Philister: Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur 9783050057187, 9783050052663

Der „Philister“ ist eine bedeutende Sozialfigur der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte - und eine zu wenig beacht

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Philister: Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur
 9783050057187, 9783050052663

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Inhalt

SektION I  Philister der Neuzeit – Überblicke

Vorrede    9 Remigius Bunia / Till Dembeck / Georg Stanitzek Elemente einer Literaturund Kulturgeschichte des Philisters. Einleitung    13

Heinrich Bosse  Musensohn und Philister. Zur Geschichte einer Unterscheidung    55 Maren Lehmann  Philiströse Differenz. Die Form des Individuums    101 Ursula Geitner  Betrachtungen des Philisters. 1800 / 1900 / 1924    121

SektION II  Biblische Vorgeschichte   des neuzeitlichen Philisterbegriffs

SektION III  Genie und Philister im 18. Jahrhundert

Wolfgang Zwickel  Die historischen Philister. Israels fremde Welt    145

Walter Erhart  Werther und die Philister    195

Bernhard Lang  Simson und die Philister. Kurze Lektüre einer biblischen Geschichte    159 Dagmar Börner-Klein  Die Simsongeschichte – jüdische Perspektiven    175

Annette Keck  Der Philister als komische Figur. Die Leiden und Freuden des Friedrich Nicolai    215

SektION IV  Die romantische Fassung des Philisterbegriffs

Sektion V  Um 1900 – Bildungsphilister /   Politisierung / Bohème

Stefan Nienhaus  Brentanos Philisterabhandlung und ihre Kommentierung im Rahmen der historisch-kritischen Edition    241

Eva Blome  Vom ungebildeten Philister zum Bildungsphilister. Heinrich Heines Beitrag zu einer spannungsvollen Transformation    357

Till Dembeck  Transzendentale Exklusionen. Philister, Juden, Zigeuner und Deutsche bei Achim von Arnim, Clemens Brentano und Johann Gottlieb Fichte    253 Anja Oesterhelt  Der Simson im Bürger. »BOGS der Uhrmacher« von Clemens Brentano und Joseph Görres    285 Felix Saure  Vom »aufgesteiften Leichnam des Vitruv« und »durchaus neuen Principien«. Karl Friedrich Schinkel und die Nationalisierung des Philisters im Architekturdiskurs um 1800    311 Matthias Buschmeier Der Philister als literaturgeschichtliche Reflexionsfigur. Eichendorffs »Krieg den Philistern !« als Abgesang der Romantik    337

William Rasch  Wissenschaftsphilister. Nietzsche über das moderne Bildungswesen    383 Maren Lehmann  Revolution als Beruf    397 Doerte Bischoff  Wider das bedingte Leben ? Die Frauen der Philister und die Freiheit der Kunst in Romantik und Dandyismus    415 Kyung-Ho Cha  »›Jugend ! Philister über Dir !‹« Jugendkultur und Altersresignation als Hintergrund der modernen Gesellschafts- und Literaturkritik bei Walter Benjamin    433

Sektion VI 

Konsequenzen und Erbe der Philistersemantik Georg Stanitzek  Regenschirmforschung. Robert Walsers Bildungskritik im Zusammenhang der moralistischen Tradition    451

Remigius Bunia  Vom Philister zum Fundamentalisten. Mit guten Absichten Gewalt für alle – der 11. September nach Schlingensief und Sloterdijk    477 Dirk Baecker  Der Professor    499

Personenregister    513 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren    523

Remigius Bunia  / Till Dembeck  / Georg Stanitzek

Vorrede

Philister. Zwar kennt die Philologie kein Unkraut. Trotzdem legt die Literaturwis­sen­ schaft – und daran hat sich auch mit ihrer verstärkten kulturwissenschaftlichen Aus­ richtung wenig geändert – doch Wert auf eine gewisse Assoziation mit dem Guten, dem Schönen, dem Wahren. Man befasst sich lieber mit dem Erhabenen als mit dem Fla­chen, besser mit Perfektionswerten und weniger gern mit Fehlern, vorzüglich mit dem ästhetischen Schein statt mit betrüblichen Formularen der Kommunikation. Der Philister- ist definitiv ein Oppositions- und Gegen-, ein Abwertungsbegriff. Aber Begriffe werden erst durch ihre Gegenbegriffe reflexionsfähig. Denn erst wenn  man für dasjenige, was man ausschließt, einen eigenen Begriff findet und es mar­kiert,  rückt man es ins Blickfeld, lässt es intellektuell verfügbar werden. Und gerade in äs­the­ tischen, auch in politischen und zumal in ›kulturellen‹ Zusammenhängen ist es mit­ unter besonders aufschlussreich, die Aufmerksamkeit auf den entgegengesetzten, den abgewerteten Term zu richten. Das vorliegende Buch folgt damit einem Interesse, das Reinhart Koselleck bezeichnet, wenn er in der »Semantik asymmetrischer Gegenbe­ griffe« einen ausgezeichneten Gegenstand begriffsgeschichtlicher Forschung erkennt. In dieser Perspektive handelt es sich beim Philister gerade für die Kulturwissenschaften um ein aufschlussreiches semantisches Phänomen. Einem Vorschlag Niklas Luhmanns folgend kann man Kultur als ein Medium beschreiben, das keine Leitun­ terscheidung vorsieht. Vielmehr hat man es mit einem quecksilbrigen Geschehen zu tun, das es leicht macht, vom einen zum anderen Wert überzugehen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass es innerhalb dieses Mediums mit seiner Werte-Disper­ sion immer auch Ansätze zu gewissen begrenzt stabilen Unterscheidungen gibt. Bei der Reihe jener Entgegensetzungen, in denen ›Philister‹ im Lauf seiner lan­gen Ge­ schichte erscheint  – Held / Philister, Frommer / Philister, Student / Philister, Genie /   Philister, Mensch / Philister, Gebildeter / Philister, Burschenschaftler / Philister, Enga­ gierter / Philister, Bohemien / Philister, Suchender / Bildungsphilister, Intellektu­eller /   Philister und so fort  –, hat man es mit ebensolchen Versuchen zu tun, zumindest 

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ansatzweise stabile Unterscheidungen zu treffen. In der neuzeitlichen Philister-Begriffs­ geschichte gibt allerdings die Nachhaltigkeit des negativen Terminus zu denken; die positiven Orientierungsgrößen hingegen werden in rascher Folge ausgetauscht. Besonders nachhaltig ist die Begriffsverwendung in akademisch-wissenschaftlichen Kontexten, verbinden sich doch Akademie und Universität traditionell mit dem Versprechen immerhin der Möglichkeit einer nichtphiliströsen Existenz. Bei diesem Versprechen handelt es sich gewiss um einen längst ungedeckten Scheck, den nur niemand aus dem Verkehr ziehen will. Die zugrunde liegende Vorstellung ist eine vormoderne; sie ist aus der ständischen Welt und ihren Korporationen heraus motiviert, die nicht mehr die unsere ist. (Sieht man von Burschenschaften einmal ab, deren Wortschatz in der Gegenwart den wohl präzisesten, ebenso unideologischen wie uninteressanten Philisterbegriff vorsieht: Ehemalige, ›alte Herren‹.) Unter modernen Bedingungen, die mit dem Begriff des Bildungsphilisters auf den Punkt gebracht worden sind, korreliert denn auch dem Versprechen zugleich ein Verdacht, der die akademische Arbeit umlagert, ja in sie eingelagert ist. »Philister, Philhistor.« So hat bereits Georg Christoph Lichtenberg notiert. Und wenn man sich daran erinnert, dass noch Michel Foucault in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France die antiphiliströse Ausrichtung seines Forschungsprogramms betont hat – untersuchen werde er »trois coupes dans la morphologie de notre volonté de savoir; trois étapes de notre philistinisme« –, wird klar, dass es Gründe geben muss, dass sich der genannte Scheck noch im Umlauf befindet. Gerade in akademischen Kontexten hat der Philister noch Kredit, die Frage nach ihm ist dort keine bloß antiquarische; man muss mit einem hermeneutischen Einschluss, einer Selbstimplikation in dieses semantische Feld rechnen. Das Philiströse, diese so ärgerliche wie bedauerliche Korruptionskategorie, dürfte in vielem nach wie vor eine selbstverständlich mitlaufende Referenz der geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeit sein. Als eine Art Sortierreferenz oder kritischer Re­ flexionswert funktioniert sie allerdings – zum Glück, muss man wohl sagen – in der Regel ohne ausführliche und ausdrückliche Thematisierung. Es bestünde sonst Gefahr, sehr schnell in moralische Kommunikationsweisen zu verfallen, mitsamt ihren polemogenen Eskalationstendenzen. Das Anathema zum Thema zu machen ist insofern ein wenig riskant. Umso mehr danken die Herausgeber den Beiträgerinnen und Beiträgern nicht nur für ihre Bereitschaft, sich auf die vorgeschlagene Fragestellung einzulassen. Der Dank gilt eben auch der gelehrten Besonnenheit, mit der sie dies getan haben. Die wissenschaftliche Konferenz, auf der die meisten Beiträge zu diesem Buch zunächst vorgestellt wurden, konnte am 2.–5. Juli 2008 in der erfreulichen intellektuellen Atmosphäre des ICI Kulturlabor Berlin stattfinden. Für die Förderung dieser Konferenz danken wir dem ICI und namentlich Christoph F. E. Holzhey ebenso wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie der Forschungskommission der Universität Siegen, die uns

Vorrede

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Mittel für die Realisierung der Diskussion zur Verfügung gestellt haben. Last, but not least sei Anke Bliedtner für ihre professionelle Unterstützung bei der Durchführung der Berliner Tagung gedankt und Andreas Langensiepen (­textkommasatz) für die umsichtige Einrichtung des Satzes und die Herstellung des Registers. (Berlin / Riga / Siegen, im Juli 2011)

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Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte des Philisters Einleitung

Beim ›Philister‹ handelt es sich um eine der wichtigsten Sozialfiguren der deutschen Literatur‑ und Kulturgeschichte – und eine der am wenigsten beachteten. Der vorlie­ gende Band soll die Erforschung dieses semantischen Phänomens voranbringen, das regelmäßig im Schlagschatten des neuzeitlichen Bildungs- und Universitätsdiskurses liegt und immer schon jene Spannungen artikuliert, die ihn in kultureller Hinsicht prä­gen. Die Philistersemantik aus dem Schatten herauszuholen und dazu beizutra­gen, ei­nige in diesem Schatten verborgene komplexe Voraussetzungen zu erhellen, ist für kul­tur­wissenschaftliche Forschung umso attraktiver, als es sich offenbar um ein Phä­ no­men der longue durée handelt. Denn ›Philister‹ ist ein Begriff, der sich nicht nur im Alten Testament findet, sondern auch in die Geschichte der neuzeitlichen Universi­tät ein­tritt; er begegnet im Schnittpunkt von Antisemitismus und Nationalbewegung im 19. Jahrhundert; und er tritt nicht nur in – und seit – Goethes Leiden des jungen Wer­ thers als Gegenbegriff zum Genie auf, sondern sein semantisches Potenzial bringt sich über 1968 bis in die gegenwärtige Literatur- und Kunstproduktion zur Geltung. Die Beiträge des vorliegenden Bandes verfolgen die Philisterfigur durch diese wech-­ selhafte Geschichte hindurch. Sie ordnen sich in sechs Sektionen. Die Beiträge der ersten Sektion verstehen sich als historische Überblicksdarstellungen mit je unterschiedlichem thematischem Schwerpunkt; insbesondere wird hier die Prägung des neu­zeitlichen Philisterbegriffs im studentischen Milieu um 1700 rekonstruiert. Die übri­gen fünf Sektionen sind wichtigen Wendepunkten in der Geschichte der Phi­lis­ terfigur gewidmet. So wird das Netz sichtbar, in dem sich über Jahrhunderte die Über­ lie­ferung der Philistersemantik verknüpft hat. Im Einzelnen gilt das Interesse die­ser Sek­tionen dem historischen Volk der Philister, der Neufassung des Philisterbegriffs im Kon­text der Geniesemantik im 18. Jahrhundert, der romantischen Transformation von Genie- und Philisterbegriff, der Entwicklung des Begriffs des ›Bildungsphilisters‹ im 19. Jahrhundert und Phänomenen aus dem 20. Jahrhundert, welche – ohne den Begriff in jedem Fall explizit zu verwenden – dennoch sein semantisches Potenzial beerben.

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I. Der Ausdruck ›Philister‹ löst sich von seinem historischen Kontext, dem Bezug auf das Volk der Philister im Alten Testament, als nach der Ermordung eines Studenten in Jena um 1690 ein Geistlicher das Verbrechen in seiner Leichenpredigt verurteilt, indem er – auf die Simson-Episode aus dem Buch der Richter verweisend – wiederholt ausruft: »Philister über dir, Simson!« (Ri 16,9 –20) Sind die Grundzüge der Wortgeschichte zwar in ihren Hauptstationen gut erforscht,1 so lässt sich doch das Jenaer Ereignis bisher nicht präziser rekonstruieren. Der Ausdruck wird aber aufgegriffen, und er verbreitet sich. Man kann annehmen, dass die Inanspruchnahme des Buchs der Richter den Zuhörern der Predigt deutlich gewesen ist. Es bleibt allerdings zunächst unklar, worin dieser Bezug im Einzelnen eigentlich besteht, denn es lässt sich hinsichtlich des Jenaer Mordfalls kaum eine eindeutige Allegorese durchführen. Fest steht nur, dass der Mord einen Studenten zum Opfer hat und dass als Philister nunmehr diejeni­ gen zu gelten haben, die nicht dieser Gruppierung angehören, genauer: die als Stadtbürger nicht am akademischen Leben teilhaben. Jenseits der Unsicherheiten, die diese Ursprungserzählung des modernen Philisterbegriffs schon hinsichtlich der Fakten birgt, muss gefragt werden, aufgrund welcher sozialen Umstände ein negativ besetzter Gegenausdruck zum Studenten notwendig oder zumindest funktional geworden ist und warum gerade die unbestimmte Figur  des Philisters in diese Position einrücken und in je unterschiedlichen Konstellationen auch in der Folgezeit bedeutsam bleiben konnte. In den vorliegenden Beiträgen zeigt sich, dass ein Zusammenhang mit jener Mobilität besteht, die der studentische Stand in zunehmendem Maße in die ständisch-städtische Ordnung einführte. Denn einer­ seits besaß die Studentenschaft Züge eines eigenen Standes mit entsprechend ge­son­ der­ten Rechten und Pflichten, andererseits stellte sie sich qua ihres neuartig mobilen und lebens­geschichtlich transitorischen Charakters quer zu dieser ständischen Ord­ nung. In der Philister-Kategorie entfaltet sich so eine Spannung, die der ständischen Ord­nung zunächst inhärent zu sein scheint, die sie aber zugleich bereits gefährdet. Aus dieser Ursprungsgeschichte des modernen Philisterbegriffs ergibt sich die dop­ pelte Fragestellung, die allen Beiträgen des Bandes zugrunde liegt. Zu fragen ist zum  einen nach dem sozialen und semantischen Bedarf, auf den der Philisterbegriff in den verschiedenen historischen Situationen, in denen er zum Einsatz gekommen ist, antwortet. Zum anderen ist dabei immer auch zu untersuchen, warum gerade der Philister mit seiner alttestamentlichen und in der Neuzeit in unterschiedliche Rich­ 1 Schon seit Friedrich Kluge, »Philister«, in: ders., Wortforschung und Wortgeschichte. Aufsätze zum deutschen Sprachschatz, Leipzig: Quelle & Meyer 1912, S. 20 – 4 4; ergänzend zur Patristik: Georg Büchmann, Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, gesammelt und erläutert, 32. Aufl., vollständig neu bearb. von Gunther Haupt und Winfried Hofmann, Berlin: Haude & Spener 1972, S. 22 f.

Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte des Philisters

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tungen weiter entwickelten Vorgeschichte in der jeweiligen Lage bedeutsam hat wer­ den können. Methodisch ist dabei festzuhalten, dass man es in Termini der Rhetorik beim Je­na­er Ereignis effektiv mit einer Katachrese, einem Neologismus zu tun hat, den von ei­nem bloß metaphorischen Sprachgebrauch unterscheidet, dass der Mangel eines verbum proprium durch eine Worterfindung behoben wird. Mag diese Unter­schei­dung zwi­ schen Katachrese und Metapher auch von einer prinzipiellen Unsicherheit ge­kenn­ zeich­net sein,2 so leitet gerade deshalb die rhetorische Analyse ganz selbst­ver­ständ­ lich dazu an, jenes sachliche Problem zu suchen und zu benennen, das den Grund für die neue Bezeichnung bildet. Das damit gegebene Schema von Problem – als Ausdrucksproblem – und Lösung – die eben im neu gefundenen Ausdruck bestünde – ist allerdings mit gehöriger Skepsis zu verwenden, verführt es doch leicht dazu, den performativen Überschuss oder, wenn man so will, die kommunikativ-poetische Energie der spracherfinderischen Setzung zu unterschätzen. Und zusammen damit die Folgeprobleme, die mit der semantischen Innovation verbunden sind und von ihr allererst ins Spiel gebracht werden. Gerade die Problemgeschichte des Philisterbegriffs hat es mit der Dynamik einer semantischen Evolution zu tun, in der solche Folge­pro­ bleme und ‑spannungen von besonderem Interesse sind.3 Begriffsgeschichte heute sollte »nicht nur als historische Bedeutungsforschung, sondern zugleich als his­to­ri­sche Sprachhandlungsforschung« verstanden und durchgeführt werden.4

2 Vgl. Karlheinz Stierle, »Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung«, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 154 –189, hier S. 179 f.; Patricia Parker, »Metaphor and Catachresis«, in: John Bender und David E. Wellbery (Hrsg.), The Ends of Rhetoric. History, Theory, Practice, Stanford, CA: Stanford UP 1990, S. 60 –73 u. 219 –221, hier S. 65 –73 u. 220 f.; Gerald Posselt, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München: Fink 2005. 3 Dass problemgeschichtliches Arbeiten seinen Gegenstand im »Text als ›Reaktion‹ auf Probleme in der ›Welt‹« habe (Carlos Spoerhase, »Dramatisierungen und Entdramatisierungen der Problemgeschichte«, in: Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi [Hrsg.], Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg: Meiner 2010 [= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 7], S. 107–123, hier S. 120), ist einerseits richtig, andererseits verkürzt es die Sache doch um eine ihrer Dimensionen, die Reinhart Koselleck für die Begriffsgeschichte folgendermaßen gefasst hat: »Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor« (Reinhart Koselleck, »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 107–128, hier S. 120). Texte wie Begriffe sind auch in der letztgenannten Dimension zu untersuchen; so ist zum Beispiel »de[r] Akt der Verbegrifflichung als Intervention« in den Blick zu nehmen (Ralf Konersmann, »Wörter und Sachen. Zur Deutungsarbeit der historischen Semantik«, in: Ernst Müller [Hrsg.], Begriffsgeschichte im Umbruch?, Hamburg: Felix Meiner 2005 [= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2004], S. 21–32, hier S. 27). 4 Carsten Dutt, »Begriffsgeschichte als Aufgabe der Literaturwissenschaft«, in: Christoph Stro­ setzki (Hrsg.), Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte, Hamburg: Meiner 2010 (= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 8), S. 97–109, hier S. 100.

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Die Beantwortung beider Fragen – der Frage nach der signifikanten Nullstelle, in die hinein der neuzeitliche Begriffseinsatz erfolgt, und der Frage nach dem Po­ten­zial der damit aufgerufenen Kategorie – ist keinesfalls selbstverständlich; und so kom­men die Beiträge denn auch im Einzelnen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dennoch las­ sen sich Grundzüge erkennen, welche die Rede vom Philister über alle diachronen se­ mantischen Verschiebungen und Transformationen hinweg kennzeichnen. Vorab kann man mindestens fünf Problemkomplexe benennen, innerhalb derer einer­seits ge­ra­de die Figur des Philisters funktional werden kann – und andererseits typische pro­ble­ma­ tische, dysfunktionale Folgen zeitigt. Über die gesamte Semantikgeschichte hinweg zeigt sich erstens, dass der Philis­ terbegriff auf die Unterscheidung Eigenes / Anderes reagiert. Die Zuordnung Eigenes /  Anderes ist bereits in der Simson-Episode aus dem Buch der Richter herausgefordert – man kann in ihr eine »jüdische Urszene interkulturellen Konflikts«5 sehen. Dies wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass Simson als Richter sowohl Repräsentant der jüdischen Gemeinschaft als auch ein Grenzgänger ist – nicht nur weil er noto­ risch Beziehungen zu Frauen sucht, die den Philistern zumindest nahe stehen, son­ dern auch weil zutiefst unklar ist, wie das mehr als rüpelhafte Verhalten des Vorbilds und Helden Simson überhaupt mit und vor der eigenen Kultur gerechtfertigt werden kann. Zur Entstehungszeit des modernen Philisterbegriffs geht es wie gesagt ebenfalls um die Neukonstituierung einer Gruppe von ›Eigenen‹, die bestehende (ständische) Ordnungsprinzipien zugleich überwindet und fortschreibt. Spätestens in der Romantik erreicht die Philistersemantik ein Stadium, in dem im Grunde jeder riskiert, selbst den Philistern zuzugehören, weil man sich das Philiströse als jeder Selbsterkenntnis verschlossen vorstellt. Nimmt man unter solchen Voraussetzungen am antiphiliströsen Diskurs teil, muss man fortlaufend das Philisterhafte als das Andere konstruieren, um sich jedes Mal aufs Neue von ihm abgrenzen zu können. Dabei vollzieht sich diese Abgrenzung stets unter der Voraussetzung, den Anderen fehle es an Differenzierungsvermögen – insbesondere sind die Philister eben angeblich nicht in der Lage zu erkennen, dass und warum sie Philister sind. Begreift man Kultur im Sinne neuerer Forschung als Produkt einer Praxis des Vergleichs – wie es Niklas Luhmann und Dirk Baecker vorschlagen6 –, eines Vergleichs, der kulturelle Identitäten und Spannungen überhaupt erst erzeugt, so ließe sich die These vertreten, dass den Philistern seit der Romantik insbesondere das Gespür für einen solchen kulturellen Vergleich abgeht: Der Philister hält sich für kulturell identisch, ohne dem Vergleich mit Anderem je eine Chance zu geben. Umgekehrt aber gefährdet sich das besondere Vermögen zum Erkennen feiner 5 Bernhard Greiner, »›Philister über Dir, Simson!‹ – Die Geschichte Simsons als jüdische Urszene interkulturellen Konflikts. Die Erzählung der Bibel und deren Aneignung durch Elias Canetti«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 44.1 (2000), S. 123 –139. 6 Niklas Luhmann, »Kultur als historischer Begriff«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 31–54; Dirk Baecker, Wozu Kultur?, 2., erw. Aufl., Berlin: Kulturverlag Kadmos 2001.

Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte des Philisters

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kulturbezogener Differenzen, durch das sich die Antiphilister auszeichnen, in seinem Absolutheitsanspruch stets selbst. Ein zweiter semantischer Problemkomplex, den die Philistersemantik epochen­ übergreifend markiert, ist die genannte soziale Mobilität als Konstituente moderner Gesellschaft. Vielleicht funktioniert die Überführung der Philisterfigur aus dem Alten Testament in die frühneuzeitliche Universität nicht zuletzt deshalb, weil die Phi­lister für Israel – und besonders für Simson – Mobilitätshindernis und Anlass zur Mo­bi­ lisierung sind, so wie die häuslichen Stadtbürger den Anlass und Kontrapunkt für die neue Selbstbeschreibung eines per definitionem mobilen Standes geben.7 Für die gesamte Neuzeit ist speziell die Frage nach der einerseits ethnischen, andererseits allgemein gruppenkonstitutiven Valenz des Philisterbegriffs zu stellen. Es zeigt sich, dass die Philistersemantik in ihrer Evolution auf die jeweiligen Vorstellungen von sozialer Ordnung und von kultureller Identität zu beziehen ist. Der neuzeitliche Philister mar­ kiert dabei immer sowohl den Aufbruch (aus) der bisherigen sozialen Ordnung als auch das Risiko, mit jedem erfolgreichen Aufstieg selbst wieder für die Zementierung einer neuen sozialen Ordnung verantwortlich zu sein. Der ›Marsch durch die Institutionen‹, dessen Idee spätestens die romantischen Antiphilister umtreibt, birgt die Gefahr, dass die Institutionen sich als so mächtig erweisen, dass sie diejenigen, die sich durch sie ihren Weg bahnen, ebenso zu Philistern machen wie alle anderen auch. Die Philistersemantik als Ort der Verhandlung sozialer Mobilität verweist auf die historischen Bedingungen jeder Auseinandersetzung mit sozialer Ordnung und da­ mit auf ein drittes Charakteristikum der Philistersemantik: Denn die Auseinandersetzung mit sozialer Ordnung kann gewaltsam sein, und eine solche Gewalt ist in der Tradition der politischen Gewalt zuvörderst männliche Gewalt. Im Zusammenhang mit der Philistersemantik ist also zum einen das Verhältnis von Gewaltnähe und sozi­aler Mobilität zu prüfen – ein Verhältnis, dessen Auswirkungen in gegenwärti­gen Rekurrenzen beobachtbar bleibt. Zum anderen steht die Frage nach der geschlechtlichen Wertigkeit der Kategorie zur Debatte. Die vorliegenden Beiträge zei­gen, dass die Philistersemantik fast immer eine Selbstsetzung junger Männer als Oberschicht im­pli­ziert – und zwar auf dem Wege der Beanspruchung einer Kombination von äs­ the­tischer mit Protest-Kompetenz. Das lässt im Kern bereits der Rückgriff auf die ausgesprochen gewaltsame Simson-Geschichte der sich anlässlich eines Gewaltakts neu konstituierenden Gruppe der Antiphilister Ende des 17. Jahrhunderts erahnen. Das Anmelden von Führungsansprüchen erfolgt unter Freigabe der Gegner zu Spott und Gewalt. Im Zusammenhang mit dieser Gewaltnähe wird man die Moralhaltigkeit fast 7 Man wird hier für die Philistersemantik das Motiv der studentischen Jugend hervorheben müs­ sen; Mobilität und Fremdheit als solche sind ja traditionelle Charakteristika des Wissenschaftlers respektive Gelehrten – vgl. Rudolf Stichweh, »Universitätsmitglieder als Fremde in spätmittelalterlichen und frühmodernen Gesellschaften«, in: Marie Theres Fögen (Hrsg.), Fremde der Gesellschaft. Historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Differenzierung von Normalität und Fremdheit, Frankfurt am Main: Klostermann 1991, S. 169 –191.

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aller antiphiliströsen Diskurse zu sehen haben. Die Anwendung des Terminus hat regel­mäßig einen herabwürdigenden Aspekt, der die jeweils gemeinte ganze Per­son betrifft. Und weil Moralisieren polemogen ist, erzeugt die Philisterbezeichnung, auf wel­ che Probleme auch immer sie reagieren mag, ihrerseits Konflikte, zu deren Lö­sung sie als moralische Kategorie wenig beitragen kann. Die Philistersemantik ist viertens, woran der Beitrag von Ursula Geitner pan­ ora­matisch erinnert, von Anbeginn an im Licht einer historischen Anthropo­logie der Geschlechter zu lesen. In dieser Perspektive handelt es sich um eine dreistel­li­ge Relation: Simson / Delila / Philistervolk  – Student / Bürgerstochter / Stadtbürger  – Werther / Lotte / Albert, eine Trias, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel für seine Gegenwart bündig auf den Begriff gebracht hat: der Jüngling / sein Mädchen / die bürgerliche Gesellschaft. Es ist nicht nur üblich, sondern es ist für diese Tradition zentral, dass das damit gegebene Relationsgefüge aus der Perspektive des männ­li­chen Helden in Anschlag gebracht und thematisiert wird.8 Die heroische Struktur ist um des Heros willen da. Dass die beiden übrigen Perspektiven ausgearbeitet würden, ist einer­seits nicht vorgesehen, und andererseits scheint eine solche Perspektivierung selbst bereits auf eine Krise der Philistersemantik als solcher hinauszulaufen, demoliert oder irritiert es doch das Spiel, das im Rahmen dieser Semantik gespielt wird, wenn die dem Subjekt und Helden reservierte Stelle von einem Mädchen oder einer Frau in Anspruch genommen wird. Genau das entspricht aber schlicht faktisch der Sozialgeschichte9 von Frauenstudium, Frauenarbeit, Frauenwahlrecht, weiblicher Autorschaft – kurz: Emanzipation seit der Wende zum 20.  Jahrhundert.10 Das sind Voraussetzungen jener neusach­li­ chen Abkühlung und Entspannung, die Geitner an den 1924 von Alice Berend gebotenen ›Betrachtungen eines Philisters‹ beobachtet. In ihnen erscheint die tra­di­tio­ nelle Philistersemantik auf doppelte Weise ausgehebelt, zum einen nämlich durch die Perspektive einer weiblichen Autorschaft, zum anderen durch die philiströse Per­ spektive der erzählten fictio personae. Möglicherweise ist es signifikant, dass diese Phi­ listerbetrachtungen aber wörtlich als »Betrachtungen eines Spießbürgers« erschienen 8 »Männerliteratur« (Jürgen Kegler, »Simson – Widerstandkämpfer und Volksheld«, in: Communio viatorum. A theological journal 18 [1985], S. 97–117, hier S. 110). 9 Vgl. Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900 –1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996 (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 10). 10 Von retardierenden Phänomenen, etwa der Hausfrau der 1950er Jahre einmal abgesehen, wie sie in Nelly Sachs’ Darstellung höchst direkt als Philisterin charakterisiert ist: Nelly Sachs, »Simson fällt durch Jahrtausende. Ein dramatisches Geschehen in vierzehn Bildern«, in: dies., Simson fällt durch Jahrtausende und andere szenische Dichtungen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1967, S. 43 –74 u. 150, hier S. 61 f.; vgl. als pauschale ältere Kulturkritik der Weiblichkeit: »Ohne alle Ausnahme konformieren die weiblichen Naturen« (Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 120 [Nr. 59]).

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sind. Denn onomasiologisch betrachtet, mögen zwar »Spießer« und »Spießbürger«, »bourgeois«, auch »Biedermann«, »Konformist« oder »Michel«11 weitgehend äqui­va­ lente Ausdrücke zu »Philister« sein. Wahrscheinlich zeichnet letzteren Terminus aber die besondere Bindung an das genannte heroische Erzählschema und die mit ihm ver­bundenen Dynamiken aus. Nicht umsonst gibt es unter Geitners Befunden auch solche, die als explizite Aneignungsversuche der Simsonposition zu lesen sind,12 Aneig­ nungsversuche, welche sich allerdings nicht haben dauerhaft etablieren können. Wenn der Differenz Simson / Philister ein anthropologischer Status zugeschrieben werden kann, so wird gerade an ihr mit der Frauenemanzipation als Apokalypse des Philisterbegriffs der kategoriale Sinn von historischer Anthropologie anschaulich. Das fünfte wiederkehrende Moment der Philistersemantik liegt in ihrem Be­zug zur Idee der Bildung. Es ist kein Zufall, dass die Semantik im Rahmen von Studentenprotesten im 17. Jahrhundert aufkommt; es erweist sich gleichermaßen als semantisch schlüssig, dass der Philister zur Gegenfigur des ›kreativen‹ Genies wird und der Bil­ dungs­philister eine Schwundstufe des Bildungsgedankens markiert. Im Philister zeigt sich, dass Bildung immer schon vom Risiko umgeben gewesen ist, in bloße Aus­bil­ dung umzuschlagen. Die denkwürdige Inversion, die sich bei der Unterscheidung Eigenes / Anderes beobachten lässt, erlaubt mit Blick auf Bildung folgende For­mu­lie­ rung: Der Philister markiert die Position, die nicht sehen kann, dass Bildung und In­ di­vi­dualität auf kontingente Weise erworben werden; er hält Genie für etwas, das man sich mit Mühe und Studium zielsicher erarbeiten kann, und er will genau dies – und möglichst frühzeitig – der Jugend zumuten.13 11 Vgl. Tomasz Szarota, »Der deutsche Michel. Das Autostereotyp der Deutschen«, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 298 –305; im übrigen Gerd Stein (Hrsg.), Philister – Kleinbürger – Spießer. Normalität und Selbstbehauptung, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1985 (= Kulturfiguren und Sozialcharak­ tere des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4) sowie Laura Kajetzke, »Der Spießer«, in: Stephan Moebius und Markus Schroer (Hrsg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhr­ kamp 2010, S. 366 –380, die den Philister konsequent dem Spießer subsumiert. Sollte sich tat­säch­ lich in der Gegenwart der Otto Normalverbraucher zum »Otto Normalabweicher« wan­deln (Jürgen Kaube, Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten, Springe: zu Klampen 2007), wäre es eine dankbare Forschungsaufgabe für die Cultural Studies oder eine Ethnographie des Inlands: zu ermitteln, ob und gegebenenfalls welche Gegenbegriffe denn in den abweichenden Milieus jeweils Verwendung finden. 12 Zu ergänzen wären sie durch weibliche Rekurse auf die Philisterabgrenzung in Bohèmezusam­ menhängen; vgl. etwa Franziska zu Reventlows Kritik des »Philisteradam, der Frau und Kind in ab­ so­luter Tadellosigkeit will« (Franziska Gräfin zu Reventlow, Tagebücher 1895 –1910, hrsg. von Else Reventlow, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1976, S. 226; vgl. auch dies. an Ludwig Klages, Konstantinopel, den 18.6.1900, in: dies., Briefe 1890 –1917, hrsg. von Else Reventlow, Frank­ furt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1977, S. 296 f.). 13 »Es darf kein Bube mit der Peitsche knallen oder singen oder rufen, sogleich ist die Polizei da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrig bleibt als der

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Heinrich Bosse erklärt in seinem Beitrag, wie sich diese vernarbte Nahtstelle der Philistersemantik ausgebildet hat, indem er sowohl auf die Vorgeschichte zurückgreift als auch die Folgen dieses Ereignisses für das Selbstverständnis von Universität und Stu­ denten bis ins späte 19. Jahrhundert und darüber hinaus darlegt. Erst in dieser Gesamtschau wird deutlich, wie eng Universität und Philistersemantik miteinander verbunden sind. Der Nexus von Antiphilistern und Universitäten stellt sich – das ist bereits deutlich geworden – her, als die Universität beginnt, sich als eine Einrichtung zu verstehen, die einerseits soziale Mobilität ermöglicht, andererseits aber selbst wieder Standesgren­ zen schafft, nämlich solche zwischen Akademikern und Nichtakademikern.14 In die­ ser Abgrenzung des Studenten vom Philister findet sich ein Moment der formalen Nobilitierung: Der Student ist als Musensohn vom Druck des bürgerlichen Daseins befreit.15 Wohl bis heute folgenreich sind die von Bosse geschilderten letzten Versuche im Jena des späten 18. Jahrhunderts, die Universität vor den schnöden Anforderungen des Berufs- und Bürgerlebens zu retten. Sie scheitern. Denn als sich um 1800 die stratifizierte Gesellschaft weitgehend irreversibel zu einer eher funktional verfassten, jedenfalls auf soziale Mobilität hoffenden wandelt, wird die Universität durch den von ihr selbst erhobenen Anspruch, ihre Angehörigen in neue Schichten zu erheben, auf eine neue Weise eingeholt: Für die Personen, die von der Universität in höhere Schich­ten promoviert werden, soll das studentische Dasein letztlich zu einem nach­stu­den­ti­schen Dasein führen, damit soziale Mobilität nicht nur Nobilitierung bedeutet, sondern auch für die gesellschaftliche Arbeit funktional werden kann. Jeder soll, so ist nun die Zielvorgabe, einmal Werther gewesen sein, um später als genialisch instruierter Al­ bert im öffentlichen Amt stehen zu können.16 Bosse erinnert so daran, dass Wilhelm von Humboldt vor allem eines eingeführt hat: das staatliche Prüfungswesen. Die Universität will Philister hervorbringen, indem sie gerade Nichtphilister adressiert. Nicht zuletzt darin liegt der Grund dafür, dass sie selbst – von Friedrich Nietzsche bis zu den 68ern – Gegenstand so erbitterter antiphiliströser Invektiven werden konnte.

Philister« (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von Ernst Beutler, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1976, S. 688 f. [12.3.1828]). 14 Professoren konkurrierten schon seit der Frühen Neuzeit mit dem Adel um Status; da nur wenige unter ihnen selbst Adlige waren, war die Professur im 17. Jahrhundert in Europa ein kostspieliges Unterfangen: »Die Universitätslehrer mußten ihren Status in der aristokratischen Gesellschaft auch äußerlich demonstrieren. In den deutschen Kleiderordnungen hatten die Doktoren, Professoren und deren Familien das Recht, sich von den anderen gesellschaftlichen Gruppen durch Kleidung und Schmuck zu unterscheiden« (Peter  A. Vandermeersch, »Die Universitätslehrer«, in: Walter Riegg [Hrsg.], Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur französischen Revolution [1500 –1800], München: Beck 1996, S. 181–212, hier S. 209). 15 Heinrich Bosse und Harald Neumeyer, »Da blüht der Winter schön«. Musensohn und Wanderlied um 1800, Freiburg i. Br.: Rombach 1995. 16 Vgl. dazu auch die Beiträge von Walter Erhart (speziell S. 206–214) und Eva Blome (insb. S. 361–363).

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Nicht nur im Rahmen der Universitäts(aus)bildung aber erfährt sich das moderne Individuum im Zwiespalt zwischen sich einmalig denkender Privatheit und beruflicher oder anderweitig konditionierter Spezialisierung. Maren Lehmann zeigt in ihrem Beitrag, dass der modernen Semantik des Individuums und seiner (Selbst‑)Bildung letztlich eine »philiströse Differenz« zugrunde liegt. Lehmann verfolgt dabei eine andere Entwicklungslinie, die im 17. Jahrhundert einsetzt, sich im Pietismus verstärkt und fortan in der Philistersemantik artikuliert. Diese Entwicklung betrifft das moderne Kon­zept vom Individuum, das trotz seiner Teilung in Privatmensch und Berufsmensch seine beiden Seiten gleichermaßen als das eine als solches unteilbare Individuum exer­ zie­ren muss. Die Aufteilung auf verschiedene Funktionssphären in der modernen Gesellschaft geht einher mit der Anrufung einer einzigartigen personalen Einheit, die immer darum weiß, dass sie vielleicht nur ein unter die anderen aufgereihter Philister ist. Die Spannung zwischen Privatmensch und Berufsmensch demonstriert Lehmann an den Biographien und Selbststilisierungen von Max Weber und Niklas Luhmann – und damit wohl nicht zufällig am Bespiel von Wissenschaftlern, die es in und an der Universität jedenfalls nicht ganz leicht gehabt haben. Im Licht der Philistergeschichte – so lässt sich für den neuesten Versuch, das Ver­ hältnis von Bildung und Ausbildung, Privat- und Berufsmensch, ›Mensch‹ und Phi­ lis­ter zu beschreiben, vielleicht folgern – erscheint letztlich auch die Bologna-Reform bloß als folgerichtiger Abschluss einer Entwicklung, nicht aber als eine prin­zipielle ­Abkehr von Humboldts Idealen. Das Adé von einer Universität, die den Ort des ­Anti­philisters bildet, wird nämlich schon im 19.  Jahrhundert gesprochen. In die­ser ­Per­spektive scheint die politisch forcierte Trennung in Lehr- und Forschungsuniver­ sitäten der größere Bruch mit dem Humboldt-System zu sein, nicht aber die BolognaReform selbst, die bloß die Studierenden etwas früher als bisher vom Werther zum Albert machen will. Zugleich wird im 20. Jahrhundert sichtbar, dass der Philister als Gegenbegriff ausdient, aber zumindest in der Universität an seine Stelle noch nichts getreten ist, das ihn zu ersetzen vermag. Das wirft Probleme auf, denn die Universität wird nach wie vor als die Garantin sozialer Mobilität gehandelt, auch und gerade wenn sich unter den Bologna-Studierenden Tendenzen zur Sesshaftigkeit zeigen; Bildung wird vor allem unter diesem Gesichtspunkt in Massenmedien und Politik diskutiert. Es muss sich erst noch zeigen, ob eine alternative Semantik in der Lage ist, die ehe­ma­ lige Besonderheit der Universität herauszustreichen, ob sich die Semantik der Schule – die ›Verschulung der Studiengänge‹ – weniger auf die Struktur von Curricula und Prü­ fungs­ordnungen bezieht, sondern vielmehr die gesamte Universität einbegreift. Wenn aber vorschulisches Lernen und die ›voruniversitäre‹ Schule bereits Integration, Aufstieg und soziale Mobilität ermöglichen oder gar garantieren sollen, wird unklar, worin die spezifische Funktion der Universität liegt. Und vielleicht ist das heute ihre Krise.

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II. Man hat der Begriffsgeschichte vorgeworfen, sie verhalte sich gegenüber den Doku­ menten und Werken der literarischen Überlieferung rücksichtslos, indem sie sie behandle, als böten sie leicht zu präparierende und in die begriffsgeschichtliche Er­zäh­ lung ohne Weiteres zu integrierende Termini und Opposita. Der einzelne Quellen­text wer­de dabei leicht zum Opfer einer Umdeutung, Abwertung, Beraubung, kurz einer »begriffsgeschichtliche[n] Brutalität«.17 Ist dieser Vorwurf nicht in jedem Fall unbe­ rechtigt, so bietet die Geschichte der Philistersemantik in dieser Hinsicht jedoch eine Eigentümlichkeit, die hilfreich ist. Ein Ausweg aus und eine Alternative zur genann­ ten hermeneutisch groben Fixierung auf bloße Begriffe liegen nämlich darin, dass der fragliche Terminus von Anfang an in einer Erzählung geboten wird, in eine eigene Ge­ schichte eingeschlossen ist. Und im Lauf der semantischen Evolution erfolgen Rekurse eben keineswegs auf den isolierten Begriff, sondern zugleich damit auf die Ursprungserzählung, die variierend neu erzählt und auf historisch neue Lagen hin ausgelegt wird. So ist, um zu verstehen, weshalb um 1700 und später gerade die Simson-Episode auf die gegebene gesellschaftliche Lage anwendbar gewesen ist, ein historisch kundiges close reading der ursprünglichen Simson-Episode nötig. Es gibt Gründe für die Annahme, dass sich in dieser an die Figur eines ›Trickster‹18 erinnernden biblischen Hel­ den­geschichte bereits einige der wichtigsten die später entstehende Philistersemantik kennzeichnenden Bruchlinien angelegt finden. Historische und archäologische Untersuchungen belegen, dass das Volk der Philister kulturell sehr weit entwickelt war und von dem Kontakt mit der griechischen Kultur profitierte. In den israelitischen Raum eingedrungen, neigten die Philister teils zur Assimilation, teils zur Abgrenzung von Israel. Trotz der deutlichen Indizien für ihren kulturellen Vorsprung und trotz Sim­ sons geradezu brutal provozierender Haltung, wie sie im Buch der Richter beschrie­ ben wird, setzt die überlieferte biblische Lesart die Philister als das Niederwertige an. Die Unselbstverständlichkeit dieser Lesart gilt es festzuhalten  – sie könnte in einer Parallele stehen zu jener Unselbstverständlichkeit, die der Differenzierung zwi­schen den Philistern und ihren je unterschiedlichen Gegenübern in der Neuzeit immerfort anhaftet. Ursprünglich verweist das Wort »Philister« auf das Volk der Philister, das insbe­ sondere im Kontext einer Erzählung aus dem Buch der Richter des Alten Testamentes Erwähnung findet. Prägnante Geschehnisse in diesem Zusammenhang sind Davids Kampf gegen Goliath und vor allem die Geschichte Simsons, der sich für das Volk Is­ 17 Ulrich Johannes Schneider, »Über das Stottern in Gedanken. Gegen die Begriffsgeschichte«, in: Pozzo und Sgarbi (Hrsg.), Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte (Anm. 3), S. 125 –132, hier S. 129. 18 Erhard Schüttpelz, »Der Trickster«, in: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer und Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 208 –224.

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rael gegen die Philister einsetzt. Die Erzählung ist für sich keineswegs leicht zu deuten; nicht einmal Zuweisungen von Verantwortung und Schuld sind leicht vorzunehmen. Das Wissen um die historischen Philister bleibt in Anbetracht ihrer Prominenz sowohl im Alten Testament als auch in der Nachfolge vergleichsweise gering. Allerdings hat die biblische Archäologie einige Erfolge und Ergebnisse vorzuweisen, die – bei aller gebotenen historisch-philologischen Vorsicht – zur neuzeitlichen Philistersemantik in Bezug gesetzt werden können. Der Beitrag von Wolfgang Zwickel fasst aktuelle Ergebnisse zusammen. Bemer­ kenswert erscheinen zwei einander zuwiderlaufende Züge des kulturellen Gegensatzes zwischen den Israeliten und den Philistern, die sich in einer Vielzahl archäologischer Funde belegen lassen: Zum einen ist klar, dass die Philister den Israeliten wirtschaftlich und militärisch weit überlegen waren – diese Überlegenheit lag in ihrer Fähigkeit zur Metallverarbeitung und in ihren Handelsbeziehungen begründet. Zum anderen aber ist die Siedlungsform der Philister, die mit großer Sicherheit aus dem hellenischen Raum stammen, in Form von Stadtstaaten – gegenüber dem sich zeitgleich bei den Israeliten durchsetzenden territorialstaatlichen Prinzip – auf lange Sicht weniger fortschrittlich. Es mag sein, dass die Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex, die zumindest ein moderner Leser in den Geschichten aus dem Buch der Richter am Werke sieht, in diesem Widerspruch ihre historischen Grundlagen hat. Unter den inneren Spannungen, die die hebräischen Bibeltexte kennzeichnen, auf die sich die neuzeitliche Philistersemantik schließlich unmittelbar bezieht, fällt dem modernen Leser insbesondere die Diskrepanz zwischen der ausgesprochen grobianischunzivilisierten Erscheinung Simsons und der Art und Weise auf, wie er dennoch als Vorbild gefeiert werden kann. Die Lektüre der Simson-Geschichte, die Bernhard Lang vorlegt, indem er zugleich die etablierten Lektüren vorstellt, bietet für diese Diskrepanz eine Erklärung an, die mit Georges Dumézil die unterschiedlichen Schichten der Er­ zählung unterschiedlichen die damaligen Gesellschaften tragenden Gruppierungen zu­rechnet. Die Feier des tabulosen Helden ist demzufolge die gewissermaßen älteste Schicht des Textes, die sich aus dem Selbstverständnis einer Kriegerkaste herleitet, aber im Widerspruch zum Führungsanspruch einer neuen Schicht von Intellektu­ ellen steht. Die Abfassung der Heldengeschichte im Geiste dieser neuen Bevölkerungsgruppe führt daher zu einer Korrosion des Helden, zugleich aber bleibt dessen Feier integraler Bestandteil des Textes. Simson erscheint, darin dem Herakles vergleichbar, als Terrorist, der gerade gegen die Gebote und Sitten seines eigenen Volkes verstößt. Ihren besonderen Reiz und ihre außergewöhnliche Überzeugungskraft gewinnt Langs Deutung aus dem Umstand, dass eine solche israelitische Kritik an Israels Helden nur möglich ist, wenn der Held selbst nicht mehr klar in einem Gut / Böse- oder Freund / Feind-Schema verortet werden kann. In Langs Deutung zeigt sich, dass dem Simson-Stoff durchaus diejenigen Entgrenzungsfiguren eingeschrieben sind, für die ab dem 17. Jahrhundert Bedarf zu bestehen scheint.

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Dass das historische Material eine umsichtige Würdigung erfordert, zeigen auch die von Dagmar Börner-Klein vorgelegten Einblicke in die jüdische Behandlung der Simson-Geschichte jenseits der hebräischen Bibel. Sie eröffnet einen Raum der Lek­ türe, der mit den Geschichten, die in diesem Band ansonsten erzählt werden, über­ haupt erst in Bezug zu setzen wäre. Das betrifft nicht nur die antiken Versuche, den Hel­den in die Geschichtsschreibung einzubeziehen, sondern auch neuzeitliche Adap­ tionen der Geschichte, die eine alternative kulturpolitische Wertung der Episode mit Delila vollziehen – wenn sie auch teils von den Argumenten zehren, die die Philistersemantik im studentischen Milieu seit Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelt hat. Auf die immer problematische Abgrenzung zwischen Eigenem und Fremdem, die Simsons Geschichte impliziert, verweist hier insbesondere die Hypothese des Archäologen Yigael Yadin, der Stamm Dan, dem Simson angehört, sei letztlich eine den Philistern verwandte, aber jüdisch assimilierte Gruppe gewesen.19

III. Während sich die literaturhistorische und ideengeschichtliche Forschung sehr intensiv des Geniebegriffs annahm und annimmt, fand und findet der Begriff des Philisters in diesem Kontext wenig Beachtung, obgleich sich mit der Entstehung der Geniesemantik das Duo Genie / Philister als geradezu konstitutives Oppositionspaar fas­ sen lässt. Artikulationspunkt der semantischen Innovation ist Goethes Werther (erstes Buch, Brief vom 26. Mai): »ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht«, ist jemand, der zu echtem Fühlen nicht befähigt ist. Er ist dem Genie entgegen­ ge­setzt: »Warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert?«20 Die Konstellation, die der Briefroman bietet, ist eine Dreierbeziehung, die zunächst eine klare Zuordnung zu erlauben scheint: Werther als Genie, Albert als Philister, Lotte als ›Katalysator‹ in der Position der Delila. Allerdings handelt es sich bei diesem Verständnis insofern um eine Simplifikation, als eine komplexe Rückkopplung vorliegt: Albert ist durchaus eine füh­lende, interessante Persönlichkeit  – nur erfolgreich, ein Mann, der in einem öffentlichen Amt reüssiert. Umgekehrt bemüht sich Werther um eine bürgerliche Position – und scheitert an sich selbst. Es zeigt sich in den Analysen dieses Bandes immer wieder, dass in dieser Rückkopp­ lung eine Auffälligkeit der Philisterkonstellation liegt. Hierin ist eine systematische 19 Dass die Philisterfrage noch heute eine Art ›politische Archäologie‹ motiviert, berichtet: Joseph Croitoru, »Goliath lebt hier nicht mehr. Ausgrabungen in Philisterland: Israels Regierung in­stru­ mentalisiert die Archäologie«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.7.2011, Nr. 174, S. 34. 20 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774, hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 (=  Bibliothek der Erstausgaben, 2676), S. 20 f.

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Kontinuität – in diesem Sinn eine ›Struktur‹ – der Philistersemantik zu sehen. Dennoch fällt eine historische Diskontinuität ins Auge. Der semantische Gehalt von ›Philister‹ verschiebt sich nämlich in der Nachwirkung von Goethes Roman so, dass nach Johann Christoph Adelungs Wörterbuch von 1808 »Philister« als »Schimpfwort« gegen alle Bür­ger dienen kann  – wenn auch insbesondere gegen die »gemeinen Bürger«.21 Goethe fasst es selbst in einer Würdigung Wielands zusammen: »Er lehnt sich auf ge­gen Alles, was wir unter dem Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterei, kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßliche Würde, und wie diese Ungeister, deren Name Legion ist, nur alle zu bezeichnen sein mögen.«22 Man kann dies den glücklichen humanistischen Moment in der Geschichte der Philistersemantik nennen. Frei von jenen ständisch-akademischen Bestimmungen, welche die ursprünglich ethnische Entgegensetzung beerbten, erscheint der Begriff hier als Gegenbegriff zu einem ebenso anspruchsvollen wie maximal inklusiven Bildungsmodell (das auch für Frauen immerhin die Rolle der gebildeten Dilettantin vorsieht).23 Die weltoffene Urbanität, die im Zentrum dieses Modells steht, versteht als philiströs insbesondere eine Indienstnahme von Kunst und Poesie für heteronome Alltagszwecke. In dieser Entgegensetzung ist denn auch die Schnittmenge zu sehen, die die frühe Roman­ tik und der Weimarer Klassizismus in ihrem Philisterverständnis teilen. So lässt sich Novalis’ einschlägiges Fragment mit Goethe gut vergleichen. Novalis spottet unmissverständlich: »Philister leben nur ein Alltagsleben. […] Sonntags ruht die Arbeit, sie leben ein bißchen besser als gewöhnlich und dieser Sonntagsrausch endigt sich mit einem etwas tiefern Schlafe als sonst; daher auch Montags alles noch einen raschern Gang hat. Ihre parties de plaisir müssen konvenzionell, gewöhnlich, modisch seyn, aber auch ihr Vergnügen verarbeiten sie, wie alles, mühsam und förmlich. // Den höchsten Grad seines poetischen Daseyns erreicht der Philister bey einer Reise, Hochzeit, Kindtaufe, und in der Kirche. Hier werden seine kühnsten Wünsche befriedigt, und oft übertroffen.«24 Kürzer Goethe: »Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! / Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, / Da ist alles dunkel und düster; / Und so sieht’s auch 21 Art. »Philister«, in: Johann Christoph Adelung, Grammatisch=kritisches Wörterbuch der Hochdeut­ schen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Bd. 3: M–Scr, Wien: Anton Pichler 1808, Sp. 765 –766, hier Sp. 765. 22 Johann Wolfgang Goethe, »Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813«, in: ders., Sämtliche Wer­ke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. von Karl Richter, Bd. 9: Epoche der Wahl­ver­wandt­schaften 1807–1814, hrsg. von Christoph Siegrist u. a., München: Hanser 1987, S. 945 – 965, hier S. 950. 23 Vgl. Christa Bürger, Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen, Stuttgart: Metzler 1990, S. 19 –31. 24 Novalis, »Blüthenstaub« (1797  /  1798), Nº  77, in: ders., Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2, München / Wien: Hanser 1978, S. 261, 263.

