmal die Heterogenität und Irrationalität in ein so genanntes ›homogenes Diskretum‹ aufgelöst wurde. Die beiläufigen, individuellen und zufälligen, Eigenheiten des Gegenstandes würden dabei zugunsten der ›Wesenserkenntnis‹ bzw. des ›Typischen‹ ausgeklammert. Alternativ ließe sich derselbe Stoff auch in ein ›heterogenes Kontinuum‹ umwandeln, bei welchem das ›Regelmäßige‹ als nebensächlich und unerheblich behandelt wird. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen dafür die individuellen Qualitäten, die ein Ereignis als ein solches auszeichneten. Die erste Form der Begriffsbildung bezeichnete Rickert als ›generalisierend‹, letztere als ›individualisierend‹. Ein jeder wissenschaftlicher Zugang müsse im Vorfeld ein ›a priori‹ bzw.

23 Zu Rickerts ausführlicherer Begründung dieser Realitätsauffassung siehe Rickert (Grenzen II: 32ff.). 24 Ein solches Erkenntnisideal wurde seinerzeit u.a. von Vertretern des Positivismus vorausgesetzt. 25 In seiner 1892 publizierten Habilitationsschrift ›Der Gegenstand der Erkenntnis‹ hatte Rickert zunächst selbst noch den Standpunkt einer »immanenten Abbildtheorie«, den er dezidiert gegenüber einer»transzendentalen Abbildtheorie« abgrenzte, eingenommen (GdE: 126ff.). Er fügte aber bereits hier wenige Seiten später hinzu: »der Standpunkt der Immanenz ist nicht das letzte, sondern das erste Wort der Erkenntnistheorie« (ebd., 131). Siehe hierzu auch die zusammenfassenden Darstellungen bei Krijnen (2001: 173f.). 26 In den Anspielungen auf diesen Sachverhalt bediente sich Rickert häufig heraklitischer Allegorien: »Wir können also mit den Begriffen nur Brücken über den Strom der Realität schlagen« (KuN: 53).

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ein ›Vor-Urteil‹ (ebd., 54) bestimmen, welches das Erkenntnisinteresse und die Fragerichtung jeweils kategorisch festlegte. In diesem Sinne allein ist die Kennzeichnung von Rickerts Abgrenzungskriterium als ›formal‹ zu begreifen. Immer wieder betonte er gegenüber potentiellen Missverständnissen, dass er es für selbstverständlich halte, dass auch in den Naturwissenschaften Betrachtungen von singulären Gegebenheiten von Nutzen, wie auch umgekehrt, Gesetzmäßigkeiten in historiographischen Forschungszu27 sammenhängen sinnvoll sein könnten. Die jeweilige Methode der Begriffsbildung erscheint somit als das gewichtige Kriterium zur Abgrenzung unterschiedlicher Wissensformen. Im Begriff der ›Interessen‹ treffen sich in Rickerts Konzeption das oben erörterte sachliche Einteilungsprinzip einerseits sowie das formale, begriffsdefinierte Kriterium andererseits. Jeweils ist das Erkenntnissubjekt der Drehpunkt der Differenzierung und nicht etwa irgendeine Qualität auf der Gegenstandsseite. Rickert betonte, dass hier dennoch ein gravierender Unterschied im Grad der Annäherung an die Erkenntnisrealität bestehe: »Das Wirkliche haben wir im Besonderen und Individuellen, und niemals läßt es sich aus allgemeinen Elementen aufbauen« (ebd., 63). Widersprüchlich erscheinen solche Aussagen deshalb, weil sie die Möglichkeit eines messenden Vergleichs des Begriffenen mit der Wirklichkeit suggerieren, was gemäß der Idee des ›Hiatus‹ im Vorhinein gerade ausgeschlossen worden war. Die am Ende des vorausgegangenen Teilkapitels angedeuteten Bemerkungen wieder aufnehmend, scheint sich auch innerhalb von Rickerts begriffstheoretischen Ausführungen der Eindruck zu bestätigen, dass Rickert die Erkenntnisproblematik weniger wie bei Kant aus den Qualitäten des erkennenden Bewusstseins und seiner Fakultäten ableitete als vielmehr aus der Beschaffenheit und Komplexität der Wirklichkeit selbst. Kants methodische Schlüsse aus der Gegebenheit der Unerreichbarkeit der ›Wirklichkeit‹ spiegeln sich in seinem Bemühen wider, die ›reinen Formen der Anschauung‹ transzendentalphilosophisch abzuleiten. Anders als Rickert differenzierte Kant nicht noch einmal zwischen ›empirischer Wirklichkeit‹ und ›Erfahrungswirklichkeit‹. Wenn Rickert der Realität die Eigenschaft der »Irrationalität« unterstellte, so bezog sich dieses Urteil auf die »empirische Wirklichkeit« und nicht auf deren Anschauung im Bewusstsein oder deren begriffliche Darstellung (ebd., 50). Gemäß des ›kritischen‹ Standpunktes ist jedoch ein Urteil über den Charakter der Wirklichkeit ›an sich‹ unmöglich. Dem Duktus nach widerspricht Rickert Kants radikalerer Version des bewusstseinsphilosophischen Standpunkts, wo die Frage nach einer eventuellen Korrespondenz von Begriff und Wirklichkeit kategorisch 27 Das verbreitete Vorurteil einer hier gegebenen strikten Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichen und historischen Verfahren rührte, so hatte Rickert vermutet, von Windelbands unglücklicher Gegenüberstellung von ›nomothetischem‹ und ›idiographischem‹ Verfahren her (KuN: 7, 32f.).

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suspendiert wurde. Gleichwohl hielt auch Rickert formell eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit letztlich für ausgeschlossen. Wir begegnen hier abermals der für Rickerts Wissenstheorie eigentümlichen Grundspannung, die aus dem nicht eindeutig vermittelten Nebeneinanderstehen von transzendentalphilosophisch-idealistischen und ontologisch-realistischen 28 Argumentationsfiguren resultiert.

3. Das Problem der ›Auswahl‹ In Bezug auf die Konstitution von kulturwissenschaftlichem Wissen hat Rickert unverhohlen darauf aufmerksam gemacht, dass »in dem ›idiographischen‹ Verfahren ein Problem und keine Problemlösung (steckt)« (ebd., 108). Die wissenschaftstheoretischen Implikationen der historischen Methode, wie sie insbesondere von den Vertretern der ›Preußischen Schule‹ angewendet wurde, waren von diesen nur beiläufig reflektiert worden. Wie Dilthey, hatte auch Rickert deren systematische Niederlegung vermisst. Gemäß seinem begriffstheoretischen Ausgangspunkt musste nun auch für die Historik das Verhältnis zwischen Stoff und Form über die Angabe eines » Prinzips der Auswahl« (ebd., 54) bestimmt werden. Die bisher dargelegte ›individualisierende‹ Logik der historischen Begriffsbildung hatte zunächst nur die Richtung festgelegt, in die sich eine historische Beschreibung in quantitativer Hinsicht orientieren sollte. Eine qualitative Beschränkung des inhaltlichen Materials war damit noch gar nicht tangiert gewesen. Das angesprochene Problem bestand folglich darin, dass zur Sicherung der objektiven Nachvollziehbarkeit historischer Darstellungen die Kriterien der Stoffauswahl kontrolliert werden mussten. Die Notwendigkeit eines zusätzlichen qualitativen Prinzips ergab sich bei Rickert aus der Gegebenheit, dass die geschichtliche Wirklichkeit niemals erschöpfend beschrieben werden konnte. Populäre Postulate wie etwa Rankes berühmte Insistenz darauf, die Geschichte so zu ›zeigen, wie es eigentlich gewesen‹, subsumierte Rickert unter die unhaltbare Position eines epistemologischen Realismus. An dessen Stelle installierte Rickert nun die zentrale Bedeutung von ›Werten‹. Es seien nur solche Aspekte der Wirklichkeit für den Betrachtenden von Interesse, die für ihn in dem Sinne eine ›Bedeutung‹ trugen, dass sie einen von ihm beachteten Wert zum Ausdruck brachten. 28 Oakes übersieht dieses Spannungsmoment und sieht Rickert eindeutig auf einem »phänomenologischen« Standpunkt (1990: 61). Ähnlich sah bereits Walter Schirren Rickert in erkenntnistheoretischer Hinsicht »auf dem Boden der Phänomenologie« (1923: 55) stehen. Dagegen hat Kuttig (1987: 60ff.) den mühevollen Versuch nicht gescheut, anhand einer akribischen Durchsicht der verschiedenen Auflagen der ›Grenzen‹ und anderer Arbeiten Rickerts den allmählichen Übergang hin zur Ontologie im Spätwerk nachzuzeichnen.

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Eine solche ›Wertbeziehung‹ zwischen Erkennendem und Erkanntem konstituierte sich also letztlich über ›Bedeutung‹. Dabei sei es durchaus zweitrangig, ob der Betrachter in positiver oder negativer Stellung zu den im Betrachtungsgegenstand enthaltenen Werten steht, denn: »Auch das Wertfeindliche hat einen Sinn, den wir verstehen« (ebd., 114). Diese Wertbeziehungslehre ermöglichte nicht nur die Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, sondern war gleichermaßen konstitutiv für denjenigen Wissensbereich, den Rickert als ›Kulturwissenschaft‹ deklarierte. Mit der Wertbeziehung stehen und fallen – sprichwörtlich – die Gegenstände der historischen Kulturwissenschaften (vgl. Oakes 1990: 82). Rickerts alternative Kennzeichnung der historischen Wissenschaften als ›Wirklichkeitswissenschaft‹, die er zunächst von Windelband übernahm, ist aus mehreren Gründen irreführend. Nicht nur wurde die ›Wirklichkeit‹ gemäß der transzendentalphilosophischen Ausgangsprämissen von vornherein als unfassbar deklariert, darüber hinaus qualifizierte Rickert auf dem Boden seiner Theorie der historischen Erkenntnis die Daten als unübersehbar komplex. Der vielleicht gewichtigste epistemologische Einwand gegenüber einer solchen Auszeichnung der Einzelwissenschaften im Rahmen von Rickerts Wissenschaftstheorie liegt darin begründet, dass der kulturwissenschaftliche Gegenstand definitionsgemäß erst über den Bezug auf transzendente Werte zustande kam. Später formulierte Rickert eindeutiger, »wie Erfahrungswissenschaften von Weltteilen sich nicht auf die sinnfreie wahrnehmbare Wirklichkeit beschränken könne, sondern Gegenstände als Material vor sich haben, die aufhören würden, dieselben Gegenstände zu bleiben, falls man von den unsinnlich verstehbaren Faktoren, die mit ihnen verknüpft sind, absehen wollte« (GdP: 107).

Hier lag also nicht eigentlich ein Programm vor, welches den empirischen Disziplinen gegenüber philosophischen Bevormundungen zu einem Eigenrecht verhelfen wollte. Vielmehr war durch die gegebene Bestimmung impliziert, dass allein die Philosophie (der Werte) den Einzelwissenschaften zu einem soliden erkenntnistheoretischen Fundament verhelfen konnte. Die entsprechenden Reaktionen der ›Empiriker‹ in Bezug auf Rickerts wertphilosophischen Grundlegungsversuch blieben nicht aus. MillerRistowska hat in ihrer informativen Übersicht über die Rezeptionsgeschichte von Rickerts Abgrenzungstheorie diese resümiert: »Schon die Notwendigkeit eines aussergeschichtlichen Prinzips, das die historische Wirklichkeit erst konstituieren und die zu einer sinnvollen gestalten soll, wurde von denen bestritten, die durch die Versenkung in die historische Wirklichkeit den je individuellen, konkreten Sinn der Geschichte zu erschliessen bestrebt waren, also vor allem von Dilthey und seinen Schülern« (1955: 39).

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Allerdings sah Rickert auf der anderen Seite auch, dass die Philosophie »in Harmonie mit den Erfahrungswissenschaften bleiben« und »den jeweils vorhandenen und sich dauernd wandelnden Bestand der Einzelforschung« (GdP: 107) anerkennen müsse. Rickert betonte schlussendlich selbst, dass das »Recht der Bezeichnung der Geschichte als ›Wirklichkeitswissenschaft‹« nur »relativ« sei (KuN: 99).

4. ›Wert‹ versus ›Wertung‹ Die entscheidende Frage und gleichzeitig die Kernproblematik in Rickerts wertphilosophischer Grundlegung der Kulturwissenschaften liegt darin, inwiefern es denkbar ist, dass ›Güter‹ und ›Wertungen‹ einen vom Wertenden bzw. Erkennenden unabhängigen Sinn verkörpern können. Plastischer ausgedrückt: Wie kann es sein, dass individuelle Wertstellungnahmen einen Gegenstand konstituieren, ohne dass sie dessen Gehalt gleichzeitig mitberühren? Rickerts Auflösung dieses Paradoxons ist komplex und bedarf der Einführung mehrerer Argumentationsschritte. Gegenüber dem häufigen Fehlschluss, welcher einer Konfundierung von ›Wertbeziehen‹ einerseits und dem ›Akt der Wertens‹ andererseits ge29 schuldet sei , betonte Rickert, dass man die Funktion der Wertbeziehungslehre als Auswahlprinzip von derjenigen als Bewertungskriterium strikt unterscheiden müsse. In logischer Hinsicht seien beide Akte »prinzipiell voneinander verschieden« (ebd., 113), was in der Wissenschaftstheorie bisher jedoch noch nicht ausreichend vermerkt worden sei. Rickert resümierte unzweideutig: »Werten muß immer Lob oder Tadel sein. Auf Werte beziehen ist keins von beiden« (ebd., 114). Darin, dass er keinerlei Zweifel an der Objektivität der Kulturwissenschaften hegte, wollte sich »der führende Kopf der ›Südwestdeutschen Schule‹« (Seidel 1968: 1) keinesfalls missverstanden wissen. Er trennte aus diesem Grund zwischen einer theoretischen und einer praktischen Einstellung zur Geschichte und stellte heraus, dass »positives und negatives Werten nicht die Aufgabe des Historikers (bildet)« (KuN: 12). Wir begegnen hier in der Unterscheidung zwischen ›Werten‹ und ›Wertbeziehen‹ der dualistischen Grundstruktur von Rickerts Weltbegriff auf dem Feld der Wissenschaftstheorie wieder. In Anbetracht der zentralen Stellung, welcher der Wert/Wertungs-Dichotomie in Rickerts Systematik zukam, hatte er auffallend geringe philosophische Energie dazu aufgewandt, die Stichhaltigkeit dieser Annahme zu belegen. Er begnügte sich häufig mit en passant eingestreuten Beispielbelegen (vgl. Oakes 1990: 90f.; Bohlken 2002: 72), die erweisen sollten, dass etwa zwei Forscher mit unterschiedlichen ideologischen Grundanschauungen in Bezug auf eine

29 Rickert schrieb u.a. Alois Riehl diese Fehldeutung zu (KuN: 113f.).

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Sachfrage überhaupt nur dann konfligierende Positionen einnehmen könnten, »wenn unter den Streitenden [...] schon eine durch bloß theoretische Wertbeziehung entstandene, von der Verschiedenheit ihrer praktischen Wertungen unabhängige, gemeinsame individualisierende Wirklichkeitsauffassung vorhanden ist, denn sonst würde man gar nicht um dieselbe Individualität streiten« (PdGph: 61).

Oder er wischte von vornherein jeden potentiellen Einspruch mit solchen selbstherrlichen Wendungen kategorisch vom Tisch: »Die Berechtigung dieser Scheidung ist nicht zu bezweifeln« (ebd., 60). Dass in ihm dennoch ein gewisses Bewusstsein über die Unzulänglichkeit seiner werttheoretischen Argumente zurück blieb, spiegelt sich darin wider, dass Rickert gelegentlich sogar psychologische und anthropologische Argumente bemühte, um ihnen stärkeres Gewicht zu verleihen. Diese Ambiguität in Rickerts Behandlung der Möglichkeit der Trennung von theoretischen und praktischen Stellungnahmen kommt in folgender Aussage deutlich zum Ausdruck: »So gewiß die theoretische Wertbeziehung keine praktische Stellungnahme ist, und so gewiß daher der Historiker sich jeder Wertbeurteilung seiner Gegenstände enthalten kann, ebenso gewiß ist es, daß er innerhalb des Gebietes der Werte, auf die er seine Objekte bezieht, zugleich selbst, auch als Historiker, irgendwie ein wertender Mensch sein muß« (ebd., 66).

Die in dieser Passage artikulierte Fähigkeit des Menschen zu wertenden Stellungnahmen gegenüber der Welt galt Rickert sogar explizit als »psychologische Voraussetzung«, welche die Logik der Begriffsbildung gewis30 sermaßen lebensweltlich fundiere. Diese Feststellung sticht insofern ins Auge, als sich Rickert ansonsten tunlichst von psychologisierender Faselei fernzuhalten pflegte. Diese Perspektivenerweiterung ist im Hinblick auf das erst später ausformulierte ›System der Philosophie‹ von Interesse und hat – so betonte auch Rickert – keine unmittelbaren Konsequenzen für den Status und die theoretische Funktion der Wertbeziehungslehre im Rahmen der Wissenschaftslehre. Bevor wir uns ausführlicher mit Rickerts Spätwerk beschäftigen können, ist es vonnöten, auf eine weitere Problemdimension einzugehen, die mit der Wertbeziehungslehre in unmittelbarem

30 Rickert sprang häufiger zwischen der alltagsweltlichen Ebene und der wissenschaftlich-abstrakten hin und her, vor allem um im Hinblick auf die Begriffsbildungslogik Gemeinsamkeiten herauszustellen. Eike Bohlkens (2002) Untersuchung zu Rickerts interkultureller Ethik legt großes Gewicht auf diese Passagen.

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Zusammenhang steht. Dazu sind wir nicht zuletzt durch den von Rickert betriebenen theoretischen Aufwand genötigt.

5. Das Problem der Objektivität Die zentrale Relevanz, welche der Wertbeziehungslehre in Rickerts Logik der Kulturwissenschaften zukam, steht in engem Bezug zur Objektivitätsproblematik, die für Rickert oberste Priorität besaß. Diese Einschätzung beruht nicht nur auf dem Eindruck des Argumentationsduktus von Rickerts Philosophieren, sondern vor allem aus seinen dezidierten Stellungnahmen zu den ›irrationalistischen‹ Modephilosophien, von denen er sich umgeben 31 sah. Es kann sogar geradezu als sein primäres Anliegen gelten, gegenüber derartigen Verschandelungen der Philosophie, das Ansehen nicht nur der Philosophie selbst, sondern auch der Kulturwissenschaften, wiederherzustellen. Den Ursprung dieser Problematik führte Rickert auf den Historismus zurück, dessen wissenschaftstheoretische Ausgangspunkte in einen Relativismus, Skeptizismus und Nihilismus gemündet seien (ebd., 129). Auch den verschiedenen lebensphilosophischen Strömungen hielt er deren »Prinzipienlosigkeit« vor und stellte ihnen sein eigenes Lösungsideal, das wir bereits erörtert haben, entgegen: »Ohne allgemeines, für alle gültiges Prinzip der Auswahl gibt es keine Wissenschaft« (PhdL: 45). Die Wertbeziehungslehre stiftete zwar ein Auswahlkriterium, jedoch stellte dieser Lösungsvorschlag letztlich den subjektiven Wertorientierungen des Erkennenden, die nur schwerlich als ›objektiv‹ und ›für alle gültig‹ bezeichnet werden konnten, diese Auswahlfunktion anheim. Ohne eine weitergehende Einschränkung, die Rickert schließlich vornahm, wäre hier dem Relativismus in der Form des Subjektivismus Tür und Tor geöffnet gewesen. Rickert fügte nun der Wertbeziehungstheorie die Zusatzbeschränkung hinzu, dass nur eine bestimmte Quantität und Qualität von Werten eine Affizierung zwischen Gegenstand und Betrachter instigieren könnten und hier folglich durchaus keine Beliebigkeit obwalte. Diese Maßnahme sollte letztlich das gesuchte Kriterium abwerfen, welches eine Bestimmung des jeweiligen Geltungsstatus divergierender Wirklichkeitsdeutungen erlauben würde. Hier lässt sich der Punkt markieren, an welchem die Theorie der Begriffsbildung an die Wertphilosophie anknüpfte. Die Notwendigkeit dieses Übergangsschrittes ist also aus einer besonderen wissenschaftstheoretischen Problemlage heraus nachvollziehbar. Die Aufgabe, welche Rickert seiner, über den langen Zeitraum von drei Jahrzehnten mehrfach von Neuem angesetzten, Wertlehre zuschrieb, lässt sich darin resümieren, ein 31 So denunzierte Rickert seine Gegenwart als eine »relativistisch gerichtete Zeit« (PdGph: 129).

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»Wertbeziehungsprinzip« (Oakes 1990: 97) zu bestimmen, welches die Quantität der Wertverbindungen über die Angabe spezifischer Qualitäten reduziert. Dieses Projekt hatte ihn zunächst dazu veranlasst, die Gegenstandsdimension der Kulturwissenschaften genauer auszuleuchten und zu differenzieren. Rickert führte zunächst den Begriff des ›historischen Zentrums‹ zur Bezeichnung des genuinen historischen Objektbereichs ein. Nach der Prämisse der Wertbeziehungslehre konstituierten sich ›Güter‹ und ›Wertungen‹ über die jeweiligen Werte, die an ihnen hafteten. Rickert führte weiter aus, dass letztlich »immer Menschen im Zentrum der Wirklichkeit stehen müssen, die Objekt einer historischen Darstellung ist« (Grenzen II: 505). Der oben als ›psychologische Voraussetzung‹ der Kulturwissenschaften herausgestellte Gedanke erhält an dieser Stelle eine tiefere systematische Bedeutung, denn eine ›Wertung‹ kommt nur dann zustande, wenn Menschen »zu den allgemeinen menschlichen Werten selbst Stellung nehmen« (ebd.). In einem weiteren Schritt argumentierte Rickert, dass, obgleich es sich stets nur um Stellungnahmen von Individuen handele, der dabei angesprochene Wert nicht subjektiv, sondern stets nur ein ›sozial geteilter‹ und insofern ›allgemeiner‹ Wert zu sein habe (ebd., 506). Als entscheidendes Abgrenzungskriterium dafür, dass eine in diesem Sinne ›gültige‹ Wertbeziehung vorlag, brachte er die Differenzierung zwischen »Individualität« und »In-dividualität« (ebd.) ins Spiel. Damit sollte ausgeschlossen werden, dass beliebige individuelle Stellungnahmen zum Gegenstand der Geschichtsbetrachtung wurden, sondern ausschließlich solche, »die mit Rücksicht auf soziale Werte durch die Individualität ihres Wollens und Handelns In-dividuen sind« (ebd.). Im ›System der Philosophie‹ entwickelte Rickert schließlich eine parallele Differenzierung zwischen unterschiedlichen Geltungsstufen, die man zunächst grob auf den Gegensatz von ›Scheinwerten‹, die nur subjektiv gelten, und ›objektiven Werten‹ reduzieren kann (System: 132). Im ersteren Fall basierte die Geltung auf ›persönlichen‹ Wertungen. Die Natur von ›objektiven‹ Werten sei dagegen völlig unabhängig von jedweder faktischen Realisierung und in diesem Sinne ›ideell‹. Sie forderten gleichwohl zu universeller Akzeptanz auf. Als kulturwissenschaftliches Geltungskriterium verlangte Rickert den Nachweis der Verknüpftheit zwischen ›objektiven‹ Werten der transzendentalen Geltungssphäre auf der einen Seite und den ›in-dividuellen‹ Werten auf der empirischen Gegenstandsebene andererseits. Auf diese Weise würden die zunächst nur ›subjektiv‹ gültigen Wertbeziehungen des Historikers auf ihre Nähe und Distanz zu über-individuellen Werten überprüfbar. Rickerts Lösung der Objektivitätsproblematik war also wiederum, wie gesehen, einer axiologischen Strategie verpflichtet und stellte sich somit von vornherein in Opposition zu einer empirisch - korrespondenztheoretischen Position, welche eine Überprüfbarkeit anhand der ›Wirklichkeit‹ proklamierte. Er exponierte die Geltungsproblematik außerhalb des Be-

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reichs der einzelwissenschaftlich-empirischen Forschung in das Gebiet der Geschichtsphilosophie. Inwiefern man hier überhaupt von einer Lösung der Objektivitätsfrage sprechen kann, lässt sich mit Recht bezweifeln. Nicht zufällig teilte Rickert mit Dilthey das Schicksal, zum »Vater des Relativismus« (Eliaeson 2002: 25) gestempelt worden zu sein. Welche Schwierigkeiten Vertreter der Einzelwissenschaften mit einer abstrakten, transzendentalphilosophisch-werttheoretischen Geltungstheorie hatten, wird im dritten Teil der Arbeit exemplarisch anhand von Einzelfallstudien ausgeführt werden. Jenseits der unmittelbaren Rezeptionsebene sollen zunächst die immanenten Theoriezusammenhänge im Ganzen von Rickerts Wissenschaftstheorie weiter ausgeleuchtet werden. Rickerts Lösungsansatz hing, wie gesehen, am seidenen Faden der noch unbewiesenen Voraussetzung, dass es allgemein gültige Werte gab. Über den Weg einer vorgeblich ›logischen‹ Kalkulation vermeinte Rickert in seinen späten Werken, die Denknotwendigkeit der Existenz allgemeiner Werte formal erwiesen zu haben (Grenzen II: 509). Diesen Argumenten zufolge würde ein Zweifel daran, dass das erkennende Subjekt die Geltung der objektiven Werte immer anerkennt, »konsequent für alle Werte durchgeführt, den Begriff der Wahrheit überhaupt aufheben, und damit kämen wir zu einer logischen Absurdität« (ebd., 591). Für den empirischen Forscher, dessen war sich Rickert bewusst, wäre eine ausschließlich ›denklogische‹ Beweisführung der Existenz allgemeiner Werte nicht zufrieden stellend gewesen. Daher übertrug er die Aufgabe der inhaltlichen Bestimmung und Definition allgemeiner Werte und die Darstellung des Zusammenhangs von ›subjektiven‹ und ›objektiven‹ Werten einer systematischen ›Philosophie der Werte‹. Noch in der zweiten Auflage der ›Grenzen‹ (1913) verwahrte sich Rickert dagegen, innerhalb des Rahmens der Wissenschaftstheorie die Frage der Objektivität vollständig beantworten zu müssen (Grenzen II: 586). Er resümierte hier sogar ganz unverhohlen, dass die Erkenntnistheorie zunächst auf einem ›subjektivistischen‹ Standpunkt, ja sogar auf einem »noch subjektiveren Subjektivismus« (ebd., 589) gründen müsse. Wie Kuttig herausgestellt hat, bedeutet dieser Standpunkt, dementsprechend die Geltung von Werten prinzipiell unabhängig von deren praktischer Realisierung in Form von ›Gütern‹ und ›Wertungen‹ zu gelten habe, eine entscheidende Neuerung gegenüber der ersten Auflage der ›Grenzen‹ (1987: 32 69).

32 Kuttigs (1987: 69ff.) Studie vermittelt einen übersichtlichen Eindruck über die Weiterentwicklung der Werteproblematik bis zur fünften Auflage der ›Grenzen‹.

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6. Zusammenfassung Bevor wir uns zu guter Letzt auf das unwegsame Gelände der Rickertschen Wertlehre begeben, soll zuvor noch einmal die theoretische Relevanz, die Rickert dem Wertbegriff im Rahmen der bisher erörterten Wissenschaftslehre zugewiesen hatte, resümiert werden. Es lassen sich mindestens vier verschiedene Bedeutungsebenen, in denen er hierin zum Tragen kam, analytisch auseinander halten: (1) Zunächst war der Wertbegriff konstitutiv für den Gegenstandsbereich der Kulturwissenschaften, nämlich in dem Sinne, dass über das Moment der Wertbeziehung ›Kultur‹ entstand und daher gegenüber Naturgegenständen abgrenzbar wurde. (2) Neben dieser formalen Bedeutung wurde die Beziehung auf Werte auch zur inhaltlichen Begrenzung des kulturwissenschaftlichen Themenfeldes, oder – technisch gesprochen – zur Lösung des Auswahlproblems, funktionalisiert. Die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem basierte auf der Bedingung der Entsprechung von Wertrepräsentationen auf der Seite des ›historischen Zentrums‹ und des Betrachtenden. (3) Weiterhin sollte die Orientierung an ›allgemeinen‹ Werten die ›Objektivität‹ kulturwissenschaftlicher Untersuchungen garantieren. Der Forscher wurde gehalten, sich bei der Auswahl seiner Forschungsgegenstände an ihnen auszurichten. Nicht prinzipiell, sondern forschungs- oder geltungspragmatisch ließ sich auf diese Weise der Relativismusproblematik Einhalt gebieten. Die letztendliche Entscheidung blieb hier insofern ›subjektiv‹, als sie auf einer individuellen Disposition beruhte. (4) Damit einhergehend stifteten ›allgemeine‹ und ›objektive‹ Werte schließlich auch Geltungskriterien, welche in Anschlag gebracht werden konnten, um jeweils divergierende Wirklichkeitsdeutungen zu beurteilen. Den Ausschlag gab dabei dieser jeweils zu konstatierende Annäherungsgrad an ›allgemeinen‹ Kulturwerten. Die über die Logik der historischen Begriffsbildung erfolgte Grundlegung der Kulturwissenschaften behalf sich zur Lösung epistemologischer Fragen mit der Strategie der Etablierung einer transzendentalen Sphäre, die jenseits der ›realen‹ Ebene der praktischen Wissenschaften angesiedelt wurde. Von daher lässt sich hier mit einigem Recht von einer ›transzendentalen Kulturphilosophie‹ (Bohlken) sprechen. Die vorstehenden Ausführungen müssen hinlangen, um den werkimmanenten Zusammenhang zwischen Rickerts später Wertphilosophie bzw. ›Wertontologie‹ und seiner früheren Wissenschaftstheorie anzudeuten. Abschließend sollen nun die axiologischen Grundüberlegungen von Rickerts Spätphilosophie im Hinblick auf die hier als primär herausgestellte Objektivitäts- und Geltungsproblematik vorgestellt werden.

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Rickerts Ontologie: ›Wert‹ und ›Welt‹ Die Übersicht über den Relevanzbereich des Wertbegriffs hat aufgezeigt, in welchem Maße die Tragfähigkeit des Rickertschen Grundlegungsgebäudes von dem Gelingen einer wertphilosophischen Begründung einer Wertehierarchie abhing. In seinem wissenschaftstheoretischen Hauptwerk, den ›Grenzen‹, waren diese basalen Prämissen, wie Rickert selber zugab, untertheoretisiert geblieben. Man würde Rickerts Gesamtwerk jedoch unrecht tun, wenn man sich die Missachtung, welche die Mehrzahl von Rickerts Zeitgenossen dessen Wertphilosophie zollten, unkritisch zum Vorbild nehmen würde – zumal sich heute die Methode einer transzendental33 philosophischen Geltungsfundierung wieder einiger Aktualität erfreut. Nach dem Tode Rickerts setzte relativ bald eine durch dessen Schüler Rudolf Zocher ausgelöste Debatte über die Deutung von Rickerts Spätphilosophie ein. Dabei vertrat Zocher die These einer »Ontologisierung des kritischen Idealismus« (1939: 35ff.) in Rickerts Spätwerk. Kürzlich noch hat Krijnen dagegen argumentiert, dass »bei Rickert keine Ontologisierung im schlechten Sinne vor(liegt), vielmehr handelt es sich um eine vielseitige Ausgestaltung des kritischen Grundlegungsgedankens, die gegen die letztfundierende Stellung der Logik nicht verstößt sondern die Ontologie darauf bezieht« (2001: 156).

Auch wenn hinsichtlich der Einschätzung der späteren Entwicklung von Rickerts Philosophie keine Einigkeit vorherrscht, sollen zunächst einige möglicherweise ausschlaggebenden Motive, die ihn zur Formulierung eines allgemeinen ›Systems der Philosophie‹ angetrieben haben, diskutiert werden. Kuttig führt in seiner Interpretation der Rickertschen Spätphilosophie sowohl immanente als auch externe Motivationslagen an. Zum einen vermutet er, dass die exemplarisch von Troeltsch (1918: 375; 1920: 156) vorgetragene und beständig wiederholte Kritik am Formalismus der Rickertschen Grundlegungsaxiomatik bei diesem den Effekt zeitigte, dass er schließlich seit der zweiten Auflage der ›Grenzen‹ dazu überging, diesem Mangel durch die Eingliederung des Verstehensbegriffs zu begegnen

33 Siehe etwa die programmatischen Ausführungen von Krijnen, in denen eine »transzendental geartete Begründungslehre« gegenüber einer »schlichten Ontologie« in Anschlag gebracht wird (1998: 14ff.). Man beachte auch das Abschlussresümee seiner bedeutenden Rickert-Studie, in der nach Meinung des Autors die beiden Grundvoraussetzungen einer transzendentalphilosophischen Grundlegungslehre – in enger Anlehnung an Rickert – bestätigt werden: »es gibt objektive Werte, für alle Menschen geltende Werte. [...] Eine wissenschaftliche Lehre vom Sinn und Wert des Lebens ist möglich, aber sie ist nur transzendentalphilosophisch möglich« (2001: 593).

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(1987: 71f.). Des Weiteren bemerkt Kuttig auch das immer stärkere Hervortreten einer »ontologischen Perspektive« (ebd.) bei der Beschreibung der Differenz von ›Natur‹ und ›Kultur‹ und damit einhergehend das Zurücktreten des rein ›formalen‹ Abgrenzungsprinzips, wie es noch in den ersten beiden Auflagen der ›Grenzen‹ im Vordergrund stand. Schließlich äußerte sich Rickerts gestiegenes »Verlangen nach Sachbezogenheit« (ebd., 73) auch in der zunehmenden Gewichtung des Wertbegriffs. Rickert löste den Wertbegriff immer weiter von der ursprünglich engen Verknüpfung mit dem Erkenntnissubjekt ab, so dass der Rickerts Philosophie charakterisierende Dualismus von ›Wirklichkeit‹ und ›Wert‹ immer deutlicher zum Vorschein trat. Bei einem solchen ontologischen Dualismus von Wert und Wirklichkeit durfte Rickert jedoch insofern nicht verharren, als er die Philosophie – wie eingangs dieses Kapitels dargelegt – als »Ganzheitswissenschaft und als Weltanschauungslehre« (GdP: 10) konzipiert hatte. Rickert schritt zunächst weiter in Richtung seines Ziels, indem er den ontologischen Dualismus über die Einführung eines vermittelnden »dritten Reiches« (System: 233ff.) relativierte. Allerdings war damit keine ›Aufhebung‹ im Sinne der Hegelschen Dialektik intendiert, bei der aus einem Gegensatz letztlich eine dritte Entität emergierte. Der durch den vermittelnden ›Akt des Wertens‹ etablierte ›immanente Sinn‹ – Rickert sprach auch vom »Aktsinn« (ebd., 270) –, bezeichnete bei Rickert vielmehr lediglich ein »logisches Medium«, das der »Spaltung der Erfahrungswelt in sensible und intelligible Objekte« (PA: 321) vorausgehe. In diesem ›Zwischenreich‹ bildeten die Bereiche der ›Realität‹ und der ›Geltung‹ noch eine Einheit. An anderer Stelle adaptierte Rickert eine philosophische Terminologie zur Kennzeichnung dieses partikularen Seinsgebiets, die man von einem erklärten Gegner dieser Theorieströmung eigentlich nicht erwartet hätte: er deklarierte die Beforschung dieser eigentümlichen ontologischen Dimension zum Gegens35 tand einer ›Philosophie des Lebens‹ : »Was sie dabei behandelt, können wir das erlebende Subjekt auch im Sinne des unmittelbar ›lebendigen‹ Lebens nennen, denn indem die Philosophie die Akte des Wertens erforscht und ihren Sinn deutet, nähert sie sich damit dem Unmittelbaren so weit, wie sie ihm als Wissenschaft sich nur irgend zu nähern vermag« (System: 313). 34 Dieser Befund steht damit in gewissem Gegensatz zu der weiter verbreiteten Ansicht, dass der Verstehensbegriff »in Rickerts Grenzen vollkommen fehlt« (Rossi 1994: 212). Zweifelsohne nahm er im Rahmen von Rickerts Grundlegungsaxiomatik auch nach den späteren Hinzufügungen lediglich eine marginale Rolle ein. 35 »ich strebe selber eine Philosophie des Lebens an« (PhdL: X), hatte Rickert im Vorwort zur zweiten Auflage der ›Philosophie des Lebens‹ erklärt, wobei er im nächsten Schritt seinen eigenen Ansatz von den gängigen Lebensphilosophien abgrenzte.

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Rickert gab seiner Version einer ›Philosophie des Lebens‹ zuletzt noch einen konkreteren Titel, welcher ihrem Gegenstandsgebiet, das er als das ›prophysische Sein‹ bezeichnete, explizit Rechnung trug. Er nannte dieses ontologische Forschungsgebiet die »Prophysik« (PA: 322). Wir können aus diesen Beobachtungen zunächst resümieren, dass Rickerts »universale Ontologie« (ebd., 320) von vornherein keine monistische Reduktion der Seinssphären auf eine Welt bezweckte, sondern indessen für einen »ontologischen Pluralismus« (ebd.) optierte. Als ein viertes Seinsgebiet fügte Rickert schließlich sogar noch das ›metaphysische Sein‹ hinzu, wobei hierfür ein ähnliches Kriterium wie für das ›prophysische‹ Sein in Anschlag gebracht wurde. Denn auch im »Glauben« fallen Wert und Wirklichkeit nicht auseinander, sondern werden als Einheit vorgestellt (ebd., 322). Damit lässt sich Rickerts Weltbegriff zunächst wie folgt tabellarisch zusammenfassen: Tabelle A: Rickerts Weltbegriff (Ontologie) Welt

Seinsgebiet

Erkenntniszugang

1

psychophysisch

empirische Einzelwissenschaften

2

intelligibel

Wertlehre

3

prophysisch

Prophysik

4

metaphysisch

Metaphysik

Die beschriebene Erweiterung des philosophischen Weltbegriffs eröffnete Rickert die Möglichkeit, den ursprünglichen Dualismus von Wert und Wirklichkeit nicht nur beizubehalten, sondern ihn innerhalb einer systematisch entwickelten Weltaxiomatik theoretisch zu fundieren. Die Herausstellung des ›prophysischen‹ Seins als Verbindungsweg zur Unmittelbarkeit des Lebens darf nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass Rickert die Option einer lebensphilosophischen Grundlegungsstrategie im Sinne Diltheys ernsthaft erwogen hätte – obgleich Rickert durchaus mit einer solchen subjekttheoretischen Lösung des Dualismus kokettiert haben mochte (vgl. Kuttig 1987: 90ff.). Rickert blieb auch im Spätwerk konsequent darin, die Bereiche des ›Sensiblen‹ und ›Intellegiblen‹ getrennt zu halten (ebd., 123), wodurch die Wertphilosophie auch im Zusammenhang der Fundierung des ›Ganzen der Welt‹ ihre autonome Stellung behielt. Ab-

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schließend soll nun noch das Verhältnis der Seinslehre zur Werttheorie genauer bestimmt und die Frage diskutiert werden, inwiefern auf dem skizzierten Weg der von Windelband und Rickert formulierte Anspruch der Grundlegung einer ›wissenschaftlichen Weltanschauungslehre‹ eingelöst wurde. Um zu einer im Verständnis Rickerts ›universalen‹ Ontologie und einer darauf ruhenden ›Weltanschauungslehre‹ zu gelangen, sollte die Ontologie nach dessen Vorstellung zunächst um eine »philosophische Anthropologie« (PA: 323) erweitert werden, welche systematisch die Stellung des Menschen in und zur Welt darlegen würde. Damit scheint sich die ohnehin schon recht unübersichtliche Gemengelage diverser Zwischenschritte auf dem Weg zur gesuchten ›Ganzheitswissenschaft‹ nochmals zu verkompli36 zieren. Im Rahmen einer die anthropologische Dimension integrierenden, universalen Reflexion würde, so Rickert, »der Charakter der Philosophie als Wertlehre (vollends) zutage (treten)« (ebd.). Wie ist diese Aussage zu verstehen? Wir erfahren von Rickert weiter, dass die perspektivische Einstellung zu diesem Zweck sowohl über den »theoretischen Menschen«, der im Zentrum der genuin philosophischen Einstellung stand, sowie den Teilaspekten der Welt, die von den Einzelwissenschaften herausgestellt wurden, hinausgehen müsse und statt dessen den »ganzen Menschen« in den Blick zu fassen habe (ebd., 319). Demgemäß würde auch die Ontologie um eine Erforschung des erkennenden Subjekts nicht umhin kommen. Rickert legte den Maßstab für ein ›System der Philosophie‹ entsprechend fest: »Jedes System ist unvollständig, welches die Welt nicht so begreift, daß zugleich die Möglichkeit ihrer Erkenntnis verständlich wird. Die erkenntnistheoretische Grundlegung ergibt sich also schon aus der Forderung der Universalität« (ebd., 320). In diesen Beschreibungen erkennt man die Umfänglichkeit von Rickerts Gesamtunternehmen, die einen sofort an Diltheys Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ denken lässt, die auf ähnliche Weise Logik, Psychologie, Erkenntnistheorie, Anthropologie und sogar Wertthe37 orie miteinander verknüpfen wollte. Analog zu Dilthey, berief sich auch Rickert hierbei auf Kant, genauer: dessen Idee eines »transzendentalen Idealismus« (ebd.). Die Wertlehre erhielt innerhalb von Rickerts ›System der Philosophie‹ ihre spezifische Relevanz aus Gründen, die mit dessen eigentümlicher Neuformulierung von Kants Axiom des ›Primats der prakti-

36 Krijnen hat sehr treffend von »Rickerts Systemkombinatorik« (2001: 538) gesprochen. 37 Wie aus späten Dokumenten des Diltheyschen Nachlasses hervorgeht, antizipierte Dilthey, zunächst analog zu Rickert, ein »System der immanenten Lebenswerte von allgemeingültigem Charakter und ein System der objektiven, außer uns gelegenen Werte« (GS XXIV: 32f.). Deutlicher als bei Rickert, war für Dilthey ›Wert‹ jedoch letztlich pragmatisch bestimmt (vgl. Kühne-Bertram 2004: XXX).

134 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT

schen Vernunft‹ zusammenhingen. Diesem zufolge nimmt das Subjekt, wenn es ›erkennt‹, unvermeidlich immer schon wertend zur Welt Stellung. Nun galt für Rickert weiter: »Bedeutung und Sinn aber sind logischbegrifflich in ihrer Eigenart nur auf Grund einer Wertlehre zu bestimmen« (ebd., 323). Eine Weltanschauungslehre setze folglich die Bestimmung von Wertinhalten voraus. Den Weg zu einer Wertsystematik hatte Rickert im Grunde bereits 1913 angebahnt (ebd., 73ff.). In dem Aufsatz ›Vom System der Werte‹ begründete Rickert bereits im Jahre 1913 relativ ausführlich die Bestimmungs- und Einteilungsprinzipien, auf Grund derer ei38 ne Werterangordnung deduziert werden konnte. Um nicht ein weiteres, sehr verschlungenes Kapitel von Rickerts Wertphilosophie aufschlagen zu müssen, verweisen wir zunächst auf die übersichtliche Rekonstruktion bei Krijnen (2001: 538) und begnügen uns damit, einige formale Eigenschaften dieses Unterfangen anzugeben. Ein erstes Charakteristikum von Rickerts Wertaxiomatik ist durch ihre Definition als »offen« und »unabschließbar« gegeben (PA: 74ff.). Dieses war dem Umstand geschuldet, dass die Wertinhalte nur über eine geschichtsphilosophische Erforschung der Kulturgüter ermittelt werden konnten und Rickert das Kulturleben für prinzipiell unabgeschlossen erachtete (ebd., 75). Darüber hinaus sollte »Platz gelassen werden […] für Formen solcher Kulturwerte, welche die geschichtliche Entwicklung bisher noch nicht zeigt, aber vielleicht in Zukunft zum Ausdruck bringt« (GdP: 184). Aus dieser Forderung geht implizit schon eine zweite Grundmaxime der Rickertschen Wertphilosophie hervor. Die Ableitung von Kulturwerten hatte nicht nach inhaltlichen, sondern formalen Kriterien zu erfolgen, da ansonsten die Gefahr der Befangenheit in einer konkreten historischen Konstellation die ›Objektivität‹ des Wertesystems bedrohte (ebd.). Gemäß dieser beiden Klassifikationsprinzipien ging Rickert so vor, dass er die historisch nicht-kontingenten Faktoren in Bezug auf die Kulturgüter wie auch bezüglich des Verhaltens der »tätigen Personen«, mit denen Kulturgüter ja immer in Zusammenhang stehen (ebd., 185), näher bestimmte, um so eine Einteilung der möglichen Wertgebiete zu gewinnen (Krijnen 2001: 540). Die faktische Durchführung dieses Programms blieb letztlich in der beispielhaften Beschreibung einzelner Kulturgüter verfangen. Anders gesagt: Rickert bestimmte die gesuchten nicht-historischen Zusammenhänge keineswegs durch die Betrachtung aller vorliegenden Kulturgebiete (Krijnen 2001: 540), sondern beschränkte sich hierbei auf eine kleine Auswahl 39 (Wissenschaft, Kunst, Ethik). Dementsprechend blieb die inhaltliche Ausgestaltung der Wertaxiomatik nur vage. Gleichwohl Rickert bereits 38 Im ›System der Philosophie‹ von 1921 wich Rickert in einigen Punkten von der früheren Formulierung ab. 39 Siehe exemplarisch für Rickerts Vorgehen die übersichtliche Darstellung in den ›Grundproblemen der Philosophie‹ (GdP: 185ff.).

DIE TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE DES NEUKANTIANISMUS | 135

1913 sechs »Hauptgattungen der Werte« (PA: 100) differenziert hatte und 40 noch acht Jahre später im ›System der Philosophie‹ diesem Schema im Wesentlichen treu blieb, so musste er dennoch eingestehen, dass auf der Basis rein formaler Ableitungskriterien dem Ziel einer ›Weltanschauungslehre‹ nicht näher zu kommen sei: »über die Lösung der Weltanschauungsprobleme sagt uns dies System der Werte noch nichts« (ebd.). Noch 1921 wird Rickert dieses Eingeständnis wiederholen (System: 406). Als Fazit bleibt also festzuhalten, dass Rickert eine Ausformulierung eines Wertesystems zeitlebens nicht in der Form gelungen ist, die ihn selbst zufrieden gestellt hätte. Die auf drei Bände konzipierte Systematik der Philosophie, in der er seine Lebensarbeit zusammenfassen wollte, blieb ebenso unvollendet wie Diltheys ›Zweiter Band‹. Lediglich der erste Band wurde fertig gestellt. Er enthielt aber lediglich die »Allgemeine Grundlegung der Philosophie«. Der zweite Band sollte die »Philosophie des kontemplativen Lebens«, genauer eine Logik und Methodologie der Philosophie sowie eine Ästhetik und Religionsphilosophie beinhalten. Der dritte sollte als »Philosophie des aktiven Lebens« ausgezeichnet sein und eine Sozialphilosophie fundieren (vgl. Faust 1937: XV). In den ihm seit 1921 verbliebenen 41 15 Lebensjahren brachte er keinen weiteren zur Vollendung.

Resümee Im Ausgang von dem philosophischen Anspruch der Lösung des »Weltproblems« bzw. der Überwindung der »Kluft zwischen Wissenschaft und Leben«, verfolgte Rickerts Denkweg die Grundlegung einer philosophisch begründeten ›Weltanschauungslehre‹. Im Unterschied zu den diversen zeitgenössischen Spielarten einer Lebens- oder Weltanschauungsphilosophie, sollte Rickerts ›philosophische Anthropologie‹ auf dem Fundament einer umfassenden systematischen Analyse der (vier) unterschiedlichen Seinsgebiete einerseits sowie der den ›ganzen Menschen‹ voraussetzenden Erkenntnistheorie andererseits aufbauen. Daher muss Rickerts Grundlegungssystematik einer Theorie des Wissens als mindestens so voraussetzungsvoll und umfänglich betrachtet werden wie Diltheys Entwurf einer ›Kritik der historischen Vernunft‹. Ähnlich wie Dilthey über eine Neufassung des Lebensbegriffs, hatte auch Rickert eine neuartige Adaption einer altehrwürdigen philosophischen Kategorie in den Diskurs um eine allgemeine Theorie geisteswissen-

40 Eine tabellarische Übersicht liegt im Anhang des ›System der Philosophie‹ vor. Eine Kurzübersicht des Systems der Werte hat Rickert auch an anderer Stelle (PA: 100ff.) dargeboten. 41 Einige für den zweiten Band bestimmte Aufsätze wurden posthum publiziert (UuS).

136 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT 42

schaftlichen Wissens eingebracht. Bei Rickert wurde der Wertbegriff zur ›Zentralkategorie‹, deren systematisches Gewicht nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die theoretischen Funktionen, die dem Wertbegriff vor allem auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie zum Zweck der Abgrenzung von Natur- und Kulturwissenschaften zugewiesen bekam, wurden oben im Einzelnen herausgestellt. Angezeigt wurden darüber hinaus diejenigen Grenzpunkte, an welchen das vorgeschlagene Verfahren einer empirischen Wissenschaft auf die transzendentale Ebene der Existenz und Geltung von Werten hinüberwies. Im Prinzip der Wertbeziehungslehre offenbarte sich, dass bereits die Konstitution der kulturwissenschaftlichen Gegenstände über eine wirklichkeitstranszendente Beziehung auf Werte vermittelt wurde. Die durch eine in diesem Sinne ›werttheoretische‹ Ableitung der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis evozierte Objektivitätsproblematik meinte Rickert schließlich nur über die Bestimmung einer Axiomatik universaler Kulturwerte auffangen zu können. Darin sahen die meisten Zeitgenossen Rickerts eine unannehmbare Ausflucht in metaphysische Gefilde (vgl. Cassirer 1961: 37). Das Fundierungsprinzip von Rickerts Ansatz kann man unter Rekurs auf die elementare Bedeutung der Wertebene als »Primat des Transzendentallogischen« (Griffioen 1998: 65) herausstellen. Die kategoriale Separation von Theorie und Praxis, welche in Diltheys Konzeption noch aufgeweicht werden sollte, wurde bei Rickert restituiert. ›Werte‹ erhielten in Rickerts Ontologie einen eigentümlichen Status, nämlich denjenigen des irrealen ›Geltens‹, zugewiesen, welcher in keiner unmittelbaren Beziehung zur Ebene des realen ›Seins‹ stand. Rickert grenzte seinen Ansatz explizit gegenüber zeitgenössischen Alternativvorschlägen ab, eine über den Zugang zur ›Wirklichkeit‹ bzw. ›Unmittelbarkeit‹ des Gegebenen – sei es des ›Lebens‹ (Dilthey) oder auch des ›intentionalen Bewußtseins‹ (Husserl) – vermittelte Grundlegungsstrategie zu versu43 chen. Die Prämissen seiner Idee von Philosophie sah er dabei in Einklang mit Kants formalkritischem Standpunkt, dem er trotz seiner mit den Jahren reifenden Einsicht in die Notwendigkeit einer ontologischen Grundlehre 44 treu geblieben war. Auf der Grundlage der transzendentalphilosophischen Perspektive erhalten augenscheinlich eindeutige Konzepte wie ›Ontologie‹, ›Lebensphilosophie‹, ›Kultur‹ und ›Erlebnis‹ einen eigentümli42 Unterschlagen wird hier Münsterbergs ›Philosophie der Werte‹ (1908), gegen die Rickert den Vorbehalt hegte, sie nehme der Werttheorie »ihren rein theoretischen und daher ihren eigentlich wissenschaftlichen Charakter« (TuT: 209f.) und zu welcher er deshalb auf Distanz ging. 43 Rickerts Vorbehalte gegenüber der Husserlschen und Schelerschen Phänomenologie finden sich vor allem in der ›Philosophie des Lebens‹ (PhdL: 28ff.) ausgeführt. Siehe dazu näher die ›Zwischenbetrachtung‹. 44 Bereits Zocher, der Rickerts schwieriges Verhältnis zur Ontologie beschrieben hatte, kam letztlich zu dem Schluss, dass auch für den späten Rickert die »Prävalenz der Erkenntnistheorie vor der Ontologie« (1939: 35) bestimmend blieb.

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chen philosophischen Sinn. Der von Kant inaugurierte Dualismus von 45 Theorie und Praxis wird bei Rickert in die Form des Gegensatzes von ›Wert‹ und ›Wirklichkeit‹ übersetzt. Mit diesem Verhältnis ist zugleich die Zentralproblematik von Rickerts Neukantianismus benannt. Wie gezeigt, waren alle philosophischen Themen, welche Rickerts Ansatz behandelte – darunter fällt die Begriffsbildungstheorie ebenso wie die Erkenntnistheorie im Allgemeinen –, systematisch von der Geltungsphilosophie abhängig (vgl. Krijnen 2001: 594). Da Rickert zeitlebens nicht zu einer inhaltlichen Ausformulierung der Werttheorie gelangt ist und sich der erste Band des ›Systems der Philosophie‹, welcher speziell der Wertlehre gewidmet war, in einer lediglich formal-axiologischen Ableitung des ›Systems der Werte‹ erschöpfte, blieb Rickerts Letztbegründungsphilosophie unvollständig. Mit dem Hinweis auf die fehlende Inhaltsbestimmung von allgemeinen Werten, hat u.a. Guy Oakes die Schlussolgerung gezogen, »daß das Wertproblem weiterhin als ungelöst betrachtet werden muß, selbst wenn man Rickerts transzendentale Argumentation für plausibel hält« (1990: 129). Auch von ausgewiesenen Rickert-Spezialisten wird übereinstimmend beklagt, dass Rickert die Frage nach dem Verhältnis der theoretischen Werte zu atheoretischen bzw. subjektiven Werten – oder in Rickertscher Terminologie zwischen ›Wert‹ und ›Wertung‹ – letztlich nicht konsequent gelöst habe (vgl. Krijnen 2001: 577ff.; Griffoen 2002: 64ff.). Vor diesem Hintergrund müsste auch Rickerts Lösung der Objektivitätsproblematik, wie sie sich ihm im Rahmen seiner Theorie der Kulturwissenschaften stellte, als gescheitert betrachtet werden, insofern seine Wertlehre eben keine Beschränkung auf eine begrenzte Menge an Wertorientierungen leistete. Vielmehr blieb es weiterhin »dem einzelnen Individuum [...] überlassen, die Weltanschauung zu wählen, die am besten zu seiner persönlichen überwissenschaftlichen Eigenart paßt« (PA: 101). Nicht zu unrecht wird er als »Vater des Relativismus« angesehen. Dieses Urteil wird zudem des häufigeren mit der Einschränkung der Tragfähigkeit einer ›Weltanschauungslehre‹ (im Sinne Rickerts) verknüpft (vgl. Krijnen 2001: 584.; Griffoen 2002: 64; Bohlken 2002: 153ff.). Aufgrund dieser fehlenden, in systematischer Hinsicht aber entscheidenden, Verknüpfung bleibt Rickerts Wertesystematik auf eine ähnli46 che Weise steril wie etwa Platons Begriffsrealismus. Inwiefern die Grundrichtung des Badischen Neukantianismus, welcher den Weg einer

45 Diese Form des Dualismus ist keinesfalls zu verwechseln mit dem »transzdendentalen Dualismus«, »der jene äußeren Erscheinungen nicht alles Vorstellungen zum Subjekte zählt, sondern sie, so wie die sinnliche Anschauung sie uns liefert, außer uns als Objekte versetzt und sie von dem denkenden Subjekte gänzlich abtrennt« (KrV: A 389), gegenüber den sich Kant dezidiert abgegrenzt hatte (vgl. Nieke 1972: 297f.). 46 Dieser Einwand findet sich übereinstimmend bei Bohlken (2002: 154), Backhaus (1999: 77), Wagner (1987: 144) und Schnädelbach (1974: 158).

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transzendentalphilosophisch-geltungsphilosophischen Grundlegung der Kulturwissenschaften beschritt, dennoch als anschlussfähig beurteilt wer47 den kann, soll hier nicht entschieden werden. Erst nach unserer Rekonstruktion der Anknüpfungsversuche an Rickerts Philosophie von Seiten ausgewiesener Kulturwissenschaftler wie Max Weber und Georg Simmel kann zu dieser Frage näher Stellung bezogen werden.

47 Post-neukantnianische Vertreter wie Werner Flach, Hans Wagner und Christian Krijnen sehen – trotz des Hinweises auf Rickerts ›mangelhafte Durchführung‹ – zu dessen Grundansatz keine Alternative (vgl. Krijnen 2001: 596).

Husserls Begründung der Phänomenologie

Eine Aufstellung der auf die ›Krise des Wissens‹ reagierenden philosophischen Rehabilitierungsversuche des ausgehenden 19. Jahrhunderts wäre unvollständig ohne die Berücksichtigung der von Edmund Husserl ins Leben gerufenen phänomenologischen Theorie. Auch diese verstand sich als 1 »radikale und universale ›Geisteswissenschaft‹«. Seit dem »populären« Aufsatz ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹ von 1910/11 inszenierte sie 2 sich als ›radikalen‹ Neubeginn des philosophischen Denkens. Nicht nur in der methodischen Zugangsweise, sondern auch in der Begründung des philosophischen Gegenstandsbereichs wollte die Phänomenologie eigene und 3 bis dato von der Philosophie unbetretene Wege beschreiten. In der Radikalität ihres Neuanfangs stand die Phänomenologie also den vorausgegangenen Fundierungsversuchen Diltheys und des Neukantianismus also in nichts nach. Auch Husserl ging es um nichts weniger als »eine Reform der ganzen Philosophie« (Hua VII: 7) und um die Begründung einer »universale(n) Theorie der erkennenden, wertenden und praktischen Vernunft« (ebd., 6). Es wäre sicher nicht übertrieben zu sagen, dass Husserl letztlich konsequenter darin war, einen deutlichen Schnitt zwischen der ›traditionel1 2

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So Husserl in einem Brief an Georg Misch, der sich bei van Kerckhoven (1984: 155) zitiert findet. Gleichwohl Husserl in den ›Logischen Untersuchungen‹ mit der Logik zunächst von einen traditionellen Gegenstand des Philosophierens ausgegangen war, wurde er doch bereits durch diese Beschäftigung nach eigenem Bekunden »in immer steigendem Maße zu allgemeinen kritischen Reflexionen über das Wesen der Logik« und schließlich zu einer »Neubegründung der reinen Logik und Erkenntnistheorie (gedrängt)« (Hua XVIII: VII). Husserl bemühte später sehr häufig die Metapher des ›Durchbruchs‹, um die Bedeutung des logisch-mathematisch orientierten Frühwerks für die Ausbildung der Phänomenologie zu charakterisieren. Siehe hierzu die bei van Kerckhoven zitierten Briefe Husserls (1984: 148) sowie auch Ströker (1992: 13). »Husserl selbst verstand sich als den eigentlichen Begründer einer neuen Wissenschaft« (Avé-Lallemant 1988: 61).

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len‹ Philosophie und der von ihm vorgeschlagenen philosophischen Methode zu markieren. Zu dieser Strategie gehörte offenbar auch das Kalkül, in seinen Arbeiten auf explizite Bezugnahmen auf zeitgenössische Kollegen zu verzichten. So finden sich in den von Husserl zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten im Grunde keinerlei direkte Bezugnahmen auf Dil4 they und Rickert. Eine Ausnahme stellt lediglich der schon erwähnte ›Logos-Aufsatz‹ von 1910/1911 dar, in welchem Husserl eine Generalabrechnung mit den philosophischen Strömungen seiner Zeit betrieb. In diesem Rahmen findet sich auch eine kritische Auseinandersetzung mit Dilthey 5 (PhasW: 323ff.). Nicht nur in Bezug auf Dilthey, dessen psychologischen Ansatz er später sogar einmal als »eine geniale Vorschau und Vorstufe der Phänomenologie« (Hua IX: 35) ausgezeichnet hatte, sondern ebenso zu seinem Verhältnis zu Rickert liefern die überlieferten Daten ambivalente Hinweise. Nachdem Husserl (Hua XXII: 145ff.) bereits 1894 in einer Rezension sehr kritisch mit Rickerts Logik der Begriffsbildung ins Gericht gegangen war, schien sich nach 1907 seine Wertschätzung für Rickert, mit dem er seither auch in Briefkontakt stand, zu steigern (Kern 1964: 13, 32ff.). Insgesamt bleibt allerdings wohl doch eher eine negative Bilanz seines Verhältnisses zu seinem »Bundesgenossen im Kampf gegen den Naturalismus« (ebd., 400) zu ziehen. Iso Kern sprach sogar von einer »tiefe(n) Abneigung« (ebd., 374) Husserls gegenüber Rickerts Philosophie. In dieser Arbeit steht es selbstverständlich nicht zu Gebote, eine endgültige Klärung der Beziehungen zwischen Lebensphilosophie, Neukantianismus und Phänomenologie zu versuchen. In erster Linie soll die durch eine gemeinsam geteilte Problemstellung vermittelte Gleichgerichtetheit der drei Grundlegungsprogrammatiken zum Vorschein gebracht werden. Im vorliegenden Fall der Husserlschen Aufstellung einer Phänomenologie als ›Fundamentalwissenschaft‹ wird eine strukturanalytische Rekonstruktion durch den Umstand erschwert, dass sie von vornherein als eine »philosophia perennis« (Hua VI: 7; Hua VII: 6; EBA: 224; Cart Med: 90), eine sich über diverse phänomenologische Einzelstudien verwirklichende Theorie, angelegt war. Husserls Projekt war also von vornherein als unab4

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Auch auf deren gemeinsames Ansinnen, eine theoretische Bestimmung des Verhältnisse zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vorzunehmen, ging Husserl nur sehr beiläufig ein, indem er zu dieser Frage lediglich bemerkte, dass hier noch keine Einigkeit vorherrsche – was jedoch zeige, »daß nicht einmal der eigentliche Sinn der philosophischen Probleme zu wissenschaftlicher Klärung gekommen ist« (PhasW: 290). Naturgemäß fand Letzterer sich darin nicht adäquat repräsentiert. Husserls Darstellung des Diltheyschen Ansatzes bot den Anlass für einen kurzen Briefwechsel zwischen Husserl und Dilthey, in dem auch persönliche Gespräche zwischen den Beiden erwähnt werden (Hua Dok III/6: 43ff.). Heute wird Dilthey dennoch insbesondere für Husserls spätere ›Wende zur Lebenswelt‹ und zur ›genetischen Phänomenologie‹ Bedeutung zugemessen, worauf unten noch einzugehen sein wird.

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schließbar definiert, was ihn jedoch keineswegs davon abhielt, unbedingte Geltung und Letztfundiertheit für seine Ergebnisse einzufordern. Es überrascht angesichts dieser Ausgangslage kaum weiter, dass auch Husserl – wie Dilthey und auch Rickert – schließlich nicht nur als ›Mann der unvollendeten Projekte‹, sondern auch als ›Mann der Einführungen‹ abgestempelt wurde (Orth 1999: 20f.). Letzteres war dem Umstand geschuldet, dass sich fast sämtliche Veröffentlichungen Husserls als ›Einleitungen‹ in die Methode der Phänomenologie ausgewiesen hatten. Für jedes rekonstruktive Unterfangen stellt sich darum die Problematik der Entscheidung und Begründung für eine besondere Ausformulierung der Phänomenologie ein. Bis heute spiegelt sich dieser Sachverhalt in der Rezeptionsgeschichte des Husserlschen Opus wider. Sie scheint noch immer im Status der Exegese und der Evaluation der Bedeutung insbesondere von späteren Konzepten wie ›Lebenswelt‹, ›Weltanschauung‹, ›Intersubjektivität‹, ›Transzendentalität‹ und ›Historizität‹ befangen zu sein. Zum Teil mitverschuldet durch Husserls eigentümliche Publikationspolitik und seiner gelegentlichen Unfähigkeit, semantische Verschiebungen von Begriffsverwendungen als solche deutlich zu markieren, sind die Experten bis heute noch damit beschäftigt, dadurch provozierte Irritationen und Unbestimmtheiten aufzuklären. Jede Anknüpfung muss deshalb den Umweg über die Werk- und Ideengenese in Kauf nehmen. Aufgrund dessen, dass Husserl die grundbegriffliche Terminologie nur selten seinen inhaltlichen Überarbeitungen angepasst hatte, mit diesen Änderungen jedoch häufig der Sinn sowohl von allgemeinen Titulierungen sowie auch spezifischen Bezeichnungen wie ›transzendental‹, ›Reduktion‹, ›Epoché‹, ›Bewußtsein‹ und ›Evidenz‹ im Verlauf der Entwicklung der 6 phänomenologischen Theoriegestalt changierte , soll auch für die folgende Rekonstruktion von Husserls Wissenstheorie das gleiche Entfaltungsprinzip wie in den vorangegangenen Kapiteln zur Anwendung kommen und eine immanente Rekonstruktion, welche zunächst den Theorieanspruch herausarbeitet und anschließend mit dessen Realisierung vergleicht, angepeilt werden. Die wesentlichen konzeptuellen Modifikationen und Erweiterungen, zu welchen sich Husserl im Laufe seiner sich über drei Dekaden erstreckenden konsequenten Ausarbeitung des Grundgerüsts der Phänomenologie genötigt sah, sollen dabei im Vordergrund stehen. Analog zu der komplexen Arbeitstechnik Diltheys, stellt sich auch in Bezug auf Husserls Phänomenologie das Bild ein, dem zufolge das architektonische Grundgerüst der Phänomenologie, welches für alle späteren Arbeitsphasen verbindlich blieb, bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt feststand, wo6

So warnte bereits Fink: »Aber die formale Ähnlichkeit und der terminologische Gleichlaut ist hier der gefährlichste Schein, der die abgründige Kluft verdeckt« (1933: 327). Einen guten einführenden Überblick über die durch Husserl mitprovozierten Missverständnisse liefert die Gesamtdarstellung von Husserls veröffentlichten Arbeiten von Elisabeth Ströker (1992).

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bei im Laufe der Jahre die einzelnen Bauelemente erneuert und hin und wieder auch durch andere ersetzt wurden. Nachdem zunächst die problemgeschichtlichen Aspekte und programmatischen Lösungsvorschläge Husserls vorgestellt wurden, sollen in den nachfolgenden Ausführungen die gewichtigsten Verschiebungen innerhalb des Gesamtsystems zumindest angedeutet werden.

Phänomenologie als ›strenge Wissenschaft‹ Eine enge Verquickung zwischen systematisch-philosophischem Denken und einem ausgeprägten Krisenbewusstsein ist für Husserls Werk mindestens ebenso charakteristisch wie für Dilthey und Rickert. Davon zeugt nicht erst der in seinem letzten Werk, das – im Inhalt eine allgemeine Darstellung der ›transzendentalen Phänomenologie‹ – den bezeichnenden Titel ›Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‹ führte, besonders hervorgehobene Konstitutionszusammenhang von Krisenanalyse und systematischer Gedankenentwicklung. Ein identischer Argumentationsaufbau lässt sich im Ansatz bereits im ›LogosAufsatz‹ und insbesondere dann auch in den so genannten ›Fundamentalvorlesungen‹ zur ›Ersten Philosophie‹ aus den Semestern 1923/24 erkennen, die in zwei Teile, einer ›Kritischen Ideengeschichte‹ und einer daran anschließenden Entfaltung der ›Theorie der phänomenologischen Redukti7 on‹ gegliedert waren. Dabei gilt für die Entwicklung von Husserls Verständnis der Krisenursachen das gleiche wie für seine ›Arbeitsphiloso8 phie‹ im Ganzen, nämlich dass sich von Arbeitsstufe zu Arbeitsstufe signifikante Modifikationen ergaben. Beide Dimensionen in Husserls Theorieentwicklung, die historisch-kulturelle Einbettung und die systematischkonzeptionelle Ausgestaltung, müssen dennoch als komplementäre Aufgabengebiete betrachtet werden. Obgleich der Begriff ›Krise‹ im ›Logos-Aufsatz‹ noch nicht explizit auftaucht, fallen die Worte, die Husserl 1910/11 zur Beschreibung der geistigen Situation seiner Gegenwart verwandte, nicht weniger drastisch aus: »Die geistige Not unserer Zeit ist in der Tat unerträglich geworden. [...] Es ist vielmehr die radikalste Lebensnot, an der wir leiden, eine Not, die an keinem Punkte unseres Lebens halt macht« (PhasW: 336). Fragt man Husserl nach den Ursachen für diesen Zustand, so bekommt man folgende Antwort: »Die Not stammt hier von der Wissenschaft« (ebd., 337). In dieser Ausgangsbestimmung stimmen Husserls programmatische Früh-

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Auf den »positiven Zusammenhang« zwischen der frühen Programmschrift und dem Spätwerk hat Orth (1995: 30) eindrücklich hingewiesen. So eine häufig in Bezug auf Husserls Arbeitsweise gebrauchte Bezeichnung, die bei Melle (1988: 52) eingehend charakterisiert wird.

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schrift und die späte ›Krisis-Schrift‹ zunächst überein. Da Husserl jedoch keineswegs ein durchweg negatives Bild der Gegenwartsphilosophie zeichnete (ebd., 339), müssen die Beweggründe für diese Schlussfolgerung auf einer tieferen Ebene liegen. Seine Auffassung, die er im ›LogosAufsatz‹ programmatisch entfaltet hatte und von deren Geist auch der späte ›Krisis-Text‹ noch bewegt blieb, bezog sich darauf, dass die Philosophie bisher noch niemals ihrem eigenen Anspruch auf ›strenge Wissenschaftlichkeit‹ gerecht geworden sei (ebd., 289, 333, 335). Bereits anhand dieser kursorischen Wiedergabe lassen sich Parallelen zum Krisenverständnis Diltheys und Rickerts herstellen und eine Verbindung zu der oben erörterten, idealistisch geprägten Wissens(chafts)auffassung ziehen, die von einem unhinterfragten Nexus von kulturellen Idealen und der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit ausging. Dass Husserl durchaus noch von einem mit diesem Ideal verwandten Bildungspathos ergriffen war, hat bereits Ernst Wolfgang Orth (1999: 13) erkannt. Husserls Postulat einer ›strengen Wissenschaft‹ repräsentierte ein spezifisches Programm einer Rehabilitierung der Philosophie. Er formulierte als »Heilmittel«: »wissenschaftliche Kritik und dazu eine radikale, von unten anhebende, in sicheren Fundamenten gründende und nach strengster Methode fortschreitende Wissenschaft: die philosophische Wissenschaft, für die wir hier eintreten« (PhasW: 337). Neben dem Nachweis der scheinbar paradoxen Argumentationsfigur, welche in der Wissenschaft als kulturellem Phänomen zur gleichen Zeit sowohl die Krisenursache als auch das Mittel zu deren Überwindung erblickte, vermittelt diese Passage auch die insbesondere bei den Neukantianern bereits angetroffene Akzentuierung der besonderen Verantwortung der Philosophie gegenüber der Gegenwart. Diese »Höherwertigkeit« der philosophischen gegenüber der einzelwissenschaftlichen Reflexion erklärt Ernst Wolfgang Orth mit dem Hinweis auf Husserls Hoffnung, dass die Philosophie »alle anderen Kulturwerte rational diskutierbar macht« (1999: 36). In dem gemeinsamen Streben nach strenger Wissenschaftlichkeit fand Husserl, wie er an unterschiedlichen Stellen seines Werks ausführte, den wesentlichen Berührungspunkt zwischen der Philosophie einerseits sowie den Einzelwissenschaften andererseits (ebd., 39). Dennoch zog er zugleich – darin ähnlich radikal wie Rickert – eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Wissensformen. Die ›Tatsachenwissenschaften‹ seien, so Husserl, »an die Gesetze gebunden, die zum Wesen der Gegenständlichkeit überhaupt gehören« (Hua III/1: 18). Diese perspektivische Einschränkung galt Husserl zufolge nicht in Bezug auf die »eidetische Wissenschaft«, welche »jede Einbeziehung von Erkenntnisergebnissen empirischer Wissenschaften prinzipiell ausschließt« (ebd.). Dementsprechend gehe die Aufgabe der Philosophie auch über diejenige der Einzelwissenschaften hinaus. Während Letztere direkt auf die ›Phänomene‹ (hier nicht im Sinne der Phänomenologie gemeint) gingen, thematisiere die Philosophie in Gestalt der

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Phänomenologie die Bedingungen der Möglichkeit von ›Phänomenen‹ überhaupt. Die Phänomenologie wurde ihm schließlich aufgrund ihrer elementaren perspektivischen Einstellung zur ›Ersten Philosophie‹. Dieser Begriff ist nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinne zu nehmen, da sich Husserl auf verschiedene Wegbereiter einer ›strengen Wissenschaft‹ bezog – insbesondere auf Descartes, Hume und Kant – und sich selbst am Endpunkt einer langen Entwicklung sah. Man könnte sie auch insofern als die »letzte Wissenschaft« (Mertens 1996: 19) ansehen, als allein eine Fundamentalbetrachtung zu endgültigem, ›letztem‹ Wissen führen kann. ›Strenge Wissenschaft‹ bezieht sich bei Husserl daher weniger auf eine spezifische Gestalt, als auf eine Methode des Philosophierens, die durchaus nicht ex nihilo aus dem Boden gestampft werden musste, sondern im Grunde so alt war wie die moderne Idee der Wissenschaft überhaupt. Im ›Logos-Aufsatz‹ fielen die philosophiegeschichtlichen Ausführungen Husserls noch vergleichsweise spärlich aus, was sich jedoch in der folgenden Zeit in spürbarem Maße ändern sollte. Der Geist von strenger Wissenschaftlichkeit spiegele sich bereits, so Husserl im Jahre 1910/11, in der sokratisch-platonischen Umwendung der Philosophie ebenso wie in Descartes, Kant und Fichte wider (PhasW: 292). Erst durch die mit Hegel einsetzende ›Weltanschauungsphilosophie‹, gegen welche Husserl im ›Logos-Aufsatz‹ an erster Stelle angetreten war, sei der Anspruch auf methodische Exaktheit allmählich verschüttet gegangen. Husserl inthronisierte die Phänomenologie als eine abermalige »Umwendung der Philosophie« (ebd., 291, 337), welche »von der Intention auf eine Neubegründung der Philosophie im Sinne strenger Wissenschaft beseelt sein muss« (ebd., 293). Erst in der ›Krisis‹ machte Husserl den hier nur kursorisch angedeuteten historischen Hintergrund, unter Herausstellung der sich in diesem Entwicklungsprozess vollziehenden »Teleologie« (Hua VI: 347), selbst zum Gegenstand einer intentional-analytischen Untersuchung. Einen positiven Begriff der Phänomenologie als ›strenger Wissenschaft‹ entwickelte Husserl im ›Logos-Aufsatz‹ anhand einer gründlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Spielarten der naturalistisch verfahrenden Psychologie. Die Gemeinsamkeit innerhalb der verschiedenen naturalistischen Strömungen erblickte er in zwei problematischen Tendenzen, denen gegenüber sich die Phänomenologie schließlich absichern sollte: nämlich zum einen einer »Naturalisierung des Bewußtseins« und zum andern der »Naturalisierung der Ideen« (PhasW: 295). Die naiven Voraussetzungen eines naturwissenschaftlichen Zugangs, die sich auch in der von Husserl primär attackierten experimentellen Psychologie manifestierten, kennzeichnete er als ein unhinterfragtes Setzen eines physisch Gegebenen: »Die Natur, die sie erforschen will, ist für sie einfach da« (ebd., 298). Damit gerieten genuin erkenntnistheoretische Fragestellungen nach der Gegebenheitsweise von Erfahrungen und Gegenständen im Bewusstsein und deren geltungstheoretischer Status zu einem »Rätsel« (ebd., 300).

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Irgendwelche Lösungen epistemologischer Probleme von Seiten naturalistischer Ansätze waren nach Husserls Ansicht – entgegen entsprechender Prätentionen – aufgrund ihrer untauglichen Prämissen nicht zu erwarten. Hier zeichnet sich ein besonderer thematischer Horizont ab, dem sich die Phänomenologie annehmen würde. Die Phänomenologie habe sich dem »Studium des ganzen Bewußtseins« (ebd., 301) zuzuwenden. Ein solches »Wesensstudium des Bewußtseins« implizierte nach dieser frühen Definition zwei unterscheidbare Dimensionen, nämlich »Bewußtseinsbedeutung« und »Bewußteinsgegenständlichkeit als solcher« (ebd.). Die erste Untersuchungsrichtung der »Phänomenologie des Bewußtseins« zielte auf eine »Analyse« und »Deskription« der Bewusstseinsaktivitäten (ebd., 303) und ähnelte damit in ihrer Ausrichtung Diltheys ›beschreibender Psy9 chologie‹. Die zweite Reflexionsbewegung steht in konkretem Zusammenhang mit Husserls spezifischer Bewusstseinsauffassung, welcher zufolge Bewusststein stets ›intentional‹, also auf einen Gegenstand gerichtet, ist. Die Intentionalitätslehre, die er von seinem philosophischen Lehrer 10 Franz Brentano erbte , bildete somit von Beginn an das Herzstück der phänomenologischen Psychologie, dem sich Husserl bereits kurze Zeit später in den ›Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi11 schen Philosophie‹ eindringlicher widmen sollte (Ströker 1992: 53). Der Ausgangspunkt von einem ›Bewußtsein von‹ im Gegensatz zu einem ›Bewußstsein überhaupt‹ erforderte ein entsprechend sensibles methodisches Vorgehen, um den ›Phänomenen‹ keine Gewalt anzutun und allgemeingültige Resultate gewährleisten zu können. Bereits im ›Logos-Aufsatz‹ antizipierte Husserl, dass »dieses ›Bewußtsein von‹ eine verwirrende Fülle von Gestaltungen hat«, deren endgültige Erforschung noch »in grauer Fer9

Gelegentlich wurde in der Sekundärliteratur mit Bezug auf diese frühe Phase der Phänomenologie auch der von Dilthey eingeführte Titel einer ›deskriptiven Psychologie‹ verwendet (de Boer 1978). Zur Legitimität einer solchen Identifikation siehe die Diskussion bei Kockelmans (1967: 92ff.). Seit den ›Ideen I‹ von 1913 war Husserl strengstens darauf bedacht, die Phänomenologie von der Psychologie abzugrenzen (Hua III/1: 2f.). Namentlich im Vorwort zur zweiten Auflage der ›Logischen Untersuchungen‹, das kurz nach der Publikation der ›Ideen I‹ entstand, ging Husserl zu seiner früheren Parallelisierung der Phänomenologie mit einer ›deskriptiven Psychologie‹ auf Distanz (Hua XVIII: XIIIf.). In seinem Spätwerk wird er sich ihr wieder zuwenden. 10 Bekanntermaßen war Brentano selbst keineswegs mit Husserls Begriff von Phänomenologie einverstanden (vgl. Orth 1995: 27f.). 11 Dieses Werk Husserls war von Beginn an als dreibändige systematische Einführung in die Phänomenologie geplant gewesen und stellt, so Herbert Spiegelberg, »the largest of Husserl’s phenomenological literary enterprises« (1965: 125) dar. Für alle drei Bände, von denen Husserl lediglich den ersten zu Lebzeiten erscheinen ließ, lässt sich sagen, dass sie »fail to give anything like a final system« (ebd.). Zur geplanten Gestalt des Gesamtprojekts und den Hintergründen ihrer gescheiterten Realisierung liefert Spiegelbergs klassische Studie einigen Aufschluss (ebd., 127f.).

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ne liegt« (PhasW: 305). Hieraus wird ersichtlich, dass Husserl zu diesem Zeitpunkt noch keinen klaren, endgültigen Begriff von der methodischen Gestalt der Phänomenologie hatte. Späterhin allbekannte Konzepte wie ›Epoché‹ oder die verschiedenen Reduktionsverfahren fanden sich im ›Logos-Aufsatz‹ noch nicht expliziert. Bezeichnenderweise behalf sich Husserl in diesem frühen Entwicklungsstadium der Phänomenologie häufig mit metaphorischen Wendungen. So wurde etwa das ›Bewußtsein‹ beschrieben als »ein zweiseitig unbegrenzter Fluß von Phänomenen, mit einer durchgehenden intentionalen Linie, die gleichsam der Index der alldurchdringenden Einheit ist, nämlich der Linie der anfangs- und endlos immanenten ›Zeit‹, einer Zeit, die keine Chronometer messen« (ebd., 313).

Auch die phänomenologische ›Einstellung‹ wurde hier noch in metaphorischen Wendungen als ein »immanentes Schauen auf diesen Fluß der Phänomene« (ebd.) illustriert. Wir können im Hinblick auf die erste programmatische Ausformulierung des phänomenologischen Unternehmens im ›Logos-Aufsatz‹ festhalten, dass die Phänomenologie mit dem doppelten Anspruch auftrat, zum einen eine originäre methodische Anschauung sowie, zum anderen, einen bisher sowohl von den naturalistisch als auch geisteswissenschaftlich orientierten Ansätzen ignorierten Sachzusammenhang entblößt und philosophisch erschlossen zu haben. Wenn, wie gesehen, Husserl den Bewusstseinsbegriff, welcher die Basiskategorie der neuzeitlichen Erkenntnistheorie schlechthin gewesen war, im wahrsten Sinne des Wortes auflöste, so musste für ihn – wie bereits für Dilthey und Rickert – ebenso das Gebot gelten, einen Ersatzbegriff aufzubieten. Jedoch war Husserls Grundbegriff, der im Titel der neuen Fundamentaldisziplin anklang, nicht im gleichen Maße einschlägig für das phänomenologische Untersuchungsgebiet wie Diltheys Begriff des ›Lebens‹ oder Rickerts ›Wert‹begriff. Der zunächst wenig konkrete Begriff des ›Phänomens‹ war von Husserl dezidiert in Abgrenzung gegen ontologische Konnotationen, die von den alternativen Theorieangeboten regelmäßig als unhinterfragt (voraus)gesetzt und einer eingehenden philosophischen Prüfung in der Regel nicht für notwendig erachtet wurden, konzipiert worden. Husserl kam es primär darauf an, bei der Erforschung des Bewusstseins solche, in der natürlichen Alltagseinstellung als auch in der modernen Psychologie weithin unbemerkte ›Seinssetzungen‹ zu suspendieren. Den Phänomenologen interessierten nunmehr allein die Bedingungen der Möglichkeit dessen, dass ein ›Ding‹ im Bewusstsein überhaupt als ›real‹ erscheinen konnte. Husserl definierte: «Dinglichkeiten sind aber gegeben als Einheiten der unmittelbaren Erfahrung, als Einheiten mannigfaltiger sinnlicher Erscheinungen« (ebd., 311). Diese sinnlichen Zustände fungierten

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Husserl zufolge als »›vage‹ Medien« (ebd.), in denen sich ›Natur‹ als solche im Bewusstsein darstellte und durch welche Erkenntnisprozesse angeleitet würden. Dinge ›erscheinen‹ im Bewusstsein stets in einer konkreten Gestalt, so lässt sich Husserls Ausgangspunkt paraphrasieren, wobei diese jedoch prinzipiell noch keinen Anhaltspunkt über ihr ›Wesen‹ hergibt. Um zu ›den Sachen selbst‹ durchzudringen, brauche es geeigneter psychologischer Mittel, weil die in der ›natürlichen Einstellung‹ festgesetzten VorBegriffe zu transzendieren seien. Der Titel ›Phänomenologie‹ erklärt sich also daher, dass ›Phänomene‹ zum Ausgangspunkt einer systematischen Analyse genommen wurden, welche die hinter den ›Phänomenen‹ stehenden Dinge ›an sich‹ systematisch herausstellen sollte. Diese Methode wäre dann zugleich »das letzte Fundament aller psychologischen Methoden« (ebd., 315). Die Verwandtschaft zur Psychologie ergab sich daraus, dass auch das phänomenologische Unternehmen zunächst ein bewusstseinstheoretisches Unterfangen war (ebd., 302), was aus ihrem Titel eben gerade nicht hervorging. Die zahlreichen Verwirrungen über ihre Grundabsicht unter den Zeitgenossen wurden durch den vermeintlichen Schlachtruf »Zu den Sachen« noch verstärkt, der die Zuwendung zu einem neuen ontologi12 schen Gegenstandsbereich erwarten ließ. Dies war hier jedoch nur in einem eingeschränkten Sinne der Fall. Im ›Logos-Aufsatz‹ lieferte Husserl kaum mehr als eine grobe Skizze einer methodologischen Anleitung, welche er noch mit dem leicht Verwirrung stiftenden Begriff der »Wesensschauung« bedachte. Er wurde nicht müde zu betonen, dass mit der »Wesensforschung« keineswegs »Daseinsforschung« betrieben werden sollte (ebd., 318), sondern dass sie jeder ›Erfahrung‹ vorausging und deren »Apriori« bestimme (ebd., 316). Zu einer entsprechenden Radikalität der Einstellung, geschweige denn einer Sichtnahme eidetischer Zusammenhänge, seien weder naturalistische noch geisteswissenschaftliche Ansätze der Psychologie vorgestoßen: »Der Aberglaube der Tatsache ist ihnen allen gemein« (ebd., 336). Diese erste programmatische Formulierung des philosophischen Ansinnens der Phänomenologie ließ zwar nur schemenhaft die endgültige Form einer ›strengen Wissenschaft‹ erkennen, umriss jedoch das methodische Werkzeug, dessen sich die nachfolgenden Ausarbeitungsversuche bedienen würden. Sie verlangte eine Verknüpfung von methodischem Verfahren mit der Entwicklung einer neuartigen Einstellung auf die Möglich12 Herbert Spiegelberg hat in seiner maßgeblichen Untersuchung über die Phänomenologische Bewegung herausgestell, dass bereits im Jahre 1907 für den Göttinger Phänomenologenkreis »phenomenology meant something rather different from what it did to Husserl at this stage«, nämlich »not the turn toward subjectivity as the basic phenomenological stratum, but towards the ›Sachen,‹ understood in the sense of the whole range of phenomena, and mostly towards the objective, not the subjective ones« (1965: 179). Eine erhellende Problematisierung dieser Parole findet sich auch bei Fink (1966: 189ff.).

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keitsbedingungen von ›Thematisierungen‹ überhaupt (Orth 1999: 38f.). Husserl postulierte schließlich ein spezifisches Objektivitätssiegel für das phänomenologische Zugangsgebiet, nämlich ›Evidenz‹. Den traditionellen ›Objektivitätsbegriff‹ musste er aufgrund der darin implizierten ontologischen Implikationen ablehnen. Das Kriterium der ›Evidenz‹ war stattdessen enger mit der spezifischen Zugangsweise des neu gewonnen Gegenstandsgebietes verknüpft. Im Laufe späterer Arbeiten hatte Husserl auch diesbezüglich mehrmals Modifizierungen vorgenommen. Von Beginn an war das phänomenologische Unternehmen von Husserl auf einen unbefristeten Zeithorizont projiziert worden. Nachdem die groben Umrisse dieses Lebensprojekts zumindest angedeutet worden sind, soll die weitere Darstellung Husserls Ausarbeitung der geschilderten theoretischen Vorgaben unter Berücksichtigung der durch deren Anwendung vorgefundenen Resultate erhellen.

Der Gegenstandsbereich und die Methoden der Phänomenologie Bereits Eugen Fink hat darauf hingewiesen, dass »eine einfache, schlicht verständliche Auskunft über das, womit sie [die Phänomenologie; D.Š.] es zu tun hat« (1966: 187), nicht zu haben ist. Verschiedene Gründe dafür, die sowohl mit dem Erklärungsanspruch der Phänomenologie als auch Husserls Arbeitsweise zusammenhingen, wurden schon angetippt. Man wird sich also auf eine unwegsame Reise begeben müssen, um Antworten zu bekommen. Inwiefern der phänomenologische Fundierungsansatz gegenüber dem lebensphilosophischen einerseits und dem neokantianischen andererseits eine profunde philosophische Alternative darbot, soll nun eingehender analysiert werden, indem Husserls Entwicklung der tragenden Säulen des phänomenologischen Grundlegungsgebäudes rekonstruiert wird. Allein eine solche – im Husserlschen Sinne – genetische Untersuchungsrichtung kann schließlich Licht auf durchaus nicht einfach zu beantwortende Fragestellungen wie etwa diejenige nach der transzendentaloder immanenzphilosophischen Ausrichtung oder der systematischen Auswirkungen der verschiedenen ›Wenden‹ innerhalb des phänomenologischen Werdegangs werfen.

1. Die ›Intentionalität‹ des Bewusstseins Die Zentralität des Intentionalitätskonzeptes für die phänomenologische Philosophie wird von Spezialisten übereinstimmend betont (vgl. Ströker 1992: 18, 34; Held 1985: 22; Orth 1999: 5). Doch gilt im Hinblick auf das Intentionalitätskonzept ebenso wie für fast alle Axiome, dass sich dessen Bedeutung durch die theoretischen Renovierungsarbeiten, die Husserl im

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Laufe der Jahre an der Architektur des phänomenologischen Gebäudes vorgenommen hatte, veränderte. Entsprechend ließen sich die Umgestaltungen der Konzeption einer phänomenologischen Philosophie anhand einer Analyse der semantischen Verschiebungen des Intentionalitätsbegriffs aufschließen. Dies soll an dieser Stelle lediglich angedeutet und nicht ausführlich durchgeführt werden. In der ›Krisis‹ findet man einen rückblickenden Passus, in dem Husserl auf eine thematische Entdeckung Bezug nahm, die er als einen entscheidenden Durchbruch für das phänomenologische Denken insgesamt kennzeichnete. »Nie erregte die Korrelation von Welt und subjektiven Gegebenheitsweisen von ihr das philosophische Staunen [...]. Nie hat diese Korrelation ein eigenes philosophisches Interesse erregt [...]. Der erste Durchbruch dieses universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen (während der Ausarbeitung meiner Logischen Untersuchungen etwa im Jahre 1898) erschütterte mich so tief, daß seitdem meine gesamte Lebensarbeit von dieser Aufgabe einer systematischen Ausarbeitung dieses Korrelationsapriori beherrscht war« (Hua VI: 169).

Anhand dieser Passage lässt sich die Besonderheit des gegenständlichen Beobachtungsbereichs, auf welchen es Husserls Phänomenologie bereits seit den ›Logischen Untersuchungen‹ abgesehen hatte, deutlicher charakterisieren und eingrenzen als zuvor. Wenn Husserl die Phänomenologie von frühesten Tagen an als eine ›Bewußtseinsphilosophie‹ und eine spezifische Variante von ›Psychologie‹ auffasste, so müssen diese durchaus irreführenden Selbsttitulierungen Husserls vor dem Hintergrund der eigentümlichen Gegenstandsdefinition relativiert werden. Bei Husserls Phänomenologie handelte es sich entsprechend nicht um eine ›Ich-Wissenschaft‹, die ihren Ausgangspunkt bei vorausdefinierten Bewusstseinsleistungen oder spezifischen ›Fakultäten des Verstandes‹ (Kant) nahm. Ohne an diesem Punkt unserer Rekonstruktion eine definitive Bestimmung der darin implizierten Bezugnahmen und Gegenstandsdimensionen vorliegen zu haben, lässt sich schon festhalten, dass mit dem ›Korrelationsapriori‹ als Ausgangspunkt eine solchermaßen enge Bewusstseinsauffassung überschritten wurde. Es kündigt sich in dem Zitat ebenso an, dass hier genauso wenig eine transzendental-idealistische oder gar eine Cartesianische Ausgangskonstellation, die beide von einer Kluft zwischen objektiven Bedingungen und subjektiven Erscheinungen ausgingen, vorlag – trotz Husserls gelegentlichen Anwandlungen, sich in die durch Kant und Descartes etablierte Tra13 ditionslinie zu stellen. Dieser Schluss wird dabei insbesondere durch den 13 Ströker (1992: 52) teilt mit, dass sich Husserl in der Phase zwischen den ›Logischen Untersuchungen‹ und den ›Ideen I‹ von 1913 intensiv mit Kant

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Begriff der ›Gegebenheitsweise‹ induziert, hinter dem sich die eigentli14 chen Problemdimensionen der Phänomenologie verbergen. Er nahm diejenige Position ein, der im traditionellen Begriff von Erkenntnistheorie die 15 Objektseite entsprach. Als »Problemtitel« antizipiert er die oben erläuterte Unhaltbarkeit der Seinssetzung, die Husserl sowohl auf Seiten der zeitgenössischen Psychologie als auch der Erkenntnistheorie vorherrschen sah und die er als ›Aberglaube‹ belächelte. Das ›Korrelationsapriori‹ verweist zurück auf die Lehre von der ›Intentionalität des Bewußtseins‹. Besagte dieses von Brentano übernommene Theorem zunächst kaum mehr als die wesensmäßige Gerichtetheit von Bewusstseinszuständen und -Erlebnissen, so stellte sich mit der Explikation des Korrelationsapriori der Eindruck her, dass ›Bewußtsein‹ hier für einen Zusammenhang stand, der einerseits subjektive Funktionen als auch objektive Gehalte umfasste (Orth 1999: 71). In den ›Logischen Untersuchungen‹ hatte Husserl für diesen Komplex den Begriff »Aktleben« eingeführt. ›Intentionalität‹ wurde hier noch vereinseitigend in unterschiedliche Akte des Sich-Richtens auf Gegenstände aufgelöst, wobei die Frage, ob den jeweiligen Akten verschiedene Gegebenheitsweisen desselben Gegenstandes entsprachen, von Husserl noch nicht endgültig beantwortet werden konnte (vgl. Ströker 1992: 35). Im Vordergrund seines Interesses in den ›Logischen Untersuchungen‹ stand noch das Auffinden von gesetzmäßigen ›Aktzusammenhängen‹ bzw. ›identifizierenden Synthesen‹. Durch diese einseitige »Fixierung auf die Seite der Akte« (ebd.) verschwamm unterdessen auch das Bild eines einheitlichen Bewusstseins als Träger der verschiedenen Akte (ebd., 36). Erst im Übergang zu den ›Ideen I‹ hatte Husserl einen perspektivischen Wechsel und eine spezifische Terminologie angesetzt, welche der Gegenstandsseite im intentionalen Zusammenhang mehr Gewicht zuordnete. Dazwischen hatte er – etwa zwischen 1905 und 1907 – die Methode der ›Reduktion‹ weiter entwickelt, die in den ›Logischen Untersuchungen‹ nur in Umrissen angedeutet worden 16 war (Orth 1999: 73). Die Erweiterung im Hinblick auf den Intentionalitätsbegriff lässt sich auf Husserls Entdeckung einer weiteren eigentümlichen intentionalen Relation zurückführen, die vor der transzendentalen Wende der Phänomenound Descartes beschäftigt hatte. Zu Husserls Auseinandersetzung mit Kant siehe auch Kern (1964: 28ff.). 14 »Nicht mehr und nicht weniger als die Analyse von dergestalt Gegebenem sollte fortan den Kern dessen ausmachen, was Husserl als phänomenologische Analyse in Gang setzte« (Ströker 1992: 18). 15 Orth (1999: 112f.) führt diesen Begriff ein, um darauf hinzuweisen, dass sich mit der Weiterentwicklung der phänomenologischen Konzepte systematisch Bedeutungsverschiebungen von vormals eingeführten Begriffen ergaben. 16 Die in der zweiten ›Logischen Untersuchung‹ dargelegte Lehre von der ›ideierenden Abstraktion‹ bzw. der ›Ideation‹ lässt sich als eine Reduktionsmethode avant la lettre begreifen (vgl. Orth 1999: 74).

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logie in den ›Ideen I‹, auf die noch ausführlich zu sprechen zu kommen sein wird, weitgehend unbeachtet geblieben war. Husserl hatte inzwischen erkannt, dass das Verhältnis zwischen der Gegebenheitsweise eines Gegenstandes einerseits und dem intentionalen Akt andererseits durch die – um eine Formulierung Finks zu wählen – »Sinngestalt des Gegenstandes« (Fink 1966: 220) selbst mit bestimmt war. In der neuen Terminologie der ›Ideen I‹ wurde diese intentionale Relation folgendermaßen deklariert: Als »Noesen« bezeichnete Husserl nun diejenigen Akte, durch die ein Gegenstand konstituiert wird. Der Komplementärbegriff der »Noemata« stand für das »Wie-seines-intentionalen-Erscheinens«. Durch das Postulat, dass jede Noesis eine intentionale Entsprechung in einem spezifischen Gegenstandsnoema hatte, wandte sich die phänomenologische Blickrichtung von der vormaligen Fokussierung der intentionalen Akte ab und auf den Gegenstandspol des intentionalen Zusammenhangs hin. Husserl schloss aus seiner Entdeckung der Relevanz des ›Gegenstandssinnes‹ entsprechend: »Eine konkrete Beschreibung von Bewußtseinserlebnissen [...] erfordert notwendig auch die Beschreibung der in den jeweiligen Erlebnissen bewußten (›intentionalen‹) Gegenstände ›als solcher‹, d.i. so wie sie untrennbar zum jeweiligen Erlebnis selbst gehören als dessen gegenständlichen Vermeintes (gegenständlicher Sinn)« (Hua V: 157).

Die Problematik der Intentionalität wurde nunmehr durch den dreigliederigen Komplex von Noesis, Noema und dem Gegenstand selbst dimensioniert (Ströker 1987a: 57). Der Ausbau des intentionalen Komplexes stand in enger Beziehung zur Ausweitung der phänomenologischen Programmatik um die ›eidetische‹ und ›transzendentale‹ Reduktion in den ›Ideen I‹ von 1913. An dieser Stelle ist es daher geboten, auf den eigentümlichen erkenntnistheoretischen Status des Gegenstandsbereichs der Phänomenologie und auf die eigentümliche Einstellung des Phänomenologen selbst hinzuweisen. In der bereits zitierten autobiographischen Passage klang der damit implizierte Bedeutungswandel, der sich ebenfalls auf das Intentionalitätskonzept auswirkte, bereits an, wo es hieß: »Der weitere Gang der Besinnung des Textes wird es verständlich machen, wie die Einbeziehung der menschlichen Subjektivität in die Korrelationsproblematik notwendig eine radikale Sinnverschiebung dieser ganzen Problematik erzwingen und schließlich zur phänomenologischen Reduktion auf die absolute transzendentale Subjektivität führen mußte« (Hua VI: 169f.).

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2. Die Idee der ›Reduktion‹ Auf der Grundlage des oben erläuterten Intentionalitätskonzeptes war Husserl in der Lage, die traditionelle Erkenntnisproblematik, wie zwischen einem (im Kantischen Sinne) ›reinen‹ Bewusstsein einerseits und der außerhalb diesem liegenden Außenwelt eine Verbindung gedacht werden kann, für die Phänomenologie theoretisch zu neutralisieren (vgl. Held 1985: 25). Freilich waren damit auch neue Problemaspekte, die überdies zunächst einmal gesichtet werden mussten, hinzugetreten. Der von Husserl als notwendig empfundene Schritt zur transzendentalphilosophischen Wendung, welcher nun zur Erläuterung ansteht, wurde selbst von seinen unmittelbarsten Schülern als höchst problematische Abkehr von dem vormaligen Ansinnen der phänomenologischen Philosophie empfunden und 17 weitgehend abgelehnt. War die Phänomenologie in Husserls Ausführung in den ›Logischen Untersuchungen‹ noch allgemein als eine ›Wende zur Gegenständlichkeit‹ unter konsequenter Vermeidung subjektphilosophischer Einseitigkeiten aufgefasst worden, so wurde die bereits im ›LogosAufsatz‹ sich ankündigende Erweiterung gegenüber den ›Logischen Untersuchungen‹ wiederholt als »Rückfall in den ›Subjektivismus‹« (Fink 1933: 321) bewertet. Husserl zeigte sich zwar von diesen Reaktionen per18 sönlich enttäuscht, hielt aber beharrlich an seinem Vorgehen fest. Die Aufschlüsselung des komplexen Verhältnisses von ›Immanenz‹ und ›Transzendenz‹ stellt gleichwohl eine der Hauptschwierigkeiten des 19 überarbeiteten Ansatzes dar , die noch dadurch verschärft wurde, dass Husserl – darin in krassem Gegensatz zu seinem früheren Assistenten und späteren Konkurrenten Heidegger stehend – weiterhin auf konventionelle Nomenklatur gesetzt hatte und auf diese Weise die Intentionen seines Neuansatzes ins Hintertreffen geraten konnten (vgl. Landgrebe 1982: VIII). Die neue Grundorientierung kam vielleicht am markantesten in dem breiten Raum zum Ausdruck, den Husserl in den ›Ideen I‹ für die theoreti20 sche Fundierung der Reduktionsmethoden reserviert hatte. Anhand dieser 17 Siehe hierzu die Schilderungen bei Fink (1933), Landgrebe (1963: 21ff.), Spiegelberg (1965: 170ff.) und Gadamer (GGW 3: 116ff.). 18 Husserl selbst verzichtete zeitlebens darauf, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu erwidern und überließ es seinem Assistenten Eugen Fink (1933), seinen Kritikern zu antworten. Siehe Husserls Vorwort zu dem Aufsatz von Fink. Aus einer Anmerkung in der ›Krisis‹-Schrift ist folgende nüchterne Stellungnahme zu beziehen: »Die zeitgenössische Philosophie der seitherigen Jahrzehnte – auch die der sogenannten phänomenologischen Schulen – zog es vor, in der alten philosophischen Naivität zu verharren« (Hua VI: 170). 19 So bereits Eugen Fink: »Die Auseinanderhaltung des transzendentalen Bewußtseinsbegriffs und des weltlich-ontischen ist ein Kardinalpunkt in der Andeutung der phänomenologischen Idee der Philosophie« (1966: 174). 20 Theodore de Boer deutet an, dass das Konzept der ›Epoché‹ in den ›Logischen Untersuchungen‹ noch einen anderen Sinn zugewiesen bekam als in

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kann im Folgenden approximativ ein Zugang zu den komplexen Verästelungen der phänomenologischen Grundbegrifflichkeiten versucht werden. Schien die bereits im ›Logos-Aufsatz‹ explizierte »Wesenslehre« bis dahin das Kernstück der phänomenologischen Methodik auszumachen, so änderte sich deren Relevanz innerhalb der erweiterten Systematik der ›Ideen I‹ fundamental. Dies kann dem unaufmerksamen Leser durchaus entgehen, denn das Buch beginnt sogar mit der Entfaltung der Theorie der 21 »Wesenserkenntnis«. In systematischer Hinsicht wurde diese dessen ungeachtet nunmehr jedoch »außerhalb der ›phänomenologischen Fundamentalbetrachtung‹« (Ströker 1992: 56) platziert. Die theoretische Bedeutung, welche die nun als »eidetische Reduktion« ausgezeichnete (ehemalige) ›Wesenslehre‹ zugewiesen bekam, wurde mit diesem Schritt auf den Status von Voruntersuchungen zur Sicherung der Validität der Ergebnisse der eigentlichen phänomenologischen Bearbeitung reduziert. Die in der ›natürlichen Einstellung‹ vorhandenen Seinssetzungen zu »inhibieren«, so dass schlussendlich nur noch das »reine Wesen« der Gegenstände ohne jeglichen ontischen Index übrig blieben, war jedoch weiterhin die erste Aufgabe einer phänomenologischen Aufklärung. Die Richtung der »transzendentalen« oder auch »phänomenologischen« Reduktion verwies nun über die Intentionalität der natürlichen Einstellung bzw. die Perspektive der ›eidetischen Reduktion‹ hinaus. Wie Ströker bestätigt, finden sich in den ›Ideen I‹ bedauerlicher Weise kaum konkrete Beschreibungen, in denen Husserl den Perspektivenwechsel der phänomenologischen Reduktionsmethode auf unmissverständliche Weise dargelegt hätte (1987a: 38; 1992: 58). Aus Husserls Ausführungen wird dennoch deutlich, dass ›phänomenologische Reduktion‹ nunmehr für meh22 rere Reduktionsschritte stand , durch »welche uns das ›reine‹ Bewußtein und in weiterer Folge die ganze phänomenologische Region zugänglich« (Hua III/1: 59) gemacht werden sollte. Dieses ›reine Bewußtsein‹ bleibe,

seiner späteren Fassung in den ›Ideen I‹: »In LU, the epoché is something of a desparate solution; it testifies to a certain resignation. In Ideen I, Husserl discovers that this interpretation rests on an improper absolutizing of the world. What we suspend in the epoché is not the thing but an absurd interpretation of the thing. The epoché, then, is not a limitation; nothing is lost« (1978: 322). 21 Dass sich die Kritik seitens vieler Mitglieder der ›Phänomenologischen Bewegung‹ nicht gegen den ersten, sondern insbesondere den zweiten Abschnitt des Werks, ›Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung‹, richtete, hat Spiegelberg (1965: 128) herausgestellt. 22 Darauf hat Husserl selber hingewiesen (Hua III/1: 73). Es lassen sich mindestens zwei Reduktionen innerhalb der ›phänomenologischen Reduktion‹ differenzieren. Im ersten Schritt würden dabei die Vor-Meinungen auf der Ebene der natürlichen Einstellung eliminiert. In einem weiteren würden die ›psychischen Faktizitäten‹ ausgeschaltet (vgl. Kocka 1980: 11; Huang 1998: 17).

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so Husserl, als ›phänomenologisches Residuum‹ (ebd.) zurück, nachdem die »ganze, in der natürlichen Einstellung gesetzte, in der Erfahrung wirklich vorgefundene Welt, vollkommen ›theorienfrei‹ genommen, wie sie wirklich erfahrene, sich im Zusammenhange der Erfahrungen klar ausweisende ist [...] eingeklammert (wurde)« (ebd., 57).

Aus welchen Gründen die Münchner und Göttinger Anhänger der frühen Phänomenologie in den ›Ideen I‹ einen Rückfall in die Bewusstseinsphilosophie erblicken konnten, dürfte aus diesen Passagen erhellen. Es scheint hier, als ob Husserl die Phänomenologie auf die Erforschung der apriorischen Strukturen im Bewusstsein hin ausgelegt hatte. Einige Kritiker spra23 chen entsprechend von einem »phänomenologischen Idealismus«. Dieser Vorwurf wäre durchaus gerechtfertigt gewesen, wenn Husserl an diesem Punkt stehen geblieben wäre. Er erachtete das ›transzendentale Bewußtsein‹ jedoch keineswegs als ein Explanandum, sondern vielmehr als ein Explanans, eine »neue wissenschaftliche Domäne« (ebd., 56), die es erst noch zu beforschen galt. Der Hinweis auf die bereits erörterte Intentionalitätslehre hätte genügen können, um den Verdacht, dass es sich bei dem Konzept eines ›transzendentalen Ich‹ um den ›Zweck an sich‹ des phäno24 menologischen Unterfangens handeln könnte, zu entkräften. Der so gefasste Begriff des ›Bewußtseins‹ wurde nunmehr abermals zu einem ›Problemtitel‹ in dem Sinne, dass er jetzt auf vormals weit entfernt liegende Problemdimensionen hinwies. Die Frage, die an diesem Punkt virulent wird, richtet sich darauf, auf welche und wie zu bezeichnende ›Gegenstände‹ ein ›phänomenologisch reduziertes Bewußtsein‹ sich nach Ausschaltung aller Seinsbezüge überhaupt noch richten konnte. Diese Scheidelinie, die Husserls Grundlegungsansatz gegenüber der philosophischen Tradition als einzigartig auszeichnete, hatte er im Zuge seiner späte25 ren Auseinandersetzung mit Descartes wesentlich deutlicher als in den ›Ideen I‹ markiert. Descartes wurde von Husserl vorgehalten, »daß er vor der größten aller Entdeckungen steht, sie in gewisser Weise schon gemacht hat, und doch ihren eigentlichen Sinn nicht erfaßt, also den Sinn der 23 Spiegelberg (1965: 142) berichtet, dass Husserl dieses Label nach einigem Zögern schließlich selbst adaptiert hatte. Jüngst wurde Husserls Position zum Idealismus von Vittorio de Palma (2005) nochmals ausführlich diskutiert. 24 In diesem Sinne hatte bereits Ludwig Landgrebe, neben Eugen Fink Husserls langjähriger Assistent und treuer Schüler, die Missverständnisse seitens der Kritiker seines Mentors dadurch zu erklären versucht, dass bei diesen »der eigentliche Sinn von Husserls ursprünglicher Konzeption der Intentionalität nicht verstanden wurde« (1963: 22). 25 Noch in den ›Ideen I‹ fällt die Abgrenzung gegenüber Descartes vergleichsweise moderat aus. Siehe dazu auch Ströker (1987b: 114).

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transzendentalen Subjektivität und so das Eingangstor nicht überschreitet, das in die echte Transzendentalphilosophie hineinleitet« (Cart Med: 26).

Die von Husserl hier eingesetzte Metaphorik eignet sich auch zur Betonung einer auch innerhalb des phänomenologischen Systemgebäudes relevanten Grenzziehung. Denn es ist bedeutsam zu sehen, dass die phänomenologischen Reduktionen zwar den Weg zum ›reinen Bewußtsein‹ ebnen und – im Sinne der Metaphorik – bis zur Eingangspforte in die ›transzendente Welt‹ vorstoßen, damit jedoch noch nicht in jenen Horizont selbst eindringen konnte. Daher war ein weiterer methodologischer Analyseschritt vonnöten, welcher über diese Sphäre und die darin vorhandenen Sinnbezüge Aufklärung verschaffen konnte. Die Geheimnisse, denen die phänomenologische Reduktion nachging, verbargen sich also hinter dem Konzept der Bewusstseinsintentionalität. Die Struktur der Intentionalität wird in den ›Ideen I‹ auf zweifache Weise zum Thema. Einmal wird sich Husserl in Einzeluntersuchungen verschiedener Bewusstseins- und Erlebnisphänomene – darunter im Übrigen auch der Reduktion selbst – zuwenden, um so erst die »Freilegung der transzendentalen Subjektivität in ihrem eigentümlichen intentionalen Leistungsgefüge« (Ströker 1987b: 115) zu bewerkstelligen. Davon ist eine zweite Aufklärungsrichtung zu unterscheiden, welche darauf gerichtet war, die Bedingungen zu erhellen, unter denen die Gegenstände im Bewusst26 sein evident und objektiv gegeben sind. Mit dieser zweifachen Aufgabenbestimmung war der die weitere Entwicklung der phänomenologischen Theorie kennzeichnende »Doppelcharakter« anvisiert, wobei sich »gegenstandsbezogene Phänomenanalyse« und »selbstbezogene Phänomenologieanalyse« wechselseitig bedingten (ebd., 108f.). Den scheinbaren Widerspruch, der in der Gegenüberstellung eines ›seinsleeren, transzendentalen Subjekts‹ einerseits und der Grundthese von der Gerichtetheit des Bewusstseins andererseits inbegriffen war, löste Husserl dadurch auf, dass er vermeintlich Unvereinbares miteinander verband. Diese Lösung kam in entsprechend paradox anmutenden Formulierungen wie etwa »Transzendenz in der Immanenz« (Ströker 1992: 61) und – später in den ›Ideen II‹ – »Aktivität in der Passivität« (Held 1986: 21) auf symptomatische Weise zum Ausdruck. Schließlich hatte Husserl in den ›Ideen I‹ resümiert: »Durch die phänomenologische Reduktion hatte sich uns das Reich des transzendentalen Bewußtseins als des in einem bestimmten Sinn ›absoluten‹ Seins ergeben. Es ist die Urkategorie des Seins überhaupt, in der alle anderen Seinsregionen wurzeln« (Hua III/1: 141).

26 Diese Unterteilung geht letztlich auf Landgrebe (1963: 33) zurück. Siehe dazu auch Kocka (1980: 15).

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In dieser Formulierung tritt endgültig zum Vorschein, dass die »Weltvernichtung« in der phänomenologischen Reduktion nicht wörtlich zu nehmen war, sondern – um eine Wendung Strökers anzuführen – »die Welt im ganzen reduziert ist auf das transzendentale Weltphänomen« (Ströker 1992: 61). Zugleich lässt sich an dieser Stelle der eigentümliche Gegenstandsbereich der Phänomenologie noch einmal deutlicher markieren. Husserl erachtete es als »eine große Angelegenheit« (Hua III/1: 143), die Beziehungen zwischen der Phänomenologie und anderen Wissenschaftsgebieten aufzuklären und hatte sie ja für den dritten Band der ›Ideen‹ veran27 schlagt (ebd., 5). Vorerst hielt er fest, dass die Phänomenologie aufgrund ihrer fundamentalen Ausrichtung diesen gegenüber einen »radikaleren« (ebd., 143) Zugang bot. Sie erfüllte in Husserls Augen den erforderten Anspruch auf ›strenge Wissenschaftlichkeit‹, indem sie von letzten, unhintergehbaren Quellen, den transzendentalen Tatsachen, ausging, um von dort aus die Gegebenheit der Welt als ganzer zur Erkenntnis bringen. Die Phänomenologie wurde durch die transzendentalphilosophische Wende letztlich zur »Ersten Philosophie« (Hua V: 148), die somit die universale Aufgabe der Philosophie erfüllen konnte, nämlich die Erkenntnis des Welt28 ganzen. Die bereits dargelegte, in den ›Ideen I‹ neu eingeführte, Terminologie – insbesondere die wichtige Unterscheidung zwischen Noesis/Noema – steht in Verbindung zu der Hinwendung der phänomenologischen Blickrichtung auf das ›transzendentale Bewußtsein‹, zu dessen Analyse eine entsprechend sensiblere Begriffsapparatur notwendig wurde. Der ›Seinsglaube‹ der natürlichen Einstellung sollte keineswegs mehr nur eingeklammert, sondern darüber hinausgehend phänomenologisch erklärt werden, aufgrund welcher Bewusstseinsakte und Wesensgesetze er überhaupt zustande kommen konnte. Die erkenntnistheoretische Grundfrage nach der Realität der Welt führte folglich über den Weg einer Untersuchung des noetisch-noematischen Korrelationsgefüges des transzendentalen Bewusstseins (vgl. Ströker 1992: 64). Sie war so elementar angelegt, dass erst im Verlauf der Erforschung der apriorischen Bewusstseinsleistungen schrittweise überhaupt erst die Tauglichkeit des phänomenologischen Verfahrens für den ihr angetragenen Aufklärungszweck geprüft werden konnte. Husserl hatte für dieses eigentümliche Wechselspiel zwischen Gegenstands- und Beobachtungsebene gelegentlich auch den Begriff »Zickzackverfahren« verwendet (Orth 1999: 68). In den ›Ideen I‹ hatte Husserl eine Form der Bewusstseinsanalyse eröffnet, die er später als »statisch« bezeichnen und durch eine »genetische« Betrachtungsweise ergänzen würde. An dieser Stelle können nur die groben Umrisse dieser ›statischen‹ oder auch »deskriptiven Phänomenologie« 27 Siehe dazu Kocka (1980: 10). 28 Vgl. Husserl (Hua V: 139f.) und dazu kommentierend Huang (1998: 25f.).

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(Hua V: 161) skizziert werden. Der angedeutete Übergang vollzog sich allmählich, indem sich Husserl in Einzeluntersuchungen unterschiedlichen Gegenstandserlebnissen zuwandte und dabei deren ›originäre Gegebenheitsweisen‹ herausstellte. Eugen Fink hat diese besondere »Methode der noematischen Reflexion« als das Zentrum der »intentionalen Analytik« herausgestellt (1966: 220). Im Fokus dieser Reflexionsrichtung stand dabei jeweils der Konstitutionsprozess der »Selbstgebung des Seienden« (ebd., 221) im Bewusstsein. Als »Musterbeispiel« bezog sich Husserl häufig auf die Wahrnehmung von Dingen (vgl. Held 1985: 42; 1986: 24). Anhand dieser konnte er aufzeigen, wie jede momentane Anschauung eines Gegentandes ›Motivationen‹ bzw. ›Abschattungen‹ zeitigte, die über die jeweilige Aktualisierung hinaus auf weitere ›Vermöglichkeiten‹ des selben Ge29 genstandes verwiesen. In diesem Sinne symbolisierte nach Husserl jede Dingwahrnehmung gleichsam ein ganzes »Abschattungssysystem« (Hua III/1: 74). Aus dieser Grundunterscheidung zwischen aktueller Wahrnehmung und der Möglichkeit, sich die Gegenstände in anderen Einstellungen ›appräsentieren‹ zu können, zog Husserl die wichtige Schlussfolgerung, dass Gegenstände im wahrnehmenden Bewusstsein auf der Ebene der natürlichen Einstellung transzendiert und als ›an sich seiend‹, ›objektiv‹ er30 lebt würden (ebd., 76f.). In der phänomenologischen Reduktion eliminiert der beschreibende Phänomenologe diese ›Setzungen‹. Durch diese Maßnahme kam für Husserl eine »doxisch-thetische Komponente« (Ströker 1992: 65) der Gegenstände in Sichtung, die Husserl fortan als »Noese« herausstellte. Die noetische Dimension verwies nicht auf die spezifische Qualität eines perzipierten Gegenstandes, sondern auf das »Wie seiner 29 Husserl erörterte diese Eigenschaft anhand der Wahrnehmung eines Tischs (Hua III/1: 73ff.). 30 Die Zentralität von Husserls Appräsentationstheorie für soziologische Ansätze ließe sich insbesondere anhand von Schütz und Luhmann aufzeigen. Da die entsprechenden Zusammenhänge für Schütz unten ausgeführt werden, sei an dieser Stelle lediglich Luhmanns Adaption des Husserlschen Appräsentationstheorems angedeutet. Diese offenbart sich in Luhmanns eigentümlichem Sinnbegriff, dem innerhalb der systemtheoretischen Gesamtkonzeption eine zentrale Begründungsfunktion zukommt. Er ermöglicht es nämlich, dass der, die Systeme am Leben erhaltende, Kreislauf von Komplexitätsreduktion und Komplexitätsproduktion niemals von sich aus zu einem Stillstand kommt und die für die Fortexistenz von Systemen lebenswichtige Entropie aufrecht erhalten bleibt: »Sinn fungiert als Prämisse der Erlebnisverarbeitung in einer Weise, die die Auswahl von Bewußtseinszuständen ermöglicht, dabei das jeweils nicht Gewählte aber nicht vernichtet, sondern es in der Form von Welt erhält und zugänglich bleiben lässt. [...] das eigentlich Besondere sinnhafter Erlebnisverarbeitung (liegt) darin, Reduktion und Erhaltung von Komplexität zugleich zu ermöglichen, nämlich eine Form von Selektion zu gewährleisten, die verhindert, daß die Welt im Akt der Determination des Erlebens auf nur einen Bewußtseinsinhalt zusammenschrumpft und darin verschwindet« (Luhmann 1971: 34). Siehe dazu auch Landgrebe (1975: 19f.).

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Gegebenheit« – also etwa in bezweifelndem, fiktivem, fragendem oder wirklichem Vollzug. Die ›noematische Reflexion‹ analysierte dem gegenüber die verschiedenen Erscheinungsweisen, die in der natürlichen Einstellung bewirkten, dass der Gegentand als ›real‹ erschien, und setzte diese dabei in Beziehung zu den jeweils aufgefundenen ›Erscheinungen‹ bzw. ›Noemata‹. Auf diese Weise sollte die Phänomenologie zu den ›noematischen Kernen‹ der Erscheinungen vorstoßen. In diesem Sinne kann man mit Ströker resümieren, dass »deren natürliche Transzendenz zu einer transzendentalen Immanenz reduziert« (ebd., 66) werden. Eugen Fink wies einmal mit Recht darauf hin, dass hier eine »fast unendliche Aufgabe, das Universum des Bewußtseins in allen seinen noch unabsehbaren verschlossenen Implikationen auseinanderzulegen« (1966: 31 221), vorgegeben war. Auf der Basis der Vorgehensweise nach dem Muster der intentionalen Analytik zeichnete sich ein Verständnis des Bewusstseins ab, demgemäß, so bemerkt Klaus Held zutreffend, sich die im Bewusstsein erscheinende Wirklichkeit allmählich und »in Schichten« (1986: 12) konstituiere. Schrittweise gelangte Husserl über den Umweg der Analyse verschiedener Sinnbildungsprozesse zu einem umfassenderen Bild dieses Bewusstseins und somit auch des universalen Horizontes, den er zunächst als ›Welt‹ (Huang 1998: 25f.), später als »Lebenswelt« beschreiben sollte. Simultan zur fortschreitenden Erkenntnis des transzendentalen Ego erkundete die Phänomenologie zugleich unterschiedliche Stufen der Gegenstands- bzw. Weltkonstitution. Dieses eigentümliche Doppelverhältnis war letztlich bereits im Intentionalitätsbegriff seit den 32 ›Ideen I‹ angelegt.

3. ›Konstitution‹, ›Zeitlichkeit‹ und ›passive Genesis‹ Auf dem Weg zur Erkenntnis des Universalhorizontes des Bewusstseins musste Husserl – über den Bereich der jeweiligen Einzelanalysen hinausgehend – darauf bedacht sein, deren systematische Verbindungen und Wechselwirkungen zu extrapolieren. Zu diesem Zweck nahm er abermals einen perspektivischen Einstellungswechsel vor, den er als eine Abkehr von einer ›statischen‹, reduktiv verfahrenden Intentionalanalyse hin zu einer ›genetischen‹, konstitutionsanalytisch vorgehenden Betrachtungsweise

31 Ähnlich sprach Husserl später in den ›Cartesianischen Meditationen‹ von der »Unendlichkeit der Arbeit« und bezog sich damit auf die »Selbstauslegung meiner, des meditierenden Ego, nach Konstitution und Konstituiertem« (Cart Med: 89). 32 In diesem Sinne folgert auch Kocka, dass »die Intentionalitätsstruktur des Bewußtseins die Entsprechung von bestimmten Bewußtseins- und Gegenstandstypen (verlangt)« (1980: 20).

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deklarierte. Dabei handelte es sich nicht um eine inhaltliche Modifikation, sondern eher um eine formale Änderung der phänomenologischen Fragerichtung, die zu spezifischen Einsichten führen sollte. Während ›Reduktion‹ bildlich als ein Denkvorgang des ›Abbaus‹ vorgestellt werden kann, fokussiert eine konstitutionsanalytische Einstellung dagegen den ›Aufbau‹ 34 von Bewusstseinsstrukturen. Eine genetische Untersuchung sollte nach Husserls Auffassung die statische Bewusstseinsanalyse dahingehend ergänzen, dass sie deren Vorbedingungen wiederum eigens aufdeckte. Denn die statische Korrelationsforschung, welche jede Gegenständlichkeit nach dem Schema von Form und Stoff resp. ›Anschauung‹ und ›Hyle‹ zerteilt, hinterfragte nicht die Vorgegebenheit der Gegenstände selbst (ebd., 69). Diese wurde folglich zum 35 Thema der genetischen Untersuchung. Die genetische Betrachtungsweise führte nun erstmals auch einen geschichtlichen Index in die analytische Perspektive der Phänomenologie ein, denn Bewusstseinsphänomene wurden nunmehr als das Resultat zeitlich vorausgegangener Konstitutionsprozesse betrachtet. An dieser Stelle lässt sich ein kurzer Exkurs über die zentrale Bedeutung der Zeitproblematik für Husserls genetische Phänomenologie, deren Behandlung noch heute als eine der originellsten Leistungen Husserls angesehen wird, anbringen. Unter anderen hat Ernst Wolfgang Orth die Entdeckung dieser Sachdimension als das Geburtsmoment der Konstitutionsproblematik hervorgehoben (1999: 79). Als »Grunddimension aller Konstitution« bot sie Husserl eine »Möglichkeit der Strukturierung des intentionalen Lebens« (ebd., 77ff.). Der angedeutete enge Zusammenhang mit der Konstitutionsproblematik mag also in die Richtung gedeutet werden, dass sich für Husserl Zeitlichkeit als ein Zusammenhang fundierendes Momentum herausstellte, welches dazu geeignet war, – gewissermaßen quer zu den Einzelreduktionen stehend – den Fluss- und Entwicklungscharakter des Bewusstseins aufzuzeigen. Anders gewendet: eine innere Ordnung des Bewusstseins artikulierte sich Husserl erstmals über seine Entdeckung der Zeitdimension. In den ›Cartesianischen Meditationen‹ gab Husserl schließlich folgende Sinndeutung des Zusammenhangs zwischen der Zeitlichkeitsdimension einerseits und der damit verknüpften Notwendigkeit einer konstitutionsanalytischen Ausrichtung der Phänomenologie auf der anderen Seite: 33 Entgegen der verbreiteten Auffassung, welcher zufolge dieser Wendepunkt erst in den zwanziger Jahren erfolge, hat Kocka (1980: 22, 28) darauf hingewiesen, dass Husserl bereits 1912 eine ›statische‹ von einer ›genetischen‹ Betrachtungsweise unterschied. 34 Diese Differenzierung geht auf Theunissen (1965: 115) zurück. 35 Landgrebe hat den hier angedeuteten Perspektivenwechsel werkgenetisch aus Husserls Erfahrung des »Scheitern(s) des transzendentalen Subjektivismus als eines geschichtslosen Apriorismus« (1963: 165) im Rahmen seiner Vorlesung zur ›Ersten Philosophie‹ des Wintersemester 1923/24 abgeleitet.

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»Erst durch die Phänomenologie der Genesis wird das Ego als ein unendlicher, in der Einheit universaler Genesis verknüpfter Zusammenhang von synthetisch zusammengehörigen Leistungen verständlich – in Stufen, die sich durchaus der universalen verharrenden Zeitlichkeit fügen müssen, weil diese selbst sich in einer beständigen passiven und völlig universalen Genesis aufbaut, die wesensmäßig alles Neue mit umgreift« (Cart Med: 83).

Anhand der Untersuchung der Zeiterfahrung gewann Husserl also erste Einsichten über die prozessualen Mechanismen, auf Grund derer es dem Bewusstsein möglich war, unterschiedliche Erfahrungsgehalte zu synthetisieren und zu speichern. Die hierbei herausgestellte Funktion der ›Synthesis‹ als Vereinigung von Mannigfaltigkeit übertrug Husserl schließlich auf 36 weitere Konstitutionsebenen. Die Konstitution von Zeitlichkeit – Husserl spricht auch von ›Zeitigung‹ – erläuterte er anhand der Relation von ›Retention‹, ›Urimpression‹ und ›Protention‹. Dabei handelte es sich jeweils um unterschiedliche As37 pekte ein und desselben Gegenwartsbewusstseins. Ein Bewusstsein der Gegenwart implizierte nach Husserl weit mehr als ein aktuell gegebenes ›Jetzt‹, nämlich zugleich auch eine in die Vergangenheit sowie auch eine in die Zukunft weisende Ausdehnung. Als ›Urimpression‹, ›Urpräsenz‹ oder auch ›lebendige Gegenwart‹ definierte Husserl jene »Jetztphase« (Huang 1998: 103) des strömenden Bewusstseins, in welcher der Sinn ursprünglich und unvermittelt auftrete. Der Begriff ›Retention‹ bezeichnete das im Gegenwartsbewusstsein als gerade gewesen Erscheinende. Mit ›Protention‹ war dagegen der die unmittelbare Zukunft antizipierende Horizont in der Gegenwart betitelt. Im phänomenologischen Verständnis, bedeutete Gegenwart damit keinen inhaltlich-konkreten, isolierbaren Fixpunkt, sondern vielmehr einen vergangenheits- und zukunftsbezogenen Sinnhorizont. Insbesondere am Fall der retentionalen Reflexionsbewegung konnte Husserl verdeutlichen, nach welchem Muster sich Gegenstandsbewusstsein konstituierte: Ein Datum, welches gerade noch aktuell in der Retention gegenwärtig war, fällt in dem Moment in eine tiefere Zeitschicht hinab, in dem sich die Aufmerksamkeit auf ein anderes »lebendige(s) Jetzt« (Hua III/1: 168) richtet. Auf diese Weise entsteht eine stufenweise geformte »Retentionskette« (Held 1986: 27). Von entscheidender Relevanz ist hierbei Husserls Hypothese, dass in jeder Retentionsschicht die Vorhergegan-

36 In der ›Krisis‹ wird Husserl resümieren, »daß alle Konstitution jeder Art und Stufe von Seiendem eine Zeitigung ist, die jedem eigenartigen Sinn von Seiendem im konstitutiven System seine Zeitform erteilt« (Hua VI: 172). 37 Gegenwartsbewusstsein im Sinne der ›lebendigen Gegenwart‹ ist keinesfalls zu verwechseln mit Akten der Vergegenwärtigung resp. Erinnerung. Bei letzteren handelt es sich um intentionale Akte, die auf einer anderen theoretischen Ebene anzusiedeln sind als eine konkrete Bewusstseinsstruktur.

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gene – in suspenso – präsent bleibt. Er sprach von »primärer Erinnerung« (Hua X: 32), welche strikt von der aktiv geleiteten Absicht der »Wiedererinnerung«, die auf dem in der ›lebendigen Gegenwart‹ etablierten Vergangenheitshorizont aufruhe, zu unterscheiden sei. Die hier nur oberflächlich dargelegte Konstitutionstheorie des inneren Zeitbewusstseins verbürgte letztlich die das menschliche Bewusstsein als einzigartig auszeichnende Fähigkeit der Erinnerung. Für die systematische Entwicklung der Phänomenologie war die Entdeckung der Konstitutionslogik des ›Zeitigens‹ deswegen von fundamentaler Bedeutung, weil hier der schwierige Gedankenweg, den Husserl in solchen paradoxen Formeln wie ›Transzendenz in der Immanenz‹ sowie ›Einheit in Mannigfaltigkeit‹ fasste, veranschaulicht werden konnte. Der in solchen Wendungen nur vage angedeutete Befund behauptete, dass das Bewusstsein – nach gemeiner Auffassung als eindimensional vor38 gestellt – sich selbst transzendieren und über sich hinausweisen könne. Gewährleistet wurde diese Funktion im erörterten Fall durch die Mechanismen der Retention und Protention. Als ›Grunddimension aller Konstitution‹ konnte die ›Zeitigung‹ aus zwei unterschiedlichen Gründen heraus erscheinen: Zum einen deswegen, weil sie – so glaubte Husserl zunächst – die »unterste Stufe aller intentionalen Sinnkonstitution überhaupt« (Huang 1998: 104) und somit die »Form aller Intentionalität« (Orth 1999: 78) bildete. Damit zusammen hing ein zweites Motiv, nämlich die Auffassung, dass alle Erlebnisse und Gegebenheitsweisen erst über die Zeitigung in einen Zusammenhang und eine zeitliche Ordnung gebracht würden. Husserl sprach aus diesem Grund von der Zeitlichkeit auch als die »Erlebnisse mit Erlebnissen verbindende Form« (Hua III/1: 198). Die Bedeutung der Zeitlichkeit für die Entwicklung der genetischen Phänomenologie ergab sich also nicht aus der banalen Gegebenheit, derzufolge alle Konstitutionsprozesse in der Zeit verlaufen, sondern einmal daraus, dass die drei unterscheidbaren Phasen der ›lebendigen Gegenwart‹ zugleich »Phasen der Gegenstandskonstitution« im Bewusstsein sind und darüber hinaus daraus, dass »jede ihrer Phasen beständig unter dem Einfluss der anderen steht« (Ströker 1987a: 66). Der Begriff ›zeitlich‹ impliziert hier folglich weit mehr als seine alltagssprachliche Extension. Unter den angegebenen Prämissen erklärt sich, weshalb in der genetischen Ausrichtung der Konstitutionsanalyse jedes einzelne Sinn- und Gegenstandsgebilde auf seine Implikate aus vorausgegangenen ›Genesen‹ hin untersucht werden musste. Wenn nun also von ›Geschichte‹ die Rede war, bezog diese sich gleichfalls nicht auf die Frage, wann ein Konstitutionsprozess stattgefunden hat, sondern vielmehr wie. Damit wird auch deut38 Ströker hat jenes »Rätsel«, von dem Husserl »zeitlebens beunruhigt war« in folgende Frage gemünzt: wie das »Bewußtsein sich auf Transzendentes richten kann und damit etwas, das es selbst übersteigt, zu erreichen vermag?« (1987a: 65)

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lich, wie Orth ausdrücklich gegenüber Derrida hervorhob (1999: 82f.), dass die Genese nicht ›Geschichte‹ im eigentlichen Sinne des Wortes – als Werden in einer historischen Zeit – zum Ergebnis hat, sondern zunächst lediglich die Grundlage möglicher Geschichte. Eine ›Geschichte‹ kann sich erst entwickeln, nachdem sich ein konkretes Individuum – eine ›Person‹ – konstituiert hat. Die thematische Ausgestaltung der Konstitutionsanalyse der transzendentalen Subjektivität wurde entscheidend geprägt durch Husserls Auffindung eines weiteren eigentümlichen bewusstseinsmäßigen Sachverhalts, für den er die Begriffe ›passive Synthesis‹ und ›passive Genesis‹ verwendet hatte. Diese waren in Abgrenzung gegen ›aktive Synthesis‹ zu verstehen. Man kann sie als zwei »universale Prinzipien der ›konstitutiven Ge39 nesis‹« (Huang 1998: 104) auffassen. Während ›aktive Synthesis‹ einen »erzeugenden, konstituierenden« Ichakt (Hua I: 29) bezeichnete, stand ›passive Synthesis‹ für einen rezeptiven Konstitutionsvorgang, der jedoch gleichwohl nicht als ›ichlos‹ angesehen werden dürfe. Der ›Träger‹ dieser passiven Synthese sei nicht das ›Ich‹, sondern eine Instanz, die Husserl ›urströmendes Leben‹ nannte. Aus dieser Gegenüberstellung wird einsichtig, dass ›transzendentale Subjektivität‹ nicht mit dem ›transzendentalen Ego‹ zu identifizieren ist, sondern Eigenschaften aufwies, die nur in mittelbarer Relation zur ›Ichaktivität‹ standen. Untereinander war das Verhältnis von aktiver und passiver Synthesis derart von Husserl angedacht gewesen, dass erstere nur unter der Bedingung, dass bereits synthetisierte Inhalte vorgegeben waren, möglich wurden. Daher ist festzuhalten, dass das durch die passive Genese Vorgegebene die »niederste Stufe des Aufbaus unserer Gegenstandserfahrung« (Huang 1998: 107) bildet und, daraus wiederum folgend, dass auch die passive Genesis mit dem transzendentalen, aktiven ›Ich‹ – um mit Husserl zu sprechen – »assoziiert« ist. ›Assoziation‹ galt ihm künftig als die Grundform der passiven Konstitution. Eine derartige »Phänomenologie der Assoziation integriert und vollendet auf diese Weise die Husserlschen Zeitanalysen«, indem sie »als inhaltliche Synthese jenes Material (liefert), das aus der Sicht des Zeitbewußtseins formal-synthetisch behandelt wird« (Kühn 1998: 11). Hier bewegt man sich in einem Bereich, der, konstitutionslogisch betrachtet, dem Zeitbewusstsein als der ›Urstätte von Konstitution überhaupt‹ (Ströker 1987a: 70) noch voraus geht. Die passiven Synthesen, welche in der »konstitutionsgenetischen Mikroskopie« (ebd.) zutage traten, stellen die Empfindungsdaten bzw. ›urimpressionalen Daten‹ bereit, auf welchen sich die aktiven Synthesen schließlich aufbauen. Ströker hat diese Begebenheit in das Argument übersetzt, dem gemäß »die konstitutive Transzendentalphänomenologie angewiesen ist auf ein Faktum, das sie hinnehmen muß, das sie 39 Siehe zu diesem Themenkomplex Husserls Ausführungen in den ›Cartesianischen Meditationen‹ (Cart Med: 82ff.).

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aber nicht wiederum konstitutionsgenetisch verständlich machen kann und insofern nicht erklären kann« (ebd., 73). Husserl habe schlussendlich eingestanden, dass auch mit der phänomenologischen Reflexion nicht sämtliche transzendentalen Ursprünge aller Konstitution und intentionalen Lebens einholbar waren (ebd., 74). Durch die Wende zur genetischen Phänomenologie, welche zum Ziel die Erforschung der transzendentalen Subjektivität hatte, meinte Husserl, eine Form des »transzendentalen Idealismus« begründet zu haben, die sich von der sensualistischen, psychologischen und auch kantianischen Spielart unterscheiden ließ (vgl. Spiegelberg 1965: 126; Ströker 1987a: 88; Huang 1998: 108). Ihr wesentliches Abgrenzungsmerkmal bestand in der spezifischen Auffassung des ›Transzendentalen‹, welches eben nicht als ein bewusstseinsunabhängiges ›An-sich‹ begriffen wurde, sondern als eine bewusstseins-immanente Eigenschaft des erkennenden Ego. Das Transzendenzproblem wurde somit in der Phänomenologie in das Problem der Selbstauslegung der transzendentalen Subjektivität übersetzt, zu dessen Erforschung es eine konstitutions-genetische Analyse brauchte (Huang 1998: 112). Wir haben hier einige Stationen des Pfades beleuchtet, auf den sich Husserl im Anschluss an die ›transzendentale Wende‹ der Phänomenologie getrieben sah, und dabei jeweils herausgestellt, auf welche Weise sich damit einhergehend nicht nur die Beobachtungsperspektive, sondern auch die Gegenstandsdimension gewandelt hat. Nachdem hier nur eine grobe Zeichnung der Entwicklung und eigentümlichen Gestalt der konstitutionsgenetischen Ausrichtung der Phänomenologie präsentiert wurde, soll unsere Rekonstruktion mit einer ausführlicheren Würdigung der Intersubjektivitätstheorie einerseits sowie der Lebensweltphänomenologie andererseits abgerundet werden.

4. ›Intersubjektivität‹ In den folgenden Ausführungen kann es keinesfalls darum gehen, Husserls Theorie der Intersubjektivität – die Berechtigung dieses Kompositums selbst kann bestritten werden (Iribarne 1994: 21ff.) – inhaltlich in einer Weise zu präsentieren, die Husserls Gedanken zu dieser Thematik vollends gerecht würde. Dies gestattet die komplizierte Quellenlage schon 40 nicht. Jedoch verknüpft sich mit dieser Problematik eine generelle Prob40 Die fünfte ›Cartesianische Meditation‹ stellt Husserls einzige zu Lebzeiten publizierte Abhandlung zu dieser Materie dar. In den 1973 von Iso Kern edierten Bänden XIII bis XV der Husserliana wurde jedoch ein reichhaltiges Konvolut an Aufzeichnungen und Skizzen zur ›Phänomenologie der Intersubjektivität‹ vorgelegt, deren Sichtung und Systematisierung den hier vorgegeben Rahmen bei weitem sprengen würde. Siehe hierzu insbesondere die Rekonstruktionen bei Kozlowksi (1991), Römpp (1992) und Iribarne (1994).

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lemkonstellation, die für die Axiomatik der transzendentalen Phänomenologie im Ganzen eine besondere Bewandtnis hat: »Von dieser Lösung hängt [...] nach Husserl das Gelingen der Phänomenologie als Transzendentalphilosophie ab« (Held 1972: 3). Der angedeutete Problemkreis ist um den Begriff der ›Objektivität‹ der phänomenologischen Erkenntnisse zentriert. Diese Thematik stellte sich vor dem Hintergrund der Fundierungsaxiomatik der transzendentalen Phänomenologie in Form der Gefahr, dass der – oft als ›cartesianisch‹ bedeutete – Ausgangspunkt von der transzendentalen Subjektivität einen ›Solipsismus‹ befördert, der sich von vornherein als blind gegenüber der Weltproblematik erweisen müsste. In den ›Cartesianischen Meditationen‹ antizipierte Husserl diese Angelegenheit in folgendem Interrogativ: »Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch die phänomenologische έπoχή auf mein absolutes transzendentales Ego reduziere, bin ich dann nicht zum solus ipse geworden, und bleibe ich es nicht, solange ich unter dem Titel Phänomenologie konsequente Selbstauslegung betreibe? Wäre also eine Phänomenologie, die Probleme objektiven Seins lösen und schon als Philosophie auftreten wollte, nicht als transzendentaler Solipsismus zu brandmarken?« (Cart Med: 91)

Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Husserl sowohl die Phänomenologie wie auch alle Philosophie mit der Aufgabe betraut hatte, »eine prinzipielle Antwort auf das Weltproblem« (Hua Dok II/2: 128; Huang 1998: 26) zu finden, scheint es durchaus angebracht, die Frage des Gelingens oder Scheiterns der Phänomenologie mit der Lösung der Intersubjektivitätsproblematik zu verbinden (vgl. Held 1986: 32). Husserls Lösungsansatz soll jedoch erst entwickelt werden, nachdem geklärt worden ist, in welcher Form sich die Frage nach der Vorgegebenheit einer intersubjektiv geteilten Welt auf dem Boden der transzendentalen Phänomenologie überhaupt stellte. Um weiteren Verwirrungen, die sich aus dem bereits geschilderten Entwicklungsgang der Phänomenologie ergeben konnten, von vornherein entgegenzuwirken, sei vorab erwähnt, dass Husserl die Intersubjektivitätsproblematik innerhalb des Rahmens der konstitutionsanalytisch-genetischen Analyse behandelt und mit der Herausstellung dieser Thematik keine erneuten grundbegrifflichen Renovationen anvisiert hatte. Die mit dem Intersubjektivitätsproblem verbundenen Paradoxien und Schwierigkeiten ergaben sich für die Phänomenologie letztendlich aufgrund der bereits geschilderten Notwendigkeit, aus der transzendentalen Subjektivität heraus begründen zu müssen, dass die gleiche Welt immer auch für alle anderen Subjekte Geltung besaß. In einer vielleicht passenden Allegorie hat Iribarne dieses Projekt geschildert: »sich dem Gefängnis des ›ich denke‹ zu entziehen, ohne dessen Bezirk zu verlassen« (1994: 15). Gleichwohl näherte sich Husserl nur schrittweise der Aufklärung dieser Fragestellung an. Die späteren Anknüpfungen an diese Thematik leiden

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zuweilen an der Nicht-Trennung der Frage nach der Möglichkeit, dass für alle Subjekte das Identische gilt einerseits von derjenigen nach der Fremderfahrung einzelner Subjekte auf der anderen Seite. Das Problem der Fremderfahrung bildete prinzipiell die der Intersubjektivitätsproblematik vorgeordnete Fragestellung, von deren erfolgreicher Klärung letztendlich auch diejenige nach der Intersubjektivitätskonstitution abhing (Römpp 1992: 4). Die Voraussetzungen der Konstitution von Bewusstsein einer fremden Subjektivität im eigenen Ego müssen der Methodologie der Konstitutionsphänomenologie zufolge die Vorbedingungen für die Phänome41 nalität einer Pluralität von Subjekten darstellen. Mit der Behandlung dieser Problematik enthüllte sich Husserl schließlich auch die zentrale Einsicht, dass die transzendentale Monade nicht den Endpunkt des transzendentalen Bewusstsein markierte, sondern vielmehr erst die »transzendentale Intersubjektivität (den) absoluten Seinsboden, aus dem alles Objektive, das All des objektiv real Seienden, aber auch jede objektive Idealwelt, seinen Sinn und seine Geltung schöpft« (Hua IX: 343), abgab. Transzendentale Subjektivität ist, so Husserls Grundthese, stets transzendentale Intersubjektivität im Gegensatz zu transzendentaler Monadologie. Seine Lösung dieser doppelten Aufgabenstellung, nämlich zunächst zu klären, »in welchen Intentionalitäten, in welchen Synthesen, in welchen Motivationen der Sinn ›anderes Ego‹ sich in mir gestaltet«, und daraufhin zu analysieren, wie »ich sie zugleich als Subjekte für diese selbe Welt, die ich selbst erfahre, und als dabei auch mich erfahrend, mich, als wie ich sie und darin die Anderen erfahre« (Cart Med: 93), kann im Rahmen dieser Arbeit nur in ihren Grundzügen resümiert werden. Husserl radikalisierte in einem ersten Schritt das egologische Fundierungsprinzip, indem er alle auf andere Subjekte oder Gegenstände gerichteten synthetischen Leistungen ›ausschaltete‹ und somit das »monadische Ego in seiner Selbsteigenheit« (Cart Med: 96) bzw. »Primordialität« dekuvrierte. Entsprechend nennt er diese Spielart der ›Epoché‹ auch »primordiale Reduktion«. Sie ließ eine spezifische Erfahrungsschicht zum Vorschein kommen, welche als »die wesensmäßig fundierende« und somit als »eigentliche ›Natur‹« (ebd., 98) anzusehen sei. Husserl machte darin folgende, wegweisende Beobachtung: »Von der Abblendung des Fremden wird nicht betroffen das gesamte psychische Leben meiner, dieser ›psychophysischen‹ Ich, darunter mein welterfahrendes Leben, also nicht meine wirklichen und möglichen Erfahrungen von Fremdem. Es gehört also in mein seelisches Sein hinein die gesamte Konstitution der für mich seienden Welt, und in weiterer Folge auch deren Scheidung in die konstitutiven Systeme, die Eigenheitliches und die fremdes konstituieren« (ebd., 100f.).

41 Diese Problemhierarchie spiegelt sich entsprechend in der Themengliederung der ›Cartesianischen Meditationen‹ wider.

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Wir begegnen an diesem Punkt einer uns bereits bekannten Argumentationsstrategie Husserls wieder. Er resümierte als Erkenntnisprodukt aus der ›primordialen Reduktion‹ eine »intentionale Unterschicht [...], in der eine reduzierte Welt als immanente Transzendenz zur Ausweisung kommt« (ebd., 108; Hervorhebung D.Š.). Ein Index von Weltlichkeit und Fremdsubjektivität lag also bereits auf der primordial reduzierten Konstitutionsstufe vor. Husserl postulierte also wiederum eine tiefer liegende Bewusstseinsschicht, auf der eine behauptete Differenzierung – in diesem Fall zwischen Innen/Außen bzw. Ich/Fremd-Ich – nicht applikabel war. Auf dieser Basis erschien ein Übergang von der Erfahrung eines einzelnen Anderen zur Konstitution einer ganzen »Monadengemeinschaft« nunmehr bloß noch ein relativer Schritt zu sein. Als Erklärung der Konstitution dieser »intersubjektiven Eigenheitssphäre« (ebd., 109f.) gab Husserl eine Stufenfolge von ›Appräsentationen‹ an, die nun als »Arten des MitgegenwärtigMachens« definiert wurden (ebd., 112). Die erste Appräsentationsstufe ging aus von der Wahrnehmung eines außenstehenden Körpers, der mir schließlich – über einen Analogieschluss von der Gegebenheit meines eigenen Körpers als ›Leib‹ in der primordialen Sphäre auf jenen – als ein fremder ›Leib‹ erscheinen kann. Der wahrgenommene Gegenstand resp. Körper motiviere mich dazu, so Husserl, den Anderen in seiner Transzendenz, also diversen ›Vermöglichkeiten‹, zu appräsentieren. Nach diesem Schema, das Husserl als »paarende Assoziation« bezeichnet hatte (ebd., 115), erfolge auch die Konstitution von Intersubjektivität (Held 1986: 34). Damit war jedoch durchaus nicht gemeint, »daß, was da appräsentiert ist von seiten jenes ›Körpers‹ dort, in meiner primordialen ›Umwelt‹ [...] mein Psychisches, überhaupt [etwas] aus meiner Eigenheitssphäre ist« (Cart Med: 121). Vielmehr meint ›paarende Assoziation‹, dass der fremde Körper mit meinem zum »Kern einer Appräsentation« wird, bei welcher »ein Ego als anderes appräsentiert« ist (ebd., 122). Husserl sprach hierbei von »Fremdappräsentation« (ebd.). Durch beständigen Fortgang der Assoziationsprozesse würden immer weitere Gehalte des anderen Ego appräsentiert. Auf der Stufe der primordialen Eigenheitssphäre war es für Husserl zunächst ausgeschlossen, dass der ›Andere‹ jemals zu meinem absoluten ›Hier‹ werden konnte, sondern vielmehr stets der appräsentierte ›Fremde‹ ›dort‹ blieb. Die Frage der Konstitution einer intersubjektiv geteilten Welt ist also somit noch keineswegs gelöst. Eine solche Erklärung müsste jedoch exakt erweisen, wie es möglich ist, dass sich »Mein Dort und sein Hier decken« (Huang 1998: 131). Husserl entwickelte zu diesem Zweck seine Appräsentationslehre weiter, indem er hinzufügte, dass jede Appräsentation des Anderen eine damit zusammenhängende ›Präsentation‹ aufweise. Folglich könnten das von mir Appräsentierte – der Andere mit seiner Originalsphäre – einerseits und das von mir Präsentierte – der in meiner Originalsphäre gegebene körperliche Leib des Anderen – andererseits demselben Gegenüber zugeschrieben

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werden. Damit würde es überprüfbar, ob sich die jeweiligen Welterfahrungen entsprachen oder nicht. Anhand der Konstitution eines gemeinsamen Raumes und einer gemeinsamen Zeit hatte Husserl eine solche Evaluation durchgeführt und daraus den Schluss abgeleitet, »daß es eine einzige objektive Welt und korrelativ ein einziges intersubjektives Wir gibt« (ebd., 132). Diese kursorischen Ausführungen müssen hinreichen, um einen Eindruck über die wesentlichen Grundfiguren zu geben, auf denen Husserl 42 seine Phänomenologie der Intersubjektivität basierte. Abschließend soll nun die Bedeutung der Lebensweltproblematik innerhalb des Begründungsrahmens der Husserlschen Phänomenologie angezeigt werden.

5. ›Lebenswelt‹ Man hat vielfach behauptet, dass mit der Einführung des Lebensweltbegriffs in seinem letzten Werk, der ›Krisis‹, die Gestalt der Phänomenologie abermals grundlegende Modifikationen erfuhr. Vor dem Hintergrund der bisher geschilderten Entwicklung des Gegenstandsbereichs der Phänomenologie lässt sich dennoch eher das von Interpreten wie Landgrebe (1982: VII), Gadamer (GGW 3: 134), Ströker (1987a: 75ff.), Orth (1999: 85) und 43 anderen gezeichnete Bild untermauern, dem zufolge die Lebensweltthematik in systematischer Hinsicht innerhalb des Theorierahmens der transzendentalen Phänomenologie verblieb und sich einem Objektbereich widmete, der bereits spätestens mit der Einführung der genetischen Perspektive in ihren Aufmerksamkeitshorizont getreten war (Ströker 1987a: 78ff.). Der Eindruck, dass der Begriff ›Lebenswelt‹ eine dezidierte Hinwendung Husserls zu empirischen, historisch-konkreten Aspekten der Weltkonstitution anzeigt, basiert häufig auf einem Missverständnis, bei welchem die transzendentalphilosophische Natur des Konzepts bei Husserl aus dem Blick fällt. Seine uneindeutigen Formulierungen haben ihren Teil dazu beigetragen und Äquivokationen heraufbeschworen. Wir zitieren eine Passage aus den Vorlesungen ›Erste Philosophie‹, aus denen die phänomenologische Perspektive auf die Lebenswelt deutlich hervorgeht:

42 Weiter unten in der Zwischenbetrachtung sowie insbesondere im SchützKapitel werden wir Gelegenheit haben, auf die Frage nach der Haltbarkeit von Husserls Intersubjektivitätstheorie genauer einzugehen. Dass sie gemeinhin und selbst von zeitgenössischen Phänomenologen als unzureichend angesehen wird, ist kein Geheimnis (Held 1972: 3). Von Schütz wissen wir, dass ihm Husserl im Jahre 1934 als Grund für die Nichtveröffentlichung der ›Ideen II‹ seine Unzufriedenheit mit der Lösung Intersubjektivitätsproblematik genannt hatte (vgl. Kocka 1980: 9). 43 Die angedeutete Position findet sich auch bei Claesges (1972: 85ff.), Kocka (1982: 357), Aguirre (1982: 148f.) und Welz (1996: 87f.).

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»Es handelt sich also […] um eine ganz ›unnatürliche‹ Einstellung und eine ganz unnatürliche Welt- und Lebensbetrachtung. Das natürliche Leben vollzieht sich als eine ganz ursprüngliche, als eine anfangs durchaus notwendige Welthingabe, Weltverlorenheit. Das Unnatürliche ist das der radikalen und reinen Selbstbesinnung, der Selbstbesinnung auf das reine ›ich bin‹, auf das reine Ichleben, und auf die Weisen, wie in diesem Leben, was in irgendeinem Sinne sich als Objektives gibt, eben diesen Sinn und diese Geltungsweise als Objektives gewinnt: rein aus der inneren und eigenen Leistung dieses Lebens selbst« (Hua VIII: 121).

Aus diesem Ausschnitt geht nicht nur hervor, dass das ›Leben‹, auf welches die phänomenologische Analyse zielte, ein ›unnatürliches‹ bzw. ›transzendentes‹ Leben war, sondern auch, dass Husserl den Rückgang auf das ›reine Ichleben‹ mit dem gleichen Terminus adressierte, den bereits Dilthey zur Kennzeichnung seiner philosophischen Grundeinstellung gewählt hatte: ›Selbstbesinnung‹. In den ›Cartesianische Meditationen‹ hatte Husserl die Variante der phänomenologischen ›Selbstbesinnung‹ entsprechend gekennzeichnet: »Jeder Versuch, von den historisch gewordenen Wissenschaften her zu besserer Begründung, zu einem besseren Sich-selbst-verstehen nach Sinn und Leistung zu kommen, ist ein Stück Selbstbesinnung des Wissenschaftlers. Es gibt aber nur eine radikale Selbstbesinnung, das ist die phänomenologische. Radikale und völlig universale Selbstbesinnung sind aber untrennbar, und zugleich von der echten phänomenologischen Methode der Selbstbesinnung in Form der transzendentalen Reduktion« (Hua I: 179).

Ernst Wolfgang Orth hat die »ureigene These der Krisis-Abhandlung« in folgendem Satz resümiert: »Der Mensch hat die Welt als seinen Horizont, wie die Welt ohne den Menschen, dessen Horizont sie ist, nicht denkbar ist« (1999: 95). In der fünften Meditation hatte Husserl, im Ausgang von der primordialen Reduktion, die hier von Orth angetippte These entwickelt, dass transzendentale Subjektivität eigentlich immer schon transzendentale Intersubjektivität ist. Von dieser Erkenntnisstufe war es nur ein logischer Schritt – und kein radikaler Schnitt – zur Beforschung dieser ›intersubjektiven Eigenheitssphäre‹ im Hinblick darauf, wie sich ein intersubjektiv geteilter Welthorizont konstitutionstheoretisch aufklären ließ. Diese Hervorhebung ist von Bedeutung, um zu erkennen, dass mit dem Rückgang auf die »›Lebenswelt‹ als dem allgemeinen ›Boden‹ menschlichen Weltlebens« (Hua VI: 158) keine Diskrepanz zur cartesianisch ausgerichteten Konstitutionsphänomenologie aufgebaut, sondern vielmehr letztere »verfeinert« und »präzisiert« wurde: »Die Lebenswelt ist der erste Fall von voller Manifestation des transzendentalen Lebens als Erfahrung, als Welt- und Selbsterfahrung« (Orth 1999: 111f.). Die ›Krisis‹ nahm ihren inhaltlichen Ausgangspunkt von der Entwicklung der neuzeitlichen europäischen Wissenschaften und thematisierte die-

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sen Prozess selbst als ein ›intentionales‹ Geschehen (ebd., 114), das phänomenologisch aufzuklären sei. Ohne hier näher auf Husserls Rekonstruktion dieses Prozesses eingehen zu können, sei zumindest auf ihr Ur44 sprungsmoment hingewiesen. Für die entscheidende Fehlprogrammierung, welche in direktem Zusammenhang mit der Krisis der europäischen Wissenschaften gesehen wurde, machte Husserl das »in Griechenland entspringende(.) neue(.) Menschentum (das philosophische, das wissenschaftliche Menschentum)« (Hua VI: 124) verantwortlich. Das von diesen begründete Wissenschaftsmodell bildete die ursprünglichen, praxisnahen Ideen von ›Erkenntnis‹ und ›Wahrheit‹ mit dem fatalen Erfolg um, dass allmählich die natürliche Lebenswelt als der Boden Wissenschaft vergessen wurde (ebd.). Der neuzeitliche Wissenschaftsbegriff habe schließlich die »kühne Leitidee« einer »universalen, alle mögliche Erkenntnis in ihrer Unendlichkeit umspannenden Wissenschaft« (ebd.) zum Ideal erhoben. Ein großer Teil der ›Krisis-Abhandlung‹ widmete sich der Aufgabe, die von den modernen Wissenschaften verdeckte Dimension menschlichen Lebens wieder kenntlich zu machen. In diesem Sinne kommt Husserls Analyse »eine diagnostische und eine therapeutische Funktion« (Claesges 1972: 85) zu. Wir wenden uns im Weiteren eher den formalen Aspekten zu. Das Werden und die Gestalt der modernen Wissenschaften begriff Husserl als das Ergebnis von philosophiegeschichtlichen ›Urstiftungen‹ (Hua VI: 10ff.). ›Lebenswelt‹ erscheint im Hinblick darauf aus der Perspektive des Phänomenologen in mehrfacher Weise: Einmal als »Inbegriff jener Intentionen, aus denen die Geschichte der Philosophie selbst geworden ist« sowie als der »intentional-analytische Nachvollzug« (Orth 1999: 114) dieser Entwicklung. Claesges spricht von einer »gedoppelten BodenFunktion der Lebenswelt für die Wissenschaften« (1972: 86). Neben dieser sei jedoch auch eine weitere Bedeutung der Lebenswelt zu betonen, die 45 Claesges als »Leitfaden-Funktion« hervorgehoben hat (ebd.). In dieser Funktion stellt sie zugleich die Quelle derjenigen Strukturen dar, durch welche die lebensweltlichen Fundamente selbst – im Sinne von Waldenfels (1989: 107) – in »Vergessenheit« geraten konnten einerseits, sowie derjenigen Strukturen, welche die »Absprungbasis für eine radikale Selbstbesinnung« (Claesges 1972: 86) bilden, andererseits. Die komplexe Verwobenheit von ›Wissenschaft‹ und ›Lebenswelt‹ im Zugang der ›Krisis‹ reflektiert sich auch in der entsprechend vielschichtigen methodisch-phänomenologischen Bearbeitung durch Husserl. Als ersten Schritt forderte er die Ausschaltung der Erkenntnisse der objektiven

44 Für eine prägnante Übersicht von Husserls Philosophiegeschichtsschreibung siehe Kurt (2002: 31ff.). 45 Ähnlich auch Orth (1999: 115) und Ströker (1987a: 87).

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Wissenschaften durch die ›transzendentale Epoché‹ (Hua VI: 138ff.), um einen ersten Ausblick auf die allgemeinen Strukturen der Lebenswelt zu gewährleisten, die ja Husserl zufolge noch nie in den Blick einer eigensten Wissenschaft genommen worden seien, sondern stets nur aus der je limitierten Perspektive objektivierender Spezialwissenschaften bearbeitet wur47 den (ebd., 142). Es ging folglich darum, jene »radikale Grundwissenschaft« in der Form einer »reinen Wesenslehre von der Lebenswelt« zu begründen, auf die alle Wissensgebiete zu fundieren wären (ebd., 144). In einem zweiten Schritt sollten die allgemeinsten Strukturen der Lebenswelt im Sinne einer »lebensweltlichen Ontologie« (ebd., 145) gegliedert werden. Schließlich formulierte Husserl in Absetzung gegenüber alternativen Zugängen den von ihm bevorzugten phänomenologischen Zugang zur Lebenswelt. In einer »universalen Interessenwendung«, die sich konkret gegen die natürliche Einstellung wandte, sollte der »subjektive Wandel der Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi, welcher, ständig verlaufend, unaufhörlich im Dahinströmen sich synthetisch verbindend, das einheitliche Bewußtsein des schlichten ›Seins‹ der Welt zustande bringt« (ebd., 149),

fokussiert werden. In der Alltagseinstellung würde dieser Wandel verborgen bleiben. Diese »universale Epoché« bedeutete also eine dritte Stufe der Methodik zur Erforschung der Lebenswelt, durch die es letztlich möglich werden sollte zu erkennen, »was natürliches Leben und seine Subjektivität letztlich ist« (ebd., 151). Ströker (1987a: 86ff.) hat die konzeptionelle Verwandtschaft zwischen der, in der ›universalen Epoché‹ zum Tragen kommenden, »sinngenetische(n) Forschung«, welche die Genese von Gebilden wie objektive Wissenschaft erkenntlich machen sollte, mit der konstitutionsanalytischgenetischen Einstellung der 1920er Jahre sehr deutlich herausgestellt. Beide stünden notwendig auf dem Boden der Transzendentalphänomenologie (ebd. 87). Nur durch eine akkurate »sinngenetische Reaktivierung« (Ströker 1996: 322) der einstmals getätigten Sinnstiftungen durch alle Sedimentierungen hindurch konnten schließlich jene »erkenntnistheoretische(n), wissenschaftstheoretische(n) und methodologische(n) Fehlprogrammierungen der innerphilosophischen und innerwissenschaftlichen Entwicklung« (Orth 1999: 13), von denen die ›Krisis der europäischen Wissenschaften‹ ihren Ausgang nahm, analysiert und potentiell korrigiert werden. Auch die Einführung der Lebensweltproblematik steht also, wie wir zu46 Husserl sprach auch von einer »Epoché von aller Einmengung positiver Wissenschaftlichkeit« (Hua VI: 145). 47 Der Prozess der »Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche« (Hua VI: 49), setzte gemäß Husserls Darstellung mit Galilei ein (ebd., 58).

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sammenfassend festhalten können, innerhalb des Rahmens der transzendentalen Phänomenologie und deutete keine konzeptuelle Neuausrichtung phänomenologischen Forschens an. Das vorrangige Ziel unseres Überblicks über die diversen Akzentverschiebungen, die Husserl auf seinem Weg zur Begründung der Phänomenologie als ›radikale Grundwissenschaft‹ vornahm, bildete die Entfaltung eines nachvollziehbaren Problemzusammenhangs, von dem aus sich die einzelnen Arbeitsschritte und vermeintlichen Wendemanöver Husserls erklären lassen. Auf diese Weise konnten zugleich einige der rezeptionsgeschichtlich meist diskutierten Streitpunkte identifiziert werden. In der abschließenden Zusammenfassung seien letztere noch einmal herausgestellt.

Resümee Ausgang nehmend von einer Krisenkonstellation, die – wie bereits bei Dilthey und Rickert – in engstem Zusammenhang mit der Entwicklung der Wissenschaft im allgemeinen und der Philosophie im besonderen gesehen wurde, hatte Husserl eine »Kritik der logischen und der praktischen Vernunft« (Hua II: VII) konzipiert, deren Gestalt sowohl in methodologischer als auch gegenstandstheoretischer Hinsicht Novität beanspruchen konnte. Aus unserer Darstellung sollte hervorgegangen sein, dass sich beide Dimensionen stets in wechselseitigem Bezug zueinander und in Korrespondenz entwickelten. In Orientierung insbesondere an Descartes’ sowie Kants Methode der Neubegründung der Philosophie etablierte Husserl schlussendlich eine Form von Transzendentalphilosophie, welche mit dem traditionellen Verständnis ebenso wenig korrespondierte wie mit Rickerts 48 neukantianischer Transformation der Transzendentalphilosophie. Das Problem der Transzendenz stellt sich innerhalb des phänomenologischen Begründungsrahmens auf eine eigentümliche Weise. Den wesentlichen Unterschied sowohl zu Descartes wie auch zu Kant markiert dabei Husserls radikale Überwindung des Standpunkts der natürlichen Einstellung (Landgrebe 1982: 24ff.), von dem aus die Problematik der Erkenntnistheorie in die Frage mündete, wie man vom eigenen Bewusstsein zum Wissen über die an sich seiende Welt gelangen könne. Durch die Umstellung der ›phänomenologischen Epoché‹ und die damit verbundene Einklammerung der ›Generalthesis der natürlichen Einstellung‹ kommt die Welt als ›Phänomen‹, genauer als Korrelat des intentionalen Lebens in den Blick. Die ›Welt‹ erscheint als ein bewusstseins-immanentes Phänomen, das zugleich über die aktuelle Erfahrungsgegebenheit hinausweist. Diese 48 Ein systematischer Versuch der Abgrenzung der Phänomenologie zum Badischen Neukantianismus sowie zu Diltheys Lebensphilosophie findet sich bei Fink (1966: 167ff.).

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komplexe Konstellationsfigur ließ Husserl auf Behelfsformulierungen wie ›immanente Transzendenz‹ Rekurs nehmen. Phänomenologische Weltund Gegenstandsanalyse war somit zugleich Bewusstseinsanalyse. Erst auf der Grundlage der durch konstitutionsgenetische Forschung gewonnenen Einsichten über den Aufbau der ›Welt‹ im Bewusstsein konnte sich auch die Phänomenologie als eine spezifische Einstellung über sich selbst aufklären. Mit dieser »Gleichsetzung von Ursprungsforschung und Selbstbesinnung« (Mertens 1996: 35) schien sich für Husserl auch jedes Objektivitätsproblem, zumindest in derjenigen Form, in welcher sich Dilthey und Rickert mit dieser Frage auseinandersetzen mussten, zu erledigen. Hatte sich Husserl im ›Logos-Aufsatz‹ noch durch die moderne Lebens- und Weltanschauungsphilosophie zur Stellungnahme für ›strenge Wissenschaftlichkeit‹ herausgefordert gefühlt, so meinte er seit der so genannten transzendentalphilosophischen Wende nach den ›Ideen I‹, für seine Phänomenologie den Anspruch auf Letztbegründung erheben zu können. Inwiefern er diesem Anspruch gerecht wurde, kann hier nicht disku49 tiert, aber offensichtlich durchaus kritisch gesehen werden. Die Gewissheit, eine sichere Ausgangsbasis für die Konstitution des Wissens in der ›transzendentalen Epoché‹ gefunden zu haben, ließ Husserl zuletzt selbst eine Lösung der Krise der europäischen Kultur mit phänomenologischen Mitteln in Angriff nehmen. Darin, dass durch die Begründung der modernen Wissenschaften seit Galilei – genauer den theoretischen Phänomenen, die sich hinter den Begriffen des ›Objektivismus‹ und ›Naturalismus‹ verbargen – das in der Antike begründete umfassende Vernunftverständnis entstellt wurde, sah er den Ursprung dieser Krise angelegt. Zum Zweck ihrer Lösung betätigte sich Husserl als »intentionalanalytischer Philosophiehistoriker« (Orth 1999: 62), um exakte Aufklärung über jene Sinnveränderungen zu gewinnen, durch welche die Wissenschaften die »einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt ― unsere alltägliche Lebenswelt« (Hua VI: 49) entstellt hatten. Dies schien ihm die Vorbedingung für die Wiedergewinnung der ursprünglichen, lebensweltlich gesättigten Sinnfundierungsprozesse und somit für die Umgestaltung der Lebenswelt zu sein. Freilich blieb Husserl auch in dieser Frage stets ›auf dem Weg‹.

49 Siehe Mertens (1996: 10ff.), der diese Fragestellung zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht hat.

Zw isc he nbetrac htung: Die ›philosophischen‹ Alternativen zur Lös ung der ›Krise des Wisse ns‹

Im folgenden Kapitel sollen die zuvor dargelegten alternativen philosophischen Axiomatiken kontrastiv im Hinblick auf ihr jeweiliges theoretisches Potential zur Lösung des ihnen gemeinsamen Ausgangsproblems einer Begründung des geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens resümiert werden. Dieser Zwischenschritt, in dem die jeweiligen theoretischen Stärken und Schwächen der drei erläuterten Varianten einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ gegeneinander ausgewogen werden sollen, dient als Vorbereitung der im dritten Teil zu entfaltenden ›soziologischen Kritik der philosophischen Vernunft‹. Hierbei soll es darum gehen, die epistemologische Grundlegung der modernen Soziologie durch Simmel, Weber, Mannheim und Schütz vor dem Hintergrund der bereits skizzierten Grundlegungsansätze zu lesen. Die bei diesem Unterfangen in Anspruch genommenen Einschätzungs- und Bewertungskriterien sollen sich an den im ersten Teil der Studie herausgestellten, wissenschaftsgeschichtlich tradierten Problemkomplexen einerseits sowie an den von diversen zeitgenössischen philosophischen Richtungen anvisierten Lösungshorizonten orientieren. Die zunächst umständlich erscheinende Maßnahme, zur Entwicklung von Beurteilungskriterien auf den historisch-thematischen Entstehungszusammenhang der Grundlegungsproblematik zurückzugreifen, gebietet jedoch nicht nur der sich im Zuge der Entdeckung der Textualität der Geschichte seit nunmehr drei Jahrzehnten herausgebildete Methodenkonsens, sondern im vorliegenden Spezialfall insbesondere der Sachverhalt, dass in der Gegenwart äußerst divergierende Meinungen nicht nur über die Relevanz der Grundlegungsproblematik schlechthin vorherrschen, sondern in noch höherem Maße auch die im letzten Teil herausgestellten Grundlegungsansätze höchst unterschiedliche Einschätzungen erfahren.

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Unsere Rekonstruktion der lebensphilosophischen, neukantianischen und phänomenologischen Wissenssystematik sollte nicht zuletzt durch ihre inhaltliche, sondern ebenso durch die formale Charakterisierung der jeweils gegebenen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten die Komplexität der Aufgabe einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ aufgedeckt haben. Das vermeintliche Scheitern an dieser etwa mit ›systematischem Unvermögen‹ oder gar mit ›intellektueller Schwäche‹ zu verwechseln, würde ein hohes Maß an historischer und sachlich-thematischer Ignoranz offenbaren, welcher wir durch die ausführlichen historischen Ausführungen im einführenden problemgeschichtlichen Kapitel vorbeugen wollten. Es ist zweifelsohne nicht dem Zufall zuzuschreiben, dass sich in formaler wie inhaltlicher Hinsicht zwischen den drei behandelten Autoren bemerkenswerte Parallelen resümieren lassen. (1) Zunächst zeichnen sich ihre jeweiligen Begründungsunternehmen dadurch aus, dass sie in zeitlicher und systematischer Richtung offen angelegt waren. Alle drei Philosophen widmeten der Aufgabe der Begründung nichtnaturwissenschaftlichen Wissens den Hauptteil ihrer akademischen Karriere und nahmen dabei zugunsten der forschenden Arbeit auch die akademischen Nachteile mehrjähriger Publikationspausen in Kauf. (2) Eine hohe Sensibilität für die Tragweite des Grundlegungsprojekts kommt bei allen Autoren darin zum Ausdruck, dass ihre systematischen Hauptwerke in den Titeln jeweils nur »Einleitungen«, »Einführungen«, »Beiträge« und »Ideen zu…« ankündigten. Obgleich diese Titulierungen in inhaltlicher Hinsicht als Verharmlosungen bewertet werden dürfen, bezeugen sie jedoch übereinstimmend die Einschätzung, dass sich die philosophischen Probleme nicht mit einem einzigen ›großen Wurf‹ erledigen ließen. Jene ›Einleitungen‹ skizzierten vielmehr ein jeweils unterschiedlich aufgefächertes Spektrum von zu lösenden philosophischen Aufgaben, die – insbesondere im Falle von Diltheys ›Einleitung‹ und Husserls ›Krisis‹ – philosophie- und problemgeschichtlich abgeleitet wurden. (3) Von keinem der behandelten Autoren lässt sich uneingeschränkt behaupten, dass er zu Lebzeiten zu einer abschließenden Darstellung seiner anvisierten Gesamtsystematik gelangt wäre. Dessen ungeachtet bleibt dennoch festzuhalten, dass ihre Grundansätze jeweils schulbildend gewirkt haben und eine Erbmasse an philosophischen Einsichten und Fragen hinterlassen haben, die noch gegenwärtige Debatten anregen. Bevor wir zur ausführlichen vergleichenden Auseinanderlegung des Grundlegungspotentials der einzelnen Systeme voranschreiten, können zunächst noch einige inhaltliche Kongruenzen herausgestellt werden. (1) Rekapituliert man die rhetorischen Figuren, die von Dilthey, Rickert und Husserl benutzt wurden, um das Projekt einer Grundlegung des geisteswissenschaftlichen Wissens zu legitimieren, so fällt auch in dieser Hinsicht eine weitgehende Übereinstimmung ins Auge. Die oben für den jeweiligen Einzelfall explizierte Krisensemantik bezog sich weit über er-

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kenntnis- und wissenschaftstheoretische Kontexte hinaus auf die kulturellen Grundfesten Europas. Zu dem semantischen System dieses Diskurses gehört darüber hinaus die Rede von »Selbstbesinnung«, womit jeweils eine Überwindung der Krisenkonstellation durch einen radikalen Rückgang auf eine philosophisch unbeachtet gebliebene Gegenstandsdimension angezeigt wurde: ›Leben‹, ›Wert‹, ›Phänomene‹. Sie divergieren naturgemäß in der Gestaltung der zur Krisenbewältigung notwendigen philosophischen Mittel. Wie Bollenbeck dargelegt hat, stützt sich diese Rhetorik auf ein Deutungsmuster, das sich bis tief in das 20. Jahrhundert hinein im Kreise deutscher Intellektueller und insbesondere geisteswissenschaftlicher Akademiker weit verbreitet fand. Ein zentrales Element dieser Interpretationsmatrix bildete der Glaube an die universale, also auch gesellschaftliche Wirksamkeit von ›Wissen‹ und ›Wissenschaft‹, der vollends durch die sich 1 1933 in Deutschland ereignenden Begebenheiten erschüttert wurde. (2) Eine weitere Entsprechung zwischen unseren Protagonisten äußert sich in einem – jeweils in unterschiedlichem Maße vorliegenden – Festhalten an dem älteren Systemanspruch der philosophischen Letztbegründung. Eine Identifizierung von Systematik mit Letztbegründung wurde spätestens mit Kant zu einer theoretischen Norm des Philosophierens. Es wird jedoch gleich zu erweisen sein, inwiefern man in Dilthey, Rickert und Husserl bereits die Wegbereiter »nachmetaphysischen Denkens« (Haber2 mas) vernehmen kann. Erinnert sei hier zunächst nur an Rickerts Konzeption eines ›offenen Systems‹, in der eine gewisse Abwendung von dem traditionellen Anspruch bereits anklingt. (3) Erwähnt werden soll an dieser Stelle auch die merkwürdige Koinzidenz, dass allen drei Autoren, trotz ihrer deutlich ausgewiesenen Letztfundierungsintention, das wirkungsgeschichtliche Schicksal beschieden war, zu Urhebern des Relativismusproblems und der ›Krisis der Wissenschaft‹, zu deren Überwindung sie explizit angetreten waren, gebrandmarkt worden zu sein. Die hier aufgezählten Parallelen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dilthey, Rickert und Husserl heterogene philosophische Schulrichtungen begründet haben und ihnen in systematischer Hinsicht ein jeweils eigentümliches und jeweils nur für sich zu betrachtendes theoretisches Potential eigen ist.

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Die Wirkmächtigkeit dieses Deutungsmusters findet sich vielleicht auf dramatischste Weise in Husserls festem Glauben an das Selbstheilungspotential der Wissenschaft dokumentiert, der noch zu einem Zeitpunkt an der ›KrisisSchrift‹ zu arbeiten begann, als er bereits gravierende persönliche Repressalien zu erdulden hatte. Siehe dazu Sepp (1988: 345f.). Jozef Keulartz (1994: 9) hat die These vertreten, dass alle vier von Habermas aufgeführten Kriterien für ›postmetaphysisches Denken‹ bereits bei Dilthey vorlagen. Ähnlich auch de Mul (1996: 80).

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Im Folgenden soll nun in metatheoretischer Einstellung der Versuch angestrengt werden, die drei behandelten Grundlegungssysteme nebeneinander zu stellen. Dabei kann es nicht darum gehen, abschließende Bewertungen vorzunehmen, sondern vielmehr die jeweiligen theoretischen Kernargumente, die damit notwendig zusammenhängenden Lücken und argumentativen Leerstellen zu akzentuieren. Über diesen Umweg, so zumindest die Hoffnung, können die Anforderungen und Schwierigkeiten, die mit dem Bemühen um die theoretische Fundierung geisteswissenschaftlichen Wissens verbunden sind, beleuchtet werden. Ein solcher metatheoretischer Diskurs lässt sich ansatzweise auch aus der Rezeptionsgeschichte heraus konstruieren, in der gelegentlich etwa die Frage nach der theoretischen Möglichkeit einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ aufgeworfen wurde. Aktuelle Interpretationen zu den diesbezüglichen Problemstellungen werden von daher zu berücksichtigen sein. Wie aus der obigen Darstellung ersichtlich wurde, unterschrieben Dilthey, Rickert und Husserl allesamt die Forderung nach einer neuen, d.h. über Kant hinausweisenden, Vernunftkritik. Dilthey muss als Inaugurator der Forderung einer genuin historischen Vernunftkritik gelten. Jedoch verbarg sich auch hinter Rickerts Formel einer »Kritik des Kritizismus« (PA: 351, 409) der Anspruch einer umfassenden Revision der Kantischen Vernunftkritik im Sinne einer gegenstandstheoretischen Ausweitung auf das Gebiet der praktischen Vernunft. Eine solche »Kritik der praktischen Vernunft« (Hua II: VII) wurde explizit auch von Husserl eingefordert. Die Entwicklungen, welche diese Programmatiken in ihren Ausführungen jeweils zeitigten, lassen die grundsätzliche Frage nach der theoretischen Anoder sogar Vermessenheit eines solchen Unterfangens als durchaus angebracht erscheinen. Stephan Otto hat seit den 1970er Jahren wiederholt die Frage nach der theoretischen Durchführbarkeit einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ aufgeworfen (1974; 1982; 1988; 1992) und sogar von einer »hundertjährigen Geschichte ihres eigenen Nicht-Gelingens« (1988: 38; 1992: 9) gesprochen. Blickt man auf einige Passagen der zu diesem Punkt geführten Debatten, so lässt sich etwa bemerken, dass in der zentralen Frage, in welchem Verhältnis eine historische Vernunftkritik überhaupt zur reinen, theoretischen Vernunftkritik steht, Uneinigkeit vorherrscht. Auf der einen Seite behaupten Autoren wie Baumgartner etwa kategorisch, dass die historische Vernunftkritik innerhalb des Rahmens der »Kantischen Tradition der Transzendentalphilosophie« (1976: 274) verbleiben müsse. Ähnlich wie bereits Dempf, der in der »Durchführung der Kritik der historischen Vernunft ein paradoxes Unternehmen« (1957: 9) erblickte, ist auch Baumgartner der Ansicht, dass diese Idee von vornherein auf einer »Aporie« (1981: 42) aufruht. Demgegenüber erachtete bereits der Dilthey-Schüler Georg Misch die historische Vernunftkritik als ein »Gegenstück zu Kants Kritik der reinen Vernunft!« (1984: 135) Noch 1992 erwiderte Otto ge-

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genüber Dempf, dass das »Unternehmen einer Kritik der historischen Vernunft [durchaus; D.Š.] Aussicht auf Erfolg (hat)« (1992: 12). Dabei räumte er gleichwohl ein, dass der von Dilthey anvisierte Weg zu diesem Ziel einiger formaler wie inhaltlicher Korrekturen benötigen würde. Diese grobe Skizze verleiht der Feststellung Jensens, dass die Formel einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ häufig »a source of misunderstanding« (1978: 435) wurde, einige Plausibilität. In der Gegenwart scheint man sich völlig uneins, ob und in welcher Form das Bestreben einer allgemeinen Theorie des geisteswissenschaftlichen Wissens als anstrebenswert erachtet werden soll. Eine systematische Annäherung an eine metatheoretische Gegenüberstellung der lebensphilosophischen, neukantianischen und phänomenologischen Grundlegungssystematiken soll in einem ersten Schritt über die Betrachtung der wechselseitigen Stellungnahmen und Debatten, die teilweise noch von deren Initiatoren selbst inauguriert und dann durch die Generation der unmittelbaren Schüler fortgesetzt wurden, versucht werden. Dabei sollen diejenigen Argumente und Kategorien, welche zur wechselseitigen Abgrenzung aufgeführt wurden, markiert werden, um auf diese Weise die elementaren Spannungslinien einer Theorie des geisteswissenschaftlichen Wissens herausfiltern zu können.

Ab g r e n z u n g s l i n i e n z w i s c h e n L e b e n s p h i l o s o p h i e , Neukantianismus und Phänomenologie Angesichts der Vehemenz und Persistenz, mit welcher sich die Vertreter 3 des Badischen Neukantianismus gegen Dilthey richteten , scheint es fast verwunderlich, dass weder seitens Dilthey persönlich noch einem seiner Epigonen eine systematische Abrechnung mit Rickert und Windelband 4 angestrengt wurde. Wir hatten oben diesbezüglich bereits spekuliert, dass auch strategische Gründe hier mitgespielt haben könnten, die Dilthey zur 5 Zurückhaltung bewegten. Schließlich war er bereits von mehreren Seiten aus attackiert worden. Indessen wurde die Auseinandersetzung mit der 3 4

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Hermann Cohen schrieb 1895 an Paul Natorp über Dilthey: »Der Kerl ist mir widerwärtig« (Lembeck 1996: 60). Dilthey hatte erst nach 1902, dem Jahr, in welchem Rickerts ›Grenzen‹ erstmals vollständig erschienen war, detaillierte Bekanntschaft mit dessen Gedankenweg gemacht, von dem er sich im Übrigen offenbar durchaus angeregt zeigte (vgl. Kühne-Bertram 2004: XV, XLII). In den mittlerweile zugänglich gemachten Aufzeichnungen zu Rickerts Wertphilosophie kommentiert Dilthey insbesondere Rickerts transzendentalphilosophisches Wertverständnis, dessen Urteilstheorie sowie einige Prämissen von dessen Begriffsbildungstheorie (GS XXIV: 272ff.). Er beschäftigt sich also mehr mit philosophischen Detailfragen als der grundsätzlichen (transzendental)philosophischen Ausrichtung des Badischen Neokantianismus. Siehe oben S. 108.

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Phänomenologie zum Hauptereignis der lebensphilosophischen Wirkungsgeschichte (Rodi/Lessing 1984: 15). Möglicherweise sahen Dilthey und seine Adepten aus demjenigen Grund keine dringende Veranlassung zu einer Replik gegenüber den Neokantianern, weil sie selbst auf eine, zumindest äußerlich vernehmliche, Berufung und Assoziation mit der Kanti6 schen Philosophie verweisen konnten. Dilthey selbst wäre wohl auch nicht an Husserl zum Zweck eines inhaltlichen Austauschs herangetreten, wenn dieser ihm nicht durch die Rubrizierung zu den ›Weltanschauungs7 philosophen‹ im ›Logos-Aufsatz‹ einen direkten Anlass geliefert hätte. Auf Diltheys im Ton gemäßigte, inhaltlich jedoch bestimmte Erwiderung reagierte Husserl auch prompt mit einem Rückzug und dem Versprechen, 8 eine entsprechende Richtigstellungsnotiz im ›Logos‹ erscheinen zu lassen. Sein Entgegenkommen hatte für eine Zeit die Verwischung der von Dilthey durchaus, wenn auch zaghaft, angedeuteten prinzipiellen Differenzen zwischen den beiden Ansätzen zur Folge, so dass eine den Namen verdie9 nende Auseinandersetzung zwischen Dilthey und Husserl unterblieb und der nachfolgenden Generation überlassen blieb. Diese begann mit einem programmatisch gerichteten Aufsatz Georg Mischs mit dem Titel ›Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften‹, der erstmals 1924 und zwei Jahre später nochmals an prominenterer Stelle, in den ›Kant-Studien‹, erschienen war. Darin fixierte der Schwager Diltheys die Besonderheit des lebensphilosophischen Ansatzes Diltheys vis-à-vis den bedeutendsten zeitgenössischen Alternativkonzeptionen. Das Spezifikum einer lebensphilosophischen ›Kritik der historischen Vernunft‹ bestimmte er als die Verbindung zwischen systematischer und historischer Einstellung des Philosophierens. Diese seiner Meinung nach fruchtbare »Wechselbeziehung des historischen und des systematischen Denkens« (Misch 1984: 134) sei von »Rein systematisch gerichteten, von der eigentlichen Historie unberührten Vertretern der Philosophie unter den Zeitgenossen, Husserl und Rickert«, nicht nur verdrängt worden, sondern vielmehr hätten diese »eine Kluft zwischen systematischem und historischem Philosophieren aufgetan« (ebd.). Seine Intervention war darauf aus, »den Bund der systematischen Philosophie mit der Historie« als einen notwendigen und effektiven »Versuch einer Erneuerung der philosophischen Systembildung überhaupt« (ebd.) zu etablieren. Sie richtete sich im Allgemeinen gegen die von Kant inaugurierte Form des

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Damit könnte für die Dilthey-Schule ähnliches gelten wie auch für Husserl, von dem Iso Kern (1964: 375) behauptete, dass er sich Kant viel näher gefühlt habe als Rickert. Der Briefwechsel findet sich im Briefwechsel Husserls dokumentiert (Hua Dok III/6: 43-53). Diese war nie erschienen. Diltheys Notizen zu den ›Logischen Untersuchungen‹ fanden sich im Nachlass und wurden 2004 veröffentlicht (GS XXIV: 304ff.).

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Philosophierens, welche theoretische und praktische Vernunft, »Logos und Ethos« (ebd., 137), voneinander schied. Das Mittel, welches die Lebensphilosophie zur Überwindung dieses Dualismus in Stellung brachte, war »eine Erweiterung der logischen Fundamente« (ebd., 142, 146) der Wissenschaft. Die von Windelband und Rickert gewählte Alternative einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung auf der Grundlage eines »rein formal fassbaren, sachlich unbelasteten, bloß diskursiven Gegensatz(es) zweier möglicher Auffassungsrichtungen« (ebd., 145) erschien für Misch als eine halbherzige Scheinlösung der Grundlegungsproblematik. In einem Sinne, der nicht allzu weit von Mischs Antizipation entfernt lag, unterschied Rickert wirklich zwei »Arten der Philosophie« (PA: 330). Wenn er in einer seiner letzten Publikationen, ›Wissenschaftliche Philoso10 phie und Weltanschauung‹ , zwischen der nach außerwissenschaftlicher Weltanschauung strebenden Philosophie einerseits und einer theoretischen, wissenschaftlichen Philosophie andererseits differenzierte (ebd.), so lag dieser Unterscheidung diejenige zwischen ›Ethos‹ und ›Logos‹ zugrunde. Damit wäre eine prinzipielle Scheidelinie zwischen einer lebensphilosophischen und neukantianischen Taxonomie benannt. Sowohl die Lebensphilosophie Diltheyscher Ausprägung als auch die Phänomenologie wurden von Rickert zur Gruppe der nichtwissenschaftli11 chen Weltanschauungsphilosophien gezählt (PhdL: 46). Die Frage, was Rickert über die Möglichkeit einer Verbindung von systematischer Philosophie und Historie hielt, ist leicht beantwortet: »Historische Philosophie gibt es nicht« (ebd., 49). Freilich ist auch diese lapidare Formulierung nicht absolut zu nehmen, denn damit war zunächst nur gesagt, dass es aufgrund der Eigenart der Geschichte an sich »unmöglich ist, die geschichtliche Welt zum Kosmos im philosophischen Sinn auszugestalten« (ebd., 50). Anstatt einer Explikation der Eigenart des Geschichtlichen zu geben, verwies er auf seinen in den ›Grenzen‹ systematisch ausgeführten Standpunkt. Es ist jedoch unschwer nachzuvollziehen, dass eine Methode der historischen Einfühlung in die Geschichte, die Rickert dem Diltheyschen Zugang unterstellte, mit dem Standpunkt, dem zufolge die historische Wirklichkeit ›irrational‹ und ihre strukturierende Erfassung ausschließlich über wertbeziehende Stellungnahmen seitens des Historikers anzustellen sei, nicht zu vereinbaren war. Mit seinem Einwurf des »Intuitionismus« (ebd., 46) hatte Rickert damit einem schon fast als klassisch zu bezeichnenden kritizistischen Grundargument gegenüber lebensphilosophischen und auch phänomenologischen Denkstilen den Weg geebnet. Dieses Motiv wurde in modifizierter Form von Rickerts Schüler, Rudolf Zocher, gegenüber dem »intuitionistischen Ontologismus« (1932) ins Feld geführt und

10 Der Aufsatz erschien 1933 im ›Logos‹ (PA: 325-346). 11 Eine Erwiderung gegen Rickerts Kritik der Lebensphilosophie hat der Dilthey-Schüler Max Frischeisen-Köhler (1921) vorgelegt.

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nun explizit auch auf Husserls Phänomenologie ausgeweitet. Kürzlich wurde es auch von Krijnen wieder den diversen Varianten der phänomenologischen Philosophie entgegengehalten (2001: 428f.). Rickert selbst hatte Husserls Ansatz zunächst noch weitgehend aus seiner Grundkritik ausgespart, obgleich er sie gewissen lebensphilosophischen Beweggründen und somit auch »den weit verbreiteten intuitionistischen Tendenzen unserer Tage« verwandt sah (PA: 114; PhdL: 28ff.). Er rechtfertigte seine Nichtbeschäftigung mit Husserls Phänomenologie stets damit, dass er aus dessen Schriften noch keinen systematischen Zusammenhang erkennen könne (PhdL: 50; PA: 114). Husserls Stellungnahmen zu Rickert beschränkten sich überwiegend auf unveröffentlicht gebliebene Notizen und Manuskripte, die schließlich von Kern (1964: 374ff.) in seiner bekannten Studie analysiert und systematisiert wurden. Dennoch sind einige Einwürfe Husserls dazu geeignet, auf systematische Grenzlinien zwischen Neokantianismus und Phänomenologie hinzudeuten. Einschränkend muss dabei vorausgeschickt werden, dass sich Husserl wohl nicht mehr mit Rickerts Spätphilosophie beschäftigt hat, sondern in erster Linie mit dessen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die dieser in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts publiziert hatte (ebd., 375). Wie Kern analysiert hat, urteilte Husserl des Öfteren vorschnell über Rickerts Konzepte und deren philosophischen Gehalt (ebd., 380, 383f., 410f.). Mit Rickert wähnte sich Husserl zwar durchaus einig darin, dass »sich eine Wissenschaft der wahren Erkenntnis nicht auf eine Analyse der Erlebnisse beschränken kann, sondern ein diesen Erlebnissen gegenüber Transzendentes in die Untersuchung einbeziehen muss« (ebd., 383). Kern merkte aber gleichwohl an: »In der Bestimmung dieses Transzendenten [...] will er aber ihm nicht folgen« (ebd.). Im Ganzen besehen, können Husserls Einwände gegenüber Rickerts Grundlegungskonzeption als ein Abarbeiten an Rickerts Begriff von Transzendentalität resümiert werden. Bereits die für die begriffsphilosophische Ausgangsproblematik charakteristische Figur eines ›Hiatus‹ zwischen ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ war für Husserl offenbar verfehlt: ›Rickert tut so, als ob vorweg eine Welt vor der Erkenntnis wäre, und die Erkenntnis eine umformende Auffassung wäre‹ (ebd., 405). Er hielt noch weiter dagegen: ›Man kann nicht der Erkenntnis voranstellen eine an sich seiende Welt unendlicher Mannigfaltigkeiten und zwar als eine noch völlig unerkannte, um nachher nach subjektiven Mitteln zu fragen, mittels deren subjektive menschliche Interessen, genannt ›theoretische‹ zu befriedigen seien. Denn an sich seiende Welt mit an sich seienden unendlichen Mannigfaltigkeiten von Seinsbestimmungen hat überhaupt erst einen möglichen Seinssinn aus gewissen Leistungen, die da Erkenntnisleistungen heissen; ihr wahres Sein besagt nichts anderes und nur in korrelativem Ausdruck denn ihre prinzipielle Erkennbarkeit‹ (ebd.).

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Husserl hatte zum Zeitpunkt dieser Äußerung bereits damit begonnen, die ›Lebenswelt‹ zum Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Erklärungen zu nehmen. Vor diesem Hintergrund musste ihm Rickerts transzendentalwertphilosophische Konstitutionstheorie unumgänglich als »eine in der wissenschaftlichen Erkenntnis entworfene Idee« (ebd., 407) vorkommen. In Husserls Einstellung erschien die natürliche Wirklichkeit (der Lebenswelt) nicht als ›irrational‹ wie bei Rickert, sondern »als ein völlig rationales Gebilde« (ebd., 410). Aus dieser Kurzbeschreibung dringt eindeutig hervor, dass sich – aus der Perspektive Husserls – hier zwei unvereinbare Relationsbestimmungen von Immanenz und Transzendenz, symptomatisch jeweils für die neukantianische und phänomenologische Neuformulierung des transzendentalen Idealismus, unvermittelbar gegenüberstanden. Husserls Polemik gegenüber dem Rickertschen Kritizismus kulminierte schließlich – unter ausführlicher Berufung auf Kant – in dem Vorwurf einer ›formalistischen Veräußerung der Kantischen Gedanken einer transzendentalen Deduktion‹ (ebd., 419f.). Wir werden auch diesen Hinweis aufnehmen und in der weiteren Diskussion in diesem Kapitel unser besonderes Augenmerk auf das Spannungsverhältnis zwischen Transzendenz und Immanenz bzw. »Apriori und Empirie« (Otto 1988: 59) zu richten haben. Nach der bisherigen Übersicht der unmittelbaren wechselseitigen Stellungnahmen der Protagonisten der drei im Vorfeld rekonstruierten Ansätze mag derjenige Leser, der eine Reduktion der in den vorausgegangenen Kapiteln hergestellten theoretisch-konzeptuellen Komplexität erwartet hatte, zunächst enttäuscht sein. Es bleibt bisher festzuhalten, dass, trotz der häufig bemerkten Übereinstimmung in der programmatisch-weltanschaulichen Ausrichtung, in der Regel scharfe Grenzlinien zu den benachbarten Grundlegungsaxiomatiken gezogen wurden. Über die stark empfundenen Differenzen täuscht die Kongruenz insbesondere in der programmatischen Begriffswahl einerseits, wie insbesondere auch die Korrespondenz in der Verwendung von analogen, teils aus der philosophischen Tradition herrührenden, teils spezifisch zeitgenössisch gefärbten, neologistischen Wendun12 gen , hinweg. Aus diesem Grund sollen die hierbei besonders ausschlaggebenden Schlagwörter des Diskurses nochmals gesondert und jeweils aus den drei unterschiedlichen Blickwinkeln unter die Lupe genommen werden. 12 Ströker hat in erster Linie in Bezug auf das Verhältnis zwischen Lebensphilosophie und Phänomenologie dargelegt, dass »solche Schlüsselbegriffe wie Erlebnis und Leben, Anschauen und Denken, Wissen, Erkenntnis und Einsicht sowie nicht zuletzt Ausdruck und Bedeutung, Auslegung und Verstehen und letztlich auch Sinn und Sein hüben wie drüben Leitlinien der Forschung bestimmten« (1997/98: 152). Im Hinblick auf Phänomenologie und Neukantianismus hatte Fink auf eine »gewisse Gleichförmigkeit der kompositorischen Elemente in der kritizistischen und phänomenologischen Systematik« (1933: 333) aufmerksam gemacht.

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1. Historizität Die existentielle Schicht der ›Geschichtlichkeit‹ hat durch Diltheys programmatische Formulierung einer an Kant angelehnten ›Kritik der historischen Vernunft‹ auf wirkmächtige Weise Eingang in die systematische Philosophie und Wissenstheorie gefunden. In diesem Sinne resümierte etwa Bollnow die Bedeutung Diltheys für die Philosophiegeschichte: »Diese Vereinigung einer Philosophie des Lebens mit dem Problem der Geschichte ist die eigentümliche und entscheidende Leistung Diltheys« (1936: 13 24). Aus den Stellungnahmen der oben referierten Autoren ging schon hervor, dass sich in den jeweiligen Auffassungen über die Möglichkeit einer systematischen Verbindung von Geschichte und Systematik eine Oppositionslinie zwischen Lebensphilosophie auf der einen Seite und Phänomenologie und Neukantianismus auf der anderen, ziehen lässt. Dieses Bild darf allerdings nicht zu dem Fehlschluss führen, dass etwa Rickert und Husserl zur Thematik der Geschichtlichkeit, welche die »Lebensphilosophie als ihre ureigenste Domäne reklamierte« (Ströker 1997/98: 153), nichts wesentliches zu sagen gehabt hätten. Für den Fall der Husserlschen Phänomenologie ist die schon lange vermutete Abkunft der späten ›Wende zur Geschichte‹ und Lebenswelt von Diltheys Lebensphilosophie mittlerweile bereits sogar wieder als Vorurteil entlarvt. Spätestens mit der Einführung der ›genetischen‹ Perspektive, wenn nicht schon mit den Arbeiten zur Phänomenologie der Zeit, wurde ›Geschichtlichkeit‹ zum Thema der Phänomenologie. Und auch Rickert grenzte die »Heidelberger Tradition« des Kritizismus von der Kantischen Variante unter Rekurs darauf ab, dass bei letzterer »das Prinzip des geschichtlichen Denkens nicht zu vollem Rechte kommt« (PA: 354). In der Tat tragen Windelband und Rickert maßgeblichen Anteil daran, dass in der wissenschaftstheoretischen Debatte seit Ende des 19. Jahrhunderts für eine lange Zeit die Geschichtswissenschaften das Paradigma einer empirischen Einzelwissenschaft abgaben und die Debatten um eine methodologische Eigenständigkeit der Kulturwissen14 schaften auf dem Terrain der Geschichte ausgefochten wurden. An dieser Stelle soll versucht werden, anhand aktueller metatheoretischer Stellungnahmen zu dieser Problematik ein schärferes Bild zu zeichnen. Will man die drei Philosophien als unterschiedliche Varianten einer Philosophie der Geschichte im Sinne einer systematischen Endogenisierung der Geschichtlichkeit in den Kontext einer allgemeinen Wissensaxiomatik einander gegenüberstellen, so fällt zunächst die neukantianische Spielart etwas aus dem Rahmen, da sie wirkungsgeschichtlich auf dem 13 Dass in Diltheys Diskussion mit dem Grafen Yorck Geschichtlichkeit »erstmals zu einer philosophischen Kategorie ausgeformt« wurde, hat auch Scholtz (1996: 9) beschrieben. 14 Von der »Emergenz der Soziologie aus den historischen Wissenschaften« (2002: 11) hat kürzlich auch Jean Clam gehandelt.

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Feld dieser spezifischen Problemgeschichte – im Gegensatz zu den beiden Konkurrenzprojekten – nicht viel zu bestellen hatte. Die von Windelband und Rickert entwickelte Geschichtslogik spielt symptomatischer Weise auch heute für die gegenwärtigen Debatten keine Rolle. Ein solches Resümee spiegelt sich auch eindeutig in den aktuellen Publikationen zum Neokantianismus wider, in welchen der genuin geschichtliche Aspekt der wertphilosophischen Wissensbegründung keine gesonderte Beachtung er15 fährt. Der ausbleibende wirkungsgeschichtliche Ausschlag ist nicht ausschließlich mit dem Hinweis auf die zeitgenössische Wirkung von Heideggers ›Sein und Zeit‹, unter welche insbesondere die Reputation des Neukantianismus zu leiden hatte, zu erklären, sondern hat bestimmte systematische Gründe, die hier zumindest grosso modo expliziert werden sollen. Wir können zusammenfassend folgende Gründe differenzieren: (1) Durch den von Kant geerbten, dualistischen Erkenntnisbegriff, der von Rickert auf das Feld des historischen Erkennens übertragen wurde, und der entsprechenden Ausgestaltung der epistemologischen Ausgangsproblematik der historischen Wissenschaften in Gestalt eines ›Hiatus irrationalis‹ zwischen ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹, wird der Anspruch des ›historischen Realismus‹ auf Wiedergabe des Wirklichen in ihrer vollen Konkretion von Beginn an abgelehnt. Das Problem der Erkenntnis des ›Wirklichen‹ wird zu einem solchen der Begriffsbildungslogik deklariert. Das von Windelband eingeführte Etikett einer ›Wirklichkeitswissenschaft‹ zur Charakterisierung der Gegenstandsdimension der Kulturwissenschaften erweist sich von daher als unangemessen, wie Rickert später selbst eingestanden hatte. In der neukantianischen Lösung, so könnte man konkludieren, wird das Spannungsverhältnis zwischen Erkenntniswirklichkeit und Erkenntnisform einseitig zuungunsten der Wirklichkeitserkenntnis aufgelöst. (2) Die Formung des Wirklichkeitsbildes kommt in Rickerts Konzeption durch Wertbeziehung zustande. Darin kann man zunächst noch eine gewisse, über Werte vermittelte Anerkennung der historischen Kontexte des Erkennenden einerseits sowie des Erkenntnisgegenstandes andererseits deuten. Durch das unmittelbar angeschlossene Postulat der Begrenzung auf ›objektive‹ Kulturwerte wird aber im nächsten Schritt – plakativ gesprochen – das Eigenrecht der Gegenstandsseite nochmals radikal beschnitten. Das Definitionsrecht über die wissenschaftlich würdigen Werte wird schließlich sogar aus dem Bereich der Einzelwissenschaft selbst exkludiert und einer eigens begründeten philosophischen Disziplin, der Philosophie der Werte, zugeeignet.

15 Mit Abstrichen kann vielleicht der von Kreiter (2002) dargebotene Vergleich von Hegels und Windelbands Stellungnahme zum ›Problem der Geschichte‹ als Ausnahme gelten. Jedoch geht daraus nicht der Grund für die systematische Schwäche der wertphilosophischen Auflösung dieses Problems hervor.

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(3) Innerhalb des Rahmens dieser Wertphilosophie, deren ausgezeichnetes Ziel die Generierung einer Werteaxiomatik war, erhielt die ›Geschichte‹ eine bestimmte Relevanz zugesprochen. ›Geschichte‹ wurde wiederum an einen anderen Begriff gebunden, nämlich an denjenigen des ›Kulturguts‹. Aus der Perspektive des Wertphilosophen ähnelt ›Geschichte‹ damit einem weiten Feld von Kulturgegenständen (im Rickertschen Sinne), von denen einige mit einem allgemeinen, übersubjektiven Wert behaftet sind (›Güter‹). Rickerts prominente Sentenz von der ›Irrationalität‹ der Geschichte reflektiert sich von dieser Warte aus in der Anerkennung der vermeintlichen Gegebenheit, dass dieses Feld forschungspraktisch wie erkenntnistheoretisch unübersehbar und unendlich ist. Daher deklarierte Rickert seine Werteaxiomatik folgerichtig als prinzipiell ›offen‹. (4) Wie weiter unten noch näher auszuführen sein wird, zeichnete sich die Position Rickerts durch eine sehr strikte Trennung von theoretischer und praktischer Einstellung der Wissenschaft aus. Am Ende seiner wissenschaftlichen Beschäftigung veröffentlichte Rickert ein sehr umfängliches, programmatisch gerichtetes Plädoyer gegen die Verbindung von systema16 tischer Philosophie und Philosophiegeschichte. Darin nahm er das von ihm in den ›Grenzen‹ entwickelte Abgrenzungskriterium zwischen Naturund Kulturwissenschaften zur Grundlage und folgerte weiter, dass die Philosophiegeschichte individualisierend und die systematische Philosophie generalisierend ausgerichtet sei (PA: 238). Auch in dieser Frage, welche Rickert im Übrigen nochmals die Gelegenheit ergreifen ließ, heftig gegen Diltheys ›Weltanschauungslehre‹ zu wettern (ebd., 314ff.), blieb ein epistemologisch begründetes Argument ausschlaggebend: »Dort steht die Vergangenheit, hier die Zukunft in Frage. Dieser Gegensatz läßt sich durch nichts überbrücken« (ebd., 316). Als Fazit bleibt insgesamt festzuhalten, dass die begriffslogischwertphilosophische Argumentationslogik, deren erklärter Feind sämtliche Spielarten des Historismus repräsentierten, der ›Geschichte‹ in einem sehr restringierten Sinne zu epistemologischen Würden verhalf. Ernst Troeltsch hat in diesem Sinne bereits eingewandt, dass hier der Geschichte stets etwas »Gespenstisches« anhaftet (1903: 114). Nicht mehr ihr Inhalt wird hier zum Thema, sondern einzig noch ihre Form. Der Schluss liegt nahe zu behaupten, dass mit der neo-kantianischen Problemlösung das Kind des Historismus – die ›Geschichte‹ in ihrer Einmaligkeit und Konkretion – gleichsam mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Rortys Anklage einer »Flucht vor der Geschichte« (1987: 19), die er der traditionellen, im Cartesisch-Kantianischen Rahmen verbleibenden Philosophie vorhielt, ist daher für den vorliegenden Fall vollauf angebracht.

16 Es handelt sich um den Aufsatz ›Geschichte und System der Philosophie‹ aus dem Jahre 1931 (PA: 231-317).

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Weniger eindeutig gestaltet sich die Bestimmung des Verhältnisses der Husserlschen Phänomenologie zur ›Historizität‹. Sie ist seit jeher ein Gegenstand intensiver fachinterner Debatten gewesen. Dabei stand die Frage nach den Beweggründen und Quellen jener ›Wende zur Geschichte und Lebenswelt‹, die Husserl in den 20ern genommen hat, naturgemäß im Vordergrund. Häufig wurde ein später, über Heidegger, der selbst wiederum über den Umweg des Briefwechsels zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck (1923) zur ›Geschichte‹ kam, vermittelter Einfluss Diltheys auf Husserls Spätphilosophie vermutet. Eine über Husserls thematische Neuorientierung hinausgehende theoretische Abhängigkeitsbeziehung zu Diltheys lebensphilosophischem Ansatz lässt sich, so viel kann vorwegge17 nommen werden, nicht deduzieren. Deren Ansätze repräsentieren grundsätzlich zwei eigenständige Versuche der ›Kritik der historischen und praktischen Vernunft‹, was durch eine Gegenüberstellung an dieser Stelle verdeutlicht werden soll. Obgleich bis heute noch immer keine umfassende systematische Vergleichsstudie der beiden Grundlegungsansätze vorliegt, sind in den letzten 18 beiden Dezennien immerhin richtungweisende Schritte getätigt worden. Diese verspätete Zuwendung mag damit erklärbar sein, dass man die Linie, die von der Lebensphilosophie zur Phänomenologie führt, zunächst und an erster Stelle in der Person Heideggers gesehen hat. Für diese Schlussfolgerung spricht unter anderem der Sachverhalt, dass sich auch Georg Mischs einflussreicher Versuch, von der Position des späten Diltheys aus, das Verhältnis von Lebensphilosophie und Phänomenologie zu klären, wesentlich ausführlicher mit der »hermeneutischen« als mit der 19 »transzendentalen Phänomenologie« auseinandergesetzt hat (vgl. Ströker 1997/98: 149f.). In ähnliche Richtung weist auch eine Bemerkung, die sich in dem ersten und bis heute bedeutendsten Beitrag seitens der phänomenologischen Schule (Ströker 1985: 68) findet, deren Verhältnis zur Lebensphilosophie zu bestimmen. Dieses Verdienst gebührt Ludwig Landgrebe, seit 1923 Husserls Privatassistent, der 1927 bei Husserl über Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften promovierte und zu Beginn seiner Arbeit bekannte, dass »die vorliegende Arbeit, was Zielstellung und Lösungswege betrifft, weitgehend durch die Heideggerschen Forschungen 17 In der Regel wird betont, dass sich Husserl aufgrund innerer Notwendigkeiten auf das Feld der ›Geschichte‹ begab (vgl. Bollnow 1985: 53; Lembeck 1988: 10). 18 Siehe u.a. Tillmann (1976), van Kerckhoven (1984), Pfafferott (1985), Ströker (1985), Jalbert (1988), Owensby (1988), Lembeck (1992), Orth (1995), Haardt (1997/98), Hopkins (2001). 19 Diese Terminologie zur Unterscheidung zwischen Heideggers und Husserls Version der Phänomenologie geht auf Pöggeler zurück (1989: 256, 275). Heidegger selbst hatte bereits sehr früh seinen Ansatz gegenüber der Husserlschen Phänomenologie als eine ›phänomenologische Hermeneutik der Faktizität‹ (PhIA: 247) ausgezeichnet.

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bestimmt ist« (Landgrebe 1928: 241). An dieser Stelle, wo eine eingehende Erörterung der Relation von Lebensphilosophie und Fundamentalontologie nur von sekundärem Interesse, sei wenigstens erwähnt, dass man auch in dieser Frage die Position einnehmen kann, welcher zufolge hier nur oberflächliche Bekundungen, aber keine konzeptuellen Verwandtschaftsverhältnisse vorherrschen, wie etwa Boeder (1984: 161) herausgestellt hat. Die weit verbreitete Darstellung, welcher gemäß die Frage der Geschichtlichkeit letztlich den Kernpunkt des Bruchs zwischen Husserl und Heidegger bedeutete, ist von Heidegger selbst tradiert und inszeniert wor21 den. Sie ist aus diesem Grund mit Vorsicht zu genießen. Die Analyse der frühen Vorlesungen und Manuskripte Heideggers bestätigen dieses Bild jedoch bis zu einem gewissen Grad. So hat Kim aus diesen Materialien rekonstruiert, dass Heidegger seit dem Erscheinen von Husserls ›Ideen I‹, in deren transzendentalphilosophischer Ausrichtung er eine ›Wendung Husserls zur Problematik des Neukantianismus‹ (Kim 2001: 31) erblickte, damit begonnen hatte, sich nach philosophischen Alternativen umzuschau22 en. Hauptanstoßpunkt blieb für den jungen Heidegger dabei stets die ›Geschichtslosigkeit der Phänomenologie‹ (HGA 63: 75). In Diltheys Lebensphilosophie habe er schließlich, so Kims Schlussfolgerung, »eine Stütze gegen Husserls Anlehnung an die Systematik des Neukantianismus« (Kim 2001: 31) gefunden. Dieser Hinweis verdeutlicht, in welch hohem Maße zum einen das ›Problem der Geschichte‹ nun – neben den Sozialwissenschaftlern – auch philosophische Köpfe umzutreiben begonnen hatte und zudem, über welche Umwege Dilthey, nachdem er von Husserl und Rickert stets zum »Nur-Historiker« (Misch 1966: 32) degradiert wurde, selbst Vertretern der phänomenologischen Schule nunmehr als richtungweisende Orientierungs23 figur erscheinen konnte. Was steckt hinter Heideggers Anklage der Geschichtsfeindlichkeit der Phänomenologie? Resümiert man die jüngere Literatur zu dieser Frage, so 20 Symptomatisch wird in in Husserls Gutachten der Name Heideggers nicht erwähnt, dagegen jedoch zu Landgrebes »Auffassung des Verhältnisses der Diltheyschen geisteswissenschaftlichen Interpretation zur konstitutiven Phänomenologie und phänomenologischen Psychologie« »ernste Bedenken« angemeldet (Hua Dok III/4: 377f.). 21 Heidegger überlieferte jene oft rezitierte Anekdote, aus der angeblich Husserls zurückhaltendes Verhältnis zur Geschichte hervorgehen würde. Husserl soll seinem jungen Schüler während eines Gesprächs über einen anstehenden Vortrag, den Husserl 1922 in London zu halten hatte, auf dessen Frage nach der Rolle der Geschichte darin geantwortet haben: ›Ach, die habe ich vergessen‹ (Lembeck 1988: 9). Siehe zu diesem wissenschaftshistorischen Kapitel die Ausführungen bei Pöggeler (1989: 255ff.). 22 Siehe hierzu bereits die bedeutende Studie von Tugendhat (1967: 264ff.). 23 Freilich konnte dies erst nach der Veröffentlichung der entsprechenden Materialien aus dem Heidegger-Nachlass zum Vorschein treten.

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wird in jedem Fall deutlich, dass diese noch heute nicht endgültig geklärt ist. Makkreel hat durchaus passend vermerkt, dass sich in Husserls und Diltheys Haltung zur Geschichte jeweils deren »divergierende Anliegen« (1991: 321) widerspiegeln. Mit Hinblick auf die Thematik der Historizität ist damit gemeint, dass hier zwei inkompatible Einstellungen zur Ge24 schichte vorliegen. Ausgehend von der Fragestellung, »ob [...] die genetische Konstitutionsphänomenologie der Intersubjektivität weltliches Leben tatsächlich transzendental so erreicht, wie Dilthey es in seinen Kulturschöpfungen objektiviert sah«, brachte Strökers Analyse der Fragerichtung von Husserls ›Phänomenologie der transzendentalen Historizität‹ zur Erkenntnis, dass bei diesem ›Geschichte‹ stets »›Quasi-Geschichte‹« (1985: 88ff.) blieb. Ursprüngliche Veranlassung für diesen Befund war, gemäß Strökers Begründung, weniger die Tatsache, dass Husserls transzendentalgenetische Intersubjektivitätsanalysen »befremdlich ausgefallen« (ebd., 89) waren, als vielmehr die Erkenntnis, dass es diese von vornherein nicht mit der ›geschichtlichen Welt‹ als solcher zu tun hatte, sondern lediglich mit einer »›Sinnesschicht‹ der objektiven Welt« (ebd., 89f.). Bevor man sich dieser Schlussfolgerung anschließt, ist es geboten, diejenigen Stellen im Einzelnen zu markieren, an denen Historizität innerhalb der Entwicklung der phänomenologischen Methodologie eine Bedeutung zugewiesen bekam. (1) Wie Ströker (1992: 96) an anderer Stelle notiert hat, tauchte die Thematik der Geschichtlichkeit erstmals explizit im Rahmen von Husserls 25 Ursprungsforschung der Logik auf. Darin hatte er erstmalig in Ansätzen eine konstitutionsgenetische Analyse vorexerziert. Logischen Urteilen sprach Husserl hier die »Wesenseigenschaft« zu, als »Sinnesimplikat ihrer Genesis eine Art Historizität in sich (zu) tragen« (Hua XVII: 184). Von dort aus war es dennoch ein langer Schritt bis Geschichtlichkeit von Husserl als der »neue methodische Leitfaden« (Ströker 1992: 97) anerkannt wurde, von dem aus auch frühere Themen von neuem betrachtet werden mussten. (2) Nicht nur im Allgemeinen, als eine bislang von der Phänomenologie unentdeckt gebliebene Gegenstandsdimension, errang das Moment der Geschichte eine gewisse Bedeutsamkeit, sondern auch Husserls Konzept der transzendentalen Subjektivität konnte von dieser Feststellung nicht unberührt bleiben. Landgrebe hat als Erster aus einem mittlerweile viel beachteten Dokument, in welchem sich Husserls bekannter Ausspruch: »Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins« (Hua VIII: 506) vermerkt findet, das Hervorgehen des späteren, vor allem in der ›Krisis‹ 24 Zu einem entsprechenden Ergebnis kommt auch Strökers Vergleichsstudie (1985). 25 Die ›Formale und transzendentale Logik‹ (Hua XVII) war die erste Veröffentlichung, die Husserl seit den ›Ideen I‹ – nach 15 Jahren! – der Öffentlichkeit vorlegte.

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konkreter ausgeführten, Erklärungsprogramms ermittelt. Die Quintessenz dieses Manuskripts lässt sich in Anlehnung an Landgrebe (1982: 44) als die Erkenntnis resümieren, dass jedes transzendentale Ego über eine eigene Geschichte verfügt, die sich im Verlauf des Lebens in Form von Sedimentierungen niederschlägt. Von der Position aus, welcher zufolge jede ›Monade‹ eine ›innere Geschichtlichkeit‹ (ebd., 47) aufwies, ergab sich für Husserl, so lässt sich vermuten, überhaupt erst die Problematik der Fremdwahrnehmung sowie der Intersubjektivität. Husserls Voraussetzung, dass das transzendentale Ego sich zu seiner Geschichte über ›selbstbesinnliche Vertiefung‹ auch aktiv verhalten und ihrer innewerden könne, hat Elisabeth Ströker – kontrastierend mit Diltheys Selbstbesinnungskonzept – eingehender untersucht. Das für unsere Ausgangsfragestellung relevante Resultat weist dabei auf ein spezifisches Momentum hin, das Husserls »Sozusagen-Geschichte« (Ströker 1985: 94) im Vergleich zu Diltheys »Geschichte des Lebens« (ebd., 93) als defizitär in Erscheinung treten lässt. Der spezifische Sinn von Diltheys Selbstbesinnungskonzept im Sinne einer ›Selbstbesinnung des Lebens‹ manifestierte sich darin, dass hier der konkrete, subjektive Lebenszusammenhang stets bezogen blieb auf einen diesem gegenüber transzendenten und geschichtlich begriffenen ›Zusammenhang des Lebens‹. Gegenüber dieser Gattung eines über-subjektiven, universalgeschichtlichen Rückbezugs sei Husserls Blickrichtung systematisch achtlos (ebd., 94). Folglich verdiene »Husserls postulierte Durchdringung und Verlebendigung sedimentierter Sinnesimplikate eher transzendentale Archäologie denn transzendentale Geschichte genannt zu werden« (ebd.). Zur Ehrenrettung Husserls lässt sich gegenüber einer solchen Lesart ein Hinweis Landgrebes anführen, der unter Rekurs auf wenig bekannte Manuskripte eine gewisse Sensibilität Husserls für die Problemstellung, wie »wir also von einer Geschichte nicht nur einer Gemeinschaft sondern schließlich von einer Geschichte der Menschen sprechen [können]« (Landgrebe 1982: 50), beglaubigt hat. Bei Husserl selbst, so schloss auch Landgrebe, suche man aber vergebens nach ei26 ner vollständigen Bearbeitung dieser Frage. (3) Die ›Krisis‹ wird im Allgemeinen als derjenige Ort markiert, an dem Husserl sich explizit dem Gegenstand ›Geschichte‹ zugewandt hatte. Diese Zuwendung kann insofern mit der Entdeckung der Geschichte als eines ›Faktum des absoluten Seins‹ verknüpft werden, als dass sich aus diesem Postulat, wie Ströker (1985: 95) und Mertens (1996: 10f.) unisono hervorheben, die Relativismusproblematik auch für die Phänomenologie

26 Nicht unterschlagen werden soll, dass Landgrebe bereits 1967 einen (wenig überzeugenden) Nachweis führte, zu zeigen, dass es im Rahmen der Husserlschen Analytik durchaus einen »Ort« gäbe, »an dem […] die von Dilthey aufgewiesenen Strukturen auftreten und sich in die gesamte phänomenologische Systematik einordnen.« (1967: 30)

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unausweichlich ergeben musste. Die vorausgegangenen phänomenologischen Ansätze mussten von dem neu gewonnen Standpunkt aus als ›Vorurteil aus einer traditionalen Sedimentierung‹ (Ströker 1985: 95) erscheinen. Eine philosophiegeschichtliche Selbstbesinnung sollte den Ausgangspunkt sowie das Ziel der phänomenologischen Neubegründung der Wissenschaften anvisieren. Das theoriestrategische Gegenmittel gegen historistisch-relativistische Einwände fand Husserl schließlich in einer »Strukturgeschichte [...], die auf die Wesenszüge des philosophisch-historischen Zusammenhangs abhebt und diese in einem immanenten ›Telos‹ eint« (Orth 1999: 62f.). Auch hier sollen kurz die markanten Unterschiede des phänomenologischen zum traditionellen Geschichtsverständnis zumindest angedeutet werden. Ricœur hat in einer klassischen Studie auf die Problematik von Hus28 serls teleologischer Geschichtsauffassung aufmerksam gemacht (1949). Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Unterscheidung zwischen »Tatsachenhistorie« und der »inneren Historie«, die Husserl selber noch eingeführt hatte (Hua VI: 386). Husserl wollte den philosophiegeschichtlichen Blick der Phänomenologie auf »die hinter den ›historischen Tatsachen‹ dokumentierter Philosopheme und ihres scheinbaren Gegeneinanders und Nebeneinanders [liegende] sinnhaft-finale Harmonie« (ebd., 74) justieren. Analog zur Herangehensweise in den vorausgegangenen intentional-analytischen Untersuchungen, bei denen durch die Anwendung der Methode der ›Weltausschaltung‹ (Epoché) Sinnschichten zutage gefördert wurden, die in der natürlichen Einstellung verborgen blieben, sollten auch philosophiegeschichtliche Zwischenstadien auf ihr dahinter liegendes ›Telos‹ hin analysiert werden. Orth verteidigt Husserl und hält Ricœur mit Recht entgegen, dass Husserl diese Unterscheidung zwischen Tatsachenhistorie und innerer Historie nur relativ treffen konnte und dass er in den ›Tatsachen‹ einerseits und den ›inner-geschichtlichen Wesensstrukturen‹ andererseits zwei Aspekte ein und desselben Phänomenbereichs, der ›Geschichte‹, zum Ausdruck bringen wollte (1999: 67). Denn erst anhand von solchen ›Tatsachen‹ seien ›Wesensstrukturen‹ überhaupt erst phänomenologisch ermittelbar. Andererseits gilt aber auch, dass ohne die ›inneren Strukturen‹ der Horizont fehlen würde, in welchem historische Zeugnisse überhaupt thematisch werden könnten, wie Lembeck (1988: 237) treffend betont hat. Es handelt sich also um ein reziprokes Fundierungsverhältnis. Obgleich hier in formaler Hinsicht durchaus Parallelen zu einer her29 meneutischen Interpretationsmethodik anklingen , darf nicht unterschlagen werden, dass in der Husserlschen Geschichtseinstellung ein eigentüm27 Eine »reconstruction and evaluation of Husserl’s evolving position in relation to relativism« liefert die Studie von Soffer (1991: xii). 28 Vgl. zu Ricœur auch den Kommentar Strökers (1992: 73). 29 So stellt Orth unter Rekurs auf Bernet eine Kreisbewegung der Intentionalitätsanalyse heraus, die an den ›hermeneutischen Zirkel‹ erinnert (1999: 68).

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liches ›sinnhaftes Telos‹ die Doppelfunktion der »Urstiftung« als auch der 30 »Endstiftung« übernimmt , so dass von einem geschlossenen Geschichtsbild gesprochen werden muss, das mit der Spiralbewegung der hermeneutischen Auslegung divergiert. Dies bedingt, dass in der phänomenologischen Zugangsweise »letztlich jenes Moment wertbezogener Selbstbesinnung Diltheys fehlt, in der das Ego seine Sinnstiftungen als lebensbedeutsam auch für sein transzendentes Leben zu begreifen vermöchte. Erst dieses Moment würde die Einheit seiner transzendentalen Genesis zur spezifisch geschichtlichen Einheit werden lassen und ihm dazu verhelfen, sein Leben als geschichtliches Ganzes in Besitz zu nehmen« (Ströker 1985: 94f.).

Anknüpfend an das oben bereits angedeutete Verdachtsmoment, dass womöglich ein prinzipieller Gegensatz zwischen Husserls ›archäologischer‹ und Diltheys lebensphilosophischer Grundposition zur Historizität besteht, soll nun abschließend versucht werden, vor dem Hintergrund unserer Ausführungen die Abweichungen einer phänomenologischen Intentionalanalyse der Geschichte von einer genuin hermeneutischen Auslegung der ›Objektivationen des Lebens‹ zu präzisieren. Während die phänomenologische Betrachtungsweise ›Geschichte‹ aus bewusstseins-immanenten Intentionen mittels reduktiver Verfahren herauspräpariert, transzendiert Diltheys Selbstbesinnungsansatz den rein an individuellen Erfahrungen orientierten Ausgangspunkt insofern, als er individuelle Erlebnisse auf einen über-individuellen und als ausschließlich über und in ›Geschichte‹ vermittelten Lebenszusammenhang, der allem Denken vorausgestellt ist, zurück bezieht. Gleichwohl bleibt auch für Dilthey der ›Satz des Bewußtseins‹ verbindlich. Lembeck hat in einer maßgeblichen Studie zum phänomenologischen Geschichtsverständnis unzweideutig zusammengefasst: »Geschichte [ist] niemals Geschehen an sich, sondern stets Auffassung- und Auslegungsprodukt eines genetisch organisierten und von daher geschichtlich orientierten Subjets, [...] alle geschichtliche Welt [ist], transzendental betrachtet, intentionales Korrelat eines sinngeschichtlich strukturierten geistigen Lebens« (1988: 238).

Zumindest der erste Teil dieser Beschreibung lässt sich aus einer lebensphilosophischen Perspektive durchaus noch signieren, denn auch bei Dilthey ist es die ursprüngliche Geschichtlichkeit des Menschen, die ›Verstehen‹ ermöglicht. Lembeck zieht schließlich dennoch einen Trennungsstrich zwischen lebensphilosophischer und transzendental-phänomenolog30 »Wesensmäßig aber gehört zu jeder Urstiftung eine dem historischen Prozeß aufgegebene Endstiftung« (Hua VI: 73).

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ischer Geschichtsauffassung: »Die ›Auslegung‹ der transzendentalen Strukturen des Bewußtseins ist ein direktes In-den-Blick-Nehmen und keineswegs der ›Deutung‹ fremden geistigen Lebens gleichzusetzen« (ebd., 232), um dann jedoch abschließend ebenfalls einige prinzipiellen Aporien einzuräumen, welche Husserls »vernunftmetaphysisch orientierter Geschichtsdeutung, die sich letzten Endes über die aufgewiesene historischokkasionelle Situiertheit der konkreten menschlichen Subjekte hinwegzusetzen strebt« (ebd.), zugrunde lägen. ›Geschichte‹ erhält in der Phänomenologie somit zwar eine systematische Relevanz, die in formaler Hinsicht 31 gewisse Familienähnlichkeiten mit Diltheys Konzeption einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ aufweist, jedoch droht die lebendige Geschichte, welche Dilthey systematisch auch innerhalb einer wissenschaftstheoretischen Begründung der Geistes- und Sozialwissenschaften zu ihrem Recht kommen lassen wollte, unter der rigiden intentional-analytischen Verfahrensweise einerseits sowie unter der Prämisse eines vorausbestimmten geschichts-immanenten Telos andererseits, systematisch wegreduziert zu werden. In diesem Sinne hatte bereits Misch gegenüber Husserls Auffassung eingewandt: »Das reale geschichtliche Lebensgeschehen fällt aus der intentionalen Analyse heraus, zu einer Ablagerung erstarrend« (1967: 215). Die Konsequenz aus dieser Entwertung der Geschichte zu einem »bloßen ›Sediment‹ ichlicher und apriorischer Evidenz« hat Stephan Otto gar als »tödlich für die Kritik der historischen Vernunft« eingeschätzt (1988: 57f.).

2. Transzendentalität Die Argumentationen, welche von den Vertretern und Stellvertretern des lebensphilosophischen, neukantianischen und phänomenologischen Begründungsansatzes im Zuge einer wechselseitigen theoretischen Grenzmarkierung in Anschlag gebracht wurden, scheinen um die zentrale Thematik der adäquaten Fassung des Transzendenzbegriffs resp. der angemessenen Konzipierung des Verhältnisses von ›Transzendenz‹ und ›Empirie‹ zu kreisen. Nicht erst bei unserem Versuch, sich einer vergleichenden Bestimmung des jeweils zugrunde gelegten Geschichtskonzepts anzunähern, musste der Umweg über die Explikation des phänomenologischen Konzepts einer ›transzendentalen Historizität‹ genommen werden. Bereits Husserls Einwände gegenüber Rickerts Letztbegründungsansatz wurden, wie oben angedeutet, in einer Auseinandersetzung mit dessen Transzendenzbegriff gerahmt. Wie gleich darzulegen sein wird, spielten ähnliche Argumente auch bei Eugen Finks Entgegnung auf die kritizistischen Einwände, insbesondere denjenigen des Rickert-Schülers Rudolf Zocher, eine 31 Der Begriff wird im Folgenden im Sinne von Nietzsche (W II: 584) bzw. Wittgenstein (1984a: § 67; 1984b: 37) verwendet.

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entscheidende Rolle. Die Relevanz dieser Thematik, die sich mit dem Begriff des Transzendentalen verbindet, wird zuletzt auch in dem doppelten Anspruch der hier behandelten Autoren manifest, nämlich einer Überwindung des metaphysischen Denkens in der Philosophie einerseits und einer radikalen Neu- und zugleich Letztbegründung der philosophischen Systematik aus einem als originär ausgezeichneten Fundament heraus, auf der anderen Seite. Eine Neujustierung der Grenze zwischen objektivwissenschaftlicher Deduktion und subjektiv-willkürlicher Spekulation war mit dieser Programmatik auf die Agenda gesetzt. Von daher nimmt es nicht Wunder, dass die inter-schulischen Auseinandersetzungen im philosophischen Diskurs um 1900 um die Verhältnisbestimmung zwischen Transzendentalität und Empirizität organisiert waren. Symptomatisch werden noch heute alle drei der hier verhandelten Autoren von ihren gegenwärtigen Verfechtern als Initiatoren der Wende zum modernen, postmetaphysischen Denken gefeiert. Für Dilthey hat vor allem Manfred Riedel dessen frühe Metaphysikkritische Intention gegenüber der auf das Spätwerk fokussierten DiltheyRezeption hervorgehoben (1968/69). Auch jüngere Interpreten feiern Dilthey als »pioneer of postmetaphysical thinking« (de Mul 1996: 80; Keulartz 1994: 9). In ähnlicher Manier wird auch die Auffassung vertreten, »daß der Neukantianismus mit dem prinzipiellen Unterschied zwischen Gelten und Sein die Metaphysik hinter sich« und »sich in einer postmetaphysischen Landschaft niederläßt« (Griffoen 2002: 59). Als Begründer eines »modernisierten Verständnisse von Transzendentalphilosophie« erscheint Rickert ebenso in der Darstellung Bohlkens (2002: 12). Auch für Husserl hat man konkludiert, dass er speziell darauf bedacht war, »das phänomenologische Konzept einer Metaphysik von der traditionellen Metaphysik« (Mertens 1996: 27) abzugrenzen. Ein hervorragendes Dokument zum Studium der diesbezüglichen Abgrenzungsstrategien, die von den Statthaltern des Neokantianismus und der Phänomenologie emphatisch gegeneinander eingesetzt wurden, bildet Eugen Finks Erwiderung auf Vorwürfe, die insbesondere von Rickerts gewichtigstem Schüler, Rudolf Zocher, gegenüber der Phänomenologie er32 hoben wurden. Im Zentrum stand hier zunächst der »prinzipielle Unterschied der phänomenologischen und der kritizistischen Idee einer Transzendentalphilosophie« (Fink 1933: 322). Von beiden Seiten aus wurden 32 Auf eine Diskussion des ›lebensphilosophischen Transzendenzbegriffes‹ wird hier aus nahe liegenden Gründen verzichtet, weil es sich bei diesem Begriff um einen Unbegriff handelt und sich die Lebensphilosophie schon ihrem Titel nach gegen die Transzendentalphilosophie richtet. In diesem Sinne hatte bereits Bollnow die »Ausschaltung transzendentaler Setzungen« (1958: 120) als erste methodologische Grundprämisse der Lebensphilosophie herausgestellt. Davon ist unberührt, dass sich Dilthey durchweg als Fortsetzer des Kantschen Unternehmens sah. Diesem vermeintlichen Widerspruch wenden wir uns auf den nächsten Seiten zu.

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zunächst durchaus Gemeinsamkeiten in der Grundintention der beiden Philosophien eingeräumt, die daraufhin jedoch als oberflächlich beiseite geschoben wurden. Von besonderer Bedeutsamkeit im Hinblick auf unsere Fragestellung ist das Kuriosum, dass der Vorwurf einer ›Ontologisierung‹ transzendentalphilosophischer Zentralkategorien wechselseitig von beiden Positionen aus gegen den Gegner lanciert wurde. Die hierbei zum Tragen kommenden argumentativen Grundzüge sollen vorgestellt werden. 33 Zochers Strategie war darauf angesetzt, anhand der Explikation von Husserls methodischer Herangehensweise diesem logisch-kategoriale Fehler nachzuweisen, welche – so resümierte Fink Zochers Schlussfolgerung – zu einer »Abirrung vom kritischen Ansatz« sowie zu einem »massiven Rückfall in den Dogmatismus« (ebd., 335) geführt hätten. Symptomatisch spiegelt sich laut Zocher die fatale Konsequenz der ›Ontologisierung‹ in der phänomenologischen Fassung des Subjektbegriffs wider. Husserls »Scheu vor der ›Konstruktion‹« habe ihn daran gehindert, »die Bestimmung des erkenntnistheoretischen Ichs von allem Empirismus freizuhalten und es als reine Form zu erkennen« (ebd.). Daraus resultiere schließlich eine »fragwürdige ›metaphysische‹ Unterscheidung zwischen dem seienden Ich in der weltlichen ›Apperzeption‹ [...] und einem von eben dieser Apperzeption abgelösten seienden Ich« (ebd.). Aufgrund von Husserls Halbherzigkeit verbleibe das ›transzendentale Ich‹ letztendlich ›ontisch‹. Entsprechend bewirke nun auch die Anwendung der Eidetik auf das transzendentale Ego lediglich eine »Ontologisierung desselben« (ebd., 336), wie Zocher gegen die Phänomenologie einwarf. In Husserls Aufhebung des Grundmotivs aller Transzendentalphilosophie, nämlich des universellen Vorrangs der geltenden Form, zugunsten einer Erklärung von »Seiendem durch Seiendes« (ebd.), sah Zocher schließlich das ausschlaggebende Anzeichen für Husserls Abkehr vom klassisch-idealistischen Standpunkt. Fink wählte diesen Angriffen gegenüber zunächst noch eine eher defensive Begegnungstaktik, welche die Ursachen für Zochers (Fehl)Interpretation der Phänomenologie sogar durchaus auch auf der Seite Husserls aufsuchte und häufig auf dessen uneindeutigen Formulierungen und ungünstige Begriffswahl hinwies. Sein Grundargument behauptete kurz und bündig: »Die Phänomenologie kann sich gar nicht vom Kritizismus entfernen, weil sie nie bei ihm war« (ebd.). Fink fuhr fort, einen »radikalen Gegensatz zum Kritizismus« (ebd., 338) zu etablieren, über den Zocher in seiner Auffassung von Phänomenologie schlechterdings hinweggegangen sei. Nun war es Fink, der in seiner von Husserls autorisierten Entgegnung jetzt dem Neukantianismus eine erfolglose Ablösung von Seins- bzw. Weltbezügen vorhielt und »den mundanen Charakter der kritizistischen

33 Die zentralen Positionen Zochers aus ›Husserls Phänomenologie und Schuppes Logik‹ (1932) werden von Fink pointiert zusammengefasst, so dass wir uns eine detaillierte Rekonstruktion an dieser Stelle sparen können.

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Philosophie« (ebd.) hervorhob. Das »›kritische‹ Pathos des Kritizismus«, so folgerte er, werde »wesentlich durch den weltimmanenten Charakter seiner Welterklärung bestimmt« (ebd.). Ihm komme es lediglich darauf an, das Seiende durch Angabe der entsprechenden Weltform zu erklären (ebd., 340). Im Gegensatz dazu erstrebe die Phänomenologie eine »absolute Welterkenntnis« in dem Sinne, dass »die Welt aus dem letzten Grunde ihres Seins her« (ebd.) begreiflich gemacht werden sollte. Damit zog Fink einen fetten Trennungsstrich zwischen dem methodologischen Aufgabenbereich der Phänomenologie und der idealistischen Philosophie. Da einzig die Phänomenologie die Frage nach dem Ursprung der Welt behandelte, gehe ihre Thematik jeglicher mundan-bezogener Wissenschaft voraus (ebd.). Die Phänomenologie positioniere sich auf originäre Weise in Distanz zu den »naiv auf Seiendes bezogenen positiven Wissenschaften« einerseits als auch zum Kritizismus, welcher die »alle Realität fundierende Sinnsphäre« konstruktiv freilege (ebd., 341). Die Differenz zum Kantianismus manifestiere sich entsprechend in einer spezifischen Bestimmung von ›Transzendentalphilosophie‹. Fink resümierte das Spezifikum der phänomenologischen Fassung: »das Welt-Transzendieren, das im Vollzug der phänomenologischen Reduktion geschieht, führt nicht aus der Welt heraus, von der Welt weg und zu einem von ihr getrennten (nur durch eine Relation verbundenen) Ursprung als zu einem anderen hin, sondern das phänomenologische Transzendieren der Welt ist als die Eröffnung der transzendentalen Subjektivität zugleich die Einbehaltung der Welt in das freigelegte Universum des absoluten ›Seins‹. Die Welt bleibt dem ›Absoluten‹ immanent, vielmehr sie wird als im Absoluten liegende entdeckt« (ebd., 342).

Gegenüber der kritizistischen Variante von ›Transzendentalphilosophie‹ zeichnete Fink eine charakteristische Richtung des phänomenologischen »Transzensus« aus. Während erstere »durch den Transzensus vom Seienden zum Sinn desselben« bestimmt sei, involviere die Phänomenologie »einen Transzensus über die Welt hinaus und nicht nur über das innerweltlich Seiende« (ebd., 343). Für die Phänomenologie verwandelte sich damit die »Frage nach dem Sein der Welt [...] in die Frage nach dem Wesen der transzendentalen Subjektivität, für die letztlich die ›Welt‹ gilt« (ebd., 354). Philosophiegeschichtlich, so Fink, habe erst die Methode der phänomenologischen Reduktion die Entdeckung eines »nicht-weltlichen Reflexionsichs« und somit »die Entdeckung des eigentlichen ›Subjekts‹ des Weltglaubens« ermöglicht und bewerkstelligt (ebd., 355f.). Die Konturen des neukantianischen und phänomenologischen Ansatzes von Transzendentalphilosophie sollen nunmehr im Hinblick auf unsere Ausgangsfragestellung deutlicher markiert werden. Wie bereits aus der oben skizzierten Auseinandersetzung Husserls mit Rickerts Wissenschafts-

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theorie hervorging, widersprach die erkenntnistheoretische Grundkonstellation, von welcher Rickert und Windelband ebenso wie bereits Kant ausgegangen sind, der zufolge zwischen der ›Wirklichkeit an sich‹ und der ›Erkenntniswirklichkeit‹ eine prinzipiell unüberwindbare Kluft besteht, von vornherein dem Telos des phänomenologischen Unterfangens. In der phänomenologischen Einstellung wird über den Weg der Reduktionen systematisch versucht, den Prozess der Konstitution des transzendentalen Ego sinngenetisch aufzuklären. Die Analyse des Gebietes, das zwischen der Erscheinungswelt in der natürlichen Einstellung einerseits sowie der ›Welt‹ des Transzendentalapriori andererseits angesiedelt war, bildete in gewisser Weise den besonderen Erkenntnisbeitrag der Phänomenologie. Phänomenologische Aufklärung versteht sich grundsätzlich als ›transzendentalphilosophisch‹, insofern ihr erster methodologischer Schritt die Ausschaltung der Weltbezüge der natürlichen Einstellung durch ›Epoché‹ ist. ›Transzendental‹ ist in diesem Sinne als Oppositionsbegriff zu ›natürlich‹ zu begreifen. Demjenigen, der in Husserls später Lebensweltphänomenologie eine Hinwendung Husserls zur real-historischen Praxis des Alltags sehen will, muss sogleich deutlich entgegnet werden, dass jegliche Interpretation, die von dem transzendentalphilosophischen Theorierahmen, innerhalb dessen die ›Lebenswelt‹ und die ›Geschichte‹ eine besondere Bedeutung erhielt, absehen will, einem kategorialen Fehler aufsitzt (vgl. Held 1991: 79f.; 34 Ströker 1992: 105). Der Lebensweltbegriff ist keine Konkretion der Welt in natürlicher Einstellung, sondern vielmehr ein bewusstseins-immanenter, »universaler, unthematischer Horizont präreflexiven, praktischen Lebens« (Ströker 1992: 110), von dessen Aufklärung sich Husserl zentrale Einsichten über die transzendentale Subjektivität versprach. Damit wiederholt sich der Befund, der oben bereits für den phänomenologischen Begriff der ›Geschichte‹ festgehalten wurde, bei welchem es sich ebenso wenig um einen Begriff mit konkretem empirischem Gehalt handelte wie bei dem Konzept der ›Lebenswelt‹. Wenn heute jüngere Vertreter des Post-Neukantianismus ihre Zeitgenossen mit dem Hinweis, dass man »den transzendentalphilosophischen Charakter des Neukantianismus« nicht übersehen dürfe, vor Fehlinterpretationen des Kritizismus warnen 35 wollen (Griffioen 1998: 59), bekommt dieser Hinweis vor dem Hintergrund der neukantianischen Phänomenologierezeption einen ironischen Beigeschmack, da in jedem Fall Zocher und auch Friedrich Kreis, ein weiterer neukantianisch orientierter Kritiker Husserls, exakt diese Sensibilität gegenüber Husserl vermissen ließen. Die skizzierte Auseinandersetzung zwischen Vertretern der ›zweiten Generation‹ der wertphilosophischen und phänomenologischen Philosophieschule nimmt somit in gewisser 34 Diese Grundproblematik wird uns im Kapitel zu Schütz’ Sozialphänomenologie wieder beschäftigen. 35 Griffioen (1998: 59) hat dabei insbesondere Heideggers und Carl Schmitts Deutungen von Rickerts Wertphilosophie im Blick.

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Weise ein gemeinsam geteiltes, eigentümliches Rezeptionsschicksal vorweg, das dadurch ausgezeichnet ist, dass nachfolgende Adaptionen den transzendentalphilosophischen Impetus ihrer Wissensfundierung regelmäßig übersehen oder auch willentlich ignoriert haben. Hierüber wird der folgende Hauptteil der Arbeit detailliertere Auskunft bieten.

3. Theorie und Praxis An unsere bisherige Darlegung der Verhältnisbestimmung zwischen ›Transzendenz‹ und ›Welt‹ schließt sich unmittelbar die Frage an, welche theoretischen Auswirkungen sich mit den erläuterten Standpunkten für das gemeinsame Grundanliegen einer ›Kritik der praktischen Vernunft‹ ergeben. Damit wird zugleich behauptet, dass die Thematik der Abgrenzung zwischen dem Bereich des Transzendentalen und der Domäne der ›Welt‹ eng mit der fundamentalen Spannungslinie zwischen Theorie und Praxis zusammenhängt. Diese Hypothese kann hier nicht systematisch entfaltet, sondern höchstens angedeutet werden. In der wertphilosophischen Grundsystematik Rickerts wurde ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen ›Wert‹ und ›Wirklichkeit‹ installiert. Der Begriff des ›Transzendentalen‹ bezog sich dabei auf das Gebiet der Werte (Krijnen 2001: 124), deren Referenz zur empirischen Wirklichkeit bei Rickert nicht eindeutig aufgelöst wurde. Anscheinend vermittelnde Konzepte wie der ›Akt der Stellungnahme‹ oder die ›Wertbeziehungslehre‹ übernahmen hier, im Unterschied zu Diltheys Lebensbegriff, nicht die theoretische Funktion der Eingliederung der empirisch-praktischen Sphäre in bzw. deren Versöhnung mit der Theorie. Vielmehr bleibt die Kluft, die Rickert zwischen Theorie und Praxis und zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft voraussetzte, weiterhin unvermittelt. Malter hat sogar von einer »antirealistischen Position« (1994: 55) gesprochen. Ein Widerspruch zu Bohlkens These von der höheren Sensibilität gegenüber dem »historisch-kontingenten Charakter des Explanandums Kultur« (2002: 14), die Rickerts Reformulierung von Transzendentalphilosophie auszeichne, liegt hier nach unserer Einschätzung dennoch nicht vor, wenn man berücksichtigt, dass der Bereich des Kulturellen in Rickerts Methodologie wiederum über theoretisches Wertbeziehen vermittelt und in diesem Sinne prinzipiell ›irrational‹, d.h. nicht-intellegibel, verblieb. Weder in der phänomenologischen noch in der neokantianischen Variante einer ›Kritik der praktischen Vernunft‹ wird eine den aktiven Sinn dieser Formel (im Sinne eines Mandats zugunsten der ›Praxis‹ vs. der ›reinen Theorie‹) genügende Durchführung erreicht. Gemessen an der jeweiligen Ausführung erscheint vielmehr die Annahme plausibel, dass sowohl Rickert als auch Husserl von einem Grundverständnis der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ im Sinne einer ›Kritik an der praktischen Vernunft‹ ausgegangen sind. Das Abhorreszieren weltlicher Bezüge, in dem sich Beide

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in nichts nachstanden, spiegelt sich nicht zuletzt in dem schon zu Beginn dieses Kapitels skizzierten, vice versa vorgehaltenen, Vorwurf der ›Ontologisierung‹ transzendentalphilosophischer Grundbegriffe wider. Symptomatisch für die hier vorherrschende Grundhaltung kann vielleicht Rickerts Ausspruch stehen, der besagt: »Im Grunde ist alle Philosophie, die Wissenschaft sein will, theoretisch, und nur insofern läßt sich ein theoretischer von einem praktischen Teil trennen, als der zweite die Theorie des praktischen Menschen enthält« (PA: 353). Mit dieser kritischen Zusammenfassung soll nicht etwa hinter dem Rücken des Lesers suggeriert werden, dass Diltheys Lebensphilosophie den einzig möglichen Weg zu einer den Namen verdienenden praktischen Vernunftkritik beschritten habe. Vielmehr muss insbesondere auch in diesem Fall zunächst noch die Frage nach der Natur und Intention seiner Grundbegrifflichkeiten geklärt werden. Besondere Aufmerksamkeit verlangt dabei Diltheys ›Satz des Bewußtseins‹, dem zufolge eine bewusstseinstranszendente Welt nicht Gegenstand des philosophischen Denkens sein könne. Es stellt sich hier die Frage, inwiefern der Ausgangspunkt von der Phänomenalität der Bewusstseinsinhalte mit dem originären lebensphilosophischen Impuls, welcher »das Leben zeigen [will], wie es ist« (GS XIX: 330), und in diesem eine aller Erkenntnis prävalenten Fundierungsebene behauptet, in Übereinstimmung zu bringen ist. Wie u.a. bereits Ineichen (1975: 161) und Johach angemerkt haben, geht aus Diltheys Darstellungen keineswegs eindeutig hervor, »ob Dilthey ein empirisches oder ein transzendentales Erkenntnissubjekt im Auge hat« (Johach 1984: 99). Dieser Widerspruch lässt sich zunächst mit dem Hinweis entkräften, dass Dilthey die idealistische Fassung des ›Satzes des Bewusstseins‹ kritisierte und diesem einen fundamentaleren Ausgangspunkt zur Seite stellte: »Zusammenhang als ein realer ist nur in der Struktur des Lebens gegeben« (GS XX: 236). Mit der Begründung seiner Strukturtheorie, die auf der doppelten Bestimmung aufruhte, dass einerseits kognitive Akte neben nicht-reflexiven (volitiven, emotionalen) Kapazitäten in untrennbarem Zusammenhang standen und außerdem alle Bewusstseins- und Wahrnehmungsprozesse unmittelbar von einer konkreten – Dilthey spricht stets von einer ›gesellschaftlich-geschichtlichen‹ – Umwelt beeinflusst würden, ging Dilthey über das bewusstseinsphilosophische Paradigma hinaus und etablierte mit der lebensphilosophischen Vernunftkritik eine eigentümliche Grundlegungskonzeption, die insbesondere in den wichtigen Arbeiten Heideggers (SuZ), Gadamers (WuM) sowie Apels (1981) konserviert wurde. Das von Johach gezeichnete Motiv einer »lebensphilosophischen Dynamisierung der Transzendentalphilosophie« (1984: 99) kam deutlich in Diltheys später Arbeitungsphase zum Ausdruck, in der er systematisch daran gegangen war, die neuzeitlich-klassischen Fundamentalkategorien der Philosophie – Substanz, Kausalität, Wesen, Zweck, Wert, Sinn, Bedeu-

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tung – in ›reale Kategorien‹ umzudeuten (ebd., 100). Während ›formale Kategorien‹ im Denken bzw. in der Vernunft angesiedelt seien, gründeten, so Dilthey, ›reale Kategorien‹ im ›Lebenszusammenhang‹. Für Dilthey machte es von vornherein keinen Sinn, eine starre Kategorientafel von ›Lebenskategorien‹ nach dem Modell Kants aufstellen zu wollen, denn gemäß deren Ursprung im ›Leben‹ schien ihm ein solches Projekt von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Obgleich die Ausführungen zu den ›Kategorien des Lebens‹ problematisch und unvollständig geblieben sind, weisen sie auf die Grundrichtung von Diltheys Philosophie hin, die Lieber adäquat als eine »lebensphilosophische Wende der Transzendentalphilosophie« (1974: 30) charakterisiert hat. Dilthey brachte sein Grundanliegen selbst unzweideutig auf folgenden Punkt: »um ja nicht missverstanden zu werden: was wir zeigen, das ist das Leben selbst; nicht um etwas Transzendentes zu erschließen, wollen wir es sehen lassen« (GS XIX: 330; Hervorhebung D.Š.). Alle Kategorien des Denkens, Wertens, Wollens und Fühlens müssen in dieser Perspektive aus ihrem geschichtlichen Gewordensein und aus ihrem lebensmäßigen Zusammenhang mit allen anderen Bewusstseinsleistungen heraus betrachtet werden. Wenn sich sowohl Husserl (Hua IX: 35) als auch noch dessen Assistent Landgrebe (1928: 239) mit dem Verweis darauf, dass er das Projekt einer transzendentalen Grundlegung der Wissenschaften vorweggenommen habe, emphatisch auf Dilthey bezogen haben, so wurde hier jedoch die einschneidende Differenz zwischen dem phänomenologischen und Diltheys Verständnis von Transzendentalität geflissentlich unterschlagen. Der faktische Unterschied muss unseren Kriterien gemäß sogar als ein Gegensatz aufgefasst werden. Diltheys Unterfangen einer »Historisierung« (Lembeck 1996: 51) und »Verlebendigung« (Apel 1981: 76) der UrKategorien der neuzeitlich-kantianischen Transzendentalphilosophie divergiert sowohl mit der Grundrichtung des Neokantianismus wie auch der Husserlschen Phänomenologie. Diltheys Ansatz erfüllt darüber hinaus genau diejenigen Bedingungen, die sowohl Fink als auch Zocher als ›Ontologisierung‹ transzendentalphilosophischer Begrifflichkeiten verteufelt haben. Bei etwas genauerem Hinsehen erweist sich also die in der Philosophiegeschichte regelmäßig anzutreffende Vorstellung einer inhaltlichen Nähe zwischen der lebensphilosophischen, neukantianischen und phänomenologischen Denkströmung als unangemessen. Dieses Fazit soll nun abschließend terminologisch zugespitzt werden.

36 Man hatte ursprünglich in Diltheys Hinwendung zu den ›Kategorien des Lebens‹ einen Ausdruck des Einflusses von Husserls ›Logischen Untersuchungen‹ gesehen, der später jedoch widerrufen wurde (vgl. Bollnow 1985: 31f., 39f.).

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Drei Formen der ›praktischen‹ Vernunftkritik: Holismus, Dualismus, Monismus Mit Diltheys wissenschaftlicher Lebensphilosophie einerseits sowie dem Neukantianismus und der Phänomenologie andererseits lassen sich drei originelle Varianten einer ›Kritik der praktischen Vernunft‹ differenzieren. Unsere Gegenüberstellung beförderte zunächst ein hohes Maß an Übereinstimmung im Hinblick auf eine spezifische kulturgeschichtliche Diagnostik sowie eine daran anschließende philosophisch-weltanschauliche Programmatik. Die Analyse der Übersetzungen dieser Zielsetzung in eine Grundlegungsarchitektonik und eine Theorie der Methode ergab das Bild von drei sowohl in gegenstandstheoretischer als auch methodologischer Hinsicht eigenständigen und im Großen und Ganzen inkompatiblen Konzeptionen. Wir schlagen im Folgenden vor, dieses Bild terminologisch in einer Typologie festzuhalten und zwischen einer holistischen, dualistischen und monistischen Argumentationsstrategie zu unterscheiden. Hierbei verweisen die Bezeichnungen auf für die jeweiligen Ansätze konstitutive typische Grundaxiome bzw. – um mit der Sprache der Mannheimschen Strukturanalyse zu sprechen – auf deren ›Ursystematisierung‹. Das argumentationstheoretische Strukturprinzip der Diltheyschen Lebensphilosophie verweist auf den Primat eines als Strukturzusammenhang bezeichneten ›Ganzen‹, von dem aus zum Beispiel kognitive und kreative Bewusstseinsleistungen erklärt werden müssten. Konsequent lehnte Dilthey jede Methodik ab, die auf eine separierende Betrachtung einzelner 37 bewusstseinsmäßiger Aspekte hinauslief. Dieses methodische Grundprinzip zieht sich durch alle Phasen und inhaltlichen Ausführungen seiner ›Kritik der historischen Vernunft‹ hindurch. Auch wenn Diltheys geisteswissenschaftliche Psychologie zunächst die methodische Anweisung der ›Zergliederung‹ unterschiedlicher Bewusstseinsprozesse befolgte, bildete diese jedoch nur einen ersten vorläufigen Analyseschritt, nach welchem das extrahierte Element wiederum auf den Zusammenhang des ganzen Bewusstseins zurückbezogen werden sollte. Diltheys Hermeneutik installierte schließlich den hermeneutischen Zirkels als methodologischen Ausgangspunkt der Geisteswissenschaften. Dieses Fundierungsverhältnis gründet sich auf den immanenten Bezug der Geisteswissenschaften zu einer bestimmten historisch-sozialen Konstellation, was bedingte, dass »die Fülle des Lebens auch in den abstraktesten Sätzen dieser Wissenschaft nach(klingt)« (Aufbau: 141). Aus dem Grund, dass Diltheys Philosophie die Berücksichtigung der Struktur des Lebens nicht nur im Hinblick auf singuläre Probleme der Philosophie, der Psychologie, der Erkenntnistheorie, der Methodenlehre forderte, sondern vielmehr eine fundamentale 37 Dilthey grenzte einmal seine Philosophie des Lebens dezidiert gegen eine »atomistische Interpretation des Lebens« (GS XIX: 341) ab.

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Selbstbesinnung der Wissenschaften auf dem ›Lebenszusammenhang‹ begründen wollte, muss man die hier begründete Form des Holismus als ra38 dikal bezeichnen. Dilthey wird damit zu einem (unerkannten) Vorläufer derjenigen Form des Holismus, die man jüngst mit Verweis auf Heidegger als »existenzialen Holismus« (Glauner: 1997: 92) und unter Rekurs auf den späten Wittgenstein als »praktischen Holismus« (Dreyfus 1980: 7ff.) gekennzeichnet hat. Der Begriff ›Holismus‹ soll hier weniger, wie in der gängigen Gegenüberstellung von Holismus/Atomismus, eine von zwei möglichen strategischen methodologischen Erklärungsalternativen bezeichnen, sondern vielmehr im Sinne eines Strukturbegriffs gebraucht werden, der zum einen den gegenstandstheoretischen Ausgangspunkt einer Philosophie bezeichnet und damit, zum anderen, die organisierende Idee, von der aus methodologische Erwägungen systematisch abhängen. In Abgrenzung zum Holismus kann man die strukturleitende Grundidee, welche den Aufbau des neokantianischen Systemgebäudes trägt, als dualistisch qualifizieren. Obgleich Rickerts Philosophie prinzipiell der Erkenntnis des ›Weltganzen‹ gewidmet war, begegneten wir auf mehreren theoretischen Ebenen einer dichotomen Ausgangskonstellation. So wird sein Gegenstandsmodell von der Opposition von ›Inhalt‹ und ›Form‹ ge39 tragen. Als das Grundprinzip allen Denkens führte Rickert schließlich das ›heterothetische Prinzip‹ ein. Damit war dasjenige »Prinzip des Denkens« (System: 58) benannt, welchem zufolge man das Denken des Einen immer nur als dasjenige denken könne, welches sich vom anderen unterscheidet. Die Form/Inhalt-Dichotomie stellte sich Rickert letztlich als »eine Spezifikation des heterothetischen Grundprinzips« (Krijnen 2001: 257) dar. Krijnen hat herausgearbeitet, auf welche Weise auch Rickerts Konzipierung der Philosophie als Weltanschauungslehre eine heterothetisch vermittelte »Doppelaspektigkeit« aufwies (ebd., 124). In der Wissenschaftslehre wurde die Trennung zwischen ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ konstitutiv für die begriffstheoretische Abgrenzung von Natur- und Kulturwissenschaften. Die Kluft, die sich hier zwischen der wissenschaftlichen Darstellung der ›Wirklichkeit‹ und dem realen Geschehen auftat, wurde über den Umweg der Wertbeziehungslehre auf konzeptueller Ebene überbrückt. In unserer Darstellung wurde die zentrale Bedeutung der Wert/Wirklichkeit – Unterscheidung in den Vordergrund gestellt. Deren Gewicht ergab sich daraus, dass diese Unterscheidung in der späten Phase eine ontologische Konnotation erhielt. Das Reich der Werte bekam einen eigenständigen Seinsstatus zugesprochen und wurde seit ca. 1915 zum Zentrum von Rickerts Grundlegungsphilosophie. 38 Eine schöne Übersicht über die verschiedenen Formen holistischer Argumentationen bietet eine von Bertram/Liptow (2002a) besorgte Aufsatzsammlung. 39 Kuttig sieht darin einen Aufweis dafür, »wie sehr Rickert hier in den Bahnen Kants denkt, wie selbstverständlich ihm dieses Denken ist« (1987: 43).

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Mit philosophiegeschichtlichem Blick kann man die Auseinandersetzung zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus als Wiederauflage des alten Streits zwischen Hegel und Kant betrachten, den Alexander Farshim kürzlich im Kontext der jüngeren Holismus-Debatte reaktualisiert 40 hat (2002: 190ff.). Dabei kann Dilthey als Hegels Anwalt in Szene gesetzt werden, dessen Ziel darin bestand, gegen Kants Lehre von der Unerkennbarkeit der ›Welt an sich‹ »den klassischen Anspruch der Philosophie als Ontologie unter modernen Bedingungen wieder aufzunehmen« (ebd., 190). Der hier skizzierte Diskurs um die Möglichkeit einer Abgrenzung der Geistes- und Naturwissenschaften kann andererseits als Präludium einer später von Quine, Sellars, Davidson, Rorty und Brandom in der Analytischen Philosophie etablierten Theoriebewegung aufgefasst werden, in der es darum geht, die auf dualistischen Entgegensetzungen – Immanenz/ Transzendenz (Deleuze/Guattari 2000), Verstandeswahrheiten/Tatsachenwahrheiten (Quine 1979), begriffliches Schema/empirischer Gehalt (Davidson 1990) – fundierten naturalistisch-empiristischen Beschreibungen 41 philosophischer Problemstellungen zu überwinden. Die Husserlsche Phänomenologie nimmt zwischen der neukantianischen Position eines radikalen Dualismus einerseits und des lebensphilosophischen Holismus eine Mittelstellung ein. Husserl postulierte zum einen eine strikte Trennung zwischen natürlicher Einstellung einerseits und transzendentaler, phänomenologischer Einstellung andererseits, beschritt aber von dieser Basis aus den Weg, die Bewusstseinsprozesse, welche die Konstitution eines transzendentalen Subjekts voraussetzt, sinngenetisch zu erforschen. Husserls Ausgangspunkt bildete somit nicht wie bei Rickert eine abstrakte Gegenstands- und Welttheorie, sondern die konkrete Wahrnehmung, die es zunächst deskriptiv und schließlich genetisch aufzuklären galt. Auf diese Weise hatte Husserl die für Rickert zentrale Ausgangsfrage, wie die Welt als theoretischer Gegenstand zu denken ist (Kuttig 1987: 40), in diejenige nach dem Ursprung der ›Welt‹ umgedeutet. Von einer Aufhellung dieses Zusammenhangs im Sinne Diltheys blieb Husserl aufgrund seiner systematischen Beschränkung auf egologisch-transzendentale Sinnaufklärung stets entfernt. Die Grundrichtung der phänomenologischen Aufklärung ließe sich in Abgrenzung zum Dualismus Rickerts sowie zum Holismus Diltheys behelfsweise als monistisch kennzeichnen. In Anlehnung an eine Beschreibung Kogges kann man eine monistische Position dadurch charakterisieren, dass »›Geist‹ und ›Welt‹ nicht voneinander getrennt einander gegenüberstehen, sondern in einer Einheit vorliegen« (1999: 69). Welche theorieleitende Funktion in der Husserlschen Phäno-

40 Siehe dazu auch den übersichtlichen Aufsatz von Rotenstreich (1983). 41 Eine prägnante Rekonstruktion liefert Farshim (2002: 192ff.). Siehe auch die Diskussion zwischen Rorty, Quine, Davidson und Putnam auf dem Stuttgarter Hegel-Kongress 1981 (Henrich 1983: 408ff.).

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menologie dem transzentalen Bewusstsein zukommt, erhellt aus folgender Umschreibung de Palmas: »Husserl versteht das Bewusstsein als ein ›Sein‹ bzw. eine ›Wirklichkeit‹, als eine ›ontologische Region‹ bzw. ›Kategorie‹, die alles andere in sich fasst. Das Bewusstsein ist absolut als ontologisches Fundament, d.h. als Substanz, die die letzten Bestände der Wirklichkeit und somit dieWirklichkeit selbst enthält, und nicht bloß als Ort der Konstitution bzw. des Erscheinens, d.h. als Funktion, von der aus alle Setzung und Ausweisung vollzogen wird« (2005: 185).

Nur vor dem Hintergrund dieses bewusstseinstheoretischen Ausgangspunktes können Husserls Beschreibung von Weltbezügen wie Historizität, Sozialität, Intersubjektivität angemessen erfasst werden. Die hier eingebrachte Unterscheidung zwischen Holismus, Dualismus und Monismus ist als ein heuristisch intendierter Vorschlag zu werten, mit welchem die strukturgebenden Ausgangspunkte der jeweiligen Grundlegungsaxiomatiken auf jeweils einen Begriff gebracht werden können.

Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft: Vorbereitende Bemerkungen Im folgenden dritten Teil der Arbeit sollen die Konturen derjenigen Theoriegestalt beleuchtet werden, die man neuerdings wieder als eine ›Kritik 42 der soziologischen Vernunft‹ bezeichnen kann. Da mit plakativen Formeln zunächst wenig gewonnen ist, soll der Sinn, in dem sie hier verwendet wird, näher beschrieben werden. Wir können uns zur Eingrenzung unserer Aufgabenstellung abermals auf die Originalquelle, nämlich Kants Abfassung der »Idee und Einteilung« einer reinen, theoretischen Vernunftkritik beziehen. Er unterschied darin zwischen einer »Dogmatik« und einer »Propädeutik« einer ›Kritik der reinen Vernunft‹ (KrV: A 12). Gemäß der Beschreibung in der Einleitung handelte seine »Untersuchung« von einer bloßen »Vorbereitung« zu einem »System der Philosophie«, nicht schon von der erst noch zu begründenden »Transzendental-Philosophie« selbst (ebd.). In diesem Sinne verstehen sich auch die folgenden Ausführungen als Prolegomena zu dem, was man mit Wolf Lepenies als die »kognitive Identität« (1981: Iff.) der modernen Soziologie bezeichnen kann. Der Weg zu diesem Ziel soll über eine Untersuchung der Abgrenzungsstrategien von Pionieren einer autonomen Gesellschaftslehre – eine Vorstellung, die um die Jahrhundertwende mindestens ebenso viele Anta-

42 Vgl. oben S. 20.

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gonisten wie Protagonisten hatte – führen. Dabei ist von vornherein hervorzuheben, dass der Terminus ›Identität‹ hier nicht im Sinne von semantischer Gleichheit zu nehmen ist und die offenkundigen Differenzen zwischen den Soziologiekonzeptionen und den philosophischen Anleihen Simmels, Webers und Schütz’ weder übergangen noch rekonstruktiv eingeebnet werden sollen. Vielmehr sollen zunächst die jeweiligen theoretischen ›Gestalten‹ für sich betrachtet und im Hinblick auf innere argumentationsstrategische Kohärenz analysiert werden. Der eingerichtete Fokus zielt also in erster Linie auf die ›Kritik‹ seitens der Vertreter einer autonomen soziologischen Betrachtungsweise gegenüber unterschiedlichen Spielarten der philosophischen Vernunftkritik. Diese spezifische Ausrichtung der Fragestellung erfordert somit eine an den jeweiligen Autoren orientierte Rekonstruktion des jeweiligen Verhältnisses zur Erkenntnistheorie. Für die Auswahl der im Folgenden zu behandelnden Autoren war das Kriterium ausschlaggebend, dass sie zur Frage nach der epistemologischen Fundierung der Soziologie ausführlich Position bezogen haben. Die geistige Nähe zu den im zweiten Teil ausgeführten philosophischen Grundlegungsprogrammen ergab sich dabei aus den im ersten Teil der Arbeit dargelegten problemgeschichtlichen Zusammenhängen, insbesondere desjenigen Phänomens, welches als ›Krise des Wissens‹ zusammengefasst wurde. Unter dieses Kriterium fallen damit keineswegs nur Autoren, die im ›Haus der Soziologie‹ (Käsler 2003a: 11ff. ) in den oberen Stockwerken residieren, sondern ebenso Autoren wie etwa Ferdinand Tönnies, Alfred Vierkandt, Leopold von Wiese, Alfred Weber, Karl Mannheim oder auch Siegfried Kracauer, die in geringerem Maße als etwa Simmel und Weber ihre Reputation ihren grundlagentheoretischen Einsichten verdanken. Allerdings soll die Frage nach der ›kognitiven Identität‹ prinzipiell unabhängig von dem allgemein zugewiesenen Status des jeweiligen Theoretikers im Kollektivgedächtnis der Soziologie behandelt werden. Ohnehin lässt sich keineswegs behaupten, dass die grundlagentheoretischen Debatten über die theoretische Haltbarkeit selbst von Webers ›Wissenschaftslehre‹, die seit mittlerweile mehr als fünfzig 44 Jahre andauern, zu einem abschließenden Ergebnis geführt hätten. Es wird zu erhellen sein, inwiefern es möglich ist, die methodologischen Arbeiten der Gründerväter der Soziologie als originäre Beiträge zur Lösung der ›Krise des Wissens‹ neben diejenigen der vermeintlichen Fachkollegen aus der philosophischen Fakultät zu stellen. Eine solche Gegenüberstellung von systematisch orientierten Philosophen einerseits und in Richtung 43 Noch im Jahre 1925 bezeichnete Spranger die Soziologie als »Rattenkönig verschiedenster Fragestellungen, Methoden und Gegenstände« (1980: 134). 44 Für den Fall von Webers ›Wissenschaftslehre‹ belegen dies eindrücklich wieder die Beiträge anlässlich des 100jährigen Erscheinungsjubiläums von Webers ›Objektivitätsaufsatz‹ im Berliner Journal für Soziologie und darin insbesondere der Aufsatz von Michael Schmid (2004: 545-560).

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auf die Fundierung empirischer Einzelwissenschaften argumentierenden ›Behelfsphilosophen‹ auf der anderen Seite, wird insbesondere auf die Marksteine zu achten haben, an denen sich die jeweiligen Anspruchshaltungen und theoretischen Zielbestimmungen voneinander abheben lassen. Wie noch im Detail zu belegen sein wird, argumentieren in der Regel Vertreter der Philosophie kategorisch gegen die Zweckmäßigkeit eines solchen Vergleichs mit dem Hinweis darauf, dass empirische Einzelwissenschaft und systematische Philosophie prinzipiell divergierende Erkenntnisrichtungen verfolgen. Aus der Spannung gegenüber dieser traditionellen Grundeinstellung, welche eine feste Grenze zwischen Philosophie und Wissenschaftstheorie der empirischen Wissenschaften konservieren will, bezieht unsere Interpretationsrichtung ihre Motivation. Nachdem insbesondere der erste Teil der Untersuchung auf einen allgemeinen, diskursüberwölbenden Problemzusammenhang hingewiesen hat und im zweiten Teil mit Diltheys Konzeption einer historischen Vernunftkritik eine Position vorgestellt wurde, welche die Grenzlinie zwischen systematischer und empirisch-historischer Forschung von Grund auf revidieren wollte, kann jene Grundhaltung als dogmatisch qualifiziert werden. Die zu erweisende Hypothese vorwegnehmend, soll im Einzelnen nachgewiesen werden, dass die vermeintliche philosophisch-systematische Schwäche, welche bis heute Autoren wie Simmel und Mannheim vorgehalten wird, durchaus mit einer systematischen Einstellung und Diagnose des kulturgeschichtlichen Wandels und damit einhergehend des Status und der Fundierbarkeit von theoretischem Wissen in Verbindung stand. Die Gliederung des folgenden und zentralen Teils der Untersuchung folgt einem chronologischen Sinn. Die Alternative einer thematisch geordneten Behandlung nach spezifischen epistemologischen Kernfragen, wäre dazu geeignet gewesen, die für unsere Interpretationsrichtung relevanten Faktoren der Systematizität und inneren Geschlossenheit im Hinblick auf die jeweilige Gestalt einer Theorie des Wissens zu überdecken. Wir verfolgen also nicht die Absicht einer Klassikerexegese in dem Sinne, dass eine Gesamtdeutung eines Werks angestrebt wird. Der hier zugrunde gelegte Themenfokus lässt jeweils nur spezifische, inhaltlich bestimmte Textsorten ins Zentrum rücken, nämlich solche, die sich dezidiert mit erkenntnistheoretischen, methodologischen und metatheoretischen Problemstellungen befassen. Es handelt sich in der Regel sogar um Arbeiten der betreffenden Autoren, welchen im Vergleich zu ihren materialen Arbeiten eine geringe Beachtung zuteil geworden ist. Dies gilt insbesondere für zweitrangige Klassiker wie Mannheim und Schütz, aber auch noch für Simmel, dessen epistemologische Arbeiten bis heute keiner zusammenhangbeleuchtenden Darstellung gewürdigt worden sind. Die zeitdiagnostischen und modernitätskritischen Arbeiten der soziologischen Autoren spielen in Hinblick auf die Bestimmung von deren Perspektive auf das ›Problem des Wissens‹ ebenfalls eine wichtige Rolle. Eine Auseinander-

ZWISCHENBETRACHTUNG | 205

setzung mit rezeptionsgeschichtlichen Interpretationsvorschlägen soll im Folgenden schlechterdings auf die Subtextebene transponiert werden und primär zur Verdeutlichung von Grundaporien und Äquivokationen herangezogen werden.

Teil III: Zur ›soziologischen‹ Kritik der ›philosophischen‹ Vernunft

Simmels Fundierung der Sozialw issenschaften zw ischen Neukantianismus und Lebensphilosophie

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im deutschsprachigen Raum ein Diskurs um die Begründung der Soziologie als eigenständige Lehre von der Gesellschaft. Diese Auseinandersetzungen waren teilweise thematisch eng an die im vorigen Teil ausführlich erörterten Debatten um eine ›Kritik der historischen Vernunft‹ geknüpft, wie sich nicht zuletzt auch am Werk Georg Simmels aufzeigen lässt. Gegenüber alternativen Argumentationsstrategien für eine autonome Soziologie wie sie beispielsweise von Ferdinand Tönnies verfolgt wurden, ist Simmel als diejenige Figur auszeichnen, die sich erstmals um eine genuin epistemologische Abgrenzung der soziologischen Perspektive von solchen Disziplinen, die aus je speziell ausgerichteten Blinkwinkeln mit ›Gesellschaft‹ befasst waren, bemühte. Die wichtige und dennoch erst jüngst beschriebene Vorgeschichte der modernen deutschen akademischen Soziologie soll damit keineswegs negiert oder überschrieben werden (vgl. Röttgers 1995; Acham 1996; Wagner 2000; 2001). Gleichwohl soll durch die besondere Fokussierung Simmels das allgemein vorherrschende Vorurteil, dem zufolge die moderne deutsche Soziologie von Max Weber begründet worden sei, korrigiert werden. Wie bereits Tenbruck hervorgehoben hat, waren Simmel und Weber unter Beachtung der Zeitfolge der jeweiligen Konzipierung einer Gesellschaftstheorie »keine Zeitgenossen« (1958: 593), denn Simmel hatte bereits mindestens zehn Jahre vor Weber einen originären Begriff von Soziologie entwickelt (vgl. Lichtblau 1994: 532f.; Frisby 1988: 583). Der Richtungspunkt unserer Rekonstruktion verfolgt jedoch ein über Simmels Soziologiekonzept weit hinausführendes Ziel, nämlich die Ergründung der ordnungsstiftenden Systematik, auf welcher seine umfangreichen Einzelstudien zurückzubeziehen sind. Doch gerade Simmels

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Schriftkorpus stellt diesem Ansinnen besondere Hindernisse in den Weg, weil das Werk Simmels bekanntermaßen durch eine unvergleichliche thematische Weitläufigkeit und ›Fragmentiertheit‹ ausgezeichnet ist. Exakt diese Eigenschaften haben schließlich die Mehrzahl der Interpreten zu der Konklusion veranlasst, dass sich hinter dem Facettenreichtum von Sim1 mels Beschäftigung keinerlei Systematik oder Grundintention verberge. Im Folgenden soll gegenüber dieser Interpretationsweise die neuerdings verstärkt zu beobachtende Deutungsrichtung gestützt werden, die in dem Dickicht des Simmelschen Oeuvres durchaus auf systematisch begründete Zusammenhänge zu stoßen vermeint. Es soll im Detail demonstriert werden, dass sich systematische, genauer: erkenntnistheoretische und methodologische Gründe für die eigentümliche Form von Simmels Denk- und Argumentationsstil anführen lassen, die bis heute weitgehend unberück2 sichtigt geblieben sind. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit behandelte Problemstellung wird insbesondere eine Thematik anvisiert werden müssen, die Michael Großheim jüngst als diejenige der »Verortung seines Werks im Spannungsfeld von Soziologie und Philosophie« bezeichnet und welche er »zu den Auf3 gaben der nächsten Zeit« gerechnet hat (1996: 11). Heinz-Jürgen Dahme hat bereits vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass sich durch die unterschiedlichen Werkphasen Simmels durchaus eine konstante Wissenschaftsauffassung aufzeigen lässt. Zugleich betonte er jedoch, dass zu diesem Zweck eine Rekonstruktion inhaltlich weit auseinander liegender Textsorten notwendig sei, da Simmel selbst offenbar nicht darauf bedacht war, den seine Arbeiten durchziehenden roten Faden kenntlich zu machen. Dieser wurde nicht zuletzt durch die bis heute beständig replizierte Dreiteilung von Simmels Denkentwicklung in eine frühe, positivistisch orientierte, eine mittlere, in welcher sich Simmel neukantianischen Ansätzen und Problemstellungen angenähert hatte, und eine dritte, lebensphiloso4 phisch inspirierte Phase, verdeckt. Jüngere Autoren haben das in diesem Schema transportierte Bild zu destruieren begonnen. Dahme (1984: 222f.)

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Diese Deutungsrichtung findet sich sowohl bei frühen Interpreten wie Durkheim, Weber, Sorokin, von Wiese, Benjamin, Adorno, Coser als auch noch ansatzweise bei zeitgenössischen Autoren wie Frisby. Siehe dazu insbesondere Geßner (2003: 269) und Axelrod (1977: 185). Tendenziell findet sich diese Grundintention schon in Tenbruck (1959a), Müller (1960) und Weingartner (1962). Mit epistemologischem Fokus siehe insbesondere die jüngeren Interpretationsansätze von Dahme (1984: 212f.), Ziemann (2000), Fitzi (2002) und Geßner (2003), auf die im weiteren noch Bezug genommen wird. Auf die Grundproblematik der Abgrenzbarkeit von Philosophie und Wissenschaft bei Simmel haben Dahme (1984) und Lichtblau (1984: 233) aufmerksam gemacht. Diese Einteilung geht wohl ursprünglich auf Frischeisen-Köhler (1919/20) zurück.

SIMMELS FUNDIERUNG DER SOZIALWISSENSCHAFTEN | 211

hat in diesem Sinne demonstriert, dass das Prädikat ›Positivist‹ auf den jungen Simmel nicht anwendbar sei, da sich bereits das Philosophieverständnis des ›frühen‹ Simmel in mehreren Punkten von dem positivistischen wesentlich unterschied. Hervorzuheben ist hier auch Köhnkes maßgebliche Rekonstruktion des ›jungen Simmel‹ (1996), auf die wir uns häufiger beziehen werden. Diesen Spuren folgend, setzt unsere Interpretation hauptsächlich an der Entwicklung des Simmelschen Wissenschafts- und Philosophiebegriffs an. Wie gleich zu bedeuten sein wird, lässt sich ausschließlich über diesen Umweg auch ein Einblick in Simmels Zeit- und Krisendiagnose nicht nur in Bezug auf das moderne Leben, sondern auch das modere Wissen gewinnen. In Simmels konzeptionellen Arbeiten zur Erkenntnistheorie finden sich erstaunlicher Weise kaum signifikante Hinweise auf außerwissenschaftliche Problemkontexte und Motivlagen, geschweige denn auf eine Wissenskrise in dem Sinne, wie sie von Dilthey, Rickert oder Husserl expliziert 5 wurde. Selbst sein Interesse an ›Kantwissenschaft‹ , der er nicht nur seine Qualifikationsarbeiten widmete, sondern insbesondere in zahlreichen Vorlesungen nachging, begründete er auf vergleichsweise nüchterne und pragmatische Weise: »Die Absicht dieses Buches ist keine philosophiegeschichtliche, sondern eine rein philosophische« (GSG 9: 9). Er verfolgte mit der Veröffentlichung seiner Kant-Vorlesung offenkundig auch keinerlei (weltanschauliche) Ambitionen außer, »die fachmäßig-sachlichen Sätze 6 Kants nach ihrem eigentlich philosophischen Wert dar(zu)stellen« (ebd.). Ebenso nüchtern fällt die Übersicht über die einleitenden Vorbemerkungen seiner erkenntnistheoretischen Studie ›Die Probleme der Geschichtsphilosophie‹, seiner ersten soziologischen Studien zur ›socialen Differenzierung‹ sowie seiner Moraltheorie aus. Auch darin versagte sich Simmel jegliche Bezugnahmen auf außerwissenschaftliche Bestimmungsfaktoren, so dass selbst »Deutschlands einziger Positivist von Rang«, Ernst Laas, Simmels ›Vornehmheit‹, sich auf die Aufgabe einer Popularisierung der Kantschen Philosophie einzulassen, abwertend kommentierte (vgl. Köhnke 1996: 97f.). Diese Feststellungen scheinen zunächst das kursierende Bild vom ›jungen Simmel‹ als Positivisten durchaus zu bestätigen. Auch Köhnkes (ebd., 103f.) Beschreibung des ›jungen Simmel‹ sowie Dahmes (1984: 212ff.) diesbezügliche Aufschlüsse bezeugen, dass Simmel mindestens bis zur Publikation der ›Probleme I‹ 1892 einem recht engen, positivistischen Philosophieverständnis im Sinne einer reinen Fachwissenschaft das Wort 5 6

Köhnke (1996: 102) zufolge wendete sich Simmel mit dieser eigenwilligen Terminologie bewusst gegen jegliche Form des Neukantianismus und insbesondere gegen den südwestdeutschen Kantianismus. In diametralem Gegensatz dazu stehen die programmatischen Kantinterpretationen Windelbands und insbesondere Rickerts, der Kant sogar als »Philosoph der modernen Kultur« (1924) in Szene setzte.

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geredet hatte. Köhnke sieht ihn sogar als typischen Repräsentanten derjenigen akademisch-philosophischen Bewegung, die seit den 1850ern gegenüber dem staatlich-institutionellen Vereinnahmungsdruck auf eine strikte Separierung von weltanschaulichen und theoretischen Fragen wir7 ken wollte (1996: 104). Mit diesem Kontext lässt sich also eine mittelbare Erklärung für Simmels auffallende und als untypisch erscheidende Abstinenz sowohl von weltanschaulichen Sinnfragen als auch metatheoretischen Sachfragen angeben. An diese Diagnose knüpft sich sogleich die Frage, durch welche Einsichten Simmel schließlich doch zu einer Relativierung seiner ursprünglichen Grundprinzipien und insbesondere zur Erweiterung seines Philosophiebegriffs um »metaphysische« Problemaspekte bewegt wurde. Erinnert sei bereits an dieser Stelle daran, dass Simmel spätestens mit der ›Philosophie des Geldes‹ jene Doktrin eingeführt hatte, welcher zufolge jede empirische Einzeldisziplin von zwei Seiten aus von philosophischen Grundwis8 senschaften eingerahmt sei. Auf der einen Seite müssten sie – gewissermaßen von unten her – epistemologisch fundiert werden. Auf der anderen Seite sollte eine metaphysische Reflexionsrichtung die Möglichkeit geben, die empirisch festgestellten Resultate auf allgemeinere Implikationen und Zusammenhänge mit weiteren Phänomenkreisen zu beforschen. Wie auch die bereits geschilderte triastische Einteilung von Simmels Wergenese andeutet, verschob sich das Hauptgewicht von Simmels Interessen nach den beiden Auflagen der ›Philosophie des Geldes‹ immer mehr in die Gefilde der Metaphysik, wobei hier allerdings mit Dahme zwischen einer »einzelwissenschaftlichen Metaphysik« (1984: 225) und einer »eigenständigen philosophischen Metaphysik« zu unterscheiden wäre. Jene ›lebensphilosophische Wende‹, deren Explikation unten besondere Aufmerksamkeit zuteil werden soll, deutet auf diese Akzentverschiebung in Richtung einer philosophischen Metaphysik hin. Unsere eigentliche Fragestellung nach dem systematischen Zusammenhang in Simmels Arbeiten wieder aufgreifend, können wir einen Hinweis für ihre Beantwortung aus Simmels viel beachteter ›Selbstdarstellung‹ erhaschen, welche die frühen und sachlich durchaus heterogenen wissenschaftlichen Unternehmungen in einen bestimmten Bezug setzt: »Ich bin von erkenntnistheoretischen und kantwissenschaftlichen Studien ausgegangen, mit denen geschichtliche und sozialwissenschaftliche Hand in Hand gingen. Das erste Ergebnis davon war das (in den Problemen der Geschichtsphilosophie durchgeführte) Grundmotiv: daß Geschichte die Formung des unmittelbaren, nur zu erlebenden Geschehens gemäß den Aprioritäten des wissenschaftli7 8

Vgl. dazu die Ausführungen im philosophiegeschichtlichen Teil dieser Arbeit. In der Frage, von wann diese Einteilung datiert, gibt es divergierende Antworten, welche an geeigneter Stelle diskutiert werden.

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chen Geistes bedeutet, genau wie Natur die Formung des sinnlich gegebenen Materials durch die Kategorien des Verstandes bedeutet. Diese Trennung von Form und Inhalt des geschichtlichen Bildes, die mir rein erkenntnistheoretisch entstand, setzte sich mir dann in ein methodisches Prinzip innerhalb einer Einzelwissenschaft fort: ich gewann einen neuen Begriff der Soziologie, indem ich die Formen der Vergesellschaftung von den Inhalten schied, d. h. den Trieben, Zwecken, Sachgehalten, die erst, von den Wechselwirkungen zwischen den Individuen aufgenommen, zu gesellschaftlichen werden; die Bearbeitung dieser Arten der Wechselwirkungen habe ich deshalb, als den Gegenstand einer reinen Soziologie, in meinem Buche unternommen. Von dieser soziologischen Bedeutung des Wechselwirkungsbegriffs aus aber wuchs er mir allmählich zu einem schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzip auf« (1958: 9).