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der Herr Philister: / Der mag denn wohl verdrießlich sein / Und lebenslang verdrießlich bleiben.«25 Nicht umsonst ist Goethe für Clemens Brentano das Gegenbild zum Philister, er verkörpert die Gestalt des »Gebildeten« als diesseits aller Saturiertheit »in seiner Individualität vollendeten Studenten«, was wohl auch mit Ewiger Student übersetzt werden kann.26 Es versteht sich, dass es sich hierbei im Hinblick auf tatsäch­li­che Ausbildungsprozesse um ein außerordentlich luftiges, um nicht zu sagen paradoxes Pro­gramm handelt. Diese Befunde sind vor dem Hintergrund der Veränderungen der sozialen Ord­nung um 1800 zu erörtern. Heinrich Bosses Beitrag gibt hierzu entscheidende Hin­weise, wenn er als Gegenfigur zum Philister in erster Linie den – studentischen – ›Musensohn‹ ausmacht. Im 18. Jahrhundert wird demnach die vormals als solche schon pre­ käre ständische Unterscheidung im Zuge der Umorientierung hin zu einer Leistungs­ ge­sell­schaft bildungspolitisch fragwürdig, und es kommt zur ersten einer Reihe von Rückkopplungen: Auf der Seite der ›Musensöhne‹ muss noch einmal differenziert wer­ den zwischen echten und falschen, in Wirklichkeit nämlich philiströsen Anti­phi­lis­ tern.27 Nur der Wille und die Fähigkeit zur flexiblen Selbstbildung können nun­mehr sicherstellen, dass man nicht zum Philister wird. Damit wird die ständische Unterscheidung unterlaufen, scheint doch jetzt grundsätzlich jedem die Möglichkeit offenzustehen, ein Musensohn zu sein oder zu werden, womit aber umgekehrt bald der Phi­ lis­ter­verdacht ubiquitär wird. Das Verhältnis von Philistern und Genies zur Universität um 1800 verfolgt Walter Erhart in seinem Beitrag en détail. Im Anschluss an Albrecht Koschorkes mediolo­ gisch-­literaturhistorische Studie28 identifiziert er im Genie denjenigen Mann, der über­fließt, und im Philister hingegen einen, der austrocknet. Darüber hinaus zeigt er, 25 Johann Wolfgang Goethe, »Sprüche [V.:] Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!«, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 1, 11., überarbeitete Aufl., Mün­ chen: C. H. Beck 1978, S. 326. 26 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (= Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn, Bd. 11), S. 38 – 90, hier S. 59. 27 Zum Beispiel »falschen Studenten« (Theodore Ziolkowski, Das Amt des Poeten. Die deutsche Ro­ mantik und ihre Institutionen, übers. von Lothar Müller, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 386): »Diesen edlen Jünglingen ist gleich alles zu hoch und zu tief; sie bleiben immer hübsch in der Mittelstraße, und zum Studiren haben sie, wie sie meinen, nur nicht Zeit genug. Wer hat sie denn? Lieber möchten sie noch faseln und die Genies spielen. Sie spielen aber vielmehr die alten Philister, oder sind es« (Karl Wilhelm Ferdinand Solger an Friedrich von Raumer, 20.1.1810, in: ders., Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, hrsg. von Ludwig Tieck u. Friedrich von Raumer [Faksimiledruck, mit einem Nachwort hrsg. von Herbert Anton], Heidelberg: Lambert Schneider 1973, Bd. 1, S. 186). 28 Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 1999.

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dass sich Ende des 18. Jahrhunderts zwei Modelle der Kommunikation in Konkurrenz zu­ein­an­der setzen, die sich im Paar Genie / Philister in der Fiktion durchspielen lassen: »Beide Figuren übertreiben jeweils eine Konsequenz der Modernisierung: Das Genie treibt die Unbestimmtheit ins Extrem, der Philister die Bestimmtheit, das Genie stei­ gert und übertreibt Interaktion, der Philister setzt auf interaktionsfreie Kommuni­ka­ tion und übertreibt Gesellschaft.«29 Abschließend führt Erhart diesen Komplex auf die Universität zurück: Humboldts Reform lässt sich verstehen als der Versuch, Philister und Genie wieder zusammenzuführen und Übertreibungen zu verhindern. Dass sie damit auch Mittelmäßigkeit fördert, ist einer der unerwünschten Nebeneffekte. Folgt man Niklas Luhmann mit seiner These, dass um 1800 der Wandel von der primär stratifikatorisch strukturierten in eine funktional differenzierte Gesellschaft Ir­re­ver­si­bi­lität gewinnt, so ließe sich hiervon ausgehend auch formulieren, dass da­ mit in der Gesellschaft ein Adressenproblem entsteht. Der einzelne Mensch ist nicht mehr durch seine Schicht- und Gruppenzugehörigkeit definiert, sondern ›besteht‹ aus der Vielfalt der von der modernen Gesellschaft an ihn gerichteten Anforderungen. In diesem Zusammenhang scheinen Genie und Philister zwei Positionen zu verkör­pern, die sich gegen die neue Ordnung in gewisser Weise wehren beziehungsweise an ihr scheitern. Das Genie versucht, ungeteilt – als Individuum im wörtlichen Sinne – allen Funktionssystemen voll anzugehören und damit die Gesellschaft ›ganz‹ zu ›fühlen‹, während der Philister sich mit den Anforderungen – insbesondere seinem Amt – so sehr identifiziert, dass er sich in Überangepasstheit verliert. Daraus ergibt sich die These, dass sich letztlich beide, Philister und Genie, auf je eigene Weise dem Mo­ der­ni­sie­rungsschub um 1800 widersetzen und somit als exponierte  – und in dieser Form bald der Vergangenheit angehörende – Figuren des Übergangs begriffen werden sollten. Übergangsfiguren stehen explizit im Zentrum des Beitrags von Annette Keck. Als eine solche erscheint nämlich nicht zuletzt Friedrich Nicolai, den die Literaturgeschichtsschreibung auch aufgrund der gegen ihn als einen ›Musterphilister‹ gerich­ teten Invektiven etwa Johann Heinrich Jung-Stillings und Johann Gottlieb Fichtes und aufgrund seiner Vorbehalte gegen Geniekult, Weimarer Klassizismus und Jenaer Ro­man­tik als unzeitgemäße Figur verbucht hat. Nichts hat man Nicolai übler genom­ men als sein gegen Edward Youngs Conjectures on Original Composition und Goethes Werther gewendetes und doch nicht ganz unplausibles Diktum: »ein Genie ist ein schlechter Nachbar. Wenn’s einem selbst auch wohltut, als ein Genie zu sprechen, so tut’s andern schier übel, wenn man als ein Genie handelt.«30 Weisen nicht ge­rade 29 So Walter Erhart, S. 201  f. 30 Christoph Friedrich Nicolai, »Freuden Werthers, des Mannes«, in: ders., Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S. Ein Roman – Werther-Parodien, zeitgenössische Rezensionen und Schmähungen, hrsg. von Günter de Bruyn [Märkischer Dichtergarten], Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1983, S. 174 –181, hier S. 178; vgl. dazu nur – mit besonderer Empörung über Nico­ lais Gelassenheit – Jakob Michael Reinhold Lenz, »Briefe über die Moralität der Leiden des jungen

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diejenigen, die Nicolai verdammen, ihrerseits Anzeichen jenes – modernen – Mo­der­ ni­sie­rungs­unwillens auf, der Philistern und Genies um 1800 gemein ist? Als Phi­lis­ter erscheint Nicolai deshalb, weil er Literatur nicht als Ausdrucksmittel originaler Sub­ jektivität, sondern als Medium der rationalen Vermittlung unterschiedlicher Per­spek­ tiven verstanden wissen will. Gerade diese – starre Standpunkte ablehnende – Haltung provoziert bei denen, die sich im Namen des Genies gegen sie wenden, höchst ein­sei­ ti­ge und in ihrer Starrheit jedem Antiphilistertum eigentlich unangemessene Re­ak­ ti­o­nen – etwa wenn Jung-Stilling der Nicolai’schen Standpunktlosigkeit die »reli­gi­ öse Iden­ti­tät in ihrem Absolutheitsanspruch des Glaubens«31 entgegensetzt. Viel­leicht kann Ni­co­lais Umgang mit der in das Individuum hineingreifenden Adres­sen­viel­falt ei­ner funk­tio­nal differenzierten Gesellschaft als Alternative zur antiphiliströsen In­vek­ tive gewertet werden.

IV. Besteht eine der wichtigsten methodischen Daumenregeln für begriffsgeschicht­liche Analysen darin, jeweils darauf zu achten, »inwieweit es sich um Selbstbezeich­nungen, um Verständnisbemühungen oder um Feindbenennungen handelt«,32 so bekommt man es in dieser Hinsicht beim Philisterbegriff mit besonders vertrackten Verhältnissen zu tun. Mag man einwenden, dass der Begriff des Feindes in diesem Zusam­men­hang prima vista überzogen wirkt, so ist doch zu bedenken, dass die Verwendung der Be­ zeich­nung als Akt moralischer Aversion und Feindseligkeit aufgefasst werden kann – und dass die traditionelle Gewaltnähe und moralisierende Dimension dieser Semantik auch mit den neuen Bedeutungen seit Goethes Werther erhalten bleibt. Gewiss liegt mit dem Philisterbegriff in seinen verschiedenen Fassungen seit dem 18. Jahrhundert der Fall einer zutiefst ›asymmetrischen Gegenbegrifflichkeit‹ vor.33 Über die spezifische Verfassung der mit ihm gesetzten Asymmetrie ist damit noch wenig gesagt. Hier ist nicht nur zu bedenken, dass die Begriffsverwendung um 1800 die Möglichkeit an die Hand gibt, mehr oder weniger absichtsvoll im Unklaren zu lassen, was denn eigentlich den mit ihm aufgerufenen positiven Term darstellt. Um die Philisterkritik in ih­ rer intellektuellen Dynamik zu verstehen, gilt es vielmehr, ein hochproblematisches seman­tisches Feld zu rekonstruieren, dessen Struktur und dessen von ihr bedingte Re­ Werthers (1774  /  75)«, in: ders., Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften, Frankfurt am Main / Leipzig: Insel 1992, S. 673 – 690, hier S. 678. 31 So Annette Keck, S. 220. 32 Reinhart Koselleck, »Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81– 99, hier S. 93. 33 Vgl. Reinhart Koselleck, »Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe«, in: ders., Vergangene Zukunft (Anm. 3), S. 211–259.

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la­tionen durch prekäre Positionen von Blindheit und Einsicht, von Inklusion und Exklusion gekennzeichnet sind. Dass der Begriff nur zu Zwecken der Fremdbezeichnung freigegeben ist, ist ein ent­scheidendes Moment dieser Struktur. Mit ihm korreliert der Umstand, dass dem Phi­lis­ter die Einsicht in seine Philistrosität versperrt ist  – und dass ihn gerade dies aus­machen soll. Geht man davon aus, dass Begriffe durch ihre Opposita allererst re­ flexions­fähig werden, und geht man des Weiteren davon aus, dass der Genie- wie der Bildungs-, Humanitäts-, Kunstautonomie- oder Romantikbegriff zumindest in der Sozial­dimension im ›Philister‹ ihren Gegenbegriff haben, dann kann man festhalten, dass dieser Gegenbegriff selbst gerade eine reflexionsunfähige – und damit desgleichen zur adäquaten Selbstbezeichnung unfähige – Figur ist. Auch an einem von Friedrich Wilhelm Riemer überlieferten Statement des klassisch-liberalen Goethe wird dies ganz deutlich, wenn es da heißt: »Der Philister negiert nicht nur andere Zustände, als der seinige ist, er will auch, daß alle übrigen Menschen auf seine Weise existieren sollen.« Eine Erläuterung lässt keinen Zweifel, dass diese Borniertheit mit Blindheit ver­schwis­ tert ist: »Man wird in philisterhaften Äußerungen immer finden, daß der Kerl im­ mer zugleich seinen eignen Zustand ausspricht, indem er den fremden negiert, und daß er also den seinigen als allgemein sein sollend verlangt. Es ist der blindeste Ego­ is­mus, der von sich selbst nichts weiß, und nicht weiß, daß der der andern ebensoviel Recht hätte, den seinigen auszuschließen, als der seinige hat, den der andern.«34 Das damit angesprochene Nichtwissen ist für den Begriff des Philisters nunmehr kon­sti­tu­ tiv: »Kein Philister kann glauben, daß er einer sey; er kann überhaupt nur seyn, und nicht glauben«,35 heißt es in Clemens Brentanos Abhandlung über den »Philister vor, in und nach der Geschichte«, dem wahrscheinlich bekanntesten Text in der neueren Ge­schichte der Philistersemantik. Kurz: noch der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dem Studenten und dem akademischen gelehrten Personal entgegengesetzte Philister wusste natürlich, dass er beispielsweise als »Pferdephilister« für den Ausrittsbedarf der ›Musensöhne‹ zu­stän­dig war und an ihm verdiente.36 Noch der Göttinger Bürger, der vielleicht wenig amü­siert Heinrich Heines scherzhafte Einteilung der Einwohner Göttingens »in Studenten, 

34 Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig, Bd. 2: 1805 –1817, Zürich / Stuttgart: Artemis 1969, S. 250 f. (18.8.1807); die Differenz entspräche also grosso modo derjenigen von Borniertheit und Empathie, wie Luhmann sie en passant formuliert hat: Niklas Luhmann, »Borniert und einfühlsam zugleich. Schön, daß wir so ungeniert plaudern / Eine soziologische Betrachtung«, in: ders., Short Cuts, hrsg. von Peter Gente, Heidi Paris und Martin Weinmann, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2001, S. 113 –119. 35 Brentano, »Der Philister« (Anm. 26), S. 41; vgl. Robert E. Sackett, »Brentano in Berlin: The Attack on the Philistines«, in: Oxford German Studies 24 (1995), S. 60 –79, hier S. 70. 36 Kluge, »Philister« (Anm. 1), S. 30.

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Pro­fes­soren, Philister und Vieh« zur Kenntnis nahm,37 war sich selbstverständlich über die ihn betreffenden In- und Exklusionsverhältnisse im Klaren. Anders der Philister um 1800 etwa in der zitierten Goethe’schen Fassung (nämlich als ›Egoismus, der von sich selbst nichts weiß‹) und erst recht in den romantischen Fassungen, die dieses Mo­ tiv philiströser Reflexionsunfähigkeit vielfältig variieren. Eine Neuerung der romantischen Philistersemantik gegenüber derjenigen, die sich zunächst mit Goethes Werther durchsetzt, besteht darin, dass sie dem reflexionsun­fä­ higen Philister nicht mehr nur das einzelne Originalgenie entgegensetzt, sondern vielmehr antiphiliströse Gruppenbildung betreibt. Novalis’ politische Theorie markiert den Übergang; er unterscheidet »Genialische und PhilisterStaaten«; genauer werden auch für Staaten unterschiedliche Arten von Bildung unterschieden: »Erziehung und Bildung des Staats. Staaten erziehen sich selbst, oder werden erzogen von anderen Staa­ten.«38 Dabei kann nur Selbstbildung als genialisch gelten; Staaten organisieren sich im besten Fall selbst, indem sie aus der Tradition schöpfen. Demgegenüber lässt sich angesichts der französischen Revolution antiphiliströse Gruppenbildung betrei­ ben: »Die­jenigen, die in unsern Tagen gegen Fürsten, als solche, declamiren, und nir­ gends Heil sta­tuiren, als in der neuen, französischen Manier, auch die Republik nur unter der representativen Form erkennen […], die sind armselige Philister, leer an Geist und arm an Herzen, Buchstäbler, die ihre Seichtigkeit und innerliche Blöße hin­ter den bunten Fahnen der triumphirenden Mode […] zu verstecken suchen«.39 Der Übergang von individualistischer zu gemeinschaftlicher Antiphilistrosität ist hier ebenso offen­sichtlich wie überraschend: Kaum muss Novalis den Bruch kitten, der sein Argument durch­zieht, wenn er ausgerechnet demokratische Wahlen – das ist die ›repräsentative Form‹ – mit dem Verweis auf die Konformität der Wähler verwirft, die ja bloß einer Mode erlegen seien. Dass organische Gruppenbildung gegenüber dem genialischen Individuum in den Vordergrund rückt und dass die französische Abkehr von monarchistischem Stil­willen als philiströs aufstößt, liegt nicht zuletzt daran, dass sich in der Romantik die Genie­ semantik stark verändert. ›Genie‹ wird im Grunde als allgemeinmenschliches Charak­ teristikum ausgegeben, und dementsprechend wertet man gemeinschaftliches Schaffen und Erbe auf (Sympoesie, Mittelalter, Volksdichtung). Anstatt den Philister nur in sei­ 37 Heinrich Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise«, in: ders., Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder  I  /  II (Prosa), bearb. von Jost Hermand, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 6.1), S. 81–138, hier S. 84. Schwieriger sieht es schon aus, wenn Heine 1822 unter den Berliner Studenten die Mode registriert, sich à la Philister auszustaffieren – und vice versa (ders., »Briefe aus Berlin«, in: Briefe aus Berlin [wie oben], S. 7–53, hier S. 13). 38 Novalis, »Das Allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik)« (1798  /  1799), Nº 77, in: ders., Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2 (Anm. 24), S. 473 –720, hier S. 548 (Nr. 394). 39 Novalis, »Glauben und Liebe oder der König und die Königin«, in: ders., Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2 (Anm. 24), S. 290 –304, hier S. 296 (Nr. 23).

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nem Gegensatz zum Genie zu verstehen, sucht man nun einerseits Unterschiede, die Gruppenidentität konstituieren können, andererseits wird der Unterschied zwi­schen Philister und Nichtphilister in seiner ständigen Ambivalenz gesehen, die stets den Nicht­philister seine eigenen philiströsen Ansichten ahnen lässt. Wodurch der Phi­lis­ter sich auszeichnet, kann nicht mehr unbedingt expliziert werden; fest steht nur, dass er romantische Ideen nicht versteht.40 Einerseits taucht die Philistersemantik nun insbe­ son­dere im Kontext der Nationalbewegung auf, wendet sich Fragen der Vergemeinschaftung zu und entwickelt neue Sozialmodelle im Sinne eines organizistischen Denkens. Da die individualistische Geniekonzeption nicht mehr ausreicht, bedarf es eben eines – möglichst essenziellen – Gegensatzes, der auf der Nichtphilisterseite eine quasi-geniale Sympoesie zusätzlich plausibilisiert. Anderseits bringt der permanente Re­flexions­zwang, den die Wendung gegen den reflexionsunfähigen Philister nun gan­ zen Gruppen auferlegt, erhebliche Verunsicherungen mit sich. Paradigmatisch für diese neuen Wendungen der Philistersemantik ist insbe­son­ dere die sogenannte deutsche Tischgesellschaft, eine in sich sehr vielfältige Vereini­gung führender Köpfe in Preußen ab 1811, die sich unter anderem um Achim von Arnim und Clemens Brentano herum auf der Basis von vier Ausschlussprinzipien kon­sti­ tuiert.41 Die Antiphilister der Tischgesellschaft sind nicht nur keine Philister, son­dern auch keine Juden, keine Zigeuner und – dies ergibt sich aus dem historischen Hintergrund  – keine Franzosen.42 Darüber hinaus sind sie ausschließlich Männer. Stefan Nienhaus’ editorische und sozialhistorische Auskunft über Brentanos bereits er­wähn­te Philisterabhandlung, die auf eine im Kulturprogramm der Tischgesellschaft vorge­ tra­gene Rede zurückgeht, rekonstruiert die Verankerung der roman­ti­schen Philister­ semantik in dieser Vereinigung und zeigt, dass die durchgängige Scherzhaftigkeit und Doppel­bödig­keit der Rede für den sachkundigen Kommentar das Problem aufwirft, dass der Text jede erklärende Geste schon vorwegzunehmen und ins Leere laufen zu lassen scheint. Immerhin so viel lässt sich aber eindeutig festhalten: Soziale Mobilität bedeutet nach Nienhaus’ Analyse einerseits Aufstieg, andererseits den Unsicherheit schaffenden Zwang zum ständigen Selbstbeweis, nicht – mehr – so zu sein wie 40 Friedrich Schlegel: Ein Hofbeamter hat einen Text Novalis’ »auch nicht verstanden, worüber er höchlich entrüßtet gewesen und gemeynt hat, es müsse gewiß einer von den beyden Schlegeln geschrieben haben. Es ist nämlich für ihn wie für mehrere Philister Axiom: Was man nicht versteht, hat ein Schlegel geschrieben« (Friedrich Schlegel, Brief an Novalis, Ende Juli 1798, in: Die Periode des Athenäums. 25. Juli 1797 – Ende August 1799, hrsg. von Raymond Immerwahr, Paderborn: Schöningh 1985 [= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Bd. 24], S. 154 –156, hier S. 154 f.). 41 Siehe Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München: Piper 1981, S. 120 f.; siehe auch dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 8. Aufl., München und Zürich: Piper 2001, S. 156 f. 42 Schon Novalis ließ daran keinen Zweifel: »Die schlechtesten unter ihnen sind die revoluzionairen Philister, wozu auch der Hefen der fortgehenden Köpfe, die habsüchtige Race gehört« (Novalis, »Blüthenstaub« [Anm. 24], S. 95).

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die anderen. Die Aporie der sozialen Mobilität zeigt sich damit schon in der Philister­ abhandlung. Bei Brentano, von Arnim und der Tischgesellschaft zeigt sich in besonderer Deutlichkeit aber auch die tendenziell essenzialistische Neuakzentuierung der Philistersemantik, in der die Philistersatire und ein neuartiger Antisemitismus, der sich in die­ sem Zusammenhang erstmals rassistisch formiert, zusammengeführt werden. Auch da­rin kommen das neue Nationenmodell sowie das organizistische Denken – in all ihrer Gewaltsamkeit – zum Tragen. Vor dem Hintergrund der modernen Aporie sozia­ler Mobilität die Verschränkung von Demokratiebewegung und entstehendem Ras­sis­mus in der deutschen Romantik genauer zu untersuchen, unternimmt der Beitrag von Till Dembeck. Er vertritt die These, dass die Verquickung transzendentalphilosophischer Argumentations­figuren mit Problemen der Gruppenbildung und des so­zialen Seins in der romantischen Variante der Philistersemantik aus einer Grundspannung der Subjekt­philosophie zwischen Souveränitätswillen und Kontingenzbewusstsein hervorgeht, die folgenreich ist. ›Den Philistern‹ werden bei Brentano, von Arnim und den ih­ren schließlich nicht nur ›die Juden‹ und ›die Zigeuner‹ gegenübergestellt, sondern auch ›die Deutschen‹, die Fichte als das antiphiliströse Volk schlechthin beschreibt.43 Der ursprünglich im biblischen Buch der Richter gegebene ethnische Feindbegriff erfährt also aus dem Zusammenhang einer hochmodernen Reflexionsproblematik heraus eine eigentümliche Reaktualisierung. Sogleich aber ergeben sich auch hier wieder Unsicherheiten. Einer genaueren Lek­ türe der Rede Brentanos und anderer Zeugnisse der Tischgesellschaft erschließt sich näm­lich, dass die Tischgesellschaftsgenossen von der Unsicherheit betroffen sind, ob sie nicht ihrerseits philisterhafte und jüdische Züge besitzen – und dass sie dies auch wissen. Die Zuordnung Eigenes / Fremdes beziehungsweise Eigenes / Anderes gerät da­ mit ins Wanken. Wenn den Antisemitismus gerade diejenigen propagieren, die in den preußischen Behörden an jener Modernisierung mitwirken,44 die auch der jüdi­schen 43 Zum romantischen Antisemitismus siehe: Marco Puschner, Antisemitismus im Kontext der Po­ li­tischen Romantik. Konstruktionen des »Deutschen« und des »Jüdischen« bei Arnim, Brentano und Saul Ascher, Tübingen: Niemeyer 2008 (= Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutschjüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 72), zum Philisterbezug hierbei insb. S. 385–392.  – Zu einem üblicherweise wenig bedachten Zusammenhang von Nationalcharakter- und Philistersemantik siehe: Ernest Zahn, »Der Holländer als Philister bei deutschen Dichtern und Denkern; Grotesken der Romantik; Bewunderung und Spott«, in: ders., Das unbekannte Holland. Regenten, Rebellen und Reformatoren, Berlin: Siedler 1984, S. 84 – 95; Wilhelm Amann, »Philiströse Genies, geniale Philister. Zum Niederlande-Bild in Ludwig Tiecks Novelle Der funfzehnte November (1827)«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 98 (2004), S. 407–423; Gerhard Kluge, »Heines Lieblingskarikaturen. Holland, Holländisches und Holländer in den ›Memoiren des Herren von Schnabelewopski‹«, in: Heine-Jahrbuch 39 (2000), S. 22 – 46; ders., »Der Philister auf dem Musenberg – der Poet bei Philistern. Immermanns Reise in die Niederlande und Mijnheer van Streef in ›Münchhausen‹«, in: Immermann-Jahrbuch 3 (2002), S. 71– 84. 44 Vgl. Stefan Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 20.

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Bevölkerung mehr Rechte gewähren wird, und wenn zudem bis in die Reden hinein  zu verfolgen ist, wie Mitglieder der Tischgesellschaft als jüdisch verachtete Ei­gen­ schaften – beispielsweise das Bestreben, Geld zu erwirtschaften – an sich selbst ent­ decken, so wird die Abgrenzung vom Fremden zunehmend schwierig. Dennoch: ge­ rade in der damit gegebenen unsicheren Konstellation, deren Untersuchung bis­lang meist nur zaghaft angegangen worden ist – weil der Antisemitismus nicht recht zu den hehren Zielen der Romantiker passen will –, wird für den rassistischen Antisemi­ tismus des späten 19. und des 20.  Jahrhunderts der Grundstein gelegt. Gerade der ver­mutete oder befürchtete – oder wie auch immer unausdrücklich gewusste – Einschluss der Philisterkritik in ihren Gegenstand dürfte für einschlägige romantische Positionsnahmen und dann erst recht für die sie beerbenden Programme der deutschen Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts als eine Spannung gewirkt haben, die entsprechend gewaltsamere ›Lösungen‹ motivierte. Umso angemessener scheint es, auf Autoren zu verweisen, die die Problematik die­ser Spannung durchschaut und beschrieben haben. Es gehört zu den Leistungen E. T. A. Hoffmanns, für beide genannten Zusammenhänge gültige Formulierungen gefunden zu haben, solche nämlich, die das Tabu, das über dem Sich-selbst-als-PhilisterBezeichnen und -Begreifen liegt, zwar nicht direkt brechen, aber es doch explizieren. Für die romantische Geselligkeit ist es ein Rahmendialog in den Serapionsbrüdern von 1819, in dem die hier erzählten Erzähler und Trinker über den Status ihrer ritualisierten Zusammenkunft spekulieren: »Sollte denn bei uns poetischen Gemütern und gemütlichen Poeten jemals eine Art Philistrismus einbrechen können? – Einen gewissen Hang dazu tragen wir wohl in uns, streben wir nur wenigstens nach der sublimsten Sorte; ein kleiner Beigeschmack davon ist zuweilen nicht ganz übel! – Schweigen wir aber über alles Verfängliche unseres Vereins, das der Teufel schon von selbst hineintragen wird, bei guter Gelegenheit, und sprechen wir von dem serapionischen Prinzip!«45 Die Gemeinschaft der romantischen Brüder wird damit als Klub charakterisiert, der längst von Philistrosität ereilt ist. In ihm spielen die Erzähler sozusagen die Rolle einer anderen Scheherazade; erzählen sie doch gegen diese tödliche Selbsterkenntnis an, dass sie nichts weiter als Philister sind, und sei es von der ›sublimeren‹ Sorte, horribile dictu, ›Philister mit Niveau‹. Die nationale Variante romantischer Gemeinschaftsbildung rückt bei E.  T.  A. Hoff­mann mit der deutschen Turn- und Nationalbewegung in den Blick, die mit ih­rer ›Germanomanie‹46 die Bestrebungen der romantischen Tischgesellschaft be­ 45 E. T. A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder, hrsg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2001 (= Sämtliche Werke in sechs Bänden, hrsg. von Hartmut Steinecke u. a., Bd. 4), S. 70; vgl. zum Motiv des Teufels in diesem Zusammenhang Johannes Barth, Der höllische Philister. Die Darstellung des Teufels in Dichtungen der deutschen Romantik, Trier: WVT 1993, insb. S. 96 – 99. 46 Vgl. Saul Ascher, 4 Flugschriften: Eisenmenger der Zweite, Napoleon, Die Germanomanie, Die Wart­burg­feier, hrsg. von Peter Hacks, Berlin: Aufbau 1991.

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erbt, ohne allerdings deren Reflektiertheit auch nur anzustreben.47 Mit der parodisti­ schen Bildungsautobiographie des Kater Murr hat Hoffmann die burschenschaftlichstudentische Philisterfeindschaft nicht nur komisch charakterisiert, sondern überdies den schreibenden Katzenburschen die genannte Distanzierungsproblematik auf den Punkt bringen lassen: »Aufrichtig gestand ich dem Freunde Muzius, daß ich den Ausdruck Philister so wie seine eigentliche Meinung nicht ganz fasse. ›O mein Bruder‹, erwiderte Muzius, indem er anmutig lächelte, […] ›o mein Bruder Murr, ganz vergeblich würde der Versuch sein, Euch dieses alles zu erklären[,] denn nimmermehr könnt ihr begreifen, was ein Philister ist, solange ihr selbst einer seid […]‹.«48 Damit ist einer­seits die Philisterselbstvergessenheit mit einer neuen programmatischen Nuance ver­sehen: Ein Ausstieg wird gesucht. Andererseits muss dieser seinerseits unreflektiert stattfinden, nämlich als Ausbruch »fort über verschiedene Dächer«, um sich unter die anderen Ausgestiegenen zu mischen und mit ihnen zu singen: »Katzbursch sein ist un­ sere Lust / Trotzen Katzphilistern!«49 Anders als Hoffmann stellt sich Jean Paul keiner so offenen Auseinandersetzung mit dem romantischen Philisterbegriff; dennoch ist seine Position hier zu erwähnen, denn auch dieser Autor schlägt einen Ausweg aus der antiphiliströsen Reflexionsfalle vor, der bedenkenswert ist, wenn er auch eine geradezu nihilistische Schattenseite aufweist. Jean Paul hat den modernen Philisterbegriff so gut wie gar nicht benutzt: Das Wort findet sich in zahlreichen Anspielungen auf die historischen Philister,50 prominenter

47 Nach dem Mord des Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand am Autor August von Kotzebue schreibt Solger an seinen Bruder: »Ich habe genug von diesen jungen Weisen kennen gelernt, de­ren jeder sich ein kleiner Gott=Vater dünkt, und deren jeder ein abgestandener Philister ist, dem nichts anders heilig ist, als der leere, sinnlose Hochmuth!« (Solger an seinen Bruder, 18.4.1819, in: ders., Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, Bd. 1 [Anm. 27], S. 722) 48 E. T. A. Hoffmann, Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern, hrsg. von Hartmut Steinecke, Stuttgart: Reclam 1986, S. 234 f.; siehe hierzu Niklas Luhmanns eigenwillige Interpretationen des philiströsen Reflexionsunvermögens einerseits als »Schutzfunktion der Latenz« für beteiligte Individuen (Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 469), andererseits als Auslöser für eine Flucht aus »Reflexionsverlegenheiten« in »Aktion« (ders., »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, in: ders., Protest. Systemtheorie und soziale Be­we­ gungen, hrsg. von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 107–155, hier S. 108); eine Verteidigung des Kateraktionismus als »Volition« trägt Nina Ort, Reflexionslogische Semiotik. Zu einer nicht-klassischen und reflexionslogisch erweiterten Semiotik im Ausgang von Gotthard Günther und Charles S. Peirce, Weilerswist: Velbrück 2007, S. 149 –151 vor. 49 Hoffmann, Lebens-Ansichten des Katers Murr (Anm. 48), S. 256 und S. 259. 50 Siehe zum Beispiel Jean Paul, »Leben des Quintus Fixlein aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußteil und einigen Jus de tablette«, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, Bd. I.4, S. 7–259, hier S. 90; ders., »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs«, in: ders., Sämtliche Werke (wie oben), Bd. I.2, S. 7–576, hier S. 519; ders., »Das Kampaner Tal oder

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im Sinne der modernen Semantik des Begriffs – vom Lob für Brentanos Abhandlung51 einmal abgesehen – allenfalls in einer Äußerung des Dr. Katzenberger, der droht, gegen einen als Philister bezeichneten Rezensenten mit einem Bärenknochen wie mit einen »Eselkinnbacken« vorgehen zu wollen.52 Dass sich in seinem Werk umgekehrt eine Vielzahl von kleinbürgerlichen Idyllen und emphatischen Verständigungsphantasien findet, die in Büchern wie Jean Paul – Das Schönste und Gediegenste aus seinen verschiedenen Schriften und Aufsätzen53 schwerpunktmäßig versammelt wurden, hat ihm seinerseits den Philistervorwurf eingebracht. So kommentiert Goethe die biogra­phi­ sche Sammlung Wahrheit aus Jean Paul’s Leben:54 »Als ob die Wahrheit aus dem Le­ ben eines solchen Mannes etwas anderes sein könnte, als daß der Autor ein Philister gewesen!«55 Indes ist Jean Pauls Werk natürlich keinesfalls frei von antiphiliströsen Invektiven – man denke etwa an des »Luftschiffers Giannozzo« Satiren gegen die Kleinstädter des 18. Jahrhunderts. Doch wird diese antiphiliströse Invektive Jean Paul’scher Satire überformt durch ein humoristisches Panorama von Positionen, innerhalb dessen diejenige des satirischen Antiphilisters – ebenso wie die übrigen – als nur sehr bedingt gültige ausgewiesen wird. Humor, so Jean Pauls Definition aus der »Vorschule der Äs­ the­tik«, bedeutet aber, gerade das Bedingte als Anzeichen eines Unbedingten aufzu­ fassen und sich an dem Schein zu versöhnen, dass all die Bedingtheiten des Diesseits (an denen alle Antiphilister leiden) nur da sind, um uns die Vorstellung eines Unbe­ dingten zu vermitteln.56 Der Antiphilister romantischer Provenienz zeigt sich somit aus Jean Paul’scher Perspektive als humorlos – allerdings mit der Kehrseite, dass sich der Humorist mit dem Verzicht auf die unversöhnliche Philistersatire seinerseits eine anhaltende Verunsicherung einhandelt. Denn Humor bleibt Schein, und die Einsicht in diesen Schein ist ebenso notwendig, wie man sich ihm zugleich hingibt – mit dem

über die Unsterblichkeit der Seele, nebst einer Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus«, in: ders., Sämtliche Werke (wie oben), Bd. I.4, S. 561–716, hier S. 652. 51 Jean Paul, »Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit«, in: ders., Sämtliche Werke (Anm. 50), Bd. I.5., S. 7–514, hier S. 195. 52 Jean Paul, »Dr. Katzenbergers Badereise nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen«, in: ders., Sämtliche Werke (Anm. 50), Bd. I.6, S. 77–363, hier S. 282. 53 Christian August Gebauer (Hrsg.), Jean Paul. Das Schönste und Gediegenste aus seinen verschie­ denen Schriften und Aufsätzen, nebst Bildniß, Leben und Charakteristik. Ausgewählt, geordnet und dar­ gestellt von [C.] A. G. Mit einem Vorbericht von Karl Philipp Conz, Bd. 1, Leipzig: Ernst Klein 1826 (in den Folgejahren fortgesetzt von teils anderen Bearbeitern bis mindestens zum 12. »Bändchen«, 1837). 54 Christian Otto und Ernst Förster (Hrsg.), Wahrheit aus Jean Paul’s Leben, 8 Bde., Breslau: Josef Max und Comp. 1826 –1833. 55 Eckermann, Gespräche mit Goethe (Anm. 13), S. 493 (30.3.1831). 56 Jean Paul, »Vorschule der Ästhetik« (Anm. 51), S. 124 –140; siehe hierzu Till Dembeck, Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin / New York: de Gruyter 2007, S. 342 –352 u. S. 401– 405.

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Effekt, dass die Aufhebung des Antiphilistertums im Humor immer vor dem Hintergrund eines nihilistischen Grundverdachts stattfindet. Diese nihilistische Wendung der Philistersemantik findet sich indes ganz ohne den Umweg über reinen versöhnlichen Humor auch bei den prominentesten Antiphi­lis­ tern. Kippt die antiphiliströse Souveränitätsemphase auch einerseits in fremdgerichtete Gewalt oder zumindest Gewaltprojektionen – wie nicht nur der Antisemitismus der Tisch­gesellschaft, sondern etwa auch Fichtes ›vatermörderische‹ Schrift gegen Friedrich Nicolai zeigt, der sich Annette Kecks Beitrag widmet –, so korreliert dem doch andererseits eine im Bereich des Ästhetischen geradezu selbstzerstörerische Tendenz. Dem politischen Souveränitätswillen der antiphiliströsen Nationalbewegung entspre­ chen hier, wie Felix Saure nachweist, dezidiert autonomieästhetische Postulate. Saure zeigt auf, wie der Philister noch bei Karl Friedrich Schinkel als Personifikation all je­ ner Hindernisse ausgewiesen wird, die die Kunst auf dem Weg zur Selbstbestimmung stören. Die ästhetische Schattenseite dieser Feier der Souveränität macht Anja Oesterhelts Lektüre der Erzählung BOGS der Uhrmacher von Clemens Brentano und Joseph Görres sehr deutlich. Die Scherzhaftigkeit wird in diesem – einige Jahre vor dem Vortrag der Philisterrede in der Tischgesellschaft erschienenen – Text so weit getrieben, dass der Auf­einanderprall zwischen dem Philistertum und seinem (sym‑)poetischen Gegensatz nicht mehr produktiv ist, sondern in wechselseitige Vernichtung mündet. Die Annul­lierung der ›abnormen Polarität‹ zwischen den Philistern und ihren Feinden, in der sich nicht zuletzt auch der romantische Schriftsteller selbst gefangen sieht, ist die äußerste – ästhetische – Folge der Philistersemantik bei Brentano und Görres. Diese destruktive Konfiguration der romantischen Philistersemantik wiederholt sich, so erklärt der Beitrag von Matthias Buschmeier ausführlich, bei Joseph von Eichendorff, in dessen Drama Krieg den Philistern! die Auseinandersetzung zwischen den Philistern und den ›Poetischen‹, deren Parteien sich in nichts unterscheiden, durch einen Gewaltakt, der eines Simson würdig ist, beendet werden muss. Im Hintergrund der romantischen Arbeit an einem politisch und ästhetisch ak­ zen­tuierten Philisterbegriff und im Schatten der emphatischen, ja teilweise aggres­­si­ ven und selbstzerstörerischen Gesten, die diesen Diskurs begleiten, etabliert sich im wei­teren Kontext der Tischgesellschaft auch eine neue Form institutioneller Einflussnahme, deren Folgen lange sichtbar geblieben sind. Es ist zu vermuten, dass wich­ti­ge Konsequenzen der begonnenen funktionalen Differenzierung erst in der Romantik zutage treten. So werden neue Modelle der gesellschaftlichen Verknüpfung nötig. Wenn Geburt und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie nicht mehr darüber ent­schei­ den, wer und was man ist, stehen jedem einzelnen  – zunächst: Mann  – sehr viele Kar­riere­möglichkeiten offen. Dabei vollzieht sich der Wechsel keineswegs sehr schnell und sehr abrupt. Besonders die Reformbemühungen der deutschen Länder stocken; die Mitglieder der Tischgesellschaft bilden die – zu akzentuieren ist auch hier: männliche – Führungsschicht, ohne als solche formell legitimiert und installiert zu sein. Was

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sich dank der romantischen Philistersemantik entwickelt, so ließe sich vielleicht for­ mulieren, ist die Grundidee des ›Marschs durch die Institutionen‹: Systemopposition und Besetzung der wichtigen Posten schließen einander nicht aus. Gegenüber dem Kreis, der diesen Ansatz verfolgt und sich gerade über seine Fä­ higkeit hierzu zu definieren versucht, erschiene der Philister dann als derjenige, der auch dann, wenn er als Person in Widerspruch zu seinem ›Amt‹ gerät, diesen Widerspruch aushält und – in einer eigentümlichen, aber für Ausläufer der Philistersemantik ge­rade­zu typischen performativen Selbstaufhebung – dank seiner Beständigkeit fast ohne Rückgrat ist. Dass die moderne Philistersemantik tatsächlich vor dem Hintergrund der neuen gesellschaftlichen Notwendigkeit zu sehen ist, Institutionen zu entwickeln, die Stabilität und eine erhöhte Flexibilität mühelos miteinander kom­binie­ ren können müssen und doch Akzente für die zukünftige Entwicklung setzen kön­nen sollen, zeigt auch der bildungshistorische Hintergrund, dessen Darlegung wir Heinrich Bosse verdanken. Auch hier spielt Fichte mit seiner Schrift über die Bestimmung des Gelehrten eine entscheidende Rolle, entwirft er doch die Figur eines Gelehrten, der gerade aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstbildung und Selbstbestimmung auch dazu in der Lage ist, Gesellschaft und Staat innovatorische und bisweilen auch revolutionäre Impulse zu geben – wohingegen der Philister allenfalls flexibel sein kann.

V. Für die Entwicklung der Philisterkategorie im 19. Jahrhundert ist eine Vervielfachung der sozialhistorischen und semantischen Komplexe kennzeichnend, in denen der Begriff relevant wird. Ob sich diese Komplexe in einen Zusammenhang stellen lassen, ist durchaus offen. Es empfiehlt sich zumindest vorerst, mit ihrer Sammlung zu beginnen. Im engeren Sinn bildungsgeschichtlich sind im 19. Jahrhundert Tendenzen einer Verengung des Bildungsbegriffs auf Ausbildungsgänge zu konstatieren, die von staat­li­chen Bildungs­institutionen zertifiziert werden; im Zuge dessen erstarrt Bildung zu einer so­ zial­distinktiven, Klassen- respektive Schichtendifferenzen legitimierenden Größe und wird als solche zum Gegenstand einer neuartigen Philisterkritik. Die Kategorie erfährt in diesem, aber auch in weiteren Zusammenhängen eine Politisierung, die weit über die ersten politisierenden Ansätze der frühen Nationalbewegung hinausgeht; sie erhält im Vormärz einen vornehmlich progressiv-kritischen Sinn, der dann allerdings auch politisch konservative Wendungen und Verwendungen nicht ausschließt. Im Rahmen der Bohème, genauer im Zusammenhang der sich ausgehend von Paris im 19. Jahrhundert etablierenden gegenbürgerlichen Bohèmekulturen bekommt der Philisterbegriff eine für oppositionelle oder doch ›alternative‹ Kunst- und Literaturproduktion konstitutive Bedeutung: als zentraler Abgrenzungsbegriff nämlich. Noch radikaler als zuvor geraten in den Rückkopplungsschleifen, die im 19. Jahrhundert zu beobachten

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sind, jene positiven Werte, die sowohl die Genieperiode als auch die Romantik dem Philiströsen gegenüberstellen, ihrerseits unter Philistrositätsverdacht. Man kann mit einem von der Forschung zu Unrecht vernachlässigten Gesichtspunkt beginnen: der Bohème. Fragt man nach dem sozialhistorischen Substrat der auf den Philisterbegriff rekurrierenden semantischen Evolution, so sind dies zu­nächst die Musensohn-Studentenschaft um 1700 sowie durchaus minoritäre Dichter- und In­tel­ lektuellen­zirkel um 1800. Erst die hierauf folgende politische Nationalbewegung zieht weitere Kreise. Im 19. Jahrhundert etabliert sich jedoch ein sozialer Zusammenhang, von dem sich mit Helmut Kreuzer und Jerrold Seigel sagen lässt, dass er sich über den Abgrenzungsbegriff Philister geradezu konstituiert. Und eben dies ist die Bohème, wie sie sich ausgehend von Paris, aber in der Folge dann auch in Deutschland als Lebensund Produktionszusammenhang von zugleich eigentümlicher Persistenz und Flüchtigkeit etabliert. Die Bohème ist weder als soziale Klasse noch als klar zu umreißende Personengruppe noch gar als Stilphänomen zu begreifen  – wiewohl sie im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder als Treibhaus für die Entwicklung neuer Stil­rich­tungen gewirkt hat. Es handelt sich vielmehr um ein Milieu, das als »[g]egenbürgerliche Subkultur des künstlerisch-intellektuellen Lebens« verfasst ist.57 In der Stadt, später auch alternativ in ländlicher Separation lokalisiert, sucht und teilt die Bohème häufig die Nähe prekärer Lebensverhältnisse von Unter­schich­ten und kleiner Kriminalität. Erich Mühsam hat um 1900 den Traum von der Bohème als einer konsistenten oppositionellen Größe artikuliert: »Es ist dieselbe Sehn­sucht, die die Ausgestoßenen der Gesellschaft verbindet, seien sie nun ausgestoßen von der kaltherzigen Brutalität des Philistertums, oder seien sie Verworfene aus eigener, vom Temperament diktierter Machtvollkommenheit. […] Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohême, die einer neuen Kultur die Wege weist.«58 Ist sie einerseits als Sondermilieu intern mit speziellen Moralvorstellungen und einer eigentümlichen Ökonomie der Verschwendung und der Gabe versehen, so weist sie andererseits nach außen doch nur sehr unscharfe Ränder auf. Ihre Identität bezieht sie fast allein aus der genannten gegenbürgerlichen Ausrichtung; und diese realisiert sich in variierenden Abgrenzungen vom bourgeois oder Philister: »Nur der Bohemien gilt als echter Künstler, nur der ›Philister‹ als echter Bürger.«59 Es ist leicht zu verste­hen, dass sich diese Beziehung der Bohème zu einem von ihr als philiströs gesetzten Bürgertum nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Entgegensetzung als eine sehr enge gestaltet. 57 Helmut Kreuzer, Art. »Boheme«, in: Klaus Weimar (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literatur­ wissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin / New York: de  Gruyter 1997, S. 241–245, hier S. 241; nach wie vor anregend: Paul Honigsheim, »Die Bohème«, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 3.1 (1924), S. 60 –71. 58 Erich Mühsam, »Bohême«, in: Die Fackel, Bd. 12, 8. Jahr, Nr. 202 (30.4.1906), S. 4 –10, hier S. 10. 59 Helmut Kreuzer, Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart [1968], 3. Aufl., Stuttgart: Metzler 2000, S. 15.

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Das gilt zum einen in dem ganz einfachen Sinn, den Heinrich Heine – dem Honoré de Balzac später seine Erzählung Un Prince de la Bohème widmen wird – artikuliert, wenn er einen ›Freund‹ geradezu frech um sechs Louisd’or angeht: »Es wird Dich nicht wundern, daß ich just Dich anpumpe. Du bist mir noch zu frisch im Gedächtnisse, und wenn Du auch – was ich nicht hoffe – mein bester Freund nicht mehr bist, so bist Du doch unter meinen besten Freunden derjenige, den ich am leichtesten anpumpen kann, der auch als kompleter [!] Philister am leichtesten ein paar Louis auf ein paar Monate entbehren kann«.60 Der Bohemien lebt auf die eine oder andere Weise vom Bürger-Philister, so wie um­gekehrt dieser sich von ihm amüsieren oder schockieren oder jedenfalls doch un­ter­ halten lässt. Es handelt sich umso mehr um ein Bedingungsverhältnis, als viele Bohème­ existenzen aus bürgerlichen Kreisen stammen und man die Bohème durchaus als eine Art experimentelle Fraktion der bürgerlichen Welt begreifen kann.61 Metaphorisch kann die Opposition zum Philister, wie sie die verschiedenen Bohèmeformationen im 19. und 20. Jahrhundert begleitet, an die ursprünglich ethnische Fassung der Kategorie anknüpfen, weil auch der Bohèmebegriff selbst aus einer solchen metaphorischen Übertragung gewonnen wurde, insofern das damit aufgegriffene Bohême (›Böhmen‹) imaginär als Stammland der Zigeuner galt und die so bezeichneten Subkulturen zumal immer wieder eine Art gelebte Zigeuner- und Vagabundenromantik gepflegt haben. Als weitere bedeutende Entwicklung des 19. Jahrhunderts sind die Entstehung des Begriffs und des ihm entsprechenden sozialstrukturellen Phänomens des »Bildungsphilisters« zu sehen. In dieser Hinsicht denkt Heinrich Heine ein bildungs­politisches Pro­blem zu Ende, das sich um 1800 beispielsweise bei Fichte bereits abzeichnet. Die Einsicht, dass die Gefahr der philiströsen Verknöcherung auch und gerade in den In­ sti­tutionen der höheren Bildung allgegenwärtig ist, lässt Heine die Mög­lichkeit einer bewussten Stilisierung zum Antiphilister denken, die eine Assimilation an das anti­ philiströse Milieu zum Ziel hätte, darin aber philiströs erstarrte. Diese Spielart des Philistertums wird in der Gestalt des sich antiphiliströs gebärdenden, aber als höchst philiströs gezeichneten Juden Gumpelino aus den »Bädern von Lukka« sinn­fällig, des­ sen Explikation von Bildung lautet: »Was ist Geld? Geld ist rund und rollt weg, aber

60 Heinrich Heine an Christian Sethe, Norderney, Ende August 1925, in: ders., Säkularausgabe. Werke · Briefwechsel · Lebenszeugnisse, Bd. 20: Briefe 1815 –1831, bearb. von Fritz H. Eisner, Berlin: Akademie / Paris: CNRS 1970, S. 212. 61 Das ist insbesondere der Untersuchungsansatz von Jerrold Seigel, Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830 –1930, 2. Aufl., New York: Penguin Books 1987; vgl. auch die metakritischen Diagnosen von Christian Demand, Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte, 2.  Aufl., Springe: zu Klampen! 2007, S. 100 –107 sowie Dave Beech und John Roberts, »Spectres of the Aesthetic«, in: New Left Review 218 (July / August 1996), S. 102 –127.

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Bildung bleibt.«62 Mit dieser neuen Denkmöglichkeit verbindet sich bei Heine eine folgenreiche Kritik der Romantik. Zwar verwendet Heine den romantischen Philister­ begriff oft, doch umfasst dieser nun implizit auch Positionen des politischen Kon­ser­ vatismus – und damit nach Heines Auffassung zumindest teilweise die Romantiker selbst, die in all ihrer Antiphilistrosität philiströs geworden sind und damit zur Bewah­ rung überlebter politischen Strukturen beitragen.63 Heines für die Romantiker in Anschlag gebrachtes Modell entfaltet im Grunde Hegels, von Freunden des Bildungsromans regelmäßig nur pikiert zur Kenntnis ge­ nom­menes Diktum: »zuletzt« bekomme doch jeder »sein Mädchen und irgendeine Stel­lung«; er »heiratet und wird ein Philister, so gut wie die anderen auch«.64 Mit Hegels Ästhetik nämlich gerät ein Verlaufsmodell von ›Bildung‹ in den Blick, das im 19. Jahr­ hundert Karriere macht. Der von der Romantik wie von der älteren Genieseman­tik hochgehaltene Begriff der Bildung erfährt hier endgültig eine Wertung ins Philiströse – und es entsteht, wie in den Beiträgen von Heinrich Bosse und Eva Blome nach­zulesen 62 Und weiter: »Ja, Herr Doktor, wenn ich, was Gott verhüte, mein Geld verliere, so bin ich doch noch immer ein großer Kunstkenner, ein Kenner von Malerey, Musik und Poesie. Sie sollen mir die Augen zubinden und mich in der Gallerie zu Florenz herumführen, und bey jedem Gemälde, vor welches Sie mich hinstellen, will ich Ihnen den Maler nennen, der es gemalt hat, oder wenigstens die Schule, wozu dieser Maler gehört. Musik? Verstopfen Sie mir die Ohren und ich höre doch je­de falsche Note. Poesie? Ich kenne alle Schauspielerinnen Deutschlands und die Dichter weiß ich auswendig. Und gar Natur! Ich bin zwey hundert Meilen gereist, Tag und Nacht durch, um in Schottland einen einzigen Berg zu sehen. Italien aber geht über alles. Wie gefällt Ihnen hier diese Natur­ ge­gend? Welche Schöpfung! Sehen Sie mahl die Bäume, die Berge, den Himmel, da unten das Was­ser – ist nicht alles wie gemalt? Haben Sie es je im Theater schöner gesehen? Man wird so zu sagen ein Dichter! Verse kommen einem in den Sinn und man weiß nicht woher« (Heinrich Heine, »Die Bäder von Lukka«, in: ders., Reisebilder III  /  IV. Text, bearb. von Alfred Opitz, Hamburg: Hoffmann und Campe 1986 [=  Historisch-kritische Gesamtausgabe (Anm. 37), Bd. 7.1], S. 81–152, hier S. 94). Zum Verhältnis Jude – Philister siehe auch das Schlusskapitel von »Aus den Memoiren des Herrn Schnabelewopski«; die hier vorgetragene Simson-Geschichte sticht durchaus erratisch aus der Phi­lis­ter­semantik des 19. Jahrhunderts heraus. 63 Die Romantik und ihre Vertreter stilisiert Heine als Untote und greift damit einen Topos der romantischen Philistersatire auf, die den Philister als »scheinlebendige[n] Kerl« bezeichnet, »der nicht weiß, daß er gestorben ist« (Brentano, »Der Philister« [Anm. 26], S. 44); siehe hierzu Till Dembeck, »›Untote Buchstaben‹: Heinrich Heine, die romantische Schule und die Entdeckung des Populären«, in: Paolo Chiarini und Walter Hinderer (Hrsg.), Heinrich Heine – ein Wegbereiter der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 79 –106. 64 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (= Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 14), S. 219 f.; bereits als subjektive Fatalität formuliert: »jeder Mensch wird am Ende Philister, nur mit dem Unterschiede, daß es der eine innerlich, der andere äußerlich, der dritte aber trauriger Weise total wird« (Gottfried Keller, »Tagebuch«, in: ders., Aufsätze, Dramen, Tagebücher, hrsg. von Dominik Müller [= Sämtliche Werke in sieben Bänden, hrsg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Kai Kauffmann, Dominik Müller und Peter Villwock, Bd. 7], Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1996, S. 637–660, hier S. 639 [8.7.1843]).

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ist, der Begriff des »Bildungsphilisters«. Ihn geprägt zu haben, hat sich zwar Friedrich Nietzsche zugute gehalten und hat ihm später Karl Kraus als sei­ne »frucht­barste Erkenntnis« attestiert.65 Bei dieser Urheberschaftsannahme handelt es sich aber um einen Mythos. So wie der Philisterbegriffsgebrauch im 19. Jahrhundert überhaupt proliferiert und in mannigfachen Kontexten variiert wird, so finden sich spätestens seit der Jahrhundertmitte auch Belege für »Bildungsphilisterei«.66 Es dürfte nicht unwahrscheinlich sein, dass der Erstbeleg von Bettine von Arnim stammt, geht sie doch mit dem von ihr in allen möglichen Bedeutungsnuancen verwendeten Philisterbegriff nur zu frei­giebig und emphatisch um – wozu es fast programmatisch bei ihr heißt: »könnt ich nur immer von der Himmelsleiter des Übermuts herab unter die Philister speien.«67 Das Aufkommen der Idee des Bildungsphilisters ist als Reaktion auf Entwick­lun­gen des Bildungskonzepts zu verstehen. Es setzt sich nämlich eine »bis zur Deckungs­gleich­ heit reichende Formalbestimmung von gebildet als intrainstitutionell studiert« durch;68 mit anderen Worten: den tatsächlichen Ausbildungs- und sozialen Distinktions­ver­hält­ nis­sen entsprechend ist eine Verengung des Begriffs der Bildung auf den Erwerb von schulischen oder universitären Bildungsdiplomen zu verzeichnen. Demgegenüber versucht die Bildungsphilisterkritik die Gehalte der ursprünglich weiteren Bildungskon­ zeption lebendig zu halten; das heißt, sie zehrt »weiterhin von jenem idealen Bildungs­ begriff, der sich immer schon durch Selbstkritik konstituiert.«69 Insofern handelt es sich um eine Immunreaktion der Bildungssemantik gegenüber den Effekten ihres in­ stitutionellen Erfolgs im Erziehungssystem.

65 Karl Kraus, »Als ob«, in: Die Fackel, 27. Jahr, Heft 697–705 (Oktober 1925), S. 115 –119, hier S. 119; vgl. Jakob Norberg, »The Black Book: Karl Kraus’s Etiquette«, in: Modern Austrian Literature 40.2 (2007), S. 45 – 6 4, hier S. 50 f. 66 Herman Meyer, »Der Bildungsphilister«, in: ders., Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler 1963, S. 179 –201; vgl. auch den Art. »Bildungsphilister«, in: Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens (Hrsg.), Nietzsche-Wörterbuch, Bd. 1: Abbreviatur–einfach, Berlin /  New York: de Gruyter 2004, S. 382 –384. 67 Bettina von Arnim, Die Günderode, hrsg. von Elisabeth Bronfen, München: Matthes & Seitz 1982, S. 173. Man beachte daran die räumliche Inversion der klassischen Philisterwarnung – letztere lautet in der Karoline von Günderode zugeschriebenen Adaption: »Bettine, Philister über dir« (ebd., S. 141). Zum paradoxen Kunststück, dem reflexionsunfähigen Philister mit einer Art zerstreuter Nai­ vi­tät zu begegnen, siehe Hedwig Pompe, Der Wille zum Glück. Bettine von Arnims Poetik der Naivi­tät im Briefroman ›Die Günderode‹, Bielefeld: Aisthesis 1999, S. 217–239. 68 Ulrich Engelhardt, »Bildungsbürgertum«. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 119; vgl. auch Georg Stanitzek, »Arztbildungsromane. Über ›bildungsbürgerlichen‹ Umgang mit Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 16.1 (1991), S. 32 –56, sowie Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 200 f. 69 Reinhart Koselleck, »Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung«, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, hrsg. von Carsten Dutt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 105 –154, hier S. 131–138 (Zitat S. 135).

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Aber auch aus der systemischen Perspektive der Kunst oder Literatur lässt sich mit Not­wendigkeit eine ganz entsprechende Problematik herleiten. Für Stéphane Mallarmé folgt sie bereits aus der Tatsache, dass manche Schriftsteller sich überhaupt in Phi­lis­ ter­kritik engagieren, indem sie den Geschmack und die falschen Vorstellungen der Men­ge kritisieren. Dies heißt Mallarmé zufolge, die Ausnahme, also den Geschmack des Künstlers, zur Regel machen und damit die Unterscheidung von Regel und Ausnahme aufheben zu wollen. Das entscheidende Argument aber lautet: »Ajoutez que la sérénité du dédain n’engage pas seule à éviter ces récriminations; la raison nous apprend encore qu’elles ne peuvent être qu’inutiles ou nuisibles: inutiles, si le Phi­listin n’y prend garde; nuisibles, si, vexé d’une sottise qui est le lot de la majorité, il s’empare de poëtes et grossit l’armée des faux admirateurs.«70 Gibt es einmal ästhetisierende Philisterkritik, so kann man reformulieren, hat sie das Bildungsphilistrositätsproblem zwingend zur Konsequenz. Dieses Problem hat aber dilemmatischen Charakter, insofern Kunst und Literatur auf die Inklusion eines kundigen Publikums angewiesen sind. Wenige haben dies klarer gesehen und gesagt als Karl Kraus in seiner Mission einer Be­kämpfung des »Bildungsmobs«:71 »Eine exklusive Kunst ist ein Unding. Es heißt die Kunst dem Pöbel ausliefern. Denn wenn der ganze Pöbel Zutritt hat, ist es immer noch besser, als wenn nur ein Teil Zutritt hat. Ein jeder möchte dann exklusiv sein, und die Kunst beginnt von der Nebenwirkung des Exklusiven zu leben.«72 Damit ist ein schweres Strukturproblem von Literatur und Kunst bezeichnet: in der funktional differenzierten Gesellschaft damit belastet zu sein, Leistungen für die semantische Aus­

70 Stéphane Mallarmé, »Hérésies artistiques: L’art pour tous« (L’Artiste, 15 septembre 1862), in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von Bertrand Marchal, Bd. 2, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 2003, S. 360 –364, hier S. 362; übersetzt: »Hinzu kommt, daß nicht allein die Heiterkeit der Verachtung solche Anklagen zu meiden rät; auch die Vernunft lehrt uns, daß sie nur unnütz oder schädlich sein können: unnütz, wenn der Philister sie nicht beachtet; schädlich, wenn, verärgert über eine Dummheit, die das Erbteil der Mehrheit ist, er von den Dichtern Besitz ergreift und die Armee der Falschen Bewunderer vergrößert« (Stéphane Mallarmé, »Ketzereien, die Kunst betreffend. Die Kunst für alle«, übers. von Rolf Stabel, in: ders., Sämtliche Dichtungen. Französisch und deutsch. Mit einer Auswahl poetologischer Schriften, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995, S. 268 –272, hier S. 270). 71 Walter Serner, »Karl Kraus«, in: ders., Über Denkmäler, Weiber und Laternen. Frühe Schriften, 2. Aufl., München: Goldmann 1990 (= Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 1), S. 115 –119, hier S. 117. 72 Karl Kraus, »Sprüche und Widersprüche«, in: ders., Aphorismen. Sprüche und Widersprüche. Pro domo et mundo. Nachts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 (= Schriften, hrsg. von Christian Wagenknecht, Bd. 8), S. 7–178, hier S. 109. Vgl. auch Ulrich Wergin, »Symbolbildung als Konstitution von Erfahrung. Die Debatte über den nichtprofessionellen Schriftsteller in der Literatur der Goethe-Zeit und ihre poetologische Bedeutung«, in: Jörg Schönert und Harro Segeberg (Hrsg.), Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Karl Robert Mandelkow gewidmet, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1988, S. 194 –238, hier S. 205.

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zeich­nung von Stratifikationsdifferenzen erbringen zu sollen.73 Diese so be­nann­te ›Ne­ ben­wirkung‹ lässt sich aber kaum vermeiden. Deshalb ist es zwar tunlich, denje­nigen, die sich fälschlich für antiphiliströse Musensöhne halten, möglichst wenig Anhaltspunkte für die Darstellung ihrer exklusiven Exzellenz etwa in Form eines antibürgerlichen Habitus zu geben: »Je mehr den Künstler alles dazu berechtigt, anders zu sein, um so notwendiger ist es, daß er sich der Gewandung des Durchschnitts als einer Mi­ mikry bediene. […] Die wahre Bohême macht den Philistern nicht mehr das Zugeständnis, sie zu ärgern, und die wahren Zigeuner leben nach einer Uhr, die nicht einmal gestohlen sein muß.«74 Dass aber das prinzipielle Problem damit keineswegs gelöst ist, versteht sich. Die Kritik der Bildung als Kritik der ›Bildungsphilisterei‹ erhält spätestens bei Nietzsche eine gleichfalls neue politische Dimension, bezieht er sich doch auf die Po­ si­tion eines selbstzufriedenen nationalistischen Historismus, die er ins­be­son­dere nach 1871 auf dem Vormarsch sieht. Der von Nietzsche als Gegenbegriff eingeführ­te Cha­ rakter des ›Suchenden‹ und der Richtwert einer stilfähigen Kultur75 lassen sich viel­ leicht auch als eine pointierte Umwandlung des Geniebegriffs verstehen. Hier wird der Genie­begriff vor dem Horizont einer lebensphilosophischen Ethik konturiert, die sich gegen den herrschenden Bildungsdiskurs wendet und die politischen Konsequenzen dieser Wendung nicht scheut. Allerdings zeigt sich bereits in Nietzsches frühen Texten zum Bildungswesen, denen sich der Beitrag von William Rasch widmet, dass beispiels­ weise die latente Philistrosität gerade des klassischen Philologen nur in der unmögli­ chen Operation einer interesselosen Aneignung der Antike überwunden werden kann – was das Auftreten der rettenden Figur eines nicht-philiströsen Poeten-Philologen aus­gesprochen unwahrscheinlich werden lässt. Es muss weiterer Forschung überlassen wer­den zu zeigen, wie sich diese Problematik in späteren Texten Nietzsches verschärft, ins­be­sondere in Nietzsches paradigmatischem Text zur Pädagogik des Zeitalters, dem Zarathustra, dessen Untertitel, »Ein Buch für Alle und Keinen«, das Problem bereits an­deutet, das das Buch dann entfaltet: dass den ›Suchenden‹ der Weg nur gewiesen wer­den kann, wenn man zugleich bedingungslose Gefolgschaft verlangt und verbietet. Wenn es irgendeine Art sozialer Trägerformation gibt, durch die und in der Nietz­ sche oder vielmehr diverse Nietzscheanismen seit dem 19.  Jahrhundert einen mehr 73 Dies wäre den bei Niklas Luhmann, »Weltkunst«, in: ders., Frederick  D. Bunsen und Dirk Baecker, Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 7–45, hier S. 39 f., genannten Leistungen hinzuzufügen; vgl. auch ders., »Die Ausdifferenzierung der Kunst«, in: Institut für soziale Gegenwartsfragen, Freiburg im Breisgau / Kunstraum Wien (Hrsg.), Art & Language & Luhmann, Wien: Passagen 1997, S. 133 –148, hier S. 136. 74 Kraus, »Sprüche und Widersprüche« (Anm. 72), S. 66. 75 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller«, in: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870 –1873, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999 (=  Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd. 1, S. 157–242, hier S. 167.

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oder weniger kontinuierlichen Resonanzraum erhalten haben, ist es wiederum die Bohème. Sie hält das Philister- und Bildungsphilisterkonzept auf mannigfache Weise lebendig. Zu den vielfältigen Variationen zählt beispielsweise die sprach- und medien­ kritische Reformulierung, die das Philistertum vorzüglich im Journalismus glaubt iden­tifizieren zu können: »Der Philister hat sich durch die Presse in der Literatur ein­ gebürgert.«76 Wie der Beitrag von Georg Stanitzek ausführt, ist es aber gerade der Zeitungsautor Robert Walser, der – als eine Art Ein-Mann-Bohème – nicht nur die Konsequenzen aus Nietzsches Bildungskritik zu ziehen, sondern die Paradoxien der modernen Philisterkritik überhaupt stilistisch gültig zu beantworten weiß. Eine Rückkoppelung der Philistersemantik, die an Heines Texten beobachtbar ist und der sie Vorschub leisten, betrifft eine andere explizite Politisierung des Begriffs.77 Sie datiert mit dem Vormärz und ist seither alles andere als singulär. Diese po­litisch progressive Fassung, die die Philisterkritik im Zusammenhang der vormärzlichen Demokratiebewegung erhält, hat Konsequenzen, die man gut daran ermessen kann, dass unter ihren Vorzeichen nun Goethe, bis dato Musternichtphilister schlechthin, für Heine als Repräsentant von »Philistertugenden« erscheinen und Friedrich Engels ihm – ebenso wie Hegel – »ein Stück Philisterzopfs« nachsagen kann.78 Wie grundlegend irritierend der Sprachgebrauch in der politisierten Neufassung für die äl­ tere Generation der Romantik war, hat Ludwig Tieck 1835 in einer kleinen etymolo­ gi­schen Reflexion seiner Novelle »Das alte Buch« kundgetan, in der erstens der Sinn der Katachrese von 1774 rekapituliert wird, um zweitens eine regelrechte »Sprachum­ kehrung« zu konstatieren: »Die Worte Philister und Philisterei sind uns geblieben, ja unserer Sprache notwendig und unentbehrlich geworden. Doch hat sich un­ver­merkt der Begriff, den Goethe zuerst damit bezeichnen wollte, in diesen funfzig Jahren so geändert, daß altdeutsche, oder liberale, politische, religiöse Alberts, gegen welche der Albert von 1774 wohl genial, enthusiastisch und abergläubig zu nennen ist, im 76 Carl Dallago, Philister, Innsbruck: Brenner o. J. [1911], S. 7; vgl. auch ders., »Nietzsche und – der Philister«, in: Der Brenner 1.2 (15.6.1910), S. 25 –31 u. 1.3 (1.7.1910), S. 49 –53, sowie ders., Das Buch der Unsicherheiten. Streifzüge eines Einsamen, Leipzig: Xenien-Verlag 1911, S. 156 u. S. 162. 77 Vgl. Günter Oesterle, Integration und Konflikt. Die Prosa Heinrich Heines im Kontext op­po­si­tio­ neller Literatur der Restaurationsepoche, Stuttgart: Metzler 1972, S. 18 –22. 78 Heinrich Heine, Rez. »Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel, 1828«, in: ders., Shakespeares Mäd­chen und Frauen und Kleiner literaturkritische Schriften, bearb. von Jan-Christoph Hauschild, Ham­burg: Hoffmann und Campe 1993 (=  Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 37], Bd. 10), S. 238 –248, hier S. 248; Friedrich Engels, »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke [MEW], Bd. 21, Berlin: Dietz 1962, S. 265 –273, hier S. 269. – Bettine von Arnim und Goethe gegeneinander ausspielend: »Frau von Arnim war eine Katholikin, sie gehörte zu den unterdrückten Volksklassen, sie war also Welt­bür­ gerin, und dieses bewahrte sie vor der Engherzigkeit und der Philisterei, von der sich der Protestant Goethe, dessen Familie zur herrschenden Partei gehörte, nie losmachen konnte« (Ludwig Börne, »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«, in: ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von Inge und Peter Rippmann, Bd. 2, Düsseldorf: Melzer 1964, S. 854 – 869, hier S. 857).

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Jah­re 1834 den damaligen Werther einen kleinlichen, sentimentalen Philister nennen würden, der sich weder für Staat, Menschheit, Freiheit noch Natur begeistern könne, sondern der nur einer armseligen Liebe lebt und stirbt.«79 Kommt dies fast der Klage über einen sprachlichen Missbrauch gleich, so hat sich doch diese Bedeutungsvariante des ›unpolitischen Menschen‹ – der sich eigentlich zum »Tier« disqualifiziert80 – sta­ bi­lisieren können. »So lang der Philister regieret das Land, / Ist jeglicher Fortschritt da­raus wie verbannt«.81 Doch die Begriffsverwendung in der Bedeutung des ›Unpo­li­ tischen‹ bleibt keineswegs für demokratische oder auch nur progressiv-kritische Stel­ lung­nahmen reserviert. Vielmehr teilen sich so unterschiedlich ausgerichtete Autoren wie der anarcho-liberale Max Stirner und der ständisch-konservative Wilhelm Heinrich Riehl diesen einen Begriff des Philiströsen: ›völlige Gleichgültigkeit dem politischen Gemeinwesen gegenüber bei gleichzeitiger Liebe zur Polizei‹.82 Die Analyse von Eva Blome zeigt auf, dass zumindest bei Heine die Positionie­ rung des Philisterbegriffs im Feld zwischen den politischen Polen der progressiven und der konservativen Gesinnung im Einzelnen recht schwierig ist. Bei Heine fungiert der Begriff des Philisters nämlich auch als Begriff für misslingende Progressivität, al­so als Gegenbegriff zu einer Progressivität, die sich ihrerseits keiner wie auch im­mer ›kon­ servativen‹ Festlegung verdächtig machte. Bemerkenswert ist, dass einer sol­chen Kritik auch ehemalige revolutionäre Weggefährten wie Ludwig Börne zum Opfer fal­len  – übrigens ähnlich wie in der Platen-Kritik aus den »Bädern von Lukka«83 in einer Geste, die den gewaltsamen Exklusionsbewegungen der Romantik in nichts nach­steht.84 Noch zu zeigen bliebe, dass sich Heines eigene Position hier als ebenso schwierig er79 Ludwig Tieck, »Das alte Buch und Die Reise ins Blaue hinein. Eine Märchen-Novelle«, in: ders., Werke in vier Bänden, hrsg. von Marianne Thalmann, Bd. 3: Novellen, München: Winkler 1965, S. 945 –1046, hier S. 947 f.; vgl. auch ders., »Waldeinsamkeit. Novelle«, in: ders., Schriften in zwölf Bänden, hrsg. von Manfred Frank, Achim Hölter, Uwe Schweikert und Ruprecht Wimmer, Bd. 12: Schriften 1836 –1852, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1986, S. 857–935, hier S. 860. 80 Karl Marx, »[Briefe aus den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹]« in: ders. und Engels, Werke (Anm. 78), Bd. 1, 1956, S. 337–346, hier S. 338 f. 81 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, »Das Lied vom deutschen Philister«, in: ders., Deutsche Salonlieder, Zürich–Winterthur: Verlag des literarischen Comptoirs 1844, S. 31–33, hier S. 32. 82 Vgl. Max Stirner, »ms«, in: Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe, 31.5.1842, Nr. 151, S. 2; Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, 2., neu überarb. Aufl., Stuttgart /­ Tübingen: Cotta 1854 (= Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 2), S. 220 f. – Entsprechend großen argumentativen Aufwand wird später Thomas Mann betrei­ ben müssen, um seine Konzeption eines ›unpolitischen‹ deutschen Bürgertums vom nahe lie­gen­den Philistrositätsverdacht unbetroffen darzustellen; vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpoli­ti­ schen, Frankfurt am Main: S. Fischer 1983, S. 135 –137. 83 Heine, »Die Bäder von Lukka« (Anm. 62), S. 128f., 141, 149. 84 Heinrich Heine, »Ludwig Börne. Eine Denkschrift«, in: ders., Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Kleinere politische Schriften, bearb. von Helmut Koopmann, Hamburg: Hoffmann und Campe 1978 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 37], Bd. 11), S. 9 –132, hier S. 88 – 91.

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weist wie später diejenige Nietzsches. Teils aus ästhetischen, teils aber auch aus protolebensphilosophischen Gründen verbietet sich für Heine nämlich jede Parteilichkeit, die dennoch nötig scheint, will man der politischen Entwicklung Vorschub leisten: Par­teien sind etwas für Philister. Das ist bei Lenin freilich völlig anders, wie Maren Lehmann aufzeigt. Die Partei ist die Organisation, die die Revolution professionalisiert. Und der Konkurrent des Re­vo­lutionärs ist wiederum der mittelmäßige Philister. Allerdings durchzieht auch Marx’ und Lenins Vorstellungen vom Revolutionär die Figur eines sich selbst aufhe­ ben­den Widerspruchs, wie sie für die gesamte Philistersemantik charakteristisch ist. Der Revolutionär ist bei Marx weder Arbeiter noch Kapitalist, doch er muss seine Dif­ ferenz­losigkeit im Sinne auch einer Unauffälligkeit perfektionieren: Am Ende, so for­ mu­liert Lehmann, müsse »der Revolutionär seine Nichtidentität ertragen kön­nen – das heißt auch und vor allem: seine Ununterscheidbarkeit vom Philister«.85 Bei Lenin wird die Revolution dann zum Beruf, zur Aufgabe der Partei und ihrer Mitglieder; das Genie und das Antiphilistertum sollen bürokratisch erzeugt und gelenkt werden. Auch angesichts dieser Entwicklungslinie der Philistersemantik ist ebenso verstörenden Befunden Rechnung zu tragen wie in Anbetracht der romantischen Philistersemantik. So wie die Ausläufer der Geniesemantik gerade im Anschluss an Nietzsche bis in die nationalsozialistische Ideologie hinein belegt sind, hat die Idee der bürokratischen Überwindung jeglicher Philistrosität schwere und weitreichende politische Folgen gehabt. Die Ausarbeitung der Figur des Bildungsphilisters und die Politisierung des Philis­ ter­begriffs bleiben indes nicht die einzigen Rückkoppelungsbewegungen, in de­nen sich die antiphiliströse Semantik um 1900 fortschreibt. Mindestens zwei wei­tere Rückkopp­ lun­gen machen die Beiträge der fünften Sektion dieses Bandes aus. Kyung-Ho Cha re­ kon­struiert in seinem Beitrag Walter Benjamins Begriff des Philisters und verweist da­bei auf die Anklänge, die das Konzept 1900 in der Jugendbewegung und der Reform­ pä­da­gogik findet, insbesondere bei Gustav Adolf Wyneken. Dass sich Jugend­lich­keit als Gegenkraft zum Philister stilisieren lässt, ist selbstverständlich. Bemerkenswert ist aber die Umwertung, die der Begriff der Erfahrung bei Benjamin durchläuft: Wird zunächst die unmittelbare Fühlungnahme mit dem eigentlichen Leben des Hier und Jetzt als der Jugend vorbehaltene frische Erfahrung gegen die philiströse, aus einem angeblich gesicherten und festen Vergangenheits-Wissen schöpfende Erfahrung ausgespielt, so führt spätestens der Erste Weltkrieg zur Einsicht in die terroristische Neigung einer solchen Erfahrungssuche. 85 So Maren Lehmann, »Revolution als Beruf«, in diesem Band S. 405. Vgl. auch Timo Vihavainen, The Inner Adversary. The Struggle Against Philistinism as the Moral Mission of the Russian Intelligentsia, Washington, DC: New Academia Publishing 2006; Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983  /  84, übers. von Jürgen Schröder, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 244 f.

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Einer Ausschlussbewegung der Philistersemantik und einer an dieser ansetzenden Figur der Rückkoppelung widmet sich schließlich Doerte Bischoff. Als Gegen- und als Komplementärfigur zum Philister wie zum Antiphilister figuriert spätestens seit der Romantik die Frau. Es steht nämlich in Frage, ob es einen weiblichen Philister, eine ›Philisterin‹ geben kann – und es wird zugleich vermutet, dass einem männlichen Nichtphilister eine Gattin abträglich sein dürfte. Die Frau selbst wird in dieser Doppelbewegung so­wohl zum Attribut des Häuslichen degradiert86 als auch zum poetischen Ideal sti­li­siert. So verkörpert seine (Ehe‑)Frau einerseits die Gefangenheit des Philisters in den kontingenten Grenzen seiner Existenz – und tritt bei Brentano als übermächtige Mut­ter aller Philister grotesk in Erscheinung.87 Andererseits jedoch figuriert die Frau – beispielsweise in Gestalt des Zigeunermädchens88 – als romantische Muse. Als eine Stra­tegie, auch diese Ausschlussfigur innerhalb eines Abzweigs der Philistersemantik im wei­te­ren Verlauf des 19. Jahrhunderts einzuholen, stellt Bischoff den Dandy vor. Denn der Dandy verlegt das Weibliche in sich selbst und entsagt dem Sexuellen  – nicht aber dem Sinnlichen. Damit verbindet er die Askese mit der Ästhetisierung sämt­licher Lebensbereiche – eine aporetische Konstruktion, deren Logik der Selbstzer­ störung das Antiphilistertum des 19. Jahrhunderts geradezu tödlich erscheinen lässt.

VI. Schließt Clemens Brentano seine Philisterrede mit einer Aufzählung von »Philister­ symp­tome[n]«, und zu ihnen zählt selbstverständlich der Regenschirm, den der Phi­ lis­ter nie aus der Hand gibt,89 so lässt sich laut Stanitzek genau an diesem Gegenstand versinnbildlichen, wie unklar am Eingang des 20. Jahrhunderts ist, was die ›standesgemäße‹ Ausstattung eines Philisters eigentlich ausmacht. Verzichtet er auf den Regenschirm, weil er es zu seinen Pflichten zählt, dem Wetter zu trotzen? Oder trägt er ihn bei jeder Gelegenheit bei sich, um zu signalisieren, auf jedes Wetter eingestellt zu sein? Die Antwort lautet vermutlich, dass der Philister entweder das eine oder das andere tut. Genau an der Tatsache, dass jemanden schließlich bloß die Entschiedenheit der Attribution, nicht aber das Attribut selbst als Philister (oder auch als etwas anderes)

86 Wie es in einem 1848er Philistereigenschaften-Katalog unter »q)« schön heißt: »qq. Seine Frau ist ganz derselben Meinung« (Adolf Glaßbrenner, »Der neue deutsche Philister«, in: ders., Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Horst Denkler, Bernd Balzer, Wilhelm Große und Ingrid Heinrich-Jost, Köln: Informationspresse Leske 1981, Bd. 2, S. 176 –178, hier S. 178). 87 Siehe die Abbildung im Beitrag von Stefan Nienhaus im vorliegenden Band, S. 248. 88 Vgl. Kirsten von Hagen, Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, Mün­ chen: Fink 2009. 89 Brentano, »Der Philister« (Anm. 26), S. 65.

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auszeichnet, lässt sich ablesen, dass sich die Logik der sozialen Figuren im 20. Jahrhun­ dert verschiebt. Man kann nämlich diagnostizieren, dass die Rede vom Philister in der Gegenwartsliteratur keine wirklich gängige Münze mehr darstellt. Noch für Theodor W. Adorno war in den 1950er Jahren »Bildungsphilister« ein wichtiger kritischer Terminus,90 so wie für Susan Sontag »philistinism« in den 1960ern91 oder für Karl Heinz Bohrer in den 1970er Jahren »juste milieu«.92 Heute wirkt es eher verblüffend, auf die Kate­go­ rie zu stoßen – insbesondere wenn man sie mitsamt all ihren ad personam moralisch aggressiven Beimischungen aufgeführt findet: »Ekliger Philister, vorne Schleim, hin­ ten Galle, intrigant, böse, dumm, brutal. Trägt seine alberne Zettelkastenbildung wie einen Schrein vor sich her. Kulturloser Angeber, leidenschaftlicher Adabei. Gewürm, das sich allen Ernstes für herrenmenschlich erhaben hält. Ein Kretin.« (Und so geht es weiter, wir zitieren lieber abkürzend.)93 Wenn nicht alles täuscht, resultiert eine sol­che Formulierung wohl aus der Unselbstverständlichkeit des Worts. Die stach­lige Be­weh­ rung, die der ein wenig prätentiöse, gewollt gewählt bildungssprachliche Ausdruck in der hier auf ihn folgenden Radotage erfährt, spricht wenigstens dafür, dass die Wortwahl kein Vertrauen mehr in eo ipso gegebene moralische Implikationen voraussetzen kann. Mag nun aber auch der Wortkörper »Philister« in den letzten Jahrzehnten wenig populär sein, so ist die mit ihm traditionell verbundene Semantik in jüngster Zeit reaktualisiert worden. So erinnert Keck in ihrem Beitrag daran, dass der Phi­lis­ter mit Anspielungen auf Goethes Werther in der Gegenwartsliteratur – wenn auch namentlich ungenannt – vielleicht ebenfalls wieder die Bühne betritt. Und so sind aber auch Parallelen zwischen der Simson-Episode und heutigen Selbstmord­atten­taten diskutiert worden. Ist es doch Simson, der als ›Richter‹ und Held des Volkes Israel zugleich als Selbstmordattentäter agiert. Zumindest im deutschen Sprachraum lassen sich weitere – mindestens zwei – Zusammenhänge ausmachen, die eine Reaktu­a­li­sierung der Kategorie betreiben, ohne dies explizit zu machen.

90 Theodor  W. Adorno, »Der Essay als Form«, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11: Noten zur Literatur, 3. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 9 –33, hier S. 12; siehe auch die Applikation des Terminus auf Nietzscheaner: ders., Minima Moralia (Anm. 10), Nr. 120, S. 248 f. 91 Susan Sontag, »Against Interpretation«, in: dies., Against Interpretation and Other Essays, Lon­ don: Penguin 2009, S. 3 –14, hier S. 8; rückblickend betont sie im Nachwort zu dieser Ausgabe die Bedeutung dieses Motivs: »I saw myself as a newly minted warrier in a very old battle: against phi­lis­tinism, against ethical and aesthetic shallowness and indifference« (»Afterword: Thirty Years Later …«, S. 305 –312, hier S. 308). 92 Karl Heinz Bohrer, »Surrealismus und Terror oder die Aporien des Juste-milieu«, in: ders., Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror, München: Carl Hanser 1970, S. 32 – 61, insb. S. 58 – 61. 93 Helmut Krausser, Substanz. Das Beste aus den Tagebüchern, Köln: DuMont 2010, S. 395.

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Erstens wären die anarchistischen beziehungsweise situationistischen Motive der stu­dentischen Protest- und Alternativbewegungen um und nach 1968 für die Untersuchung von Philister- als Ideologiekritik von Interesse. Noch in der gegen­wär­ti­gen kei­nes­wegs nur semantischen Konjunktur eines globalen – ›verhaust‹ philiströsen Exis­ tenz­weisen entgegengesetzten – Nomadentums lässt sich unschwer ein Fortleben die­ ser Motive diagnostizieren.94 Zweitens führt die Philistersemantik ins Zentrum des­sen, was heute in der Alltagssprache als ›kulturelle Spannung‹ bezeichnet wird. Inhaltlich realpolitische Lebensnähe einklagend, formal mit drastisch-provokativer Rhetorik ope­ rie­rend, weisen Formen des Kulturvergleichs, der kulturellen Identitätspolitik und der Spannungsrhetorik auf eine Variante der Ideologiekritik hin, die Ähnlichkeiten zu den Traditionen der Philisterschelte besitzt.95 Von ferne hallen hier jene Existenzialismen nach, die als antibürgerliche Haltungen der ›Entschlossenheit‹ und des ›Opfers‹ durch die Moderne des 20. Jahrhunderts gegeistert sind.96 Wenn aber gegenwärtig die Rede vom Attentäter und vom Fundamentalisten strukturell diejenige vom Philister beerbt, dann mit so vielen Brechungen,97 dass es sofort einleuchtet, warum der Wortkörper »Philister« selbst diese Veränderungen fast nicht überlebt hat. Philister- und Ideologiekritik werden von Christoph Schlingensief in seiner Ak­tion Atta Atta aufgegriffen – und überdies mit der Problematik des Selbstmordatten­täters verschränkt. Schlingensief insinuiert, dass nunmehr ›alle‹, das heißt alle im ›Wes­ten‹, zu Philistern geworden sind und sich mit Phänomenen der Ausgrenzung und ge­walt­tä­ tigen Intervention konfrontiert sehen, welche äußerst (selbst‑)zerstörerische Potenziale entwickeln. Kondensiert man diesen unbehaglichen Verdacht zu einer These, so lässt sich diese als Reaktion auf Karlheinz Stockhausens Einlassung verstehen, die Anschläge vom 11. September hätten jede künstlerische Anstrengung übertroffen. Die anschließende Diskussion – an ihr beteiligen sich etwa Boris Groys, Peter Sloterdijk und Carl Hegemann – ist, wie Remigius Bunia in seinem Beitrag zeigt, ernstzunehmen. 94 In Hinsicht auf den Berliner Individualitätstheoretiker Helmut Höge hierzu: Georg Stanitzek, Essay – BRD, Berlin: Vorwerk 8 2011, S. 315 –323. 95 Vgl. nur Jan Ross, »Schwellendes Philistertum. Gegen politisch korrekte Westbindung und Meta­physikverbot [What’s right?]«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.5.1994, Nr.  107, S. 35, sowie die strukturell mit der Philisterkritik übereinkommende Kritik der sogenannten politischen Korrektheit zum Beispiel bei Botho Strauß, »›Der eigentliche Skandal‹. Botho Strauß antwortet sei­ nen Kritikern«, in: Der Spiegel, 18.4.1994, Nr. 16, S. 168 –169, hier S. 169. 96 Vgl. zum Beispiel Michael Großheim, »Politischer Existenzialismus. Versuch einer Begriffs­be­ stim­mung«, in: Günter Meuter und Henrique Ricardo Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 127– 163, insbesondere zu Carl Schmitts Verständnis der Romantiker-Philister-Relation: S. 150. 97 »Man hat die Möglichkeit, sich eine Frau zum Heiraten zu suchen, Künstler zu werden oder sich einer terroristischen Vereinigung anzuschließen. Darauf läuft es hinaus« (Moritz von Uslar, in: Julia Encke, »Sex ist das Ende. Moritz von Uslar über seinen ersten Roman, über das Pop-Mißverständnis, Männerfreundschaften und Liebe« [Interview], in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.4.2006, Nr. 14, S. 31). – Vgl. Michael Rutschky, »Krieger«, in: Merkur 65.2 (Februar 2011), S. 99 –108.

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Die Struktur der Situation entspricht nämlich institutionell der Philister-Konstellation der romantischen Tischgesellschaft. Künstler und Professoren nehmen – mit Medienaufmerksamkeit, Akademiesitzen und Preisen ausgestattet – die Verpflichtung zu gesellschaftlicher Fundamentalkritik bei gleichzeitiger Zugehörigkeit zur Führungsschicht der kritisierten Gesellschaft wahr. Indem sie Philistrosität monieren,98 riskieren sie zugleich, selbst als Philister gelten zu müssen. Bunia zeigt auf, dass dieses intrikate und letztlich aporetisch gewordene Verhältnis von Kritik und Affirmation selbst in den letzten Jahrzehnten einer Neubewertung unterworfen gewesen ist, die schließlich ein Grund dafür sein könnte, den Philister als Kategorie aufzugeben. Er schlägt schließlich vor, den Fundamentalisten als diejenige Sozialfigur zu benennen, die die ehemalige Funktionsstelle des Philisters besetzt. Dass Professoren das Ende des Philisters diskutieren, erinnert erneut daran, dass die Universität immer wieder von der Philistersemantik gezehrt und umgekehrt der neu­zeit­liche Einsatz der Philistersemantik auf die Einführung und Durch­set­zung der Uni­ver­sität reagiert hat. Deutet Bunia die Veränderungen bloß an, die sich für die Uni­ver­sität des 20. und 21.  Jahrhunderts ergeben, so schließt der letzte Beitrag die­se Lücke, in dem Dirk Baecker anhand des Professors von einer für die Philistersemantik der Neuzeit immer schon zentralen Perspektive aus das langsame Ende der Philistersemantik erhellt. Baecker wirft einen letzten Blick auf die Universität und stellt fest, dass dort der Professor die Stelle markiert, an der sich alle Aufgaben an der Universität überschneiden (Verwaltung, Forschung, Lehre), obwohl er aber im Selbstverständnis der Universität die geringste Rolle spielt. Er ist ursprünglich der Philister und der Nichtphilister zugleich gewesen – Philister, weil er nicht mehr Student ist, Nichtphilister, weil er immer noch studiert und sich an der Universität aufhält. Oben ist bereits festgehalten worden: die Universität will seit dem frühen 19. Jahrhundert Philister hervorbringen, indem sie gerade die Nichtphilister adressiert. Es ist angesichts dieser Funktion kein Wunder, dass der Professor seitdem eine prekäre Rolle hat. Er ist, so zeigt es Baecker, seitdem eine Kippfigur, immer wieder Philister und Student zugleich und wird letztlich von außen auf den philiströsen Lehrer und Verwalter oder auf den ewigen Studenten im Forscher festgelegt. Die Entwicklung der Semantik ist jedoch fortgediehen, und Baecker stellt fest, dass diese einfache Rasterung nicht mehr zur aktuellen Universität passt. Der Verdacht drängt sich auf, dass der Wissenschaftsmanager und ›höhere Schullehrer‹ nicht nur die Sozialfigur des Professors verdrängen – wobei die Studierenden zu Lehrlingen umgewertet werden –, sondern mit ihm auch dem ›Philister‹ jede semantische Funktion geraubt wird. Es ist vielleicht kein Zufall, dass eine der originellsten jüngeren Studien

98 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2009, sachlich passim, expresso verbo S. 51: »mißtraue dem Philister in dir, der meint, du seist, wie du bist, schon ziemlich in Ordnung!«

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zur Universität auf Matthew Arnolds Philisterkritik99 explizit zurückgreift, wenn sie darlegt, dass die Karriere des Wissenschaftsmanagers in der Tat einen neuartigen Einschnitt bedeutet, der die freie Forschung bedroht: »the more emotive arguments – the appeals to the time-worn principles of academic freedom, the dire warnings of a crisis of civilized values – are unlikely to cut much ice among those enemies of an enlightened culture who were long ago pilloried by Matthew Arnold as barbarians and philistines.«100 Die Feinde als Philister zu beschimpfen würde die Feinde nicht be­ zwin­gen, vermutlich nicht einmal touchieren.101 Eine besser geeignete Semantik ist je­ doch nicht in Sicht. Vielleicht ist sie auch nicht nötig, und dann verschwindet gegenwärtig – ohne jeden Ersatz – der Professor zusammen mit dem Philister am Horizont der semantischen Evolution.

99 Vgl. zu Matthew Arnold den Beitrag von William Rasch. 100 Tony Becher und Paul R. Trowler, Academic Tribes and Territories. Intellectual enquiry and the culture of disciplines, Nachdruck der 2. Aufl., Maidenhead und New York: Open UP 2010 [2001], S. 201. 101 Man vollzieht den Kampf jedenfalls andernorts nach: Sun Fengcheng, »Wie die Chinesen den Kampf Nietzsches gegen philisterhaftes Bewußtsein bewerten«, in: Yoshinori Shichiji (Hrsg.), Begegnung mit dem »Fremden«. Sektion 10: Die Fremdheit der Literatur; Sektion 11: Rezeption, München: Iudicium 1991 (= Eijirō Iwasaki [Hrsg.], Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990, Bd. 6), S. 349 –355.

Philister der Neuzeit – Überblicke Sektion I

Heinrich Bosse

Musensohn und Philister Zur Geschichte einer Unterscheidung

In Jena wurde im November 1697 ein städtischer Bürger bei einem Studenten­krawall getötet. Daraufhin entstand eine Reihe lateinischer und deutscher Grabschriften, die in einer zeitgenössischen Handschrift der Jenaer Universitätsbibliothek über­lie­fert sind. Friedrich Kluge teilt sie in seiner wortgeschichtlichen Untersuchung zum Be­griff ›Philister‹ mit, darunter auch die folgende: Ein Reuter und Philister ligt in dieser gruft begraben  dem einige Musen Söhne jüngst den rest gegeben haben.  Ritte zu der Hölle hin, Quartier zu bestellen  vor die noch etwa folgende Philister und gesellen  Von schelmischen Philister wurde zwar Israel gequelet  Doch hat es Selbigen an Siege nicht gefehlet  Nehmt ihr Musen Kinder nun hieraus die Lehre an  Daß Euch der billige Siegesruhm unmöglich fehlen kann  wenn ihr geht durch der Hescher Blut in Euerer Freiheit Stand  wie Israel durchs rothe meer in das gelobte Land.1 Der Krawall mit Todesfolge ist zugleich, so hört es sich in wahrhaft unregelmäßigen Jamben an, ein großer Kampf zwischen Freiheit und Unterdrückung. Auf der einen Seite kämpfen die »Musen Kinder« für ihre ständische – akademische – Freiheit, auf der anderen Seite befinden sich berittene städtische Soldaten aus dem Kreis der Bürger, 1 Zit. n. Friedrich Kluge, »Philister«, in: ders., Wortforschung und Wortgeschichte. Aufsätze zum deut­schen Sprachschatz, Leipzig: Quelle & Meyer 1912, S. 20 – 40, hier S. 28 f. Das Gedicht liegt in der umfangreichen Sammelhandschrift Miscellanea, was etwa auff den Universitaeten Jena, Leipzig und Halle an Curieusen und Politischen Piecen eingelauffen (UB Jena, Ms. Bud. F. 352, Bl. 62a) vor. Für die Aus­kunft danke ich Ulrich Rasche, Jena.

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dazu die verachteten Vorfahren der modernen Polizei, die Stadtknechte oder Häscher.2 Eine solche Frontstellung erhält biblische Dimensionen durch den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten und natürlich durch die israelitischen Vorkämpfer Simson und Da­ vid. Die besondere Affinität der Philister zur Hölle wird nun aber durch einen Bibelvers der Vätergeschichte (Gen 26,14  /  15) hergestellt. Weil die Philister dem Isaak, Abra­ hams Sohn, die Brunnen zuschütten ließen, wurden sie bei den Kirchenvätern wie bei den frühneuzeitlichen Theologen namengebend für Gottlose, Ketzer und andere Fein­de des Glaubens, angeführt vom Erzfeind, dem Teufel; »der höllische Philister, der Satan«, heißt es wörtlich in einer Herrnhuterschrift aus dem Jahr 1735.3 Vor diesem typologischen Hintergrund – das auserwählte Volk und seine auser­ wähl­ten Feinde – entfaltet sich der Gegensatz in einer Geschichte, die von der Vormoderne bis nahe an die Gegenwart geht und die Sozialgeschichte, Bildungsgeschichte, Literaturgeschichte ins Spiel bringt, in das Spiel der Äußerungen und Aussagen. Eine Diskursgeschichte also? Ja, aber sie gilt nicht der Wahrheit und dem Wissen, sondern der sozialen Energie im Bemühen, sich zu unterscheiden. Ich will versuchen, die Ge­ schichte in drei – oder vielleicht vier – Kapiteln zu erzählen.

Studenten versus Philister Von den Bewaffneten der Stadt geht der Begriff ›Philister‹ rasch, ja mühelos auf die unbewaffneten Bürger einer Stadt über. »Unter denen Herren Studenten, giebt es so viele Burse [Bursche], die einen Philister (so nennen sie uns Bürger) wie einen Floh achten«, heißt es in einer Lebensbeschreibung von 1706.4 In ihrer Jugendsprache bezeichnen die ›Herren Studenten‹ sich selbst als ›Bursche (pl.)‹, mit einem Begriff, den andere für verächtlich halten,5 und sie bezeichnen die Bürger als Philister, um sie verächtlich 2 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Leipzig: Breitkopf 1801, Sp. 270, Art. »Stadtknecht«: »die geringsten Diener der Polizey und Stadtgerichte, welche die Verbrecher einfangen, für die Sicherheit der Ruhe und Gassen wachen, und andere niedrige Dienste verrichten.« 3 Georg Schoppe, »Philister. Eine Wortgeschichte«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 10 (1922), S. 193 –203, hier S. 197; vgl. ders., »Wortgeschichtliche Studien«, in: Mitteilungen der Schle­ sischen Gesellschaft für Volkskunde 17 (1915), S. 91– 94 u. 103 f. Schoppe bringt vor allem Belege aus dem 16. und 17. Jahrhundert; die mittelalterliche Linie von Origines über Gregorius zu Abälard zieht Gustav Krüger, »Philister; über den Ursprung des bildlichen Gebrauchs dieses Namens«, in: Ger­ manisch-Romanische Monatsschrift 3 (1911), S. 116 –117. 4 Des lustigen Hazards seltsahme Lebens-Geschichte / Denen Liebhabern der verstellten Warheit zum erlaubten Zeitvertreib mitgetheilet, o. O.: Cosmopoli 1706, S. 236, zit. n. Kluge, Wortforschung und Wortgeschichte (Anm. 1), S. 22, der seinerseits nach dem Grimm’schen Wörterbuch (Bd. 7, Sp. 1826) zitiert. 5 Vgl. Siegmund Jacob Apinus, Vernünftiges Studenten Leben, welches zeiget, was sowol ein Can­ di­da­tus Academiae, als auch ein würcklicher Studiosus bey dem Anfang, Fortgang und Ende seiner Aca­

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zu machen. Verachtung, das ist das Thema. Es taucht auf, weil die Universitätsstadt in der Vormoderne ein doppeltes Gemeinwesen darstellt. Da sind einmal die städtischen Bürger, die befugt sind, und zwar ausschließlich sie, ›bürgerliche Nahrung‹ zu treiben, also Handwerk, Kaufmannschaft und die Brau- und Schankgerechtigkeit auszuüben, die Haus und Grund besitzen und die auf dem Rathaus, nachdem sie den Bürgereid geleistet haben, in das Bürgerbuch eingetragen werden. Die Bürger sind ›Rats­ verwandte‹, ihr Rechtskreis wird vom städtischen Magistrat verwaltet, der gleichzei­ tig das zuständige Gericht darstellt. Auf der anderen Seite gibt es die Universität als akademische Gelehrtengenossenschaft der Professoren, Studenten, mitunter auch universitätsnaher Berufe wie Buchbinder oder Apotheker. Die ›Universitätsverwandten‹ ge­hören zu einem ganz anderen Rechtskreis mit eigener Gerichtsbarkeit in Zivil- und Strafsachen, vielfach sogar auf Leben und Tod, hinter der unmittelbar der Landesherr selber steht.6 Diese Gerichtsbarkeit stärkt die korporative Zusammengehörigkeit der Universitätsangehörigen nach dem alteuropäischen Rechtsgrundsatz, dass Glei­ che nur von Gleichen gerichtet werden dürfen.7 Der Student tritt ausschließlich in den akademischen Rechtskreis ein, wenn er eine Universität bezieht und durch Eidesleistung und Immatrikulation akademischer Bürger geworden ist – der städtische Ma­ gis­trat geht ihn nichts an. »Bürger: akademische (Studenten) werden den eigentlichen vorgesetzt«,8 konstatiert noch Jahre nach der Französischen Revolution ein Handbuch des Rangrechts. Die Sozialhistoriker, die Studierende und Studierte einfach dem ›Bürgertum‹ zurechneten, haben eher Verwirrung gestiftet als Erkenntnis. Denn tatsächlich begründet demischen Jahre zu thun und zu lassen hat, Jena: Kaltenbrunner 1726, S. 39  f.: »Viele haben ein Ge­fal­len daran / wann man sie Pursche heißet / da doch dieses ein Nahme ist / welcher recht ver­ächt­ lich herauskommt und gemeiniglich Leuten von jungen Jahren, und unanständigen Sitten / (von denen man zu sagen pflegt: Es ist noch ein junger Pursch er verstehets noch nicht besser  / man muß ihm was zuguthalten) oder auch Soldaten / Handwercks-Gesellen / auch anderen liederli­chen Purschen beygelegt wird; von welchen  / da sich ein Studiosus sonst gerne zu distinguiren pflegt  / und vor besser will angesehen seyn / er auch billich nicht gleichen Nahmen mit jenen führen soll.« Überraschenderweise ebenso auch Christian Wilhelm Kindleben, Studenten-Lexicon. Aus den hinterlassenen Papieren eines unglücklichen Philosophen Florido genannt ans Tageslicht gestellet, wortgetreuer Abdruck der Originalausgabe Halle 1781, Leipzig: Weigel 1899, S. 52, Art. »Bursche«. Der Name, der sich von der Gemeinschaftskasse der studentischen Wohngemeinschaften im Mittelalter herschreibt, bleibt bis ins 20. Jahrhundert die herrschende Selbstbezeichnung. 6 Vgl. die vorzügliche historische Übersicht von Klaus Michael Alenfelder, Akademische Gerichtsbarkeit, Baden-Baden: Nomos 2002 (Bonner Schriften zum Wissenschaftsrecht 7). 7 So noch Christoph Meiners, Ueber die Verfasung und Verwaltung deutscher Universitaeten, Bd. 1, Göttingen: Roewer 1801, S. 105: »So natürlich und gerecht es ist, daß Fürsten von Fürsten, Edle von Edlen, Krieger von Kriegern, Gemeine von Gemeinen gerichtet werden; eben so natürlich und gerecht ist es auch, daß Lehrer und Jünger der Wissenschaft von ihres Gleichen gerichtet werden.« 8 Johann Christian von Hellbach, Handbuch des Rangrechts in welchem die Literatur und Theorie, nebst einem Promtuar über die praktischen Grundsätze desselben, ingleichen die neuesten vorzüglichern Rangordnungen im Anhange enthalten sind, Ansbach: Haueisen 1804, S. 141.

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und bewahrt der Rechtsunterschied eine tiefgreifende ständische Unterscheidung, die zwischen Gelehrten und Ungelehrten. Universitäten dienen »nicht nur denen Stu­ denten / sondern auch allen Ungelehrten« zum Vorteil, heißt es in einem Traktat aus dem 17.  Jahrhundert, der sich eben das Verhältnis zwischen ›town and gown‹ zum The­ma gemacht hat.9 Ungelehrte (illiterati) sind diejenigen, die keine lateinische Aus­ bil­dung genossen haben, Gelehrte (literati) werden umgekehrt genau durch ihre la­tei­ nische Ausbildung definiert.10 Die Ausbildung in Lateinschule und Universität ist die einzige Ausbildung in der ständischen Gesellschaft, die außerhalb aller Arbeitspro­zesse stattfindet. »Der Soldat, der Kaufmann, der Handwerker, der Künstler, steht in seinen Lehr- und Uebungsjahren dergestalt unter seinen Obern und Lehrherren, daß diese auf seine ganze Wirthschaft und Haushaltung Achtung geben, ihn bey jeder Un­ord­ nung ernstlich abmahnen, und wenn er nicht zu bessern ist, von sich schaffen. […] Nur allein der Gelehrte ist in seinem Vorbereitungsstande nicht in der guten Lage, daß er solche Aufsicht genugsam haben könnte.«11 Ohne Lehrherren, frei von der Auf­sicht des Hausvaters wie des Lehrers, lernt der akademische Nachwuchs in aka­ de­mi­scher Freiheit. Unter anderem lernt er auch, die eigene Arbeit (mit der Feder) hochzuschätzen und die Arbeit derer, die mit den Händen arbeiten, geringzuschätzen. Der wichtigste Unterschied bei Privatpersonen, so lehrt Pufendorf, entsteht aus den Erwerbsmöglichkeiten, »auß dem Geschäffte / Handthierung oder Künsten / womit ein jeder umbgehet  / und wovon er sich nehret; da denn dieselbe entweder solche seyn  / die freyen und edlen Gemüthern anstehen; oder die mit unflätigen Dingen ver­knüpffet / nur für schlechte Leute gehören.«12 Artes liberales vs. artes mechanicae, edler vs. unedler Erwerb, Kopfarbeit vs. Handarbeit, oben vs. unten – das ist die nachhaltigste Differenz der europäischen Sozialgeschichte. Sie fundiert den Unterschied zwi­schen Gelehrten und Bürgern. Standesunterschiede sind Rechtsunterschiede. Sie werden konserviert durch Herkommen und Gewohnheit, vor allem aber durch Sonderrechte (privilegia). Mit der Grün­dung der Universitäten entwickelte sich auch die Frage, wie die Universitäts­ab­sol­ venten in das ständische Gefüge des Mittelalters einzupassen seien. Da die Universitäten Füh­rungs­kräfte für Kirche und Staat heranbildeten, beanspruchten diese Führungskräfte auch eine möglichst hervorgehobene Position, unmittelbar zwischen Adel und 9 Thomas Sagittarius, Tractätlein von der Höchsten Glückseligkeit der Städte in welchen ACADEMIEN auffgerichtet seynd, Jena: Krebs 1679, S. 66 (Übersetzung einer lateinischen Vorlage aus dem Jahr 1611). 10 Dazu Heinrich Bosse, »Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 32 (2008), S. 13 –37. 11 »Nützliche Einrichtung zur Geldwirthschaft für Studirende auf Universitäten«, in: Wittenber­gi­ sches Wochenblatt zum Aufnehmen der Naturkunde und des ökonomischen Gewerbes, 19. Stück (16. Mai 1783), S. 145 f. 12 Samuel Freiherr von Pufendorf, Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht, Teil 1, Reprint Hildesheim: Olms 1998 [lat. 1672 / dt. 1711], S. 17 f.

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Geistlichkeit. So entwickelte sich die Graduierung, speziell die Doktorpromotion, zu einer veritablen Standeserhöhung, »in vieler Hinsicht einer Nobilitierung analog«.13 Der Adel des Doktors – ein Thema, das eine Juristengeneration der nächsten weiterreichte – wurde dann aber gleichsam korporativ erweitert, um auch noch die Stu­den­ ten an der Nobilitas literaria teilhaben zu lassen. Aus Ansprüchen, Einzelfällen, Zitaten, Wunsch- und Rechtssätzen bildete sich ein Thesaurus studentischer Privilegien. Petrus Rebuffus (1540) zählt deren 180, Horatius Lucius (1564) immerhin 130, und der Kanz­ ler der Universität Halle erörtert noch 1705 ihre Gültigkeit.14 Was immer sie gegolten haben mögen, sie wurden jedenfalls gewusst und tradiert, um das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der Akademiker zu erhöhen. So nimmt es nicht wunder, dass die Musensöhne selber sich für Barone halten, das heißt sich als Freiherren zwischen den Grafen und dem gewöhnlichen Adel situieren: Sind wir nicht als die Baronen Die wir Musen Söhne sind? Niemand hat uns zu befehlen /  Und ob wir ihn noch so quälen /  Muß er noch mit dancken lohnen: Weil wir immer  Werden schlimmer /  Und die sich nicht bücken /  Desto schärffer drücken. Kayser lieben die Studenten /  Und verehren ihren Stand: Und gewiß es ist ein Land   Ohne uns nicht zu regieren;  Wo ein Land Studenten zieren /  Und Studenten sind Regenten /  Muß in Freuden  Man sich weiden /  Weil der Weißheit Lehren  Alles Wachsthum mehren. 13 Barbara Stollberg-Rilinger, »Von der sozialen Magie der Promotion. Ritual und Ritualkritik in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische An­ thro­pologie 12 (2003), S. 273 –296, hier S. 279. 14 Petrus Rebuffus, Privilegia Universitatum, Collegiorum, Scholasticorum, Bibliopolarum et omnium demum qui studiosis adiumento sunt, Reprint Wien 2008 [1575]; Horatius Lucius, Tractatus de pri­ vilegiis scholarium, Padua 1564; Jakob Friedrich Ludovici, Observationes de privilegiis studiosorum, ad Petrum Rebuffum, Halle an der Saale: Ziegler 1705. Seitdem sind die Privilegien der Studenten weder untersucht noch auch nur diskutiert worden.