Simmel suggeriert in dieser Passage einen konzeptionellen Zusammenhang zwischen seinen philosophischen und empirischen Arbeitsgebieten, welcher durch die Form/Inhalt-Dichotomie einerseits und dem Wechselwirkungsbegriff andererseits gestiftet worden sei. Bedeutsam scheint der Hinweis darauf, dass es die Feststellung der Eigengesetzlichkeit und Eigenlogik bestimmter Erkenntnisformen – im vorliegenden Fall der ›Geschichte‹ und der ›Soziologie‹ – gewesen sei, welche Simmel zur Überschreitung zuvor gesetzter Disziplingrenzen angeregt habe. Unsere im Folgenden zu entwickelnde Rekonstruktion von Simmels Theorie des Wissens nimmt dessen autobiographischen Hinweis insofern ernst, als dessen Formentheorie, die sich bei ihm nicht in einer ausgezeichneten Abfassung niedergelegt findet, sondern aus dem Gesamtzusammenhang zu erschließen sein wird, als allgemeiner Interpretationsschlüssel zur Erschließung derselben behandelt wird. Entsprechend wird die Relevanz der traditionellen Phaseneinteilung von Simmels Werk durch diese Ausrichtung eingeschränkt. Eine besondere Grundproblematik kann auf diesem Weg jedoch nicht ausgeklammert werden, nämlich die Frage nach dem inhaltlichen Zusammenhang etwa zwischen Simmels Epistemologie der Geschichtswissenschaften und seiner Grundlegung der Soziolo9 gie. Die lange Tradition der Nichtbeachtung von Simmels epistemologischen Arbeiten in der Soziologie und Philosophie dürfte weniger mit derem philosophischen Gehalt als unter Verweis auf das bereits angedeutete traditionelle Vorurteil gegenüber Simmels vermeintlicher Unsystematizität erklärbar sein. Lichtblau gebührt das Verdienst, eine gründlichere Deutung dieser beiden Untersuchungsgebiete angeboten zu haben (1997: 32ff.), auf 10 die noch an geeigneterer Stelle einzugehen sein wird. Helle und Lichtblau sind sich indes grundsätzlich einig darin, dass die entsprechenden

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Bei Helle (1988: 78ff.), der die Relevanz dieser Frage immerhin als einer der Wenigen erkennt, findet sich keine systematische Lösung unterbreitet. 10 Siehe dazu auch Kim (2002: 455f.).

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thematischen Schriften, in denen man im Übrigen so gut wie keine Querverweise findet, nicht als adversativ angesehen werden sollten. Zentrale Anhaltspunkte entnimmt unser Rekonstruktionsansatz aus 11 Simmels weithin vernachlässigten epistemologischen Arbeiten. Hinzugenommen werden schließlich auch die kulturtheoretischen Ausführungen und die lebensphilosophisch inspirierten Spätschriften, um das Bild zu ergänzen. Es wird sich zeigen, dass Simmels bereits angedeutete Einteilung des Wissens nach drei Kriterien – epistemologisch, empirisch, metaphysisch – nicht nur auf Einzelwissenschaften anwendbar ist, sondern auch auf Simmels Wissensbegriff übertragen werden kann. Eine solche Übergangsbewegung deutete sich in Simmels ›Selbstdarstellung‹ bereits an. Erschwert wird unser Unterfangen dennoch durch die eigentümliche Begebenheit, dass Simmel im Laufe seiner Denkentwicklung mindestens drei Versionen einer Epistemologie der Geschichtswissenschaften vorgelegt hatte, die sich darüber hinaus in ihrer philosophischen Ausrichtung durchaus widersprachen. Es ist als kurios und zugleich symptomatisch einzuschätzen, dass bis heute noch keine systematisch-philosophische Vergleichsstudie der ersten beiden Auflagen von Simmels ›Probleme‹ angegangen wurde. Im Allgemeinen wird die »völlig veränderte« zweite Auflage als Hinwendung Simmels zum Badischen Neukantianismus gewertet. Rickert selbst schließlich merkte in der zweiten Auflage seiner ›Grenzen‹ gegenüber Simmels überarbeiteter Fassung mit Genugtuung an, 12 dass dieser nunmehr auf seine Linie eingeschwenkt sei. Im Jahre 1913 teilte Simmel Rickert seinen Plan einer abermaligen Neufassung der ›Probleme‹ mit, welche wiederum zu einem »ganz neuen Buch« führen 13 würde. Simmel hatte die zweite Überarbeitung seiner Geschichtstheorie zwar nicht mehr zu einem Abschluss bringen können, dennoch verraten einige wenige publizierte Aufsätze die philosophische Richtung, in welche die Neuauflage eingeschlagen wäre. Es wird ein zentrales Anliegen der folgenden Interpretation sein, zu belegen, dass in diesem Entwicklungsprozess Simmel zu neuen systematischen Einsichten gelangt ist, die im Hinblick auf eine Rekonstruktion seiner Theorie des Wissens von Belang sind. Einen Hinweis darauf gibt allein schon die tragende Rolle des Verstehensbegriffs. Während Simmel noch 1892 bekannte, dass er noch nicht über ein »positives Bild« (GSG 2: 318) der beim Verstehen involvierten

11 Mit dieser Fokussierung auf Simmels erkenntnistheoretischen Schriften unterscheidet sich die vorliegende Deutung etwa von derjenigen Geßners (2003), welche in Simmels Kulturtheorie den Kern von Simmels Systematik annimmt. 12 Siehe hierzu Fellmann (1980: 177f.), der dieses einseitige Bild relativiert. 13 Siehe dazu den ›Editorischen Bericht‹ von Guy Oakes und Kurt Röttgers zu GSG 9 (1997: 426ff.).

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»Bewußtseinsakte« verfügte , deutet allein der Titel eines seiner letzten Aufsätze – ›Vom Wesen des historischen Verstehens‹ – auf einen signifikanten Erkenntnisfortschritt hin. Diese Entwicklung in ihren groben Zügen zu skizzieren und dabei die in den jeweiligen Stadien prävalenten gegensätzlichen Tendenzen des Psychologismus, Neukantianismus und der Lebensphilosophie in Zusammenhang zu bringen, soll im Nachfolgenden versucht werden. Inwiefern Simmels Systematik einer Wissensfundierung auf keine dieser Strömungen reduziert werden kann, soll auf diese Weise zum Vorschein gebracht werden.

Der ›frühe Simmel‹ und seine Stellung zur ›Kritik der historischen Vernunft‹ Simmels Hinweis in seiner ›Selbstbeschreibung‹, dass er über seine frühe Beschäftigung mit geschichtsphilosophischen Fragen zu einem zentralen Durchbruch gelangt sei, wurde in Köhnkes akribischer Rekonstruktionsstudie bestätigt. Dabei hat Köhnke (1996: 425) die ›Probleme I‹ als dasjenige Werk beschrieben, in welchem Simmel Abschied von den evolutionistischen und positivistischen Voraussetzungen, welche noch seine erste Konzeption von Sozialwissenschaften in ›Über sociale Differenzierung‹ (1890) prägten, genommen hatte. Insofern bedeutete dieser ›Durchbruch‹ zugleich den ersten und verbindlich gebliebenen Schritt seiner Theorie der Wissensbegründung, der hier näher beleuchtet werden soll. In Bezug auf die Fundierung seiner späteren Soziologie, deren programmatische Formulierung wiederum zwei Jahre nach den ›Problemen I‹ in dem Aufsatz ›Das Problem der Sociologie‹ erfolgte, hat Köhnke resümiert, dass erst die Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen der Geschichtswissenschaften Simmels klassische So15 ziologiekonzeption ermöglicht hätten (ebd., 429). Auch dieses Bild der chronologischen Entwicklung von Simmels Denksystem stimmt folglich mit Simmels Selbstbeschreibung überein. In welchen Hinsichten sich die neue Position Simmels von der ursprünglichen Fassung von ›Sociologie‹ 16 exakt unterschied, kann hier nicht dargestellt werden. Stattdessen werden in den nächsten Kapiteln die philosophischen Ausgangspunkte der ›Probleme I‹ und deren Fortentwicklung zu einer allgemeinen Theorie des Wissens in den folgenden Jahrzehnten nachgezeichnet.

14 Vgl. auch Köhnkes Beobachtung, derzufolge »Simmels i.e.S. soziologische Schriften der Frühzeit [...] sich insgesamt desinteressiert am Problem des Verstehens (zeigen)« (1996: 384). 15 Der klassischen Konzeption ging diejenige voraus, die Simmel zuvor in ›Über sociale Differenzierung‹ entwickelt hatte. 16 Hierzu liefert Köhnkes (1996: 397ff.) Studie alle relevanten Informationen.

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1. Der ›kantianische‹ Ausgangspunkt Sucht man nach eindeutigen philologischen Indizien, die Hinweise auf die Verschiedenheit der Ansätze vor und nach den ›Problemen I‹ geben, so kann man auf die auffällig unterschiedliche Rekursnahme auf Kant in den unterschiedlichen Phasen verweisen. Während der Name Kants in dem einleitenden erkenntnistheoretischen Kapitel von ›Über sociale Differenzierung‹ überhaupt nicht auftauchte, stehen Duktus und Nomenklatur der ›Probleme‹ merklich in der Tradition der durch Kant inaugurierten Theo17 rie- und Begründungssprache. Dieser Sachverhalt nimmt vor dem Hintergrund, dass Simmel ja von ›kantwissenschaftlichen Studien‹ ausgegangen war, zunächst nicht Wunder. Dagegen wäre viel eher nach den Gründen zu fragen, weshalb Simmel die Frage ›wie ist Gesellschaft möglich?‹ nicht schon 1890 gestellt hatte, sondern erst lange nachdem die ›Probleme‹ 18 bereits schon wieder in überarbeiteter Fassung vorlagen. In jedem Fall scheint offenkundig, dass Simmel vor den ›Problemen I‹ noch keine klare Vorstellung von dem Potential des Kantianismus für eine Fundierung der Sozialwissenschaften hatte und noch weitgehend von positivistischen und völkerpsychologischen Denkmodellen und Konzepten ergriffen war. Rammstedt (1999: 901) hat in Simmels Revision der ›Probleme I‹ im Jahre 1904 eine »kantianische Wende« identifiziert, die wiederum einschneidende Rückwirkung auf Gestalt und Gehalt der ›großen Soziologie‹ 19 gehabt hätte. Dieses widersprüchliche Bild, das eine Kluft zwischen dem ›frühen‹ und dem ›mittleren‹ Simmel zu erkennen gibt, gilt es also im Folgenden zu vermitteln. Hierbei scheint mit dem oberflächlichen Schlagwort ›Kantianismus‹ der notwendige Hebelansatz benannt zu sein. In Übereinstimmung damit behaupten zugleich mehrere Interpreten, dass Simmel be17 Köhnke (1996: 419) geht sogar so weit, zu behaupten, dass die Kapitelgliederung der ›Probleme‹ exakt Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ nachempfunden sei. Geßner (2003: 30) hat diese Position übernommen. 18 Bekanntermaßen stellte Simmel diese Frage in seinem bekannten ›Exkurs‹ im Anhang an die Einleitung der ›großen Soziologie‹. Siehe in Bezug auf diese Frage die informativen Ausführungen Otthein Rammstedts im ›Editorischen Bericht‹ zur Edition der ›großen Soziologie‹ in GSG 11. 19 Gegenüber der Übereinstimmung suggerierenden Bezugnahme Köhnkes (1996: 431) auf Rammstedts These muss hervorgehoben werden, dass Köhnke offenkundig bereits mit den ›Problemen I‹ den Auslöser für Simmels Überarbeitung seiner frühen Soziologiekonzeption annimmt, während Rammstedt erst die chronologisch wesentlich später erfolgte ›kantianische Wende‹ als entscheidenden Durchbruch nimmt. Köhnke scheint zu übersehen, dass Rammstedt mit keinem Wortlaut die Bedeutung der ›Probleme I‹ erwähnt, sondern vielmehr eine spezifische Neuorientierung der soziologischen Perspektivik nach 1905 erklären möchte und deshalb lediglich auf die ›Probleme II‹ rekurriert. In jedem Fall belegen beide Interpretationen die enge Wechselwirkung von ›Geschichtsphilosophie‹ und ›Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften‹ bei Simmel und sollten als einander ergänzend gelesen werden.

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reits 1892 ein erkenntnistheoretisches Fundierungsprogramm nach dem 20 Modell der ›Kritik der historischen Vernunft‹ verfolgte. Über die Art und insbesondere die Folgen von Simmels Kantanknüpfung ist man sich hingegen weniger einig. Fellmann hat sogar geschlossen, dass »sich die ›Probleme der Geschichtsphilosophie‹ von Versuchen einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ (unterscheiden)« (1977: 59). Auf dem ersten Blick liegt bei Simmel ein ähnlich komplexes und nicht einfach zu entwirrendes Anknüpfungsverhältnis an Kant vor wie bei Dilthey, dessen Weiterführung kantianischer Gedanken oben als eine ›Überwindung des transzendentalphilosophischen Standpunktes‹ resümiert 21 wurde. Worin bestanden nun für den ›jungen Simmel‹ die ›Probleme der Geschichtsphilosophie‹? Wie insbesondere aus Simmels (GSG 2: 418ff.) Ergebniszusammenfassung hervorgeht, gliederten sich sowohl der formale Aufbau als auch die inhaltliche Argumentationsführung in den ›Problemen I‹ nach Simmels eigentümlichem Philosophieverständnis, das zwischen einer erkenntnistheoretischen und einer metaphysischen Ebene differenzier22 te. Entsprechend war das erste Kapitel den psychologischen Voraussetzungen der Geschichtsforschung gewidmet, die größtenteils unbewusst wirkten und deren Einfluss dem Historiker in der Regel verborgen blieben. Die beiden folgenden Kapitel traktierten schließlich metaphysische Fragen, die als solche zunächst für das Feld der Geschichte definiert werden mussten und eine »zweite Kategorie von Problemen der Geschichtsphilosophie (bilden)« (ebd., 419). Simmels Kernargumente sollen nun im Hinblick auf ihr Potential für eine ›Kritik der historischen Vernunft‹ extrapoliert werden. Köhnke (1996: 414f.) gebührt abermals das Verdienst, herausgestellt zu haben, dass Simmels Ausgangsfrage nach den Voraussetzungen der historischen Erkenntnis mit großer Wahrscheinlich eine Antwort auf eine von Ernst Bernheim in seinem ›Lehrbuch der Historischen Methode‹ aufgeworfene Frage darstellt und weniger einem lange brodelndem inneren Be23 dürfnis Befriedigung verschaffen sollte. Bernheim hatte darin Verwunderung darüber bekundet, »daß man die Bedeutung des Psychischen für den Zusammenhang der [geschichtlichen] Begebenheiten jemals unterschätzen 20 Siehe u.a. Fellmann (1980: 165), Lichtblau (1995: 32), Köhnke (1996: 419), Großheim (1996: 13), Fitzi (2002: 124), Geßner (2003: 30). 21 Eine ähnliche Einschätzung in Bezug auf Simmel trifft Ziemann (2000: 19f.). 22 Inwiefern diese Aussage mit Köhnkes Interpretation des Gliederungsaufbaus der ›Probleme I‹, die hier eine Ausrichtung an Kants KrV erblickte, konfligiert, soll hier offen belassen werden. 23 Es sollte erwähnt werden, dass Simmel zwar Geschichtswissenschaften studierte. Damit erschöpfen sich jedoch auch die biographischen Bezüge, die Simmel an die methodologischen Probleme des Historikers banden. Simmel hatte des häufigeren praktische Anlässe wie Preisfragen zum Anlass von grundlagentheoretischen Reflexionen genommen.

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oder gar ableugnen könnte« (ebd., 415). Dies zu erwähnen ist deshalb sinnvoll, um die Annahme einer vermeintlichen Orientierung Simmels an Diltheys Erörterung der psychologischen Voraussetzungen der Geisteswissenschaften von vornherein zu entkräften. Eine geistige Nähe Simmels zu Dilthey ist in der Interpretationsgeschichte sehr häufig angenommen wor24 den. Heute scheint sich dagegen eher die Vermutung zu befestigen, dass beide einander eher mittelbar und nur auf versteckt geäußerte Weise beein25 flusst haben. Es hat sich in jedem Fall als gültig erwiesen, dass Simmels Beschäftigung mit grundlagentheoretischen Fragen auch in den späteren Arbeitsphasen stets immer auch eine Auseinandersetzung mit Dilthey blieben. Simmel übersetzte die von Bernheim eingebrachte Fragestellung in eine kantianische Sprache, wodurch es ihm möglich wurde, sein eigenes theoretisches Anliegen auszuzeichnen. Die Probleme, die er in seiner ›Geschichtsphilosophie‹ zu traktieren unternahm, waren folglich die Prozesse der Konstitution der historischen Erkenntnisse. Er begab sich insbesondere im zentralen ersten Kapitel der ›Probleme‹ auf die Suche nach den »Regeln, nach denen in der vorliegenden Geschichtswissenschaft aus den äusserlichen Thatsachen der Ueberlieferung auf psychische Vorgänge geschlossen wird, sowie diejenigen, welche zur Herstellung eines verständlichen Zusammenhanges zwischen diesen erfordert werden« (GSG 2: 422).

Statt jedoch eines etwaigen explikatorischen Hinweises auf Bernheims Arbeit, zog Simmel es offenkundig vor, die Relevanz dieser Problematik aus der vermeintlichen Sache selbst heraus zu begründen. Auch die Bezugnahmen auf Kant scheinen diesbezüglich weniger systematischen als heuristischen Sinn gehabt zu haben. Aus »empirischen Betrachtungen« (ebd., 304) leitete Simmel eingangs eine für das Verständnis seiner Gesamtsystematik zentrale Grundidee ab, die zugleich Licht auf sein Verhältnis zu Kant wirft. Sie betraf Kants Formulierung der Form/InhaltUnterscheidung, die laut Simmel in mehreren Hinsichten zu ergänzen war. (1) Zunächst erschien Simmel Kants dreigeteilte Gruppierung der Arten von Apriori – Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft – als ungenügend und schematisch, denn »Es giebt offenbar sehr viele Stufen des Apriori und sehr verschiedenartige Mischungen der hinzugebrachten Form mit dem vorgefundenen Inhalt« (ebd., 305). (2) Darüber hinaus war das Verhältnis 24 Uta Gerhardt hatte vor mehreren Dekaden sogar einmal den Eindruck geäußert, dass Simmel in Dilthey »den bewunderten Meister« (1971: 291) gesehen habe. Bereits Tenbruck schrieb in einem viel beachteten Aufsatz, dass »Simmels Ansatz [...] aus Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften« (1958: 595) hervorgegangen sei. 25 Den Stand der Dinge repräsentieren abermals Köhnkes Studien zum Simmel-Dilthey-Verhältnis (1989; 1996: 358ff., 380ff., 420ff.).

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zwischen ›Form‹ und ›Inhalt‹ – eine Unterscheidung, deren Zentralität für Simmels Denken im weiteren aufzuzeigen sein wird – keineswegs in allen Fällen gleichartig beschaffen, sondern verschiedene Apriori waren offenkundig im Hinblick auf ihre Permeabilität gegenüber dem konkreten Stoff zu unterscheiden: »Nicht scharfe, systematische Scheidungen, sondern allmählichste Übergänge bestehen zwischen den allgemeinsten [...] Formen und den speziellen, selbst empirisch gewonnenen und als Apriori nur für gewisse Inhalte anwendbaren« (ebd.). Entsprechend unterschied Simmel auch zwischen »absoluten Apriori des Intellekts« und »relativen Apriori«, die sich auf konkrete Erkenntnisgebiete bezogen (ebd., 304). Gemäß dieser Differenzierung waren die ›Probleme I‹ mit einer besonderen Formung eines spezifischen Wissensgebietes, nämlich der Form ›Geschichte‹, befasst. Simmel empfand seine Übersetzung des Aprioribegriffs keineswegs als zersetzend im Hinblick auf die ›Kritik der reinen Vernunft‹, sondern wohl eher als ergänzend. Allerdings muss gleichsam herausgestellt werden, dass Simmels ›Erkenntnistheorie‹ im Grunde genau an dem Punkt einsetzte, an welchem die Grenze von Kants Wissenstheorie erreicht war. (3) Vor diesem Hintergrund ist Simmels Kritik an Kants »scharfer Trennung des Apriori von allem Empirischen« (ebd., 307) zu verstehen. Simmel hielt Kant dagegen: »Die Praxis wie die Theorie machen in jedem Augenblick von Verbindungsformen für das empirische Material, von jenem eigentümlichen plastischen Vermögen des Geistes Gebrauch, das jeden gegebenen Inhalt durch die Art, ihn anzuordnen, zu stimmen und zu betonen, in die mannigfaltigsten definitiven Gestalten gießen kann« (ebd., 306).

Anders als Kant, der sich dezidiert von ›praktischen‹ Erkenntnisfragen fernhielt und es ausdrücklich auf reine ›Denkmöglichkeiten‹ absah, hatte Simmel im Laufe seines Schaffens unzählige, empirisch fundierte Erkenntnisformen – von der ›Historie‹ und ›Religion‹ bis zur ›Schauspielerei‹ und ›Ästhetik‹ – analysiert. Man kann hier vorläufig von einer Empirisierung des kantischen Aprioribegriffs sprechen. Durch diesen Schritt, der stark an Diltheys Kritik von Kants Apriorilehre erinnert, handelte sich Simmel nolens volens diejenigen Probleme ein, mit denen sich Simmels Berliner Kollege bereits spätestens seit 1883 herumgeplagt hatte. Aufgrund dieser identischen Problemkonstellation ist es aufschlussreich, die beiden Lösungsstrategien miteinander zu vergleichen. Dazu müssen jedoch zunächst noch einige Grundsteine der Simmelschen Konzeption ausgegraben werden. Simmel begegnete der angedeuteten Problemlage zunächst mit Hinweisen auf forschungspraktische Aspekte anstatt nach konzeptionellen Lösungen Ausschau zu halten. Trotzdem schimmerten die impliziten Schwie-

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rigkeiten einer praktischen Wissensbegründung, vor allem in Simmels verstehenstheoretischen Ausführungen, durch. Für unseren Fragezusammenhang sind zunächst weniger die Tragfähigkeit und Systematik der Lösungen des ›jungen‹ Simmel von Relevanz als vielmehr die Frage nach der allgemeinen Ausrichtung und Originalität seiner Grundkonzeption und insbesondere deren Fortführung und Anwendung in den späteren Überarbeitungen. Wir kommen damit nicht um die Aufgabe umhin, Simmels frühe erkenntnistheoretische Position mit seiner späteren abzugleichen. Zunächst gilt es jedoch, die Grundaussagen der ›Probleme I‹ herauszustellen.

2. Psychologistische Ausgangspunkte Bekanntermaßen begründete der ›junge Simmel‹ die Historik auf einer psychologischen Grundlage, wie nicht zuletzt aus den Überschriften und der ›Selbstanzeige‹ deutlich hervorspricht (ebd., 422). Entsprechend resümierte er am Ende des ersten Kapitels der ›Probleme I‹: »die Psychologie ist das Apriori der Geschichtswissenschaft« (ebd., 338). In dieser Ausrichtung hatte man vornehmlich einen Einfluss Diltheys erkennen wollen, was sich nach zweitem Hinsehen jedoch als eine oberflächliche Einschätzung erweist. Dies wird deutlich, wenn man die Rolle, welche die psychologischen Aspekte bei der historischen Erkenntnis zugewiesen bekamen, untersucht. Zunächst referierte Simmel noch ein sachlich begründetes Motiv für die Zentralität der Psychologie in den Geschichtswissenschaften, welchem zufolge der spezifische »Charakter der Innerlichkeit der historischen Vorgänge, der für alle Schilderung ihrer Äußerlichkeit den Ausgangspunkt und den Zielpunkt giebt, [...] eine Reihe specifischer Voraussetzungen [fordert], die die Erkenntnistheorie der Historik darzustellen hat« (ebd., 304).

Der eigentümliche Charakter der ›Innerlichkeit‹, der Simmel zufolge die historische Erkenntnis auszeichnete, lag gewissermaßen im Wesen des Erkenntnisgegenstandes selbst begründet, denn er bezeichnete die Objekte der Geschichte als »Seelen« (ebd., 303). Die Konstellation bei der historischen Erkenntnis erscheint als eine Gegenüberstellung zweier Seelen, zwischen denen »äußere Ereignisse« als »Brücken zwischen Impulsen und Willensakten einerseits und Gefühlsreflexen andererseits« fungieren (ebd.). In dieser Beschreibung schimmert ein hermeneutisches Wissenschaftsmodell durch, bei dem es letztlich um die Deutung von Motiven und anderen Handlungsgründen von historischen Akteuren geht und äußere Ereignisse als Interpretationskontexte herangezogen werden. Man wird sich bereits an dieser Stelle zu Recht fragen, inwiefern dieses Modell mit Simmels vordergründig kantianischen Ausgangsfiguren harmonieren konnte. In der Tat zeichnet sich Simmels frühes Erkenntnis-

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modell durch eine spezifische Ambivalenz von philosophischen Grundkonzepten aus, die es im Folgenden auszubuchstabieren gilt.

3. Zwischen ›Apriorismus‹ und ›Hermeneutik‹ Bei der Erörterung von Simmels Aprioribegriff begegneten wir bereits einer signifikanten Modifizierung des klassisch-kantianischen Formbegriffs, die wir als eine Empirisierung qualifiziert hatten. Diese Deutungsrichtung spiegelt sich auch in Simmels Vermeidung des Begriffs ›Erkenntnisform‹ wider. Stattdessen sprach er von »Verbindungsformen«. In dieser Begriffswahl zeigt sich an, dass ›Apriori‹ bei Simmel keine reine Kategorie des Verstandes bedeutete, sondern eine Verbindung reflexiver und praktischer Elemente bezeichnete. Welche apriorischen Voraussetzungen detektierte Simmel auf dem Feld der Geschichte? Zunächst ist der Befund verwirrend, dass man sich über die Anzahl der von Simmel formulierten Apriori der Geschichte uneinig ist. Während etwa Geßner (2003: 35f.) deren drei identifiziert, insistiert Fellmann (1980: 166), dass man nur von einem einzigen sprechen könne, nämlich demjeni26 gen der ›Einheit der Persönlichkeit‹. Diese Zweideutigkeit resultiert aus Simmels uneindeutiger Argumentationslogik in den ›Problemen I‹. Das Apriori der ›Einheit der Persönlichkeit‹ konstituierte insofern das Zentrum der Epistemologie der Historik, als die historische Begriffsbildung nur unter Zuhilfenahme vermeintlich psychologisch fundierter Behelfskonstruktionen vollständige und unzweideutige Beschreibungen historischer Persönlichkeit oder Ereignisse liefern konnte, so Simmel. Anhand diverser und scheinbar arbiträr gewählter Beispiele erörterte er die Funktionsweise verschiedener solcher Ergänzungsmechanismen, die dem Historiker in der Regel nicht bewusst seien. Psychologisch ist dabei zunächst in Abgrenzung gegenüber ›von der Sache her bestimmt‹ zu verstehen. Denn regelmäßig handelte es sich, so Simmel, bei solchen Ergänzungen um »Voraussetzungen [...], die an das Gegebene herangebracht werden und ihre Sicherheit der praktischen Brauchbarkeit, aber nicht einer inneren Notwendigkeit verdanken« (GSG 2: 308). Hier sticht ein zentraler Grundgedanke von Simmels ›Hermeneutik‹ hervor, der besondere Erwähnung verdient, weil wir ihm an späterer Stelle wieder begegnen werden. Der ›junge Simmel‹ drückte diesen wie folgt aus: »Diese Voraussetzungen des täglichen Lebens nun wiederholen sich vollständiger und einflußreicher in der Geschichtsforschung, als in irgend einer anderen Wissenschaft, ja als in der Psychologie selbst« (ebd.). Es deutet sich hier an, dass Simmel wissenschaftliches von alltäglichem Verstehen nicht strikt trennte oder zumindest bereit war, dem Alltagsverstehen eine gewichtige Funktion für die wissenschaftliche Erkenntnis zu konzedieren. 26 Ähnlich auch Lichtblau (1995: 37).

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Simmel reflektierte zunächst weiter, dass eine Fundierung historischer Begriffskonstruktionen auf ein psychologisches Apriori die Folge hätte, dass sich die von unterschiedlichen Autoren gegebenen Rekonstruktionen ein und desselben Ereignisses inhaltlich stark unterschieden (ebd., 309). Anhand von Schilderungen Sybels und Knapps demonstrierte Simmel, zu welch extremen Abweichungen unterschiedliche psychologische Dispositionen führen könnten und wie sehr vermeintlich objektive Darstellungen von diesen unbewussten Faktoren geprägt würden. Obgleich sich spätestens an dieser Stelle geltungstheoretische Erörterungen aufgedrängt hatten, nahm Simmel erst in späteren Passagen direkt Stellung zu Fragen nach dem Status historischer Ergebnisse. Wir können hier insofern von einer Subjektivierung der historischen Wissenschaften sprechen, als die Kriterien des Zustandekommens historischer Erkenntnis nicht mehr allgemein formuliert, sondern individual-psychologisch anhand von singulären Fällen deduziert wurden. Die bisherige Skizze der psychologischen Voraussetzungen der Geschichte wird nun weiter verkompliziert durch Simmels These, dass die Begriffskonstruktionen auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften auf der Möglichkeit des ›Verstehens‹ aufruhten. Dass Simmel dabei jedoch keineswegs an eine hermeneutische Verstehenskonzeption nach Diltheyschem Modell dachte, soll kurz aufgezeigt werden. Obgleich er sich zunächst noch hinter Diltheys berühmten Ausspruch: »Wie anders ist uns das Seelenleben gegeben!« (GS V: 165), stellte und diesen Satz sogar zu paraphrasieen scheint: »In ganz anderer Weise, könnte man sagen, sei uns die Geschichte zugänglich, wie die Natur« (GSG 2: 319), so blieb ihm der Verstehensbegriff dennoch mit Vagheit konnotiert. Dieser Skeptizismus gegenüber einer hermeneutischen Begründung des geisteswissenschaftlichen Wissens im Sinne Diltheys manifestiert sich auch in Simmels Überzeugung, dass eine ursprüngliche Seelengleichheit von Individuen »noch keine Brücke über die Kluft zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich« (ebd.) herstellt. Vielmehr werde dadurch die Begebenheit nicht suspendiert, »daß allerhand Veräußerlichungen, Umsetzungen und Symbolisierungen zwischen ihnen vermitteln« (ebd.). An diesem Punkt scheint sich Simmel von einem hermeneutischen Wissenschaftsmodell eindeutig zu verabschieden oder zumindest eine von Diltheys Hermeneutik unabhängige verstehenstheoretische Position anstreben zu wollen. Inwiefern er damit in ernsthafte Widersprüche zu seinen psychologistischen Grundannahmen geriet, wird noch zu erörtern sein. Zunächst sei Simmels Schilderung des Verstehensprozesses näher präzisiert. Es handele sich dabei um einen Akt, bei welchem der Verstehende Inhalte und Gefühle von Anderen in sich nachbilde und dabei zugleich das Bewusstsein ausbilde, dass es sich dabei originär um Inhalte Anderer handelt. Zudem erschien Simmel hierzu als Vorbedingung, dass man die fraglichen psychischen Vorgänge in seinem subjektiven Lebens bereits einmal

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erfahren haben muss (ebd., 320). Dieser Akt hätte den Effekt, dass »eine psychische Umformung [stattfindet], die sie von dem eigenen subjektiven Erlebnis der erkannten Persönlichkeit ebenso abhebt, wie sie von dem der erkannten Persönlichkeit abgehoben sind« (ebd.). Hier ist ausgesagt, dass für Simmel auch ›Verstehen‹ stets »Umformung« blieb und es sich dabei nur in sehr bedingtem Sinne um wirkliches ›Nachfühlen‹ handelt. Es macht den Anschein, als fülle Simmel hier in die Hülle des hermeneutischen Verstehensbegriff den Inhalt des neukantianischen Erkenntnisbegriffs, dem zufolge alles Erkennen stets Umbilden bedeutete. Damit der Historiker jedoch überhaupt ein Bild seines Gegenübers aufstellen kann, müsse er nach Simmel voraussetzen, dass ein echtes Verstehen möglich sei. Nur auf diese Weise könne der Historiker die fragmentarischen Daten, welche die Quellen übermittelten, zu vollständigen Gebilden ergänzen. In diesem Sinne, so folgerte Simmel, sei der Historiker »Künstler« (ebd., 322). ›Verstehen‹ im Sinne von ›objektivem Verstehen‹ scheint für Simmel zunächst mehr eine für den Historiker notwendige Illusion zu sein, welches der Erkenntnistheoretiker als eine solche entlarven könne, als ein erreichbares Erkenntnisziel. Entsprechend verglich Simmel das ›Verstehen‹ letztlich mit einem »Wunder« (ebd., 329). An anderen Stellen scheint Simmel jedoch das Verstehen gewissermaßen retten zu wollen, indem er auf Konzepte wie »Gattungserinnerungen« und »latente Vererbungen« (ebd.) rekurriert, um dieses »Wunder« zu erklären. Mit solchen Behelfskonzepten verwies er auf entwicklungsgeschichtlich vermittelte Ausgangspunkte des Verstehens, die begreiflich machen sollten, dass Verstehen nicht ausschließlich auf subjektiv erlebten Erfahrungen aufruhen müsse, sondern auch über-subjektive Voraussetzungen hatte. Hier manifestieren sich unübersehbar auch Residuen evolutionistischer Denkanleihen. Auffallend ist hieran ebenso die peinliche Vermeidung von idealistischhermeneutischen Kategorien wie ›Geist‹ (Hegel) oder auch Diltheys ›Zusammenhang des Lebens‹, unter deren Zugrundelegung das Verstehen mit weniger Aufwand hätte erläutert werden können. Das sich hier abzeichnende paradoxe Bild des ›jungen Simmel‹ in Be27 zug auf die Verstehensproblematik lässt sich nicht auflösen. So muss letztlich das unentschiedene Lavieren zwischen kantianischen und hermeneutischen Grundfiguren und deren Vermischung als Charakteristikum der ›Probleme I‹ gedeutet werden. Damit soll die originäre Leistung Simmels, die u.a. auch darin zu sehen ist, eine kantianisch inspirierte Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften immerhin zwei Jahre vor (sic!) Windel28 bands Rektoratsrede vorgelegt zu haben , durchaus nicht geschmälert 27 Zu einem ähnlichen Resultat gelangt auch Geßner, der an mehreren Stellen eine »Ambivalenz« und »Widersprüchlichkeit« konkludiert (2003: 35f., 39, 41, 48). 28 Ein Faktum, das höchst selten zur Kenntnis genommen wird. Immerhin von Geßner (2003: 30) wird es gewürdigt.

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werden. Darüber hinaus werden die pragmatisch begründeten psychologischen Voraussetzungen der historischen Begriffskonstruktionen durch die ambivalente philosophische Grundposition nur mittelbar berührt. So lohnt sich auch ein Blick insbesondere auf die metaphysischen Voraussetzungen der Historik, welche Simmel in den beiden letzten Kapiteln der ›Probleme I‹ ausgeführt hat. Im Rahmen der Erörterung der Funktion von ›Gesetzen‹ in den Geschichtswissenschaften nahm Simmel Stellung zu dem »Dualismus zwischen erzählender und Gesetzeswissenschaft, der zu so vielen Kompetenzkonflikten Veranlassung gegeben hat« (ebd., 346f.). Ähnlich wie später Rickert hatte Simmel aus dem logisch-begrifflichen Gegensatz nicht auf die Notwendigkeit einer apriorischen Festsetzung der Historik auf eine bestimmte Alternative geschlossen, sondern die Möglichkeit beider Perspektiven explizit gestattet. Denn das »Entscheidende für den Wert einer an sich wahren Erkenntnis ist doch nur das Interesse, das sich an sie knüpft« (ebd., 349). In erstaunlicher Parallelität zu der erst später von Rickert entwickelten Wertbeziehungslehre überließ Simmels frühe Konzeption einer Methodologie der historischen Wissenschaften die Gegenstandsauswahl den subjektiven Wertstellungnahmen des Historikers und nahm damit einen subjektivistischen Grundzug der Historik bewusst in Kauf: »Daß aber überhaupt jene Wertsetzung erfolgte und daß sie auf diesen bestimmten Inhalt und keinen anderen fiel – das ist eine subjektive oder metaphysische Zutat zu der historischen Wirklichkeit« (ebd.). Simmel entwickelte den Gedanken, dem zufolge keine historische Erkenntnis ohne »daß die Formgebung des Materials durch eine ihm jenseitige Idee von Sinn und Bedeutung des Ganzen« (ebd.) vorgeprägt wäre, im letzten Kapitel der ›Probleme I‹ weiter zu einem unhintergehbaren Grundprinzip. Bereits jede Festlegung auf einen Begriff habe zur Folge, »daß alle anderen Eigenschaften der darunter befaßten Einzelwesen vernachläßigt werden« (ebd., 397). Solcher Art Grenzziehungen ließen sich keinesfalls aus dem Material heraus rechtfertigen. Diese Ausführungen resümierte Simmel unter ein »doppeltes Apriori«, welches einerseits zur Voraussetzung mache, »daß jeder Teil der Geschichte einen durchgehenden Grundzug habe, dessen Schilderung eine Schilderung des Ganzen sei« (ebd.), andererseits, daß es »Principien und Kategorien« (ebd., 398), die jenseits des Materials stehen, bedürfe, um das Wesentliche vom Gleichgültigen zu trennen. Aufgrund dieser Vorbedingungen jeder historischen Darstellung schloss Simmel letztlich, dass Geschichtswissenschaft notwendig immer schon Geschichtsphilosophie im Sinne von Geschichtsmetaphysik beinhalte (ebd.). Wir lernen aus dieser Rekonstruktion zunächst, dass eine hermeneutische Rekonstruktion von individuellen Sinnmotiven in der Tat nicht das erklärte Ziel von Simmels Geschichtstheorie sein konnte, wie manche früher zitierte Stellen zunächst suggerieren mochten. Vielmehr scheint er von

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dem Modell einer Kluft zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt auszugehen, die der Historiker unter Zuhilfenahme unbewusster Konstruktionsmechanismen als Brücken zu überwinden hatte. Simmels Neujustierung von Disziplin- und Fächergrenzen, sowie insbesondere von empirischer Wissenschaft und philosophischer Reflexion, dürfte den traditionell orientierten Historikern ebenso aufgestoßen sein wie allen positivistisch inklinierten Zeitgenossen überhaupt. In den Augen Diltheys beispielsweise, so kann man mit Köhnke annehmen, hatte sich der ›junge Simmel‹ eindeutig zu weit vorgewagt, so dass sich Dilthey wohl 29 dezidiert jeder Kommentierung enthielt. Diese (Nicht-)Reaktion erklärt sich nicht zuletzt aus Simmels unvorsichtigem Umgang mit seinen philosophischen Ausgangspunkten, welcher sich insbesondere in seinen hermeneutisch-psychologischen Anleihen niederschlug. Während Dilthey die Geisteswissenschaften insgesamt auf ein gemeinsames Fundament, nämlich den ›Zusammenhang des Lebens‹, stellte, beschränkten sich Simmels Stellungnahmen zur ›Kritik der historischen Vernunft‹ auf die Angabe wissenschaftspragmatisch, anhand von nicht verallgemeinerbaren Einzelfällen, deduzierter Voraussetzungen der Historik. Eine (im philosophischen Sinne) systematische Aufarbeitung dieser apriorischen Voraussetzungen konnte Dilthey in den ›Problemen I‹ nicht finden, weil Simmel sie nicht anbot. Stattdessen scheint er sich dezidiert von der theoretischen Möglichkeit der Begründung einer über Psychologie vermittelten Identität von ›Erkenntnis‹ und ›Erkanntem‹, über welche Dilthey den erkenntnistheoretischen Vorzug der Geistes- gegenüber den Naturwissenschaften etablieren wollte, Abstand zu nehmen, wenn er beispielsweise aussagt, dass die »psychischen Ursachen uns unmittelbar nicht gegeben (sind), sondern erst in dem auffassenden Intellekt nachgebildet (werden)« (ebd., 360). Darüber hinaus dürfte Dilthey Simmels Kritik am realistischen Geschichtsbegriff, der von einem abbildtheoretischen Erkenntnismodell ausging, nicht wirklich etwas Neues abgewonnen haben. Rickerts Stellungnahme zu den ›Problemen I‹ ist widersprüchlich. Während er Simmels Arbeit in seinen frühen Schriften überaus positiv anmerkte (Grenzen I: 301), wohl vornehmlich aufgrund von Simmels Gegenstellung zu Dilthey, resümierte er jedoch in seinem späten, ebenfalls mit ›Die Probleme der Geschichtsphilosophie‹ betitelten Buch, dass »der Ertrag der umfangreichen Literatur der letzten Jahrzehnte [...] mit Rücksicht auf die philosophischen Grundfragen der Geschichte recht dürftig zu sein (scheint)« (PdGph: VI). Gleichwohl bedeuteten die ›Probleme I‹ für Simmel die ersten Schritte zur Befreiung von einem positivistisch-evolutionistischen Wissenschafts-

29 Siehe dazu Köhnkes Resümee, demgemäß der Autor der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ »auf diese Schrift denn tatsächlich nicht eingehen konnte« (1996: 421).

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begriff und die Gewinnung eines unabhängigen Standpunktes. An erster Stelle muss hier das Theorem von der Empirisierung oder »Verlebendigung« (Geßner 2003: 68) des klassischen Aprioribegriffs erwähnt werden, das Simmel für die Entfaltung seiner Theorie des Perspektivismus vorbereitet hatte, die er spätestens in der ›Philosophie des Geldes‹ (1900) zu einem theoretischen Grundprinzip verallgemeinern sollte. Bevor wir uns der Weiterentwicklung von Simmels theoretischen Grundmaximen zuwenden, sei nun abschließend Simmels Verteidigung seiner vermeintlich subjektivistischen Ausgangspunkte zusammengefasst. Damit begeben wir uns auf das Feld der Geltungstheorie. Im dritten und letzten Kapitel der ›Probleme‹ finden sich einige Anhaltspunkte, aus denen sich Simmels Position zu dieser Zentralfrage ableiten lässt. Eine systematische Stellungnahme entwickelte Simmel jedoch auch in dieser Frage nicht. Er rekapitulierte zunächst noch einmal das Resultat aus den beiden vorangegangenen Kapiteln, wonach »es keine realistische Geschichtsbetrachtung (giebt)« (GSG 2: 394) und identifizierte die Arbeit des Historikers abermals mit der eines Künstlers. Wie bei Letzterem müsse nach Simmel auch für den Historiker gelten, dass die »Frage nach dem, was denn eigentlich in der Geschichte das Wichtige ist, ihre Bedeutung für das objektive Material derselben nicht durch die Erkenntnis (verliert), daß sie nur subjektiv gestellt und subjektiv beantwortet wird« (ebd.). Mit diesem Verdikt konfligierte Simmels zuvor gemachte Erklärung, nach welcher »subjektive Vorurteile und Färbungen freilich im Einzelnen stets korrigierbar« (ebd., 326) seien. Diese Konstatierung war jedoch nur in relativem Sinne gemeint, denn Simmel fügte hinzu, dass in einer solchen ›Korrektur‹ lediglich bestimmte subjektive Voraussetzungen durch andere subjektive Standpunkte ersetzt würden. Die These von der grundsätzlichen Unhintergehbarkeit subjektivistischer Voraussetzungen wurde dadurch also nicht entkräftet. Simmel drückte diesen geltungstheoretischen Befund in einem Vergleich aus: Man erhalte durch solche korrektiven Operationen folglich eben »kein reines Gold« (ebd.). Damit können wir vorerst Simmels Haupterkenntnis der ersten Auflage der ›Probleme der Geschichtsphilosophie‹ resümieren. Sie behauptet, dass jede empirische Forschung auf apriorischen Voraussetzungen aufruhe, die mit den Mitteln einer empirischen Wissenschaft nicht einholbar waren. Daraus folgerte er auf die Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Beforschung der Apriori, die den jeweiligen Disziplinen zugrunde lagen. Wie sogleich anhand von Simmels sozialwissenschaftlicher Erkenntnistheorie demonstriert werden soll, hatte Simmel den wohl gewichtigsten wissenschaftstheoretischen Befund aus seiner geschichtsphilosophischen Untersuchung, dass »es keine historische Empirie (giebt), deren Form – Form im weitesten Sinne – nicht auf metaphysische Momente zurückginge« (ebd., 395), universalisiert.

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4. Zur soziologischen Programmatik des ›jungen Simmel‹ Es soll hier also darum gehen anzudeuten, auf welche Weise sich die in den ›Problemen I‹ erarbeitete epistemologische Position in Simmels erster soziologischen Programmatik – dargelegt in dem Aufsatz ›Das Problem der Sociologie‹ (1894) – artikulierte. Wie bereits oben angetippt wurde, hatte der ›junge Simmel‹ zwar bereits im einleitenden Kapitel zu ›Über sociale Differenzierung‹ erstmals Stellung zur ›Erkenntnistheorie der Socialwissenschaft‹ bezogen. Köhnke hat jedoch herausgestellt, »daß diese Schrift und das, was man Simmels ›Soziologie‹ nennt, durch einen tiefen Graben getrennt sind. Es sind zwei Welten...« (1996: 412f.). Insofern kommt den ›Problemen I‹, die zwischen der soziologischen Frühschrift und der ersten Programmschrift lagen, im Hinblick auf Simmels Grundlegungstheorie zentrale Relevanz zu. Simmel hatte in seiner oben zitierten autobiographischen Notiz diesen Einfluss folgendermaßen resümiert: »Diese Trennung von Form und Inhalt des geschichtlichen Bildes, die mir rein erkenntnistheoretisch entstand, setzte sich mir dann in ein methodisches Prinzip innerhalb einer Einzelwissenschaft fort: ich gewann einen neuen Begriff der Soziologie, indem ich die Formen der Vergesellschaftung von den Inhalten schied« (1958: 9).

Wie aus der ausführlichen Beschreibung der Entwicklung von Simmels Soziologiekonzeption durch Rammstedt hervorgeht, hatte diese erste soziologische Programmschrift einen hohen persönlichen Stellenwert für 30 Simmel. Simmels expansive Publikationspolitik, die auf eine weltweite Verbreitung seines soziologischen Programms und ergo auf eine Übersetzung in mehrere Sprachen abzielte (Rammstedt 1999: 881ff.), bezeugt, 31 dass Simmel darin einen zentralen theoretischen Durchbruch vermeinte. Als innovativ und bahnbrechend empfand Simmel zweifellos, wie aus der ›Selbstbeschreibung‹ hervorgeht, seine theoretische Begründung des Gegenstandsgebiets der Soziologie. Simmels Bestimmung lag die Trennung zwischen der ›Form‹ und dem ›Inhalt‹ der Vergesellschaftung zugrunde. Die theoretische Möglichkeit der Abgrenzung eines gesonderten Gegenstandsgebiets des Gesellschaftlichen unter Rekurs auf diese Taxonomie sah Simmel in den ›Problemen I‹ vorbereitet. Bevor eine Auflösung der Frage nach der Verknüpfung zwischen diesen beiden Disziplinfeldern erfolgen 30 »Für Simmel war ›Das Problem der Sociologie‹ eine programmatische Schrift« (Rammstedt 1999: 881). 31 Dies spiegelte sich nicht zuletzt in den energischen Reaktionen und der phasenweisen Aufgabe des Projekts ›Soziologie‹ durch Simmel wider, nachdem er den Eindruck gewonnen hatte, dass seine Entdeckung von den Zeitgenossen nicht gebührend gewürdigt wurde (vgl. Rammstedt 1999: 888ff.).

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kann, scheint es angebracht, zunächst das konkrete ›Problem der Sociologie‹ vis-à-vis den ›Problemen der Geschichtsphilosophie‹ zu beleuchten. Simmel hatte erkannt, dass bisherige Versuche der Etablierung einer ›Gesellschaftslehre‹ letztlich an der Komplexität des Gegenstandsgebietes gescheitert waren. Gerade »indem diese Richtung des Erkennens eine so allgemeine, nirgends ganz ausgeschlossene ist, kann sie [...] keine besondere selbständige Wissenschaft [...] stiften« (GSG 5: 52). Über die »hergebrachten Vorstellungen von Sociologie« (ebd., 61) schien Simmel ein ähnlich ablehnendes Urteil gefällt zu haben wie bereits Dilthey, der die Soziologie als einen »Tummelplatz der Halbwissenschaft« (Köhnke 1996: 377) bezeichnet hatte. Solchen Ansätzen gegenüber forderte Simmel zum einen »Verzicht auf ihre hochfliegenden Ansprüche« (GSG 5: 61) und insbesondere eine »Differenzierung« ihres Arbeitsgebietes (ebd., 53). Zur Bewerkstelligung einer solchen materialen Beschränkung des soziologischen Gegenstandsgebiets veranschlagte er die Distinktion zwischen ›Inhalt‹ und ›Form‹, wobei er argumentierte, dass die ›Formen der Vergesellschaftung‹ bislang noch niemals zuvor isoliert von den diese fundierenden Inhalten (Motivationen, Triebe, Anlässe) betrachtet wurden. Von systematischer Bedeutung ist hierbei, dass Simmel keineswegs auf ontologisch bedingte Charakteristika verwies, die ihn zu dieser Separierung von Inhalt und Form motiviert hätten. Vielmehr betonte er sogar, dass diese Begrenzung in epistemologischer Hinsicht als willkürlich und artifiziell einzuschätzen sei, denn: »In der einzelnen historischen Erscheinung ist freilich Inhalt und gesellschaftliche Form thatsächlich verschmolzen« (ebd., 56). Zur Legitimierung dieser gedanklichen Abstraktion führte er folgendes Argument an: »Allein diese unmittelbare Ineinsbildung von Inhalt und Form, wie sie in der historischen Wirklichkeit vorliegt, verhindert nicht die wissenschaftliche Sonderung beider« (ebd.). Hier kommt die in den ›Problemen I‹ detailliert ausgearbeitete Erkenntnis zum Tragen, welcher zufolge jeder wissenschaftliche Zugang notwendig mit apriorischen Voraussetzungen operierte, die in keinem unmittelbaren Bezug zur beobachteten Realität standen. Zur Exemplifikation der theoretischen Möglichkeit einer rein formalen Begründung wissenschaftlicher Perspektiven rekurrierte Simmel – neben der Soziologie – noch auf Geometrie, Geschichtswissenschaft und Psychologie. Die dabei jeweils unterlegten apriorischen Voraussetzungen bezogen sich dabei keineswegs auf spezifische »psychologische Voraussetzungen« (ebd., 58), die, wie Simmel vergleichend für Historik und Soziologie bestimmte, jeweils identisch seien, sondern auf die jeweilige Form der Begriffsbildung. Obgleich Soziologie und Historik das gleiche Material zur Bearbeitung nehmen würden, könne man, so Simmel, beide Fachgebiete nach formalen Gesichtspunkten voneinander abgrenzen. Während

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beispielsweise die Geschichtsphilosophie »die historischen Thatsachen [...] in ihrer Gesamtheit unter allgemeine Begriffe bringen« wolle, halte sich »die Sociologie als Specialwissenschaft [...] völlig innerhalb der Erscheinungsreihe und ihrer unmittelbar psychologischen Deutung« (ebd., 59f.). Die hier zunächst theoretisch vorausgesetzte Möglichkeit einer formalen Wissenschaftseinteilung wollte Simmel später in Form von empirischen Einzelstudien nachliefern. Doch bereits 1894 sah er es als erwiesen an, »daß die gleiche Form, die gleiche Art der Vergesellschaftung an dem allerverschiedensten Material [...] eintreten kann« (ebd., 54). Diese Diagnose erachtete Simmel als empirischen Beweis für die theoretische Möglichkeit, die Unabhängigkeit der »Socialformen« gegenüber den Inhalten zum Ausgangspunkt für eine Bestimmung des Gegenstandsgebiets der Soziologie zu nehmen. De facto gewann Simmel die Idee einer ›formalen Soziologie‹ nicht wirklich erst aus seiner epistemologischen Befassung mit der Geschichte, sondern vielmehr finden sich die Grundgedanken seiner Gesellschaftsauffassung schon in ›Über sociale Differenzierung‹ von 1890. Bereits darin hatte er nämlich – in augenscheinlicher Auseinandersetzung mit Diltheys Soziologiekritik aus der ›Einleitung‹ (GS I: 86ff.) – einen holistischen Gesellschaftsbegriff gegenüber der Position des »individualistischen Realismus« (Köhnke 1996: 389) verteidigt. Nach den Prämissen des individualistischen Ansatzes könne Gesellschaft ausschließlich als »Zusammenfassung von Einzelnen, die die eigentlichen Realitäten« und »das eigentliche 33 Objekt der Wissenschaft« (GSG 2: 126) bildeten, betrachtet werden. Gegen diesen individualistischen Gesellschaftsbegriff führte Simmel das entscheidende Argument ins Feld, dass ebenso wie jede überindividuelle Gesellschaftsvorstellung aus der Perspektive des Individualismus als Schimäre und Konstruktion erscheinen musste, letztlich auch die Idee des Individuums schlechterdings das Konstrukt einer »absoluten Einheit« darstelle: »Denn auch der einzelne Mensch ist nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Realitäten rechnendes Erkennen fordert. Die Vielheit, die schon der 32 Hier unterschied Simmel offenkundig nicht zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie und setzte wohl seinen Befund aus den ›Problemen I‹, dem zufolge Geschichtsbetrachtung stets Geschichtsphilosophie impliziere, voraus. 33 Hier soll zumindest nicht unerwähnt bleiben, dass man die hier wahrnehmbare Zurechnung Diltheys zum Programm des gesellschaftstheoretischen Individualismus, die Köhnke vornimmt, als problematisch ansehen muss – nicht zuletzt deswegen, weil die unterstellte Position den holistischen Grundlagen seines Konzepts von ›Geisteswissenschaften‹ fundamental widersprechen würde. Wir können hier zumindest auf Achams (1985: 17) Befund verweisen, dass Dilthey zwischen verschiedenen Formulierungen hin und her sprang und mal »als ein Vertreter des methodologischen Individualismus« und das andere Mal als »Anwalt des methodologischen Holismus« in Erscheinung trat.

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individuelle Mensch in und an sich aufweist, als solche zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vorbedingungen für eine rationelle Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft« (ebd., 127).

An diese Einsicht konnte Simmel vier Jahre später in der soziologischen Programmschrift direkt anknüpfen, wenn er den Aufsatz mit der provokanten Bemerkung beginnen lässt, dass »die Überwindung der individualistischen Anschauungsart« als »der bedeutsamste und folgenreichste Fortschritt, den die Geschichtswissenschaft und das Verständnis des Menschen überhaupt in unserer Zeit gemacht hat« (GSG 5: 52), einzuschätzen sei. Im Jahre 1890 hatte es indes noch geheißen, dass die »Auflösung in die Summe der allein realen Einzelerscheinungen [...] eines der Hauptziele der 34 modernen Geistesbildung« (GSG 2: 126) bilde. Zwischen diesen beiden Aussagen scheinen nun in der Tat »Welten« zu liegen, wie Köhnke bedeutet hat. War hier nun einmal festgestellt, dass »Ein in sich völlig geschlossenes Wesen, eine absolute Einheit die Gesellschaft nicht (ist), so wenig wie das menschliche Individuum es ist« (ebd., 130), so war es nur ein konsequenter Schritt bis zum verallgemeinerten Grundsatz, dem zufolge »Die Frage, wie viele und welche realen Einheiten wir zu einer höheren, aber nur subjektiven Einheit zusammenzufassen haben, deren Schicksale den Gegenstand einer besonderen Wissenschaft bilden sollen – nur eine Frage der Praxis (ist)« (ebd., 129). Es offenbart sich folglich auch auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaft, wie bereits auf dem der Geschichtsphilosophie, dass zum einen wissenschaftliche Formungen in der Regel weniger durch das zu beobachtende Material – also in diesem Sinne ontologisch – als durch unbewusste, apriorisch-psychologische Aspekte determiniert werden, und zum anderen, dass jede wissenschaftliche Formung unausweichlich durch ein forschungspragmatisches Interesse konstituiert wird. Simmels Derivation des soziologischen Gegenstandsgebietes ist also allein vor dem Hintergrund dieser Grundprämissen verständlich und muss als direkter Ausfluss von Simmels grundlagentheoretischen Einsichten aus den ›Problemen I‹ betrachtet werden, die ihn mit großem Eifer ein »Programm« für eine eigenständige Wissenschaft der Gesellschaft vertreten ließen.

5. Zwischenbilanz: Der ›junge Simmel‹ Aus der Analyse von Simmels ersten erkenntnistheoretischen Gehversuchen, die ihn zur Beschäftigung mit der Geschichtstheorie und schließlich 34 Wertvolle ideengeschichtliche Bezüge zu den Ursprungsquellen von Simmels frühem Anti-Individualismus, welcher in deutlichem Widerspruch zu Simmels später etabliertem ›individuellen Gesetz‹ stand, finden sich auch bei Lichtblau (1984: 240ff.).

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der Soziologie führten, wurde einerseits erkennbar, dass der ›junge Simmel‹ sich zunächst zwischen verschiedenen, allgemein als inkompatibel wahrgenommenen, philosophischen Alternativpositionen bewegte. Andererseits gilt es festzuhalten, dass er schließlich zu einer eigenständigen epistemologischen Haltung gefunden hatte, die ihn in der Folge sogar dazu bewog, den Plan einer »Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften« ins 35 Auge zu fassen. Die Anzeichen einer philosophisch ambivalenten Position fanden wir zum einen in Simmels Festhalten an einer hermeneutischen Verstehenskonzeption, die sich in wesentlichen Punkten jedoch von der 36 klassischen, etwa durch Dilthey vertretenen Version unterschied. Insbesondere wandte sich Simmel von dem hermeneutischen Ideal des objektiven oder gar besseren Verstehens fremder Bewusstseinsinhalte entschlossen ab. Auf der anderen Seite stand eine Theorie des Apriorismus, die jedoch in der Simmelschen Adaption wiederum von den klassisch-kantianischen und neokantianischen Varianten zu differenzieren war. Obgleich Simmel die Kluft zwischen Erkenntnis und Erkanntem letztlich für unüberbrückbar ansah, insistierte er dennoch darauf, dass Erkenntnisformen danach zu unterscheiden seien, wie sehr sie sich jeweils auf das Material einließen bzw. für das Material durchlässig waren. Hinsichtlich der Frage nach der theoretischen Möglichkeit der Überwindung dieser Kluft lavierte Simmel wiederum exakt zwischen den beiden Extrempolen der Hermeneutik und des Apriorismus. Simmels Fundierung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft offenbarte zunächst eine Tendenz in Richtung der Autonomie der Formen gegenüber den Erlebnisinhalten. Gleichwohl band Simmel die Nützlichkeit und empirische Haltbarkeit der soziologischen Perspektive an eine empirische Bestätigung der Objektivität der sozialen Wechselwirkungsformen zurück, worin man wiederum eine gewisse Relativierung des 37 strengen Apriorismus erblicken kann. Wie im Weiteren nachzuzeichnen sein wird, bleibt diese Spannung auch für den ›mittleren‹ und ›späten‹ Simmel kennzeichnend, wobei sich die Vorzeichen jedoch umkehren werden.

35 Dies teilte Simmel Celestine Bouglé in einem Brief mit (vgl. Köhnke 1996: 334, 428). 36 Köhnkes Diagnose, dass der ›junge Simmel‹ »insgesamt desinteressiert am Problem des Verstehens« (1996: 384) gewesen ist, finden wir nur bedingt bestätigt und nur insofern zutreffend, wenn man damit Diltheys Version des ›Verstehens‹ meint. 37 Diese Ungereimtheit scheint bereits Becher anvisiert zu haben. Er löste sie wie folgt auf: »Zunächst ist Simmels Fragestellung gegenüber seinem wissenschaftlichen Objekt zwar eine erkenntnistheoretische und keine ontologische, aber dies nicht im Sinne des Kantischen Subjektivismus. Genau genommen steht Simmel zwischen dieser Alternative« (1971: 19).

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Der ›mittlere Simmel‹ und die Objektivität der Kulturformen Um Simmels Spur, die er in seiner autobiographischen Notiz auslegte und welche sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, weiter zu verfolgen, erörtern wir im nächsten Schritt einen Begriff, der in der ›mittleren‹ Werkphase ins Zentrum gerückt ist, nämlich den Begriff ›Wechselwirkung‹. Im Rahmen der Grundlegung der Soziologie fungierte der Begriff gewissermaßen als Substrat der sozialen Formen, insofern die Vergesellschaftungsformen als das Produkt sozialer Wechselwirkungen zwischen Individuen aufgefasst wurden. Dieses dynamische Gesellschaftsverständnis stand im Gegensatz zu substantialistisch begründeten Alternativen etwa eines Wilhelm Diltheys oder Ferdinand Tönnies sowie auch metaphysischen (Volks)Geistbegriffen (vgl. Köhnke 1996: 386ff.) und blieb für Simmels Soziologie fortan bestimmend. Die Bedeutung, welche dem Wechselwirkungsbegriff für Simmels späterer Entwicklung zukam, resümierte dieser wie folgt: »Von dieser soziologischen Bedeutung des Wechselwirkungsbegriffs aus aber wuchs er mir allmählich zu einem schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzip auf. Die zeitgeschichtliche Auflösung alles Substantiellen, Absoluten, Ewigen in den Fluß der Dinge, in die historische Wandelbarkeit, in die nur psychologische Wirklichkeit scheint mir nur dann vor einem haltlosen Subjektivismus und Skeptizismus gesichert, wenn man an die Stelle jener substantiell festen Werte die lebendige Wechselwirksamkeit von Elementen setzt, welche die letzteren wieder der gleichen Auflösung ins Unendliche unterliegen« (1958: 9).

Der sich in diesem Zitat anzeigende Übergang von einer relativ eingeschränkten Begriffsintension im Rahmen der Soziologiefundierung zu einem »umfassenden metaphysischen Prinzip« bedarf einer rekonstruktiven Vermittlung. In der Sekundärliteratur wird die skizzierte Akzentverschiebung neuerdings mit Simmels »Übergang zur Kulturphilosophie« (Geßner 2003: 118ff.), deren schriftliche Manifestation die ›Philosophie des Geldes‹ (1900) repräsentiert, erklärt. Im gleichen Atemzug wird auch auf jene bereits angedeutete ›kantianische‹ oder ›neukantianische Wende‹ gewie38 sen, die sich ebenfalls in diesem Werk bahnbrach. In einem rückblickenden Vorwort zum Neudruck der ›Einleitung in die Moralwissenschaft‹ aus dem Jahre 1904 explizierte Simmel seine Entwicklung als Wechsel von der »empiristischen« zur »metaphysischen Überzeugung«, von der »historischen Wirklichkeitsentwicklung« zur »Werthprüfung«, von der »psychologischen« zur »sachlichen Methode« (GSG 3: 9). Insbesondere die letztere Dichotomie deutet die Richtung des 38 Jüngst wurde Simmels Stellung zu Kantianismus und Neukantianismus von Ziemann systematisch ausgeleuchtet (2000: 48).

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Perspektivenwechsels, für welche die ›Philosophie des Geldes‹ steht, auf markante Weise an. Während Simmels früher Grundansatz in erster Linie darauf ausgerichtet war, die Konstitution von Erkenntnisformen auf ›psychologische‹ und ›subjektive‹ Voraussetzungen zurückzuführen, so verschob sich nunmehr seine Perspektive auf die Dimension der ›sachlichen Gebilde‹ oder – wie es seither heißen wird – der ›objektiven Kulturgebilde‹, von denen die wissenschaftlichen Gebilde im Übrigen lediglich einige unter vielen bildeten. Dass es sich hierbei keineswegs um einen »abrupten 39 Sinneswandel Simmels« handelte, wie mehrere Interpreten vermutet hatten, sondern vielmehr um einander ergänzende Betrachtungsweisen, die in Simmels früher Philosophiekonzeption vorgeprägt waren, bezeugt nicht zuletzt die Zweiteilung der ›Philosophie des Geldes‹ in einen »analytischen« und einen »synthetischen« Teil. Zumindest dem eigentlichen Anspruch nach sollte der erste analytische oder erkenntnistheoretische Abschnitt »die Voraussetzungen des Geldes: die logischen, psychologischen, sozialen und axiologischen Bedingungen seiner immanenten Wichtigkeit und praktischen Bedeutung« (Oakes 2001: 64) erhellen. Demgegenüber sollte der anschließende synthetische Teil die metaphysischen, kulturell40 sozialen Implikationen und Folgen der Geldwirtschaft ausdeuten. Neben der Kompatibilität der beiden Grundperspektiven Simmels, wie er selbst betont hat (GSG 3: 9), belegt die formale Gestalt der ›Philosophie des Geldes‹ zugleich, dass sich Simmel inhaltlich bereits wieder von der Soziologie entfernt hatte und hier ausschließlich Philosophie betreiben wollte. Zunächst soll skizziert werden, auf welche Weise sich Simmels angedeutete Reorientierung auf die Erkenntnistheorie der empirischen Sozialwissenschaften niederschlug. Die ›völlig veränderte‹ zweite Auflage der ›Probleme‹ bietet hierfür eine ausgezeichnete Erkenntnisquelle. Wie oben bereits angedeutet wurde, hatten Simmels Zeitgenossen die Neuauflage vielfach als Einschwänken auf die durch Windelband und Rickert vorge41 zeichnete Linie des Neukantianismus wahrgenommen. Diese Auffassung ist jedoch aus unterschiedlichen Gründen mit einiger Vorsicht zu genießen. Zum einen wurde diese Einschätzung häufig von Autoren – hierzu zählen zweifelsfrei Rickert und Troeltsch – vorgebracht, die einen ausgezeichneten Ruf als rigorose Anti-Psychologisten und Anti-Relativisten genossen. Andererseits ging aus der obigen Darstellung der Spezifik von Simmels Kantadaption hervor, dass Simmels Lesart der kantianischen Ausgangspunkte in mehreren Hinsichten über das Original hinausgingen, so dass sich von vornherein mit einigem Recht bezweifeln lässt, ob eine Subsumtion unter das Label ›Neukantianismus‹ der Originalität von Sim39 Siehe dazu Schnabel (1984: 307) und Geßner (2003: 121). 40 Dass sich Simmel keineswegs streng an seine Untergliederung zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik hielt, ist nicht unbemerkt geblieben (vgl. Oakes 2001: 64). 41 Siehe neben Rickert auch Troeltsch (1921: 426ff.).

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mels Position gerecht wird. Simmel titulierte die Grundtendenz der Überarbeitung im Übrigen als ›Überwindung des Psychologismus‹ (GSG 9: 425), wobei er relativierend gleich hinzufügte, dass »es sich für mich nicht um eine Überwindung desselben (handelt), sondern darum, ihn in eine höhere Methodik aufzunehmen« (ebd.). Welche Gestalt diese »höhere Methodik« annahm, soll nun im Folgenden anhand der Fokussierung auf die wesentlichen Begriffsmodifikationen gegenüber der früheren Position, wie sie in den ›Problemen I‹ ausgeführt wurde, geprüft werden. In dem Vorwort, welches er den ›Problemen II‹ voranstellte, gab Simmel eine Gegenstandsbeschreibung seines Buches, welche sich eng an Kants Problemstellung bzw. dessen »Frage: wie ist Natur möglich?« (ebd., 229) anlehnte. Hatte Simmel bereits 1896 den »tiefsten Kern von Kants Lehre« in dessen Erkenntnis resümiert, dass die »Außenwelt, die uns wesensfremd ist und dennoch in uns eingeht«, als »Produkt unsres eigenen inneren Lebens« (GSG 5: 156) aufzufassen sei, so strich er in Anlehnung daran das von Kant dekuvrierte Moment der »Freiheit, die das Ich damit gegenüber aller bloßen Natur gewonnen hat« (GSG 9: 229) heraus. Jedoch, so fuhr er kritisch fort, sei mit dieser Freiheit lediglich die eine »von den zwei Vergewaltigungen, die den modernen Menschen bedrohen« (ebd., 230), erreicht worden. Neben derjenigen Vergewaltigung durch die Natur entblößte Simmel diejenige durch die Geschichte, die »hier nur viel subtiler« (ebd.) wirke. Daraus leitete er folgende programmatische Forderung ab, unter die er die ›Probleme II‹ stellte: »Der Befreiung, die Kant vom Naturalismus vollbracht hat, bedarf es auch vom Historismus« (ebd.). Insofern als er seine »Erkenntniskritik« (ebd.) – analog zu Kant – auf dieses Ziel hin ansetzte, muss man die ›Probleme II‹ als ein explizites Programm 43 einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ begreifen. In der emphatischen Orientierung auf den Zweck der Begründung der Autonomie des »formenden Ich« (ebd.) deutet sich überdies eine Konsequenz aus Simmels Entdeckung des kulturdeterminierenden Potentials von objektivierten Sozialformen in der ›Philosophie des Geldes‹ heraus, welchem gegenüber eben die »Freiheit des Geistes« (ebd., 231) zu wahren sei. In diesem Sinne rückte Simmel hier »die erkenntnistheoretische Einstellung in den Horizont der Kulturphilosophie«, wie Geßner (2003: 125) angedeutet hat. Gleichwohl wäre jeder Schluss aus dieser generellen Orientierung auf eine ›kantianische Wende‹ als voreilig einzustufen. Diese wäre vielmehr an einer konkreten Begriffsanalyse zu erweisen, was nunmehr ansteht.

42 In der Tendenz stimme ich mit der Beschreibung des Verhältnisses Simmels zum Neokantianismus bei Cantó Milà (2005: 71ff.) überein. 43 In den ›Problemen I‹ tauchte das Stichwort ›Historismus‹ als Problemtitel überhaupt nicht auf.

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1. ›Hermeneutik‹ und ›Apriorismus‹ beim ›mittleren Simmel‹ Dem Bild, dass Simmel seine psychologischen Ausgangspunkte zugunsten einer verstärkten Hinwendung zum Kantianismus aufgab, widerspricht allein schon die im Vergleich zur Erstausgabe stärkere Prominenz der Verstehensproblematik im ersten Kapitel der ›Probleme II‹. So finden wir dar44 in eine präzisere, wenn auch nur vorläufige, ›Lösung‹ des »Rätsels des historischen Erkennens« (GSG 2: 320) aus der ersten Auflage, nämlich der Frage nach der Möglichkeit der Nachbildung einer fremden Subjektivität. Dabei rekurrierte Simmel auf das, beim Verstehen fremden Seelenlebens sich regelmäßig einstellende, »Gefühl der übersubjektiven – aber nicht etwa gegenständlich-äußerlichen – Richtigkeit gewisser psychischer Konstellationen und Verbindungen« (GSG 9: 275). Die Stichhaltigkeit dieser 45 Begründung bei Seite lassend, soll vielmehr eine zweite und folgenreichere Ergänzung, die Simmel dem ersten Kapitel der ›Probleme II‹ hinzugefügt hat, fokussiert werden. Darin ist augenfällig, dass die Unterscheidung zwischen dem Verstehen fremder Seelen einerseits und demjenigen 46 überindividueller Objekte andererseits ein wesentlich größeres Gewicht erhielt. Wesentlich stärker als in den ›Problemen I‹ wird die prinzipielle Einschränkung betont, »daß das ›Nachbilden‹ im historisch-psychologischen Sinn keineswegs ein unverändertes Wiederholen des Bewußtseinsinhaltes der historischen Personen ist« (ebd., 264). Vielmehr erscheint diese »ideale Forderung« der Nachbildbarkeit, die sich »vielleicht an keinem Falle restlos realisiert« (ebd., 268), als allgemeine Voraussetzung für die »Konstruierbarkeit psychischer Zusammenhänge« (ebd., 269), genauer für die Konstruktion des »Erkenntnisbildes einer historischen Persönlichkeit« (ebd.) überhaupt. Simmel stellte hier eindeutiger heraus, in welchem Sinne hier die Psychologie als Apriori der Historik zu begreifen war: »Es ist nicht der Sachgehalt des Psychologischen, sondern das Psychologische als Sachgehalt selbst, was hier, sozusagen nach der eigenen Logik der Seelen-

44 Simmel fügte seinen Erläuterungen folgende einschränkende Äußerungen hinzu: »Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß dieser Vorschlag, das psychologisch-erkenntnistheoretische Problem des geschichtlichen Verständnisses zu lösen, nur ein erster Versuch ist und sein Recht vielleicht nur darin hat, das Vorhandensein des Problems überhaupt in seiner Tiefe deutlich zu machen« (GSG 9: 275). 45 »Es gibt eben Fälle, in denen das rein seelische Verbundensein von Vorstellungen denselben Objektivitätscharakter, dieselbe innerlich notwendige und deshalb übersinguläre Gültigkeit besitzt, wie es bei den unmittelbar auf Erkenntnis gerichteten Vorstellungen der logische, sachliche Zusammenhang ihrer Inhalte aufweist« (GSG 9: 267). 46 In den ›Problemen I‹ lag das Gewicht eindeutig auf Ersterem, obgleich die Differenzierung als solche schon erkannt war (GSG 2: 317).

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vorgänge, die gültige, als notwendig gefühlte Zusammenordnung bildet, und so erst die Darstellung jener Einzelerscheinung legitimiert« (ebd., 270).

Er trennte also zunächst strikt den »Inhalt, die begriffliche Bedeutung seelischer Vorgänge von diesen Vorgängen selbst« (ebd., 271). Indem Simmel die Psychologie auf die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des psychologischen Geschehens festschrieb und von dieser die »nachbildende Konstruktion des historischen seelischen Ereignisses« (ebd., 272), die einer inhaltlich-sachlichen Logik zu folgen hätte, schied, gelangte er zu einer schärferen Separierung von Psychologie und Geschichte als noch 1892. Psychologisches Verstehen einerseits und sachliches Verstehen andererseits beruhten, Simmel zufolge, auf erkenntnistheoretisch ungleichen Voraussetzungen. Er präzisierte schließlich den Grundmechanismus, auf dessen Voraussetzungen historische (Re)Konstruktionen von Persönlichkeiten und Ereignissen enstanden, als eine »Synthesis der Phantasie« (ebd., 274). Die oben für die ›Probleme I‹ herausgestellte Ambivalenz zwischen psychologistischer Verstehenstheorie und seiner Version von Apriorismus fand nun in der Überarbeitung zum einem eine ausführlichere und gelungenere Vermittlung. Indes wurde der Abstand zwischen dem klassischhermeneutischen Verstehensideal und Simmels Verstehenslehre noch dadurch vergrößert, dass die Idee der Konstrukthaftigkeit allen Erkennens in 47 den Vordergrund rückte. Das ›Verstehen‹ bekam lediglich eine marginale und rein formal-erkenntnistheoretische Funktion innerhalb des Rahmens der Begriffsbildung zugewiesen. Die Autonomie der Konstruktionslogik gegenüber dem historischpsychologischen Material – Simmel sprach von »Formen des Seins« gegenüber solchen des »Wissens« (ebd., 277) – erörterte er schließlich in einem gegenüber der Originalausgabe neu hinzugefügten Abschnitt anhand unterschiedlicher Beispiele wie ›Philosophiegeschichte‹, ›Autobiographie‹ und ›politische Geschichte‹. Die hier nicht im Einzelnen zu rekonstruierende Argumentation kulminierte in der Differenzierung von zwei eigenständigen Perspektiven der Geschichtsschreibung. Neben dem hergebrachten historistischen Geschichtsverständnis, in dessen Zentrum das ›Individuum‹ in doppelter Rolle: als methodisches Vehikel sowie als Erkenntnisobjekt, stand, etablierte Simmel eine »Geschichte der Geschehensinhalte: der unpersönlichen, zuständlichen oder ideellen Objektivitäten« (ebd., 285). Für diese Unterteilung waren abermals keinerlei inhaltlichmaterialen Begebenheiten ausschlaggebend. Vielmehr bekamen beide Seiten der Unterscheidung den Status zweier gleichberechtigter Darstellungs-

47 Eine Wörterzählung erweist, dass ›Konstruktion‹ im ersten Kapitel der zweiten Auflage zwölf Mal nachweisbar ist, während in der ersten Ausgabe lediglich drei Mal.

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arten zugesprochen (ebd.). Wie bereits in den ›Problemen I‹ theoretisierte Simmel die epistemologischen Implikationen aus dieser Bestimmung in Analogie zur Kunst – nun, in der Neuauflage, indes in ausführlicherer Form. Die für unseren Zusammenhang belangvolle Ausführung betraf den geltungstheoretischen Stellenwert historischer Konstruktionen. Gegenüber der Position des ›historischen Realismus‹, der in der zwei48 ten Auflage der ›Probleme‹ zum Hauptgegner Simmels avancierte , führte er zunächst das Resultat seiner bisherigen geschichtstheoretischen Erörterungen ins Feld: »Es gibt kein Erkennen überhaupt, sondern immer nur eines, das durch qualitativ determinierte, also unvermeidlich einseitige Einheitsbegriffe geleitet und zusammengehalten wird« (ebd., 287). Als konsequente epistemologische Folge dieser Bestimmung deduzierte Simmel weiter, »daß jede besondere historische Wissenschaft einen besonderen Wahrheitsbegriff hat« (ebd.). Diese Position, welche man als einen ›wahrheitstheoretischen Relationismus‹ bezeichnen könnte, muss man als Schlußfolgerung aus geltungstheoretischen Einsichten einstufen, die Simmel erstmals in der ›Philosophie des Geldes‹ (GSG 6: 116ff.) dargetan hat49 te. Damit war der korrespondenztheoretischen Wahrheitstheorie, auf welcher der ›naive Realismus‹ basierte, die Grundlage entzogen. Simmels Korrektur ist zurückzuführen auf seine oben erörterte strikte Trennung zwischen »Wirklichkeit und Historie« (GSG 9: 283). Die konstruierten »Formen des historischen Wissens« konnten somit nicht mehr an einer vermeintlich objektiv erkennbaren Realität gemessen werden, sondern – gemäß ihren apriorischen Konstruktionslogiken – jeweils nur »bis zu einer ihr genügenden ›Wahrheit‹ gelangen« (ebd., 289). Unter Rückgriff auf ein monströs anmutendes philosophisches Kompositum könnte man diese Auffassung als Konstruktionspriorismus titulieren. In jedem Fall muss man Simmel als einen Vorläufer der später von Schütz entwickelten Konstruktionstheorie, welche noch auszuführen sein wird, anführen. Denn bereits im ersten Kapitel der ›Probleme II‹ liest man, dass man historische Kategorien als »solche zweiter Potenz« anzusehen habe, die »an einem Material erst wirksam werden können, nachdem es die Kategorie des Erlebens passiert hat« (ebd., 291). Wie sogleich zu zeigen sein wird, kam Simmel erst in seiner zweiten Überarbeitung der ›Probleme I‹ dazu, dieses Verhältnis zwischen ›Erkennen‹ und ›Erleben‹ detaillierter zu beleuchten. Der Zusammenhang zwischen Simmels Reformulierung seiner sozialwissenschaftlichen Erkenntnistheorie zum einen und seiner ›kulturphilosophischen Wende‹ in der ›Philosophie des Geldes‹ zum anderen gründet sich auf die starke Betonung der Eigenständigkeit von Wissensformen.

48 »Mehr und mehr hat sich mit als die eigentliche Aufgabe ergeben: die Überwindung des naiven Realismus der Historik« (GSG 9: 424). 49 Hierzu wird am Ende dieses Kapitels noch mehr zu sagen sein.

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Nachdem Simmel diese Entdeckung anhand diverser Sozialformen in seinem kulturphilosophischen Hauptwerk eruiert hatte, konnte er sie auf diverse wissenschaftliche Formgebungen der ›Geschichte‹ applizieren und variieren. Die verstärkte Emphase auf die Eigenlogik und Inkommensurabilität der jeweiligen »Spezialgeschichten« (ebd., 287) ließ Simmel endgültig in Distanz zur zeitgenössischen Hermeneutik gehen. Die Annahme einer Hinwendung zum (Badischen) Neukantnianismus erklärt sich ebenso aus der Betonung der Dichotomie von Erlebnisform und Erkenntnisform, die bei Simmel – ähnlich wie bei Rickert – nur über apriorische Begriffskonstruktion zu ›überbrücken‹ war. Insofern kann man Großheims Verdikt: »Simmel ist kein Hermeneutiker, sondern ein äußerst feinsinniger neukantianisch geprägter Analytiker« (1996: 13), vorläufig zustimmen. Bei näherem Hinsehen präsentieren sich jedoch sogleich gravierende Abweichungen zur neukantianischen Begriffsbildungstheorie, die hier lediglich angetippt werden können. Zum einen band Simmel die von ihm behandelten Konstruktionslogiken nicht an axiologische Induktionen (wie Rickert) zurück, sondern beließ diese vollständig in der Verantwortung der ›Synthesis der Phantasie‹ sowie der sachlich-inhaltlich vorgegeben Verweisungsstruktur. Im Vergleich sowohl zu Kant als auch zum Neukantianismus offenbart sich bei Simmel eine stärkere Orientierung an der konkreten lebenspraktischen Erfahrung. Dies zeigt sich nicht erst daran, dass Simmel die wissenschaftlichen Erkenntnisformen auf vor-wissenschaftlichen psychologischen Dispositionen aufruhen ließ, sondern insbesondere auch in der Begebenheit, dass er dem konkreten historischen Material – artikuliert durch die Kategorie des ›sachlichen Verstehens‹ – ein eigenes Gewicht gegenüber dem 50 Interesse des Erkennenden zuwies. Endlich konfligierte Simmels geltungstheoretische Position des »Relativismus als Erkenntnisprinzip« (GSG 6: 119) mit der wertphilosophischen Lösung der Objektivitätsproblematik, wie bereits aus der Korrespondenz zwischen Simmel und Rickert deutlichst hervorgeht (vgl. Köhnke 1996: 478ff.). Gegenüber der komplexen wertphilosophischen Axiomatik Rickerts steht vorerst Simmels oben zitierte, relativ einfach erscheinende Lösungsstrategie, den Wahrheitsbegriff in Anführungszeichen zu setzten (GSG 9: 289).

2. Die soziologischen Apriori Die Ausstrahlung der seit der ›Philosophie des Geldes‹ gewonnenen Einsichten und die durch diese bewirkten Perspektivenänderungen sollen nun noch im Hinblick auf die Entwicklung von Simmels soziologischem Standpunkt verifiziert werden. 50 Beispielsweise: »Es ist nicht jeder beliebige Weltinhalt unterschiedslos zum Kunstwerk zu gestalten« (GSG 9: 292).

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Zwischen der ersten soziologischen Programmatik 1894 und der Publikation der ›großen Soziologie‹ lagen, wie Simmel selbst gegenüber Bouglé mitteilte (GSG 11: 880), ganze fünfzehn Jahre. In dieser Zeitspanne hatte Simmel mehrere Male das soziologische Grundlegungsprojekt, weniger aus inhaltlichen Gründen denn aufgrund von berufsbedingten Frustrationen, auf Eis gelegt (vgl. Rammstedt 1999: 886ff.). Endlich versprach die ›große Soziologie‹ gegenüber der frühen ›Programmatik‹ inhaltlich auch kaum mehr als den Versuch, die Haltbarkeit der hypothetischen Auffassung von »Gesellschaft als solche, als einzigartige und autonome Existenzform«, anhand von »Einzeluntersuchungen zu erweisen« (ebd., 61f.). Insofern darf von dem Volumen des Werks nicht direkt auf eine vermeintliche Konsolidierung der ursprünglichen Konzeption oder auf eine essentielle Erweiterung ihres konzeptionellen Gehalts geschlossen werden. Die eröffnende Einleitung repetierte denn auch die Begründungsstrategie aus ›Das Problem der Sociologie‹, welche auf der Form/InhaltDifferenzierung aufruhte, und ging argumentationstheoretisch kaum darüber hinaus. Dennoch hat Rammstedt von einer durch die ›kantianische Wende‹ evozierten »Wende« (1999: 901) in der Soziologiekonzeption Simmels gesprochen. Den Schlüssel hierzu gilt es in dem wohl während Simmels letzter Arbeitsphase an der ›großen Soziologie‹ – etwa um 1907 – entstandenen ›Exkurs‹ über das »Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?« (GSG 11: 42), zu finden. In Simmels Anknüpfung an Kants klassischer, an die Möglichkeit von ›Natur‹ gerichteter, Fragestellung manifestiert sich zum einen die erkenntnistheoretische Richtung, auf die hin Simmel nunmehr die soziologische Formung durchleuchten wollte, sowie, zum anderen, die Kontinuität zu der bereits in den ›Problemen II‹ eingeschlagenen Untersuchungsperspektive. Eines direkten Hinweises auf den Wechselbezug zwischen den apriorischen Voraussetzungen von Historik und Soziologie wird man indessen nicht fündig. Trotz der material bedingten Nähe beider Fächer, behandelte sie Simmel stets völlig unabhängig voneinander. Während Simmel noch in den ›Problemen II‹ auf die »gleiche Erkenntniskritik« (GSG 9: 230), welche Kant gegenüber der Naturerkenntnis geübt hatte, setzte, entfaltete der ›Exkurs‹ zunächst den spezifischen Sinn, in welchem die Frage nach der Möglichkeit von Gesellschaft zu verstehen war. Hierbei ging er sogleich in Distanz zur Option einer analogen Behandlung der soziologischen Apriorik: »Die entscheidende Differenz der Einheit einer Gesellschaft gegen die Natureinheit aber ist diese: daß die letztere – für den hier vorausgesetzten Kantischen Standpunkt – ausschließlich in dem betrachtenden Subjekt zustande kommt, ausschließlich von ihm an und aus den an sich unverbundenen Sinneselementen erzeugt wird wogegen die gesellschaftliche Einheit von ihren Elementen, da sie

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bewußt und synthetisch aktiv sind, ohne weiteres realisiert wird und keines Betrachters bedarf« (GSG 11: 43).

An dieser Stelle referierte Simmel die heute allgemein akzeptierte Hypothese von der Selbstreflexivität der Soziologie: ›Gesellschaft‹ konstituiert sich folglich nicht über eine Außenperspektive eines Betrachters, sondern vollzieht sich bereits unmittelbar in den vergesellschafteten Subjekten bzw. deren sozialer Praxis. Anders als in der Erkenntnis der Natur und offenbar auch in höherem Maße als in der Geschichtsschreibung bedurfte hier die »Vereinheitlichung [...] keines Faktors außerhalb ihrer Elemente« (ebd.). Aus dieser Grundbestimmung heraus ergab sich für Simmels weitere methodologische Herangehensweise eine eigentümliche Modifikation. Die Logik und Gesetzmäßigkeit der Begriffskonstruktion konnte unter dieser Vorgabe nicht mehr wie noch im Falle der Geschichtsschreibung an der Praxis des Historikers herausgearbeitet werden. Vielmehr erforderte die Bestimmung der soziologischen Apriori die Beobachtung der »Realität der Praxis« (ebd., 60) vergesellschafteter Individuen. Laut Simmel müsse man der Erkenntnistheorie der Soziologie konzedieren, dass sie ihre Apriori »nicht mit einem einfachen Schlagworte [...] bezeichnen [kann], wie die Kantischen Kategorien es zulassen« (ebd.). Umso erstaunlicher erscheint vor diesem Hintergrund der Umstand, dass Simmel den soziologischen Apriori zeitlebens keine weitere, über den ›Exkurs‹ hinausgehende, Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Gegenüber der Historik, einem Gebiet, das ihm, gemessen an seiner Publikationstätigkeit, im Vergleich zur Soziologie wesentlich entfernter lag, ist hier eine merkwürdige Diskrepanz zu konstatieren. Im Gegensatz zu allen durch außenstehende Betrachter gestifteten Einheitsgebiete, zeichnete sich »das Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden« (GSG 11: 43) durch »das Gefühl [...] eine[r] Unbedingtheit und Unerschütterlichkeit, die von keiner einzelnen Vorstellung gegenüber eines materiellen Äußerlichen erreicht wird« (ebd., 45), aus. Keineswegs nur in formaler, sondern auch in qualitativer Hinsicht unterschied sich die »Grundlage des Vorstellens« (ebd., 44) von Gesellschaft gegenüber dem der Natur. Die angedeutete Qualität der Soziologie basierte, so Simmel, auf der »Tatsache des Du« (ebd., 45). Dahinter verbarg sich eine Begebenheit, die Simmel bereits in den ›Problemen I‹ als »Rätsel des historischen Erkennens« (GSG 2: 320) herausgestellt hatte. Nach nunmehr sechzehn Jahren übertrug Simmel diese Thematik auf das Gebiet des soziologischen Erkennens: »Daß dieses Für-Sich des Andern uns nun dennoch nicht verhindert, ihn zu unsrer Vorstellung zu machen, daß etwas, das durchaus nicht in unser Vorstellen aufzulösen ist, dennoch zum Inhalt, also zum Produkt dieses Vorstellens wird –

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das ist das tiefste, psychologisch-erkenntnistheoretische Schema und Problem der Vergesellschaftung« (GSG 11: 45).

Die Verstehensproblematik, die hinter dieser Problembeschreibung steht, bildet demnach einen Konnex zwischen den Wissensformen ›Geschichte‹ und ›Gesellschaft‹. Auf letzterem Gebiet wurde das Verstehensproblem augenscheinlich in dem Moment virulent, als Simmel erkannte, dass die ›Tatsache des Du‹ eine zentrale Bedingung für das Zustandekommen der »Synthese ›Gesellschaft‹« (ebd.) darstellt. Als kurios erscheint in diesem Zusammenhang eine Stelle im ›Exkurs‹, an welcher Simmel exakt jene Aussage Diltheys zu reproduzieren scheint, von der er sich noch in beiden 51 Versionen der ›Probleme‹ distanziert hatte : »In ganz andrem Sinne als die äußre Welt ist die Gesellschaft ›meine Vorstellung‹« (ebd., 44). Hier deutet sich möglicherweise bereits sogar die im Anschluss an dieses Teilkapitel zu erörternde ›lebensphilosophische Wende‹ Simmels an. Die Exploration der soziologischen Apriori kann als Operationalisierung und 52 phänomenologische Erfassung der ›Tatsache des Du‹ gedeutet werden. Sie setzte freilich an den »in Individuen sich vollziehenden Vorgängen« (ebd., 45), konkreter: an dem individuellen »Wissen um den andern als 53 den Vergesellschafteten« (ebd., 46), an. Dieses Wissen, so Simmels Ausgangspunkt, vollziehe sich »nur an einzelnen konkreten Inhalten« (ebd.). Wir bemerken an dieser Beschreibung den angedeuteten Perspektivenwechsel, der hier auf dem Feld der Soziologie aus der eigentümlichen Art der Gegebenheit von ›Gesellschaft‹ begründet wurde. Die Erkenntnisform konnte hier nicht mehr völlig unabhängig von inhaltlichen Begebenheiten analysiert werden – wie es Simmel in den ›Problemen II‹ noch für die Historik anhand mehrerer Beispiele exemplifiziert hatte. Die strikte Trennung zwischen ›Form‹ und ›Inhalt‹ ließ sich in der Perspektive der Erkenntnistheorie der Soziologie weniger durchhalten als auf dem Gebiet der Historik, »Denn das Subjekt steht hier nicht einem Objekt gegenüber, von dem es allmählich ein theoretisches Bild gewönne, sondern jenes Bewußtsein der Vergesellschaftung ist unmittelbar deren Träger oder innere Bedeutung« (ebd., 47). Auch diese Hervorhebung Simmels kann man als Vorwegnahme der beim ›späten Simmel‹ festzustellenden Tendenz lesen, die Hypothese der Unabhängigkeit der ›Formen‹ gegenüber den ›Inhalten‹ einzuschränken und deren wechselseitige Bedingtheit in Rechnung zu stellen. Bevor wir uns diesem Zusammenhang eingehend zuwenden, sollen

51 Gemeint ist Diltheys Ausspruch: »Wie anders ist uns das Seelenleben gegeben!« 52 ›Phänomenologisch‹ ist hier – philosophisch neutral – im Sinne von ›sich an der beobachtbaren Praxis zeigend‹ gemeint. 53 Simmel sprach auch von »Gesellschaft als eine Wissenstatsache« (GSG 11: 47).

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die drei soziologischen Apriori, die Simmel im ›Exkurs‹ herausstellte, im Einzelnen vorgestellt werden. Das erste soziologische Apriori betraf die Wahrnehmung des Anderen. Dieser Regel zufolge sei es ausgeschlossen, andere Individuen »völlig in uns zu repräsentieren« (ebd.). Der tiefere Grund, den Simmel zur Begründung dieser Unmöglichkeit anführte, weist letztlich zurück auf ein Argument aus den ›Problemen I‹ (GSG 2: 319ff.), dem zufolge vollkommenes Erkennen des Anderen »vollkommene Gleichheit voraussetzen« (GSG 11: 48) würde. Da eine vollständige »Reziprozität der Perspektiven«, um eine Begriffswendung Schütz’ bereits an dieser Stelle anzubringen, hypothetisch sei, müsse man sich – nicht nur in der (geschichts)wissenschaftlichen, sondern auch alltäglichen gesellschaftlichen Praxis – mit der »Verallgemeinerung des seelischen Bildes vom Andern« (ebd.) behelfen. Das so synthetisierte Bild setze sich zum einen aus den individuellen Bruchstücken, die von dem Gegenüber bekannt sind, zum anderen aus den im jeweiligen Kontext erwarteten typifizierten Handlungserwartungen zusammen. Aus dieser doppelten Ursprünglichkeit, nämlich aus dem Individuum zum einen und der Gesellschaft zum anderen, deduzierte Simmel, dass diese Verallgemeinerungen »immer zugleich mehr oder weniger [sind] als die Individualität« (ebd., 50). Unschwer bemerken wir hier enge Analogien zum Apriori der Historik, der ›Einheit der Persönlichkeit‹. Insbesondere in der zweiten Version der ›Probleme‹ etablierte Simmel die jeweilige Besonderheit des psychischen und sachlichen Verstehens. Ging es ihm in den ›Problemen II‹ vor allem darum, das Eigenrecht einer rein auf objektiven (im Gegensatz zu psychischen) Inhalten fundierten Kulturinterpretation gegenüber dem totalistischen Anspruch der Hermeneutik zu verteidigen, so relativierte sich dieser ursprüngliche Gegensatz offenkundig auf dem Gebiet des »empirischen sozialen Lebens« (ebd., 53). Denn die Konstruktion des Bildes von alter Ego gründete sich – in jeweils unterschiedlichen Mischungsverhältnissen – auf beiden Ursprungsquellen. Die zweite apriorische Voraussetzung der Vorstellung einer Einheit der Gesellschaft besagte, »daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist« (ebd., 51). Simmel rückte das vergesellschaftete Individuum in eine spezifische »Doppelstellung«, in der es einerseits ein »Glied des [sozialen; D.Š.] Organismus und zugleich selbst ein geschlossenes organisches Ganzes« (ebd., 56) ist. Ähnlich wie das erste Apriori eröffnete auch das zweite zunächst eine Opposition zwischen Individuum und Gesellschaft, die schließlich in einer einheitlichen Form aufgelöst wurde. Hatte Simmel im vorliegenden Fall beide Perspektiven als »nur verschiedene Kategorien, unter die der gleiche Inhalt tritt« (ebd., 55) differenziert, so schob er später nach, »daß das Innerhalb und das Außerhalb zwischen Individuum und Gesellschaft nicht zwei nebeneinander bestehende Bestimmungen sind [...] sondern daß sie die

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ganz einheitliche Position des sozial lebenden Menschen bezeichnen« (ebd., 56). Dieses ›Sowohl-Als-Auch‹ konstituiert Simmel zufolge eine eigene Formung, welche wiederum die Möglichkeit der »empirischen Gesellschaft« (ebd., 57) darbringt. Der Andere wird – wiederum in Analogie zum Apriori der Historik – als Einheit wahrgenommen, wobei zur gleichen Zeit gewusst wird, dass sich diese Einheit nicht exklusiv aus dem Individuellen noch dem Sozialen zusammensetzt, sondern aus den beiden, latent in Opposition zueinander stehenden Ausgangspunkten resultiert (ebd., 53). Das dritte Apriori der Soziologie bezeichnete Simmel schließlich als »Allgemeinheitswert der Individualität«. Damit identifizierte er die eigentümliche individuelle Vorstellung, dass »jedes Individuum durch seine Qualität von sich aus auf eine bestimmte Stelle seines sozialen Milieus hingewiesen ist« (ebd., 59). Wo diese Vorstellung nicht vorherrsche, könne man Simmel zufolge nicht von ›Vergesellschaftung‹ sprechen. Jedoch wirke dieses Apriori oft implizit und unbewusst und sei ebenso unabhängig von der Notwendigkeit der praktischen Realisierung. Resümieren wir unsere Betrachtung der soziologischen Apriorilehre, so muss gegenüber den ›Problemen II‹, in denen Simmel die Eigenständigkeit und Eigenlogik diverser historischer Formungsprozesse sowie deren Unabhängigkeit vom historischen Inhalt betonte, eine gesteigerte Sensibilität für die Komplementarität und Wechselwirkung zwischen Form und Inhalt hervorgehoben werden. Jenes Gespür offenbarte sich insbesondere an Simmels Begründung der beiden ersten soziologischen Apriori. Zusammengenommen deuten alle drei Apriori auf den Sinn von Simmels in den ›Problemen I‹ eingeführter Unterscheidung zwischen ›absoluten‹ und ›relativen Apriori‹ (GSG 2: 304) hin. Im Vergleich zu der oben erörterten, anhand der Tätigkeit des Historikers entwickelten, Empirisierung des kantischen Apriori, belegt Simmels Erörterung der soziologischen Apriori eine Fortführung der Tendenz zur ›Verlebendigung‹ der Kantischen Apriorikonzeption. Im ›Exkurs‹ löste Simmel eingangs die für die wissenschaftliche Gegenstandskonstitution konstitutive Trennung zwischen Subjekt und Objekt vollständig auf und setzte sich damit in eine gewisse Distanz sowohl zum Kantianismus als auch zum Neokantianismus. Auch gegenüber seinem in den ›Problemen II‹ extrapoliertem Hauptargument der Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Formung gegenüber dem Material bedeutet dieser Schritt eine Abkehr. Inwiefern damit eine Annäherung an Diltheys lebensphilosophische Strukturtheorie vorliegt, soll an dieser Stelle noch offen 54 bleiben. Die bereits angedeutete gesteigerte Aufmerksamkeit Simmels für das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Form und Inhalt 54 Eine Nähe von Simmels Erkenntnistheorie der Soziologie zu seiner späten Lebensphilosophie hat jüngst Gregor Fitzi herausgestellt. Dabei beruft er sich auf Simmels Bemühung, »die Vergesellschaftung als soziale Dimension der modernen Lebenserfahrung zu ergründen« (2002: 123).

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war kennzeichnend für Simmels Spätwerk, das sogleich zur Betrachtung ansteht. Ungeachtet der unterschiedlichen formal-theoretischen Klassifizierung, wurde in unserer Analyse auch eine enge Verbindung zwischen den soziologischen Apriori und dem der Historik, der ›Einheit der Persönlichkeit‹, fühlbar. Inhaltlich verbunden wurden sie durch Simmels Verstehenslehre, die ihn bereits in den ›Problemen I‹ zur Konsequenz führte, das Ideal einer objektiven Nachbildung fremder Seelen zu verabschieden. Es zeigt sich somit, dass, obgleich Simmel es aus ungeklärten Gründen vermied, Verbindungslinien zwischen historischer und soziologischer Apriorik zu markieren, systematische Korrelationen sehr wohl nachweisbar sind. Ein Versuch, diese Verknüpfungen und Verweise im Hinblick auf ihren systematischen Zusammenhang zu interpretieren, soll abschließend erst nach Betrachtung des ›späten Simmel‹ angestrengt werden.

Zur ›lebensphilosophischen Wende‹ des ›späten Simmel‹ Die Epocheneinteilung von Simmels Werk hatte unter anderem auch den Effekt, dass seine weithin bemerkte ›lebensphilosophische‹ Arbeitsphase weitgehend aus der soziologischen Beschäftigung mit Simmel ausgeklammert werden konnte. Prima facie durchaus mit einigem Recht, denn in der Tat hatte Simmel nach 1908 – mit Ausnahme der ›kleinen Soziolo55 gie‹ von 1917 – keine genuin soziologische Arbeit mehr veröffentlicht. Daher konnte Dahme noch 1984 auf die Schwierigkeit hinweisen, »zu verstehen, wie sich seine wissenschaftlich-soziologischen Interessen mit seinen metaphysisch-lebensphilosophischen vereinbaren lassen« (1984: 205). Doch kann man demgegenüber nicht den Umkehrschluss ziehen, dass Simmels späte Kultur- und Lebensphilosophie dafür im Umkreis der Philosophie entsprechende Würdigung erfahren hätte (Fitzi 1996). Auch hier vermisst man bis heute eine zusammenhängende Darstellung von Simmels Lebensphilosophie. Vor diesem Hintergrund ist Gregor Fitzis (2002) systematischer Versuch, den Brückenschlag von Simmels Sozialtheorie zur Lebensphilosophie – unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung Bergsons – zu beschreiben, als besonders achtungsgebietend zu betrachten. Für den hier unternommenen Rekonstruktionsversuch ist diese sachlich beachtenswerte Studie insofern von geringerem Gewinn, als darin Simmels Geschichtstheorie, die für unsere Rekonstruktion zum Kardinalpunkt gewählt wurde, nur randständig behandelt wird. Dennoch seien die 55 Gemeint ist der ›Göschen-Band‹ mit dem Titel ›Grundfragen der Soziologie‹. Wiederabgedruckt in der Georg-Simmel-Gesamtausgabe (GSG 16: 59149).

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für unseren Interpretationsgang wesentlichen Hinweise Fitzis eingangs umrissen. Es steht im Folgenden nicht zu Gebote, eine alternative Deutung von Simmels Spätphilosophie anzugehen. Beobachtet werden soll dagegen, in welchen konzeptuellen Erweiterungen und Modifikationen der ursprünglichen philosophischen Anleihen sich Simmels ›lebensphilosophische Wende‹ manifestierte. War bereits bei der Erörterung der apriorischen Voraussetzungen der Soziologie eine gewisse Bedeutungsverlagerung, die von (neo)kantianischen Ausgangspunkten weg- und zu alltagspraktisch-empirisch abgeleiteten Denkvoraussetzungen hinführten, konstatiert worden, so werden diese Einschätzungen von Fitzis (ebd., 123) Schlussfolgerungen in der Tendenz bestätigt. Ob Simmel jedoch in der Tat von vornherein die Soziologie bewusst auf eine, über den Problemstand der ›Probleme II‹ hinausgehende, epistemologische Theorie der »modernen Lebenserfahrung« (ebd.) angesetzt hatte, wie Fitzi suggeriert, kann aus zweierlei Gründen in Frage gestellt werden. Zum einen widerspräche es Simmels Grenzziehung zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik als genuin philosophischen Grundeinstellungen auf der einen und der Soziologie als empirischer Einzelwissenschaft auf der anderen Seite, eine per definitionem mit der ›Wirklichkeit‹ befassten Disziplin mit grundlagentheoretischen oder kulturanaly56 tischen Aufgabenstellungen zu betrauen. Auf der Grundlage von Simmels dreigliedrigem Wissensbegriff würde eine solche Soziologisierung philosophischer Probleme unangemessen erscheinen. Hinzukommend weisen nicht nur die Entstehungshintergründe des ›Exkurses‹, dessen formaler Aufbau, welcher – parallel zu den ›Problemen‹ – an Kant anknüpfte, als auch die nicht vorhandenen Bezugnahmen auf seine Geschichtstheorie eher auf eine nach altbekannten Mustern verfahrende Argumentationsweise hin. Von daher liegt die Vermutung näher, dass es vielmehr sachliche Befunde und weniger programmatische Ziele waren, die Simmel über seinen orthodoxen (neo)kantianischen Standpunkt aus den ›Problemen II‹ 57 hinausführten. Bestritten werden soll damit in keinster Weise, dass von Simmels Herausstellung der Natur der soziologischen Apriori Synergieeffekte auf spätere Erkenntniskonzeptionen ausgingen. Diese Hypothese wird vielmehr in den weiteren Ausführungen zu manifestieren sein. Unsere Rekonstruktion antizipiert den Nachweis, dass man die Vorstellung einer abrupten Hin-

56 Großheim hat daher zu Recht herausgestellt: »Simmels Soziologie ist kein Beitrag zur Kritik der historischen Vernunft mehr, sie ist davon ganz unabhängig« (1996: 13). 57 Verschwiegen soll jedoch keinesfalls, dass die systematische Stellung des ›Exkurses‹ im Rahmen von Simmels Denkentwicklung und jene Perspektivenerweiterung, welche den Übergang zur lebensphilosophischen Sichtweise andeutet, in der Sekundärliteratur nach unserer Kenntnis noch nicht aufgedeckt ist.

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wendung Simmels zur Lebensphilosophie zugunsten des Bildes, dem zufolge Simmel in seinem Spätwerk lediglich Denkmodelle und Motive wieder aufnahm und Umgewichtungen vornahm, die zum Teil seit der Frühphase in seinen Arbeiten eingelassen waren, fallen lassen muss. In die Richtung eines allmählichen Perspektivenwechsels weist auch Simmels zunehmende Beschäftigung mit ästhetischen Formen hin. Fitzi markierte darin einen wichtigen Knotenpunkt, von dem ein eigenständiger lebensphilosophischer Denkweg abging, der Simmel »über die Grenzen von Diltheys Psychologismus und von Kants Intellektualismus hinaus(führte)« (ebd., 127). Jedoch sollte gleichwohl nicht übersehen werden, dass dieses Entwicklungspotential bereits in den ›Problemen I‹ angelegt war, was auch von Fitzi übersehen wird. Denn, wie gesehen, fanden sich darin schon Analogieschlüsse zwischen Geschichte und Kunst ausgeführt (GSG 2: 392ff.). Auf weitere Vorwegnahmen soll an dieser Stelle verzichtet werden. Die nachfolgende Betrachtung operiert abermals vornehmlich auf geschichtstheoretischem Terrain, um der Ausgangsfrage nach den Auswirkungen der ›lebensphilosophischen Wende‹ auf Simmels Grundlegungstheorie nachzugehen. Hierbei beschränken wir uns eher auf formalbegriffliche Kriterien, welche die Theoriearchitektur betreffen und betrachten dafür einzelne inhaltliche Erweiterungen und Hinzufügungen als von sekundärer Relevanz. Es wurde oben bereits vorausgeschickt, dass Simmel spätestens seit 1913 den Plan einer abermaligen konzentrierten Überarbeitung seiner Geschichtstheorie verfolgte. Er empfand die Distanz zu den beiden vorausgegangenen Auflagen der ›Probleme der Geschichtsphilosophie‹ als weit genug, um ein ›neues Buch‹ unter einem neuen Titel anzukündigen (GSG 9: 427). Es sind vorwiegend drei Aufsätze, aus denen die Grundrichtung dieser Neufassung, die Simmel nicht mehr abschließen konnte, entnommen werden können: Zum einen ›Das Problem der historischen Zeit‹ (1916), dann vor allem ›Die historische Formung‹ (1918) sowie schließlich ›Vom Wesen des historischen Verstehens‹ (1918). In jeder dieser Arbeiten stehen jeweils unterschiedliche Aspekte im Vordergrund – Zeitlichkeit, historische Begriffsbildung, Verstehen –, welche, mit Ausnahme des Ersteren, bereits Gegenstand der beiden Fassungen der ›Probleme der Geschichtsphilosophie‹ gewesen sind. Die Frage, welchen konkreten Erkenntnissen Simmel die neuen Gesichtspunkte entnahm, die er an die Geschichte antrug, soll im Folgenden als sekundär betrachtet und deshalb hier nur kursorisch umrissen werden. Von primärem Interesse sind im Hinblick auf unsere Ausgangsfragestellung die Umgestaltungen, die sich aus der Adaption lebensphilosophischer Perspektiven für die Wissensbegründung ergaben.

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1. Skizze: Simmel und die Lebensphilosophie Mit einigem Recht kann man Henri Bergson als den entscheidenden Inspirator für Simmels lebensphilosophische Orientierung hervorheben, mit dessen Werken sich Simmel wohl ab 1908 auseinander zu setzen begann (vgl. Landmann 1987: 8; Fitzi 2002: 129). Bergsons Einfluss auf Simmel belegt am eindrücklichsten Simmels Referenz auf die Dimension der Zeitlichkeit und deren epistemologische Bedeutung für die historische Formung. Gleichwohl war Bergson keinesfalls der einzige ›Lebensphilosoph‹, mit dem sich Simmel zu Lebzeiten ausführlicher befasst hatte. Bekanntermaßen hatte er sich zu einem frühen Zeitpunkt, spätestens ab 1897, dem Studium der Werke Friedrich Nietzsches gewidmet. Lichtblau zufolge galt dieser ihm als »der Lebensphilosoph par excellence« (1984: 262). Nicht nur aus dem Grund, dass ›Lebensphilosophie‹ sowohl in der Gegenwart als auch bereits zur Jahrhundertwende ein opaker Terminus war, der zur Kennzeichnung verschiedener philosophische Projekte in Anschlag gebracht wurde, sondern auch vor dem Hintergrund der bereits dargelegten 58 Diltheyschen ›wissenschaftlichen Lebensphilosophie‹ , gebietet es sich, Simmels Annäherung an die Lebensphilosophie näher zu charakterisieren. In einem eigens Bergson gewidmeten Aufsatz von 1914 hob Simmel die seiner Ansicht nach relevanten Erkenntnisse der Lebensphilosophie ausdrücklich hervor. Dabei referierte Simmel zunächst Bergsons Grundgedanken, demgemäß Zeit »für das Leben [...] die unmittelbare Wesenform« (GSG 13: 56) darstelle. Gegenüber dem in der Wissenschaft dominierenden physikalischen Zeitbewusstsein habe Bergson einen alternativen, lebensphilosophischen Zeitbegriff etabliert, der davon ausging, dass das »Leben ein ununterbrochenes, fließendes Schaffen von Neuem, so noch nicht Dagewesenem (ist)« (ebd., 58). Dieses ›Leben‹ sei »eine ganz ursprüngliche schöpferische Bewegung, die nicht berechnet werden kann 59 wie ein Mechanismus, sondern nur erlebt« (ebd.). Hätten die Naturwissenschaften bislang versucht, »das Leben aus dem Mechanismus als seiner Voraussetzung abzuleiten, versucht Bergson das umgekehrte: den Mechanismus aus dem Leben abzuleiten« (ebd., 59). Dieses Unterfangen wurde von Simmel breit geschildert. Von zentraler Bedeutung erschien ihm Bergsons Nachweis, dass »alles Materielle und Mechanische Erzeugnis und Gegenstand des logischen Verstandes (ist)« (ebd., 61). Rationales Denken, welches Bergson als »der äußerste Gegensatz zum Leben« (ebd., 62) erschienen war, sei zwar zur Erkenntnis der »Gesamtströmung« untauglich, aus demselben Grund aber 58 In der Regel werden Diltheys und Simmels Versionen von Lebensphilosophie als gegensätzlich gewertet (vgl. Fitzi 2002: 126). 59 Im Übrigen erblickte Simmel »hier eine tiefgelegene motivische Verwandtschaft mit Nietzsche« (GSG 13: 58), die aber an dieser Stelle nicht vertieft werden soll.

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hervorragend als »Werkzeug des Handelns«, welches »nur unseren praktischen Zwecken in der Welt« dient, geeignet (ebd., 61). Simmel bezeichnete den Intellekt in diesem Sinne als »das nach außen gewandte Leben« (ebd., 62) und erneuerte damit den für die populären Lebensphilosophien charakteristischen Dualismus zwischen ›Denken‹ und ›Leben‹. An diese Feststellung knüpfte Simmel eine kritische Frage: »wie kommt es, daß dieses Handeln, das doch selbst eine Realität ist und in der realen Welt verläuft, in real förderlicher Weise verläuft?« (ebd., 63) Er vermisste bei Bergson offenbar ein Verbindungsglied zwischen den subjektiven Voraussetzungen einerseits und den Erfolgen des Handelns andererseits. Dieses Defizit ergänzte Simmel schließlich durch eine Bestimmung, die im Hinblick auf seine eigene Lebens- und Kulturphilosophie verbindlich blieb, nämlich der Gedanke der ›Tragik des Lebens‹. Jenes tragische Element des Lebens erblickte er darin, »daß das Leben, um nur existieren zu können, sich in Nichtleben verwandeln muß« (ebd.). Insbesondere in den noch zu explizierenden kulturtheoretischen Schriften hatte Simmel den hier fassbaren Grundgedanken wiederholt, dass sich das Leben nur in Formen äußern 60 und erhalten könne. Schließlich stellte Simmel noch einen weiteren von »Bergsons originellsten Gedanken« (ebd., 66) heraus, nämlich den »Instinkt« als »den eigentlichen Lebenszusammenhang bewahrende Art des Verhaltens neben der intellektuellen« (ebd.). Im Hinblick auf seine später überarbeitete Verstehenstheorie erwies sich dieses Theorem, welches im Übrigen spürbare Affinität zu Diltheys Hermeneutik aufwies, als gewichtig. Simmel begriff den ›Instinkt‹ als »Trost« (ebd., 68), der über das Moment der ›Tragik des Lebens‹ hinweghelfen konnte, denn er bedeutete immerhin einen nichtreduktionistischen Zugang zum ›Leben‹: »wir verstehen wirklich und von innen her nur das Lebendige, weil wir selbst lebendig sind« (ebd.). Simmel entlarvte jedoch die philosophischen Hoffnungen, die Bergson auf dieses »mit der Sache selbst zusammenfallendes Erschauen ihrer« verband, als »eine unlösbare Aufgabe« (ebd., 67). Auch Bergson könne »es nicht überwinden, daß Erkennen immer Erfahren ist und eine Distanz zwischen Erkennendem und Erkanntem setzt, von der aus die Identität des Seins wohl erstrebt, aber nicht erreicht werden kann« (ebd., 67f.). In Simmels Betrachtung der Bergsonschen Lebensphilosophie stoßen wir damit wiederholt auf den eigentümlich Befund, dass sich Simmel einerseits zwar auf holistische Grundkonzepte bezieht, ohne jedoch daraus einen systematischen Nutzen zur Überwindung des ›Hiatus‹ zwischen Erkennen und Erleben zu beziehen. Auch hier erweist er sich als treuer Kantianer, der die dualistische Spaltung zwischen Denken und Leben als theoretisch unüberbrückbar ansieht. Dieses Ergebnis hatten wir bereits anhand der Untersuchung der beiden Auflagen der ›Probleme der Geschichtsphi60 Philosophisch gedeutet hat er es im ersten Kapitel der ›Lebensanschauung‹.

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losophie‹ resümiert. Eine ›lebensphilosophische Wende‹ kam hier jedenfalls nicht zum Durchbruch.

2. ›Leben‹ und ›Geschichte‹ Ein solcher Durchbruch zur Lebensphilosophie erfolgte, wenn überhaupt, erst nach 1914, wie wir in Übereinstimmung mit Fitzi (2002: 257) festhalten können. Die unter systematischen Gesichtspunkten ergiebigste Vorstudie zu Simmels Plan der Neubearbeitung der Geschichtstheorie stellt der Aufsatz ›Die historische Formung‹ aus dem Jahre 1917 dar. Hier knüpfte Simmel zunächst nahtlos an die Problematik, die Simmel im ›BergsonArtikel‹ anhand von dessen Unterscheidung zwischen ›Intellekt‹ und ›Instinkt‹ aufnahm, an. Dafür ist symptomatisch, dass der Name Kants bereits im ersten Satz fiel. Jedoch ging Simmel sogleich unvermittelt dazu über, die Relevanz von dessen Grundlegungstheorie – mit ausgesprochen lebensphilosophischen Argumenten – zu relativieren. Er stellte dem Erkenntnisbegriff denjenigen des ›Erlebens‹ gegenüber und setzte sie in folgende Ordnung: »Im Erkennen reagieren gewisse differentielle Seiten unseres Wesens auf die Dinge oder bilden die Vermittlungen unseres Weltverhältnisses; als Erleben aber dürfen wir wohl die von viel breiteren und ganz fundamentalen Schichten vollzogene Antwort unserer Gesamtexistenz auf das Dasein der Dinge bezeichnen, unsere Seite des Verhältnisses zwischen einem Objekt und der Ganzheit oder Einheit unseres Seins. Im Erleben wird das Leben, der intransitivste aller Begriffe, in unmittelbaren funktionellen Konnex mit der Objektivität gesetzt und zwar in einem einzigartigen Modus, zu dessen Einheit sich Aktivität und Passivität des Subjekts, gegen ihren gegenseitigen logischen Ausschluß gleichgültig, zusammenschließen« (GSG 13: 321f.).

Hier deutet sich gegenüber dem ›Bergson-Aufsatz‹ ein grundlegender Wandel in Bezug auf den Denken/Erleben-Dualismus an. Gegenüber dem ›Erkennen‹ bezeichnete Simmel das spontane ›Erleben‹ als »primäres Weltverhältnis« (ebd., 322). Auch finden wir in der zitierten Passage ein von Dilthey her bekanntes Argument, welchem zufolge der Erlebniszugang einen unmittelbaren Bezug zur Welt der Gegenstände herstellt, wogegen das Erkennen auf Abstraktion angewiesen sei. Nicht mit dem Denken, sondern dem Erleben, so Simmel, »fängt also, absolut genommen, auch die Erkenntnis an« (ebd.). Wesentlich prägnanter kann man Diltheys lebensphilosophische Argumentationsfigur, wonach das Erkennen nicht hinter das Leben zurückgehen könne, kaum paraphrasieren. In Abweichung zu Dilthey stellte Simmel beifolgend das »Eigentümliche« der Erkenntnis heraus: »daß das Objekt, vom Leben aufgenommen und bearbeitet, sich von dieser vitalen Bedingtheit löst und als erkanntes

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zu einem selbständigen Bilde, in sachlich ideeller Sphäre wird« (ebd.). An dieser Stelle strich Simmel die sachliche Eigenlogik der geistigen Formen gegenüber der Lebenssphäre heraus und reformulierte damit auf lebensphilosophischem Boden die Figur des ›Hiatus‹ zwischen Erkennen und Erleben, welchen Dilthey und Bergson für die Geisteswissenschaften überwinden wollten. Stärker als in den zuvor behandelten erkenntnistheoretischen Arbeiten Simmels tritt an diesem Punkt die bereits mehrfach begegnete Grundspannung zwischen zwei vermeintlich inkompatiblen philosophischen Ausgangspunkten wieder auf. Hatten wir zuvor noch kantianische Grundfiguren von einem hermeneutischen Wissenschaftsmodell geschieden, so können wir nun für Simmels Spätphase dieses Bild als ein Kompositum aus Kantianismus und Lebensphilosophie präzisieren. Auf welche Weise sich dieses spannungsgeladene Amalgam auf die von Simmel anvisierte dritte Ausgabe seiner Geschichtsphilosophie übertrug, soll nun rekonstruiert werden. Mit Referenz auf die in den ›Problemen II‹ entwickelte Position betonte Simmel zunächst die Möglichkeit, die historischen »Objektivitäten [...] jede für sich und deren logische oder technische Konsequenzen in reiner Sachlichkeit« zu erkennen, »ohne daß ihr Erlebtsein diese Erkenntnis kategorial bestimmte« (ebd.). Nun kam jedoch die Zusatzbedingung neu hinzu, welcher zufolge »die eigentümliche Bewegtheitsform, die wir Leben nennen, zwischen Element und Element eine Verbindung« (ebd.) herstellen müsse, damit man von ›Geschichte‹ sprechen könne. Konkreter ausgedrückt: Einzelfakten der Vergangenheit würden erst »in der Form des Lebens« zu ›Geschichte‹ (ebd.). In dieser Definition der Voraussetzungen von ›Geschichte‹ manifestiert sich nun der lebensphilosophische Einschlag des ›späten Simmel‹ auf deutliche Weise. Darüber darf auch Simmels formal an die Formulierung in den ›Problemen II‹ anknüpfende Problemdefi61 nition der Erkenntnistheorie der Geschichte nicht hinwegtäuschen: »wie wird aus dem Geschehen Geschichte?« (ebd., 323) Das Spezifikum der historischen Formungen formulierte Simmel darin, dass diese zwar »dem Leben entrissen (werden), aber doch [...] so, daß bei diesem Transplantationsprozeß die Lebensform mit umgriffen [...] wird« (ebd.). Simmels Aufsatz zur ›historischen Formung‹ kann folglich als ein Versuch zur Versöhnung, oder zumindest der Vermittlung, der beiden diametralen Ausgangspunkte Simmels, der These der Rückgebundenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis an das ›Leben‹ einerseits und der logisch-sachlichen Autonomie der Kultur- und Wissensformungen andererseits, interpretiert werden. In den beiden vorausgegangenen Auflagen seiner Geschichtsphilosophie wurde diese Diskrepanz nicht theoretisiert.

61 Darin lautete die Frage, »wie aus dem Stoffe der unmittelbaren gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen?« (GSG 9: 229).

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Anhand von vier unterschiedlichen historischen Formungsprinzipien rekapitulierte Simmel das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Erlebnisform und Erkenntnisform und hob dabei die charakterologischen Differenzen heraus. In dieser Perspektivierung deutet sich ein lebensphilosophisch motivierter Wechsel gegenüber den ›Problemen II‹ insofern an, als dass nun die sachliche Konstruktionslogik nicht mehr unabhängig von dem materialen Boden, dem die historischen Gebilde entwuchsen, betrachtet wurde. Dies kann aus Platzgründen im Folgenden nur synoptisch angedeutet werden. (1) Als »das erste und entscheidende Verfahren der Geschichte« stellte Simmel die »Spaltung und Verteilung der Inhalte, aus ihrer Erlebnisform, in begrifflich geleitete lineare Synthesen« (ebd., 324) heraus. Diese Bestimmung repetierte zunächst seinen Befund aus den ›Problemen II‹. Unter Rekurs auf die eigentümlichen zeitphilosophisch messbaren Verbindungen konnte er nun die Wesensunterschiede zwischen Erlebnis- und Erkenntnisform ausführlicher artikulieren. Während das ›Leben‹ kontinuierlich verlaufe, bleibe die historische Formung darauf angewiesen, nach abstrakten Sachverhalten ihre Ereignisreihen zu synthetisieren. Als eine spezifische »Vorform dieser historisch-theoretischen Reihenbildung« (ebd., 326) führte Simmel gewissermaßen eine intermediäre Instanz ein. Entsprechend dieser eigentümlichen Zwischenform, schließe das aktuelle Bewusstsein an vergangene Inhalte an, die in sachlicher Beziehung zur Gegenwart ste62 hen (ebd.). Gegenüber dem Fluss des inneren Lebens, der in Kontinuität verlaufe und keinen Unterbruch kenne, stellte diese Zwischenform bereits eine Abstraktion dar, welche jedoch nicht bereits – wie die wissenschaftliche Formbildung – ideell sei, sondern »eine in realer psychischer Wirksamkeit weitergeleitete Entwicklung« (ebd., 328). Damit hatte Simmel zeigen wollen, »daß sich schon innerhalb des realen Lebensverlaufs Zuordnungen seiner Elemente zeigen, die der Einheit eines Sinnes folgen« (ebd., 330). Von der Form ›Geschichte‹ unterscheide sich die ›Zwischenform‹, für die Simmel keine eigene Nomenklatur vorschlug, durch den Grad der Abstraktion vom ›Leben‹. Während die Zwischenstufe gerade erst »die Einheit des vorwärtsdrängenden Lebens ermöglicht«, isoliere die Historie gerade »die einzelne Reihe [und] drängt das Lebensganze zurück« (ebd.). Auf dieser Basis konnte Simmel der historischen Formung immerhin »irgend eine symbolische Beziehung zum Leben« (ebd.) zuweisen. Er resümierte, dass sie sich »sowohl von dem Erleben der Inhalte wie von deren rein sachlicher [...] Erforschung und Systematisierung unterscheidet« (ebd., 331). Gegenüber dem in den ›Problemen II‹ ausgesteckten Erkenntnisbegriff, der den kantianischen ›Hiatus‹ als unüberbrückbar setzte, stellte 62 Simmels Beispiel ist die durch längere Pausen unterbrochene Lektüre eines Buches. Hieran machte er fest: »der psychologische Ausdruck trägt die durch den sachlichen Inhalt gegebene Fortsetzung, als ob alles inzwischen Erlebte und Gedachte nicht dazwischen läge« (GSG 13: 326).

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die lebensphilosophisch inspirierte Neujustierung die Verbindung der Historie mit der »Nabelschnur, die sie mit dem Blutstrom des OrganischSeelischen verbindet« (ebd.), wieder her. (2) Die zweite methodologische Anwendungspraxis der historischen Begriffsbildung ist für unsere Fragestellung insbesondere deshalb von Interesse, weil sie sich sehr eng an die bereits auf soziologischem Erkenntnisgebiet herausgestellten Formungsprinzipien anschließen lässt. Sinngemäß zu den beiden ersten soziologischen Apriori, handelte es sich dabei in concreto um Ergänzungsverfahren, welche eine lediglich fragmentarisch vermittelte Erfahrung zu einem vollständigen ›Ganzen‹ synthetisieren soll. Ähnlich wie das gerade erörterte erste Apriori wurzelte auch diese Voraussetzung Simmel zufolge »innerhalb der täglichen Praxis« (ebd., 333). Er referierte an dieser Stelle die den beiden ersten soziologischen Apriori zugrunde liegenden Konstruktionsmechanismen, denen die Funktion gemeinsam war, aus singulären Fragmenten – seien sie individueller Her63 kunft oder sozial produzierte Allgemeinmuster – »Gesamtphänomene« (ebd., 334) zu entwerfen. Auf dem Gebiet der historischen Formung falle nun diese Allgemeinfunktion aus dem Grund stärker ins Gewicht, weil die »Ganzheitsbildung [...] hier also mit der Art dieses Materials viel unmittelbarer, viel innerlicher notwendig verbunden (ist) als innerhalb einer nichthistorischen Erkenntnis« (ebd., 340). In welchem genaueren Sinne Simmel die historischen Wissenschaften, zu denen man in Übereinstimmung mit Simmel wohl die Soziologie ebenso zählen kann wie auch die genuinen Geisteswissenschaften, gegenüber ›nichthistorischen‹ Wissenschaften in einer besonderen Stellung sah, kann aus der Textgrundlage bedauerlicher Weise kaum weiter erschlossen werden. Wir erfahren lediglich noch, dass »der Unterschied vielleicht kein nur gradueller (ist)« (ebd., 341). Dem Argumentationsmuster aus (1) analog, fixierte Simmel auch die vorliegende Begriffsbildung zum einen gegenüber der rein ideell verfahrenden Methode und zum anderen gegenüber der Alltagserfahrung. Im Vergleich zu Letzterer müsse der Historiker ein »Surrogat eines Ganzen« herstellen und sei dabei – anders als die alltägliche Erfahrung – auf »jene Spontaneität der Ganzheitsbildung, deren wir zwar in keiner theoretischen Provinz, am wenigsten aber in der historischen entraten können« (ebd., 343), angewiesen. Zu konzedieren sei daher, »daß es ein Gefühl ist, eine Art geistigen Augenmaßes, das statt objektiver Kriterien über diese Erreichtheit entscheidet« (ebd., 343f.). Das historisierende Verfahren nimmt nach dieser Beschreibung auch mit Blick auf die Logik der Begriffsbildung eine Zwischenstellung ein. Gegenüber der vollen Erlebnisform blieb es in mehreren Hinsichten defizitär: Vorderhand müsse es das Moment der 63 »Das Allgemein, aus dem heraus die Ergänzung erfolgt, war hier psychologischer Natur; es ist aber in anderen Fällen sozial bestimmt« (GSG 13: 336).

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»Atmosphäre« (ebd., 342), welches sich unweigerlich in der konkreten Interaktion mit Individuen oder Gruppen einstelle und einen jeweils besonderen Gesamteindruck der sozialen Situation vermittele, mittels jenes ›Gefühl‹ kompensieren. Darüber hinaus müsse es – wie bereits anhand der soziologischen Apriorik expliziert – die fragmentarische Erfahrung von Individuen durch Hypostase und Ergänzung spezifischer Gesichtspunkte auszugleichen suchen. (3) Anders als die beiden vorausgegangenen Differenzbestimmungen zwischen Erlebnis- und Erkenntnisform fokussierte Simmel in einer weiteren Beschreibung eher einen Zwiespalt als eine Verwandtschaft zwischen beiden Kategorietypen. Im Zentrum stand dabei die jeweilige Zeitordnung. Auf der einen Seite resümierte er »die logische Durchdringung des empirisch Gegebenen« durch unseren »Geist«, der eine jeweils punktuelle Gegenwartserfahrung in die »Formel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« transformiert (ebd., 349f.). Demgegenüber sei die »Lebensrealität niemals an jene logisch absolute Momentaneität gebunden« (ebd., 350). Vielmehr folge es einem »anderen Rhythmus«, wobei »das Entscheidende 64 [die] Gerichtetheit in die Zukunft« (ebd.) sei. Während das ›Leben‹ Simmel zufolge einem unumkehrbarer Fluss gleiche, bei welchem bereits die Quelle auf die offene Zukunft hinausweise, »dreht das Bewußtsein die Richtung des Lebensstromes, von dem es einsinnig durchflutet wird, radikal um« (ebd., 350f.). Die historische Zeit werde im Gegensatz zur erlebten Zeit durch die »apriorische Geistesform: die Bedeutendheit des Vergangenen als Vergangenen« konstituiert. (4) Schließlich diskutierte Simmel die Bedeutung des Begriffs ›Zustand‹ einerseits für die gelebte Fremd- und Selbstwahrnehmung, andererseits für die historische Erkenntnisformierung. Die Schwierigkeit dieses Konzepts ergebe sich daraus, dass ›Zuständlichkeit‹ einerseits sowohl eine Abstraktion darstelle und andererseits »wissen wir ihn doch dem Bestande nach als etwas objektiv Wirkliches« (ebd., 360). Simmel löste diese Paradoxie auf, indem er die Funktion dieses Begriffs, nämlich Ungleiches als Gleiches zu behandeln, nicht nur als wissenschaftliche Verfahrensweise, sondern als »eine noch allgemeinere Verfahrensweise unseres Geistes« (ebd.) deklarierte. Simmel unterfütterte dieses Verfahren mit dem Hinweis auf eine psychologisch begründete Notwendigkeit, denn: »unser seelisches Verhalten (vermag) sich gar nicht jenen Verschiedenheiten in ihrer vollen Individualität anzuschmiegen« (ebd., 360f.). Wir können hieraus ein ähnliches Resümee ziehen wie aus (1), wo Simmel bereits auf eine psychologisch bedingte allgemeine Wahrnehmungsform verwiesen hatte. Auch hier erscheint nun die historische Formung lediglich als eine »Modifikation«

64 Bourdieu hatte diese These in erstaunlicher Ähnlichkeit zu Simmel begründet (1999: 148ff.) – offenbar, ohne von Simmels Ausführungen Notiz zu nehmen.

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(ebd., 360) einer allgemeinen Regel. Die Regeln ihrer Konstruktion basierten, wie gesehen, auf solchen Voraussetzungen, die aus der alltäglichen Erfahrung deduziert wurden und keine methodologischen Bestimmungen der Wissenschaft darstellen. Im Vergleich zu den beiden ersten Auflagen von Simmels Erkenntnistheorie der Historie können wir zunächst eine relative Übereinstimmung in den Endresultaten konstatieren. Schlussendlich resümierte auch der ›späte Simmel‹, dass die historische Formung gegenüber dem Rhythmus und Geschehen des ›Lebens‹ etwas »kategorial Neues ist« (ebd., 369). Der neu gewonnene, lebensphilosophisch inspirierte Standpunkt äußerte sich gleichwohl sowohl in der formalen argumentationslogischen Struktur als auch im konkreten Gehalt der anvisierten Neuformulierung. Ungeachtet dessen, dass Simmel das Resultat der ›Probleme II‹: »die Autonomie der Form Geschichte gegenüber der Form Geschehenswirklichkeit« (ebd., 348), letztlich verteidigte, so muss man vor dem Hintergrund der neu gewonnenen philosophischen und erkenntnistheoretischen Einsichten feststellen, dass das Zustandekommen der »historischen Bilder« (ebd., 357) Analogien und Voraussetzungen an der ›Form des Erlebens‹ aufwiesen und sie sich epistemologisch im Grunde nicht unabhängig davon erklären ließen. Die bereits anhand der ›Probleme I‹ festgestellte Spannung zwischen unverträglichen philosophischen Ausgangspunkten wird hier weniger aufgelöst, sondern vielmehr theoretisch vermittelt. In dieser neuen lebensphilosophischen Einstellung, die über die jeweils einzelwissenschaftlich dringlichen Apriori und Konstruktionslogiken hinausging, manifestiert sich zugleich Simmels unvermindertes Interesse an grundlagentheoretischen Fragestellungen. Dies gilt es im Folgenden anhand Simmels überarbeiteter Verstehenstheorie nachzuweisen.

3. ›Verstehen‹ als ›Urphänomen‹ In ›Vom Wesen des historischen Verstehens‹ richtete sich Simmels Augenmerk einer Problemstellung zu, die bereits den ›Problemen I‹ zugrunde lag, nämlich der Bedeutung des ›Verstehens‹ für die historische Erkenntnis. Hatte Simmel 1892, wie er explizit zugab, noch kein «positives Bild« (GSG 2: 318) über den Verstehensprozess selbst, so offerierte der späte Aufsatz vergleichsweise spezifische Ansichten zum Verhältnis von historischem und allgemeinem Verstehen. Der Einfluss der seit seiner lebensphilosophischen Neuorientierung entwickelten Theorie der Geschichte auf die in dieser Arbeit entfaltete Verstehenstheorie ist unübersehbar. Man hat in Simmels Reformulierung gegenüber den vorausgegangenen Fassungen sogar von einem »radikalen Perspektivenwechsel« (Geßner 2003: 217) gesprochen. Simmel begann damit, die im Vorausgegangenen ausgiebig begründete Verbundenheit der historischen Formungen mit denjenigen des »vorwis-

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senschaftlichen Lebens« (WdHV: 60) auszuformulieren. Zwischen beiden Deutungssphären bestand nach Simmel ein »Wechselverhältnis« (ebd.), was sich u.a. darin ausdrücke, dass sie der gleichen Verstehensstruktur folgten. Deutlicher als in den zuvor behandelten Texten bemühte sich Simmel hier um eine erkenntnistheoretische Beschreibung des Vorgangs des Verstehens. Er beruhe, so Simmel, auf »innerliche Synthese zweier, von vornherein getrennter Elemente«, einem »seelischen Element« und einer »tatsächlichen Erscheinung« (ebd.). Anhand dreier unterschiedlicher Ausprägungen der Wechselbeziehung dieser Elemente ging Simmel schließlich daran, das Verhältnis zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Verstehen zu explorieren. (1) Dabei nahm er eingangs die bereits aus den ›Problemen I‹ bekannte Problemstellung, inwiefern Fremdverstehen eine ›Gleichheit‹ zwischen Subjekt und Objekt voraussetze, wieder auf und führte sie nunmehr, nachdem er in den beiden Auflagen von 1892 und 1904 mehr um das Problem herum lavierte, einer definitiven Lösung zu. Hatten der ›junge‹ und insbesondere der ›mittlere‹ Simmel das Dilthey zugeschriebene Identitätsmodell abgelehnt und die Unabhängigkeit des sachlichen und psychischen Verstehens betont, so denunzierte der ›späte‹ Simmel jene Trennung zwischen Körper und Geist als »die Gewalttat eines atomisierenden Denkens« (ebd., 67). Alternativ formulierte er nun die Überzeugung, »daß wir den ganzen Menschen wahrnehmen und erst in einer nachträglichen Abstraktion aus ihr die isolierte Körperlichkeit« (ebd., 63). Wahrnehmungstheoretisch schlug sich Simmel damit – ob willentlich oder nicht – auf die Seite Diltheys, welcher den lebensphilosophischen Grundgedanken vom Primat des Ganzen vor den Teilen erkenntnistheore65 tisch übersetzt hatte. Alle Lebensäußerungen, die wir von anderen hätten, seien »pars pro toto« (ebd., 64), erklärte er. Das notwendige Organon des Verstehens wurde nun gleichsam in den Prozess des Erkennens selbst verlegt. Simmel theoretisierte dieses Argument weiter fort, indem er zunächst die »Kategorie des Du« explizierte und methodologisch ausdeutete. Das Bild, das wir von unseren Gegenübern, für welche das ›Du‹ hier stellvertretend stand, konstruierten, stellte nun nicht mehr das Ergebnis von reflexiven Ergänzungsmechanismen dar, sondern gründe in »Vorstellungen in uns, die von vornherein ein Du ausmachen und als dessen seelische Inhalte apperzipiert werden« (ebd., 67). Dass dem ›späten‹ Simmel Diltheys lebensphilosophischer Standpunkt, der am deutlichsten im ›Aufbau‹ zum Tragen kam, wohl durchaus nicht fremd geblieben ist, erhellt wohl auch aus folgender Formulierung, in der er die Bedeutung der Kategorie des ›Du‹ »für den Aufbau der praktischen und der historischen Welt« (sic!) (ebd.) mit derjenigen der Substanz und der Kausalität für die Naturwissen65 Im Übrigen glaubte sich Simmel – in ähnlicher Weise wie bereits Dilthey – durchaus »auch hier auf dem Standpunkte des Idealismus« (WdHV: 66f.).

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schaften verglich. Die lebensphilosophische Grundlegung des Verstehens als eines »Urphänomens« (ebd., 68) ersetzte somit das den beiden erschienenen Auflagen der Geschichtsphilosophie letztlich zugrundeliegende dualistische Erkenntnismodell. Simmel resümierte: »Das Du und das Verstehen ist eben dasselbe, gleichsam einmal als Substanz und einmal als Funktion ausgedrückt – ein Urphänomen des menschlichen Geistes« (ebd., 67). (2) Diese neue verstehenstheoretische Grundlage war, wie Simmel weiterführte, nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit der Einschränkung des oben ausgeführten Phänomens des ›sachlichen Verstehens‹, welches den Schwerpunkt in den ›Problemen II‹ abgab. ›Sachliches‹ oder, wie es nunmehr hieß, »transhistorisches« (ebd., 70) Verstehen unterscheide sich dahingehend vom ›historischen‹ Verstehen, dass es auf rein psychischen Tatsachen rekurriere, die sich an unzähligen historischen wie aktuellen Ereignissen wiederholten. Diese Trennung bekam lediglich noch den Status einer analytischen Unterscheidung zugewiesen, denn für den historisch Interessierten ergebe das Nachvollziehen allgemeiner psychischer Zusammenhänge, wie Simmel am Beispiel des Hasses nachwies, nur dann einen ›Sinn‹, wenn sie in Verbindung mit einer »jeweils besonderen Gestaltung einer Lebensdynamik« (ebd., 71) standen. Umgekehrt wäre die Feststellung, dass ein bestimmtes Ereignis in einem bestimmten Jahr stattgefunden habe für die Historik ebenso sinnleer, wenn kein spezifisches Zeitschema zur Ordnung der Einzeldaten vorausgesetzt wäre. Es müssten also beide Aspekte zur historischen Formung berücksichtigt werden, so dass Simmel die ›Geschichte‹ auch als »eine bestimmte Form oder Summe von Formen, mit denen der betrachtende, synthetische Geist diesen zuvor festgestellten Stoff, die Überlieferung des Geschehenen, durchdringt und bewältigt« (ebd.), definieren konnte. In dieser Gegenüberstellung von ›sachlichem‹ und ›historischem‹ Verstehen nahm Simmel letztendlich die anhand der diversen Werkphasen herausgedeuteten gegensätzlichen Ausgangspunkte wieder auf und integrierte sie auf neuem Theorieniveau. In geltungstheoretischer Hinsicht, so führte Simmel weiter aus, seien die beiden Verstehensformen für die Geschichtsschreibung mit unterschiedlichen Konsequenzen beladen. Beanspruche man etwa ein historisch-psychologisches Verstehen des ›Faust‹, so ziele man letztlich auf den speziellen Entstehungsprozess des Werkes, der in seiner ›Objektivität‹ nicht rekonstruierbar sei. Gleichwohl liege in diesem Fall ein eindeutiges Wertkriterium vor, mit dem die hypothetischen Erklärungen evaluiert werden könnten. Im Gegensatz dazu, treffe diese Eindeutigkeit beim sachlichimmanenten Verstehen nicht zu, da solche »Form[en] des objektiven Geistes« »völlig geschichtsfrei« seien (ebd., 72f.). Zur Bewertung stünden hier ausschließlich, wie Simmel wiederum anhand des Kunstwerks explizierte, vermeintlich objektive Aspekte wie Formen- und Stilgesetze zur Auswahl. Habe »ein Schöpfungsvorgang erst einmal die Form des objektiven Geistes gefunden, so sind alle und sehr mannigfaltige Verständnisarten in dem

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Maße gleichberechtigt, in dem jede in sich bündig, exakt, sachlich befriedigt ist« (ebd., 73), schloss Simmel. (3) Die Eigenberechtigung und Relevanz des sachlichen Verstehens verteidigte Simmel gegenüber der Position eines radikalen Historismus, der vermeinte, die sachlichen Aspekte über den Weg der historischen Interpretation gleichsam in einem Zuge mit erklären zu können. Simmel argwöhnte darin jedoch »ein willkürliches Abschneiden einer ganzen Dimension des Verstehensproblems« (ebd., 77). Sein Einwand folgte der Strategie, dem Historismus vor Augen zu führen, dass bereits jedes historische Verstehen auf sachlichem Verstehen aufruhe – freilich »ohne sich darüber methodische Rechenschaft zu geben« (ebd.). Aus dem Beispiel einer philosophiehistorischen Rekonstruktion des Werks Kants folgerte Simmel exemplarisch, dass ein Verständnis von dessen individueller Denkentwicklung ohne Verständnis des »zeitlosen Sachsinns« (ebd.) seiner philosophischen Standpunkte ausgeschlossen sei. Erst auf der Grundlage des systematischen Zusammenhangs seiner Philosophie könne man überhaupt auf die zeitliche Abfolge von Kants »geschichtlich seelischen Realisierungen« (ebd., 78) schließen. Dieser Übergang konstituiere, so Simmel, eine eigentümliche methodische Voraussetzung des Verstehens insgesamt. Das Zustandekommen einer auf Grundlage des Sachsinns konstruierten historischen Reihung folge einer besonderen Operation. Als Ausgangspunkte einer sachlichen Interpretation beziehe man sich auf je einzelne Inhalte, die man als symbolisch für eine spezifische Bedeutung nehme. Doch auch aus einer Vielzahl solcher Einzelinterpretationen ergä66 be sich noch kein verständlicher Zusammenhang. Damit dieser dennoch sichtbar würde, unterlege man diesen Bruchstücken ein »fingiertes Subjekt« (ebd., 79) als Träger einer lebendigen Entwicklung. Dieser »Hilfsbegriff« (ebd., 81), so Simmels These, komme sowohl beim ›sachlichen‹ als auch beim ›historischen‹ Verstehen zum Tragen. Seine Funktion kann man auch darin sehen, einen Ersatzbegriff für die Faktoren des Lebens bereit zu stellen, wobei es sich stets um ein ›ideelles Leben‹ handelt. Simmel verallgemeinerte seinen Befund daraufhin zu der Auffassung: »der Rhythmus, die stetige Bewegtheit des Lebens ist der formale Träger des Verständnisses« (ebd., 81). Der Kreis, den Simmel eingangs mit der Unterscheidung zwischen sachlichem und historisch-psychologischem Verstehen eröffnet hatte, schloss sich nun an den Punkt, an welchem Simmel ausführt, dass die beschriebenen Idealisierungen in bestimmtem Sinne wiederum auf unsere persönlichen Erfahrungen zurückverwiesen, denn dabei handelte es sich regelmäßig um »eine Umformung oder Objektivie66 Diese Problematik hatte Simmel bereits in seinem Aufsatz ›Vom Wesen der historischen Zeit‹ an verschiedenen Fällen variiert. Er stellte dabei heraus, dass man von einem als historisch zu qualifizierendem Ereignis nur dann sprechen könne, wenn es eine spezifische Stelle innerhalb eines allgemeinen temporalen Zeitsystems zugewiesen bekam.

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rung einer (Lebendigkeit), die wir in uns selbst – aber als überindividuelle, für die wir gleichsam nur ein Beispiel sind – spüren« (ebd.). Die Zirkelhaftigkeit seiner Argumentation hatte Simmel offenkundig auch selbst antizipiert und begründete sie als »unvermeidlich, weil das Leben die letztbestimmende Instanz des Geistes ist, so daß seine Form schließlich auch die Gestaltungen bestimmt, durch die es selbst verständlich werden soll. Das Leben kann eben nur durch das Leben verstanden werden« (ebd., 83).

Insbesondere Simmels letzter Ausspruch hätte direkt aus Diltheys Feder fließen können. Wir finden in ›Vom Wesen des historischen Verstehens‹ die Spannung zwischen den in den beiden ersten Versionen seiner Geschichtstheorie eher beziehungslos nebeneinander stehen gelassenen philosophischen Standpunkten in einer höheren Methodik des Verstehens vermittelt, wie Simmel es selbst antizipiert hatte. Die Grundtendenz in der Phase seiner zweiten Überarbeitung der Geschichtsphilosophie geht eindeutig dahin, die Wechselbeziehungen zwischen der Form des Lebens einerseits und derjenigen der Geschichte, die für ihn jedoch exemplarisch für alle mit der Geschichte befassten Geistes- und Sozialwissenschaften stand, andererseits, durchsichtig zu machen. Dieses Motiv stellt insofern eine Abkehr seiner vorausgegangenen Position dar, als der strenge Apriorismus, der noch die ›Probleme II‹ beherrschte, aufgeweicht wird: Simmels hinzugewonnene Einsicht in die Dynamik des Lebens ließ ihn die Willkür in der Begriffsbildungspraxis eingrenzen. In seinen lebensphilosophischen Standpunkten werden auch markante Konvergenzen zu Diltheys ›wissenschaftlicher Lebensphilosophie‹ manifest, die bei Simmel jedoch zu wenig systematisch erörtert wurden, um daraus einen direkten Einfluss Diltheys ableiten zu können. Auch hinsichtlich der Frage, inwiefern Simmels »Interessenvielfalt und Systemfeindlichkeit lebensphilosophisch motiviert« (Bevers 1985: 21) waren, gebieten unsere Ausführungen eine Zurückhaltung, da die von Bevers hervorgehobenen Charakterisierungen von Simmels Denken sich ebenso gut aus solchen Arbeiten heraus begründen ließen, die der lebens67 philosophischen Arbeitsphase lange vorausgingen. Wie bereits anhand der soziologischen Apriorik dargelegt werden konnte, standen die wissenschaftlichen Formungen und diejenigen der alltäglichen Praxis zu einander in engstem Bezug und waren im Falle der Soziologie aufgrund ihres besonderen, selbst-reflexiven Charakters sogar identisch. So muss man die bereits mehrfach angedeutete Hypothese einer seit den ›Problemen II‹ spürbaren ›Verlebendigung der Apriori‹ unterstrei-

67 Siehe dazu insbesondere die unten stehenden Ausführungen zu Simmels Kulturtheorie.

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chen. Die Behauptung einer grundsätzlichen ›lebensphilosophischen Wende‹ des späten Simmel muss man zugleich unter Bezug auf sein erkenntnistheoretisches Denken relativieren. Wie gezeigt wurde, waren die konzeptuellen Ressourcen und Bezugsquellen, die ihn zu seiner späten Verstehenstheorie führten, letztlich bereits in den beiden publizierten Ausgaben der ›Probleme‹ angelegt.

Simmels Theorie des Wissens Zu Beginn dieses Kapitels wurde auf einige der Haupteigenschaften des Simmelschen Denkstils hingewiesen, welche ihn bis in die Gegenwart hinein als einen unsystematischen Denker ohne festes philosophisch-weltanschauliches Fundament erscheinen lassen. Diesem verbreiteten Bild wollten wir entgegenarbeiten, indem wir im Ausgang von Simmels dreigliedrigem Begriff des ›Wissens‹, der kategorisch zwischen ›Erkenntnistheorie‹, ›Empirie‹ und ›Metaphysik‹ schied, anhand der Entwicklung von Simmels Geschichts- und Sozialtheorie detailliert Simmels Grundlegungsstrategien beleuchteten. Daraus resultierte die Erkenntnis, dass Simmel einerseits zwar auf der Autonomie der wissenschaftlichen Erfahrungsformen beharrte, jedoch zugleich auch wusste, dass jeder empirische Zugriff auf metaphysischen resp. erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aufruhte. Am Ende seiner erkenntnistheoretischen ›Odyssee‹ angekommen, fand er schließlich in den ›Formen des Lebens‹ das Fundament der ›Formen des Wissens‹. Um ein vollständiges Bild von Simmels Theorie der Wissensfundierung zu erhalten, bedarf es allerdings über unsere bisherigen Ausführungen hinaus auch einer Berücksichtigung von Simmels Ansichten über die Möglichkeit rationalen Wissens unter den ›Bedingungen der Moderne‹. Über diesen (zweiten) Umweg, der über Simmels Theorie und Kritik der Moderne führt, kann man mit einiger Berechtigung erhoffen, auch Simmels Wahrnehmung der ›Krisis des Wissens‹, deren Analyse wir zu Beginn unserer Rekonstruktion aufgeschoben hatten, zu beleuchten. Um die eingangs angedeutete Hypothese der Nachweisbarkeit einer kohärenten Theorie des Wissens, die sich im Falle Simmels gerade zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Beschreibungsfeldern auffinden lässt, zu beglaubigen, sollen Simmels (bereits dargestellte) grundlagentheoretischen Ausgangspunkte mit den dezidiert empirischen und metaphysischen Beschreibungen – ganz im Sinne der Struktur von Simmels Konzept des Wissens – aneinander gestellt und abgewogen werden.

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1. Grundzüge von Simmels Kulturphilosophie Dass Simmels Interesse über die Grundlegung und Legitimierung empirischer Spezialwissenschaften wie der Geschichte und der Soziologie hinausging, belegt am eindringlichsten Simmels kulturanalytische Hauptschrift ›Philosophie des Geldes‹ (1900). Wie mittlerweile ins kollektive Gedächtnis der Soziologiegeschichte eingedrungen ist, hatte es mit Simmels Titulierung dieser Schrift eine bestimmte Bewandtnis. Weil Simmels Aufgabenstellung in der ›Philosophie des Geldes‹ den in der unmittelbaren Nachkriegperiode der deutschen Soziologie allgemein für gültig erachteten Kriterien einer soziologischen Analyse entsprach, hatte man geflissentlich 68 die Bedeutung von Simmels Auszeichnung übersehen. Simmels Entscheidung, seine Arbeit als philosophische auszuzeichnen, muss vor dem Hintergrund seines bereits 1892 in den ›Problemen I‹ eingeführten Wissensbegriff betrachtet werden, der die empirischen Wissenschaften gegenüber der Erkenntnistheorie und der Metaphysik als philosophische Grunddisziplinen abgrenzte. Simmels Titelwahl belegt zum einen die Verbindlichkeit seiner frühen Wissenskonzeption für die späteren Werkphasen, sodann jedoch, dass es ihm nicht bloß um die empirische Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur zu tun war, sondern vielmehr auch darum, die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen einerseits als auch die psycho-sozialen Auswirkungen gewisser okzidentaler Kultur- und Vergesellschaftungsmuster andererseits auszudeuten. Beide Aufgabestellungen erachtete er als jenseits des Beobachtungsspektrums einer empirischen Wissenschaft angesiedelt, nämlich als philosophische. Simmels Kulturkritik gehört – gemeinsam mit seiner Soziologie – zu den meist beachtetsten Teilen des Simmelschen Oeuvres. Gleichwohl blieb eine tiefer gehende Erörterung des Zusammenhangs von Kulturkritik und 69 Erkenntnistheorie in Ansätzen befangen. Wie bereits für die vorangegangenen Erläuterungen gilt auch für die folgende Darstellung die Devise, die systematisch wichtigen Versatzstücke aus dem Gesamtkorpus auf Kosten der empirischen Einzeldetails hervorzuheben. Wie Geßner (2003: 152), dessen Arbeit die Kulturphilosophie ins Zentrum seiner Rekonstruktion des Simmelschen Gesamtwerks stellt, zu Recht betont hat, muss man Soziologie, Geschichte und Kulturwissenschaften als quer zueinander liegende Wissensformen betrachten. Aus der selben Realität ziehen diese jeweils unterschiedliche Strukturaspekte her68 So kennzeichnete etwa Schnabel noch 1974 die ›Philosophie des Geldes‹ als »gesellschaftstheoretische« Schrift (1974: 223). Zuletzt hat Oakes abermals betont, dass sich Simmel »das Gebiet der Philosophie des Geldes nicht als Soziologie vorgestellt hatte« (2001: 63). 69 Als erster hat wohl Schnabel (1974: 225ff.) – mit Schwerpunktsetzung auf Simmels Soziologiekonzeption – auf die Notwendigkeit einer Zusammenschau diverser Themenbereiche gedrängt.

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aus. Man kann diese drei Formungen auch als drei unterscheidbare Dimensionen der Realität projizieren, deren gemeinsames Koordinatenfeld jedoch keineswegs etwa das Abbild einer konkreten Gesellschaftskonstellation reflektiert, sondern dieser gegenüber auch wieder nur einseitig ist. ›Kultur‹ erscheint bei Simmel daher seit der ›Philosophie des Geldes‹, wie Geßner an anderer Stelle ausgedrückt hat, als ein »Pluriversum kultureller Formen« (2002: 19), die jeweils eigenlogischen Gesetzmäßigkeiten folgen. Am deutlichsten hatte Simmel diese kulturphilosophische Grundauffassung in seiner Schrift ›Die Religion‹ (1906) skizziert. Darin hatte er u.a. anhand von Wissenschaft, Kunst, Alltagspraxis, Religion erläutert, dass sämtliche dieser »großen Formen unserer Existenz« die Fähigkeit aufwiesen, »in ihrer Sprache die Ganzheit des Lebens zum Ausdruck zu bringen« (GSG 10: 42). Werkgeschichtlich hatte Simmel also den in den ›Problemen II‹ am deutlichsten ausgedrückten erkenntnistheoretischen Befund der grundsätzlichen Eigengesetzlichkeit der historischen Form auf letztlich alle Kulturgebilde übertragen, worin Geßner eine »erneute ›Revolution der Denkart‹« (2003: 113) wahrgenommen hat. Dieser Ausgangskonstellation entspringt zugleich das Kardinalproblem von Simmels kultur- und lebensphilosophischen Arbeiten, nämlich inwiefern die jeweils für sich geltenden Weltsichten noch miteinander vermittelbar oder gar synthetisierbar sind. Diese Frage ist auf unterschiedlichen Theorieebenen auflösbar. Fitzi hat hierzu die These entwickelt, dass Simmel seit seiner lebensphilosophischen Reorientierung daran gegangen sei, eine »übergreifende Theorie der Erfahrung« zu entwickeln, »auf die Kultur- und Geisteswissenschaft einheitlich zu begründen wären« (2002: 125). Daran ist zweifellos richtig, dass Simmels späte Hinwendung zu einer nunmehr »eigenständigen philosophischen Metaphysik« (Dahme 1984: 225) als das Unterfangen gedeutet werden muss, Zusammenhänge zwischen den geschiedenen Kulturwelten herzustellen. So interpretierte Simmels »Freundin« (GSG 10: 40), Gertrud Kantorowicz, dessen Lebensbegriff als denjenigen »weltanschaulichen Begriff«, welcher »imstande ist, die ganze Mannigfaltigkeit des Erscheinenden in seinem Brennpunkt zu sam70 meln« (1967: V). Neben diesem genuin metaphysisch-spekulativen Vermittlungsversuch hatte Simmel jedoch auch eine für unseren Zusammenhang wesentlich 70 Simmel hatte 1914 folgender Hoffnung Ausdruck verliehen: »Vielleicht wird die Philosophie ihren nächsten Schritt mit der Eroberung eines Begriffes vom Leben tun, mit dem dieses sich wirklich jenseits dieser Gegensätze stellt, in eine Höhe, von der aus das Fließen des Realen wie des Idealen und die Festigkeit beider die Absolutheit ihres Gegensatzes verlöschen und als Offenbarungsweisen einer für jetzt noch unsagbaren Einheit des metaphysischen Lebens erschaut werden« (GSG 13: 69). Bereits zwei Jahre später schrieb er: »Und zwar erscheint es der Begriff des Lebens zu sein, der die mannigfaltigsten Gebiete durchdringt und gleichsam ihren Pulsschlag einheitlicher zu rhythmisieren begonnen hat« (ebd., 197).

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zentralere, nämlich geltungstheoretische Lösung des angesprochenen Kardinalproblems entwickelt. Bevor die Essenz und Tragfähigkeit dieser häufig als ›Relativismus‹ gebrandmarkten Konzeption diskutiert werden kann, müssen Simmels konkrete kulturkritische Beobachtungen dahingehend geprüft werden, in welchem Bezug sie sowohl zu dieser kulturphilosophischen Ausgangsfrage als auch zu der spezifischen Lösungskonzeption stehen.

2. Der Fragmentcharakter der Moderne Im Folgenden soll zunächst eine besondere Wahlverwandtschaft zwischen den bislang behandelten Wissensformen und deren bereits herausgestellten Grundeigenschaften auf der einen und der formalen und inhaltlichen Typik von Simmels Beschreibung der modernen Kultur auf der anderen Seite herausgestellt werden. Es lässt sich u.E. auf dem Feld von Simmels Modernitätskritik eine argumentationslogische Sinnanalogie zu seinem erkenntnistheoretisch begründeten Perspektivismus deduzieren. In seiner Geschichtstheorie hatte Simmel aufgezeigt, dass jede Form der Erkenntnis, gleich welcher Ausrichtung, auf einem spezifischen Apriori beruhte. Von dieser allgemeinen Warte aus können wir in Simmels zum Teil sogar exzentrisch anmutenden Hinwendung zu diversen Spezialformen des Kulturlebens eine konsequente Anwendung des epistemologisch begründeten Perspektivismus sehen. Diese Deutung muss gegenüber landläufigen Behauptungen der Unsystematik und Willkür von Simmels Themenauswahl verteidigt werden. In den extremeren Fällen »Simmel is seen as the enemy of concerted inquiry and fragmentation becomes a metaphor for nihilism and intellectual anarchy« (Axelrod 1977: 188). Was Simmels Gegner als Folge analytischer Schwäche ansehen, war für ihn selbst jedoch nicht nur durch seinen ursprünglichen Erkenntnisbegriff legitimiert, sondern trug darüber hinaus auch konkreten Begebenheiten des modernen Lebens Rechnung. Im Übrigen weisen beide ideellen Ursprungsquellen von Simmels ›fragmentarischem Stil‹ (Axelrod) auf das Gebiet der Ästhetik zurück. Die Verbindungen zwischen Epistemologie und Ästhetik wurden oben an unterschiedlichen Stellen bereits angedeutet. Auch in seinem Aufsatz ›Soziologische Ästhetik‹ band Simmel die (kultur)soziologische Formung zurück auf die Prinzipien der ästhetischen Begriffsbildung. Simmel erachtete das »Wesen der ästhetischen Betrachtung und Darstellung [...] darin, daß in dem Einzelnen der Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Aeußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten« (GSG 5: 198). Wenn Simmel jene Vergesellschaftungsformen ins Zentrum seiner Soziologie stellte, die sich noch im »status nascens« befanden, so geschah dies aus der Überzeugung, dass sie im analytischen Sinne ertragreicher für das »tiefere Verständnis der Gesellschaft« wären als die bereits fest geron-

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nenen Gebilde (GSG 11: 33). In Übereinstimmung hierzu befassten sich auch Simmels Kulturanalysen mit fragmentarischen Ausschnitten wie u.a. Bilderrahmen, Henkeln, Porträts, Moden, Geld, aus deren Analyse sich Simmel jedoch gewichtigen Aufschluss über die Totalität der sozialen Realität versprach. Die skizzierte, aus der Ästhetik übersetzte, Grundanschauung hatte Simmel seit Mitte der neunziger Jahre zu einer methodologischen Maxime ausgebaut (Frisby 1984: 27). In seiner berühmten Großstadt-Studie sowie später im Vorwort zu seiner Rembrandt-Monographie hatte Simmel diese Haltung mit einer passenden Metaphorik ausgezeichnet: »Was mir von je als eine wesentliche Aufgabe der Philosophie erschien: von dem unmittelbar Einzelnen, dem einfach Gegebnen das Senkblei in die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten zu schicken« (GSG 15: 309). Die ›Philosophie des Geldes‹ lässt sich insofern auch als ausgewiesener Versuch lesen, aus der Aufschlüsselung eines anscheinend unspektakulären, alltäglichen Phänomens sich zu Einsichten über tiefenpsychologische und mikrosoziale, individuelle wie zwischenmenschliche Grundmechanismen des modernen Lebens vorzugraben. Dieses Grundprinzip formulierte Simmel in der Einleitung zur ›Philosophie des Geldes‹: »Hier ist nun umgekehrt versucht, das Problem begrenzt und klein zu nehmen, um ihm durch seine Erweiterung und Hinausführung zur Totalität und zum Allgemeinsten gerecht zu werden« (GSG 6: 12f.). Diese Betrachtungsweise fand in Simmels Augen eine zusätzliche Berechtigung in dem eigentümlichen, wahrnehmungstheoretisch begründeten, Modus der gesellschaftlichen Erfahrung in seiner Zeit. In seinen soziologischen Studien war Simmel schließlich selbst an verschiedenen Stellen auf das für die Moderne charakteristische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gestoßen, welchem zufolge sich das Individuum lediglich noch in einer Anzahl von ›socialen Kreisen‹, nicht mehr jedoch in toto gesellschaftlich integriert finde. Der sich dadurch auf Seiten des modernen Subjekts ergebende Eindruck der »Zerrissenheit« (GSG 13: 190) und des stetigen Wandels in der Intensität und Dauerhaftigkeit der sozialen Beziehungen reflektiert sich bei Simmel nicht von ungefähr in einer dynamisierten soziologischen Grundbegrifflichkeit, die von ›Vergesellschaftung‹ statt von ›Gesellschaft‹ sprach. Bereits in ›Über sociale Differenzierung‹ hatte Simmel festgestellt, dass die »Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber in der Richtung des modernen Geisteslebens überhaupt (liegt)« (GSG 2: 130). Insofern als sich bei Simmel Theoriebildung und empirische Analyse in wechselseitiger Befruchtung entwickelten, könnte man hier von einer 71 selbst-reflexiven Wissenschaftskonzeption avant-la-lettre sprechen. 71 Bourdieus Ansatz einer ›reflexiven Soziologie‹, der die diesbezüglichen Diskussionen wesentlich beeinflusst hat, etwa fordert an erster Stelle die Re-

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3. Simmels Modernitätskritik Aus dem bisher Dargestellten ist der Schluss zu ziehen, dass man Simmels ›Philosophie des Geldes‹ keineswegs als isolierte Gegenwartsstudie ohne Bezüge auf seine weiteren, insbesondere die erkenntnistheoretischen und soziologischen, Arbeiten lesen sollte, wie es in der bisherigen Rezeptionsgeschichte an der Regel war. Man hat teilweise auch übersehen, dass die soziale und kulturelle Bedeutung des Geldes nur scheinbar den Hauptgegenstand der Untersuchung bildete. Für Simmel war es jedoch von Beginn an lediglich ein Mittel zu dem Zweck, »die zwischen den äußerlichsten, realistischsten, zufälligsten Erscheinungen und den ideellsten Potenzen des Daseins, den tiefsten Strömungen des Einzellebens und der Geschichte bestehen(den)« (GSG 6: 12) Beziehungen darzustellen. David Frisby (1984) hat den eigentümlichen explikativen Umgang Simmels mit seinem Gegenstand aufgezeigt. Simmels Deutung des Geldes erfolge nicht nach logischen oder genealogischen Kriterien, sondern komme einer als symboltheoretisch zu bezeichnenden Interpretationsweise am nächsten (ebd., 28f.). In mehreren Hinsichten identifizierte Simmel verschiedene Eigenschaften des Geldes und nahm diese als symbolisch für gewisse zwischenmenschliche oder individualpsychologische Dispositionen der Gegenwart. Im Folgenden sollen ausschließlich die konzeptuellen Grundzüge von Simmels Kulturphilosophie skizziert werden, was zugleich bedeutet, dass die zahlreichen interessanten kulturkritischen Beobachtungsphänomene in den Hintergrund treten müssen. Zunächst muss diesbezüglich die Grundunterscheidung zwischen ›subjektiver‹ und ›objektiver Kultur‹ expliziert werden, auf deren Entgegensetzung Simmels Kulturphilosophie weit über die ›Philosophie des Geldes‹ hinaus Bezug nahm. Eine Ambiguität war bereits in Simmels Definition von ›Kultur‹ angelegt. Simmel zufolge waren keineswegs alle Vollendungen der natürlichen Anlagen eines Individuums bereits ›Kultur‹. Vielmehr musste hierzu noch hinzutreten: »daß der Mensch in eine solche Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht« (GSG 8: 367f.). In aller ›Kultur‹ war somit jene »notwendige Zweiheit der Elemente« (ebd.) enthalten. Unter ›objektive‹ Kultur definierte Simmel nun »die Dinge in jener Ausarbeitung, Steigerung, Vollendung, mit der sie die Seele zu deren eigener Vollendung führen« (ebd., 371). ›Subjektive‹ Kultur hingegen stand für »das so erreichte Entwicklungsmaß der Personen« (ebd.). Das Ausmaß der je in einem bestimmten Kulturstadium vorhandenen Überseinstimmung zwischen ›subjektiver‹ und ›objektiver‹ Kultur war für Simmels Beobachtungen der ent-

flexion auf die subjektiven und objektiven Erzeugungsbedingungen der eigenen Theoriekonzeption. Siehe insbesondere Bourdieu/Wacquant (1996) sowie auch Bohman (1997).

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scheidende Bewertungsmaßstab. Für seine Gegenwart beobachtete Simmel bekanntermaßen das zunehmende Auseinandertreten beider Wesensmomente des Kulturellen. Damit nähern wir uns zu guter Letzt Simmels Di72 agnose der ›Krisis der Kultur‹. In der ›Philosophie des Geldes‹ hatte Simmel ein idealisiertes Wechselverhältnis zwischen ›subjektiver‹ und ›objektiver‹ Kultur projiziert, demgemäß Letztere lediglich als Mittel zum Zweck der menschlichen Bil73 dung fungieren sollte. Damit lag – zumindest idealiter – das wertbezogene Hauptgewicht auf der Seite der ›subjektiven‹ Kultur. Wie Geßners (2003: 156f.) Rekonstruktion der Simmelschen Kulturphilosophie andeutet, nahm diese Präferenzsetzung im weiteren Entwicklungsverlauf bis zu dem Ausmaß zu, dass Simmel schließlich sogar den Terminus ›objektive Kultur‹ durch denjenigen des ›objektiven Geistes‹ ersetzte, um damit den Kulturbegriff auch terminologisch ausschließlich für die ›Art der individuellen Vollendung‹ zu reservieren. Auf dieser Basis erschienen die von Simmel weitumspannend ausgeführten Symptome des modernen Kulturlebens als Formen der ›Entfremdung‹ der individuellen Kultur von den objektiven Gebilden. Eines der am häufigsten wiederkehrenden Argumentationsfiguren in Simmels Kulturphilosophie hatte Simmel immerhin bereits im Jahre 1889 folgendermaßen formuliert: »Es ist eine der wirkungsreichsten Eigenschaften des menschlichen Geistes, daß die bloßen an sich gleichgültigen Mittel zu einem Zweck, wenn sie nur lange genug vor dem Bewußtsein gestanden haben oder wenn der damit zu erreichende Zweck in weiter Ferne liegt, ihm schließlich selbst zu definitiven Zwecken werden« (GSG 2: 51).

Das Geld schien Simmel für diese Begebenheit das paradigmatische Exempel schlechthin abzugeben. Er differenzierte unterschiedliche historische Stadien, die jeweils an verschiedenen Stellen Einschnitte innerhalb der mit dem Geld als Tausch- und Verkehrsmittel assoziierten ›teleologischen Reihe‹ setzten – beginnend mit der reinen Gebrauchswirtschaft der Naturvölker, in welcher Geld als Medium noch keine Bedeutung hatte, bis zur Gegenwart, in welcher »der Gesamtaspekt des Lebens, die Beziehungen der Menschen untereinander, die objektive Kultur durch das Geldinteresse gefärbt (ist)« (GSG 6: 305). Diese These unternahm Simmel, anhand diverser pathogener individualpsychologischer Erscheinungen, die Simmel als Reaktionen auf die Dominanz des Geldes deutete, darzulegen. Hierzu zählen die bekannten Formen des Geizes, der Geldgier, der Verschwen72 So der Titel eines Aufsatzes von 1916 (GSG 13: 190-201). 73 Dass Simmel hier das im ausgehenden 17. Jahrhundert erörterte, später zu einem spezifisch deutschen Deutungsmuster hypostasierten, Bildungsideal im Hinterkopf trug, bedarf hier keiner näheren Begründung. Zu einem ähnlichen Befund kommt auch Geßner (2003: 195).

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dungssucht, der Blasiertheit sowie des Zynismus, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen ausgeführt werden müssen (vgl. GSG 2: 52ff.). Die Implikationen dieser Verkehrung der ursprünglichen Relation zwischen Mitteln und Zwecken resp. subjektiver und objektiver Kultur kulminierten in Simmels Augen darin, »daß die Peripherie des Lebens, die Dinge außerhalb seiner Geistigkeit, zu Herren über sein Zentrum geworden sind, über uns selbst« (GSG 6, 672). Diese spezifische Erfahrung des modernen Lebens lösten, so Simmel, auf Seiten des Individuums die unterschiedlichsten Adaptionsmechanismen aus: »Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als die wirre Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart« (ebd., 675).

In späteren kulturphilosophischen Schriften hatte Simmel die mit der Verfremdung von Mitteln zu Zwecken verbundenen Folgen um eine zusätzliche Akzentuierung ergänzt. Dabei ging es konkret um die »Gefahr«, welcher die subjektive Kultur dadurch begegnet, dass die »objektiven Kulturgebilde ein selbständiges, rein sachlichen Normen gehorsames Wachstum erfahren und dadurch nicht nur eine tiefe Fremdheit gegen die subjektive Kultur erwerben, sondern ein von dieser gar nicht einzuholendes Tempo des Vorschreitens« (ebd., 192).

Dieses Theorem firmiert in der Simmel-Interpretation unter dem Signum des ›Auseinandertretens zwischen subjektiver und objektiver Kultur‹. Als Ursachenhintergründe für diese Diskrepanz gab Simmel die zunehmende soziale Differenzierung und, damit einhergehend, diejenige der Lebensstile an. In Übereinstimmung mit der bereits angedeuteten, auf soziologischem Terrain entwickelten, Theoriefigur sozialer Kreise, deren Schnittpunkt die moderne Form der Individualität markiert (GSG 2: 241f.), verwies Simmel auf die kraftzehrenden Anstrengungen, unter welchen das Individuum unter diesen Bedingungen »für die harmonische Gestaltung des Ich« (GSG 6: 628) sorgen müsse. Zusätzlich trat hier noch der wiederum durch die Spezialisierung bewirkte Effekt hinzu, dass die produzierten Gegenstände eine von den an der jeweiligen Produktion beteiligten Person völlig unabhängige Gestalt annahmen und jeglicher Identifikationseffekt dadurch verun74 möglicht wurde. Ein ähnliches, entpersönlichtes Verhältnis des Men74 Die Anleihen an Karl Marx Theorie zur ›entfremdeten Arbeit‹ (MEW 40: 510-522) sind unübersehbar.

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schen zur ›objektiven Kultur‹ konnte Simmel auch an Phänomenen wie ›Mode‹ herausstellen, bei der durch die Nivellierung klassenmäßig organisierter Zugangsmöglichkeiten die tradierten Identifikations- und Distinktionseffekte ausblieben. Bereits die schiere Quantität der unterschiedlichen Stilbildungen stelle das moderne Individuum vor die Situation, sich dieser Vielfalt selbst nur zum Zwecke der Auswahl annehmen zu müssen, wobei der Eindruck entstehen könne, dass man den durch sie vorgeschriebenen »Normen entwickelter Ausdrucksmöglichkeiten« (ebd., 642) machtlos gegenüberstehe. Beide hier nur grob skizzierten »Grundmotive und ihre Verzweigtheiten« zusammengenommen, dasjenige der ›Verdinglichung der Mittel zu Zwecken‹ sowie das ›Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur‹, waren für Simmel schließlich die Ursachen für das »Gefühl einer nahestehenden Krisis unserer Kultur« (GSG 13: 192). Simmel sprach des Öfteren auch von der unausweichlichen ›Tragödie der Kultur‹, die sich daraus ergab, dass das Entfremdungspotential der objektiven von der subjektiven Kultur bereits per definitionem in dem doppelbödigen Kulturbegriff eingepflanzt war. Aus demselben Grund, dass alle Kultur von vornherein »eine fortwährend aufgehaltene Krisis ist« (ebd., 200), hielt Simmel 75 diese letztlich für unabwendbar.

4. Die ›Krisis der Kultur‹ und die ›Krisis des Wissens‹ Auch wenn es in Simmels Schrifttum an keiner Stelle dezidierte Ausführungen zur Krise des Wissens im eingangs dieser Arbeit erörterten Sinne gibt, muss man sein Werk und insbesondere seine erkenntnistheoretischen Schriften als »Antwort auf diese Krisenlage« (Geßner 2003: 257) lesen. Abschließend soll nun also eine Erörterung der Wechselbezüge zwischen der Form von Simmels Philosophieren einerseits und seiner spezifischen Ansicht über den konkreten Inhalt seiner Analysen andererseits erfolgen. Der insbesondere in der ›Philosophie des Geldes‹ ausgebreitete Befund, dass die »ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene Gefäße von Hand zu Hand gehen (gestattet, ja erzwingt), ohne daß der tatsächlich darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete« (GSG 6: 621),

musste – konsequenzlogisch betrachtet – auch auf dem Gebiet der Wissenschaften Auswirkungen hervorrufen. Seit Beginn seiner Beschäftigung mit

75 Auch das Ereignis des Krieges könne laut Simmel höchstens für kurze Zeit die Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Kultur durch Überlagerung verdrängen, jedoch nicht aufhalten (GSG 13: 195ff.).

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der Erkenntnistheorie (der Geschichte) hatte Simmel – darin ganz im Gegensatz zur neukantianischen und phänomenologischen Konzeption stehend – die Grenzen zwischen Alltagswissen und wissenschaftlich produziertem Wissen als fließend beschrieben. Wir können diese Sichtweise als ein Grundmerkmal von Simmels Wissenstheorie herausstellen. Im Verlauf der Entfaltung seiner epistemologischen Ansichten wurde dieses Element – insbesondere über seine Beschäftigung mit den soziologischen Apriori – konkreter fundiert. Zuletzt erwies unsere Interpretation der Vorarbeiten Simmels zur zweiten Revision seiner Geschichtstheorie die verstärkte Tendenz, die Funktionen der Erkenntnis grundlegend mit den alltäglichen Lebensfunktionen in Beziehung zu setzen, sodass wir uns zur Formulierung der These einer ›Verlebendigung der Philosophie‹, wie sie mit anderer Akzentuierung bereits Geßner (2003: 263ff.) für Simmel formuliert hatte, berechtigt fühlten. In genereller Hinsicht kann man Simmels Erkenntnistheorie als einen Beitrag betrachten, der die Geltung der traditionellen wissenschaftstheoretischen Trennung zwischen ›theoretischer‹ und ›praktischer Vernunft‹ – analog zu Dilthey – einzuschränken unternahm. Im Gegensatz zu Dilthey, anvisierte Simmel jedoch keine explizit als solche auszuweisende, systematische Konzeption einer praktischen Vernunftkritik. Stattdessen verglich Simmel gezielt Formbildungsprozesse des Alltags mit denjenigen der Wissenschaftler – jedoch keineswegs mit dem Hintergedanken, daraus allgemeingültige Bestimmungen des Denkens abzuleiten. Auf der Grundannahme eines identischen erlebnismäßigen Untergrundes, auf welchem sowohl alltagspraktische als auch genuin wissenschaftliche Handlungs- und Denkaktivitäten aufbauten, erhielt die Frage nach vermeintlichen Wechselwirkungen zwischen beiden Dimensionen einen besonderen Akzent. Folglich scheint es alles andere als außergewöhnlich, dass sich etwa Simmels angedeutete Diagnose der Fragmentiertheit des zwischenmenschlichen Erlebens und individuellen Empfindens sowie einer quantitativen Steigerung von objektiven Kulturprodukten und damit einhergehenden sachlich-normativen Anforderungsstrukturen auf Seiten der Individuen unmittelbar in einem entsprechenden, fragmentarischen Darstellungsstil manifestierte. Als konsequent erweist sich vor selbigem Hintergrund auch, dass Simmel analog zu der Analyse gesellschaftlich 76 verobjektivierter Strukturen , wie beispielsweise das Geld, auch die in der Wissenschaft behandelten Kulturgebilde auf der Basis eines sachlichen Sinns resp. einer Sachlogik verstehen wollte. Eine weitere wahlverwandtschaftliche Analogie kann darin erblickt werden, dass Simmels Erkenntnistheorie stringent an dem Prinzip festhielt, dass wissenschaftliche For76 Es sollte hervorgehoben werden, dass die Hauptmotive von Simmels Modernitätskritik in chronologischer Hinsicht bereits vor den erkenntnistheoretischen Arbeiten – nämlich spätestens ab 1889 mit der ›Psychologie des Geldes‹ – vorlagen.

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mungen niemals unter Rekurs auf allgemein- oder individualpsychologische Faktoren erklärt werden könnten. Die darin zum Ausdruck kommende Separierung von Subjekt und Objekt resp. subjektivem Inhalt und objektiver Form lässt sich gleichfalls auf Simmels Befund des Auseinandertretens von subjektiver und objektiver Kultur in den kulturkritischen Arbeiten zurückführen. Wenn man Simmels philosophischen Stil präziser charakterisieren will, so muss man neben dem Essayismus, der aus einzelnen Fragmenten der Realität gewisse Seiten der ›Totalität‹ herausschälen will, insbesondere die damit einhergehende Abdankung an Systematizität (im traditionellen 77 Sinne) pointieren. Simmels bemerkenswert nonchalante Haltung, in der er einem der zweifellos angesehensten Philosophen seiner Zeit – gemeint ist niemand geringeres als Heinrich Rickert – vorschlug, seine Systematik 78 aufzugeben , erklärt sich aus einer distinkten Perspektive auf die zeitgenössische Philosophie. Wie aus dem kurzen Essay über den ›Wandel der Kulturformen‹ hervorging, meinte Simmel, gerade anhand der Entwicklung der Philosophie in besonderem Maße das Moment der ›Tragödie der Kultur‹ herausstellen zu können. Die Quintessenz seiner Fundamentalkritik verurteilte die Begriffsstarrheit innerhalb der Philosophenzunft, welche so weit geführt habe, dass »der ganze philosophische Apparat zu einem Gehäuse zu werden (beginnt), das vom Leben entleert ist« (ebd., 219). Das Denken und Argumentieren in Begriffsalternativen erwies Simmel anhand unterschiedlicher klassischer Fragestellungen als zu eng, um »die Lebensinhalte durch geistigen Ausdruck zu bewältigen«, und forderte als Alternative die neue, aber noch nicht formulierbare Form eines »Dritten« (ebd., 223). Eine konkrete Alternativlösung in Form eines Philosophems wird man bei Simmel vergeblich suchen. Jedoch darf man vor dem Hintergrund des Voranstehenden ohne Übertreibung annehmen, dass sich hinter Simmels Präsentationsstil eine bewusst gewählte Strategie verbarg. Nicht von Ungefähr hat man Simmels Erklärungsansatz des Öfteren auch mit demjenigen der Husserlschen Phänomenologie in Verbindung zu bringen versucht (vgl. Weingartner 1962: 23ff.; Tiryakian 1965: 680; Landmann 1968: 24; Backhaus 1998). Dazu muss man einschränkend hin77 Als eine ideengeschichtliche Fußnote können wir hier auf Adorno verweisen, der in seinem Spätwerk eine philosophische Perspektive entwickelte, die derjenigen Simmels in einigen Punkten nicht unähnlich ist. Adornos »negative Dialektik« sollte ein »Ensemble von Modellanalysen« hervorbringen und beanspruchte dabei eine »Verbindlichkeit ohne System« (1992: 39). 78 »Nur, wie ich Ihnen schon schrieb, mit der Systematik als solcher weiß ich nichts anzufangen und ich habe das ganz deutliche Gefühl, daß die Inhalte Ihrer Gedanken diese Form, mit ihren Abgrenzungen und Begriffssymmetrien, fortwährend überschwellen und daß der objektive Wille in diesen Gedanken auf eine Kontinuität geht, der die ›Offenheit‹ des Systems nicht genügt, sondern die auf eine prinzipiell andere Anwendungsform drängt« (1958: 112).

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zufügen, dass diese Parallelisierung nur bedingt berechtigt ist, da einerseits das unter den Göttingern auch noch nach Husserls ›transzendentalphilosophischer Wende‹ hochgehaltene Motto ›Zu den Sachen selbst!‹ in einem grundsätzlich anderem Sinne intendiert war als bei Simmel, wie Großheim (1996: 7f.) ausführlicher auseinandergelegt hat. Die methodologische Berücksichtigung der ›Sachlogik‹ bei Simmel war von vornherein eben nicht bewusstseinsphilosophisch wie bei Husserl, sondern vielmehr ›neutral‹ konzipiert. Davon abgesehen erscheint allein die Form von Simmels Philosophieren alles andere als ›streng‹ im Husserlschen Sinne. Die Mannigfaltigkeit und zuweilen Exzentrizität von Simmels Zuwendungsgebieten muss als Revers seiner philosophischen, anti-systematischen Grundhaltung gesehen werden. Damit will keinesfalls gesagt sein, dass ihn die ›Krise der Kultur‹ weniger tangiert hätte als seine Zeitgenossen. Davon berichten für sich allein die Umstände der Entstehung von Simmels letztem Buch, der ›Lebensanschauung‹, die er selbst als sein »Testament« (LA: 244) ansah. Aus der Hoffnung und dem drängenden Bedürfnis heraus, der Nachkriegsgeneration ein Bewusstsein über die vorausgegangene Kulturproblematik mit auf den neuen Weg geben zu können, verzichtete Simmel zugunsten der Fertigstellung des Buches zuletzt sogar auf das schmerzlindernde 79 Morphium. Synthetisiert man die hier zusammengetragenen Ausschnitte zu einem Ganzen, verschärft sich das Bild eines durchaus systematischen Denkers, der nicht aus einer herablassend-überheblichen Einstellung heraus, sondern vielmehr auf der Grundlage einer komplexen Motivstruktur, welche sowohl gegenwartsdiagnostische, erkenntnistheoretische, kulturkritische und lebensphilosophische Dimensionen aufwies, eine radikale Kritik sowohl an der Form als auch an der substantiellen Orientierung der hergebrachten Geistes- und Sozialwissenschaften anstrebte. Gerade die Intransparenz der werkimmanenten Verweisungszusammenhänge sowie vor allem Simmels Unvermögen oder Abneigung, diese eigens hervorzuheben, mögen erklären, warum man selbst innerhalb der Philosophie sich erst im Zuge der ›postmodernen Wende‹ auf die Hintergründe seines Denkstils einzulassen begann (vgl. Weinstein/Weinstein 1993). Die, trotz dieses hohen Anspruchs, von Simmel an den Tag gelegte – und doch in aller Regel missverstandene – intellektuelle Bescheidenheit reflektierte sich in seinem geltungstheoretischen Relativismus, dessen Grundzüge nun abschließend vorgestellt werden sollen.

79 Vgl. den ›Editorischen Bericht‹ in Simmel (GSG 16: 438ff.) sowie auch Fitzi (2002: 261ff.).

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5. Simmels ›Theorie des Relativismus‹ Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Begriff ›Relativismus‹ zu Simmels Zeiten zweifellos zu den am meisten gefürchtetsten Schimpfwörtern gehörte, der sich bisweilen sogar – wie sich nicht zuletzt im Fall Simmel selbst erwies (vgl. Köhnke 1996: 355ff.) – als karrierehemmend auswirken konnte, kann man Simmels Kokettieren mit diesem »Gespenst« (HGA 59: 154; GGW 3: 162) als waghalsig einschätzen. Niemand geringeres als Wilhelm Windelband hatte in seinem einflussreichen ›Lehrbuch der Geschichte der Philosophie‹ den Relativismus als »die Abdankung der Philosophie und ihr Tod« (1907: 564) definiert. In der zweiten Auflage seiner ›Philosophie des Geldes‹ (1907) hatte Simmel am ausführlichsten die Grundzüge seiner »Theorie des Relativismus« niedergelegt, die er – wie aus einem Schreiben an Rickert von 1896 hervorgeht – plante, in den nächsten Jahrzehnten weiter zu entwickeln (1958: 92). Dass es Simmel bei deren Formulierung um wesentlich mehr ging, als eine beiläufige geltungstheoretische Reflexion seines Wechselwirkungsbegriffs, belegt nicht zuletzt wiederum Simmels ›unvollendete Selbstdarstellung‹. Hierin zeichnete Simmel diesen Standpunkt als Gewinn eines neuen »Festigkeitsbegriffes« (ebd., 9f.) aus, auf dessen Basis er schließlich sogar seine Metaphysik aufgebaut habe. Der »›Relativismus‹ als Erkenntnisprinzip« (GSG 6: 119) resultierte für Simmel als Konsequenz seiner dynamischen Wirklichkeitsauffassung, die ihn bereits dazu bewogen hatte, entsprechende Begrifflichkeiten wie ›Vergesellschaftung‹ ›Begriffsformung‹, etc. an die Stellen traditioneller Erkenntniskonzepte zu setzen. Die grundsätzliche Schwierigkeit, die Simmel mit starren Ausgangskonzepten hatte, zeichnete sich – wie gesehen – bereits an seiner frühen Beschäftigung mit Kant und insbesondere dessen Erfahrungsbegriff ab und zog sich über die diversen Erkenntnisgebiete hindurch. Sie übertrug sich Simmel schließlich auf die Geltungs- bzw. Wertebene, auf welcher er den Relativismus zu seinem originären Er80 kenntnisprinzip erhob. Er entwickelte seine Position gegenüber denjenigen von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus (ebd., 116f.). Ausschlaggebend für die Unhaltbarkeit aller drei Haltungen war für ihn, dass sie außerstande seien, aus sich heraus ihre eigenen Voraussetzungen zu reflektieren. Zu diesem Zweck seien sie alternativ entweder auf die Aufnahme eines außerhalb ihres genuinen Erklärungshorizontes gelegenen Standpunktes oder auf eine unfruchtbare, immanente ›Selbstanalyse‹ an80 Dies ist hier durchaus wörtlich zu nehmen, denn auch für Köhnke war Simmel der erste bekennende ›Relativist‹ (1996: 478). Diesen Titel muss sich Simmel jedoch zumindest mit Dilthey teilen, über den Gadamer voller Beachtung schrieb: »Diltheys repräsentative Bedeutung für die philosophische Gegenwart besteht in der radikalen Anerkennung dieser Konsequenz« (GGW 4: 427) – wobei sich letzterer auf den Relativismus bezog.

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gewiesen, welche die eigenen Prinzipien endlos auf sich selbst bezieht und sich somit in einen »zerstörenden Kreisschluß« (ebd., 117) begibt. In Kontrast hierzu etablierte er den Relativismus als alleiniges Prinzip, welches »für sich selbst keine Ausnahme von sich selbst (fordert): es wird dadurch nicht zerstört, daß es selbst nur relativ gilt« (ebd.). Er trage sein Fundament in dem grundsätzlichen Vorstoß, »alles Absolute, das sich darzubieten scheint, in eine Relation aufzulösen« (ebd., 118). Nach dieser Maxime hatte Simmel von Anbeginn – mit der Analyse ethischer Grundbegriffe – konsequent in all seinen bevorzugten Themenfeldern operiert. Insofern repräsentiert das relativistische Erkenntnisprinzip die geltungstheoretische Übersetzung von Simmels methodologischer Verfahrensweise. Es ruhte zudem auf einer quasi-anthropologischen Bestimmung des menschlichen Geistes, genauer: der »fundamentalen Fähigkeit unseres Geistes, sich selbst zu beurteilen, sein eigenes Gesetz über sich selbst zu stellen« (ebd., 119). Zurecht hat Köhnke betont, dass man Simmels Standpunkt, welcher lediglich postuliere, »daß Wahrheit eine Relation von Inhalten zueinander bedeutet« (Simmel 1958: 118), angemessener als einen »Relationismus« (1996: 480) bezeichnen sollte. Konsequent weitergedacht, bedeutet er allerdings die Auflösung der Idee einer allgemeinen Theorie des Wissens für alle geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgebiete zugunsten eines radikalen Perspektivismus, der im Grunde jeder Formung der Wirklichkeit einen autonomen Wahrheitsgehalt zugestehen muss. In den ›Problemen II‹ hatte Simmel, wie oben ausgeführt, bereits konzediert, »daß jede besondere historische Wissenschaft einen besonderen Wahrheitsbegriff hat« (GSG 9: 287). Wenn man darin nun eine »complete relativization of philosophy« (Oakes 1980: 22) sehen will, so muss man dieser Schlussfolgerungen aus einer Simmelianischen Perspektive einerseits zustimmen, wenn sich Philosophie als eine über allen anderen Wissenschaften stehenden Erkenntnisorm begreift. Andererseits führte Simmel für im engeren Sinne geisteswissenschaftliche Formungen, die in unmittelbarem Bezug zur Individualität der Betrachter stehen, wie Kunst, Religion, Dichtung und auch Philosophie, ein besonderes Wahrheitskriterium ein, nämlich dasjenige der »künstlerischen ›Wahrheit‹« (HdPh: 26). Während der Wahrheitsgehalt in empirischen Disziplinen an außerhalb der Form selbst liegenden objektiven Begebenheiten evaluierbar sei, liege die Sache in solchen Wissenschaften anders, denn: »Hier aber ist der Charakter des Gedankengebildes an und für sich entscheidend, es trägt als Sein seinen Wert, d. h. gemäß der Bedeutung der unmittelbar in ihm dokumentierten geistigen Richtung und Verfassung und der überzeugenden Ehrlichkeit, Tiefe und Deutlichkeit dieser Dokumentierung selbst« (ebd., 29).

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Gleichwohl wies auch diese Lösung einen relationalen Grundzug auf und steht damit in Gegensatz zu traditionellen, korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeptionen. Obgleich die Philosophie regelmäßig mit dem Anspruch und dem Gestus der Voraussetzungslosigkeit auftrat, treffe auch für sie nach Simmel das Generalverdikt zu: »Die vollkommene Voraussetzungslosigkeit ist freilich unerreichbar« (ebd., 9). Simmels ›Relationismus‹ erweist sich letztlich als Konsequenz aus seiner gegenwartsdiagnostischen Ansicht über die Stellung wissenschaftlichen Wissens unter den Bedingungen der Moderne. Diese Einsichten überzeugten ihn davon, dass – wie wir übereinstimmend mit Cantó Milà resümieren können – »the relational approach was the approach of modern science, that is, of all modern sciences, of the natural as well as the social and human sciences« (2005: 75).

Resümee: Simmels ›Kritik der historischen Vernunft‹ Wir dürfen festhalten, dass Simmels Antwort auf die ›Krise des Wissens‹, welche aus seiner Warte wohl lediglich einen unter mehreren, wenn auch gewichtigen, Teilaspekt der allgemeinen ›Krisis der Kultur‹ repräsentierte, sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht eine radikale Erneuerung der ›theoretischen Vernunft‹ vorschlug. Simmels Lösung entwickelte sich – idealtypisch gesprochen – etwa gemäß folgender Chronologie: Ausgehend von einer, in dem Aufsatz ›Psychologie des Geldes‹ (1889) gedeuteten, Diagnose der modernen Gesellschaft, suchte er zunächst die Beschäftigung mit Grundfragen der ›Kritik der historischen Vernunft‹ und entwickelte eine eigenständige, vom Kantianismus inspirierte, erkenntnistheoretische Position. Hierin ist er zweifellos dem Strom der Zeit gefolgt, der die epochalen grundlagentheoretischen Debatten auf das Feld der Geschichte gespült hatte. Zwischen den beiden ersten Auflagen seiner Geschichtstheorie gedieh und steigerte sich der Einfluss der über die Untersuchungen der soziologischen und ästhetischen Formungen gewonnenen Einsichten, der sich schließlich markant in den ›Problemen II‹ und der darin ausgezeichneten Eigenlogik von Erkenntnisformen materialisierte. Eine Rückbindung der wissenschaftlich-künstlerischen Wissensformen an die Formbildungen der alltäglichen Erfahrung verfolgte Simmel in seiner lebensphilosophischen Arbeitsphase, in der er sich vorrangig mit den kulturellen Krisenerscheinungen seiner Gegenwart auseinander gesetzt hatte. In dieser Synopse finden wir die Beschreibung in Simmels ›unvollendeter Selbstdarstellung‹ in den groben Tendenzen abermals bestätigt. Inwiefern hierbei inhaltliche und formale Umgestaltungen Hand in Hand gingen, eröffnete am eindringlichsten Simmels Grundlegung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft: Obgleich er erst aufgrund einer

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analytischen Operation, nämlich der perspektivischen Trennung der Wechselwirkungsformen von den individuellen Motiven, einen originären Sachbereich gewann, bot sie ihm die Möglichkeit der Fokussierung vorher in den Gesellschaftswissenschaften unbeachtet gebliebener Mikrophänomene, die zum Verständnis der Gegenwartskultur von großem Nutzen waren. Die Nichtbeachtung von spezifischen fachgebundenen Frage- und Problemstellungen zugunsten der Hinwendung zu konkreten empirischen Einzelproblemen hatten wir als einen Prozess der ›Empirisierung‹ und ›Verlebendigung‹ der Philosophie resümiert. In dieser radikalen Entsagung gegenüber akademischen Gepflogenheiten, die bereits den ›jungen Simmel‹ zu diversen Anlässen in große Schwierigkeiten brachte, offenbarte sich eine Form intellektueller Rechtschaffenheit, welche die Sache gegenüber persönlichem Erfolg prämierte. Die genealogische Perspektive, die unsere Rekonstruktion einschlug, diente dem Zweck, die systematischen Bezüge zwischen den inhaltlich weit auseinanderliegenden Themenfeldern Simmels aufzuweisen. Wer bei Simmel überhaupt nach ›Systematizität‹ suchen will, der findet diese in dessen wissenstheoretischem Differenzierungsschema, welches eine relativ einfache Orientierung in Simmels Oeuvre ermöglicht. Die nur mit einigem Aufwand mögliche Identifizierung der wechselseitigen systematischen Bezüge zwischen erkenntnistheoretischen, empirischen und metaphysischen Analysen sollte die spezifische Form von Simmels Denkweise sowie die Gründe erhellt haben, weshalb Simmel eine Lösung der Wissenskrisis vermöge einer universalen Systemphilosophie oder einer Erneuerung des ›idealistischen Pathos‹ (Dilthey) für unausführbar hielt. Simmels lebensphilosophisch konzipierte Wissenschaftsanschauung führte die durch Dilthey inaugurierte Tendenz der ›Verlebendigung‹ der Philosophie über diesen hinaus, indem er sie zum einen auf die Ebene der empirischen Spezialwissenschaften übertrug, und schließlich auch noch Diltheys inkonsequentes Festhalten an traditionellen Grundlegungskriterien überwand, was Simmel in der jüngeren Vergangenheit sogar zum Protagonisten der Postmoderne aufsteigen ließ.

Webers ›w irklichkeitsw isse nschaftlic he‹ Be gründung der modernen Sozialw issenschaften

Waren wir bei der Rekonstruktion von Simmels Begründungstheorie des Wissens vor das Problem gestellt, aus einem außerordentlich vielschichtigen Werk die verstreuten Bausteine in eine Ordnung bringen zu müssen, so begegnet man einer solchen Ausgangssituation im Falle Webers unter umgekehrten Vorzeichen wieder. Der grundlegende Unterschied mag darin zu erkennen sein, dass man die Frage nach der Systematizität in Simmels Werk erst relativ spät zu stellen begann – was wohl partiell auch der vor der Edition des Gesamtwerks gegebenen schwierigen Textgrundlage geschuldet war –, während hingegen die Ermittlung der »Einheit der Wis1 senschaftslehre Max Webers« spätestens bereits mit Alexander von Scheltings Deutungsversuch aus dem Jahre 1934 einsetzte und seither die hef2 tigsten Kontroversen innerhalb der Weber-Interpretation entfacht hat. Bis zum heutigen Datum gehen die Meinungen über den der ›Wissenschaftslehre‹ zuzuweisenden Status innerhalb des Gesamtwerks und insbesondere im Hinblick auf die Einschätzung für Webers Begründung einer ›verstehenden Soziologie‹ weit auseinander. Dabei beginnen die Divergenzen bereits bei der Einschätzung der Titulierung von Webers methodologischen Arbeiten als ›Wissenschaftslehre‹ selbst, die man heute nicht auf Webers Eigeninitiative zurückführt, sondern auf Marianne Webers eigenwilliger Selbstbedienung aus dem Gedankenkonvolut Fichtes (Wagner/Zipprian 1994: 21f.). Damit einhergehend erscheinen die bisherigen Textzusammenstellungen von Webers erkenntnistheoretischen Beiträgen und die In1 2

So der Titel von Dieter Henrichs maßgeblicher Studie (1952). Verwiesen sei nur auf die Auseinandersetzungen zwischen Friedrich H. Tenbruck (1987) auf der einen Seite und Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (1987; 1994: 20ff.) auf der anderen.

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tentionen ihrer Editoren in kritischem Licht. Deren Herausgabe im Rahmen der Max Weber Gesamtausgabe (MWG) folgt symptomatisch auch 4 nach neuen Kriterien. Die Interpretationsrichtung in Bezug auf die grundlagentheoretische Relevanz von Webers Denken schlägt demzufolge in die entgegengesetzte Richtung wie im Falle Simmels. Während man bei diesem die systematischen werkimmanenten Zusammenhänge gerade erst entdeckt, scheint man bei jenem bereits in der Phase ihrer Dekonstruktion eingetreten zu sein. Das Unternehmen einer erneuten Rekonstruktion von Webers ›Wissenschaftslehre‹, wie sie im Nachfolgenden angestrengt werden soll, bedarf also nicht nur vor dem geschilderten Hintergrund einer eingehenderen Rechtfertigung, sondern muss sich auch innerhalb des Dickichts an bereits vorliegenden Kommentaren zu Webers Methodologie 5 positionieren. Wir begegnen hier einem weiteren Kuriosum. Gemeint ist eine gewisse Paradoxie, die aus dem allgemeinen Konstatieren einer unübersichtlichen und unbeherrschbaren Interpretationsflut einerseits und dem gleichzeitigen Generalbefund von deren Unzulänglichkeit andererseits erwächst (Sprondel et al. 1980: 10; Tenbruck 1986: 13; Hennis 1988: 41). Nimmt man dann noch die beliebig häufig zu belegende Schlussfolgerung einer kon6 zeptionellen Untragbarkeit der ›Wissenschaftslehre‹ hinzu, so gewinnt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, dass Weber gemeinhin innerhalb der soziologischen Klassikerriege als primus inter pares rangieren kann, eine besondere Brisanz. Um diesen zwiespältigen Gesamteindruck der Wirkungsgeschichte von Webers Erkenntnistheorie vollends ad absurdum zu führen, sei schlicht die Auffassung Winckelmanns zitiert, »daß Weber für die Methodologie der Kultur- und Sozialwissenschaften jene Wende vollzog, die die Einsteinsche Relativitätstheorie für die Naturwis7 senschaften bedeutete« (Sprondel et al. 1980: 5). Ging man innerhalb der Rezeptionsgeschichte seit der frühesten Stunde von der ausgesprochenen Voraussetzung aus, dass es möglich sei, in Webers Werk einen inneren Kern auszumachen, von dem her sich das Gesamtopus aufschließen ließe, so sind es ausnehmend jüngere Interpreten, die das Heranhalten dieses Ideals an die überlieferten Werkfragmente für unfruchtbar befinden und bis auf Weiteres zu suspendieren vorschlagen (Endreß 1990: 11; Wagner/Zipprian 1994: 24f.; Lichtblau 2000: 128). Eine seit mehreren Jahren beobachtbare Tendenz in der Weberexegese geht

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Siehe hierzu die Übersicht von Wagner/Zipprian (1994: 11ff.). Vgl. insbesondere die Bände 7 und 12 der MWG. Runciman bezifferte bereits 1972 allein die Stellungnahmen zur ›Wissenschaftslehre‹ auf »over 600 items« (1972: vi). An geeigneter Stelle wird zu den diversen Einwänden Stellung bezogen werden. Ähnlich bereits de Marchi: »it is not an exaggeration to place Max Weber right alongside Albert Einstein« (Ferrarotti 1982: 13).

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denn auch dahin, die Interrelationen zwischen Webers methodologischen, wissenschaftsethischen, politischen und soziologischen Schriften zu erkunden, anstatt wie bislang von einem dieser Erkenntnisbereiche ausgehend die anderen zu erschließen (Zingerle 1989: 380f.; Scaff 1989: 7ff.). Die sogleich zu entrollende Rekonstruktion folgt diesem Trend insofern sie von vornherein Webers Beiträge zur materialen Soziologie marginalisiert und dafür den Blick auf seine Beantwortung der allgemeinen Frage nach der Möglichkeit und Bewertung von ›Wissenschaft‹ und ›Wissen‹ unter den Bedingungen der Moderne richtet. Sie steht dementsprechend also nur in sekundärer Hinsicht im Dienst der Soziologie. In Abhebung hiervon könnte man sie eventuell als philosophisch qualifizieren, um auszudrücken, dass der Problemkontext, auf den Webers Denkgebäude bezogen wird, über einen von einer Einzelwissenschaft her rührenden Themenkreis – in Frage kämen hier neben der Soziologie vor allem die Geschichts-, Wirtschafts-, Rechts- und die Politikwissenschaft –hinausgeht und an die allgemeine grundlagentheoretische Fragestellung nach den Voraussetzungen von Wissen anknüpft. Es wäre ein mühsames und langwieriges Unterfangen, unsere Argumentation im Vorfeld auf Übereinstimmungen oder Unstimmigkeiten mit bereits vorhandenen Interpretationsansätzen abzuklopfen. Deswegen sei an dieser Stelle die Abkürzung gestattet, ohne weiteres die Richtungslinien und Quellenauslese ex positivo zu begründen und die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur auf die folgenden Einzelabschnitte zu verschieben. Webers frühe methodologischen Schriften, bei denen es sich bekanntermaßen um kritische Stellungnahmen zu einigen Hauptfiguren der ›Historischen Nationalökonomie‹ sowie um Programmschriften handelte, geben zunächst kaum expliziten Aufschluss über eine bestimmte, über den speziell wissenschaftstheoretischen Kontext der historischen Nationalökonomie hinausweisende, allgemeinere Problemlage. Daher lässt sich auf der Basis der genuin methodologischen ›Gelegenheitsarbeiten‹ nicht eindeutig bestimmen, aus welchen Gründen er schließlich doch zur Aufgabe der Begründung einer »kulturwissenschaftlichen Logik« (GAWL: 215) vorangeschritten war. An dieser Fragestellung setzt unsere Rekonstruktion zunächst ein, indem sie nachzuzeichnen versucht, welche speziellen Problemstellungen Weber bereits in ›Roscher und Knies‹ dazu bewogen haben, den wohl ursprünglich engeren Behandlungsrahmen zu überschreiten und zu solchen Fragen Stellung zu beziehen, die auf der Tagesordnung der allgemein geführten zeitgenössischen Grundlegungsdebatte ganz oben gelistet waren. Weiteren Aufschluss über Webers Beweggründe erhoffen wir uns insbesondere von Webers Vortrag über ›Wissenschaft als Beruf‹, in welchem er in ungleich eindringlicherer Form sein wissenschaftskritisches Anliegen entfaltet hatte. Die Angemessenheit von Marianne Webers Entscheidung,

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die schriftliche Ausarbeitung dieses Vortrags, in der es weniger um methodologische als um geltungs- und wissenstheoretische Fragestellungen ging, in den Korpus der ›Wissenschaftslehre‹ zu integrieren, wurde selten angetastet. Es wird sogar allgemein als »richtig« eingeschätzt, »daß Webers methodologische Schriften sämtlich auf seinen Aufsatz ›Wissenschaft als Beruf‹ hinführen« (Whimster 1988: 382). Unser nächster Interpretationsschritt soll die aus der Analyse der methodologischen Frühschriften extrahierten Anhaltspunkte mit den allgemein ausgerichteten Stellungnahmen zum Wissens- und Erkenntnisproblem aus dem späten Vortrag in Verbindung setzen. Eine hinzukommende Auslegungsrichtung soll – ähnlich wie bei der Rekonstruktion von Simmels Systematik – die genuin kultur- und gesellschaftsdiagnostischen Hinweise, die Weber in ›Wissenschaft als Beruf‹ aufgrund der formellen Rahmenbeschränkung nur antippen konnte (Tenbruck 2002: 47), aufnehmen und unter Rückgriff auf seine religionssoziologischen Schriften zu einem nachvollziehbaren Bild der zeitdiagnostisch begründeten Grundmotive von Webers Grundlegungssystematik ergänzen. Seine Theorie der Moderne, die zweifelsohne zu den wirkungsgeschichtlich einflussreichsten Hinterlassenschaften Webers gehört, darf nach unserer Einschätzung bei der Beurteilung seiner wissenstheoretischen Gesamtkonzeption nicht unterschlagen werden. Es divergieren innerhalb der Rezeptionsgeschichte mehrere Varianten der Zuordnung von Webers weltanschaulich-metaphysischem Fundament zu jeweils verschiedenen intellektuellen Denktraditionen des 19. Jahrhunderts. Am häufigsten wird Weber wohl – allerdings häufiger implizit als 8 explizit – in die durch Kant geprägte Traditionsform des Idealismus gestellt (Mommsen 1988: 34; Schluchter 1988; Dux 1994). Als Alternativ9 kandidaten erscheinen auf der einen Seite insbesondere Nietzsche und 10 auch der Historismus . Einige wenige Interpreten haben schließlich auch diverse, durch Dilthey inspirierte, lebensphilosophische Anleihen bei We11 ber herausgefiltert. Wiederum namentlich unter jüngeren Interpreten scheint sich eine Bewegung zu entfalten, die das mechanisch reproduzierte Diktum von Weber als Durchsetzungsgehilfen des Rickertschen Neukantianismus nicht mehr zu akzeptieren gewillt ist und sich stattdessen auf die

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Wahlen hatte sich noch 1981 darüber beklagte, dass »es in der Literatur zur Geschichte der Soziologie keine Studie (gibt), in der systematisch versucht wird, derartigen ›Einflüssen‹ auf die Soziologie M. Webers nachzugehen« (1981: 16). Diesem Mangel haben inzwischen Wagner (1987), Oakes (1990) und Merz (1990) abgeholfen. 9 Siehe u.a. Baier (1981/82), Stauth/Turner (1986), Hennis (1987a; 1987b), Peuckert (1989). 10 Siehe stellvertretend für andere Tenbruck (1959b: 591ff.), Hennis (1988: 83), Wagner/Zipprian (1989: 7), Wittkau (1992: 131ff.). 11 Vgl. Bergstraesser (1946/1947), Wanstrat (1950), Weiß (1992b: 355), Rossi (1994: 212).

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Suche nach alternativen Interpretamenten begibt. Experten haben bereits seit langem diesem Zerrbild widersprochen und entgegengehalten, dass sich Weber in konzeptueller Hinsicht zweifellos reich aus dem Begriffsrepertoire Rickerts bediente, daraus jedoch noch nicht auf eine systematische 13 Abhängigkeit Webers von Rickert geschlossen werden dürfe. Die folgende Darstellung will in der Frage nach der philosophischen Zuordnung Webers von vornherein keine weitere Alternative hinzufügen, da eine solche Blickbeschränkung automatisch die Option ausschließt, dass Weber eine unabhängige Lösung versucht hat. Ähnlich wie bei Simmel, soll die Möglichkeit als offen betrachtet werden, dass der auch für Weber konstatierte »multifaktorielle, -dimensionale bzw. -perspektivische Charakter (seiner) Analysen« (Endreß 1990: 18) sowie die »fragmentarische Form« (Lichtblau 2000: 128) seines Werks letztlich auf systematische Erwägungen über die Konstitutionsbedingungen von Wissen in der modernen Gesellschaft zurückführbar sind. Zunächst wird der Versuch anstehen, diejenigen Motive herauszustellen, die Weber zur Beschäftigung mit grundlagentheoretischen Fragestellungen, die seinem persönlichen Naturell – folgt man seiner Selbststilisierung – durchaus nicht affin waren, angestiftet haben. Daran anschließend soll die Architektur von Webers Begründungssystematik zunächst auf der Grundlage seiner methodologischen Beiträge, darauf aufbauend schließlich unter Rückgriff auf seine modernitätskritischen Befunde entfaltet werden. Zu guter Letzt muss Webers einzigartige Haltung zur Wissenschaft im Allgemeinen daraufhin befragt werden, in welcher Beziehung sie zu seiner wissenschaftstheoretischen ›Lösungskonzeption‹ steht.

Weber und die ›Kritik der wissenschaftlichen Vernunft‹ Es soll hier also darum gehen, die ursprüngliche Motivik, die sich im Hintergrund von Webers Beschäftigung mit den »logischen Problemen der historischen Nationalökonomie« (GAWL: 1) befand, zu rekonstruieren. Die Wahl dieses Ausgangspunktes für unsere Interpretation rührt daher, dass ihn durchaus kein ursprüngliches philosophisches Interesse zur Methodologie geführt hatte. Vielmehr äußerte sich der junge Student Weber nach der Lektüre der philosophischen Meister und insbesondere auch von Diltheys ›Einleitung‹ eher gelangweilt und desinteressiert (Baumgarten 1964: 12 Exemplarisch hierfür Lichtblau (1994), Jacobsen (1998), Morikawa (2001: 269), Kim (2002). 13 Bereits Henrich hatte belegen wollen, »daß Max Weber bei engstem Zusammengehen mit Rickert in der Methodologie doch in deren Begründung sich völlig von der philosophischen Position des Neukantianismus entfernt« (1952: 5).

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21). Im allgemeinen geht man davon aus, dass Weber erst nach der Jahrhundertwende ein genuines Interesse an erkenntnistheoretischen Fragen, angeregt insbesondere durch die Lektüre der ›Grenzen‹ seines damals bereits befreundeten Kollegen Rickert, entwickelte (Tenbruck 1959b: 578ff.; Rossi 1994: 201). Eine äußerst zurückhaltende Haltung Webers gegenüber der Philosophie reflektierte sich schließlich auch in seinen ersten methodologischen Gehversuchen. Geradezu entschuldigend rechtfertigte er die Einmischung eines zum Philosophieren unberufenen Spezialwissenschaftlers mit dem Hinweis darauf, dass er sich lediglich um »elementare Probleme« kümmern wolle: »Freilich werden wir es dabei nur mit elementaren Formen dieser Probleme zu tun haben. Dieser Umstand allein erlaubt es mir, dem die fachmäßige Beherrschung der gewaltig anschwellenden logischen Literatur naturgemäß nicht zu Gebote steht, mich mit ihnen hier zu beschäftigen. Ignorieren darf auch der Fachmann der Einzelwissenschaften jene Probleme nicht, und vor allem: so elementar sie sind, so wenig ist, wie sich auch im Rahmen dieser Studie zeigen wird, auch nur ihre Existenz allseitig erkannt« (GAWL: 1).

Diese Äußerung verleiht Tenbrucks (1959b: 582) Schlussfolgerung, dass Weber Methodologie nicht zum Selbstzweck, sondern als Mittel zur Fundierung der von ihm selbst favorisierten Form von Kulturwissenschaft betrieb, gewisse Plausibilität. Ein weiteres schlagendes Argument, das gegen das Bild von Weber als dem Intitiator einer ›Wissenschaftslehre‹ spricht, deutet auf Webers Eigenart hin, an zentralen Stellen seiner Argumentation, an denen er sich unweigerlich mit philosophischen Grundproblemen wie dem Kultur- und Verstehensbegriff, dem Abgrenzungskriterium von Natur- und Geisteswissenschaften etc. hätte auseinandersetzen müssen, auf jeweilige Spezialisten zu verweisen (GAWL: 4, 146, 427, 541). Diese Form von Bescheidenheit gipfelte etwa in Webers Bekenntnis zu Rickert in ›Roscher und Knies‹: »Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben« (ebd., 7). Mit solchen Äußerungen handelte sich Weber das Risiko ein, als anspruchsloser Epigone der neukantianischen Richtung anstatt als eigenständiger Wissenschaftstheoretiker behandelt zu werden. Für beide Deutungsvarianten liefert die Wirkungsgeschichte – wie bereits angedeutet – zahlreiche Belege. Die sich in diesen Äußerungen manifestierende Reserviertheit gegenüber der Philosophie lässt sich insofern verallgemeinern, als seine Rechtfertigungen sowie auch die Anspruchshaltung seiner späteren methodologischen Aufsätze in ähnlichem Sinne pragmatisch blieben wie 1903. Webers Haltung gegenüber der Philosophie bekundet sich auf eindrücklichste Weise in folgender Aussage:

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»Nur durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme wurden Wissenschaften begründet und wird ihre Methode fortentwickelt, noch niemals dagegen sind daran rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen« (ebd., 217).

Hier zeigt sich, dass Weber im Bewusstsein eines »Fachmann(s) der Einzelwissenschaften« argumentierte und im Grunde für erkenntnistheoretische Logelei nicht viel übrig hatte. Nichtsdestotrotz besagt Webers Zurückhaltung hier noch nichts über die philosophische Relevanz und Originalität seiner Denkprodukte – ebenso wenig wie die Fragmentiertheit einer Philosophie nicht automatisch Mangel an Systematizität bedeuten muss. Um nachweisen zu können, dass man auch Webers Beitrag »gleichsam als eine Kritik der wissenschaftlichen Vernunft« (Wagner/Zipprian 1989: 7) lesen kann, müssen die Einzelbausteine des Gesamtgebildes zunächst für sich betrachtet werden. Zuvor soll jedoch noch aufgeklärt werden, welche ›elementaren logischen Probleme‹ Weber hier überhaupt im Auge hatte. Wenn Weber selbst auf die spezifischen Probleme in seiner Zunft hinwies, welche eben auch der »Fachmann« nicht ignorieren dürfe, so bezog er sich primär auf die konkreten Problemhintergründe in der Nationalökonomie, der er sich zur damaligen Zeit zugehörig fühlte. Nach seiner eigenen Darstellung tobte in der zeitgenössischen Nationalökonomie ein »Kampf um Methode, ›Grundbegriffe‹ und Voraussetzungen« (GAWL: 160), zu welchem er eine eigene Stellung beziehen wollte. Jener »Kampf« firmiert seither in der Wissenschaftsgeschichte unter den Schlagworten ›Methodenstreit‹ und ›Historismusstreit‹ (Wittkau 1992: 61), der mit der Auseinandersetzung zwischen Carl Menger als Vertreter der ›Theoretischen Schule‹ und Gustav von Schmoller als Haupt der ›Historischen Schule‹ eröffnet und insbesondere durch das Erscheinen von Karl Lamprechts ›Deutsche Geschichte‹ seit 1891 angeheizt wurde. Hinter den angedeuteten beiden Richtungen standen jeweils besondere wissenschaftstheoretische Grundansichten über Zweck und Richtung des nationalökonomischen Arbeitens. Menger kritisierte im Jahre 1883 die Haltung der am historistischen Erkenntnisideal orientierten Ökonomen, welche nach Mengers Auffassung wiederum genau jene »Richtungen der Forschung (negierten), welche in Rücksicht auf das Ganze unserer Wissenschaft sich als die bedeutsamsten erweisen« (Menger 1969: XIX). Damit bezog er sich auf die gesetzesmäßigen Regelhaftigkeiten im Wirtschaftshandeln, auf denen Menger die Nationalökonomie aufgebaut wissen wollte. Dem gegenüber insistierte Schmoller in seiner bekannten Rezension von Mengers Hauptwerk sowie Diltheys ›Einleitung‹, dass allein »die Wissenschaft vom Individuellen [...] die Vorarbeiten für die allgemeine Theorie (liefert)« (1888: 278). ›Gesetzeserkenntnis‹ auf der einen und ›Wissenschaft vom Besonderen‹ auf der anderen Seite konstituierten die beiden offenbar unvereinbaren Gesichtspunkte bzw. jene »›zwei Nationalökonomien‹«, über

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deren Koexistenz sich jener »verzweifelnder Wiener Examinand« bei Weber beschwert hatte (GAWL: 161). Vor diesem Hintergrund erscheint es als folgerichtig, dass Weber, der sich selbst als »Kind« der Historischen Schule bezeichnete (ebd., 208), zunächst über die Abarbeitung an den Altmeistern seiner Schulrichtung – neben Roscher und Knies auch Hildebrand – Aufklärung über die Ursachen der vorgefundenen Ausgangslage verschaffen wollte. Wir können zunächst festhalten, dass Weber wohl eher über die geschilderte fachspezifische Auseinandersetzung Eingang in das Gebiet der Wissenschaftstheorie gefunden hat, als dass er einem genuinen Interesse an der Debatte über die Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften nachgegangen wäre. Dass diese beiden Arenen keineswegs als hermetisch voneinander getrennt, sondern als einander überlagernd aufgefasst werden müssen, bezeugt nicht zuletzt der Sachverhalt, dass sich Schmoller in seiner angesprochenen Rezension bereits im Titel explizit auf Diltheys ›Einleitung‹ bezog. Und auch Weber rahmte seine Beiträge des Öfteren mit Bezugnahme auf Rickerts Angriff gegen Diltheys Abgrenzungsphilosophie (ebd., 12). Es ist wiederum insbesondere Tenbrucks Verdienst, ganz konkrete Motivzusammenhänge aufgedeckt zu haben, die den gerade erst von seiner Nervenkrankheit genesenden Weber nicht nur mittelbar, sondern direkt und persönlich betrafen und ihn zur Beschäftigung mit grundlagentheoretischen Problemen stimuliert hatten. Zugleich verficht Tenbruck im Anschluss an seine Ausführungen die Position, dass weder ein angemessenes Verständnis der, vor allem in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ niedergelegten, Soziologie Webers, noch seiner ›Wissenschaftslehre‹ ohne die Kenntnisnahme der »Reallagen der historischen Forschung« (1988: 342) und ohne Beachtung der zeitgenössisch diskutierten allgemein-philosophischen Fragestellungen gewährleistet sei. Die angedeutete persönliche Betroffenheit, welche Weber inspiriert hätte, resultierte aus der Kritik seitens Fachhistoriker wie Eduard Meyer und Georg von Below an der impliziten Verwendung von Stufentheorien – nicht nur in der gesetzeswissenschaftlichen, sondern auch in der historistisch ausgerichteten Richtung der Nationalökonomie. Von dieser Bezichtigung musste sich Weber, so Tenbruck, direkt angesprochen fühlen, da er insbesondere in seiner ›Römischen Agrargeschichte‹ unter Verwendung der kritisierten Mittel vorgegangen war. Dieser »Jugendsünden« (ebd., 341) hatte sich der reifere Weber später im Übrigen selber geziehen. Die Notwendigkeit einer »Besinnung auf diejenigen allgemeinen Voraussetzungen [...], mit denen wir an unsere wissenschaftliche Arbeit herantreten« (GAWL: 1), ergab sich also aus forschungspragmatischen Problemstellungen, die mit der vorausgesetzten Art der Begriffsbildung in der historischen Nationalökonomie in engstem Zusammenhang standen. Mit welcher Berechtigung man von hier aus gleichwohl auf eine ›Kritik der wis-

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senschaftlichen Vernunft‹ Webers schließen kann, können erst die nachfolgenden Untersuchungen beantworten. Zu diesem Zweck müssen die von Weber selbst als originell betrachteten Lösungsvorschläge und insbesondere Webers Konzeption einer Kulturwissenschaft als ›Wirklichkeitswissenschaft‹ analysiert werden.

Webers begriffstheoretische Kompromisslösung Angesichts der geschilderten problemgeschichtlichen Ausgangskonstellation überrascht es kaum, dass Weber von Rickerts philosophischem Angebot in Gestalt einer ausgefeilten Begriffsbildungsphilosophie zunächst begeistert war. Gerhard Wagner und Heinz Zipprian haben in Bezug auf Webers Adaption der neukantianischen Grundlegungslogik von einem »kreativem Eklektizismus« (1985: 116) gesprochen, was die Sachlage u.E. treffend wiedergibt. Anders gewendet ließe sich auch verallgemeinern, dass Weber mit Rickert ebenso wie mit anderen philosophischen Autoren pragmatisch umgegangen ist, also sich zuweilen in sehr eigenwilliger Manier aus deren Begriffsarsenal bediente. Die nachfolgende Rekonstruktion ist zunächst darum bemüht zu demonstrieren, dass Weber mit der Anleihe von philosophischen Begrifflichkeiten nicht automatisch den jeweiligen philosophischen Argumentationsrahmen, dem diese entnommen wurden, übernommen hatte. Zweitens gilt es, die philosophischen Gründe herauszustellen, die Weber von seiner Lösung der logischen Probleme in Form seiner eigentümlichen Konzeption einer ›kulturwissenschaftlichen Logik‹ so überzeugten, dass er nach 1904 keine wesentlichen Änderungen mehr für nötig befand. Damit wird die von Tenbruck (1959b: 578ff.) bereits vor fast einem halben Jahrhundert in seinem wegweisenden Aufsatz begründete These aufgenommen, welcher zufolge der ›Objektivitätsaufsatz‹ zugleich den Höhe- und Abschlusspunkt von Webers Methodenreflexion bildete und etwa der ›Werturteilsfreiheits‹- sowie sein ›Kategorienaufsatz‹ lediglich theoretische Weiterfüh14 rungen der darin bereits entwickelten Positionen beinhalteten. Nachdem Weber insbesondere im ›Roscher-Aufsatz‹ zum Ergebnis kam, dass bereits die Gründerväter der Historischen Schule der Nationalökonomie begriffstheoretische Analphabeten waren, entwickelte er einen vermittelnden Kompromiss, der jeweils Kernelemente der naturalistischen und historistischen Methodologie in einer hybriden Mischform integrierte. Diese Lösungskonzeption gilt es hier – drittens – darzustellen. Gegenüber Roscher hatte Weber den Vorwurf lanciert, dass dessen »›historische Methode‹ ein, rein logisch betrachtet, durchaus widersprüch14 Tenbrucks Behauptungen sind jedoch nicht widerspruchslos geblieben. Siehe Wagner/Zipprian (1987).

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liches Gebilde darstellt« (GAWL: 41). Diese Widersprüchlichkeit in Roschers Systematik war nach Weber dem Vermischen zweier methodologisch unvereinbarer Standpunkte geschuldet. Roscher halte, Weber zufolge, trotz seines Bekenntnisses zur historischen Methode, die geschichtlichen Phänomene in ihrer Einzigartigkeit zu erforschen, zugleich daran fest, »daß der Zusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen nur als 15 ein System von Gesetzen begriffen werden könne und solle« (ebd., 8). Bei seinem Versuch, die hier gegebene logische Gegensätzlichkeit aufzulösen, sei Roscher letztlich hinter einen Hegelschen Standpunkt zurückgefallen, dessen »glänzenden metaphysischen Konstruktionen« er »eine ziemlich primitive Form schlichter religiöser Gläubigkeit« entgegenhalten zu können glaubte (ebd., 41). Webers Kritik gegenüber Roscher kulminierte schließlich in dem Urteil, insofern an dem Problem der Begriffsbildung gescheitert zu sein, als er keinen »Gegensatz in der Begriffsbildung [...] zwischen der exakten Naturwissenschaft einerseits und der Geschichte andererseits kennt« (ebd., 17). 16 Auch in den begriffstheoretischen Prämissen von Knies’ Wissenschaftskonzeption sah Weber gewisse Elemente einer »panlogistischen Entwickelungsdialektik« (ebd., 144) am Wirken, die Weber für unakzeptabel befand. Die Vorbehalte gegenüber seinem »akademischen Lehrer« (Käsler 2003b: 193) brauchen hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden, weil deren Grundrichtung anhand von Webers Roscher-Kritik ausreichend deutlich geworden sein dürfte. Webers Einmischung in die Methodendebatte antizipierte aus den geschilderten Gründen also eine Klärung der begriffsphilosophischen Voraussetzungen der von ihm favorisierten Form von Sozialwissenschaft. Nachdem Weber in seinen Studien zu ›Roscher und Knies‹ noch aus einer eher kommentierenden Einstellung heraus argumentierte, brachte erst der ›Objektivitätsaufsatz‹ eine klare Kontur von Webers eigener Lösungskonzeption zum Vorschein. Es sei in Erinnerung gerufen, dass der ›Objektivitätsaufsatz‹ eine programmatische Darstellung der Gesichtspunkte und Kriterien des von Weber, Werner Sombart und Edgar Jaffé edierten ›Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‹ geben wollte. Weber, der für den gewichtigsten Teil der Abhandlung die alleinige Verantwortung übernahm (GAWL: 146), war sich des Stellenwerts und des publikumswirksamen Formats dieser Publikation vollauf bewusst. Belege für das hohe Maß an Vertrauen, das der ad-hoc-Methodologe in seine Erkenntnisbefunde hegte, hat Tenbruck zusammengetragen. Nach dessen Einschätzung war Weber von seiner Lö15 Diesen Einwand wiederholte Weber in seinen späteren Arbeiten zur Methodologie auch noch gegenüber anderen Vertretern der Historischen Schule (GAWL: 171f., 184). 16 Bekanntlich hatte Weber selbst bei Karl Knies studiert und 1896 dessen Heidelberger Ordinariat für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft übernommen.

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sung »so plötzlich überfallen und überwältigt [...], daß sie wie in einem Wurf herausgeschleudert und zwischen den Roscher-Aufsatz und seine Fortsetzung eingeschoben werden mußte« (1959b: 619). Die Studie zu Knies ließ Weber gar in unvollendetem Zustand erscheinen. Welche Gestalt Webers begriffstheoretische Lösung des vermeintlich unversöhnlichen Gegensatzes zwischen den beiden alternativen Begriffslogiken in concreto annahm, soll nun kursorisch dargelegt werden. Zunächst kontrastierte Weber die sich auf dem Feld der Nationalökonomie gegenüber stehenden Positionen der Historischen und Theoretischen Schule im Hinblick auf die ihnen jeweils zugrunde liegenden methodologischen Zielbestimmungen und Erkenntnismittel. Nach Webers Beschreibung hätten die Advokaten der Menger-Schule den »Sinn« der seitens der Nationalökonomen festzustellenden Gesetzmäßigkeiten grundlegend missverstanden (GAWL: 188). Damit bezog sich Weber auf die hier vorausgesetzte Grundannahme, dass ein vollständiges System von Gesetzen – trotz der eingestandenen Partikularität jedes Einzelgesetzes – theoretisch die Deduktion der Wirklichkeit erlauben würde (ebd., 187). War nun die Angemessenheit jener metaphysischen Vorannahme in Webers Augen nicht nur prinzipiell nicht beweisbar, so erblickte er hier zudem die Auswirkung des »naturalistischen Vorurteils« (ebd., 188), das glaube, die naturwissenschaftliche Erkenntnismethode geradewegs auf die Sozialwissenschaften transponieren zu können. Keineswegs gegen den Ansatz überhaupt, nach Regelmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens und Wirtschaftens Ausschau zu halten, richtete sich Webers Einwurf, sondern ausschließlich gegen den überzogenen Anspruch, aus einem theoretischen Gebilde wirkliche Ereignisse erklären und ableiten zu wollen. Darüber hinaus relativierte er das gesetzeswissenschaftliche Verfahren der Menger17 Schule zu einer unter mehreren möglichen Formen der Begriffsbildung. Der gesetzeswissenschaftlichen Methodologie Mengers stellte Weber nun das spezifische Interesse der Historischen Schule gegenüber, die von der Auffassung ausging, dass sich reale Begebenheiten nicht an allgemeinen Regeln, dafür aber an konkreten, empirischen und individuellen Fällen studieren ließen. Hier wurde das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten als sinnlos diskreditiert, weil man von der, für Weber durchaus problematischen erkenntnistheoretischen Position der Beschreibbarkeit wirklicher Zusammenhänge im Sinne der oben bereits erörterten Abbildtheorie ausgegangen war (ebd., 208). Symptomatisch sollten ökonomische Zusammenhänge in ihren mannigfaltigen, vermeintlich realgeschichtlichen Bezügen zu anderen gesellschaftlichen Kontexten dargestellt werden. Dass zu diesem Zweck starre Begrifflichkeiten untauglich wären, weil sie stets eine Verzerrung der Wirklichkeit zur Folge hätten, bildete eine weitere Prämis17 Menger postulierte den Anspruch, die einzig exakte und damit legitime Methode der Nationalökonomie geliefert zu haben.

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se dieser Position (Tenbruck 1959b: 584). Im Gegensatz zu seinen Fachgenossen war Weber jedoch nicht bereit, den Preis, den wohl Nietzsches Kritik an der historistischen Methode in seiner ›Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung‹ jäh in die Höhe getrieben hatte, zu entrichten. Nietzsche hatte eine Konstellation beschrieben, die sich mit Weber auf das Gebiet der Sozialwissenschaft übertragen ließ: »Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhanglose drängt sich, das Gedächtnis öffnet alle seine Tore und ist doch nicht weit genug geöffnet, die Natur bemüht sich aufs höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe miteinander« (W I: 231).

In allegorischen Wendungen beschrieb Nietzsche hier diejenige Form des Relativismus, die Franz Kröner 1929 im Titel seiner heute vergessenen Monographie als ›Die Anarchie der philosophischen Systeme‹ treffend zum Ausdruck gebracht hatte (1929). Diese Konstellation hatte lange zuvor bereits Nietzsche auf den Plan einer durchschlagenden HistorismusKritik gerufen. Seine in dem Zitat zum Ausdruck kommenden Bedenken richteten sich auf den Umstand, dass die Überproduktion an historischen 18 Erklärungen einerseits sowie die Unvergleichbarkeit ihrer Darstellungen andererseits zu einer Relativierung der Erklärungskraft der Geschichte 19 insgesamt führen würde. Dieses Grundargument übertrug Weber nun auch auf das Gebiet der historischen Nationalökonomie. Aufgrund des induktiven Vorgehens des Schmollerschen Ansatzes, aus individuellen Fällen Begriffe und Regeln zu deduzieren, waren die so gewonnenen Ergebnisse und Konzepte schwerlich auf andere Fälle übertragbar. Die Folge davon erblickte Weber in dem unvermittelten Nebeneinanderbestehen von nationalökonomischen Erklärungsansätzen und Begriffsdefinitionen, die sich in ihrer Geltung und Erklärungspotenz zwangsläufig wechselseitig relativieren mussten und zu deren Beschreibung auch Weber – wie Nietzsche – die Metaphorik des 18 Diese Unvergleichbarkeit resultierte aus dem eigentümlichen Wirklichkeitsbegriff des Historismus, der davon ausging, dass die Wirklichkeit stets individuell (im Gegensatz zu allgemein) sei. Bei Weber kam dieser Grundgedanke in verschiedenen Wendungen zum Ausdruck. Er sprach von der »stets individuell gearteten Wirklichkeit des Lebens« (GAWL: 180) und von der »individuellen Wirklichkeit« (ebd., 182). Auch die Geschichts- und Wirklichkeitsauffassung des (Badischen) Neukantianismus blieb von dieser Konzeption geprägt. Bereits Windelband formulierte, »daß sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht« (Präl II: 155f.). Verwiesen sei hier auch auf Rickerts Begriff des »historischen Individuums« (Grenzen III: 244). 19 Dieser Aspekt des Relativismusbegriffs der Jahrhundertwende findet sich selbstverständlich auch bei Dilthey an verschiedenen Stellen herausgestellt (GS V: 9; GS VIII: 76ff.; GS XX: 235ff.).

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»Kampfes« ansetzte (GAWL: 160). Webers geltungstheoretische Auflösung dieser epistemologischen Grundproblematik wird erst weiter unten erörtert werden, nachdem seine Versöhnungsstrategie zur Vermittlung der beiden dargestellten begriffstheoretischen Gegensätze expliziert worden ist. Webers Kompromissvorschlag bestand darin, dass er zunächst dem Aufstellen von Gesetzmäßigkeiten auch innerhalb der historisch ausgerichteten Forschung eine wissenschaftstheoretische Berechtigung zuwies. Um dem Begriffs- und Definitionschaos in den historischen Sozialwissenschaften entgegenzutreten, forderte Weber von seinen Kollegen die Verwendung eindeutig definierter Konzepte bzw. von so genannten ›Idealtypen‹. Bei solchen handelte es sich nach Webers Definition um rein ideelle Konstrukte, in denen gewisse Erscheinungen der Wirklichkeit auf künstliche Weise nach Regeln der Erfahrung in einen fiktiven Zusammenhang gebracht würden, wobei deren Anspruch nicht auf Repräsentativität des Wirklichen gerichtet war. Weber parallelisierte ›Idealtypen‹ auf Grund dieser Eigenschaften mit »Utopien« (ebd., 191). Solche Konstrukte seien insofern ›rational‹, als sie, Weber zufolge, nach nachvollziehbaren Krite20 rien gebildet würden. Für die Gestalt der sozialwissenschaftlichen Methodologie definierte Weber das idealtypenbildende Verfahren nicht zum Zweck der Forschung, sondern wies ihm den Status einer Heuristik zu (ebd., 180). Als das Ziel der kulturwissenschaftlichen Arbeit bestimmte er, im Sinne der historistischen Wissenschaftskonzeption, die »Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung und ihrem kausalen Zusammenhang« (ebd., 174). Den Zugang zur ›Wirklichkeit‹ mit den Mitteln der Idealtypen dachte sich Weber nach dem Modell etwa der realistischen Malerei, bei welcher der Künstler seine Darstellung unentwegt mit der konkreten Wirklichkeit vergleicht. So solle auch der Wissenschaftler seine begrifflich fixierten Modelle an die Wirklichkeit anhalten, um das Maß der Übereinstimmung und Abweichung zwischen Begriff und Wirklichkeit festzustellen und sich der Wirklichkeit über diesen Umweg immer weiter anzunähern. In dem dargestellten begriffsphilosophischen Mittelweg zwischen dem naturalistischen und historistischen Erkenntnisideal stecken profunde philosophische Vorannahmen, deren Erörterung bisher bewusst ausgespart wurde, um zunächst die Umrisse der formalen Gestalt der Weberschen »Wirklichkeitswissenschaft« zu bestimmen. Weber hielt seine Lösung offenkundig für so konsensfähig, dass er nicht zögerte, sie zum Programm eines der wichtigsten sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikationsor-

20 In diesem Sinne erklärt auch Julien Freund die Rationalität der Idealtypen: »Der Vorteil des Typenbegriffs liegt in seiner inneren Richtigkeit« (Freund 1994: 481).

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gane seiner Zeit zu erheben. Die genuin philosophischen Implikationen und Bezugnahmen Webers sollen nun ausführlicher behandelt werden.

›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ Der Weg zur Erkundung der philosophischen Ausgangspunkte von Webers sozialwissenschaftlicher Methodenlehre führt notwendig über die Auseinandersetzung mit dessen Adaption der wissenschaftstheoretischen Ansätze Heinrich Rickerts. Unübersehbar stützte sich Weber nicht nur in der Nomenklatur, sondern häufig auch argumentationslogisch auf die Vorarbeiten seines Freundes. Dennoch ist die Behauptung, Webers »theory is practically identical with that of Rickert« (Burger 1976: xii), nur »vordergründig plausibel« (Wagner/Zipprian 1989: 4). Dieser Schluss, der ausführlich zu begründen sein wird, folgt aus der Erkenntnis, dass Weber sich trotz seiner Anleihen tunlichst gegenüber Rickerts wertphilosophischen Grundlegungsrahmen distanzierte. Die Frage, inwiefern Webers ›Wissenschaftslehre‹ aus diesen Gründen als systematisch ungenügend und »lacking in philosophical sophistication« (Hekman 1983: 1) abgetan werden kann, muss zumindest so lange offen belassen werden, als nicht geklärt ist, ob er eventuell an Argumentationsfiguren anderer philosophischer Quellen angeknüpft oder gar aus systematischen Gründen auf spezifische Fragen bewusst keine Antworten gegeben hatte. Es scheint hilfreich, sich dieser Frage anzunähern, indem man zunächst Webers Bezugnahme auf Rickerts Begriffstheorie zur Vermittlung der gesetzeswissenschaftlichen und idiographischen Forschungsrichtung genauer analysiert. Dabei tritt zutage, dass Weber gleich beiden methodologischen Standpunkten ein inadäquates Verständnis des Verhältnisses von ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ vorhielt. Bei näherem Hinsehen offenbart sich in der von Weber entwickelten Alternativkonzeption die Zugrundelegung eines (neu)kantianischen Evaluationskriteriums. Zunächst lehnte er die Voraussetzungen einer begriffsrealistischen Abbildtheorie, die er einigen Vertretern der Schmoller-Schule unterstellte, vehement mit dem Hinweis ab, dass demjenigen, der »den Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre: daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können, zu Ende denkt« (GAWL: 207), die Idee, dass der Sinn von Begriffen in ihrer Repräsentationsfunktion des Realen liegt, sinnlos erscheinen müsse. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits Rickert und Simmel als Kritiker des ›historischen Realismus‹ hervorgetan. Dass sich Weber in dieser Frage sehr eng an Rickert hielt, manifestiert sich in der zum Teil wortgetreuen Übernahme von dessen Schilderung der ›Wirklichkeit‹ und der damit zusammenhängenden epistemologischen Folgerungen.

WEBERS BEGRÜNDUNG DER ›W IRKLICHKEITSWISSENSCHAFT‹ | 289

In ›Roscher und Knies‹ beschrieb Weber die Realität als eine »extensiv und intensiv unendliche Mannigfaltigkeit« (ebd., 4), die in ihrer vollen Konkretion wissenschaftlich nicht erfassbar sei. Wiederum unisono mit Rickert relativierte sich für Weber der Unterschied der beiden streitenden Begriffstheorien von einem vermeintlich ontologisch bedingtem zu einem des jeweils vorliegenden formalen Interesses. Ohne Übertreibung könnte man sogar resümieren, dass Weber in der Frage der Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften direkt Rickerts Theorem der ›Wertbeziehung‹ erneuerte, das bei diesem als Instrument zur Lösung der ›Auswahlproblematik‹ fungiert hatte. Unkritisch übernahm Weber auch Rickerts Verdikt über Diltheys angeblicher Ontologisierung der Abgrenzungskrite21 rien (ebd., 12). Im Rahmen von Webers Beschreibung des Verhältnisses von Begriff und Wirklichkeit stößt man darüber hinaus auch auf die von Rickert geprägten Konzepte von ›Kultur‹ als eines »Wertbegriff(s)« (ebd., 175) sowie der Definition der Sozial- und Kulturwissenschaften als »Wirklichkeitswissenschaften« (ebd., 170). Die Frage, inwiefern Webers Inkorporierung Rickertscher Argumentationsfiguren gleichwohl deren ursprünglichen theoretischen Sinngehalt, den sie bei ihrer Geburt von Rickert in die 22 Wiege gelegt bekamen , verfremdete, wird sich in unserer folgenden Darstellung beantworten müssen. Einen ersten Schritt zur Beantwortung dieser bereits eingangs gestellten Frage nach der Eigenständigkeit von Webers ›Wissenschaftslehre‹ gehen wir über die Erkundung solcher Theoreme und Konzeptionen, unter deren Zugrundelegung Weber sich insbesondere von seinem philosophischen Gewährsmann Rickert distanzierte und welche anderen philosophischen Gedankenkreisen entstammten. Wir können dazu zunächst den von Weber selbst gelegten Fährten nachfolgen. Als ein signifikanter Hinweis wäre hier auf die von Weber gegenüber Rickert hervorgehobene Bedeutung des ›Verstehens‹ für die wirklichkeitswissenschaftliche Erkenntnis zu verweisen. Weber ersah in Rickerts Annahme der »prinzipiellen Unzugänglichkeit fremden Seelenlebens« (ebd., 12) eine überflüssige und sachlich unangemessene Verkürzung der 21 Auf einem Missverständnis beruht die Auffassung McNarons, dass »Dilthey and Weber agree that the social and natural sciences are distinct by virtue of subject matter and method« (1999: 105). 22 Einen überschaubaren und konzisen Überblick über Webers Adaption von Rickerts Konzepten bietet Merz (1990: 227ff.). Er kommt zu dem Ergebnis, dass Weber Rickert nicht nur in konzeptueller Hinsicht eng gefolgt ist, sondern auch in »der Art, in der Weber zu Fragen der wissenschaftlichen Begriffsbildung argumentiert« (ebd., 258). Konkret begründet Merz: »Offenkundig teilt Weber damit neben der Konzeption des Verhältnisses von Begriff und Wirklichkeit und dem Begriff des Erkennens mit Rickert auch die von diesem erschlossene Begründung des Erkennens überhaupt« (ebd., 267). Gleichwohl muss man gegenüber Merz’ Darstellung einwenden, dass er jene Stellen, an denen sich Weber von Rickert abgrenzte und welche in dem vorliegendem Rekonstruktionsversuch zum Anknüpfungspunkt gewählt werden, ignoriert.

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methodologischen Spezifik des nichtnaturwissenschaftlichen Erkenntnisbereichs (ebd., 13). Die systematische Relevanz, welche verstehenstheoretischen Darlegungen in Webers Grundlegungsansatz zuzuschreiben ist, ergab sich dabei, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, keineswegs nur aus deren interpretationstheoretischer Signifikanz. Anhand von Dilthey als auch Simmel wurden bereits zwei zeitgenössische Grundansätze vorgestellt, in denen der Verstehensbegriff als Index für einen spezifischen Zugang und somit einer bestimmten Qualität des geistes- und sozialwissenschaftlichen Zugangs zu ›Wissen‹ firmierte. Webers Adaption dieser Begrifflichkeit darf vor diesem Hintergrund weder in dem Maße als theoretisch unschuldig, noch als Webers genuine methodologische Innovation der soziologischen Methodik aufgefasst werden, wie es innerhalb der We23 ber-Rezeption die Regel scheint. Es soll hier nicht der vorgreifende Eindruck geweckt werden, dass Weber schon aufgrund des bloßen Verweises auf die Bedeutung des ›Verstehens‹ etwa den ursprünglichen neukantianischen Begründungsrahmen mit dem lebensphilosophisch-hermeneutischen Diltheys einfach eintauschte oder gar, wie Johannes Weiß angedeutet hat, dass »die Webersche ›verstehende Soziologie‹ [...] genau die durch die Diltheysche ›Kritik der historischen Vernunft‹ hindurchgegangene Gestalt 24 dieser Wissenschaft (repräsentiert)« (1992b: 355). Vielmehr bedarf es auch in dieser Frage zunächst einer werkgenetischen Rückbindung an diejenigen philosophischen Ideenträger, von denen Weber hier offenkundig gelernt hatte. Darüber hinaus muss auch geprüft werden, welcher Art das 25 ›Verstehen‹ bei Weber beschaffen war und welche theoretischen Funkti23 Merz hat in einer Auseinandersetzung mit der Deutungsgeschichte des Weber-Rickert – Verhältnisses geschlossen, dass sich in der Frage nach den »Gesichtspunkten, an denen eine Veränderung der Rickertschen Position sichtbar werden soll«, »während der langen Diskussionszeit (k)eine eindeutige Antwort herauskristallisiert« habe und sich hier ebenso wenig »eine gewisse Systematik erkennen« lasse (1990: 52). Mit spezifischem Bezug auf die im Zuge der seit einigen Dekaden zu beobachtenden Verbreitung interpretativer Paradigmen in den Sozial- und Kulturwissenschaften festzustellende »Hypostasierung der Verstehensproblematik« gab Merz kritisch zu bedenken, dass durch diese Entwicklung die Gefahr, Webers Verstehenslehre aus seinem gesamten Begründungsrahmen zu entreißen, gestiegen ist (ebd., 41ff.). 24 Ähnlich resümierte bereits Wanstrat, dass Diltheys »Wunsch«: »›der Gesamtzusammenhang, welcher die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit ausmacht, muß Gegenstand einer theoretischen Betrachtung werden, welche auf das Erklärbare in diesem Zusammenhang gerichtet ist‹«, »in der Wissenschaftslehre Max Webers zu einem großen Teil ihre Erfüllung gefunden (hat)« (1950: 31). Vgl. auch Parsons (1937: 484f.) und Ricœur (1973: 118) sowie die diesbezüglichen Diskussionen bei Prewo (1979: 157) und Merz (1990: 39ff.). 25 Bereits in den Ausführungen zu Simmel mussten wir bemerken, dass Simmels Verstehenskonzeption nicht mit demjenigen der philosophischen Hermeneutik gleichzusetzen war.

WEBERS BEGRÜNDUNG DER ›W IRKLICHKEITSWISSENSCHAFT‹ | 291

onen es im Rahmen von Webers Axiomatik der Kulturwissenschaft zugewiesen bekam. In jedem Fall halten wir es für angebracht, Webers kritischem Hinweis auf die Notwendigkeit des Hinausgehens über den Rickertschen Ansatz zu folgen und nehmen seine Verstehenslehre zum Ankerpunkt der folgenden Rekonstruktion seiner Wissenstheorie.

Webers Verstehenslehre In Kontrast zum Hauptstrom der Weberexegese hob Merz die bereits angedeutete doppelte Rolle, die man der Verstehenslehre innerhalb von Webers Gesamtsystematik zuweisen kann, hervor: »einmal als Vorgehen innerhalb des durch den methodologischen Rahmen gesetzten Spektrums an Möglichkeiten zur Begriffsbildung [...] und das andere Mal als besondere Variante der substantiellen Erschließung von Wirklichkeit« (1990: 45). In diesem Sinne können wir also mit Merz zwischen einer methodologischen und einer gegenstandstheoretischen Relevanz des Verstehenskonzepts bei Weber unterscheiden. Wir möchten Merz darüber hinaus auch in seinem Hinweis folgen, dass diese Trennung einem analytischen Interesse entspringt und dass bei Weber beide Aspekte eigentlich auf »eine Wurzel« (ebd.) zurückführen seien. Letzterer gilt es im Folgenden nachzuspüren. Bei dieser Suche wird man zunächst auf Webers, als ›Studie zu Karl Knies‹ ausgewiesene, Abhandlung verwiesen, die sich, entgegen ihrer Ankündigung im Titel, primär mit anderen Autoren auseinander setzte – und zwar vorwiegend mit solchen, die um eine Aufhellung der Voraussetzun26 gen des ›Verstehens‹ bemüht waren. In Webers Blickpunkt standen daher insbesondere Simmel, Gottl, Münsterberg, Lipps, Wundt und Croce. Das für Weber entscheidende Relevanzkriterium lag in deren jeweiligen Erfolgen, die logisch-methodologische Verwertung der Kategorie des ›Verstehens‹ für kulturwissenschaftliche Einzelgebiete evaluiert zu haben (GAWL: 92f.). Ausdrücklich hob er Simmels ›logische‹ Einsichten sowie Gottls ›methodologische‹ Erkenntnisse zum ›Verstehen‹ als bedeutend heraus. Webers Interesse an den methodologischen Beiträgen Lipps und Croces erklärt sich aus deren Anwendung des verstehenden Zugangs auf das Gebiet der Ästhetik (ebd., 93). Ein Teil der Weber-Exegeten erblickt in den Theoretikern, mit denen sich Weber in der ›Wissenschaftslehre‹ auseinandergesetzt hatte, lediglich Stellvertreter für die eigentlichen Kontrahenten im Hintergrund: So stünden etwa Roscher und Knies als Generalvertreter des Hegelianismus, Stammler repräsentiere den Marxismus und Croce und Wundt fungierten als Adepten von Diltheys Psychologis26 Einige wenige Interpreten haben von daher nicht zu unrecht das Hauptmotiv von Webers ›Knies-Studie‹ in der Erarbeitung einer Theorie der Deutung erblickt. Siehe hierzu die Ausführungen bei Morikawa (2001: 243).

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mus. Gegen die in dieser Interpretation zum Ausdruck kommende Überbewertung eines genuin philosophischen Interesses Webers kann ins Feld geführt werden, dass sich aus einer ex-negativo – Bestimmung heraus die eigentümliche Gestalt von Webers Wissenschaftsbegriff noch nicht hinreichend bestimmen lässt. Darüber hinaus würde ein solchermaßen einseitiger Definitionsversuch nicht in der Lage sein zu klären, wie etwa Webers positive Stellungnahme zur ›Herrschaft des Wortes‹ Friedrich Gottls (ebd., 28 4) , die in zentralen Punkten eher Affinität zu Denkfiguren Diltheys als zum Neukantianismus aufwies – was Weber im Übrigen durchaus bemerkt hatte (ebd., 34) –, mit der Unterstellung von Webers genereller Ablehnung der Diltheyschen Philosophie zu vereinbaren ist. Webers verstehenstheoretische Erörterungen zählen, gemeinsam mit den damit zusammengehörigen Stellungnahmen zur Theorie der ›Erklärung‹, zu denjenigen Themen, in denen Weber sich nicht nur am weitesten von Rickert entfernte, sondern auch zu den originellsten und souveränsten Beiträgen Webers zur Methodologie der Sozialwissenschaften überhaupt. Auch seine geradezu habitualisierten Verweise auf die ›üblichen Verdächtigen‹ – sei es Rickert im Hinblick auf die Abgrenzungsproblematik und Begriffsbildungslogik oder Simmel und Gottl bezüglich der Verstehenstheorie – dürfen über den wahren Anspruch, für den Webers verstehenstheoretische Äußerungen eintraten, nicht hinwegtäuschen. Sie sind in dem Sinne elementar für die Gesamtkonzeption von Webers Wissenschaftskonzeption, insofern sie sowohl mit der von Weber konstatierten »transzendentalen Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft« (ebd., 180) als auch mit dem spezifischen Ertrag von Webers Methodologisieren, nämlich der 29 ›Idealtypenlehre‹, in enger Verbindung stehen. Es wurde zurecht bemerkt, dass – um mit Johannes Weiß zu reden – die »tiefer reichenden philosophischen, das heißt vor allem erkenntnistheoretischen, ethischen oder gar ontologischen Fragen, die in früheren Abhandlungen in den Blick genommen und angesprochen worden waren« (1994: 515), in den Spätschriften und auch in den resümierenden ›Soziologischen Grundbegriffen‹ aus ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ getilgt und überdeckt wurden. Von daher sind wir dazu angehalten, insbesondere in Bezug auf die Grundannahmen von Webers Verstehenstheorie bei ›Roscher und Knies‹ zu verweilen.

27 Siehe Bruun (1972: 35), Merz (1990: 242) sowie Schluchter (1998: 82f.). Kritisch dazu Morikawa (2001: 244f.). 28 Siehe hierzu allgemein Morikawa (2001: 2ff.). 29 Insbesondere die Beziehung zwischen Verstehenskonzeption einerseits und idealtypischer Begriffsbildung andererseits ist keineswegs eine einfache und direkt herzustellende – wie Merz (1990: 415ff.) als einer der Wenigen bemerkt hat. Auch Weber hat sie nirgendwo ausdrücklich beschrieben. Wir können an dieser Stelle vorgreifend bemerken, dass wir hier bereits eine ähnliche paradox anmutende Konstellation vorliegen sehen, wie sie uns bereits bei Simmel begegnet ist.

WEBERS BEGRÜNDUNG DER ›W IRKLICHKEITSWISSENSCHAFT‹ | 293

Webers methodologisches Erstlingswerk genießt unter den Experten aufgrund dessen Strukturlosigkeit und Unabgeschlossenheit einen ausgezeichnet schlechten Ruf. Man könnte jedoch zeigen, dass hierin in der Tat bereits fast sämtliche der in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ festgeschriebenen ›Methodologischen Grundlagen‹ der ›verstehenden Soziologie‹ zumindest vorbereitet wurden. Unverzichtbar ist diese Quelle in jedem Fall für eine im Folgenden anzustrengende Ermittlung der systematischen Gründen, die – um Webers bekannte Allegorie zu variieren – ihn dazu bewogen haben mochten, den »›sicheren Hafen‹« (GAWL: 206) der Rickertschen Begriffsbildungsphilosophie zu verlassen und sich stattdessen in die unsicheren Gewässer der Verstehenstheorie zu begeben. Gemäß der oben eingeführten analytischen Unterscheidung zwischen der spezifisch methodologisch-begriffsbildungstheoretischen Funktion des ›Verstehens‹ einerseits und der dieser vorausliegenden allgemeineren, wissensfundierenden Relevanz andererseits, soll nun zunächst die Frage diskutiert werden, inwiefern Weber mit Rekurs auf die menschliche Fähigkeit des ›Verstehens‹ die Möglichkeit der Etablierung einer ›verstehenden Kulturwissenschaft‹ verband. Den folgenden Argumentationsgang vorwegnehmend, soll also demonstriert werden, dass Weber – ähnlich wie Simmel – einen originellen Mittelweg zwischen dem lebensphilosophischen Grundanliegen Diltheys einerseits und der wertphilosophischen Systematik andererseits eingeschlagen hatte. Insbesondere das Unterfangen, Familienähnlichkeiten zwischen der Weberschen Systematik zu Diltheys Axiomatik nachzuweisen, bedarf einiger interpretatorischer Umwege und muss sich gegenüber der dominierenden Auffassung, dass sich Weber explizit gegen Dilthey auf die Seite der Neukantianer geschlagen habe, rechtfertigen (vgl. Kim 2002: 477ff.). Weber hatte sich mit Dilthey an keiner Stelle eingehend beschäftigt. Man findet lediglich in Fußnoten einzelne Hinweise. In der Regel erwähnte Weber den Namen Diltheys, um sich sogleich in Distanz zu ihm zu positionieren (ebd., 12). Man kann sich auch mit Recht darüber beklagen, dass Weber es ausdrücklich unterließ, sich auf philosophische Erläuterungen und Ableitungen seines Verstehensbegriffs einzulassen und sich stattdessen damit begnügte, »dessen Möglichkeit gleichsam als ›selbstverständlich‹« (Lichtblau 1994: 550) vorauszusetzen. Diese Umstände machen es in der Tat schwierig, zum philosophischen Kern von Webers ›Wirklichkeitswissenschaft‹ vorzustoßen. Dennoch finden wir in ›Roscher und Knies‹ in einer leicht überlesbaren Fußnote einen wichtigen Hinweis: »die Geschichte (ist) in ihrer Eigenart möglich, weil und soweit wir Menschen zu ›verstehen‹ und ihr Handeln zu ›deuten‹ vermögen« (GAWL: 101f.). Im ›Objektivitätsaufsatz‹ findet sich Webers weitaus bekanntere Erklärung der Bedingung der Möglichkeit »aller Kulturwissenschaft«, welche zu der vorgenannten Passage parallel gelesen werden kann: »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist [...], daß wir

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Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen« (ebd., 180). Diese oft zitierte Stelle wird in der Regel als Beleg für Webers Nähe zur wertphilosophischen Grundlegung kulturwissenschaftlicher Erkenntnis Rickerts herangezogen. In Tandem mit der zuvor angeführten Formulierung aus ›Roscher und Knies‹ könnte man sie jedoch ebenso als Hervorhebung der menschlichen Fähigkeit zum ›Verstehen‹ als der basalsten Voraussetzung der Sozial- und Kulturwissenschaften interpretieren. Obgleich sich Weber – unter Berufung auf Rickert – gegen eine Ontologisierung des Abgrenzungskriteriums von Geistes- und Naturwissenschaften richtete, für die neben Dilthey auch Gottl und Münsterberg einstanden, betonte er zugleich, dass das ›Verstehen‹ ein »Spezifikum« darstelle, »welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen« (ebd., 13). Webers Standpunkt lässt sich darin resümieren, dass er es zum einen für unmöglich erachtete, die Besonderheit der geisteswissenschaftlichen Zugangsweise zu ihrem Gegenstandsgebiet unter Rekurs auf ontologische Kriterien zu begründen. Zum anderen erachtete er es wohl für angemessen, deren Vorteil gegenüber den Naturwissenschaften auf der Grundlage der Deutbarkeit menschlichen Handelns, also methodologisch, zu behaupten. Am deutlichsten kommt dieser Zug in folgender Wendung aus ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ zum Vorschein, in welcher man liest: »Wir sind ja bei ›sozialen Gebilden‹ (im Gegensatz zu ›Organismen‹) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller ›Naturwissenschaft‹ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen« (WuG: 7).

Ruft man sich zurück ins Bewusstsein, dass Dilthey selbst den Vorzug der Geisteswissenschaften gegenüber der Naturbetrachtung keineswegs ontologisch in dem ihm von Rickert, Weber und anderen unterstellten Sinne rechtfertigte, sondern explizit auf die Art der Gegebenheit fremder Subjektivität – »Wie anders ist uns Seelenleben gegeben!« (GS V: 165) – abhob, so erscheint hier Weber indirekt der Diltheyschen Position zunächst näher als derjenigen Rickerts (vgl. Weiß 1992b: 362). Indem wir zunächst Webers verstehenstheoretische Position anhand seiner Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Autoritäten bezüglich der Methodik des Verstehens extrapolieren, soll die eigentümliche Bewandtnis des ›deutenden Verstehens‹ für Webers Konzeption der Kulturwissenschaften sowie auch seine Position zu Diltheys Hermeneutik deutlicher hervortreten. Webers Einwürfe lassen sich im Hinblick auf unsere

WEBERS BEGRÜNDUNG DER ›W IRKLICHKEITSWISSENSCHAFT‹ | 295

Fragestellung um einen kleinen Komplex von Problemen gliedern. An erster Stelle rangiert dabei Webers Verhältnisbestimmung von ›Erleben‹ und ›Verstehen‹, woran sich systematisch die zentrale Frage nach der Beziehung zwischen ›Verstehen‹ und (wertbeziehender) ›Begriffsbildung‹ anschließt. Mit Verstehen und Begriffsbildung sind scheinbar zwei konkurrierende und inkompatible Modelle der Erkenntniskonstitution angesprochen, die bereits in Simmels Wissenstheorie zwei Enden eines theoretischen Spannungsbogens konstituierten und sorgfältig gegeneinander abgewogen werden mussten. Der im Folgenden zu entwerfende Zusammenhang soll – wie man resümieren könnte – Aufschluss über Webers Konzipierung des Übergangs von der ›Praxis‹ zur ›Theorie‹ geben.

1. ›Erleben‹ und ›Verstehen‹ Weber markierte eingangs seiner genuin verstehenstheoretischen Darlegungen im ›Knies-Aufsatz‹ eine gewichtige Unterscheidung im Hinblick auf den Begriff der ›Deutung‹. Diese Kategorie zeige demzufolge »ein doppeltes Gesicht« (GAWL: 89). Zum einen könne sie eine »Anregung zu einer bestimmten gefühlsmäßigen Stellungnahme sein wollen«, zum anderen könne ›Deutung‹ eine »Zumutung eines Urteils im Sinn der Bejahung eines realen Zusammenhanges als eines gültig ›verstandenen‹« aussprechen (ebd.). Worauf es Weber hier ankam war die Beschränkung der für ihn wissenschaftlich allein angemessenen Deutungsform auf die zweite der hier angebrachten Bedeutungen, die er auch als »kausal erkennende ›Deutung‹« (ebd.) auswies. Damit sonderte Weber implizit diejenige Bedeutungsdimension des ›Verstehens‹, die bei der Begründung einer philosophischen Hermeneutik zentral war, aus seiner Perspektive aus. Explizit tat er dies in der Anmerkung, dass für seine Fragestellung »die Arbeiten von Schleiermacher und Boeckh über die ›Hermeneutik‹ nicht in Betracht (kommen), da sie nicht erkenntnistheoretische Ziele verfolgen« (ebd., 91). Webers verstehenstheoretisches Hauptanliegen in ›Roscher und Knies‹ muss u.E. darin gesehen werden, ein methodisch kontrolliertes ›Verstehen‹ von intuitionistischen Konnotationen des Verstehensbegriffs strikt zu sepa30 rieren. Daraus erklärt sich die Themen- und Autorenauswahl wie auch die beklagte Unstrukturiertheit des ›Knies-Aufsatzes‹. Die oben aufgezählten Autoren standen in Weber jeweils für unterschiedliche Varianten der Vermischung dieser beiden Deutungsformen, die nun skizzenhaft rekapituliert werden sollen. Die von Weber eingebrachte wissenschaftliche Erkenntnisform der ›kausalen Deutung‹ verbindet zwei Konzepte, die in der Regel als zu ge30 Lichtblaus (1994: 550) eingeworfene Frage nach den wissenschaftsgeschichtlichen Gründen, welche nicht Simmel, sondern Max Weber als Begründer der verstehenstheoretisch ausgerichteten Sozialwissenschaften aus sich hervorgehen ließen, ist vor diesem Hintergrund mehr als berechtigt.

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gensätzlichen erkenntnistheoretischen Denkrichtungen zugehörig aufgefasst werden. Diese Eigenart kommt noch markanter in Webers berühmter Definition von Soziologie zum Ausdruck, in der ›Erklären‹ und ›Verstehen‹ in ein und dasselbe Erkenntnismodell inkorporiert werden (WuG: 1). Das wissenschaftstheoretische Ideal der ›Kausalerklärung‹ kann man ideengeschichtlich dem mechanistisch-naturwissenschaftlichen Wissen31 schaftsbegriff subsumieren , während dem ›Verstehen‹ als genuinem und mit eigenem Anspruch auftretenden Erkenntnisideal zu Webers Zeit noch deutlich die Nachwehen einer schweren Geburt nachzuspüren waren. Droysen ist wohl das Verdienst zuzurechnen, das ›Verstehen‹ als spezifische Zugangsmethode der Geisteswissenschaften wissenschaftstheoretisch 32 eingeführt zu haben. In Knies begegnete Weber einer Systematisierung der auf dem Gebiet der Nationalökonomie relevanten Konstituentien der Erkenntnis unter Bezugnahme auf das Gegensatzpaar Erklären/Verstehen, die nach Auffassung Webers stellvertretend für andere zeitgenössische Autoren stand und die er aus methodologischen Gründen als untragbar angriff. Knies hatte die durch die mechanistische Kausalität des Naturgeschehens bedingten Faktoren des Wirtschaftslebens auf der einen Seite von den, durch die dem Menschen eigentümliche Willensfreiheit determinierten, irrational-individuellen Handlungen der Akteure unterschieden (GAWL: 45f.). Webers Kritik richtete sich zunächst gegen Knies’ Schlussfolgerung von der Willensfreiheit auf die spezifische Irrationalität des menschlichen Handelns oder der menschlichen ›Persönlichkeit‹ (ebd., 64). Weber drehte Knies’ Zuordnungen schlicht um, indem er anhand diverser konkreter Beispiele aufzeigte, dass die »›Berechenbarkeit‹ von ›Naturvorgängen‹ in der Sphäre von ›Wetterprophezeiungen‹ etwa nicht entfernt so ›sicher‹ (ist) wie die ›Berechnung‹ des Handelns einer uns bekannten Person, ja, sie ist einer Erhebung zur gleichen Sicherheit auch bei noch so großer Vervollkommnung unseres nomologischen Wissens gar nicht fähig« (ebd., 64f.).

Im Einzelnen demonstrierte Weber, dass das vermeintliche Ideal einer naturwissenschaftlichen Kausalerklärung im Sinne der Angabe eines kausalen Notwendigkeitsurteils für einen konkreten Einzelfall in den Naturwissenschaften »nicht etwa die Regel, sondern die Ausnahme (ist)« (ebd., 66). In logischer Hinsicht bestehe folglich bezüglich der Möglichkeit von Kausalerklärungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften kein prinzi31 Siehe zur Geschichte des Erklärungsmodells die Ausführungen bei Lichtblau (1994: 543f.). 32 Bezeichnenderweise finden sich in der ›Wissenschaftslehre‹ keine Bezugnahmen auf Droysen. Implizite Bezüge hat die Studie von Barrelmeyer (1997) herausgestellt.

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pieller Unterschied (ebd., 69). Jedoch ergab sich ein solcher in qualitativer Hinsicht aufgrund der spezifischen Zugänglichkeit zu den Motiven von Individuen über das ›Verstehen‹, woraus Weber die Schlussfolgerung ableitete: »individuelles Handeln ist, seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht – prinzipiell spezifisch weniger ›irrational‹ als der individuelle Naturvorgang« (ebd., 67). Webers nächster Begründungsschritt richtete sich gegen solche Klassifizierungsvorschläge der Wissenschaften, welche aufgrund der besonderen Erkenntnisqualität der verstehenden Disziplinen voreilig auf einen ausgezeichneten ontologischen Objektbereich schlossen. Als Paradefall einer solchen Wissenschaftstheorie diskutierte er Münsterbergs ›Grundzüge der Philosophie‹. Münsterberg eröffnete einen dualistischen Gegensatz zwischen der aktuell erlebten Welt, in der das Subjekt immer schon zugleich ›stellungnehmend, bewertend, beurteilend‹ begriffen ist, auf der einen Seite und der davon zu distinguierenden objektiven Welt, in der schlicht ›wahrgenommen‹ werde und welche allein das Gebiet von Wissenschaft darstellen könne, auf der anderen Seite (ebd., 72f.). Münsterberg schob den beiden unterschiedlichen Erkenntnisbereichen jeweils konstitutive Erkenntnismodi unter, wobei die »›gelebte‹ Welt« (ebd., 72) verstanden und einfühlend nacherlebt würde, während die Wissenschaft erkläre, was für Münsterberg die Anwendung von Erkenntnismitteln wie ›Begriffe‹ und ›Gesetze‹ rechtfertigte (ebd., 74). Die historischen Wissenschaften wurden vor dem Hintergrund dieser Dichotomie als »subjektivierende Wissenschaften« von den »objektivierenden Disziplinen« separiert, weil es ihnen darauf ankäme, die volle Realität nachzuerleben (ebd., 74f.). Der für Weber entscheidende Anstoßpunkt in Münsterbergs Abgrenzungsphilosophie bestand nun in dessen Beharrung, dass von den subjektivierenden Wissenschaften »keine Brücke zu den Mitteln des objektivierenden Erkennens« (ebd., 75) führe und folglich die Möglichkeit von Kausalerkenntnis für die historischen Wissenschaften grundsätzlich ausgeschlossen sei (ebd., 77). Weber hielt Münsterberg entgegen, »daß die Geschichte sich ja doch keineswegs nur auf dem Gebiet jener ›Innenseite‹ bewegt, sondern die ganze historische Konstellation der ›äußeren‹ Welt als einerseits Motiv, andererseits Ergebnis der ›Innenvorgänge‹ der Träger historischen Handelns ›auffaßt‹« (ebd., 78).

Weiter hören wir von Weber: »Denn sie behandelt eben nicht den im Menschen durch gewisse ›Reize‹ ausgelösten Innenvorgang um seiner selbst willen, sondern das Verhalten des Menschen zur ›Welt‹, in seinen ›äußeren‹ Bedingungen und Wirkungen« (ebd., 83). Webers Gegenargument bestritt die Anwendbarkeit von Münsterbergs engen Grenzziehungen und Begriffsmarkierungen zwischen zwei unterschiedlichen Erkenntnisarten auf das Gebiet der Kulturwissenschaften. Er demonstrierte, dass der Erklä-

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rungsanspruch der historischen Wissenschaften keineswegs einseitig oder primär auf psychologische Hintergründe von Handlungen gerichtet war, sondern vielmehr auch auf deren »›äußeren‹ Bedingungen und Wirkungen«. Das Resultat dieser Auseinandersetzung mit Münsterberg findet sich schließlich auch in Webers prominenter Abgrenzungsstrategie der soziologischen Erklärung gegenüber jedweder Psychologie in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ dokumentiert (WuG: 10). Nachdem er anhand seiner Knies-Kritik die logische Möglichkeit von Kausalerklärung in den historischen Wissenschaften bereits demonstriert hatte, brachte ihm die Konfrontation mit Münsterbergs Wissenschaftsklassifikation die Einsicht, dass in gegenstandstheoretischer Hinsicht keine Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer kategorischen Trennung von subjektivierenden und objektivierenden Erkenntnismethoden für die Kulturwissenschaften bestand. In einer kausal verstehenden Erklärung im Sinne Webers waren beide Erkenntnismodi mit unterschiedlichem Gewicht – je nach dem konkret vorliegenden Forschungsinteresse – involviert. Die logische Autonomie des ›deutenden Verstehens‹ verteidigte Weber gegenüber psychologistisch-intuitionistischen Verklärungen, die eine Anwendung des ›Verstehens‹ auf bestimmte Erkenntnisbereiche beschränken oder aber auch übertreiben wollten. Angeregt durch Simmels Unterscheidung zwischen ›sachlichem‹ und ›psychologischem‹ Verstehen, nahm Weber nunmehr einige ›Korrekturen‹ an verbreiteten Begriffsbestimmungen des ›Verstehens‹ vor. So bezweifelte Weber gegenüber Simmel, dass ›sachliches Verstehen‹, wie Simmel behauptete, ausschließlich an intellektualisierten Wissensformen – Wissenschaft, Kunstgebilde, Literatur etc. – zur Anwendung käme (GAWL: 93f.). Weber belegte anhand des Beispiels des »Aufnehmens und Befolgens eines Kommandos«, dass sachliches Verstehen ebenso auf der Ebene des »wirklichen Lebens« regelmäßig anzutreffen sei (ebd., 94). Er nahm überdies Anstoß an Simmels »psychologischer Beschreibung« dieser Erkenntnisform als eine Art des Nachbildens der Seelenvorgänge des Sprechenden, welcher gegenüber er konterte, dass damit der logische Charakter der wissenschaftlichen Deutung verfehlt würde. Für Weber war also Simmels ›sachliches Verstehen‹ ein alltägliches Phänomen. Nun führte Weber weiter aus, dass wir es mit »diesem ›aktuellen‹ Verstehen bei unserer ›Deutung‹ nicht zu tun haben« (ebd., 94f.). ›Deutung‹ trete im Grunde aus forschungspragmatischen Gründen in den Dienst der Wissenschaft, nämlich genau an den Punkten, wo der Sinn einer Äußerung nicht unmittelbar und aktuell verstanden werden kann. Eine ›Deutung‹ von persönlichen Motiven und psychologischen Dispositionen wäre dann dazu geeignet, jene Verständnislücken zu schließen. Anknüpfend an Friedrich Gottls Verstehenstheorie beabsichtigte Weber schließlich zeigen zu wollen, »worin die erkenntnistheoretische Bedeutung der ›Deutbarkeit‹ nicht besteht« (ebd., 95). Gottl hatte – wie Müns-

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terberg – einen methodologischen Dualismus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vertreten. Das historische Erkennen beschrieb er als ein ›Erschließen‹ des zu Erkennendem in dem Sinne, dass der Sinn menschlicher Handlungen rekapituliert würde. An Gottls Ansatz beanstandete Weber zuvorderst dessen Einschränkung, dass alle historischen Begebenheiten, die außerhalb des durch »›logische‹ Denkgesetze erfassbaren« Zusammenhangs des zu schildernden Ereignisses standen, prinzipiell »als bloße ›Verschiebung‹ der ›Bedingungen‹ des sie allein interessierenden menschlichen Handelns« aus der wissenschaftlichen Erklärung eskamotiert wurden (ebd., 99). Die von Gottl hier vorgenommene logische Gleichsetzung von ›deutendem Verstehen‹ und ›logischem Schließen‹ hielt Weber für verfehlt (ebd., 100). Sie sei nicht zuletzt dadurch widerlegt, dass wir »nun einmal das irrationale Walten der maßlosesten ›Affekte‹ genau 33 so gut wie den Ablauf rationaler ›Erwägungen‹ ›verstehen‹« (ebd.). Weber nahm Gottls Auffassung auch zum Anlass, um auf den von diesem völlig übersehenen Tatbestand hinzuweisen, dass »die ›Deutung‹ natürlich keineswegs ausschließlich im Wege einer von ›Objektivierung‹ freien Anschaulichkeit und einer einfachen Nachbildung entstanden zu denken ist« (ebd., 102). Mit anderen Worten, Weber gab seinen philosophischen Kollegen zu bedenken, dass ›deutendes Verstehen‹ kein Zugang ist, der sich, unter Ausklammerung äußerer Bedingungen, ausschließlich auf innere Zusammenhänge beschränkt, sondern, dass hier – ebenso wie in den Naturwissenschaften – ständig eine »›Kontrolle‹ durch ›Erfahrung‹«, welche sich häufig in ›Regeln‹ sedimentierten, und also eine Kontrolle über nichtimmanente Kriterien am Werke ist (ebd.). Die Geisteswissenschaften unterschieden sich in den Augen Webers auch in dieser Hinsicht keineswegs von den Naturwissenschaften, denn: »jede gültig-seinwollende Erkenntnis erlebbarer konkreter Zusammenhänge (setzt) ›Erfahrung‹ von logisch gleicher Struktur wie jede Bearbeitung der ›objektivierten‹ Welt voraus« (ebd., 103). Weber radikalisierte diese Einsicht zu der verstehenstheoretisch sehr belangvollen Hypothese, dass deutende Interpretation überhaupt erst dann einsetzen kann, nachdem ein Bruch mit der »dumpfen Ungeschiedenheit des ›Erlebens‹« vollzogen wurde bzw. »nachdem das Stadium des ›Erlebens‹ selbst verlassen ist und das Erlebte zum ›Objekt‹ von Urteilen gemacht wird« (ebd., 104).

33 Vgl. mit der späteren Feststellung in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹: »Aktuelle Affekte (Angst, Zorn, Ehrgeiz, Neid, Eifersucht, Liebe, Begeisterung, Stolz, Rachedurst, Pietät, Hingabe, Begierden aller Art) und die (vom rationalen Zweckhandeln aus angesehen:) irrationalen aus ihnen folgenden Reaktionen vermögen wir, je mehr wir ihnen selbst zugänglich sind, desto evidenter emotional nachzuerleben, in jedem Fall aber, auch wenn sie ihrem Grade nach unsre eignen Möglichkeiten absolut übersteigen, sinnhaft einfühlend zu verstehen und in ihrer Einwirkung auf die Richtung und Mittel des Handelns intellektuell in Rechnung zu stellen« (WuG: 2).

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Einen Ansatzpunkt zu dieser Differenzierung erkannte Weber in Lipps’ Verstehenstheorie, welche zwischen ›einfühlendem Verstehen‹ einerseits und ›intellektuellem Verstehen‹ andererseits eine Grenze zog. Dennoch monierte Weber auch an Lipps’ Konzeption, dass sie die Relation dieser Vorgänge missverstanden habe. Lipps zufolge ruhte der intellektuelle Nachvollzug eng auf dem nachfühlenden Vorgang auf, wobei hinzukommend das Bewusstsein, dass es die Merkmale einer fremden Person oder Situation und nicht die eigenen seien, bei ersterem hinzutrat. Weber konstatierte zunächst eher sporadisch, »daß auch das ›intellektuelle Verständnis‹ in der Tat ein ›inneres Mitmachen‹, also ›Einfühlung‹, in sich schließt, – aber, sofern es ›Erkenntnis‹ beabsichtigt und erzielt, ein ›Mitmachen‹ zweckvoll gewählter Bestandteile« (ebd., 107f.). Auch in dieser Stellungnahme entfernte sich Weber von allen, der traditionellen Hermeneutik verpflichteten, Grundmodellen, wie sie nicht nur von Gottl und Münsterberg, sondern auch von Dilthey als genuin geisteswissenschaftliche Methodik zu installieren versucht wurden. ›Verstehende Deutung‹ wird von Weber damit geradezu als diametraler Gegensatz zum ›hermeneutischen Verstehen‹ und als logisch eigenständige Erklärungsform etabliert. Webers Quintessenz, welcher zufolge Kausaldeutung logisch unabhängig vom individuellen Erleben sei, führte ihn konsequenter Weise zur Betrachtung des Zustandekommens dieser Deutungshypothesen sowie deren epistemologischer Natur. Wir können nunmehr besser nachvollziehen, weshalb Weber von Rickerts begriffstheoretischem Ansatz angezogen sein konnte. Denn Rickert ging von einer ähnlichen Ausgangskonstellation aus, wobei er diese weniger aus verstehenstheoretischen Erwägungen heraus beschrieb als aus einer spezifischen Grundauffassung über die (›Irrationalität‹ der) ›Wirklichkeit‹. Bei Rickert wurde das Problem der Begriffsbildung zur methodologischen Hauptangelegenheit erhoben. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Weber im ›Verstehen‹ – wiederum aus methodologischen (im Gegensatz zu ontologischen) Gründen – einen originären Erkenntnismodus erblickte, der eine entsprechende Sonderbezeichnung und eine Abgrenzung der ›verstehenden‹ Wissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften rechtfertigte. Damit stellte er sich insofern in Distanz zu Rickert, als dieser die Beziehung auf Werte als Konstitutionsbedingung einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung ausgezeichnet hatte. Webers systematische Stellung zur Abgrenzungsphilosophie Rickerts wird noch deutlicher in der Auseinanderlegung von Webers eigener Begriffsphilosophie.

2. ›Verstehen‹ und ›Werten‹ Im vorigen Abschnitt wurde herausgestellt, dass sich die Frage nach der Logik der Bildung von Begriffen bei Weber aus seiner Argumentation für

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die logische Eigenständigkeit des ›kausalen Verstehens‹ ergab. Per definitionem sollte ›Kausalverstehen‹ nicht ausschließlich ›innere‹ Aspekte hervorheben, sondern sich vielmehr – wie Weber sich in der oben zitierten Bemerkung ausdrückte – aus »zweckvoll gewählten«, äußeren »Bestandteilen« zusammenstellen. Insofern können wir schließen, dass Weber das Problem der Konstruktion von Begriffen nicht – oder doch zumindest nicht ausschließlich – auf Grund seiner von Rickert geerbten dualistischen Wirklichkeitskonzeption angehen musste, sondern dass es vielmehr verstehenstheoretische Gesichtspunkte waren, die ihn zu Rickert geführt ha34 ben mochten. Die Frage, wie sich Webers Begriffsbildungsphilosophie einerseits zur Rickertschen Position und andererseits zu den von ihm in ›Roscher und Knies‹ entwickelten verstehenstheoretischen Positionen verhielt, soll nun expliziert werden. Unsere hypothetische Antwort wird lauten, dass Webers Auflösung der Problematik der Begriffsbildung in Form seiner ›Idealtypenlehre‹ die von Rickert postulierte Trennung von Theorie und Praxis in einem Ausmaß aufhebt, das es erlaubt, von einer Pragmatisierung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Methodik zu sprechen. In problemgeschichtlicher Perspektive hatte Weber – wie oben ausgeführt – das ›deutende Kausalverstehen‹ aus einer forschungspragmatischen Dringlichkeit her eingeführt. Sie sollte an den Stellen Verständnislücken auffüllen, »wo die ›Alltagserfahrung‹ nicht ausreicht, denjenigen Grad ›relativer Bestimmtheit‹ der kausalen Zurechnung zu gewährleisten, welcher für die Deutung der Kulturerscheinungen im Interesse ihrer ›Eindeutigkeit‹ erforderlich ist« (ebd., 113). Zu diesem Zweck war also der Rekurs auf äußere Interpretamente geboten. Wir erkennen hier vorab, dass ›wissenschaftliches Verstehen‹ bei Weber in keinem direkten Zusammenhang zu einem identifizierenden Nachvollzug fremden Seelenlebens stand, sondern dass der ›subjektiv gemeinte Sinn‹ von Akteuren aus äußerlichen Begebenheiten (re)konstruiert werden musste. Die Rekonstruktion von ›Sinn‹ erklärte Weber schließlich auch zum zentralen Aufgabengebiet der ›verstehenden Soziologie‹. Johannes Weiß (1992a: 47) hat darauf hingewiesen, dass es in Webers verstehendem Ansatz der Kulturwissenschaften nicht – wie bei Rickert – um das Erfassen des ›objektiven‹ Sinns von Werten ging, sondern um den Nachvollzug von Sinn in einem grundlegend anderen Sinne als Rickert ihn 35 mit dem Bedeutungsgehalt von Werten identifiziert hatte. ›Sinn‹ im We34 An dieser Stelle erfüllt sich – wenn man so will – das oben formulierte Verdikt, dem zufolge sich die eigentlichen philosophischen Hintergründe, welche die Entwicklung von Webers Wissenschaftskonzept bewegt haben, allein aus den methodologischen Frühschriften rekonstruierbar seien. 35 Dass es bei Rickerts ›Verstehenstheorie‹ primär darum ging, den vermeintlich allein verstehbaren Gehalt von Werten zu deuten, geht aus folgender Formulierung hervor: »[...]die Erkenntnis der intelligiblen Welt (hat), um das Verstehbare umfassend zu gliedern, nach einem System der Werte zu suchen. Der Grund dafür ist der: Sinn und Bedeutung lassen sich nur mit Hilfe von

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berschen Verständnis war, so Weiß, stets bezogen auf eine »in der Lebenspraxis immer schon geübte Orientierungsform« (ebd., 46). Das Konzept der Wertbeziehung erhielt damit bei Weber eine im Vergleich zu Rickerts ›Kulturwissenschaft‹ restringiertere theoretische Funktion, was sich auch darin ausdrückte, dass der Sinn-Begriff bei Weber gelegentlich »als der allgemeinere gegenüber dem Wertbegriff auftritt« (ebd., 52). Es lässt sich sogar aufzeigen, dass Weber die Beziehung auf Werte zu einem Erkenntnismittel im Dienste des Sinnverstehens instrumentalisierte. Weber beschrieb das Vorgehen einer »wertbeziehenden Interpretation« (GAWL: 122) als eine weder historisch-empirisch, noch auf Kausalzurechnung ausgerichtete Operation, sondern als eine »geschichtsphilosophische Leistung« (ebd.). Ihr Interesse richtete sich nicht auf die konkreten Wertungen (im Sinne Rickerts) von individuellen Akteuren, sondern darauf, »was ›wir‹ in dem Objekt an Werten finden ›können‹« (ebd., 123). Der methodologische Zweck der Wertbeziehung für eine sinnverstehende Rekonstruktion ergab sich laut Weber daher, dass sie »den einzigen Weg darstellt, aus der völligen Unbestimmtheit des ›Eingefühlten‹ herauszukommen zu derjenigen Art von Bestimmtheit, deren die Erkenntnis individueller geistiger Bewußtseinsinhalte fähig ist« (ebd.). Die Beziehung auf Werte war folglich dazu geeignet, aus unbestimmten, gefühlten Inhalten einen bestimmten Teil auszusondern und ihn in die logische Gestalt eines Urteils 36 zu transformieren und damit der »Kommunikabilität« (ebd.) zuzuführen. Weber resümierte die Relevanz dieser »›Wertinterpretation‹« (ebd., 245) für das ›deutende Verstehen‹ in der Feststellung, dass die »›Wertung‹ die normale psychologische Durchgangsstufe für das ›intellektuelle Verständnis‹ (ist)« (ebd., 124). ›Wertungen‹ galten ihm deswegen sogar als »eminent leistungsfähige Geburtshelfer kausaler Erkenntnis« (ebd.). Wir können zusammenfassen, dass die Theorie der Wertbeziehung in Webers Konzeption nicht direkt als Lösung des ›Problems der Auswahl‹ bestimmter Inhalte aus der jeweils als unübersichtliche Mannigfaltigkeit dem Wissenschaftler gegenübertretenden ›Realität‹ fungierte, sondern in einem verstehenstheoretischen Begründungszusammenhang, genauer: im Dienst der Konstitution von ›kausalen Deutungen‹ stand. Ähnlich wie bei Rickert hatte die Wertbeziehung zwar auch bei Weber eine limitierende und selegierende Funktion, jedoch war sie hier auf die Uneindeutigkeit und Undurchsichtigkeit von Sinnmotiven bei individuellen Akteuren appliziert. Sie bedeutete den ersten Schritt zur Herstellung von ›Kommunikabilität‹ bzw. »kausaler Durchsichtigkeit« (ebd., 13), indem sie das »UnWertbegriffen wissenschaftlich klären« (PA: 321). ›Theorie des Verstehens‹ war in Rickerts Axiomatik also von vornherein der Wertphilosophie untergeordnet. 36 Siehe hierzu den stark auf das Motiv der Herstellung von ›Kommunikabilität‹ abhebenden Kommentar von Weiß (1992a: 53ff.). ›Kommunikabilität‹ ist hier im Sinne von ›Nachvollziehbarkeit‹ gemeint.