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Heinrich Bosse Der Studenten edles Leben  Ist ein Meer voll Seligkeit /  Und die rechte güldne Zeit /  Was der Eltern Geitz ersparet /  Und Gefangnen gleich verwahret /  Muß der Vater reichlich geben;  Ja die Mutter  Schickt vor Butter  Und vor andre Sachen  Geld / zum lustig machen.15

In kunstvollen Strophen das ruhmredige Standeslied eines unbekannten Verfassers, wo­rin eine Gruppe ihre Vorzüge und Eigenarten besingt.16 Zunächst der Blick unter sich hinab: aus einer völlig unbesorgten Herrscherposition sind nur Untertanen zu se­ hen, die sich nicht beschweren oder gar wehren können, weil jedes Aufbegehren mit desto schärferer Unterdrückung geahndet würde. Dann der Blick über sich hinauf: die Spitze aller weltlichen Gewalt ist im Bunde mit den Studenten, weil sie ja durch ihre Ausbildung zu Führungspositionen bestimmt sind, in denen sie das Gelernte zur Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt anwenden werden. Zuletzt der Blick um sich herum: da zeigt sich ein Leben ohne Zukunftssorgen, weil die Familie im Hintergrund mit ihren Ersparnissen den geldausgebenden Sohn jahrelang subventioniert, buchstäblich ein goldenes Zeitalter, wo die Menschen ohne Betrübnis wie Götter leben. Frei von Befehlen und frei von Sorgen, fühlen sich die Studenten vollkommen unabhängig und, die Zukunft bereits vorwegnehmend, ganz oben.17 Die Gegenposition unten – 15 Georg Ernst Reinwald, Academien- Und Studenten-Spiegel / In Welchem Das heutige Leben auf Universitäten gezeiget, geprüfet und beklaget wird, Berlin: Rüdiger 1720, S. 5  f. Von den »MusenSöhnen« (S. 26 u. ö.) hat jeder einen Spiegel »auf seinem Museo«, das heißt in seinem Studierzimmer (Vorrede); und sie fechten natürlich »pro honore ac libertate Musarum« (S. 117); auch fehlt der Hinweis auf Rebuffus und Lucius nicht (S. 10). 16 Vgl. die Art. »Ständelied« und »Studentenlied« in Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Litera­ tur, 8., verb. und erw. Aufl., Stuttgart: Kröner 2001, S. 780 u. 794. Könnte die – von heute her: schamlose – Affirmation der studentischen Freiheit auch ironisch gemeint sein? Es ist dies eher unwahrscheinlich, wenn man den provokativen Charakter frühneuzeitlicher Studentenlieder, bis hin zur Adaptation von Schillers »Räuberlied« für die Jenaer Tumulte bedenkt; zudem war, ganz anders als heute, das Studium weitgehend frei von Leistungskontrollen und Abschlussprüfungen für die­je­ni­ gen, die nicht graduieren wollten. 17 Das ist ein Topos in der Studentenliteratur, vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Ein Student ist, wer zu seiner Zeit der Kirche dient und dem Staate vorsteht – mit einem Wort, ein Student ist derjenige, durch dessen Wissen und Klugheit die ganze Welt erleuchtet, gelenkt und geleitet wird. »Studiosus est qui suo tempore Ecclesia inservit, Reipublicae praeest […]. Verbo: Studiosus est, cujus scientia & prudentia totus mundus illuminatur, regitur ac gubernatur« (Johann Paul Felwinger, Dissertationes Politicae [1656], zit. n. Apinus, Vernünftiges Studenten Leben [Anm. 5], S. 40 f.). Die Burschenschaftlichen Blätter 24 (1909  /  1910), S. 40, drucken das Gedicht eines Jenenser Studenten (1872  /  1874), das

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unfrei und sorgenvoll – bleibt den ›anderen‹, den Nicht-Studenten oder Philistern; dass sie unfrei sind, weil sie sich Sorgen machen (müssen), wird ihnen freilich erst die Romantik zum Vorwurf machen.18 Es ist hier wohl nicht am Platz, das Selbstbild, das aus den drei Strophen spricht, gegen die Berichte ›aus dem wirklichen Leben‹ zu halten;19 festzuhalten ist jedoch, dass die akademische Freiheit des Studentenlebens als souveräner Ausnahmezustand dar­gestellt und eben als solcher sei es gepriesen, sei es missbilligt wird. Gepriesen etwa von Friedrich von Hagedorn in einem Brief an Giseke (1748) als Zeit der unverstellten und bil­denden Freundschaft, »da Sie in Leipzig ein größeres Glück gehabt, als ich und hundert andere, in dem edlen und mehr als fürstlichen Studenten-Stande erreichet ha­ben, indem Sie zum vertraulichen Umgange nicht nur jugendliche und gefällige, sondern die sinnreichsten, liebenswürdigsten und fähigsten Freunde gehabt haben, bey denen die academische Freyheit zum gemeinschaftlichen Mittel der Kenntniß und des Vergnügens ward«, wie man sie in den widerwärtigen, »und, wenn man das sagen könnte, runtzlichten Zeiten« danach nicht mehr wiederfinden kann.20 Missbilligt, wenn­gleich in ironischer Form, als Intervall der Barbarei von Jean Paul im »Leben des Quintus Fixlein« (1795  /  1796): »Ich glaube, daß einer, der erwägt, wie weit die Wissen­ schaf­ten bei einem Primaner steigen […], ich glaube, daß ein solcher dem Musensohne ein gewisses barbarisches Mittelalter (das sogenannte Burschenleben) gönnen werde, das ihn wieder so stählet, daß seine Verfeinerung nicht über die Grenzen geht.«21 Der Begriff ›Musensohn‹ schillert zwischen dem Kontext der Dichtung und dem Kontext der Universität. Ein Student, ja ein Primaner ist ein Musensohn, der »würdige beginnt: »Ich bin ein Student und ich bin der Herr der Welt, / Und kein Mensch hat mir was zu sagen!« 18 So die zweite Strophe von Eichendorffs Lied »Wem Gott will rechte Gunst erweisen« (1823): Die Trägen, die zu Hause liegen.  Erquicket nicht das Morgenrot,  Sie wissen nur vom Kinderwiegen  Von Sorgen, Last und Not um Brot. Zur Interpretation vgl. Heinrich Bosse und Harald Neumeyer, »Da blüht der Winter schön.« Musensohn und Wanderlied um 1800, Freiburg: Rombach 1995, S. 178 –180. 19 Anmerkungsweise soll dennoch auf einen Punkt aufmerksam gemacht werden, der die da­malige Studiensituation von der heutigen extrem unterscheidet: Der Aufenthalt an der Universität (pro Jahr) war so kostspielig, dass er mitunter das Jahreseinkommen eines Akademikers verschlingen konnte (vgl. Heinrich Bosse, »Studien- und Lebenshaltungskosten Hallischer Studenten«, in: Notker Hammerstein [Hrsg.], Universität und Aufklärung, Göttingen: Wallstein 1995 [= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 3], S. 137–158). 20 Friedrich von Hagedorn an Nicolaus Dietrich Giseke, Hamburg, 25.7.1748, in: ders., Briefe, hrsg. von Horst Gronemeyer, Bd. 1, Berlin / New York: de Gruyter 1997, S. 241. Hagedorn bedauert, dass es ihm an solch einem bildenden Umgang gefehlt habe (Danke, Christoph Perels). 21 Jean Paul, »Leben des Quintus Fixlein«, in: ders., Werke, hrsg. von Norbert Miller, Bd. 4, Mün­ chen: Hanser 1962, S. 7–259, hier S. 72. Jean Paul nutzt die Gelegenheit, hier einige der – selt­same­ ren – Privilegien des Rebuffus mitzuteilen.

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Bürger der Akademie« ist zugleich »der würdige Liebling der Musen« wie auch »ein wür­di­ger Bürger in der gelehrten Republik«.22 Adelungs Grammatisch-kritisches Wör­ ter­buch weist 1798 unter dem Lemma ›Muse‹ ganz allgemein auf die Künste hin, auch pflege man dichterisch jeder Wissenschaft eine Muse beizulegen, und schließt un­ver­ mittelt: »Daher der Musensohn, ein Schüler oder Student; der Musensitz, eine Schu­le oder Universität.«23 Dagegen verzeichnet 1885 das Deutsche Wörterbuch der Brü­der Grimm unter 33 Komposita mit ›Musen-‹ nur zweimal die nicht-poetischen, aka­de­ mischen Varianten. Es scheint, als hätten wenn nicht die Jahrhunderte, so doch die Wörterbuch-Autoren das Dop­pelgesicht des Musensohns unterschiedlich wahrgenom­ men. Woher rührt wohl seine zweifache Zugehörigkeit, hier zum Bereich von Kunst und Dichtung, dort zum Bereich von Universität und Wissenschaft? Dazu ein kurzer Exkurs in die abendländische Bildungsgeschichte.

Exkurs Nach griechischer Auffassung sind die Musen nicht nur für Tanz, Theater, Gesang und Saitenspiel zuständig, sondern ebenso für die Erziehung; ihnen verdankt man die Zusammenfügung von Wörtern in der Dichtkunst und ebenso die Entdeckung der Buchstaben. »Als Göttinnen der memoria (der Erinnerung und der Erinnerungsmedien, des gesprochenen und des geschriebenen Wortes) sind sie die Bedingung für das Wissen und das Gedächtnis der Menschen und Götter, weil sie bewahren und singen, was war, was ist, was sein wird.«24 Verständlicherweise spielen sie im Mittelalter keinerlei Rolle als Schutzherrinnen der schulischen Bildung, umso mehr dagegen im Humanismus.25 Ciceros Bemerkung, der Umgang mit den Musen, also menschliche und wissen­ schaft­liche Bildung, sei die beste Nahrung für den Geist,26 erhält jetzt europäischen Wider­hall. In jener ersten großen Bildungsrevolution Europas wird der Unterschied 22 Johann Carl Christoph Ferber, Der würdige Bürger der Akademie. Eine Rede bey dem Beschlusse der öffentlichen Vorlesungen über die vernünftige Einrichtung des akademischen Lebens, Helmstedt / Magdeburg: Hechtel 1769, S. 17 f. 23 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch (Anm. 2), Bd. 3, Leipzig: Breitkopf 1798, Sp. 324. 24 Art. »Musen«, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. von Herbert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart / Weimar: Metzler 2000, Bd. 8, Sp.  511–514. Vgl. auch die Wortgeschichte von ›Museum‹ – von der alexandrinischen Kult- und Forschungsstätte über das Studierzimmer des Gelehrten bis zu seinen modernen Bedeutungen – im anschließenden Art. »Museion« (ebd., Sp. 507–510). 25 Verantwortlich für die Erneuerung der Musen in der Neuzeit ist Petrarca (vgl. Walther Ludwig, »Musenkult und Gottesdienst – Evangelischer Humanismus der Reformationszeit«, in: ders. [Hrsg.], Die Musen im Reformationszeitalter. Akten der Tagung der Stiftung Luthergedenkstätten in der Lutherstadt Wittenberg 14.–16. Oktober 1999, Leipzig: Evangelische Verlags-Anstalt 2001, S. 9 –51, hier S. 14). 26 Anhand des Mathematikers Archimedes rühmt Cicero in den Gesprächen in Tusculum die Beschäftigung und Erweiterung des Geistes, verglichen mit der angstvollen Existenz eines Tyrannen wie

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zwischen denen, die lateinisch ausgebildet sind, und denen, die es nicht sind, also die Differenz literati / illiterati, in einem re-entry auf die Lateinkundigen selber angewandt: innerhalb der (neu gegründeten) Universitäten und in der (durch den Buchdruck neu expandierenden) Öffentlichkeit tobt der Kampf der kultivierten lateinischen Autorschaft gegen die barbarische lateinische Autorschaft.27 Dass es tatsächlich um Autorschaft geht, zeigt die Reihen- und Rangfolge der neuen Bildungsmächte; regelmäßig stehen die Dichter, Redner, Geschichtsschreiber und Philosophen voran, um rezeptivproduktiv die alten Artistenfakultäten zu erneuern. In seiner Tübinger Deklamation »De artibus liberalibus« (1517) ordnet der junge Melanchthon jeder der sieben freien Künste je eine Muse zu. Dabei bleiben Kalliope als Muse der epischen Dichtung und Klio als Muse der Geschichte übrig, die nunmehr als Anführerinnen der übrigen fun­ gieren.28 Die bonae literae der Humanisten können die Vorzugsstellung nicht lange behaupten, im Lehr- und Wissenskosmos der res publica literaria sinken sie bald wieder zurück in eine dienende Stellung, doch selbst als Schöne Wissenschaften oder belles lettres bleiben sie ein integraler Bestandteil der lateinischen Gelehrsamkeit (literatura). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist die Kultivierung von Poesie und Prosa eine Sa­ che der lateinischen Ausbildung – erst Kant vernichtet im § 43 seiner Kritik der Ur­ teils­kraft (1790) den Begriff der Schönen Wissenschaften und zieht damit unwiderruflich den Trennstrich zwischen Kunst und Wissenschaft. Seitdem die Humanisten sich gegenseitig nachrühmen, die Musen über die Alpen gebracht zu haben, seitdem sie, die überwiegend Schul- und Universitätslehrer waren, einander als Lieblinge oder Zöglinge der Musen titulieren,29 seitdem sind die Musen also wieder zuständig für Künste und Wissenschaften. Schon im ersten – natürlich la­ teinischen – Studentendrama Deutschlands, in den Studentes des Christoph Stymmel (1549), werden sie als Schutzgöttinnen der rechten akademischen Lebensführung beschworen.30 Praktischerweise verlassen sie den Parnass und lassen sich in jeder beDionys: »Quis est omnium, qui modo cum Musis, id est cum humanitate et doctrina, habeat aliquod commercium, qui se non hunc mathematicum malit quam illum tyrannum?« (Tusc. 5, 66). 27 Die Antibarbari (1520) des Desiderius Erasmus sind eines der herausragenden Beispiele. 28 »De artibus liberalibus«, in: Melanchthons Werke in Auswahl, hrsg. von Robert Stupperich, Gütersloh: Mohn 1961, Bd. 3: Humanistische Schriften, hrsg. von Richard Nürnberger, S. 17–28. 29 Konrad Celtis’ Briefbüchlein von 1492 gibt dafür ein bemerkenswertes Beispiel. In der Rangfolge der akademischen Adressaten stehen zwar, wie gebührend, die Doktoren der Theologie voran, jedoch als Seher, Musenzöglinge, lorbeergekrönte, efeugeschmückte Apollojünger und -dolmetscher schieben sich die Poeten an erster Stelle mitten unter sie, vor die Juristen und Mediziner: »Ad theologos […]. Ad primum ab eis ordines, vates, musarum alumnos, lauro insignos, hedera decoratos, Apollini sacratos, Phoebi interpretes, rerum naturae scientes, historiae peritos, divinos poëtas, lyrae modulatores, sacro numine afflatos […] Romanae linguae principes […] dicemus« (Conrad Celtis, »Methodus Conficiendarum Epistolarum«, in: ders., De Conscribendis Epistolis Des. Erasmi Roterdami Opus, Basel: Brylingerus 1549, S. 513). 30 Und zwar in dem Chorus, der jeweils den zweiten, dritten und vierten Akt abschließt (vgl. Fritz Richard Landmann, Die »Studentes« des Christophorus Stymmelius und ihre Bühne. Als Anhang eine

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liebigen Universität nieder, die damit zum Musensitz oder -schloss (castra Musarum) wird.31 Vor allem: sie sind für alle Wissenschaften zuständig, die an einer Universität gelehrt werden. Noch 1801 heißt es in einem Studentenlied, das ausnahmsweise den Unterrichtsbetrieb erwähnt: Weg mit Corpus juris, weg Pandecten! Weg mit den theolog’schen Secten! Weg mit der Medicinerei! Vor solchen Musen hab’ ich Scheu.32 Obwohl der Musensohn eigentlich Orpheus ist  – als Sohn der Kalliope und eines thrakischen Flussgottes, wenn nicht gar Apollos selber –, entwickelt sich anscheinend erst im Späthumanismus jene Redefigur, welche Dichter ebenso wie Studenten zu Söhnen der Musen macht.33 In dem Lobgedicht eines Studienfreundes wird Andreas Tscherning (1611–1659) von Apollo als Nachfolger des Martin Opitz eingesetzt und den Musen anvertraut, dabei einigermaßen willkürlich apostrophiert als »du MusenSohn«, »O Sohn der Ewigkeit«, »Trewgeflißner Musen-Freyer« (1642). Tscherning selbst hatte seinerseits in einem Hochzeitsgedicht (1635) den als Dichter nirgends bekannten Pastor Christoph Neubart angeredet mit »O du trewer Musen-Sohn«.34 So tritt der Musensohn von Anfang an zwiefach auf, als Dichter und Studierter. Genau genommen, als Studierender. Eberhard Werner Happel legt dem Fresser und Säufer Cerebacchius in seinem Academischen Roman (1690) die Selbstbezeichnung »Musarum filius« in den Mund, er setzt die Musen auch bei seinem eigenen Bildungsgang ein.    Übersetzung des Stückes und 44 Bilder aus Johann Rassers Christlich Spil von Kinderzucht auf 15 Tafeln, Diss. Leipzig 1926). Das Stück erfuhr 21 Auflagen zwischen 1549 und 1614. 31 Sagittarius, Tractätlein (Anm. 9), S. 81. 32 »Auf, Brüder, laßt uns lustig leben!«, in: Georg Scherer (Hrsg.), Deutsche Studentenlieder. Mit Bil­ dern und Singweisen, Reprint Zürich: Olms 1978 [1856], S. 106. 33 Vgl. Johann Philipp Krebs, Antibarbarus der lateinischen Sprache, 7., genau durchgesehene und vielfach umgearbeitete Aufl., Bd. 2, Basel: Schwabe 1907, S. 116. Zur Sicherung eines korrekten latei­ nischen Stils in der Gegenwart heißt es unter »Musa«: »Man kann wohl sich mit gelehrten Dingen, mit Gelehrsamkeit beschäftigen, studieren durch cum Musis habere commercium ausdrücken (nach Cicero, Tusc. 5, 66), aber ein Studierender kann nicht wohl Musarum filius genannt werden, für littera­rum studiosus, da ein solcher Tropus den Alten fremd ist; man müßte denn sagen: qui a Germanis Mu­ sarum filius dicitur.« 34 Andreas Tscherning, Deutscher Getichte Früling, Breslau: Baumann 1642, das Enkomion Gabriel Luthers: unpag., das Hochzeitsgedicht auf S. 29 f. Einen weiteren Beleg in der Bedeutung ›Poet‹ gibt Johann Klaj in der Widmung seiner Lobrede der teutschen Poeterey, Nürnberg: Endter 1645 (Johann Klaj, Redeoratorien und »Lobrede der Teutschen Poeterey«, hrsg. von Conrad Wiedemann, Tübingen: Niemeyer 1965, S. 379). Das Erstvorkommen in der Bedeutung ›Student‹ datiert Friedrich Kluge, ohne weitere Belege, auf Mitte des 17. Jahrhunderts (vgl. Friedrich Kluge, Deutsche Studentensprache, Straßburg: Trübner 1895, S. 8).

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Nach verschiedenen Aufenthalten bei brutalen lateinischen Schulmeistern »deuchte es den Vatter Zeit seyn, ihn wider unter die Musen-Kinder zu senden«, das heißt nach Marburg in die Vorschule der Universität; von einem Werbe-Offizier angesprochen, schützt er sich später als Student damit, »daß ihn seine Eltern den Musen gewidmet.«35 Ein freischaffender Autor wie Johann Christian Günther, der seine ganze dichterische Existenz widrigen Umständen abtrotzen musste, berief sich ebenfalls auf die Musen: Die Musen sind mir hold und nennen mich ihr Kind,  Dem Kunst und Wißenschaft an statt der Güter sind.36 Kunst und Wissenschaft gehören zusammen wie Musensohn und Musensohn. Die Da­ten­bank Deutsche Literatur des 18.  Jahrhunderts Online bietet 92 Einträge zu »Musen­sohn / Musensöhne«, darunter Verweise auf den griechischen Musiklehrer Li­nos, auf erwachsene Akademiker (2) und Schüler (2), sodann 44 Vorkommen im Sinne von ›Student‹ und 34 im Sinne von ›Poet‹; 9 Vorkommen sind schlechterdings un­ent­scheidbar.37 Auch wuchern die Begriffe ›Musensohn‹ und ›Philister‹ fröhlich durch die Stu­den­ ten­sprache weiter. ›Muse‹ kann seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einfach ›Student‹ bedeuten, zugleich aber auch das Pferd, das er sich für Ausritte mietet.38 Umgekehrt 35 Eberhard Werner Happel, Der Academische Roman, worinnen das Studenten-Leben fürgebildet wird, Ulm: Wagner 1690, S. 179; Lebensbeschreibung des Eberhard Werner Happel (1647–1690). Aus dem Roman »Der Teutsche Carl«. Kommentiert von Gustav Könnecke (1908), hrsg. mit einem Nachwort von Gerd Meyer, ergänzter Nachdr. Kirchhain / Marburg: Kreissparkasse 1990, S. 33 u. 71. Die Autobiographie ist unter einem Pseudonym versteckter Bestandteil des Romans Der Teutsche Carl / oder so genannter Europäischer Geschicht-Roman auf das 1698. Jahr, Ulm: Wagner 1690. 36 Johann Christian Günther, »Unterthänigste Lobschrift auf Ihro Königlichen Majestät in Polen und Churfürstl. Durchl. von Sachsen, Herrn Friedrichs Augusti, unvergleichliche Thaten« [1719], in: Johann Christian Günthers Sämtliche Werke, hrsg. von Wilhelm Krämer, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Reprint der Ausgabe von 1935), S. 183 –193, hier S. 193. Zum Begriff des ›ächten Musensohns‹, mit dem Günther seine Gelegenheitsdichtung zu legitimieren bestrebt war, vgl. Anke-Marie Lohmeier, »Über Johann Christian Günthers Poesiebegriff und Selbstverständnis«, in: Jens Stüben (Hrsg.), Johann Christian Günther (1695 –1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters, München: Oldenbourg 1997, S. 89 – 99. 37 Deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts Online / 18th Century German Literature Online. Erstausgaben und Werkausgaben von der Frühaufklärung bis zur Spätaufklärung / First Editions and Complete Editions from the Early to Late Enlightenment, hrsg. von Paul Raabe, bearb. von Axel Frey, Berlin / New York: de Gruyter 2007 (Online-Datenbank). Ich habe nur einen Beleg pro Text gezählt, wenn die Belege gleichsinnig waren. Wie eigentlich zu erwarten, findet sich der dichtende Musensohn vorwiegend in der Lyrik, der studierende Musensohn vorwiegend in der Prosa des Corpus von 2700 Werken. Für die Einführung in die elektronische Recherche möchte ich der Muse dieses Textes, Ursula Renner-Henke, herzlich danken. 38 John Meier, Hallische Studentensprache. Eine Festgabe zum zweihundertjährigen Jubiläum der Universität Halle, Halle an der Saale: Niemeyer 1894, S. 21.

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kann aber der Mietgaul, den der ›Pferdephilister‹ stellt, gleichfalls ›Philister‹ heißen.39 Besonders einfallsreich zeigt sich der schlesische Dichter Daniel Stoppe (1697–1747), der nicht nur den Geld-Philister und den Bier-Philister auftreten lässt, sondern auch den Takt-Philister40 und den Reim-Philister, das heißt den »Brot-Poeten« oder Gelegen­heits­dichter: In meinem Rocke steckt kein Reim-Philister nicht,  Mein Nahme wird sich nie in deren Rolle schreiben,  Die ihren Hengst vor alle Thüren treiben.41 Aber natürlich gab es Bestrebungen, den Musensohn aus seiner burschikosen Aus­ nahme­situation zurückzuholen in die Welt des guten Benehmens: Der höfliche Musensohne. Wie er sich in und nach der Schule, zu Hause, über Tische, in der Kirche, bei dem Besuch und in der Gesellschaft, wie auch in den Rekreations-Stunden, bei dem Spazierengehen, Reiten oder Fahren, in Ansehung des Wohlstandes und der Höflichkeit, nach seinen Umständen zu beobachten habe; der studirenden Jugend zu Gefallen, und zum besseren Behalt der mündlichen Anweisung zur Höflichkeit in XV. Capitel abgefaßt und in den Druck beförderet (Frankfurt und Leipzig 1766). Im Hinblick auf eine Annäherung der Stände wirkungsvoller als die Anweisung zum guten Benehmen war jedenfalls eine andere Anweisung, die Ende des 18. Jahrhunderts verbreitet wurde. Sie galt der neuen Aufgabe, sich selbst auszubilden, oder auch, sein Selbst auszubilden, und zwar lebenslänglich. Damit geht die ständische Unterscheidung zwischen Musensohn und Philister zu Ende. Der Bildungsgedanke lockert den Bezug auf die Ausbildungsinstitution, indem er potenziell alle Menschen anspricht und sie zur Selbstausbildung ermuntert.42 »Wer 39 Kluge, Wortforschung und Wortgeschichte (Anm. 1), S. 33; ders., Deutsche Studentensprache (Anm. 34), S. 14. 40 Daniel Stoppe, Erste Sammlung von Teutschen Gedichten, Frankfurt am Main / Leipzig: Weinmann 1728, S. 6: Auf ihr muntren Tackt-Philister […]  Setzt die Flöten an die Fresse,  Nehmt die Geigen in die Hand. 41 Stoppe, Erste Sammlung (Anm. 40), S. 195. Die Bezeichnung gelangte, vermutlich über Reimlexika, bis in die Abhandlung über den Reim, die Karl Kraus 1927 in der Fackel veröffentlichte. Er schreibt in seinem Plädoyer für den unreinen Reim: »Der Reimphilister (unerbittlicher als der ReimBürger, der in glücklichen Stunden seiner eigenen Strenge vergaß) stellt Forderungen, die in der Welt der Dichtung nicht einmal gehört werden können, obgleich sie nichts Akustisches enthalten« (Karl Kraus, »Die Sprache«, in: Werke von Karl Kraus, Bd. 2, hrsg. von Heinrich Fischer, 4. Aufl., München: Kösel 1962, S. 415). 42 Reinhart Koselleck, »Einleitung«, in: ders. (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta 1990 (Industrielle Welt 41), S. 11– 46, hier S. 20, betont, dass alle Bildung Selbstbildung eines Individuums ist: »Der Bildungsbegriff ist primär

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kann es freylich den Männern verargen, die in der Bildung oft weiter kamen, als so viele andere Musensöhne, wenn sie auf Achtung Anspruch machen«, heißt es in einer Schilderung Erlangens kurz vor der Jahrhundertwende. Bildung geht fraglos von der Universität aus, aber eben auch über die Universität hinaus, und bewirkt dabei eine Aufspaltung derer, die das Bürgerrecht haben, in unterschiedliche soziale Schichten: »Die Bürger sind hier, nicht wie auf andern Universitäten Deutschlands, Sklaven der Studenten, sondern vielmehr großen theils über den Stand hinaus gebildet. […] Die Universität und die [französische] Kolonie hat den guten Einfluß gehabt, den höheren Mittelstand auszubilden; der ungebildete Theil hat aber gerade die schlimmste Seite der Studenten aufgefaßt.«43 Im gegenseitigen Respekt bildet sich allmählich die neue, ständeübergreifende Schicht der Gebildeten,44 während der mit der Hand arbeitende Bürger dem traditionellen Hochmut der Studenten wenig entgegenzusetzen hat: »Wer vor ihm kriecht, den behandelt er mit Verachtung, der wird sein Philister, und er ihr Simson, wenn er kann.«45 Verachtung, so selbstverständlich wie nur etwas.

Student und Philister Gegen Ende des 18. Jahrhunderts strukturiert sich die alteuropäische Stände­ord­nung um zur fortschrittsbesessenen modernen Leistungsgesellschaft. Der Standes­unter­ schied zwischen Gelehrten und Bürgern wird unverständlich oder peinlich, wie an­de­re Standesunterschiede auch. Wo frühere Studenten-Kritiker oder -Ratgeber die aka­de­ mi­schen Bürger zur Höflichkeit und Demut ermahnt hatten, kommen nun neue Gesichtspunkte auf. Sie relativieren die souveräne Ausnahmesituation des Studiums – im Hinblick auf das Danach, den Übergang ins Berufsleben, letztlich im Hinblick auf ei­ nen ganzen Lebensentwurf:

auf den je einzelnen Menschen bezogen. Er selbst muß sich bilden, wie immer die Umstände auf ihn einwirken, ohne deren Verarbeitung er sich nicht bilden kann.« 43 Heinrich Bardeleben, Darstellungen aus der Welt der Erlanger Musensöhne zur Rückerinnerung und Beherzigung, Frankfurt am Main / Leipzig: o. V. 1798, S. 170 u. 172. In Erlangen, das seit 1743 auf höheren Befehl eine Universität beherbergen musste, waren die Animositäten besonders heftig, zumal nachdem die Handwerker Anti-Verbindungen zu den studentischen Verbindungen gegründet hatten. 44 Vgl. Hans Erich Bödeker, »Die ›gebildeten Stände‹ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert: Zugehörigkeit und Abgrenzungen. Mentalitäten und Handlungspotentiale«, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19.  Jahrhundert, Teil  4: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart: Klett-Cotta 1989 (Industrielle Welt 82), S. 21–52; vgl. auch Bosse, »Gelehrte und Gebildete« (Anm. 10), S. 31–37. 45 Bardeleben, Darstellungen aus der Welt der Erlanger Musensöhne (Anm. 43), S. 170.

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Heinrich Bosse Ich komme jetzt, meine Freunde, auf einen wichtigen Punkt, wenn ich von Eurem Verhältnisse und Betragen gegen die übrigen Einwohner der Stadt spre­che, in der Eure Universität angelegt ist; ich rechne sowohl den Kaufmann, als Handwerker und Soldaten, kurz jeden andern hierher, der kein Mit­glied der Akademie seyn will, und den der sogenannte fidele Musensohn in seiner Kunstsprache Philister nennt, welches Wort ich aber nie aus Eu­rem Munde zu hören wünsche, weil man den Gedanken einer Geringschätzung mit diesem Ausdrucke gewöhnlich verbindet, der durchaus nie, am we­nig­ sten von Seiten eines Studenten, statt finden sollte; denn ich kann mir nichts lächerlicheres denken, als wenn ein Mensch von 18 bis 20 Jahren, der nicht das geringste Verdienst weiter hat, als daß er alle Tage mit dem Buche unterm Arm in die Schule geht, und lernt, in seinem Köpfchen die eitle Idee Wur­ zel fassen läßt, daß er mehr sey als der brave Musquetier, der für achtzehn Pfen­nige täglichen Soldes sein Leben an sein Vaterland verkauft, daß er mehr sey, als der ehrliche Handwerksmann, der durch seinen speculativischen Fleiß den Reichthum des Handels, die Blüthe des Staates befördert! […] Daß dies ernsthaftere und für den Studenten recht traurige Folgen haben müs-  se, ist leicht zu ersehen, wenn man sich in die Lage eines jungen Mannes recht lebhaft denkt, der seine Studien vollendet und die Akademie verlassen hat. Er trägt aus jenem goldnen Zauber des Eigendünkels alle das hohe Selbst­gefühl in seine neue Situation über, der sein Köpfchen sonst um­gau­kel­te, hier aber ohne alle Wirkung bleibt. Er kömmt mit reellen Männern in Ver­bindung, die   nicht auf Großthun, sondern auf wahre innere Verdienste sehen, jeder Mensch   weiß, daß er Candidat, das heißt im heutigen Sinne des Wortes, daß er nichts ist, und behandelt ihn also auch wie eine Nulle! Ach, wie muß das den aka­de­ mi­schen Stolz niederbeugen, wie muß das den Jüngling krän­ken, der von der Inscription an bis zum Candidaten-Examen den so­genannten Phi­lis­ter über die Achsel ansah und lächerlich machte, und nun sich auf einmal von jener Staffel herabgestürzt fühlt! […] Besser ist es, meine Freunde, wir ge­wöh­nen uns bey Zeiten, nicht auf Vorzüge stolz zu seyn, die wir nicht besitzen.46

So Heinrich Clauren in seinem Studienratgeber 1792. Gegenüber den schlecht be­zahl­ ten Soldaten oder den Werktätigen, die produktiv (durch »speculativischen Fleiß«) das Sozialprodukt steigern, leistet der Student noch gar nichts, weil er bloß in der Aus­ 46 Carl Heun [= Heinrich Clauren], Vertraute Briefe an alle edelgesinnte Jünglinge die auf Univer­ sitäten gehen wollen, Teil 1, Leipzig: Heinsius 1792, S. 49 –52. Nicht ganz so dramatisch, aber doch Vergleichbares berichtet Arndt über seinen »ersten Schritt in’s Philisterleben« 1794  /  1795 in Briefen an Benjamin von Bergmann (vgl. Ernst Moritz Arndt, Briefe, hrsg. von Albrecht Dühr, Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972 [Texte zur Forschung 8], S. 8 –10).

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bil­dung ist und, wie es herabsetzend heißt, »in die Schule geht«. Das akademische Standes­bewusstsein hat keine Basis im »Verdienst«, das heißt in der Leistung für die Gesell­schaft. In der Zeit nach dem Studium wird sich das schmerzhaft zeigen. Addiert man den Jubel der akademischen Freiheit und den Jammer der akademischen Stellensuche, so muss man zur Bescheidenheit raten. In diesem Zusammenhang, der letztlich der Zusammenhang eines Lebenslaufs ist, beginnen sich auch die Diskursverhältnisse zwischen Student und Philister zu verändern – bereits seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. Was bislang ein Gegensatz zwischen zwei Ständen war, wird zur Zäsur im Lebenslauf ein und desselben Menschen. Um genau zu sein: die Begriffe der Studentensprache, die bisher einen sozialen Gegensatz bezeichneten, bezeichnen jetzt zusätzlich zwei Phasen im Lebenslauf eines Studierten. Christian Wilhelm Kindleben verbucht den Wandel 1781 in seinem Studenten-Lexicon: »Philister, heißt in der Sprache der Stu­ denten, alles, was nicht Student ist; insonderheit werden Bürger, welche Studenten im Hause wohnen haben, so genannt. Pferdephilister, Pferdeverleiher. Sobald der Bursche die Universität verläßt und Kandidat wird, sobald wird er auch Philister.«47 Ist die (konträre) Opposition ›Studenten vs. Philister‹ erst einmal radikalisiert zur kontradik­ torischen Formel ›Student vs. Nicht-Student‹, so beginnen die Gegensätze zu gleiten. Allerdings ist der Zeitpunkt ›Ende des Studiums‹ zu schematisch gewählt. Der Kandidat ist ja ein Theologiestudent, der bei seiner Rückkehr nach Hause  – oder, wenn er etwa die Zeit der Arbeitssuche als Hauslehrer überbrückt, auch zu einem viel spä­te­ren Zeitpunkt – in der kirchlichen Behörde vorspricht, um sich examinieren und in die Schar der Amtsanwärter aufnehmen zu lassen. Johann Peter Miller erzählt in seinem Briefwechsel dreyer Akademischer Freunde (1776) ausführlich von den Schwierigkeiten einer solchen Übergangszeit zwischen dem Ende des Studiums und einer Anstellung, die endlich Einkommen gewährt und Familiengründung gestattet. Einer der Briefpartner vertritt dabei die hedonistische Variante: »Was thuts auch, wenn man in der Jugend lustig ist, und mit guten Freunden oder Mädchen seine Zeit auf eine angenehme Art zubringt? Ist doch alles vorbey, wenn man von der Universität zurückkommt, und zu Hause den ehrbaren Philister spielen muß!«48 Wenn die akademische

47 Kindleben, Studenten-Lexicon (Anm. 5), S. 143. Ebenso schematisch Christian Friedrich Bern­ hard Augustins »Idiotikon der Burschensprache« von 1795: »Philister ist alles Männliche, was nicht Student ist […]. Im weiteren Sinne ist es auch jeder Student, sobald er sein Testimonium [Abgangszeugnis] erhalten hat, im engeren Sinne aber blos der hallische Bürger, und im engsten Sinne blos der Pferdeverleiher« (Konrad Burdach [Hrsg.], Studentensprache und Studentenlied in Halle vor 100 Jahren, Halle an der Saale: Niemeyer 1894, S. 87; Reprint in: Helmut Henne und Georg Obartel [Hrsg.], Wörterbücher des 18. Jahrhunderts zur deutschen Studentensprache, Berlin: de Gruyter 1984 [= Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, Bd. 2]). 48 Johann Peter Miller, Briefwechsel dreyer akademischer Freunde, Ulm: Wohler 1776, S. 136 f. Miller ist mit Sicherheit vom Werther beeinflusst; das zeigt sein Plädoyer für die Poesie des Herzens (S. 66

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Freiheit vorbei ist, beginnt die Herrschaft der Konvention – oder der Langeweile. »S’is Unglück genug für mich, daß ich nun Philister bin, und muß meine Zeit hier auf dem Lande zubringen«, klagt der Sohn eines Amtmanns in dem Trauerspiel Der deutsche Student (1779).49 Die Perspektive der künftigen Ehrbarkeit hat übrigens auch Kind­ leben vor Augen, wenn er in seinem »Allen angehenden Musensöhnen« gewidmeten Lexicon die Zeit danach skizziert: »Verlassen Sie einst die Universität und genießen, nachdem sie sich hier zur nützlichen Verwaltung eines Ehrenamts gehörig vorbereitet haben, an der Seite eines guten Weibchens die Freuden des Erdenlebens«, so kann sein Buch der Erinnerung dienen, »weil die Studentensprache, sobald die akademischen Jahre, die so flüchtig dahinrollen, geendigt sind, ohnehin aufhört, und das Andenken daran gleichwohl selbst für manchen ernsthaften, im Amte stehenden Mann manch unschuldiges Vergnügen bey sich führt.«50 Das Thema der vorweggenommenen Nostalgie ist neu in der Studentenliteratur; die Andenken werden gewissermaßen sozial aufbereitet, damit die Ausnahmesituation des Studiums nun eingepasst werden kann in das Muster von Lebensläufen und Karrieren,51 als Ausbildungsphase. Das Studium als Lebensabschnitt – damit verschiebt sich radikal das Problem der Zugehörigkeit. Die Frage, ob man akademischer Bürger ist oder nicht, die Frage der korporativen Zugesellung, wird zu einer Frage nach gemeinsamen Prägungen und Erin­nerungen, also zu dem, was man heute Sozialisation nennt. Diese akademische So­zia­li­sation bleibt nun dadurch sozial relevant, dass sie lebensbestimmend wird. So singen die, die alle Philister zum Teufel gewünscht haben, ganz zuversichtlich von dem, was auf sie zukommen wird, die gemeinsame Zukunft als Philister: Als man noch im Flaus mit Mappen Ueber’n Markt zur Waage lief, Fröhlich dann auf Kreßmanns Rappen Pereant Philistri! rief, Da war freilich frisch’res Leben  Uns zum Vollgenuß gegeben  Und noch mancher Kummer schlief. […]

u. 282) oder die Geliebte am patriarchalischen Spinnrad, die »in die Zeiten Homers und der ersten Welt« zurückführt (S. 167). 49 Anonymus, Der deutsche Student. Ein Trauerspiel, Lüneburg: Lemke 1779, S. 34. Das Stück gibt eine moralisierende Darstellung des Studentenlebens nach dem Muster des verlorenen Sohns. 50 Kindleben, Studenten-Lexicon (Anm. 5), S. 3 u. 11; Kindlebens ›ernsthafter, im Amte stehender Mann‹ dürfte ein Reflex der Philister-Passage im Werther sein. 51 Vgl. die Beiträge in Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Lebensläufe um 1800, Tübingen: Niemeyer 1998, besonders Georg Stanitzek, »Genie: Karriere / Lebenslauf. Zur Zeitsemantik des 18.  Jahrhunderts und zu J. M. R. Lenz« (S. 241–255).

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Sind wir auch schon längst Philister,  Ohne Hieber und Commerz, Blieb vom falschen Wahngeflister  Dennoch frei das alte Herz;  Alle reichen sich die Hände,  Und des Standes Scheidewände  Sinken, Brüder, niederwärts.52 Was bleiben soll, ist eine akademische Freiheit, die im Herzen verwurzelt ist, und eine Bruderschaft, die diese Freiheit auf Lebenszeit stützt und von ihr gestützt wird, eine Bruderschaft ohne Standesunterschiede – freilich nur zwischen den Studierten, und auch nur, insofern sie gemeinsame Erfahrungen teilen. Die korporative Zugehörigkeit zum Stand der jetzigen und ehemaligen Universitätsangehörigen wird damit persönlicher, sie wird privat – die selbstgewählte Zugehörigkeit zu einer Korporation. Die Lebenszeitperspektive zeigt sich um 1800 in den Bestimmungen einiger aka­ de­mischer Verbindungen. Die älteren Landsmannschaften, Orden und geheimen Verbindungen wurden im 18. Jahrhundert als Zusammenschluss während des Studiums ge­dacht und gelebt. Allmählich aber artikulieren sich Konzeptionen, wonach der Zusammenschluss auf Lebenszeit, wenn nicht gar ewig gelten soll. In den Bestimmungen des angeblich 1777 in Marburg gegründeten Ordens der Beständigkeit (Constantia) heißt es: »Da unsere Verbindung ewig dauern soll, so mus jeder Bruder die vor und nach ihm angenommenen Mitglieder als seine Brüder ansehen und leben.«53 Oder in den Statuten Jenaer Amicisten (Amicitia) von 1790: »Da der Endzweck unserer Verbindung lebenslängliche Freundschaft ist: so ist jedes Mitglied gehalten, lebenslänglich seine Pflichten als Ordensbruder zu erfüllen, und unter keine andere Verbindung zu gehen.«54 Noch tragen die Verbindungen die alten Tugendbegriffe als Namen, im 19. Jahrhundert werden sie das Erbe der Landsmannschaften antreten und regional benannte Korporationen werden. Die Korporationen des 19. Jahrhunderts verstanden sich zunächst nur ausnahmsweise als Lebensverbindungen, so etwa in Bayern oder an der Universität Dorpat /  Tartu in den russischen Ostseeprovinzen. Überwiegend trug man dem häufigen Uni­ ver­sitätswechsel Rechnung, indem ein Student im Lauf des Studiums mehreren Corps angehören konnte; die Unterscheidung von »Lebenscorps« und »Waffencorps« blieb

52 Meier, Hallische Studentensprache (Anm. 38), Anhang: »Aus den Tafelliedern der Hallisch-aka­de­ mischen Zeitgenossen aus den Jahren von 1785 bis einschließlich 1790« (zuerst Berlin: Decker 1820), S. 63 f. 53 Georg Heer, Marburger Studentenleben 1527 bis 1927, Marburg: Elwert 1927, S. 194. 54 Wilhelm Fabricius, Die Studentenorden des 18. Jahrhunderts und ihr Verhältniß zu den gleichzei­ tigen Landsmannschaften. Ein kulturgeschichtlicher Versuch, Jena: Döbereiner 1891, S. 45.

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ein Dauerthema der Verbindungen.55 Zugleich blieb die Frage, welchen Status in der Verbindung ein Ex-Student erhalten sollte. Der Wingolfsbund, 1841 als Vereini­ gung evangelischer nicht-schlagender Verbindungen gegründet, ernannte die ausschei­ denden studentischen Mitglieder zunächst zu Ehrenmitgliedern,56 bevor sich spä­ter ne­ben dem Begriff der ›Alten Herren‹ der des ›Philisters‹ durchsetzte. Die Bezeichnung ›Philister‹ hat dabei alle abschätzigen Konnotationen verloren und ist zu einem sehr achtbaren terminus technicus für einen sehr achtbaren Status geworden. So in den Bestimmungen des 1856 gegründeten Cartell-Verbands der katholischen farbentragenden Verbindungen (CV): Bei den eigentlichen »Alten Herren« unterscheidet der CV »Urphilister« und »Bandphilister«. Urphilister wird man bei derjenigen Verbindung, bei der man geburscht wurde, auf Grund der Philistrierung, entweder auf Beschluß des Konvents der aktiven Verbindung allein oder außerdem mit ausdrückli­cher Zustimmung des Altherrenverbandes. Bandphilister sind jene Alten Herren, die durch Philistrierung von einer anderen als ihrer Urverbindung das Recht erhalten haben, auch deren Band zu tragen, sei es auf Grund ihrer Aktivität oder Inaktivität bei jener Verbindung, sei es auf Grund einer Bandverleihung ehrenhalber (h. c.). Urphilister kann man naturgemäß nur bei einer Verbindung sein, Bandphilister bei mehreren.57 Die einflussreichen Philisterverbände des 19. und 20. Jahrhunderts sichern allein durch ihr Vorhandensein diesen, speziell akademischen, positiven Philisterbegriff. Die traditionelle Abschätzigkeit bleibt erhalten in der Bezeichnung für den Hauswirt oder Vermieter. Reinhold Wrege publizierte 1884 eine Bildergeschichte im Stil von Wilhelm Busch unter dem Titel Vier Bücher vom Studiosus Faß. Die Wohnungsvermieter des Studenten heißen Philister, der Ex-Student selbst heißt Philister, und er wird auch noch mit einem Philister verglichen (»Papa haut ein, wie ein Philister, Faß junior quält die Geschwister«), sodass die Abschattungen aus dem 19.  Jahrhundert, dem 18. Jahrhundert und aus der Bibel in einem Text zu finden sind. Das vierte Buch, Das alte Haus. Ein Philister-Idyll in sieben Szenen und 108 Federzeichnungen, kehrt zum Schluss an den Anfang zurück, als der Landarzt und Familienvater sich mit anderen Akademikern zum Kegeln trifft und nun ein junger Student dazustößt, der sich als An55 Adolf Pernwerth von Bärnstein, Beiträge zur Geschichte & Literatur des deutschen Studententhumes von Gründung der ältesten deutschen Universitäten bis auf die unmittelbare Gegenwart, mit besonderer Berücksichtigung des XIX. Jahrhundert, Würzburg: Stuber 1882, S. 43. 56 Otto Imgart, »Wingolfsbund (W. B.) in Vergangenheit und Gegenwart«, in: Michael Doeberl (Hrsg.), Das akademische Deutschland, Bd. 2: Die deutschen Hochschulen und ihre akademischen Bür­ger, Berlin: Weller 1931, S. 461– 466, hier S. 462. 57 Hermann Hagen, »Cartell-Verband der katholischen deutschen farbentragenden Studentenverbindungen«, in: Das akademische Deutschland (Anm. 56), S. 481– 494, hier S. 492.

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gehöriger desselben Corps erweist. Was die Alten Herren zusammen feiern, ist eigentlich ihre eigene Verjüngung: Und alsbald kommt bei Alt und Jung  Der forsche Burschengeist in Schwung. […] Sie schmücken jubelnd Haupt und Brust: Hurrah die alte Burschenlust! Die alten Häuser werden jung  In seliger Erinnerung; Das gleiche Band die Brust umschlingt,  Der gleiche Ton im Herzen klingt.58 Gewiss, die bierselige Verjüngungsfete geht sehr rasch vorbei und ist für Außenstehen­de vielleicht degoutant, aber sie führt zum Kern des Problems. Student und Phi­lis­ter verhalten sich auf der Achse der Karriere zueinander wie Ausbildung zum Er­ werbs­le­ben, also komplementär, auf der Lebenskurve jedoch besetzen sie konträre Abschnitte. Nicht länger in der Verschiedenheit der Stände fixiert, sieht sich der Philister, lebens­lauf­bedingt, in einer ganz neuen Opposition: im biologischen Gegensatz von Jung und Alt. Der Gegensatz von Jung und Alt, die Generationsdifferenz, wird zum Grundthema des bürgerlichen und des nachbürgerlichen Zeitalters, weil dieser Gegensatz auf natürliche Weise Leistungsunterschiede begründet. Die Goethezeit hat ihn als Unterschied zwischen Poesie und Prosa zugleich artikuliert und kaschiert. Jugend ist seitdem viel mehr als Jugend: Irgendeine Zeit lang hat jeder Mensch Poesie. Eigentlich ist ein Affekt schon eine kurze; und besonders ist die Liebe, wenigstens die erste, gleich der Ma­ le­rei eine stumme Dichtkunst. So fängt denn das Leben, wie eine Schule und Kirche, mit Singen an; und später kommen die Schulübungen und Bußpredigten. Der Musensohn betritt später seine Amtsstelle und sein Ehebett; dann singt er wie ein Nachtigallenmännchen, das sich nach der Begattung aus seinem Busche weniger als Flöte denn als Kröte hören läßt. […] Die sel­ ber­schaffende Poesie verwelkt im Manne […].59 58 Reinhold Wrege, Vier Bücher vom Studenten Faß in 487 Federzeichnungen, Essen: Erdmann 1884, Buch IV, S. 5 u. 67 f. 59 Jean Paul, »Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule« [1825], in: ders., Werke (Anm. 21), Bd. 5, S. 457–514, hier S. 462 f. In seinem Aperçu über das Romanhafte hat Hegel diesen Vorgang der bürgerlichen – und vor allem der unbürgerlichen – Literaturwissenschaft vermacht (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin / Weimar: Aufbau 1965, Bd. 1, S. 567 f.).

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Die auf- und wieder absteigende Lebenskurve ist besetzt von einer kreativen Energie, die sich in jedem Affekt findet, zumal im erotischen; je näher dem Ursprung, desto stär­ker, je näher dem Lebensende, desto schwächer. Dieselbe Energie führt zu krea­ti­ ven Pro­duktionen, zum Singen und zu eigenen poetischen Werken, sodass Anthropologie (Leidenschaft), Biologie (Jugend) und Ästhetik (Dichtkunst) in ein und demselben perspektivischen Punkt zusammenlaufen. In diesem Punkt ist jeder Mensch ein Musensohn. Das heißt, im bürgerlichen Zeitalter lässt der Begriff ›Musensohn‹ die Stu­den­ten­sprache hinter sich; ›Musensohn‹ und ›Philister‹ sind ohne anthropologische, ohne pädagogische (oder anti-pädagogische), ohne kunsttheoretische Kontexte nicht mehr zu haben. Dazu ein kurzer Exkurs über die Jugend.

Exkurs Die neue Perspektive auf die Jugend hat erstmals der materialistische Flügel der fran­ zö­sischen Aufklärung formuliert, ein Umstand, den Goethe allerdings sehr nach­haltig mit dem Verdikt »Quintessenz der Greisenheit« zu verdecken wusste.60 Die mo­ra­li­ sche Welt, lehrt Claude-Adrien Helvétius in seinem Buch De l’Esprit (1758) – mit ei­ nem Vorwort Gottscheds 1760 ins Deutsche übersetzt –, gehorcht wie die Welt der Kör­per den Gesetzen von Trägheit und Bewegung, das heißt einer kalkulierbaren Ki­ ne­tik, deren Agens die Leidenschaften darstellen. Die Leidenschaften sind es, welche die Aufmerksamkeit und damit die Aktivität des Geistes steuern, sie funktionieren als produktive, innovative, kreative Energie: »So verdanken wir den starken Leiden­ schaf­ten die Erfindung und die Wunder der Künste; solche Leidenschaften müssen als der produktive Keim des Geistes und als mächtige Triebfeder angesehen werden, die den Menschen zu großen Taten bewegt.«61 Das ist der Schlüssel zur Kreativität, zu innovativen Leistungen und zu heroischen Taten, der produktive Keim des Geistes (le germe productif de l’esprit), und ihm schreibt Helvétius feurige Elogen: die leidenschaftlichen Menschen sind den vernünftigen Leuten geistig überlegen; man wird stu­ 60 Johann Wolfgang Goethe, »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 9, Hamburg: Wegner 1967, 11. Buch, S. 490. Goethe referiert dort relativ ausführlich d’Holbach, um Helvétius zu verschweigen. Die Abmahnung war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts effektiv, Helvétius fehlt sogar noch bei Matthias Luserke, Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Auf­klärung, Stuttgart /­ Weimar: Metzler 1995; zur Bedeutung des französischen Materialismus für den deutschen Sturm und Drang vgl. dagegen jetzt Heinrich Bosse und Johannes F. Lehmann, »Sublimierung bei J. M. R. Lenz«, in: Christian Begemann und David E. Wellbery (Hrsg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theo­ rien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg: Rombach 2002 (Litterae 82), S. 177–201. 61 Claude-Adrien Helvétius, Vom Geist, übers. von Theodor Lücke, Berlin / Weimar: Aufbau 1973, S. 285.

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pi­de, wenn man nicht mehr leidenschaftlich ist, und so weiter.62 Doch sind freilich die­se kostbaren starken Leidenschaften nicht gleichmäßig verteilt. Einmal statistisch: »Der eine ist ein durchschnittlicher und vernünftiger (un homme commun et sensé), der an­de­re ein außergewöhnlicher Mensch (un homme extraordinaire). Nun gibt es aber mehr Menschen von der ersten Art als von der zweiten.«63 Von daher schreibt sich die Ver­ach­tung des Durchschnitts, der nur mit seinem durchschnittlichen Ver­stand aus­ge­stattet ist – und die behutsame oder provozierende Feier der leiden­schaft­lichen Ex­treme in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vor allem aber sind die star­ken Lei­den­schaf­ten biologisch ungleich verteilt, »da Greise nicht mehr zu jenen küh­nen Unter­nehmen und erstaunlichen Leistungen des Geistes fähig sind, die für die Lei­den­ schaft charakteristisch sind. Der Greis kann aus Gewohnheit den Weg wei­ter­gehen, den er sich in der Jugend gebahnt hat, doch er könnte keinen neuen einschlagen.«64 Der junge Mensch hat die Chance, Außerordentliches zu leisten und außerordentlich zu sein – der Älterwerdende hat das Schicksal, in steriler Mittelmäßigkeit zu erstar­ ren. Nur der junge Mensch ist wahrhaft produktiv, auf welchem Feld auch immer; das heißt, nur der junge Mensch kann ein Genie sein.65 In dem für die moderne Leistungs­gesell­schaft entscheidenden Punkt, in Hinsicht auf die Fortschrittsfähigkeit, sind daher Jugend und Alter radikal verschieden zu bewerten. Vor allem dann, wenn die materialistische Kinetik tatsächlich biologisch, als Lebenskraft, gedacht und erforscht wird.66 Dass Jugend Trumpf ist, gilt besonders für die akademische Jugend. Johann Gottlieb Fichte hat es ihr in seiner Jenaer Vorlesung »Über die Bestimmung des Gelehrten« (1794) überdeutlich gesagt: Die Bestimmung des Gelehrten ist »die oberste Aufsicht über den wirklichen Fortgang des Menschengeschlechtes im allgemeinen, und die stete Beförderung dieses Fortganges.«67 Beaufsichtigung des Fortschritts heißt, die Akademiker beanspruchen die Führungspositionen wie seinerzeit in der ständischen Gesellschaft – »Und Studenten sind Regenten« – jetzt ebenso für die fortschrittsbewusste Leistungs-    62 Die Kapitelüberschriften des dritten Teils (Discours  III): »VI. De la Puissance des Passions«; »VII. De la supériorité d’esprit des gens passionnés sur les gens sensés«; »VIII. Que l’on devient stupide, dès qu’on cesse d’être passionné.« 63 Helvétius, Vom Geist (Anm. 61), S. 289. Sehr viel früher als Jürgen Link, Versuch über den Norma­ lismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, es wahrhaben will, wer­ den gerade im Zusammenhang mit dem Genie die Probleme der Normalisierung virulent. 64 Helvétius, Vom Geist (Anm. 61), S. 393. 65 Helvétius, Vom Geist (Anm. 61), S. 393. 66 Vgl. Johannes F. Lehmann, »Energie, Gesetz und Leben um 1800«, in: Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring (Hrsg.), Sexualität – Recht – Leben um 1800. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München: Fink 2005, S. 41– 66. 67 Johann Gottlieb Fichte, »Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten« [1794], in: ders., Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte (Reprint der Ausgabe von 1845 / 46), Bd. 6, Berlin: de Gruyter 1971, S. 328.