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bestimmte« in ein »Bestimmtes« übersetzte. Webers verstehenstheoretisches Grundmotiv der Trennung zwischen deutendem Verstehen und aktuellem, nachfühlenden Verstehen lässt sich auch insofern als Rationalisierung des Verstehens auffassen, als eine deutende Erklärung nicht auf der Basis undeutlicher Sinnzusammenhänge, sondern auf »bestimmt artikulierte(n) und demonstrierbaren Urteilen« (ebd., 119) aufruhen sollte. Als ein zweiter Schritt dieser Rationalisierung der verstehenden Methode der Kulturwissenschaften soll nunmehr Webers Darstellung der idealtypischen Begriffsbildung aufgeführt werden.

3. ›Verstehen‹ und ›Konstruieren‹ Die Theorie der idealtypischen Begriffsbildung, das wahrscheinlich am meisten beachtete Theorem der Weberschen ›Wissenschaftslehre‹ (Dux 1994: 668), wurde häufig abgelöst von dem konkreten argumentationslogischen Kontext, in welchem es eingebettet war, interpretiert und infolge38 dessen fehlgedeutet. Entgegen der dominierenden Ansicht von der Zentralität der Idealtypenlehre für Webers Wissenschaftskonzeption, scheint Weiß (1992a: 65) sogar der Auffassung, dass dieser durchaus keine herausragende Stellung innerhalb der methodologischen Gesamtgebäudes zuzurechnen ist. Wurde Webers Einführung des ›Idealtypus‹ im ›Objektivitätsaufsatz‹ regelmäßig für einen eindeutigen Ausweis der engen Anlehnung an Rickerts Begriffsbildungsphilosophie genommen, so verlangen einige Interpreten, Webers Konzeption »vom Odium angeblichen fraglo39 sen Neukantianismus zu reinigen« (Gerhardt 2001: 14). Wir haben die formale Gestalt der Idealtypenlehre bisher im Rahmen unserer Erörterung von Webers (Kompromiss-)Lösung des Gegensatzes zwischen einer historisch-individualisierender Begriffstheorie einerseits und der naturwissenschaftlich-gesetzeswissenschaftlichen andererseits angedeutet. Den heuristischen Wert, der diese ›Begriffe‹ nach Webers Auffassung auszeichnete, erblickte er in deren rational-nachvollziehbarer Gestaltung durch den Wissenschaftler, sodass Eindeutigkeit und Vergleich40 barkeit hergestellt wären. Einen expliziten Verweis auf den in den vo37 Denn für Weber galt ja folgender Satz: »Alle Qualia, mögen wir sie als Qualitäten der ›Dinge‹ in die Welt außer uns ›projizieren‹ oder als psychische Erlebungen in uns ›introjizieren‹, besitzen als solche diesen Charakter des notwendig relativ ›Unbestimmten‹« (GAWL: 119). 38 Uta Gerhardt: »Aber man muß sagen, daß von Anfang an regelrecht missverstanden wurde, was mit Idealtypus gemeint war« (2001: 12). Anderer Auffassung ist dagegen Merz, der die »Gefahr der Herauslösung aus dem Gesamtzusammenhang der Wissenschaftsauffassung [für] tatsächlich inexistent« (1990: 45) hält. 39 In die gleiche Richtung argumentiert auch Weiß (1992a: 65ff.). 40 Auch Rickert unterschied den wissenschaftlichen vom alltagsgebräuchlichen ›Begriff‹ über die Anforderung an ersteren, »daß mit dem Worte dann nur

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rausgegangenen Abschnitten dargelegten verstehenstheoretischen Argumentationskontext sucht man im ›Objektivitätsaufsatz‹ vergeblich. Weber beschied sich hier lediglich damit, den logischen Status des Idealtypus gegenüber potentiellen Fehldeutungen – etwa der Vermischung mit der ›Geschichte‹ (GAWL: 195) resp. der ›Wirklichkeit‹ (ebd., 203), der Identifizierung von Idealtypus mit der ›Idee‹ im Verstande des Deutschen Idealismus (ebd., 196f.) oder mit einer »wertenden Deutung« (ebd., 199) – abzusichern. Nicht zum Vorschein kam daher ein als lebens- oder erfahrungspragmatisch zu bezeichnender Hintergrund, welcher die idealtypische Begriffsbildung sowohl inhaltlich anleiteten als auch formal kontrollieren sollte. Diesen Bedeutungskontext gilt es nun, aus dem epistemologischen Frühwerk zutage zu fördern. Das auffälligste Signum für den angesprochenen pragmatischen Bezugsrahmen der Weberschen Begriffsbildungstheorie repräsentiert der Begriff der ›Erfahrung‹, dessen Bedeutung für Webers Gesamtkonzeption 41 bisher nur selten expliziert wurde. Die angedeutete systematische Doppelbedeutung des Erfahrungsbegriffs – als Fundament der Begriffsbildung und als Evaluationskriterium – sticht aus folgender Formulierung Webers hervor: »›Verstehen‹ – im Sinne des evidenten ›Deutens‹ – und ›Erfahren‹ sind auf der einen Seite keine Gegensätze, denn jedes ›Verstehen‹ setzt (psychologisch) ›Erfahrung‹ voraus und ist (logisch) nur durch Bezugnahme auf ›Erfahrung‹ als geltend demonstrierbar« (ebd., 115; Hervorhebung D.Š.).

Wir folgen zunächst dem ersten Bedeutungsaspekt, den Weber der ›Erfahrung‹ zuwies. Zunächst kann eine gewisse Spannung bemerkt werden, die aus konträren Stellungnahmen Webers zur Frage, ob der Bildung von Idealtypen prinzipiell irgendwelche Grenzen gesetzt sind, resultiert. Zum einen deuten solche näheren Bezeichnungen des Idealtypus als »Idealbild« (ebd., 190), »Utopie« (ebd.), »Fiktion« (ebd., 529, 537) und »Phantasiebild« (ebd., 275) darauf hin, dass Weber der Intuition des Wissenschaftlers keinerlei Einschränkungen zuzumuten gewillt war. Bei näherem Hinsehen finden wir im ›Objektivitätsaufsatz‹ jedoch durchaus Andeutungen auf gewisse Bestimmungen, welche der Willkür des Konstrukteurs Einhalt gebieten sollten. So konkretisierte Weber die Definition der Idealtypen als »Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt« (ebd., 194; der eine genau angegebene Bedeutungsgehalt verknüpft ist« (LD: 31). Im alltäglichen Umgang hätten Begriffe in der Regel keine fixen Bedeutungen. 41 Als eine Ausnahme können wir die instruktive Studie Julien Freunds (1994) zur Rolle der Phantasie in Webers ›Wissenschaftslehre‹ anmerken.

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Hervorhebungen D.Š.). Als einschränkende Bedingung taucht hier die Kategorie der ›objektiven Möglichkeit‹ auf, deren Bezugspunkte weiter unten erörtert werden. Was damit gefordert war, drückte Weber in den ›Methodologischen Vorbemerkungen‹ von ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ deutlicher aus: »Nur solche rationalen Konstruktionen eines sinnhaft verständlichen Handelns sind soziologische Typen realen Geschehens, welche in der Realität wenigstens in irgendeiner Annäherung beobachtet werden können« (WuG: 6). Die Logik der Konstruktion von Idealtypen sollte, wie man hieraus schließen muss, nicht ausschließlich der ›Phantasie‹ ihres Urhebers zu folgen, sondern vielmehr an gewisse »Erfahrungsregeln« (GAWL: 111ff.) über soziale Wirkungszusammenhänge angeknüpft werden. Bei diesen ›Erfahrungsregeln‹ handelte es sich in Webers, stark von Eduard Meyer geprägter, Festlegung um ein »aus der eigenen Lebenspraxis und der Kenntnis von dem Verhalten anderer geschöpftes ›nomologisches‹ Erfahrungswissen« (ebd., 277). Auch hier gilt es deutlich herauszuheben, dass Webers hier vielleicht etwas unglücklich gewählte Bezeichnung ›nomolo42 gisches Wissens‹ nicht als Einlenken gegenüber einem Positivismus zu werten ist. Jenes ›Wissen‹ sollte nach Weber gerade nicht den Charakteristika von naturwissenschaftlichen ›Gesetzen‹ entsprechen, folglich also nicht allgemein im Sinne von universell gültig sein. Ebenso wenig bedeutete Webers Rekurs auf die ›Erfahrung‹ ein Einfallstor für subjektive Willkür oder intuitionistische Erlebnisfaselei. In den Worten Freunds bezeichnete Webers Erfahrungsbegriff »eine reflektierte, kohärente, durch die Schule von Phantasie und Abstraktion gegangene Erfahrung [...], die im Laufe der Zeit ihren Niederschlag in Geschichte, Literatur, Kunst, Religion oder Politik gefunden (hat)« (1994: 484f.). Weber beurteilte die Brauchbarkeit der Orientierung an solchen erfahrungsinduzierten Regelmäßigkeiten zum Zwecke der Begriffskonstruktion nach pragmatischen Gesichtspunkten resp. in Abhängigkeit davon, »ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis des Historikers bzw. Nationalökonomen bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind« (GAWL: 112). Er fügte hinzu: »Daß dies der Fall sein müsse, ist schon wegen der geringen Schärfe, außerdem aber wegen der Trivialität der überwältigenden Mehrzahl der so zu gewinnenden Erfahrungssätze nicht im allergeringsten generell selbstverständlich« (ebd.). In der sich in diesen Bestimmungen bemerkbar machenden Tendenz, die Bildung von idealtypischen Begriffen an die gesellschaftliche Praxis rückzubinden, haben wir eine relevante Abweichung gegenüber Rickerts Begriffsbildungslogik zu registrieren. Dieser hatte zum Zweck einer Überwindung der Kluft zwischen ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ gerade eine 42 Weber nahm hier abermals Anleihe bei Kries, wie auch Morikawa (2001: 220) herausgestellt hat.

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theoretisch-abstrakte Lösung vorgeschlagen und die ›Beziehung auf Werte‹ als Vermittlungsinstanz eingeführt. Nicht ›Theorie‹ und ›Praxis‹ sollten bei Rickert zu einer Annäherung gebracht werden, sondern ›subjektive Wertungen‹ zu ›objektiven Kulturwerten‹. Bei Weber verhielt es sich offenkundig hierzu konträr. Für eine kausal verstehende Wissenschaft im Sinne Webers schien eine Abtrennung der wissenschaftlichen Begriffsbildung von der alltagspraktischen ›Erfahrung‹ kontraproduktiv. Damit ist durchaus nicht der Status der Wertbeziehungslehre als themen- und objektgenerierende Zwischenstufe auf dem Weg zur Begriffsbildung angetastet. Doch bleibt diese Funktion bei Weber rein formal, d.h. ohne Einfluss auf den Gehalt der Begriffe (vgl. Prewo 1979: 55). Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung, dass Rickerts Philosophie Weber »kein forschungspraktisch anwendbares Verfahren kausaler Erklärung« (Wagner/Zipprian 1985: 121) anzubieten hatte, nachvollziehbar. In diesem Sinne hatte bereits Renate Wanstrat in ihrer Pionierstudie zum Dilthey-Weber – Verhältnis deren Gemeinsamkeit darin markiert, die »Notwendigkeit einer dynamischen Begriffsbildung« (1950: 35) eingesehen zu haben, wobei sie als Gegenbegriff zu Weber/Diltheys dynamischen Begrifflichkeiten Rickerts (»statisches«) ›historisches Individuum‹ in Szene gesetzt hatte. Einen weiteren diskussionswerten Hinweis von Gerhard Wagner und Heinz Zipprian aufnehmend, wäre an dieser Stelle die Frage zu prüfen, inwiefern Weber durch die erörterte und noch zu vertiefende Ausrichtung seiner Begriffsbildung an der ›Erfahrung‹ unter der Hand dazu übergeht, »die transzendentalistische Wirklichkeitsauffassung durch eine realistische zu ersetzen« (1985: 129). Bevor hierzu eine begründete Stellung bezogen werden kann, soll die angedeutete, als erfahrungspragmatisch qualifizierte, Grundtendenz weiter belegt werden. Wir befassen uns im Folgenden mit der zweiten Bedeutungsrichtung des Erfahrungskonzepts, nämlich als Evaluationskriterium zur Validierung der konstruierten Idealtypen. Die Abweichung der Begriffstheorie Webers gegenüber der Rickertschen kommt speziell darin zum Ausdruck, dass er für die über Idealtypen ermöglichte kausal-verstehende Deutung ein originäres Gütekriterium ein43 führte, nämlich ›Evidenz‹. »Alle Deutung strebt, wie alle Wissenschaft überhaupt, nach ›Evidenz‹« (WuG: 2), deklarierte Weber im ersten Paragraphen von ›Wirtschaft und Gesellschaft‹. Im ›Knies-Aufsatz‹ fixierte er die Struktur dieser Kategorie in Kontrast zu dem allgemein für ausschlaggebend befundenen Kriterium der ›empirischen Geltung‹. Um eine Übereinstimmung mit der ›Realität‹ konnte es auf der Grundlage der von Weber vermeintlich uneingeschränkt von Rickert übernommenen Kritik der Abbildtheorie bzw. auf der Basis einer ›transzendentalistischen Wirklichkeitsauffassung‹ von vornherein nicht gehen. Ebenso wenig bezog sich ›Evidenz‹ auf bewusstseinskonstitutive Qualitäten im Sinne Husserls oder 43 Weber führte das Konzept bereits im ›Knies-Aufsatz‹ ein (GAWL: 115).

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etwa auf die transzendentalphilosophische Begründung der ›Geltung von Werten‹ im Verständnis Rickerts. Vielmehr muss die Bedeutung von Webers Evidenzbegriff jenseits dieser Alternativen begriffen werden. Dessen ideengeschichtlicher Bedeutungshintergrund deutet auf einen speziellen Theoriezusammenhang hin, der in unserer Arbeit bisher nur am Rande in den Blick gekommen ist und welcher auch innerhalb des sozialwissenschaftlichen Theoriekanons keinen ausgewiesenen Ort gefunden hat. Er offenbart sich in Webers folgender Definition, der zufolge ›Evidenz‹ »nach der logischen Seite lediglich die Denkmöglichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit der ›deutend‹ erfaßbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich (enthält)« (GAWL: 115). Die ›Geltung‹ einer kausalen Deutung sollte sich folglich aus der Relation ihres Deutungsinhalts zur ›objektiven Möglichkeit‹, dass sich eine Handlung oder eine Konstellation in der empirischen Realität tatsächlich dem Postulat entsprechend zugetragen bzw. ergeben hat, bemessen. Diese intuitiv zunächst wenig eingängige Bestimmung rekurrierte auf Theoreme, die von dem Physiologen J. von Kries in seinem Aufsatz ›Über den Begriff der objektiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben‹ (1888) sowie in der an die von Kriessche Kategorie anknüpfende Studie des Juristen Gustav Radbruch zur ›Lehre von der adäquaten Verursachung‹ (1902) entwickelt wurden. Weber hatte sich im Rahmen seiner ›Kritischen Studien zur kulturwissenschaftlichen Logik‹ ausgiebig mit diesen Konzepten auseinander gesetzt. Weber stellte sich eingangs dem durchaus nicht fern liegendem Einwand, »daß die Einführung von ›Möglichkeiten‹ in die ›Kausalbetrachtung‹ den Verzicht auf kausale Erkenntnis überhaupt bedeute« (GAWL: 282). Er wehrte sich gegen die geltungstheoretische Konsequenz, dass damit »subjektiver Willkür in der ›Geschichtsschreibung‹ Tür und Tor offen stehen und sie eben deshalb keine ›Wissenschaft‹ sei« (ebd.). Gegen die in den historischen Wissenschaften weit verbreitete Ansicht, wonach »die Geschichte keine Möglichkeiten (kennt)« (ebd., 275), führte Weber dieser vor Augen, dass sie regelmäßig und unbemerkt unter Verwendung von 44 »Möglichkeitsurteilen« verfuhren. ›Möglichkeitsurteile‹ kommen gemäß Webers Definition nach einem zwei Schritte beinhaltenden »Abstraktionsprozeß« (ebd.) zustande: Zunächst würden – analog zum idealtypisierendem Verfahren – gewisse »Bestandteile des unmittelbar Gegebenen« (ebd.) isoliert und – in einem zweiten Schritt – unter Rekurs auf ›Erfahrungsregeln‹ zu einem konstruierten Erklärungsmodell synthetisiert. Weber konnte sodann folgern, dass sich Möglichkeitsurteile »auf ein positives Wissen von ›Regeln des Geschehens‹, auf unser ›nomologisches‹ Wissen« (ebd., 276) beziehen. 44 Diesen Nachweis vollzog Weber anhand einer Analyse von Eduard Meyers Erklärung von Kriegsausbrüchen (GAWL: 276f.).

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Wir können also vorerst festhalten, dass Möglichkeitsurteile auf der Grundlage zweier, mit Weber auseinander zu haltender, Wissensquellen, nämlich ›ontologischem Wissen‹ einerseits und ›nomologischem Wissen‹ (ebd., 276f.) andererseits, konstruiert werden. In einem dritten Schritt würde schließlich die ›Geltung‹ eines solchen Urteils dadurch ermittelt, dass man überprüfe, inwiefern ein Ereignis ohne den Einfluss des zuvor isolierten Faktors resp. unter gedankenexperimenteller Modifikation dieses Faktors auf dieselbe Weise stattgefunden hätte, als es der tatsächliche historische Verlauf belegt (ebd., 283). Erweise es sich, dass das Ereignis auch ohne Mitwirkung des interessierenden Aspekts in dieselbe Richtung verlaufen wäre, so müsse man diesen als »kausal bedeutungslos« (ebd.) einschätzen und für die Kausalerklärung ausschließen. Komme man zu einem positiven Resultat, d.i. zur Einschätzung, dass »nach unserem Erfahrungswissen eine kausale Relevanz eines Moments mit Bezug auf die für die konkrete Betrachtung erheblichen Punkte« (ebd.) vorliegt, so lasse sich der Grad dieser Kausalrelevanz – Weber spricht von »Gradabstufung« (ebd., 284) – näherhin in der Form eines »objektiven Möglichkeitsurteils« (ebd., 283) konkretisieren, indem dieser Denkvorgang für weitere in Betracht kommende Erklärungsbedingungen wiederholt wurde. Da sich eine solche Gradbestimmung nicht zahlenmäßig zum Ausdruck bringen ließ, adaptierte Weber den Radbruchschen Terminus der ›adäquaten Verursachung‹ für das Vorliegen der ›Chance‹ einer bestimmten kausalen Beziehung. Dieses Modell der Feststellung von Kausalbeziehungen bzw. der »Scheidung von kausal ›Wichtigem‹ und ›Unwichtigem‹« (ebd., 286) erachtete Weber im Hinblick auf die Evaluierung kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse als alternativlos und insofern als fundamental, als es ebenso »im Alltagsleben« regelmäßig Anwendung finde (ebd., 285f.). Der zentrale Gesichtspunkt, den es hier hervorzuheben gilt, besteht in der Einsicht, dass die ›Objektivität‹ der von Seiten des Wissenschaftlers konstruierten – faktischen oder kontrafaktischen – Möglichkeiten nicht auf ›ontologisches Wissen‹ rekurrierte, sondern auf das Erfahrungswissen des Historikers. Weber verwendete gelegentlich auch den Begriff der »Erfahrungswahrheit« (ebd., 112, 125, 155, 261) als Surrogat für ›Evidenz‹, in welchem die Doppelfunktion der ›Erfahrung‹ – als Fundament wie als Maßstab – vielleicht am adäquatesten zum Ausdruck kam. Eine terminologische Verknüpfung zwischen dem auf die Möglichkeit kausaler Zurechnung verwendeten Kriterium der ›adäquaten Verursachung‹ einerseits und dem allgemein auf eine verstehende Deutung applizierte ›Evidenz‹ stellte Weber – zumindest ansatzweise – in den methodologischen Paragraphen von ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ her. Beide bezogen sich letztlich auf ›nomologisches Erfahrungswissen‹ als Quelle und nicht etwa auf unterschiedliche Wissensfundamente. Die angedeutete Verwandtschaft wie auch die zu unterscheidende Bezogenheit von ›Evidenz‹ und ›Kausaladäquanz‹ reflektiert sich in Webers

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Differenzierung zwischen ›Sinnadäquanz‹ einerseits und ›Kausaladäquanz‹ andererseits, die Weber im Anschluss an von Kries und Radbruch entwickelt hatte. Während erstere auf eine nach »durchschnittlichen Denkund Gefühlsgewohnheiten« (WuG: 5) als ›sinnvoll‹ zu beurteilende Verknüpfung von unterschiedlichen Sinnkomplexen – Handlungen, Motive etc. – rekurrierte, drückte das Prädikat ›kausal adäquat‹ die Chance aus, dass etwa eine Aufeinanderfolge von Handlungen »nach Regeln der Erfahrung [...] stets in gleicher Art tatsächlich abläuft« (ebd.). Für eine ›evidente kausale Deutung‹ forderte Weber schließlich die Erfüllung beider Bedingungen. Auch hier gilt es festzuhalten, dass beide Richtmaße lebenspraktisch geschultes Wissen bzw. ›Erfahrungswissen‹ zur Grundlage nahmen. Wir wollen nun abschließend die im Ausgang dieses Teilkapitels gestellte Thematik wieder aufnehmen und der Frage nachgehen, ob Webers Wissenstheorie dem (neo)kantianischen Begründungsrahmen noch verbunden blieb oder doch – wie Wagner und Zipprian vermuteten – einem realistischen Erkenntnismodell Konzessionen machte. Ein Gespür für diese »scheinbare Aporie« (Prewo 1979: 209) offenbart auch Prewo, der sie in die Fragen münzte, ob »hier nicht der von Weber (mit Rickert) perhorreszierte Begriffsrealismus ein spätes Opfer erhalten« beziehungsweise Weber »inmitten des als strikt methodologisch aufgefassten Konstruktionsgeschäfts der Grundbegriffe (ein trojanisches Pferd) platziert« habe (ebd., 205). Bevor wir eine eigene Auflösung dieser Problemstellung versuchen, sollen zwei entgegengesetzte Interpretationsvorschläge gegenübergestellt werden. Auf der einen Seite finden wir Prewos Einschätzung, dass sich der vermeintliche Widerspruch in Webers Methodologie durch die strikt durchgehaltene Trennung zwischen »rationaler ›Evidenz‹« und ›empirischer Gültigkeit‹ auflöse (ebd., 213). Dadurch sei Weber nicht gezwungen, »über wirkliche Handlungen [...] vor der methodischen Bearbeitung etwas sagen zu müssen« (ebd.). Diese Auflösungsstrategie erscheint uns insofern einseitig, weil damit die ursprüngliche Ausgangsproblematik letztlich für eine Scheinfrage genommen wird. Damit ist aber noch keinesfalls geklärt, auf welche Weise sich Webers Idealtypen auf die ›Wirklichkeit‹ richten und welcher Sinn dem Titel ›Wirklichkeitswissenschaft‹ zuzuweisen ist. Die Halbheit dieser Erklärung scheint Prewo letztlich selbst zu antizipieren, wenn er auf seine aufgebrachte Frage, ob Webers Methodologie nicht »doch ein Stück erkenntnistheoretischer ›Realismus‹« zugrunde liege, lapidar erwidert: »Nun, eben nicht unkritisch« (ebd.) – was unseren Eindruck, dass die Aporie hier nicht wirklich aufgelöst, sondern eher durch einen definitorischen Trick vom Tisch gewischt wird, zu bestätigen scheint. Angemessener erscheinen demgegenüber die Ausführungen von Günter Dux. Anders als Prewo, interpretiert Dux den »immanenten Widerspruch« (1994: 668) in Webers Erkenntnistheorie, der sich in ausgezeich-

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neter Form in der Figur des Idealtypus dokumentiere, nicht als einen logischen Makel, sondern als einen Ausweis von Webers methodologischem Reflexionsniveau. In Dux’ Perspektive »ist es gerade der Widerspruch, der seine Lehre auszeichnet« (ebd., 667f.). Dieser angesprochene ›Widerspruch‹ wird von Dux wie folgt resümiert: »seine [gemeint ist Webers; D.Š.] geradezu mit Pathos vorgetragene Bestimmung des Erkenntnisprozesses als Formbildungsprozeß durch das erkennende Subjekt verträgt sich nicht mit dem gleichfalls vorgetragenen Wissen um eine sich schon nach Wertbezügen geordnete Sozialwelt« (ebd., 667).

Fest greifbar wird die aporetische Grundstruktur in Webers Konstitutionsmodell des Wissens im Nebeneinanderstehen zweier unvereinbarer Postulate: zum einen der Bestimmung, dass Idealtypen durch »gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen« (GAWL: 190) werden müssen, zum anderen dem neokantianischen Axiom, dem zufolge die »Gesichtspunkte«, nach denen sich die Erkenntnis zu richten hat, keinesfalls »dem ›Stoff selbst entnommen‹ werden (können)« (ebd., 181). Dux’ Einwendung gipfelt darin, dem idealtypischen Verfahren überhaupt die Fähigkeit abzusprechen, Aussagen über die ›Wirklichkeit‹ treffen zu können, denn selbst im Erfolgsfall erreiche man lediglich eine »Bestätigung des Vorverständnisses, aber nicht seine Überprüfung« (1994: 670). Anders gewendet: »geprüft wird der Idealtypus, nicht die Wirklichkeit« (ebd.). In Anknüpfung an Dux’ Erörterungen, die unsere oben begründete These von Webers Distanzierung gegenüber den vermeintlich neokantianischen Ausgangspunkten der ›Wissenschaftslehre‹ stützt, soll im Folgenden die Berechtigung der Behauptung eines ›immanenten Widerspruchs‹ unter Rekurs auf weitere Argumente geprüft werden. Zu diesem Zweck ist zunächst eine nähere Charakteristik der angedeuteten ›Aporie‹ zu geben. Unisono beziehen sich die zu Rate gezogenen Interpreten auf eine eigentümliche Vermischung realistischer und idealistischer Denkfiguren bei Weber. Diese Konfusion können wir unter Anlehnung an die oben geschilderte Doppelfunktion des Erfahrungswissens in Webers Idealtypenlehre in dem Bild einer zirkulären Begründungsfigur resümieren, welche wir bereits für Simmel und Dilthey herausgestellt hatten. Plastisch formuliert, konstituiert sich diese Zirkelfigur dadurch, dass der Erfahrungs- und Lebenshorizont zunächst als Fundament zur Begriffsbildung in Erscheinung tritt, wodurch der subjektiven Willkür und Phantasie des Wissenschaftlers Grenzen gesetzt werden. Die Geltung bzw. kausale Relevanz der begrifflich determinierten Zusammenhänge soll dann wiederum anhand der selben Kategorie geprüft werden, von welcher die Begriffsbildung ursprünglich angeleitet worden war, nämlich der ›Erfahrungswahrheit‹ resp. der Entsprechung mit den »Regeln der Erfahrung« (WuG: 5). An diesem

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Punkt – wenn man so will – beißt sich die besagte Katze selbst in den Schwanz. Jedoch muss auch für Weber das gleiche gelten, was Georg Misch einmal in Bezug auf Heidegger treffend formuliert hatte, nämlich dass die Anerkennung einer Zirkelstruktur lediglich vom Standpunkt der »Konsequenz-Logik« ein Problem darstellt (1967: 8). So wird ausschließlich derjenige Interpret eine »Aporie« oder einen »Widerspruch« in Webers Konzeption hineinlesen, der ihn vereinseitigend als Neukantianer wahrnehmen möchte. Immerhin haben wir bereits mit Dilthey und Simmel zwei Ansätze kennen gelernt, in denen jeweils ein erfahrungsnaher, zirkulärer Aufbau von Erkenntnis vorlag, ohne dass sogleich das Damoklesschwert des Rückfalls in den Realismus beschworen wurde. Wir sind angeraten zunächst herauszustellen, in welchem Sinne diejenige Form von Wissenschaft, die Weber treiben wollte – um im Originalduktus zu verweilen – eine »Wirklichkeitswissenschaft« war. In folgender Passage spannte Weber das Spannungsfeld zwischen realistischer und idealistischer Gedankenführung – zumindest in groben Umrissen – auf: »Für sie [gemeint ist: die ›Wirklichkeitswissenschaft‹; D.Š.] kommen – dies allein kann jener Ausdruck besagen wollen – individuelle Einzelbestandteile der Wirklichkeit nicht nur als Erkenntnismittel, sondern schlechthin als Erkenntnisobjekt, und konkrete kausale Beziehungen nicht als Erkenntnis-, sondern als Realgrund in Betracht. Denn im Übrigen werden wir noch sehen, wie wenig die populäre naive Vorstellung, die Geschichte sei ›bloße‹ Beschreibung vorgefundener Wirklichkeiten, oder einfache Wiedergabe von ›Tatsachen‹, in Wahrheit zutrifft« (GAWL: 237).

Von Relevanz in Bezug auf unsere Fragestellung ist insbesondere die letzte Sentenz. Weber will einerseits an der Erkenntnis der ›Wirklichkeit‹ festhalten, wie aus dem ersten Satz hervorgeht. Im zweiten Satz wendet er aber umgehend ein, dass dies nur in beschränktem und jedenfalls nicht im Sinne von Abbildbarkeit möglich sei. An anderer Stelle brachte Weber den hierfür entscheidenden »logischen Grund« zum Ausdruck: »Der entscheidende logische Grund ist eben der: daß die Geschichte zwar nicht in dem Sinn ›Wirklichkeitswissenschaft‹ ist, daß sie den gesamten Gehalt irgendeiner Wirklichkeit ›abbildete‹, – das ist prinzipiell unmöglich, – wohl aber in dem anderen, daß sie Bestandteile der gegebenen Wirklichkeit, die, als solche, begrifflich nur relativ bestimmt sein können, als ›reale‹ Bestandteile einem konkreten kausalen Zusammenhang einfügt« (ebd., 113).

Die phänomenologische Gegebenheit der Wirklichkeit als »Chaos« (ebd., 177) bedingt also, dass wir jeweils nur einzelne Aspekte dieses Totalzusammenhangs – unter Zuhilfenahme unseres ›ontologischen‹ und ›nomo-

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logischen‹ Wissens – herausfiltern und als idealtypisch geformten Maßstab wiederum an die Wirklichkeit anlegen können. Der besagte Widerspruch wäre nun darin zu sehen sein, dass Weber forderte, den Erfolg idealtypisch formulierter Beziehungen an der Wirklichkeit selber zu messen – womit nun doch wieder das Vorhandensein eines vollständigen Eindrucks der Realität vorausgesetzt würde. Damit würde jedoch das Verfahren über den Umweg der idealtypischen Begriffsbildung obsolet. Der scheinbar einzig gangbare Weg, Weber zu verteidigen, müsste derjenige sein zu demonstrieren, dass sich die begriffsfundierenden Kriterien des ›ontologischen‹ und ›nomologischen‹ Wissens auf einen qualitativ anderen Wissenstypus bezogen als diejenige ›Wirklichkeit‹, die als Bewertungsmaßstab des ›Erfolgs‹ der Begriffskonstruktionen herangezogen wird. Damit wäre zumindest belegt, dass es sich bei Webers Argumentationszirkel nicht um einen unfruchtbaren vitiösen Zirkel handelt. Für diese Interpretationsrichtung kann die oben dargelegte Bedeutung des ›Erfahrungswissens‹ für Webers Begriffsbildungslogik nunmehr ins Spiel gebracht werden. Das von Weber als ›ontologisch‹ resp. als ›nomologisch‹ qualifizierte Erfahrungswissen bildete die Grundlage der Begriffskonstruktion. Hiervon kann nun das durch das eigentliche methodologische Vergleichsverfahren, bei welchem ›Möglichkeitsurteile‹ anhand des Erfahrungswissens geprüft werden, gewonnene Wissen in quantitativer Hinsicht unterschieden werden, denn es ist gerade nicht der Sinn von Webers idealtypischer Methode, etwa unser Erfahrungswissen zu bestätigen, sondern von diesem abstrahierte Kausaldeutungen hervorzubringen. In qualitativer Hinsicht dürfen Erfahrungswissen und Erkenntniswissen aus dem Grund nicht unterschieden werden, weil beide Wissenstypen niemals das ›Chaos der Wirklichkeit‹ darstellen können. Webers ›Erfahrungswissen‹ ist also keineswegs zu konfundieren mit dem Diltheyschen Nexus der ›inneren Erfahrung‹, die durch Unmittelbarkeit und Ganzheit gegenüber der ›äußeren Erfahrung‹ ausgezeichnet war. Von dieser Warte aus kann also resümiert werden, dass es der Weberschen Methodologie um die Erfassung von ›Wirklichkeit‹ im Sinne des Realismus nicht gehen kann, sondern höchstens um die Interpretation von ›Wirklichkeit‹ in Anführungszeichen – da ›Wirklichkeit‹ stets nur in singulären Ausschnitten erfassbar sei. Der vermeintlich vitiöse Zirkel lässt sich also in ein produktives Beschreibungsverfahren umdeuten und als eine dialektisch vermittelte Prozedur spezifizieren, bei der Erfahrungswissen und Erkenntniswissen sich wech45 selseitig korrigieren. In konzeptioneller Hinsicht bleibt der Widerspruch bei Weber jedoch unaufgelöst.

45 Insofern ist es nicht überraschend, dass Weber die Bezeichnungen ›Wirklichkeitswissenschaft‹ und ›Erfahrungswissenschaft‹ offenbar synonym verwendete. Siehe insbesondere im ›Objektivitätsaufsatz‹ (GAWL: 170, 192).

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Wir dürfen festhalten, dass Weber so weit ›Realist‹ sein wollte, wie es ihm seine Einsicht in jenen »Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre: daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können« (ebd., 207), erlaubt hatte. Die sich hier manifestierende Ambivalenz lässt sich anhand der Rezeptionsgeschichte daran ablesen, dass Weber – oft im selben Zuge – als Neokantianer als auch als Positivist und Naturalist betitelt wird (vgl. Tenbruck 1959b: 598). Nicht von ungefähr ereilte auch Dilthey dieses Rezeptionsschicksal.

4. Resümee: Webers ›Wissenschaftslehre‹ zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus Die vorstehende Betrachtung der Axiomatik von Webers ›Wissenschaftslehre‹ soll abschließend daraufhin resümiert werden, welche ihrer Bauelemente eine Wahlverwandtschaft zu neokantianischen bzw. lebensphilosophischen Denkmotiven aufwiesen. Auf diese Weise lässt sich sogleich die Originalität des Gesamtgebäudes von Webers Wissenstheorie gegenüber den zuvor behandelten philosophischen Alternativkonzeptionen herausstellen. Wir gingen zunächst von der Vermutung aus, dass der Weg zur Beantwortung dieser Frage – ähnlich wie im Falle Simmels – zunächst über Webers Adaption der Verstehenslehre führen würde. Wir konnten zunächst die von Johannes Weiß in die Debatte geworfene Mutmaßung ausschließen, dass Webers ›verstehende‹ Soziologie die Theoriegestalt von Diltheys Vernunftkritik repräsentieren wollte, denn Webers verstehenstheoretische Eingriffe zielten primär darauf, einen Begriff des ›kausal-deutenden Verstehen‹ gegenüber einem ›psychologisch-nacherlebenden‹ Verstehensbegriff zu legitimieren. Um eine Verobjektivierung eines rein ›inneren‹ Erfahrungszusammenhangs im Verstande der Diltheyschen Lebenshermeneutik etwa war es Weber von vornherein nicht zu tun. Seine konkludierende These behauptete, dass in logischer Hinsicht keinerlei Unterschied zwischen einer naturwissenschaftlich-kausalen Erklärung einerseits und einer kausal-verstehenden Erklärung andererseits auszumachen sei, da es sich jeweils nicht darum handeln konnte, ein vollkommenes Bild eines ›wirklichen‹ Zusammenhangs nachzuzeichnen, noch darum, aus dieser Betrachtung ›Notwendigkeitsurteile‹ zu deduzieren. Begriffslogisch waren in Webers – hier eindeutig durch eine Rickertsche Brille gefärbte – Ansicht die Formulierungen von Kausalbezügen auf beiden Feldern zwangsläufig ›Abstraktionen‹ und ›Hypothesen‹. So stellt sich in der Tat die Frage, welche Funktion dem Verstehen in Webers Wissenssystematik überhaupt zuzuweisen ist. Es erwies sich, dass Weber zumindest oberflächlich eine ambivalente Position in der Frage nach der Einteilung der Wissenschaftsdisziplinen einnahm (vgl. Tiryakian

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1965: 678f.). Einerseits argumentierte Weber konsequent und unisono mit Rickert und Windelband gegen eine Ontologisierung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche von Geistes- und Naturwissenschaften. Zugleich sprach er sich andererseits gegen Rickert und für die Möglichkeit aus, den historischen Wissenschaften aufgrund ihrer spezifischen, über das ›Verstehen‹ vermittelten, Zugangsweise zu ihren Inhalten einen Sonderstatus einzuräumen. Unwissentlich begab sich Weber mit dieser Doktrin ganz in die Nähe zu Diltheys Abgrenzungsphilosophie, die sich gleichfalls auf die unterschiedlichen Gegebenheitsweisen von ›Natur‹ und ›Geschichte‹ bezog. Die sich darin abzeichnende Spannung zwischen Webers Beharrung auf logischer Unabhängigkeit der geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung von einem besonderen Wissensfundament auf der einen Seite und seiner Programmatik einer ›verstehenden Soziologie‹ auf der anderen erwies sich als insgesamt kennzeichnend für seine epistemologische Axiomatik. Sie manifestierte sich nicht zuletzt in Webers sozialwissenschaftlichem Erklärungsmodell, in welchem das Verstehen von Sinnmotiven sozialer Akteure als Zwischenstufe auf dem Weg zur Kausalerklärung fungiert (WuG: 4). Entsprechend erhielt die von Rickert übernommene Wertbeziehungslehre bei Weber eine weniger tragende Rolle zugedacht. Während sie bei Rickert nicht nur in formaler Hinsicht die Konstitution des wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstands anleitete, sondern auch im materialen Sinne nur dasjenige aus dem Stoff herausfilterte, was gemäß der Wertstellungnahme als ›relevant‹ und ›wichtig‹ anzusehen war, führte Weber zur inhaltlichen Orientierung der soziologischen Begriffsbildung alternative Kriterien jenseits der subjektiven Wertpräferenzen des Wissenschaftlers ein. Blieb auch in Webers Forschungsprogramm die ›Auswahl‹ der thematischen Inhalte formal dem subjektiven Interesse des Forschers anheim gestellt, so band Weber jedoch im nächsten Schritt die inhaltliche Ausgestaltung der soziologischen Begriffe an vor-begriffliches Erfah46 rungswissen zurück. An diesem Punkt wäre, so unsere These, diejenige theoretische Wendung zu lokalisieren, die wir als Webers Verlebendigung oder Empirisierung des transzendentalphilosophischen Begründungsrahmens bezeichnen wollen. Auf zwei konzeptionellen Ebenen forderte Webers Begriffsbildungstheorie eine solche lebenspragmatische Rückbindung. Zum einen sollte sich die Bildung von hypothetischen Idealtypen an lebensweltlich fundierten »Erfahrungsregeln« orientieren. Diesem besonderen Wissenstypus, den Weber auch als »nomologisches Wissen« ansprach, wies Weber darüber hinaus auch eine Funktion zur Bestimmung des jeweils in einem konkreten Fall einer idealtypisch postulierten Kausalbeziehung vorliegen46 »Nur solche statistische Regelmäßigkeiten, welche einem verständlichen gemeinten Sinn eines sozialen Handelns entsprechen, sind (im hier gebrauchten Wortsinn) verständliche Handlungstypen, also: ›soziologische Regeln‹« (WuG: 6).

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den »›Grad(es)‹ der objektiven Möglichkeit« (GAWL: 285) zu, sodass sich zwischen einer konstitutionstheoretischen und einer geltungstheoretischen Bedeutungsdimension des Erfahrungsbegriffs differenzieren lässt. Weber führte schließlich ein beide Dimensionen umfassendes genuines Gütesiegel für die idealtypischen Erklärungsmodelle der Kulturwissenschaften ein, nämlich dasjenige der ›Evidenz‹. Dieses brachte folglich das Ausmaß an ›sinnhafter‹ und ›kausaler Adäquanz‹ von Kausaldeutungen bzw. deren Übereinstimmung mit unserem ›nomologischen Erfahrungswissen‹ zum Ausdruck. Auf der geltungstheoretischen Ebene manifestierte sich die oben angedeutete Spannung, die aus einer Vermischung (neu)kantianischer und hermeneutischer Denkfiguren erwuchs, in dem Widerspruch zwischen der Forderung nach Überprüfung der Idealtypen an der ›Wirklichkeit‹ einerseits und dem Rickertschen Dogma von der prinzipiellen ›Irrationalität‹ der Wirklichkeit auf der anderen. Einer Auflösung dieser Diskrepanz wird man bei Weber nicht fündig. Webers ›Wissenschaftslehre‹ trifft sich in diversen Ausgangspunkten mit der Erkenntnistheorie Georg Simmels, denn bereits in Simmels Konzeption begegneten wir der Konstellation, bei welcher der Verstehensbegriff als Einfallstor zur Überwindung (im Sinne einer Pragmatisierung) 47 transzendentalphilosophischer Grundsätze figurierte. Auch bei Simmel entdeckten wir das – insbesondere in seiner soziologischen Apriorik sichtbare – Motiv, die wissenschaftlichen Konzepte so eng als möglich an die ›Alltagserfahrung‹ anzubinden. Die Konsequenz daraus hatten wir als eine Dynamisierung der wissenschaftlichen Begriffskonzepte markiert. Webers erfahrungsbezogene Idealtypenlehre geht in seiner Forderung nach einer Dynamisierung der Begriffsbildung insofern noch über Simmel hinaus, als er sie – nicht zuletzt in der Form seiner Adaption der Kriesschen Theorie der ›objektiven Möglichkeit‹ – innerhalb seiner wissenschaftstheoretischen Axiomatik an zentraler Position installierte. Mit Wanstrat (1950: 34) können wir dieses Grundmotiv als Berührungspunkt zwischen Dilthey, Simmel und Weber herausstellen. Als weitere Übereinstimmung zwischen Simmels und Webers Begriffsbildungstheorie können wir das Vorliegen einer scheinbaren Antinomie bestimmen, die sich aus dem oberflächlichen Festhalten an der (neu-) kantianischen Grundfigur des ›Hiatus irrationalis‹ auf der einen Seite und unserem Befund auf der anderen ergab, demgemäß sich bei Simmel, wie nun auch bei Weber, eine zirkuläre Argumentationsform nachweisen lässt. Auch in diesem Punkt begegnen wir einer überraschenden Gemeinsamkeit zwischen Dilthey, Simmel und Weber, die kaum als zufällig abzutun ist,

47 Die These Scaffs (1989: 8), dass nicht Rickert, sondern vielmehr Simmel als Webers Gewährsmann zu gelten habe, soll an dieser Stelle zumindest angemerkt werden. Über deren Stichhaltigkeit im Einzelnen zu befinden, ist hier nicht der Ort.

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sondern mit dem ihnen gemeinem Grundmotiv der Verlebendigung der (Transzendental-)Philosophie in Zusammenhang stehen dürfte. Mit Webers Begriffsbildungstheorie haben wir bisher das Fundament der Weberschen Wissenstheorie ausgeleuchtet. Durch diese Fokussierung sind klassische, von Weber in die allgemeine Debatte um die Grundlegung der Kulturwissenschaften eingeführte, Perspektiven und Theoreme wie beispielsweise der ›methodologische Individualismus‹, das Konzept von ›Objektivität‹, der Begriff des ›Sinns‹, das ›Werturteilsfreiheitspostulat‹, die Unterscheidung von ›Verantwortungsethik‹ und ›Gesinnungsethik‹ bislang in den Hintergrund getreten. Um ein konkreteres Bild des Gesamtgebäudes von Webers Architektur des Wissens zu vermitteln, müssen diese auf ihre jeweilige Position innerhalb dieses Grundlegungssystems befragt werden. Diese Aufgabe kann schon deswegen nicht ausgespart werden, weil nur auf diesem Weg die Frage nach der philosophischen Originalität von Webers Theorie des Wissens und deren Distanz zu einer genuin philosophisch ausgerichteten ›Kritik der Vernunft‹ abgemessen werden kann. Darüber hinaus dürfen wir uns auf der Grundlage einer solchen Perspektivenerweiterung über die Ebene der Begriffsbildung hinaus zentrale Aufschlüsse über die meta-theoretischen Ursprungsmotive der ›Wissenschaftslehre‹ versprechen. Dieser Einstellungswechsel soll zunächst Webers geltungstheoretische Ausführungen jenseits der Ebene der Begriffsbildung bzw. Idealtypenkonstruktion in den Blick nehmen und darauf hin sein Programm einer soziologischen Methodik in Relation zu den bereits erörterten allgemeinen methodologischen Voraussetzungen setzen. Abschließend muss das so gezeichnete Gemälde um die zeitdiagnostische und wissenschaftsethische Dimension ergänzt werden, die insbesondere in ›Wissenschaft als Beruf‹ zum Vorschein traten.

V o n O b j e k t i vi t ä t z u › O b j e k t i v i t ä t ‹ Es ist vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nicht geradewegs zu beantworten, von welchen wissenschaftstheoretischen Quellen her Weber das Problem der Objektivität, welches im Zentrum seines vermeintlich wichtigsten methodologischen Beitrags, des ›Objektivitätsaufsatz’‹, stand, geerbt hatte. Die verbreitetste Reaktion auf diese Anfrage ist auch in diesem Fall der Hinweis auf Rickert, bei dem sich diese Problemstellung auf dem Feld der Wissenschaftstheorie als Konsequenz aus der Wertbeziehungslehre ergab. ›Objektivität‹ im ursprünglichen Sinne war in dieser Konzeption dadurch gefährdet gewesen, dass die Gegenstandskonstitution, genauer: die Auswahl der wissenschaftlich relevanten Gegenstände aus der ›unübersichtlichen‹ Wirklichkeit, den subjektiven Wertbezügen des einzelnen Wissenschaftlers anheim gestellt wurde. Nun verbietet sich eine simple Übertragung dieses Problemzusammenhangs auf Webers ›Wissen-

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schaftslehre‹ allein schon aufgrund der bereits getroffenen Feststellung, dass die Wertbeziehungslehre im Kontext der Weberschen Begriffstheorie eine limitierte Aufgabe zugewiesen bekam und Weber zur Evaluierung der Begriffskonstrukte auf andere, erfahrungsbezogene Kriterien gesetzt hatte. Es gebietet sich folglich, zunächst einen genaueren Blick auf die entsprechenden Stellen des ›Objektivitätsaufsatzes‹ zu werfen, worin sich Webers Sichtweise zu dieser Frage reflektierte. Wie Guy Oakes (1990: 27f.) treffend bemerkt hat, ist es kaum möglich, aus den im ›Objektivitätsaufsatz‹ aneinander gereihten, teils polemischen und zumeist verkürzt-fragmentarischen Argumentationsgängen überhaupt einen spezifischen Grundzusammenhang auszusondern. Um die Art und Weise, in welcher sich für Weber im ›Objektivitätsaufsatz‹ die Frage nach der Möglichkeit von ›Objektivität‹ stellte, nachvollziehen zu können, müssen wir zuvor dessen Charakterisierung der ›Kulturwissenschaften‹ im allgemeinen genauer beleuchten. Das Leitmotiv, welches sich hinter Webers Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansätzen der Nationalökonomie – insbesondere mit der materialistischen Geschichtsauffassung und verschiedenen historistisch orientierten Spielarten – zu verbergen scheint, muss in dem Nachweis und der Begründung der prinzipiellen Einseitigkeit der wissenschaftlichen Betrachtung gesehen werden. Als Beleg für diese Behauptung soll folgendes Zitat einstehen: »die ›Einseitigkeit‹ und Unwirklichkeit der rein ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen ist überhaupt nur ein Spezialfall eines ganz allgemein für die wissenschaftliche Erkenntnis der Kulturwirklichkeit geltenden Prinzips. Dies in seinen logischen Grundlagen und in seinen allgemeinen methodischen Konsequenzen uns zu verdeutlichen, ist der wesentliche Zweck der weiteren Auseinandersetzungen« (GAWL: 170).

Wir können vorab kommentieren, dass sich aus Webers Behauptung der gleich auseinander zu legenden ›Einseitigkeit‹ die Spannung zum Anspruch auf ›Objektivität‹ im klassischen Sinne einstellte, die es für Weber auszuloten galt. Die konkreten prinzipiellen Gründe für die ›Einseitigkeit‹ der sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise begründete Weber zunächst unter Verweis auf deren eigentümliches Erkenntnisziel: »Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits« (ebd.).

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Aus dieser weithin bekannten Definition soll hier zunächst unterstrichen werden, dass es der Weberschen ›Wirklichkeitswissenschaft‹ um die Erklärung von stets singulären Begebenheiten und deren entsprechend einzigartigen ›Kulturbedeutungen‹ ging. Dass damit keine ›Wirklichkeitserfassung‹ im Sinne eines Abbildens wirklicher Ereignisse intendiert war, ging aus der obigen Darstellung bereits eindeutig hervor. Durch Webers Abkoppelung der wissenschaftlichen Erkenntnis von der Wirklichkeit, für die ihm Rickert Pate stand, stellte sich für eine wissenschaftstheoretische Begründung der ›Wirklichkeitswissenschaften‹ das fundamentale Problem, ein alternatives Kriterium für die Konstitution der wissenschaftlichen Gegenstände anzugeben. Weber kleidete diese, von Oakes treffend als »Konstitutionsproblem« (1990: 32ff.) betitelte, Problematik in die folgende Fragestellung: »Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er ›wesentlich‹ im Sinne von ›wissenswert‹ sein solle. Nach welchen Prinzipien aber wird dieser Teil ausgesondert?« (GAWL: 171)

An dieser systematischen Stelle installierte Weber bekanntermaßen Rickerts Wertbeziehungslehre als Antwort: »was Gegenstand der Untersuchung wird [...], bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen« (ebd., 184). Er konzedierte unumwunden, dass die »kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinn also insofern an ›subjektive‹ Voraussetzungen gebunden (ist)« (ebd., 182). Tenbruck hatte in seiner schon mehrfach konsultierten Studie die Tragweite dieses Motivs hervorgehoben und gefolgert, dass »nicht die nähere Methodologie der idealtypischen Konstruktion, sondern die Subjektivierung der Kulturwissenschaften das Anliegen des Aufsatzes bildet« (1959b: 618; Hervorhebung D.Š.). Nachdem wir zunächst also mit Webers Rezeption der Rickertschen Wertbeziehungslehre die Ursprungsquelle der Objektivitätsproblematik 48 identifiziert haben , ist es nun angebracht genauer zu prüfen, inwiefern sich der theoretische Sinn dieser Konzepte im Rahmen von Webers Wissenschaftskonzeption mit demjenigen Rickerts deckt. In Erinnerung gerufen werden soll anfangs Rickerts offenkundiges Unbehagen, seine Wissenschaftstheorie ausschließlich auf der Grundlage der Wertbeziehungslehre – ob ihrer subjektivistisch-relativistischen Konsequenzen – aufruhen zu lassen. Er behalf sich daher mit der Einführung eines »Wertbeziehungsprinzips« (Oakes 1990: 97), welches dem Subjektivismus Einhalt gebieten sollte, indem die wissenschaftlich relevanten 48 Ähnlich schlussfolgert auch Oakes: »Weber teilt also [mit Rickert] alle die Voraussetzungen, die unweigerlich zum kulturwissenschaftlichen Objektivitätsproblem führen« (1990: 141).

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Wertbeziehungen auf ›objektive Kulturwerte‹ begrenzt wurden. An diesem Punkt verließ Weber den von Rickert ausgelegten Pfad und ging einen eigenen Weg (vgl. Schulz 1993a: 15). Zum Erstaunen mancher Interpreten (vgl. Oakes 1990: 141) hatte Weber völlig darauf verzichtet, ein solches 49 ›Wertprinzip‹ zu etablieren. Damit soll nicht unterschlagen werden, dass Weber gleichwohl – vorderhand in ›Wissenschaft als Beruf‹ – eine eigene Werttheorie formuliert hatte, die überdies in engem Bezug zu seiner Wissenschaftstheorie gesehen werden muss. Weber wurde aufgrund seiner Ablehnung von Rickerts Lösungsvorschlag auch nicht automatisch zu einem Apologeten des Relativismus. Wie im Folgenden ausgeführt werden soll, hatte Weber durchaus ein sensibles Gespür für die sich hier bemerkbar 50 machende Geltungsproblematik. Dieses konnte nur deshalb übersehen werden, weil man die Natur von Webers Begriffsbildungstheorie nicht angemessen wahrgenommen bzw. übersehen hatte, dass bereits auf der Ebene der Begriffskonstitution als auch auf derjenigen der Ergebnisvalidierung spezifische Kriterien angebracht worden waren, welche einem willkürlichen Subjektivismus Einhalt gebieten sollten. Oakes’ Behauptung, dass in Webers Begriffstheorie die Wertbeziehungen nicht nur die thematische Auswahl der Gegenstände, sondern darüber hinaus »auch die Bildung des idealtypischen Apparates, von dem die Untersuchung abhängt« (ebd., 51 143) , bestimmte, muss vor dem Hintergrund unserer oben entfalteten Rekonstruktion zurückgewiesen werden. Anders als Oakes (ebd., 144) vermeint, löste Weber – im Gegensatz zu Rickert – die geltungstheoretische Problematik nicht wiederum mit werttheoretischen Mitteln. Dem Fachwissenschaftler Max Weber daraus einen Strick zu drehen und ihm mangelnde intellektuelle Rechtschaffenheit aufgrund dessen, dass er den einmal eingeschlagenen neukantianischen Weg nicht mit Rickert bis zu Ende gegangen sei (ebd., 146), vorzuwerfen, entblößt nicht nur ein borniertes Verständnis von Theorieentwicklung, sondern verfehlt von vornherein die Pointe von Webers wissenschaftstheoretischem Unterfangen. Das in der Theorie der objektiven Möglichkeit und der adäquaten Verursachung implementierte Erfahrungswissen als Orientierungsmaßstab der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung muss als Webers genuine Antwort auf die ›Objektivitätsproblematik‹ akkreditiert werden. Im eigentlichen erkenntnistheoretischen Sinne war mit diesen Behelfsmechanismen die Ausgangsproblematik der Subjektivität der wissen-

49 Eine für uns nicht ganz nachvollziehbare Position, welcher zufolge Weber letztlich Rickerts Wertaxiomatik ebenso teile wie auch dessen Implementierung von »absoluten, universal geltenden Werten« in die Wissenschaftsmethodologie, wird von Bruun (1972) und Sedagy (1994: 499ff.) vertreten. 50 Damit widersprechen wir Oakes’ (1990: 141) Einschätzung, dass Weber die Brisanz, die er durch seine neukantianischen Anleihen beerbte, verkannt habe. 51 Diese Position wird von Schluchter geteilt (1988: 307).

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schaftlichen Gegenstandskonstitution zwar nicht gelöst, jedoch gewissermaßen methodologisch entschärft. Hierzu trugen darüber hinaus auch zwei weitere geltungstheoretisch relevante Bestimmungen Webers bei. Zum einen forderte Weber von Seiten der begriffskonstruierenden Sozialwissenschaftler die Berücksichtigung der »Normen unseres Denkens« (GAWL: 184). Darunter dürfte Weber wohl zum einen die allgemeinen Regeln des logisch-kausalen Schließens im Visier gehabt haben. Wir dürfen darüber hinaus vermuten – Weber selbst hatte zu seiner Vorstellung der ›Normen unseres Denkens‹ keine näheren Angaben gemacht –, dass damit auch solche Schlussfolgerungen, die keiner syllogistischen Regel, sondern eher einer Alltagslogik folgten, impliziert waren. Bekanntermaßen hatte sich Weber ja gegen eine rationalistische Verkürzung der wissenschaftlichen Begriffsbildung etwa auf eindeutige Zweck-Mittel – Komposita versichern 52 wollen (WuG: 3) – mit mäßigem Erfolg. Er wies explizit darauf hin, dass es »ganze Sphären des Verhaltens (die Sphäre des ›Irrationalen‹) (gibt), wo nicht das Maximum von logischer Rationalität, sondern lediglich die durch isolierende Abstraktion gewonnene Eindeutigkeit jenen Dienst am besten leistet« (GAWL: 497). In solchen Fällen würden dann solche Idealtypen, die »gerade ein in charakteristischer Art falsches Schlussverfahren oder ein bestimmtes typisch zweckwidriges Verhalten [supponierten; D.Š.] einen besseren Dienst tun« (ebd.). An verschiedenen Stellen der ›Wissenschaftslehre‹ begegnet man den seltsam lapidar anmutenden Formulierungen Webers, in denen als Gütekriterium für eine Kausalhypothese schlicht deren »Erfolg« für die kulturwissenschaftliche Kausalerklärung einer spezifischen Konstellation angegeben wird (ebd., 170, 193, 268, 296). Auf dem ersten Blick mutet dieses Siegelstempel als unbefestigt in der Luft hängend an. Dieser Eindruck löst sich auf, wenn man jene oft zitierte, aber dennoch enigmatisch bleibende Äußerung Webers hinzunimmt: »wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen« (ebd., 184). In dieser Bestimmung wird, so die hier vorgeschlagene Lesart, die Wissenschaftsgemeinde als Träger der Entscheidung über den Erfolgsgrad von Kulturdeutungen installiert. Odo Marquard hat zur Bezeichnung des hier vorliegenden Geltungsprinzips die Formulierung »kooptative Selbstdefinition der Wissenschaften« (1986: 107) angeboten. Wir können zusammenfassend zwischen einer begriffstheoretischen, einer methodologischen und einer konsensualistischen Argumentationsstrategie Webers differenzieren, welche allesamt auf eine ›Lösung‹ der kulturwissenschaftlichen Objektivitätsproblematik bzw. auf eine Abdämpfung der Relativitätsproblematik ausgerichtet waren. Webers Wissen-

52 Das Vorurteil von Webers angeblich rationalistischem Vorurteil hält sich hartnäckig bis in die Gegenwart. Weiß (1992a: 55ff.) hat dazu im Grunde bereits alles Wesentliche gesagt.

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schaftskonzeption verzichtete bewusst auf eine Lösungsstrategie wie sie Rickert in Form einer »Substantialisierung der Wertssphäre« (Prewo 1979: 52) unterbreitet hatte. Die theoretische Instrumentalisierung von Werten erfüllte im Rahmen von Webers Grundlegungsansatz den rein formalen Sinn der Heraussonderung von »wissenswerten« Daten aus dem ›Chaos‹ der Wirklichkeit. Webers Antwort auf das ›Objektivitätsproblem‹ wird von vielen Interpreten als unzureichend kritisiert. Runciman monierte beispielsweise, dass unter Zugrundelegung der von Weber angebotenen Geltungskriterien letztlich keine markanten Unterschiede zwischen alternativen sozialwissen53 schaftlichen »Idealisierungen« gezogen werden könnten (1972: 36). Auch in diesem Punkt reicht die Antwortpalette sehr weit: Während von manchen Kommentatoren Webers Scheitern an der Objektivitätsproblematik erklärt wird (Oakes 1990: 147), feiern ihn andere sogar als Überwinder des Historismus (Wittkau 1992: 131ff.). Von welchem philosophischen Standpunkt man nun Webers Geltungstheorie auch beurteilen mag, so ist in jedem Fall festzuhalten, dass sein Standpunkt weder ein Zufallsprodukt, noch das Ergebnis einer halbherzigen Rickert-Übersetzung darstellt, sondern ein systematisch-kohärentes Ganzes, bei dem die Teile mit Bedacht aufeinander abgestimmt wurden. Die Forderung nach einem starren, eindeutigen Geltungskriterium steht überdies in Widerspruch zu Webers dynamischer und auf (Alltags-)Erfahrung rekurrierender Begriffstheorie. Webers Antwort auf seine Ausgangsfrage: »Was heißt hier Objektivität?« (GAWL: 161), muss in engstem Bezug zu seiner Bestimmung des »Erfahrungswissens« als Quelle der kulturwissenschaftlichen Begriffe gelesen werden. Hierin ist letztlich der Grund zu sehen, weshalb Weber sich für den Geltungsstatus der kulturwissenschaftlichen Ergebnisse mit einer gegenüber dem traditionellen Verständnis gestutzten Form von ›Objektivität‹ begnügte und diesen Begriff in Anführungszeichen setzte. Aus der folgenden resümierenden Bemerkung Webers geht der enge Zusammenhang zwischen dem Motiv der ›Subjektivierung der Kulturwissenschaften‹ einerseits und Webers erfahrungsfundiertem Wissensbegriff andererseits klarer hervor: »Die objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag« (ebd., 212f.; Hervorhebung D.Š.).

53 Dieser Einwand wurde von Schmid jüngst aktualisiert (2004: 553).

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Die angesprochene Systematizität von Webers ›Wissenschaftslehre‹, die man in der Regel bestritten hat, soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels erhärtet werden. Der nächste Schritt zu ihrer Verifizierung soll in einer Rekonstruktion von Webers Werttheorie gesucht werden, die er vor allem im ›Werturteilsfreiheits-Aufsatz‹ sowie in ›Wissenschaft als Beruf‹ entfaltet hatte. Den leitenden Gesichtspunkt dieses Unterfangens soll dabei die Frage abgeben, welche außer-wissenschaftlichen Gründe Weber dazu bewogen haben mochten, sich in einer Zeit, in welcher das Eingeständnis relativistischer Anschauungen leicht als weltanschauliche Schwäche ausgelegt werden konnte, mit einem eingeschränkten Typus von ›Objektivität‹ zu begnügen. Im Kontext dieser Erläuterungen wird es vonnöten sein, sowohl auf die konkrete Gestalt der ›Verstehenden Soziologie‹ als auch auf Webers Bild der Genese und Spezifik der okzidentalen Moderne einzugehen.

Wertphilosophie und Metatheorie des Wissens Im geistigen Klima der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts repräsentierte die von Weber vertretene und öffentlich in offensiver Manier von ihm vorgetragene wissenschaftsethische Grundhaltung eine Ausnahmeerscheinung, deren Bedeutung und Modernität im Grunde erst die Nachkriegssoziologie zu würdigen begann. Carlo Antoni hatte Webers Position folgendermaßen resümiert: »Max Weber ist der deutsche Denker, der mit größter Tatkraft auf der Unterscheidung von Sein und Sollen, von Wissenschaft und Werturteil bestanden hat« (1950: 191). Bekanntermaßen hatte Weber von seinen Zeitgenossen nur wenig Verständnis für seine Appelle 54 geerntet. Um Webers Ansicht nachvollziehen zu können, erscheint es sinnvoll, dass wir uns seinem wertphilosophischen Standpunkt zunächst vorsichtig im Ausgang von seinem oben explizierten Anliegen der »Subjektivierung der Kulturwissenschaften« (Tenbruck) annähern. Zurückhaltung ist deshalb angebracht, weil Weber, eigener Bekundung gemäß, keine ausdrückliche Theorie der Werte formuliert hatte (Schluchter 1998: 70). Gleichwohl implizieren Webers Ausführungen zur ›Werturteilsfreiheit‹ eine solche durchaus, zu deren Rekonstruktion in den letzten Jahren insbesondere Wolfgang Schluchter (1988: 288ff.; 1998: 78ff.) auf den Plan ge55 treten ist. 54 Siehe etwa die Darstellung der sich im Anschluss an ›Wissenschaft als Beruf‹ entwickelten Debatte bei Ringer (1987: 315ff.) und Schluchter (1995: 289ff.). 55 Schluchters Rekonstruktion der Weberschen Werttheorie, die sich insbesondere von systemtheoretischen Ansätzen unterschiedlichster Provenienz – Parsons, Luhmann, Habermas –, inspirieren lässt, unterlegt Webers Werttheorie ein ähnliches Grundschema von Werttypen und dazugehörigen Lebens-

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Die Berechtigung, das Resultat der Weberschen Wissenschaftstheorie als subjektivistische Position festzuhalten, bezogen wir daraus, dass er vorsätzlich darauf verzichtet hatte, ein allgemein-objektives Geltungskriterium zum Zwecke der Evaluierung der kulturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse anzuführen. In Webers Rede ›Wissenschaft als Beruf‹ begegnen wir einer wertphilosophischen Grundfigur, die in engem Zusammenhang zu dieser Lösung der Objektivitätsproblematik zu deuten ist. Er fasste sie zumeist in das allegorische Bildnis des unversöhnlichen und unaufhebbaren Kampfes zwischen alternativen Göttern (GAWL: 507, 550). Es sollte seine wertphilosophische Grundansicht zum Ausdruck bringen, welcher zufolge das Leben im allgemeinen Sinne der menschlichen Existenz einen unhintergehbaren Konflikt zwischen verschiedenen Wertstandpunkten mit sich bringt. Inwiefern nun Wissenschaft zum einen und individuelle Existenz zum anderen von diesem Sachverhalt auf je spezifische Weise betroffen wurden, kann als Ausgangsfragestellung seines Vortrags angesehen werden. Webers Lösungsvorschlag ist bekannt: Er verpflichtete das Individuum dazu, sich nach eigenen Maßgaben zwischen disparaten Werten zu entscheiden und entband gleichzeitig die Wissenschaft grundsätzlich von der ihr von außen zugetragenen Aufgabe, vermeintlich ›objektive‹ Empfehlungen abzugeben. Wertentscheidungen und Wissenschaft repräsentierten, so Weber, »ganz und gar heterogene Probleme« (ebd., 544), welche es entsprechend von der Kanzel aus auch auseinander zu halten gelte. Keineswegs für eine »Gesinnungslosigkeit« (ebd., 157) des Wissenschaftlers hatte sich Weber ausgesprochen, sondern lediglich für das zumutbare Tribut an die intellektuelle Rechtschaffenheit, sachliche und wertende Argumentationsebenen zu trennen. Auf dem Boden der Annahme eines solchen unversöhnlichen »Polytheismus der Werte« (Schluchter 1988: 281; Oakes 1990: 142) stehend, musste Weber Rickerts Unterfangen, mit philosophischen Mitteln eine hierarchische und systematische Ordnung in dieses Chaos zu bringen, absurd vorkommen. Im Allgemeinen wird an dieser Stelle der Punkt markiert, an dem sich Webers Wertphilosophie von den Voraussetzungen sowohl der ordnungen, das bereits Rickerts ›System der Philosophie‹ zugrunde lag (1998: 79). In konzeptueller Hinsicht bemerkt Schluchter dagegen größere Übereinstimmung mit Windelbands Wertbegriff (ebd., 295f.). Uns interessiert hier zunächst weniger der inhaltliche Gehalt, als die formale Struktur von Webers versteckter Werttheorie. Darüber hinaus soll bemerkt werden, dass die von Schluchter gewählte Ausgangsperspektive möglicherweise dazu angetan ist, das Ausmaß zu verdecken, in welchem sich Webers wertepluralistischer Standpunkt aus seiner empirisch-historischen Kulturbeschreibung erklären lässt. Wir erwähnen an dieser Stelle die weiter unten zu diskutierende These von Volkhard Krech und Gerhard Wagner (1994: 758), welcher zufolge man insbesondere ›Wissenschaft als Beruf‹ als ›Abrechnung‹ mit der neukantianischen Weltanschauungslehre zu deuten habe.

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Windelbandschen als auch der Rickertschen Werttheorie verabschiedete (Schluchter 1988: 296; 1998: 74). Hatte Weber bereits die Konstitution der wissenschaftlichen Gegenstände auf einer subjektivistischen Grundlage belassen, so setzt sich diese Argumentationslinie auf der wertphilosophischen Ebene insofern fort, als Weber einem individualistischen ›Dezisionismus‹ das Wort redete. Zu dem Erfordernis, sich individuell entscheiden zu müssen, sah Weber keinerlei Alternative. Und nichts war ihm verhasster als jene gemächliche Haltung, welche diese »schlichte intellektuelle Rechenschaftspflicht« umgehen wollte (GAWL: 555, 507). Metaphorisch beschrieb er das »Leben als Ganzes« auch als »eine Kette letzter Entscheidungen [...], durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal [...] wählt« (ebd., 507f.). Über die konkreten Wurzeln dieses Weltbildes ließ Weber uns weitgehend im Dunkeln. Man stößt lediglich auf eine als Zitat geschmückte Stelle, welche einen signifikanten Bezug zur Alltagserfahrung herstellt: »Der alte Mill, dessen Philosophie ich sonst nicht loben will, aber in diesem Punkt hat er recht, sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus. Das ist flach formuliert und klingt paradox, und doch steckt Wahrheit darin« (ebd., 603).

Mit der uneindeutigen Formulierung: ›reine Erfahrung‹ war durchaus nicht ein szientifisch gefilterter Erfahrungsbegriff angedeutet, sondern die vorwissenschaftliche Erfahrung, wie auch Schluchter (1988: 283) verdeutlichend hervorhebt. In dieser Anspielung werden wir auf einen weiteren Themenbereich verwiesen, über dessen Bedeutsamkeit für Webers Gesamtwerk schon beinahe Bibliotheken an Sekundäranalysen vorgelegt wurden. Der materiale Gehalt von Webers Zeitdiagnose der Moderne soll im Folgenden nicht an sich Gegenstand der Überlegungen sein. Stattdessen soll der Schwerpunkt auf Webers Analyse und Bewertung des von ihm so bezeichneten Prozesses der »Intellektualisierung und Rationalisierung der Welt« (GAWL: 612) und deren Zusammenhang mit Webers axiologischer »Konflikttheorie« (Schluchter 1988: 306) fokussiert werden. Darüber, dass diese unmittelbar zurückgebunden ist auf Webers Zeitdiagnose, besteht indes keinerlei Zweifel (vgl. ebd., 278). Weber beschwor in ›Wissenschaft als Beruf‹ an unterschiedlichen Stellen das »Schicksal unserer Kultur« (GAWL: 605, 612) und verkleidete in dieser für Weber durchaus untypischen und verschleiernden Wendung (Krech/Wagner 1994: 774) seine eigentümliche und keineswegs voraussetzungslose Auffassung über die Entwicklung und Gestalt der »kulturel56 len Moderne« . Für das moderne Schicksal, sich zwischen alternativen 56 Dieser Begriff, der von Lichtblau (1996: 15ff.) eingehend entfaltet wurde, steht im Weiteren als Bezeichnung für die spezifische Gemengelage unterschiedlicher geistes- und gesellschaftsgeschichtlicher Tendenzen, wie sie im

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Werten entscheiden zu müssen, gab Weber in seinem Vortrag lediglich einen leicht überlesbaren Hinweis, der auf ein Theorem verwies, welches er erst gegen Ende seines Lebens entwickelt hatte und nicht mehr in einer 57 ausführlichen systematischen Form publizieren konnte. Dieses findet sich innerhalb des Korpus von Webers Werk lediglich im ›Werturteilsfreiheitsaufsatz‹ sowie in den Versionen der so genannten ›Zwischenbetrachtung‹ von 1915 und 1920 eingehender ausgebreitet. Weber entfaltete darin eine – modern gesprochen – kultur- oder evolutionsgeschichtliche Differenzierungstheorie, die von dem Befund abhob, dass sich bis in die Gegenwart hinein unterschiedliche »Wertsphären« bzw. »Lebensordnungen« (RS I: 537) ausgebildet hätten, die jeweils nach unterschiedlichen und oftmals antagonistischen Eigenlogiken und Sinnkriterien strukturiert seien. Von dieser historisch-empirischen Warte aus betrachtet, standen Weber zufolge nicht nur Werte in Konfliktbeziehung zueinander, sondern, damit 58 einhergehend, soziale Institutionen. In der zugespitzten und allegorischen Sprache von ›Wissenschaft als Beruf‹ las sich diese Diagnose folgendermaßen: »Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf« (GAWL: 605). Auf der Ebene des individuellen Alltagshandelns resultierte aus dieser Konstellation das »gewaltige Lebensproblem« (ebd., 604) des modernen Menschen, welches Weber an anderer Stelle dergestalt umschrieb: »In fast jeder einzelnen wichtigen Stellungnahme realer Menschen kreuzen und verschlingen sich ja die Wertsphären« (ebd., 507). Webers wertpluralistischer Ausgangspunkt wird, wie in diesen Beschreibungen ersichtlich, nicht einfach vorausgesetzt oder aus einer begrenzten Gegenwartsanalyse bezogen. Dass es sich bei dem Phänomen des ›Polytheismus‹ in Webers Augen ebenso wenig um ein bloß peripher relevantes, soziales Randphänomen handelte, sondern um ein im Grunde alle Bereiche des sozialen Lebens prägendes Moment, klingt in den zitierten Passagen deutlich an. Das ›erklärende Verstehen‹ (im Weberschen Sinne) des »historischen Gewordenseins« dieser kulturgeschichtlichen Konstellation muss vielmehr als ein Grundmotiv seines wissenschaftlichen Ehrgeideutschen Sprachraum nicht erst um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sondern bereits um ca. 1800 anzutreffen war. Zu diesen Tendenzen zählen vor allem eine Spannung zwischen fragmentarischer Erfahrung einerseits und parallelem Festhalten an der Hoffnung auf ›Erlösung‹ im Hegelschen Sinne (vgl. Hardimon 1994: 98ff.; Lilla 2001: 861) andererseits. 57 Damit beziehe ich mich insbesondere auf jene Passagen des ›Werturteilsfreiheitsaufsatzes‹, welche Weber dem ursprünglich 1913 abgefassten Gutachtenmanuskript im Jahre 1917 hinzugefügt hatte (GAWL: 505-508). Dieser editionsgeschichtliche Hinweis ist Schluchter (1988: 288) entnommen. 58 ›Institutionen‹ ist hier im soziologischen Sinne verstanden. Mit Weber selbst können wir sie als »bewußt« zu bestimmten Zwecken geschaffene Organe definieren (GAWL: 162).

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zes überhaupt angesehen werden. Folgende Passage aus dem frühen ›Objektivitätsaufsatz‹ kann als Beleg dafür angeführt werden: »Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten, Zusammenhange und in seinem Gewordensein aus anderen, selbstverständlich wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen heraus« (ebd., 172).

Diesem Anspruch versuchte Weber in der Form einer kulturgeschichtlich breit angelegten »Theorie einer Entwicklungsgeschichte des Okzidents« (Schluchter 1998: 88) Genüge zu tun. Charakteristisch für Webers Vorschlag war dabei bekanntermaßen eine inhaltliche Konzentration auf religionsgeschichtliche und –soziologische Kulturerscheinungen, wie sich im Übrigen auch noch in Webers Argumentation in ›Wissenschaft als Beruf‹ manifestierte. Von diesem Vortrag aus betrachtet, musste jene ›Entwicklungsgeschichte‹ in formaler Hinsicht zugleich eine Theorie über das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Alltagsleben und den objektiven Wertordnungen nachliefern, was Weber in seinem Vortrag lediglich angedeutet hatte. Bevor auf einige inhaltliche Bilanzen von Webers »Universalgeschichte der Kultur« (RS I: 10) eingegangen wird, soll dieser formale Aspekt beleuchtet werden. Webers religionssoziologische Studien haben nicht zuletzt aus dem Grund einen einzigartigen Status innerhalb der Sozialwissenschaften erlangt, weil sie auf eindrucksvolle Weise ein feinfühliges Gespür für Modi der Vermitteltheit von ›ideellen Weltbildern‹, ›materialen Sozialstrukturen‹ und – dazwischen liegend – ›subjektiven Interessen‹ von Individuen 59 vor Augen führten. Um einen für Dilthey gebrauchten Terminus zu applizieren, können wir mit diesen Theorieelementen die drei Komponenten von Webers ›Strukturlehre‹ identifizieren. In einer berühmt gewordenen Formulierung hatte Weber das wechselseitige Konstitutionsverhältnis zwischen ›Ideen‹ und ›Interessen‹ antizipiert: 59 Die Pointe der ›Protestantismus-These‹ lag gerade in der Erkenntnis, dass sich eben nicht eine (theologische) Idee – in diesem Fall die Askese des calvinistischen Protestantismus – unmittelbar, d.h. ihrer impliziten gedanklichen Logik folgend, auf das Alltagshandeln der Gläubigen oder gar auf die institutionelle Ebene niederschlug, sondern darin, dass diese Logik des täglichen »innerweltlichen Handelns« (RS I: 144) jene ›theologische‹ Logik nach unabhängigen, genauer »psychologischen und pragmatischen« Maßgaben, applizierte. Dass Weber diese werkgenetisch frühe Einsicht später verallgemeinerte, geht aus folgender Formulierung aus der Einleitung in die ›Wirtschaftsethik der Weltreligionen‹ hervor: »Nicht die ethische Theorie theologischer Kompendien, [...], sondern die in den psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen gegründeten praktischen Antriebe zum Handeln sind das, was in Betracht kommt« (ebd., 238).

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»Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ›Weltbilder‹, welche durch ›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte« (ebd., 252).

Weber unterlegte der Relation zwischen den drei Erklärungskomponenten kein monogenes Modell, sondern erachtete sie als immer schon in irgendeiner Form miteinander vermittelt. So muss man sehen, dass das menschliche Handeln gemäß des soziologischen Erklärungsprogramms Webers über den »subjektiv gemeinten Sinn« individueller Akteure, in dem sich ›Interessen‹ unmittelbar artikulierten, erschließbar sei. Jedoch können hinter jenen Orientierungen wiederum abstrakte Interessen stehen, die im historischen Verlauf zu ›Weltbildern‹ oder – modern gesprochen – Symbolsystemen gerannen, welche folglich auf zumindest mittelbare Art das Handeln bestimmen konnten. Exakt ein solches Bedingungsverhältnis kam in Webers oben zitiertem Ausspruch über die Götter, welche in Gestalt ›unpersönlicher Mächte‹ Gewalt über das Leben erlangen wollten, zum Ausdruck. Die Expression ›unpersönliche Mächte‹ spielte auf jene Potenz sowohl von ›Ideen‹ wie auch von ›Interessen‹ an, sich in stabilen, überindividuellen Zuständen zu institutionalisieren, welche mitunter die Eigenschaften anzunehmen pflegten, die Émile Durkheim (1965: 106) bereits allgemein ›sozialen Tatbeständen‹ zugesprochen hatte, nämlich ein Eigenleben und einen zwanghaften Einfluss auf das Individuum auszubilden. Für diese ›Zustände‹ hatte Weber Bezeichnungen wie ›Wertsphäre‹, ›Lebensordnung‹ und ›Wertordnung‹ eingeführt. Mit diesen Hinweisen ist zugleich nachvollziehbar, warum eine definitionsgemäß individualistische Sozialwissenschaft, die ausschließlich über den Sinn individueller Akteure die soziale Wirklichkeit erschloss, durchaus konzeptionell in der Lage und sachlich sogar dazu aufgefordert war, das ›Gewordensein‹ wie auch die Struktureffekte überpersönlicher Lebensordnungen zu analysieren. Per definitionem sind nämlich diese Lebensordnungen – um es mit den Worten Schluchters zu schildern – immer »in Interessen- und Ideenkonstellationen eingebettet« (1998: 90), welche dem Handeln von Akteuren Orientierung geben. In der ›Zwischenbetrachtung‹ hatte Weber bekanntlich sieben unterschiedliche Lebensordnungen 60 herausgestellt. Für unseren Fragezusammenhang, der sich auf die historisch-kulturellen Hintergründe für Webers Werttheorie richtet, mag es hinreichen, sich auf die Entwicklung von Religion und Wissenschaft zu kaprizieren. Um das Verhältnis dieser beiden Wertordnungen kreiste schließlich auch Webers Diskussion in ›Wissenschaft als Beruf‹. Seine Theorie der

60 Im Einzelnen waren dies: Verwandtschaft, Religion, Ökonomie, Politik, Kunst, Sexualität/Erotik und Wissenschaft (vgl. Schluchter 1998: 91).

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Moderne wäre missverstanden, würde man sie einseitig, etwa nach dem Stufenmodell von Comtes ›Drei-Stadien-Gesetz‹, interpretieren wollen. Webers Beschreibungsmodell postulierte keine entwicklungsgenetische Kompensationstheorie, welche unterstellte, dass die historische Entwicklung die Wissenschaft an die vormalige Position der Religion gespült habe. Stattdessen setzte seine Rationalisierungstheorie ein Modell voraus, das die synchrone Koexistenz mehrerer Wertordnungen im Sinne einer 61 ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ zu denken erlaubte. Die condition moderne enthüllte sich ihm »als ein von den beiden Polen der Wissenschaft und Religion dichotomisch bestimmter Zustand« (Krech/Wagner 1994: 764). Allein auf der Grundlage eines solchen synchronen Strukturmodells konnte Weber seine Diagnose des modernen Polytheismus plausibilisieren. Folgt man der von Krech und Wagner geäußerten Impression, so stand bei Webers Verhältnisbestimmung von Religion und Wissenschaft Nietzsches ›griechische Tragödie‹ Pate. Die Parallelität beziehen die Autoren auf das von Nietzsche und Weber illustrierte Konfliktverhältnis »zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung« (W I: 94) bzw. zwischen Wissenschaft und Religion. Nach Nietzsches Darstellung wurde das gleichgewichtige Kräftespiel zwischen den ›Lebensmächten‹ des ›Apollinischen‹ und ›Dionysischen‹, welches in der Form des ›tragischen Mythus‹ am Leben erhalten wurde, durch das in der Figur des Sokrates personifizierte Emporkommen der Wissenschaft empfindlich gestört. Sokrates habe, so Nietzsche, den für die Wissenschaft charakteristischen »erhabenen metaphysischen Wahn« befördert, dem zufolge »das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei« (ebd., 84). Wenn Nietzsche nun das Aufblühen der Wissenschaft nicht als Endpunkt, sondern als überwindungswürdiges Durchgangsstadium der Wissensevolution begreift, so kann man darin durchaus eine Vorwegnahme einer ›Dialektik der Aufklärung‹ im Sinne von Horkheimer und Adorno (1994) erblicken (vgl. Schluchter 1988: 286; Krech/Wagner 1994: 770). Nietzsche hatte im »Geist der Wissenschaft« (W I: 94) typische »Grenzen« ausgemacht, »an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert« (W I: 86). An diesen Grenzen, so prophezeite Nietzsche weiter, »bricht eine neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht« (ebd., 87). 61 Webers typologische Beschreibungen von Entwicklungen in diachronischer Perspektive werden dadurch, dass er sich zur Beschreibung der Gegenwart auf ein (synchronisches) Alternativmodell stützte, u.E. nicht tangiert. Als für diesen Zusammenhang sowohl inhaltlich relevantes und in formaler Hinsicht für Webers analytischen Blick paradigmatisches Exempel soll auf Webers Übergangsbeschreibung unterschiedlicher Formen religiöser Praktiken – unter Rekurs auf veränderte sozial-politische und institutionelle Bedingungen – in dem kurzen, aber inhaltlich dafür umso faszinierenderen Abschnitt ›Die Entstehung der Religionen‹ (WuG: 245ff.) verwiesen werden.

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Der Typus des rational-wissenschaftlichen Wissens sollte über den Prozess einer ›Repristination‹ des tragischen Mythos überwunden werden. In Webers Investigation des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion unter den Bedingungen der Moderne trifft man nun ebenfalls auf das bei Nietzsche zugrunde liegende Grundmotiv des »ewigen Kampfes« (ebd., 94) zwischen den Alternativen einer mythisch-tragischen und einer wissenschaftlich-theoretischen Weltansicht. Es schimmert unübersehbar in Webers Beschreibung des »ewigen Kampfes jener Götter« (GAWL: 608) hindurch und mag Weber zur Analyse des modernen Phänomens des Polytheismus angeregt haben. Weber interpretierte den modernen Zustand schließlich als ein ungewolltes Resultat des Prozesses der »Intellektualisierung und Rationalisierung« (ebd., 594). Nicht nur hatte »dieser in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozeß« (ebd.) keineswegs zu einer allgemeinen Zunahme der »Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht« (ebd.), geführt, sondern vielmehr zog Weber den gegenteiligen Schluss: »Der ›Wilde‹ weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn ›Zivilisierte‹« (ebd., 473). Die Grenz- und Umschlagspunkte im Rationalisierungsprozess kulminierten nach Webers Annsicht letztlich in folgender Erfahrung, die Nietzsche glasklar antizipiert hatte: »Logik kann sich nicht mit ihren eigenen Mitteln begründen« (Krech/Wagner 1994: 771). Die Geltung von Wissen und Wissenschaft im Zeitalter der Moderne hing laut Weber wiederum von je individuellen Wertstellungnahmen ab, welche niemals wissenschaftlich beweisbar seien und einer ›heterogenen‹ Problemebene zuzuordnen seien. Webers letztes und deutliches Wort über diese Frage verhieß: »Keine Wissenschaft ist absolut voraussetzungslos, und keine kann für den, der diese Voraussetzungen ablehnt, ihren eigenen Wert begründen« (GAWL: 610). In diesem Sinne lässt sich die Schlussfolgerung Krech/Wagners (1994: 771) nachvollziehen, dass die Wissenschaft, vormals zur Ersetzung der Religion angetreten, mit ihrer Ankunft in der Moderne durch radikale Applizierung der ihr eigenen – nach Nietzsche ›wahnsinnigen‹ – Erkenntnishaltung auf sich selbst, wiederum selbst wieder die Frage des Glaubens aus sich entlässt. Die ›Krisis des Wissens‹ in der modernen Gesellschaft manifestiert sich – im Gefolge Webers – gegenüber vormaligen Gesellschaftsformationen darin, dass subjektives und damit einhergehend auch wissenschaftliches Wissen, das an individuelle Erfahrungen zurückgebunden bleibt, nicht mehr aus einem einzigen fundierendem Prinzip – ›Logos‹, ›Gott‹, ›Vernunft‹ – abgeleitet werden könne, da in der modernen Gegenwart verschiedene Götter um das Monopol auf legitime Repräsentation der Sozialwelt rangen. Die angedeutete Dialektik des Wissens kommt darin zum Ausdruck, dass – um in Webers und Nietzsches Begriffssprache zu verbleiben – die monotheistische Wissensfundierung, welche das griechi-

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sche und römische polytheistische Götterpantheon historisch ersetzt hatte, im Zuge der Rationalisierung der ethisch-methodischen Lebensführung wiederum einen Polytheismus befördert hat: »Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus jeder religiösen Prophetie quillt, hatte diese Vielgötterei entthront zugunsten des ›Einen, das not tut‹ – und hat dann, angesichts der Realitäten des äußeren und inneren Lebens, sich zu jenen Kompromissen und Relativierungen genötigt gesehen, die wir alle aus der Geschichte des Christentums kennen. Heute aber ist es religiöser ›Alltag‹« (GAWL: 604f.).

Dass es sich bei den modernen ›Göttern‹ nicht mehr um jenen transzendenten Gott der Theologen, sondern gewissermaßen um säkularisierte und diesseitige Wertordnungen handelte, welche die Gründerväter der moder62 nen Soziologie zum Analysegegenstand nahmen, versteht sich von selbst. Die sozio-kulturellen Konsequenzen des Rationalisierungsprozesses waren für Weber definitiv und unumkehrbar. Unter den Bedingungen einer unausweichlichen Wertkollision blieb für ihn nur die bewusste Entscheidung des Individuums als Instanz der Wissensfundierung übrig. Wir können somit eine innere Wahlverwandtschaft zwischen diesem werttheoretischen Subjektivismus einerseits und der oben als Webers primäre methodologische Grundintention herausgestellte Subjektivierung der Kulturwissenschaften beschließen. Sie bilden zwei Seiten derselben Medaille. In Analogie zu Simmel finden wir bei Weber die beiden Ebenen, diejenige der meta-empirischen Werttheorie einerseits und der Erkenntnistheorie andererseits, über eine jeweils spezifische Diagnostik der modernen Gesellschaft und ihrer kulturgeschichtlichen Wurzeln, miteinander vermittelt. In dieser besonderen Weise der formaltheoretischen und inhaltlichkonkreten Verlinkung präsentiert sich eine spezifische Systematizität, die im Hinblick auf die Bestimmung von Webers Theorie des Wissens zentral ist. Bevor wir deren Gesamtgestalt und philosophische Signifikanz resümieren, erscheint ein genauerer Blick auf Webers Grenzziehung des Bereichs der Wissenschaft gegenüber jeglicher praktisch ausgerichteten Weltanschauungsphilosophie opportun.

›Wissenschaft‹ und ›Weltanschauung‹ Wie gesehen, lässt sich Webers Konzeption eines werttheoretischen und begriffstheoretischen Subjektivismus auf seine zeitdiagnostische Theorie pluraler Wertssphären zurückbeziehen. Wie durchaus mit Recht bemerkt 62 Zum Beitrag der modernen Sozialwissenschaften zur Säkularisierung des Wissens siehe auch Šuber (2005).

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wurde, hatte Webers, zu unterschiedlichen Anlässen vorgetragene, Insistenz auf strikte Scheidung von Wertungen und Sachaussagen nicht zuletzt auch geltungstheoretische Implikationen, die nur sehr wenige Zeitgenossen mitzugehen bereit waren. Ausschlaggebend für diese Reaktionsweise dürfte vor allem Webers Grenzmarkierung der Gebiete der Ethik und der empirischen Wissenschaft gewesen sein, die in der Feststellung gipfelte, »daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andrerseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität jeder von beiden Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen sucht« (ebd., 501).

Weber erreichte durch die strikte Gebietstrennung zum einen die Befreiung der empirischen Wissenschaften von jeglicher philosophischer Bevormundung, worauf es ihm möglicherweise ausschließlich angekommen sein mochte. In einer zweiten Konsequenz war dadurch, wie jüngst Lothar Waas (1995: 17) wieder ins Gedächtnis gerufen hat, die Ethik schlechthin für tot erklärt und die Möglichkeit einer rationalen Begründung der Moral ganz generell desavouiert worden. Unmissverständlich verwies Weber zur Begründung der Überflüssigkeit eines philosophischen Integrationsversuchs von Theorie und Praxis bzw. von Wissenschaft und Leben abermals auf den unüberwindbaren Wertekonflikt: »eine echte Wertphilosophie also, würde ferner, darüber hinausgehend, nicht verkennen dürfen, daß ein noch so wohlgeordnetes Begriffsschema der ›Werte‹ gerade dem entscheidendsten Punkt des Tatbestandes nicht gerecht würde. Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ›Gott‹ und ›Teufel‹« (GAWL: 507).

Zu einer Zeit, in welcher selbst ›strenge‹ Philosophen wie Husserl und Rickert eine ›Weltanschauungsphilosophie‹ zur Überwindung der ›Krise des Wissens‹ ansetzten und die lebensphilosophische Forderung der Wiederzusammenführung von Wissenschaft und Leben in allen Wissensgebieten Verbreitung fand, musste Webers unversöhnlicher Dualismus als eine Radikalisierung der Krisenursachen erscheinen und unter den Philosophen auf schärfste Ablehnung stoßen. Schelers Bezichtigung einer »Ausschaltung der Philosophie« (1960: 430) kann hier stellvertretend für die ganze 63 Zunft genommen werden. Zum Stein des Anstoßes für die Kritiker wurde

63 Neben Scheler waren sich, so Schluchter (1995: 293), auch Curtius, Troeltsch und auch Rickert in dieser Einschätzung einig.

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schließlich auch Webers These vom versachlichten Polytheismus und des Götterkampfes (Schluchter 1995: 293). Dürfen wir daraus schließen, dass Weber zur Lösung der epochalen Wissens- und Wissenschaftskrisis nichts zu bestellen hatte? Weber hatte 64 den gegen ihn tatsächlich erhobenen Vorwurf des Relativismus antizipiert und seinen Standpunkt der »Wertkollision« vor einer Identifizierung mit dem Relativismus ausdrücklich verwahrt (GAWL: 508). Der Relativismus, so Weber, gehe gerade von einer der Theorie der Wertkonflikte entgegengesetzten Werthaltung aus, nämlich von der prinzipiellen Gleich65 wertigkeit aller möglichen Standpunkte (ebd.). Nimmt man Webers ethischen Dezisionismus hinzu, so kann nicht ernstlich der Vorwurf einer ethischen Substanzlosigkeit (von Kahler 1920: 15) und Gewissenlosigkeit (Bosse 1970: 282) aufrechterhalten werden. Aus der Perspektive eines zeitgenössischen Beobachters könnte man Weber begründeter Weise eine Unterhöhlung des im Anfangskapitels skizzierten idealistischen Wissenschaftsbegriffs vorhalten. Denn Webers Wertfreiheitspostulat bezog sich auf die zentrale Erkenntnis, der zufolge »Es keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art (gibt), welches hier [in Wertfragen; D.Š.] eine Entscheidung geben könnte« (GAWL: 508). Nicht nur die Philosophie, um die sich Scheler in seiner Erwiderung auf Weber primär sorgte, sondern jegliche Wissenschaft, so lernt man hier, trifft das Schicksal der Ohnmacht gegenüber Wertfragen. Genau besehen handelt es sich bei Webers Argumentation durchaus nicht um ein genuin werttheoretisches oder wissenschaftsethisches, sondern um ein wissenschaftstheoretisches und erkenntnistheoretisches Postulat, welches als solches weder im eigentlichen Sinne verifiziert noch falsifiziert, sondern a priori akzeptiert oder abgelehnt werden kann. Es basierte auf einem Dualismus von Theorie und Praxis, welche Weber, wie Bianco (1994: 300ff.) wohl mit Recht vermutet, zunächst von Rickert adaptiert hatte und schließlich aus der wissenschaftstheoretischen Sphäre in einen wertphilosophischen Dualismus transponiert hatte. In wissenschaftsethischer Hinsicht bedeutete Webers Forderung nach Ebenentrennung ja keineswegs das letzte Wort. Es wird oft übersehen, dass Weber der Wissenschaft durchaus sogar eine zentrale Orientierungsfunktion für die Entscheidungsfindungsprozesse des Individuums zuwies. Sein Postulat wollte Weber auch nicht als Stellungnahme gegen die Verhandlung praktischer Fragen vom Katheder aus verstanden wissen, sondern er überlies diese Entscheidung wiederum den 64 Belege für diesen Einwand gegenüber Weber finden sich nicht nur bei seinen Zeitgenossen, sondern ebenso bei Parsons und modernen Naturrechtstheoretikern (Ferrarotti 1982: 3). 65 Dieses Bild eines ›primitiven‹ Relativismus ist selbstverständlich eine Position, wie sie im Diskurs der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts regelmäßig als Kontrastfolie instrumentalisiert, jedoch in dieser Form kaum real vertreten wurde.

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subjektiven Stellungnahmen des Wissenschaftlers (GAWL: 491). Der konkrete Aufgabenkatalog, den Weber den empirischen Wissenschaften im Hinblick auf ihre Orientierungsfunktion in die Wiege legte, erstreckte sich über die technische Aufklärung der Funktionsweise des Lebens, der Schulung des Denkens bis zur Auslegung von Zweck-Mittel – Zusammenhängen und deren geschätzten Nebenfolgen und schließlich sogar zur Empfehlung von bestimmten Handlungsschritten zur Erreichung bestimmter Zwecke (ebd., 607). Die Wissenschaften sollten in Webers Augen als Organe »im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis« (ebd., 609; Hervorhebung D.Š.) fungieren und das moderne, im »stahlharten Gehäuse« (RS I: 203) befangene, Individuum dazu nötigen, »sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns« (GAWL: 608). Hier offenbart sich weit mehr als lediglich eine Spur des idealistischen Wissenschaftspathos des deutschen Mandarinentums. Man kann, wie Schluchter (1988: 287), Weber hier als Advokaten des klassischen Aufklärungsprogramms wahrnehmen, der sich der Beförderung des Ausgangs des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit verschrieben hatte. Eine aufmerksame Lektüre der wissenschaftsethischen Position Webers eröffnet abermals ein paradoxes Bild: Auf der einen Seite insistierte Weber wie niemand vor ihm auf eine Beachtung der Grenze zwischen Theorie und Praxis und beförderte damit ein spezifisch modernes Wissenschaftskonzept, das auf jegliche weltanschauliche Selbstgefälligkeit verzichten sollte. Andererseits sprach er der Wissenschaft durchaus noch eine zumindest mittelbare Orientierungsfunktion zu, welche das Individuum letztlich jedoch keineswegs aus seiner Entscheidungspflicht entlassen sollte. Der Zentralgehalt von Webers Wissenschaftstheorie tritt deutlicher zum Vorschein, wenn wir seinen Anspruch mit den Ambitionen der philosophischen Epochalfiguren Rickert und Husserl in Bezug setzen. Es kann keinerlei Zweifel darüber bestehen, dass aus Webers Blickwinkel etwa Rickerts Begegnung der Wissenskrisis mit einer ›philosophischen Weltanschauungslehre‹ als deplaciert zurückgewiesen werden musste, da hier exakt jene von Weber verweigerte Vermischung der theoretischen und praktischen Argumentationsebene vorgeführt wurde. Als nicht minder unangebracht hätte Weber wohl auch die Hoffnungen Husserls betrachtet, eine Wiederbelebung des ursprünglichen antiken Wissenschaftskonzepts auf der Grundlage intentionaler Analyse könne die seit der Neuzeit in Gang gekommenen Fehlentwicklungen der Wissensgeschichte aufdecken und zu einer Umgestaltung der modernen Lebenswelt beitragen. Dies allein schon deshalb, weil ihm die Resultate der im Okzident stattgefundenen Rationalisierungs- und Intellektualisierungsprozesse als unumkehrbar galten. Von gewichtigerem Ausschlag für die Webersche Haltung wäre das Argument, dass es eben nicht möglich ist, »›wissenschaftlich‹ zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur« (GAWL: 604).

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Unhintergehbar bleibt also Webers Grundeinsicht, wonach keine Form der Wissenschaft – weder die empirische Forschung, noch eine (Wert-) Philosophie oder Ethik – aus sich heraus ein Wertsystem entlassen kann, welches als Grundlage der weltanschaulichen Orientierung dienen könnte. In philosophiegeschichtlicher Einstellung lässt sich Webers Lösungstherapie zur Behandlung der ›Krisis des Wissens‹ mit derjenigen Kants vergleichen: Ähnlich wie dieser die in die Krise geratene Grunddisziplin, die Metaphysik, dadurch kurieren wollte, dass er ihre Grenzen neu ausrichtete, kann man Webers Theorie des Wissens sinnäquivalent als eine Neujustierung des wissenschaftlichen Bezugs zur Alltagserfahrung einerseits und zur meta-empirischen, weltanschaulichen Dimension andererseits interpretieren. Hierbei gilt es festzuhalten, dass das Feld der empirischen Wissenschaften gegenüber der neukantianischen Systematik dadurch erweitert wurde, dass dem alltagspraktischen Wissen im Rahmen der szientifischen Begriffskonstruktion eine spezifische Funktion zugewiesen wurde. Gleichzeitig radikalisierte er Rickerts Dualismus zwischen ›Wert‹ und ›Wirklichkeit‹ und bestritt gegenüber Rickert jegliche Möglichkeit der Überbrückung des fundamentalen ›Hiatus‹ zwischen Seiendem und Geltensollendem. Eine ähnliche Argumentationsrichtung hatten wir bereits bei der Analyse von Simmels Wissenskonzeption kennen gelernt. Die Frage, inwiefern man in Webers Wissenschaftstheorie nun schlechterdings eine radikale Wendung vergleichbar mit der Einsteinschen Relativitätstheorie auf dem Feld der theoretischen Physik (Sprondel et al. 1981: 5; Ferrarotti 1982: 13) oder doch eine Manifestation der ›alten Wissenschaft‹ (von Kahler 1920: 9) notieren muss, soll nun abschließend diskutiert werden.

R e s ü m e e : W e b e r s W i s s e n s s ys t e m a t i k Der Philosoph Karl Jaspers hat wohl als erster und zugleich am nachhaltigsten jene Minderheitenposition formuliert, welche Webers Denken eine philosophische und systematische Originalität attestierte. Obgleich Weber kein philosophisches System entworfen habe, so sei er doch »für die Zeit, in der er lebte, der wahre Philosoph« (1932: 57) gewesen. Jaspers verwies auf jene »wirkliche Philosophie« – im Gegensatz zur bloß »gedachten Philosophie« –, welche sich weniger in Webers Denken, als »in dem, was er als Politiker und Forscher und als Mensch faktisch tat«, entfaltete (ebd., 61). Wir hoffen, durch unsere Rekonstruktion von theoretischen Grundmotiven, die jeweils auf unterschiedlichen Theorieebenen in Webers ›Wissenschaftslehre‹ – Begriffstheorie, Verstehenstheorie, Werttheorie, Zeitdiagnose, Wissenschaftsethik – zum Vorschein kamen, auf die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Aspekten hingedeutet und somit der verbreiteten Auffassung einer »erratic fragmentariness« (Ferrarotti 1982: 5) von Webers Wissenschaftskorpus entgegengewirkt zu haben. Die

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Einzelbausteine sollen nun abschließend wieder zu einem Gesamtgebäude zusammengesetzt werden. Zugleich soll damit die These begründet werden, dass die sich darin äußernde, das philosophische Systemprinzip überwindende, Wissenschaftsgestalt – ähnlich wie diejenige Simmels – als ein bedeutender wissenschaftsgeschichtlicher Drehpunkt aufzufassen ist, an dem sich ein spezifisch modernes Wissenschaftsbewusstein radikal und endgültig vom klassischen Wissenschaftskonzept verabschiedet. Dass sich hinter der fragmentarischen Hülle und der oberflächlichen Verweigerung einer systemgebundenen Darstellung gleichwohl eine theoretische Grundintention verbarg, ist bereits von anderen vermutet wor66 den. Franco Ferrarotti (ebd.) hat mit Bezug auf Webers ›Wissenschaftslehre‹ von einem ›open system‹ gesprochen, wobei der Anklang an Rickerts gleichlautenden Begriff wohl eher zufällig ist. Diese Charakterisierung ist vor dem Hintergrund von Webers Modifikation der neukantischen Begriffsbildungsphilosophie durchaus angebracht. Die Quintessenz der diesbezüglichen Analyse erhellte, dass Weber trotz der Übernahme von epistemologischen Problemdefinitionen, wie dem ›Hiatus‹ zwischen Begriff und Wirklichkeit und dem ›Objektivitätsproblem‹, und Lösungskonzepten wie insbesondere der Wertbeziehungslehre von Rickert, den ursprünglichen neukantianischen Grundlegungsrahmen in seiner eigenen Begriffstheorie sprengte. Als Beleg für diese Schlussfolgerung führten wir zum einen Webers Rekurs auf die Kapazität des ›Verstehens‹ an, welche einerseits zwar eine spezifisch konkretere Beziehung zwischen Forscher und Untersuchungsgegenstand stiften konnte – ein Gedanke, gegen den sich die Neokantianer dezidiert ausgesprochen hatten. Andererseits widersprach Weber jedoch der Auffassung, dass es in methodologischer Hinsicht einen Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gäbe. Von größerem Gewicht im Hinblick auf unsere Hypothese ist Webers Zuweisung einer begriffsfundierenden Funktion an die Alltagserfahrung, die bislang in der Wissenschaftstheorie keinen Ort hatte. Auf dieser Ebene höhlte Weber Rickerts strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis aus, indem er geradewegs die Forderung erhob, dass die wissenschaftlichen Begriffsgebilde möglichst nah am subjektiven Erfahrungswissen befestigt sein mögen. Dem so genannten ›nomologischen Wissen‹ wurde nicht nur eine begriffsfundierende, sondern darüber hinaus auch eine evaluatorische Funktion zugerechnet. Inhaltlich weist diese Theoriegestalt, bei welcher eine einzige Instanz sowohl sinnstiftende als auch geltungstheoretische Bedeutung übermittelt bekommt, eine größere Affinität zu Diltheys lebensphilosophischer Grundlegungssystematik als zum neukantianischen 66 Wir können vereinfachend zu denjenigen Autoren, welche in Webers ›Wissenschaftslehre‹ durchaus eine konzeptuelle Systematizität glaubten erkennen zu können, folgende rechnen: von Schelting, Henrich, Tenbruck, Weiß, Ferrarotti, Burger. Zu den Antipoden dieser Auffassung zählen Dahrendorf, Hekman, Rossi.

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Modell auf. Bei Dilthey kam der ›unmittelbaren Erfahrung‹ bzw. dem ›Leben‹ ebenfalls jene Doppelfunktion zu. Wir können eine weitere Parallele zu Simmel ziehen, der, ähnlich wie Weber, mittels der Inkorporation lebensphilosophischer und verstehenstheoretischer Denkfiguren eine Modifizierung des kantianischen Erkenntnismodells vornahm, die wir als ›Verlebendigung‹ charakterisiert hatten. Für Weber wäre analog eine ›Empirisierung‹ im Sinne einer lebenspraktischen Rückbindung des transzendentalphilosophischen Erkenntniskonzepts zu konstatieren. Es war wohl auch vordergründig jener verstehenstheoretischen Ausrichtung seiner Wissenschaftstheorie geschuldet, dass Webers ›Wissenschaftslehre‹ in methodologischer Hinsicht am ›Subjekt‹ zentriert blieb. Im Rahmen seiner Explikation der Grundlagen der ›verstehenden Soziologie‹ brachte er die konkreteste Rationalisierung hierfür an: ausschließlich Individuen waren ihm »für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln« (WuG: 6). In seinen universalgeschichtlichen Zeitdiagnosen entdeckten wir jedoch einen womöglich ausschlaggebenderen Grund für Webers ›methodologischen Individualismus‹. Insbesondere in ›Wissenschaft als Beruf‹ sowie im ›Werturteilsfreiheitsaufsatz‹ deutete Weber an, dass unter den modernen Bedingungen des Lebens, wo sich unterschiedliche Institutionen mit jeweils spezifischen normativen Orientierungsmustern ausdifferenziert hätten und um die gesellschaftliche Dominanz konkurrierten, ausschließlich das Individuum als mögliches Organon einer rationalen Wissensfundierung angesehen werden kann. Die Ambivalenz und Unmöglichkeit einer eindeutigen Zurechnung von subjektiven Handlungsmotiven reflektiert sich auf der formalen und konzeptuellen Ebene am augenfälligsten in der prinzipiellen Offenheit und Unbegrenztheit der idealtypi67 schen Begriffskonstruktion. In diesem Sinne hat Johannes Weiß die spezifische Modernität von Webers Wissenschaftskonzeption dahingehend resümiert, »daß die Webersche Idee von Sozialwissenschaft Pluralismus, Offenheit und Vieldimensionalität auf allen Ebenen und in allen Phasen des Forschungsprozesses nicht nur zulässt, sondern aus prinzipiellen Gründen fordert, und zwar ohne daß die heute sehr in Mode gekommene Beliebigkeit oder ›Anarchie‹ in begriff-

67 Dem widerspricht im Übrigen keineswegs die von Weber emphasierte angeblich herausragende Relevanz des zweck-rationalen Handlungstypus noch die besondere Differenzierung der vier Handlungstypen (WuG: 12). Hier stand u.E. jeweils kein inhaltliches Interesse als Diskriminationskriterium Pate, sondern ein argumentationslogisches Kriterium, auf deren Grundlage sich unterschiedliche Modi der Wissensbegründung – affektuell, d.i. auf Basis von Emotionen und Gemütsbewegungen, traditional, d.i. auf der Grundlage von habituellen Gewohnheiten, wertrational, d.i. auf der Grundlage von normativen Überzeugungen, zweckrational, d.i. nach Abwägung alternativer Optionen und ihrer vermuteten Nebeneffekte – unterscheiden ließen.

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lich-theoretischen und methodologischen Fragen legitimiert würde« (Weiß 1986: 204).

Dass Webers Begriff der ›Subjektivität‹ empirisch (im Gegensatz etwa zum ›transzendentalen Subjekt‹ des Kantianismus) intendiert war, braucht nicht weiter ausgeführt werden. Die Grundfigur des Subjekts als Organon des Wissens zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Subbereiche der Weberschen ›Wissenschaftslehre‹: (1) Die Sozial- und Kulturwelt sollte eine ›verstehende Soziologie‹ über die Kategorie des ›subjektiv gemeinten Sinns‹ individueller Akteure aufschließen. (2) Allgemein band Weber die Konstitution wissenschaftlicher Gegenstände zunächst ausschließlich an die individuellen Interessen des einzelnen Forschers und deutete lediglich auf die in einer bestimmten Disziplin jeweils anerkannten Konventionen als ein potentielles Korrektiv hin, an die sich der Einzelforscher optional orientieren könne. Im Gegensatz zu Rickert, dessen Wertbeziehungslehre er an dieser Stelle aufgriff, verzichtete Weber auf eine systematische Behelfslösung zur Einschränkung der Quantität und Qualität der möglichen wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände. Damit war also einer gewissen Beliebigkeit in der thematischen Auswahl das Tor geöffnet, doch verhinderten potentiell jene ›Normen des Denkens‹ einerseits und das Urteil der Fachkollegen andererseits die in der zitierten Bemerkung Weiß’ angesprochene »Anarchie«. Die angeblich postmoderne ›Offenheit‹ stellt insofern nicht erst eine Errungenschaft der Nachkriegswissenschaft dar, sondern war substantiell bereits in Webers (und Simmels) Wissenschaftskonzeption angelegt. Ebenso wenig darf die Abkoppelung der geisteswissenschaftlich-hermeneutisch orientierten Disziplinen von den unangemessenen und von außen durch die Naturwissenschaften aufoktroyierten Erkenntnisidealen als eine Leistung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts notiert werden. Neben der Epochalfigur Nietzsche, der sich gegen Bevormundungen durch die verschiedensten Geistesströmungen – Naturalismus, Historismus, Sozialismus, Theologie etc. – wortgewaltig zur Wehr setzte und darin zweifellos auch noch auf Simmel und Weber nachgewirkt haben dürfte, ist den zuletzt genannten Theoretikern das Verdienst einzuräumen, in konstruktiver, wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzung (insbesondere mit dem (neo)kantianischen Begründungsrahmen) und durch Kombination von Philosophemen unterschiedlicher Provenienz eine »erneute ›Revolution der Denkart‹« (Geßner 2003: 113) vorbereitet zu haben. Diese schlägt sich maßgeblich in zweierlei Aufkündigungen nieder: zum einen der ursprünglichen Idee, welcher zufolge sich wissenschaftliche Erkenntnis durch Voraussetzungslosigkeit im Sinne einer Unabhängigkeit von praktischen Bezügen auszeichne. Einhergehend damit verabschiedeten sich Simmel und Weber von

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dem klassischen Objektivitätsideal bzw. begnügten sich mit einer sehr eingeschränkten Version von ›Objektivität‹ (in Anführungsstrichen). Während Simmels Ersatzbegriff ›Relativismus‹ oder ›Perspektivismus‹ lautete, müsste man bei Weber folgerichtig vom ›Subjektivismus‹ sprechen, denn ›wissenschaftliche Wahrheit‹ war ihm ebenfalls nur ein Wert unter vielen, zu dem man sich unterschiedlich positionieren konnte. In beiden Fällen war jedenfalls jegliche Anbindung an eine über-empirische und übersubjektive Geltungsinstanz konsequent aufgekündigt. Damit stehen Simmel und Weber gemäß der ihren Fundierungsansätzen inhärenten Grundtendenzen denjenigen Diltheys, Rickerts und Husserls diametral gegenüber. Diese hatten es programmatisch darauf abgesehen, das idealistische Pathos wiederzubeleben und insbesondere die Autonomie und das Aufgabengebiet der Philosophie zu verteidigen. (3) Die Orientierungsfunktion, welche diese Autoren der Philosophie noch explizit attribuierten, war bei Weber durch seine Subjektivierung der Werttheorie bzw. seinen ethischen Dezisionismus obsolet geworden. Die Möglichkeit rationaler Legitimierung normativer und ethischer Entscheidungen wurde von Weber kategorisch für unethisch befunden und jeder Versuch, sich der Verantwortung einer eigenen, subjektiven Urteilsfindung zu entziehen, als unmoralisch und als »Schwäche« (GAWL: 605) scharf verurteilt. Webers entscheidungstheoretischer Rigorismus akzentuierte die Grenzmarkierung, welche zwischen empirischen und theoretischen Erkenntnissen auf der einen Seite und Werturteilen auf der anderen zu ziehen seien. Dieser Dualismus war dadurch verträglich mit der Exponierung einer aufmerksamen Toleranz für Werthaltungen, die seinen eigenen widersprachen. In dieses Bild passt etwa seine überwiegend respektvolle Kommentierung auch moderner Phänomene religiöser Hingabe (ebd., 612) sowie seine befremdlich anmutende Randbemerkung aus ›Wirtschaft und Gesellschaft‹, in welcher er beiläufig anmerkte, dass seine ›verstehende Soziologie‹ »niemandem aufgenötigt werden soll und kann« (WuG: 6). Webers hartnäckiges Insistieren auf säuberliche Trennung zwischen Sachaussagen und Wertaussagen auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Arbeitens erklärt sich somit als konsequente Schlussfolgerung aus seiner Funktionalisierung der Kategorie des ›Subjekts‹ im Rahmen seiner Wissenschaftstheorie. Es lassen sich folgende Relevanzbereiche dieser Kategorie diskriminieren: (1) Subjektive Interessen und Wertungen konstituieren wissenschaftliche Gegenstände (Wertbeziehungslehre), (2) subjektive Erfahrungen leiten die Begriffsbildung an, (3) ausschließlich Subjekte sind Träger von ›Sinn‹ und somit das zugangsbestimmende Medium des ›verstehenden‹ Kulturwissenschaftlers, der die ›Kulturbedeutung‹ von kulturellen und sozialen Phänomenen deuten will, (4) allein Subjekte sind Träger von »letzten Stellungnahmen zur Welt« (RS I: 566), welche Wertungen anleiten. Eine Vermischung dieser Ebenen hätte in jedem Fall gravierende Folge für den Status der Ergebnisse empirischer Wissenschaften. Durch

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eine Verschlingung von Motiven des Forschers mit denen des Erkenntnisobjekts, würde der Prozess des ›deutenden Kausalverstehens‹ verunmöglicht, denn: »wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, (hört) das volle Verstehen der Tatsachen auf« (GAWL: 602). Im Rahmen einer Gesamtkonzeption, in welcher die Kontrolle der Erkenntnisproduktion auf fast allen Theorieebenen der Subjektivität anheim gestellt und auf meta-empirische oder gar transzendentalphilosophische Rückversicherungen verzichtet wurde, stellt die Ebenentrennung allerdings nicht nur eine Minimalanforderung, sondern die conditio sine qua non für die ›Objektivität‹ der empirischen Befunde dar.

Theorie und Soziologie des Wissens be i Ma nnhe im

Das folgende Kapitel widmet sich der Darstellung von Karl Mannheims Wissenssoziologie als einer weiteren Variante der ›Kritik der philosophischen Vernunft‹. Mannheim erfüllt in mindestens dem gleichen Grad wie Simmel und Weber das dieser Studie zugrunde gelegte Auswahlkriterium, nämlich eine fundierte Auseinandersetzung mit den Grundlagenproblemen der Sozial- und Kulturwissenschaften vorangetrieben zu haben. Gleichwohl residiert er im sozialwissenschaftlichen Klassikerpantheon nicht auf dem gleichen Stockwerk wie Durkheim, Simmel und Weber. Seine Reputation verdankt sich, wie jüngst zwei der Hauptverwalter seines gedanklichen Erbes, David Kettler und Volker Meja (1999: 307), resümiert haben, fast ausschließlich seinem Hauptwerk ›Ideologie und Utopie‹, in welchem sich jedoch nur bedingt – wenn man den zentralen, seit der dritten Auflage (1952) dem Werk angehängten, Handwörterbuchartikel ›Wissenssoziologie‹ hinzurechnet – die Konturen der von ihm seit Mitte der 1920er Jahre 1 entwickelten Soziologie des Wissens entfaltet finden. Die darin entwickelten Positionen, darunter insbesondere Mannheims Geltungs- und Intellektuellentheorie, waren maßgeblich für den sich unmittelbar nach dem Erscheinen entwickelnden ›Streit um die Wissenssoziologie‹ (Meja/Stehr 1982a) verantwortlich. Dieser wiederum scheint für die Entwicklung der Wissenssoziologie die folgenreiche Konsequenz gezeitigt zu haben, dass die ursprüngliche, von Mannheim maßgeblich gestaltete Form dieser Bindestrich-Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg gewissermaßen ent-

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Auf die Diskrepanz zwischen Mannheims (IuU: 49) eigenen Interpretationshinweisen einerseits und der allgemeinen Tendenz, die in ›Ideologie und Utopie‹ versammelten Essays als eine systematische Entfaltung einer Soziologie des Wissens wahrzunehmen, andererseits, hat bereits Simonds (1978: 7) hingewiesen.

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philosophiert wurde. Für die angelsächsische Ausprägung der Wissenssoziologie war hier zweifellos Mertons (1969: 495) Behandlung von Mannheims Konzeption, in welcher er für eine Abtrennung des vermeintlich überflüssigen philosophischen Ballastes von den empirisch relevanten Konzepten optierte, von maßgeblichem Einfluss. Im deutschen Sprachraum gebührt dieser Erfolg der deutschen Übersetzung von Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns ›The Social Construction of Reality‹, die sich im Untertitel als ›Eine Theorie der Wissenssoziologie‹ auswies, und in der die beiden Autoren die von Scheler und Mannheim behandelten philosophischen Fragen aus dem Grenzbereichs einer »empirischen Wissenschaft Soziologie« hinaus und in dasjenige der »Methodologie der Sozialwissenschaften« (1992: 15) verwiesen. Aus dieser spannungsvollen Stellung der Wissenssoziologie zwischen dem Bereich der Philosophie einerseits und einer objektiven, wirklichkeitsgerichteten Subdisziplin andererseits erklärt sich ihre ungewöhnliche Entwicklungsgeschichte. Bis in die Gegenwart ist das Lager gespalten zwischen solchen Interpreten, die in ihr die fundierende Quelle und das Herzstück der allgemeinen Soziologie schlechthin erblicken (Lieber 1965; Simonds 1975; Wahlen 1981; Hekman 1986b) und anderen, denen sie hingegen als vernunftzersetzende Antiwissenschaft schlechthin erscheint (Popper 1995; Lukàcs 1962; Adorno 1967; 2 Horkheimer 1982; Marcuse 1982). Nicht einfach vom Tisch zu wischen ist vor diesem Hintergrund der Befund Bergners, wonach diese Diskordanz ein schlechtes Licht auf den gegenwärtigen Zustand der Sozialwissenschaften werfe und man darin gar ein Symptom für ›the principal failure of contemporary social science‹ (Hekman 1986b: 3) sehen müsse. Wie man auch immer zu dieser Einschätzung stehen mag, sie weist auf den u.E. unabweisbaren Sachverhalt hin, dass sich die besondere Stellung der Wissenssoziologie ihrer unmittelbaren Nähe zur »kognitiven Identität« und zu den epistemologischen Grundfragen der Sozialwissenschaften verdankt (vgl. Lichtblau 1992: 1). Aus dieser Situiertheit heraus erklärt sich zugleich ihre beständige Aktuali3 tät. Die in diesem Kapitel angesetzte Interpretationsperspektive unterlässt zunächst jede vorausgreifende, artifizielle Grenzmarkierung zwischen disziplinären Orientierungen und fokussiert stattdessen die Frage nach den systematisch-philosophischen Gründen, welche Mannheim, der ja zunächst von einer philosophischen Denkhaltung her dachte, zu einer kontinuierlichen Überarbeitung seiner eigenen Ansätze motiviert haben mochten. Dass er – salopp gesprochen – nicht als Soziologe geboren wurde, 2 3

Den umfassendsten rezeptionsgeschichtlichen Überblick über die Wissenssoziologie geben Volker Meja und Nico Stehr (1982b: 893ff.). Siehe auch Wolff (1978) sowie Curtis/Petras (1970). Zur aktuellen Diskussionslage siehe die beiden von Tänzler/Knoblauch/ Soeffner herausgegebenen Sammelbände (2006a; 2006b).

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sondern eher aus einer bestimmten Denknotwendigkeit heraus zu einem Hauptbegründer der Wissenssoziologie mutierte, kann als das Leitmotiv der folgenden Rekonstruktion herausgestellt werden. Die angedeutete Disharmonie unter Sozialwissenschaftlern in der Auffassung der Soziologie des Wissens hat zweifellos die Entwicklung begünstigt, dass man sich für eine lange Zeit nicht für Mannheims grundlagentheoretische Denkansätze interessiert hat und sich mit dem gebetsmühlenartigen Wiederkäuen von Allgemeinplätzen an solchen Stellen begnügte, an denen philosophische und entstehungsgeschichtliche Auseinandersetzungen angebracht gewesen wären. Erst für die 1980er Jahre ist eine »renewed attention« (Kettler/Meja/Stehr 1990: 1443) für die Gesamtentwicklung von Mannheims Denken konstatiert worden. Durch die Publikation von einigen frühen theoretischen Arbeiten (SdD) konnten nunmehr auch vormalige werkgenetische Lücken der Mannheim-Forschung nachbearbeitet werden. Unter den Erklärungsansätzen, die den Anspruch eines Gesamtüberblicks von Mannheims Denkentwicklung verfolgen, ragen die Studien von Kettler/Meja/Stehr (1984; 1989), Loader (1985) und Woldring (1986) hervor. Die folgende Darstellung setzt sich zum Ziel, Mannheims Grundlagentheorie, genauer: die der Soziologie des Wissens vorgeordnete allgemeine ›Theorie‹ des Wissens, herauszuarbeiten und als genuinen Beitrag zur Lösung der Krisis des Wissens im oben erläuterten Sinne zu interpretieren. Der Topos der ›Krise‹ wird in nahezu allen Beiträgen zu den verschiedensten Aspekten des Mannheimschen Werks rezitiert. Wie kaum ein anderer Zeitgenosse, hatte Mannheim diesen Denkhintergrund als Motiv für seine wissenschaftlichen Anstrengungen explizit hervorgehoben. Zumeist jedoch wird die Krisendiagnostik auf das zumeist kaum spezifizierte Phänomen eines weltanschaulichen Relativismus reduziert, wobei zum einen die unterschiedlichen Aspekte der von Mannheim traktierten Krisenphänomene ausgeblendet als auch seine diversen Lösungsansätze nicht gemäß ihrer spezifischen konzeptuellen Gewichtung klassifiziert werden. Gegenüber den erwähnten Darstellungen Woldrings, Loaders sowie Kettler/ Meja/Stehrs, die ihren Deutungen zum Teil sehr spezifische Problemstellungen unterlegen, soll die nachfolgende Rekonstruktion den oben entfalteten Kontext der ›Krise des Wissens‹ als Entstehungs- und Entwicklungshintergrund der Mannheimschen Theorie und Soziologie des Wissens auszeichnen. Während der Klärungsversuch Kettler/Meja/Stehrs zu einseitig auf die ›Krise des Politischen‹ und insbesondere des liberalen Denkens be4 zogen bleibt , ist den Ausführungen Loaders und Woldrings zwar zugute zu halten, die philosophisch-erkenntnistheoretischen Positionen des ›jungen‹ Mannheim anhand der unterschiedlichen Arbeiten Mannheims chro4

Auch Woldring (1986: 18) grenzt sich gegenüber dieser Überbetonung des politischen Ausgangspunktes ab.

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nologisch extrapoliert zu haben, doch vermisst man auch hier zum einen die Herausstellung der systematischen Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Teilstücken und zum anderen den systematischen Rückbezug auf die genuin wissenschaftstheoretischen Aspekte der Bewältigung der Wissenskrise. In beiden Fällen zeigt sich darin der Nachteileffekt einer primär werkgenetischen Rekonstruktionsperspektive. Insbesondere mit Blick auf Loaders Studie muss ins Feld geführt werden, dass der von ihm gewählte Interpretationskontext für unseren Fragezusammenhang zu un5 spezifisch bleibt. Für den in der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegten Problemkontext ist der kuriose Befund einsatzgebend, der von mehreren Autoren übereinstimmend getroffen wird und welcher für Mannheim einen Einfluss u.a. fast sämtlicher der in den vorausgegangenen Kapiteln behandel6 ten Autoren behauptet. Exemplarisch sei Woldrings Beschreibung zitiert : »In his philosophical publications one finds influences from the system of Hegel, Marx, Comte, Kant, Dilthey, Rickert, Lukács, Simmel, Husserl and still more. His development philosophically was turbulent« (1986: 71). Nach unseren bisherigen Ausführungen muss ein solcher Befund abwegig anmuten, da wir für Diltheys, Rickerts und Husserls Grundansätze jeweils differenzierte, systematisch hergeleitete taxonomische Typenbezeichnungen eingeführt hatten, sodass ein solcher systematischer Zusammenhang kaum widerspruchsfrei aufrecht zu erhalten ist. Auf einer oberflächlichen Betrachtungsebene trifft Woldrings Befund für Mannheim wohl in gleichem Maße wie für fast sämtliche seiner Zeitgenossen zu, womit die Aussage gehaltlos wird. In Abgrenzung zu dieser paradoxalen Konstellation kann der im Weiteren auszuführende Versuch einer Systematisierung von Mannheims Grundlegungstheorie legitimiert werden. Wie im Folgenden en détail rekonstruiert wird, hat Mannheim zu den drei in dieser Untersuchung zentrierten philosophischen Hauptfiguren explizit Stellung bezogen, sodass die zitierte Allgemeinaussage konkretisiert werden kann. Dies soll im Anschluss geschehen, nachdem Mannheims Bezugnahme auf die ›Krisis des Wissens‹ präzisiert wurde. Beginnend soll jedoch auf den Tatbestand auf5

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Dies drückt sich am eindeutigsten in dessen Explikation des Krisisbegriffs aus, den er zum einen unter enger Anlehnung an Mannheims Formulierungen entwickelt und darüber hinaus lediglich auf die allgemeine Krisis der Kultur resp. »the alienation of the individual due to the absence of a meaningful cultural context« (1985: 185) hin spezifiziert. Das Problem der »orientation of the individual in the changing modern world« (ebd., 3) wird von Loader als das die diversen Werkphasen Mannheims zusammenbindende Element herausgestellt. Damit bleiben insbesondere die wissenschaftsbezogenen Aspekte der ›Krise des Wissens‹ unterbestimmt. Symptomatischer Weise listet der Index zu Loaders Werk den Krisisbegriff nicht einmal gesondert auf. Vgl. auch Boris (1971: 1) und Remmling (1975: xii).

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merksam gemacht werden, dass Mannheim von Seiten der Philosophiegeschichte im Grunde vollständig ignoriert wurde. In mehrfachen Hinsichten gleicht sein Schicksal demjenigen Simmels. Beide mussten erfahren, dass ihnen von Seiten derjenigen Disziplin, der sie sich wohl am nächsten fühlten, zumeist negative Beachtung zuteil wurde. In beiden Fällen war jene Ablehnung auch direkt verknüpft mit dem Vorwurf eines Mangels an systematischer Gedankenführung und philosophischer Originalität. Colin Loader hat dieses Vorurteil umschrieben. Dabei deutete er auf eine mögliche Ursache hin, nämlich die »tendency to overlook Mannheim’s experimental attitude and to take the heterogeneity of his work as a weakness. Even those who recognize Mannheim’s experimental approach still generally view him as a confused thinker who has exhausted the patience of many commentators« (1985: 3).

Aus diesem Eindruck heraus lässt sich auch die im folgenden Fall anzuwendende, und bereits anhand der Darstellung der Simmelschen Grundlegungsarchitektonik getestete, Rekonstruktionsstrategie empfehlen. Analog zu Simmels Oeuvre, wird auch für Mannheims intellektuelle Entwicklung häufig eine Trisektion vorgenommen, wobei nun die erste Phase, in welcher Mannheim vom Budapester Intellektuellenmilieu nach Deutschland übersiedelte, gemeinhin als die philosophische gilt, aus der heraus sich Mannheim seit Mitte der 20er Jahre schließlich immer mehr der Soziologie und der Entwicklung seiner Wissenssoziologie annäherte. Diese zweite Phase wurde schließlich abrupt durch Mannheims Entlassung aus dem Universitätsdienst und seiner anschließenden Flucht vor nationalsozialistischen Nachstellungen nach England beendet. Während der dritten Phase beschäftigte sich Mannheim mit zeitdiagnostischen und planungstheoretischen Fragen der gesellschaftlichen Organisation, die am ehesten als politikwissenschaftliche bezeichnet sein dürften. Wenn im Nachstehenden Mannheims letzte Schaffensperiode weitestgehend unberücksichtigt bleibt, so geschieht dies nicht etwa aus der Überzeugung, dass sie in inhaltlichem 7 Widerspruch zu den vorausgegangenen stünden. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass sich Mannheim hier insofern von der Philosophie verabschiedet hatte – aus welchen Gründen, sei vorerst dahingestellt –, als dass hier an das in den beiden ersten Arbeitsstadien entwickelte Grundgerüst nicht mehr angeknüpft wurde. Im Hinblick auf die hier zugrunde gelegte Fragestellung nach den formalen und inhaltlichen Modifikationen, welche im Zuge einer Verlebendigung klassisch philosophischer Philosophiekonzeptionen im Namen einer empirischen Einzelwissenschaft auftreten, kön7

Für eine Lesart, die Mannheims letzten Lösungsversuch der Widersprüche der modernen Gesellschaft gegenüber denjenigen der beiden ersten Arbeitsphasen als den wichtigsten, als »synthesis of syntheses« ansieht, siehe Loader (1985: 187).

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nen wir uns auf eine Analyse der Denkentwicklung der ersten beiden Arbeitsabschnitte beschränken, ohne ein hohes Risiko der Verfremdung von Mannheims Denken einzugehen. Zunächst ist es jedoch geboten, das Grundproblem, von dem Mannheim im Übrigen konstant ausgegangen war, zu spezifizieren: die ›Krisis des Wissens‹.

Die ›Krisis des Wissens‹ als M a n n h e i m s Au s g a n g s p u n k t In der Behauptung, dass in der Analyse und Behebung der Krisensituation seiner Zeit das tragende Motiv für Mannheims intellektuelle Beschäftigung zu finden ist, stimmen praktisch alle Interpreten überein. Die Mühe, überhaupt noch nach den Ursprüngen dieser Krisensituation zu fragen, wird aus diesem Grund häufig ausgespart. Man behilft an solchen Stellen zumeist mit Originalzitaten. Wo diese Frage ausdrücklich zum Gegenstand der Forschung gemacht wird, findet man jedoch durchaus divergierende Antworten. So haben etwa Kettler/Meja/Stehr (1989: 105) die Verwendungsweise des Krisenbegriffs bei Mannheim auf dessen marxistische Prägung zurückgeführt. Obgleich sie die Prominenz dieses Topos in Mannheims Frühwerk durchaus nicht übersehen, beharren die Autoren, dass »der Begriff erst zu einem gewichtigen Faktor durch seine Behauptung (wird), daß die politische Ideologie in einer Krise sei, und damit den Untersuchungsgegenstand von Ideologie und Utopie begründet« (ebd., 106). Dieser Deutung steht etwa der von Woldring (1986: 369) getroffene Befund gegenüber, welchem zufolge Mannheims Krisenbewusstsein von der Sorge um die zentraleuropäische Kultur schlechthin berührt war, und Mannheim sie ebenso universal auffasste wie etwa Dilthey und Husserl. Wiederum eine anders konnotierte Interpretation findet sich bei Lichtblau, der in Bezug auf Mannheims Krisenbewusstsein von einer »Krisis des Wissens, der Wissenschaft, der Bildungsinstitutionen« (1992: 3f.) spricht. Jeglicher Anspruch, in der Frage nach dem adäquaten Krisenverständnis Mannheims zu einer eindeutigen Bestimmung zu kommen, ist schon deshalb vergebens, weil diese die Möglichkeit ausschließen würde, dass Mannheims Einstellung sich im Verlauf seiner intellektuellen Reifung gewandelt hat. Dies haben Kettler/Meja/Stehr (1989: 106ff.) für Mannheims Schaffensperiode seit ›Ideologie und Utopie‹ eindrücklich demonstriert. Gleich mehrfach habe sich allein in dieser Periode Mannheims Auffassung 8 und Deutung der ›Krise‹ verändert. Folglich erscheint es im Hinblick auf die vorliegende Aufgabenstellung geraten, eine vorsichtige Interpretati8

Zu Mannheims Spätwerk unter besonderer Fokussierung des Krisenbegriffs ist die Studie von Dieter Boris (1971) noch immer wertvoll.

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onshaltung einzunehmen, die Mannheims oft beklagter tastenden Denkund Argumentationsweise gerecht wird, und jeweils auf ein begrenztes Werk oder eine bestimmte Zeitperiode gemünzt ist. Bereits in einem der frühesten intellektuellen Zeugnisse Mannheims, seinem noch in Ungarn gehaltenen Programmvortrag ›Seele und Kultur‹, ist die Berührung durch die ›Kulturkrise‹ direkt fassbar. Der ›junge‹ Mannheim inszenierte sich darin zum Sprecher einer ganzen Generation, die sich zur Überwindung der Spannung zwischen ›subjektiver‹ und ›objektiver Kultur‹ aufgefordert sah. Die engen Anlehnungen an die Kulturtheorie Simmels, die Mannheim über den Einfluss Lukács vermittelt be9 kommen haben dürfte, sind hier unübersehbar. Im Anschluss an Simmel unterschied Mannheim zwei »Wege der Seelenerfüllung« (WS: 69): Einmal könne die individuelle Existenz durch eine »Wendung nach innen« (ebd.) zu sich selber finden – ein Lösungsweg, den Mannheim den indischen Asketen zuschrieb und für den modernen okzidentalen Menschen für verschlossen hielt, »da unser Abfall uns eine dauerhafte Selbstbegegnung unmöglich macht« (ebd.). Der alternative Weg führe, so Mannheim weiter, über den Umweg der Kulturaneignung. Anders als Simmel führte Mannheim zwischen der Instanz des Individuums und der Kulturgegenstände die Kategorie des ›Werks‹ ein, die er von so unterschiedlichen Quellen wie den deutschen Mystikern (Meister Eckhardt), Kierkegaard und Dostojewski herleitete. Im Gegensatz zum Kulturgebilde, welches dadurch konstituiert würde, dass ein ›Werk‹ einen »historisch-sozialen Charakter« (ebd., 70) annahm, reflektiere ein ›Werk‹ ausschließlich Eigenschaften seines Schöpfers: »Indem das Werk zum Kulturgegenstand und zur selbständigen Wirklichkeit wird, entfernt es sich von der Seele über die ursprünglich gewonnene Distanz hinaus« (ebd., 72f.). Von dieser quasianthropologischen Grundlegung des Kulturbegriffs variierte Mannheim, wiederum in enger Anlehnung an Simmel, diverse Entfremdungsszenarien. Wir können bereits an dieser Stelle festhalten, dass am Anfang der intellektuellen Entwicklung Mannheims keine konzeptuellen oder methodologischen Probleme standen (wie etwa für Simmel und Weber behauptet werden kann), sondern der Drang nach einer Aufklärung der Widersprüche des Modernisierungsprozesses, der zu einer Entgegensetzung von ›Seele‹ und ›Kultur‹ geführt habe. Den kulturgeschichtlichen Ursprung dieser Entwicklung detektierte er im Ausgang des Mittelalters. Er habe sich erstmals in der Form des Individualismus der Renaissance sichtbar entäußert, den Mannheim als Indikator für das Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur deutete (ebd., 75). Als Zwischenstationen auf dem Weg zur Moderne, listete Mannheim Rousseau auf, von dem aus sich eine di-

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Diese Orientierung manifestiert sich neben der Übernahme der Grundidee einer »Tragik der Kultur« (WS: 74) auch im dialektischen Argumentationsstil des Vortrags.

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rekte Linie zur deutschen Romantik ziehen lasse. Den Höhepunkt dieses Prozesses erblickte er schließlich im Impressionismus (ebd., 76). Welche Mittel zur »Lösung« (ebd., 77) der zum Zeitpunkt des Vortrags 25-Jährige parat hatte, um die geistige Situation seiner Gegenwart zu lenken, soll nun angedeutet werden. Ganz ähnlich wie Mannheim im Jahre 1925 hervorheben wird, »daß die gegenwärtige Konstellation der Problematik für die Ausgestaltung einer Soziologie des Wissens [...] günstig« (ebd., 372) und sogar »eine selten glückliche ist« (ebd., 310), so stellte er bereits 1918 die spezifische »geschichtsphilosophisch gegebene Chance« zur »Lösung der einheitlich aufgefaßten Aufgabe« heraus (ebd., 77). Mannheims Vorschlag bezog sich zunächst auf ein methodisches Analyseinstrumentarium, nämlich eine »Strukturanalyse einzelner Kulturabschnitte« (ebd.). Auf deren Grundlage sollten die spezifischen Grundeigenschaften und die Entwicklungslogik der einzelnen Kulturerscheinungen analysiert werden. Dem Einsatz dieser Untersuchungsperspektive lag der Befund zugrunde, dass die im Einzelnen zu betrachtenden Kulturfelder jeweils einer Eigenlogik folgten und nicht aus einer einzelnen (metaphysischen) Quelle deduzierbar waren (ebd.). Diese Anschauung geht nun ebenso auf Georg Simmel zurück, der sie insbesondere in seiner ›Philosophie des Geldes‹ erprobt hatte. Mannheim sah jedoch letztlich in Kant und seiner Entdeckung der Autonomie der Sphären des Theoretischen, Ethischen und Ästhetischen, repräsentiert in den drei ›Kritiken‹, den Inaugurator dieser (idealistischen) Weltansicht. Sie wurde beim jungen Mannheim aufgefangen durch einen geschichtsphilosophischen, von Marx inspirierten Argumentationshintergrund, der Mannheim schließlich wohl auch zur Entdeckung der Kernproblematik seines intellektuellen Lebens verholfen haben dürfte, nämlich dem Problem des Perspektivismus. Mannheim deutete diesen Grundgedanken in ›Seele und Kultur‹ mit folgendem Wortlaut an: »Es gibt Geschichtsperioden, die Kunstschöpfungen nur in dieser Einstellung in Sicht bekommen können und wollen« (ebd., 79). Es kann vor diesem Hintergrund konkludiert werden, dass sich jenes, von Kurt H. Wolff (1964: 13f.) herausgestellte, Grundmotiv von Mannheims Denken, nämlich die Suche nach einer Synthese von Idealismus und Marxismus bzw. Geist und Gesellschaft, bereits in Mannheims frühesten öffentlichen Äußerungen nachweisen lässt. Hieraus erklärt sich zugleich der anfangs befremdlich wirkende Eindruck, dass auf Mannheim ein sehr breites Spektrum an philosophischen Schulpositionen übertragen wurde – von Marxismus (Weber 1982: 376), Positivismus (Tänzler 2006: 319ff.) Historismus (Deininger-Meyn 1986: 23; Laube 2004; Tänzler 2006: 10 319ff.), Hegelianismus (Willey 1978: 23; Endreß 2000: 337) , Neukantia10 In den vorhandenen Arbeiten über den philosophischen Kontext der Wissenssoziologie trifft man sehr häufig die verallgemeinernden Zuschreibun-

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nismus (Remmling 1975: 23; Merton 1969: 490), Lebensphilosophie (Kettler/Meja/Stehr 1980: 19) bis zur Phänomenologie (Tiryakian 1965: 675), um nur die wichtigsten aufzuzählen. Die eigentümliche Forschungsperspektive einer gesellschaftsgeschichtlich informierten ›Strukturanalyse‹, die der ›junge‹ Mannheim entwarf, sollte im Idealfall zu »einer neuen, inhaltlich umfassenden Metaphysik« (WS: 84) führen. Mannheim kennzeichnete seine Position insofern treffend als einen »metaphysischen Idealismus« (ebd., 68), als er zum einen von der grundlegenden Hypothese ausging, dass »die uns umgebende Wirklichkeit sich aus wesensverschiedenen Gegebenheiten zusammensetzt« (ebd.) und, zum zweiten, Kulturgebilde ein Eigenleben entwickeln können, die zu Entfremdungsphänomenen führen. In Mannheims Selbsttitulierung kommt andererseits die Nähe zum Bildungsideal des mit dem Deutschen Idealismus eng verbundenen Deutungsmusters zum Ausdruck, welcher den Königsweg zu einer Versöhnung von Kultur und Gesellschaft in der 11 Neuformulierung der geistigen Gehalte erblickte. Die von Wolff mit Bezug auf den jungen Mannheim herausgestellte »leidenschaftliche Parteinahme für das Denken« (1964: 18) manifestierte sich darin, dass dieser sich in den ersten Jahren der 1920er primär mit methodologischen Fragen der Wissens- und Theoriebegründung befasste, als deren Resultat schließlich die Wissenssoziologie dastehen wird. An dieser Stelle muss der Hinweis auf Mannheims später ausführlich begründete Intellektuellentheorie genügen, um die Persistenz der hier rekonstruierten Problemstellung in Mannheims späterer Entwicklung zu beglaubigen. Die von Kettler/Meja/ Stehr entfaltete Interpretation, welcher zufolge sich in Mannheims Streben nach Synthesen gerade ein »Ausdruck liberalen Denkens« (1989: 28ff.) bekunden soll, erscheint vor dem Hintergrund der in den obigen Kapiteln belegten Allgegenwart der »Ideologie des Mandarinentums« (Ringer 1987: 96f.) in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts, als umständlich. Somit finden wir beim ›jungen‹ Mannheim fast sämtliche der in den folgenden Jahren von ihm zentrierten Themenstellungen: die ›strukturanalytische‹ Methode, die Mannheim nicht nur in seiner Dissertation zur

gen wie ›Hegelianismus‹ und ›Historismus‹, wobei Dilthey häufig als Vermittlungsfigur jenes Kontextes in Erscheinung tritt. Siehe diesbezüglich u.a. Horowitz (1961: V), Simonds (1978: 35), Schnädelbach (1974: 124), Rüschemeyer (1958: 14, 19), Frisby (1992: 10ff.) und Harrington (2001a: 126). Es sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass Dilthey selbst die Distanz zu Hegels Kategorie des ›objektiven Geistes‹ betont hatte (Aufbau: 180ff.). In seiner ›Strukturanalyse der Erkenntnistheorie‹ hatte Mannheim dem traditionellen »Bolzano-Kantischen« Wissenschaftskonzept dasjenige »Hegels und Diltheys« gegenübergestellt (SAdE: 37). 11 Diesen Zusammenhang hat auch Loader (1985: 185, 187) konstatiert.

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›Strukturanalyse der Erkenntnistheorie‹ , sondern, wie Kettler/Meja/Stehr (1989: 78f.) beschrieben haben, ebenso auf die Analyse von Weltanschauungen und Ideologie anwenden wird; die Notwendigkeit einer ›geschichtlich-gesellschaftlichen Perspektivierung‹ der Kulturanalyse, die später die Wissenssoziologie als Methode einlösen wird; den Hintergrund der ›Krisis der Kultur‹, die in ›Seele und Kultur‹ zwar noch eher schematisch und in enger Anlehnung an Simmels Konzeption der ›Tragödie der Kultur‹ beschrieben wurde, doch in den folgenden Arbeiten, in denen Mannheim die Programmatik für eine eigenständige Kultursoziologie systematisch zu entfalten unternahm, an Relevanz gewinnen wird. Ging der ›junge‹ Mannheim also zunächst von einer Krisendiagnose aus, die gewissermaßen intellektuell vererbt wurde und weniger mit konkreten tagespolitischen Faktoren und eigenen Erfahrungen – der erste Weltkrieg kommt erstaunlicher Weise in den frühen Arbeiten nicht zur Erwähnung – in Verbindung stand, so treten weitere Krisenaspekte in der Folgezeit hinzu. Diese, in Abgrenzung gegenüber den soeben ausgeführten Krisenphänomenen – als externe Ursachen zu qualifizierenden Gesichtspunkte sollen im Nachfolgenden angedeutet werden. Bereits in seiner ersten, genuin der Grundlegung der Wissenssoziologie gewidmeten, Arbeit kam eine bestimmte Problemerweiterung gegenüber der Frühfassung zur Geltung, die Mannheim in einem Bedingungssatz ausdrückte, der die Feststellung traf, »daß etwas, um zum Problem zu werden, zunächst im Leben problematisch geworden sein muß« (WS: 310). Werkgenetisch betrachtet, nahm Mannheim hier ex post facto eine Übergangsbeschreibung vor, indem er eine Grenzmarkierung zwischen seiner in den Jahren zuvor fokussierten erkenntnistheoretischen Beschäftigung auf der einen Seite und den nunmehr zu explizierenden wissenssoziologischen Fragestellungen auf der anderen einschob. In concreto behauptete Mannheim nämlich das »Verblassen der erkenntnistheoretischen Fragestellung« zugunsten der »Probleme einer Soziologie des Wissens« (ebd.). Mannheim optierte hier für die Notwendigkeit eines Heraustretens aus einem wissenschafts-immanenten Standpunkt und die Berücksichtigung der »geistigen Untergründe, die Konstellationen, aus denen Fragen erwachsen« (ebd.). Zur Ausführung dieses Programms schlug er abermals eine bereits zu diesem Zeitpunkt anhand diverser Phänomene erprobte Methode vor, nämlich eine »möglichst radikale strukturelle Analyse der möglichen Problemstellungen der Epoche« (ebd., 311). Welche externen und/oder internen Gründe führte Mannheim nun zur Begründung der Notwendigkeit einer »Transzendierung der Denkimmanenz« (ebd., 313) an?

12 Mannheim (WS: 82f.) nahm in ›Seele und Kultur‹ bereits den Grundgedanken dieser Arbeit vorweg, was auf die frühe Reife seines Grundansatzes hinweist.

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Wir erörtern diese Detailfrage an dieser Stelle, weil sie im Hinblick auf Mannheims Krisenverständnis von Belang ist. Mannheim verwies in den frühen wissenssoziologischen Arbeiten im Grunde ausschließlich auf die spezifische denkgeschichtliche Konstellation, welche er jeweils ausführlich beschrieben hatte. Damit geriet er insofern in den Strudel einer zirkulären Argumentation, als den ideen- und problemgeschichtlichen Analysen eine begründungstheoretische Doppelfunktion zugewiesen wurde, nämlich zum einen, die Problemfelder und Fehlentwicklungen der Denkgeschichte aufzudecken und somit das Erfordernis eines grundlegenden Perspektivenwechsels zu erweisen und des weiteren als »Bedingungen der Möglichkeit für eine Soziologie des Denkens« (ebd., 317) zu fungieren. Einfacher ausgedrückt: Es werden als externe Gründe zur Legitimierung der Notwendigkeit einer Soziologie des Wissens wiederum nur wissensgeschichtliche und somit im eigentlichen Sinne immanente Argumente her13 vorgebracht. Es mutet daher durchaus eigenwillig an, wenn Mannheim die nun zu referierende Denkgeschichte als eine »vom Leben her herausgestellte Problematik« (ebd., 324) tituliert. Gleichwohl trug diejenige Krisenerscheinung, die im Zuge der Wissensevolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Erscheinung trat, einen Namen: ›Relativismus‹. In einer Randbemerkung notierte Mannheim »jene Angst, die das gegenwärtige Denken dem Relativismus gegenüber bekundet« (ebd., 311) und welcher der noch nicht habilitierte Nachwuchswissenschaftler glaubte, entgegentrotzen zu können. In Mannheims denkgeschichtlicher Rekonstruktionsskizze emanierte die Relativismusproblematik, die das ›Problem einer Soziologie des Wissens‹ (ebd., 320, 324) hervorbrachte, aus einem, von Mannheim in vier Stationen untergliederten Entwicklungshergang, der sich als ein solcher der »Selbsttranszendierung und Selbstrelativierung des Denkens« (ebd., 311) bezeichnen lasse. Die von Mannheim ausgeführten Zwischenstufen, die kurz beleuchtet werden sollen, standen für jeweils besondere Weisen einer Relativierung der Erkenntnis als autonome und kontextunabhängige Kapazität. Wurde zunächst lediglich das Denken individueller Personen und Weltanschauungen als von äußeren Faktoren determiniert begriffen, so erfolgte in der folgenden Entwicklungsstufe die »Relativierung auf die soziologische Ebene hin« (ebd., 314). Die beiden darauf folgenden Stadien unterschied Mannheim daraufhin, dass das Bezugsobjekt der soziologischen Relativierung zunächst nur durch einzelne Gehalte und schließlich, in der vorerst letzten Stufe, durch die »Totalität eines ›Weltanschauungssystems‹« (ebd., 319) definiert wurde. Als Träger dieses Prozesses identi13 Diese Zirkelstruktur zeigt sich auch darin, dass – wie Mannheim (WS: 324) durchaus selber sah – er die Aufgabe einer Soziologie des Wissens, welche er am Ende des ersten Wissenssoziologie-Aufsatzes formulierte (ebd., 385f.), selbst wiederum anhand der Anwendung eben dieser Interpretationsprinzipien herausgestellt hatte.

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fizierte Mannheim (ebd., 324) das aufsteigende Bürgertum des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die proletarische Bewegung. Die ›Krise‹ des Wissens verband sich bei dem Mannheim des Jahres 1925 letztlich mit dem Resultat dieses Intellektualisierungsprozesses, das Mannheim zunächst thetisch in dem Ausspruch artikulierte, dass unter den gegebenen Umständen »nur noch der Perspektivismus möglich (ist)« (ebd., 356). Das Problematische an diesem Befund lag für Mannheim durchaus nicht an erster Stelle, wie wohl bei den meisten Zeitgenossen, in der damit implizierten Konsequenz des Relativismus begründet, sondern darin, dass »wir noch keinen ausgearbeiteten, dem heutigen Stand der Einsichten entsprechenden Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff (haben), der gerade dieses seinsverbundene Denken und Erkennen zur Grundlage hätte« (WS: 364). Wir können folglich festhalten, dass Mannheim sein frühes Krisenverständnis, das noch primär an kursierenden Topoi im Kontext der Kultursoziologie geheftet war, später erweiterte und präzisierte. Gegenüber ›Seele und Kultur‹ erschien die ›Krise‹ nunmehr nicht nur als eine solche der ›Kultur‹, sondern allgemeiner als eine des okzidentalen Denkens seit dem 18. Jahrhundert, dessen Entwicklung Mannheim unter besonderer Berücksichtigung der Ursachen der Relativismusthematik nachgezeichnet hatte. Wenn Kurt H. Wolff des Öfteren in Bezug auf Mannheims naiven Umgang mit dem Problem des Relativismus von einer »Entfremdung von der Welt« (1964: 37) sprach, so war damit die Schattenseite von Mannheims nüchtern und sachlich vorgetragener Denkgeschichte angesprochen, denn seine historische Herleitung des Relativismus ignorierte offenbar völlig jene bereits angedeutete »Angst« seiner Zeitgenossen vor dieser Konsequenz. Von einer wirklichen Ignoranz der gesellschaftspolitisch-weltanschaulichen Dimension dieser Problematik auf Seiten Mannheims kann jedoch insofern nicht gesprochen werden, als er mit der Wissenssoziologie die Hoffnung verband, auf der Basis der durch sie zu leistenden »synthetischen Situationsanalyse« (Mannheim 1982: 401) eine Auflösung des Relativismusproblems bewerkstelligen zu können. Diesen Eindruck bestätigt schließlich auch die abermalige Neujustierung der Krisendiagnostik, wie sie sich in ›Ideologie und Utopie‹ manifestierte. Hier rückten, wie bereits oben angedeutet, politische Aspekte in den Vordergrund. Betonte Mannheim darin eingangs, dass »dieses Buch sich einer Krisensituation des Denkens bewußt ist«, so richtete er es konsequent auf das Ziel hin aus, die verschiedenen Widersprüche sichtbar zu machen, »damit das Fragliche auf einer höheren Ebene und in der größten Spannweite von den zukünftigen Lösungsversuchen erfaßt werden kann« (IuU: 51f.). Seine problemgeschichtliche Deduktion der gegenwärtigen Krisenlage orientierte sich dabei an der bereits dargestellten Geschichte der ›Selbsttranszendierung des Denkens‹ und leitete aus dieser die aktuelle Situation ab: »Die Denkkrisis ist nicht die Krisis eines Standortes, sondern die Krisis einer

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Welt, die eine bestimmte Höhenstufe erreichte« (ebd., 92). Mannheim reflektierte in den Essays von ›Ideologie und Utopie‹ die Auswirkungen des Selbstrelativierungsprozesses im Hinblick auf die Möglichkeiten politischen Handelns. Der Übergang des ›partikularen‹ Ideologieverdachts, der auf einzelne Aussagen bezogen war, in einen ›totalen‹, welcher die gesamte einer Aussage zugrunde liegende Bewusstseinsstruktur desavouierte, ermöglichte eine Destruktion des jeweils politisch Andersdenkenden und führte in Mannheims Augen eine »Krisis des praktisch-politischen Wissens« herbei, die »Gewalt und Passivität an der Stelle politischen Handelns birgt« (Kettler/Meja/Stehr 1989:106). Diese Situation bedeutete ihm »eine neue Stufe im bewusstseinsgeschichtlichem Prozeß« (IuU: 64). Die Wissenssoziologie sollte dieser Konstellation, die durch die wechselseitige Relativierung der Weltanschauungsträger gekennzeichnet sei, durch die Offerierung einer die partikularen Sichtweisen synthetisierenden Perspektive und einer auf das Verstehen des politischen Gegners angesetzten »Begegnungsart« (ebd., 239) eine Alternative gegenüberstellen. Denjenigen, welche die aktuelle Krise zu einer ausschließlich geistigen abstempeln wollten, hielt er in einem Zeitungsartikel aus dem Jahre 1932 ein unangemes14 senes und gefahrvolles Verharmlosen der Sachlage vor. Die politische Dimension der von Mannheim reflektierten Krisensituation erfuhr – kaum überraschend – nach 1933 eine immer stärker werdende Akzentuierung in seinem Denken. Seine Krisenrhetorik nahm dabei existenzialistischere Töne an. In semantischer Hinsicht lässt sich ein Bedeutungswandel durch seine »Enthistorisierung der soziologischen Kategorien« (Boris 1971: 77) konstatieren. Hatte Mannheim noch in ›Ideologie und Utopie‹ keinen Aufwand gespart, die historischen und speziell denkgeschichtlichen Ursachen der Krisenphänomene zu extrapolieren, so tendierte der ›späte‹ Mannheim immer mehr zu einer – nach heutigem Verständnis – sozialpsychologischen Argumentationsweise, welche auf der Grundlage von generalisierten Verhaltensweisen und Strukturzusammenhängen arbeitete. Kulturelle Erklärungsfaktoren, wie etwa das Weltanschauungsgefüge einer bestimmten historischen Konstellation, spielten dagegen keine bedeutende Rolle mehr in Mannheims Planungssoziologie. Das auf diese Weise gewonnene, von der konkreten Geschichte weitgehend abgelöste, technische Planungswissen verband sich in Mannheims letzten Lebensjahren mit einem eigentümlichen quasi-religiösen Aktivis15 mus und Intuitionismus, die hier nicht weiter zu erläutern sind. Wir können somit zwischen einer spezifisch kulturbezogenen, einer wissensgenetischen und einer praktisch-politischen Dimension von Mann14 Siehe dazu Kettler/Meja/Stehr (1989: 106f.). 15 Die Frage, inwiefern Mannheims spätere Verwendungsweise des Krisenbegriffs ihn in die Nähe »konservativer« (Kettler/Meja/Stehr 1989: 108) oder »bürgerlicher« (Boris 1971: 78f.) Denker brachte, muss hier gleichfalls offen gelassen werden.

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heims Krisenbegriff differenzieren, die jedoch nicht in einem sich wechselseitig ausschließenden Verhältnis zueinander stehen, sondern sich er16 gänzen. Dieses Bedeutungsspektrum belegt zum einen die problemgeschichtliche Kontinuität mit den bereits behandelten Autoren und zum anderen die Zuspitzung der Wissensproblematik innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften während der Weimarer Republik, für die ja bereits Husserls ›Krisis-Schrift‹ Zeugnis abgab. Ohne den Hintergrund der Wissens- bzw. Relativismusproblematik muss ein Verständnis der Grundinten17 tion von Mannheims Wissenssoziologie folglich ebenso ausbleiben. Inwiefern diesen unterschiedenen Krisensemantiken auch entsprechend divergierende Problemlösungsalternativen korrespondierten, wird im weiteren Verlauf unserer Darstellung erhellen. Zuvor soll jedoch der nicht einfach zu beantwortenden Frage nach den philosophischen Quellen, aus denen Mannheim seine Wissenssoziologie heraus entwickelte, nachgegangen werden. Zu diesem Zweck soll nun zunächst eine Darstellung seiner Stellungnahmen zu den im philosophischen Teil der vorliegenden Arbeit zentrierten Autoren und Ansätzen erfolgen.

Die philosophischen Grundlagen der Wissenssoziologie In den oberen Abschnitten dieses Kapitels wurden die Schwierigkeiten einer philosophischen Einordnung des Mannheimschen Denkens angedeutet. Die entsprechenden Quellen wiesen darauf hin, dass sich hierin die Einflüsse von Vertretern höchst unterschiedlicher philosophischer Schulen manifestierten. Dies erklärt, weshalb sich in der Fachliteratur nicht eben viele eindeutige Aussagen zu Mannheims philosophischer Positionierung auffinden lassen. Wie an dieser Stelle demonstriert werden soll, erlauben es diejenigen, erst posthum publizierten, Manuskripte Mannheims aus den frühen 1920er Jahren, die zwischen seinen Qualifikationsarbeiten und der ersten programmatischen Formulierung einer Soziologie des Wissens entstanden, sowohl den philosophischen Unterbau der Wissenssoziologie als auch eine eigentümliche Grundlegungssystematik, die dieser zugrunde lagen, zu identifizieren. 16 Die im Eingang des Kapitels aufgezählten alternativen Interpretationen des Mannheimschen Krisenbegriffs schließen sich somit ebenso wenig aus. 17 Ein schönes Zeugnis für die allgemeine Verbreitung dieser Problemstellung gibt auch die Diskussion um Mannheims ›Konkurrenz-Aufsatz‹ auf dem Zürcher Soziologentag ab, in deren Verlauf dieser Kontext zwar kaum explizit aufgegriffen wurde, wobei jedoch gleichwohl deutlich spürbar war, dass er das sinngenerierende Momentum der Debatte konstituierte. An diesem Beispiel ließe sich die Dynamik und strukturierende Kraft des Unausgesprochenen oder gar ›Abwesenden‹ studieren, auf die dekonstruktivistische Interpretationsansätze aufmerksam gemacht haben.

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Bevor wir am Ende dieses Kapitels auf die Zusammenhänge zwischen Theorie und Soziologie des Wissens bei Mannheim eingehen können, müssen beide Disziplinen zunächst für sich eingeführt werden. Zur Rekonstruktion von Mannheims allgemeiner Wissenstheorie folgen wir mehreren Gliederungsschritten. Nachdem zunächst die spezifische Programmatik der erwähnten Arbeiten herausgestellt wurde, nähern wir uns Mannheims philosophischen Grundeinstellungen über seine Stellungnahmen zu den prominentesten zeitgenössischen Wissenstheorien. Daran anschließend gilt es, Mannheims eigene Gedankenführung zur Problematik einer Theorie des geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens anhand der besagten Quellen zu rekonstruieren und die hier gewichtigen Konzepte zu analysieren. Schließlich wird eine weitere Aufgabenstellung darin bestehen, die von hier aus zu ziehenden Verbindungslinien zur Formulierung der Wissenssoziologie und somit das Verhältnis zwischen philosophischer Grundierung einerseits und methodologischer Ausrichtung der empirischen Wissenschaft auf der anderen Seite kenntlich zu machen.

1. Zur Programmatik einer allgemeinen Theorie des Wissens des ›jungen Mannheim‹ Mannheims konzeptionelle Frühschriften wurden in der Vergangenheit, wenn überhaupt, höchstens als Quellen zur Fokussierung der intellektuellen Einflüsse im Hinblick auf die Formierung der Wissenssoziologie berücksichtigt, sehr selten dagegen als ein grundlagentheoretischer Beitrag zur Debatte um eine Theorie des nichtnaturwissenschaftlichen Wissens gewürdigt. Die Gründe hierfür mögen zum einen mit der allgemeinen disziplinären Zurechnung Mannheims zur Soziologie zusammenhängen, möglicherweise aber auch mit der Tendenz, die relativistischen und in den Augen vieler Interpreten wissenschafts- und intellektfeindlichen Implikationen der Wissenssoziologie von den ursprünglichen geisteswissenschaftlichen Denkfiguren, aus denen sie letztlich abgeleitet wurden, zu isolieren. Dieser Kontextbezug, zu dessen Verhüllung Mannheim selbst insbesondere durch eine Verengung der problemgeschichtlichen Ausgangskonstellation der Wissenssoziologie auf die Geschichte der Ideologieproblematik wesentlich beitrug, soll nun entfaltet werden. Bereits ein grober Überblick über die thematischen Beschäftigungen des ›jungen‹ Mannheim enthüllte, dass er sich um die zeitgenössischen Grundfragen der theoretischen Debatten um die Autonomie und Eigenart des geisteswissenschaftlichen Erkennens intensiv bekümmert hatte. Erwähnt sei etwa seine Dissertationsschrift, die den Versuch einer Bestimmung unterschiedlicher Typen der Erkenntnistheorie unternahm. Daneben nahm er in einer langen Besprechung von Erich Bechers ›Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften‹ (1921) Stellung zu diversen Strategien der Klassifikation der Wissensgebiete. Schließlich zeugt auch sein erster

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längerer Aufsatz, die ›Beiträge zur Theorie der WeltanschauungsInterpretation‹, in dem er »in der Tat auf nichts geringeres als eine Methode zur Erfassung des Geistes (zielt)« (Wolff 1964: 17), von seinem Interesse an der Theorie der Geisteswissenschaft. Die wohl eindrücklichste Formulierung eines Grundlegungsprogramms in Mannheims Gesamtwerk finden wir in der für die hier behandelten Fragestellungen ergiebigsten Quelle, nämlich den beiden, vordergründig auf die Grundlegung einer eigenständigen Kultursoziologie ausgerichteten, Aufsätzen in ›Strukturen des Denkens‹. In dem zweiten Manuskript mit dem Titel ›Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit‹, welches wahrscheinlich um 1922 entstanden ist, beschrieb sich Mannheim als Glied einer allgemeinen Bewegung in den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Gebieten, die ein gemeinsames Ziel vor Augen hätte: ein »Novum Organon der Geisteswissenschaften« (SdD: 164). Diese, auf die Bedeutung des Baconischen Opus Magnum für die neuzeitliche Wissenschaft anspielende, Formel kehrte im Übrigen noch sieben Jahre später in ›Ideologie und Utopie‹ (IuU: 50) wieder und belegt somit im ersten Blick die unten noch näher auszuführende problemgeschichtliche Kontinuität. Mannheim begründete hier sein Anliegen auf der Basis der Diagnose, welcher zufolge dadurch »eine Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Logik« (SdD: 164) entstanden sei, dass sich in fast sämtlichen Teilgebieten der Geisteswissenschaften die Bearbeitung neuer Fragestellungen mit neuen Methoden herausgebildet hätte. Dies habe zur Gegenüberstellung der herrschenden Methodenlehre einerseits, welche der Tradition der neuzeitlichen Wissenschaft entstammte, und eben den modernen geisteswissenschaftlichen Strömungen andererseits, die von neuen Denkhaltungen ausgingen, geführt (ebd., 165). Es ist durchaus bemerkenswert, dass der ›junge‹ Mannheim der zeitgenössischen systematischen Philosophie, wobei er speziell auf die Phänomenologie, die Diltheysche Psychologie sowie die neukantianische Kulturphilosophie anspielte (ebd., 164), zwar attestierte, der allgemeinen Orientierung zu folgen, gleichwohl zeichnete er insgesamt ein negatives Bild im Hinblick auf die Erfüllung der Aufgabe, eine »Theorie der Erkenntnis des Qualitativen« (ebd., 175) zustande zu bringen. Über die Gründe, weshalb sich Mannheim zur Indizierung dieser Grundthematik auf Bacon, statt auf die an Kants Vernunftkritik angelehnte und bereits weithin etablierte Formel einer historischen oder praktischen Vernunftkri18 tik berief, kann spekuliert werden. Die Vermutung liegt jedoch Nahe, dass er sich zum einen gegenüber (neu)kantianischen Grundlegungsansätzen abgrenzen wollte und dies, zum anderen, deswegen für angebracht 18 Wir vermuten hier einen Einfluss Schelers, der in der Vorbemerkung zum zweiten Band seines Werks ›Vom Umsturz der Werte‹ sein Projekt in Anlehnung an Bacons Klassiker anlehnte: »Eben das, was Bacon für die Sphäre der äußeren Wirklichkeit

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hielt, weil er im Kantischen Ansatz, wie gleich noch auszuführen sein wird, eher das Problem als eine Lösung identifizierte. Dass Mannheim dennoch einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ im Sinne Diltheys nach19 ging , erhellt schon daraus, dass er ebenso wie jener die intellektuellen Wurzeln seines Projekts im »romantischen Bewußtein« (ebd., 165) des 19. Jahrhunderts verortete. Für Mannheim war diese Frage, wie bereits ein halbes Jahrhundert zuvor für den ›jungen‹ Dilthey, keineswegs ausschließlich eine solche der wissenschaftlichen Disziplin, sondern eine lebens- und kulturrelevante Sache, in der es letztlich darum ging, »anstelle einer abgeblaßten, unglaubhaft gewordenen Weltansicht eine andere zu setzen« (ebd., 166). Daher scheute sich Mannheim nicht, die weltanschaulichen Gegensätze in die zugespitzte Rhetorik des »Kampfes der geistigen Realitäten« (ebd., 42) zu fassen. In beiden Aufsätzen von ›Strukturen den Denkens‹ stößt man entsprechend auf eine relativ ausführliche Historisierung der angesprochenen geistigen Gegensätze, die in Form und Inhalt durchaus Parallelen mit den Ausführungen von Diltheys ›Einleitung‹ und Husserls 20 ›Krisis‹ aufweisen. Wir wenden uns zunächst Mannheims Stellungnahmen zu den zeitgenössisch einflussreichsten Lösungskonzepten zu, um einen ersten Eindruck von Mannheims ›Kritik der Philosophie‹ zu erhalten.

2. Mannheims Stellungnahme zu zeitgenössischen Fundierungsansätzen Wenn Mannheim den Umstand, »daß die neuen Disziplinen der geisteswissenschaftlichen Forschung aus einer anderen Philosophie erwachsen sind, als jene Philosophie, aus der die noch immer herrschende Methodenlehre hervorgegangen ist« (ebd., 165), als Erklärung für das Ausbleiben einer allgemeinen Theorie des nichtnaturwissenschaftlichen Wissens anführte, so ist es als konsequent und rechtschaffen einzuschätzen, dass sich Mannheim bei seiner Suche nach der offenbar notwendigen philosophischen Alternative zunächst mit den zeitgenössischen Lösungsangeboten auseinander gesetzt hat. Auch wenn diese Beschäftigung in den beiden Manuskripten von ›Strukturen des Denkens‹ nur sehr verkürzt dokumentiert ist, erhellt aus ihnen zumindest eine Silhouette der von Mannheim gezeichneten philosophischen Landkarte, die für die anschließenden Betrach19 Einer der ersten, der auf Familienähnlichkeiten zwischen Mannheim und Dilthey aufmerksam gemacht hatte, war Max Horkheimer (1982: 479ff.). Er hatte resümiert, die sich »die M.sche Wissenssoziologie ebenso wie die Diltheysche Geisteswissenschaft als Nachfolgerin der klassischen idealistischen Philosophie (erweist)« (ebd., 481). 20 Aus Platzgründen kann ein Vergleich, der nicht nur aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen interessant wäre, an diesem Ort nicht angebracht werden.

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tungen Orientierung gewähren kann. Ohne eine Entstellung von Mannheims Präferenzen zu riskieren, können wir uns auf seine Behandlung der Philosophien des Neukantianismus, der Phänomenologie und Diltheys beschränken, da diese desgleichen im Fokus seiner Orientierungssuche standen. Die wohl markanteste Linie, welche der ›junge‹ Mannheim zwischen den genannten Ansätzen zog, ist diejenige zwischen kantianischen bzw. »rationalistischen« Programmen auf der einen Seite und »neuromatischen« bzw. »antirationalistischen« auf der anderen Seite (ebd., 183). Dabei sticht besonders ins Auge, dass er die Phänomenologie in eine lebensphilosophische Traditionslinie von Schopenhauer und Nietzsche über Bergson und Dilthey bis zu Simmel einordnete. Gegen die neokantianischen Begründungsversuche Windelbands und Rickerts warf Mannheim (ebd., 177) gleichsam kategorisch den Einwand ins Feld, dass es ihnen zur Bewältigung der anstehenden Aufgabe der Fundierung der Geisteswissenschaften schlicht an den dazu erforderlichen philosophischen Mitteln ermangelte. Er war offensichtlich der festen Auffassung, dass sich eine eingehende Auseinandersetzung mit begriffsphilosophischen Fundierungsansätzen aus dem Grunde nicht lohnte, weil sie sich zu strikt an Kant anlehnten. Trotzdem Mannheim die Bedeutung Kants für die Erkenntnistheorie insbesondere in seiner Dissertationsschrift 21 ausgiebig gewürdigt hatte , fungierte dieser in den programmatischen Schriften zur Grundlegung der Kultursoziologie überwiegend als Abgrenzungsfolie. In seiner ›Strukturanalyse der Erkenntnistheorie‹ hatte Mannheim eine noch wenig wertende und sachlich vorgetragene dargelegte Kritik an der klassischen Formulierung der Erkenntnistheorie geübt, als deren Urvater er Kant ansah. Mit systematischem Blick auf die in jeder Erkenntnistheorie impliziten und unreflektierten Voraussetzungen, arbeitete er im Rahmen seiner Analyse auch die Verkürzungen und Vorurteile des kantianischen Wissenschaftsbegriffs heraus. Diese resultierten, so Mannheim, daraus, dass dieser sich einseitig an der Logik als Ausgangspunkt angelehnt habe (SAdE: 72). Exakt den gleichen Einwand entgegnete er an anderer Stelle auch Rickert, der in diesem Punkte Kant gefolgt sei (ebd., 54). Somit schien für Mannheim sowohl der Kantianismus als auch der Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule auf dem Standpunkt der Immanenzphilosophie zu stehen, der die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bzw. Form und Inhalt als rein logische entwarf (ebd., 67). Bereits der Fortgang der Geschichte der Erkenntnistheorie, in deren Verlauf jene Grundrelationen als psychologisch resp. ontologisch fundiert konzipiert wurden, habe die Einseitigkeit dieser Position entlarvt (ebd., 45). In den vorderhand der Kultursoziologie gewidmeten Manuskripten konkretisierte 21 So erachtete er etwa »das Schicksal der Erkenntnistheorie wesenhaft« mit Kants »Lösungsversuch« verknüpft (SAdE: 45).

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Mannheim die in der ›Strukturanalyse‹ noch primär ex negativo gewonnene Position, indem hier nunmehr explizit von einer »existenziellen Erkenntnisrelation« (SdD: 316) Ausgang genommen werden sollte. Wenn Mannheim hier mit Blick auf Windelband und Rickert von Vorraussetzungen sprach, die es gerade abzuschütteln gelte, so bezog er sich auf jenes verstiegene Festhalten an der Logik. Mannheim verwandte zur Kennzeichnung der (neo)kantianischen Ansätze auch die Sammelbezeichnung: »logistische Richtung der Erkenntnistheorie« (SAdE: 67). Auf der Basis dieses Befundes lehnte er schließlich auch die neukantianische Lösung der 22 »Abgrenzungsproblematik« als unzureichend ab. Er äußerte starke Zweifel daran, dass eine ausschließlich formale Trennung zwischen Geistesund Naturwissenschaften die tatsächlichen – »ontischen« – Gegensätze 23 fassen könnte (SdD: 177). Wir können Mannheims Kommentar zur Rickertschen Philosophie, die nach Meinung Remmlings (1975: 23) für den ›jungen‹ Mannheim sogar richtungweisend gewesen sein soll, am einfachsten in seinen eigenen Worten resümieren: »Der Fehler dieser Forschungsrichtung liegt also unseres Erachtens gar nicht in den einzelnen Ausführungen, sondern in den Ansatzpunkten, in den rationalistischen Prämissen und Vorurteilen, die noch vor dem Einsetzen der methodologischen Fragestellung aus der rationalistisch aufgeklärten Tradition in sie eingegangen sind« (SdD: 177).

Bevor Mannheims philosophischer Alternativvorschlag referiert wird, soll aus systematischen Gründen zunächst sein Standpunkt gegenüber der Phänomenologie referiert werden. Denn im Gegensatz zum Neukantianismus, lassen die vorhandenen Belegstellen in Bezug auf die Phänomenologie nicht auf eine eindeutige Position schließen. Inwiefern dies mit der Verschiebung von Mannheims Beurteilungskriterien oder seiner Auffassung der phänomenologischen Theorie zusammenhing, ist dabei nicht einfach zu bewerten. Die angedeutete Diskrepanz in Mannheims Auslegung des phänomenologischen Fundierungspotentials im Hinblick auf die Grundlegung der Geistes- und Sozialwissenschaften kommt daher zustande, dass er in der Phänomenologie zum einen »viel endgültiger ein(en) prinzipiellen Rahmen gefunden« zu haben vermeint, »der im Geist einer reinen Soziologie liegt [...], welche den einmaligen apriorischen Kern als Wesen aus der tatsächlichen raumzeitlichen Verflechtung herauszuschälen (sucht)« (ebd., 22 Popper bezeichnete die wissenschaftstheoretische Thematik der Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als »Abgrenzungsproblem« (1994). 23 Die Formulierungen Mannheims geben Ausschluss darüber, dass er Rickerts späte Wende zur Ontologie wahrgenommen hatte, aber gleichwohl bei seinem Generalurteil blieb (SdD: 177).

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122). Die geistige Verwandtschaft, die Mannheim zwischen Phänomenologie und Soziologie antizipierte, ging sogar so weit, dass er seinen eigenen Ansatz in die Abstammungslinie der phänomenologischen Bewegung einreihte (ebd., 314). In der Tat begegnet man an verschiedenen Stellen des Mannheimschen Frühwerks Begriffsprägungen, die augenscheinlich an 24 Husserls Terminologie angelehnt sind. Demgegenüber steht eine unübersehbare Zurückhaltung, sich auf eine systematische Auseinandersetzung mit den phänomenologischen Grundaxiomen einzulassen. Diese brach Mannheim auf einer oberflächlichen Ebene mit dem Hinweis ab, dass »eine eindeutige Darstellung noch nicht möglich ist«, weil die »Ereignisse der reinen Phänomenologie« noch »unfertig, problematisch und schwankend« seien (ebd., 125). Bei genauerem Hinsehen können wir jedoch auch einen systematischen Grund für Mannheims Befangenheit ausfindig machen. In einer Seitenbemerkung wies er nämlich darauf hin, dass die Phänomenologie insbesondere in ihrem Verhältnis zur Ontologie Anlehnungen an den (Kantischen) Rationalismus offenbare. Weil diese Stelle noch in anderer Hinsicht aufschlussreich ist, sei sie vollständig wiedergegeben: »In der modernen Phänomenologie sind zwei Schichten amalgamiert: eine rationalistische Systematik, die sich in ihrer Ontologie auswirkt, und eine irrationalistische Grundhaltung, die in den eigentlichen phänomenologischen Teilen zur Geltung kommt« (ebd., 314).

Der angedeutete Berührungspunkt betraf, wie aus dem Zitat ersichtlich wird, abermals das Verhältnis zur Ontologie, an deren Bestimmung durch Kant und den Neukantianern Mannheim, wie gesehen, heftigen Anstoß genommen hatte. Dass er in dieser Hinsicht nun auch die Phänomenologie in die Nähe der klassischen Wissenschaftskonzeption rückte, geht auch aus einer weiteren Randbemerkung hervor, in welcher er für beide den geteilten Ausgangspunkt von einem »überzeitlichen Bewußtsein« (ebd., 191) konstatierte. Die eingangs dieses Teilkapitels erörterte Trennungslinie, die den Kantianismus auf der einen und die Phänomenologie und Lebensphilosophie auf der anderen Seite in Opposition setzte, wird im Lichte dieser Feststellungen relativiert. Nunmehr sind es Kantianismus und Phänomenologie, welche nach Mannheims Darstellung in Gegensatz zur Lebensphilosophie treten. An diesem Punkt lässt sich also eine weitere, wenn auch systematisch nicht sehr belangvolle, Inkonsequenz Mannheims bestimmen. Nicht unkommentiert belassen soll auch der zweite Teil des angeführten Zitats, 24 Woldring (1986: 97f.) hat bemerkt, dass sich Mannheim recht eigenwillig und unsystematisch aus dem Gedankengut Husserls bediente, was seiner Ansicht nach zu »philosophischen Inkonsistenzen« geführt habe, da diese Übernahmen nicht mit seinen übrigen philosophischen Anleihen kompatibel waren.

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welcher Husserl eine »irrationalistische Grundhaltung« unterschob. Bedenkt man Husserls furiosen Aufruf zu philosophischer ›Strenge‹ und dessen wohl bedachte Arbeitsweise, wird man zumindest um die Feststellung eines unüberbrückbaren Abgrundes zwischen Mannheims Ausführung und Husserls Selbsteinschätzung nicht umhin kommen. Nachdem bisher einige der Stolpersteine, die Mannheim zufolge der Formulierung einer geisteswissenschaftlichen Wissenstheorie im Wege standen, markiert und dabei das mehr oder weniger intendierte Festhalten an den rationalistischen und auf die Erkenntnis der Natur gemünzten Prämissen als Hauptursache identifiziert worden ist, wird im Folgenden anhand von Mannheims Anknüpfung an Dilthey eine positiv gerichtete Bestimmung der vermeintlich adäquaten philosophischen Mittel zur Lösung der Grundlegungsproblematik herauszustellen sein. In Dilthey erblickte Mannheim nämlich denjenigen, der das »Problem der Eigenart geisteswissenschaftlicher Erkenntnis von einem diesen Disziplinen kongenialeren philosophischen Boden zu erfassen versuchte« (ebd., 178). Diesen angesprochenen philosophischen Unterbau präzisierte Mannheim dabei zunächst als einen »geschichtsphilosophisch-soziologischen« (ebd.), den er gegenüber »der rationalistisch orientierten Methodologie« (ebd., 190) schied. Zu den in dieser Hinsicht zentralen akademischen Leistungen Diltheys rechnete Mannheim dessen ›Verstehenstheorie‹ (ebd.), die ›verstehende Psychologie‹ (ebd., 76) sowie auch die ›Weltanschauungsanalyse‹ (ebd., 191), deren theoretische Relevanz für Mannheims Systematik im Einzelnen erst in den nächsten Kapiteln zu distinguieren sein wird. Mannheim (ebd.) zeichnete das Bild von Dilthey als Erben Hegels, den er der Gegenwart zugänglich gemacht habe. Einen der wichtigsten Grundzüge des Diltheyschen Denkens, der letztlich Hegelscher Provenienz entstammte, war in Mannheims Augen die programmatische »Forderung, das Bewußtsein historisch zu sehen« (ebd.). Die »Verwirklichung einer Durchforschung der geschichtlichen Ideenwelt wie auch der Bewußtseinsstrukturen« habe Dilthey »in großartigster Weise sowohl in historischen Forschungen wie in methodischen Essays […] in Angriff 25 genommen« (ebd.). Nehmen wir die bisherigen Erkenntnisse dieses Teilkapitels zusammen, dann können wir nach Mannheims Diagnose die Konstellation auf dem Feld der Philosophie um die Jahrhundertwende als Fortsetzung des Kampfes zwischen Rationalismus und Idealismus bzw. Kant und Hegel, der bereits im 19. Jahrhundert beherrschend gewesen ist, beschreiben. Neben der systematischen Theoretisierung von ›Geschichtlichkeit‹ erkannte Mannheim Dilthey noch einen weiteren Hauptverdienst zu. Hieraus

25 Vor dem Hintergrund dieser Passagen erscheint die Schlussfolgerung Deininger-Meyns (1986: 6), dass Mannheim Diltheys Lehren nur über die Vermittlung durch Troeltsch und Spranger wahrgenommen habe, verfehlt.

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erhellt nun zugleich, was es mit dem oben angesprochenen »kongeniale Boden«, von welchem aus Mannheim eine neue Wissensbegründung angehen wollte, genauer auf sich hatte. Angesprochen ist die »alltägliche bzw. ›allgemeine Welterfahrung‹«, welche zu aller erst Dilthey zum »Problem der Philosophie« erhoben hätte (ebd., 150). Die Klärung ihrer Struktur und Genese definierte Mannheim als »eine der wichtigsten Aufgaben, die man sich stellen kann« (ebd.). Trotz aller Referenzen, die er Diltheys Werk erwies, erkannte Mannheim schlussendlich auch in Diltheys Lösungsweg Sackgassen und Aporien. So vermisste er einen tragenden systematischen Rahmen bzw. ein »geschichtsphilosophisches Gerüst« (ebd., 191), welches die historischen Deduktionen in einen geordneten Zusammenhang hätte integrieren können. Dilthey, so Mannheim, saß einem »Selbstmißverständnis« (ebd.) auf, das ihn daran gehindert habe, »die Verankerung des freischwebenden Geistes in die [...] gesellschaftlichökonomische Ebene« (ebd., 192) zu erkennen. Das »Selbstmißverständnis« bezog Mannheim dabei auf Diltheys Verkennung des positiven Gehaltes des Positivismus und – symptomatisch hierfür – der glücklichen Amalgamierung von Positivismus und Hegelianismus, für welche der Name ›Marx‹ stünde (ebd.). Aus der Übersicht über Mannheims Kommentierungen zeitgenössisch debattierter Grundlegungsansätze geht nicht nur eindrücklicher Mannheims eigene Betroffenheit von der ›Krisis des Wissens‹ hervor, sondern es lassen sich darüber hinaus spezifischere Kriterien ableiten, die man – aus der Sicht Mannheims – als Vorbedingungen für das Gelingen einer theoretischen Neufundierung des Wissens auffassen darf. Dem Duktus des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit folgend, können wir resümieren, dass sich Mannheim hinter Diltheys Reformulierung einer grundsätzlichen Vernunftkritik im Sinne einer ›Kritik der historischen und praktischen Vernunft‹ stellte. Dieses Projekt beinhaltete auch für Mannheim an erster Stelle eine Revision der Erkenntnistheorie in ihrer klassischen, insbeson26 dere von Kant geprägten, Variante. Deren rationalistische Prämissen sollten durch eine systematische Inkorporierung alltagspraktischer Erfahrungsweisen und ontologischer Zusammenhänge des Erkennens abgelöst werden. Mannheim sprach in diesem Kontext auch von einem »Primat der Ontologie« (ebd., 316), dessen Begründung er bereits in seiner ›Strukturanalyse der Erkenntnistheorie‹ vorgetragen hatte.

26 Dieses Bild bestätigt Schnädelbachs Beschreibung, welcher zufolge »in den 20er und 30er Jahren das Wort ›Erkenntnistheorie‹ fast nur noch mit Abscheu und Verachtung in den Mund genommen wurde« (2000: 165).

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3. Mannheims ›Kritik der Erkenntnistheorie‹ Ausgehend von der Hypothese, dass das Problem des Wissens Mannheim nicht erst seit der zweiten Hälfte der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts zu tangieren begann, sondern bereits den Angelpunkt seiner frühesten intellektuellen Projekte bildete, erscheint das Thema seiner Dissertation, die sich mit der Erkenntnistheorie auseinander setzte, für die vorliegende Fragestellung von großem Gewicht. Insbesondere im Hinblick auf das im vorigen Teilkapitel herausgestellte Theorem des ›Primats der Ontologie‹ darf man sich von der ›Strukturanalyse‹ Aufschluss über die philosophische Begründung dieser Position erhoffen. Mannheims Arbeit ist in einem, im Vergleich mit seinen späteren Arbeiten, auffallend sachlich-neutralen Ton verfasst, was nicht nur mit der formalen Natur der Arbeit, sondern auch mit der Bedeutung der Thematik in Zusammenhang stehen dürfte. Inhaltlich würde man sie in heutiger Terminologie als metatheoretisch qualifizieren, da ihr Ergebnis in Form einer »umfassenden Theorie der Systematik« (SAdE: 5) erbracht werden sollte. Die zu ihrer Entfaltung applizierte methodische Einstellung der ›Strukturanalyse‹ hatte Mannheim bereits grob in ›Seele und Kultur‹ mit Bezug auf kulturelle Geistesgebilde vorgestellt. In beiden Fällen ging er jeweils von dem Grundgedanken aus, »daß jedes geistige Gebiet seine eigene Struktur hat« (ebd., 6), deren jeweilige Eigenart und Aufbau gesondert erklärt werden müssten. Die für eine Strukturanalyse in Mannheims Sinne charakteristische interpretatorische Einstellung würde beispielsweise »die einzelnen logischen Einheiten nicht von der organischen Ganzheit des Gesamtgefüges losgelöst und sozusagen isoliert für sich betrachten, sondern in dem Zusammenhange, aus dem sie ihren Sinn erhalten« (ebd., 38). Eine konzeptionelle Verwandtschaft zu holistischen bzw. hermeneutischen Ansätzen fällt hier ebenso ins Auge wie etwa auch diejenige zur Methodik von Diltheys ›verstehender Psychologie‹. Unter den, einem geistigen Gebiet zugrunde liegenden, logischen Formen hob er die Logik der »Systematisierung« als gegenüber den übrigen Formen wie Methodologie, Begriffsbildung, Urteilsbildung, etc. als wesentlich ins Zentrum seiner analytischen Perspektive (ebd., 7). Damit nahm Mahnheim seiner eigenen Auffassung nach nicht nur einen gegenüber der Rickertschen begriffslogischen Einstellung unabhängigen Ausgangspunkt, sondern einen bisher in der Logik allgemein unbeachteten 27 Gesichtspunkt ein (ebd., 7f.). Seine Suche nach der Systematisierungslogik des Erkennens führte ihn zunächst über die Analyse der Voraussetzungen und Gemeinsamkeiten der

27 Dies mag gegenüber der regelmäßig anzutreffenden Auffassung hervorgehoben werden, die den ›jungen‹ Mannheim zum (südwestdeutschen) Neukantianer stempeln will (vgl. Remmling 1975: 23).

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bisher historisch aufgetretenen Erkenntnistheorien. Als deren Berührungspunkte kennzeichnete er die Befassung mit zwei voneinander getrennten Aufgabenkreisen: (erstens) der Bestimmung der »letzten Voraussetzungen einer jeden möglichen Erkenntnis«, sowie (zweitens) der »Wertbestimmung der Erkenntnisleistung überhaupt« (ebd., 46). Er gelangte in dieser Untersuchung zu dem Aufsehen erregenden Resultat, dass die Erkenntnistheorie, entgegen ihres Selbstanspruchs, »die Lösung dieser ihr gesetzten Aufgabe ohne Herbeiziehen irgendeiner Hilfswissenschaft unmöglich finden kann. Es gibt keine selbständige erkenntnistheoretische Analyse« (ebd.). Mannheim begründete seine Relativierung des Autonomiestatus der Erkenntnistheorie mit dem Verweis auf deren Abhängigkeit von supplementären Disziplinen wie Logik, Psychologie und Ontologie. Eine Typik der Erkenntnistheorie, so folgerte er, sei nun dadurch erschließbar, dass man deren individuelle Ausgestaltungen nach den sie jeweils fundierenden Grunddisziplinen hin analysiert, denn das »Hineinspielen der Hilfswissenschaften [...] wirkt auf die Entfaltung des betreffenden Systems konstitutiv ein« (ebd., 46f.). Gemäß der oben genannten doppelten Aufgabenstellung aller Erkenntnistheorien wies Mannheim schrittweise nach, dass sowohl auf der analytischen Ebene der inhaltlichen Begriffsprägung als auch auf der axiologischen Ebene, die Wahl der Wahrheitskriterien durch die jeweilige Zugrundelegung einer der drei Grunddisziplinen besiegelt sei. Auf der Basis dieses Befundes behauptete er, dass die Erkenntnistheorie keine beschreibende, sondern eine »konstruierende Wissenschaft ist« (ebd., 77). Mannheim brachte in dieser Entgegensetzung zum Ausdruck, dass Erkenntnistheorie nicht von einem ›Gegebenen‹ her – etwa der Arbeitsweise der empirischen Wissenschaften – praktiziere, sondern von einem ›Vorgegebenen‹, das nicht beschreibbar sei. Gleichwohl sich Mannheim am Ende seiner Analyse insofern versöhnlich gab, als er auch einer solchen Disziplin, die jenseits des Praktisch-Konkreten operierte, ihr volles Existenzrecht zugestand (ebd., 78), doch demonstrieren seine bereits kurze Zeit nach seiner Promotion angefertigten Manuskripte, dass Mannheim auf eine fundamentalen Erneuerung der Erkenntnistheorie hinarbeitete. Auf die am Anfang gestellte Ausgangsfrage nach der Begründung von Mannheims Position des ›Primats der Ontologie‹ zurückkommend, gilt es festzuhalten, dass Mannheim sich in seiner Dissertation nicht auf eine analytische Behandlung der »Ursystematisierungen« (ebd., 47) – Logik, Psy28 chologie, Ontologie – selbst einließ und somit keine direkte Präferenzen setzte. Wie Henk Woldring (1986: 85) vernommen hat, kann man jedoch eine gewisse, implizite Bevorzugung der Ontologie beim jungen Mannheim bemerken. Woldring begründete seine Behauptung damit, dass Mannheims »analysis of the structure of epistemology is a theory founded 28 Mannheim begnügte sich damit, »die relative Möglichkeit und den Grund derselben herauszustellen« (SAdE: 47).

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on an ontology, which claims that reality in all of its multiformity in knowable« (ebd.). Die gleiche Tendenz schlägt sich auch in Kurt Wolffs Interpretation nieder. Ihm zufolge offenbare Mannheims Diskussion der Grundwissenschaften der Erkenntnistheorie dessen »Bemühen, so nahe 29 wie möglich am Erleben zu formulieren« (1978: 294). Dies manifestiere sich darin, dass Mannheim die Grundwissenschaften »auf das (ungeschichtliche, unsoziale) Individuum« relativieren wolle (ebd.). So sei der ›junge‹ Mannheim »noch weniger Soziologe oder Historiker als ›Existenzialist‹ oder Ontologe« (ebd.). Bei Mannheim selbst finden wir ebenfalls eine für diese Fragestellung relevant erscheinende Stellungnahme, welche besagte, »daß mit der erkenntnistheoretischen Fragestellung bereits irgendwo stillschweigend das Sein mitgesetzt wird, und daß im Augenblick, wo es eliminiert wird, auch die erkenntnistheoretische Fragestellung sich selbst aufhebt« (SAdE: 51). Zwar, so Mannheim weiter, könne man etwa eine Logik unter völliger Ausschaltung ontologischer Setzungen betreiben, »aber nicht eine auf Logik sich stützende Erkenntnistheorie« (ebd.). Mannheim ergänzte diese Einsicht zur These der »Unausschaltbarkeit der ontologischen Setzung in der Erkenntnistheorie« (ebd.), deren Begründung 30 allerdings keine weiteren Grundeinsichten zutage brachte. Die Lektüre von Mannheims Dissertation hat zwei zentrale Denkergebnisse des ›jungen‹ Mannheim zutage befördert, die man als Anstoß für die oben erörterte Programmatik eines »Novum Organon der Geisteswissenschaften« zur Lösung des Problems des Wissens ansehen kann: zum einen die Einsicht in die Abhängigkeit der Erkenntnistheorie von anderen Fundierungsdisziplinen, zum anderen die Idee, dass jede Erkenntnistheorie ontologische Seinssetzungen befördert. Im Weiteren soll nun Mannheims Ausführung der skizzierten Ausgangsprogrammatik auseinandergelegt werden.

D i e G r u n d s ys t e m a t i k d e r M a n nh e i m s c h e n T h e o r i e des Wissens Das Hauptziel der nachstehenden Analysen besteht darin, zunächst die theoretischen Grundfiguren der Mannheimschen Wissenstheorie im Hinblick auf ihren theoretischen Gehalt und ihre philosophische Provenienz zu ermitteln. Daneben steht jedoch gleichermaßen die Architektonik des Denkgebäudes, für welches jene Konzepte das Baumaterial stellen, im Fokus unserer Aufmerksamkeit. Aus bereits dargelegten Gründen werden wir

29 Ähnlich auch Wolff (1964: 26). 30 Mannheim erwähnte lediglich, dass »diese Unausschaltbarkeit [...] mit der ihr eigenen spezifischen Korrelation des Erkennenden und Erkannten aufs engste zusammen(hängt)« (SAdE: 51).

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uns diesem Ziel zunächst vorwiegend über die Lektüre der als Beiträge zur Grundlegung der Kultursoziologie ausgeflaggten Frühschriften, die posthum unter dem Obertitel ›Strukturen des Denkens‹ publiziert wurden, annähern. Allein der Titel, unter dem die beiden Manuskripte subsumiert wurden, deutet den Sachverhalt an, dass es hier um wesentlich grundsätzlichere und elementarere Fragen nach der theoretischen Legitimität einer autonomen Sozial- und Geisteswissenschaft ging, als es aus den Einzeltiteln der beiden Aufsätze jeweils hervorging. Ein systematisch angelegter Versuch der Erforschung lebensphilosophischer Einflüsse (im oben explizierten Sinn) auf die epistemologische Gestalt der Wissenssoziologie steht bis in die Gegenwart aus – obgleich deren Nähe und Geistesverwandtschaft rezeptionsgeschichtlich zumindest 31 unter den Fachexperten durchaus kein Geheimnis darstellt. Kettler/Meja/Stehr bedienten sich zur Etikettierung von Mannheims ›kultursoziologischen‹ Arbeiten sogar explizit der Formel »dynamisch-historische 32 Lebensphilosophie« (1980: 19). Nach einer konkreten Aufstellung der vermeintlich lebensphilosophischen Elemente innerhalb von Mannheims Wissenstheorie sucht man jedoch auch hier vergeblich. Die oben skizzierte Auseinandersetzung Mannheims mit zeitgenössischen Theorien geisteswissenschaftlichen Wissens brachte zur Erkenntnis, dass nach Mannheims Ansicht eine ausschließlich formale Begründung der Unabhängigkeit der Geisteswissenschaften, wie sie im Gefolge der Dominanz des Badischen Neukantianismus diskursbeherrschend geworden war (Vollhardt 1986: 88), zu kurz greifen würde. Im Rahmen einer Rezension von Bechers ›Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften‹ insistierte Mannheim im Verein mit dem Autor gegenüber Rickert, dass eine Klassifikation der Wissenschaften »notwendigerweise eine Ontologie voraus(setzt)« (WS: 161). Noch deutlicher wurde er in dem ungefähr gleichzeitig verfassten kulturtheoretischen Manuskript, worin er generell proklamierte, »daß der Versuch, ohne ontologische Voraussetzungen Erkenntnistheorie aufzubauen, heute bereits als gescheitert anzusehen ist« (SdD: 315f.). Ähnlich wie für Dilthey, stellte sich auch für Mannheim die Frage, welche ontologischen Gesichtspunkte die bisherige Erkenntnislehre außer Acht gelassen hatte. Es müsse, so Mannheim, »einen ganz breiten Unterstrom der Erkenntnis [geben], von deren Methoden wir uns noch keine Rechenschaft zu geben imstande sind« (ebd., 175). Diesen habe die bisherige rationalistische Erkenntnislehre mit dem Prädikat »vorwissenschaftlich« versehen und systematisch aus ihrem Aufgabengebiet ausgeschlossen. Mannheim markierte diesen Erkenntnisbereich als denjenigen des ›qualitativen Denkens‹ (ebd.). Für diesen müsse man den Sachverhalt

31 Woldring (1986: 56) berichtet gar, dass Mannheim 1940 den Plan ins Auge fasste, ein eigenes Buch über Dilthey zu schreiben. 32 Vgl. mit Woldring (1986: 79).

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in Rechnung stellen, dass Denken und Existenz miteinander verknüpft sind 33 (ebd., 179). In dieser programmatischen und inhaltlich noch wenig aussagekräftigen Beschreibung ist zwar noch keine direkte Bezugnahme auf Dilthey ersichtlich, doch offenbart sich darin, wie beim zweiten Hinsehen deutlich wird, eine Argumentationsfigur, die dem Grundanliegen von Diltheys Ansatz strukturell ähnelt (vgl. Šuber 2006a). Denn auch diesem ging es, wie gesehen, primär um die Erhellung einer bis dato unbeachtet gebliebenen Zusammenhangsstruktur, nämlich derjenigen zwischen Denken und Le34 ben. Spürt man nun Mannheims Umschreibung dieses Zusammenhangs weiter nach, so lernen wir zunächst, dass in dieser »Totalität der gesamten existentiellen Beziehung [das] ›Erkennen‹ nur eine Seite [ist]« (ebd., 35 206). Mannheim geht offensichtlich wie Dilthey von der Denkfigur eines »Totalbewußtseins« aus, welches hier erfährt, und hebt dieses gegenüber dem einseitigen ›theoretischen Bewußtsein‹ hervor (ebd., 207). In Mannheims Gewichtung dieser Distinktion wird man ebenfalls sofort an Diltheys Abgrenzungskriterium zwischen ›innerer‹ und ›äußerer Erfahrung‹ erinnert, denn auch hier wird das theoretische Denken gegenüber der ursprünglicheren Erfahrungsweise als sekundäres Phänomen eingestuft: »Das sogenannte sinnliche Element ist nicht das einfachste und erste, sondern eine ganz späte Abstraktion und Konstruktion« (ebd., 206). Mannheim begründete den Vorzug der nicht-sinnlichen Erfahrung gegenüber des sinnlich vermittelten Wissens damit, dass erstere »den wichtigsten Bestandteil unserer Erfahrungsgesamtheit bildet« (ebd., 207). Es liegt hier unverkennbar eine augenfällige Übereinstimmung zu Diltheys Beschreibung der Struktur des wahrnehmenden Bewusstseins vor, wobei diese hüben wie drüben dadurch ausgezeichnet war, dass sie eine einheitlichganzheitliche Gestalt aufweise, in welcher alle rezeptiven Wahrnehmungsmechanismen des Menschen gleichursprünglich aufgehoben seien. Neben den reflexiven Erkenntnisprozessen listete Mannheim – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die folgenden auf: »›Lieben‹, ›Handeln‹, ›Verändern wollen‹« (ebd., 205f.). Zumindest in formaler Beziehung fühlt man sich hier an Diltheys Bestimmung der »drei Seiten des psychischen 33 Nachdem Mannheim zunächst das naturwissenschaftlich-technische Wissens von der Betroffenheit von jener existentiellen Verknüpfung dispensierte (SdD: 206), hatte er später – in ›Ideologie und Utopie‹ – diese Aussage wieder revidiert (IuU: 262f.). 34 »Es ist also aller Zusammenhang, den unser Wahrnehmen sieht und unser Denken setzt, der eignen inneren Lebendigkeit entnommen« (GS V: 194; Hervorhebung D.Š.). 35 Vgl. auch folgende eindrückliche Passage: »jeder Erkenntnisakt ist nur ein unselbständiger Teil einer existentiellen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, einer existentiellen Beziehung, die jeweils eine anders geartete Gemeinsamkeit und eine stets spezifische Einheit zwischen diesen beiden stiftet« (SdD: 206).

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Lebens« (GS XX: 162) erinnert: ›Fühlen‹, ›Vorstellen‹, ›Wollen‹. Dass dieser Übereinstimmung kein Zufall zugrunde lag, bestätigt folgendes programmatisches Bekenntnis Mannheims, in dem er zunächst – in offenkundiger Anlehnung an Dilthey – von Seiten der Kulturwissenschaftler die Berücksichtigung einfordert, »daß das Subjekt der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht bloß das erkenntnistheoretische Subjekt, sondern der ›ganze Mensch‹ ist«, um darauf hin in gleichem Atemzug auch für sich selbst ankündigt, »mit diesem Gedanken bei der strukturellen Untersuchung der Geisteswissenschaften Ernst zu machen« (SdD: 54). Wenn man mit Verweis auf den ›jungen‹ Mannheim häufiger von einer »Unentschlossenheit« (Kettler/Meja/Stehr 1980: 19) gesprochen hat, so bezog sich jenes Urteil auf den Umstand, dass Mannheim zwischen unterschiedlichen Lösungswegen und methodologischen Grundorientierungen schwankte. Dies spiegelt sich insbesondere in den zwischen 1921 und 1922 entstandenen Arbeiten wider, in denen offenkundig jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt wurden. So stand etwa zunächst die Formulierung einer ›Weltanschauungslehre‹ im Fokus von Mannheims Projekt (WS: 91-154). Auch die beiden Abhandlungen in ›Strukturen des Denkens‹ scheinen auf dem ersten Blick auf unterschiedliche methodologische Optionen zu setzen: Während sich Mannheim in der ersten auf den »Pfaden der verstehenden Psychologie« (SdD: 84) wandeln sah, welche zwischen der Ebene des Geistigen und des Sozialen vermitteln sollte (ebd., 101), handelte das zweite Manuskript im Grunde ausschließlich von verstehenstheoretischen Problemen, die expressis verbis weder im Dienst einer ›Weltanschauungslehre‹ noch einer ›geisteswissenschaftlichen Psychologie‹ standen. Mannheim bezeichnete die Verstehensproblematik hier sogar als »das Zentralproblem einer jeden geisteswissenschaftlichen Methodologie« (ebd., 190). Allen drei Versionen lag jedoch die Grunderkenntnis zugrunde, die Mannheim im Übrigen niemandem geringerem als Dilthey zuschrieb, welcher zufolge »wir insbesondere zu den geistigen Realitäten 37 zunächst einen völlig atheoretischen Zugang haben« (ebd., 63). Dabei

36 Vermutet werden kann hier, insbesondere was Mannheims Auszeichnung der ›Liebe‹ als erkenntnistheoretisch relevanten Weltbezug betrifft, ein Einfluss Schelers, mit dessen Werk Mannheim gut vertraut gewesen ist. Schelers ›Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle‹ war 1913 erschienen. Als mögliche direkte Inspirationsquelle für Mannheim käme auch dessen Aufsatz ›Liebe und Erkenntnis‹ (1915) in Betracht. Allgemein zum Anknüpfungsverhältnis Mannheims zu Scheler siehe Srubar (1980) und Tänzler (2006). 37 Bernhard Plé hat dieses Moment als systematischen Hauptanknüpfungspunkt Mannheims an Dilthey herausgestellt (1994/95: 295f.). Trotz vieler Übereinstimmungen mit der Rekonstruktion Plés, hat diese Studie den Nachteil, dass sie zum einen Mannheims grundlegungstheoretische Grundintention verkennt und zum anderen aus nicht nachvollziehbaren Gründen die in ›Strukturen des Denkens‹ abgedruckten Arbeiten vollständig ignoriert.

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stand die Problematik der Erfassung von atheoretischen Inhalten mittels der Wissenschaft, die ja per definitionem theoretisch ist, bereits im Zentrum von Mannheims Theorie der Weltanschauungsinterpretation. Die Konsequenzen dieser Einsicht für die Methoden- und Verstehenslehre der Geistes- und Sozialwissenschaften systematisch darzulegen, muss als deren verbindendes Momentum angesehen werden. Für die MannheimInterpretation können wir dieselbe Empfehlung aussprechen, wie sie bereits mit Blick auf Dilthey hervorgehoben wurde, nämlich, dass jenes tastende Voranschreiten, welches verschiedene Zugangs- und Beschreibungsmöglichkeiten austestet, nur unter Berücksichtigung der gewaltigen Aufgabenstellung angemessen zu bewerten ist.

1. Von der ›Weltanschauungsinterpretation‹ zum ›konjunktiven Erkennen‹ Die vorstehenden Ausführungen lassen sich auf die Bilanz bringen, dass bei Mannheim der Schlüssel zur Erschließung des grundlagentheoretischen Fundaments der Geistes- und Sozialwissenschaften im allgemeinen und der Wissenssoziologie im besonderen in Mannheims Theorie des Verstehens zu finden ist. Die allgemeine Nichtbeachtung von Mannheims verstehenstheoretischen Beiträgen lässt sich mit Bernhard Plé (1994/95: 308f.) durch die Akzentverschiebung in Mannheims Schwerpunktsetzung seit Mitte der 20er Jahre erklären, welche zur Folge hatte, dass mit der Formulierung der Wissenssoziologie zugleich der ursprünglich bestimmende, nämlich verstehenstheoretische, Problemhintergrund verdrängt wurde. Diese Übergangsentwicklung soll nun in groben Zügen entfaltet werden. Mannheims Anerkennung der Bedeutung Diltheys für eine Grundlegung einer geisteswissenschaftlichen Methodologie ist in ganz besonderem Maße an seiner Behandlung der Diltheyschen ›Weltanschauungslehre‹ ablesbar. Nach Mannheims Darstellung habe Diltheys Weltanschauungsbegriff die Möglichkeit geboten, eine geistesgeschichtliche Interpretationstechnik jenseits von Geschichtsphilosophie und Soziologie zu fundieren (SdD: 105). Dilthey habe somit auf eine Sinndimension hingewiesen, welche die überlieferten Interpretationstheorien bislang nur gestreift hätten und die für Mannheims Exposition der Verstehensproblematik schließlich zentral wurde. ›Weltanschauung‹ bezeichnete dabei für Mannheim, ebenso wie für Dilthey, eine den einzelnen Kulturgebilden vorgelagerte Sinn38 schicht (WS: 97). Mannheim stellte sich dezidiert hinter Diltheys Definition von ›Weltanschauung‹ als einer ›atheoretischen Einheit‹ (ebd., 98). Letzteres betonten beide gegenüber rationalistisch verkürzten Totalitäts-

38 Plés (1994/95: 300f.) Vergleichsstudie hat eine weitgehende Übereinstimmung in den jeweiligen Weltanschauungskonzeptionen Diltheys und Mannheims herausgestellt.

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begriffen. Mannheim sah sehr wohl, dass diese Bestimmung eine neuartige methodologische Problematik mit sich brachte, denn sie forderte insbesondere Antworten auf folgende Fragestellungen heraus: zum einen diejenige nach den atheoretischen Zugangs- und Gegebenheitsweisen von subjekttranszendierenden Kollektivbegriffen und darüber hinaus auch diejenige nach der wissenschaftlichen Theoretisierbarkeit dieser Zugangsweisen. Mannheim umschrieb diesen Zusammenhang auch treffend als eine »Frage der ›Übersetzbarkeit‹ des Atheoretischen ins Theoretische« (ebd., 99). Die Frühschriften Mannheims boten – wie gezeigt – divergierende Beantwortungsstrategien auf diese Fragen auf. Im ›Weltanschauungsinterpretations-Aufsatz‹ wird man zumindest auf der oberflächlichen Beschreibungsebene an die Husserlsche Phänomenologie gemahnt, da Mannheim sich hier bestrebt zeigte, die »originäre Gestalt« (ebd., 129) der Kulturgebilde in Abgrenzung gegenüber deren reflexiv vermittelten Erscheinungsformen zu extrapolieren. Er sprach sogar explizit von einer »phänomeno39 logisch-gegenstandstheoretischen« (ebd., 103) Reflexionsrichtung. Plés Darstellung zufolge ging Mannheim – darin wiederum in Konkordanz zu Dilthey – von der Grundauffassung aus, dass »jenes vortheoretische Weltverhältnis« lediglich »durch einen Umweg« und nur bis zu »einem gewissen Grade zugänglich ist« (1994/95: 303). Zunächst entwickelte Mannheim im ›Weltanschauungsinterpretations-Aufsatz‹ in rein formaler Absicht eine trichotome Typologie von Sinn- und Interpretationskategorien, welche die angesprochene Übersetzungsproblematik zwischen ›theoretischen‹ und ›atheoretischen‹ Inhalten in modifizierter Form wiedergab. An dem einen der beiden Extrempunkte dieser Unterscheidung war der ›objektive Sinn‹ angesiedelt, welcher sich – durchaus im Sinne von Simmels Verständnis – rein auf den Repräsentationsgehalt von Kunstwerken oder Gedanken bezog. Diesem gegenüber unterschied Mannheim den ›Ausdruckssinn‹, der sich auf die Intention des Künstlers bzw. Denkers bei der Schöpfung seines Gegenstandes richtete. Während diese Opposition spätestens seit Marx und Simmel Eingang in die kulturphilosophische Debatte gefunden hatte, bedeutete die von Mannheim in die Mitte zwischen diesen beiden Polen positionierte Kategorie des ›Dokumentsinnes‹ eine Innovation. Gegenüber den beiden bekannten Sinntypen zeichnete Mannheim den ›dokumentarischen Sinn‹ dadurch aus, dass er nicht aus individuellen Setzungen oder Intentionen heraus ableitbar, sondern »nur vom Rezeptiven aus erfaßbar« (WS: 118) sei. Der Dokumentsinn reflektiere die atheoretische Dimension der ›Weltanschauung‹ im Mannheimschen Sinne insofern, als er für den übersubjektiven Entstehungshintergrund von kultu39 Mannheims unübersehbare Anleihen bei der Phänomenologie gehen über oberflächliche Begriffsanleihen letztlich nicht hinaus. Dass Mannheim sehr wahrscheinlich Husserls Vorlesungen zum Zeitbewusstsein gehört hat, lässt sich aus seinen Ausführungen zur musikalischen Erlebnisform schließen (WS: 130f.).

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rellen Schöpfungen stand. Das sich jeweils in bestimmten Kulturobjektivationen Dokumentierende präzisierte Mannheim als die spezifische »künstlerische Gestalt«, »Weltanschauung« und den »ethischen Charakter« eines Künstlers (ebd., 119). In methodologischer Hinsicht forderte Mannheim im ›Weltanschauungsinterpretations-Aufsatz‹ zum Zweck der Interpretation dieser Sinnsphäre eine originäre, nämlich deutende Methode, die er strikt von einer historisch-genetischen Kausalerklärung abgrenzte (ebd., 150f.). Ausführungen zu verstehenstheoretischen Prädispositionen und Implikationen bleiben hier jedoch aus. Mannheim erachtete die Einführung einer solchen neuen, auf den Dokumentsinn gerichteten Interpretationsmethode, deshalb als innovativ und notwendig, »weil das Ineinandersein Verschiedener sowie das Vorhandensein eines einzigen in der Verschiedenheit, Verhältnisse sind, die der geistig-sinnmäßigen Welt eigentümlich sind und von Gleichnissen, die mindestens zum Teil einer räumlichdinglichen orientierten Phantasie ihr Leben verdanken, freigehalten werden sollen« (ebd., 121f.).

Auch aus dieser Passage spricht eine Unzufriedenheit, die daher rührte, dass in der zeitgenössischen Interpretations- und Erkenntnistheorie das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt verkürzt und sachlich unangemessen konzipiert wurde. Dass in seiner Dreiteilung der Sinndimensionen noch keine Lösung, sondern vielmehr seine Ausgangsfrage lediglich auf andere Weise refomuliert war, erkannte Mannheim vollends an. Schließlich hielt er es sogar für möglich, dass dieser analytischen Schichtung »im originär sich gebenden atheoretischen Kulturgebilde [...] nichts entspricht« (ebd., 129). Seine Aufgabenstellung, die Struktur dieser Gegebenheitsweise – Mannheim sprach auch vom »Problem der Gegebenheitsweise« (ebd., 126) – zu beschreiben, beurteilte er als »sehr schwer« (ebd., 129). Er näherte sich ihr diskursiv in Auseinandersetzung mit der Position, die man in Anlehnung an Mannheims Nomenklatur als atomistische Wahrnehmungstheorie bezeichnen könnte (ebd., 136). Dabei ging es um die erkenntnistheoretische Grundfrage nach dem Primat der Teile vor dem Ganzen oder des umgekehrten Begründungsverhältnisses. Im ›Weltanschauungsinterpretations-Aufsatz‹ unternahm Mannheim noch keine ernsthafte, systematisch ausgeführte Rechtfertigung des holistischen Ausgangspunktes vom Ganzen, sondern blieb hier noch auf dem Niveau von Exemplifizierungen und Abgrenzungen seines Standpunkts gegenüber Alternativvorstellungen stehen. Wie sogleich zu demonstrieren sein wird, gab Mannheim jedoch im Rahmen seiner Grundlegung der Kulturtheorie jene Antworten und Begründungen, welche der frühere und publizierte

40 Gelegentlich gebrauchte Mannheim auch die Bezeichnung »Weltanschauungssinn« synonym zu ›Dokumentsinn‹ (WS: 132).

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Aufsatz zur Weltanschauungsinterpretation lediglich gestreift hatte. Folglich können wir uns eine detaillierte Behandlung des früheren Standpunktes an dieser Stelle ersparen. Das von Mannheim hier kritisierte atomistische Wahrnehmungsmodell ging von einer Trennung der oben erörterten Sinndimensionen aus und betrachtete lediglich den ›objektiven Sinn‹ als erkenntnistheoretisch relevant. Die beiden anderen Wahrnehmungsebenen dagegen würden zu ›Stimmungen‹ bzw. zu einem ›Lebensgefühl‹ degradiert und gezielt aus dem Bereich der ›Erkenntnis‹ herausgehalten. Hier erfasste Mannheim ein ungerechtfertigtes Vorurteil am Werk, bei dem übersehen werde, dass »es aber geformte Gefühle, geformte ›Erlebnisse‹, zu ›Sinn‹ gewordene – wenn auch begrifflich unbenennbare – Innenweltgehalte gibt« (ebd., 130). Dieses Missverständniss sei zu großem Teil dem Sachverhalt geschuldet, dass wir zwar über ein reiches »nuanciertes Sensorium für die verschiedenen Ausdrucks- und Dokumentsinndifferenzen« verfügten, diesem jedoch ein Mangel an Begrifflichkeiten zu deren Bezeichnung gegenüber stünde (ebd., 131). Jene atheoretische, »unterirdische Kultur« (ebd., 132) bedurfte einer wesentlich weiterreichenden Aufklärung, um zu vermeiden, dass sämtliche atheoretischen Gehalte von vornherein als ›Irrationalitäten‹ aus dem Wissensbereich ausgegrenzt würden. Mannheim ließ keinen Zweifel daran, dass »(wir) Dem irgendwie Sinnhaften gegenüber aber geradeso eine adäquate intellektuelle Anschauung (haben) wie für die theoretische Wortbedeutung [...] Es ist eine Stufenleiter zwischen den beiden Sinnpolen, dem des absolut desubjektivierten theoretischen Sinnes und dem des kaum aus dem Subjekt abgelösten ›Gefühlssinnes‹« (ebd., 133).

Auf seine Ausgangsfrage nach dem Primat bzw. der Autonomie der objektiven Sinnformen gegenüber dem Ausdrucks- und Dokumentsinn zurückkommend, führte Mannheim aus, dass lediglich erstere »auch ohne die übrigen erfaßt werden« können, »während die übrigen etwas bedürfen, um in Erscheinung treten zu können« (ebd., 135). Die objektive Sinnschicht sei somit die einzige »an und für sich erfaßbare« (ebd.). Damit war jedoch nicht behauptet, dass ein konstitutionsgenetisches Sinnmodell, dem zufolge verschiedene Elemente ein spezifisches Ganzes begründen, den Sachverhalt adäquat wiedergibt. Vielmehr sei dagegen richtig, dass »etwas nur dadurch zum Teil (wird), daß die dazugehörige Ganzheit miterfaßt ist« (ebd.). Von einer Autonomie der objektiven Sinnsphäre kann also bereits dann keine Rede mehr sein, sobald irgendwelche »Erlebnisformen« (ebd., 134) hinzuträten. In diesem Moment, so umschrieb Mannheim in der plakativen Sprache Husserls, würde der ursprüngliche Sinn gleichsam »›in Klammern gesetzt‹« (ebd.). Nunmehr klärt sich auf, weshalb Mannheim

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seine anfängliche Differenzierung der Sinntypen als ›rein analytisch‹ qualifiziert hatte. Es bleibt also festzuhalten, dass Mannheim im Rahmen seiner Ausführungen zur ›Weltanschauungslehre‹ eine Sinnkonzeption entwarf, welche man aus mehreren Gründen als holistisch charakterisieren kann: Zum einen implizierte insbesondere die Kategorie des ›Dokumentsinnes‹ die Forderung nach einer Erweiterung der bislang berücksichtigten sinngenerativen Strukturen um eine weitere Dimension, für welche ursprünglich das Konzept ›Weltanschauung‹ bereits bei Dilthey stand. Dies bedeutete in erkenntnistheoretischer Beziehung zugleich eine Öffnung gegenüber so genannten ›Erlebnisformen‹, welche traditionaliter als irrationale Störquellen aus der Wissenschaftstheorie eliminiert wurden. Wir erkennen hier die Umrisse jener von Dilthey in die Wissenschaftstheorie etablierten lebensphilosophischen Grundfigur, welcher zufolge das ›reflexive‹ Erkennen lediglich eine unter mehreren untrennbar zusammenhängenden Wahrnehmungsformen bildet. Schließlich muss man vor dem gegebenen Hintergrund sogar von einem »semantischen Holismus« (vgl. Bertram/Liptow 2002b: 7) sprechen, für welchen kennzeichnend ist, dass sich ein Bedeutungsgehalt jeweils aus seiner Funktion im Zusammenhang mit anderen Sinndeutungen ergibt. Während der ›junge‹ Mannheim sich im ›Weltanschauungsinterpretations-Aufsatz‹ von zentralen wissenschaftstheoretischen Motiven Diltheys inspirieren ließ und, auf dieser Grundlage, über eine Auseinandersetzung mit solchen zeitgenössischen Autoren, welche gleichermaßen von der Überzeugung der Notwendigkeit einer gegenstandstheoretischen und methodologischen Erforschung der ›atheoretischen Gebiete‹ (WS: 144) be41 seelt waren , seinen eigenen Standpunkt suchte, tragen die beiden zeitlich fast parallel entstandenen Manuskripte zur Begründung einer kulturwissenschaftlichen Methodik zwar immer noch einen experimentalen Grundzug, belegen aber auch, dass Mannheims Suche auch durchaus Erfolge zeitigte. Nachdem im vorigen Abschnitt das Vorliegen einer spezifisch lebensphilosophischen bzw. holistischen Ausgangsfigur in Mannheims weltanschauungstheoretischen Schriften belegt wurde, fokussieren die folgenden Darstellungen die, in Form von verstehenstheoretischen Ausführungen dargebrachte, Antwort Mannheims auf die Frage nach der Gegebenheitsweise von atheoretischen Einheiten und deren wissenschaftlicher Rationalisierbarkeit. Diese Problematik stand zwar bereits am Ausgang des ›Weltanschauungsinterpretations-Aufsatzes‹, doch begegnete ihr Mannheim hier noch mit vergleichsweise beschränkten Mitteln, welche die Bedingungen der Möglichkeit von ›Verstehen‹ nicht in die theoretische Betrachtung mit einbezogen. 41 Dies waren neben Dilthey u.a. M. Weber, Nohl, Riegl, Spengler, Heidrich, Dvořak und Lukács (WS: 143ff.).

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Mannheim stellte zu Beginn seiner explizit verstehenstheoretisch ausgerichteten Untersuchungen, welche schließlich das »existenzverbundene Denken und Erkennen systematisch fundieren« (SdD: 200) sollten, die Bedeutung eines fundamentalen Vorgangs ins Zentrum, den er als »Kontagi42 on« bezeichnete. Dabei ging er davon aus, dass die Wahrnehmung von ›Dingen‹ – Gegenständen der ›äußeren Erfahrung‹ im Sinne Diltheys – und die Wahrnehmung ›geistiger Objekte‹ – in Diltheys Terminologie Gegenstände der ›inneren Erfahrung‹ – gleichermaßen auf diesem Vorgang 43 aufruhten. In diesem Akt, so führte Mannheim eingehender aus, bildeten wir mit unserem Gegenüber, den wir mit unserem ›Totalbewußtsein‹ wahrnehmen, zunächst für kurze Zeit eine Einheit. Anschließend würde diese Einheit wieder in eine Zweiheit von Ich und Gegenstand gespalten. Das hier entfaltete Wahrnehmungsmodell ging also von der (lebensphilosophischen) Denkfigur der primären Einheit von Subjekt und Objekt bzw. von Innen und Außen, die uns von den Ausgangspunkten von Diltheys 44 ›erklärender und beschreibender Psychologie‹ her bekannt ist, aus. Von Aufschluss ist weiterhin Mannheims Bestimmung, nach welcher dieser Vorgang keineswegs nur auf den unmittelbaren Erfahrungstypus bzw. auf den Verstehensprozess appliziert werden müsse, sondern vielmehr »jeden Erkenntnisakt« (ebd., 206) betraf. ›Kontagion‹ erschien somit als Grundprozess menschlicher Wahrnehmung, was zu dem Schluss führte, dass jede Erkenntnisform als »existentielle Aufnahme des Gegenübers in das Bewußtsein« (ebd., 207) zu betrachten sei. Mannheim definierte den Prozess der unmittelbaren Berührung schließlich als die »allgemeine Form der Subjekt-Objektbeziehung in der Sphäre des Sinnlichen« (ebd., 209). Worin, so stellt sich im Anschluss an diese Feststellung die Frage, äußert sich die besondere Zugangsweise über das ›Verstehen‹? Mannheim nahm im weiteren Verlauf seiner Ausführungen konkretere Differenzierungen zwischen ›sinnlichen‹ Erfahrungsformen einerseits – Tasten, Sehen – und ›seelischen‹ Wahrnehmungsformen andererseits vor. In diesem Kontext kam er auch zu einer Spezifizierung des Phänomens des ›Verstehens‹. Der Unterschied der »durch das Verstehen vermittelten Erfahrung« (ebd., 206) gegenüber der körperlich-sinnlichen Wahrnehmung sei wahrnehmungstheoretisch lediglich ein relativer, denn »die wesentliche Struktur 42 Mannheim übersetzt diesen Terminus mit »Berührung« und »Betastung« (SdD: 207). 43 Mannheim verzichtete hier im Übrigen darauf, »die ganze Skala der Aufnahme der dinglichen Welt durch die übrigen Sinne (zu) verfolgen«, um sich ganz der »Aufnahme des Gegenübers durch das Verstehen« zuzuwenden (SdD: 208). 44 Vgl. Diltheys Formulierung: »Ja, es entsprechen sich Grade und Modifikationen von Gefühl des eigenen Selbst und von energischem Bewußtsein der Unabhängigkeit äußerer Objekte. Beide sind korrelativ, sie verhalten sich wie Innen und Außen; das Innen des Selbst und das Außen des Objektes gehören zueinander« (GS XIX: 180).

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der Kontagion (wiederholt) sich hier [im Verstehen; D.Š.] nur auf einem höheren Niveau« (ebd., 209). Der qualitative Unterschied kam also dadurch zustande, dass gewissermaßen von außen zusätzliche Momente hinzutraten. So spielten hierbei diejenigen Momente, die Schütz in seiner Terminologie unter die Kategorie der »biographischen Situation« (vgl. GA I: 10) subsumiert hatte, eine entscheidende Rolle (SdD: 212). Im Hinblick auf Mannheims spätere Ausgestaltung einer »systematischen Soziologie des Wissens« (WS: 372) war dieser Befund signifikant, weil hier die Grundthese fundiert wurde, wonach verstehende Erkenntnis stets nur perspektivisch möglich ist (SdD: 212). Mannheim lieferte in diesen Ausführungen also implizit eine wissenstheoretisch, oder genauer: verstehenstheoretisch abgeleitete Begründung seiner in ›Ideologie und Utopie‹ systematisch entfalteten Behauptung der ›Partikularität‹ allen Denkens. In den hier als Rekonstruktionsgrundlage herangezogenen Arbeiten führte Mannheim diesen Gedanken in seinen Konsequenzen noch einen Schritt weiter. Er demonstrierte anhand diverser Beispiele, dass bereits in dyadischen Interaktionskonstellationen intersubjektiv geteilte Erfahrungsräume konstituiert würden, die für Außenstehende, welche diesen Exis45 tenzzusammenhang nicht teilten, kaum mehr zugänglich seien. Das in solchen Konstellationen konstituierte Wissen, so Mannheim, habe folglich nur für solche Personen Sinn und Geltung, die über einen gemeinsam geteilten, existentiell gegebenen Lebenszusammenhang verfügten. Mannheim führte zur Bezeichnung des auf diese Weise konstituierten Wissens die von Freiherr von Weizsäcker entlehnte Bezeichnung »konjunktives Wissen« (ebd., 211) ein. Die Idee der Perspektivität des Wissens erscheint folglich im Lichte dieser frühen erkenntnistheoretischen Arbeiten Mannheims als die Konsequenz aus der Grundbegebenheit, dass jede Wahrnehmung – etwa von Landschaften (ebd., 212), anderen Personen wie auch meiner selbst (ebd., 213) – immer schon auch von Begebnissen, die dem Wahrnehmungsobjekt an sich äußerlich sind und sich allein der sozialen und biographischen Situation verdanken, mitgeprägt ist. In diesem Sinne stehen ›Erkennen‹ und ›Existenz‹ nach Mannheim immer in einem konstitutiven Wechselbezug zueinander. Mit diesem Befund haben wir jedoch noch immer keine befriedigende Distinktion des elementaren Erfahrungstypus in den Geisteswissenschaften einerseits und den Naturwissenschaften andererseits, weil, so Mannheim, das Moment der Perspektivität letztlich für beide Wissensformen gelten würde. Doch wir erhalten eine Antwort auf diese Frage im Rahmen seiner Begründung der Differenzierung zwischen ›Verstehen‹, ›Begreifen‹ und ›Interpretieren‹, welcher wir uns nunmehr zuwenden.

45 Mannheim (SdD: 215f.) skizziert zumindest auch die Umstände, die ermöglichen, dass konjunktiv geteilte Erfahrungsräume auch auf Dritte erweitert werden können.

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2. ›Verstehen‹, ›Begreifen‹ und ›Interpretieren‹ Mannheim führte im Rahmen seiner verstehenstheoretischen Begriffsbestimmungen diverse terminologische Präzisierungen und Abgrenzungen ein, die im Hinblick auf eine geistes- und sozialwissenschaftliche Wissenstheorie von Belang waren. Unter anderem gelangte er über diesen Umweg auch zu einer methodologischen Bestimmung der nichtnaturwissenschaftlichen Disziplinen. Zunächst differenzierte Mannheim zwei Formen des ›Verstehens‹, nämlich das ›seelische‹ einerseits und das ›geistige‹ Verstehen auf der anderen Seite (ebd., 271). Beide ruhten zwar auf dem Vorgang der ›seelischen Kontagion‹ auf, die man als unmittelbare, nichtreflexive und »instinktmäßige« (ebd.) Erfahrungsform paraphrasieren könnte, doch bedeute die »Fähigkeit des Erfassens geistiger Realitäten, die zu einem Erfahrungsraum oder zu einem Subjekte gehören, gegenüber dieser doch eine andere, neue Fähigkeit in uns« (ebd.). Gleichwohl Mannheim herausstellte, dass der Übergang vom ›seelischen‹ zum ›geistigen Verstehen‹ fließend sei, betonte er dennoch die Zentralität dieser Distinktion, welche es allein ermögliche, zwischen dem »Verstehen von Existenz« und »Verstehen von Bedeutsamkeit« zu unterscheiden (ebd.). Deren sachliche Relevanz sah Mannheim in dem seiner Meinung nach zutreffenden Tatbestand begründet, dass »Bedeutsamkeiten« einen »besonderen Eigengehalt und eine besondere Existenzweise« aufwiesen, welche gegenüber »Erlebniszusammenhängen« in gewissen Hinsichten autonom seien (ebd.). Gegenüber den beiden genannten Verstehensarten schied er im Weiteren noch das Erfassen von ›überkonjunktiven‹ Sinngebilden, wie etwa mathematischen Formeln, welches er als »Begreifen« bezeichnet wissen wollte (ebd., 272). Auf der Basis der Distinktion von ›Begreifen‹ und ›Verstehen‹ folgerte er schließlich auch den Wesensunterschied zwischen historischen und Naturwissenschaften. Analog zu Diltheys Dichotomie von Erklären und Verstehen identifizierte Mannheim also mit den beiden Zugangsweisen zugleich gegenstandstheoretische Aspekte. Seine abschließende Definition des ›Verstehens‹ sei vollständig wiedergegeben: »Verstehen bedeutet also – um es kurz zu fassen – das Eindringen in einen gemeinschaftlich gebundenen Erfahrungsraum, in dessen Sinngebilde und deren existentielle Unterlagen« (ebd.). Neben dem ›Begreifen‹ grenzte Mannheim anschließend auch die ›Interpretation‹ vom ›Verstehen‹ ab. Damit folgte er derjenigen Argumentationslinie, die bereits die Unterscheidung zwischen ›seelischem‹ und ›geistigem‹ Verstehen vorgezeichnet hatte. Das der Differenz zwischen ›Verstehen‹ und ›Interpretation‹ zugrunde liegende Kriterium war dasjenige des jeweils vorhandenen Reflexionsniveaus. Während beide Verstehensweisen generell als »vorreflexiv« eingestuft wurden, wurde hier nunmehr ausschließlich das ›Interpretieren‹ als ein reflexiver Deutungsmechanismus

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installiert (ebd.). Jedoch hatte Mannheim auch mit dieser Differenzierung – analog zu derjenigen zwischen Existenzverstehen und Bedeutsamkeitsverstehen – letztlich keine scharfe Grenzziehung etwa analog der strengen Dichotomisierung von unbewusst/bewusst oder irrational/rational im Sinne. Er stellte auch hier heraus, dass der Übergang von präreflexiver zu theoretischer Deutung perennierend sei. Allerdings bliebe, so Mannheim, auf der Seite des ›kontagiumartigen Verstehens‹ stets ein Erfahrungsüberschuss bestehen, welcher nicht mehr weiter theoretisierbar und reflexiv einzuholen sei (ebd.). Die enge Verwandtschaft, welche Mannheim beiden Wahrnehmungsformen attestierte, manifestierte sich nicht zuletzt auch darin, dass der Richtsatz der Perspektivität kategorisch für beide behauptet wurde (ebd., 273). Um den systematischen Stellenwert von Mannheims verstehenstheoretischen Ausgangspunkten einordnen zu können, empfiehlt sich hier wiederum ein Vergleich zu Diltheys lebensphilosophisch konzipierter Hermeneutik. Wie bereits herausgestellt, führte Mannheim ähnlich wie Dilthey ein relatives Abgrenzungskriterium zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Betrachtungsweise an. In wahrnehmungstheoretischer Hinsicht behauptete Mannheim ja eine gleichartige Deszendenz auf der Grundlage der ›Kontagion‹, bei welcher ›Bewußtsein‹ und ›Welt‹ zunächst 46 ungeschieden seien. Eine qualitative Sonderung ergab sich – wie bei Dilthey – aufgrund der jeweiligen Gegebenheitsweisen: Nur beim verstehenden Zugang rage die existentiale Verknüpftheit auf der Ebene der Wissenskonstitution konstitutiv mit in den Erkenntnisaufbau hinein. Anders als Dilthey schlussfolgerte Mannheim aus seiner Abgrenzungstheorie keinen prinzipiellen epistemologischen Primat des ›Verstehens‹ 47 vor dem äußeren, abgeleiteten Erfahren. Dennoch ist die Radikalität, mit welcher Mannheim für den Bereich des geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens eine methodologische Neuausrichtung hin zu denjenigen existentialen, genauer: sozialen und individuellen, Bedingungen, welche die Erkenntniskonstitution von Beginn an beeinflussen, einforderte, kaum noch steigerungsfähig. Sie äußerte sich – wie oben gesehen – in dem Anspruch, die neu zu gestaltende geisteswissenschaftliche Erkenntnistheorie auf der Grundlage neuer Ausgangsprinzipien zu begründen. Zu diesen Prinzipien war in erster Linie Mannheims Appell nach Aufgabe bzw. His46 Diese Idee entspricht sinngemäß Diltheys Behauptung im ›Satz der Phänomenalität‹, den Mannheim wie folgt paraphrasierte: »Die Dinge können ›draußen‹ bleiben und dennoch ist das, was wir von ihnen in uns aufnehmen, eine Verschmelzung ihrer mit unserem Selbst, und ihre Erkenntnis ist nicht eine Distanzierung, sondern ein Aufnehmen ihrer in unseren existentiellen Bestand« (SdD: 208). 47 Doch werden wir bei der Behandlung der geltungstheoretischen Ausführungen Mannheims noch sehen, dass es »ein Moment im qualitativen Erkennen (gibt), wodurch dieses der naturwissenschaftlichen Erkenntnis unbedingt überlegen ist« (SdD: 281).

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torisierung und Dynamisierung des erkennenden Subjekts der traditionellen Erkenntnistheorie zu zählen (ebd., 244). Unisono mit Dilthey disqualifizierte Mannheim jenes »statische Ich« als adäquates Vorbild für die ›Erkenntnistheorie des Qualitativen‹. Die Forderung einer sozio-historischen Situierung des erkennenden Subjekts ergab sich als Konsequenz aus dem erkannten Faktum, dass sich die »Erkenntnisbasis aller konjunktiven Erfahrungen« beständig wandele (ebd.). Darüber hinaus hatte sich Mannheim an mehreren Stellen Diltheys Grundanliegen der Konzipierung des ›ganzen Menschen‹ als Oppositionsbegriff zum ›theoretischen Menschen‹ zu Eigen gemacht (ebd., 54, 70, 84, 190). Dieses »Totalbewußtsein« (ebd., 207) bildete für Mannheim den Ausgangspunkt zur Formulierung eines (gegenüber der klassischen Erkenntnistheorie) erweiterten Erfahrungsbegriffs, demgemäß das Erkennen lediglich »eine späte, zumeist analytische Phase einem Zustande gegenüber (ist), wo man das ›zu Erkennende‹ bereits hat« (ebd.). Eine weitere systematisch relevante Übereinstimmung zwischen Karl Mannheims Verstehenstheorie und philosophischen Grundmotiven Diltheys manifestierte sich in dem Vorliegen einer interpretationstheoretischen Zirkelfigur, welche nach dem Modell des hermeneutischen Zirkels strukturiert war. In Mannheims Axiomatik verwies die Theorie der Interpretation als geisteswissenschaftliche Methode unmittelbar zurück auf den historisch kontingenten Existenzzusammenhang, welcher somit als Ursprungsquelle sowohl des kollektiven bzw. ›konjunktiven‹ Wissens als auch der individuellen Erfahrung zu begreifen sei. Hierin gründete letztlich einer von Mannheims theoretischen Hauptsätzen: »Eines aber steht fest, daß alle Erfahrungen ihre, wenn auch stereotypisierte Perspektivität besitzen« (ebd., 229; Hervorhebung D.Š.). Die These von der Perspektivität allen Wissens hatte Mannheim zwar zunächst sowohl auf natur- als auch geisteswissenschaftliches Wissen appliziert, jedoch verdoppelte sich im Falle der historischen Wissenschaften gewissermaßen das Problem dadurch, dass hier die Erkenntnisobjekte in Form von stereotypisierten Kollektiv- und Totalitätsbegriffen – die Mannheim in den Arbeiten zuvor als 48 ›Weltanschauung‹ klassifiziert hatte – wiederum auf das interpretierende Subjekt zurückwirken konnten (ebd., 227). Die sich hier abzeichnende Zirkelfigur umschrieb Mannheim folgendermaßen: »Das konjunktive Erkennen erfährt also überall geistige Realitäten [...] – also lauter Sinngebilde, wenn auch verschiedenster Art. Es erfaßt stets Geistiges vom selben Geiste« (ebd., 265). Bei Dilthey hatte es sogar noch komprimierter geheißen: 48 Es bleibt ein Rätsel, weshalb sich Mannheim in seinen kultursoziologischen Manuskripten gegen den Weltanschauungsbegriff sträubte – trotz der thematischen Kontinuität. Stattdessen sprach er hier etwa von »Weltwollen«, »Kunstwollen« (SdD: 272), »Denkwollen«, »Erfahrenwollen« (ebd., 270) und bezeichnete sein Unterfangen als »sinngenetische Analyse« statt als »Weltanschauungsinterpretation« (ebd., 227).

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»Leben erfaßt hier Leben« (Aufbau: 164). Mannheim erachtete die »existentielle Beziehung«, welche in die konjunktive Erkenntnis hineinragt, als gegenstandskonstitutiv für die Kultur- und Geisteswissenschaften. Sie stelle überhaupt erst die Verbindung zwischen den am Erkenntnisprozess beteiligten Instanzen her, sodass Mannheim den Existenzzusammenhang einer Gemeinschaft auch als »verbindenden dynamischen Nexus« (SdD: 214) bezeichnete. Da, wie gesehen, Mannheim eine Kontinuitätslinie vom ›existentiellen‹ und ›geistigen‹ Verstehen zum methodologischen Verfahren der ›Interpretation‹ zog, konnte er bereits im ›Weltanschauungsinterpretations-Aufsatz‹ den basalen Operationsmodus aller historischen Wissenschaften wie folgt bestimmen: »Geist kann nur aus Geist verstanden werden, die eine Substanz nur aus der anderen heraus« (WS: 126). Somit können wir in Mannheims Interpretationstheorie letztlich eine Paraphrasierung von Diltheys Zentralsatz: »Die Geisteswissenschaften sind so fundiert in diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen« (Aufbau: 99), herausstellen. Selbsterkenntnis des Menschen über dem Umweg seiner geistigen Produkte ruhte bei beiden auf der Grundlage eines übersubjektiven »Lebenszusammenhangs« (Dilthey) resp. »Existenzzusammenhangs« (Mannheim) auf. Dilthey beschrieb diesen Sachverhalt im ›Aufbau‹: »nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sich selbst; so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehens selber kennen« (ebd., 98f.). Bei Mannheim hören wir: »wir können nur soweit erkennen, als wir in existentielle Beziehungen zu anderen geraten. Die Vorbedingung der Selbsterkenntnis ist die soziale Existenz: erstens, weil wir uns nur durch diese in menschlich existentielle Beziehungen versetzen können; zweitens, weil jeder Mensch eine andere Seite unseres Selbst in Aktualität bringt; drittens, weil wir uns leichter durch die Augen und in der Perspektive eines anderen als von uns selbst her zu sehen imstande sind« (SdD: 213).

Diltheys Formel in Mannheims Terminologie übersetzt, müsste man also von dem Zusammenhang von Existenz, Ausdrucks- bzw. Dokumentsinn und Verstehen sprechen. Wir erkennen nach diesen Ausführungen eine Axiomatik einer allgemeinen Theorie des Wissens, welche der durch Dilthey vorgeprägten, lebensphilosophischen Grundsystematik in wesentlichen Hinsichten folgte. Darin ist die Mannheimsche Begründung einer autonomen Sozialwissenschaft von vornherein gegenüber den Konzeptionen eines Simmel und Weber unterschieden, welche – zumindest vordergründig – als (neu)kantianisch motiviert daherkamen. Als das hervortretendste Charakteristikum einer lebens- oder existenzphilosophischen Fundierungsphilosophie firmiert hier zunächst auf der

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epistemologischen Ebene die Ablösung der klassischen Subjekt-Objekt – Spaltung resp. des Bewusstsein-Welt – Dualismus zugunsten einer Öffnung gegenüber ontologischen Aspekten. Auf der methodologischen Ebene schloss Mannheim eng an diese existentiellen Grundbestimmungen an, indem er eine historisch sensible und dynamische Interpretationstheorie vorschlug, welche die Aufgabe des ›Verstehens‹ als prinzipiell unabschließbar und offen konzipierte. Die bisher unbeachtet gebliebene Theorieebene der ›Geltung‹ wurde bislang aus darstellungstechnischen Gründen ausgeblendet. Um unserer Behauptung, dass die Entwicklung der Soziologie des Wissens in erster Linie auf eine grundlagentheoretische Ausgangsproblematik und erst mittelbar auf die Lösung einer politisch-weltanschaulichen Problematik hinzielte, größeres Gewicht zu verleihen, sei an dieser Stelle das Resultat der folgenden geltungstheoretischen Ausführungen Mannheims in Bezug auf den Typus des ›konjunktiven Wissens‹ angedeutet. Denn es wird sich zeigen, dass auch die Relativismusproblematik eine systematische, wissenstheoretische Dimension aufwies und nicht ausschließlich aus der zeitpolitischen Geschichte abzuleiten ist. Hier sei dazu nur so viel gesagt, dass Mannheim Geltungskriterien entwickelt hatte, die sowohl zu seinen epistemologischen als auch methodologischen Konzepten kompatibel waren. Sie sollen nun detaillierter ausgeführt werden.

3. Mannheims Konzeption der ›konjunktiven‹ Geltung Mannheim widmete der Etablierung eines genuinen Gültigkeitskriteriums für den von ihm begründeten Wissenstypus der ›konjunktiven Erkenntnis‹ einen breiten Raum. Darin offenbart sich nicht zuletzt der bemerkenswerte Befund, dass auch nach über zwei Dekaden intensiver Diskussion über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften und gar ganze vier Dekaden nach dem »höchst wichtigen Theorieereignis in Deutschland« (Hahn: 1999: 5), dem Erscheinen von Diltheys ›Einleitung‹, die Vertreter einer autonomen geisteswissenschaftlichen Methodik sich noch immer gegenüber jener »Philosophie, die die Wahrheit allein aus einer überzeitlich verbindlichen Begriffsebene konstruieren will« (SdD: 282), in einer Verteidigungsposition waren. Deutlicher als bei Simmel und auch expliziter als bei Weber äußerte sich bereits beim ›jungen‹ Mannheim ein sensibles Gespür für die Bedeutung der Geltungsproblematik im Hinblick auf das Ziel der Etablierung einer allgemeinen ›Theorie des Qualitativen‹. Seine geltungstheoretischen Bemerkungen in ›Strukturen des Denkens‹, welche auf die Erarbeitung eines genuin geisteswissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs abzielten, stellen zugleich eine Auseinanderset-

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zung zumindest mit denjenigen Spielarten des ›Relativismus‹ dar, die man 49 als erkenntnistheoretisch bedingt qualifizieren kann. Die für den vorliegenden Zusammenhang relevante Ausprägung des Relativismus, mit der sich im Übrigen vor Mannheim bereits Dilthey und Simmel herumgeplagt hatten, ergab sich im Falle Mannheims aus der Bestimmung, dass ›konjunktives Wissen‹ wesensmäßig perspektivisch gegeben sei (ebd.), und folglich nur bedingt als objektives, intersubjektiv teilbares Wissen gelten konnte. Sporadisch hatte Mannheim zunächst an anderer Stelle selbstbewusst verkündet: »Diese Art der Erkenntnis hat also keine allgemeine, sondern nur eine konjunktive Gültigkeit« (ebd., 213) – ohne jedoch näher auf die darin implizierte Geltungsproblematik einzugehen. An der für den hier vorliegenden Themenkomplex relevanten Stelle verwies er nunmehr auf das »Phänomen der Echtheit« (ebd., 281), welches als originäres Evaluationsprinzip dem qualitativen Erkennen komplementär zur Seite gestellt wurde. Wenn oben bereits angedeutet wurde, dass Mannheim ausschließlich im Rahmen seiner geltungstheoretischen Auslassungen dem Dogma des erkenntnistheoretischen Primats des geisteswissenschaftlich-verstehenden Zugangs gegenüber demjenigen des naturwissenschaftlichen das Wort redete, so können wir nunmehr Mannheims Nachweisführung in der Gegenüberstellung von ›Echtheit‹ und ›Richtigkeit‹ verfolgen. Gegenüber dem naturwissenschaftlich-mathematischen Wahrheitsideal der ›Richtigkeit‹ im Sinne einer korrespondenztheoretischen Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit, konnte er auf der Basis der Gewissheit, dass es in der geisteswissenschaftlichen Erfahrung »Momente« gibt, »die ein noch tieferes Eindringen in den Gegenstand garantieren, als in den exakten Disziplinen überhaupt möglich ist« (ebd.), schließlich ›Echtheit‹ als eigenständiges Wahrheitskriterium etablieren. Im perspektivischen, ›konjunktiven‹ Erkennen, so räsonierte Mannheim, sei es möglich, »echte und unechte Existenzen und auch echte und unechte Mitteilungen des Erfahrenen« (ebd., 282) voneinander zu unterscheiden. ›Echt‹ 49 Folgende Varianten des Relativismus, die zum Teil auch von Mannheim selbst später in ›Ideologie und Utopie‹ behandelt wurden, werden hier also nicht berücksichtigt: (1) Zum einen diejenige Form des Relativismus, die sich aus dem sich wechselseitigen Aufheben der philosophischen resp. weltanschaulich-politischen Systeme ergab. Dem sich daraus ergebenen wechselseitigen Destruieren stellte Mannheim die Wissenssoziologie als alternative »Begegnungsart« (IuU: 76, 239) gegenüber. (2) Eine weitere Ausprägung der Relativismusproblematik steht in unmittelbarerem Zusammenhang mit den Folgen einer konsequenten Anwendung der später zu beleuchtenden wissenssoziologischen Methode des ›Partikularisierens‹. Logisch hatte deren Anwendung zur Konsequenz, dass zuletzt überhaupt keine Perspektive mehr zugelassen werden kann, aus der heraus über Gültigkeit und Adäquatheit von Denk- oder Weltanschauungssystemen zu richten wäre. Heutzutage spricht man von dieser Problematik auch von dem »tu quoque-Problem« (Fuchs 1992: 157).

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sei eine ›Existenz‹, welche »aus ihrem Seinsprinzip heraus existiert« (ebd.). Eine ›Erfahrung‹ sei dagegen ›echt‹, wenn »deren Perspektivität nur durch die Perspektivität des Standortes bedingt ist und nicht aus heterogenen Bestrebungen herrührt« (ebd.). Die hier getroffene Unterscheidung zwischen ›Existenz‹ und ›Erfahrung‹ erfolgte analog zu derjenigen zwischen ›existentiellem‹ und ›geistigem‹ Verstehen, die oben bereits vorgestellt wurde. ›Echtheit‹ war für Mannheim insofern kontrollierbar, als der nach ›Verstehen‹ suchende Beobachter prinzipiell von seinem Standort aus alle beobachteten Perspektiven kontrollieren konnte – jedoch, wie Mannheim betonte, wiederum »nur qualitativ« (ebd.). Beispielsweise könne der Interpret die spezifische Perspektive eines Parteipolitikers einnehmen und auch dessen Standort miterfassen. Darüber hinaus jedoch könne er aber »mit großer Wahrscheinlichkeit auch sagen, daß von hier an Fälschungen beginnen, die nicht seinem Standort zuzurechnen sind, sondern aus unlauteren Bestrebungen herkommen« (ebd.). An dieser Stelle deutet sich nun eindrücklich die später von Mannheim beschriebene Denkhaltung des Wissenssoziologen gegenüber seinen Interpretationsobjekten an. Mannheim wird hier von der Methode des systematischen ›Partikularisierens‹ und ›Relationierens‹ sprechen. Bevor im nachfolgenden Teilkapitel die systematischen Bezugspunkte zwischen der Mannheimschen Wissenstheorie einerseits und der Soziologie des Wissens herausgestellt werden, sei zunächst das hier gezeichnete Bild abgerundet. Mannheims Strategie, den gängigen Argumenten gegen eine methodologische Eigenständigkeit der geisteswissenschaftlichen Methodik den Wind aus den Segeln zu nehmen, ließ sich auf einen Vergleich mit der in den Naturwissenschaften aufweisbaren Konstitutionslogik des Wissens ein. Er stellte für diese ein »Dilemma« heraus, welches darin bestünde, »daß mathematische Erkenntnis entweder auf Anschauung fundiert ist oder aber, wie man heute immer mehr anzunehmen geneigt ist, daß auch hier die Einzelbehauptungen aus ein paar Axiomen fließen, wobei dann die Frage entsteht, ob diese Axiome von irgendwoher gegeben sein müssen« (ebd., 281).

Mannheims Argument spielte darauf an, dass das naturwissenschaftliche Wissen zum einen letztlich auf apriorischen Setzungen aufruhte und überdies deren Evaluationskriterien durchaus nicht einer zeitlos-abstrakten Naturordnung entstammten, sondern »auch hier die letzten Kriterien [...] in Inhalten verankert (liegen)« (ebd.). In diesen Hinsichten würde, so folglich, kein prinzipieller logischer Unterschied zum ›konjunktiven Erkennen‹ bestehen. Wir erkennen, dass Mannheim auch für das Zustandekommen vermeintlich rein objektiven, mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissens das Vorliegen einer Zirkelstruktur identifizierte: Zum einen sei hier die Erkenntniskonstitution ebenso wie in den Geisteswissenschaften an »Anschauungen« gebunden und darüber hinaus beruhten – letztlich aus

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demselben Grund – die vermeintlich allgemeingültigen Axiome, die hier als Bewertungskriterien fungierten, auf »evidenten« (im Gegensatz zu ›objektiven‹) Erfahrungen der Natur (ebd.). Diesen Befund hatte Mannheim später im ›Wissenssoziologie-Artikel‹ wiederholt und bekräftigt, wobei er sich insbesondere auf die zeitgenössischen Errungenschaften in der Quantenphysik (Heisenbergs) und die Einsteinsche Relativitätstheorie berief (IuU: 233, 262f.). Er interpretierte deren Ergebnisse als Beleg seiner eigenständig entwickelten Hypothese, wonach sich weder die »Setzung der ›an-sich-Sphäre‹ noch diejenige einer »›Wahrheit-an-sich‹-Sphäre« (ebd., 263) vor einer systematisch-erkenntnistheoretischen Prüfung als legitim aufrechterhalten lasse. Die letzten Ausführungen können als Zeugnis für das große Vertrauen des ›jungen‹ Mannheim in seine Bestimmung des Status des geisteswissenschaftlichen Wissens gelesen werden, welches dennoch in merkwürdigem Gegensatz zu seiner Zögerlichkeit steht, seine frühen Befunde mit der Öffentlichkeit zu teilen. Eine veritable Lösung des ›Problems der Objektivität‹ wollte Mannheim an dieser Stelle – ganz ähnlich wie bereits Dilthey – nicht unternehmen. Vielmehr hob er den zentralen Gedanken hervor, den auch Dilthey in diesem Argumentationszusammenhang bekräftigt hatte, dass es gerade die Möglichkeit des Erfassens des Qualitativen ist – und nicht etwa die formalen Methoden der historischen Forschung –, welche die »Voraussetzung dafür (ist), daß sie überhaupt zur Anwendung gelangen können« (SdD: 281). Dass Mannheim mit Philosophen der Geisteswissenschaften wie Schleiermacher und Dilthey in einer Verbindungslinie zu sehen ist, wurde immerhin von Martin Endreß (2000a: 333) wahrgenommen, jedoch bleibt auch dessen Auslegung gegenüber zu betonen, dass Mannheim seine Version eines »offen-approximativen Wahrheitsbegriffs« (ebd.) nicht erst in der Auseinandersetzung mit dem Historismus (WS: 246-307) entwickelt hatte, sondern bereits im Zuge seiner Beschreibung des Typus des ›konjunktiven Wissens‹.

Von Existenzphilosophie zur Wissenssoziologie Die anstehenden Ausführungen nehmen eine eingangs skizzierte Problemstellung wieder auf. Oben wurde die eigentümliche Diskrepanz in der Deutung und Weiterführung der von Mannheim etablierten Variante der Wissenssoziologie erläutert, welche die Entwicklung dieser Subdisziplin seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet hat. Nachdem bisher Gesagten dürfte kein Zweifel darüber aufkommen, dass wir uns im Folgenden derjenigen Interpretationsrichtung anschließen werden, welche gegenüber der zweifellos überwiegenden Tendenz der »Methodisierung der Wissenssoziologie« (Bohnsack 2006: 272) und ihrer damit einherge-

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henden Reduzierung zu einer rein empirischen Disziplin für die Betonung 50 ihrer grundlagen- und wissenschaftstheoretischen Relevanz eintritt. Mannheim hatte der angedeuteten Entwicklung selbst den Weg bereitet, indem er zunächst den philosophischen Untergrund, dem die Wissenssoziologie entwuchs, in den programmatischen Aufsätzen zur Soziologie des Wissens zumindest stark verkürzt hatte. Es scheint, er habe hier primär auf das Kalkül gesetzt, den Verzicht auf einen philosophisch-systematischen Unterbau in Kauf zu nehmen, um dafür die Dringlichkeit und Solidität der neuen Disziplin an empirischen Befunden und Fallstudien vorzuführen. In seiner letzten, enzyklopädischen Formulierung der Wissenssoziologie hatte er schließlich sogar selbst die Option freigestellt, die Wissenssoziologie alternativ entweder als »neue empirische Forschungsmethode« oder als erkenntnistheoretisch bedeutsame »Theorie« anzuwenden (IuU: 229). Vor diesem Hintergrund ist die Aufgabe, die Bezugslinien zwischen der bisher erörterten allgemeinen Theorie des Wissens auf der einen Seite und der Soziologie des Wissens auf der anderen wiederherzustellen, keineswegs banal. Den eindrücklichsten Beleg für das Ausmaß, mit welcher der ›mittlere‹ Mannheim den wissenschaftsphilosophischen Diskurs, aus dem heraus er seinen wissenstheoretischen Standpunkt entwickelt hatte, aus den programmatischen Arbeiten zur Soziologie des Wissens austilgte, liefert der Befund, dass der Name Diltheys in ›Ideologie und Utopie‹ überhaupt nur ein einziges Mal zur Erwähnung kommt (ebd., 40). Es lässt sich für alle der wissenssoziologischen Thematik gewidmeten Arbeiten Mannheims festhalten, dass die Relevanz und Systematik der Wissenssoziologie jeweils primär ideengeschichtlich (im Gegensatz zu systematisch), genauer aus einer konkreten Problemgeschichte des perspektivischen Denkens heraus, begründet und nur in Ausnahmefällen direkt mit der ›Krisis des Wissens‹ im Sinne Diltheys und Husserls in Zusammenhang gebracht wurde. In der ersten Programmschrift, ›Das Problem einer Soziologie des Wissens‹, nahm Mannheim sogar dezidiert einen selbst-reflexiven Untersuchungsstandpunkt in dem Sinne ein, dass er die Entstehungsfaktoren der Soziologie des Wissens wiederum wissenssoziologisch zu bergen unternahm. Die Schlussfolgerung, welche er aus dieser Übersicht zog, mutet angesichts der oben erörterten Rolle der ›Krisis des Wissens‹ sowohl für den ›jungen‹ als auch ›späten‹ Mannheim geradezu lapidar an: »So kann man zum Beispiel heute ganz klar sehen, wie die soziologische Methode [...] allmählich – beinahe verstohlen – übernommen wird, einfach, weil sie die adäquateste Weltorientierung in der modernen Konstellation ist« (WS: 609). Kein Wort mehr fällt über den Zustand der Geisteswissenschaften und der Notwendigkeit eines ›Novum Organon‹, die Mannheim noch wenige Jahre zuvor so bewegt hatten. Die Stelle ver50 Lichtblau (1992: 2ff.) bietet in Bezug auf diese Diskussion eine gute Übersicht. Siehe dazu auch Schulz (1993b: 91f.).

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mittelt unterschwellig den Eindruck, als habe sich Mannheim schließlich aus vorwiegend pragmatischen Gründen für eine soziologische Betrachtungsweise eingesetzt. Zu dieser Frage bemerken Kettler/Meja/Stehr, dass Mannheim die Soziologie als solche zunächst als etwas »Bedrohliches« (1989: 43) empfand, da sie ihm als diejenige »Macht« erschienen sei, »die gerade jenen Richtungen des sozialen Fortschrittes unkritisch gewidmet war, die seinem Verständnis von geistiger Erneuerung entgegenstanden« (ebd.). Der ausgebildete Philosoph, der sich um die Rettung der europäisch-westlichen Kultur bekümmerte, hatte also alles andere ein natürliches Verhältnis zur Soziologie, worin er folglich seinen intellektuellen Gewährsmännern Marx, Simmel, Weber, Lukács und Scheler in nichts nachstand. Nun hatte sich Mannheim den direkten Weg über eine systematische Anknüpfung an den grundlagentheoretischen Diskurs seines Frühwerks dadurch verbaut, dass er mit dem Übergang in die wissenssoziologische Schaffensperiode zugleich auf eine (gegenüber ›Strukturen des Denkens‹) modifizierte Terminologie setzte. Letztlich könnten karrierebezogene Erwägungen Mannheims mitentscheidend dafür gewesen sein, dass er auf ei51 ne noch philosophisch unbelastete Theoriesprache setzte. Es lässt sich gleichwohl demonstrieren, dass die theoretische Gestalt der Mannheimschen Wissenssoziologie in einem Verhältnis der Komplementarität zur wissenstheoretischen Position des ›jungen‹ Mannheims steht. Um diese Hypothese zu zementieren, soll analysiert werden, inwiefern und in welcher Form die im vorausgegangenen Abschnitt herausgestellten epistemologischen Denkfiguren auf dem Terrain der Wissenssoziologie nachgebildet wurden.

1. Vom ›konjunktiven‹ zum ›seinsverbundenen Denken‹ Vergeblich würde man in den publizierten Schriften Mannheims nach 1925 nach Bezeichnungen wie ›konjunktive Erfahrung‹ oder ›konjunktive Gültigkeit‹ suchen. Stattdessen führte er mit dem Begriff des ›seinsverbundenen Denkens‹ einen neuen terminus technicus zur Bezeichnung desjenigen Wissensgebietes ein, dem sich eine Soziologie des Wissens anzunehmen hätte. Inwiefern damit desgleichen gegenüber der ursprünglichen Titulatur inhaltliche Aspektverschiebungen zum Ausdruck gebracht werden sollten, wird im Folgenden zu diskutieren sein. Im berühmten ›Konkurrenzaufsatz‹ grenzte Mannheim das ›seinsverbundene Denken‹ gegenüber dem naturwissenschaftlichen Wissensbereich ab und spezifizierte es in aufzählerischer Form als das »historische Denken«, das »politische Denken«, »das Denken in den Geistes- und Sozial51 Vgl. hierzu auch die hiermit stimmigen Mutmaßungen bei Kettler/Meja/ Stehr (1980: 9).

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wissenschaften und auch das Denken des Alltags« (ebd.). In zwei Hinsichten, so fuhr Mannheim fort, unterscheide sich das ›seinsverbundene‹ Denken gegenüber dem naturwissenschaftlichen: Zum einen darin, dass dort »das denkende Subjekt konstitutiv in das Denkergebnis hinein(ragt)« und zum anderen darin, dass auf jenem Gebiet, »wie Dilthey es ausgedrückt hat, der ›ganze Mensch‹ (denkt)« (ebd., 569f.). Gemäß der Zugrundelegung dieser beiden Kriterien, wäre alternativ wohl eher die Bezeichnung subjektgebundenes Denken angebracht gewesen, da aus der zitierten Definitionsbestimmung zunächst nicht hervorging, welche Aspekte des ›Seins‹ denkkonstitutiv seien. Hier ließ es Mannheim zudem offen, exakter zu definieren, was den ›ganzen Menschen‹ überhaupt vom ›Bewußtsein überhaupt‹ differenzierte. Seine Zögerlichkeit rührte wohl zum großen Teil daher, dass er es als ein gesondertes und obendrein schwieriges Unterfangen bewertete, die Art und Weise des Einwirkens sozialer Faktoren auf das subjektive Denken zu erweisen. Diese Beziehung ließe sich lediglich individuell für jeden Einzelfall nachweisen und sei 52 kaum generalisierbar, folgerte er. Noch im ›Wissenssoziologie-Artikel‹ sprach Mannheim in einem sehr vorsichtigen Ton lediglich von der »These [sic!], daß der geschichtliche Sozialprozeß für die meisten Gebiete des Wissens von konstitutiver Bedeutung zu sein vermag« (IuU: 233; Hervorhebung D.Š.). Mannheim führte, diesem Umstand entsprechend, allgemeine und recht dehnbare Konzepte ein. Unter »Aspektstruktur« resümierte er sämtliche an einem Einzelfall aufzuweisenden »qualitativen Momente im Erkenntnisaufbau« (ebd., 234). Der angedeuteten Uneindeutigkeit des Begriffs der ›Seinsverbundenheit‹ verdankt sich ein Großteil der späteren Missverständnisse, welchen sich die Vertreter der Wissenssoziologie gegenübergestellt sahen. Darunter ragt insbesondere der meist von vermeintlich konservativ ausgerichteten Interpreten dargebrachte Einwand hervor, den bereits Alfred Webers Entgegnung auf Mannheims Vortrag während des Zürcher Soziologentages paradigmatisch angebracht hatte, indem er fragend formulierte: »Was ist das anderes als eine mit außerordentlicher Feinheit glänzend wieder vorgetragene materialistische Geschichtsauffassung? Nichts anderes ist es im Grunde« (1982: 376). Hinter diesem Argwohn verbarg sich die Einschätzung, wonach sich in der Kategorie der Seinsverbundenheit das Anliegen manifestiere, das gesellschaftliche Sein zum einzigen Explanans kulturel-

52 Im ›Wissenssoziologie-Artikel‹ resümierte Mannheim schließlich eine aus diversen Einzelstudien deduzierte Regelhaftigkeit. Sie enthielt die Empfehlung, den sozialen Momenten der ›Konkurrenz‹ und des ›Generationenwandels‹ in der denksoziologischen Analyse besonderes Augenmerk zuzuwidmen. Es handelt sich hier mehr um eine formale als substantielle Aussage. Die einzelnen methodologischen Schritte, die Mannheim (IuU: 234f.) vorschlug, werden im Weiteren nur dann erörtert, wenn sie direkt zur Erhellung der hier primär interessierenden Fragestellungen beitragen.

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ler und ideeller Produkte zu hypostasieren. Demgegenüber hatte bereits Hans-Joachim Lieber (1948: 251) eingeworfen, dass Mannheim durchaus nicht im Sinn hatte, der These einer kausalgenetischen Abhängigkeit des Geistigen vom Sozialen das Wort zu reden, sondern dass dessen Problemlage vielmehr von vornherein anders gelagert war. Mannheim hatte an mehreren Stellen seines wissenssoziologischen Oeuvres mit Nachdruck erklärt, dass eine strikte Entgegensetzung von ›Geist‹ und ›Materie‹ im Sinne eines Vulgärmarxismus für den Sozialwissenschaftler nicht tragbar sei, da sich diesem zeige, dass das Ökonomische »bereits ›Geist‹ (ist)« (WS: 345). Eine solche Reduzierung betrachtete er als unangemessenes »Hineinbeziehen des Naturalen, als eines überzeitlich in sich selbst identischen Faktors in die Erklärung des Geschichtsprozesses« (ebd.). Im ›Wissenssoziologie-Artikel‹ formulierte Mannheim seine diesbezügliche Ansicht, dass »dieses ›Sein‹ falsch charakterisiert (wäre), wollte man es als ein ›sinnfremdes‹ auffassen« (IuU: 252). Diese Diskussion lässt sich insofern als ein Argument für die Kontinuitätsthese lesen, welcher zufolge sich die grundlagentheoretischen Denkfiguren des ›jungen Mannheim‹ in übersetzter Form auch im »Grundriß einer systematischen Soziologie des Wissens« (WS: 372) nachweisen lassen, als sich in der geschilderten Gegenargumentation Mannheims der oben explizierte gegenstandsfundierende Zirkel herauskristallisiert. Um im Begriffsjargon der traditionellen Erkenntnistheorie zu verbleiben: Subjekt und Objekt gehören ein und derselben Sphäre des Geistigen an, wobei dieser Zusammenhang auf den vermittelnden ›Existenz‹- oder wie es in der neuen Diktion nach Mannheims Wende zur Soziologie heißen müsste: ›Seinszusammenhang‹ zurückgeführt werden muss. Der Begriff des ›Seins‹ stand folglich in begriffssemantischer Hinsicht nicht nur synonym für denjenigen der ›Existenz‹, sondern fungierte ebenso wie dieser als gegenstandsund strukturtheoretischer Totalitätsbegriff. Wir können daher mit Lieber zunächst resümieren: »Der terminus technicus der ›sozialen Seinsverbundenheit‹ soll – entgegen aller Kausalerklärung – der Wissenssoziologie nur ein spezifisch geartetes Verstehen und eine eigentümliche Sinndeutung der geistigen Welt ermöglichen« (1948: 251). Die Soziologie des Wissens basierte, wie man festhalten muss, auf verstehenstheoretischen Konzepten, auch wenn Mannheim auf die entsprechende sinnhermeneutische Begriffssprache aus den frühen Arbeiten nun-

53 Mannheim hatte diesen Kritikpunkt, wie aus folgender Stelle des ›Konkurrenzvortrags‹ hervorgeht, bereits hellsichtig vorweggenommen: »Man kann bei unserer Problemstellung darauf gefaßt sein, daß der Gegner den Vorwurf macht, wir projizierten die Kategorien des Ökonomischen auf die Sphären des ›Geistigen‹« (WS: 571).

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mehr verzichtete. Auch von ›Weltanschauung‹ war im Übrigen fortan nicht mehr die Rede (vgl. Kettler/Meja/Stehr 1989: 60). In Mannheims kursorischer Beschreibung der methodologischen Ausgangspunkte seiner Wissenssoziologie findet man bei genauem Hinsehen noch durchaus begriffliche Residuen, welche auf den (lebens)philosophischen Untergrund der ›Lehre von der Seinsverbundenheit des Denkens‹ hindeuten. So fordere sie für einen erfolgreichen Aufschluss, dass soziale Faktoren die Erkenntnisproduktion, welche für Mannheim stets nur von 55 Individuen geleistet werden konnte , beeinflussen, einen Nachweis darüber, dass »a) bei der Problemstellung ein der Formulierung vorangehender, problematischmachender Lebensakt das Problem erst ermöglicht, b) bei der Auswahl aus der Fülle des Stoffes ein willensmäßiger Akt bei dem Erkennen am Werke ist und daß c) bei dem Ductus (bei der Problemführung) lebendige Kräfte im Spiele sind« (IuU: 230f.; Hervorhebungen D.Š.).

Die wissenssoziologische Betrachtungsweise in Mannheimscher Prägung schob also eine dritte, vermittelnde Kategoriengruppe – Mannheim sprach auch von »Verknüpfungskategorien« (WS: 379) – zwischen das soziale Sein einerseits und den zu interpretierenden geistigen Gehalten andererseits. In diese Funktion traten die oben zum Teil aufgeführten Totalitäts56 konzepte wie »Denkwollungen« (ebd.) oder »Entelechien« . Durch diese Wendung wurde nicht nur die für eine hermeneutische Interpretationstheorie nach dem Diltheyschen Modell charakteristische Trias von ›Leben, Ausdruck, Verstehen‹ wiederholt, sondern zugleich der wesentliche Unterschied zum marxistischen Deutungsparadigma markiert. Diesem gegenüber stellte Mannheim, im Verein mit Scheler, heraus, dass die Wissenssoziologie als ein »Teil der Kultursoziologie« (ebd., 337) anzusehen sei. Nico Stehr und Volker Mehr haben die Wissenssoziologie – unter Ausblendung der Bedeutung Diltheys – entsprechend als »eine Art ›Kopernikanische Revolution‹ in der Analyse kultureller Produkte« (1980: 7) ausgeschildert. Somit bleibt festzuhalten, dass der interpretationstheoretische Zirkel und damit der methodologische Blick, von dem die Wissenssoziologie ausging, als Konsequenz aus dem gegenstandstheoretischen Zirkel ema-

54 Neben Lieber ist es insbesondere die Interpretation von Susan Hekman (1986a, b), welche die Wissenssoziologie als hermeneutische Disziplin auffasst. 55 »Es ist allerdings wahr, daß nur das Individuum des Denkens fähig ist. Es gibt kein solches metaphysisches Wesen, wie den Gruppengeist« (IuU: 4). 56 Den Entelechiebegriff hatte Mannheim bekanntlich in seinem ›Generationen-Aufsatz‹ in Anlehnung an Pinder entwickelt (WS: 550ff.).

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nierte. Es wäre ein müßiges Unterfangen, auf die fiktive Frage nach dem alternativen Verlauf des ›Streits um die Wissenssoziologie‹ unter veränderten Bedingungsparametern einzugehen, nämlich solchen, dass Mannheim die lebensphilosophische Ausgangsbasis des seinsgebundenen Wissens deutlicher expliziert hätte. Indes lässt sich jene Debatte um die Möglichkeit ›objektiven Wissens‹ auch unter den faktisch gegebenen Bedingungen sicherlich zu einem Teil als eine Auseinandersetzung mit denjenigen Denkfiguren, die bereits von Mannheims Vorläufern, darunter neben Dilthey auch Weber und Simmel, inauguriert wurden, auslegen. In gewisser Hinsicht übernahm Mannheims Wissenssoziologie hier eine Stellvertreterfunktion für Diltheys Begründungsstrategie.

2. Wissenssoziologie und Erkenntnistheorie Mannheims Kaschieren der wissenstheoretischen Unterlage, auf welcher die Soziologie des Wissens errichtet wurde, hatte insgesamt durchaus nicht zu einer vollständigen Verdrängung der erkenntnistheoretischen Implikationen, die mit einer holistischen Grundlegungsstrategie angelegt waren, geführt. Vielmehr lässt sich sogar das Gegenteil belegen, wenn man den Raum, welchen geltungstheoretische Ausführungen im enzyklopädischen ›Wissenssoziologie-Artikel‹ einnahmen, berücksichtigt. Im Zentrum dieser Diskussion stand die Relativismusproblematik, welcher der ›junge‹ Mannheim, wie wir oben demonstriert hatten, noch vergleichsweise unbekümmert und sorglos gegenübergetreten war. Hatte er sich zuvor noch mit der Beschreibung des geisteswissenschaftlichen Wissenstypus (›konjunktives Wissen‹) und der Einführung einer diesem komplementären Geltungskategorie (›konjunktive Geltung‹) begnügt, so wurde nunmehr deutlich spürbar, dass die Bedeutung der Lösung der Relativismusproblematik dem ›reiferen‹ Mannheim eine Herzensangelegenheit geworden war. Bevor wir den Gründen für diesen Bedeutungswandel nachgehen, soll zunächst der systematische Ort der Epistemologie im Rahmen von Mannheims ›Grundriß‹ dargelegt werden. Es lässt sich nämlich in dieser Frage tatsächlich eine eigentümliche Wendung im Begründungsverhältnis von empirischer Einzelwissenschaft und Erkenntnistheorie konstatieren. In Anlehnung an Mannheims intellektueller Biographie hatten wir bereits gefolgert, dass er sich ausgehend von seiner kritischen Beschäftigung mit den Voraussetzungen der Epistemologie die lebensphilosophische Grundeinsicht der Unhintergehbarkeit des Lebens zu eigen gemacht und schließlich von dort aus die Wissenssoziologie als empirische Methode zur Erforschung des Zusammenhangs von ›Denken‹ und ›Existenz‹ begründet hatte. Nun lesen wir in ›Das Problem einer Soziologie des Wissens‹: »Indem wir das Denken ›seins‹relativ (als einen ›Teil‹ der dynamisch-geistigen Totalität) setzen, ist selbstverständlich die Forderung einer neuen Erkenntnistheorie gestellt« (WS: 364).

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Mannheim stellte sich hier also die Aufgabe, die »erkenntnistheoretische Relevanz dieses Faktums« (ebd.) der Seinsgebundenheit des Denkens zu eruieren. Das ursprüngliche Bedingungsverhältnis zwischen Erkenntnistheorie und empirischer Spezialwissenschaft wurde hier von Mannheim in gewisser Weise umgekehrt, da er nunmehr von der Warte des Wirklichkeitswissenschaftlers, genauer: des Soziologen, welcher den Einblick über die Macht des Sozialen über das Denken hatte, sprach und von hier aus eine »Revision der Erkenntnistheorie« (IuU: 246) und eine Destruktion des Dogmas vom »absoluten Primat der Erkenntnistheorie gegenüber der Einzelwissenschaft« (ebd., 247) einforderte. Nicht also über den Weg einer immanenten ›Strukturanalyse‹ der Erkenntnistheorie wie in seiner Dissertationsschrift, sondern über eine soziologisch inspirierte Historiographie der Erkenntnistheorie (WS: 311ff.) kam Mannheim zu diesem Schluss. An diesem Punkt können wir folglich einen gewissen entwicklungslogischen Fortschritt des Mannheimschen Denkweges beobachten, ohne dass damit eine systematische Abkehr konstatiert werden muss. Denn eine Einschränkung des Autonomiestatus der Erkenntnistheorie hatte ja bereits die ›Strukturanalyse‹ zum Ergebnis. Fast zwei Dekaden später drehte Mannheim das traditionelle Verhältnis zwischen »Prinzipienwissenschaft« (IuU: 248) und empirischer Einzelwissenschaft resp. zwischen Theorie und Praxis um. Dabei erinnert das folgende Zitat an Max Webers mit der gleichen Intention getätigten Ausspruch, wonach lediglich »durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme« Wissenschaften begründet und ihre Methoden fortentwickelt wurden, dagegen niemals aufgrund von »rein erkenntnistheoretischen oder methodologischen Erwägungen« (GAWL: 217): »Neue Wissensarten tauchen letzten Endes stets aus dem kollektiven Lebenszusammenhange auf und entstehen nicht erst, nachdem eine Prinzipienwissenschaft ihre Möglichkeit demonstriert hat« (IuU: 248). In beiden Aussagen kommt eine gewisse Geringachtung der Philosophie zum Ausdruck, für die ja Weber explizit (von Scheler) kritisiert wurde. Mannheim behauptete ähnlich wie Weber, dass sich die »Entwicklung der Prinzipienwissenschaft im Element der Empirie (vollzieht)« (ebd.). Für die gegenwärtige Form der Erkenntnistheorie bedeutete dies nach Mannheim folgendes: »Nicht nur das vorfindbare Paradigma, wie faktisches, konkretes Erkennen aussieht, findet die Erkenntnistheorie im konkreten Wissensbestand einer Zeit allein vor, sondern auch das utopische Richtigkeitsbild der Wahrheit überhaupt« (ebd., 250). Hier sprach Mannheim aus, dass sich die zeitgeschichtliche Konstellation sowohl auf der begriffs- als auch der geltungstheoretischen Ebene auf die jeweilige inhaltliche und formale 57 Gestalt der Erkenntnistheorie ausprägen würde.

57 In Ansätzen hatte Mannheim (WS: 311ff.) dieses Programm bereits im Artikel ›Das Problem einer Soziologie des Wissens‹ verwirklicht.

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Anders als wahrscheinlich Weber hatte der ›junge‹, philosophisch inspirierte Mannheim noch seine Hoffnungen auf Lösung der Kulturkrise, wie die Mehrzahl seiner Kollegen, in die Philosophie gesetzt. Von diesem ursprünglichen Pathos war im ›Wissenssoziologie-Artikel‹ nicht mehr viel zu spüren. Zwar schob er auch hier beschwichtigend ein, dass die Einsicht in die praktische Bedingtheit der Prinzipientheorie »nichts gegen die Erkenntnistheorie und Philosophie (besagt)« (ebd., 248), jedoch richteten sich seine weiteren Gedanken ausschließlich auf die Richtungen ihrer ›Revision‹. Wonach Mannheim seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre suchte, hatte er wie folgt ausgedrückt: »einen Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff, der gerade dieses seinsverbundene Denken und Erkennen zur Grundlage hätte« (WS: 364). Diesen Zweck verfolgten die weitschweifigen und komplexen geltungstheoretischen Erläuterungen im ›Wissenssoziologie-Artikel‹, die im Folgenden gesondert betrachtet werden müssen.

3. Von der ›konjunktiven Gültigkeit‹ zum ›Relationismus‹ Es ist sehr bezeichnend, dass Mannheims Auflösung der Relativismusproblematik von Seiten der Interpretation eine ähnliche Einschätzung erfahren hat, wie sie beispielsweise Gadamer gegenüber Diltheys Behandlung dieses Problems geäußert hatte. Während Gadamer Dilthey eine grundlegende »Zwiespältigkeit« bzw. ein Schwanken zwischen »Idealismus und Erfahrungsdenken« (WuM: 205) vorhielt, kann man bei Susan Hekman mit Bezug auf Mannheim auch das Feststellen einer »Ambiguität« resümieren: »He still appeals to an ›objective‹ point of view even if he insists it is a kind of objectivity peculiar to historical studies. And his insistence on the possibility of a synthesis that transcends the relativity of particular viewpoints is further evidence of his failure to break with the positivist view« (1986b: 139).

Sowohl Dilthey als auch Mannheim wurde in diesen Statements ein Mangel an Radikalität vorgehalten, der es verhindert habe, dass der von ihnen programmatisch begründete Wissenstypus nicht mit vollends neuen, von tradierten Wissenschaftsnormen independenten Beurteilungsmaßstäben ausgestattet wurde. In werkgenetischer Einstellung sind wir in der Lage, den hier angedeuteten Umschlagpunkt ziemlich exakt zu fixieren, da er sich an einer Frage entzündete, für die Mannheim an unterschiedlichen Stellen seines Werks divergierende Antworten entwickelt hatte. Der Sache nach handelte es sich – in der technizistischeren Sprache des ›Wissenssoziologie-Artikels‹ – um den Übergang von der »Faktizitätsrelevanz« zur »Geltungsrelevanz« der wissenssoziologisch bearbeiteten Denkinhalte (IuU: 245f.). Das Problem der Geltung ergab sich exakt aus dem wissenssoziologischen Vorgang des

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»Relationierens und »Partikularisierens«, wobei das ›Relationieren‹ schlicht die Beziehung eines »einzelnen geistigen Gebildes auf die Gesamtstruktur eines bestimmten historischen und sozialen Subjekts«, das ›Partikularisieren‹ dagegen den Wahrheitswert einer so gedeuteten Aussage thematisierte (ebd., 242f.). In den ›Strukturen des Denkens‹ hatte der ›junge‹ Mannheim noch kategorisch erklärt, »daß die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes oder der ganzen theoretischen Sphäre durch keine soziologische oder irgendwie genetische Erklärung bekräftigt oder entkräftet werden kann« (SdD: 91). Damit war für ihn a priori zugleich die Möglichkeit einer »soziologischen Kritik der menschlichen Vernunft« (ebd.) 58 desavouiert (vgl. Lichtblau 1992: 18ff.). Fast zehn Jahre später resümierte Mannheim, dass wir im »Phänomen des Partikularisierens [...] einen Fall vor uns (haben) [...], in dem eine pure Tatsachenfeststellung sinnrelevant, eine Genesis Sinngenesis zu sein vermag« (IuU: 246). In einer wissenssoziologischen Applikation geistiger Denkgehalte sei demzufolge eine Relativierung dieser Inhalte unausweichlich impliziert. Aus diesem »Novum« leitete Mannheim die bereits skizzierte Notwendigkeit einer Revision der tradierten Erkenntnistheorie, die geradezu durch den Satz fundiert sei, »daß Tatsachenfeststellungen im Prinzip keine Relevanz für erkennt59 nistheoretische Überlegungen haben können« (ebd.) , ab. Zugleich hatte die Relativismusproblematik im ›Phänomen des Partikularisierens‹ ihren Ursprung, da es die jeweilige Perspektivität der Sichtweise auf die Welt beobachtete und methodisch analysierte. Diese Problemkonstellation entsprach derjenigen seiner Frühschriften, in denen die Objektivitätsfrage in der gleichen Weise an die Diagnose der wesensmäßigen Perspektivität bzw. der lediglich ›konjunktiven Gültigkeit‹ geistiger Produkte geknüpft wurde. Es stellt sich daher der Eindruck ein, dass Mannheim geltungsphilosophische Fragen nicht zuletzt aus dem Grund in den späteren Jahren ernster nahm als noch zuvor, weil er nunmehr nicht mehr als Philosoph, sondern als Soziologe sprach und sich somit seine Argumentationsrichtung umgekehrt hatte. Allein in ›Ideologie und Utopie‹ explizierte Mannheim mannigfaltige alternative Lösungsvorschläge des drohenden Relativismus, die mehr oder weniger in systematischem Bezug zueinander standen, wie nun im Einzelnen erörtert werden muss. Sowohl Robert K. Merton (1969: 503ff.) als auch Hans - Joachim Lieber (1948: 257ff.) haben unabhängig voneinander drei Lösungskonzepte bei Mannheim unterschieden. (1) Als in nächster Nähe zum systematischen Kerninhalt der Wissenssoziologie stehend erscheint diejenige Strategie Mannheims, den Relativismusbegriff in einen ›Relationismus‹ zu übersetzen. Mannheim räumte 58 Der ›Wissenssoziologie-Artikel‹ erschien in seiner Originalform im Jahre 1931. 59 Von den im zweiten Teil dieser Arbeit behandelten Autoren hatte Rickert diese Position am radikalsten vertreten.

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hier eingangs ein, dass unter den Bedingungsrelationen, unter denen die Wissenssoziologie das seinsverbundene Wissen konzipierte, »Objektivität und Entscheidbarkeit nur auf Umwegen herstellbar ist« (IuU: 258). Gleichwohl erachtete er die Tatsache, dass geistige Gehalte in keiner anderen Weise als in »standortsgebundenen Aspektstrukturen« (ebd.) resp. »historisches Wissen wesensmäßig relational, nur standortgebunden formulierbar ist« (ebd., 72), für unhintergehbar. Unter dieser Grundvoraussetzung, so argumentierte Mannheim weiter, »wird Objektivität nur etwas Anderes bedeuten« (ebd., 258). Er imitierte im nächsten Schritt Webers Argumentationsstrategie und setzte ›Objektivität‹ fortan in Anführungszeichen. Zu ihrer Herstellung hätte der Wissenssoziologe die von ihm zu analysierenden Denkprodukte im Hinblick auf die dabei durch die jeweiligen Aspektstrukturen bedingten ›Verzerrungen‹ zu untersuchen – Stichwort: ›Partikularisieren‹ – und im nächsten Schritt diese Prozedur anhand konkurrierender Weltansichten zu wiederholen. Dadurch erhalte man »eine Formel der Umrechenbarkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivischen Sichten ineinander« (ebd.). Doch eine schlechthin unperspektivische Sichtweise sei dadurch auch nicht herstellbar. Als »Relationismus« definierte Mannheim abschließend die Grundtatsache, »daß jede Aussage wesensmäßig nur relational formulierbar sei« (ebd.). Er erkannte in diesem Prinzip die »Technik eines Forschens, das sich auf einer Reifestufe des Denkens« (ebd., 86) bewegte. Aus einer emphatischeren, weil auf die hiermit gegebene Möglichkeit einer Lösung der Relativismusproblematik bezogenen, Formulierung geht hervor, weshalb Mannheim die Wissenssoziologie als ein »Organon der neuen Menschwerdung« (WS: 616) ansehen konnte: »Dieser dynamische Relationismus ist die einzig mögliche adäquate Form des Suchens nach einem Ausweg in einer Welt, in der verschiedene, sich zur Absolutheit hypostasierende Möglichkeiten der Weltsicht existieren, deren Partikularität bereits sichtbar geworden ist. Nur wenn das suchende Individuum alle entscheidend wichtigen Motivationsreihen in sich aufgenommen hat, die historischsozial gewordenen sind und in ihrer realen Spannung die Gegenwartslage charakterisieren, – nur dann kann es überhaupt daran denken, eine der heutigen Seinslage angemessene Lösung zu finden« (IuU: 86f.).