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gesellschaft. Allerdings wäre die bloße Universitätszugehörigkeit, ja auch das bloße Studium noch keine Qualifikation für solche Ansprüche. Der Akademiker soll sich selbst als gesellschaftliches Wesen begreifen, das heißt unabhängig von den Aus­bil­ dungs­institutionen an seiner eigenen Ausbildung arbeiten: »Der Gelehrte ist ganz vor­ züg­lich für die Gesellschaft bestimmt: er ist, insofern er Gelehrter ist, mehr als irgendein Stand, ganz eigentlich nur durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft da; er hat demnach ganz besonders die Pflicht, die gesellschaftlichen Talente, Empfänglichkeit und Mitteilungsfertigkeit, vorzüglich und in dem höchstmöglichen Grade in sich auszubilden.«68 Lernen-Wollen (Empfänglichkeit) und Lehren-Wollen (Mitteilungsfertigkeit) begründen so etwas wie einen dichten Bildungszusammenhang, aus dem Fort­schritt in Freiheit entspringen kann. Dazu – wie kann er anders die Bildung der anderen befördern? – muss der Akademiker aber stets und vor allem auf seine Selbstbildung bedacht sein. In dieser Selbstverpflichtung des Akademikers konzentriert sich die neue, überständische Bildungsaufgabe, mit der Fichte, »als Gelehrter vor angehenden Gelehrten«69 sprechend, die alte Standesbezeichnung vor den zuhören­den Studenten dekonstruiert. Für Schleiermacher sind (1808) die Studenten mehr als bloß Auszubildende, sie sind in erster Linie jung und geistig unterwegs, »Jünglinge, welche die Wahrheit und das Wesen der Dinge und des Lebens suchen«.70 In dieser Phase brauchen sie die akademische Freiheit als ›psychosoziales Moratorium‹, nicht aber, um durch Ex­ perimentieren selbst einen Platz in der Gesellschaft zu finden,71 sondern vielmehr mit dem Auftrag, die Gesellschaft selbst zu bilden, das heißt zu verändern. Diejenigen, die »auf der Universität sich zur Erkenntnis bilden, sind zugleich die, welche in Zukunft auch die Sitten bilden sollen. […] Sollen sie von Anfang an und immer dem unterworfen sein, was sie bilden sollen?« Nein, der Student soll frei sein, eigene Sitten an der Universität auszuprobieren, damit er auch in künftigen Verhältnissen die Verhältnisse nicht als gegebene hinnimmt. Der Bildungsauftrag der jungen Bildungselite ist somit 68 Fichte, »Bestimmung des Gelehrten« (Anm. 67), S. 330. 69 Fichte, »Bestimmung des Gelehrten« (Anm. 67), S. 323. 70 Friedrich Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende« [1808], in: Ernst Anrich (Hrsg.), Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 281. 71 So Erikson, dem wir diesen zentralen Begriff verdanken (vgl. Erik. H. Erikson, Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, bes. S. 151– 153). Für die Herausbildung der modernen ›Jugend‹ aus den lokalen oder ständischen Formen der Vormoderne ist die akademische Freiheit vermutlich eines der wichtigsten Vermittlungsglieder. Die Kulturwissenschaft scheint das noch nicht recht wahrgenommen zu haben, wohl aber die Sprachwissenschaft (vgl. Helmut Henne: »Historische Studenten- und Schülersprache – heute«, in: ders., Heidrun Kämper-Jensen und Georg Obartel [Hrsg.], Historische deutsche Studenten- und Schülersprache. Einführung, Bibliographie und Wortregister, Berlin / New York: de Gruyter 1984 [= Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, Bd. 1], bes. S. 7–9).

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ein lebenslänglicher, also wird auch der Gegensatz von Student und Nicht-Student unversehens zu einem lebenslänglichen, nun aber mit Macht: zum Gegensatz zwischen dem bildenden Prinzip und dem, was der Bildung widersteht – selbst wenn es anstößig erscheinen möchte, daß die Studenten alles Nichtstudentische in diesen einen großen Gegensatz als Philisterwesen zusammenwerfen, und sich jede nur nicht offenbar straf­fäl­lige Verhöhnung dagegen erlauben. Dieser herrschenden Stimmung liegt aber etwas sehr Wahres zum Grunde, nämlich der Gegensatz zwischen dem höchsten bildenden Prinzip, welches sie in sich zu entwickeln da sind, und der rohen, gemeinen, der Bildung widerstrebenden Masse, der sich ih­ nen desto stärker aufdringt, je weniger sie selbst noch in dem lebendigen bil­ denden Verhältnis zu dieser Masse stehn. Die Verachtung und Härte gegen die widerstrebende sittliche und geistige Rohheit sollte man ihnen nur recht tief einprägen, und es ihnen zum Ehrenpunkt machen, in dieser Hinsicht im­ mer Studenten zu bleiben.72 Student und Philister bleiben gegensätzlich aneinander gebunden, auch wenn der Stu­ dent die Universität verlassen hat, als Lebensaufgabe im Zeichen der Bildung. Wenn Gustav Schwab singt oder singen lässt: Bemooster Bursche zieh’ ich aus,  behüt dich Gott, Philisters Haus! Zur alten Heimat zieh’ ich ein,  muß selber nun Philister sein!73 – so lautet der romantische Imperativ: Nein! Sei immer »Student«!

»Student« oder Philister Friedrich Kluge hat in seinen wortgeschichtlichen Forschungen überzeugend dar­ge­ tan, dass es vor allem Goethe und Schiller waren, die den Begriff des Philisters aus der Sphäre der Studenten heraus in einen weiteren Umlauf gebracht haben. Die An­ ziehungs- und Abstoßungskräfte dieser neuen Laufbahn entfalten sich in einem Feld, das – mit dem Namen der beiden Weimarer Heroen vielleicht doch nicht hinreichend

72 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken« (Anm. 70), S. 283 f. 73 Gustav Schwab, »Lied eines abziehenden Burschen« [1814], in: Deutsche Studentenlieder (Anm. 32), S. 167.

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bezeichnet – durch die deutsche Bildungsrevolution eröffnet wird.74 Sie besteht in je­ ner paradoxen Doppelbewegung, in der einerseits der Staat, im Auftrag der Aufklä­ rung, nach den Bildungseinrichtungen greift, und andererseits die jungen Staatsbürger sich von den Bildungseinrichtungen emanzipieren, um, zusammen oder allein, Selbstausbildung zu praktizieren. Beginnen wir mit der berühmten Passage aus den Leiden des jungen Werthers (1774): Man kann zum Vortheile der Regeln viel sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeschmaktes und schlechtes hervor bringen, wie einer, der sich durch Gesezze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl der Na­tur und den wahren Ausdruk derselben zerstören! sagst du, das ist zu hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben &c. – Guter Freund, soll ich dir ein Gleichniß geben: es ist damit wie mit der Liebe, ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tags bey ihr zu, ver­schwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick aus­zu­drücken, daß er sich ganz ihr hingiebt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: feiner junger Herr, lieben ist menschlich, nur müßt Ihr menschlich lieben! Theilet Eure Stun­den ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mäd­chen, berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer Noth­durft übrig bleibt, davon verwehr ich Euch nicht ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen. Etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage &c. – Folgt der Mensch, so giebts einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst jedem Fürsten rathen, ihn in sein Collegium zu sezzen, nur mit seiner Liebe ist’s am Ende, und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. O meine Freunde! warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluthen hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert. – Liebe Freunde, 74 Die deutsche Bildungsrevolution wird man, sowohl was den Begriff als auch was die Sache betrifft, vergeblich suchen in Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deut­schen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neu­ord­nung Deutsch­lands um 1800, München: Beck 2005. Dessen Kapitel sind als Längsschnitte durch das Jahr­ hun­dert konzipiert, haben also keinen Raum für eine epochale Zäsur. Es könnte aber auch sein, dass Werthers Sätze: »Du fragst, ob Du mir meine Bücher schikken sollst? Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß sie mir vom Hals. Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert seyn, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst« – immer noch nicht bei den Bildungshistorikern angekommen sind (vgl. Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers [Leipzig 1774], hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 [=  Bibliothek der Erstausgaben, Bd. 2602], Zitat: S. 13).

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da wohnen die gelaßnen Kerls auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zu Grunde gehen würden, und die daher in Zeiten mit dämmen und ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.75 Das Thema ist der Mensch, der sich bildet, speziell die Selbstausbildung des Künstlers. Dabei führt das »Gleichniß« nicht einfach nur eine zweite Ebene ein, sondern ver­ dop­pelt ganz real die Gefahr, welche diese Selbstausbildung zu ruinieren droht. Zer­ störerisch wirken sowohl die Regeln für die Kunst als auch die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft. Der Künstler ist »ein junges Herz«; im Dreiklang von Jugend, Leidenschaft und Kreativität besetzt er jenen perspektivischen Punkt, den Helvétius den ›pro­duktiven Keim des Geistes‹ nannte76 und der in der Auslegung des Gleichnisses »Genie« heißt. Das Genie seinerseits stellt gleichfalls eine Gefahr dar, als destruktive Gewalt droht es die zivilisierte Natur und damit die Lebensordnung der bürgerlichen Gesellschaft zu zerstören.77 In den Begriffen des 18. Jahrhunderts: der status naturalis (elementare Kreativität) bedroht radikal den status civilis (die bürgerliche Gesellschaft), der status civilis bedroht seinerseits den status naturalis mit Vernichtung.78 Die Selbstausbildung des Künstlers findet, so gesehen, auf einem Kampfplatz statt. Auch das Verhältnis zwischen den Generationen ist entschieden antagonistisch. Hier jugendliche Hingabe und Verschwendung – dort die erwachsene Einteilung der Zeit in Freizeit und Arbeitszeit, die rechnerische Verwaltung von Ressourcen. Wie sein jugendlich-kreativer Gegenpart ist der Philister doppelt definiert, erstens im Hinblick auf die Lebensführung, zweitens im Hinblick auf die Kunst. Als Feind der Leidenschaften bedroht er »ein junges Herz«: er bringt die Liebe zum Erlöschen. Als Feind 75 Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (Anm. 74), S. 20 f. 76 Nur dass die Liebe, die auch bei Helvétius die stärkste aller Leidenschaften darstellt, hier nicht ei­ ner Mechanik der Triebe oder der Aufmerksamkeit zugeordnet ist, sondern dem Göttlichen (vgl. Peter  von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München / Wien: Hanser 1989, S. 210 –226 [»Das Wort ›Liebe‹ und die deutsche Gegenreligion«]). 77 Die disruptiven Eigenschaften des Genies werden vor allem von Diderot hervorgehoben. Wie es in der Literatur gegen Herkommen und Grammatik verstößt, so überschreitet das Genie Grenzen auch in der Politik; es ist revolutionär dazu berufen, Staaten zu gründen oder umzustürzen, nicht aber dazu, ordentlich zu regieren oder zu verwalten. Auf allen Gebieten scheint es die Natur der Dinge zu verändern. – »Dans les Arts, dans les Sciences, dans les affaires, le génie semble changer la nature des choses« (Art. »Génie«, in: Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert [Hrsg.], Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de gens de lettres, Paris: Briasson u. a. 1757, S. 582 –584, hier S. 584). 78 Oder in den Begriffen des 21.  Jahrhunderts: »In ihrer Kontingenz ist Kreativität in hohem Maße ambivalent – gleichermaßen wünschenswerte Ressource wie bedrohliches Potenzial. […] Entfesselung und Domestizierung sind dabei ununterscheidbar verwoben« (Ulrich Bröckling, »Kreativität«, in: ders., Susanne Krasmann und Thomas Lemke [Hrsg.], Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 139 –144, hier S. 139 f.).

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der Kunst bedroht er den jungen Künstler: er bringt »das wahre Gefühl der Natur und den wahren Ausdruck derselben« zum Erlöschen. Für die Selbstausbildung des Künst­lers kann es kaum einen gefährlicheren Feind geben als diesen ein­fluss­rei­chen Rat­ge­ber. Seine Anweisungen zur Regulierung von Kunst und Leben erteilt er im Sin­ne der Lebens- und Seelendiät,79 und er erteilt sie von einem Amt aus, das heißt ei­ner Führungs­position, die nur durch Geburt oder Studium erreicht werden kann.80 Auch sein jugendliches Ebenbild muss sich zur Tätigkeit in einer Regierungsbehörde (»Collegium«) qualifiziert und Jura studiert haben. Studierte Philister also. Der Philister tritt hier (1774) an einer Schlüsselstelle auf, wo es sich um die Lebensentscheidung des jungen Menschen handelt, genauer, um die Entscheidung für oder gegen seine Lebendigkeit, für oder gegen seine Jugendlichkeit, seine sorglose Lebensführung, seine Kreativität. Vielleicht geht das jeden jungen Menschen an, gewiss aber den männlichen Jugendlichen, der zu Führungsaufgaben bestimmt ist, durch Stu­di­um oder wenigstens Gymnasialbildung.81 Jugend, Lebensführung, Kunst  – diese drei Aspekte der Lebensentscheidung werden das ganze bürgerliche Zeitalter hindurch, einzeln oder zusammen, als Stimmen erklingen, welche das Generalthema der mo­der­ nen Leistungsgesellschaft umspielen: die geheimnisvollen Quellen des Fortschritts, des Neuanfangs oder der Innovation. Goethe und Schiller haben entscheidend dazu beigetragen, dass wir ›Kunst‹ im Sin­ gular gebrauchen.82 Das weite Feld der schönen Künste und schönen Wissenschaften mit seinen Höhen, Tiefen und Untiefen wird seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts immer strenger binär codiert, in Kunst und Nicht-Kunst. Dadurch steigt die Kunst auf zur vornehmsten Bildungsmacht, und zwar – was die geistesgeschichtlichen oder 79 »Seelendiät, ist diejenige Ordnung und Maaß, welche man in den Gemüths-Bewegungen, in Freud und Leid, in Zorn, Furcht, Schrecken, Traurigkeit, Liebe u. d. g. beobachtet« (Grosses voll­stän­ diges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 36, Halle an der Saale / Leipzig: Zedler 1743, S. 596). 80 Vgl. den Rückblick auf die Epoche des Sturm und Drang in »Dichtung und Wahrheit«: »Der ästhetische Sinn, mit dem jugendlichen Mut verbunden, strebte vorwärts, und da man noch vor kur­ zem studierte, um zu Ämtern zu gelangen, so fing man nun an den Aufseher der Beamten zu machen, und die Zeit war nah, wo der Theater- und Romanendichter seine Bösewichter am liebsten unter Ministern und Amtleuten aufsuchte« (Goethe, »Dichtung und Wahrheit« [Anm. 60], S. 535). 81 Das preußische Edict wegen Prüfung der zu den Universitäten übergehenden Schüler vom 25. Juni 1812 fordert, »daß die studirende Preußische Jugend, aus welchen die künftigen Lehrer, Berather und Führer des Volks hervorgehen«, sich durch Reife des Charakters – das heißt durch Selbstausbildungskompetenz – dazu qualifiziert haben muss (zit. n. Friedrich Schultze, Die Abiturienten-Prüfung, vornehmlich im Preußischen Staate. A: Urkunden-Sammlung, Liegnitz / Halle an der Saale: Anton 1831, S. 10). 82 Reinhart Koselleck hat auf weitere bedeutungsschwere Singularisierungen zu Ende des 18. Jahrhunderts aufmerksam gemacht: Freiheit, Gerechtigkeit, Fortschritt, Revolution (vgl. Reinhart Kosel­ leck, »Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Ge­ schichte«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 38 – 66, hier S. 54).

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systemtheoretischen Erzählungen von der Entstehung der ›Kunstautonomie‹ meist ver­ harm­losen – zu einer kämpferischen Bildungsmacht. Wenn Herder die Devise ausgibt: ›Bilden und nicht unterrichten‹,83 wenn der Leutnant von Blanckenburg sich für den Romandichter wünscht, seine Leser mögen »durch sein Werk […] [ihre] eigenen Lehrmeister zu werden«,84 so zerfällt der ganze rhetorische Wirkungszusammenhang des docere, delectare, movere und mit ihm das Fundament der res publica literaria. Der pädagogische Wirkungszusammenhang freilich bleibt bestehen und wird als ›ästhetische Erziehung‹ neu formatiert. Die Kunst, anstatt die Menschen zu belehren, zu unterhalten oder zu rühren, soll vielmehr (Selbst‑)Bildungsprozesse induzieren. Wie schon das höchste bildende Prinzip, das Schleiermacher seinen Studenten zusprach, werden Kunst und Künstler dabei auf den Widerstand »der rohen, gemeinen, der Bildung wider­strebenden Masse« stoßen und sie werden, wie schon die Studenten, »Verachtung und Härte« dagegen aufzubringen haben. Das war für die Zeitgenossen im 1. Stück von Goethes und Schillers Horen (1795) nachzulesen, wo der Künstler als Krieger in seine Gegenwart eintritt. Und seine Waffe? »Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urtheil verachtet.«85 In dieser Verachtung finden wir die Philister. Die soziale Verachtung, die den Philistern in der ständischen Gesellschaft zuteil wurde, wandelt sich zu einer kulturellen Verachtung in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Modell dafür ist von Goethe und Schiller im Zusammenhang mit dem Weimarer Kunst­programm entwickelt worden, im Kampf für die öffentliche Beachtung ihrer Bil­ dungs­bemühungen, oder genauer, gegen die gefühlte öffentliche Nicht-Beachtung derselben. Dabei wechseln die Bezeichnungen für den schwer greifbaren Gegner. Die erste ist aus der Französischen Revolution übernommen, »Litterarischer Sanscülottismus« (Mai 1795): der Kritiker, der die Heranbildung zu klassischen Werken in der Gegenwart nicht wahrzunehmen vermag, zeigt eine »ungebildete Anmaßung« und ist daher aus dem Kreis der Gebildeten auszustoßen: »Man entferne ihn aus der Gesellschaft«.86

83 Johann Gottfried Herder, »Vorrede zur zweiten, völlig umgearbeiteten Ausgabe der Fragmente (1768), die zu Herders Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde«, in: ders., Werke in 10 Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764 –1772, hrsg. von Ulrich Gaier, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 597. 84 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman [1774], Reprint mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart: Metzler 1965, S. 243. 85 Friedrich Schiller, »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Neunter Brief«, in: Die Horen. Eine Monatsschrift. Herausgegeben von Schiller [1795], Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1959, Bd. 1, 1. Stück, S. 44 f. 86 Johann Wolfgang Goethe, »Litterarischer Sanscülottismus«, in: Die Horen (Anm. 85), Bd. 2, 5. Stück, S. 50 –56, hier S. 51 u. 56. Daniel Jenisch hatte im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Ge­ schmacks (März / April 1795) die Armut an klassisch-prosaischen Werken in der deutschen Gegenwartsliteratur beklagt. Goethe verfasste seine polemische Entgegnung im Frühling 1795 in Jena, in steter Zusammenarbeit mit Schiller.

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Die zweite Bezeichnung in den Xenien (September 1796) ist aus der Studentensprache übernommen, zumal in dem Wortspiel »Feindlicher Einfall« nach Richter 15  /  1–5: Fort ins Land der Philister, ihr Füchse mit brennenden Schwänzen,  Und verderbet der Herrn reife papierene Saat.87 Anders als in den früheren Streitigkeiten innerhalb der res publica literaria zielen jetzt die aggressiven Einfälle und ›geschriebenen Ohrfeigen‹ (Friedrich Schlegel) auf Autoren, Zeitschriften, bildende Künstler, Kritiker und das Publikum als Ganzes, mithin auf alle Instanzen der Öffentlichkeit. Ein drittes Mal wollen Goethe und Schiller im Sommer 1799 den Krieg gegen den zeitgenössischen Literatur- und Kunstbetrieb wieder aufnehmen, jetzt mit Ausdrücken aus der Künstler- oder Handwerkersprache; doch der letzte Verachtungsfeldzug versickert als ›Dilettantismus-Schema‹88 im Manu­ skript. Will man die Menge der literarischen Sansculotten, Philister und Dilettanten in einer Figur zusammenfassen, so erscheinen sie wie jener literarische Kritiker, der das Vorhandensein einer Nationalliteratur nicht bemerkt, als Literaten ohne Sinn für Li­ te­ratur, als ungebildete Gebildete. Diese Figur entsteht, wenn ›Bildung‹ auf sich selbst an­ge­wendet wird. Wie bei der lateinischen Autorschaft in den Zeiten des Hu­ma­nis­mus fun­giert sie wieder in einen Kampf um die Plätze, nicht an der Universität diesmal, son­dern eher in den Geschichtsbüchern der Nation. Mit dem Philister stirbt auch sein Ruhm; du, himmlische Muse,  Trägst, die dich lieben, die du liebst, in Mnemosynens Schooß.89 So heißt es unter der Überschrift »Das ungleiche Schicksal« in der Gruppe von Disti­ chen, die als Weihgeschenke (Tabulae votivae) die Gastgeschenke (Xenien) einleiten. Der Philister treibt ein Musenwerk ohne ihren Beistand, er schreibt und dichtet musen­verlassen. Das ist mehr als ein ungleiches Schicksal, das ist etwas, wovor dem Mu­sen­­liebling graut, wie der Anruf »An die Muse« bekundet: Was ich ohne dich wäre, ich weiß es nicht; aber mir grauet,  Seh ich, was ohne dich hundert’ und tausende sind.90 87 Friedrich Schiller, Werke. Nationalausgabe, Bd. 1: Gedichte, hrsg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1943, S. 314. 88 Vgl. die Beiträge in Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hrsg.), Dilettantismus um 1800, Heidelberg: Winter 2007, darunter Heinrich Bosse, »Das Liebhabertheater als Pappkamerad. Der Krieg gegen die Halbheit und die ›Greuel des Dilettantismus‹« (S. 69 – 90). 89 Schiller, Werke (Anm. 87), Bd. 1, S. 293. 90 Schiller, Werke (Anm. 87), Bd. 1, S. 292. Natürlich wurde der Musenalmanach auf das Jahr 1797 seinerseits in Analogie zur Französischen Revolution gesehen, als Bürgerkrieg, bei dem die Musen

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Musenlose Musensöhne, das sind die Philister, und sie sind die überwältigende Mehrheit. Auch durchdringen sie viele andere Bildungsbereiche. Das bestätigt Johann Hein­ rich Voß (d. J.), der von 1804 bis 1806 am Weimarer Gymnasium Lehrer war, in einem Brief aus dem Jahr 1821: Über Philister laß mich zur Ehre Schillers, der das Wort in Umlauf gesetzt, eine Bemerkung machen. Keinen Stand versteht man darunter, sondern den linkischen, den geistlosen in jedem Stande und Geschäft, der sich durch thö­ rich­te Anmaßung aus seiner Sphäre erhebt. Wer einen Handwerker Philister schelten wollte, weil ihm Wissen und Gelehrsamkeit abgeht, würde dadurch selber zum Philister. Ein Handwerker kann in seiner Art ein Lessing, ein Shakspeare sein, z. B. ein erfindender Tischler. Ja selbst ein mechanischer Handwerker ist kein Philister, wenn er bloß sein will, was er ist; er gehört zu den achtbarsten Nährern des Staats. Dagegen nimm den Direktor NN. Der Mann hat viele negative Tugenden und kein einziges positives Laster; sein Latein fließt ihm wie Milch und Honig im Schlaraffenlande; gelesen hat er gewaltig viel, und alles spukt in seinem treuen Gedächtnisse. Er hat sogar den redlichen Willen, den Schülern sich nützlich zu machen. Aber er macht (freilich ohne es schlimm zu meinen) die heilige Religion zur diäthetischen Schule, er ruft seinen Schülern zu: »O lernt Griechisch und Latein! Es kann vielleicht ein Heyne aus euch werden, und ein Heyne nimmt 3000 Thaler ein!« Er begeht tausend Albernheiten der Art, ohne einmal zu ahnen, daß er den Schülern zum Gespötte wird. Wer möchte es den Leuten verdenken, wenn sie ihn einen Philister nennen. – Einen prächtigen Philister zeichnet Göthe im Wilhelm Meister mit wenigen Worten, einen Jüngling, der mit dem Buch in der Hand die Natur bewundert, der die Schauspielergesellschaft auf das Rieseln der Quellen, das Säuseln des Windes aufmerksam macht, und dem Philine einen Kukuk zuruft.91 Schluss mit der Verachtung der Handarbeit. Nicht nur der kreative Erfinder, nein, je­ der Werktätige hat Anspruch auf Achtung, solange er Leistung bringt und bei seinem und Grazien fliehen, als Revolutionstribunal oder ›sansculottisches Ungeheuer‹ (vgl. die Zeugnisse bei Franz Schwarzbauer, Die Xenien. Studien zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik, Stuttgart / Weimar: Metzler 1993, S. 35 – 43 [»Das Ende der gelehrten Republik«]). 91 Johann Heinrich Voß an Christian von Truchseß, Heidelberg, November 1821, in: Briefe von Heinrich Voss, hrsg. von Abraham Voss, Bd. 2: Mittheilungen über Göthe und Schiller. Briefe an Chr. von Truchseß, Heidelberg: Winter 1834, S. 101 f. In der Bedeutung ›unbeliebter Lehrer‹ lebt der Phi­ lis­ter auch in der Schülersprache weiter (vgl. Rudolf Eilenberger, Pennälersprache. Entwicklung. Wortschatz und Wörterbuch, Straßburg: Trübner 1910, S. 11; Reprint in: Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, Bd. 5 [1984]).

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Leisten bleibt. Dagegen der Direktor NN – erhebt er sich »durch thörichte Anmaßung aus seiner Sphäre«? Keineswegs, er bleibt eher unterhalb seiner Sphäre. Und zwar indem er kulturelle Werte auf lebenspraktische oder ökonomische reduziert: die Religion wird profanisiert zur Lebens- und Seelendiät, die antike Bildung herabgewürdigt zu ei­nem Mittel der Einkommensverbesserung. Darüber spotten die jungen Leute – wie Philine über den jungen (!) Mann, der die Natur nur noch durch ein Buch wahr­neh­ men kann, um sie in einen Diskurs zu verwandeln. Aber was hat der Schuldirektor, der seinen Unterricht ganz lebenspraktisch nützlich machen will, gemein mit dem Bücher­menschen, der anderen mit seiner Suada den Naturgenuss verdirbt? »›Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturszenen hören sollte‹, rief Philine aus, als er weg war; ›es ist nichts unerträglicher, als sich das Vergnügen vorrechnen zu lassen, das man genießt. […]‹«92 Es muss das ›Vorrechnen‹ sein, das dem Augenblick seine spontane Lebendigkeit raubt oder dem Schulstoff die Möglichkeit, sich ergreifen zu lassen: Diskurskontrolle, Gegenwartskontrolle, Zukunftskontrolle – all die zahllosen Varianten besorgter Lebensführung im Gegensatz zu einer sorglosen. Denn das ist es ja, was die fahrenden Schauspieler verkörpern, vor allem aber Philine: spontane Improvisation. In jener Phase, wo die ständische Gesellschaft übergeht in die bürgerliche Gesellschaft, wird auch der faszinierende Ausbund von Kreativität, das Genie, wieder resozia­ li­siert. Einmal, indem man es entwicklungsfroh denkt: seine Naturbegabung ist dann auch eine Begabung zur Arbeit an sich selber, ja geradezu ein Leistungsethos, dank des­ sen es unaufhörlich an seiner künstlerischen Selbstausbildung zu wirken bestrebt ist.93 Zum anderen, indem das Genie innerhalb der Gesellschaft ein Biotop am Rande der Gesellschaft vorübergehend bewohnt, oder vielmehr durchquert. Gegenüber all den Sesshaften ist der Künstler, wie auch schon der Student,94 unterwegs zum Neuanfang. Daher können Dichter und Student auch fusionieren, in einer Gestalt aus einem Guss, doch unter einer doppelsinnigen Bezeichnung – in Goethes »Musensohn« (1800):

92 Johann Wolfgang Goethe, »Wilhelm Meisters Lehrjahre« [1795], in: ders., Werke (Anm. 60), Bd. 7, 1968, S. 101 (2. Buch, 4. Kap.). Laertes, Philine und Wilhelm Meister machen ein Picknick im Walde und Werther-Leser können ein zartes, erotisierendes Echo von Werthers – und Rousseaus – Exklamation gegen die Bücher (vgl. Anm. 74) vernehmen. 93 Es ist geradezu ein Verdienst des Weimarer Kunstprogramms, das Genie – über die Selbstausbildung des Künstlers – wieder gesellschaftsfähig gemacht zu haben. Für besonders relevant halte ich die Horen-Aufsätze »Litterarischer Sanscülottismus« (siehe Anm. 86) und »Von den nothwendigen Gren­zen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten« (Die Horen, Bd. 3, 9. Stück [September 1795], S. 99 –125). 94 Während dem gewerbetreibenden Bürger das »Kleben an der Scholle« zu verzeihen ist, würde es die edlere Klasse der Akademiker entehren, denn sie sollen die heimatlichen Familienverhältnisse hinter sich lassen, um in einem Kreis von Fremden, allein auf sich und ihre Leistung gestellt, »das Leben einmal selbständig von vorn anzufangen« (Johann Gottlieb Fichte, »Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt« [geschrieben 1807, publiziert 1817], in: ders., Werke [Anm. 67], Bd. 8, 1971, S. 97–213, hier S. 170 f.).

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Durch Feld und Wald zu schweifen,  Mein Liedchen wegzupfeifen,  So geht’s von Ort zu Ort! Und nach dem Takte reget,  Und nach dem Maß beweget  Sich alles an mir fort. Ich kann sie kaum erwarten,  Die erste Blum’ im Garten,  Die erste Blüt’ am Baum.  Sie grüßen meine Lieder,  Und kommt der Winter wieder,  Sing ich noch jenen Traum. Ich sing’ ihn in der Weite,  Auf Eises Läng und Breite,  Da blüht der Winter schön! Auch diese Blüte schwindet  Und neue Freude findet  Sich auf bebauten Höh’n. Denn wie ich bei der Linde  Das junge Völkchen finde,  Sogleich erreg’ ich sie.  Der stumpfe Bursche bläht sich,  Das steife Mädchen dreht sich  Nach meiner Melodie. Ihr gebt den Sohlen Flüge! Und treibt durch Tal und Hügel  Den Liebling weit von Haus.  Ihr lieben, holden Musen,  Wann ruh’ ich ihr am Busen  Auch endlich wieder aus?95 Aus Bewegung und Musik, Rhythmik und Motorik taucht hier so etwas wie eine poetisch-musikalische Erscheinung im Vorüberziehen auf, schon immer unterwegs. Sie 95 Goethe, Werke (Anm. 60), Bd. 1, S. 243 f. Zur Interpretation des Textes vgl. Bosse und Neumeyer, Musensohn und Wanderlied (Anm. 18), S. 68 – 88; poetologisch ambivalent sieht ihn Jochen Golz, »Goethes Gedicht ›Der Musensohn‹«, in: Konrad Feilchenfeldt, Kristina Hasenpflug und Gerhard Kurz (Hrsg.), Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in die Moderne. Festschrift für Christoph Perels, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 15 –24.

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singt im Zyklus der Jahreszeiten Blüten herbei und wieder fort, Erwartung, Wechselgruß und Erinnerung, alles wird Gesang, oder Tanz, wenn die Bewegung sich ande­ ren jungen Menschen mitteilt, ›nach meiner Melodie‹, auf welchem Instrument auch immer. Diese melodische Mobilität hat etwas Überirdisches, wie die geflügelten Soh­ len des Götterboten Hermes, der nicht nur die Leier, sondern auch die Pfeife erfand. Sie ist das Geschenk der Musen, wie der Anruf am Schluss bezeugt. Darin enthüllt sich der Liebling der Musen auch als Liebling einer geliebten Frau, die den Gegenpol besetzt hat, wo es »wieder« ein Ausruhen gibt, wenn die Musen es so wollen. Der Musenanruf besagt nicht, dass die Musen ihr Geschenk zurücknehmen sollen; im Gegenteil, die Gabe, mit der sie den Musensohn begaben, ist die ganze umfassende Schwingung in der Polarität von Ruhe und Bewegung, von Liebe und Gesang. Und doch besagt die Überschrift »Musensohn«: auch das ist nur eine Phase – der Jugend, der akademischen Freiheit,96 der poetischen Sorglosigkeit. Das Lied vom »Liedchen« feiert den Ursprung der Poesie in Lied, Tanz und Gesang, eine strömende Kreativität, die den Musensohn voranträgt, indem er sich an den Augenblick verschwendet, ohne eigentlich Künstler zu sein. Der Feld-, Wald- und Wiesen­musikant hat keinen Bildungsauftrag, er schafft keine Werke, er denkt nicht an Ruhm. Als improvisatore belebt er neu – in verjüngtem Maßstab – den klassischen Liebling der Musen, wie ihn das 18. Jahrhundert sah: Homer, der als wandernder Barde und Stegreif­dichter das Leben in seiner ganzen Fülle aufnehmen und darstellen konnte.97 Ludwig Tieck hatte in seinem Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) gleich eine Vielzahl von Jünglingen auf die Reise geschickt, die malend, musizierend, dichtend und liebend umherschweifen, so sehr freilich, dass ihrer wandernden Bohème die gültige Liebes- und Ehebeziehung zum unlösbaren (Philister‑)Problem wird. Wie lässt sich der sorglose Elan von Jugend-Liebe-Kreativität in das Erwachsenendasein hinübernehmen? Darauf antwortet Goethes »Musensohn« mit dem alten Doppelsinn des Titelworts: ein Student kann schlechterdings nicht verheiratet sein98 – aber ein Dichter kann sein Leben lang Dichter sein. 96 Als Leipziger Student hatte Goethe in seiner parodistischen Eloge auf den Kuchenbäcker Hendel den Begriff ›Musensohn‹ noch im Sinne der Studentensprache gebraucht, vgl. »Dichtung und Wahrheit« (Anm. 60), 7. Buch, S. 303 (für den Hinweis danke ich Bernd Hamacher, Goethe-Wörterbuch). Wenn Goethe an späterer Stelle in »Dichtung und Wahrheit« (Werke [Anm. 60], Bd. 10, 16. Buch, S. 80 f.) den Musensohn als Zeugnis für den unwillkürlichen Strom seiner jugendlichen Kreativität anführt, setzt er den Text in ein rückblickendes Imperfekt: »So ging’s den ganzen Tag«. 97 Thomas Blackwell, Untersuchung über Homers Leben und Schriften [An Enquiry into the Life and Writings of Homer, 1735], übers. von Johann Heinrich Voß, Leipzig: Weygand 1776. Zur Verjün­ gung Homers im 18. Jahrhundert vgl. Bosse und Neumeyer, Musensohn und Wanderlied (Anm. 18), S. 83 – 87. 98 Unter der Überschrift »Hochzeitscarmen für einen abtrünnigen Musensohn« findet sich unter Lenz’ Gedichten aus der Straßburger Zeit ein Hochzeitsgedicht, vermutlich für einen Mathematiker. Die Überschrift ist wohl ein neuerer Zusatz, denn das Original war unbetitelt (vgl. »A. Ein bisher unbekanntes Strassburger Hochzeitslied des Dichters Jacob Michael Reinhold Lenz«, in: Gustav Adolf

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Im Gespräch mit Eckermann hat Goethe in hohem Alter auch eine weniger iro­ni­ sche Antwort zu geben versucht. Jenes Junktim von Jugend und Kreativität, das nach Helvétius den außerordentlichen Menschen macht, denkt Goethe als wiederholbar in Ausnahmefällen. Der außerordentliche Mensch, das Genie, ist eben dadurch cha­rak­ teri­siert, dass er eine »wiederholte Pubertät« erlebt, dass die in ihm wirksame Entelechie »ihr Vorrecht einer ewigen Jugend« durchsetzt, dergestalt, »daß wir bei vor­züg­lich begabten Menschen auch während ihres Alters immer noch frische Epochen besonderer Produktivität wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer einmal wieder eine temporäre Verjüngung einzutreten«.99 Die Frage des 19.  Jahrhunderts (wie kann man Jugend, Kreativität – und Liebe! – in das Erwachsen-, ja Altwerden mit hin­über­nehmen?) hat Goethe hier mit den Mitteln des 18. Jahrhunderts beantwortet: ja, ein Genie kann das. Und was ist mit den Nicht-Genies? Sie können schwerlich produktiv sein im Sin­ne fortwirkender Taten und Werke – sie können und sollen aber produktiv sein sich selbst gegenüber, indem sie an ihrer eigenen Selbstausbildung arbeiten, lebensläng­lich. Die Romantik nimmt sich der akademischen Nicht-Genies an, indem sie den Bildungsimperativ aufgreift und seine Paradoxie – die Ausbildung fortzusetzen, nachdem die Ausbildung abgeschlossen ist  – metaphorisch fruchtbar macht; so wie in Schleiermachers Empfehlung an die Jünglinge, ein ganzes Leben lang Student zu sein. Die Frage, wie man Jugend-Kreativität in das Erwachsen‑, ja Altwerden mit hin­über­neh­ men könne, erhält jetzt zur Antwort: die studierende Jugend kann das – dank ih­rer Affinität zu Neuanfang und Innovation. Sie ist die Instanz der Erneuerung, wie in Brentanos Philisterrede von 1799  /  1811: Die akademische »Jugend, dieser sich ewig erneuernde Simson«, steuert weltensuchend auf den Flügeln der Begeisterung ins Of­ fene, »und nehmen wir das Wort Student im weitern Sinne eines Studierenden, eines Erkenntnißbegierigen, […] der alle Strahlen des Lichtes in seiner Seele freudig spiegeln läßt, eines Anbetenden der Idee, so stehen die Philister ihm gegenüber, und alle sind Philister, welche keine Studenten in diesem weitern Sinne des Wortes sind.«100 Der Müller, Ungedrucktes aus dem Goethe-Kreise mit vielen Facsimiles, München: Seitz & Schauer 1896, S. 92 –100). – Die soziale Lage eines verheirateten Studenten war desolat, weil er dadurch nicht mehr als Klient für die Patronage in Frage kam, also der Weg zu allen Ämtern versperrt war (vgl. Mauritius Cruciger, Leipzig im Profil. Ein Taschenwörterbuch für Einheimische und Fremde, Solothurn: Krüger & Weber o. J. [1799], S. 6). 99 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von Hans Heinrich Houben, 25. Aufl., Wiesbaden: Brockhaus 1959, bes. S. 510 –513 (11. März 1828). Bezeichnenderweise geht das Gespräch von den Ausnahmemenschen über zur Frage, wie gewöhnliche Menschen wohl ihre Produktivität steigern könnten. Wein vielleicht, frische Luft sicher. 100 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung«, in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (= ders., Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, in Zusammenarbeit mit der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn, Bd. 11), S. 38 – 89, hier S. 59.

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Student also als Modell für einen Lebensentwurf ewiger Erneuerung, in dem Elan des Erkunden- und Erlebenwollens, in der unbekümmerten Hingabe an die Wunder der Welt. Etwas trockener gesagt: der Student repräsentiert die unbedingt zukunftsoffene Existenz. So auch für Eichendorff am Schluss seiner autobiographischen Aufzeichnungen. In der Frage, ob man besser Universitäten in Kleinstädten oder in Großstädten aufsuchen solle, entscheidet er sich gegen die »Großstädterei« und ihre Folgen, die Studenten werden immer mehr in das allgemeine Philisterium einge­fan­ gen und frühzeitig gewöhnt, die Welt diplomatisch mit Glacéhandschuhen anzufassen. Dies halten wir aber, zumal in unserer materialistischen Zeit, für ein be­deu­ ten­des Unglück. Denn was ist denn eigentlich die Jugend? Doch im Grunde nichts anderes, als das noch gesunde und unzerknitterte, vom kleinlichen Trei­ben der Welt noch unberührte Gefühl der ursprünglichen Freiheit und der Unendlichkeit der Lebensaufgabe. […] Die Jugend ist die Poesie des Le­ bens, und die äußerlich ungebundene und sorgenlose Freiheit der Studenten auf der Universität die bedeutendste Schule dieser Poesie, und man möchte ihr beständig zurufen: sei nur vor allen Dingen jung!101 Dass Student und Studium und Universität mit solch einem metaphorischen Überschuss bedacht werden ist freilich wiederum ein Problem, und zwar ein erhebliches. Die Metaphern verwandeln den diskursiven Auftrag (zur Selbstausbildung) in ein We­ sens­merkmal der studierenden Jugend. Damit wird die unbequeme Kehrseite des Auftrags zur Selbstbildung vollends unsichtbar gemacht. Denn was ist eigentlich mit den nicht-bildungswilligen Nachwuchsakademikern, die sich an der Universität aufhalten? Man kann sie vergessen, lautet die Antwort der Bildunsglehrer. In seiner Einleitung in die Universalgeschichte im Sommersemester 1789 stellte Schiller seine Jenaer Zuhörer vor die Wahl, sich zum Menschen auszubilden oder sich beruflich zu qualifizieren. Nur für die erste Klasse, die, »von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung ge­ zwungen«, nicht aufhören mag, sich selbst zu verbessern, will er seine Vorlesung hal­ ten – die anderen mögen sehen, wo sie bleiben, am besten vor der Tür.102 Ähnlich Fichte in seiner Vorlesung von 1794: die Akademiker, die sich auf seine Bestimmungsbestimmung nicht einlassen wollen, werden zum Ausschuss, der in dem weltgeschichtlichen Bildungsprogramm wohl unvermeidlich abfällt, indem »auf sie nicht im Plane 101 Joseph von Eichendorff, »Erlebtes. Halle und Heidelberg«, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz, Bd. 5, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 451 f. 102 Friedrich Schiller, »Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?«, in: ders., Werke (Anm. 87), Bd. 17, hrsg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1970, S. 362 f.

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der Veredlung der Menschheit gerechnet ist«.103 Das ›allgemeine Philisterium‹, von dem Eichendorff sprach, lauert also nicht bloß in der Großstadt, sondern schon in der Ausbildung selber, und nur die Entscheidung, sich selber ausbilden zu wollen, kann einen davor retten. Die lauernde Gefahr potenziert sich zur Realität, sowie die Universität Prüfungen und Zwischenprüfungen einrichtet. Hier ist Wilhelm von Humboldt zu nennen, der Bonaparte der Bildungsrevolution. Das einzige Gesetz, das in seiner Amtszeit erlassen wurde, schafft das Staatsexamen für Lehrer (›Examen pro facultate docendi‹, 12. Juli 1810),104 und damit die erste von vielen staatlichen Abschlussprüfungen an der Universität, die noch kommen sollten. Wie sehr sie das Studium verändern, beschreibt der Historiker Heinrich Leo (1799 –1878) im Rückblick auf seine Studienzeit im preußischen Breslau (1816 –1817) und im thüringischen Jena (1817–1819): Dort [in Jena] hatte ich fast gar nichts von Examinibus und von Staatsrücksichten, sondern höchstens von den persönlichen Verbindungen und Aus­ sich­ten des einzelnen reden hören, – hier [in Breslau] fand ich alle imponiert durch die Resultate ihrer zurückgelegten Abiturientenexamina, durch die Span­nung auf die ihnen bevorstehenden Amtsexamina […]. Der Lebenszug eines preußischen Studenten war wie die Bewegung junger Hühnchen durch den Hühnerkorb so durch die Staatseinrichtungen beschränkt sowohl als beschützt, der eines Studenten aus den Herrschaften, wo noch das Bewußtsein und die Lebensformen der Reichsherrschaft einigermaßen sich gehalten hat­ ten, hieng noch wesentlich von persönlichem Auftreten, Geltendmachen und Glück ab. […] Man wird leicht erkennen, daß dadurch das Stu­den­ ten­leben in Jena an Poesie, an Freiheit und an Entfernung von den gemeinbürger­lichen Interessen außerordentlich gewann, während in Breslau sich der Student überall von dem Herrn Staat umschlossen und gegängelt und von der Einwohnerschaft ziemlich unbeachtet fühlte. […] Mit dem Verlegen der deutschen Universitäten in große Städte, mit dem Ueberhandnehmen der doch nur die wissenschaftliche Ausrüstung, nicht den persönlichen Charakter ans Licht stellenden Examina bis zum Examenunwesen und dem Verwandeln der Universitäten immer mehr in polytechnische Schulen wird man dem deut­schen Leben jene freien Inseln, in denen ein junger Mensch einige Jahre Geist und Charakter rücksichtslos entwickeln konnte, überall dem festen Philister­lande vollkommen anschließen.105 103 Fichte, »Über die Bestimmung des Gelehrten« (Anm. 67), Vorbericht, S. 292. 104 Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787–1817, Stuttgart: Klett 1974 (Industrielle Welt 15), S. 312 –315. 105 Heinrich Leo, Meine Jugendzeit, Gotha: Perthes 1880, S. 135 –138. Leo wurde eine Zeit lang auch als Urheber des Begriffs ›Bildungsphilister‹ angesehen, bis Herman Meyer die Geschwister Brentano

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Je mehr Prüfungen und Leistungskontrollen, desto weniger ›Freiheit und Entfernung von den gemein-bürgerlichen Interessen‹, desto fester dem Philisterland verbunden, desto stabiler die ganze Ausbildung. Doch aus dem nicht einmal verdrängten, nur ab­ge­spal­tenen, unverbundenen Untergeschoss werden in der Folgezeit scharenweise die Philister hervordringen, leibhaftige Wiedergänger des Bildungssystems. Und umgekehrt werden die »Jünglinge, welche die Wahrheit und das Wesen der Dinge und des Lebens suchen« (Schleiermacher), ihrerseits zum schönen Gerücht. Dies schon in der Politisierung der Studenten nach 1815. Für die Veränderung der Wirklichkeit setzen sich die Studenten unter ihrer eigentlichen Benennung ein, wie in »Der Bursch und der Philister« (1819) des radikalen Burschenschaftlers August Ludwig Follen (1794 –1855): Des Freiheitsgeistes Sturmwindgang ergreift mit Hermannslust,  Wie Harf ’ und Schlachtdrommetenklang, des Burschen tapfere Brust.  Philister wimmern: Laßt uns doch den Sausewind vom Hals! Er bläst uns von der Suppe noch den langgesparten Schmalz.106 Der Philister ist vielleicht gar nicht so sehr der Feind, sondern etwas Vorgeschobenes: Trägheit, Feigheit, Faulheit vielleicht, die es beim Angriff zu überwinden gilt, oder ein menschlich-poetisches Schutzschild des regierenden Gegners, den beim Namen zu nennen kriminell wäre. Wie auch immer, der Musensohn als Student hat seinen Sitz im Diskurs verloren;107 er richtet nichts mehr aus oder ein, sondern wird nur noch vorkommen, eine gelehrte Antonomasie, zitatweise mit leisem Lächeln erinnert. Dasselbe widerfährt dem Musensohn als Dichter. Schon Eichendorffs Krieg den Philistern! (1823) nimmt ›den Poetischen‹ den Boden unter den Füßen weg. Erst recht die nachromantischen Autoren. Sie verwerfen Schillers Anweisung an den Künstler, er solle das Urteil seiner Zeit verachten, und ebenso die andere, »dem Verstand, der hier einheimisch ist, die Sphäre des Wirklichen« zu überlassen.108 Zum Thema »Dichter und Wirklichkeit« bemerkt Friedrich Nietzsche (1879): »Die Muse des Dichters, der nicht in die Wirklichkeit v e r l i e b t ist, wird eben nicht die Wirklichkeit sein und

verantwortlich machen konnte (vgl. Herman Meyer, »Der Bildungsphilister«, in: ders., Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler 1963, S. 179 –201). 106 August Ludwig Follen, Freie Stimmen frischer Jugend, Jena: Kröker o. J. [1819], S. 28. 107 1834 zitiert ein Reisender auf seiner Reise durch Sachsen den alten Spruch »Wer von Leipzig kommt ohne Weib, / Von Wittenberg mit gesundem Leib, / Von Jena ungeschlagen, / Der hat von Glück zu sagen’« und setzt dazu: »Die letzten Zeilen würden aber auf die leipziger Studenten nicht passen, denn sie sind sanft und still, weshalb sie von andern gewöhnlich ›Musensöhne‹ genannt wer­ den« (Eduard Boas, Reiseblüthen aus der Oberwelt, Grimma: Gebhardt 1834, Bd. II, S. 111). 108 Schiller, »Ästhetische Erziehung des Menschen« (Anm. 85).

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ihm hohläugige und allzuzartknochichte Kinder gebären.«109 Rückblickend be­schreibt Julius Bab die Hinwendung zur Wirklichkeit, speziell zur politischen Wirklichkeit, als eine Kapitulation vor dem Philister: »Was macht denn zum Beispiel ein Dichter, wenn er ein Philister ist und für Philister schreibt?« Er schmiegt sich den Erwartungen des Phi­lis­ters an, denn dieser »braucht die Kunst, um sich das Leben behaglich zu machen. So weit sie diesem Zweck aber nicht dient, soll sie praktisch nützen – das heißt, die Poesie wird in die Schriftstellerei eingeordnet. Das ist die Form, die die deutsche Dichtkunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts anzunehmen beginnt. Auf diese Art und Weise be­ ginnt die Schriftstellerei schon im ›jungen Deutschland‹ sich an die Stelle der eigentlichen Poesie zu setzen; sie diskutiert Tagesfragen, um sich nützlich zu machen.«110 Und andererseits, um das Leben behaglich zu machen, reicht es, wenn die Poesie zum schmückenden Beiwerk wird, welches die eigentliche Tätigkeit des Philisters, nämlich Geld einzunehmen und Geld auszugeben, kulturell überhöht. Hierzu zitiert Bab von Wilhelm Busch, der »selbst ein ziemlich andachtsloser Philister war und nur im Gehirn die überphilistrische Gabe bösester Selbstverspottung hegte«,111 die Bilder­ge­ schichte »Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter« (1883): Wie wohl ist dem, der dann und wann  Sich etwas Schönes dichten kann! […] Im Durchschnitt ist man kummervoll  Und weiß nicht, was man machen soll. –   Nicht so der Dichter. Kaum mißfällt  Ihm diese altgebackne Welt,  So knetet er aus weicher Kleie  Für sich privatim eine neue  Und zieht als freier Musensohn  In die Poetendimension,  Die fünfte, da die vierte jetzt  Von Geistern ohnehin besetzt.112

109 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I und II, München u. a.: Deutscher Taschenbuch Verlag / de Gruyter 1999, (= Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2), S. 435 (»Vermischte Meinungen und Sprüche«, Nr. 135). 110 Julius Bab, Fortinbras oder Der Kampf des 19. Jahrhunderts mit dem Geiste der Romantik. Sechs Reden, Berlin: Bondi 1914, S. 119 f. Die fünfte Rede, »Der Philister im 19. Jahrhundert« (S. 91–124), verknüpft das Philister- mit dem Epigonenthema: Die diskursbestimmenden Figuren Hegel, Marx und Darwin waren Genies, die Hegelianer, Marxisten, Darwinisten sind allesamt Philister. 111 Bab, Fortinbras (Anm. 100), S. 119 f. 112 Wilhelm Busch, Gesamtausgabe in vier Bänden, hrsg. von Friedrich Bohne, Bd. 4, Wiesbaden: Vollmer 1971, S. 7 f.

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Auch der poetische Musensohn ist zum Zitat geworden, ›zartknochig‹, ein Luftikus, der mit humoristischem Lächeln auf seine Textreisen geschickt wird. Der Unterscheidung ›Musensohn / Philister‹ ist damit der eine Teil gleichsam da­von­geflattert. Dagegen hat sich im Lauf des 19. Jahrhunderts der andere Teil der Unter­scheidung immer kräftiger entwickelt  – dass es Philister gibt, wird niemand bezwei­feln, dass es Musensöhne gibt, wird niemand mehr glauben. Ohne sein Gegenüber zer­streut sich der Philister freilich in einer kaum fassbaren Diffusion. Zukunfts­ ab­gewandt, ja zukunftsfeindlich hindert er jede Verbesserung der Verhältnisse wie in Hoffmann von Fallerslebens siebenstrophigem »Lied vom deutschen Philister« (1848): Befohlener Maßen ist stets er bereit,  Zu stören, zu hemmen den Fortschritt der Zeit,  Zu hassen ein jegliches freies Gemüth  Und Alles was lebet, was grünet und blüht.113 Grünen und Blühen wäre hinreichend poetisch, aber in der Politik ist der Musensohn nicht anschlussfähig – gebraucht wird der Mann des Fortschritts, der Liberale oder Revolutionär. In seinem Brief an Arnold Ruge vom Mai 1843 erklärt Karl Marx den Philister zum »Herrn der Welt«, und benennt zugleich die politische Gegenkraft: »Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß die Feinde des Philistertums, mit einem Wort alle denkenden und alle leidenden Menschen zu einer Verständigung gelangt sind, wozu ihnen früher durchaus die Mittel fehlten«.114 Julius Bab schließlich erzeugt den Phi­lis­ter aus der Literatur, mit Hilfe der Etymologie von ›Student‹: »Student sein heißt ›Strebender‹ sein, einer, der sich bemüht, der ein Ziel vor Augen hat. Der Philister aber ist der Mensch, der nicht strebt, der zu jedem Augenblicke zu sagen bereit ist: verweile doch, du bist ja ausgezeichnet.«115 Faust-Leser wissen freilich, dass der Professor Faust sich strebend bemüht, doch der Student, der ihn zur Studienberatung aufsucht, ist einfach nur ratlos. Will man die Menge der Antiphilister des 19. Jahrhunderts in einer Figur zusammenfassen, so bleibt man ähnlich ohne Auskunft wie der Schüler in der Studierzimmer-Szene. Allenfalls könnten ›die schöpferischen Kräfte‹ dienen,116 die als 113 August Heinrich Hoffmann (gen.) von Fallersleben, Zwölf Zeitlieder, Braunschweig: Meinecke 1848, S. 6. 114 Karl Marx’ Brief an Arnold Ruge, datiert ›Köln, Mai 1843‹, wurde in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (1844) veröffentlicht (zit. n. Gerd Stein [Hrsg.], Philister – Kleinbürger – Spießer. Norma­ li­tät und Selbstbehauptung, Frankfurt am Main: Fischer 1985 [= Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4], S. 45 – 47). 115 Bab, Fortinbras (Anm. 110), S. 93. 116 Vgl. im Roman von Georg Freiherrn von Ompteda, Philister über dir! Das Leiden eines Künstlers, 4. Aufl., Berlin: Fontane & Co. 1899, das Schlusswort des Malers Sandtner: »Die Kraft ist wieder da! Die Kraft! O, die Schöpferkraft – das Beste, das Größte, das Schönste auf dieser Erde!« (S. 327). Der Maler stellt den Satz ›Ein Künstler sollte nicht heiraten‹ auf die Probe, fasst aber trotz des unglück-

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Quellen des Fortschritts – von Arbeit und Kapital bis zu Glaube, Liebe, Hoffnung – im bürgerlichen Zeitalter eine enorme Reichweite haben. Friedrich Nietzsche gelingt es freilich, in dieser Situation dem Philister und seinem Antipoden noch einmal Kontur zu geben  – rückgreifend auf die Konstellation der Wei­marer Klassik. In seiner großen Philisterschelte »David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller« konzentriert er sich auf die Bildung und buchstabiert jene Rück­ kopp­lung aus, die zu beschreiben Goethe und Schiller in den Xenien begannen: Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und be­zeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. Der Bildungs­ phi­lis­ter aber – dessen Typus zu studiren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhören jetzt zur leidigen Pflicht wird – unterscheidet sich von der all­ge­meinen Idee der Gattung ›Philister‹ durch Einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er gar nicht weiss, was der Philister und was sein Gegensatz ist: weshalb wir uns nicht wundern werden, wenn er meistens es feier­lich ver­schwört, Philister zu sein. […] Aber die systematische und zur Herrschaft ge­brach­te Philisterei ist deshalb, weil sie System hat, noch nicht Kultur und nicht einmal schlechte Kultur, sondern immer nur das Gegenstück derselben, nämlich dauerhaft begründete Barbarei.117 Es ist der von allen Musen verlassene Musensohn, der aber – so Nietzsches Zu­spit­ zung – selber nichts davon weiß, der ›Kulturmensch‹ ohne Kultur und ohne Selbsterkenntnis. Ihm gegenüber der Musensohn als der wahre ›Kulturmensch‹, in wel­ chem Künstler und Student wieder zusammengefunden haben: der Künstler, indem er Wer­ke und Kultur schafft, der Student, indem er Erkenntnis und Kultur sucht. Kultur folgt einem inneren Suchbefehl, vice versa: »es darf nicht mehr gesucht werden; das ist die Philisterlosung«.118 Die Philister hindern die anderen daran, Erneuerungsimpulse aus der Such-Kultur der Klassiker zu gewinnen: »Was urteilt aber unsere Philister­ lichen Ausgangs neuen Mut. Die Belebung der Philisterthematik um 1900 verdient Aufmerksamkeit. Einige Hinweise, so zur Diskussion in den Zeitschriften Kunstwart 21.2 (1907) und März 8.2 (1914), gibt Jens Flemming, »Intellektuelle, Philister, Gebildete. Selbst- und Fremdwahrnehmungen des deutschen Bürgertums um 1900«, in: Heinrich Mann-Jahrbuch 23 (2005), S. 7–26, hier S. 18 –21. 117 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller«, in: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870 –1873, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999 (= Sämtliche Werke [Anm. 109], Bd. 1), S. 157–242, hier S. 165 f. 118 Nietzsche, »David Strauss« (Anm. 117), S. 144 f. Dort auch die übrigen Zitate. Zum Kontext vgl. Dieter Arendt, »Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhunderts oder Der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation«, in: Orbis Litterarum 51 (2000), S. 81–102.

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bil­dung über diese Suchenden? Sie nimmt sie einfach als Findende und scheint zu ver­ges­sen, daß jene sich nur als Suchende fühlten«. Und zwar suchten sie, »was der Bil­dungs­philister zu besitzen wähnt: die echte, ursprüngliche deutsche Kultur«. Das heißt, Nietzsche setzt die deutsche Kultur da ein, wo nach Humboldts berühmter Maxi­me die Wissenschaft zu finden ist, in der Forderung, »die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unab­ lässig sie als solche zu suchen.«119 Der deutsche Geist sucht – der deutsche Philister ist immer schon am Ziel. Schon in der folgenden Unzeitgemäßen Betrachtung  : »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (1874) entwirft Nietzsche eine radikal neue Konstellation. Der »historisch-ästhetische Bildungsphilister«120 ist nicht mehr ein verblendeter ›Kul­ tur­mensch‹  – er ist das schlüssige Resultat eines widernatürlichen Bildungssystems. Ge­gen die »gebildeten ›Männer‹ und ›Greise‹ der Gegenwart« hilft kein suchender Geist mehr, sondern nur noch »Hohn und Hass« einer Jugend, die das Leben selber ver­tritt, und deswegen auch »keinen Begriff, kein Parteiwort aus den umlaufenden Wort- und Begriffsmünzen der Gegenwart zur Bezeichnung ihres Wesens gebrau­ chen kann«.121 Keine Größe aus dem Bildungsbereich, kein Gott und kein Mensch, kann hel­fen – »nur ihre eigne Jugend : entfesselt diese und ihr werdet mit ihr das Le­ ben be­freit haben.«122 Das junge, volle, entfesselte Leben kämpft gegen die Unterdrückung durch Bildung, in Schule und Universität – in diesem Kulturkampf hat der akademisch-poetische Musensohn nichts mehr verloren. Sein Grünen und Blühen, all das poesievolle Rankenwerk ist abgefallen, zum Vorschein kommt der pure élan vital und sprudelt als ein empörter Bio-Mythos.123 Nur das Feindbild übersteht den Wechsel. Und ja, der Philister kämpft seinerseits. »Nichts haßt der Philister mehr als die ›Träume seiner Jugend‹«, schrieb der junge Walter Benjamin – »die Jugend erinnert

119 Wilhelm von Humboldt, »Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« [um 1810], in: ders., Werke in fünf Bänden, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 4: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 257. 120 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: ders., Die Geburt der Tragödie (Anm. 117), S. 243 –334, hier S. 326. 121 Nietzsche »Vom Nutzen und Nachteil der Historie« (Anm. 120), S. 331. 122 Nietzsche »Vom Nutzen und Nachteil der Historie« (Anm. 120), S. 329. 123 Auch die Jugend um 1900 ist mehr als Jugend. Die Münchener illustrierte Wochenschrift Jugend (1896, Bd. 1, Nr. 1–2, S. 4 f.) demonstriert in der programmatischen Einleitung »Jugend! Jugend!« die Übertragbarkeit für jedes Geschlecht, für jedes Lebensalter: »Jugend ist Leben, Jugend ist Farbe, ist Form und Licht. […] Das ist Jugend: in jeden neuen Lebensabschnitt das Beste vom Jüngstvergangenen mithinübernehmen« – eine metaphorische Antwort auf Goethes Junktim von Jugend und Kreativität (vgl. Anm. 99). Es versteht sich, dass die stilbildende Publikation auch »manchen Spott auf die Herrn Philister« ankündigt.

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ihn an das ›Leben des Geistes‹, darum bekämpft er sie.«124 So hat sich der Kampfplatz verschoben: von dem doppelten Gemeinwesen der alten Universitätsstädte hin zum modernen Bildungssystem. Wenn man die Schule, wie Gustav Wyneken 1914 es ausdrückt, als »Veralterungsapparat« erfährt, wo Kinder »in Lehrgefängnisse eingesperrt werden, um für die komplizierteren Bedingungen der Arbeit und des wirtschaftlichen Kampfes zurechtgemacht zu werden«, dann braucht es den Systemwechsel, damit sich die Gesellschaft verbessern kann: »Eine Jugend, die man wirklich jung sein läßt, ist das große Heilmittel der Gesellschaft gegen Konventionalismus, Philisterei und Ängstlichkeit.«125 Bis zum Ende des bürgerlichen Zeitalters verstopft der Philister die Quellen des Fortschritts; bis zum Ende des bürgerlichen Zeitalters steht er am Pranger. Seitdem aber werden Kreativität und Fortschritt anders organisiert und besprochen, sagen wir, eher im Sinne des brain-storming oder von Schumpeters creative destruction.

Und so fort … Musensohn und Philister bringen mit ihrer Unterscheidung etwas Kriegförmiges in die Geschichte des Gesagten,126 und das ausgerechnet als zarte, recht labile MetaphernKonstellation: labil zum einen, weil der Musensohn mit seiner poetisch-akademischen Zwienatur zwischen Kunst und Wissenschaft hin und her wechselt und von der re­la­ ti­ven Nähe oder Entfernung dieser beiden Diskursfelder geprägt wird; labil zum an­ de­ren, weil sich die Unterscheidung im Lauf von zwei Jahrhunderten (1700 –1900) erheblich transformiert. Die erste Art der Transformation wäre die Zäsur, sie ist auf das Ende des 18. Jahrhunderts zu datieren. Da wird die exklusive Opposition ›literati / illiterati‹, der Ge­ gen­satz zwischen Studierenden und Bürgern, zu einer inklusiven Opposition inner­ halb der Schicht der Gebildeten: nicht ›Gebildete vs. Ungebildete‹, sondern ›gebildete 124 Walter Benjamin, »›Erfahrung‹« [publiziert in Der Anfang, Heft 6, Oktober 1913], in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 54 –56. Zum Kontext vgl. Ulrich Herrmann, »Die Jugendkultur­ bewe­gung. Der Kampf um die höhere Schule«, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz und Frank Trommler (Hrsg.), »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 224 – 44, und im selben Band Klaus Laermann, »Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich«, S. 360 –381. – Siehe hierzu auch den Beitrag von ­Kyung-Ho Cha in diesem Band. 125 Alle drei Zitate: Gustav Wyneken, Schule und Jugendkultur, Jena: Diederichs 1914, S. 34, 37 u. 39. 126 Michel Foucault, »Antwort auf eine Frage« [1968], übers. von Hermann Kocyba, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 1: 1954 –1969, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 859 – 886, hier S. 875. Vgl. auch Foucaults Vorlesung vom 14. Januar 1976: »Historisches Wissen der Kämpfe und Macht«, übers. von Elke Wehr, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 55 –74.

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Gebildete vs. ungebildete Gebildete‹. Der Übergang von der exklusiven Opposition zur inklusiven Opposition ist ein Ereignis, aber das Ereignis ist weniger deutlich zu bezeichnen als das Davor (ständische Gesellschaft) und das Danach (moderne Leistungsgesellschaft).127 In dem Bruch dazwischen könnte man unterschiedliche Ereignisse rekonstruieren, etwa das Ende der Schönen Wissenschaften oder die Erfindung der Jugend oder die Neue Konzeption des Lebens und andere. Für meine Darstellung habe ich auf ein Ereignis verwiesen, das mehr als schattenhaft geblieben ist: die Bildungsrevolution. Doch deren Spuren und Auswirkungen lassen sich vergleichsweise mühelos auflesen. Vor allem erlaubt der Hinblick auf die Bildungsrevolution, auch wenn sie selber gar nicht zu sehen wäre, andeutungsweise die Verknüpfung mit Institutionen, Gesetzen und Denkschriften, also den Dispositiven der Macht. Der Unterschied etwa zwischen den Eingangsprüfungen in der ständischen Gesellschaft und den Abschlussprüfungen in der modernen Leistungsgesellschaft ist fundamental für alle Ausbildung und alles Reden über Ausbildung.128 Schwieriger sind die anderen Transformationen zu bestimmen, die damit zusam­ menhängen, dass ›das Leben‹ in die Diskurse eingreift. Wenn die akademische Aus­ bil­dung aufhört, die souveräne Ausnahme darzustellen und zu einer Vorbereitung für später, also Moment des Lebenslaufs wird, so überlagert die biologische Unter­ schei­dung von Jung und Alt jene frühere soziale Unterscheidung, die ja nicht ver­ schwin­det. In den akademischen Subkulturen des 19. Jahrhunderts ist ›Philister‹ keine Metapher mehr, sondern eine Gruppenbezeichnung geworden, ›Musensohn‹ dagegen noch weniger als eine Metapher, nämlich nur noch eine Redensart. Der ›Musensohn‹ ist defundiert, der ›Philister‹ konsolidiert. Daneben blüht und gedeiht die Spott­figur des Philisters, vor allem in Kontexten, die sich auf Fortschritt, Innovation oder Erneuerung beziehen. Wenn schließlich ›das Leben‹ als jugendliche Bio-Macht ins Feld geführt wird, dann besetzt es die Stelle, die vorher der Musensohn innegehabt hat­te. An den Platz des Musensohns tritt Wedekinds Vermummter Herr oder etwas Ähnliches, ›Philister vs. X‹. Nicht die Unterscheidung selber, wie im Bruch um 1800, sondern der eine Term unterliegt dem Wandel, einer schleichenden Aushöhlung und einer abrupten Ersetzung. Die Unterscheidung von Musensohn und Philister ist, wen wundert’s, relevant für eine soziale Praxis, die Praxis des Unterscheidens. Sie strukturiert Äußerungen und Aus­sagen, und diese wiederum modellieren das Verhalten. Nicht immer durch Pro­ gramme, manchmal bleibt es bei Selbstaussagen und Selbstdarstellungen (wie in Ge­

127 Um Davor und Danach baut bekanntlich Arthur C. Danto seine Strukturtheorie der histo­ri­ schen Erklärung, die zugleich eine historische Erzählung ist (vgl. Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, übers. von Jürgen Behrens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974). 128 Vgl. Heinrich Bosse, »Die Erfindung der Reifeprüfung«, in: Roland Borgards, Almuth Hammer und Christiane Holm (Hrsg.), Kalender kleiner Innovationen. 50 Anfänge einer Moderne zwischen 1755 und 1856. Für Günter Oesterle, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 97–107.

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dich­ten), manchmal gibt es suggestive Überredung (wie im Werther), manchmal regiert der Imperativ (wie bei vielen Bildungsanweisungen), die Drohung oder die Warnung, und manchmal wird einfach nur gehöhnt und geätzt. In seiner Deutschen Studentensprache (1928) bemerkte Alfred Götze zur Wortgeschichte von ›Philister‹: »Das Wort bedeutet geradezu eine Bereicherung des deutschen Denkens, seit es Goethe 1774 ins Geistige und Sittliche gewendet […] hat.«129 Doch Goethe hat, genauer gesagt, die Animositäten zwischen Philistern und Nicht-Philistern in das deutsche Redehandeln eingeführt. Ein Jahr vor dem Werther bei der Übersendung des Götz von Berlichingen an Johann Heinrich Merck laut und deutlich: Allen denen, die am Götz Anstoß neh­ men könnten, Sey Troz und Hohn gesprochen hier  Und Hass und Aerger für und für.  Weisen wir so diesen Philistern  Critickastern und ihren Geschwistern  Wohl ein jeder aus seinem Haus  Seinen Arsch zum Fenster hinaus.130 Trotz, Hohn, Hass und Ärger gegen die, die nicht so denken wie »wir« – das ist der cantus firmus in einer Feindschaft, die dem diffusen Nicht-Wir vor allem die Achtung ent­zieht. Verachtung bleibt die Konstante – von der Vormoderne bis nah an die Ge­ gen­wart. Eine Variable freilich ergibt sich beim Übergang vom Stand zur Schicht. Im 18. Jahrhundert werden Lizenzen und Befugnisse eines Kollektivs thematisiert, zu einer bestimmten Zeit (Studienzeit), an einem bestimmten Ort (Studienort), allenfalls noch in den Ferien – oder poetologische Fragen, einschließlich der, ob man für Geld dichtet. Im 19. Jahrhundert geht es um frei wählbare Verhaltensweisen oder eher um Entscheidungen, und zwar für die Dauer eines Lebens, jedenfalls um etwas, das ganz persönlich verantwortet werden muss, weil es sich darauf auswirkt, wie Kultur gelebt wird. ›Kultur vs. Barbarei‹ ist der Hintergrund, vor dem die Gegensätze ausgetragen werden und Gestalt gewinnen. Am Ende des bürgerlichen Zeitalters kann es geschehen, dass gerade die Gestalt nicht mehr aus einem Guss ist, sondern kompakt in ihrem Widerspruch. Als Wede­ kinds Frühlings Erwachen (1891) schließlich – 15 Jahre später – von Max Reinhardt an den Berliner Kammerspielen uraufgeführt werden sollte, beobachtete Hermann Bahr den Autor bei den Proben und war befremdet: erstens, weil Wedekind keine Emp­fin­dung für das Schauspielerische habe, und zweitens, »weil ihm als Zuschauer

129 Alfred Götze, Deutsche Studentensprache, Berlin: Trübner 1928, S. 8. 130 Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, Bd. 3: September 1772 – Dezember 1773, Berlin: de Gruyter 1966, S. 28.

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alle Verwegenheiten des Dichters, die eigentlichen Wedekindsachen, direkt peinlich sind, er findet sie ›indiscret‹ und tut alles, um sie durch die Darstellung ab­zu­schwä­ chen. Als Zuschauer ist er der größte Philister, der diesen Dichter verabscheuen würde, wenn er es nicht zufällig selbst wäre.« Und so noch einmal, auch am Tage darauf habe Wedekind alle konfus gemacht, »entweder hat er Angst vor den gefährlichen Stel­len und will sie deswegen abschwächen, oder, was mir wahrscheinlicher ist und zum grundphiliströsen Wedekind stimmt, er findet als Mensch abscheulich, was er als Dichter schafft.«131 Dichter und Mensch, Poet und Philister in einer Person, ein unbemerktes Doppeldasein, kritisch, sehr kritisch von außen beobachtet. Gottfried Benn hat später solch ein Doppelleben von innen beobachtet und re­ gel­recht zum Programm erhoben: »Unser Kulturkreis begann mit Doppelgestalten: Sphinxen, Zentauren, hundsköpfigen Göttern und befindet sich mit uns in einer Kul­ mination von Doppelleben: wir denken etwas anderes als wir sind«.132 Bei ihm wird mitten im 20.  Jahrhundert der Musensohn zum Double eines gewöhnlichen Men­ schen, welcher gerade Schlager im Radio hört – eine poetisch-musikalische Er­schei­ nung im Vorüberziehen. 1955, ein Jahr vor seinem Tod, publizierte Gottfried Benn in der Berliner Neuen Zeitung das Gedicht »Impromptu«: Im Radio sang einer  ›In der Drosselgaß zu Rüdesheim‹ –   ich war erschlagen: Drosseln, das ist doch wohl ein Frühlingstag,  wer weiß, was über die Mauern hing,  quoll, zwitscherte, sicher Hellgrünes –   das Herz stieg auf, noch nicht das alte jetzt  das junge noch, nach einem Wandertag,  berauscht und müde. Auch wer nie Wein trank,  hier gab man Goldenes an seinen Gaumen,  schlug sich den Staub vom Rock,  dann auf ein Lager  den Rucksack unter den Kopf,  die beide nichts enthielten  als für des nächsten Tags Gelegenheiten.

131 Hermann Bahr, Tagebücher Skizzenbücher Notizhefte, hrsg. von Moritz Csáky, Bd. 5, bearb. von Kurt Ifkovits und Lukas Mayerhofer, Wien u. a.: Böhlau 2003, Einträge unter dem 15.11.1906, S. 146 f. (Danke, liebe Muse). 132 Gottfried Benn, Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen, Wiesbaden: Limes 1950, S. 165.

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Ein Paar Schuhe. Ein Musensohn.  Damals war Liliencron mein Gott,  ich schrieb ihm eine Ansichtskarte.133 Zwischen der Schnulze aus dem Radio und der Ansichtspostkarte taucht »Ein Musensohn« auf, unbeschädigt, ja strahlend durch die trivialen Medien. Einerseits Student auf einer Rheinwanderung, wohl in den Semesterferien, andererseits ein angehender Dichter, der denjenigen Dichter verehrt, der ›prosaische Gedichte‹ im Parlando schrieb, wie der Autor diesen Text.134 Das Schunkellied des Wein, Weib und Gesang-Tourismus135 wirkt wie ein Schock, ein Stichwort springt heraus, an das sich Assoziationen heften, möglichst unordentlich in Syntax und Semantik, dann steigt (nicht: geht) das Herz auf, dann steigen Jugenderinnerungen auf. Die Ruhe nach einem Wandertag – vor dem nächsten Wandertag  – ein paradoxes Weintrinken als Nicht-Wein-Trinker und schon wieder die unordentliche Syntax, die sich einen Satz erlaubt, der so zu­ kunfts­offen ist wie Kopf und Rucksack, »die beide nichts enthielten« – als was? Kein Objekt, nur eine Leerstelle für die Zufälle oder Gelegenheiten des nächsten Tages. Dann so etwas wie eine Inventur in lakonischen Parallelismen. Schließlich wird eine Person kenntlich / unkenntlich, ein Musensohn ohne geflügelte Sohlen, einer, der zu seinem Gott hinaufgrüßt (in den Olymp?), aber postalisch. Einer, der berauscht ist, aber schon von der Wanderung, unabhängig vom angesagten Rauschmittel. Einer, der sich ergriffen erinnert. Die Situation am Radio hat einen Anfang, aber kein Ende, die Situation auf der Wanderung hat keinen Anfang, aber ein Ende, so blenden die beiden Situationen, die beiden »ich« übereinander zu einer einzigen Geschichte, die mit Anfang, Mitte und Ende im Präteritum erzählt wird und vorgibt, aus dem Stegreif zu entstehen, als musikalisch-poetische Improvisation wie am Anfang der Dichtkunst.136

133 Gottfried Benn, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von Gerhard Schuster, Bd. 1: Gedichte 1, Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 290. Autobiographische Hinweise fehlen; Benn war extrem zurückhaltend mit Auskünften über die zwei Semester, die er 1903  /  04 in Marburg studierte. 134 Zum Verhältnis zwischen Benn und Liliencron gibt es einige rhapsodische Passagen bei Werner Rübe, Provoziertes Leben. Gottfried Benn, Stuttgart: Klett-Cotta 1993, S. 61–76. Zeitgenössische Stim­ men sprachen von den »freigebildeten Versen« des Philisterschrecks, so Paul Remer, Liliencron, Berlin / Leipzig: Schuster & Loeffler o. J. [1904] (Die Dichtung, Bd. 4), S. 71 u. 43: »Das war eine Lust nach Liliencrons Sinn, an der Spitze der Jugend auf fliegendem Ross in den Feind zu jagen: ›Wider die Philister und Krämer!‹ ging das Feldgeschrei«. 135 Geschrieben in den 1880er Jahren ganz offensichtlich zu Werbezwecken von Otto Hausmann (1837–1916). Die Studenten des Rheinischen Technikums in Bingen (gegründet 1897) wurden sonn­ tags im »Drosselhof« freigehalten, um durch ihr fröhliches Singen Gäste anzulocken. 136 Es haben die für die Mimesis besonders Begabten »von den Anfängen an allmählich Fortschritte gemacht und so aus den Improvisationen die Dichtung hervorgebracht« (Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch, hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982, S. 13, Kap. 4).

100 Heute, am 5. Februar 2009, meldet die Süddeutsche Zeitung in einem Bericht aus Washington auf Seite 4: »Zwar werden wahrscheinlich auch unter Obama zu viele Phi­lis­ter die Tempel von Washington bevölkern. Aber wenigstens kann, ja muss der 44. Präsident verhindern, dass seine Oberpriester Wasser predigen und selbst Wein trinken.« Auch die Philister, scheint es, sind nicht mehr, was sie einmal waren.

Maren Lehmann

Philiströse Differenz Die Form des Individuums

»O wecke mich nicht, Leben«, beschwört Clemens Brentano sein Schicksal, weil ihm klar ist, dass der Weckruf »Philister über Dir!« lauten und bedeuten würde.1 Er ge­rie­ te aus dem Schlaf in einen Albtraum, denn die ihn da erwarten, »begreifen nur vier­ eckichte Sachen« und haben deswegen die Welt »in ein rein gewürfeltes Damenbrett« verwandelt, »gestreift«, »gewürfelt«, »literier[t]«, »numerier[t]«, »ins Kleine reduzier[t]«, »alles weiß und gehörig paginiert«; er bleibt also besser »ruhig liegen« und versucht allen­falls vorsichtig, sich »steif nach dem Strich« umzusehen, der ihn bezeichnet.2 Der Moment des Erwachens ist die Frist, die ihm bleibt. Er »müsste alles sein«,3 befindet aber »in [seinem] leeren Kopfe sich selbst vis-à-vis [seines] eigenen Nichts«.4 Diese Oszillation ist der »Strick«, der ihn bindet;5 der registrierte Platz verkörpert seine Individualität und macht ihn – solange Delila nicht ruft – zum »Dividuum par excellence«.6

1 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: ders., Werke, hrsg. von Friedhelm Kemp, Bd. 2, 3., durchges. Aufl., München: Hanser 1980, S. 959 –1016, hier S. 1003. 2 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 990, 999 –1001. 3 Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: ders., Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner 1971, S. 207–224, hier S. 221. Zu Marx vgl. d. A., »Revolution als Beruf« (in diesem Band). 4 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 1002. 5 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 1002. 6 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 1984, S. 625. »Jeder vergesse sich selbst an dieser deutschen und fröhlichen Tafel und be­ den­ke das Ganze« erst einmal in Ruhe, empfiehlt daher Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 1002. – Die Komplementarität der Identifikationen von Frau und Register einerseits und Mann und Philister andererseits bemerkt ausdrücklich Friedrich Kluge, »Philister«, in: ders., Wortforschung und Wortgeschichte. Aufsätze zum deutschen Sprachschatz, Leipzig: Quelle & Meyer 1912, S. 20 – 44, hier S. 21. Und auch die Schautafel, die Brentano seiner Abhandlung beifügt, stellt die Frau so vor: als Register

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Der folgende Beitrag diskutiert die Philistersemantik als Form der Problema­ti­sie­ rung von Individualität angesichts der Ausdifferenzierung sowohl einer über Bestimmt­ heit als auch einer über Unbestimmtheit laufenden Individualisierungschance. Zum Zeitpunkt ihres ersten Auftretens um 1700 ist diese duplizierte Chance derart un­ wahr­schein­lich, dass es nicht gelingt, beide Möglichkeiten zu verbinden – es sei denn da­durch, dass beide auseinanderzuhalten versucht werden und dadurch immerhin in der Form dieses Versuchs selbst verbunden sind. Ein solcher Versuch ist die Phi­lis­ter­ semantik. Sie bezeichnet die Seite der Bestimmtheit im Rahmen formaler und familia­ ler Ordnungen als philisterhaft und macht dadurch die andere Seite dieser Bestimmtheit als Unbestimmtheit bestimmbar. Sowohl der Philister als auch der Nichtphilister können dadurch als Verkörperungen von Individualität in der Form der Gesellschaft vorgestellt werden.

Bekehrung im Register: Individualität aus dem Nichts Nach Friedrich Kluge können die ersten Auftritte des Philisters ›in der Geschichte‹ auf die Jahre um 1690 datiert werden, auf eine Zeit intensivster Versuche, den In­spi­ra­ tionsglauben des radikalen Pietismus gegen die lutherische Orthodoxie zu behaup­ten7 (was sich wesentlich in den Universitätsstädten abgespielt hat). Wir haben es (wenn Kluge zu folgen ist) mit einer Begleitsemantik der als »annus climactericus« erwarteten Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zu tun – dem »Wunder-« und »Wendejahr« der »Kirchenrevolution« von einer Konfessionskirche zu einer »Kirche des Geistes«.8 Für diese Interpretation spricht jedoch weniger die seinerzeit selbstverständliche In­an­ spruch­nahme biblischer Erzählungen zur Plausibilisierung und Politisierung alltäg­li­ cher Ereignisse wie etwa der Raufereien von Studenten mit Stadtbürgern oder Stadtwachen, die Kluges Argumentation heranzieht.9 Eher ist dieser Interpretation gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit zu misstrauen. Viel näher liegt die Annahme, dass es gerade eine Nichtselbstverständlichkeit ist, eine Unwahrscheinlichkeit, die unter dem Namen des Philisters plausibilisiert wird; dass die Philistersemantik also eine so­zia­le Umbruchsituation mittels bewährter Mittel kommentiert und sie dadurch in einen Handlungsspielraum übersetzt. Die alttestamentlichen Erzählungen von Sim­son und David mögen sich wegen ihres aktivistischen Stils einerseits und wegen ihres Hel­den­ pathos andererseits besonders für dergleichen geeignet haben, und es mag als Vorvon aus der Unterscheidung von Dienst- und Schlafmütze geborenen und ungeborenen Philistern. – Die Abbildung ist abgedruckt in dem Beitrag von Stefan Nienhaus in diesem Band. 7 Kluge, »Philister« (Anm. 6), S. 20 f., 26 –29. 8 Hans Schneider, »Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert«, in: Martin Brecht (Hrsg.), Ge­ schich­te des Pietismus 1. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göt­ tin­gen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 391– 437, hier S. 406, 417 f., 420. 9 Vgl. Kluge, »Philister« (Anm. 6), S. 21.

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teil erschienen sein, dass sie den gesuchten Handlungsspielraum als einen kämp­fe­ risch – das heißt: unerbittlich – auszutragenden Konflikt zu verstehen zwingen. Denn sol­che Konflikte engagieren jeden, der in ihre Nähe gerät: Die niemanden orien­tie­ rende Unwahrscheinlichkeit des Umbruchs wird zur jedermann orientierenden schis­ mo­gene­tischen Programm- und Rollenkomplementarität, und jeder mag sich als Held positioniert sehen, »niemand« (mit Niklas Luhmann) »nicht«.10 Philisterhaft, um das vorwegzunehmen, ist dann jedes Bedürfnis nach solcher Festlegung; jene eifersüchtige Gemütsruhe, die Luhmann unter dem Stichwort der »Inklusion« als Inbegriff moderner In­di­vidualität vorgeführt hat (es handele sich um ein Desiderat, den billigen Anspruch da­rauf, dass die Gesellschaft »Personen vorsieht und ihnen Plätze zuweist, in deren Rah­men sie erwartungskomplementär handeln können: etwas romantisch könnte man auch sagen: sich als Individuen heimisch fühlen können« – und unter der Hand auch darauf, dass die beanspruchten Reziprozitäten domestizierbar, im »Exklusionsbereich« also unterbrochen sind11). Die Forschungsfrage besteht aber gerade deshalb nicht in der Prüfung der sachlichen Parallelen zwischen historisch aufweisbarem Konflikt und begleitender Semantik (es wird sich vermutlich immer zeigen, dass die herangezogene Geschichte die Programmatik, als die sie in Anspruch genommen wird, gar nicht hergibt), sondern in der Problematisierung der Umbruchsituation selbst. Ich werde versuchen, das in aller Kürze am Beispiel der Situation in Halle um 1700 darzustellen, die durch die Gleichzeitigkeit von pietistischer Anstaltsgründung (Halle’sches Waisenhaus, 1695) und frühaufklärerischer Universitätsgründung (Fridericiana, 1694) und die Auseinandersetzungen zwischen dem Waisenhausgründer und Philologieprofessor August Hermann Francke einerseits und dem Juristen Christian Thomasius sowie dem Mathematiker und Philosophen Christian Wolff andererseits gekennzeichnet war. Die entscheidende Unwahrscheinlichkeit besteht in der Übersetzung des gesell­ schaft­lichen ›annus climactericus‹ in eine »markierte Wende«,12 für August Hermann Francke ein Ereignis, das nicht mehr prospektiv ausgeschmückt, sondern retrospektiv datiert wird und das ›individuell‹ nur deshalb ist, weil es eben nicht als bloße Änderung des Bewusstseinszustandes gedacht wird, sondern als kommunikatives Ereignis. Es ist ein Datum, über das kommuniziert und das regulär ausgearbeitet werden kann, ohne selbst in Frage gestellt werden zu müssen oder auch nur zu können, handelt es sich doch um eine mit Blick auf ihre Anschlusschancen reine, perfekt ordinate Form: eine von allem dunkel Unter- und Hintergründigen und damit von allem Inordinaten (d. i. 10 Niklas Luhmann, »Grundwerte als Zivilreligion. Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas«, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, 3. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 293 –308, hier S. 298. 11 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 621 u. 623; philisterhaft ist also, mit Luhmann, »Grundwerte« (Anm. 10), S. 293, die Differenz von »Freiheit und Betreutwerden«. 12 Martin Brecht, »August Hermann Francke und der Hallische Pietismus«, in: ders. (Hrsg.), Ge­ schich­te des Pietismus 1 (Anm. 8), S. 440 –539, hier S. 444.

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allem ›Privaten‹) abstrahierende formale Umbruchsituation, einen Bruch, der Unruhe birgt und Unruhe provoziert, selbst aber ein Ereignis der Ruhe ist.13 Die Brücken­ funk­tion, die der Begriff der Kommunikation für diesen Umbruch und damit für die Differenz von Jenseitigkeit und Diesseitigkeit, Kontemplation und Aktion und schließ­lich auch von ›Gottesdienst‹ und ›Politik‹ hat,14 muss seinerzeit erheblich ein­ sich­ti­ger gewesen sein, als sie es heute ist; sie erlaubt es, die genannten Differen­ zen ge­nau in dem Moment als »aktuos[en]« »habitus practicus« zu reformulieren,15 da sie alle inordinat-privatistisch verstanden werden. Der Kommunikationsbegriff kann also als Ordnungsbegriff der Welt / Gott-Unterscheidung memoriert und zugleich genutzt werden, um diese Unterscheidung auf ihrer weltlichen Seite in sich selbst wiedereinzuführen. Kommunikation war gerade aus dem religiösen Kontext heraus ohne Weiteres plausibel zu machen als handelnd zu suchendes und doch nur zu erlebendes Geschehen,16 das ausschließlich in dem Moment besteht, da es sich ereignet, und aus diesem Moment alle weiteren Möglichkeiten zu errechnen erlaubt, also alles Mögliche schlechthin einschließt. Der Begriff der Bekehrung meint diese Re­formulierung; das Datum plausibilisiert ihn; das »barocke Formular« des Registers stellt ihn »vor Augen«.17 Die »Ordnung Gottes« wird durch Kommunikation (genannt: die »Bekehrung des Menschen«)18 als Sozialform eingerichtet – in einem einzigen registrativen Akt, dessen nüchterne Formalität in einer bis heute üblichen Art und Weise als zugleich schmerzliche und tröstliche Erfahrung inszeniert wird. Das Datum ist die Bekehrung, da es sie markiert: als Differenz von »Mortifikation« und

13 Ausgearbeitet ist dieses Argument in Maren Lehmann, Mit Individualität rechnen: Karriere als Organisationsproblem, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011. 14 Vgl. dazu, am Beispiel der Auseinandersetzungen zwischen Christian Thomasius und August Hermann Francke, Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971, insb. S. 352 –387 (zum Verständnis von ›Gottesdienst‹ als Selbstkonzept, als ›Religiosität‹, vgl. Anm. 26, S. 465, zu S. 358). 15 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 466; »Herrn M. August Hermann Franckens […] Lebenslauff« [1694], in: Markus Matthias (Hrsg.), Lebensläufe August Hermann Franckes, Leip­ zig: Evangelische Verlagsanstalt 1999, S. 5 –32, hier S. 12 (= Kleine Texte des Pietismus 2). 16 Die Stelle, die bei Francke das Bekehrungsdatum besetzt, nimmt etwa bei Luhmann nicht ohne Grund die Information ein. »Information […][…] wird erlebt, nicht erhandelt«  – mittels einer Rekursion der Unterscheidung von Information und Mitteilung; weshalb Luhmanns Auffassung des Verstehens (und der Erfahrung) als des Inbegriffs dieser Rekursion dem pietistischen Begriff des ›habitus practicus‹ verwandt sein dürfte (Luhmann, Soziale Systeme [Anm. 6], S. 104). 17 Vgl. Rüdiger Campe, »Barocke Formulare«, in: Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hrsg.), Eu­ ropa. Kultur der Sekretäre, Zürich / Berlin: diaphanes 2003, S. 79 – 96 (mit Verweis auf Jack Goodys Begriff der »domestication of the savage mind«), und ders., Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen: Wallstein 2002, S. 241 f. 18 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 463.

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»Vivifikation«,19 als »›Durchbruch‹«.20 Es verkörpert den gesuchten religiösen Geist, indem es ihn in einer genauen Entsprechung von Delilas »fatale[r] Schere«21 durch einen existentiellen Schnitt bindet. Zeitgenössisch unmittelbar aufgefallen ist das da­ ran, dass das registrierte Datum die Radikalität des frühen Pietismus zivilisiert, indem es dessen »unnüchterne Geistschwärmerei«22 durch »›Möncherei‹«23 und jede ek­sta­ tische »Kommunikation über Kommunikation« (wie die ›inspirierten‹ Kreise des Frühpietismus sie pflegten, um weniger den Zuspruch Gottes als das Ergriffensein durch diesen Zuspruch vor Augen zu führen – man lässt, gewissermaßen pfingstlerisch, die eigene Seele durch den interaktiven Raum wehen und inszeniert eine stürmische Interaktionssituation, vor der es kein Entrinnen gibt und die genau deswegen fortwährend über sich hinaus gehen muss) durch asketische Kommunikation über »in Form von In­di­vi­duen rekrutierte Arbeit«,24 über Pflicht und Gehorsam ersetzt. Als Schauplatz dieser prekären Substitution erscheint die Anstalt, die das Bekehrungsdatum in der Ziffern­zählung ihrer Matrikel erkennt und die Registratur zum Individualitätsmedium macht, das jeden Lebenslauf auf Null setzt (Francke nennt es ›den Eigenwillen brechen‹,25 um dadurch »seine Nichtigkeit und die der Welt« zu erkennen26), um ihn aus diesem Nichts dann neu entwerfen zu können.27 Ganz so, wie Friedrich Kluge vermutet, wusste seinerzeit jeder, dass auf Delilas Schnitt Simsons Mühle folgte; Franckes Trick konnte also kaum Begeisterung aus­ lö­sen. Seine Anstalt wird von ihren Beobachtern an der Universität als »Wüste einer ehrgeizigen und pharisäischen Absonderung« betrachtet, die die »Kinder Gottes« von den »übrige[n] Menschen« eitel scheidet28 und sie doch nur »›zu Mönchen, das ist zu groben, ungezogenen, höchst melancholischen, phantastischen, eigensinnigen, wider­spenstigen, unerträglichen und hämischen Leuten‹« formen wird29 – eine Einschätzung, der Francke und seine Protagonisten selbst alle Ehre gemacht haben.30 Der 19 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 463. 20 Francke zit. Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 443 u. 445. 21 Brentano,»Philister« (Anm. 1), S. 979. 22 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 472. 23 Thomasius zit. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 14), S. 353. 24 Luhmann, Soziale Systeme (Anm. 6), S. 199; ders., »Organisation«, in: Joachim Ritter und Karl­ fried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel / Stuttgart: Klett-Cotta 1984, Sp. 1326 –1328, hier Sp. 1327. 25 Vgl. Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 490 f. 26 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 464. 27 Vgl. dazu anschaulich Juliane Jacobi und Thomas Müller-Bahlke, »Man hatte von ihm gute Hoffnung …«. Das Waisenalbum der Franckeschen Stiftungen 1695 –1749, Halle / Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen im Niemeyer-Verlag 1998. 28 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 450, vgl. ausführlich S. 464 – 467. 29 Thomasius zit. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 14), S. 378 u. 381. 30 Vgl. dazu neben Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 14), S. 352 – 4 41, nur Albrecht Beutel, »Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt

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Eindruck, dass der pietistische ›habitus practicus‹ die ständische Privatpolitik per­ver­ tiert, weil er alle Freiheiten nimmt, die diese gewährt,31 war unvermeidlich. Aber der Schauplatz dieser alles ändernden ›markierten Wende‹ ist dann gerade nicht die Anstalt selbst (nicht die Mühle), sondern ihre Registratur (der Schnitt). Darin liegt die problemgeschichtlich interessante Unwahrscheinlichkeit. Denn eine derart als voll­ kom­men enthaltsam konzipierte Individualität war ohne Beispiel. Die Bekehrung ist »perfect[ly] continen[t]«;32 sie enthält alle Möglichkeiten ihrer selbst in sich selbst. Wie unwahrscheinlich das war, zeigt nichts besser als die Blindheit ihres eigenen Erfinders für die Inklusivität dieser Exklusivität, für (in heutiger Terminologie) die Medialität die­ser Form. Es könne, heißt es, keinerlei Indifferenz geben, kein Adiaphoron, kein De­corum, keine »Konvention des Schicklichen«, keinen »Mittelweg einer gesellschaftlichen Kultiviertheit«,33 nichts  – auch keinen Kompromiss und im Sinne der Zeit dem­nach keine Politik: weil die Differenz ein Schnitt sei, keine zwischen zwei Polen auf­ge­spannte Dimension und kein Raum. »Wie selbstverständlich« läuft daher das Leben der Bekehrten auf fortgesetzte Konflikte hinaus.34 Der Takt der Zeitgenossen ist umso erstaunlicher (er könnte bedeuten, dass die ›Wende‹ von ihrem Publikum besser verstanden wurde als von ihren Regisseuren). Erst Franckes Selbstnobilitierung in die­ sen Konflikten (jeder Streit, jede Auseinandersetzung, selbst jedes noch so geringe Gezänk sei »Gottlob! ein Schritt zur Ewigkeit«35 und daher nicht zu meiden, sondern zu suchen) hat die Vermutung nahegelegt, der preußische Simson habe die Seiten gewechselt und bringe keine Gebäude mehr zum Einsturz, sondern befestige sie vielmehr durch Beschneidung der Freiheiten ihrer Bewohner. Dass Francke seinen stolzen Verzicht auf alle Adiaphora ohne die geringsten Skrupel staatlich subventionieren ließ, konnte diesen Verdacht sicher nicht entkräften. Überraschend schnell fiel ihm die Mög­lichkeit auf, die Bekehrung anhand einer bei Hofe zu datierenden Affirmation des Anstaltsprogramms zu identifizieren und solches ›Umkippen‹ zum Medium staatsdienlicher Möglichkeiten zu erklären. Dass das etwa Christian Wolff dazu veranlas­sen

des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie«, in: Ulrich Köpf (Hrsg.), Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Beiträge zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung, Tübingen: Mohr Siebeck 2001, S. 159 –202. 31 Vgl. dazu Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tü­bin­ gen: Niemeyer 1989, S. 13 –59 (u. ö.). 32 George Spencer Brown, Laws of Form, London: Allan & Unwin 1969, S. 1. 33 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 503. 34 Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 464. 35 Francke zit. Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 452; vgl. S. 492: Es gehe Francke darum, »die menschliche Klugheit, die sich auch als ›Gespenst der christlichen Klugheit‹ gibt«, als Konfliktscheu »zu entlarven[:] als Menschenfurcht, Anpassung an die Welt und Flucht vor dem Kreuz«.

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konnte, sich »erbrechen« zu müssen, brachte Francke erklärtermaßen »keine An­fech­ tungen« ein.36 Vielleicht zeigt die Philistersemantik besonders deutlich, welche ungeheure Zu­mu­ tung in der Festlegung des Menschen auf die Sobrietas der Bekehrung37 gelegen haben muss, nicht zuletzt für deren Erfinder selbst. Sie ist, mit Karl E. Weick gesprochen, eine »good story« zur Beantwortung der Frage: »How can I know what I think until I see what I say?«38 Wenn sie um die Jahrhundertwende in Jena auftaucht,39 kann sie noch als Kommentar auf die Auseinandersetzungen zwischen der lutherischen Orthodoxie der Stadtgeistlichkeit und dem die Universitäten unterwandernden radikalen Pie­tismus verstanden werden; sie bildet dann eine Möglichkeit, das Rearrangement der Ordnung im Medium der Unordnung – des Tumults – zu thematisieren.40 Solche Er­eignisse gab es auch in Halle: Wenn etwa nach Wolffs Ablösung im Prorektorat 1722 die Studenten am Haus des neuen Prorektors und an dessen vorbereitetem Empfang mit lauten Spottliedern vorbei- und zu Wolffs Haus zogen,41 dann kann angenommen werden, dass dabei der Philistervorwurf fiel – und dies erst recht ein Jahr später, als sich dieselben Studenten vor die Stadttore und hinter die Landesgrenze begaben, um den ausgewiesenen Wolff zu verabschieden. Aber die Hallesche Situation macht doch auch klar, dass es um viel mehr geht. Die über viele Jahrzehnte stabile Unterstützung des Pietismus durch den preußischen Hof etwa ist keineswegs selbst-

36 Beutel, »Causa Wolffiana« (Anm. 30), S. 191; Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 506; vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 418 (der Kontext ist die Ausweisung Wolffs aus Halle 1723). – »Überhaupt«, so Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 981, »ist Staatsklugheit, mit Niederträchtigkeit verbunden, ein Hauptzug aller Philister.« 37 Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 14), S. 361. 38 Karl E. Weick, Sensemaking in Organizations, Thousand Oaks u. a.: Sage 1995, S. 61 (sehr genau so, wie Kluge die Brauchbarkeit der Philistersemantik um 1700 begründet); weiter heißt es (ebd.): »A good story holds disparate elements together long enough to energize and guide action, plausibly enough to allow people to make retrospective sense of whatever happens, and engagingly enough that others will contribute their own inputs in the interest of sensemaking.« Siehe auch ders., The Social Psychology of Organizing, 2. Aufl., Reading, MA u. a.: Addison-Wesley 1979, S. 133. 39 Eine Beziehung Franckes nach Jena ist für mich nicht direkt belegbar. Brecht, »August Hermann Francke« (Anm. 12), S. 451, verweist immerhin auf eine »Verteidigungsschrift von Kaspar Sagittarius in Jena für den ›wahren Pietismus‹« der Erfurter ›Szene‹, zu der Francke 1690  /  91 vor seinem Wechsel nach Halle gehörte (Amtsenthebung und Stadtverweis »wegen Verursachung von ›Trennung‹ und ›Verwirrung‹« [S. 452] konnten nicht verhindert werden). 40 Ein nur wenig jüngeres Lustspiel spielt übrigens auf die bei Kluge, »Philister« (Anm. 6), S. 34, erwähnten »Philisterpferde« zur Bezeichnung der Orthodoxen zumindest an (»›ich hörte nur noch neulich, dass der Kutscher seine Pferde für Orthodoxen schalt, weil er kein ärger Schimpf-Wort wusste‹«; Luise Gottsched[in], »Die Pietisterei im Fischbein-Rocke«, zit. Hinrichs, Preußentum und Pietismus [Anm. 14], S. 362). 41 Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 14), S. 405, der ausdrücklich von »Unruhen« spricht (ebd.).

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verständlich; die »Rechenhaftigkeit«42 der Bekehrung stellt schließlich jeden Geburtsstand – adlig wie bürgerlich wie elend – gleich, das heißt: gleichermaßen in Frage. Die Protektion begründet sich daher nicht einfach aus einer Hoffnung auf zuver­läs­ sige Staatsdiener  – nicht zuletzt: Militärs43  –, sondern mindestens ebenso sehr aus der Erwartung des absolutistischen Staates, den landständischen Adel ebenso wie den städtischen Magistrat in seine Schranken weisen zu können, zumal diese beiden Stände es waren, die in den Exaltationen des radikalen Pietismus Freiheiten erkannt hatten, die sich zwar privatpolitisch, aber nicht unbedingt staatsdienlich ausstaffieren ließen. Um das Wohl der elenden Straßenkinder (der ›Waisen‹) ging es jedenfalls nicht oder nicht lange, so theatralisch das auch inszeniert wurde.44 Was der Pietismus mittels sei­ nes Registertricks in Preußen etabliert, ist die Komplementarität zwei anderer, weitaus besser zu disziplinierender »Parasiten«,45 die einander über die gesamte Moderne hinweg bis an deren Ende ernähren und den Primat der ständischen Ordnung dadurch ›funktionalisieren‹, also auflösen werden, ohne die Ordnungsinstanz des Staates anzufechten: das Individuum und die Organisation. Die Form des Individuums ist seither immer ein ›rechenhafter‹, ›viereckichter‹, philiströser Kalkül gewesen; niemand »ist sicher, dass er nicht selbst bereits aufgereiht ist«.46

Dieses Nichts: Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz Seinen Begriff des »sozialen Handelns« erläutert Max Weber anhand eines »Philistersymptom[s]«: »Nie«, so Brentano, »nie hat der Regen sie ohne Regenschirm getroffen«, sie »denken [sich] nichts dabei«,47 und Weber: »Wenn auf der Straße eine Menge Men­schen beim Beginn eines Regens gleichzeitig den Regenschirm aufspannen, so ist (nor­maler­weise) das Handeln des einzelnen nicht an dem des andern orientiert, son­ dern das Handeln aller gleichartig an dem Bedürfnis nach Schutz vor Nässe« – wobei er als Varianten der Orientierung am Anderen, die das Handeln ›normalerweise‹ als sozial definieren würde, nur Konfliktformen angibt: »Rache für frühere Angriffe, Ab42 Hinrichs, Preußentum und Pietismus (Anm. 14), S. 377. 43 Die entscheidende Intervention bei Hofe, die die Dinge zugunsten des pietistischen Rigorismus und zulasten der aufklärerischen philosophischen Fakultät wendete, ging sowohl im Falle Thomasius als auch im Falle Wolffs von Generälen aus, die auf die Bedeutung der Anstaltserziehung für die Pläne des ›Soldatenkönigs‹ verwiesen. 44 Vgl. August Hermann Francke, Segensvolle Fußstapfen, hrsg. und bearb. von Michael Welte, Gießen: Brunnen 1994 [1701–1709] (= TVG Klassiker). 45 Mit Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. 46 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 986 (der, S. 987–990, selbst ein Philisterregister schreibt  – »eine ganze Musterkarte von Philistereien aufrollt«). 47 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 992.

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wehr gegenwärtigen Angriffs, Verteidigungsmaßregeln gegen künftige Angriffe«, »einschließlich des Unterlassens oder Duldens« solchen Handelns.48 Soziales Handeln als Gegenbegriff »lediglich reaktiven« Sichverhaltens wird, das ist Webers Pointe, durch die Möglichkeit der Verzögerung und der Verhandlung definiert (sein Gegenbeispiel zum Regenschirmspannen bildet daher nicht der »Zusammenprall zweier Radfahrer«, sondern »ihr Versuch, dem anderen auszuweichen und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung«).49 Dem auf alles ›Getrof­ fensein‹ vorbereiteten Philister (›nie ohne‹) fehlt demnach nichts als diese Möglichkeit. Er ist durch seine Umstände, nicht durch Kommunikation festgelegt – oder in Webers Terminologie: »sein Handeln ist kausal, nicht aber sinnhaft […] bestimmt«,50 das heißt: Er steht genau so im Regen, wie der »letzte« zahme »›Hund in der Sonne‹« liegt.51 Es trifft ihn – Weber: es »ergreift« ihn, der »innerlich tot ist« – nichts.52 Entscheidend ist die Festlegung der Form des Handelns (und ihres Begriffs) auf die Möglichkeit der ›Sinnhaftigkeit‹. Diese Möglichkeit: »ausschließlich und lediglich die Chance«, dass sinnhaftes Handeln »stattfand, stattfindet oder stattfinden wird«, definiert das Soziale (»[d]ies ist immer festzuhalten, um eine ›substanzielle‹ Auffassung dieser Begriffe zu vermeiden«).53 Sozialität gleich welcher Ordnungsform setzt nichts voraus als »das Vorliegen dieser Chance«; sie ist der Inbegriff des »›Bestand[s]‹« sozialer Ordnung – »und nichts darüber hinaus«.54 Ganz offensichtlich liegt die Rationalität des Sozialen, auf dessen Beschreibung Weber dann so viel Kraft verwendet, allein in dieser kontingenten Chance. Weber entwirft hier einen zirkulären Begriff; die Chance ist sinnhaft, weil sie unsicher ist, und unsicher, weil sie sinnhaft ist (jedenfalls insofern, als der »Sinngehalt« dieser Chance ausdrücklich von »flüssiger« »Vieldeutigkeit« ist55). Soweit ich sehen kann, ist diese Pointe soziologisch weitgehend unbeachtet geblieben, von Talcott Parsons und dessen Begriff der doppelten Kontingenz abgesehen, der aus Webers Sinnbezugsthese einen elaborierten Komplementärrollenbegriff entwickelt. Auch er sieht das Problem des Sozialen überhaupt nur auftauchen, wenn sich Unsicher­heit als Kontingenz erweist, als ›Platz‹, in dem personalisierbares Handeln mög­lich ist und in dem sich Personen deshalb ›als Individuen heimisch fühlen können‹. 48 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5., rev. Aufl., Tübingen: Mohr 1980, S. 11. 49 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 11. 50 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 12. 51 So Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen: Mohr Siebeck 1996, S. 87 (zit. Erhard Kästner, mit Verweis auf Nietzsche). 52 Max Weber, »Politik als Beruf«, in: ders., Wissenschaft als Beruf / Politik als Beruf, Tübingen: Mohr Siebeck 1992 (= Max-Weber-Gesamtausgabe I.17, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter), S. 35 – 88, hier S. 86. 53 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 13. 54 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 14. 55 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 11 (u. ö.) und S. 16, vgl. S. 45.

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Parsons spricht – und dies keineswegs verlegen, sondern dezidiert – von »more or less full membership«.56 Jede Form absolut bindenden, weil keinerlei Interpretations- und Verzögerungsspielraum lassenden, auf ›Eindeutigkeit‹ und quasi-maschinelle »Rechenhaftigkeit« festlegenden,57 keine Unsicherheit duldenden Handelns ist nicht sozial, son­dern bloß eine philiströse »öde Lücke«, kein »Platz zu handeln«.58 Um »Mensch blei­ben« zu können,59 muss mit Engagement und Resignation, Protest und Duldung, Handeln und Unterlassen, gegebenen und vermuteten Möglichkeiten gespielt werden können. Diesem Begriff des Sozialen entspricht Webers Abneigung, entweder den ihm selbst offenbar wenig sympathischen Gustav Schmoller – wegen dessen »grober Form«, etwa (»bitte: nur für Sie«) der Neigung, durch »auch mir widerliches Protzen mit sexuellen Erfolgen s[eine] Zeit drunter durch« zu bringen – oder die Kollegen – denen dies »nun einmal nicht passt« – »als ›Philister‹ [zu] beurteilen« und sich so der Möglichkeit dieses Spiels zu begeben.60 Noch deutlicher, fast eine Paraphrase auf Brentano, ist eine Postkartensequenz, die er aus Monte Carlo an seine Frau Marianne schreibt (und die zugleich als anschaulicher Vorgriff auf Parsons’ Begriffe gelesen werden kann):61 1) L. Schnauzel! Wahrlich, ich glaube, das ›Sittengesetz‹, über das Ihr so viel […] diskutiert, ist doch nur ›relativen‹ Gehaltes. ›Wie konnt’ ich sonst so wac­ker schmälen‹ [Gretchen im Faust, M.L.] […] wenn Jemand in Monte Carlo Geld gewann, – nun habe ich selbst gegen 1000 Fr. (in 15 Min.!) ge­ won­nen! Mir ist etwas verlegen zu Muth  – aber wenn [Emil] Lask das ­Gebiet des ›Alogischen‹ betritt [dies hatte Marianne Weber in ihrem Brief 56 Talcott Parsons, »Commentary on Clark«, in: Andrew Effrat (Hrsg.), Perspectives in Political Socio­logy, Indianapolis / New York: Bobbs-Merrill 1972, S. 299 –308, hier S. 306. 57 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 45. 58 So, sehr nah bereits an Webers Begriff des Charismas der Askese (siehe unten) und mit Brentano vertraut, Jakob und Wilhelm Grimm, Art. »Genie«, in: dies., Deutsches Wörterbuch, Bd. 4., bearb. von Rudolf Hildebrand und Hermann Wunderlich, Leipzig: Hirzel, 1897, Sp. 3396 –3450, hier Sp. 3399, und (für einen Pfad, dem ich hier nicht folgen werde) Jakob Michael Reinhold Lenz, »Über Götz von Berlichingen« [1775], in: ders., Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Bd. 2., Frankfurt am Main / Leipzig: Insel 2005, S. 637–641, hier S. 638. 59 Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog, Berlin: de Gruyter 1995 [1994], S. 382. 60 »Ich kann [das: solch denunzierendes Urteilen ad personam anstelle eines Urteils ad rem] nicht«, setzt Weber hinzu. Es handelt sich um eine Textkritik zu und an Robert Michels (die Herausgeber vermuten dessen Manuskript »Universität und Sozialismus«), dem Weber offenbar diese Art des Urteils vorhält (Max Weber am 16. August 1908 an Robert Michels, in: Max Weber, Briefe 1906 –1908, hrsg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen, Tübingen: Mohr Siebeck 1990 [= Max Weber Gesamtausgabe. II (Briefe), Bd. 5], S. 637–642, hier S. 639 [Hervorhebung im Original]). 61 Max Weber am 9. März 1908 an Marianne Weber, in vier Postkarten (1– 4, Motiv lt. Hrsg.: »Ansichten von Monte Carlo und dem Spielsaal im Casino«), in: Weber, Briefe (Anm. 60), S. 446 – 447 (Hervorhebungen im Original).