Die Methode des ›Relationierens‹ in diesem Sinne verhieß ihm das Potential, die Perspektivität bzw. Partikularität des Denkens zu transzendieren und eine synthetische Gesamtschau zu gewinnen. Als eine einigermaßen befriedigende Lösung der Relativismusproblematik konnte Mannheim dieser ›Relationismus‹ nicht erst unter dem Eindruck erscheinen, dass ja auch der Wahrheitsbegriff der klassischen Erkenntnistheorie nicht haltbar war (ebd., 72, 246f.).

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(2) In abstraktem Zusammenhang mit dieser (ersten) Lösungskonzeption, aber zugleich in systematisch-philosophischer Abweichung zu diesem Standpunkt, stand eine weitere. Mit einigem Befug sprach Lieber von ihr als von einer quasi-pragmatistischen Lösung, deren »naiv-realistische Deutung des Seins als bloßer Lebenspraxis zur ursprünglichen Konzeption Mannheims in einem seltsamen inneren Widerspruch steht« (1948: 259). Gewisse ihrer Elemente erinnern, wie sogleich demonstriert werden soll, auch an die Rickertsche Wertaxiomatik, obgleich sie im Idiom der (Marxschen) Ideologietheorie verpackt waren. Das Handeln und Denken einer bestimmten Zeit sollte nach dieser Konzeption anhand von spezifischen Werten und Normen, welche dem Wissenssoziologen – wie Mannheim schlicht voraussetzte – unmittelbar einsichtig seien, gemessen werden. Mit Bestimmtheit versicherte Mannheim, dass diese Orientierungen nicht im Sinne von »überzeitlichen Werten« intendiert waren (IuU: 83). Vielmehr meinte er damit solche Werte, wie sie sich in »einem in stets neuen seelischen Vollzügen sich neu-gestaltenden Sein« (ebd.) manifestierten. Unter Zugrundelegung der Rickertschen Werteaxiomatik, müsste man die entsprechende Wertsphäre unter die ›objektiven Kulturwerte‹ subsumieren, welche über den individuellen, ›subjektiven‹ Werten angesiedelt waren. Auf der Basis dieser Operation sollte sich das ›falsche‹ vom ›richtigen‹ Zeitbewusstsein differenzieren lassen: »Falsch ist ein theoretisches Bewußtsein, wenn es in der ›weltlichen‹ Lebensorientierung in Kategorien denkt, denen entsprechend man sich auf der gegebenen Seinsstufe gar nicht zurechtfinden könnte« (ebd., 84). Dass diese Lösungsstrategie zu den konzeptionellen Unterlagen der Wissenssoziologie nur in mittelbarem Bezug stand, braucht kaum weiter expliziert zu werden. Mit der zuvor dargelegten Strategie weist sie darin eine Parallele auf, dass auch hier dem Wissenssoziologen zugemutet wurde, eine Gesamtschau über den »Normenschatz« (ebd.) einer gegebenen zeit-historischen Konstellation zu ermitteln. Mannheim knüpfte über den Kontext von ›Ideologie und Utopie‹ hinausgehend nirgendwo mehr explizit an diese Argumentation an. (3) Auch die dritte Lösungstaktik griff den Grundgedanken der Über60 windung der Partikularität des Erkennens durch Synthetisierung auf. Zweifelsohne hatte sie wirkungsgeschichtlich die breiteste Resonanz erhalten. Dabei wurde u.E. jedoch die ihr von Mannheim selbst zugewiesene Tragweite über alle Maßen übertrieben. Dies zeigt sich etwa darin, dass eine Behandlung der Problematik der – in Anlehnung an Alfred Weber so genannten – ›freischwebenden Intelligenz‹ in seinen sonstigen Arbeiten zur Wissenssoziologie nicht existiert, und insbesondere darin, dass der resümierende ›Wissenssoziologie-Artikel‹ diese Thematik nicht mehr aufnahm. Kettler, Meja und Stehr haben in diesem Sinne bereits konkludiert, 60 Auf eine Konvergenz dieser Lösung zu Durkheims später Moraltheorie hat bereits Tiryakian (1965: 677) hingewiesen.

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dass Mannheim in dieser Frage ambivalent blieb, da sein Werk ursprünglich gerade von einem »Mißtrauen gegenüber der romantischen Disziplinlosigkeit antirationalistischer literarischer Intellektueller« (1989: 80) ausgegangen war. Mannheim dachte der Klasse der Intellektuellen aufgrund deren sozialer und ideologischer Unabhängigkeit die Rolle zu, über die partialen Standorte der im existentiellen Kampf verflochtenen Gesellschaftsgruppen hinaus ihren Blick auf die Totalität der sozialen Verhältnisse zu richten (IuU: 134ff.). Mannheim sah sich hier im Übrigen, was auch regelmäßig 61 übersehen wurde, der Tradition Hegels und Marx’ folgend (ebd., 138f.). Da auch diese Lösungsstrategie in keinem direkten Verhältnis zu den Grundfiguren der Systematik der Soziologie des Wissens stand, kann deren Diskussion an dieser Stelle abgebrochen werden. Vor dem Hintergrund dieser Darstellung ist Hekmans Diktum einer ›Ambiguität‹ in Mannheims Anstrengungen zur Lösung der Relativismusproblematik verständlich geworden. Von den drei erörterten Ansätzen erwies sich nur das Theorem des ›dynamischen Relationismus‹ als theorieimmanente Ableitung aus den Grundaxiomen der Wissenssoziologie. Anders als die in den Frühschriften im Hinblick auf die Spezifizität des ›konjunktiven Wissens‹ eingeführte Kategorie der ›Echtheit‹, wurde der ›Relationismus‹ direkt aus der empirischen Erfahrung der Unhintergehbarkeit der Perspektivität heraus begründet. Diese Lösung wies unübersehbare Affinitäten zu den Geltungstheorien Simmels und Webers auf, die im Rahmen der folgenden Zusammenfassung nochmals allgemeiner theoretisiert werden sollen. Als tragisch ist allerdings der Tatbestand zu bezeichnen, dass diese Lösung nur in Ausnahmefällen ernst genommen wurde (vgl. Hekman 1986b: 138). Im mittlerweile ausführlich dokumentierten ›Streit um die Wissenssoziologie‹ fand sie insbesondere im Vergleich zur Intellektuellentheorie kaum Beachtung. Typischerweise wird Mannheim innerhalb der Philosophie in der Regel nicht einmal als Vorläufer der späteren Verfechter einer Soziologisierung resp. Pragmatisierung der Erkenntnistheorie – genannt seien Thomas S. Kuhn und Richard Rorty – aufgeführt. Man könnte freilich darin einen Trost finden, dass immerhin die Sache, für die er einstand, wenn auch unter anderen Namen, Karriere machen sollte.

61 Mit Recht hatte Merton (1969: 507) auf die Strukturähnlichkeiten zwischen Mannheims Beschreibung der Rolle der Intellektuellen einerseits und derjenigen der Klasse des Proletariats nach Marx andererseits hingewiesen. Dies sei gegenüber den zahlreichen Anfeindungen, die Mannheims gewiss zweifelhafter Notlösung nach 1968 durch eine ganze Schar so genannter ›NeuMarxisten‹ zuteil wurde, hervorgehoben. Siehe hierfür stellvertretend Neusüss (1968: 246).

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Resümee: Wissenssoziologie und Lebensphilosophie Die Rekonstruktion der Denkentwicklung Mannheims hat uns die selten gebotene Möglichkeit verschafft, die Verbindungswege, welche zwischen einer (lebens)philosophisch orientierten Theoriearchitektonik auf der einen Seite und einer empirisch-einzelwissenschaftlichen Disziplin andererseits bestehen, anhand eines konkreten Einzelfalls zu studieren. Hierzu hatte es eingangs der Wiederentdeckung des Philosophen Karl Mannheim bedurft, der innerhalb der Philosophie bestenfalls als eine Randfigur gehandelt und in der Soziologie lediglich als Begründer der Soziologie des Wissens Po62 pularität genießt. Die Übersicht über die Anteilnahme des ›jungen‹ Mannheims an der Problematik der Entwertung des akademischen und kulturellen Wissens bzw. der sich daraus ergebenden Relativismusproblematik bezeugte die enge problemgeschichtliche Kontinuitätslinie, welche sich mindestens bis zu Diltheys früher Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ zurückverfolgen lässt. Als nicht minder radikal erschien dann auch Mannheims Programmatik eines ›Novum Organon der Geisteswissenschaften‹, die er aus einer selbstbewussten Auseinandersetzung mit den verschiedenen zeitgenössischen Spielarten einer prima philosophia heraus entwickelte. Hier entschied sich Mannheim gegen die Option einer Fortsetzung bzw. Erneuerung des kantianischen Wissenschaftsmodells und für eine holistische Denktradition als die angemessene Basis, auf der eine neue ›Theorie des Qualitativen‹ zu fundieren wäre. Dass es also bei Mannheim im gleichen Sinne wie bei Dilthey um eine wissenschaftstheoretische Begründung des nichtnaturwissenschaftlichen Wissens ging, war im ›Streit um die Wissenssoziologie‹ und dessen Nachwehen weitgehend untergegangen. Möglicherweise hatte die Bezeichnung ›seinsgebundenes Wissen‹ den Eindruck mitbefördert, als handele es sich dabei nur um einen kleinen Teilbereich des Denkens. In Wahrheit bedeutete die Mannheimsche Wissenssoziologie wesentlich mehr als eine innovative Interpretationstheorie, nämlich einen Beitrag zur allgemeinen Theorie des Wissens. Das Bindeglied zwischen Mannheims früher philosophischer Argumentationsstrategie und der Gestalt der Wissenssoziologie bildete der Befund der wesensmäßigen ›Perspektivität‹ des geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens. Während diese Einsicht gewissermaßen das Resultat aus der philosophischen Reflexion resümierte, konstituierte sie schließlich auch den Anknüpfungspunkt, an welchen die Wissenssoziologie systematisch andocken sollte. Ihr methodologischer Sinn bestand in erster Linie

62 Erwähnt werden kann an dieser Stelle immerhin Ralf Bohnsacks (2001) Entwicklung der Mannheimschen Sinntheorie zu einer ›dokumentarischen‹ Interpretationsmethode.

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darin, das Hineinragen sozialer Gesichtspunkte in ein Denkergebnis systematisch zu beforschen. In einem weiteren Schritt, der zwar – so Mannheim – nahe liegen würde, aber keineswegs mit Notwendigkeit ange63 schlossen werden müsse , könne die Partikularität des Wissens über das ›dynamische Relationieren‹ und anschließende Synthetisieren gradatim transzendiert werden. Ein grundsätzlicher Antagonismus zwischen Mannheims Theorie einerseits und Soziologie des Wissens auf der anderen Seite, war hier nicht auszumachen. Letztere erschien vielmehr als eine sachlich legitime und konsequente Weiterführung der philosophischen Einsichten des ›frühen‹ Mannheim. Allerdings nahm der ›mittlere‹ Mannheim einige der zentralen Grundfragen, die er sich zuvor als Philosoph gestellt hatte, wieder von neuem auf, wie insbesondere anhand der Geltungs- und Relativismusproblematik demonstriert wurde. Gleichermaßen kam er als Wissenssoziologe zu einer noch kritischeren Haltung gegenüber der Erkenntnistheorie, deren konzeptuelle Eigenständigkeit der ›junge‹ Mannheim bereits in Zweifel gezogen hatte. In seiner Stellungnahme zur Philosophie im Allgemeinen und Epistemologie im Besonderen bekundete sich jene Distanzstellung, die wir auch für Weber herausgestellt hatten. Im Gegensatz zu Weber argumentierte Mannheim nicht von vornherein aus der Perspektive des Einzelwissenschaftlers, sondern kam vielmehr erst über den Umweg einer philosophischen Auseinandersetzung mit den allgemeinen Prämissen der Erkenntnistheorie zur Forderung nach einer radikalen Revision und Neugestaltung der Epistemologie. Die konzeptionelle Richtung, in welche er die Erkenntnistheorie lenken wollte, berührte sich mit der Tendenz der Verlebendigung, Empirisierung und Pragmatisierung der Erkenntnistheorie, welche wir anhand von Simmel und Weber nachgewiesen hatten, denn sie hatte zum Zielpunkt eine Umkehrung des Begründungsverhältnisses zwischen Theorie und Praxis. Abschließend sollen diese Zusammenhänge nochmals unter Rekursnahme auf Dilthey, den wir als den zentralen Gewährsmann für den ›jungen‹ Mannheim genommen hatten, verdeutlicht und systematisiert werden. Anders als Simmel und Weber hatte Mannheim sich ausdrücklich zum Grundanliegen von Diltheys ›Kritik der historischen Vernunft‹ bekannt. Weder auf der Grundlage der wissenssoziologischen Arbeiten allein, noch aus den kulturphilosophischen und interpretationstheoretischen Manuskripten ging die Systematizität dieser Bezugnahme unmittelbar hervor, da sich Mannheim in der Regel nur sehr allgemein auf Dilthey berief und auch aus seiner Nomenklatur diese geistige Nähe nur indirekt hervorging. Damit lag im Falle Mannheims – ähnlich wie bei Simmel und Weber – der eigentümliche Fall vor, dass sich eine inhaltliche Verbundenheit weniger 63 »Man kann sehr wohl die Wissenssoziologie in diesem Sinne als eine neue empirische Forschungsmethode bezüglich der Seinsverbundenheit des faktischen Denkens bejahen, ohne sie in ihren erkenntnistheoretischen Konsequenzen mitzumachen« (IuU: 229).

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in expliziten Begriffsübernahmen als in nur indirekt erfassbaren axiomatischen und theoriearchitektonischen Setzungen manifestierte. Obwohl wir für Simmel und Weber noch zusätzlich zu berücksichtigen hatten, dass sie im Ausgang von zwei inhomogenen Ansätzen einen ›Mittelweg‹ gehen wollten, war auch im vorliegenden Beispiel eine Identifizierung des lebensphilosophischen Begründungsrahmens nur über Umwege möglich. Demgemäß soll nun die in diesem Kapitel über mehrere und teilweise verschlungene Argumentationsketten entfaltete These einer engen systematischen Verwandtschaft zwischen Wissenssoziologie und Lebensphilosophie synoptisch dargestellt werden. Zu heuristischen Zwecken sollen dabei drei Theorieebenen, in denen sich die verschiedenen Argumentationen Mannheims bewegten, unterschieden werden. Jene analytischen Ebenen bilden die drei logisch komplementären Pfeiler von Mannheims allgemeiner Theorie des Wissens: (1) Erkenntnistheorie, (2) Methodologie, (3) Geltungstheorie. (1) Im Rahmen des ersten, allgemein als erkenntnistheoretisch ausgewiesenen, Argumentationskomplexes skizzierte der ›junge‹ Mannheim ein holistisches Wahrnehmungsmodell als Gegenbild zur dualistischen Subjekt-Objekt – Konstellation der klassischen Epistemologie, welches in semantischer Übereinstimmung mit Diltheys Figur des ›Strukturzusammenhangs des Bewußtseins‹ stand. Da, so darf man Mannheims entsprechende Ausführungen paraphrasieren, alle Wahrnehmungsfunktionen zunächst eine Erfahrungsgesamtheit bilden und erst durch gedankliche Abstraktion eine Trennung zwischen unterschiedlichen Funktionen zustande komme, wäre es erkenntnistheoretisch unangemessen, das reflexive Erkennen als einen unabhängigen Prozess zu denken. In diesem Zusammenhang zitierte Mannheim mehr als einmal Diltheys Konzept des ›ganzen Menschen‹. Im Gegensatz zu Dilthey deutete Mannheim diese Figur nicht erkenntnispsychologisch aus, sondern begnügte sich im Frühwerk allein mit der Aufzählung folgender Komplementärfunktionen des Bewusstseins: »›Lieben‹, ›Handeln‹, ›Verändern wollen‹« (SdD: 205f.). Im ›Wissenssoziologie-Artikel‹ etablierte er eine Begriffsbestimmung, welche diesen Grundsachverhalt in eine andersartige Formel packte. Wir beziehen uns auf die These von der »aktivistischen Ausgerichtetheit« (IuU: 254) des menschlichen Denkens, die Mannheim kurz und bündig umschrieb: »Nicht Erkennen und Wollen sondern Wollen im Erkennen selbst erschließt in bestimmten Gebieten allein die qualitative Fülle der Welt« (ebd.). In jedes Denkprodukt flössen die Spuren dieses »Willensmäßigen im Wissen« (ebd.) konstitutiv mit ein. Bekanntlich hatte Dilthey die Volition als ein unhintergehbares Momentum der ›inneren Erfahrung‹ systematisiert. Aus einer weiteren Begebenheit der Konstitution des ›konjunktiven Wissens‹, nämlich der unausweichlich existentiellen Verbundenheit allen Erkennens, schloss bereits der ›junge‹ Mannheim auf die These von der

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›wesensmäßigen Perspektivität‹ des Wissens. Mit dem geringfügigen Unterschied, dass er nicht, wie Dilthey, vom ›Lebenszusammenhang‹, sondern vom ›Existenzzusammenhang‹ sprach, reproduzierte Mannheim in dieser Argumentation die lebensphilosophische Grundfigur, welcher zufolge das Erkennen nicht hinter das Leben zurück könne. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass beide Autoren in der Diskussion um die Möglichkeiten einer wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der geistes- und Naturwissenschaften für eine stärkere Berücksichtigung ontologischer Unterschiede eintraten. (2) Auf der methodologischen Ebene lässt sich für Mannheim wie für Dilthey resümieren, dass sie mehrere Anläufe einer wissenschaftspraktischen Umsetzung der erkenntnistheoretischen Prämissen im Verlauf ihrer Karriere probierten, ohne dass diese in theoretischem Widerspruch zueinander geraten mussten. Bei Dilthey kann man die ›verstehende Psychologie‹ etwa von der ›Weltanschauungslehre‹ und der ›Lebenshermeneutik‹ differenzieren. Für Mannheim würde man etwa seine Systematik der Weltanschauungsinterpretation von seinem Versuch der Grundlegung einer Kultursoziologie und schließlich der Wissenssoziologie unterscheiden können. Alle drei Ausführungen nahmen dabei Ausgang von den epistemologisch abgeleiteten Grundeigenschaften des Wissens und zielten darauf, eine entsprechende Interpretationstheorie in den historischen Wissenschaften zu etablieren. Im Erscheinungsbild dieser Konzeptionen fanden wir – mehr oder weniger verhohlen – eine zirkuläre Interpretationstheorie nach dem Modell des hermeneutischen Zirkels, den Dilthey folgenreich in 64 die wissenschaftstheoretische Debatte eingeführt hatte. Eine Akzentverschiebung zwischen Frühwerk und wissenssoziologischer Arbeitsphase hatten wir an dem Punkt diagnostiziert, an dem Mannheim den hermeneutischen Sprachduktus zugunsten einer vermeintlich neutraleren soziologischen Terminologie aufgab. Dass damit die lebensphilosophischen Grundprämissen keineswegs ihre Fundierungsrelevanz eingebüsst hatten, haben wir dabei zu zeigen versucht. Schließlich verstand sich auch die Wissenssoziologie als eine Theorie der Interpretation geistig-kultureller Produkte. (3) Im Gegensatz zu den Punkten (1) und (2) hatten wir in unserem Durchgang durch Mannheims Traktierung der Geltungsproblematik in stärkerem Ausmaß eine Bedeutungsverschiebung festgestellt. Dadurch drängte sich verstärkt der Eindruck auf, als habe der ›mittlere‹ Mannheim zeitweilig das Vertrauen in die Genügsamkeit genuin geistes- und verstehenstheoretischer Argumentationsstrategien zur Legitimierung der geisteswissenschaftlichen Erfahrung verloren. Während er in den jungen Jahren als Gütesiegel das ›Phänomen der Echtheit‹ als eigenständiges Kriteri64 Womit selbstredend nicht behauptet werden soll, dass er der Erfinder dieser Denkfigur gewesen sei.

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um zur Beurteilung dieses Wissens anführte und sich auf geltungslogische Spekulationen im traditionellen Sinne – ähnlich wie Dilthey – nicht einließ, unternahm er später – in experimentaler Einstellung (IuU: 128) – gleich mehrere, parallele Versuche, die Partikularität und Perspektivität des ›seinsverbundenen Wissens‹ zu transzendieren. Als diejenige Lösung von größter Relevanz und Nähe zu den theoretischen Ausgangsfiguren der Wissenssoziologie wurde der ›dynamische Relationismus‹ in Szene gesetzt. Hier räumte Mannheim schlussendlich ein, dass eine prinzipielle Überwindung der Relativität unmöglich sei, dies jedoch keineswegs als Objektivitätsverlust des geisteswissenschaftlichen Wissens ausgelegt werden dürfe. In dieser Lösung fand er letztlich doch wieder einen positiven Bezug zur zirkulär verlaufenden Konstitutionslogik geistes- und sozialwissenschaftlicher Gegenstände zurück. Das Beispiel der Denk- und Wissenssoziologie Karl Mannheims lässt sich somit als möglicherweise einzigartiger Versuch der Grundlegung der modernen Soziologie auf genuin lebensphilosophisch-holistischen Grundkonzepten interpretieren. Inwiefern die Gestalt seiner Soziologie des Wissens Aufklärung in der Frage bringt, welches die Kennzeichen einer holistisch fundierten Sozialwissenschaft jenseits des Rekurses auf die Herme65 neutik sein könnten, muss hier offen gelassen werden.

65 Dass in der Hermeneutik »holistische Gedanken nicht in der technischen Weise ausgeprägt (sind) wie in der analytischen Philosophie und im Strukturalismus bzw. Neostrukturalismus«, haben Bertram und Liptow (2002b: 12) jüngst betont.

Soziologie und Phä nomenologie bei Schütz

Nachdem in den drei vorausgegangenen Kapiteln anhand einer strukturtheoretischen Analyse der wissenstheoretischen Systematiken Simmels, Webers und Mannheims die Adaption und Implementierung von dualistischen und holistischen Grundlegungskonzepten beobachtet wurde, soll im Folgenden nun das sozialwissenschaftliche Fundierungspotential der mo1 nistischen Wissenssystematik Husserls ausgemessen werden. Für eine thematische Fokussierung dieser Fragestellung bietet sich zweifellos die Sozialtheorie Alfred Schütz’ an, der in der Gegenwart nicht nur als der Begründer einer ›phänomenologischen Soziologie‹ hohe Beachtung genießt, sondern darüber hinaus – im Hinblick auf unsere Ausgangsfrage von größerem Gewicht – auch als derjenige firmiert, der »aus Husserl einen Sozialtheoretiker gemacht (hat)« (Krasnodebski 2003: 111). Diesem Eindruck diametral gegenüber steht das Resultat einer rezeptionsgeschichtlichen Rückschau auf die Einschätzungen der sozialwissenschaftlichen Bedeutung der phänomenologischen Forschungsrichtung, die nun alles andere als ein abgerundetes und eindeutiges Bild vermittelt. Während etwa Krasnodebski (ebd.) enthusiastisch beschreibt, dass man beim Öffnen eines beliebigen zeitgenössischen Buches zur soziologischen Theorie auf den Namen Husserls treffen würde, ziehen andere Interpreten die theoretische Möglichkeit einer phänomenologischen Fundierung der Sozialwis2 senschaften grundlegend in Zweifel. Diese Unstimmigkeit gewinnt an Brisanz wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich zum einen eine Vielzahl gegenwärtiger soziologischer Forschungsansätze – vom symbolischen In1 2

Eine Fragestellung, die aktuell wieder systematisch verhandelt wird (vgl. Raab et al. im Erscheinen). Hier eine Liste anzugeben wäre ein kompliziertes Unterfangen, weil dieses Verdikt sich bereits für den ›späten‹ Schütz ebenso nachweisen ließe wie bei unbegrenzt vielen Autoren, welche im positiven Sinne an Schütz anknüpfen wollten. Die weitere Untersuchung soll in dieser Frage Aufschluss bringen.

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teraktionismus und der Ethnomethodologie bis zur Konversationsanalyse, kognitiven Soziologie, sozialwissenschaftlichen Hermeneutik – mehr oder weniger direkt auf die von Schütz geleistete soziologische Übersetzung der Husserlschen Transzendentalphänomenologie bezieht (vgl. Srubar 2005: 560f.), zum anderen aber gleichzeitig eine nicht zu übergehende Reihe an Interpreten Schütz’ Umsetzung der phänomenologischen Grundideen als zumindest problematisch erachtet. So könnte sich an diesem Fall die insbesondere anhand der Weberrezeption beobachtbare eigentümliche wirkungsgeschichtliche Dynamik wiederholen, dass eine in forschungspragmatischer Einstellung erfolgende extensive Anknüpfung sich mit dem von Seiten der Exegeten proklamierten Befund einer Mangelhaftigkeit der erkenntnistheoretischen Grundlage nicht automatisch ausschließen muss. Es mag hierfür bezeichnend sein, dass ein unmittelbarer Schüler und Nachlaßverwalter von Alfred Schütz, nämlich Thomas Luckmann, selbst der zeitgenössischen Soziologie seit über drei Jahrzehnten ein »kosmologi3 sches Fiasko« (Luckmann 1999) attestiert und damit auf das Fehlen einer »allgemeinen und kritischen Theorie des Wissens« (1980: 10) hinweist. Selbst aus Luckmanns Diagnose geht bereits implizit hervor, dass Husserls Grundlegungsversuch offenbar nicht ohne weiteres auf die Bedingungskonstellation und Problematik in den Sozialwissenschaften übertragen werden kann. Nicht ohne diesen Bedacht fordert er schließlich zu einer Wiederaufnahme dieser Problemstellung auf (ebd., 34). Die in diesen Aussagen manifeste Skepsis bezüglich einer geglückten Zusammenführung von Phänomenologie und Sozialwissenschaft ergießt sich bei Luckmann (1979: 196) sogar in die Anweisung, dem Kompositum ›phänome4 nologische Soziologie‹ seine Berechtigung zu entziehen. Dabei wies er auf eine Grenze zwischen egologischer Erfahrungsanalyse auf der einen und empirischer Wissenschaft auf der anderen Seite hin. Beide Alternativen, so lässt sich Luckmanns Begründung paraphrasieren, stehen zueinander in einem Ausschlussverhältnis des Entweder-Oder und sind als zueinander parallel verlaufende Unternehmungen anzusehen (ebd., 197). Ebenfalls formulierte Luckmann bereits die Gretchenfrage, welche bis heute die Debatten um die Möglichkeit einer ›phänomenologischen Sozialwissenschaft‹ beherrscht und die Interpreten in verschiedene Lager spaltet: wie ist das Verhältnis von Phänomenologie, Sozialwissenschaft und Empirie 5 zu konzipieren? Übersetzt auf die Ebene der Schütz-Interpretation lautet 3 4 5

So Luckmann (1973: 144) bereits in einem schon klassischen Aufsatz von 1973. In deutscher Übersetzung abgedruckt in Luckmann (1980a). Ein solches Programm einer ›phänomenologischen Soziologie‹ wird bekanntlich von Psathas (1973) sowie Grathoff (1995) vertreten. Diesen Spannungsbogen drückt Luckmann in seinem Aufsatztitel aus: »Philosophie, Sozialwissenschaft und Alltagsleben« (1980b). In einer theoretisch-abstrakten Sprache lässt sich diese Problematik mit Endreß/Renn als das »Kontinuitätsproblem zwischen Alltag und Wissenschaft« (2004: 60) bezeichnen.

SOZIOLOGIE UND PHÄNOMENOLOGIE BEI SCHÜTZ | 403

sie, inwiefern Schütz’ Transformation der Phänomenologie noch deren originäre Denkform und Theoriegestalt repräsentiert oder er die Grenzen von Husserls Bewusstseinsphänomenologie gar zu weit übertreten hat. Im Rahmen des Spektrums von Schütz’ Gedankenkreis entzündet sich diese Grundproblematik auf unterschiedlichen Argumentationsebenen. Sie kann anhand der Diskussion seines Lebensweltbegriffs besonders anschaulich skizziert werden und ist nicht zuletzt auch aus dem Grund hier am rechten Platz, weil sie ein bezeichnendes Bild auf die gegenwärtige Gemengelage innerhalb der sich der Phänomenologie verbunden fühlenden Forschungsund Interpretationsrichtungen zu werfen erlaubt. In wirkungsgeschichtlicher Hinsicht, und nach der übereinstimmenden Auffassung vieler Interpreten, muss man Schütz’ Konzipierung der ›Le6 benswelt‹ als das Herzstück seines hinterlassenen Denkgebäudes anse7 hen. Entsprechend begreift etwa Grathoff ›Lebenswelt‹ als den »Kernbegriff der Sozialphänomenologie« (1987: 254). Jenseits von rein konzeptio8 nellen Anknüpfungen haben sich mittlerweile in der Landschaft der methodologischen Forschungsansätze eine Vielzahl von ›Verfahren der Le9 bensweltanalyse‹ institutionalisiert. Es dürfte mittlerweile auch ins allgemeine Bewusstsein durchgedrungen sein, dass Schütz Husserls Lebenswelttheorie nicht unmodifiziert beließ, sondern seine Anknüpfung mit einer als mehr oder minder folgenreich gewichteten prinzipiellen Bedeu10 tungsverschiebung einherging. An dieser Stelle sei hierzu vorerst nur so viel gesagt, dass sich Schütz’ Programm der Lebensweltanalyse auf »lebensweltlich-alltägliche Sachverhalte der Sozialität alltäglichen Erlebens« (Grathoff 1995: 47) richtete, während – wie in unserer obigen Darstellung ausgeführt – Husserls ›Wende zur Lebenswelt‹ in konzeptioneller Hinsicht eben keine Aufgabe seiner transzendental-egologischen Einstellung bedeutete und somit ›Lebenswelt‹ hier auch keine ontologische, sondern eine 6

Niklas Luhmann bezeichnete den Begriff als »eine der erfolgreichsten Worterfindungen dieses Jahrhunderts« (1986: 176). 7 Dies gilt trotzdem er sein eigentliches Hauptwerk nicht selbst zu Ende bringen konnte. In einer kürzlichen Darstellung heißt es: »The ›Structures of the Life-World‹ represents Schütz’s foremost contribution to intellectual history« (Prendergast 2005: 675). Erwähnt werden soll, dass Prendergasts Stilisierung von Schütz als den »mentor of the social constructionist perspective« (ebd.) nicht bei allen Adepten Anklang finden würde, jedenfalls nicht bei dessen nächsten Schülern. Luckmann (1999b: 17) etwa lehnt dieses Label für sich strikt ab. 8 Hier ist Habermas’ wirkmächtige Aufnahme und Weiterentwicklung des Husserlschen Begriffs hervorzuheben. Siehe en détail Habermas (1995: 182ff.). 9 Eine vollständige Übersicht gibt Eberle (2000: 38f.). 10 Insofern wendet Costelloe (1996: 251) gegenüber Luckmanns Darstellung in dessen Einleitung zu den ›Strukturen der Lebenswelt‹ zu Recht ein, dass die prinzipiellen Unterschiede nicht zu einem »letztlich bloß terminologischen Problem« (SdL: 21) herabgestuft werden dürfen.

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transzendentale Kategorie blieb. Schütz’ entscheidender Übersetzungsschritt lässt sich zunächst allgemein als eine Auflösung der von Husserl strikt beachteten Grenzmarkierung zwischen ›Lebenswelt‹ und der Welt der ›natürlichen Einstellung‹ markieren. Das Ergebnis der Schützschen Soziologisierung des Lebensweltbegriffs ist heute in Gestalt einer »allgemeinen Soziologie des Alltags« (Grathoff 1978: 74; 1995: 47) verkörpert (vgl. Endreß/Renn 2004: 63). Die skizzierten Detailfragen nach der philosophischen Rechtmäßigkeit von Schütz’ Unterfangen und dessen Ausweisung als ›phänomenologisch‹ noch vorläufig aufschiebend, interessiert hier zunächst nur die Deutungsvielfalt und die Art und Weise der Bezugnahmen auf Schütz’ Programm der Lebensweltanalyse innerhalb des soziologischen Paradigmenspektrums. Denn daran lassen sich zugleich Ausmaß und Tiefgang der soziologischen Auseinandersetzung mit phänomenologischen Argumentationsfiguren ablesen. In der Gegenwart können mindestens die folgenden Interpretationsrichtungen auseinander gehalten werden, welche dem Schützschen Lebensweltansatz jeweils einen unterschiedlichen konzeptuellen Status zuweisen: (1) Luckmann situiert die ›Phänomenologie der Lebensweltstrukturen‹ zunächst jenseits des Bereichs der empirischen Wissenschaften, die an den »allgemeinen Merkmalen der objektiven Welt« (Luckmann 1979: 198) interessiert und somit ontologisch ausgerichtet seien. Die Lebensweltphänomenologie als philosophische Disziplin erforsche dagegen in reflexivegologischer Einstellung die »universalen Strukturen subjektiver Orientierung in der Welt« (ebd.), welche sich letztlich in der Form einer »allge11 meinen Matrix der sozialen Welt« (ebd., 204) abbilden ließen. Aus dem Grund, »daß die objektiven Eigenschaften historischer sozialer Wirklichkeiten auf den universalen Strukturen subjektiver Orientierung in der Welt beruhen«, existiere zwischen Phänomenologie und Gesellschaftstheorie eine »direkte Verbindung« (ebd., 200). Daher charakterisiert Luckmann die theoretische Ebene der Erforschung der lebensweltlichen Alltagsstrukturen als »proto-soziologisch« (ebd., 205). Inwiefern Luckmanns Konzeptualisierung die von Schütz aufgebrochene Scheidelinie zwischen ›transzendentaler Lebenswelt‹ und ›natürlicher Einstellung‹, an der Husserl so zentral gelegen war (Costelloe 1996: 251), wieder überwunden hat, soll hier noch nicht thematisiert werden, kann jedoch stark angezweifelt werden (vgl. Welz 1996: 201). (2) Radikal aufgelöst wird sie in jedem Fall in der Anwendung durch Psathas (1973; 1989), der in der Lebensweltanalyse kein philosophisches, sondern ein rein empirisches Unterfangen wahrnimmt. Sie steht bei ihm für ein neues soziologisches Paradigma. Dezidiert geht es hier um »un11 Zu Luckmanns Deutung von Schütz’ Lebenswelttheorie hat Soeffner (1999b; 2000) wichtige Anhaltspunkte gegeben.

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derstanding, description and analysis of the life-world as experienced by those who live it« (1989: xii). Eberle führt diese Perspektive auf die Phänomenologie der ›Lebenswelt‹ letztlich auf deren spezifische Auslegung durch Garfinkel zurück, denn bereits dieser »hatte der phänomenologischen Lebensweltanalyse [...] eine radikal soziologische Wendung gegeben« (2000: 57ff.). Im Zentrum des ethnomethodologischen Ansatzes standen gerade nicht die Bewusstseinssynthesen, in denen sich eine intersubjektive ›Lebenswelt‹ konstituierte, sondern die empirisch beobachtbaren ›accounting practices‹, in denen sich individuelle Akteure wechselseitig diese zur Anzeige brachten und bestärkten. Sowohl in methodischer als auch in gegenstandstheoretischer Hinsicht ist hier eine Anbindung an die Phänomenologie höchstens in Umrissen erkennbar. Lebensweltphänomenologie wird vollständig in Alltagstheorie aufgelöst und hat sich von jeglichem Fundierungsanspruch emanzipiert. Nicht zu Unrecht betrachtet Eberle daher sowohl die Ethnomethodologie als auch Goffmans Rahmenanalyse als »Konkurrenzunternehmen« (ebd., 68) zu Schütz’ ursprünglichem Ansatz. (3) Eine wiederum andere Interpretation mit besonders gelagertem Akzent hat Srubar vorgeschlagen. Wie Endreß kürzlich ausgedrückt hat, muss man diese als »anthropologisch-pragmatische Wende« (2002a: 347) in der Schütz-Interpretation ansehen. Diese manifestiert sich insbesondere in Srubars Charakterisierung der Reflexionsebene der ›Lebenswelt‹. Srubar inthronisiert Schütz’ »pragmatische Lebenswelttheorie« als »Alternative« sowohl zu den gegenwärtigen Versionen als auch zu Husserls originärer Konzeption (1988: 280f.). Dabei hebt er Schütz’ Betrachtung und Deskription der ›Lebenswelt‹ als diejenige Sphäre positiv hervor, »die von den Handelnden in der relativ natürlichen Einstellung« konstruiert wird, wobei Schütz’ diese »Konstitution von sozialer Person und sozialer Welt in interaktiven Prozessen« zum Ausgangspunkt nahm und damit zwei Vereinseitigungen vermied: nämlich zum einen die für Husserl charakteristische Ausblendung des »intersubjektiven, pragmatisch konstituierten Pols der Lebenswelt« und zum anderen die Ignorierung des »subjektiven Pols der Lebenswelt«, für welche die pragmatistische Schule Pate stünde (ebd., 279). Srubars Sicht der ›Lebenswelt‹ setzt in systematischer Hinsicht also auf die Vermittlung zwischen sinnkonstituierenden Bewusstseinsleistungen und gesellschaftlich institutionalisierten »Appräsentationssystemen« 12 (ebd., 280). Wir können somit grosso modo drei prinzipielle und divergierende Strategien im Hinblick auf die theoretische Verlinkung von Phänomenologie und Soziologie unterscheiden: Während Luckmann zwischen beiden Ebenen eine Grenze zog, wird diese bei Psathas wie auch bei Garfinkel 12 Einen aufschlussreichen Kommentar zu Srubars Interpretationsansatz gibt Soeffner (1990).

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und Goffmann aufgelöst. Srubar nimmt hier eine intermediäre Position ein, die gerade auf die Möglichkeit der Vermittlung subjektiver Sinnkonstitutionen mit objektiven Lebensweltstrukturen auf der Ebene der »mundanen Analyse« (ebd., 275) setzt. Neben diesen Konzeptualisierungsvorschlägen ließen sich noch weitere aufzählen, wie etwa Kockelmans Parallelisierung von Lebensweltanalyse und »dialektischer Hermeneutik« (1979: 40) oder Eberles Auffassung der Lebensweltanalyse als »Theorie des Verstehens« (2000: 140ff.), doch sollen diese Ausführungen hinreichen, um zu belegen, dass in der Frage nach der Einschätzung des Fundierungspotentials der Phänomenologie für die Soziologie auch unter ausgesprochenen Protagonisten alles andere als Einmütigkeit vorherrscht und man vor diesem Hintergrund direkt dazu aufgefordert ist, sich ein eigenes Bild über den Umgang mit den Originalquellen zu erarbeiten. Insofern bräuchte ein Unterfangen, wie es im Folgenden angestrebt ist, keine weitere Rechtfertigung. Gleichwohl soll zusätzlich eine besondere Bewandtnis erwähnt werden, die möglicherweise einen Teil zur Erklärung der geschilderten unübersichtlichen Konstellation beiträgt, und welche auf Schütz’ Denkentwicklung bezogen ist. Ein synoptischer Überblick über die theoriegeschichtlichen Zuordnungen der Schützschen Theoriearchitektonik innerhalb der Rezeption liefert nämlich ein ebenso komplexes Panorama an Meinungen, wie wir es bereits anlässlich der Einschätzungen anderer systematischer Fragen beschrieben haben. Wie im Weiteren genauer zu zeigen sein wird, steht die allgemeine Zuschlagung Schütz’ zur Phänomenologie in systematischer Hinsicht auf durchaus schwankendem Boden. Dass Schütz seine anfänglich enthusiastische Position zu Husserl im Laufe der Zeit modifiziert hat, ist der SchützInterpretation selbstverständlich kein Geheimnis geblieben. So hat etwa Schütz’ enge Orientierung an die ›Wissenschaftslehre‹ Max Webers bei seiner Formulierung der methodologischen Grundproblematiken der Soziologie Frank Welz zu dem Urteil geführt, dass »Schütz’ epistemologische Position in ihren Grundzügen neukantianisch ist« (1996: 155). Im Gegensatz dazu hat Srubar sowohl auf den bedeutenden Einfluss von Bergson auf Schütz’ Traktierung der sozialwissenschaftlichen Sinnproblematik einerseits (1981; 1988: 44-131) sowie auf die tragende und bestärkende Rolle Schelers für dessen späte Abkehr vom transzendentalphilosophischen Begründungsrahmen Husserls andererseits hervorgekehrt (1988: 272ff.). Auf dieser Grundlage sah er sich legitimiert, der SchützForschung die aus ihrem Blickwinkel ketzerische Frage wieder entgegenzuhalten: »War die kritische Einstellung gegenüber transzendentaler Argumentation wirklich erst ein Produkt des späten Denkens von Schütz?« (1983: 68) Auch aus anderer Richtung wird Einspruch gegenüber einer dogmatischen Subsumierung Schütz’ unter die Phänomenologie erhoben. Unter Rekurs auf Schütz’, mit seiner Niederlassung in den Vereinigten Staaten

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verstärkten, Aufnahme pragmatistischer Denkmotive in seine frühe Systematik behauptete etwa Gorman, dass Schütz die Position eines »modified empiricism as the epistemological rationale of his social science« (1988: 204) adoptiert habe. Um den Möglichkeitshorizont der grundlagentheoretischen Alternativansätze der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhundert nunmehr fast vollständig auszuschöpfen, sei noch ein Ausspruch Gurwitschs zitiert, der in Schütz’ »Auffassung der Phänomenologie der natürlichen Einstellung eher die Erfüllung der Intentionen Diltheys als derjenigen Husserls (fand)« (Srubar 1983: 69). Gurwitsch empfahl explizit eine Interpretationsperspektive, welche die »Schützschen Begriffe und Theorien unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das von Dilthey begonnene und von einigen seiner Nachfolger fortgesetzte Werk (betrachtet)« (1971: XXXVIII). Vor dem geschilderten Hintergrundkontext scheint eine strukturanalytische Untersuchungsperspektive, die ihr Urteil weniger an den Selbstaussagen der Theoretiker als an dem systematischen Gehalt ihrer Grundargumente ausrichtet, gut damit beraten, die Frage nach einer eindeutigen philosophischen Zurechenbarkeit von Schütz’ Sozialtheorie bis auf weiteres zu suspendieren. Aufgrund des Umstandes, dass Schütz zu Lebzeiten lediglich eine Monographie, ›Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt‹ (1932), publizierte und der weitaus größere Teil seines Werks in Form von Einzelabhandlungen und eben jenem Torso gebliebenen Opus Magnum, ›Strukturen der Lebenswelt‹, vorliegt, muss eine Rekonstruktion der wissenstheoretischen Basis der Schützschen »Sozialphänomenologie« auch im vorliegenden Fall wieder einige Umwege in Kauf nehmen. Dadurch, dass Schütz die angenehme Gewohnheit pflegte, seine theoretischen Fortschritte in Auseinandersetzung mit bestimmten Theoretikern zu entfalten, gewinnt die Interpretation zumindest solide Anhaltspunkte, von denen aus sie ihr Bild entwerfen kann. Darüber hinaus kann sie sich auf eine Sekundärquelle stützen, die zumindest in formaler Hinsicht der hier projizierten Interpretationsrichtung nahe kommt. Frank Welz’ ›Kritik der Lebenswelt‹ (1996) ist als eine »wissenssoziologische Strukturanalyse« konzipiert, die sich zum Ziel setzt, »den Denktypus der phänomenologischen Theorie zu bestimmen« (ebd., 15). Sie hat ihre Stärke in erster Hinsicht in der Analyse des Verhältnisses von Schütz zu Husserls Phänomenologie, zeigt sich aber vergleichsweise weniger sensibel für alternative, nicht-phänomenologische, Argumentationsfiguren im Rahmen von Schütz’ Theoriegebäude, die gerade im Fokus unserer Rekonstruktion stehen sollen. Von daher kann Welz’ Studie nicht nur als Orientierungsvorlage, sondern auch als Abgrenzungsfolie instrumentalisiert werden. Der Zweck der folgenden Analyse besteht darin, die Möglichkeit einer phänomenologischen Fundierung der Soziologie auf der Grundlage des Versuchs des vermeintlichen Begründers der ›phänomenologischen Soziologie‹ zu beforschen. Folglich wird letztlich ein möglichst genauer Ab-

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gleich zwischen Husserls Gestaltung der Phänomenologie als allgemeine Theorie des Wissens einerseits und deren Adaption durch seinen Schüler andererseits angestrebt werden müssen. Zur Orientierung sollen die folgenden Argumentationsschritte kurz angedeutet werden. Nachdem eingangs das Grundanliegen von Schütz’ Unternehmen allgemein umrissen worden ist, soll sich die Aufmerksamkeit danach auf die Frage richten, auf welchem Fundament Schütz im ›Sinnhaften Aufbau‹ die 13 »verstehende Soziologie« neu errichten wollte, nachdem er in Webers Formulierung eine adäquate philosophische Basierung der handlungstheoretischen Ausgangskonzepte vermisste. Daraufhin wird zu untersuchen sein, aus welchen theoretischen Gründen und mittels welcher konzeptionellen Mittel Schütz sich von der vermeintlich phänomenologischen Grundierung der Soziologie immer weiter weg bewegte. Dabei werden Schütz’ späte Auseinandersetzungen mit Scheler und Husserl weitaus bessere Informationsquellen abgeben, als etwa die Ausführung des Projekts der Erforschung der ›Strukturen der Lebenswelt‹ selbst.

Zur grundlagentheoretischen Programmatik bei Schütz In einer retrospektiven Skizze seiner Denkentwicklung formulierte Schütz: »Seit meinen frühesten Studientagen galt mein Interesse am meisten der philosophischen Grundlegung der Sozialwissenschaften, besonders der Soziologie« (GA 3: 9). Damit bezog er sich auf den Entstehungskontext seiner ersten und einzigen Buchpublikation, nämlich den ›Sinnhaften Aufbau‹. Aufgrund der relativen Übersichtlichkeit seiner Publikationen, ist man im Falle Schütz’ bei dem Versuch, dessen Position in und zu dem grundlagentheoretischen Diskurs um die Fundierung des geisteswissenschaftlichen Wissens zu bestimmen, auf Rekursnahme auf fern liegendes Quellenmaterial angewiesen. Dies zumal Schütz auch nirgendwo eine ausführliche Historisierung der Grundlagenproblematik der Sozialwissenschaften angestrengt hat. Allgemeine Hinweise finden sich in den ›Einleitenden Untersuchungen‹ des ›Aufbaus‹. Hier zeigte sich Schütz offenbar verwundert über den Verlauf und Status des »Kampfes um den Wissenschaftscharakter der Soziologie«, den er als eines der »merkwürdigsten Phänomene in der deutschen Geistesgeschichte der letzten fünfzig Jahre« (ASW II: 83) bezeichnete. Gemäß Schütz’ Charakterisierung betraf diese Auseinandersetzung nicht nur »einzelne Theorien und Methoden«, sondern den »Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften selbst« (ebd.). Der Überblick über die vorherrschenden Soziologiekonzeptionen seiner 13 Der Untertitel des Aufbaus liest sich: »Eine Einleitung in die verstehende Soziologie«.

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Zeit brachte ihm zur Erkenntnis, dass jeweils heterogene, »innerhalb der Sozialwelt vorfindliche Sinngebilde zum Gegenstand der Betrachtung gemacht (werden)« (ebd., 92). Von daher erachtete Schütz die Soziologie keineswegs für eine wissenschaftstheoretisch fundierte Disziplin. Allgemein lässt sich für Schütz konstatieren, dass er, analog zu Weber, vom Standpunkt der sozialwissenschaftlichen Grundlagenproblematik aus zur Philosophie hingeführt wurde, und nicht, wie etwa Simmel und Mannheim, von Beginn an von dem Anliegen getragen war, eine allgemeine ›Kritik der historischen Vernunft‹ zum Zweck der Neufundierung des Wissens zu konzipieren. Entsprechend entwickelte Schütz seine grundlagentheoretischen Frage- und Problemstellungen in enger Anbindung an soziologische Autoren, wobei die Wissenschaftsgestalt der ›verstehenden Soziologie‹ Max Webers von herausragender Bedeutung gewesen ist. Aus diesem besonderen Blickwinkel ist die Auswahl der von Schütz behandelten philosophischen Autoren und Werke zu deuten. Dies sei denjenigen Interpreten gegenüber betont, welche Schütz als Begründer der ›phänomenologischen Soziologie‹ inthronisieren wollen und damit suggerieren, als sei es Schütz’ ureigenstes Anliegen gewesen, die philosophischen Konzeptionen Husserls für die Soziologie nutzbar zu machen. Wie sogleich näher zu erörtern sein wird, rechnete der ›junge‹ Schütz Husserl vielmehr zu demjenigen Autorenkreis, der im Hinblick auf die Lösung der sozialwissenschaftlichen Fundierungsproblematik nichts Interessantes zu bieten hatte (Srubar 1988: 48). Schütz’ ausgezeichnetes Verdienst ist es vielleicht, die thematischen Bezugslinien zwischen empirischer Sozialwissenschaft einerseits und systematischer Philosophie andererseits auf beispiellose und einleuchtende Weise konzeptionalisiert zu haben. Wie bereits angedeutet, gelang ihm dies über den Umweg einer theoretischen Auseinandersetzung mit Max Webers Konzeption einer ›verstehenden Soziologie‹. Schütz’ Position zu dieser war gleichwohl von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet. Zum einen repräsentierte Webers Ausgangspunkt vom methodologischen Individualismus die von Schütz sanktionierte Form von Sozialwissenschaft 14 im Gegensatz zu deren kollektivistischer Variante. Lobend kommentierte er zu Weber: »Niemals zuvor war das Prinzip, die ›Welt des objektiven Geistes‹ auf das Verhalten Einzelner zu reduzieren, dermaßen radikal durchgeführt worden, wie in Max Webers Gegenstandsbestimmung der verstehenden Soziologie« (ASW II: 86). Zum anderen erkannte Schütz in Webers Umsetzung dieses Programms Problemverkürzungen und philosophische Inkonsistenzen, die ihm die Grenzen von Webers Abstraktionsvermögen oder -willen vor Augen führten: »Seine Analyse der sozialen Welt bricht in einer Schicht ab, die nur scheinbar die Elemente des sozia14 »Er sah ab von der Konstruktion eines Gesellschaftsbegriffes, von der Hypostasierung sozialer Beziehung zu einem ›an sich‹« (ASW II: 94).

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len Geschehens in nicht weiter reduzierbarer oder auch nur in nicht weiter reduktionsbedürftiger Gestalt sichtbar macht« (ebd., 87). An welchen systematischen Stellen innerhalb von Webers Konzeption Schütz weitergehenden philosophischen Klärungsbedarf anmeldete, sei kursorisch aufgeführt. Schütz’ Einwendungen kreisten letztlich allesamt um denjenigen Begriff, den er als absolut zentral erachtete, nämlich denjenigen des ›Sinns‹, welchen auch Weber zum »Grundbegriff der verstehenden Soziologie« (ebd.) erkoren hatte. Seine Kritik lässt sich dahingehend vereinfachend resümieren, dass Schütz Webers Modell der Sinnkonstitution als unterkomplex beanstandete. Zwar habe Weber wohl erkannt, dass zwischen dem zu erklärenden ›subjektiven‹ Sinn der Akteure auf der einen und dem ›gedeuteten‹ Sinn seitens des Beobachters auf der anderen Seite, ein letztlich unüberwindbarer ›Hiatus‹ klaffte und der ›objektive‹ Sinn einer Handlung somit für den Wissenschaftler von vornherein nicht das Erkenntnisziel abgeben konnte, doch gehe Webers Idealtypentheorie stillschweigend von der Prämisse einer einfachen und »intersubjektiv konformen« (ebd., 88) Vorgegebenheit von ›Welt‹ aus. Durch diese Vereinfachung, so Schütz, falle die soziologisch ungeprüfte Frage aus dem Blickfeld, über welche Prozesse sich die ›Welt‹ zum einen für das Individuum, zum zweiten zwischen mehreren Individuen und schließlich, zum dritten, für die Wissenschaft jeweils als ›sinnhaft‹ konstituiert. Jene drei Agentien – Individuum, Gemeinschaft, Wissenschaft – waren dabei nicht nur je einzeln für sich zu analysieren, sondern bildeten darüber hinaus auch einen einzigen Sinnzusammenhang, dessen »Aufbau« eine fundierte Theorie der Sozialwissenschaften zu reflektieren hätte. Somit erklärte Schütz denjenigen Gegenstandskomplex, den Weber unkritisch vorausgesetzt hatte, nämlich die Möglichkeitsbedingungen dafür, dass die Welt in der ›natürlichen Einstellung‹ als selbstverständlich wahrgenommen wird, zu einer zentralen Angelegenheit der Soziologie. Endreß und Renn (2004: 22) ist beizupflichten, wenn sie in Schütz’ Neufassung der Verstehensproblematik eine eigentliche Umkehrung von Webers Verstehensmodell sehen, da Weber gegenüber konstitutionstheoretischen Ansätzen stets Skepsis bekundet hatte. Über eine solche »Konstitutionsanalyse [des] Sinnphänomens« hoffte Schütz, »die verstehende Soziologie in einer tieferen Schicht, als dies durch Max Weber geschehen ist, zu verankern« (ASW II: 94). Die auf diese Weise gewonnene Haupterkenntnis Schütz’ bestimmte, dass das ›soziale Handeln‹ nicht nur – wie bei Weber – die Zugangsquelle zu den Sinngehalten der Akteure darstellt, sondern vielmehr – um mit Srubars Worten zu sprechen – »selbst ein Träger der Sinnkonstitution ist« (1988: 101). Schütz’ Unternehmen einer konstitutionsgenetischen Analyse von Sinnsetzungsprozessen erforderte geeignete philosophische Mittel, nach denen er sich auch zielbewusst auf die Suche begab. Im Zuge dieser Son-

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dierung des philosophischen Angebots seiner Zeit begegnete er – neben Husserl – auch anderen Optionen, mit denen er sich mehr oder minder intensiv auseinander setzte. Ein Überblick über diesen Vorgang – soweit er sich dokumentieren lässt – mag zur Konkretisierung der Stützpfosten, auf denen Schütz sein Denkgebäude errichtete, hilfreich sein. In ähnlicher Weise wie für Mannheim, können wir nämlich auch im vorliegenden Fall bereits an diesem Punkt wegweisende und verbindliche Grenzmarkierungen verzeichnen. Schon zu einem frühen Zeitpunkt hatte sich Schütz mit neukantianischen und überhaupt mit wissenschaftslogisch argumentierenden Theorien befasst, die ihm weniger durch Weber als durch seine unmittelbaren akademischen Lehrer, allen voran Ludwig von Mises und Hans Kelsen, ver15 mittelt wurden. Neben dem Neukantianismus wäre der logische Empirismus der Wiener Schule zu erwähnen, welchen Schütz wohl über seinen langjährigen Freund Felix Kaufmann kennen gelernt hatte. Beiden Richtungen gegenüber ging der ›junge‹ Schütz jedoch gleichermaßen auf Distanz, da er deren grundlegenden Ansatz, den Gegenstand der Erkenntnis über den Umweg der Bereitstellung einer richtigen Methode zu begründen, für ungenügend erachtete. Aus dem philosophischen Betrachtungskreis hinaus gerate dadurch der konkrete Zusammenhang, aus welchem sich die Sinngeltung der logischen Gebilde, die hier zum Gegenstand genommen wurden, konstituierte. In beiden Fällen würde die Logik unhinterfragt als unhintergehbares Letztes gesetzt (vgl. Srubar 1988: 47f.). Die Vorstellung einer transzendentalen Begründungs- und Geltungsebene als Fundierungsschicht, wie sie von den Marburgern und den Südwestdeutschen Neokantianern postuliert wurde, besaß für den ›jungen‹ Schütz keine Attraktivität. Aus einer seiner frühesten Aufzeichnungen geht hervor, dass er stattdessen eher solchen Grundlegungsunternehmen nahe stand, die von den Logikern als ›Weltanschauungsphilosophie‹ verhöhnt wurden: »Uns ist es unmöglich, den Erlebnisinhalt als seiend hinzunehmen, ohne zugleich festzustellen, wodurch sich dieses Sein manifestiert. Für uns, die wir den Sinn setzen, zu dem wir unser Erlebnis in tieferen Sphären gestaltet haben, ist nicht die logische Richtigkeit, wohl aber die Adäquanz zu unserem Dauerablauf die wesentliche Erscheinungsform der Realität« (TdL: 244).

Die sich in dieser Aussage dokumentierende Anknüpfung an den Erlebnisbegriff lässt auf einen lebensphilosophischen Einschlag beim ›jungen‹ Schütz schließen. Er wies auf den vor-prädikativen und vorwissenschaftlichen Erfahrungsbereich hin, für dessen wissenschaftstheoretische Aner-

15 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der Entstehung des ›Aufbaus‹ siehe insbesondere Endreß/Renn (2004: 25ff.) und Srubar (1988: 45ff.).

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kennung sich insbesondere die Dilthey-Schule stark gemacht hatte. Vor diesem Hintergrund überrascht nun auch Srubars (1988: 48) Vermutung, dass Schütz gegen Husserl ursprünglich denselben Verdacht wie gegenüber den Neukantianern hegte, nicht mehr im gleichem Maße wie unter der allgemein gehegten Prämisse, wonach Schütz sich von Beginn an als Phänomenologe verstanden habe. Symptomatisch identifizierte Schütz in einem frühen Entwurf die Husserlsche Phänomenologie mit dem Neukantianismus dahingehend, dass »Beide Verfahren für math. naturwiss. von hohem Wert [seien], weil Erkenntnisziel: Aufsuchen von Gesetzmäßigkeiten in unbelebter Welt« (TdL: 326). Die weitere Entwicklung der sich hier offenbarenden Spannung innerhalb von Schütz’ Reflexion wird für die weitere Rekonstruktion einen wichtigen Leitfaden abgeben. Eine Sichtung der unpubliziert gebliebenen Manuskripte des ›jungen‹ Schütz, die Ilja Srubar sich zum Projekt gemacht hatte, brachte zur Erkenntnis, dass Schütz zwischen 1924 und 1928 an einem Buchprojekt arbeitete, das sich um eine Aufdeckung des »gesamten Erlebensbereichs des Menschen« (Srubar 1988: 49) bemühte. Aufgrund systematischer Schwierigkeiten brach er schließlich die Arbeit daran ab (vgl. Wagner 1984: 180). Die vorhandenen Manuskripte wurden posthum 1981 unter dem Titel ›Theorie der Lebensformen‹ ediert und geben interessanten Aufschluss darüber, dass Schütz einige der elementaren Theoreme seiner publizierten Theorie, deren Ursprung man regelmäßig bei Husserls angelegt sah, aus der Lebensphilosophie Bergsons bezogen hatte (vgl. Srubar 1981: 54ff.). Bevor wir uns der Explikation dieser vermeintlich lebensphilosophischen Ausgangspunkte von Schütz’ Grundlegungstheorie der Sozialwissenschaften zuwenden, sollen zuvor noch die Gründe, weshalb Dilthey bei diesem Unterfangen scheinbar keine Rolle spielte, erwogen werden. Schütz’ Nichtbeachtung Diltheys basierte keineswegs auf Unkenntnis von dessen Werken, sondern vielmehr kann man – mit Srubar (1988: 289) – vermuten, dass ihm dessen Erlebnisbegriff, insbesondere im Vergleich zu demjenigen Bergsons, nicht radikal genug ausgefallen war, um die vorprädikative Sinnkonstitution zu erfassen. Diltheys Annahme der Unmittelbarkeit der ›inneren Erfahrung‹ dürfte für ein konstitutionsgenetisches Denken zu statisch erschienen sein und nur höchst bescheidene Anknüpfungsmöglichkeiten geboten haben. Im Hinblick auf die für Schütz schon recht früh als vorrangig empfundene Intersubjektivitätsproblematik, hinter welcher sich diejenige des (Fremd-)Verstehens verbarg, versprach sich Schütz scheinbar ebenso wenig von Diltheys Ansätzen. In Schütz’ Wahrnehmung hatte Dilthey ein Verstehenskonzept nach dem Modell des analogen Schließens vertreten, das dem Schützschen Anspruch nicht genügte (ebd., 289). Anstatt eines Resümees von Schütz’ Abschätzung des Potentials der zeitgenössischen Philosophie im Hinblick auf eine Fundierung der Sozialwissenschaften, sei eine bemerkenswert kühne und unzweideutige Aussa-

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ge von ihm selbst angeführt: »Die Entwicklung der Philosophie des letzten halben Jahrhunderts hat für die Geisteswissenschaften nichts leisten können« (TdL: 326).

Z u d e n p h i l o s o p h i s c h e n Au s g a n g s p u n k t e n i m › S i n n h a f t e n Au f b a u ‹ Bevor es möglich sein kann, das sozialwissenschaftliche Fundierungspotential der Husserlschen Phänomenologie im Lichte ihrer Adaption durch Schütz zu eruieren, muss zunächst sorgfältig die philosophische Herkunft der Basiskonzepte, die sich Schütz zu eigen gemacht hatte, einer Prüfung unterzogen werden. Im Einklang mit der oben dargelegten Erkenntnis, dass Schütz’ sozialwissenschaftliches Fundierungsprogramm weniger aus philosophisch, denn aus bestimmten soziologisch, genauer: handlungstheoretisch, begründeten Motivlagen heraus verständlich wird, widmen wir uns im Folgenden der Art und Weise, in der sich Schütz insbesondere im ›Sinnhaften Aufbau‹ zur Erläuterung der sozialwissenschaftlichen Sinnproblematik auf philosophische Lösungskonzepte stützte. Es ist bereits zum Vorschein gekommen, dass Schütz das Problem des Sinnverstehens, welches er ins Zentrum seiner Problembestimmung im ›Sinnhaften Aufbau‹ stellte, in Auseinandersetzung mit Webers Modell neu formuliert hatte. In der Themen- und Argumentationsstruktur von 16 Schütz’ Hauptwerk schlug sich diese Neubestimmung auf eigentümliche Weise nieder. Das Sinnproblem begegnet nämlich auf zwei unterscheidbaren theoretischen Einstellungsebenen, die Schütz entsprechend markierte. Während der zweite Abschnitt die Sinnkonstitution aus der Perspektive des Ego und somit in einer phänomenologischen Einstellung aufzeigte, verlässt Schütz mit dem Übergang zum dritten Abschnitt »die streng phänomenologische Betrachtungsweise« und wendet sich »der Sozialwelt in naiv natürlicher Weltanschauung so hin, wie wir es im täglichen Leben [...] zu tun gewohnt sind« (ASW II: 219). Dieser Sachverhalt hat manchen Interpreten dazu verleitet, im ›Sinnhaften Aufbau‹ »really two works« (Peritore 1975: 32) zu sehen. Andere dagegen sprechen von einem »didaktischen Aufbau des Buches, der von der einfachsten Sinnschicht zu komplexeren Sinn-Handlungszusammenhängen führt« (Srubar 1988: 101). Wir können in jedem Fall sinngemäß zwischen einem philosophischen und einem soziologischen Relevanzbereich von Schütz’ Theorie der Sinnkonsti16 Wir teilen also nur bedingt die oben erwähnte Ansicht, wonach die ›Strukturen der Lebenswelt‹ das Zentrum des Schützschen Werks darstellen. Zwar laufen hierin viele der thematischen Beschäftigungen des ›mittleren‹ und ›späten‹ Schütz zusammen, doch liefert im Hinblick auf unsere Fragestellung nach den philosophischen Wurzeln der Wissenstheorie Schütz’ bereits der ›Aufbau‹ alle wesentlichen Anhaltspunkte.

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tution differenzieren, worin sich letztlich wiederum die bereits angedeutete Spannung zwischen egologischer und lebensweltlich-natürlicher Einstellung manifestiert. Die komplizierte Frage, ob beide Ebenen unproblematisch als unvermittelt ineinander übergehend betrachtet werden können, kann erst am Ende unserer Übersicht beantwortet werden. Schütz selber war zunächst der Auffassung, dass »demjenigen, der sich über die Grundbegriffe der Sozialwissenschaften Rechenschaft abgeben will, (der mühevolle Weg in diese Tiefenschichten) nicht erspart bleiben (kann)« (ASW II: 93). Die den Soziologen interessierenden Sinngefüge der Sozialwelt, folgerte er, könnten überhaupt nur angemessen aus den »ursprünglichen und allgemeinen Wesensgesetzen des Bewußtseinslebens« (ebd.) verstanden werden. Von daher begründete sich die Relevanz einer »allgemeinen Theorie des Bewußtseins« (ebd.) für Schütz’ Grundlegungsprojekt. Gleichwohl stellte Schütz deutlich heraus, dass die Analyse der Struktur der Sozialwelt »das eigentliche Thema der Sozialwissenschaften« (ebd. 95) darstellte und die philosophische Grundlegung hier lediglich eine vorbereitende Rolle spiele. Die vielversprechendsten Ansätze zu einer solchen Bewusstseinstheorie, die im Hinblick auf die Lösung der Sinnsetzungsund -deutungsproblematik Aufklärung versprach, erblickte er bekanntlich in Bergsons Theorie der Dauer einerseits und in Husserls transzendentaler Phänomenologie auf der anderen Seite (ebd., 93). Deren Ansätze galt es mit dem von Weber vorgegebenen handlungstheoretischen Grundansatz zu vermitteln. Der philosophische Teil des ›Sinnhaften Aufbaus‹, so lässt sich paraphrasieren, war somit – entsprechend des phänomenologischen Ausgangspunktes – auf die Explikation des Verstehens des »Sinns des je eigenen Verhaltens« beschränkt und klammerte die soziologisch essentielle Intersubjektivitätsproblematik explizit aus (ebd., 172). Diese stand schließlich im Fokus der drei restlichen Abschnitte des Werkes. Wenn es im Folgenden die philosophischen Ausgangsfiguren der Schützschen Sozialtheorie zu extrapolieren gilt, so werden wir demnach in den angedeuteten bewusstseinsphilosophischen Ausführungen fündig. Schütz’ Anknüpfung an Bergson und Husserl, so soll vorweggenommen werden, zeichnet sich durch eine kritische und Distanz bewahrende Grundhaltung aus (vgl. Soeffner 1990: 164), welche es ihm ermöglichte, deren Theoreme auf charakteristische Weise zu einem eigenständigen Gebilde zu amalgamieren.

1. Von der Bewusstseinstheorie zur Handlungstheorie Schütz’ Reformulierung der handlungs- bzw. sinnverstehenden Soziologie setzte systematisch an der Analyse von Webers ›soziologischen Grundbegriffen‹ an. Bereits an Webers einschlägiger Grenzziehung zwischen ›Handeln‹ und ›Verhalten‹ (WuG: 1) bemängelte Schütz Unzulänglichkeiten. Während Weber das ›Handeln‹ gegenüber dem ›Verhalten‹ durch das Ver-

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bundensein mit einem ›subjektiv gemeinten Sinn‹ auszeichnete, hob Schütz (ASW II: 127) hervor, dass auch das ›Verhalten‹ keineswegs sinnlos sei. Das von Schütz entworfene Handlungsmodell ging – anders als dasjenige Webers – von der Vorstellung aus, dass sich der Sinn einer Handlung in und über ›Erlebnisse‹ im Bewusstsein konstituiert. Fest stand damit zugleich, dass eine Sinnaufklärung notwendig »nur im Zuge einer Konstitutionsanalyse« (ebd., 126) dieser bewusstseinsmäßigen Erlebnisse gewonnen werden könne. Hinter diesem Modell stand unübersehbar Bergsons Bild des Bewusstseins als Ort, in dem unzählbare, miteinander untrennbar verbundene Erlebnisströme in der so genannten ›reinen Dauer‹ nebeneinander her fließen. Die intellektuelle Herausforderung, die mit diesem Ausgangspunkt gegeben war und welche Schütz klar begriff, bestand darin, dass Bergson eine rationale, wissenschaftliche Rekonstruktion des Erlebnissinnes für unmöglich erachtete und lediglich der ›Intuition‹ eine – wiederum nur in seltenen Augenblicken mögliche – originäre Zugangsweise zu dieser Sinnschicht zutraute. Damit installierte er einen starken wissenschaftstheoretischen Dualismus von ›Erleben‹ und ›Erkennen‹, der auch durch die zusätzliche Annahme kaum entschärft wurde, dass sich im reflexiven Zugang die Erlebnisinhalte immerhin symbolisch repräsentieren ließen. Von dieser Beschränkung und dem darin eingeschlossenen »Irrationalismus« (Srubar 1988: 91) musste sich ein Unterfangen, welches wie das Schützsche auf die Aufklärung der Sinnproblematik gerichtet war, dispensieren. Hatte der ›junge‹ Schütz noch in den frühen Manuskripten den von Bergson selbst bereiteten Weg eingeschlagen, indem er dessen Symbol17 theorie zu einer ›Theorie der Lebensformen‹ erweiterte , so bot ihm die Lektüre von Husserls ›Formale und transzendentale Logik‹ und der ›Ideen I‹ einen willkommenen Ausweg aus den Bergsonschen Sackgassen. Unter Zugrundelegung der Husserlschen Verhältnisbeschreibung von originärem Erlebnis einerseits und den reflexiven Zuwendungsakten zu diesem auf der 18 anderen Seite , war es theoretisch möglich, den von Bergson angesetzten strengen ›Hiatus‹ zu vermeiden. Husserls Beschreibung der Zuwendung zur ›Urimpression‹ über die beiden unterschiedenen Akte der ›Retention‹ und ›Reproduktion‹ erlaubte ihm eine anschauliche Übergangsbeschreibung von der Erlebnis- zur Reflexionsebene (vgl. ASW II: 139ff.). Die 17 Schütz’ ›Theorie der Lebensformen‹ knüpfte an von Bergson offen gelassene Stellen an, nämlich an der Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Bewusstseinsschichten zueinander. Bergson hatte sie lediglich in gleichem Abstand zur originären Erfahrung gestellt, ohne sich en détail um deren Bestimmung zu bekümmern. Schütz spezifizierte insgesamt sechs verschiedene Reflexionsschichten und deutete sie als Lebensformen, denen ein jeweils spezifischer Wahrnehmungsgehalt und ein jeweiliges Symbolisierungssystem eigen seien. Eine konzise Überschau bietet Srubar (1988: 61ff.). 18 Schütz sprach selbst von der »Spannung zwischen Denken und Leben« (ASW II: 172f.).

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Einsicht, dass Originalerlebnisse reflexiv nicht originalgetreu reproduziert werden können, teilte Husserl mit Bergson (Srubar 1988: 104). Auf der Basis des bewusstseinstheoretischen Befundes der Nichtreproduzierbarkeit und Undarstellbarkeit des inneren Erlebnisflusses wird einsichtig, weshalb Schütz bereits im Vorwort die Zentralität des »Phänomens der Erlebniszeit« (ASW II: 75) für die Erhellung der Verstehens- und Sinnproblematik hervorheben konnte. Die somit gegebene Prämisse, dass jede Reflexionsform die ›reine Dauer‹ durchbrechen muss, bedeutete im Umkehrschluss, dass jede reflexive Einstellung einen spezifischen zeitlichen Index mitführte, der auch im Hinblick auf den Reflexionsgehalt relevant war. Entsprechend formulierte Schütz: »Sinn weist zurück auf das innere Zeitbewußtsein, auf die durée, in der er sich ursprünglich und in seinem allgemeinsten Verstand konstituiert« (ebd., 125). In Anknüpfung an die Unterscheidung von ›Erleben‹ und ›Reflexion‹ begründete Schütz nun in seiner Handlungstheorie die Differenz zwischen ›Handeln‹ und ›Handlung‹ (ebd., 124). Während der Vollzug einer Handlung – ›actio‹ – laut Schütz in der ›Dauer‹ stattfinde, beziehe sich Handlung – ›actum‹ – auf »das dauer-transzendente Vollzogen-sein« (ebd., 124f.). Die sinntheoretisch wesentliche Frage war nun diejenige nach der eigentlichen Quelle desjenigen Sinns, dem sich der verstehende Soziologe zuzuwenden hatte. Auf welcher Seite der Unterscheidung er schließlich zu lokalisieren sei, hatte im Grunde schon Max Weber vorentschieden, indem er den Interpreten von der unzumutbaren Aufgabe, den ›objektiv richtigen‹ oder den ›metaphysisch wahren‹ Sinn einer Handlung zu ergründen, befreit hatte (WuG: 1). In Übereinstimmung zu Weber resümierte schließlich auch Schütz: »da der Begriff des sinnvollen Erlebnisses immer voraussetzt, daß das Erlebnis, dem Sinn prädiziert wird, ein wohlunterschiedenes sei, so zeigt sich mit großer Klarheit, daß Sinnhaftigkeit nur einem vergangenen, d. h. nur einem Erlebnis zuerkannt werden kann, das sich dem rückschauenden Blick als fertig und entworfen darbietet« (ASW II: 146).

›Sinn‹ kann gemäß der vorliegenden Bestimmung ausschließlich im reflexiven Zugriff an vergangene Erlebnisse geknüpft werden. Auch im Hinblick auf das ›Verhalten‹, welches regelmäßig als ein Sinn-loses, nichtreflektiertes Handeln aufgefasst wird, erläuterte Schütz, dass »nicht das präphänomenale Aktivitätserlebnis sinnvoll (ist), sondern erst das reflektiv in der Form spontaner Aktivität wahrgenommene« (ebd., 152). Gleichermaßen für alle so genannten »ursprünglich konstituierenden Prozesse« stellte Schütz die Eigenschaft des »›Auf-die-Zukunft‹ gerichtet seins« (ebd., 153) heraus, wobei er sich wiederum eng an Husserls Intentionalitätstheorie orientierte. Dieses Theorem münzte Schütz auf die handlungstheoretische Problematik der Sinninterpretation um, indem er katego-

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risch postulierte, »daß alles Handeln sich nach einem mehr minder expliziten ›vorgefaßten Plan‹ vollzieht« (ebd., 155). Mit Heidegger sprach er vom ›Entwurfcharakter‹ des Handelns (ebd.). In dieser Grundeigenschaft des Handelns hatte Schütz schließlich das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung von ›Handeln‹ und ›Verhalten‹ gefunden, denn Letzteres sei nicht in einem Entwurf fundiert (ebd., 157). Im Unterschied zu Webers Differenzierung war damit nicht implizit die Sinnlosigkeit des ›Verhaltens‹ behauptet, denn eine »intentionale Rückbeziehung auf die genetisch urstiftende ›spontane Aktivität‹« (ebd., 173) hielt Schütz explizit für möglich. In der Folge relativierte er die Scheidelinie zwischen ›Handeln‹ und ›Verhalten‹ in seiner Schlussfolgerung, »daß sich ›Verhalten‹ und ›Handeln‹ immer als polythetisch gegliederte Synthesen einer Serie von Erlebnissen konstituieren« (ebd., 174). Das ›Entwerfen‹ von Handlungsplänen, so folgerte Schütz, sei ein Akt, der als vom eigentlichen ›Handeln‹ unabhängig angesehen werden müsse. Dies zum einen in zeitlicher Hinsicht, da es dem Handeln vorausgehe, sowie insbesondere aus dem Grund, dass in solchem ›Entwerfen‹ im eigentlichen Sinne nicht das ›Handeln‹, sondern die ›Handlung‹ – im oben explizierten Sinn dieser Unterscheidung – thematisiert werde (ebd., 156). Damit werde nochmals deutlich, »daß der Sinn des Handelns die vorher entworfene Handlung sei« (ebd., 157). Im ›Entwurf‹ werde per definitionem eine ›Handlung‹ in »modo futuri exacti als abgelaufen sein werdend« (ebd., 174) imaginiert, nicht etwa »das sich schrittweise vollendende Handeln« (ebd., 156), wie Schütz klar betonte. Die bisherigen Beschreibungen von Schütz’ bewusstseinstheoretisch informierter Theorie der Sinnkonstitution exponiert einige konzeptionelle Korrekturvorschläge an Webers Sinnmodell, scheint aber durchaus konform mit dessen Grundlinie, dass es der sinnverstehenden Soziologie um die Rekonstruktion von subjektiven Motiven, Anlässen und Antrieben zu gehen hat. Erst die Aufdeckung weiterer, nunmehr pragmatisch bedingter Verkomplizierungen, die mit der Möglichkeit des Zugangs zu den konkreten Handlungsentwürfen der Akteure in Zusammenhang standen, entblößt die systematisch-philosophischen Unzulänglichkeiten von Webers Grundlegung. In Diskrepanz zu Webers Zielbestimmung der ›verstehenden Soziologie‹, nämlich der Erklärung des »tatsächlichen« oder des »subjektiv gemeinten Sinnes« (WuG: 1), gab Schütz zu bedenken, »wie sehr die isolierte Betrachtung eines einzelnen Erlebnisses den Tatbestand, welchen die verstehende Soziologie bei ihrer Forderung nach Feststellung des spezifischen gemeinten Sinnes vor Augen hat, verfälscht« (ASW II: 179). Dass Schütz in dieser Zuwendung zur »pragmatischen Bedingtheit der Sinndeutung« (ebd., 178) bereits innerhalb des Rahmens seines ersten, als philosophisch-phänomenologisch ausgezeichneten, Grundlegungsteils die egologische Perspektive eigentlich schon überschritt und eine »mundane Perspektive« einschlug, haben die Editoren des ›Sinnhaften Aufbaus‹ zu

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Recht angemerkt (Endreß/Renn 2004: 214f.). Jenen pragmatischen Momenten der subjektiven Sinnkonstitution soll nun unsere besondere Aufmerksamkeit gelten.

2. ›Pragma‹ und ›Sinn‹ Die in diesem Abschnitt zu distinguierenden, von Schütz als ›pragmatisch‹ qualifizierten, Modalitäten erhielten ihre epistemologische Brisanz dadurch, dass sie einer einfachen Lösung der Sinnproblematik über den Weg der selbst-reflexiven Analyse der Erlebnisgehalte im Wege standen. Schütz näherte sich der bei Weber unbeachtet gebliebenen Problematik tentativ in der Frage: »Wie kommt es [...], daß der Sinn ›eines und desselben‹ Erlebnisses sich wandeln kann, je weiter zurück es in die Vergangenheit sinkt?« (ASW II: 174) Was Schütz hier im Sinn hatte war der Faktor, dass jede reflexive Zuwendung zu eigenen Erlebnissen stets »verschiedenen schwer auseinanderzufaltenden Modifikationen« (ebd., 175) unterlegen war. Er rekurrierte dabei auf Husserls Theorem der ›attentionalen Modifikationen‹. Im Hintergrund stand jedoch Husserls erkenntnistheoretisch bahnbrechende Entdeckung des korrelativen Verhältnisses von ›noetischen‹ Akten und ›noematischen‹ Gehalten. Sie bereitete die wahrnehmungstheoretische Denkmöglichkeit vor, dass bereits die Art und Weise der reflexiven Einstellung selbst – um eine Redewendung Mannheims zu zitieren – ›sinnrelevant‹ ist. Schütz übertrug diese Idee auf die Bedeutung der Zuwendungsakte: »Sie sind es zu allererst, welche den spezifischen Sinn des je in den Blick gefaßten Erlebnisses konstituieren, weil sie das besondere Wie der Zuwendung ausmachen, das wir als ›Sinn‹ des Erlebnisses definiert haben« (ebd.). Mit Bezug auf die Frage nach der Sinnkonstitution war damit ein dynamisches Moment ausgezeichnet, denn der Modus der Aufmerksamkeit auf ein und dasselbe Erlebnis, um Schütz’ Ausgangsfrage aufzugreifen, wandelte sich – gemäß der Definition des Erlebens in der ›Dauer‹ – beständig. Mit Husserl stellte er also fest, dass in jeder reflexiven Fokussierung eines Erlebnisses »›eine Beziehung zur aktuellen Gegenwart‹« (ebd., 163) liegt. Schütz schlussfolgerte daraus, dass »Jede Erinnerung nur ein relatives und unvollkommenes Recht (hat)« (ebd., 163). Entsprechend sei auch das sozialwissenschaftliche Unterfangen, den ›tatsächlichen‹ Sinn einer vergangenen Handlung zu erfassen, von vornherein unter diese Einschränkung zu setzen: »Das Begriffsgebilde ›gemeinter Sinn‹ ist vielmehr notwendigerweise ergänzungsbedürftig, es trägt immer den Index des jeweiligen Jetzt und So der Sinndeutung« (ebd., 166). Neben den geschilderten Sinnmodifikationen, die sich aus der zeitlich bedingten Fortentwicklung der ›reflexiven Attitüden‹ ergaben, stellte Schütz – nun wieder unter Rekurs auf Bergson – ein zusätzliches, statisches Moment heraus, welches gleichfalls mit dem Zuwendungsakt in di-

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rektem Bezug stand. Bergson hatte beschrieben, dass ein Bewusstsein unterschiedliche ›Spannungszustände‹ aufweisen und sich entsprechend in sehr differenten Grundhaltungen ›auf das Leben‹ richten könne (ebd., 177). Diese Bewusstseinseinstellung selbst determiniert also nicht nur wie, sondern ob überhaupt eine Reflexion auf vergangene Ich-Erlebnisse stattfindet. Schütz resümierte: »die attentionalen Modifikationen des Erlebnisses selbst [sind] abhängig von der attention à la vie im jeweiligen Jetzt und So« (ebd.). Die damit gegebene Bedingungskonstellation, so beschloss Schütz im Verein mit Husserl, bedinge »›den Charakter der Subjektivität‹« (ebd., 176f.) aller reflexiven Zuwendungen. Die von Schütz hier herausgestellten Parameter können ihrem Ursprung gemäß als bewusststeinsexterne resp. -interne Einflussquellen differenziert werden. Während das äußerliche ›So-sein‹ sich mit dem zeitlichen Dahinfließen modifiziert, weist die Kategorie der ›attention à la vie‹ auf die bewusstseinsimmanente Bedingtheit der Sinndeutung hin. Parallel zu derjenigen von ›Noesis‹ und ›Noema‹ bei Husserl, darf die Natur dieser Differenzierung nicht als total, sondern nur als relativ aufgefasst werden, da beide Kategorien konstitutiv aufeinander bezogend sind wie zwei Seiten einer Medaille. Als eine weitere bewusstseinsmäßige Disposition, welche im Hinblick auf die Konstitution von subjektivem (im Gegensatz zu intersubjektivem) Sinn als essentiell einzuschätzen sei, demonstrierte Schütz die Fähigkeit der Synthetisierung einzelner Reflexionsakte von Erlebnissen zu einem einheitlichen »Sinnzusammenhang« bzw. zu einer »Synthesis höherer Ordnung« (ebd., 180f.). Solche Sinnzusammenhänge könnten wiederum zum Gegenstand von reflexiven Zuwendungen werden. Auch an diesem Punkt adaptierte Schütz das Potential einer von Husserl etablierten Grundfigur – in diesem Fall zur Erhellung der komplexen Struktur der Sinnkonstitution im Bewusstsein. Husserl darf als derjenige Philosoph gelten, der ein Modell des Bewusstseins in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeführt hatte, welchem die Vorstellung zugrunde lag, dass sich die Wissensbezüge des ›Ego cogitans‹ in unterschiedlichen Sinnschichten konstituierten, wobei 19 zusätzlich angenommen war, dass die oberen auf den unteren aufruhten. Dieses Modell lag letztlich Schütz’ Theorie der Sinnkonstitution zugrunde, wie aus folgender Umschreibung eindeutig hervorgeht: »Unsere gesamte Erfahrung von Welt überhaupt baut sich in polythetischen Aktvollzügen 19 Auch unter den Prämissen des Bergsonschen Bewusstseinsmodells war es nicht möglich, den Zusammenhang von ›Denken‹ und ›Leben‹ als auf einer einheitlichen Struktur aufruhend zu denken. Bei Bergson handelte es sich noch um ontologisch differente Entitäten. Vor diesem Hintergrund hat Srubar zutreffend betont, dass an diesem Punkt der »wichtigste Vorteil [...], den die Husserlsche Perspektive für das Schützsche Vorhaben hatte« (1988: 106), beschlossen lag. Ähnlich auch Endreß/Renn (2004: 42).

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auf, auf deren Synthesis wir in einem monothetischen Blickstrahl als auf das Erfahrene hinzusehen vermögen« (ebd., 181). Die voraussetzende Bedingung eines solchen konstitutionslogischen Sinnmodells, bei welchem der gesamte Erfahrungszusammenhang mit jedem neuen Erlebnis wächst (ebd., 182), basierte auf einer wahrnehmungstheoretischen Denkfigur, welche sich auch Luhmann im Rahmen der Konzipierung der Systemtheorie für die Fundierung der systemimmanenten Grunddynamik der gleichzeitigen Reduktion und Produktion von Komple20 xität durch ein und denselben Prozess zunutze machte. Nicht ganz unähnlich zu Luhmann, funktionalisierte auch Schütz Husserls Ausführungen zur so genannten »Inaktualitätsmodifikation« (Hua III/1: 71f.), um die Komplexität der verschiedenen Zeit- und Sinnschichten im Bewusstsein zu beleuchten. Jene Komplexität des Erfahrungszusammenhangs musste entsprechend nicht mehr in einem reflexiven Zuwendungsakt in toto reproduziert werden, um dem Bewusstsein erhalten zu bleiben, sondern wurde gewissermaßen durch Überführung in den »Modus der Inaktualität« (ebd., 72) in tiefer liegenden Sedimentierungsschichten gespeichert, um zu gegebenen Zeitpunkten aktualisiert zu werden. Hier manifestiert sich abermals Schütz’ sensibles Gespür für die theoretische Verwertung abstrakter philosophischer Argumentationsfiguren zur Lösung spezifischer Probleme der Fundierung der Sozialwissenschaften. Die in diesem Teilkapitel erörterten drei Bestimmungsmomente der Sinnkonstitution lassen sich im Hinblick auf die Beantwortung der Ausgangsfragestellung nach der Möglichkeit, dass sich der Sinn ein und desselben Erlebnisses im Laufe der Zeit wandelte, folgendermaßen zusammenführen: Zunächst bestimmt der Ausgangspunkt von einem Bewusstseinsmodell, welches Erfahrungsgehalte in einem passiven Modus bereithält, dass im Grunde keine Informationen aus vorausgegangenen Erlebnissen verloren gehen – auch wenn sie in einer aktuellen Situation nicht im eigentlichen Sinne gewusst werden. Die Heraushebung vergangener Erfahrungsmomente geschieht dabei stets aus einem hic et nunc heraus, was bedingt, dass jene Erfahrungsgehalte nicht im originären Sinne reproduziert werden, sondern, dass der Gegenwartskontext stets eine Modifikation des ursprünglichen Sinnes bewirkt. In die selbe Richtung der Verzerrung der Originalrelevanz eines Erlebnisses wirkt ein zweiter, ebenfalls praxisbedingter, Faktor, nämlich die je aktuelle bewusstseinsmäßige Grundeinstellung, in der sich Ego den vergangenen Erlebnissen zuwendet. Diese Gemengelage führt bei Schütz letztlich zu der Behauptung, dass jeder Sinngehalt relativ und subjektiv sei. In Konsequenz gelangt er zu einer holistisch-strukturalistischen Sinnkonzeption à la Saussure, welcher zufolge sich der jeweilige Sinn eines individuellen Erlebnisses aus dessen Position innerhalb eines komplexen Ganzheitsgefüges ergab (Saussure 1967: 88). 20 Siehe oben S. 157, Anm. 30.

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Dazu lese man folgende Definition: »Der spezifische Sinn eines Erlebnisses [...] besteht dann in der Einordnung dieses Erlebnisses in den vorgegebenen Gesamtzusammenhang der Erfahrung« (ASW II: 184). Aufgrund des beständigen »Übergangs vom Jetzt zu neuem Jetzt« (ebd., 177), ist damit zugleich die zweite Prämisse des strukturalistischen Modells erfüllt: ein endgültiger Sinn eines Erlebnisses lässt sich niemals angeben, weil sich bereits mit der Positionsveränderung eines einzelnen Sinnelements die gesamte Sinnstruktur verschiebt (Saussure 1967: 105). Folglich sind es Bedingungsfaktoren, welche jenseits des ursprünglichen reflexiven Erfahrungsgehaltes angesiedelt sind, und welche von daher nicht ganz zu Unrecht als pragmatisch bedingt tituliert werden können, die eine einfache Zuwendung zum ›gemeinten Sinn‹ des Ego agens inhibieren. Diesem Befund entsprechend gab Schütz folgende, lediglich vage »Definition des Begriffes ›gemeinter Sinn‹: Gemeinter Sinn eines Erlebnisses ist nichts anderes als eine Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her« (ASW II: 184). Es gilt festzuhalten, dass Schütz im Rahmen der phänomenologischen Aufklärung der Sinnkonstitution im Ego im Grunde bereits die Perspektive von Husserls Philosophie des inneren Zeitbewusstseins um pragmatische Bedingungsfaktoren erweiterte. Auch Srubars Rekonstruktion entging keineswegs Schütz’ – weniger explizit als implizit – entfaltete Einsicht, »daß die Zeitlichkeit des handelnden Subjekts nicht mehr lediglich als die des inneren Zeitbewußtseins gedacht werden kann, sondern offensichtlich eine komplexere Struktur aufweist, die aus dem Sein des Subjekts in der Welt herrührt. Das Ich erfährt sich nicht nur als die Einheit des Erlebnisstroms, sondern auch als ein in außersubjektive Zeitabläufe eingebundener Handelnder« (1988: 138).

Die beiden im Kontext seiner Explikation der »Konstitution des Sinns im je eigenen Erleben des einsamen Ich« (ASW II: 94) herausgestellten sinnrelevanten Effekte der ›attentionalen Modifikation‹ (Husserl) und der ›attention à la vie‹ (Bergson) tragen somit den Index der Eingebundenheit des ›einsamen Ich‹ in die Welt. In seinem 1936 geplanten Werk ›Das Problem der Personalität in der Sozialwelt‹, das jedoch Manuskript geblieben war, knüpfte Schütz unmittelbar an diese Erkenntnisse an, indem er die Handlungstheorie des ›Sinnhaften Aufbaus‹ »zu einer Theorie des vollen Pragmas erweitern« und eine »Blosslegung des pragmatischen Motivs bei der Konstitution des Ichs« (ASW V.1: 133) anstreben wollte. In die gleiche Richtung des Ausweises der fundamentalen Vermitteltheit von Identitäts- und Wissenskonstitution auf der einen und der pragmatischen Dimension, die sich aufgrund der Situiertheit in einem bestimmten ›So Sein‹ auftut, auf der anderen Seite, wiesen insbesondere auch Schütz’ Ausführungen zur Relevanztheorie (PdR). In der Kategorie der ›biographischen Situation‹, welche in den spä-

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ten Arbeiten systematisch beschrieben wurde (GA I: 10f.; PdR: 208ff.), präzisierte Schütz die hier bereits im zweiten Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ entfalteten pragmatischen Bezugsebenen im ›Selbstverstehen‹. Den theoretischen Übergang vom ›Selbstverstehen‹ zum ›Fremdverstehen‹ nach Schütz gilt es im Folgenden nachzuzeichnen.

3. Vom ›Selbstverstehen‹ zum ›Fremdverstehen‹ Die oben schon mehrfach angesprochene charakteristische Spannung, deren Ursprung sich nunmehr mit jener »strukturelle(n) Ambivalenz« (Endreß/Renn 2004: 48) zwischen Schütz’ Anspruch einer phänomenologisch-egologischen Fundierung der Sinnkonstitution einerseits und den geschilderten pragmatistischen Grundmotiven, welche auf die existentielle Eingebettetheit des Ego hinwiesen, auf der anderen Seite identifizieren lässt, baute sich – wie gesehen – bereits im zweiten Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ auf und wird sich im Grunde über alle weiteren Arbeitsphasen hindurch ziehen. Nicht nur in diachroner Perspektive, sondern auch in synchroner Hinsicht scheint diese Diskrepanz bestimmend, denn sie taucht an mehreren systematischen Knotenpunkten immer wieder auf. An einem solchen befinden wir uns auch beim Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt im ›Sinnhaften Aufbau‹, denn Schütz nahm an dieser Stelle einen grundlegenden Perspektivenwechsel vor. In der Anmerkung, welche Schütz kurz vor der Drucklegung des ›Aufbaus‹ dem ersten Abschnitt noch anhängte (vgl. Wagner 1988: 5), gab er eine Erläuterung dieses ansonsten nicht weiter begründeten Übergangs. Unter Verweis auf die Absicht des Buches, die »Sinnphänomene in der mundanen Sozialität zu analysieren« (ASW II: 129), rechtfertigte er sein Verlassen der Sphäre der transzendentalen Reduktion. Von Bedeutung ist dabei seine Auffassung, dass es möglich sei, »ohne Gefahr unsere Ergebnisse auf die Phänomene der natürlichen Einstellung an(zu)wenden«, da »alle in phänomenologischer Reduktion durchgeführten Analysen wesensmäßig auch [...] innerhalb der natürlichen Einstellung Geltung haben« (ebd., 130). Gegenstandstheoretisch definierte er die Analyseobjekte der »Phänomenologie der natürlichen Einstellung« als »Korrelate« der entsprechenden ›Phänomene‹, welche durch transzendentale Reduktion zum Vorschein gebracht wurden (ebd.). Damit basierte er seine »Strukturanalyse der Sozialwelt« auf der Unterstellung, dass die beiden von Husserl theoretisch strikt getrennten Ebenen ohne weiteres miteinander vermittelt waren. Entsprechend finden sich bei Schütz auch im Weiteren keinerlei Anstrengungen, die Kompatibilität der mundanen und transzendentalen Objektbereiche zu verifizieren. De facto postulierte Schütz hier ein quasi spiegelbildliches Verhältnis der transzendentalen und mundanen Welt – eine Voraussetzung, welche der Ausgangsposition von Husserls Fundierungsunternehmen grundlegend widerspricht. Damit soll an dieser Stelle zunächst nur so viel gesagt sein,

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dass Schütz die Denkform seiner Sozialwissenschaft wohl zu Unrecht als phänomenologische auswies. Um diese philosophisch adäquat einordnen zu können, soll in den folgenden Schritten Schütz’ Analyse der »Sinnphänomene in der mundanen Sozialwelt« entfaltet werden. Deren erster Schritt bestand in der Aufklärung der intersubjektiven Sinnkonstitution. Nach der bisherigen Schilderung ist es nicht überraschend, dass Schütz zu Beginn seiner Ausführungen zum Problem des Fremdverstehens zwar einerseits die philosophische Bedeutung der Husserlschen Problembeschreibungen vollauf anerkannte, er andererseits aber gleichzeitig deren Relevanz für seine eigene Fragestellung ziemlich eindeutig herabstufte: »für unsere Problemlage können wir sie ungestraft außer Acht lassen« (ebd., 220). Er ging das Problem des Verstehens des alter Ego von vornherein nicht aus Husserls Perspektive aus der fünften ›Cartesianischen Meditation‹ an, sondern von einer theoretischen Voraussetzung, die er – unter dem Einfluss Schelers – als »Generalthesis des alter ego« (ebd., 219) titulierte. Damit war gesetzt, »daß auch das Du Bewußtsein überhaupt habe, daß es dauere, daß sein Erlebnisstrom die gleichen Urformen aufweise wie der meine« (ebd., 220). Der ›Andere‹ wurde also mit den gleichen bewusstseinsmäßigen Reflexionsapparaten und Erfahrungsprozessen ausgestattet, die Schütz im zweiten Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ bereits für das phänomenologisch reduzierte Ego festgestellt hatte. Dass sich Schütz – trotz der kategorialen Separation der beiden Analyseebenen – dennoch nicht vollends von seinem ursprünglichen subjektivistischen Grundansatz trennte und dem methodologischen Individualismus treu blieb, geht eindrücklich aus dessen Konzipierung der sozialwissenschaftlichen Verstehensproblematik hervor. Aus dieser individualistischen Perspektive musste das Fremdverstehen zunächst deswegen eine besondere Herausforderung darstellen, weil die Konstitution von Sinn – per definitionem – unmittelbar an die subjektiven Reflexionsakte des individuellen Bewusstseins gebunden wurde. Auf der Basis dieser Prämisse konnte es sich im Falle Schütz’ von vornherein nicht um eine Theorie des Einfühlens in die Denkakte eines Gegenübers handeln. Diesen Punkt hatte Schütz deutlich hervorgehoben: »›Gemeinter Sinn‹ ist also wesentlich subjektiv und prinzipiell an die Selbstauslegung durch den Erlebenden gebunden. Er ist für jedes Du wesentlich unzugänglich, weil er sich nur innerhalb des jemeinigen Bewußtseinsstromes konstituiert« (ebd., 222). Er stellte jedoch umgehend heraus, dass mit der Behauptung der prinzipiellen Unzugänglichkeit fremder Erlebnisse keineswegs »die Möglichkeit einer verstehenden Soziologie« und die »Verstehbarkeit von Fremdseelischem schlechthin geleugnet (wäre)« (ebd.). Schütz’ Lösungsweg, bei welchem er sich abermals auf einen Vorschlag Husserls stützte, lässt sich in Abgrenzung vom Einfühlungsmodell als eine medientheoretische Wendung des ›Verstehens‹ auffassen,

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»Denn wir vollziehen die Auffassung fremdseelischen Erlebens in nur signitiv symbolischer Vorstellung, und zwar entweder durch das Medium des fremden Leibes als Ausdrucksfeld des fremden Erlebens oder eines Artefakts im weiteren Sinne, d. h. eines Gegenstandes der äußeren Welt, dessen Existenz auf eine Erzeugung durch mich selbst oder durch einen Nebenmenschen zurückverweist« (ebd., 223). 21

Entsprechend sprach Schütz auch lieber vom »Deuten« , welches der verbreiteten, mit ›Unmittelbarkeit‹ konnotierten, Verstehensauffassung gegenüber die Vermitteltheit der Sinnhaftigkeit fremden Seelenlebens für den Betrachter adäquater zum Ausdruck brachte (ebd., 224). Handlungstheoretisch formuliert würden das ›Verhalten‹ und ›Handeln‹ des alter Ego als ›Hinweise‹ und ›Anzeichen‹ für dessen Erlebnisse gedeutet. Motivationstheoretisch gesprochen antizipiere der Interpretierende »die Um-zuMotive seines eigenen Handelns als echte Weil-Motive des erwarteten Verhaltens des Partners [...] und umgekehrt [...] die Um-zu-Motive des Partners als echte Weil-Motive seines je eigenen Verhaltens« (ebd., 222). Gleichwohl Schütz’ Motivtheorie bisher noch nicht erörtert wurde, belegt auch diese prominent gewordene Definition, dass es keine unmittelbare Verbindung der Motivationszusammenhänge von Ego und alter Ego gab, sondern die äußeren Verhaltungen, in denen die (spontanen) ›Um-zu22 Motive‹ zum Vorschein kommen, jeweils nur als ›Symbole‹ für die vergangenheitsbezogenen ›Weil-Motive‹ genommen wurden. Wir antizipieren aus diesen Darstellungen bereits die Parallelität zu derjenigen Grundkonstellation, welche bereits Weber zum Ausgangspunkt seiner Verstehenslehre genommen hatte. Wie dieser nahm auch Schütz zunächst die subjektiven Denk- und Erlebnisreflexionen zum analytischen Ausgangspunkt und beobachtete schließlich diejenigen Bewusstseins- und Sinnkonstitutionsprozesse, welche vor, während und nach der Ausrichtung auf ein Gegenüber stattfinden. In Analogie zu Webers Definition des ›so23 zialen Handelns‹ , ging auch Schütz von einem bestimmten, nämlich dyadischen, Beschreibungsmodell zur Erhellung der wechselseitigen, aber 24 stets jemeinigen , Orientierungsprozesse aus. Schütz führte zur Bezeich-

21 Schütz definierte: »Mit ›Fremdverstehen‹ bezeichnet man aber darüber hinaus – und das ist erst der eigentliche Sinn dieses Terminus – die Deutung der Bewußtseinsabläufe des alter ego, welche wir signitiv vermittels der äußeren Abläufe erfahren haben« (ASW II: 239). 22 Schütz definierte ›Symbol‹ als »Gegenstand der Außenwelt«, wobei er »als Repräsentant für das [steht], was er repräsentiert« (ASW II: 248f.). 23 »›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (WuG: 1). 24 ›Jemeinigkeit‹ in dem Sinne, den wir bei Schütz finden, war bekanntermaßen bei Heidegger (SuZ: 41ff.) zu einem allgemeinen Strukturmerkmal des Seins des Daseins erklärt worden.

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nung der reflexiven Gerichtetheit auf ein alter Ego den Begriff der »Fremdeinstellung« (ebd., 294) ein. Dabei handelt es sich in theoriebezogener Hinsicht insofern um eine zentrale Kategorie der Schützschen Systematik, weil sie – wie auch Srubar (1988: 117) bemerkt hat – das Hinausgehen über eine strikt egologisch-phänomenologische Perspektive voraussetzt. Schütz legte nämlich fest: »Die Fremdeinstellung ist nur in der gesellschaftlichen Sphäre vollziehbar, weil sie auf der Setzung nicht nur des transzendentalen, sondern auch des mundanen alter ego fundiert ist« (ASW II: 294). Hier vollzog Schütz den angedeuteten Übergang von der transzendentalen zur mundanen Analyseebene, in welcher die Aufklärung der Konstitution intersubjektiven Sinns geleistet werden soll. In der Fremdeinstellung manifestiere sich ein Typus von Intentionalität, der, so die These, »nicht aus der transzendentalen Reflexion zu rekonstruieren (ist), sondern unter Rückgriff auf die mundan erlebte Evidenz des alter ego beschrieben werden (muß)« (Srubar 1988: 118). Nicht Bewusstseinsanalyse des transzendentalen Ego, sondern Analyse der Erlebnisse in natürlicher Einstellung und in Interaktion mit Anderen schien also der Königsweg zur Lösung der Intersubjektivitätsproblematik. Insofern lässt sich mit Srubar beschließen, dass Schütz das philosophische Problem der Intersubjektivität in die sozialtheoretische Problematik der Konstitution von Sozialität transponierte (ebd., 117). Wir haben also zunächst zwei zentrale Denkbewegungen in Schütz’ Beschreibung des Übergangs von der egologischen zur intersubjektiven Sinnkonstitution zu differenzieren, die in einem gewissen Gegensatz zueinander stehen: Auf der einen Seite das Festhalten an einer subjektivistischen Perspektive, welche – entsprechend dem Befund aus der egologischen Sinnanalyse des zweiten Abschnitts – auch die Konstitution von intersubjektiven Bedeutungen an die Reflexionsakte des Individuums knüpfte. Gemäß der zweiten Prämisse sind diese (subjektiven) Deutungsprozesse nicht hinreichend, um das Bestehen von intersubjektiven Deutungsmustern zu erklären, sondern zu diesem Zweck bedurfte es der Berücksichtigung sozialer Interaktionsdynamiken. Das sozialtheoretische Kardinalproblem der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft ergoss sich bei Schütz somit in die Form der Frage nach der Verschränktheit von (subjektiver) Reflexion und (sozialer) Interaktion bzw. von ›subjektivem‹ und ›objektivem‹ Sinn.

4. Das soziale Fundament des intersubjektiven Sinns: die ›Wir-Beziehung‹ Aus der bisherigen Darstellung der Ausgangspunkte von Schütz’ Intersubjektivitäts- bzw. Verstehenstheorie können wir zunächst resümieren, dass eine philosophische Lösung im Sinne einer allgemeingültigen Deskription dieses Vorgangs keineswegs sein primäres Anliegen war. Als sein eigent-

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liches Thema hatten wir oben bereits die »Strukturanalyse der Sozialwelt« (ASW II: 313) freigelegt. Die im Rahmen der Erläuterung des Fremdverstehens herausgestellten Beschreibungsmodelle instrumentalisierte Schütz im vierten Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ für eine differenzierende Aufgliederung unterschiedlicher Sphären der sozialen Umwelt, in welchen sich die Akteure in ›natürlicher Einstellung‹ bewegten. Darin trat zum Vorschein, dass die Parameter des Fremdverstehens, je nach der reflexiven Ausrichtung zu unterschiedlichen »sozialen Regionen« (ebd., 289), in unterschiedlichem Grad gegeben waren. Folglich ging es auch nicht darum, das Fremdverstehen per se aufzuklären, sondern vielmehr »die verschiedenen Weisen des Fremdverstehens« (ebd., 285). Unter den verschiedenen »Auffassungsperspektiven« (ebd., 288) des alter Ego bzw. der »Mitmenschen« kam der so genannten »umweltlichen Dueinstellung«, durch welche sich eine »Wirbeziehung« (ebd., 315) konstituiere, herausragende Bedeutung zu. Sie gründete auf der raumzeitlichen Unmittelbarkeit dieser Beziehung zwischen Ego und alter Ego, sodass man sogar von einer »echten Gleichzeitigkeit des fremden Dauerablaufes mit dem eigenen« (ebd., 314) – entsprechend der ›Generalthesis des alter ego‹ – sprechen könne. Anhand dieser besonderen Erscheinungsform der auf den ›Anderen‹ ausgerichteten Intentionalität, so Schütz’ Auffassung, ließe sich das Wesen der Fremdeinstellung am aussichtsreichsten studieren. Es erweise sich dabei zunächst, dass diese »Grundrelation des Wir« durch das Hineingeborensein in eine soziale Umwelt vorgegeben ist (ebd., 316). Entsprechend sei die ›Dueinstellung‹ keine während des Sozialisationsprozesses erlernte Kompetenz (im Sinne Meads), sondern eine »VORPRÄDIKATIVE Erfahrung, in welcher das Du als ein Selbst erlebt wird« (ebd., 314). Von einem Verhältnis natürlicher Einfühlung ist diese Form der Erfahrung des Mitmenschen gleichwohl noch durch die oben eingeführte Verstehensgrenze entfernt, denn »der Begriff der Dueinstellung impliziert an sich noch nicht ein In-den-Blick-fassen der besonderen Bewußtseinserlebnisse dieses alter ego« (ebd., 315). Ein solches ›In-denBlick-fassen‹ des Gegenübers kann – unter bestimmten Umständen und in unterschiedlichem Ausmaß – auftreten. An dieser Stelle lässt sich Schütz’ Unterscheidung zwischen ›subjektivem‹ und ›objektivem‹ Sinn anbringen. Es handelt sich dabei um die beiden entgegengesetzten Grenzmarkierungen jenes Feldes, innerhalb dessen sich die Intensität der Zuwendungen eines Ego auf ein alter Ego markieren lässt. Während die Erfassung der subjektiven Sinnzusammenhänge, die ein bestimmtes Handeln eines Gegenüber ausgelöst haben mögen, die Reflexion auf dessen Erlebnisse bzw. dessen ›Weil-Motive‹ zur Voraussetzung hätte, stehe der objektive Sinn nicht als Zeugnis für ein besonderes Erleben eines besonderen Du und ist von jeder Dauer und jedem Sinnzusammenhang in einer fremden Dauer losgelöst (ebd., 270f.). Die »reine Dueinstellung« und entsprechend auch die »reine Wirbeziehung« definierte Schütz

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dem gemäß als formale Kategorien bzw. »Limesbegriffe«, deren inhaltliche Ausprägungen je nach Anwendungskontext variierten (ebd., 331). Schütz’ bezog sich bei seiner Erläuterung der ›Duerfahrung‹ explizit auf Max Scheler und dessen Behauptung, »daß die Erfahrung vom Wir (in der Umwelt) die Erfahrung des Ich von Welt überhaupt fundiere« (ebd., 25 316). Hier dürfen wir eine der Hauptinspirationsquellen behaupten, die für Schütz’ »Abkehr von der transzendentalen Philosophie« (Srubar 1983) 26 von größter Relevanz gewesen ist. Scheler erweist sich an diesem konkreten Punkt zugleich als Vermittlungsinstanz des lebensphilosophischen Grundanliegens, die Autarkie der reinen Reflexion wissenschaftstheoretisch zu entkräften und die erkenntnisfundierenden Einwirkungen praktischer Lebensbezüge zu theoretisieren. Gleichwohl sich Scheler an Diltheys Festhalten am idealistischen ›Satz des Bewußtseins‹ stieß, erblickte er in dessen Beschreibung des Verhältnisses von Bewusstsein und Außenwelt in der ›Realitätsabhandlung‹ »immer noch das Beste, was wir in dieser Frage besitzen« (1960: 371). Wahrscheinlich beurteilte Scheler sein eigenes Unterfangen als eine Radikalisierung des lebensphilosophischen Bestrebens Diltheys, welchem er vorhielt zu übersehen, »daß ekstatisches Wissen allem Bewußtsein und daß Haben von Sein und Seinsverhältnissen selbst allem Wissen vorhergeht« (ebd.). Unter ›Ekstase‹ verstand er dabei die »Sprengung der Grenzen des eigenen Seins und Soseins durch Liebe« (ebd., 204). Es sei dahingestellt, inwiefern hier tatsächlich eine Radikalisierung der lebensphilosophischen Grundfigur vom Primat des Lebens vor dem Erkennen vorliegt. In argumentationsstruktureller Hinsicht stimmen Schelers und Diltheys Grundanliegen augenscheinlich überein. Schütz’ Perspektivenwechsel von der transzendental-phänomenologischen zur mundanphänomenologischen Theorieebene, so zeigt sich bereits an diesem frühen Punkt unserer Ausführungen, ging offenkundig mit der Ersetzung von Husserls ›Primat der Reflexion‹ durch den ›Primat der Sozialität‹ (Srubar 1988: 127) Hand in Hand. Diese Umstellung führte allerdings nicht zu einer einseitigen Auflösung der Opposition von ›Denken‹ und ›Leben‹ und schon gar nicht zu einem Soziologismus, der alles Denken eingleisig aus sozialen Bedingungen deduziert, vielmehr bleiben in Schütz’ analytischer Vorgehensweise beide Phänomene eng miteinander verschränkt, so dass die Aufklärung der einen Seite zugleich zur Erhellung der anderen führte und umgekehrt.

25 Bei Scheler selbst lesen wir, dass »die Dusphäre und die Realsetzung von geistigen Subjekten in ihr der Sphäre der Außenwelt und Innenwelt vorhergeht« (1960: 375). 26 Siehe hierzu Srubar (1988: 272ff.). Srubar resümierte Schelers Bedeutung für Schütz: »Die mundan-anthropologischen Untersuchungen Schelers waren es dann wohl auch, die in Schütz den Sinn für das Eigenrecht der mundanen Analyse bestärkt und so die Idee einer Mundanontologie der Lebenswelt genährt haben« (ebd., 275).

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Nach dem Ziel hinstrebend, »die spezifischen Eigentümlichkeiten genauer [zu] beschreiben, durch welche sich die ›umweltliche Wirbeziehung‹ von allen anderen sozialen Beziehungen unterscheidet« (ASW II: 318f.), hielt sich Schütz zunächst eng an die sinntheoretischen Ausführungen aus dem zweiten Abschnitt. Analog zu diesen führte er hier aus, dass eine reflexive Zuwendung zu einem ›Wir‹ nur erfolgen könne, »soweit die Phasen des Wirerlebnisses bereits abgelaufen sind und das Wir als solches bereits konstituiert ist« (ebd., 318). Im selben Maße, so fuhr Schütz fort, wie man aus dem ›Wirzusammenhang‹ heraustrete, entferne man sich gleichzeitig vom subjektiven Sinnzusammenhang des alter Ego. Man erfasse somit lediglich dessen objektiven Sinnzusammenhang. Entsprechend variierten die Duerlebnisse, genauer: die Selbsthabe des Du, im Hinblick auf »Intensität«, »Erlebnisnähe« und »Intimitätsgrad« (ebd., 320, 331). Auf der Basis dieser Kategorien wurden die im Weiteren von der ›umweltlichen Wirbeziehung‹ unterschiedenen Sozialbeziehungen unterscheidbar. Die ›umweltliche Wirbeziehung‹ war, wie bereits angedeutet, durch ein Höchstmaß an wechselseitiger Vertrautheit charakterisiert. Aus früheren Erfahrungen bzw. Begegnungen mit der anderen Person seien deren Deutungsschemata, Deutungsgewohnheiten und verwendeten Zeichensysteme dem Ego bekannt (ebd., 320). Parallel zur subjektiven Sinnkonstitution wuchs auch für den Erkennenden mit jedem weiteren ›Duerlebnis‹ der Erfahrungsvorrat über das Gegenüber. Auf welche Weise Ego und alter Ego in Schütz’ Modell der ›umweltlichen Wirbeziehung‹ im Hinblick auf die Konstitution intersubjektiven Sinns interaktiv miteinander verknüpft wurden, soll nun in der gebotenen Kürze resümiert werden. Eine erste Eigenschaft, welche die intersubjektive Sinnkonstitution von der egologischen auszeichnete, beschrieb Schütz als »die Evidenz, daß ebenso wie ich auf deine Bewußtseinsabläufe hinblicke, du auf die meinigen hinblickst« (ebd., 322). In späteren Arbeiten sprach Schütz diesbezüglich von der »Reziprozität der Perspektiven« (GA I: 12f.). ›Wirbewusstsein‹ entsteht demgemäß durch wechselseitige Anpassung des Wissens um die jeweiligen subjektiven Sinnzusammenhänge des Anderen im fortlaufenden Prozess der sozialen Interaktion: »Dieses Ineinandergreifen von wechselseitig einander fundierende[n] Blickwendungen auf das Bewußtsein des Du, dieser Blick gleichsam in einen in tausend Facetten geschliffenen Spiegel, von dem mein Ich im Bilde zurückgeworfen wird, konstituiert überhaupt erst die Besonderheit der umweltlich sozialen Beziehung« (ASW II: 322).

Dieser pragmatisch begründeten Disposition zur Verifizierung der eigenen Entwürfe über die Erlebnisinhalte der Anderen, kam auch im Hinblick auf ein weiteres Charakteristikum der ›umweltlichen Wirbeziehung‹ großes Gewicht zu. Schütz pointierte die angedeutete Grundeigenschaft in dem

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Befund des Vorliegens ein und derselben äußerlichen »Umgebung« für Ego und alter Ego (ebd., 323). Auch diese Bestimmung hatte lediglich approximativen Status, da eine echte (im Sinne von ›vollkommener‹) Übereinstimmung der wechselseitigen Weltsichten per definitionem nicht erreichbar sei. Insofern kam dieser Eigenschaft weniger theoretische als lebenspraktische Bedeutung zu. In Schütz’ Terminologie ausgedrückt, konstituiert sich das Bewusstsein davon, dass ›Ich‹ und ›Du‹ eine einheitliche und gemeinsame Welt teilen, dadurch, dass Ego die Passung seines Deutungsschemas der umgebenden Objekte mit dem entsprechenden Ausdrucksschema von alter Ego durch entsprechende Handlungen kontrollieren kann. Die Möglichkeit der Abstimmung und Anpassung der eigenen Entwürfe von den Motiven des Partners bestimmt also in Schütz’ Erklärungsansatz die Relevanz der Sozialität für die Konstitution einer gemeinsam erfahrenen Welt: »Erst von hier, von der umweltlichen sozialen Beziehung, vom gemeinsamen Erleben der Welt im Wir aus ist die intersubjektive Welt konstituierbar, von hier aus empfängt sie ihr ursprüngliches und eigenes Recht« (ebd.). Eine dritte Eigenart der ›umweltlichen Wirkensbeziehung‹ erschloss Schütz über die Beobachtung der Verschränkung der wechselseitigen Motivationszusammenhänge. Aufgrund der spezifischen ›attentionalen Modifikationen‹ in der face-to-face – Situation, erlebten die Interaktionspartner »die Konstitution des Motiv-Zusammenhanges im fremden Bewußtsein mit und (vermögen) auf sie hinzusehen« (ebd., 325). George Herbert Mead hatte für diese Orientierungskonstellation den mittlerweile zum Grundstock der soziologischen Grundbegriffe gehörenden Terminus des ›roletaking‹ geprägt. In Schütz’ Begriffsbestimmung übersetzt, antizipierten die Akteure aus den konkret gemachten Erfahrungen heraus die ›Um-zuMotive‹ zukünftiger Handlungen oder ordneten die aktuellen Erlebnissen den ›Weil-Motiven‹ von alter Ego zu. Die Akteure reagierten in der ›umweltlichen Wirbeziehung‹ unmittelbar auf die Reaktionen des alter Ego auf die eigenen Handlungen, so dass in dieser weiteren Reflexionsstufe die eigenen Motivzusammenhänge aus den Augen alter Egos beobachtbar würden. Diese ›Antizipierungs-Anpassungsprozesse‹, so betonte Schütz, fänden nicht im Modus der reflexiven Einstellung statt, sondern – darin lag das Spezifikum dieser sozialen Beziehungsform – im Modus des aktuellen ›Mit-erlebens‹ (ebd.). Bereits für einen hinzutretenden Dritten, der eine ›umweltliche Wirbeziehung‹ beobachtet, sei die ›Dueinstellung‹ gegenüber dem alter Ego nur eine einseitige, sodass hier die Möglichkeit des Zugangs zu den Deutungsschemata, ›attentionalen Modifikationen‹ und Motivzusammenhängen des alter Ego von vornherein entfiel (ebd., 326ff.). Bevor wir uns nun den auf der ›Umwelterfahrung‹ aufbauenden Sozialrelationen zuwenden, soll zunächst die von Schütz herausgestellte

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Wechselbeziehung zwischen subjektiver Reflexion und sozialem Handeln zusammengefasst werden. Die vorausgegangenen Ausführungen belegen den eingangs dieses Kapitels bereits angedeuteten Befund, dass Schütz die von Husserl akribisch beachtete Grenze zwischen phänomenologisch-reflexiver und natürlicher Einstellung aufgelöst hatte. In Schütz’ Analyse der intersubjektiven Sinnkonstitution erwies sich das Moment des Eintretens in eine soziale ›Wirbeziehung‹ in doppelter Hinsicht als sinnprägend, nämlich sowohl in Bezug auf das Was als auch das Wie der subjektiven Erlebnisreflexion. Jenes Handeln in Bezug auf ein alter Ego bedinge »besondere attentionale Modifikationen [...], in denen ich und du dem Jetzt und So des je eigenen Bewußtseins zugewendet sind« (ebd., 324). Die subjektive Reflexion auf die eigenen Erlebnisse werde also durch das Gegenübertreten eines Anderen affiziert. Dieses geschehe hier über den Mechanismus der »vielfache(n) Reflexion und Spiegelung, in welcher in der umweltlichen sozialen Beziehung die eigenen Bewußtseinsinhalte als Bewusstseinsinhalte des Partners interpretiert werden« (ebd., 327). Das im Hinblick auf die soziologische Aufklärung des ›sinnhaften Aufbaus der Welt‹ zentrale Erklärungspotential lag darin begründet, dass über solche interaktiven bzw. kommunikativen Angleichungsprozesse die Stabilität und Orientierungskraft subjektiver und intersubjektiver Deutungsmuster und Sinnkonstruktionen ableitbar wurde. Da diese ›Grundrelation des Wir‹ mit der Geburt vorgegeben und damit der Konstitutionsprozess von ›Selbst‹ und ›Welt‹ von Beginn an als über soziale Interaktion vermittelt zu begreifen sei, erkläre sich, weshalb Schütz Husserls Versuch der Erklärung der Intersubjektivität der Welt aus einem ›einsamen Ich‹ als grundverschiedene Problemstellung von seiner ›Mundanphänomenologie‹ absondern musste. Nicht von einem einsamen, sondern vom sozialen Menschen wollte Schütz ausgehen. Dieser Schritt ähnelt in seiner Argumentationsstruktur dem oben bereits für Dilthey, Simmel und Weber herausgestellten Grundmotiv der Pragmatisierung des philosophischen Erkenntnissubjekts. Wenn man überhaupt von einer ›Wendung‹ in Schütz’ Stellung zur Husserlschen Phänomenologie sprechen will, dann hat man ihren Ausgangspunkt nicht erst im Spätwerk, sondern bereits im ›Sinnhaften Aufbau‹ zu lokalisieren (vgl. Srubar 1988: 117). An diesem Punkt unserer Schütz-Rekonstruktion ist zumindest der Hinweis auf einen für unsere Diskussion des Verhältnisses von Phänomenologie und Sozialwissenschaft wichtigen Einwand gegen Schütz’ Transformation der Transzendentalphänomenologie anzubringen. Sinniger Weise kann eine abschließende Klärung erst nach der Untersuchung von Schütz’ Adaption der Lebenswelttheorie Husserls erfolgen. Autoren wie Peritore (1975: 137), Kockelmans (1979: 37ff.), Costelloe (1996: 249ff.) und Welz (1996: 166ff.) haben zu zeigen versucht, dass Schütz die theoretischen Konsequenzen und Implikationen der Mundani-

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sierung transzendentalphilosophischer Konzepte keineswegs ausreichend bedacht hatte. Was Schütz ignoriert, aber die philosophische Diskretion verlangt hätte, sei eben die Anerkennung, dass ›phänomenologische Philosophie‹ und ›Phänomenologie der natürlichen Einstellung‹ in konzeptioneller Hinsicht keinerlei Berührungspunkte aufwiesen und es sich hier um philosophische Alternativen handelte, zwischen denen man sich zu entscheiden hätte (Kockelmans 1979: 38; Welz 1996: 171). Im Übrigen, so fügt Kockelmans hypothetisch hinzu, hätten – mit der Ausnahme Schelers – die Begründer alternativer phänomenologischer Ansätze – Hartmann, Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty – allesamt zweifellos für eine transzendentale Fundierung und gegen die mundane Option im Sinne Schütz’ votiert. Entsprechend sah Gadamer in Schütz’ Mundanisierung phänomenologischer Kategorien einen undiskutierbaren »Rückfall [...], wie ihn Husserl mit aller Mühe zu verhüten versucht hat« (GGW 3: 133f.). Umso erstaunlicher ist dann jedoch Husserls überaus positive Anerkennung des ›Sinnhaften Aufbaus‹ (GA 3: 11; Wagner 1984: 180). Grathoff (1978: 76) hat zu dieser Position die Gegenthese formuliert, welcher zufolge Schütz’ Programm letztlich überhaupt nicht den transzendentalphänomenologischen Rahmen verlasse. Die eingehende Auseinandersetzung mit der hier nur skizzierten Grundproblematik müssen wir uns aus den genannten Gründen zunächst aufsparen.

5. ›Mitwelt‹, ›Vorwelt‹, ›Folgewelt‹ Um Schütz’ Bild der Konstitution der Struktur der Sozialwelt im sinngebenden Bewusstsein abzurunden, sollen im Folgenden die drei Sphären der ›Mitwelt‹, ›Vorwelt‹ und ›Folgewelt‹ vorgestellt werden. Im Vordergrund stehen hier die jeweiligen Abgrenzungskriterien, auf Grund deren Schütz zu einer entsprechenden Differenzierung kam. Es wird sich dabei zeigen, dass Schütz sich bei der Explikation dieser sozialen Regionen eng an das zeitphilosophische Begriffsrepertoire, das er im Rahmen der Analyse des Fremdverstehens entwickelt und zur Beschreibung der ›umweltlichen Wirbeziehungen‹ verwendet hatte, anlehnte. Unser Aufmerksamkeitsfokus wird sich wiederum auf etwaige Spannungsmomente richten, die sich aus der (lebens)praktischen Stellung des Subjekts in der Welt heraus ergeben könnten. Entsprechend seines mundanphänomenologischen und konstitutionsgenetischen Ausgangspunktes, behandelte Schütz diejenigen Weltbezüge, die jenseits der unmittelbaren Umwelt bestanden, nicht als strikt voneinander getrennte Sinnregionen im Bewusstsein, sondern ließ diese vielmehr aus einander hervorgehen. Damit rückte, wie bereits angedeutet, die Sinnkonstitution in den ›Duerlebnissen‹ ins Zentrum von Schütz’ Theorie der Sinnkonstitution. Alle weiteren Erlebnisweisen der ›Welt‹ seien in den Er-

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fahrungen des »Lebens im reinen Wir« (ASW II: 333) fundiert. So stelle sich etwa das Übergehen von der Erlebnissphäre der zeitlich-räumlichen Unmittelbarkeit zur so genannten ›Mitwelt‹, in welcher alter Ego nicht mehr leiblich anwesend ist, als ein »Abnehmen der Symptomfülle« und eine »Verkleinerung des Spielraums der Auffassungsperspektiven, in welchem mir das Du gegeben ist« (ebd., 331), dar. Gleichwohl werde der Verlust der Unmittelbarkeit seitens der Akteure keineswegs als problematisch empfunden, da die vergangenen Erlebnisse mit alter Ego in anderen Bewusstseinsschichten sedimentiert wurden und »alle Merkmale und Wesenseigentümlichkeiten des Umweltlichen« (ebd., 333) jederzeit aktualisiert werden könnten. In intentionalitätstheoretischer Hinsicht bestimmte Schütz den Unterschied darin, dass nunmehr der von Ego und alter Ego gemeinsam geteilte Dauerablauf unterbrochen und somit eine Abgleichung und Kontrolle der wechselseitigen Deutungsweisen und Sinnzusammenhänge inhibiert war. Das Wissen um die Auffassungs- und Einstellungsweisen von alter Ego ist kein erlebtes mehr, sondern lediglich ein »phantasiertes« (ebd., 335) und »mittelbares« (ebd., 337) Wissen. Das ›Du‹ in dieser Einstellung bezeichnete Schütz als »Nebenmensch« (ebd.). Die Bewusstseinserlebnisse von alter Ego, so folgerte Schütz, seien nur noch »in typisierender Erfassung zugänglich« (ebd., 338). In der Regel vollziehe sich dieser Akt im Rahmen der mitweltlichen Erfahrung durch Übertragung des aus der vormaligen ›umweltlichen Beziehung‹ gewonnen Wissens auf den ›Nebenmenschen‹ (ebd., 339). Dieses selbst erfahrene Wissen werde, so Schütz, »invariant gesetzt« (ebd.). Entsprechendes gelte auch für die Konstellation, in welcher Ego nicht persönlich mit alter Ego interagierte, sondern über Dritte Wissen von alter Ego vermittelt bekam. Hier vollziehe sich die Konstitution der ›Mitwelt‹ dann »über das Medium des Mitund Nachvollziehens einer durch ein umweltliches alter ego erfolgenden Invariantsetzungen von Bewußtseinserlebnissen seines vordem umweltlichen und nunmehr unseres mitweltlichen Du« (ebd., 339f.). Als eine dritte Variante einer ›mitweltlichen Wirbeziehung‹ erörterte Schütz schließlich die Erfahrung von Sachen und Vorgängen der dinglichen Welt, worunter er auch so vermeintlich unterschiedliche Begebenheiten wie soziale Institutionen, Kulturobjekte und Handlungsabläufe rechnete (ebd., 340). Für das auffassende Individuum erschienen auch diese Entitäten im gleichen Sinne wie Handlungen eines alter Ego als Zeugnisse für die Bewusstseinsabläufe ihrer Erzeuger. An dieser Stelle zeigt sich das Verwiesensein der ›mitweltlichen Erfahrung‹ auf diejenigen in der ›umweltlichen Wirbeziehung‹ getätigten Erlebnisse am deutlichsten, denn »Hätte ich nicht umweltliche Erfahrung von der Auflösbarkeit des fertig Konstituierten in den schrittweise es konstituierenden Ablauf, so vermöchte ich die Sache oder den Vorgang der Außenwelt niemals als mitweltliches Erzeugnis zu interpretieren« (ebd.). Wir sehen, dass der für Schütz im Weiteren zentrale Vorgang der ›Typisierung‹ seine bedingende Vorausset-

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zung in demjenigen Erlebniszusammenhang findet, innerhalb dessen wir mit Anderen im Modus des aktuellen ›Mit-erlebens‹ begriffen sind. Insofern können wir hier abermals die Argumentationsfigur des Primates des praktischen Erlebens vor dem Denken konstatieren. Die im Nachfolgenden zu explizierenden »Idealisierungen«, durch welche sich das Subjekt den Sinn desjenigen Erfahrungsraums, der jenseits seiner unmittelbaren Beeinflussung steht, erschließt, haben ihr Fundament schließlich in der ›unmittelbaren Erfahrung‹. Dies gilt es im Nachfolgenden zu skizzieren. Im Gegensatz zu der Fremderfahrung im Modus der ›umweltlichen Wirbeziehung‹, ist eine Erfassung des spezifischen subjektiven Sinnzusammenhangs, in welchem die Handlungen von alter Ego stehen, aufgrund der zeit-räumlichen Distanz unmöglich. Sowohl die fremde Person als auch deren Sinnzusammenhang werden daher als »typische fremde Be27 wußtseinserlebnisse erfaßt« (ebd., 342). Als solche sind sie »prinzipiell homogen und iterierbar« (ebd.), d.h. von allem Kontext losgelöst. Sie werden von Ego auf der Grundlage seiner eigenen Bewusstseinserlebnisse zu 28 einem Idealtypus synthetisiert. Sie haben den Effekt der ›Anonymisierung‹ der ›Mitwelt‹, die insofern im Gegensatz zur konkreten ›Umwelt‹ 29 steht. Nach diesem Muster der Idealtypenkonstruktion arbeite auch die Ausdeutung der »Vorwelt« (ebd., 344). Die Haupteigenschaft, welche der ›Vorwelt‹ im Gegensatz zu ›Um‹- und ›Mitwelt‹ von Schütz zugeschrieben wurde, bestand darin, dass sie »wesensmäßig abgelaufen und vergangen, und zwar ›durch und durch‹ vergangen« (ebd., 377) sei. Das reflektierende Bewusstsein richte sich in dieser Einstellung auf vergangene Erlebnisse, entweder um das Erlebnis in seinen Einzelphasen selbst zu reproduzieren oder um das Erinnerte »in einem Blickstrahl« (ebd., 376) einzufangen. Reproduziert werden könnten Erlebnisse der sozialen ›Umwelt‹ und ›Mitwelt‹, denen man im Modus der Erinnerung allerdings in anderen ›attentionalen‹ Einstellungen zugewendet ist als in der jeweiligen Echtzeit. Diese spezifische ›Modifikation‹ werde dadurch bedingt, dass die erinnerten Erlebnisse nicht mehr den Charakter der Offenheit im Hinblick auf Erfüllung oder Nichterfüllung der Entwürfe aufwiesen, da die entsprechen27 Schütz unterschied zwischen ›personalem‹ Idealtypus und ›materialem‹ bzw. ›Ablauftypus‹ (ASW II: 347). 28 In Anlehnung an Husserl sprach Schütz von einer »Synthesis der Rekognition« (ASW II: 342). 29 Schütz’ Beschreibung der Objektivität der ›Mitwelt‹ ist nicht in dem Sinn zu verstehen, wie sie gemeinhin in der Soziologie – in der Gefolgschaft Durkheims – aufgefasst wird, also im Sinne einer mit dinghaftem Charakter ausgestatteten, subjektunabhängigen Entität, die einen zwingenden Einfluss auf die Akteure ausübt. Bei Schütz stand das Prädikat ›objektiv‹ nicht in diesem strengen Gegensatz zum ›subjektiven‹ Bereich des Denkens und Handelns, vielmehr war die Objektivität der Welt überhaupt nur möglich aufgrund subjektiver Vorerfahrungen und deren Synthetisierung zu Idealtypen.

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den Handlungen bereits abgelaufen seien (ebd.). Somit gäbe es im konkreten Verhalten der ›Vorwelt‹ »nichts, was unbestimmt wäre, bloß dahinstünde, erfüllt oder nicht erfüllt werden könne« (ebd., 377). Das (erinnerte) Entworfene trage entsprechend den absoluten Zeitcharakter des »modus praeteriti« (ebd., 376). Das aktuelle ›Jetzt und So‹ bedinge ebenso eine besondere Reflexionseinstellung bzw. ›attention à la vie‹ und zeitige damit die gleichen Konsequenzen wie sie oben für die Fremdeinstellung im Allgemeinen erläutert wurden. Für das ›vorweltliche‹ Erleben gilt folglich in noch höherem Maße wie für das ›mitweltliche‹, dass es vom konkreten praktischen Bezug zum aktuellen Fremdwirken abgekoppelt und – wie Schütz es ausdrückte – »von einer echten Sozialbeziehung« weit entfernt ist (ebd., 378). Die sich hier manifestierenden Ausrichtungen auf das alter Ego sind entsprechend einseitig, wie Schütz am Beispiel eines Testaments aufzeigte, bei welchem der Erblasser sein Verhalten zwar an dem künftigen Verhalten des Erben orientiert, aber letzteres nur als fremdbewirktes Verhalten wieder auf das Verhalten des Erblassers rückbezogen sei (ebd.). Im Sinne dieser sinnbezogenen Einseitigkeit verstand Schütz das ›vorweltliche‹ Leben als »nicht frei« (ebd., 377). Als »absolut unbestimmt und unbestimmbar« dagegen beschrieb Schütz schließlich – und nur in aller Kürze – die ›Folgewelt‹ (ebd., 386). Hier orientiere sich die reflexive Aufmerksamkeit überhaupt nicht an irgendwelchen Vorerfahrungen, sondern ausschließlich daran, »daß es Folgewelt überhaupt gibt« (ebd.). Jene Akte der Synthetisierungen aus vorangegangenen Erfahrungen unterblieben hier vollständig, weil das Bewusstsein prinzipiell nur auf die offene Zukunft orientiert sei. Ein Erleben dieser Sozialsphäre könne nur dort stattfinden, »wo unsere Umwelt und Mitwelt als Folgewelt interpretiert werden kann, weil sie uns überleben wird« (ebd., 387). Resümieren wir die Deduktions- und Konstitutionslogik der hier erörterten Sinnsphären in der ›Wir-Beziehung‹, so ist vorerst eine von der ›Mitwelt‹ zur ›Folgewelt‹ zunehmende Distanz zu den unmittelbaren Erlebniszuwendungen in der ›umweltlichen Beziehung‹ zu Anderen festzustellen. Während sich das Subjekt im ›mitweltlichen‹ Erleben mit der Auffüllungen der, aufgrund der Abstinenz von alter Ego entstandenen, Wissenslücken unter Rückgriff auf vorangegangene Erfahrungen, die in tieferen Bewusstseinsschichten sedimentiert sind, behilft, sind die Konstruktionsvorgaben im Falle der ›vorweltlichen‹ Reflexion einförmig und im ›folgeweltlichen‹ Erleben inexistent. Entsprechend unterschieden werden müssen die den jeweiligen Fremdeinstellungen zugrunde liegenden ›attentionalen Modifikationen‹ und Aufmerksamkeitshaltungen gegenüber dem alter Ego. Schütz’ Beschreibungskategorien entstammen, wie gesehen, den auf der egologisch fundierten Theorie des Fremdverstehens angewandten zeitphilosophischen Bestimmungen. Sozialpragmatische Grund-

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motive der Weltkonstitution werden ausschließlich für die ›umweltliche Wirbeziehung‹ expliziert und spielen in der Zuwendung auf ›Mit‹-, ›Vor‹und ›Folgewelt‹ offenbar keine resp. eine über die ›umweltlichen‹ Erfahrungshorizonte vermittelte Rolle. Die im vierten Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ entwickelte Strukturanalyse der Sozialwelt beanspruchte noch keineswegs, den Gegenstand der Sozialwissenschaften per se begründet zu haben. Vielmehr ist diese Analyse insofern als ›proto-soziologisch‹ anzusehen, als sie die elementaren Kriterien, die eine Ein- und Abgrenzung des sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereiches ermöglichen sollten, bereitstellte. Erinnert sei hier an Schütz’ plastischer Schilderung der zeitgenössischen Varianten sozialwissenschaftlicher Gegentandsbestimmungen aus dem ersten Abschnitt (ebd., 90ff.), um die von Schütz empfundene Dringlichkeit der Lösung des Gegenstandsproblems nachvollziehbar zu machen. Es gilt also im weiteren Verlauf dieses Kapitels, die wissenschaftstheoretische und methodologische Gestalt, die Schütz den Sozialwissenschaften gegeben hatte, zu identifizieren.

S c h ü t z ’ s o z i a lw i s s e n s c h a f t l i c h e M e t h o d i k In den vorausgegangenen Abschnitten hatten wir uns primär der Aufgabe gewidmet, die philosophischen Grundansätze und Konzepte zu bestimmen, welche die Sozialwissenschaften mit einem wissenschaftstheoretisch tragfähigen Fundament ausstatten sollte. Als Fazit dieser Untersuchung kann vorläufig festgehalten werden, dass Schütz die zahlreichen begrifflichen Anleihen bei Husserls Phänomenologie in ein lebensphilosophisch30 pragmatistisches Korsett gebettet hatte, wobei hierbei die Anleihen den Denkgebäuden Bergsons und Schelers entnommen wurden. Auf welche Weise Schütz diese eigentümliche philosophische Bausubstanz zur Errichtung und Zementierung der Architektur des soziologischen Disziplingebäudes einsetzte, gilt es nun eingehender zu entfalten. Im fünften Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ adressierte Schütz explizit die Frage nach dem Verhältnis der Sozialwissenschaften zu ihrem Gegenstand. Als Aufgabe der ›verstehenden Soziologie‹ definierte er vorab die »Beschreibung der Sinndeutung- und Sinnsetzungsvorgänge, welche die in der Sozialwelt Lebenden vollziehen« (ebd., 438). Damit stellte Schütz in seiner Definition eindeutiger als Weber heraus, dass der eigentliche Grundbegriff der Soziologie nicht das äußere Handeln war, sondern der innere Sinn, auf den sich individuelle Akteure dabei bezogen. Die me30 Die geistige Nähe zwischen Lebensphilosophie und amerikanischem Pragmatismus (in der Prägung von William James) ist allgemein bekannt. Siehe etwa Farshim (2002: 194).

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thodologische Problematik, die in dieser Festlegung enthalten war, hatte – wie Schütz anerkannte (ebd., 404) – Weber bereits antizipiert, nämlich, dass der ›subjektiv gemeinte Sinn‹ der Akteure bestenfalls indirekt erschließbar war. Die Idealtypenlehre hatte bei Weber als theoretisches Scharnier fungiert, das zwischen den beiden getrennten Sinnsphären, des erkennenden Subjekts einerseits und des diesem gegenüberstehen ›gemeinten‹ Sinns von alter Ego auf der anderen Seite, eine gewisse Verbindung herstellte – jedoch nicht im Sinne eines Zugangs zu den echten Handlungsmotiven der Akteure, sondern zu den ›objektiv wahrscheinlich‹ gemeinten Sinngehalten. Diese Grundfigur des ›Hiatus‹ zwischen ›Erkenntniswirklichkeit‹ und ›Erlebniswirklichkeit‹ war auch für Schütz’ methodologische Problembestimmung konstitutiv. Ähnlich wie Weber nahm auch er den »Unterschied zwischen wissenschaftlicher Erfahrung und Erfahrung des täglichen Lebens überhaupt« (ebd.) zum Hauptanlass seiner methodologischen Ausführungen. Im Rahmen seiner verstehenstheoretischen Überlegungen zum ›mitweltlichen Fremderleben‹ hatte er bereits die Logik der Typenkonstruktion ausgeführt. Hier legte er im Einzelnen dar, wie der Beobachter sich zur sinnvollen Deutung mitweltlicher Bezüge, die ihm nicht in unmittelbaren Selbsterlebnissen vermittelt waren, auf gedankliche Synthesen aus vorausgegangenen Sinndeutungen stützte. Die Situation des verstehenden Soziologen entspreche in phänomenologischer Hinsicht derjenigen des Akteurs in der Mitwelt (ebd.). Den Unterschied zwischen ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ markierte Schütz über den Umstand, dass der Wissenschaftler bei seinen Typenkonstruktionen von anderen Erfahrungskriterien geleitet sei als der Alltagsmensch. Während der Alltagsbeobachter auf subjektive Vorerfahrungen rekurriere, »ist der Erfahrungszusammenhang der Sozialwissenschaften ausschließlich auf positionale explizite Urteilsvollziehungen, auf konstituierte ideelle Gegenständlichkeiten, nämlich auf Denkergebnisse, niemals aber auf vorprädikative, in Selbsthabe erlebte Erfassungen eines alter ego gegründet« (ebd., 406).

In dieser Engführung der begrifflichen Konstruktionslogik in den Sozialwissenschaften kopierte Schütz abermals Webers Lösung, der vom Wissenschaftler die Berücksichtigung der allgemeinen »Normen unseres Denkens« (GAWL: 184) eingefordert hatte. Schütz instrumentalisierte in diesem Sinne die »formale Logik« als validierende Kontrollinstanz, die er als »Ur- und Grundschema der Wissenschaft, das Ausdrucksschema ihrer Aussagen und das Deutungsschema ihrer Explikationen« (ASW II: 406), auffasste. Schließlich resümierte er als das Thema aller Sozialwissenschaften, »einen objektiven Sinnzusammenhang von subjektiven Sinnzusammenhängen überhaupt oder von besonderen subjektiven Sinnzusammenhängen zu konstituieren« (ebd.). Auf die darin enthaltene Grundproblema-

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tik hinweisend, sprach er davon, »daß hier zwei gänzlich heterogene Tatbestände koordiniert werden« (ebd., 413). »Ist dies nicht eine Paradoxie?« (GA I: 40), fragte er an anderer Stelle. Wir erfahren in diesen Ausführungen, dass – wie Endreß deutlich hinweist – »die Mitwelt den alleinigen Gegenstand der Sozialwissenschaften bildet und diese lediglich durch Typen erfahrbar ist« (2000b: 377). Darüber hinaus zeigt sich, dass Schütz die Grundarchitektur von Webers sozialwissenschaftlicher Methodologie zunächst unmodifiziert adaptierte. Inwiefern die inhaltliche Ausgestaltung dieses Grundrahmens mit phänomenologischen und pragmatischen Gehalten zu einer Transformation der originären Gestalt der Weberschen ›verstehenden Soziologie‹ führte, soll nun diskutiert werden. Hierzu bietet es sich an, auf einige von Schütz’ späteren Aufsätzen zurück zu greifen, da hier viele der Lösungsansätze, die im ›Sinnhaften Aufbau‹ nur angedeutet und recht eng an Webers Beschreibungen gehalten wurden, in ausführlicherer Form ausgebreitet sind. Im ›Sinnhaften Aufbau‹ knüpfte Weber zunächst ausführlich an Webers Postulaten nach ›Kausaladäquanz‹ und ›Sinnadäquanz‹ der idealtypischen Begriffskonstruktionen an, hinter welchen sich die allgemeine Forderung verbarg, die subjektiven Begriffsbildungen in Abstimmung mit so genannten ›Erfahrungsregeln‹ zu formulieren: »Die Idealtypen der sozialen Welt müssen also in der Sozialwissenschaft so konstruiert werden, daß sie einerseits den empirischen Fakten [...] nicht widerstreiten und andererseits das [...] Postulat nach Herbeiführung eines begründeten wohlmotivierten Sinnzusammenhangs erfüllen« (ASW II: 407).