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­ emerkt,  M.L.], warum ich nicht das Gebiet des absolut ›Irrationalen‹? b Schließ­lich: verdient hätte ich 1000 Fr. für die Schufterei diesen Winter! Und abgeknöpft habe ich sie ja nur der infamen Spielbank! 2) Es ist ja auch eigentlich nicht einzusehen, warum nicht? Gewiss: die Gesellschaft, in der man sich befindet, ist gemein. Um 10 wird das Casino geöffnet, die Professionsspieler stehen Queue u. stürzen im Galopp nach ihren Tischen, um Sitzplätze zu erhaschen. Sehr verschiedene Menschen: kalte, ru­ hige Rechner, die sich ihre ›Statistik‹ machen, nach festem Plan jedesmal, wenn es heißt: ›faites le jeu‹, eine Serie Nummern belegen, dann mit fest­ge­ kniffenem Munde den Gewinn ruhig einstecken oder den Verlust ein­ge­rafft werden sehen – nur die Röthe um die Augen und die eckige Hast der Bewegungen verrathen die innere Spannung; – daneben stille Fanatiker, arme Teufel beiderlei Geschlechts mit wachsgelbem Gesicht und schlech­ter Toi­ lette, das Notizbuch in 3) der leise vibrierenden Hand, mit verhaltener Desperation das Schicksal ih­rer 5-Francs-Stücke verfolgend;  – endlich feiste Roué’s mit Doppelkinn, Nacken­wulst, großem Schnurrbart und vorgestrecktem Kinn, aus den dicken Säcken um die Augen lungernd, was aus ihren Einsätzen wird,  – das sind die Haupttypen der Sitzenden. Dahinter steht das nicht ständige Publikum, welches auch mal sein Glück probiert u. auf die Dauer stets verliert. – So ist es auch mir gegangen. Ich konnte es nicht lassen, versuchte es noch ein paar Mal, – die 1000 Fr. sind wieder fort! – Ärgerlich! – nein! ganz gut! Man hätte sich doch vielleicht geniert? Allerdings: nun diese zwecklose Aufregung,  – aber es ist doch besser so. 4) Vielleicht hätte ich es besser gelassen? Aber das thun nur Philister u. Leute ohne Schwung! Der Germane hat von jeher gespielt! Ein Kerl, der Schwung hat, kann gar nicht passiv bleiben. – Aber ich habe eben keinen Schwung, und so ist das Sittengesetz intakt geblieben, mein Portemonnaie auch, das der Bank auch, u. mein Geld blieb ruhig bei Herrn Exner im Depot, als ich mit der Trambahn hierherfuhr. Staub u. Benzin sind hier die Parole, ohne diese beiden u. ohne dies ekelhafte menschliche Milieu wäre es ein Juwel. Es ist warm und windig, der Schlaf qualitativ u. quantitativ wenig, aber ausrei­ chend. Schönen Dank für’s Briefchen! Überarbeite Dich nicht. Herzlich küsst Dich Dein Max. Auf der anderen Seite des Philiströsen findet sich demnach Webers Begriff des Sozialen als einer aktuosen Chance. Sie kann als ein Äquivalent zu Franckes Begriff des im Be­keh­rungsdatum verkörperten ›habitus practicus‹ verstanden werden, und zwar ein Äqui­va­lent nicht einfach wegen der konfliktträchtigen Ereignisform, sondern gerade

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auch deswegen, weil Weber wie Francke auf einen Bruch abstellt, der nicht wie eine zufällige Gelegenheit ergriffen werden kann, sondern den Einzelnen existentiell ›ergreift‹ und ihn auf nichts als Ungewissheit festlegt. Beide konturieren diesen Bruch als Inbegriff des Individuums, das damit als soziale Form definiert ist. Im Moment die­ ses Bruchs sind Individualität und Sozialität nicht zu unterscheiden, und gerade das macht den Unterschied.62 Diese Form ist ›perfectly continent‹: ein in sich unruhi­ ger, »unverbrauchte[r] lebendige[r]«, »vollendeter […] Nichtphilister« (»eine Kugel«63) und deswegen, ›etwas romantisch gesagt‹, ein Individuum. Weber arbeitet dieses Problem zunächst im Begriff der Askese aus, einer sozialen, kommunikativ ermöglichten Sobrietät. Der Begriff bezeichnet (ähnlich wie der bereits er­wähnte Begriff des formalen Datums, das die kommunikative Brücke zwischen pri­ vater und öffentlicher Unruhe erlaubt und das Jenseits im Diesseits unterbringt) eine Un­terscheidung, genauer eine Unterscheidungspraxis. Den Gegenbegriff zur tran­ qui­len, philiströsen Individualität bildet erneut (Wilhelm Hennis bezeichnet Webers Be­griff als »Merkposten […] des Pietismus«64) die erweckte, besonnene In­di­vi­dua­ li­tät, die aber unausweichlich an ihre andere Seite gebunden bleibt und sich daran kor­rum­piert – das ist Webers Lebensthema, ja geradezu sein Lebensproblem, und er sieht das zweihundert Jahre nach Francke sehr viel klarer als dieser, auch sehr viel unerbittlicher sich selbst gegenüber. Denn es ist die asketische Seite des Individuums, die als Verkörperung des Sozialen in Ungewissheit und Sinnhaftigkeit zum Schauplatz der »Entzauberung der Welt« wird65 – ganz so, wie Franckes registriertes Datum dazu führt, dass sich das bekehrte Individuum in der Anstalt wiederfindet. Die Askese ist eine aktuose Chance, sie ist produktiv, aber sie reproduziert nichts als ihre eigene enthaltsame Nüchternheit. Sie ist der »Damm«, der dem »Herausfluten der Askese aus dem weltlichen Alltagsleben […] vorgebaut« wird66 und die Askese wieder und wieder in ihren eigenen Raum zurückspült. Wie die Bekehrung, so ist auch diese Entzauberung eine Form der ›Kommunikation über Kommunikation‹, und wie diese, so wird auch sie unvermeidlich zur ›Kommunikation über in Form von Individuen rekrutierte Arbeit‹. Die Chance, das romantische Nichts, setzt sich selbst immer wieder in sich selbst ein, verdreht und verfestigt sich aber dadurch (wie die Bekehrung im 62 Auf die Parallele zum Informationsbegriff habe ich bereits hingewiesen; wie Franckes Bekehrung und Webers Chance ist auch er ein aktuoser Begriff, jedenfalls wenn die Information definiert wird als »difference which makes a difference«, weil und nur wenn sie verstanden wird als »one selected from a set of possible [selections]« (Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind, Chicago / London: The University of Chicago Press 2000, S. 459; Claude E. Shannon und Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication, Reprint Urbana: Illinois UP 1963, S. 31). 63 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 965 u. 984. 64 Hennis, Max Webers Wissenschaft (Anm. 51), S. 86. 65 Max Weber, »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr Siebeck 1988, S. 17–206, hier S. 114. 66 Weber, »Protestantische Ethik« (Anm. 65), S. 119 f.

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Register) zum ›Krampf‹, zur »mechanisierten Versteinerung«, zum »stahlharten Gehäuse«,67 »sich immer tiefer verphilisternd« zum »zugeklebt[en Haus]«, zum »bequem Tote[n]«.68 Das macht Franckes Welt zur Anstalt, in der jeder ›unbefangene‹ Genuss der Seligkeit im Glauben buchstäblich unsanft ›erweckt‹ und in ein »waches bewuss­ tes helles Leben« überführt wird,69 in die ›Möncherei‹ von Arbeit, Pflicht, Gehorsam. Und es macht Webers Welt zur »Polarnacht«70 der Bürokratie, in der es gleichgültig ist, ob wir »Berufsmensch sein [wollen], – wir müssen es sein«.71 Wenn es gleichgültig ist, schicksalhaft unausweichlich: Wie unterscheidet sich dann das Berufsleben vom Regenschirmaufspannen? Bleibt nichts als die Mahnung ›Überarbeite dich nicht!‹ (die immerhin einen ekstatischen Anklang pflegt, also die Übertreibung der Arbeit als Möglichkeit zur Subversion des Gehorsams ins Gedächtnis ruft)? Wie kann sich die Askese der Philistrosität erwehren, wenn die in sich selbst zurückgespülte Chance sich als ein »Nichts« herausstellt, das nichts als »Fachmenschen ohne Geist« und »Genussmenschen ohne Herz«72 (nämlich, mit Thomasius, Mönche des Berufs) ausbildet, eine gleichgültige ›Menge Menschen‹, deren »Lebensstellung«73 der Schirm ist, ohne den sie – »vergiftet […] zu ewiger Nüchternheit«74 – nie anzutreffen sind? Zur Beantwortung dieser Frage reformuliert Weber den Begriff der Askese im Be­griff des Charismas (vermutlich einem Äquivalent des Genies), den er vielfach in Ver­wandt­schaft zu Simson und David personalisiert: Es handele sich um »eine als außer­all­täglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit« (zum Beispiel »›Führer‹«, »›Ber­ser­ker‹«, »›größte‹ Helden, Propheten, Heilande«, bis hin zum »revolutionären Hel­den der Straße«), deren nähere sachliche Bestimmung »völlig gleichgültig« bleiben kann, weil es »darauf allein [ankommt], wie sie tatsächlich von den charismatisch Be­herrschten, den ›Anhängern‹, bewertet wird«.75 Die Vieldeutigkeit der sozialen Chan­ce wird auf diese Weise in das Individuum verlegt, und der sinnhafte Bezug auf den Anderen, der die Sozialität der Chance ausmacht, findet seine Entsprechung in dem Ergriffensein des Charismatikers durch die Anerkennung seiner Gefolgschaft. Die Sobrietas der aktuosen Chance  – perfekt kontinente Sozialität, eine sich selbst ein­dämmende Flut an Möglichkeiten  – wird zum Komplement der Sobrietas des 67 Weber, »Protestantische Ethik« (Anm. 65), S. 204 u. 203. 68 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 973, 983, 965. 69 Weber, »Protestantische Ethik« (Anm. 65), S. 117. 70 Weber, »Politik als Beruf« (Anm. 52), S. 87: »eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte«; ein Verweis auf Brentano, »Philister« (Anm. 1), z. B. S. 971 (für das Argument des Absturzes in die Finsternis der Eigenheit), liegt auf der Hand. 71 Weber, »Protestantische Ethik« (Anm. 65), S. 203 (Hervorhebung im Original). 72 Weber, »Protestantische Ethik« (Anm. 65), S. 204. 73 Weber, »Protestantische Ethik« (Anm. 65), S. 63. 74 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 967. 75 Weber, »Wirtschaft und Gesellschaft« (Anm. 48), S. 140, 654 u. 829; vgl. dazu Hennis, Max Webers Wissenschaft (Anm. 51), S. 84 f.; zum ›revolutionären Helden‹ vgl. d. A., »Revolution als Beruf« (in diesem Band).

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In­di­vi­duums  – asketisches Charisma (»Begeisterung, Enthusiasmus«76), eine sich selbst kontrollierende Leidenschaft. Der ›charismatisch Beherrschte‹ ist der Charismatiker selbst; er ist auf nichts verpflichtet als auf seine Außeralltäglichkeit. Wilhelm Hennis hat darauf hingewiesen,77 dass die Personalisierung des Charismas (die in der Rezeption Webers weitgehend selbstverständlich ist) eine Verharmlosung, ja sogar eine Trivialisierung ist, denn es geht um viel mehr als nur ein reanimiertes prosopo­ gra­phisches Schema und erst recht um viel mehr als nur eine Kontrastfolie zur vermeintlichen Dominanz bürokratischer Zweckrationalität, die dem Konzept der bloßen Vollständigkeit halber beigefügt wäre. Auch Brentano hatte ja in der durch Zurechnung entstehenden, mithin auf Anerkennung verwiesenen, »nur noch moraliter existieren[den]« Personalität das tragende Merkmal des Philisters gesehen.78 Webers Charisma bezeichnet Individualität als sich selbst enthaltende Differenz von Chance und Askese; es transformiert Unordnung in eine Form der Diskretion und macht sie dadurch zu einer sozialen Möglichkeit im Raum der Ordnung (und ist darin wiederum dem Datum verwandt).79 Das Ergriffensein (im Bereich der Wissenschaft setzt Weber dafür den Begriff des nüchtern berauschenden Einfalls ein80) ist eine Rekursion der Pflicht, mithin auch der Arbeit und des Gehorsams, der »›Forderung des Tages‹ […], menschlich sowohl wie beruflich«; »die aber«, ergänzt Weber, »ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält«.81 Das 76 Hennis, Max Webers Wissenschaft (Anm. 51), S. 85. 77 Vgl. Hennis, Max Webers Wissenschaft (Anm. 51), S. 83 f. (u. ö.), übrigens eine Beschreibung verwendend, die an Kluge erinnert. Wie dieser die fraglose Selbstverständlichkeit der biblischen Zurechnung der Philistersemantik um 1700 betont (s. o.), so stellt Hennis fest: »Für Weber war es noch selbstverständlich, dass es Helden – wenn auch mit dem abschwächenden Zusatz ›im schlichtesten Sinn‹ gab […] ein Mensch der Generation Webers hätte keinen Moment daran gezweifelt, dass es i.    S. Burckhardts ›historische Größe‹, exzeptionelle Erscheinungen in allen ›Sphären‹ gibt, die nicht anzuerkennen, ein Zeichen banausischer Gesinnung gewesen wäre« (S.  84  f., Hervorhebung im Original). 78 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 965. 79 Womöglich – wieder ein Schritt auf einem hier nicht gangbaren Pfad – nahe an Jean Pauls Begriff der Besonnenheit als »Gleichgewicht und […] Wechselstreit zwischen Tun und Leiden, zwischen Sub- und Objekt«, die dann, so scheint mir, philiströs ist, wenn sie bloß »gemeine geschäftige Besonnenheit« ist; sozial aber ist sie – Webers Problematisierung sehr verwandt –, wenn sie »ein ganzes Sichselbersehen des zu- und des abgewandten Menschen in zwei Spiegeln zugleich« ist, und dieser Mensch kann dann »auf dem Sklavenmarkte des Augenblicks jede Minute verkauft werden und doch [hier:] dichtend sich sanft und frei erheben […] Der rechte Genius beruhigt sich von innen«, seine »Ruhe gleicht der sogenannten Unruhe, welche in der Uhr bloß für das Mäßigen und dadurch für das Unterhalten der Bewegung arbeitet« (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, hrsg. von Norbert Miller, 2. Aufl., München: Hanser 1974, S. 57 f.). 80 Max Weber, »Wissenschaft als Beruf«, in: Wissenschaft als Beruf / Politik als Beruf (Anm. 52), S. 1–23. Vgl. speziell dazu Maren Lehmann, »Wissenschaft im Rausch«, in: dies.: Theorie in Skizzen, Berlin: Merve 2010, S. 160 –172. 81 Weber, »Wissenschaft als Beruf« (Anm. 80), S. 23.

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charismatische Individuum arbeitet an sich; das ist »seine Sache«, es ist daher, solange es »für [s]eine Sache lebt, auch von dieser Sache«.82 Darin liegt seine Askese, und darin besteht – »spezifisch labil«83 – seine Integrität. Anders formuliert: Die Personalisierung des Charismas zum Charismatiker, die Hennis als Verharmlosung erkennt (und die Brentano philisterhaft nennt), ist ein Effekt der sich immer wieder durchsetzenden Kommunikation ›über Arbeit in Form von In­ dividuen‹ gegenüber der Kommunikation über Kommunikation.84 Mit dem Begriff des Charismas gelingt es Weber dennoch, die Kommunikation über Kommunikation (›Gesellschaft‹) in den Raum der Kommunikation über Arbeit (›Organisation‹) zurückzuspülen und als Individualität zu bezeichnen. Die philiströse Bürokratie der geistlosen ›Fachmenschen‹ und der herzlosen ›Genussmenschen‹ bringt ihren Simson selbst hervor: Es ist niemand anderes als der in immer neue Konflikte verstrickte, dies aber diskret hinnehmende und daran (Weber folgend) so sehr leidende wie von der Wachheit und der Nervosität, die dies Leiden mit sich bringen, unendlich erschöpfte Berufsmensch selbst.

Der »Schnitt um 17 Uhr«85 Zwischen Max Weber und Niklas Luhmann liegt das »Jahrhundert der Führer«.86 Viel­leicht unterscheidet sich Luhmann deshalb durch nichts so sehr von Weber wie durch die ihm vollkommen fehlende Koketterie mit dem Reiz des ›Berserkers‹ (die bei Weber bereits von Abscheu grundiert gewesen sein mag). Sein Charisma ist die Iro­nie. Vielleicht ist aber Luhmann gerade deshalb zugleich der erste Soziologe nach 82 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 829. Vgl. ders., »Wissenschaft als Beruf« (Anm. 80), S. 7: »›Persönlichkeit‹ […] hat nur der, der rein der Sache dient« (Hervorhebung im Original). 83 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 48), S. 656. 84 Der Begriff der Autorität als Form rekursiv verpflichtender Anerkennung findet sich denn auch in der Organisationsforschung, etwa in Chester I. Barnards Begriff der »zone of indifference« (Chester I. Barnard, The Functions of the Executive, Cambridge, MA / London: Harvard UP 1968, S. 161–184, insb. S. 168 f.). Dessen Pointe ist, dass die Organisation sich lähmen würde, wenn sie das fortgesetzte Mit-sich-selbst-Handeln (und ‑Hadern) des Individuums nicht auszuklammern vermöchte. Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 85, kommentiert: »Als Mitglied muss man es vermeiden, sich durch sich selbst stören zu lassen« – und man kann es, Weber folgend, auch nur als Mitglied. Auch Luhmanns oben zitiertes Inklusionspostulat ist schließlich nichts anderes als ein Effekt der »mit Organisationen durchsetzt[en]« Gesellschaft (S. 101). 85 Niklas Luhmann, »Es gibt keine Biografie«, in: Wolfgang Hagen (Hrsg.), Warum haben Sie kei­nen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann, Berlin: Kadmos [1997], S. 13 – 47, hier S. 31. 86 Heinz Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und die Folgen, München: Hanser 2007, S. 141–149.

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Weber, der wieder Geschmack für die Paradoxien des Philiströsen (und damit auch für die Sozialität des Negativen) beweist. Hatte Weber Askese und Charisma im Begriff des Sozialen verknüpft und die Korruption dieser Verknüpfung am Beispiel der Bürokratie dargestellt, so verbindet Luhmann Funktion und Passion im Begriff der Kommunikation und entwickelt diesen Begriff zuerst und immer wieder am Beispiel der Entscheidung, der Kommunikationsform formaler Organisationen. Obwohl er in diesem Kontext den vielleicht anspruchsvollsten Begriff der Person entwickelt hat, den die Soziologie zu bieten hat, lässt sich keiner seiner Begriffe personalisieren (etwa analog zu Webers Charismatiker im Unterschied zum Fach- und Genussmenschen oder auch analog zu Brentanos genialem Nichtphilister im Unterschied zum Juden und zum Philister) – auch der Begriff des Individuums nicht. Deutliche Reserven pflegt Luhmann vor allem gegenüber dem Begriff des Menschen und seinen moralisieren­ den, zugleich domestizierenden und (aus)sortierenden Effekten; diesen Begriff hätte er viel­leicht philisterhaft genannt87 (immerhin ist er insoweit Simson nahe, als er eine »radikal individualistische Theorie« durch einen »radikal antihumanistischen […] Gesellschaftsbegriff« konzipiert88). Eine Typologie des Menschen, wie Brentano sie mit seinem Register von Philistersymptomen entwirft, findet sich bei Luhmann jedenfalls nicht, so sehr seine von Parsons übernommene Unterscheidung von Inklusion und Exklusion in die Nähe eines solchen Entwurfs geraten ist. Das mag, dem Schicksal von Webers Charisma-Begriff vergleichbar, nicht zuletzt daran liegen, dass diese Unterscheidung die einzige in Luhmanns Begriffsrepertoire ist, die eine nennenswerte so­ ziologische Rezeptionsgeschichte aufweist (als Beispiel genügt hier vielleicht die Dis­ kus­sion um »die Überflüssigen«89). Umso ernster ist zu nehmen, dass Luhmann nur ei­ne einzige ›Möncherei‹ von der Soziologie erwartet hat, nämlich ihre Begriffe nicht »mensch­lich […] an[zu]biedern« und »vom Menschen […] lieber [zu] schweigen«; so­ wohl von der Person als auch vom Individuum ließe sich sonst nur noch »unvermeidlich di­let­tan­tisch« sprechen.90

87 Ein Zeichen dafür ist, dass er die oben (Luhmann, Soziale Systeme [Anm.   6], S.   625) bereits zi­tier­te Bemerkung über das »Dividuum par excellence« auf das Geld bezieht, »das sich jeder In-dividualität anpassen kann«. Nietzsche verwendet diesen Ausdruck für die moralische Korrumpierung des Men­ schen: »In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum« (Friedrich Nietzsche, »Menschliches, Allzumenschliches I. Ein Buch für freie Geister«, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 1954, S. 435 –733, hier S. 491). 88 Niklas Luhmann, »Die Tücke des Subjekts«, in: ders., Soziologische Aufklärung 6, Opladen: West­deutscher Verlag 1995, S. 155 –168, hier S. 165; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 11), S. 35 (meine Hervorhebungen, M.L.). 89 Vgl. »Die Überflüssigen. Ein Gespräch zwischen Dirk Baecker, Heinz Bude, Axel Honneth und Helmut Wiesenthal«, in: Mittelweg 36.7  /  6 (1998), S. 65 – 82; zuletzt Heinz Bude (Hrsg.), Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 90 Luhmann, »Tücke des Subjekts« (Anm. 88), S. 157; ders., »Die Soziologie und der Mensch«, in: ders., Soziologische Aufklärung 6 (Anm. 88), S. 265 –274, hier S. 274.

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Soziologisch ist es sicher angebracht, dem von Luhmann selbst vielfach gewiesenen Pfad zu folgen und das Problem der Individualität in der Gleichzeitigkeit mehrerer Dif­ ferenzierungsvarianten zu suchen. Das Individuum taucht demnach historisch dann auf, wenn die stratifizierte Ordnung der Gesellschaft funktionalisiert wird und die Zuschreibung ständischer Identitäten dadurch unzuverlässig und instabil wird. Dafür steht bei Luhmann die These der Umstellung »von Inklusionsindividualität auf Exklusionsindividualität«,91 die (entsprechend dem Differenzierungsargument, dem sie sich verdankt) nichts anderes meinen kann als die Gleichzeitigkeit beider Individualitätsvarianten (anderenfalls wäre sie wenigstens prekär, weil die Gesellschaftsformen, für die dann der Begriff der ›Inklusionsindividualität‹ exklusiv zutreffen würde, einen solchen differentiellen Begriff von Individualität gar nicht kennen). Das Individuum verkörpert die funktionale Unzuverlässigkeit und Instabilität, mit wenigstens zwei Fol­ gen: Einerseits bietet es jeglichem auf Stabilität ausgehenden Interesse der Gesellschaft eine Externalisierungschance, andererseits aber knüpfen sich alle auf Beweglichkeit, Novität und dergleichen ausgehenden Hoffnungen derselben Gesellschaft an es. Um das leisten zu können, muss es aber in seiner Instabilität stabilisiert werden können. Entsprechend attraktiv werden mit Instabilität verträgliche Identitätszuschreibungen, Festlegungen des Individuums »im Unsicheren«,92 als deren erfolgreichste Luhmann die formale Mitgliedschaft einerseits und die Intimität andererseits diskutiert.93 Wenn angenommen werden kann, dass diese beiden Formen einander kom­ple­ men­tär gegenüberstehen (in der Regel also als Konkurrenten aufeinander angewiesen sind, was in der sicher philiströsen Idee einer moderierenden ›work-life-balance‹ oder wenigstens einer ›blue hour‹ anschaulich als Problem angesprochen wird), womöglich auch als einander funktional äquivalent verstanden werden können (was hieße, dass die Konkurrenz zugunsten einer – jeder – ihrer Seiten aufgegeben werden könnte), dann beschreibt die Differenz von Mitgliedschaft und Intimität bereits eine mögliche Form des Individuums. Beide setzen in Selbst- und Fremdreferenz hochunwahrscheinliche und eben deswegen hochengagierende Entscheidungen voraus, und beide korrumpieren diese Unwahrscheinlichkeit durch Einrichtung von ›zones of indifference‹ (organisationale Positionen, familiale Bindungen). Es liegt auf der Hand, dass sich diese Differenz im Horizont von Brentanos Philistersymptomatik ausfächern lässt. Der ›in vollendeter Individualität lebende‹ Student stellt sich dem ›civiliter‹ und ›moraliter‹, mit gebrochener Individualität existierenden Rest seiner Welt als ›Nichtphilister‹ gegenüber und legt sich so ›im Unsicheren fest‹, im vollen Wissen, dass das nur ein Aufschub ist, die Wende zur Philistrosität also bereits markiert ist. Das 91 Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 159 –258, hier S. 160. 92 Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus« (Anm. 91), S. 235. 93 Einerseits zuerst in Luhmann, Funktionen und Folgen (Anm. 59), andererseits zuerst in ders., Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

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Individuum ist selbst die Einheit dieser Differenz, in ihm selbst oszilliert sie (das bestimmt Brentano als nicht philisterhaft, weil es keine sicher festlegende Identität jenseits der Unsicherheit der Oszillation selbst erlaubt), während sie sonst immer nur in wechselnden, sich aufschaukelnden Asymmetrien auftritt (das meint der Begriff der Komplementarität, und das bezeichnet Brentano als philisterhaft, weil es nur zu sicher festlegenden, einander qua Negation bestätigenden Identitäten führt).94 Die Formulierung, die sehr viel später Niklas Luhmann zur Beschreibung des entscheidenden Bruchs seines eigenen Lebens wählt, reflektiert dieses Problem auf das Genaueste. Er habe seinerzeit das Problem gehabt, »dass der Beruf im Kultusministerium mich zunehmend in Anspruch nahm, weil dann auch politische An­for­ derungen hinzukamen. Man musste dann plötzlich abends irgendwas machen. Ich mei­ne, ich konnte nicht immer beides nebeneinander herlaufen lassen, mit dem Schnitt um 17 Uhr, sozusagen.«95 Der Satz beschreibt nicht einfach die Unmöglichkeit, eine Forscheridentität in Arbeitszeit und Professionsidentität einerseits und Freizeit und Privatidentität andererseits zu splitten. Es geht eher darum, dass der Bereich, den die Organisation oder den die Mitgliedschaft okkupiert, wuchert, sodass die Hoffnung, abends ›Hölderlin lesen‹ und ›Zettel vollschreiben‹ zu können, immer weniger96 und die »Sorge der Durchschnittlichkeit« oder gar die »Furcht vor Selbstverstümmelung« immer mehr Nahrung haben.97 Immerhin beschreiben diese Worte zunächst nichts anderes den Wechsel zurück in den Studentenstatus. In jedem Fall muss diese Dreistelligkeit von Organisationalem-Professionalisiertem, Familialem-Privatisiertem und Individuellem, dem Externalisierungs- und Unruhebedarf der sich primär funktional differenzierenden Gesellschaft geschuldet, mit einer Zweitfassung ihrer selbst zurechtkommen, die direkt in der Systemreferenz Gesellschaft formuliert ist und die die qua Mitgliedschaft und qua Intimität er­ mög­lich­ten Identitätszuschreibungen und ‑zumutungen unterläuft und ihre wech­ selsei­ti­gen Integrationen lockert. In der Dreistelligkeit kann das Individuum als das Individuelle (die Individualität) des Individuums verstanden und mehr oder minder komfortabel ausstaffiert werden. Die Zweitfassung nimmt diese Komfortabilität auf den oben geschilderten Bruch selbst zurück, sodass das Individuum jetzt (wie seinerzeit das pietistisch ernüchterte Datum) nichts ist als die Differenz von Mitgliedschaft (Organisation bzw. Ordnung) und Nichtmitgliedschaft (Privatheit als alles, was nicht Organisation und insofern nicht Ordnung, also als alles, was Unordnung ist). Diese Zweitfassung wäre es wohl auch, die der auf seine Unbedingtheit bedachte Nicht94 Brentano, »Philister« (Anm. 1), S. 970, hantiert mit der Unterscheidung von Einheit (nichtphiliströs) und Eigenheit (philiströs). 95 Luhmann, »Es gibt keine Biografie« (Anm. 85), S. 31. 96 Vgl. Niklas Luhmann, »Biographie, Attitüden, Zettelkasten«, in: ders., Archimedes und wir. Inter­views, hrsg. von Dirk Baecker und Georg Stanitzek, Berlin: Merve 1987, S. 125 –155, hier S. 132. 97 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 17. (Nachdruck der 15.) Aufl., Tübingen: Niemeyer 1993 [1926], S. 127; Luhmann, Funktionen und Folgen (Anm. 59), S. 38.

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philister zur Beschreibung seines Selbst heranziehen würde (und sei es nur, um die in ihn längst eingeschriebene Philistrosität zu camouflieren; immerhin liegt der Verdacht ja nie ganz fern, dass der durch den Bruch bzw. die Differenz von Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft geöffnete Raum der Nicht- bzw. Unordnung eine tranquile Hälfte umfasst, die unruhig wäre, wenn sie nicht zu träge dafür wäre; der philiströse Nichtphilister, wenn man das zwischen Dienst und Nichtdienst oszillierende Individuum so bezeichnen kann, schematisiert diese Trägheit immer als nervöse Erschöpfung durch den Dienst – Stress nach dem Stress – und als Regenerationsphase für den Dienst – Stress vor dem Stress –, sodass im Ergebnis gerade die Trägheit und die Larmoyanz als Unruheformen ausgezeichnet werden können). Luhmann gibt einen Hinweis auf die mögliche Form dieser Zweitfassung des Individuums durch seine Unterscheidung von Inklusion und Sozialisation, die er definiert als Komplementarität zweier Unterstellungen. Mit Parsons (und in einer für seine Verhältnisse selten brachialen Formulierung) spricht Luhmann von »Interpenetration« oder »Co-Evolution«: Diese liege vor, »wenn die strukturelle Komplexität eines Systems für den Aufbau der strukturellen Komplexität eines anderen Systems zur Verfügung gestellt wird«,98 demnach liege Inklusion »immer dann vor, wenn ein […] psychisches System […] seine Eigenkomplexität zum Aufbau sozialer Systeme zur Verfügung stellt«, und entsprechend sei Sozialisation »der Gegenfall. Sie besteht darin, dass das […] Sozialsystem Gesellschaft […] seine Eigenkomplexität zum Aufbau psychischer Systeme zur Verfügung stellt.«99 Damit ist die Zweitfassung der Form des Individuums als Differenz von sozialem und psychischem System beziehungsweise als Differenz von Kommunikation und Bewusstsein (und als Integral zweier Unruhevarianten) bestimmt. Luhmann fügt hinzu, diese Form werde als Chance auf variantenreiche »Komplexitätssteigerungen« verstanden, habe aber »in Wirklichkeit« den Sinn, die Umstellung ›von Inklusionsindividualität auf Exklusionsindividualität‹ strukturell zu stützen.100 Sie ›biedert‹ sich soziologisch und alltagsweltlich als Chance darauf ›an‹, »Individuen individueller zu denken, zu behandeln, zu in­sti­tutionalisieren«101 und so gewissermaßen auf Seiten der Inklusion die asketischeinschränkenden, auf Seiten der Sozialisation die charismatisch-befreienden Ansprüche auf die Spitze zu treiben, und beides in der Form des Individuums. Die ›perfect continence‹ des Individuums besteht demnach in nichts anderem als darin, dass es jede mögliche ›Kommunikation über Kommunikation‹ in irgendeine ›Kommunikation über Arbeit‹ übersetzt, und vice versa – wozu es nichts anderes und nicht mehr braucht als eine ›Stelle‹, eine organisational definierte Position, die auf den 17 Uhr-Bruch zugeschnitten ist und in diesem Zuschnitt demjenigen alle Freiheiten erlaubt, der 98 Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus« (Anm. 91), S. 162; vgl. dazu ders., Soziale Systeme (Anm. 6), S. 286 –345. 99 Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus« (Anm. 91), S. 162. 100 Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus« (Anm. 91), S. 165. 101 Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus« (Anm. 91), S. 165.

120 sich mit der leeren Abstraktion dieses Schnittes zu identifizieren vermag. Um diese Rekursion geht es, wenn Individualität thematisch wird; wer, mit anderen Worten, auf seine Individualität angesprochen wird, weiß sofort, dass nichts mehr selbstverständlich ist (er hört Delila rufen). Die Philistersemantik ist, so wäre vielleicht zusammenzufassen, eine Form der Pro­ blematisierung von Individualität. Es mag sein, dass sie (deren Entstehen in dieselbe Zeit um 1700 fällt, auf die Luhmann die Ausdifferenzierung der doppelten In­di­vi­ dualitätsform datiert) versucht, beide Formen auseinanderzuhalten. Sie identifiziert zu­min­dest den Philister mit formaler Mitgliedschaft und familialer Intimität und legt ihn dadurch auf die Korrumpierung der Freiheiten fest, die die Differenz von Inklusion und Exklusion versprechen könnte. Zugleich legt sie den Nichtphilister nur im ›Unge­wissen‹ der ›Sinnhaftigkeit‹, ›Begeisterung‹, ›Lebendigkeit‹ versprechenden Differenz von Kommunikation und Bewusstsein fest. Es wäre dann kein Zufall, dass die studentischen Wörterbücher, die den Philister als den Nichtstudenten bezeichnen, die Universität als Sozialisationsraum vorstellen, dem das Inklusionsproblem beziehungsweise die Philisterhaftigkeit lasterhaft eingeschrieben sind. Die Ungewissheit der Zukunft wird dadurch in ein Moratorium, eine Frist, einen Zeitraum übersetzt, sie wird kapitalisiert. Umso klarer steht vor Augen, dass die beiden definitiven ›Symptome‹ des Philisters und des Nichtphilisters – Eigenheit und Einheit, vollendete Dividualität und vollendete Individualität – in der Form des Individuums zwar nicht zu trennen sind, aber auch nicht zwingend sofort asymmetrisiert werden müssen. Wenn Oszillation möglich ist, dann ist auch Nichtphilistrosität möglich. Und so versteht sich Luhmanns Antwort auf die Frage: »Sie haben aber doch sicherlich […] Tagträume, wenn Ihnen dort draußen auf dem schönen Balkon nichts einfällt?« Sie kann nur lauten: »Überhaupt nicht […] aber wenn ich mir etwas wünsche, dann ist es mehr Zeit […] unbegrenzt Zeit zu haben […] dass für mich der Tag 30 Stunden hat, für die anderen dagegen nur 24. Die anderen müssten dann immer schon schlafen, wenn ich noch alles mögliche tue.«102

102 Luhmann, »Biographie, Attitüden, Zettelkasten« (Anm. 96), S. 139.

Ursula Geitner

Betrachtungen des Philisters 1800 / 1900 / 1924

Klassische Argumente Man braucht drei, um dieses Spiel zu spielen. Wo es um den Philister geht, kommt außer seinem heroischen Antipoden in der Regel auch eine Frau vor – und wiederum dreifach: als Mädchen, als Ehefrau, als Hausfrau. In Hegels »Vorlesungen über die Ästhetik« heißt es, klassisch: »Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumge­ zankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die an­ deren auch«. Die Heirat macht den Philister perfekt. Sind für den Jüngling die Erlangung »irgendeiner Stellung« und der Eintritt in die Ehe gleichbedeutend mit der Erlangung des Philisterstatus, bedeutet für das Mädchen die Heirat den Übergang zur Frau. Von hier aus geht es folgendermaßen weiter: »[D]ie Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ungefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.« Auf dem Weg zum Philister hat der Jüngling einiges gelernt. Hielt er es zunächst für ein Unglück, »daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufs­geschäfte usf. gibt«, so hat er »die subjektiven Zwecke der Liebe, Ehre, Ehrsucht«, die »Ideale der Weltverbesserung« schließlich gegen die Rechte einer »vorhandenen Wirklichkeit« und gegen »bürgerliche Verhältnisse« eingetauscht, Verhältnisse, die dem idealen, idealistisch gestimmten Jüngling nicht anders denn als im »Willen des Vaters« und »einer Tante« verkörpertes Hindernis, ja als »Unglück« erschienen waren.1

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (= Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 14), S. 219 f.

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Auf dem Weg vom Liebesüberschwang eines Werther2 zum vollgültigen Philister gilt es, einen Kompromiss zu schließen, die Poesie des Herzens und die Prosa der Verhältnisse miteinander zu versöhnen. Der an der Schwelle zum Philisterdasein stehende junge Mann mobilisiert nun noch einmal die »Rechte des Herzens«, indem er ein letz­ tes Mal »ein Loch in die Ordnung der Dinge« stößt, sich ihr zum Trotz einen »Himmel auf Erden« herausschneidet: »das Mädchen, wie es sein soll«. Vernunft- und Kon­ve­ nienz-Ehe scheiden demnach aus, Idealität und Liebe sind im Spiel, das Mädchen wird erobert, unter Umständen den Verwandten und anderen Missverhältnissen abgetrotzt in einem »Kampf«, der das Ende der männlichen »Lehrjahre« und die end­gül­ tige Einpassung in die bürgerliche Ordnung der Dinge bedeutet. Der Mann hat sich die Hörner abgelaufen, subjektives »Wünschen und Meinen« haben sich in die »be­ste­ henden Verhältnisse und in die Vernünftigkeit derselben hinein[ge]bildet«.3 Und Vernünftigkeit bedeutet praktisch gesehen: incipit Philister. Schaut man auf die Seite des Mädchens und der späteren Frau, fehlen ihm und ihr die männlichen »Lehrjahre«, also die Orientierung an einem Romantypus, den Hegel in diesem Zusammenhang als Ausdrucks- und Reflexionsmedium des sich bildenden bürgerlichen Mannes heranzieht. Demgegenüber scheint das Philister-Komplement, das Mädchen und die spätere Ehefrau und Mutter, den Verhältnissen perfekt ein- und angepasst: »Mädchen, wie es sein soll«. Hegels einschlägige Formulierung allu­diert den 1795 und damit im Jahr von Wilhelm Meisters Lehrjahren erschienenen Roman der Wilhelmine Karoline von Wobeser, ein Erfolgsmodell: Elisa, oder das Weib wie es seyn sollte. Elisa, das Weib wie es sein sollte, stellt sich als Inbegriff zwanglos un­pro­ble­ma­ tischer Übereinstimmung von Natur und Gesellschaft, Realität und Idealität, Herzensund Gesellschaftsordnung, Sein und Sollen dar.4 Mädchen wie dieses sind Engel und eignen sich zur späteren Philister-Ehefrau, angel in the house. Es ist ein solches Wesen, das in Hegels Philister-Szenario gesucht, erobert, der Herkunftsfamilie abgetrotzt, geheiratet wird. Seine Passivität ist zu akzentuieren; es ist und wird gebildet, anstatt sich im Stil der Lehrjahre selber zu bilden; es wird gesucht und erobert, ohne selber tätig zu werden. Erst als Ehefrau entfaltet es eine typische, sich auf das Hauswesen er­strecken­de wie beschränkende Aktivität: als Haushaltungsvorstand und »Hauskreuz« zugleich, als in die Jahre gekommener, prosaisch beanspruchter Engel, Repräsentantin bürger2 Locus classicus in Sachen Philister und Genie: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774, hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 (= Bibliothek der Erstausgaben, Bd. 2676), S. 20, Brief v. 26. May [1771]. Vgl. dazu den Beitrag von Walter Erhart in diesem Band. 3 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (Anm. 1), S. 220. 4 Charakteristisches Zeichen dieser Übereinstimmung ist, dass Elisa wirklich ständig, teilweise mehr­mals auf einer Buchseite in Unschuld errötet, so wie es der Kongruenz von gesellschaftlicher Norm und natürlicher Zeichenlehre entspricht und zugleich hochunwahrscheinlich erscheint (Wilhel  mine Caroline von Wobeser, Elisa, oder das Weib wie es seyn sollte, 3. Aufl., Leipzig: Gräff 1798 [1795], passim).

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licher Verhältnisse, deren Prosa angepasst, für den »Katzenjammer« des Ehemanns entscheidend verantwortlich. »Ist die[se] Gattin eines Philisters darum ein Philister?«, fragt schon Clemens Brentano am Ende seiner Philisterabhandlung von 1811.

»Ist diese Gattin eines Philisters darum ein Philister, kann ein Weib überhaupt ein Philister sein?«5 Diese Fragen begleiten oder vielmehr strukturieren die moderne Geschichte der Phi­lis­ter­semantik, wobei der Unterscheidung von »Gattin« und »Weib« eine ent­ schei­den­de Rolle zukommt. »Kann ein Weib überhaupt ein Philister sein?« Die Be­ dingung der Möglichkeit des weiblichen Philisters, der transzendental bestimmten »Philisterinn«,6 wäre mit und nach Brentano grundsätzlich, das heißt anthropologisch zu formulieren. Als geschlechtscharakterlich bestimmtes Gattungswesen ist das Weib der Gesellschaft, der ›Prosa der Verhältnisse‹, erfrischend natürlich entgegengesetzt. Ihr gegenüber verhält es sich, wenn auch möglicherweise eher ›wild‹ und ›roh‹ statt civilisiert, unhintergehbar exterritorial. Brentano wählt in diesem Zusammenhang konsequent den Tiervergleich. Das Tier ist respektive wird nur dort zum Philister, wo es mit Menschen in einer »vertrauten Berührung« steht, und »je mehr ein Tier dem Menschen liebenswürdig erscheint, je mehr wird es Philister«. Von der Philistrosität sind hingegen solche Wesen ausgenommen, die durch »Naturgesetze« bestimmt und beschränkt sind; neben den Blöd- und Wahnsinnigen auch der »reine rohe Bauer« und die »wilden Völker«. Auch für diese naturgeschützten Nichtphilister ist der Kontakt zum Philister allerdings gefährlich; so liest man im Hinblick auf die »wilden Völker«: »laßt aber einen Mohren nur hinten als Kammermohren auf die Kutsche springen, so ist er der leibhaftige Philister selbst«.7 Insofern wäre naher und regelmäßiger Kontakt mit dem Philister, mit der phi­lis­trö­ sen Gesellschaft zu vermeiden oder doch zu minimieren. Ganz anders als bei Hegel soll es Brentano zufolge eine ideale romantisch-exterritoriale vor der »Philistervollen Welt« geschützte Existenz geben, die nun gerade in der Ehe als »Heiligtum« und »Tempel« ihren Ort hätte.8 Zur Philistrosität kommt es nach Brentano hingegen dort, wo etwa im Fall der – später Blaustrümpfe genannten – »gelehrten Frauen« Natur gegen Ge5 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (= Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn, Bd. 11), S. 38 – 90, hier S. 85. 6 Brentano, »Der Philister« (Anm. 5), S. 84. – Das grammatische Femininum ist äußerst rar. 7 Brentano, »Der Philister« (Anm. 5), S. 85. 8 Dies dürfte vor allem der romantischen Vorstellung einer idealen Kongruenz von Liebe und Ehe geschuldet sein.

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sellschaft, die »Genialität des Fleisches« gegen die Genialität des »Wortes« eingetauscht werden: Schriftstellerinnen, die sich, ein »toller Weg«, der Genialität des Wortes verschrieben haben, droht als Degeneration der Eintritt ins Philistertum.9 Dies gilt jedoch nicht für alle ›Wort-Genialen‹. Brentano, der seinen Text – mit iro­nisch beschränkter Haftung  – als »Schreiber« unterzeichnet, kennt ›heilige‹ Aus­ nah­men: »Sapho hat gedichtet«, schreibt er lakonisch. Die »Ausnahme« ist insofern in­teres­sant, als sie die Tragik der Gesetze umgeht; »und daß man sie umgehen kann ist das Komische«. Das Komische dürfte hier in der positiven Negativität liegen, im Widerspruch zur Erwartung, in der Abweichung von der Norm als allgemeiner Bahn.10 Man muss festhalten, dass Brentanos Abhandlung die gleichsam wilde, unan­ge­ fochtene Stellung der durch Natur, Liebe, Mutterschaft und Ehe prinzipiell vor Phi­lis­ tro­si­tät geschützten Frau allerdings relativiert. Die »Kupfertafel«, die der »Abhandlung« vorangestellt ist, zeigt die – einzige – Frau nicht außerhalb, sondern in der Mitte einer Gesellschaft von Philistern. Die »Philisterinn« ist hier nicht nur Teil eines Räderwerks, einer Philister-Maschine, sie ist selber Maschine, eine Philister-Gebärmaschine, die laut »Erklärung der Kupfertafel« kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern ein »dreidrähtiges Philister-Embryon« trägt. Die kleinen Embryonalphilister sind mit Mützen und Stiefeln und Tabakspfeifen bereits voll ausgestattet, allein Zeitungen und Journale, die sie dort nicht »hereinbekommen«, fehlen zum vollen Philisterglück. Auffällig, dass schon die ungeborenen Philister sich unterscheiden lassen  – in zufriedene und un­ zu­friedene, fröhliche und missmutige. Die klare und emphatische Unterscheidung von Philistern und Nicht-Philistern wird so im Stil eines scherzhaft-komischen Intermezzos relativiert. Dabei mag es sein, dass diese »Philisterinn« eine solche wesentlich als Gattin ist, insofern sie nämlich Frau eines »philosophierenden Philisters« ist.11 Brentanos Fragen werden, aber weniger scherzhaft, in der Jahrhundertmitte bei Arthur Schopenhauer wieder aufgenommen.12 Die Antwort fällt bemerkenswert entschieden aus. Die Weiber sind und bleiben im Ganzen genommen die »gründlichsten und unheilbarsten Philister«. Die psychosozialen Ursachen dieses Befundes sind in ihrer Stellung als Gattinnen zu sehen. Weiber sind Philister, »weil sie bei der höchst absurden Einrichtung, daß sie Stand und Titel des Mannes theilen, die beständigen Ansporner seines unedlen Ehrgeizes« sind. Die Ehe figuriert hier keineswegs – wie in der 9 Brentano, »Der Philister« (Anm. 5), S. 85 f. 10 Brentano, »Der Philister« (Anm. 5), S. 86. Vgl. Andreas Kablitz, »Komik, Komisch«, in: Harald Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2, Berlin / New York: de Gruyter 2000, S. 289 –294, hier S. 289 f. 11 Brentano, »Der Philister« (Anm. 5), S. 83 f. 12 Brentanos scherzhaftes Intermezzo wäre für Schopenhauer wohl schon deshalb inadäquat, weil es sich bei den Philistern um Leute handelt, »die immer auf das Ernstlichste beschäftigt sind«, und denen er daher mit Ernst begegnet (Arthur Schopenhauer, »Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften I«, in: ders., Werke in fünf Bänden, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich: Haffmans 1991, Bd. 4, S. 311– 483 [»Aphorismen zur Lebensweisheit«], hier S. 340).

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romantischen Idee Brentanos – als ›heiliges‹ Residuum und tempelartiger Schutz vor außerhäusig drohendem Philisterium, vielmehr ist sie auch und gerade in der betriebsamen Figur der Philister-Frau funktional auf dieses Philisterium bezogen. Das »Vorherrschen und Tonangeben« der Ehefrau gilt Schopenhauer als »Verderb der modernen Gesellschaft«,13 mag auch die Frau aus dieser Gesellschaft weitgehend exkludiert sein. Maßgeblich ist für ihre partielle Inklusion die Beziehung, die sie, von Stand und Titel abhängig, zu ihrem Ehemann unterhält: Was eine ist, hängt davon ab, »was einer ist«. Unter der Überschrift »Von dem, was einer ist« findet sich die prägnante Cha­rak­ terisierung des männlichen Philisters: »ein Mensch ohne geistige Bedürfnisse«. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Mensch sich ›geistig‹-intellektuell oder künst­le­ risch-›ästhetisch‹ betätigt; das Philistertum hängt vielmehr an Motiv und Eigenart die­ ser Beschäftigungen und Bedürfnisse. »Kein Drang nach Erkenntniß und Einsicht, um ihrer selbst Willen, belebt sein Daseyn, auch keiner nach eigentlich ästhetischen Genüssen«. Statt auf Erkenntnis und Einsicht um ihrer selbst willen geht der Philister auf »Austern und Champagner«, »leibliches Wohlseyn« überhaupt. Was jedoch – und trotzdem – vorherrscht, sind »dumpfer, trockener Ernst« und Langeweile, denen durch allerlei fade Genüsse, durch »Ball«, »Theater«, »Gesellschaft«, »Kartenspiel«, »Reisen«   – »usw.« – vergeblich Abhilfe zu schaffen versucht wird. Nichts erfreut den Philister, »nichts erregt ihn, nichts gewinnt ihm Antheil ab«.14 Kein Interesse, Karten-Spiel ja, Scherzhaftigkeit nein. Der Philister verharrt ernst, stumpf, gelangweilt, sachlich und innerlich uninteressiert; er ist ganz extrinsische Motivation. Animiert ist der Philister dann und nur dann, wenn Ehrgeiz und »Eitelkeit« angereizt sind. Belebend wirkt, dass er an »Reichthum, oder Rang, oder Einfluß und Macht, An­ dere übertrifft, von welchen er deshalb geehrt wird«.15 Und genau an dieser Stelle, an der die genannten Güter winken, wirkt die Philistergattin, hier nimmt sie ihre mo­ti­ vie­rende Funktion wahr. Denn schließlich ist sie, was Geld, Rang, Stellung, Einfluss, Macht und Ansehen, Stand und Titel betrifft, im Sinn der von Schopenhauer so genannten »höchst absurden Einrichtung« auf den Gatten und dessen gesellschaftliche Stellung angewiesen. Weder zu geistiger noch zu körperlicher Arbeit fähig, ohne umstandslosen Zugriff auf ökonomisches noch auf symbolisches Kapital, wird sie tätig, in­dem sie als beständiger Ansporn des »unedlen Ehrgeizes« ihres Gatten fungiert.16 Auch der gesellschaftlich-gesellige Umgang, den der Philister und seine Gattin suchen, ist von Eitelkeit, Ehrgeiz, also vom Begehren bestimmt, sich im Einzugs- und Einfluss13 Arthur Schopenhauer, »Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften II«, in: ders., Werke in fünf Bänden (Anm. 12), Bd. 5, S. 527–535 (»Ueber die Weiber«), hier S. 532, § 369. 14 Schopenhauer, »Aphorismen zur Lebensweisheit« (Anm. 12), S. 340 f. 15 Schopenhauer, »Aphorismen zur Lebensweisheit« (Anm. 12), S. 341. 16 Schopenhauer, »Ueber die Weiber« (Anm. 13), S. 532. Eine etwas schäbige Version der hegelschen Konstruktion von Weiblichkeit als »die ewige Ironie des Gemeinwesens« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (= Werke [Anm. 1], Bd. 3), S. 352).

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bereich Reicher, Ranghoher und Mächtiger zu platzieren und aufzuhalten. Leute, die »in Dergleichen eminieren«, ermöglichen es eingespielten Philisterpaaren, Karriere zu machen und sich im »Reflex« dieses »Glanzes« zu sonnen.17

Eine andere Moderne Schopenhauers Philister-Argument, das im Grunde nur den Mann als genuin gesell­ schaftliches Wesen bedenkt, steht vor einer Umbruchsituation, an einer Epochenschwelle. Denn um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt mit der Forderung nach Emancipation und gesellschaftlicher Inklusion des weiblichen Geschlechts eine andere Moderne. Forderungen nach Bildung, Ausbildung und Berufstätigkeit des anderen Ge­schlechts18 tangieren die ›wirkliche‹ und bis dato ›vernünftige‹ Arbeitsteilung von Philister-Mann und -Frau, gleich welchen Formats. Die Philistersemantik bekommt es mit einem Angriff auf die bürgerliche als patriarchalisch-spießbürgerliche Gesellschaft zu tun. Zwar können im Sinn der Schopenhauer’schen Kasuistik nach wie vor Einzelne als stumpfer, eitler, ehrgeiziger, hohler und damit philiströser als andere auffallen. Im Zeichen der Emancipation wird jedoch die hegelianische, romantische oder schopenhauerianische Philister- als Geschlechter-Grammatik zweifelhaft. Der moderne Frauentypus, auf den vor allem bürgerliche Frauenbewegungsforderungen zulaufen, wird sich ungeachtet »aller spießbürgerlichen Hemmungen der früheren Epoche« die »eigene Welt« erobern. »Schlafende Psychen wachen auf«, diagnostiziert Hedwig Dohms Roman Christa Ruland von 1902, »Spatzenzeug kriegt Adlerflügel« und: »die Haare der Simsons, der großen Rächer, wachsen, wachsen«. Aus Sicht der Protagonistin ge­spro­chen: »Philister hütet Euch!«19 Eine ähnlich düster-euphorische, erhabene Stim­ mung lässt Maria Janitscheks Gedicht »Ein modernes Weib«20 von 1889 zum Ereignis werden. Heißt es an dessen Schluss: »So wisse, daß das Weib / Gewachsen ist im neun­zehnten Jahrhundert«, so wird damit eine Umkehrung der Größen- und Ge­walt­ verhältnisse imaginiert. Das Gedicht endet im Kampf und mit dem Tod eines männ­ 17 Schopenhauer, »Aphorismen zur Lebensweisheit« (Anm. 12), S. 341. 18 Richtungweisend bei Louise Otto, Das Recht der Frauen auf Erwerb. Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart, Hamburg: Hoffmann und Campe 1866. 19 Die Stelle findet sich im Kontext eines Briefes, in dem sich die Protagonistin an eine jüngere Schwester wendet: »Du brauchst Dich nicht zu hüten, mein Aennchen Mariechen, Du bist nicht phi­ lis­trös. Ich habe Dich sehr lieb. Deine Christel« (Hedwig Dohm, Christa Ruland, Berlin: S. Fischer 1902, S. 178). – Zu »Simson als frauenemanzipatorische Metapher für die Krise der Männlichkeit« vgl. Joseph Croitoru, »Zwischen Übermacht und Ohnmacht: Die Figur Simsons in der deutschen, völkischen und zionistischen Literatur um 1900 als Medium des kulturpolitischen Kampfes um he­ge­ moniale Männlichkeit«, in: Ulrike Brunotte und Rainer Herrn (Hrsg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld: transcript 2008, S. 207–218, hier S. 208. 20 Maria Janitschek, »Ein modernes Weib«, in: dies., Irdische und unirdische Träume. Gedichte, Berlin / Stuttgart: Spemann 1889, S. 19 –21.

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lichen Beleidigers:21 »Sprach sie mit großem Aug’, und schoß ihn nieder.«22 An die Stelle des Schreis – »sie hätte schreien mögen / Vor Wut und Elend« –, wie ihn Rainer Maria Rilkes Poetologie als einzig angemessenes Ausdrucksmittel der Frauendichtung zuweist,23 tritt hier die Gewalttat. Szene, die sich auf der Ebene der Darstellung und ihres autorschaftlichen Ursprungs als Sprach- und genauer als Schreib-Tat vollzieht. Tinte statt Blut. Dabei handelt es sich allerdings nicht um die Sprache der »Eman­ zi­pationspredigerinnen«, urteilt ein Essay Leo Bergs; vielmehr habe man es im Fall Maria Janitschek mit einer Sprache des »Höherstrebenden« zu tun, einer Sprache, die allerdings die »Philister unter den Weibern gar nie verstehen.«24 Das kann sowohl pedantisch emanzipierte Blaustrümpfe als auch Vertreterinnen jener »philiströsen Anschauung« meinen, die Frauen als Exponentinnen des antimodernen »Beharrungs­prin­ zips« und damit als wert-»konservativ« sieht.25 Um 1900 wird die Philistersemantik lebensphilosophisch-neuromantisch ak­zen­ tu­iert und mit diesem Akzent auch das Problem gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion des anderen Geschlechts neu austariert. Die Frage Brentanos, ›Kann ein Weib überhaupt ein Philister sein?‹, gewinnt in diesem Zusammenhang neues Gewicht. In neuerlichem Anschluss an Naturdiskurse und romantische Ideale des ausgehenden 18. Jahrhunderts sollen sich Philistertum und Weiblichkeit als grundsätzlich un­verein­ bar ausschließen. Die Frau »kann kein Philister sein«, befindet Ricarda Huch apo­dik­ tisch 1902. Das soll nicht nur für die Ehe- und Hausfrau, sondern auch für die am gesellschaftlichen Horizont allmählich erscheinende berufstätige Frau gelten. So wenig Kopfarbeit kränklich mache, so wenig mache Berufstätigkeit philiströs. Der Grund für die grundsätzliche Nichtanfälligkeit fürs Philiströse ist darin zu suchen, dass sie, so Huch, »immer mit der Seele dabei ist, mit der ganzen Persönlichkeit«.26 Georg Simmel, an den Huch und andere anschließen, bestimmt Weiblichkeit grund­legend als organische, geschlossen-gerundete Einheit, die sich in wohltuen­dem Kon­trast von der »zersplitterten Vielheit«, den Besonderungen der differenzierten Seelen­art des Mannes und seiner gesellschaftlichen Stellung abhebt. Was die Frau auch

21 »Ein Mann beleidigte ein Weib. Es war / von jenen schnöden Thaten eine, die / kein Weib vergessen und vergeben kann« (Janitschek, »Ein modernes Weib« [Anm. 20], S. 19). 22 Janitschek, »Ein modernes Weib« (Anm. 20), S. 21. 23 Ursula Geitner, »Allographie. Autorschaft und Paratext – im Fall der Portugiesischen Briefe«, in: Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek (Hrsg.), Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen, Berlin: Akademie 2004, S. 55 – 99. 24 Leo Berg, »Maria Janitschek«, in: ders., Zwischen zwei Jahrhunderten. Gesammelte Essays, Frank­ furt am Main: Rütten & Loening 1896, S. 178 –193, hier S. 189 f. 25 Leo Berg, Aus der Zeit – Gegen die Zeit. Gesammelte Essays, Berlin u. a.: Hüpeden & Merzyn 1905, S. 268. 26 Ricarda Huch, »Studium und Beruf der Frau«, wiederabgedruckt in: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.), Frauenarbeit und Beruf, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1979, S. 237–244, hier S. 240 f.