Gleichzeitig beschwerte sich Schütz bei Weber darüber, dass »recht unklar« bleibe, was derartige »›durchschnittliche Denk- und Gefühlsgewohnheiten‹« (ebd., 420) seien, die den sozialwissenschaftlichen Konstrukten als Orientierung herhalten sollten. Letztlich genüge es, so Schütz, »wenn ich annehme, daß die von mir entworfene idealtypische Konstruktion für den so Handelnden in einem Sinnzusammenhang steht« (ebd., 421). Damit erklärte Schütz Webers methodologische Strategie, gegenüber dem drohenden Subjektivismus die wissenschaftlichen Begriffskonstruktionen in zweifacher Hinsicht an das praktische ›Erfahrungswissen‹ anzubinden, nämlich sowohl als Fundierungs- als auch Kontrollinstanz, für unpraktikabel. Weitere Hinweise geben Aufschluss darüber, dass Schütz die, letztlich auch noch Webers Grundkonzeption strukturierende und von Rickert geerbte, Theorie/Praxis-Dichotomie radikalisierte oder zumindest konsequenter ausgeführt hatte. Hierfür spricht u.a. etwa Schütz’ Anmerkung, »daß der Sozialwissenschaft als solcher wesensnotwendig keine Umwelt vorgegeben ist. Die Welt der Sozialwissenschaft ist eben nicht die Welt des Sozialwissenschaftlers, welcher freilich immer auch in umweltlichen Sozialbezügen steht« (ebd., 404). Bestätigt wird dieser Befund auch

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von den Ergebnissen der Analysen von Endreß und Renn (2004: 31ff.), die Schütz’ Methodologie als eine Radikalisierung des methodologischen Individualismus interpretieren. Verschiedene Autoren haben diesen Charakterzug von Schütz’ Fundierungsprogramm in Abgrenzung zu Husserls Fundierungstheorie betrachtet und in diesem Sinne als einen Rückschritt beschrieben. So formulierte Valone im Hinblick auf Husserls Streben nach einer Lösung der ›Krise des Wissens‹ die Frage: »Has not Schutz’s theory reinforced this crisis by advocating the kind of scientific conceptualization which is dictated not by the interests and rationality of the particular scientific enterprise?« (1976: 201) Statt auf die Wissenschaftslogik, so forderte Valone, sollten die sozialwissenschaftlichen Konstruktionen auf den Rationalitätstypen »of a given society and the actions within that society« (ebd., 209) begründet wer31 den. Bevor hierzu ein abschließendes Urteil gesprochen werden kann, sollen zunächst Schütz’ methodologische Postulate selbst betrachtet werden, die er in späteren Arbeiten entwickelte. In verschiedenen Einzelabhandlungen, die in den ›Gesammelten Aufsätzen‹ ediert wurden, konzeptualisierte Schütz das Verhältnis zwischen Alltagswelt und wissenschaftlicher Einstellung mit größerem theoretischem Aufwand als noch im ›Sinnhaften Aufbau‹. In der Sprache der darin eingeführten neuen Nomenklatur, ging es nun darum, den Gegensatz zwischen Alltagskonstruktionen bzw. ›Konstruktionen erster Ordnung‹ auf der einen und den wissenschaftlich produzierten ›Konstruktionen zweiter Ordnung‹ auf der anderen Seite, zu theoretisieren. Bei diesen handele es sich um Konstruktionen »von ganz anderer Art« (GA I: 45) als jene Fremdeinstellungen, mit denen auch der Soziologe als Alltagsmensch mehr oder weniger vertraut sei. Schütz etablierte eine strenge Theorie/PraxisDichotomie auf der erkenntnistheoretischen Ebene des Erkenntnissubjekts, indem er es – anders als Weber – für praktikabel und opportun erachtete, die eigenen subjektiven Wissensvorräte zu neutralisieren und dadurch, gewissermaßen im selben Moment, zum ›Wissenschaftler‹ zu mutieren, dass er sein persönliches Relevanzsystem durch dasjenige der Wissenschaft ersetzte. Nicht nur Weber, sondern auch Simmel und erst recht Mannheim, die gleichfalls Advokaten einer ›verstehenden Soziologie‹ waren, hielten eine vollständige Ausschaltung der eigenen Person im Akt der Erkenntniskonstitution für utopisch. Vor dem Hintergrund dieser rigorosen Scheidelinie zwischen ›wissenschaftlicher‹ und ›mitweltlicher‹ Einstellung erscheint jeglicher Anspruch auf Abgleichung von ›Idealtyp‹ und ›Realtyp‹ von vornherein widersinnig. Doch Schütz’ Postulate der ›subjektiven Interpretation‹, der ›Adäquanz‹ und der ›logischen Konsistenz‹ scheinen exakt auf die Ermöglichung die31 Dass diese Forderung das – zumindest implizit artikulierte – Anliegen Webers wiederholte, übersieht Valone (1976: 209) allerdings.

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ser Vergleichung hinauszulaufen. Explizit verlangte Schütz hier, dass »die gedanklichen Gegenstände der Sozialwissenschaften mit denen vereinbar bleiben, die von Menschen im Alltag gebildet werden« (ebd., 49). Diese Korrespondenz sei nur dann wirklich gewährleistet, wenn die wissenschaftlichen Modellkonstruktionen folgende drei Kriterien erfüllten: (1) Gemäß dem Postulat der ›logischen Konsistenz‹ sollten diese einen »höchstmöglichen Grad an Klarheit« im Sinne der Formallogik aufweisen. Dadurch, so folgerte Schütz, sei die »objektive Gültigkeit« (GA I: 49) der sozialwissenschaftlichen Gebilde gesichert. (2) Darüber hinausgehend verlangte das Postulat der ›subjektiven Interpretation‹, »daß jede wissenschaftliche Erklärung der sozialen Welt auf den subjektiven Sinn des Handelns menschlicher Wesen [...] verweisen kann und dies für bestimmte Zwecke muß« (ebd., 72). In dieser Bestimmung ist ausschließlich thetisch die Forderung erhoben, dass die wissenschaftlichen Modelle »einen Bezug auf den subjektiven Sinn des Handelns für den Handelnden aufweisen« (ebd.), jedoch keineswegs ein konkreter Verbindungsweg zwischen den beiden strikt getrennten Sinnsphären angebahnt. Eine Lösung verhieß vielmehr das folgende Postulat. Dass die Forderung aus (1) nach Objektivität in gewissem Widerspruch mit derjenigen nach Subjektivierung der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse stand, hatte Schütz im Übrigen selbst bemerkt (ebd.). (3) Das Postulat der Adäquanz ordnete an, dass jeder Begriff in einem wissenschaftlichen Modell so konstruiert sein müsse, »daß eine innerhalb der Lebenswelt durch ein Individuum ausgeführte Handlung, die mit der typischen Konstruktion übereinstimmt, für den Handelnden selbst ebenso verständlich wäre wie für seine Mitmenschen« (ebd., 50). Wie dieses Ziel unter den Prämissen, dass der beobachtende Wissenschaftler seine subjektiven Vorerfahrungen nicht zum Zwecke der Begriffsbildung aufgreifen darf und allein das »wissenschaftliche Problem« (ebd., 48) das Relevanzsystem des konstruierten ›Humunculus‹ determinieren soll, verwirklicht werden kann, erschließt sich aus Schütz’ Darstellung durchaus nicht. Insgesamt, so können wir resümieren, spiegelt sich in Schütz’ Objektivitätskriterien jene zuvor angedeutete Spannung zwischen der Radikalisierung des methodologischen Individualismus, welche mit einer Entkontextualisierung des wissenschaftlichen Erkenntnissubjekts einherging, auf der einen Seite und dem bereits von Weber eingeforderten logischen Adäquanzanspruch, wider. Schütz’ Darstellung beließ die zentrale Fragestellung, durch welche Fäden die beiden Sinnebenen des Alltags und der Wissenschaft überhaupt zusammen gehalten werden – jene Problematik, die Weber durch eine lebensphilosophisch-hermeneutische Fundierung der ›Wissenschaftslehre‹ auffangen wollte – völlig im Dunkeln. Dieser Hypothese würde sicherlich auch Welz zustimmen können, der in Übereinstimmung zu unserem Befund formulierte, dass Schütz daran scheiterte zu zeigen, »wie die verlangte Konsistenz der ›wissenschaftlichen Konstruktio-

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nen zweiter Stufe‹ mit ihrem Gegenstand, den ›Konstruktionen erster Stufe‹, überprüft werden kann« (1996: 139). Im Hinblick auf das Gesamtunterfangen der Fundierung der Sozialwissenschaften stellt sich nun berechtigter Weise die Frage, auf welchem theoretischen Untergrund diese nun aufruhen sollten. Schütz’ erster Schritt der Mundanisierung von Husserls transzendentalem Ego hatte zur Folge, dass der phänomenologische Lösungsweg im Sinne Husserls – nämlich das Ausgehen von einem phänomenologisch reduzierten Bewusstsein – von vornherein abgeschnitten war. Gleichwohl übernahm er die argumentationstheoretische Struktur der Phänomenologie und übertrug einem mundanen Ich diejenige Begründungslast, die in der Phänomenologie das absolute Ich zu tragen hatte (vgl. Costelloe 1996: 252f.; Welz 1996: 140ff.; Endreß/Renn 2004: 44). In diesem Vorgehen überblendete Schütz nicht nur die Konsequenz, dass er sich von einem phänomenologischen Grundlegungsansatz de facto verabschiedet hatte – worin ihm der Großteil der Interpreten gefolgt war (vgl. Welz 1996: 176) –, sondern trieb darüber hinaus, so Welz, »die Egologie indes auf die Spitze« (ebd., 171). Der aporetische Widerspruch manifestierte sich in der formaltheoretischen Überforderung der Subjektkategorie bei gleichzeitiger inhaltlicher Entleerung von allen lebenspraktischen Bezügen. In dieser Konstellation ist zugleich die Ursache zu sehen, weshalb diejenige theoretische Alternative, auf die Max Weber – eher implizit als explizit – zurückgreifen konnte, im vorliegenden Fall ausschied. Gemeint ist damit diejenige Ausweichstrategie, die wir oben – sowohl für Weber als auch Simmel – als eine Empirisierung und Verlebendigung des erkenntnistheoretischen Subjekts beschrieben haben, und die sich bei den Gründervätern der modernen deutschen Soziologie in der Bezugnahme auf hermeneutische Argumentationsfiguren manifestierte. Schütz verstellte sich dieser Lösungsalternative dadurch, dass er, darin in diametralem Gegensatz zu Weber, die neukantianische Scheidelinie zwischen Theorie und Praxis resp. zwischen Wissenschaft und Leben ra32 dikalisierte. Zwar prätendierten seine Objektivitätskriterien den Ausweis eines Zusammenhangs zwischen Konstruktionen ›erster‹ und ›zweiter Ordnung‹, doch boten seine methodologischen Aufschlüsse zugleich keinerlei konkrete Vermittlungsideen auf. Der zuletzt explizierte Grundzug deutet nun auf diejenige philosophische Quelle hin, für welche eine strikte Separierung von Wissenschaft und Leben bezeichnend war, nämlich den Neukantianismus. Mit diesem stimmte Schütz insbesondere darin überein, dass ontologischen Begebenheiten bei der Konstitution des wissenschaftlichen Wissens keine Beachtung zugemessen werden solle. Die Konsequenz war entsprechend eine ra32 Auf diese Weise brachte sich Schütz abermals in Gegenposition zu Husserl, dessen erklärtes Ziel u.a. darin bestand, die klassisch cartesisch-kantische Subjekt-Objekt – Spaltung zu überwinden. Vgl. dazu abermals Welz (1996: 140).

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dikale »Wissenschaft des Subjektiven« (Natanson 1970: 113). Inwiefern Welz’ Behauptung, dass »Schütz’ epistemologische Position (in ihren Grundzügen) neukantianisch (ist)« (1996: 155), zutrifft, muss zwar vorerst dahingestellt bleiben – zumal Welz’ Kriterien zu grob gefasst sind, um diese These wasserdicht zu halten. Als neukantianisch sind höchstens die ausgangstheoretischen Grundfundamente klassifizierbar, auf denen das sozialwissenschaftliche Denkgebäude aufruhte, jedoch kaum die methodologischen Ausführungen, deren Abstammung von Webers Idealtypenlehre unwiderlegbar ist. Welz’ (ebd., 141ff.) These wäre vielleicht berechtigt, wenn es angebracht wäre, Webers ›Wissenschaftslehre‹ uneingeschränkt als neukantianisch zu qualifizieren. Da Welz jedoch zum einen die Nebenquelle, aus welcher die ›Wissenschaftslehre‹ neben dem Neukantianismus schöpfte, verkennt und somit zum anderen auch das radikalisierende Moment in Schütz’ Methodenlehre im Vergleich zur Weberschen übersieht, das in der Subjektivierung der Idealtypenkonstitution besteht, erscheint es zu vorschnell, wenn er in Bezug auf Schütz’ Methodenlehre im gleichen Sinne wie bei Weber von empiristischen Grundmotiven spricht (ebd., 142f.). Die Verwandtschaft zum (Badischen) Neokantianismus ist am deutlichsten in Schütz’ methodologischem Begriffskonstruktivismus zu sehen, welcher an Rickerts ›Begriffsbildungsphilosophie‹ gemahnt. Doch reicht auch diese Parallele kaum hin, um berechtigter Weise von einer neukantianischen Position bei Schütz zu sprechen, da er – wie gesehen – keine weiteren philosophischen Anstrengungen unternahm, um dem Prozess der Modellkonstruktion eine solide methodologische Basis zu geben – weder eine empiristische (Weber), noch eine werttheoretische (Rickert). Das Resultat hat Welz prägnant resümiert: »Für Schütz ist Wissenschaft Konstruktion. Für ihn gibt es keinen absolut sicheren Fixpunkt des Wissens. Es gibt nur einen Absolutismus des Entwurfs« (ebd., 141). Wir kommen folglich auf der Grundlage der Rekonstruktion von Schütz’ sozialwissenschaftlicher Methodenlehre nicht zu einer eindeutigen Bestimmung ihrer philosophischen Natur. Am adäquatesten erscheint das Prädikat des Konstruktivismus, welcher jedoch im radikal subjektivistischen Sinne verstanden und von den verschiedenen, in der aktuellen kultur- und geisteswissenschaftlichen Begriffslandschaft umher spukenden, Varianten wie Sozialkonstruktivismus oder radikaler Konstruktivismus, 33 abgegrenzt werden muss. Ebenso wenig darf Schütz’ Version mit einem phänomenologisch deduzierten Konstruktivismus (ebd.) oder einem empirisch gesättigten Konstruktivismus nach dem Vorbild Simmels und Webers konfundiert werden. Es darf mit einigem Recht in Frage gestellt werden, ob die methodologische Begründung der Sozialwissenschaften auf einem sinn- und erfah33 Eine gute Übersicht über diverse Spielarten des Konstruktivismus gibt Schneider (2005).

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rungsentleerten Subjektbegriff der angemessene Ausgangspunkt zur Erfassung sozialer Interaktionen darstellt. Die Auffassung, dass Schütz’ Grundlegungsstrategie nicht nur gegenüber Husserl, sondern auch gegenüber den erfahrungsnäheren Ansätzen Simmels und Webers einen »Rückschritt« 34 (Gadamer) bedeutet, erhält vor diesem Hintergrund einiges Anrecht. Diese Konsequenz ist insofern durchaus überraschend, weil Schütz die philosophischen Mittel zur Abwendung eines radikalen Subjektivismus – in Form einer Intersubjektivitäts- und Verstehenslehre – durchaus parat gehabt hätte. Aus welchen Gründen diese in Rahmen seiner Methodenlehre der Sozialwissenschaften keine Berücksichtigung fanden, bleibt wohl letztlich Schütz’ Geheimnis. Somit zeichnet sich das Bild ab, dass die lebensphilosophisch-pragmatistischen Theoreme, welche Schütz zur Fundierung der Intersubjektivität im dritten Abschnitt funktionalisiert hatte, unvermittelt dem Subjektivismus der soziologischen Methodenlehre gegenüber stehen. Um endgültigen Aufschluss über die philosophischen Grundlagen, auf welchen Schütz die Sozialwissenschaften stützen wollte, zu erhalten, wollen wir uns zu guter Letzt dessen Spätwerk bzw. seinem Projekt der Entschlüsselung der ›Strukturen der Lebenswelt‹ zuwenden.

D i e B e g r ü n d u n g d e r › L e b e n sw e l t ‹ Jede Darstellung, welche Schütz’ ›Wende zur Lebenswelt‹ im Rahmen einer Ausleuchtung seiner Theorie der Wissensfundierung übergeht, kann dem Autor nicht gerecht werden und würde die Sachlage entscheidend verzerren – zumal es sich bei der Lebenswelttheorie, wie bereits angedeutet, in den Augen vieler Interpreten um das Zentrum seines Denkens handelte. Gleichwohl ging aus den veröffentlichten Arbeiten zur Lebensweltproblematik keineswegs eindeutig hervor, in welchem Verhältnis jene Lebensweltbeschreibung, die ja bereits im ›Sinnhaften Aufbau‹ angegangen wurde, zur methodologischen Programmatik der Schützschen Sozialwissenschaften zu setzen ist. Welche Konsequenzen hat Schütz’ Weiterführung und Intensivierung der Lebensweltanalyse im Hinblick auf seine Lösung der sozialwissenschaftlichen Fundierungsproblematik? – muss hier die entsprechende Fragestellung lauten. Luckmann, einer der besten Kenner dieser Thematik, interpretierte die Phänomenologie der ›Lebenswelt‹ – und nicht Schütz’ eigentliche ›konstruktivistische Methodologie‹ – als das grundlagentheoretische Hauptvermächtnis seines Lehrers und als diejenige philosophische Theorie, wel34 Dass es sich hier weniger um »an attempt at epistemological and methodological foundation« als um »a codification of current research procedure« handelte, wurde schon von Peritore (1975: 137) erschlossen.

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che den Sozialwissenschaften in Form einer »mathesis universalis für die soziale Wirklichkeit« (1980b: 49) die fehlende Grundlage bereitstellen sollte. Eine schärfere Abgrenzung zu Schütz’ Lösungsweg im ›Sinnhaften Aufbau‹ zog Grathoff, der in dessen Zuwendung zur ›Lebenswelt‹ eine »neue epistemische Themenstellung der Soziologie« (1995: 47) und eine »Wende im Schützschen Werk« (ebd., 48) sieht. Ob die von diesen beiden prominenten Epigonen der Schützschen Theorie geäußerten Positionen, welcher zufolge Schütz’ Lebenswelttheorie dazu geeignet und intendiert war, die sozialwissenschaftliche Grundlagenproblematik einer Lösung nä35 her zu führen , berechtigt sind, soll nun überprüft werden. Im Hinblick auf die oben dargelegte fundamentale Spannung zwischen der subjektivistischen Methodologie einerseits und den pragmatistischen Motiven in Schütz’ Erklärung der Sinnkonstitution im individuellen Bewusstsein auf der anderen Seite, lohnt die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung deshalb, weil mit der ›Lebenswelt‹ eventuell der »Bereich der Praxis« (SdL I: 42) ein stärkeres Gewicht innerhalb der Grundlegungssystematik zugewiesen bekam und von diesem Boden aus eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis potentiell realisierbar würde. In diesem Sinne anerkennt auch Welz Schütz’ »Bekenntnis zu einer zeitgemäßen sozialwissenschaftlichen Ontologie« (1996: 189), welche somit die subjektivistischen Ausgangspunkte seiner Methodologie überwinden würde. Dass jedoch theoretischer Selbstanspruch und praktische Ausführung sich nicht automatisch treffen müssen, haben wir in dieser Arbeit schon mehrfach erfahren, so dass auch hier entsprechende Vorsicht vor voreiligen Schlüssen walten soll.

1. Schütz’ ›Ontologisierung‹ der ›Lebenswelt‹ In dem bereits angesprochenen, abgebrochenen Manuskript ›Das Problem der Personalität in der Sozialwelt‹ kündigte sich ein in die angedeutete Richtung weisender Perspektivenwechsel von Schütz’ Theorie der Sinnkonstitution an. Nachdem er zunächst, in enger Anbindung an die Ausführungen im ›Sinnhaften Aufbau‹, die unterschiedlichen »Schichtungen der Sozialwelt« erläuterte und dabei nochmals akzentuierte, dass »Ich, der eine einheitliche Mensch mit seinem nur ihm eigenen kontinuierlichen Selbstbewusstsein, der Bezugspunkt für alle Fäden (bin), die sich bis an die Grenzen dieser Welt in vielfacher Weise erstrecken« (ASW V.1: 98), merkte er einschränkend an:

35 In diesem Sinne betrachtet auch Wagner die Analysen der Lebenswelt als »the theoretical foundations and the theoretical outlines« (1984: 183) der Soziologie. Wagner geht sogar noch weiter: »The life-world serves as source and foundation of philosophy and the sciences« (ebd., 184).

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»Aber ist es nicht voreilig, wenn ich mich, indem ich mich solcherart als Bezugspunkt meiner sozialen Welt betrachte, als den einen und einheitlichen Menschen bezeichne? Und bedarf nicht die Behauptung von dem nur mir eigenen kontinuierlichen Selbstbewusstsein einer sorgfältigeren Überprüfung?« (ebd.)

Schütz wollte sich hier offenbar von neuem dem »Wechselspiel zwischen eigenem und fremden Bewusstseinsleben« (ebd.), also der Intersubjektivitätsproblematik zuwenden. Dies belegt, dass Schütz bereits 1936 die Hoff36 nung, von der er im ›Sinnhaften Aufbau‹ noch ergriffen war , nämlich dass Husserl die Intersubjektivitätsproblematik lösen würde, bereits gänzlich aufgegeben zu haben scheint, so dass sich Schütz schließlich auf eine eigene Lösungssuche unter Zugrundelegung anderer Parameter besann. Wie Schütz’ Beschäftigung mit Husserl in den folgenden Jahren eindrücklich belegt, bildete sein wachsendes Unbehagen mit dessen Versuch einer transzendentalphilosophischen Begründung der Intersubjektivität der Welt den gewichtigsten Stein des Anstoßes für Schütz’ Skepsis (vgl. Srubar 37 1983; 1988: 254ff.; Wagner 1984; 1988). In seiner finalen Abrechnung mit Husserls Intersubjektivitätstheorie resümierte er das für seine eigene Position wesentliche Resultat wie folgt: »Es kann aber mit Bestimmtheit gesagt werden, daß nur eine solche Ontologie der Lebenswelt, nicht aber eine transzendentale Konstitutionsanalyse jenen Wesensbezug der Intersubjektivität aufzuklären vermögen wird, der die Grundlage sämtlicher Sozialwissenschaften bildet« (GA 3: 116).

Damit erklärt sich Schütz’ Bedürfnis nach einer Wiederaufnahme der Thematik des Fremdverstehens und der Intersubjektivität zu einem guten Teil aus der zunehmenden Empfindung, dass Husserls Phänomenologie im Hinblick auf die sozialwissenschaftliche Grundfrage nach dem Verhältnis von ›Bewußtsein‹ und ›Welt‹ bzw. ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ keine 38 Abhilfe schaffen würde. Nicht eine transzendentale Grundlegung, son36 Dies bezeugen insbesondere Schütz’ Verweise auf Husserls ›Cartesianische Meditationen‹, deren Erkenntnisse er im ›Sinnhaften Aufbau‹ noch nicht habe berücksichtigen können (ASW II: 117, 129, 219). Siehe dazu auch Wagner (1984: 182). 37 Nach seiner eigenen Darstellung resümierte Schütz in den beiden Abhandlungen ›Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität‹ (GA 3: 86-118) und ›Typus und Eidos in Husserls Spätphilosophie‹ (ebd., 127-152), die zu den letzten Arbeiten Schütz’ gehören, »das Resultat fünfundzwanzigjährigen Nachdenkens« (SGB 1985: 401). 38 An dieser Stelle können sei es erlaubt, einen kurzen Exkurs zu einem Theoretiker einzuschieben, der bereits zehn Jahre vor Schütz den Versuch unternommen hatte, die allgemeine Soziologie auf Husserls ›reiner Phänomenologie‹ zu fundieren. Da Kracauers Unterfangen in seiner Studie ›Soziologie als Wissenschaft‹ aus dem Gedächtnis der Gegenwart verschwunden ist, sie jedoch von ihrer thematischen Ausrichtung her unmittelbar in den vorliegen-

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dern eine mundan-ontologische Begründung der ›Lebenswelt‹ sollte die Fundierung der Sozialwissenschaften gewährleisten. In Schütz’ Adaption des Husserlschen Lebensweltkonzepts wiederholte sich jene semantische Umformung, die wir oben bereits als Mundanisierung des transzendentalen Ego resümiert hatten. Die theoretischen Hintergründe und Folgen dieser Intervention sollen zunächst genauer dargestellt werden. Ähnlich wie Schütz, verfolgte auch Husserl mit seiner ›Wende zur Lebenswelt‹ den Versuch, mit Hilfe einer »reinen Wesenslehre von der Lebenswelt« die Wissenschaft auf ein neues und spezifisches Fundament zu stellen (Hua VI: 144). Im obigen Kapitel zu Husserl hatten wir demonstriert, dass dieser ›Lebenswelt‹ als transzendentalen Begriff eingeführt hatte, der ausdrücklich in Opposition zur ›natürlichen Einstellung‹ gerichtet war. Es war geradezu die Haupterkenntnis der ›Krisis‹, wie Orth (1999: 140) zurecht betont, dass »der scharfe Schnitt bleibt zwischen dem transzendentalen Leben überhaupt, in dem eine reale Welt sich konstituiert als geglaubte, und dem natürlichen Leben, in dem das Ich eine Umwelt hat, sich ihr als Menschen-Ich einfügt« (Hua IX: 469). In diametralem Gegensatz zu Husserls Ursprungsintention definierte Schütz: »Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet« (SdL I: 25). Zu diesem Wirklichkeitsbereich rechnete Schütz materielle Gegenstände, Ereignisse, Handlungen, Gesten und Mitteilungen (ebd., 27). Der in argumentationstheoretischer Hinsicht eminenteste Wesenszug der Schützschen ›Lebenswelt‹ war jedoch in deren intersubjektiver Verfasstheit vorausgesetzt. Schütz wurde nicht müde herauszustellen, dass die ›Lebenswelt‹ »von Anbeginn intersubjektiv (ist)« (ebd., 38). Gegenüber Husserls gescheitertem Versuch der Begründung der Intersubjektivität deklarierte Schütz, »daß Intersubjektivität nicht ein innerhalb der transzendentalen Sphäre lösbares Problem der Konstitution, sondern eine Gegebenheit der Lebenswelt ist. Sie ist die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der den Zusammenhang gehört, erscheinen die folgenden Anmerkungen in doppelter Hinsicht angebracht. Er verstand seine Untersuchung als eine »Kritik jeglicher Immanenzphilosophie, vor allem aber des idealistischen Denkens« (1922: 7) und unternahm darin speziell den Versuch, »die Ergebnisse der allgemeinen Soziologie in den Axiomen der reinen Phänomenologie zu verankern«. Damit verband er zugleich die Hoffnung, dass sich dadurch »die Begründung der Soziologie vollenden (wird)« (ebd., 115). Das Resultat brachte dem jungen Kracauer jedoch Ernüchterung, da er resümieren musste, dass sowohl der von Kant ausgegangene Idealismus wie auch die Phänomenologie daran scheiterten, aus ihren »Erkenntnissen die soziale Gesamtwirklichkeit wieder soziologisch zu rekonstruieren« (ebd., 170). Kracauer weiter: »Die Unmöglichkeit einer vom Standpunkt des autonomen Ichs befriedigenden Durchführung materialer Soziologie hat denn auch die Auflösung dieser Wissenschaft in ein unentschiedenes Gemisch nebeneinanderherlaufender Erkenntnisreihen zur Folge« (ebd.). Siehe dazu auch Šuber (im Erscheinen).

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Welt« (GA 3: 116). Für Schütz erübrigte sich mit dieser Bestimmung eine umständliche egologische Konstitutionsanalyse des Fremderlebens nach der Vorgehensweise, die er selbst noch im dritten Abschnitt des ›Sinnhaf39 ten Aufbaus‹ beschritten hatte. Intersubjektivität wurde schlicht zu einem Grundphänomen des lebensweltlichen Erlebens erklärt und bedurfte folglich keines weiteren analytischen Ausweises. Frank Welz deutete die theoretischen Effekte von Schütz’ Ontologisierung der ›Lebenswelt‹ als eine »Verdinglichung der Erfahrung der eigenen Welt zur Kernstruktur aller« und eine »Verabsolutierung lebensweltlicher Strukturen« (1996: 202). Schütz’ (und Luckmanns) Grundanliegen der Generierung einer »allgemeinen Matrix der sozialen Welt« (Luckmann 1979: 204) wäre für Husserl ein »›nonsens‹« gewesen, weil er sie als einen »›nie stillhaltenden Fluß‹« erachtet habe, dessen Festlegung von vornherein zum Scheitern verurteilt sei (Welz 1996: 202). Schütz sei es nicht gelungen, so lässt sich Welz’ Kritik resümieren, supplementäre Konzepte bereitzustellen, welche zum einen die Genese als auch, zum anderen, die Wandelbarkeit der ›Lebenswelt‹, welche Husserl in der ›Krisis‹ auf der Basis eines transzendental-egologischen Zugangs beschrieben hatte, erfassen konnten. Schütz könne auf der Grundlage seiner theoretischen Apparatur lediglich ein »statisches Abbild aktualer Erfahrung« (ebd., 214) reproduzieren. Dem gegenüber steht diejenige Deutung, welche behauptet, dass Schütz die ›Lebenswelt‹ von einem »philosophisch-anthropologischen« (Srubar 1988: 276) Fundament her entwickelte. Der Kern von Schütz’ Aufnahme des Lebensweltkonzeptes wird hier darin gesehen, neben der »Wahrnehmungsebene«, aus welcher heraus Husserl die ›Lebenswelt‹ deduzieren wollte, eine ›dynamische Komponente‹ in die Theorie der ›Lebenswelt‹ integriert zu haben, so dass sich das Bild von der ›Lebenswelt‹ als eines zwei-poligen Aufbaus einstellt. Schütz’ Neuansatz komprimiere sich um das Motiv, »den subjektiven und intersubjektiven Pol der Lebenswelt aufeinander zu beziehen und zu einem Konstitutionsprozeß zusammenzufassen« (ebd., 263). Diese pragmatische Komponente in der Konstitution der ›Lebenswelt‹ habe Husserls Phänomenologie, so nun Schütz, in einer illegitimen Übertragung der Ergebnisse der Bewusstseinsanalyse auf die ontologische Ebene verdeckt, worauf er in einer viel zitierten Bemerkung hinwies: »Aber unter der Hand und geradezu unversehens wandelte sich, wie es mir scheint, die Idee der Konstitution von einer Aufklärung der Sinnstruktur, von der Auslegung des Sinns des Seins, in eine Begründung der Seinsstruktur und von einer Auslegung in eine Kreation« (GA 3: 117f.).

39 Vgl. hierzu die Darstellung bei Srubar, der in dieser Revision des früheren Standpunkts einen »Vorteil« ausmacht (1988: 263).

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Schütz schlug gegenüber Husserls Begründungsrichtung genau die entgegengesetzte Tendenz ein, indem er nun das »Primat des Pragma« im Prozess der Lebensweltkonstitution ins Zentrum stellen und damit den folgenden Zusammenhang demonstrieren wollte: »die Sozialität fundiert Subjektivität, nicht umgekehrt« (Srubar 1988: 266). Im Spannungsfeld dieser gegenläufigen Interpretationen von Schütz’ Adaption der Husserlschen Lebenswelttheorie sollen im folgenden Abschnitt diejenigen Konzepte entfaltet und analysiert werden, unter deren Zugrundelegung Schütz glaubte, eine Vermittlung zwischen subjektiven und intersubjektiven Konstitutionsmodi der ›Lebenswelt‹ anstellen zu können.

2. Pragmatik und Konstitution Die konzeptionellen Grundsteine für seine Theorie der ›Lebenswelt‹ legte Schütz, wie bereits angedeutet, in den erst posthum publizierten Ansätzen zu einer Theorie der Persönlichkeit und der Relevanz, auf deren Gewicht für eine Lösung der »Problematik des Verstehens von Sinn in der Sozialwelt« er selbst bereits am Schluss des ›Sinnhaften Aufbaus‹ hingedeutet hatte (ASW II: 439). Hier entwickelte Schütz eine pragmatistische Theorie der Konstitution der ›Lebenswelt‹ aus einer eingehenden Analyse des Verhältnisses zwischen subjektiven Handlungen und objektiven Strukturen. Das Einnehmen dieser Perspektive erforderte zwangsläufig das Überschreiten der egologisch beschränkten, im Rahmen der Erläuterung der Konstitution intersubjektiver Sinngebilde in der ›umweltlichen Wirbeziehung‹ angewandten, Einstellung aus dem ›Sinnhaften Aufbau‹. Nunmehr wandte sich Schütz der Aufgabe zu, die Entstehung persönlicher Identität als auch objektiver Sinnstrukturen und Deutungsmuster aus dem menschlichen Handeln zu erklären. Wir können dieses Programm wiederum – seinem Anspruch und der formalen Gestalt nach – als eine allgemeine Strukturtheorie (im oben erläuterten Sinne) bezeichnen, welche – wie Schütz sich ausdrückte – »das Wechselverhältnis zwischen eigenem und fremden Bewusstseinsleben« (ASW V.1: 98) in einer zusammenhängen Konzeption zum Ausdruck bringt. Schütz beschrieb also den Prozess der Sinnkonstitution nicht mehr einseitig aus einer subjektiv-handlungstheoretischen Perspektive heraus. Entsprechend war nicht mehr die Rede von der ›Fremd‹- bzw. ›Dueinstellung‹, stattdessen konzentrierten sich seine Ausführungen nun um die Grundkategorien des ›Wirkens‹ und der ›Wirkwelt‹ als den fundierenden Instanzen. In den Manuskripten zur Theorie der Persönlichkeit in der Sozialwelt zog Schütz offenbar dem Lebensweltbegriff denjenigen der ›Wirkwelt‹ vor. Letzterer erschien insofern als der primäre Begriff, als er gegenüber dem statischen Konzept der ›Lebenswelt‹ das Moment der dyna-

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misch-pragmatischen Konstitution einer intersubjektiv geteilten Welt unterstrich. Schütz definierte: »Diese meine Wirkwelt kann füglich auch deshalb als meine alltägliche Lebenswelt bezeichnet werden, weil [...] sie es ist, in der sich mein Sein mit anderen, in der sich alle sozialen Akte und sozialen Beziehungen meiner natürlichen Einstellung abspielen« (ebd., 144).

In semantischer Hinsicht waren beide Begriffe augenscheinlich deckungsgleich, so dass wir feststellen können, dass die erwähnten Manuskripte im Hinblick auf Schütz’ Entfaltung einer Theorie der ›Lebenswelt‹ von zentraler Bedeutung sind. Als entscheidenden Befund, welcher Schütz zum Hinausgehen über eine rein egologische Aufklärung der Konstitution von Weltbewusstsein instigiert haben mochte, kann indessen derjenige gelten, »dass sich die solcherart gekennzeichnete perspektivische Aufgliederung der mich umgebenden Sozialwelt [in ›Umwelt‹, ›Mitwelt‹, ›Vorwelt‹, ›Nachwelt‹; D.Š.] sozusagen innerhalb meines Ichs fortsetzt« (ebd., 99). In dieser Wendung kündigte sich der Umschlagspunkt vom ›Primat des Bewußtseins‹ zum ›Primat der Sozialität‹ an. Eine Umkehrung der vormaligen Begründungshierarchie scheint sich darin auszudrücken, dass die Frage, auf welche Weise sich bewusstseinstranszendente Sinnstrukturen im sub40 jektiven Bewusstsein niederschlagen, ins Zentrum rückte. Schütz sprach von »Korrelaten«, welche »jedes Phänomen meiner sozialen Welt [...] in einer spezifischen Einstellung meines Ichs zu diesem Phänomen findet« (ebd.). Die Struktur der Sozialwelt, so folgerte er weiter, manifestiere sich im erkennenden Ego in der Form einer »wohlabgestuften Rangordnung von sozialen Attitüden meines Ichs« (ebd.), welche letztlich ein spezifisches »System von Motivationszusammenhängen« (ebd., 100) bzw. ein 41 »System von Relevanzisophysen« (ebd., 121) konstituierten. Auf die Fundierungsverhältnisse zwischen äußeren Parametern in der ›Wirkwelt‹ und deren bewusstseinsmäßigen Korrelaten hatte es Schütz in der Abhandlung zum Problem der sozialen Person unmittelbar abgesehen (ebd., 100). Die Erweiterung der egologischen Perspektive zeigte sich auch in Schütz’ Begriff des Subjekts bzw. des Ego, welches als »eine pragmatische Einheitlichkeit: ego agens et semper idem agens (volens)« (ebd., 43)

40 In diesem Sinne resümierte auch Srubar: »Die Absicht der Schützschen Theorie der sozialen Person ist es, die Einseitigkeiten der sich lediglich auf die Sinnkonstitution konzentrierenden Darstellung [im] ›Aufbau‹ zu beheben« (1988: 137). 41 Zur Begründung der These von der Fortsetzung der äußeren Weltstruktur im inneren Bewusstsein berief sich Schütz auf Leibniz’ ›Prinzip der Kontinuität‹ (ASW V.1: 42). Siehe dazu die erläuternden Anmerkungen von Endreß/ Srubar (2003: 14f.).

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vorgestellt wurde. Die philosophischen Quellen, aus denen sich dieser pragmatische Subjektbegriff, welcher als Surrogat für Husserls ›einsames Ich‹ herhielt, speiste, waren insbesondere Scheler und Leibniz (ebd., 42). Wie Srubar schildert, erfährt sich das Ich nicht mehr nur »als die Einheit des Erlebnisstroms, sondern auch als ein in außersubjektive Zeitabläufe eingebundener Handelnder« (1988: 138). Diesen Doppelbezug hatte Schütz zwar bereits im ›Sinnhaften Aufbau‹ anhand der ›umweltlichen Duerfahrung‹ herausgestellt, doch erst im ›Personalitäts-Manuskript‹ philosophisch radikalisiert und zu Ende gedacht. Die personale Identität von Ego setzt sich also nicht mehr ausschließlich über seine individuellen, in den Bewusstseinsschichten sedimentierten, Erlebnissen zusammen, sondern darüber hinaus aus seinen Erfahrungen als soziale Person. Schütz projizierte das Bild eines »›Ich-Kerns‹«, um den herum »eine Mannigfaltigkeit sozialer Personen« kreiste, wobei mit diesen keine unmittelbar gegenüberstehende alter Egos gemeint waren (ASW V.1: 43). Es gilt nun zunächst, jenen »fundierenden Modus des menschlichen Daseins« (Srubar 1988: 141) zu beleuchten, den Schütz als ›Wirken‹ bezeichnet hatte. Gegenüber dem ›Handeln‹, welches auch »innerliche Einstellung« mitfasse, unterschied Schütz das ›Wirken‹ als den »Vollzug des Pragma in der Leibbewegung selbst« (ASW V.1: 43). Im Gegensatz zum ›Handeln‹, das bereits in Webers Definition sowohl »innerliches« wie »äußeres Tun« beinhaltete (WuG: 1), beschränkte das ›Wirken‹ das Untersuchungsfeld auf den praktischen Vollzug. Da jedoch alles Wirken Handeln sei, gehe auch diesem ein Entwurf voraus (ASW V.1: 132). Eine »Theorie des vollen Pragmas« müsse jedoch über eine bloße Analyse des ›gemeinten‹ bzw. ›entworfenen‹ Sinnes einer Handlung nach dem Muster des dritten Abschnitts des ›Sinnhaften Aufbaus‹ hinausgehen. Denn allein das praktisch realisierte Handeln bzw. das »Wirken vermittelt den Übergang von der durée zur Weltzeit; indem es sich in beiden Ordnungen simultan abspielt, schafft es die Synthese des bürgerlichen Tags. Nur ein solches Wirken gibt dem Ich gleichzeitig das Erlebnis der ablaufenden Bewegung von innen und des durchmessenen Raumes von aussen und konstituiert damit für das Ich den Weltraum« (ebd., 134).

Hinter der Kategorie des ›Wirkens‹ verbarg sich jene Vermittlungsinstanz, über welche sich das Korrelationsverhältnis zwischen ›äußerer Wirkwelt‹ und ›subjektiver Reflexion‹ aufschließen ließ. Es ist entscheidend zu sehen, dass das ›Wirken‹ bei Schütz nicht bloß eine hinzukommende praktische Kompetenz des Menschen neben derjenigen der Reflexion bezeichnete, sondern vielmehr bestimme und fundiere es immer schon die Wahrnehmung von Welt überhaupt, wie aus folgender Bemerkung hervorgeht: »Nur ein solches Wirken ermöglicht das Widerstandserlebnis von der äusseren Materie und damit deren Konstituierung

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als Realität« (ebd., 135). In diesem Sinne hatte Schütz bereits im ›Sinnhaften Aufbau‹ unter Bezugnahme auf Scheler den Primat der pragmatischen Erfahrung der Umwelt vor der reflexiven Erfahrung für die Konstitution von Welt behauptet (ASW II: 316). Srubar identifizierte in der Widerstandserfahrung einen vermeintlich »alten pragmatischen Gedanken« (1988: 142), wobei wir hier darauf hinweisen dürfen, dass sich gerade in Schelers Wirklichkeitsauffassung der Einfluss von Diltheys ›Realitätsabhandlung‹ geltend macht, in welcher dieser bereits dargelegt hatte, dass sich das »Schema meiner Erfahrungen, in welchen mein Selbst von sich das Objekt unterscheidet, in der Beziehung zwischen dem Bewußtsein der willkürlichen Bewegung und dem des Widerstandes, auf welchen diese trifft, (liegt)« (GS V: 98). Somit ließe sich ein konkreterer philosophischer Kontext zur Aufklärung der Provenienz des Schelerschen und damit auch Schützschen Realitätsbegriff angeben. Die Relevanz des praktischen ›Wirkens‹ für die Herstellung der »Einheit und Einheitlichkeit meiner Umwelt« erörterte Schütz anhand des Beispiels der Wahrnehmung eines Buches (ASW V.1: 138f.). Zunächst stellte er dabei heraus, dass alle Welterfahrung im erfahrenden Subjekt auf dessen Erfahrungsvorrat treffe, welches auch die Erinnerung an vorausgegangene »Akte echten Wirkens« (ebd., 138) bereithalte. Diese Befähigung ermögliche die Variation der Erfahrungen der Wahrnehmung eines Buches als Ding als auch der Weise unserer Erfahrung dieses Gegenstandes. Um sicherstellen zu können, dass es sich bei dem aktuell vorliegenden Gegenstand tatsächlich um ein Buch handelt, könne der Wahrnehmende seine leibliche Position ändern, indem er auf den Gegenstand zugeht, ihn möglicherweise in die Hand nimmt, etc. Dadurch verschiebe er sein Koordinatensystem, dessen Zentrum sein Leib sei, und könne überprüfen, inwiefern die erwarteten Modifikationen mit den tatsächlich stattfindenden übereinstimmen. Nach diesem Modell stelle sich für den »natürlichen Mensch« (ebd., 137) über das ›Wirken‹ die Einheitlichkeit der Welt, welche ihm ja stets in verschiedenen Perspektiven erscheine, her. »Und dies ist auch einer der Gründe, warum wir die Umwelt als Wirkwelt bezeichneten« (ebd., 139). Wir können nunmehr den Vorgang des ›Wirkens‹ selber mit Schütz darin charakterisieren: »Alles Wirken beruht auf Lageveränderung des Leibes, auf einer Verschiebung des origo des Koordinatensystems, auf der Umwandlung eines hic zu einem ilic. Aber alles Wirken vollzieht sich prinzipiell unter der Idealität des ›Ich kann immer wieder‹« (ebd., 139f.).

Nachdem wir oben bereits im Rahmen des spezifischen Argumentationskontextes von Schütz’ Explikation der ›umweltlichen Duerfahrung‹ auf die lebensphilosophische Denkfigur des Primats des Lebens resp. der Praxis vor der Erkenntnis gestoßen sind, ist, wie gleich darzustellen sein wird,

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mit dem ›Personalitäts-Manuskript‹ eine Quelle gesichtet, aus welcher sich – anders als im ›Sinnhaften Aufbau‹ – eine konkretere Ausarbeitung dieser These entnehmen lässt. Zuvor soll noch angemerkt werden, dass die voranstehenden Ausführungen auf handfeste Weise belegen, dass Schütz’ Versuch der Grundlegung einer ›Theorie des vollen Pragmas‹ nichts anderes intendierte als gemeinhin unter der programmatischen Formel einer ›Kritik der praktischen Vernunft‹ verstanden wurde. Schütz exemplifizierte die Vermittlungsfunktion des ›Wirkens‹ nicht in Form von handlungstheoretischen oder praxeologischen Analysen etwa nach dem Modell von Wittgenstein (1984a), Austin (1994) oder Bourdieu (1999), sondern verblieb auf einer (mundan)phänomenologisch-deskriptiven Ebene, wobei er changierend die Betrachtungsperspektiven abwechselte, um die Interaktion zwischen beiden Variablen der Korrelationsbeziehung beobachten zu können. Letzteres kann plastisch anhand der Gegenüberstellung zweier verschiedener Stellen aus dem ›PersonalitätsManuskript‹ angedeutet werden. Auf der einen Seite liest man: »Ich, der schlicht im Alltag Dahinlebende, bin Zentrum dieser sozialen Welt, bin insofern ihr Mittelpunkt, als sich von meinem Standpunkt aus, und allein von ihm aus, die Sozialwelt in die soeben beschriebenen Perspektiven gliedert« (ASW V.1: 98). An anderer Stelle heißt es: »Die Welt des Ich zentriert sich um den Leib dieses Ichs als Mittelpunkt« (ebd., 136). Die sich in diesen Aussagen artikulierende Doppelperspektivität von Schütz’ Beobachtungsstandpunkt muss als der spezifischen Aufgabenstellung geschuldet betrachtet werden, nämlich die Verschränktheit von Subjektivität und Sozialität im ›Wirken‹ herauszustellen. Anhand des Phänomens der ›Relevanz‹ soll nun diese Grundthese von Schütz’ Mundanphänomenologie aufgezeigt werden. Das ›Problem der Relevanz‹ resultiere »vom subjektiven Standpunkt« aus dem Umstand, dass das jeweilige »Jetzt eine unendliche Menge von Elementen, Attitüden, Handlungen, Erlebnissen umfasst, deren Regulativ mein jeweiliges Interesse und meine jeweilige Aufmerksamkeit sind« (ebd., 120). Die beiden uns aus der Darstellung der egologischen Sinnkonstitution im ›Sinnhaften Aufbau‹ bereits bekannten Kategorien der ›attentionalen Modifikation‹ und der ›attention à la vie‹ konstituierten gemeinsam, so Schütz, ein jeweiliges Relevanzzentrum. Den Rahmen der subjektivistischen Explikation verließ Schütz im nächsten Schritt, in welchem er die Objektseite der ›Wirkensbeziehung‹, genauer: die »ontologischen Momente« (ebd., 135) in den Blick nahm und erläuterte: »Aber die um dieses Relevanzzentrum gruppierten Phänomene, die da mit zu meinem Jetzt gehören, sind untereinander durch Relevanzzusammenhänge verbunden und ebendadurch erfahren sie ihre perspektivische Abschattung und Gliederung, ebendadurch erhält auch mein Jetzt seinen Horizont« (ebd., 120f.).

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Die Struktur der Welt wirke dadurch in die subjektive Wahrnehmungskonstitution ein, dass, wie es Schütz an anderer ausdrückte, sie »mir eine Attitüde und damit auch eine attention à la vie auf(nötigt), die von den Sachen selbst, nicht aus den Quellen meiner durée« (ebd., 138f.) herstammt. So konstituiere sich jenes oben bereits erwähnte »System von Attitüden und Einstellungen«, das Schütz auch als »Motivationszusammenhang« resümierte (ebd., 100). Der Mensch in natürlicher Einstellung nehme nun solche Motivationszusammenhänge »meist als institutionelle, habituelle, traditionale oder affektuelle Gegebenheiten« (ebd.) schlicht hin. Sie wirkten auf ihn wie jene Durkheimschen ›faits sociales‹, indem sie von den Alltagshandelnden »auf Schritt und Tritt« eine »Vielfalt standardisierter oder genormter Attitüden« einforderten (ebd., 101). Im Hinblick auf die Frage nach den ›Quellen des Selbst‹ (Taylor) bzw. der Identität, folge daraus, »dass meine Attitüden immer weniger spezifisch ich-gefärbt werden, dass sie immer mehr typisch, nämlich den Attitüden jedermanns angepasst sein werden, oder sozusagen immer anonymer« (ebd., 68). Schütz pointierte diesen Sachverhalt, den man in der soziologischen Theorie unter den Begriff der ›Internalisierung‹ (Mead, Piaget, Parsons) gefasst hatte, in der Sentenz: »Dies alles führt zu einer Selbsttypisierung des Ich« (ebd., 69). Wir nähern uns hier der abschließenden Antwort auf die eingangs entwickelte Frage nach den Mechanismen, in und durch welche sich die Struktur der Sozialwelt im subjektiven Bewusstsein fortsetzt. Sie findet sich in einer Aufstellung von vier Vermittlungsprozessen, die hier im Einzelnen aufgeführt werden sollen: »a) weil diese durch das Medium der neugewonnenen typisierenden Erfahrungen betrachtet werden b) weil erreichte Ziele Zielsetzungen rückbeeinflussen c) weil attention à la vie grundlegend modifiziert ist d) weil Zuwend[ung] zur intimeren Sphäre selbst nur innerhalb des obersten Lebensplanes ›gestattet‹ wird« (ebd.).

Im Handeln auf die Wirkwelt interagiert man also, nach Schütz’ Beschreibung, mit auf bestimmte Weise vorstrukturierten Relevanzstrukturen, welche auf die Motiv-, Erfahrungs- und Reflexionsstruktur, kurz: die so genannten »Zentralschichten« (ebd.), des Individuums zurückwirkten. Mit Srubars Worten können wir resümieren: »Die eigentliche ›Fortsetzung‹ der Gliederung der Wirkwelt in das wirkende Ego hinein und damit die Strukturierung der sozialen Person wird also von Relevanzsystemen getragen« (1988: 176). Damit ist erwiesen, dass soziale Identität kein statischer Zustand sein kann, sondern aus zwei Komponenten, der subjektiven, erfahrungsgenerierten Relevanzstruktur einerseits und der objektiven, durch ›Wirken‹ vermittelten Relevanztypen der ›Wirkwelt‹ andererseits, konstituiert wird und sich über Modifikationen und Einstellungsänderun-

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gen – analog zum oben dargelegten Zusammenhang von Sinnreflexion und 42 Zeitlichkeit – stets neu konfiguriert.

3. ›Pragma‹ und ›Lebenswelt‹ Nachdem wir anhand des ›Wirkens‹ Schütz’ Konzeptualisierung der Verschränktheit von Subjektivität und Sozialität rekonstruiert haben, wenden wir uns nun abermals Schütz’ Lebensweltbegriff zu, um die im vorausgegangenen Abschnitt angedeutete These von Schütz’ Pragmatisierung und Dynamisierung von Husserls Lebensweltkonzept zu erhärten. Ein aus Schütz’ Perspektive relevanter Schritt, die mundane Konstitution von ›Lebenswelt‹ gegenüber der transzendentalphilosophischen Variante Husserls zu legitimieren, dürfte in dem Nachweis der konstitutiven Bedeutung des pragmatischen ›Wirkens‹ – des ›Pragma‹ – für den Aufbau von vermeintlich weltfreien, kontemplativen Reflexionseinstellungen – Schütz wird von »geschlossenen Sinnprovinzen« (ASW V.1: 206) sprechen – gelegen haben. Mit anderen Worten ausgedrückt, es ging nochmals darum, das Vorwalten praktisch generierter Sinnerfahrungen gegenüber der Position der Autonomie des Denkens zu erweisen. Neben der ›Wirkwelt‹ antizipierte Schütz im Rahmen des ›Personalitäts-Manuskripts‹ noch weitere »Sinngebiete« (ebd., 145), welche Teile der ›Lebenswelt‹ repräsentierten: »die Traumwelt, die Welt der Phantasie und im besonderen der Kunst, die Welt des religiösen Erlebnisses, die Welt der wissenschaftlichen Kontemplation, die Witzwelt, die Welt des Geisteskranken« (ebd.). Bei diesen Bewusstseinsphänomenen handelte es sich, so Schütz, um »Modifikationen der Wirkwelt durch Abwandlungen der attention à la vie« (ebd., 61). Gegenüber dem unmittelbar mit dem ›Pragma‹ verbundenen ›Wirken‹, zeichneten sich diese Sinngebiete durch eine lose resp. suspendierte Bindung an die praktische ›Wirkwelt‹ aus. An dieser Stelle können wir uns eine detaillierte Rekonstruktion der phäno43 menologischen Deskription der einzelnen Sinnprovinzen sparen. Für unsere Fragestellung soll es genügen, Schütz’ zentrale These in dieser Auseinandersetzung zu extrapolieren, nämlich dass »alles Perzipieren und Apperzipieren selbst pragmatisch bedingt (ist)« (ebd., 136f.). In Abgrenzung zu den »Akten des echten Wirkens« (ebd., 138), deren Intentionalität Schütz durch das Vorliegen eines »Vorsatzes« und eines »Entwurfs« auszeichnete, seien die erwähnten Einstellungen entweder durch das Fehlen des einen oder des anderen oder durch das Fehlen beider Komponenten phänomenologisch beschreibbar (ebd., 133f.). Dieses ›Ein42 In diesem Sinne konzipiert unter den jüngeren Identitätstheoretikern Bernhard Giesen die ›Situationalität‹ von Identität (1999: 69ff.). 43 Schütz hat die diesbezüglichen Ausführungen aus dem ›PersonalitätsManuskript‹ fast vollständig in seinen bekannten Aufsatz ›Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten‹ (ASW V.1: 177-239) übernommen.

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klammern‹ der praktischen Weltbezüge kennzeichnete Schütz auch mit dem Terminus »natürliche epoché« (in Abgrenzung gegenüber der »phänomenologischen epoché« bei Husserl) (ebd., 148f.). Voneinander unterscheidbar würden sie über die Auszeichnung ihres jeweils eigentümlichen »regulativen Prinzips«, ihrer »Kompossibilität«, ihrer »eigenen Sinngesetzlichkeit«, ihres »spezifischen Realitätsakzents« (ebd., 145f.). In der »Welt der Phantasie« sei es »nicht das Leben in dieser realen Welt mit den Widerständen des ›Wirklichen‹, das bewältigt zu werden verlangt« und das »phantasierende Ich« wirke und handele – gemäß der Schützschen Definition dieser Begriffe – nicht (ebd., 148). Schütz kam es darauf an zu zeigen, dass hier gleichwohl zwischen dem »Phantasieren« als noetischem Akt einerseits und dem »Phantasierten« als dessen noematischem Korrelat andererseits zu differenzieren sei. Denn: »Im Phantasieren, das selbst kein Handeln ist, vermag sich das Ich sehr wohl als handelnd und selbst als wirkend zu phantasieren« (ebd.). Diese Aussage sei deswegen zutreffend, weil im Phantasieren zwar wohl die »Kompatibilitäten und Kompossibilitäten der realen Wirkwelt« suspendiert würden, doch lasse sich zeigen – was Schütz am Beispiel von Don Quijotes Anreiten gegen Windmühlen vorexerzierte –, dass die phantasierten Entwürfe nicht auch die logische Stimmigkeit mit der ›Wirkwelt‹ verwerfen könne (ebd., 148f.). Das Fortwirken des »praktischen Sinns« – um mit Bourdieu zu sprechen (1999: 157ff.) – im phantasierenden Erleben belegt somit Schütz’ Behauptung des wahrnehmungstheoretischen »Primats des reinen aktuellen Pragmas« (ASW V.1: 136) vor der reinen Reflexion. Während die Intentionalität des ›Phantasma‹ durch das Fehlen eines Vorsatzes, aber der Vorhandenheit von Entwürfen gekennzeichnet war, sei das »Traumleben ohne Zweck und Entwurf« (ebd., 219). Gleichwohl, so Schütz, »bleibt im Traumgeschehen die wache Wirkwelt als Erinnerung erhalten« (ebd., 152). In der phänomenologischen Terminologie handelte es sich dabei genauer um »Retentionen und Reproduktionen an volitive Erlebnisse der wachen Welt, modifiziert zwar und umgedeutet, aber immer in der Wachwelt ihre Urstiftung habend« (ebd.). Es könne also allgemein gesagt werden, dass »in der Welt der Träume die Welt des Wirkens oder zumindest Fragmente dieser Welt als Erinnerung und Retentionen bewahrt (wird)« (ebd., 219). Auch in diesem Befund musste Schütz eine Bestätigung seiner Ausgangsthese finden, zumal die vermeintlich weltabgewandteste unter den ›attentionalen Modifikationen‹ eindeutige Spuren der Wirk44 welt aufwies. Die letzte von Schütz ausführlicher beschriebene Sinnprovinz dürfte im Hinblick auf die noch aufzuklärende Frage nach dem Verhältnis von Schütz’ Lebenswelttheorie zu seiner sozialwissenschaftlichen Methodolo44 Schütz berief sich an diesem Punkt im Übrigen explizit auf die Befunde der Freudianischen Psychoanalyse (ASW V.1: 152, 220).

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gie interessant sein, da es hier um die »Welt der wissenschaftlichen Theorie« (ebd., 222) ging. Hier regiere der Vorsatz, nicht die vorgegebene Welt als ›Wirkwelt‹, sondern als »theoretische Welt« (ebd., 154) zu nehmen. Die theoretisierenden Akte standen insofern zwischen dem ›Handeln‹ und dem ›Wirken‹ in der Mitte: »Wissenschaftliches Denken ist daher in der Tat Handeln im vollen Sinn und zum Wirken fehlt ihm nur das Moment, dass es nicht in die Aussenwelt eingreift« (ebd., 155). In Übereinstimmung mit unseren Ausführungen zu den Grundlinien von Schütz’ wissenschaftstheoretischen Ausführungen wurde auch hier erörtert, dass der wissenschaftliche Betrachter, im Unterschied zum mitweltlichen Beobachter, seine lebenspragmatisch generierten Erfahrungsvorräte und Relevanzstrukturen – nunmehr sprach Schütz von »Planhierarchien« (ebd.) – ausklammern und durch diejenigen der jeweiligen Disziplin kompensieren müsse. In Schütz’ Worten: »Das theoretisierende Ich macht sich [...] von allen auf die Wirkwelt gerichteten und durch sie vorgezeichneten pragmatischen Interessen frei, es setzt diese pragmatischen Interessen in Klammern, es erklärt sich am Leben praktisch desinteressiert« (ebd., 155f.).

Die jeweilige »Orientierung am Problem« zeichne »den Seinsstil der theoretischen Welt aus und ist das Regulativ jener spezifischen Modifikation der attention à la vie, die da wissenschaftliches Denken heißt« (ebd., 156). Auch hier stellte sich die Frage, auf welche Weise die ›Wirkwelt‹ in die kontemplative Betrachtung eindringt. Und auch hier repetierte Schütz eine Forderung, die er bereits im ›Sinnhaften Aufbau‹, insbesondere in seinem geltungstheoretischen Postulat der Adäquanz, zum Ausdruck gebracht hatte. Hier lautete es, dass »die wissenschaftliche Wahrheit [...] mit der Wirkwelt, die, wiewohl in Klammern, doch Bestandteil der einen und einheitlichen Lebenswelt bleibt, die dem wissenschaftlichen Denken vorgegeben ist, kompossibel bleiben (muss)« (ebd., 157). Neben der Aufforderung, die wissenschaftlichen Konstrukte an die wirkweltlichen Vorgegebenheiten anzubinden, lesen wir hier darüber hinaus, dass prinzipiell alles wissenschaftliche Denken auf der ›Lebenswelt‹ aufruhe. In dieser Aussage reflektierte sich Schütz’ vermeintlich lebensphilosophisch inspirierte wissenschaftstheoretische Ausgangsposition am eindrücklichsten. Insofern ›Lebenswelt‹ hier als ›reale Wirkwelt der natürlichen Einstellung‹ und nicht als phänomenologisch ›reduzierte Transzendentalität‹ im Sinne Husserls konzipiert war, lässt sich hier mit Gurwitsch (1971: XXXVIII) durchaus der Schluss ziehen, dass Schütz’ Intention der Programmatik Diltheys näher stand als derjenigen Husserls. Vor dem Hintergrund unseres oben erörterten Befundes, wonach diese lebensphilosophisch-pragmatische Ausgangsfigur in konzeptioneller Hinsicht in einem gewissen Widerspruch zu Schütz’ Idealtypenlehre stand,

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soll der Blick auf etwaige Konkretisierungen dieses Fundierungsverhältnisses im ›Personalitäts-Manuskript‹ gerichtet werden. Jene Diskrepanz hatte Schütz hier deutlicher als im ›Sinnhaften Aufbau‹ reflektiert, was in folgendem Interrogativ deutlich wird: »Wie aber soll das in seiner theoretischen Uninteressiertheit und prinzipiellen Wirkenslosigkeit verharrende Ich Aussagen über natürliches Sein und Leben in der Wirkwelt machen können, dieses theoretisierende Ich, das der Wirkwelt die Klammer erteilt hat?« (ASW V.1: 160),

Dieser Frage ließ er als Antwort umgehend das allgemeine Postulat folgen: »Und doch hängt der Sinn aller Sozialwissenschaften an der prinzipiellen Möglichkeit, eben dieses Wirken des naiven Menschen in seiner Lebenswelt deskriptiv erfassen und zum theoretischen Gegenstand machen zu können!« (ebd., 160f.) Schütz anerkannte zudem, dass der Tatbestand, dass das Erkenntnissubjekt »sein volles Leben lebender Mensch ist« (ebd., 161), eine unverzichtbare Erkenntnisquelle darstellt. Das hier geschilderte Dilemma theoretisierte er nun als ein unauflösbares »dialektisches Problem« (ebd.). Die sozialwissenschaftliche Methodik behelfe sich eines spezifischen »Kunstgriffs« zur Überwindung dieser Schwierigkeit, indem »sie der Lebenswelt ein Modell der Lebenswelt unterschiebt« (ebd.; Hervorhebung D.Š.). Schütz verblieb in dieser methodologischen Auflösung der Grundspannung innerhalb des Rahmens des bereits im ›Sinnhaften Aufbau‹ und späteren Aufsätzen geschilderten Lösungsansatzes und rekurrierte auf das Verfahren der Idealtypenkonstruktion. Gleichwohl haben die Ausführungen zu verschiedenen Varianten der Modifikationen der Aufmerksamkeitshaltung in der praktischen ›Wirkwelt‹ das Resultat zutage befördert, dass sich pragmatische Erlebnismodi als unhintergehbare Komponenten bei der Konstitution vermeintlich praxisferner Sinnprovinzen erweisen und somit das ›Pragma‹ allgemein als der jeglicher Sinnkonstitution zugrunde liegende Grundmodus gelten muss. Damit ist gleichzeitig erwiesen, dass die ›Lebenswelt‹, welche sich aus unterschiedlichen Sinnprovinzen zusammensetzt, gleichfalls in den praktischen Wirkprozessen der Individuen, aus denen dann die ›Wirkwelt‹ hervorgeht, fundiert ist.

Resümee: Schütz ’ Grundlegungst heorie zw ischen Lebensphilosophie und Transzendent alphilosophie Unsere Darstellung nahm Anstoß an der Frage nach der theoretischen Gestalt einer phänomenologischen Soziologie bzw. Sozialphänomenologie und hatte sich zum Ziel gesetzt, anhand des Begründers dieses Theorieansatzes

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das sozialwissenschaftliche Grundlegungspotential der Husserlschen Phänomenologie auszuleuchten. Bereits der Überblick über die Rezeptionsgeschichte entblößte große Abweichungen in der Bewertung der grundlagentheoretischen Tragfähigkeit von Schütz’ Ansatz, die sich letztlich auf eine charakteristische Spannung in seinem Denkansatz zurückführen ließ. Diese Grundspannung konstituierte sich über diejenige Theoriestrategie von Schütz, die wir als Mundanisierung gekennzeichnet hatten und welche sich sowohl auf die epistemologische Kategorie des Erkenntnissubjekts bzw. des transzendentalen Ego als auch auf den Objektbereich der ›Lebenswelt‹ richtete. Als Konsequenz unserer hypothetischen Ausgangsfrage, ob mit dieser Transformation transzendentalphilosophischer Grundkonzepte resp. deren Umbettung auf einen lebensphilosophisch-pragmatistisch gedüngten Boden möglicherweise zugleich deren ursprünglicher theoretischer Gehalt verloren ging, ergab sich die Anschlussfrage, inwiefern Schütz’ Methodologie der Sozialwissenschaften auf einem brüchigen Fundament aufruhte. Diese Problemstellungen verfolgten wir über eine Rekonstruktion der wichtigsten Stationen der Denkentwicklung von Alfred Schütz, angefangen vom ›Sinnhaften Aufbau‹ bis zu den Grundlinien seines Plans der Erforschung der ›Strukturen der Lebenswelt‹. Zunächst kam dabei zum Vorschein, dass Schütz, der während seines Studiums mit der Grundlagenkrise der Geistes- und Sozialwissenschaften vertraut wurde, seine wissenschaftstheoretische Ausgangsproblematik in enger Anlehnung an Max Webers Konzeption einer ›verstehenden Soziologie‹ formulierte. Das im Zentrum des ›Sinnhaften Aufbaus‹ stehende Problem war dasjenige der Konstitution von Sinn. Inspiriert durch die Lektüren der Werke Bergsons und Husserls konnte Schütz aufzeigen, dass Weber die Sinnproblematik einseitig und verkürzt dargestellt und die im ›Verstehen‹ implizierten philosophischen Schwierigkeiten ignoriert habe. Unter Rekurs auf die zeitphilosophischen Beschreibungen von Bewusstseins- und Erkenntnisprozessen der vorgenannten Philosophen reformulierte Schütz schließlich in Abgrenzung zu Weber das Kardinalproblem einer ›verstehenden Soziologie‹: die Konstitution von intersubjektivem Sinn. Schütz erbte diese Problematik durchaus nicht von Husserls ›Cartesianischen Meditationen‹, mit denen er erst nach der Fertigstellung des ›Sinnhaften Aufbaus‹ bekannt wurde. Seine einzigartige Leistung in diesem Werk muss darin gesehen werden, dass er auf eigenständige und originäre Weise abstrakte philosophische Konzepte (insbesondere Bergsons, Schelers und Husserls) in den vergleichsweise spezifischen und engen Grundlegungsrahmen von Webers ›verstehender Soziologie‹ integrierte und somit den um die Fundierungsproblematik der Sozialwissenschaften bekümmerten Theoretikern ein Bündel neuer Beschreibungsformen und Suchrichtungen hinterließ. Mit Endreß und Renn können wir damit resümieren,

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»dass – anders als es eine häufig anzutreffende primär philosophische (bzw. phänomenologische) Lektüre suggerieren will – die handlungstheoretische Grundlegung der Soziologie bei Max Weber den Ausgangspunkt der Überlegungen von Schütz bildet« (2004: 23f.).

Schütz’ Fortgang über die phänomenologischen Begriffsanleihen bei Husserl konnte bereits anhand von dessen Entfaltung der Sinnproblematik, genauer der Erkenntnis demonstriert werden, dass eine in der Egologie verharrende Konstitutionsanalyse nach Husserls Modell für die Begründung des intersubjektiven Sinns und des Fremdverstehens nicht hinreichen würde. Hier waren es Bergson und hauptsächlich Scheler, die Schütz über die »pragmatische Bedingtheit der Sinndeutung« aufklärten. Wenn Schütz zunächst noch in Übereinstimmung mit Husserl die Feststellung traf, dass subjektiv gemeinter Sinn »wesentlich subjektiv und prinzipiell an die Selbstauslegung durch den Erlebenden gebunden« und damit »für jedes Du wesentlich unzugänglich« sei, so begründete er im nächsten Schritt in Bezug auf intersubjektive Sinngehalte, dass »Fremdeinstellung nur in der gesellschaftlichen Sphäre vollziehbar (ist)«. Er ging hier offenkundig einen anderen Weg als der späte Husserl, der in der fünften ›Cartesianischen Meditation‹ im transzendentalen Ego die Gegebenheit der Intersubjektivität der Welt nachweisen wollte. Schütz führte seine Grundthese vom ›Primat der Sozialität‹ im Rahmen seiner Erläuterung der ›Duerfahrung‹ in der ›umweltlichen Wirbeziehung‹ aus, welcher er unter allen Modi der Welteinstellung die herausgehobene Bedeutung zuwies. Diese Vorrangstellung begründete sich daher, dass sich durch das in face-to-face – Konstellationen mögliche Nachfragen die subjektiven Entwürfe der Handlungsmotive alter Egos jeweils aktualisieren und anpassen ließen, sodass sich subjektive wie intersubjektiv geltende Deutungsmuster konstituieren und verfestigen können – ein Moment, das zugleich für die Erklärung einer intersubjektiven ›Lebenswelt‹ von Relevanz werden sollte. In diesem Übergang von einer phänomenologischen zu einer pragmatisch fundierten Theorie der Sinnkonstitution wurde das eigentliche, Schütz’ sozialwissenschaftliche Verstehens- und Lebenswelttheorie tragende, Fundament dekuvriert. Analog zu der lebensphilosophischen Grundthese vom Primat der praktischen Erfahrung vor der reinen Reflexion, folgerte auch Schütz, »daß die Erfahrung vom Wir (in der Umwelt) die Erfahrung des Ich von Welt überhaupt fundiere.« Scheler erwies sich für diese These als Schütz’ wichtigster philosophischer Gewährsmann. Die egologischen Sinnkonstitutionsanalysen, die Schütz im zweiten Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ ausführte, wurden damit keineswegs entwertet, jedoch waren sie im Hinblick auf das vorrangige Ziel der Erklärung intersubjektiven Sinns »lediglich als Vorbereitungsschritte zu betrachten, die

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die einzelnen Komponenten des Sinnsetzungsprozesses freilegen sollen« (Srubar 1988: 103). Trotz dieser hermeneutisch-lebensphilsophischen Grundlage konnte sich Schütz offenbar nicht dazu entschließen, den Sozialwissenschaften eine entsprechende ›verstehende‹ Methodologie zu übertragen. In dieser Hinsicht ist seine Vorgehensweise mit derjenigen Webers und Simmels vergleichbar, die gleichfalls von einem hermeneutischen Grundmodell ausgingen, jedoch in methodologischer Hinsicht auf konstruktionistische Verfahren setzten. Jedoch ist Schütz insofern radikaler darin als Simmel und Weber, als er die Grenze zwischen ›Erkenntniswirklichkeit‹ und ›Erlebniswirklichkeit‹ bzw. »zwischen wissenschaftlicher Erfahrung und Erfahrung des täglichen Lebens überhaupt« als unüberwindbar erachtete. Hier traten also (hermeneutisches) Ausgangsmodell und (typenkonstruierende) Methodologie auseinander. Diese Spannung wiederholte sich im Rahmen seiner Erläuterung seiner Idealtypenlehre. Radikaler als Weber, der dem individuellen Erfahrungsvorrat der Erkenntnissubjekte an zwei Stellen seiner Methodologie eine wichtige Rolle zuwies – bei der Bildung der Begriffe, welche den Erfahrungsregeln konform sein sollten, und bei der Beurteilung der Angemessenheit der theoretischen Modelle –, forderte Schütz vom beschreibenden Wissenschaftler die totale Ausschaltung dieser subjektiven Erfahrungsbezüge und die vollständige Übernahme der Relevanzkriterien der jeweiligen Disziplin. Demgegenüber stand zugleich das ›Postulat der Adäquanz‹, welches eine Anbindung der Idealkonstrukte an die Erfahrungswirklichkeit einforderte. Für Schütz muss folglich – ähnlich wie für Simmel und Weber – eine Diskrepanz zwischen philosophischer Grundlage auf der einen Seite und sozialwissenschaftlich-methodologischer Umsetzung resümiert werden. Er erwies sich mindestens in gleichem Maße wie die genannten Gründerväter als scharfer Kritiker transzendentalphilosophischer Begründungsstrategien und verweigerte seinem vermeintlichen Gewährsmann Husserl an genau denjenigen Stellen die Gefolgschaft, an welchen Weber seine (implizite) Kritik an Rickert anbrachte. Dieser Befund ließ sich ebenso anhand von Schütz’ Adaption des von Husserl eingeführten Lebensweltkonzepts nachweisen. Hier stand für Schütz abermals die Intersubjektivitätsproblematik im Zentrum. Nach seiner ein viertel Jahrhundert währenden Auseinandersetzung mit Husserls Lösungsversuch, hatte er schließlich resümiert, dass dieses Problem in einer transzendentalphänomenologischen Einstellung nicht gelöst werden könne, woraus er für sich gleichzeitig die Berechtigung einer Ontologisierung der ›Lebenswelt‹ bezog. Den Nachweis, dass der Ausgangspunkt der Konstitution der ›Lebenswelt‹ nicht – wie Husserls transzendentale Begründung suggerierte – in der subjektiven Reflexion, sondern im alltäglichen Wirken lag, erbrachte er in Form einer ›Theorie des vollen Pragmas‹

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im Sinne einer ›Kritik der praktischen Vernunft‹. Schütz’ These: »die Sozialität fundiert Subjektivität, nicht umgekehrt.« Ähnlich wie im vierten Abschnitt des ›Sinnhaften Aufbaus‹ verstieg sich Schütz auch im Rahmen des ›Personalitäts-Manuskripts‹ darauf, die Verschränktheit von subjektiven und von außen vorgegebenen Relevanzsystemen zu erweisen. In den Erläuterungen zu den Sinnprovinzen, welche ihre vermeintliche Sinnquelle außerhalb des praktischen Bereichs des unmittelbaren Wirkens besaßen, konnte er seine (lebensphilosophischpragmatistische) Ausgangsthese vom erkenntnistheoretischen Primat der Praxis vor dem Denken befestigen. Auf dieser Grundlage stehend vermeinte er schließlich, im Rahmen der Explikation der Wurzeln der ›Lebenswelt‹ zugleich die pragmatische Grundlage, auf welcher seine sozialwissenschaftliche Methodologie aufruhen sollte, umfassender begründen und absichern zu können. Trotzdem der ›späte Schütz‹ wohl klarer als noch 1932 die Antinomien bzw. »dialektischen Schwierigkeiten« erkannte, die sich aus der geschilderten aporetischen Konstellation, der zufolge ein entleertes, »theoretisierendes Ich Aussagen über natürliches Sein und Leben in der Wirkwelt machen« soll, ergaben, sichtete er zeitlebens für eine sozialwissenschaftliche Methodologie keinen alternativen Lösungsweg als das dargestellte idealtypische Verfahren. Es bleibt somit festzuhalten, dass Schütz’ Grundlegungsansatz zwar in konzeptioneller Hinsicht hohe Anleihen bei Husserls Phänomenologie machte, diese jedoch in ein theoretisches Korsett integrierte, dessen philosophische Ausgangspunkte als lebensphilosophisch-pragmatistisch identifiziert werden können. Jede auf Schütz gemünzte Rede von einer phänomenologischen Soziologie müsste streng genommen als unangebracht abgelehnt werden, wenn man nicht das Prädikat ›mundan‹ hinzufügte. Denn Schütz müsste zweifellos in die Gruppe derjenigen Theoretiker eingereiht werden, die eine ausschließlich transzendentalphilosophisch abgeleitete Systematik für die Grundlegung geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens als ungenügend und eine Inkorporierung ontologischer Modalitäten für unverzichtbar betrachten. Dies reflektieren seine mundanphänomenologischen Ausführungen, die dem ›Pragma‹ den erkenntnistheoretischen Primat gegenüber dem Denken einräumen. In der programmatischen Ausrichtung, nicht in der Ausführung und nicht in der Wahl der philosophischen Mittel, zeigt sich eine Nähe zu Dilthey, auf die bereits Schütz’ Freund und Dialogpartner Aron Gurwitsch hingewiesen hatte. Sowohl in der Konzipierung der Sozialwissenschaften als ›Strukturanalyse der Lebenswelt‹ als auch der sozialwissenschaftlichen Methodik orientierte sich Schütz an vorgegebenen Modellen. Er nutzte die dynamischen Konzepte aus seiner Mundanphänomenologie aus unerklärlichen Gründen nicht – wie etwa Simmel und Mannheim – für eine entsprechende Gestaltung sozialwissenschaftlicher Erklärungen. Auf die statische Perspektive der Lebensweltanalyse hat u.a. Welz hingewiesen: »Unter der

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Voraussetzung ihrer argumentativen Logik kann sie nur registrieren, was sie findet« (1996: 213). Auch im Rahmen der Idealtypenlehre führte er unnötiger Weise diejenige Dichotomie wieder ein, gegen die er auf mundanphänomenologischem Gebiet gerade opponiert hatte, nämlich die Unterscheidung zwischen theoretischer und natürlicher Einstellung. Er radikalisierte dadurch ausgerechnet jene neukantianischen Ausgangspunkte, die Weber unter Rekurs auf hermeneutische Argumentationsfiguren ersetzen wollte. Dennoch darf Schütz’ Wissenschaftskonzeption nicht als neukantianisch eingestuft werden (Welz), sondern bestenfalls als konsequent Weberianisch.

Ergebniszusammenfassung: Zur ›s oz iologisc he n‹ Kritik de r ›philosophischen‹ Vernunft

In unserer abschließenden Betrachtung soll es primär darum gehen, die im dritten Teil in Einzelfallstudien zur Rekonstruktion der impliziten Wissenssystematiken von Simmel, Weber, Mannheim und Schütz erarbeiteten Erkenntnisse zunächst zu einem einheitlichen Bild über die Stellungnahmen soziologischer Klassiker zum Problem der ›Krise des Wissens‹ zusammen zu bündeln und anschließend den im zweiten Teil vorgestellten philosophischen Grundlegungssystematiken gegenüber zu stellen. Eine solche Kontrastierung sollte dabei dem Zweck dienen, die kognitive Gestalt der modernen Soziologie unter Zugrundelegung von aus erster Hand gewonnenen Beurteilungskriterien zu identifizieren. Wir waren ursprünglich von der Diagnose einer Krise der Soziologie ausgegangen, deren doppelte Ursache einerseits aus dem Fehlen einer einheitlichen gegenstandstheoretischen Festlegung, andererseits aus der uneindeutigen Bestimmung des methodologischen Zugangs zu ihrem Gegenstandsgebiet resultierte. Hinter diesem Befund verbirgt sich, wie man mit Luckmann feststellen kann, eine allgemeine Desorientierung über die philosophisch-erkenntnistheoretische Identität der Sozialwissenschaften, zu deren Erhellung die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten will. Wir wählten dazu den Weg einer Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Ansätze ausgewählter soziologischer Klassiker, welche vor dem Hintergrund der allgemein diskutierten Problematik einer wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der Geistes- und Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften interpretiert wurden. Die auf diese Weise erzielte Blickwendung unterscheidet sich von den herkömmlichen Rekonstruktionskriterien innerhalb der Soziologiegeschichtsschreibung insbesondere darin, dass sie es in erster Linie auf den philosophisch-systematischen

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Kern der den unterschiedlichen Konzepten von Sozialwissenschaft zugrunde liegenden theoretischen Konstruktionslogiken absieht. Das Verfahren, welches wir zum Einsatz brachten erläuterten wir in Anlehnung an Karl Mannheim als eine ›Strukturanalyse‹. Im zweiten Teil der Untersuchung wurden mit Dilthey, Rickert und Husserl »the leading figures of German pure philosophy between, roughly, the 1890s and the 1920s« (Kusch 1995: 161) zum Ausgangspunkt der Bestimmung des philosophischen Interpretationskontextes gewählt. Die Namen stehen für drei strukturtheoretisch differenzierbare Grundansätze, deren gemeinschaftlicher Anspruch die Neufundierung des geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens gewesen ist. Eine strukturanalytische Betrachtung sollte deren Axiomatiken, die jeweils charakteristischen Denkfiguren und Argumentationsstile extrapolieren, unter deren Gebrauch die jeweiligen Theoriegebäude errichtet wurden. Auf dieser Grundlage konnten wir schließlich eine holistische (Dilthey), dualistische (Rickert) und monistische (Husserl) Theoriearchitektonik voneinander abgrenzen. Dieses Spektrum philosophischer Denkansätze und Grundkonzepte konstituierte zugleich das Koordinatensystem für die anschließende Klassifizierung und Charakterisierung derjenigen Fundierungsansätze und Theoretiker, die anlässlich des Bestrebens der Etablierung einer autonomen Soziologie zu Mitstreitern im Diskurs um die Neubegründung des Wissens um 1900 wurden. Eine der Hauptmotivationen bezog unser Rekonstruktionsunternehmen aus dem Befund, dass erstaunlicher Weise weder von Seiten der Soziologie noch der Philosophiegeschichte aus eine angemessene vergleichende Würdigung der wissenschaftstheoretischen Einsichten soziologischer Klassiker angestrengt wurde. Wo deren Epistemologien überhaupt systematisch betrachtet wurden, wurden sie – mit der Ausnahme weniger Experten – in der Regel zu Adepten unterschiedlicher philosophischer Gewährsmänner oder Weltanschauungen reduziert. Auf diese Weise konnten Legenden wie diejenige von den neukantianischen Ursprüngen der modernen Soziologie oder etwa der Existenz einer phänomenologischen Soziologie geboren und bis in die Gegenwart tradiert werden. An dieser Stelle sollen nun die wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamsten und gleichsam brisantesten Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen nochmals zugespitzt werden. Zunächst kann für alle im dritten Teil behandelten Versuche zur Grundlegung der Sozialwissenschaften resümiert werden, dass sie nur unter gröbster Verkürzung zu einer der im zweiten Teil ausgeführten philosophischen Richtungen subsumiert werden können. Simmel, Weber, Mannheim und Schütz erwiesen sich im Umgang mit den philosophischen Konzepten als eigenständig, kritisch und zielbewusst. Als eine allen soziologischen Autoren gemeinsame Grundtendenz im Umgang mit den Angeboten ihrer philosophischen Kollegen kann die Abwendung von transzen-

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dentalphilosophischen Argumentationsfiguren konstatiert werden. In gleichem Maße wie sie zu transzendentalen Kategorien wie das (kantische) Erkenntnissubjekt, Kants Erfahrungsbegriff, Rickerts Wertsystematik oder Husserls ›transzendentales Ego‹ in Distanz gingen, rekurrierten sie zur Fundierung ihrer wissenstheoretischen Konzeptionen auf solche Philosopheme wie ›Erfahrung‹, ›Leben‹, ›Sein‹, ›Existenz‹, ›Pragma‹, deren ideengeschichtliche Provenienz auf lebensphilosophische Ursprünge verwies. Von daher spielte Diltheys Konzeption einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ in der vorliegenden Arbeit eine herausragende Rolle. Dilthey stand Pate für die wissenschaftsgeschichtlich folgenreiche Formulierung einer Theorie des Wissens, die sich sowohl von überkommenen Dogmen des klassischen Wissenschaftskonzepts als auch vom »neukantianischen Konsens« (Rorty 1987: 181ff.) löste und systematisch auf die wissenschaftstheoretische Berücksichtigung lebenspraktisch vermittelter Weltbe1 züge des Menschen drängte. Auch wenn sich insbesondere Autoren wie Simmel und Weber ausdrücklich von Dilthey distanzierten und auch Schütz dessen Name – trotz der offensichtlichen Parallelität ihrer Unter2 nehmungen – kaum erwähnte, war die Wirkung von dessen Grundlegungsversuch im Sinne eines »historischen Apriori« (Foucault 1997: 184), d.h. als Möglichkeitsbedingung für bestimmte diskursive Aussagen, bei allen im dritten Teil fokussierten Theoretikern deutlich vernehmbar. Die Intensität und Radikalität dieser Auseinandersetzungen spiegelt sich in unseren Schlussfolgerungen auf eindrückliche Weise wider. Es waren nämlich exakt jene Autoren, die eine Ersetzung der Erkenntnistheorie in ihrer traditionellen Gestalt als Grundlegungsdisziplin durch konkrete, an den Erfahrungsobjekten der einzelnen Wissenschaften orientierte Disziplinen einforderten, dabei ein dynamisches Wirklichkeitsverständnis zum Ausgangspunkt des Theoretisierens nahmen und entsprechend die konkreten sozio-historischen Aspekte im Prozess der Wissenskonstitution berücksichtigt sehen wollten. Sie wurden zugleich zu den Begründern eines relationistischen Wissens- und Wissenschaftsbegriff und damit zugleich zu den Totengräbern des im klassischen Wissenschaftskonzept implementierten Objektivitätsideals. Während die Mehrzahl der Vertreter der philosophischen Zunft – allen voran die Neokantianer (aus Baden wie Marburg) sowie Husserl – ihre systematische Kraft auf die Restitution des CartesischKantianischen Philosophiebegriffs ausrichteten, gingen vor allem Simmel, 1 2

Als ein Beleg für die anhaltende Aktualität des Programms einer »Rehabilitierung der praktischen Vernunft« in der Wissenschaftstheorie, sei der Hinweis auf Schneider (1992: 16ff.) gestattet. Darauf Weisen allein die Titel ihrer Hauptwerke hin: ›Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ bzw. ›Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt‹. In der Sekundärliteratur findet sich kein einziger Hinweis auf etwaige Zusammenhänge. Schütz’ Werk wird dagegen ausschließlich als Anspielung auf Carnaps ›Der Aufbau der logischen Welt‹ interpretiert (vgl. Welz 1996: 123; Grathoff 1995: 22).

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Weber und Mannheim daran, die Kriterien eines modernen Wissenschaftsverständnisses zu etablieren. Dies soll nochmals im Einzelnen jeweils für die unterschiedlichen Autoren belegt werden. Den erkenntnistheoretischen Ausführungen Simmels, Webers, Mannheims als auch Schütz’ wurde seitens der Soziologiegeschichte in jeweils unterschiedlichen Hinsichten eine systematische Nähe zum Neukantianismus Rickertscher Prägung attestiert. Für Simmel hatten wir zunächst festgestellt, dass er unabhängig von jeder neukantianischen Lesart eine eigenständige Position zu Kant entwickelte und darüber hinaus noch vor Windelband einen auf kantianischen Prinzipien fundierten Versuch einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ entfaltet hatte. Anhand der Analyse der beiden publizierten und der geplanten dritten Auflage der ›Probleme der Geschichtsphilosophie‹ konkretisierte sich das Bild der Konkurrenz zweier sich ausschließender philosophischer Denktypen innerhalb von Simmels Grundlegungsentwurf. Einesteils ging er aus von Kants dualistischer Trennung von ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹, zum anderen installierte er eine eigentümliche, psychologistische Verstehenstheorie an einer zentralen Position seiner Methodologie: ›Verstehen‹ bildete nach Simmel die Bedingung der Möglichkeit von historischen Geschichtskonstruktionen. Gleichwohl dieser Gedankengang mit demjenigen des Kantischen ›Hiatus‹ von Grund auf konfligierte, grenzte er seinen Verstehensbegriff pedantisch auch von der holistischen Variante in der Prägung durch Dilthey ab. Simmel schien schließlich selbst erkannt zu haben, dass ihm eine konsistente Vermittlung der beiden widerstreitenden Tragsäulen seines Ansatzes in der ersten Auflage der ›Probleme‹ nicht geglückt war. In den beiden, die folgen sollten, löste er die darin enthaltene Spannung zunächst nach der einen, dann nach der anderen Seite hin auf. Die zweite, überarbeitete Auflage der ›Probleme‹ wird gemeinhin als Einschwänken auf die von Rickert mittlerweile mit fulminantem Erfolg ausgeführte begriffsbildungstheoretische Position angesehen. Simmel gelang darin eine deutlichere Separation zwischen konstruktivem Apriorismus und Verstehenstheorie. Das psychologische ›Verstehen‹ bekam nurmehr eine rein formale Rolle im Rahmen von Simmels historischer Erkenntnistheorie zugewiesen und wurde vom sachlichen ›Verstehen‹, welches nach eigenen Gesetzmäßigkeiten vonstatten gehe, unterschieden. Doch bereits während seiner Beschäftigung mit den soziologischen Apriori kam er offensichtlich zu der Einsicht, dass eine strenge Differenzierung von ›Erkenntniswirklichkeit‹ und ›Erlebniswirklichkeit‹ den sachlichen Gegebenheiten nicht entsprach. Anhand konkreter Einzelfallanalysen zeigte sich ihm, dass die Gestalt wissenschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen eben nicht unabhängig von vorgegebenen materialen Begebenheiten verstanden werden konnte. Jene strikte Trennung zwischen ›Form‹ und ›Inhalt‹, für die er in den ›Problemen II‹ noch eingetreten war, ließ sich auf dem Feld der Erkenntnistheorie der Soziologie nicht in gleichem Maße durchhalten wie auf demjenigen der Historik.

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Damit kündigte sich hier jene »lebensphilosophische Wende« an, die in Simmels später Arbeitsphase nicht nur auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie durchschlug. In seinen letzten Arbeiten, die der Thematik der Geschichtsphilosophie gewidmet waren, theoretisierte er unter Anknüpfung an Bergsons Zeitphilosophie die Wesensunterschiede zwischen Erlebnisund Erkenntnisform aus einer neuen, lebensphilosophisch inspirierten Perspektive. Im Ergebnis verblieb Simmel einesteils auf seinem ursprünglichen Standpunkt, dem zufolge »die historische Formung« gegenüber der »Form Geschehenswirklichkeit« autonom sei, konstatierte auf der anderen Seite jedoch auch, dass die Geschichtskonstruktionen der Historiker in den »Formen des Erlebens« ihr fundierendes Substrat und ihre Kontrollinstanz fänden. Das Verhältnis zwischen den beiden Polen, welche bereits in den beiden ersten Auflagen der ›Probleme‹ für Spannungen sorgte, beschrieb Simmel nun als ›Wechselwirkung‹. Die Thematik des Verhältnisses von ›alltäglichem‹ und ›wissenschaftlichem Verstehen‹ rückte mit diesem Perspektivenwechsel ins Zentrum von Simmels methodologischen Investigationen. Der Vorgang des wissenschaftlichen ›Verstehens‹ wurde schließlich in Analogie zum hermeneutischen Zirkel als Kreisbewegung beschrieben. Das ursprüngliche Modell einer rigiden Separierung wurde durch ein Vermittlungsmodell abgelöst. An diesem Punkt begegneten wir verschiedenen Denkfiguren, welche eindeutig dem holistisch-hermeneutischen Grundansatz Diltheys entnommen sein konnten: der wahrnehmungstheoretische Primat des ›Erlebens‹ vor dem ›Erkennen‹, die Auflösung der Körper/Geist-Dichotomie zugunsten der Wahrnehmung des ›ganzen Menschen‹, die Gleichursprünglichkeit von Subjekt und Objekt aus dem ›Leben‹. Der besonderen Konstitutionslogik wissenschaftlichen ›Verstehens‹ trug Simmels späte Verstehenstheorie weiterhin Rechnung, sodass wir auch abschließend das Bild eines eigentümlichen, hybriden Wissenschaftsmodells, welches sich aus zwei disparaten philosophischen Quellen zusammensetzte, resümieren müssen. Wir hatten von Beginn an auf die Schwierigkeit hingewiesen, bei Simmel eine einfache und eindeutige Antwort auf das Problem des Wissens zu identifizieren. Weder hatte er sich mit dieser Thematik innerhalb eines eingegrenzten Rahmens befasst, noch schien ihm an philosophischer Systematizität überhaupt gelegen zu sein. Die Rekonstruktion einer allgemeinen Theorie des Wissens als Reaktion auf die von ihm auf einschlägige Weise diagnostizierte condition modèrne hatte demzufolge mehrere Umwege in Kauf zu nehmen. Wir verfolgten die Strategie, eine sinnlogische Linie zwischen Simmels Feststellungen auf unterschiedlichen Untersuchungsgebieten – Historie, Soziologie, Philosophie, Religion, Kunst, etc. – zu verfolgen, um auf indirektem Wege ein Gesamtbild nachzuzeichnen und eventuell eine Systematik in Simmels vermeintlicher Unsystematizität zu entdecken. Die zentralen Stationen, aus denen sich schließlich unsere These ableitete, dass Simmels Entgegnung der ›Krise des Wissens‹ weni-

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ger in konzeptuellen Ansätzen als in der Form eines bestimmten Philosophierens und in einem entsprechenden Denkstil inbegriffen war, sollen kurz rekapituliert werden. In bemerkenswerter Analogie zu Diltheys ›Einleitung‹ setzten auch Simmels Ausführungen zur Erkenntnistheorie (der Geschichte) ein mit einer Reformulierung von Kants Apriori- und Erfahrungsbegriff. Zum einen stellte er gegenüber Kants Konzeption heraus, dass neben den von Kant fokussierten ›absoluten Apriori des Intellekts‹ eine prinzipiell nicht begrenzbare Menge an ›relativen Apriori‹ bestimmbar sei. Des Weiteren erachtete Simmel apriorische Formen nicht als starre Schemata, sondern als flexible »Verbindungsformen« zwischen reflexiven und empirischen Elementen, die zu praktischen Erkenntniszwecken eingesetzt werden konnten. Diese Bestimmung nahm Simmel insofern zum Prinzip seiner eigentümlichen Beobachtungseinstellung, als er die von ihm analysierten wissenschaftlichen Gegenstände stets auf die ihnen zugrunde liegenden Apriori hin erschloss und interpretierte. In den ›Problemen II‹ radikalisierte er diesen Gedanken zu einem allgemeinen Axiom, welchem gemäß es »kein Erkennen überhaupt« gäbe, sondern immer nur »eines, das durch qualitativ determinierte, also unvermeidlich einseitige Einheitsbegriffe geleitet und zusammengehalten« würde. Simmel begründete an dieser Stelle seine eigene Version eines wissenschaftstheoretischen Perspektivismus, den er gegenüber der Position des naiven ›historischen Realismus‹, auf dem das historistische Wissenschaftsverständnis aufruhte, abgrenzte. Aus dieser Form des Apriorismus leitete Simmel nicht nur den Aufbau seiner empirischen Projekte, sondern darüber hinaus auch seine grundlagentheoretischen Gedankengänge ab. Hier soll insbesondere diejenige Konsequenz herausgestellt werden, die von Philosophen als Herausforderung, wenn nicht gar als Bedrohung aufgefasst wurde. Simmel relativierte die Philosophie zu lediglich einer Erkenntnisform unter anderen, die sich weder zu einem Suprematieanspruch gegenüber anderen Disziplinen, noch zur Grundlegung empirischer Realwissenschaften berechtigt fühlen dürfe. Das von Philosophen hochgehaltene Ideal der Voraussetzungslosigkeit wurde von Simmel als Illusion demaskiert. Die Konstitution der Form der Philosophie folge ebenso eigenlogischen Gesetzen und verfüge über spezifische Wahrheitskriterien, wie jeder andere Erkenntniszugang, sei er nun religiös, künstlerisch oder metaphysisch ausgerichtet. Simmels Wissensbegriff schloss damit denklogisch eine Lösung des Grundlegungsproblems über die Formulierung einer systematischen allgemeinen Theorie des Wissens, wie sie Dilthey, Rickert und Husserl vorschwebte, von vornherein aus. An die Stelle des begründungstheoretischen Absolutismus der zeitgenössischen Philosophie postulierte Simmel den »Relativismus als Erkenntnisprinzip«. Wir konnten darlegen, dass sich diese Auffassung konsequent in der von Simmel bevorzugten Darstellungsform seiner Gedanken manifestierte. Er erachtete den Essayismus

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und den Fragmentarismus keineswegs nur aus prinzipiellen Gründen als die einzig zeitgemäße Form des Philosophierens. Vielmehr ließen sich die von Simmel bevorzugten Stilmittel auch als Konsequenz aus seiner soziologisch und kulturgeschichtlich informierten Zeitdiagnose ableiten. Werkgeschichtlich bedeutsam war unsere Beobachtung, dass Simmel bereits spätestens 1889 seinen später ausführlich historisch fundierten Befund der Entfremdung der objektiven Kultur von deren subjektiven Grundlagen diagnostiziert hatte. Damit ist authentifiziert, dass die Entwicklung seines philosophischen und soziologischen Denkens von Beginn an in engem Zusammenhang mit seiner Kulturkritik interpretiert werden muss. Simmels relativistischer Wissenschaftsbegriff, der in einem erkenntnistheoretischen Apriorismus und konzeptionellen Perspektivismus seine Fortsetzung fand, kann so als Reaktion auf die Loslösung kultureller Formen von den ursprünglichen Zwecken gedeutet werden. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose musste ihm eine monokausale Gegenwartsbeschreibung nach marxistischem Modell ebenso wie eine auf zwei entgegengesetzten Prinzipien beruhende Entgegensetzung von ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ (Tönnies) als reduktionistisch erscheinen. Als ebenso wegabführend dürfte ihm eine Kulturphilosophie neukantianischer Prägung angemutet haben. Eine direkte Auseinandersetzung Simmels mit Rickerts werttheoretisch fundier3 ter Kulturtheorie hat nie stattgefunden. Eine der Komplexität der sozialen und kulturellen ›Lebenswelt‹ Rechnung tragende Analyseperspektive konnte für Simmel nur ein Relationismus bieten. Allein dieser schließe die Berücksichtigung, dass jeder Erkenntnisaufbau und jede Begriffsbildung auf einem bestimmten Wechselwirkungsverhältnis zwischen geistigen und lebenspraktischen Bezügen aufruht, systematisch mit ein. Wir formulierten die These einer ›Verlebendigung der Philosophie‹, um zu betonen, worin sich Simmels Denkstil und Wissenschaftsauffassung von der traditionellen systematischen Philosophie unterschied. Zu einer ähnlichen wissenschaftstheoretischen Konsequenz wurde auch Max Weber getrieben. Doch trafen wir bei Weber von Beginn an auf ganz andere Begleitumstände als bei Simmel. Anders als dieser hatte jener zu keinem Zeitpunkt eigentliche systematisch-philosophische Ambitionen. Zum Methodologen der Sozialwissenschaften mutierte er weniger durch die Wahrnehmung der allgemein geführten Debatte um die Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften als der Beobachtung des ›Methodenstreits‹ in seiner Heimatdisziplin, der Nationalökonomie. Ähnlich wie bei Simmel, versuchten wir auch im Falle Webers, dessen Theorie des Wissens über eine Zusammenschau unterschiedlicher Themenbehandlungen zu ermitteln. Zu diesem Zweck zogen wir neben der ›Wissenschafts-

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Konzeptuelle Anlehnungen, die jedoch nicht systematischer Natur sind, finden sich im Kontext von Simmels Begründung des Kulturbegriffs (GSG 12: 204ff.).

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lehre‹ insbesondere auch Webers Zeitdiagnose, Werttheorie und Wissenschaftsethik zu Rate. Wir stellten von vornherein das allgemein verbreitete Urteil, dem zufolge Webers Wissenschaftsgestalt diejenige des Badischen Neokantianismus repräsentiere, zur Disposition. Die Rekonstruktion der basalen Denkfiguren, auf welchen Weber seine ›verstehende Soziologie‹ fundierte, ergab – ähnlich wie bei Simmel – ein ambivalentes Bild: Weber amalgamierte zahlreiche neukantianische Argumentationsfiguren und Konzepte mit solchen Denkfiguren, die einem hermeneutischen Theorierahmen entstammten, zu einem eigentümlichen, spannungsgeladenen Kompositum. Jene Spannung resultierte speziell aus dem Widerspruch zwischen Webers Übernahme des (neo)kantianischen ›Hiatus‹ zwischen ›Begriff‹ und ›Wirklichkeit‹ auf der einen und der hierzu parallel eingeführten Dimension des ›Verstehens‹ auf der anderen Seite. Sie manifestierte sich im Rahmen von Webers Begriffsbildungstheorie in einer doppelten Funktionalisierung des Erfahrungswissens: zum einen die Konstitution und darüber hinaus auch die Evaluation der wissenschaftlichen Modellkonstruktionen zu kontrollieren. An dieser Stelle verabschiedete sich Weber zugleich von Rickerts Rückbindung der Begriffe an transzendentale Geltungssphären. Damit reproduziert die ›Wissenschaftslehre‹ gerade nicht den Begründungsrahmen des Neukantianismus, sondern formuliert eine – um mit Schütz zu sprechen – an der Welt der ›natürlichen Einstellung‹ geklammerte Begriffstheorie. Auch hier lässt sich insofern das Motiv einer ›Verlebendigung der Philosophie‹ konkludieren. Die von Weber entwickelte Verstehenstheorie mussten wir von einer hermeneutisch-holistischen Version nach dem Vorbild Diltheys unterscheiden. ›Verstehen‹ war bei Weber nicht in einem strukturellen Zusammenhang von ›Leben‹ und ›Verstehen‹ fundiert, sondern blieb als Reflexionsleistung stets dem Individuum zugewiesen. Dies spiegelte sich nicht zuletzt in eigentümlichen Wendungen wie ›Kausalverstehen‹ und ›erklärendes Verstehen‹ wider. Noch in seinen ›Methodologischen Vorbemerkungen‹ in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ definierte er das ›Individuum‹ zum alleinigen Träger von ›Sinn‹. Entsprechend konzipierte Weber die ›verstehende Soziologie‹ als eine methodisch-individualistisch verfahrende Wissenschaft. Bereits auf der Ebene von Webers Wissenschaftsmethodologie bemerkten wir jenen charakteristischen Grundzug in Webers Denken, der sich auf anderen Theorieebenen fortsetzte und in der Estimierung des ›Individuums‹ als einziger Quelle rationaler Wissensfundierung in der modernen Gesellschaft seinen Ausdruck fand. Ähnlich wie in der Interpretation von Simmels Methodologie konnten wir auch für Weber in dessen Beschreibung der kulturgeschichtlichen Genese der modernen Gesellschaft eine Unterlage finden, von der aus sich der subjektivistische Einschlag im Denken Webers aufschlüsseln ließ. Insbesondere in seiner Rede über den ›Beruf zur Wissenschaft‹ hatte Weber

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die schwierige Position des modernen Individuums, das sich in der Welt orientieren wolle, damit begründet, dass es sich einem Wertepolytheismus gegenüber stehend finde, welcher sich im Zuge des Prozesses der Intellektualisierung und Rationalisierung der Welt ausdifferenziert habe. Ganz im Sinne von Simmels Diagnose des Auseinandertretens von ›subjektiver‹ und ›objektiver Kultur‹ in der Moderne, beschrieb auch Weber jeweils die spezifischen Eigenlogiken, welche den unterschiedlichen ›Wertsphären‹ zugrunde lagen. Deutlicher als Simmel spitzte Weber jedoch den Umstand zu, dass jene Lebensordnungen in einem Verhältnis der Gegensätzlichkeit und Unversöhnlichkeit zueinander standen. Aus dieser Gemengelage resultierten schließlich auf der Seite des modernen Menschen »gewaltige Lebensprobleme« in Form von Orientierungsfragen. Eine einfache Lösung der Lebensproblematik, die nach dem Muster vergangener Gesellschaftsformationen über die Vorgabe einer bestimmten Lösungsoption realisiert wurde, war unter modernen Umständen dadurch verunmöglicht, dass die Entscheidung für einen bestimmten Wert zugleich die Verletzung anderer Wertgesichtspunkte zur Folge hätte, so dass ›objektive‹ Entscheidungen von vornherein ausgeschlossen waren. Webers radikal-individualistische Ethik wollte dem Individuum vor Augen führen, dass es sich auf unterschiedliche Weisen – wertrational oder zweckrational – entscheiden und zugleich, dass es der Notwendigkeit einer Entscheidung nicht entfliehen konnte. Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose erscheint es als wohl überlegt und konsequent, dass Weber die ›verstehende Soziologie‹ auf den Nachvollzug des ›subjektiv gemeinten Sinns‹ von individuellen Akteuren festschrieb. Hier manifestiert sich jene nur auf der Basis von Webers Zeitdiagnose nachvollziehbare Installierung des individuellen Subjekts als Organon rationaler Wissenskonstitution. Nicht zu Unrecht hat man daher in Weber einen Adepten des klassischen Aufklärungsprogramms (Schluchter) gesehen. Webers Antwort auf die moderne ›Krise des Wissens‹ lässt sich im Ganzen unter die Losung Subjektivierung der Kulturwissenschaften (Tenbruck) zusammenfassen. Die organisierende Fundamentalkategorie in Webers Theorie des Wissens ist der Begriff des (empirischen) Subjekts. Weder vom Boden eines transzendentalphilosophisch konzipierten Subjektbegriffs (neo)kantianischer Prägung aus, noch auf der Grundlage eines hegelianischen Bewusstseins- oder Geistkonzepts, welchem die Welt immer schon gegeben ist, wollte Weber die moderne Gestalt der Wissenschaft begründen. In diesem Sinne hatten wir von Webers Empirisierung der philosophischen, insbesondere neukantianischen Grundkategorien gesprochen. Wir fanden einige wenige Formulierungen, in denen sich eine distanzierte Haltung zur Philosophie im Allgemeinen bekundete. Die Grenzen, bis zu denen die Philosophie für Weber von Nutzen war, offenbarten sich nicht zuletzt in seiner eigenwilligen Adaption von Rickerts Philosophie. Systematisch entblößte er die von ihm integrierten neukantia-

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nischen Konzepte ihrer transzendentalen Indizes, durch die sie von Rickert in ein allgemeines wertphilosophisches Schema eingegliedert wurden. Weber bemühte sich in seiner ›Wissenschaftslehre‹ keineswegs um Systematizität im philosophischen Sinn und erachtete in einer solchen systematisch vorgehenden Theoriededuktion nicht das probate Mittel, die lebensweltlichen Spannungen, welche schließlich auch die soziale Stellung und Geltung der Wissenschaften heimgesucht hatten, zu lösen. Die Radikalität von Webers subjektivistischer ›Wirklichkeitswissenschaft‹ gegenüber der Philosophie reflektiert sich in der Aufgabe des Ideals absoluter Erkenntnis. Während sich Rickerts Festhalten am klassischen Wissenschafts- und Wahrheitskonzept in dem Versuch einer werttheoretischen Fundierung der wissenschaftlichen Begriffsbildung äußerte, verzichtete Weber vorsätzlich auf den Anspruch auf ›Objektivität‹ des Wissens im ursprünglichen Sinn. Auf andere Weise als Simmel wurde Weber damit zum Advokaten eines neuen Wissensbegriffs. Entsprechend des Ursprungs der wissenschaftlichen Erkenntnis im Subjekt war das geistes- und kulturwissenschaftliche Wissen nur noch perspektivisch formulier- und erfassbar. Die Wissenssystematik Webers verkörpert insofern Diltheys Konzeption einer ›Kritik der historischen Vernunft‹, wie Wanstrat und Weiß suggeriert haben, als auch Weber letztlich forderte, die empirischen Grundlagen der Wissenskonstitution zum Ausgangspunkt der Methodologie und Geltungstheorie zu nehmen. Nur über diesen Umweg schien es ihm redlich und möglich, den verloren gegangenen Status der Wissenschaft wiederherzustellen. Die Wissenschaftsgeschichte hat in der Regel erst in Karl Mannheim den eigentlichen Urheber des erkenntnistheoretischen Perspektivismus erkannt. Dabei hat sie zugleich verkannt, dass Mannheim gerade aus einer bestimmten philosophischen Denkhaltung heraus zu einer Soziologisierung des Wissens übergegangen war. Sowohl von Soziologen als auch Philosophen wurde bisher nicht gebührend berücksichtigt, dass die Wissenssoziologie nicht nur als Reaktion auf die konkrete politik- und kulturgeschichtliche Krisenkonstellation der Weimarer Republik, sondern mindestens in gleichem Ausmaß als Antwort auf das ›Problem des Wissens‹ verstanden werden wollte. Die Sichtung von Mannheims Frühschriften bezeugte, dass der ›junge‹ Mannheim mit unterschiedlichen konzeptuellen Mitteln nach einem ›Novum Organon der Geisteswissenschaften‹ gestrebt hatte. Während sich in seiner Dissertationsschrift noch der Einfluss Rickerts und in der frühen Kulturtheorie derjenige Simmels aufweisen ließen, ist es Dilthey, der in den ersten Arbeiten zur Weltanschauungs- und Verstehensthematik die prominenteste Stellung einnahm. Anhand der Rekonstruktion von Mannheims Grundlegungsprogrammatik konnte dessen systematische Nähe zu Diltheys ›Kritik der historischen Vernunft‹ präzisiert werden. Mannheim formulierte die Forderung nach einer wissenstheoretischen Aufarbeitung der »alltäglichen bzw. ›allgemeinen Welterfah-

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rung«, also lebenspraktischer Weltbezüge der Erkenntnissubjekte, welche, so Mannheim, sowohl in den neukantianischen als auch phänomenologischen Ansätzen noch stiefmütterlich behandelt worden seien. Er wollte in diesem Sinne sogar explizit den ontologischen Erkenntniszusammenhängen den argumentationslogischen Vorrang zuerkannt wissen. Im Rahmen seines Versuchs der Begründung einer eigenständigen Kultursoziologie entwickelte Mannheim schließlich selbst eine Theorie der ›konjunktiven Erkenntnis‹. Diese errichtete er auf dem Boden eines Erfahrungsbegriffes, der in wesentlichen Grundzügen Diltheys Konzept der ›inneren Erfahrung‹ repetierte. In Mannheims Beschreibung der Wahrnehmung über ›Kontagion‹ war impliziert, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen erst das Ergebnis einer sekundären Reflexionsstufe war und das Bewusstsein als Einheit mannigfaltiger Perzeptionsformen das primäre Wahrnehmungsorgan darstellt. Auf der Basis dieses Ausgangspunktes relativierte Mannheim ähnlich wie Dilthey die Autonomie des reinen, vorurteilsfreien Denkens. Es seien lediglich von außen hinzukommende Momente, die letztlich eine begriffliche Separierung von ›quantitativem‹ und ›qualitativem Wissen‹ rechtfertigten. Das ›Verstehen‹ kennzeichnete Mannheim schlussendlich als dadurch gegenüber dem ›Begreifen‹ unterscheidbar, dass hier existentielle Bedingungen unmittelbar in den Aufbauprozess der Wissenskonstitution hineinragten. In diesen Argumentationsstrategien erkannten wir das von Dilthey in die Wissenschaftstheorie transponierte lebensphilosophische Dogma vom Primat des ›Erlebens‹ vor dem ›Erkennen‹. Nachdem Mannheim im Rahmen seiner Verstehenstheorie auf den Befund getroffen war, dass ›Denken‹ und ›Existenz‹ sich wechselseitig beeinflussten – eine These, die wir bereits beim ›späten‹ Simmel antrafen –, ging er daran, eine entsprechende Theorie der Interpretation kultureller Gebilde zu konzipieren. Da auch das ›reflexive Interpretieren‹ von Bedeutungen durch ›Verstehen‹ gestiftet würde, zeichnete Mannheim nur einen relativen Übergang zwischen ›reflexivem‹ und ›konjunktivem Erkennen‹, der durch hinzukommende Reflexionsschritte in der Interpretation markiert sei. Dementsprechend attribuierte er beiden Wahrnehmungsformen das Prädikat der Perspektivität zu. Die Perspektivität des existentiellen wie auch des wissenschaftlichen Verstehens leitete sich in dieser Konzeption aus der Verwobenheit der Erkenntniserfahrungen mit je subjektiv vorgegebenen Existenzfaktoren her. Vor dem Hintergrund der holistisch-lebensphilosophischen Anleihen, die wir bei Mannheim detektierten, überraschte auch schließlich kaum die Entdeckung einer an Diltheys Abfassung des hermeneutischen Interpretationszirkels erinnernden Formulierung im Kontext von Mannheims Kulturtheorie. Wir lasen hier, dass ›Geist auf Geistiges‹ treffe und deuteten sie als Beleg für das Vorliegen einer holistischen Strukturtheorie, in welcher Subjekt und Objekt – wie bei Hegel, der als entscheidender Erfinder dieser

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Denkfigur gelten kann – stets schon als über einen gemeinsamen Fundierungszusammenhang mit einander vermittelt gedacht werden. Aufgrund von Mannheims Neuansetzung, die nicht nur mit der Entwicklung einer Soziologie des Wissens, sondern auch mit einem gezielten Überdecken der ursprünglichen philosophischen Ausgangspunkte einher ging, stellte sich für unsere Rekonstruktion die Aufgabe, die theoretische Kompatibilität von Soziologie und Theorie des Wissens zu verifizieren. Eine Fokussierung der zentralen Denkfiguren, auf denen Mannheim das Gebäude der ›Soziologie der Erkenntnis‹ errichtete, beförderte den Eindruck, dass diese als eine methodologische Umsetzung der grundlagentheoretischen Einsichten Mannheims betrachtet werden muss. Bereits der Zentralbegriff des ›seinsverbundenen Denkens‹ wurde von Mannheim im Sinne des ›konjunktiven Denkens‹ definiert, nämlich als ein solches, bei dem der ›ganze Mensch‹ denkt. In Kontrast stehend zu dem Gros der Interpreten, die in der Wissenssoziologie eine Reformulierung des vulgärmarxistischen Basis-Überbau – Theorems sehen wollen, ermittelten wir die hermeneutischen Wurzeln der Soziologie des Wissens. Die von ihr eingeschlagene Interpretationsrichtung entsprach exakt derjenigen des hermeneutischen Zirkels. Sie knüpfte insofern an die lebensphilosophische Figur des Zusammenhangs von ›Denken‹ und ›Existenz‹ an, als sie eine systematische Bestimmung des Einflusses so genannter »lebendiger Kräfte« im Prozess der Wissenskonstitution anvisierte. Mannheims intensive Auseinandersetzung mit den geltungstheoretischen Implikationen einer wissenssoziologischen Denkanalyse kann vor dem geschilderten Hintergrund als eine wissenschaftstheoretische Reflexion einer holistisch-herme5 neutischen Wissenskonzeption gelesen werden. Bei seiner Suche nach einem »Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff, der gerade dieses ›seinsverbundene‹ Denken und Erkennen zur Grundlage hätte«, stieß der ›mittlere‹ Mannheim auf unterschiedliche argumentative Optionen, die dem drohenden Relativismus Einhalt gebieten sollten. Anders als der ›junge‹ Mannheim, beließ es Mannheim später nicht mehr bei dem Hinweis auf die Unmittelbarkeit und »Echtheit« der ›konjunktiven‹ Erfahrung, sondern strebte nach einer Möglichkeit der Überwindung des strengen Perspektivismus. Unter den mehr und weniger gewichtigen Alternativen ragte die Bedeutung von Mannheims Konzeption des ›dynamischen Relationismus‹ hervor. Über den »Umweg« systematischen Partikularisierens von unterschiedlichen Vorstellungen zu einem bestimmten Denkgehalt sollte zumindest noch »›Objektivität‹«, anstatt »Objektivität« hergestellt werden können. Diese Form der methodischen Wissenssyste4 5

Einen sehr interessanten Versuch, Hegels Erbe in der Soziologie auszudeuten, hat Opielka (2006) vorgelegt. Nach Bertram/Liptow (2002b: 12) ist diese Variante einer holistischen Theorie im Vergleich zu anderen Spielarten – etwa des strukturalistischen Holismus – noch weitgehend untertheoretisiert.

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matisierung konstituierte für Mannheim schließlich jenes »Organon der neuen Menschwerdung«, nach dem er bereits seit Anfang der 1920er Jahre zu fahnden begonnen hatte. Mannheim gelangte, ausgehend von dem lebensphilosophischen Dogma des Primats der ›Existenz‹ vor dem ›Denken‹, zu der Überzeugung, dass nur eine soziologisch angeleitete Betrachtungsweise des Denkens der Wissenschaft und dem Wissen zu einer Aufwertung verhelfen könnte. Der Rückgang auf das traditionelle Wissenschaftsideal nach dem Vorbild des späten Husserls schien ihm ebenso aussichtslos wie die (neu)kantianischen Versuche der Erneuerung des klassischen idealistischen Pathos. Die Soziologisierung des Erkennens beinhaltete für Mannheim von vornherein die Ersetzung der traditionellen Form der Erkenntnistheorie als Fundierungsdisziplin. Schon seine ›Strukturanalyse‹ hatte das Ergebnis erbracht, dass es »keine selbständige erkenntnistheoretische Analyse (gibt)«. Die These des ›Primats der Ontologie‹ antizipierte Mannheims frühe Überzeugung von der Notwendigkeit einer Pragmatisierung der Grundlegungstheorie bzw. der Umkehrung des Theorie-Praxis – Verhältnisses gemäß dem traditionellen Philosophiebegriff. In Diltheys ›Kritik der historischen Vernunft‹ fand er einen Gewährsmann für sein radikales Anliegen. Während am Beispiel von Simmel und Weber in erster Reihe die soziologische Übertragung neukantianischer Grundlegungskonzepte beobachtet und wir mit Mannheim einen Fall vorliegen hatten, anhand dessen das sozialwissenschaftliche Fundierungspotential der ›wissenschaftlichen Lebensphilosophie‹ studiert werden konnte, wendeten wir uns schließlich der Konzipierung der ›phänomenologischen Soziologie‹ durch Alfred Schütz zu, um die strukturtheoretische Wahlverwandtschaft zwischen Soziologie und Phänomenologie zu beleuchten. Schütz’ Unternehmen der Neubegründung der ›verstehenden Soziologie‹ ruhte vornehmlich auf einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Husserls Philosophie. Entsprechend wandelte sich Schütz’ Einschätzung des Fundierungspotentials der Husserlschen Ansätze im Laufe der Zeit. Neben Husserls Variante einer ›Kritik der logischen und der praktischen Vernunft‹ (Husserl) trafen wir bereits in den frühen, erst posthum publizierten Manuskripten zur ›Theorie der Lebensformen‹ auf Einflüsse von anderen prominenten Aspiranten einer Erneuerung der Philosophie. Es waren lebensphilosophisch argumentierende Autoren wie Bergson und Scheler, welche Schütz in seiner Ambition der Mundanisierung transzendentalphänomenologischer Grundkategorien bestärkt hatten. Schütz’ nutzte zunächst insbesondere die zeit- und wahrnehmungstheoretischen Beschreibungen Bergsons und Husserls für eine Reformulierung der sozialwissenschaftlichen Verstehensproblematik, welche für Schütz in dem Problem der Konstitution von intersubjektivem Sinn beschlossen lag. Im Rahmen der Erhellung dieser Vorgänge übernahm er zwar zunächst Husserls egologische Perspektive, erweiterte diese jedoch in

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einem nächsten Schritt um pragmatische Weltbezüge, ohne deren Inrechnungstellung weder die Konstitution und Beständigkeit subjektiver wie intersubjektiver Deutungsmuster hinreichend aufgeklärt werden könnten. Jene Mundanbezüge entdeckte er auf der Beschreibungsebene der face-toface – Interaktion zwischen Ego und alter Ego – Schütz sprach von der ›umweltlichen Wirbeziehung‹. Eine Mundanisierung der transzendentalphilosophisch konzipierten Kategorie des Reflexionssubjekts bei Husserl begründete Schütz mit der von Bergson und Scheler inspirierten Erkenntnis, »daß die Erfahrung vom Wir (in der Umwelt) die Erfahrung des Ich von Welt überhaupt fundiere.« Schütz’ pragmatische Theorie der Sinnkonstitution bildete auch noch die Grundlage für dessen späteren Versuch, die Sozialwissenschaften auf einer Analyse der allgemeinen intersubjektiven Lebensweltstrukturen zu fundieren. Wir zogen gleichwohl einen fetten Trennungsstrich zwischen Schütz’ Sinnkonstitutionstheorie auf der einen Seite und der von ihm anvisierten Form einer ›verstehenden Soziologie‹ auf der anderen. Ähnlich wie für Weber konstatierten wir auch für Schütz eine eigentümliche Diskrepanz in der Gegenüberstellung von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie: Während Schütz’ epistemologische Ausführungen – darin wesentlich expliziter als Weber – hermeneutische und pragmatische Denkfiguren in den Vordergrund stellten, sollte die ›verstehende‹ Soziologie in methodischer Hinsicht ausgerechnet konstruktionistisch verfahren. Eine Methodologie, welche etwa im Sinne Diltheys im ›alltäglichen Verstehen‹ auch den für die Wissenschaft auszubeutenden primären Weltzugang gegenüber des bloß abgeleiteten Reflexionsniveaus der Naturwissenschaften hervorhob, schien Schütz nicht ernsthaft erwogen zu haben. Sowohl Bergsons Intuitionismus als auch Schelers Abgleiten in einen metaphysischen Transzendentalismus (vgl. Srubar 1988: 274f.) dürften ihm als warnende Vorbilder vor Augen gestanden haben. Stattdessen blieb Schütz’ Wissenschaftstheorie sehr eng an der Gestalt der Weberschen Vorgabe orientiert. Auf der Ebene der Geltungstheorie spiegelte sich diese Unstimmigkeit zwischen grundlagentheoretischen und methodologischen Ausgangspunkten wider. Im ersten Schritt forderte Schütz vom interpretierenden Beobachter die Ausschaltung seiner subjektiven Bezüge und Wissensvorräte, in einem zweiten dann die Übernahme der durch die jeweilige Disziplin vorgegebenen Relevanzstrukturen. Damit traten ›Erkenntniswirklichkeit‹ und ›Erfahrungswirklichkeit‹ radikal auseinander. Im Gegensatz zu dieser Forderung formulierte Schütz’ drittes Postulat den Ausweis einer Übereinstimmung zwischen wissenschaftlichen Idealkonstrukten und Erfahrungswirklichkeit. Wie dieser Nachweis unter den einschränkenden Bedingungen der beiden ersten Prämissen zu bewerkstelligen sei, hatte Schütz nicht weiter expliziert. Somit konnten wir für Schütz’ Konzeption einer mundanphänomenologisch begründeten ›verstehenden Soziologie‹, parallel wie bereits für

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Simmel und Weber, den Schluss ziehen, dass auch diese aus einer originellen Amalgamierung hermeneutischer und idealistischer Grundideen hervorgegangen ist. Diese theoretische Operation ging in allen genannten Fällen einher mit einer ›Verlebendigung‹ transzendentalphilosophischer Begriffe. In Schütz’ Denkentwicklung zeichnete sich eine zunehmende Distanzierung von Husserls Bemühungen um eine transzendental-egologische Fundierung der Intersubjektivitätsproblematik ab. Diese zunehmende Einsicht manifestierte sich in Schütz’ Programmatik einer mundanen Lebenswelttheorie, die der ›späte‹ Schütz selbstbewusst gegenüber Husserls transzendentalphilosophischer Originalversion abgrenzte. Auf der Grundlage seiner ursprünglichen Theorie der intersubjektiven Sinnkonstitution baute Schütz schließlich die darin herausgestellten pragmatischen Denkmotive zu einer »Theorie des vollen Pragmas« aus. Die egologische Perspektive, aus welcher heraus Schütz im ›Aufbau‹ noch die subjektive Sinnkonstitution erörtert hatte, wurde nunmehr im Rahmen seiner ›Theorie der Persönlichkeit‹ durch eine pragmatisch fundierte Subjekttheorie ersetzt. Sie war darauf angesetzt, jene »Korrelate« nachzuweisen, welche die äußere Sozialwelt im individuellen Bewusstsein hinterließ. Die Mundanphänomenologie unterschied sich darin von Husserls transzendentaler Lebenswelttheorie, dass sie systematisch die Verschränktheit von Subjektivität und Sozialität im pragmatischen Weltbezug des ›Wirkens‹ herausstellte und darüber hinaus Husserls ›Primat des Bewußtseins‹ durch den ›Primat der Sozialität‹ substituierte. Wir zogen aus unserer Rekonstruktion letztlich den Schluss, dass Schütz zu Unrecht als der Begründer einer ›phänomenologischen Soziologie‹ angesehen wird. Zum einen integrierte er Husserls Argumentationsfiguren in einen theoretischen Gesamtrahmen, dessen philosophische Provenienz als lebensphilosophisch qualifiziert werden muss, wobei Schütz’ in Bergson und Scheler diesbezüglich seine Hauptinspirationsquellen fand. Zum zweiten gab der Überblick über Schütz’ Revision der ›verstehenden Soziologie‹ keinerlei Anhaltspunkte auf phänomenologische Wurzeln. Indessen charakterisierten wir die Gestalt von Schütz’ Wissenschaftstheorie als neukantianisch im Weberschen Sinne. Als Quintessenz im Hinblick auf die Frage nach dem sozialwissenschaftlichen Fundierungspotential der Phänomenologie ergibt sich aus dem Kontext von Schütz’ Husserl- Adaption eine recht ernüchternde Bilanz. Schütz glaubte sich dazu theoretisch legitimiert, solch grundfeste phänomenologischen Ausgangskategorien wie das ›transzendentale Ego‹ und die ›(transzendentale) Lebenswelt‹ ohne eingehende Begründung mundanisieren zu können. Anhand einiger Beispiele hatten wir zu bedenken gegeben, dass Husserls Begrifflichkeiten im Zuge von Schütz’ Transplantation ihren ursprünglichen systematischen Gehalt einbüssten. Nicht nur kann man dadurch Husserls Grundanliegen einer Neufundierung des modernen Wissens gefährdet sehen, sondern darüber hinaus auch in Zweifel ziehen, ob die mundanen Konzepte jene Be-

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gründungslast tragen konnten, die Schütz mit diesem Schritt implizit preisgegeben hatte. In jedem Fall gilt, dass Schütz’ Unternehmen der Grundlegung der Sozialwissenschaften nicht mehr auf phänomenologischem Boden im Sinne Husserls aufruhte. Ähnlich wie vor ihm bereits Siegfried Kracauer herausgefunden hatte, beschloss auch Schütz am Ende seines Lebens, dass sich Husserls transzendentalphilosophische Grundbegriffe nicht ohne weiteres für die Begründung der Wissenschaft der Gesellschaft eigneten. Abschließend sollen nun die im Einzelnen resümierten Befunde zu einem Gesamtbild synthetisiert und in Beziehungen zu den Eingangsfragestellungen der vorliegenden Studie gesetzt werden. Im Ausgang von der Feststellung, dass zwar einerseits »die Reflektion erkenntnistheoretischer Probleme und der Versuch, epistemologisch ›Boden unter die Füße‹ zu bekommen, uns heute als die herausragende Leistung der modernen klassischen Soziologie (gilt)« (Dahme/Rammstedt 1995: 458), zur gleichen Zeit jedoch die darüber weit hinaus reichende Besorgtheit der soziologischen Klassiker ob der ›Krisis des Wissens‹ in aller Regel übersehen wird, war es uns ein primäres Anliegen, die impliziten oder expliziten Grundlegungsprogrammatiken der hier behandelten Autoren herauszustellen. Insbesondere für Weber und Schütz, die in ihrer distanzierten Haltung zur systematischen Philosophie zusammenstimmten, galt, dass sie als ›Fachmänner der Einzelwissenschaften‹ – wie Weber sich ausdrückte – aus einer fachinternen Krisenkonstellation eine methodische Selbstbesinnung angingen, während Simmel und Mannheim zunächst und an erster Stelle als Philosophen argumentierten. Anders als bei Schütz, bei dem sich keine weiteren problemgeschichtlichen Beschreibungen fanden, gaben uns im Falle Webers dessen modernitäts- und wissenschaftskritischen Arbeiten Aufschluss darüber, auf welche Fragen sein Werk eine Antwort geben wollte. Hier entblößte sich Weber als Denker, der ebenso wie die Mehrzahl seiner Berufsgenossen um den Bedeutungsschwund der Wissenschaft bekümmert war. Er beschrieb die ›Krise des Wissens‹ als Konsequenz des sich über zwei Jahrtausende entwickelnden Intellektualisierungsprozesses, der nicht nur zur ›Entzauberung der Welt‹, sondern auch zur Entfremdung des modernen Menschen von seiner lebenspraktischen Umwelt geführt hatte. Bei Simmel und Mannheim dagegen war eine Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ im Diltheyschen Sinne direkt aus ihren erkenntnistheoretischen Schriften deduzierbar. Die soziologischen Klassiker partizipierten also an jenem allgemeinen Diskurs um die Begründung einer allgemeinen Theorie des geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens. Jede systematisch gerichtete Deutung von deren denkerischer Entwicklung muss diesen spezifischen problemgeschichtlichen Hintergrund, den wir im ersten Teil der Arbeit ausführlich historisiert hatten, in Rechnung stellen. Dieser Interpretationskontext erlaubte es, vorher nicht ausgedeutete Bezüge zwischen unterschiedlichen

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Themenbereichen der behandelten soziologischen Autoren herzustellen. Insbesondere für Simmel und Mannheim dürfen wir beanspruchen, innovative Interpretationslinien aufgezeigt und alternative Deutungsvorschläge unterbreitet zu haben. Wir hatten eingangs unsere Rekonstruktion als einen Beitrag zur Charakterisierung der ›kognitiven Identität‹ der modernen und gegenwärtigen (postmodernen?) Sozialwissenschaften ausgewiesen. Vor dem Hintergrund der im gegenwärtigen soziologischen Diskurs allerorten anzutreffenden Krisenrhetorik beurteilten wir das hier vollzogene Experiment einer strukturtheoretischen Kontrastierung der klassischen ›soziologischen Erkenntnistheorie‹ mit den bis heute diskursbestimmenden philosophischen Letztbegründungsansätzen als nahe liegendes Orientierungsmittel. Einhergehend damit wurden weit kursierende, stereotypisch wiederholte Auffassungen zu den philosophischen Grundlagen der modernen Soziologie auf den Prüfstand gestellt. Etwa die Ansicht, dass die deutsche Soziologie von Simmel und Weber auf einem neukantianischen Fundament errichtet wurde, können wir nach unserer obigen Darstellung als einseitig zurückweisen. Vielmehr muss die ihren Soziologiekonzeptionen zugrunde liegende Systematik als ein Hybrid aus holistischen und idealistischen Denkfiguren charakterisiert werden. Gegenüber reduktionistischen Illustrationen der Mannheimschen Wissenssoziologie als Gralshüterin des marxistischen Ideologiebegriffs wies die obige Rekonstruktion auf die lebensphilosophischen Anleihen Mannheims hin. Dass schließlich die auf transzendentalen Kategorien bauende Phänomenologie in ihrer Husserlianischen Variante für Schütz, dem vermeintlichen Begründer einer ›phänomenologischen Soziologie‹, gerade keine adäquate Basis zur Fundierung der ›verstehenden Soziologie‹ bereitstellte, hatte das letzte Kapitel zum Ergebnis. Stattdessen behalf auch Schütz sich mit holistischen Konzeptionen. Keiner der soziologischen Klassiker begnügte sich damit, vorgegebene philosophische Positionen unkritisch zu übernehmen, um sie schlicht auf die spezifischen Problemlagen der eigenen Disziplin zu übertragen. Mit einigen Hinweisen darauf, worin sich nun eine soziologische Erkenntnistheorie von einer systematisch-philosophischen unterscheidet, sollen unsere Ausführungen beschlossen werden. Unter Zugrundelegung von Rortys Kriterien für eine moderne Philosophie können wir dabei belegen, dass es nicht erst »Wittgenstein, Heidegger und Dewey« waren, die das »Zeitalter ›revolutionärer‹ Philosophie« (1987: 17) eingeläutet haben, sondern dass auch ›Fachmänner der Einzelwissenschaften‹ diesen Weg vorbereitet hatten. (1) Implizit waren sich Simmel, Weber, Mannheim und Schütz einig darüber, dass eine transzendentale Begründung der Soziologie keine hinreichende Legitimationsbasis für eine neue, den modernen Bedingungen adäquaten Wissenschaft von der Gesellschaft darstellen würde. Dieser gemeinsame Grundzug äußerte sich in der Art und Weise, in der Simmel und

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Weber in Distanz zur neukantianischen Wertphilosophie und Schütz zu Husserls Transzendentalkategorien gingen. Für Mannheim stand ohnehin von vornherein fest, dass jeder »Versuch, ohne ontologische Voraussetzungen Erkenntnistheorie aufzubauen, heute als gescheitert anzusehen ist«. (2) Sie relativierten damit die Erkenntnistheorie in ihrer klassischen Konzeption als ›Fundamentalwissenschaft‹ zu einer revisionsbedürftigen und voraussetzungsbehafteten Institution, so dass keineswegs erst Rortys Dreigestirn der modernen Philosophie die Verabschiedung von Erkenntnistheorie und Metaphysik als mögliche Fundierungsdisziplinen vollzogen (ebd., 16). Das Bedürfnis der im letzten Teil der Arbeit behandelten Autoren nach einer Neufundierung des wissenschaftlichen Wissens manifestierte sich sowohl in der expliziten Forderung nach einer neuen Grundlegungsdisziplin wie etwa im Falle Mannheims und Schütz’, die statt auf Erkenntnistheorie auf eine Soziologie des Wissens resp. eine Theorie der Lebenswelt setzten (vgl. Koppetsch 2001: 363), in der konsequenten Zurückführung des Wissens auf das individuelle Subjekt als dessen zentraler Fundierungsquelle wie bei Weber oder aber auch in dem systematischen Festhalten an einem als zeitgemäß erachteten relativistischen Denkstil wie Simmel. Sie haben damit keineswegs nur der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftskultur einen besonderen Stempel aufgedrückt, sondern auch einem (post)modernen Begriff des Philosophierens den Weg geebnet, was 6 bis heute von Seiten der Philosophie ignoriert wird. Von einigen wenigen Interpreten dagegen wurden sie sogar als die ›eigentlichen‹ und ›wahren‹ Philosophen ihrer Zeit gefeiert (Jaspers 1932: 57; Fechter 1958: 159; Wolters 1958: 195). (3) Noch in einer weiteren formalen Hinsicht sind die soziologisch fundierten Versuche zur Überwindung der ›Krise des Wissens‹ als modern zu bezeichnen, nämlich in ihrem Verzicht auf philosophische Systematizität im Sinne des klassischen Idealismus. Sie setzten statt auf systematische Geschlossenheit auf interpretatorische Offenheit und flexibel anwendbare Grundperspektiven. Rorty erkannte dem gegenüber erst in Dewey, Wittgenstein und Heidegger die zentralen Figuren und Inauguratoren der so genannten »bildenden Philosophie«, die er der »systematischen Philosophie« gegenüber stellte (1987: 398f.). Dass die philosophiegeschichtliche Leistung Diltheys hierbei auch ignoriert wird, sei an dieser Stelle wenigstens kritisch angemerkt. 6

Zur Verbindung soziologischer Klassiker zum »postmodern turn« (Best/ Kellner 1997), siehe in Bezug auf Simmel die Arbeiten von Weinstein/ Weinstein (1990, 1993), in Bezug auf Weber Gane (2002) und Koshul (2005), im Hinblick auf Mannheim Srubar (2000). Zu Schütz können wir lediglich einen Vortrag mit dem Titel »Alfred Schutz and Postmodernism« anführen, den Mary F. Roger am 7. Oktober an der Universität von Oregon am ›Center for Advanced Research in Phenomenology‹ anlässlich dess 100. Geburtstages von Alfred Schütz gehalten hat.

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(4) Die Gründerväter der modernen Soziologie strebten nach einer Inkorporierung praxis- und erfahrungsbezogener Kategorien und etablierten entsprechende methodologische Geltungskriterien, die nicht auf transzendentale, sondern ontologische Passungen abstellten. Vor diesem Hintergrund nahm Diltheys Programmatik einer ›Kritik der historischen Vernunft‹ insofern eine zentrale Position im Diskurs um die Eigenständigkeit der Geistes- und Sozialwissenschaften ein, als sie mit traditionellen Suprematievorstellungen der Philosophie brach und die Notwendigkeit einer Theoretisierung des Zusammenhangs von ›Denken‹ und ›Leben‹ erkannt hatte und systematisch ausführen wollte. In diesem Sinne kann Dilthey als philosophischer Wegbereiter der soziologischen Erkenntnistheorien, wenn nicht gar als »classical sociological theorist” (Bakker 1999: 43), bezeichnet werden. Dieses gemeinsame Grundmerkmal hatten wir an den jeweiligen Stellen als Dynamisierung, Empirisierung, Pragmatisierung oder Verlebendigung statischer philosophischer Grundbegriffe markiert. (5) Die vorliegende Studie kann entsprechend des zuletzt genannten Befundes durchaus als Beitrag zur neu entfachten Holismus-Debatte in der Philosophie gelesen werden. Es zeigte sich nämlich, dass die geschilderte, von den Begründern der Sozialwissenschaften mit lancierte »anticartesianische und antikantianische Revolution« (Rorty 1987: 17) einher ging mit einer Ersetzung dualistischer und monistischer Grundlegungskonzepte durch holistische Argumentationsstrategien, wobei wiederum die unterschiedlichen Varianten einer ›Philosophie des Lebens‹ – Dilthey, Bergson, Scheler – als wichtigste Bezugsquellen auftraten. Die von Simmel, Weber und Schütz etablierten Varianten einer ›verstehenden Soziologie‹ klammerten – zumindest theoretisch – das wissenschaftliche Verstehen eng an das alltägliche Verstehen und sprengten damit die sowohl von den Neukantianern als auch noch Husserl restituierte Grenzziehung zwischen Theorie und Praxis. Dass auch die Lehre von der ›Seinsgebundenheit des Wissens‹ von Grund auf ein hermeneutisches Unternehmen bildete, hatten wir zu zeigen versucht. Nicht erst bei Sellars und Quine hätte Rorty folglich jene »holistische und pragmatische Grundhaltung« (ebd., 20) antreffen können, aus der heraus er eine Neubegründung der modernen Philosophie angegangen ist (ebd., 191). Als Beleg für die Tragweite, welche der Alternative zwischen den beiden angedeuteten Wissenschaftsbegriffen auch in den gegenwärtigen soziologischen Debatten zukommt, können wir einen Befund Hans-Georg Soeffners wiedergeben, der nach einem Durchgang durch die Erklären/Verstehens-Debatte resümierte: »Wieder einmal zeigt sich, daß – aus wissenschaftstheoretischer Sicht – die Frontlinie nicht eigentlich zwischen qualitativen und quantitativen, nichtstandardisierten und standardisierten Verfahren verläuft, sondern zwischen ›ver-

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stehender Soziologie‹ […] einerseits und dem aus den Naturwissenschaften in die Soziologie übertragenen ›Cartesianismus‹ andererseits« (2004: 8).

So bleibt zum Schluss nur noch der Hoffnung Ausdruck zu geben, dass unsere Rekonstruktion des Verhältnisses von soziologischer Erkenntnistheorie und systematischer Philosophie einen Beitrag zu einer Annäherung zwischen Sozialwissenschaften und Philosophie leisten kann. Dass es nach wie vor gemeinsame Problemstellungen gibt, dürfte nach dem Gesagten außer Zweifel stehen.

Literatur

Primärquellen: GS I

Dilthey, Wilhelm (1959): Gesammelte Schriften I: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Stuttgart: Teubner.

GS V

Dilthey, Wilhelm (1957): Gesammelte Schriften V: Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Stuttgart: Teubner.

GS VI

Dilthey, Wilhelm (1968): Gesammelte Schriften VI: Einleitung in die Philosophie des Lebens. Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, Stuttgart: Teubner.

GS VII

Dilthey, Wilhelm (1957): Gesammelte Schriften VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart: Teubner.

GS VIII

Dilthey, Wilhelm (1968): Gesammelte Schriften VIII. Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Stuttgart: Teubner.

GS XVIII

Dilthey, Wilhelm (1977): Gesammelte Schriften XVIII: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (18651880), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

GS XIX

Dilthey, Wilhelm (1982): Gesammelte Schriften XIX. Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870-1895), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

GS XX

Dilthey, Wilhelm (1990): Gesammelte Schriften XX: Logik und System der philosophischen Wissenschaften. Vorlesungen zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864-1903), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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GS XXI

Dilthey, Wilhelm (1997): Gesammelte Schriften XXI: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Erster Teil: Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie (ca. 1875-1894), Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

GS XXII

Dilthey, Wilhelm (2005): Gesammelte Schriften XXII: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Zweiter Teil: Manuskripte zur Genese der deskriptiven Psychologie (ca. 1860-1895), Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

GS XXIV

Dilthey, Wilhelm (2004): Gesammelte Schriften XXIV: Logik und Wert. Späte Vorlesungen, Entwürfe und Fragmente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertlehre (ca. 1904-1911), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Aufbau

Dilthey, Wilhelm (1993): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

WuM

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Simmel, Georg (2000): Georg-Simmel-Gesamtausgabe 10: Philosophie der Mode (1905), Die Religion (1906/1912), Kant und Goethe, (1906/1916), Schopenhauer und Nietzsche, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Simmel, Georg (2001): Georg-Simmel-Gesamtausgabe 11: Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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488 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT

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522 | DIE SOZIOLOGISCHE KRITIK DER PHILOSOPHISCHEN VERNUNFT

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Sozialtheorie Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault Dezember 2007, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-631-1

Anette Dietrich »Weiße Weiblichkeiten« Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus Oktober 2007, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-807-0

Johannes Angermüller Nach dem Strukturalismus Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich Oktober 2007, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-810-0

Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung Oktober 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9

Tanja Bogusz Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne Oktober 2007, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-782-0

Daniel Šuber Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 September 2007, 520 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-727-1

Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert September 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9

Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie September 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften September 2007, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0

Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen August 2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

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Sozialtheorie Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie August 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien Juli 2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge Juni 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen Mai 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

Anne Peters Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Zizek Mai 2007, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-655-7

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht März 2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman Februar 2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität Februar 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie Februar 2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe Januar 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de