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tut, das »ganze Innere« antwortet.27 In der Charakterisierung der Frau (Kollektivsingular) bewähren sich hergebrachte aristotelische Oppositionen, die umgeschrieben und zugleich umgewertet, der Moderne eingepasst werden: Innen und Außen, Haus und Gesellschaft, Seele und »reine Sachlichkeit«, Einheit und Vielheit, zentripetale und zentrifugale Tendenzen, »Wesenstotalität und Teilfunktion«.28 Die Frau steht in die­sen Gegenüberstellungen auf der ›richtigen‹, gegenüber fragmentierter Differen­ziert­heit aufgewerteten Seite – und bleibt gesellschaftlich dennoch und gerade deshalb außen vor. Positionen wie diese entsprechen einer Situation, in der das andere Geschlecht als moderne »Hausfrau«29 nicht zu allen Teilsystemen der funktional differenzierten Gesellschaft Zugang hat oder haben sollte. Die um 1900 vielbewunderte Ellen Key, deren Studie Mißbrauchte Frauenkraft eine inkommensurabel-wilde, dionysisch angehauchte »Urnatur« des Weibes geltend macht, spricht es im Hinblick auf den Beruf, der immer »Berufung« ist und bleiben soll, klar aus: »Reproduktion und Philanthropie begrenzen das Feld weiblicher Be­ ru­fung«.30 Key zufolge gibt es eine andere, eine spezifisch weibliche Genialität mit fol­gen­den – auf den männlichen ›Schöpfer‹ funktional bezogenen – Eigenschaften: In­tui­tion, Spontaneität, Naturgebundensein, Instinkt, Intensität des Empfindens, Seherblick und Inspiration.31 Damit genießt die weibliche Wesensart zugleich Schutz vor drohender Philistrosität: »Durch das Formelle, Logische und Systematische in der männlichen Natur wird der Dutzendmensch unter den Männern auch noch dürrer und eingebildeter sein, mehr der bloßen Form huldigen, mehr Philister sein, als die Frau von derselben Sorte.«32 In gewisser Weise wird damit noch einmal die Position Werthers – gegenüber Albert – eingenommen, aber nunmehr für weibliche Genialität,

27 Georg Simmel, »Bruchstücke aus einer Psychologie der Frauen«, in: ders., Aufsätze und Abhand­ lungen 1901–1908, Bd. 1, hrsg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 289 –294, hier S. 290 f. 28 Georg Simmel, »Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem«, in: ders., Philo­so­phi­ sche Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin: Wagenbach 1983, S. 64 – 93, hier S. 70. 29 Gesellschaftsgeschichtlich gesehen ist zu bedenken, dass funktionale Differenzierung mit ihren Teil­systemkompatibilitäten und Inklusionsansprüchen wohl nur in einem Fall regelrecht aussetzt, nämlich dem der »Hausfrau« (Niklas Luhmann, »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tra­ dition«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 9 –71, hier S. 30 f.). 30 Neben karitativ-helfenden Berufen sind Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tonkünstlerinnen als Exemplare künstlerischer »Reproduktion« zugelassen: Ellen Key, Mißbrauchte Frauenkraft. Ein Essay, übers. von Therese Krüger, Paris u. a.: Langen 1898, S. 5. – Vgl. dazu Marlies Janz, »›Die Frau‹ und ›das Leben‹. Weiblichkeitskonzepte in der Literatur und Theorie um 1900«, in: Hartmut Eggert, Erhard Schütz und Peter Sprengel (Hrsg.), Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne, München: Iudicium 1995, S. 37–52. 31 Key, Mißbrauchte Frauenkraft (Anm. 30), S. 39. 32 Key, Mißbrauchte Frauenkraft (Anm. 30), S. 40.

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weibliche ›Urnatur‹ reklamiert. Damit handelt sich allerdings eben diese Ellen Key ein, dass nun sie selbst als Philisterin markiert wird; heißt es doch in einer zeitgenössischen Rezension ihres Essays, Mißbrauchte Frauenkraft biete »alte Philistermoral mit neumodischem Anstrich«.33

Seele, reine und neue Sachlichkeit Hatte Simmel die Opposition von Frau und Mann als eine von Seele und »reiner Sach­lichkeit« bestimmt, so optiert die Neue Sachlichkeit anders. Anstatt dass Seele und Sachlichkeit eine Geschlechterdifferenz fassen, bezeichnen sie eine historische Dif­ferenz von alter und neuer Zeit, wobei nicht nur mit Richard Huelsenbeck »der Krieg!«34 als Zäsur, nämlich als gesellschaftlicher Katalysator und als wie immer bru­ tale, so doch faktische Emanzipations- und Inklusionsagentur zu verstehen ist. Was besagt diese für die Neue Sachlichkeit konstitutive Zäsur für Philister und Philisterin im Sinn der Brentano’schen Fragen? Die Frau wird nicht mehr wesentlich als Mädchen, als Hausfrau und Ehefrau – eines Philisters – und als Mutter – neuer Philister – gesehen, sie wäre vielmehr als gesellschaftlich inkludiert oder, wie es eben in der auf den Ersten Weltkrieg folgenden zeitgenössischen Semantik heißt, als ›versachlicht‹ zu beschreiben. Voraussetzungen dessen sind Ausbildung und Beruf, außerhäusliche, ent­lohnte Erwerbstätigkeit, die nicht mehr nur als »Uebergang« gedacht wird, also nicht mehr nur eine Episode vor der Eheschließung darstellen soll.35 Dem klassischen Philister fehlt in dieser Konstellation sein Gegenüber, das häuslich-familiale Komplement. Rückblickend liest man 1929 in Elsa Herrmanns So ist die neue Frau über den Epochenumbruch: »Unverrückbar steht fest, daß sich eine tiefe Kluft zwischen dem Heute und dem Gestern aufgetan hat. Denn zwischen den Jahren 1914 und 1924 klafft ein Abgrund, der die Menschen beider Zeiten voneinander weiter entfernt hat, als oft

33 Anna Schapire, »Mißbrauchte Frauenkraft«, in: Neue Zeit 16.2 (1897   /   98), S. 535 –536, hier S. 535.  – Vgl. Hedwig Dohm, »Reaktion in der Frauenbewegung«, in: Die Zukunft 29 (1899), S. 279 –291. 34 Richard Huelsenbeck, »Die Bejahung der modernen Frau«, in: Friedrich M. Huebner (Hrsg.), Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen, Leipzig: Seemann 1929, S. 18 –25, hier S. 19. – Vgl. über die »Menschen der Nachkriegszeit« auch Elsa Herrmann, So ist die neue Frau, Leipzig: Avalun 1929, S. 11. 35 Seitens einer Prokuristin ergeht etwa folgender Rat: »Hüte dich, den Beruf als Uebergang aufzufassen, sondern nutze deine Lehrjahre, als sollte dich der Beruf immer und auschließlich ernähren!« (Maria Hörbrand, Die weibliche Handels= und Bureau=Angestellte, Neu-Finkenkrug bei Berlin: Paetel 1926, S. 28). – Die zeitgenössischen Zahlen und Statistiken sprechen allerdings eine andere Sprache; siehe dazu: Susanne Suhr, Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebensverhältnisse. Eine Umfrage des Zentralverbandes der Angestellten, Berlin: Zentralverband der Angestellten 1930, S. 8, mit der Angabe, vier Fünftel aller weiblichen Angestellten seien unter 30 Jahre alt.

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Jahrhunderte sie zu trennen vermögen.«36 Konsequenz sei, dass »die Frau von heute« das »treibende Element unserer Zeit« darstellt, während der Mann als »Repräsentant des Beharrungsprinzips«37 erscheint. ›Kann ein Weib überhaupt ein Philister sein?‹ Die von der neusachlichen Anthro­ pologie und den ihr entsprechenden Verhaltenslehren auf Brentanos Frage gegebenen Antworten weichen sowohl von der älteren Geschlechtscharakteristik als auch von den um 1900 formulierten neoromantisch-lebensphilosophischen Positionen entscheidend ab. Hat Simmel »Sachlichkeit« noch als rein männlich ausgewiesen, geht die neusachliche Wendung auf eine Zurückweisung jener klassischen Unterscheidungen und mit ihnen verbundenen Codierungen. ›Seele‹ soll nicht länger als Antonym zu ›Sachlichkeit‹ gelten. »Haarschnitt ist noch nicht Freiheit«, ein Essay aus dem Jahr 1929 charakterisiert die neusachliche Frau: »Ein Regenbogen von Tätigkeiten hat ihre Seele imprägniert. Nur ein Schwächling erträgt es nicht: daß heute die Seele jeder Frau eine deutliche Beimischung hat von Chemikerin oder Prokuristin, Sängerin oder Photo­ graphin, Juristin, Volkswirtin oder Ärztin.« Diese Frau habe sich »ein männliches Le­ ben erobert. Sie ist stolz auf ihr Leben, wie Männer stolz sind. Aber – was ist eigentlich schon ein Mann? Was ist vor allem der heutige Mann mit seinem lächerlichen Spezialstolz: als Leiter einer Aktiengesellschaft, als Sieger bei einem Autorennen, als Tribun, als technischer Erfinder?« Im ›Spezialstolz‹ einer beschränkten Fachlichkeit und der Sorge des ›Schwächlings‹ erscheint die alte Stelle des Spießer- und Philistertums neu be­setzt.38 Eine Alternative wird in der Kameradschaftsehe gesehen: »Die Frau als Ka­ me­rad«, so eine gleichnamige Studie bereits aus dem Jahr 1919, verlässt mit der do­ mi­nie­renden »Männerkultur« auch die missliche Lage der »Durchschnitts-Frauen«, die mit »dem neuzeitlichen Leben und Wissen fernen Begriffen aufwachsen« und »in ihrer philisterhaften Färbung« so unangenehm wirken.39 Die Ehe der Kameraden ist zwar anforderungsreich und krisenanfällig, gleichzeitig jedoch erscheinen die »ruhigen, bequemen Ehen des braven Bürgerphilisteriums« minderwertiger als die Kamerad­ schaftsehen, »über welche sich jene satten, glücklichen Philistergatten wiederum erheblich entrüsten«. Den Philistern fehlt insbesondere »der echte Gleichklang im Lebens­-  rhythmus«.40

36 Herrmann, So ist die neue Frau (Anm. 34), S. 154. 37 Herrmann, So ist die neue Frau (Anm. 34), S. 147. 38 Heinrich  E. Jacob, »Haarschnitt ist noch nicht Freiheit«, in: Huebner (Hrsg.), Die Frau von Morgen (Anm. 34), S. 127–134, hier S. 130. 39 Paul Krische, Die Frau als Kamerad. Grundsätzliches zum Problem des Geschlechtes, 3. Aufl., Bonn: Marcus & Weber 1923, S. 81. – Zum amerikanischen Modell der Kameradschaftsehe siehe Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit, Frankfurt am Main / New York: Campus 2005, S. 267 ff. 40 Krische, Die Frau als Kamerad (Anm. 39), S. 44.

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Hier ist allerdings ein Unbehagen zu vermerken: »Mit der Frau von heute stimmt etwas nicht!«41 Es bleibt nämlich umgekehrt zu fragen, ob die neusachliche Frau mit Arbeit, Beruf, Selbständigkeit, eigener Karriere und Spezialisierung, neusachlich abgekühltem Habitus, den man insbesondere an der weiblichen »Bureau-Angestellten«42 sieht, nicht auch die »Beimischung« des Philiströsen erwirbt, das Recht auf eine durchschnittliche Existenz, auf eine »Dutzendmenschen«-Berufsbiographie.43 Dieser Verdacht erscheint berechtigt, auch wenn auf der Oberfläche neusachlicher Prä­feren­zen das »Knappe, Schnelle, Präzise der modernen Frauenerscheinung«44 alt­backene phi­ lis­tröse Behaglichkeit ablösen, auch wenn Girl, Garçonne und Flapper auf Glamour setzen45 – und im Hinblick auf die neue Freizeitkultur der weiblichen Angestellten gar von einer Angestellten-Bohème gesprochen wurde.46 Gleichzeitig breitet sich, was die ›Frau von Morgen‹ angeht, eine Art diskursiver Gegenbewegung aus: in der Perhorreszierung eines Verlusts weiblicher Werte,47 in der Warnung vor einer »Hyper­tro­ phie männlicher Sachkultur«, in der Sorge um den Ausfall der Frau als materneller »Atmos­phärenwert«,48 so formuliert ausgerechnet von Fritz Giese, dem Theoretiker der Girlkultur und Girlmaschine. Unter dem Vorzeichen einer allgemeinen Kritik der Maschine bildet Gieses Atmosphärenfrau das krass kompensatorische Gegenstück zum philiströs fachidiotischen Teilmenschen ebenso wie zum dem Automaten angepassten und von ihm abgestumpften »iron man«.49 Man kann festhalten, dass nach dem Krieg von 1914 –1918 die Hausfrau als Leitfigur, sei es als dem Philister zukommende Ergänzung (Hegel), sei es als Motiva­ torin philiströser Karrieren (Schopenhauer), einen zunehmenden Bedeutungs­verlust ­erfährt.50 Man kann hinzunehmen, dass auch das Gattungswesen Weib weder als dio­ 41 Jacob, »Haarschnitt ist noch nicht Freiheit« (Anm. 38), S. 130. 42 Hörbrand, Die weibliche Handels= und Bureau=Angestellte (Anm. 35), S. 28. 43 Key, Mißbrauchte Frauenkraft (Anm. 30), S. 40. 44 Huelsenbeck, »Die Bejahung der modernen Frau« (Anm. 34), S. 24. 45 Insbesondere zu letzterem Typus: Heide Volkening, »Working Girl  – eine Einleitung«, in: Susanne Biebl, Verena Mund und Heide Volkening (Hrsg.), Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit, Berlin: Kadmos 2007, S. 7–22. 46 Siegfried Kracauer, »Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland«, in: ders., Schriften I: Soziologie als Wissenschaft · Der Detektiv-Roman · Die Angestellten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 205 –304, hier S. 265. 47 Gabriele Palm, »Persönliche und sachliche weibliche Kultur«, in: Die Frau 35.5 (1928), S. 270 –281. 48 Fritz Giese, Die Frau als Atmosphärenwert. Strukturelle Grundlagen weiblicher Bildungsziele, München: Delphin 1926, S. 41. – Gegen das »Kulturkolorit des Maschinenzeitalters« (S. 43) und die »Unkultur des Fachmanns« (S. 46) wird die Atmosphären-Frau als »Kompensationswert« (S. 48) gesetzt. 49 Arthur Pound, Der eiserne Mann in der Industrie. Die soziale Bedeutung der automatischen Maschine, übers. von Irene M. Witte, München / Berlin: Oldenbourg 1925. 50 »Die Frau von heute ist ohne Berufstätigkeit überhaupt nicht denkbar« (Herrmann, So ist die neue Frau [Anm. 34], S. 72).

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ny­sisch angehauchte Ur-Natur noch als neo-romantisches Seelenwesen mehr über­ zeu­gen kann  – beides bewährte Widerlager des Philisters. Muss man damit aber an­nehmen, dass nunmehr jeder und jede Philister oder Philisterin ist  – und damit keine /r? Tritt mit dem Philister und der überkommmenen Philistermoral auch die alte Philisterin ab – oder, angel out of the house,51 mit der neuen Philisterin auch der alte Philister?

Alice Berends Betrachtungen eines Spießbürgers von 1924 Fragen wie diese stellt sich ein Buch mit dem Titel Betrachtungen eines Spießbürgers, auf dessen Cover zwar die Autorin Alice Berend erscheint, dessen Titelblatt allerdings nicht den Autornamen, sondern einen Untertitel mit Herausgeberfiktion präsentiert: »Betrachtungen eines Spießbürgers. Aufgestöbert von Alice Berend«,52 eine Rahmung, über die der Text kein einziges Wort verliert. Das erste Kapitel der Betrachtungen trägt die Überschrift: »Über Verliebtheit, Ehe und Liebe und andere Allgemeinheiten« und ihr letztes: »Über Enkel, Urenkel oder andere Zeiten – andere Spießbürger«.53 Gleich im ersten Kapitel spricht ein Mann, der den – eben entstehenden – Text als »Memoiren« charakterisiert, als »Aufzeichnungen eines kleinen Mannes«, genauer eines Spieß­bür­ gers, der sich folgende rhetorische Frage stellt: »Soll ich, Theodor Pfeiffer, Großkaufmann a. D., meine Mußestunden nun dazu anwenden, um von meinen mancherlei Betrachtungen etwas zum besten zu geben? Ich ein gewöhnlicher Spießbürger?«54 Genitivus objectivus: Natürlich lässt »Betrachtungen eines Spießbürgers« fragen, wer den Spießbürger wann und aus welcher Perspektive betrachtet. Dabei könnte es 51 Außerhalb des Hauses und der Familie und dies im Unterschied zu den philanthropisch be­grenz­ ten Tätigkeitsfeldern des 19. Jahrhunderts; siehe dazu Dorice Williams Elliott, The Angel out of the House: Philanthropy and Gender in Nineteenth-Century England, Charlottesville, VA / London: UP of Virginia 2002. 52 Alice Berend, Betrachtungen eines Spießbürgers. Aufgestöbert von Alice Berend, München: Langen 1924. 53 Titel und Themen der Betrachtungen sind, um nur einige aus dem »Inhalt« herauszuheben, neben »Kleinigkeiten« auch »große Dinge«, »Glatteis, Erziehung, Glück und andere unsichere Gebiete«, »Garnichts und Ähnliches«, »Etwas, wovon jeder spricht«, »Jugend, Gemütlichkeit, Politik und Ähnliches, das nicht zusammenpasst« (Berend, Betrachtungen [Anm. 52], S. 5). 54 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 7.  – Zur semantischen Äquivalenz von »Philister« und »Spießbürger« siehe Karl Heisig, »Dt. Philister = Spießbürger«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 83 (1964), S. 345 –350. Nach den Jenaer Ereignissen am Ende des 17. Jahrhunderts wird Philister Synonym für »Spießbürger, Nichtstudent«; der Spießbürger ist »amusisch«, ein »kunstfremder Ba­ nause«. – Weiter gefasst ist er ein »im Denken und Handeln in konventionellen Bahnen sich bewegender Mensch«; hinzu tritt seit 1780 (bei Johann Christoph Adelung) die Bedeutung »geringer Bürger« (Art. »Spieß« / »Spießbürger«, in: Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes, 10., überarb. und erw. Aufl., bearb. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 938).

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sich einerseits um weitgehend anonyme und von der ›herausgebenden‹ Autorin ›aufgestöberte‹ Redeweisen handeln. Im Sinn einer Topik des Philisters werden klassische Stellen verzeichnet, individuell und zeitgenössisch angereichert, zugespitzt, in der li­ te­ra­rischen Präsentation personifiziert, dramatisiert. Handelt es sich hierbei poeto­lo­ gisch um Literatur im Stil zeitgenössischer ›Frauendichtung‹? Deren Konzeptionen zu­folge unterliegen literarische Texte weiblicher Autorschaft einer bestimmten Poe­tik und entsprechend decodierenden Hermeneutik: Es handelt sich um »Frauenbücher«.55 Diese sind als »Lebensbücher« zu verstehen, Lebensbücher, die anders als eigentliche ›Kunstbücher‹ grundsätzlich in autobiographischem Modus »Schicksale einer Seele« prä­sentieren und zudem die Stimme der Autorin hören lassen.56 In den Betrachtungen bleiben aber ›Schicksal‹ und ›Stimme‹ in diesem Sinn gerade ausgespart. Sie bieten vielmehr mit ihrer Ethopöie eine klassische Form, später auch Rollenprosa genannt, der gemäß die Stimme einer dritten Person mit typischen Ei­ gen­schaften und Aussagen vorgebracht wird. Diese literarische Konstruktion steht in deutl­ichem Kontrast insbesondere zur diskursiven Programmierung der sogenann­ten Frauen­bücher, sie läuft deren Anforderungen an »Weib=Eigenthümlichkeit«57 und »Wesens­dokumentation«58 zuwider. Lassen sich also aus den »Memoiren des kleinen Mannes«, die Alice Berend in den Betrachtungen inszeniert, Aussage und Leben der Autorin keineswegs umstandslos destillieren, so bleibt dennoch zu fragen, wie die in der Ethopöie inszenierte Philisterrede im Hinblick auf das ›Onym‹,59 den Autornamen, gelesen werden kann. Damit kommt das problematische Verhältnis von Weiblichkeit und Spieß­bürger­ licheit, ›neuer Frau‹ und alter »Philistermoral« noch einmal in anderer Perspektive in den Blick. Es entspricht einer als persönliche Mitteilung dokumentierten Erfahrung der 55 Heinz Michaelis, »Frauenbücher«, in: Das literarische Echo 22 (1919   /   20), Sp. 1494 –1506. Die Unterscheidung von »Lebensbuch« und »Kunstwert«-Buch findet sich schon bei: Adolf Bartels, »Es lebe die Kunst! Roman von Clara Viebig (Berlin, W. F. Fontane & Co, 1899)«, in: Die Gesellschaft 15.2 (1899), S. 131–132, hier S. 132; Richard Wengraf, »Frauenbücher«, in: Das litterarische Echo 5 (1902); Rainer Maria Rilke, »Zwei nordische Frauenbücher«, in: ders., Worpswede. Rodin. Aufsätze, Frankfurt am Main: Insel 1987 (= ders., Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, Bd. 5), S. 604 – 611. 56 Als Idealtyp gilt Hedwig Dohm, Schicksale einer Seele. Roman, Berlin: Fischer 1899. Die Re­zep­ tion des Romans ist eindeutig durch den Rahmen der Frauendichtung bestimmt und entsprechend ver­engt; vgl. Isabel Rohner, In litteris veritas. Hedwig Dohm und die Problematik der fiktiven Bio­gra­ phie, Berlin: trafo 2008. 57 Frieda Freiin von Bülow, »Männerurtheil über Frauendichtung«, in: Die Zukunft 26 (1899), S. 26 –29, hier S. 27. 58 Georg Simmel, »Weibliche Kultur«, in: ders., Philosophische Kultur (Anm. 28), S. 219 –253, hier S. 236. 59 Um den von Gérard Genette geprägten Neologismus zu verwenden (Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main / New York: Campus  – Paris: Edition de la Maison des Sciences de l’Homme 1989, S. 43 f.).

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Au­torin, dass der Ausbruch aus der bürgerlichen Familie als angestammtem Raum des Philiströsen ein schweres Stück Arbeit ist: »Was es uns kostet«, so Alice Berend im Hinblick auf ihre Schwester und sie selbst, »aus dieser Philister-Familie auszubrechen!«60 Ihre Arbeit zur »Naturgeschichte des Spießbürgers«61 ist in den 1960er Jahren unter dem Titel »Die gute alte Zeit. Bürger und Spießbürger im 19. Jahrhundert« aus dem Nachlass der Autorin veröffentlicht worden. Sie schließt mit einem entsprechenden Problemaufriss: »Das ist wohl das Konträrste, das die neue Bürgerlichkeit den früheren Zeiten entgegenzusetzen hat: die veränderte Frau. Eine Mutter künftiger Geschlechter, die plötzlich auch draußen im Leben Bescheid weiß, die rechnen kann und laufen und turnen und Kamerad zu sein versteht.« Diese veränderte Frau ist »die lebendige Überraschung neben den vielen maschinellen Wundern dieser ›transitorischen‹ Zeit, ist ihr Problem«.62 Die Form der Betrachtungen, ihr Rhythmus verdanken sich der ehelichen Kon­ver­ sation, genauer: der Ehefrau, die den Philistergatten regelmäßig stört, sein Schreiben unterbricht. Der Text, der an diesen Stellen in der Regel abbricht und dann neu – unter neuer Überschrift und mit neuem Thema – ansetzt, bekommt eben so seine Kontur, ja er kommt aufgrund dieser Unterbrechungen allererst zustande. Nervende Hausfrau und Taktgeberin,63 Störung und Halt, eigensinnige Parenthese und konstruktiver Einsatz, staubwischende Philistergattin und eigenwillig inspirierende Muse. Die spe­zi­fi­sche Form der Betrachtungen, ihr schneller, konzentrierter, frischer und »kurzgestepte[r]« wechselfreudiger Rhythmus,64 käme ohne sie nicht zustande. 60 Ursula El-Akramy, Die Schwestern Berend. Geschichte einer Berliner Familie, Hamburg: Eu­ro­pä­ ische Verlags-Anstalt 2001, S. 64. 61 »Der Titel des Manuskripts lautet: ›Naturgeschichte des Spießbürgers – ein Querschnitt durch Zeit und Schicksal‹« (»Vorbemerkung« in: Alice Berend, Die gute alte Zeit. Bürger und Spießbürger im 19. Jahrhundert, Hamburg: von Schröder 1962, S. 9 –10, hier S. 10). Dies wahrscheinlich im Anschluss an und als Antwort auf Max Lohan, »Der Philister. Ein Beitrag zu seiner Naturgeschichte«, in: Deutsche Rundschau 192 (Juli–September 1922), S. 289 –301, der sich als Fortsetzung von Clemens Brentanos Philistercharakteristik gibt (S.  295), sowie den epochendiagnostischen Essay von Otto Gmelin, Naturgeschichte des Bürgers. Beobachtungen und Bemühungen, Jena: Diederichs 1929, der den »Philister« nur als unangemessenes Schimpfwort (S. 9 u. 50) und den »Spießbürger« nur als »Bürger ohne Elastizität« (S. 17) kennt, im übrigen aber seinerseits eine postbürgerliche »›neue Sachlichkeit‹« heraufziehen sieht (S. 105). 62 Berend, Die gute alte Zeit (Anm. 61), S. 249 f. 63 Takt- und Rhythmusgeberin der neuen und neusachlichen Frau ist allerdings der kollektive Rhyth­mus des Maschineschreibens, der oftmals – und in Anlehnung an eine rekurrente Kritik der Ma­schine – als psychosozialer und physischer Terror beschrieben wird. Rhythmus ist zentrales neusachliches Thema, behandelt als Großstadtrhythmus, Arbeits- und Maschinenrhythmus, Sport und Jazz, Girlmaschine und »Filmkultur« (siehe Fritz Giese, Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München: Delphin 1925, S. 19 –36). 64 Ein Fall jener Faszination, den Girlmaschine, zeitgebundenes Telefonat, Filmkultur und Filmmentalität auf die älteren Medien und insbesondere die neuere Literatur ausüben (vgl. Giese, Girl­ kultur [Anm. 63], S. 51–54).

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Auch wenn sich die Betrachtungen als »Memoiren« präsentieren, halten sie große Entfernung von jeder Art Bekenntnisliteratur. Die eher sparsam knappen Be­ob­ achtungen seitens des schreibenden Spießbürger-Ichs verbinden sich mit einer aus­ge­ prägten reservatio mentalis – seitens der Autorin – gegenüber Innerlichkeit und Introspektion, die ebenso fehlen wie alles »Dekorative und Ornamentale«.65 Die Ethopöie des abgeklärt-nüchternen Mannes ohne »Idealisierungstrieb« zu geben  – und eben nicht des stürmend-drängenden, leidenschaftlichen »Jüngling[s]« und damit »auf­ge­ rissenes Gefühl, aufreißendes Wort und zukunftheranreißende Idee« –,66 das ist eine markante Absage an jene expressionistischen Muster, wie sie im Zeitraum zwischen 1910 und 1925 Geltung beanspruchten. Kurt Pinthus’ Aufsatz über »Männliche Literatur« von 1929 nennt Männlichkeit und Neue Sachlichkeit auf der einen, Weiblichkeit und Expressionismus auf der anderen Seite – und in einem Atemzug. Der Stil der Sachlichkeit wird als »un­pa­the­ tisch, unsentimental, schmucklos und knapp« beschrieben, frei von »Visionen, Kla­ gen und Anklagen«, »Aufschrei und Forderung«.67 Männlichkeit bedeutet für Pinthus betontermaßen nicht das »Kraftprotzentum des völkischen Mannes« und seine »verlogene Heroisierung«, sondern den Charakter einer Sprache, »die ohne lyrisches Fett und ohne gedankliche Schwerblütigkeit« auskommt, einer Sprache, die sich einer insgesamt »unlyrischen Haltung« verdankt,68 sodass sie zugleich dem internationalen Ideal der sportiven, knappen und »präzisen« Frauenerscheinung entspricht.69 Ist also die neusachliche Literatur prinzipiell männlich, so hält Pinthus neusachliche und da­mit männliche Texte weiblicher Autorschaft (genannt wird hier etwa Marieluise Fleißer) doch für möglich, ohne sie – wie herkömmlich denkbar – dem Verdikt des »Männischen« zu unterwerfen und als fragwürdiges Artefakt, »Zwittergeschöpf« eines negativ verstandenen, stigmatisierten »dritten Geschlechts« auszuweisen.70

65 Günther Müller, »Neue Sachlichkeit in der Dichtung«, in: Schweizerische Rundschau 29.8 (1929), S. 706 –716, hier S. 706; wiederabgedruckt in: Sabina Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 2: Quellen und Dokumente, Köln u. a.: Böhlau 2000, S. 32 –37, hier S. 33. 66 Kurt Pinthus, »Männliche Literatur«, in: Das Tage-Buch 10 (1929), S. 903 – 911, hier S. 904; wie­ der­abgedruckt in: Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 2 (Anm. 65), S. 37–41. 67 Pinthus, »Männliche Literatur« (Anm. 66), S. 907. 68 Pinthus, »Männliche Literatur« (Anm. 66), S. 904. 69 »Sportkörper ohne Fett« nennt Giese den »internationalen Frauenstil um 1924« (Giese, Girlkultur [Anm. 63], S. 139). – Kasimir Edschmid beobachtet diese knabenhaften weiblichen Körper in Nizza und an ihnen das Vorbild der Amerikanerinnen, deren Körper durch »Sport und Maschinen« trainiert ist (Kasimir Edschmid, Die neue Frau, Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft 1927, S. 9 f.). – Dieser Körper ähnelt dem ästhetischen Leitparadigma der neuen Sachlichkeit, der präzisen und funktionstüchtigen Architektur (Huelsenbeck, »Die Bejahung der modernen Frau« [Anm. 34], S. 24). 70 Vgl. Karl Scheffler, Die Frau und die Kunst, Berlin: Bard 1908, S. 42, der die Künstlerin überhaupt einem dritten Geschlecht zuordnet.

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Alfred Döblin lobt den literarischen Stil einiger neuerer Frauen-Bücher als »präg­ nant« und »logisch präzis«71 und an Alice Berend, dass es ihr stets gelinge, »mit knap­ pen Stri­chen« und in »knappstem Rahmen« zu überzeugen.72 Darin konvergiert die Kritik des Expressionismus mit derjenigen der ›klassischen‹ Frauendichtung von 1900, Kritik an deren »Geschwollenheit und krampfige[r] Psychologie«,73 Verkörperung ei­ nes ästhetischen Beharrungsprinzips. Vor diesem Hintergrund ist Berends Text von 1924 in doppelter Hinsicht an einer Epochenschwelle situiert: von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit einerseits, der Gel­tung einer normativen Unterscheidung männlicher und weiblicher Autor­schaft und deren Aufhebung andererseits. Das Autorschafts-Paradigma von 1900 wird un­ zeit­gemäß. War die Bestimmung der »Frauenbücher« die authentisch-›seelische‹ Selbstdarstellung, so registriert ein Text Erika Manns mit dem Titel »Frau und Buch« im Rück­blick auf die 1920er Jahre einen anderen Autorschaftstypus. Es gebe, so ihre präg­nante Diagnose, »einen neuen Typ Schriftstellerin, der mir für den Augenblick der aussichtsreichste scheint: Die Frau, die Reportage macht, in Aufsätzen, Theaterstücken, Romanen. Sie bekennt nicht, sie schreibt sich nicht die Seele aus dem Leib, ihr eigenes Schicksal steht still beiseite, die Frau berichtet, anstatt zu beichten. Sie kennt die Welt, sie weiß Bescheid, sie hat Humor und Klugheit, und sie hat die Kraft, sich auszuschalten.«74 Berends Betrachtungen finden in einer Poetologie wie dieser ihren Ort und ihre volle Berechtigung: Selbstausschaltung in Form der Rollenprosa, ›flächig‹ arrangierte Memoiren eines anderen statt eines eigenen ›tiefen‹ Bekenntnisses, Sachbezug statt Seele, Einbildungskraft statt bloßer Erfahrung, Bericht statt Beichte, Weltkenntnis statt Weltklage und Schrei und last, but not least: Humor. Der »Humor«, von dem Erika Manns knappe Charakterisierung der neuen Schreibweise hier spricht, bestünde nicht allein in der so kauzig-komischen wie versöhnlichen Art des Spießbürgers. Humor wäre vielmehr gelassene, gekonnt ausbalancierte Handhabung einer Spannung: der von Subjektivität auf der einen und objektivierter Welt, Ensemble ›aufgestöberter‹ Verbindlichkeiten auf der anderen Seite. Die Autorposition bliebe, ohne dass ganz von 71 Alfred Döblin, »Das Ewig-Weibliche meldet sich«, in: Frankfurter Zeitung, 24.4.1932, Literaturblatt Nr. 17; wiederabgedruckt in: Anton Kaes (Hrsg.), Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918 –1933, Stuttgart: Metzler 1983, S. 355 –356, hier S. 356. 72 Heinz Michaelis, »Frauenbücher«, in: Das literarische Echo 22 (1919   /   20), Sp. 1494 –1506, hier Sp. 1499. 73 Döblin, »Das Ewig-Weibliche« (Anm. 70), S. 356. 74 Erika Mann, »Frau und Buch«, in: Anna Rheinsberg (Hrsg.), Bubikopf. Aufbruch in den Zwan­ zigern. Texte von Frauen, Darmstadt: Luchterhand 1988, S. 11–12, hier S. 12. Der Artikel erschien ver­mut­lich zuerst in: Tempo, 31.3.1931 (vgl. Irmela von der Lühe, Erika Mann. Eine Biographie, Frankfurt am Main / New York: Campus 1993, S. 328). – »Bericht« wird hier gattungsbegrifflich weit ge­fasst und kann auch den Roman inkludieren: »Nicht ohne Bedacht wurde deshalb zur Kenn­zeich­ nung der sachlichen Romane mehrmals der Begriff ›Bericht‹ verwendet« (Müller, »Neue Sachlichkeit in der Dichtung« [Anm. 65], S. 35).

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ihr abgesehen werden könnte, den Betrachtungen gegenüber doch exzentrisch. Hu­ mor wäre, so gelesen, »Projektion einer Subjektivität«, welche den »Schein der Un­ver­ bind­lichkeit alles Verbindlichen« und dennoch eine gewisse »Unbelangbarkeit die­ses Scheins suggeriert«.75 Genitivus subjectivus: Wenn der fingierte Verfasser Pfeiffer schreibt, berühren sich des öfteren ausdrücklich Erzählzeit und erzählte Zeit. Auch vereinbaren sich Identi­ fi­kation und Distanz: Er verachte den Spießbürger nicht, so Pfeiffer eingangs und mit Nachdruck, weil er sich anderenfalls als »Menschenverächter en gros« ansehen müsste. »Denn meiner Meinung nach gibt es überhaupt nur Spießbürger. Jawohl. Trotz­alledem.« Und apodiktisch: »Keiner will ein Spießer sein. Aber jeder ist es.«76 Spricht dieser Spießbürger bereits in einen neusachlich dominierten und das heißt phi­lis­ter­semantisch eher diffusen, unmarkierten Raum hinein? Auf den ersten Blick scheint das nicht zuzutreffen: Pfeiffer, dessen Jugend um 1880 datieren dürfte, ist ein Vertreter der ›guten alten Zeit‹ und seit seinem Eintritt in die Ehe vollgültiger Philister im Hegel’schen Sinn: »An meinem dreißigsten Geburtstag«, so der Selbstbetrachter, »habe ich geheiratet. Nicht nur um die volle Legitimation zum Philister zu erlangen. Ich hatte mir gesagt, man kann nicht immer lieben, man muß auch heiraten.«77 Überzeugt hatte er die künftige Ehefrau mit der Summe seines Einkommens und ihr vorgerechnet, »dass sie als meine Frau in keine üble Position geraten würde«.78 Stellung und Heirat sind die entscheidenden Momente. In der aus dem Mädchen zur Ehefrau Mutierten amalgamieren Poesie des Herzens79 und »rauhe Wirklichkeit«, Prosa häuslicher Verhältnisse: »Meine liebe Frau«, betont der Philister, »ist praktisch für zwei. Sie gehört zu den guten Hausfrauen, die den Wandelgang der Natur als Hausangelegenheit betrachten. Sie ist überzeugt davon, daß der Hauptzweck der Sonne darin besteht, daß sie unsre Wäsche zu trocknen hat.«80 Dies wird allerdings mit einer Einschränkung und einer gewissen Distanz vorgebracht: »Ich will damit nichts Böses gesagt haben. Das ist eben die Poesie des gutgeführten Haushalts, deren Himmelstochter die Ordnung ist.«81 Neben der vormals ›poetischen‹, jetzt philiströsen Ehefrau Pfeiffers kommt in den Betrachtungen ein ganzes Panoptikon von Figuren zu jeweils knapp bemessenem Ein­ satz. Pfeiffer selber überblickt vier Generationen: die eigene, die seiner Söhne und 75 So Wolfgang Preisendanz, »Humor«, in: Fricke (Hrsg.), Reallexikon, Bd. 2 (Anm. 10), S. 100 –103, hier S. 101. – Das Verbindliche kann sich dabei auch als bloß scheinhaft erweisen (ebd.). 76 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 8. 77 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 10. 78 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 11. 79 »Abends im Schlafzimmer erklärte sie mir, daß ich nicht für einen Deut Poesie im Leibe hätte. Zu jungen Mädchen aber gehöre Poesie. Die rauhe Wirklichkeit käme früh genug« (Berend, Betrachtungen [Anm. 52], S. 12). 80 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 35 f. 81 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 36.

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Töchter (inklusive ihrer Angeheirateten), die der Enkel sowie einen noch in den Windeln steckenden Urenkel. An erster Stelle sticht der Enkel mit dem eigenwil­li­ gen Namen Frithjof82 hervor, Sohn der Philistertochter, junger Mann mit ex­pres­sio­ nis­tisch-überschwänglicher Dichterambition. Damit ist die überkommene Gegen­ über­stellung von Philister und Student respektive »Musensohn«83 aufgerufen. Die Betrach­tungen setzen eine wechselseitige, personifizierte Spiegelung klassischer Gegensätze ins Spiel. In den Augen des Dichter-Enkels ist der Großvater klar als Philister identifizierbar, als Spießbürger: »Übrigens erkundigte ich mich bei meinem Enkel was denn er unter Spießbürger verstehe. Er antwortet ›verkörperte Pedanterie, beschränkte Kritik, platte Behaglichkeit, eingebildete Würde, lächerliche Überheblichkeit.‹«84 Unser Spießbürger, der über diesen wie ihrerseits bereits zitiert erscheinenden Zu­ schrei­bungen immerhin rot wird, hält dieser Charakteristik postwendend eine Selbstbeschreibung entgegen, die positiv hervorhebt: »Ordnung, Selbstverleugnung, Beherr­ schung, Pflichttreue und Wißbegier, vermischt vielleicht mit ein ganz klein wenig Neu­gier«.85 Demgegenüber gilt dem Spießbürger der ambitionierte Musen-Enkel als einer, der »nicht einen Satz ohne orthographische Fehler schreiben« kann und darum zum »Dichter« geeignet scheint. Die poetische Lizenz zur Abweichung erscheint aus der Sicht der »verkörperte[n] Pedanterie« als Defizit, Fehler.86 Darüber hinaus fehlt dem Dichter Wichtiges zur Sicherung der eigenen Existenz, an erster Stelle: Geld. Der Musen-Enkel hängt sich immer wieder und überaus ungeniert an die Brieftasche seines Großvaters, als wichtiges Philisterutensil eins seiner signifikanten Attribute, »Wappen, Waffen und Embleme«. Diese werden vom Enkel-Musensohn zu einer – bei Brentano vorbereiteten – Philister-Zeichenkunde arrangiert: »Außer der Gießkanne, dem Regenschirm, der Kaffeekanne, den Gummischuhen, dem Abführungsmittel, der wollenen Unterwäsche, dem Zahnstocher, den Haarschuppen, der Hornbrille, der Gänsekeule, dem Kalbskopf, den Wienerwürstchen, dem Tropfen an der Nasenspitze, den Hühneraugen, der sichtbaren Goldplombe eines oberen Eckzahns, der abonnierten Zeitung (von der man, der vielen Leibgerichte wegen, stets ein Blättchen in der Rocktasche trage), dem Skatblock, dem Schlüsselbund nannte Frithjof schließlich auch die gefüllte Brieftasche.«87

82 »Es war meine romantisch veranlagte Tochter, die den armen Jungen dermaßen benannte, nach der Frithjofsage« (Berend, Betrachtungen [Anm. 52], S. 9). Dabei handelt es sich um eine altnordische Sage, in welcher Frithjof – eigentlich: Fridhtjofr (»Friededieb«) – in seiner Liebe zur schönen Inge­ björg der kühne Held ist. 1925 erscheint eine neue Ausgabe: Wilhelm Platz, Frithjof, Ludwigshafen: Haus Lhotzky 1925. 83 Vgl. dazu den Beitrag von Heinrich Bosse in diesem Band. 84 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 9. 85 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 10. 86 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 9. 87 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 98 f.

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Das Charakteristische der Betrachtungen eines Spießbürgers ist, dass dessen Konturen verschwimmen, dass eingespielte Abgrenzungen und Definitionen gelegentlich in Auflösung geraten – und sich dabei mit dem Habitus des antagonistischen Enkel-Musensohns durchaus berühren. Erscheint der »Dichter der Zukunft«88 als eingebildet und manchmal auch lächerlich und auffällig unzeitgemäß,89 so wird der Spießbürger keines­wegs durchgehend und kompakt als beschränkter, platter, lächerlich-überheblicher Sprecher geboten. Er agiert also keine selbstzufrieden schwadronierende Wohnzimmer-, Stammtisch- oder Vereinsautorität. Vielmehr konturiert er sich und die Welt als Schriftsteller, als einer zumal, der die neuere Ordnung der Dinge aufmerksam beobachtet, sie reflexiv dreht und wendet. Der Spießbürger steht als ein Kind der ›guten alten Zeit‹ mit der dem Gesetz der Sparsamkeit90 verpflichteten, kurz gehaltenen Poetik der Beobachtung91 in neuem Kon­text, einem epochalen Kontext, der die Umwelt des Spießbürgers und den Stil des Textes eindeutig markiert. Entsprechend weiß der Spießbürger dem Musen-Enkel neben einigen älteren die Spießbürgerzeichen insbesondere der neueren Zeit aufzuzählen: »den Klubsessel, das Telephon, das Grammophon, den Kodak, das Stereoskop, das Horoskop, das Auto, das Monokel, die Glatze, die Magerkeit, den Javatanz, die Sportliebe«. Und er resümiert: »Jede Zeit hat ihre Zeichen, hat ihre Moden.«92 Nun ist dies bereits ein älterer Topos, dass der Spießer aus Gründen der Konvenienz jede Mode mitmacht.93 Weit entfernt nur auf spießige Weise modisch sein zu wollen, ist unser Spießer jedoch auch neugierig, das heißt gierig auch auf die Neue Sachlichkeit, mag er auch gleichzeitig auf die ältere spießbürgerliche Behaglichkeit und beruhigenden Baldriantee nicht verzichten wollen. Der »Hypermoderne«94 des Enkels begegnet er mit Skepsis: »Und doch, bevor der Baldrian beruhigend seine Pflicht begann, schien mir die gute alte Zeit mehr alt als gut. Ich dachte, heute bleibt heut. Und morgen ist besser als gestern und vorgestern. Und ich wünschte noch vor vielen neuen Morgen zu sein, ich alter einfältiger Nimmersatt.«95 88 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 40. 89 Dafür steht etwa sein vornehmlich an Damen adressierter Gedichtband, den der Dichter in 40 Luxusexemplaren drucken ließ; dies erinnert eher an Ausstattungs- und Adressierungsgewohnheiten um 1900 (Berend, Betrachtungen [Anm. 52], S. 88 f.). 90 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 30 f. 91 Zu Begriff und Verfahren neusachlicher »Beobachtung« siehe Sabina Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920 –1933), Köln u. a.: Böhlau 2000, S. 171–180. 92 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 99. 93 Die philiströse Orientierung an der »Mode« kann nachgerade in »Zwangsarbeit« ausarten (Schopenhauer, »Aphorismen zur Lebensweisheit« [Anm. 12], S. 340); der Philister inkliniert zur »Majorität«, zu den »Massen« (Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, 2., neu überarbeitete Aufl., Stuttgart / Tübingen: Cotta 1854 [= ders., Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 2], S. 220). 94 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 89. 95 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 47.

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Philister und Antiphilister erscheinen so nicht nur ›persönlich‹ voneinander abhängig, in den Charakteristika sind sie sowohl qua Negation strikt aufeinander bezogen als auch ineinander übersetzbar. Max Stirner hatte Betrachtungen wie diesen in Der Einzige und sein Eigentum begrifflich vorgearbeitet: So wie der »wilde Bursche«, der in eine Art »Rausch« geratene und dann gewisse »Rücksichten« außer Acht las­ sende »renommierende Student« sich damit negativ auf den Philister und dessen einschlägige »Rücksichten« bezieht, ebenso bezieht sich der Philister »reaktionär« auf den Burschen, reagiert auf dessen antiphiliströsen Rausch. Der Philister, so Stirner, ver­ hält sich »reaktionär«, er ist »der zur Besinnung gekommene wilde Geselle, wie die­ser der unbesonnene Philister ist. Die alltägliche Erfahrung bestätigt die Wahrheit die­ses Umschlagens und zeigt, wie die Renommisten zu Philistern ergrauen.«96 Das Cha­ rak­teri­stische der Betrachtungen ist allerdings, dass in ihnen die Inversion nicht bloß lebensalterzeitlich erfolgt, sondern darüber hinaus als Koexistenz erscheint. Der Spießbürger der Betrachtungen situiert sich selber und konturiert den Spießbürger überhaupt, ohne die tragenden Säulen der traditionellen Charakteristik einzureißen, im Stirner’schen Sinn, aber zugleich situationsabhängig, inkonsistent wie polymorph, auch axiologisch gesehen. Er ist zugleich Spießer und Spießer »a. D.« (adé), »Normalmensch«, dabei eher Feigling als Held,97 allem Neuen, wenn auch etwas se­ diert, aufmerksam und neugierig zugewandt, kein ›hypermoderner‹ Mann, sondern eher ein gemischtes Wesen einer biographischen wie epochalen Übergangszeit, ge­le­ gent­lich vom nietzscheanischen Verdacht imprägniert, dass es trotz aller Impulse der neuen Zeit und ihrer Menschen nichts ganz und gar Neues unter der Sonne gibt. Überprüfbar wird das nicht zuletzt an den Frauenfiguren der Betrachtungen. Neben der eher klassischen, gut-philiströsen Ehefrau sind dies einerseits die häuslich und in diesem verkleinerten Maßstab auch romantisch-poetisch veranlagten Töchter, Eheund Hausfrauen alle beide, andererseits die der neueren Zeit verpflichtete ›studierte‹, nämlich zur Lehrerin ausgebildete Enkeltochter Marlise98 – und daneben eine ganze Reihe unbekannter und namenloser Frauen, die zwar in Kontakt mit der männ­li­chen Verwandtschaft, jedoch außerhalb der Ordnung der Familie stehen, statt des Eigennamens nur den nomen agentis der Berufsbezeichnung tragen, randständig figu­rie­ ren und nicht aus dem gesellschaftlichen Zwielicht treten: Schlangenbändigerinnen, Varieté­künst­lerinnen – und nicht zuletzt Sekretärinnen.99 Die Betrachtungen enden ­indes in der Familie, mit einer Eheschließung,100 der Hochzeit von Frithjof und 96 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften, hrsg. von Hans G Helms, München: Hanser 1968, S. 81. 97 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 31 u. 48. 98 Die nicht nur vom Namen her an die Protagonistin Marlene in Dohm, Schicksale einer Seele (Anm. 56), erinnert. 99 Berend, Betrachtungen (Anm. 52), S. 40, 44, 80 u. 89. 100 Dichter und Lehrerin gehen eine Cousin-Cousinen-Ehe, Ordnung und Unordnung ein un­ge­ wohnt komplexes Verhältnis ein.

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Marlise, und zugleich in einem Fesselballon, einem zeichenhaften Ding, das Himmel und Erde, Fessel und Freiheit humoristisch-hegelianisch zu versöhnen scheint, wobei der an der Erde befestigte (daher: Fesselballon) von einem Freiballon allerdings zu unter­scheiden ist. Dem wachsamen Spießbürger stellt es sich so dar, dass sich das frisch verheiratete Paar mit seiner Ballonfahrt vor allem als unspießig beweisen will, was zu belächeln wäre.101 Die Argumente, auch die älteren und alten, sind am Ende der Betrachtungen ausgetauscht. Der Ballon, der an diesem Ende steht, hat indes eine längere Geschichte und ist überdies ein prominentes Kollektiv-Symbol: des Fortschritts auf der einen, der Poesie und ›freifliegenden‹ Phantasie auf der anderen Seite.102 Als Luftschiff namens Zeppelin ist der Ballon zugleich spektakuläres technisch-ästhetisches Objekt der neuen Sachlichkeit. Das amerikanische Luftschiff war in den 1920er Jahren nach Deutschland, nach Friedrichshafen geholt worden.103 Die lang vorbereitete Testfahrt erfolgte im Jahr 1924, dem Erscheinungsjahr der Betrachtungen.

101 »Das Festessen fand im Freien statt. Für das Brautpaar war in einem Fesselballon gedeckt, der hoch oben im Blau über der Hufeisentafel der Gäste schwebte. Sie wollten nur beweisen, daß sie keine Spießbürger sind« (Berend, Betrachtungen [Anm. 52], S. 116). 102 Jürgen Link, »›Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!‹ Diskursanalyse des Ballonsymbols«, in: ders. und Wulf Wülfing (Hrsg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 149 –164. 103 Franz Kollmann, Das Zeppelinluftschiff, seine Entwicklung, Tätigkeit und Leistungen, Berlin: Krayn 1924; Peter Kleinheins und Wolfgang Meighörner (Hrsg.), Die großen Zeppeline. Die Geschichte des Luftschiffbaus, 3., überarbeitete Aufl., Berlin u. a.: Springer 2005.

Biblische Vorgeschichte   des neuzeitlichen Philisterbegriffs Sektion II

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Die historischen Philister Israels fremde Welt

Über die historischen Philister besitzen wir im Wesentlichen zwei unterschiedliche Quel­len: Einerseits die oft verfremdende und einseitige biblische Darstellung Israels und Judas,1 für die die Philister Feinde waren, und andererseits das allmählich umfangreicher werdende archäologische Material.2 Eigene Textquellen der Philister gibt 1 Vgl. hierzu als allgemeine historisch-kritische Darstellung Carl S. Ehrlich, Philistia in Transi­ tion. A History of the Philistines, Leiden: Brill 1996; etwas problematisch, da häufig recht unkritisch Othniel Margalith, The Sea Peoples in the Bible, Wiesbaden: Harrassowitz 1994. 2 Vgl. zu den vielfältigen Ausgrabungsergebnissen zusammenfassend vor allem Trude Dothan, The Philistines and their Material Culture, Jerusalem: Israel Exploration Society 1982; dies., »The Philis­ti­nes Reconsidered«, in: Biblical Archaeology Today, Jerusalem: Israel Exploration Society 1985, S. 164 –176; Trude und Moshe Dothan, People of the Sea. The Search of the Philistines, New York u. a.: Macmillan Publishing Company 1992; deutsch: Die Philister. Zivilisation und Kultur eines Seevolkes, München: Diederichs 1995; Amihai Mazar, »The Emergence of the Philistine Material Culture«, in: Israel Exploration Journal 35 (1982), S. 95 –107; Mariusz Burdajewicz, The Aegean Sea Peoples and Religious Architecture in the Eastern Mediterranean, Oxford: B. A. R. 1990; Amihai Mazar, Excavations at Tell Qasile. Part One. The Philistine Sanctuary. Architecture and Cult Objects, Jerusalem: Israel Exploration Society 1980 (= Qedem 12), Part Two. The Philistine Sanctuary. Various Finds, the Pottery, Conclusions, Appendixes, Jerusalem: Israel Exploration Society 1985 (= Qedem 20); Irit Ziffer und Raz Kletter, In the Field of the Philistines. Cult Furnishings from the Favissa of a Yavneh Temple, Tel Aviv: Eretz Israel Museum 2007; Raz Kletter, Irit Ziffer, Wolfgang Zwickel (Hrsg.), Yavneh I. The Excavation of the »Temple Hill« Repository Pit and the Cult Stands, Fribourg / Göttingen: Academic Press / Vandenhoeck & Ruprecht 2010 (= Oribis Biblicus et Orientalis. Series Archaeologica, Bd. 30); Wolfgang Zwickel, Der Tempelkult in Kanaan und Israel, Tübingen: Mohr Siebeck 1994 (= Forschungen zum Alten Testament 10), S. 215 –239; David Ben-Shlomo, Itzhaq Shai, Aren M. Maeir, »Late Philistine Decorated Ware (›Ashdod Ware‹). Typology, Chronology, and Production Centers«, in: Bulletin of the American Schools of Oriental Research 335 (2004), S. 1–35; Israel Finkelstein, »The Philistine Countryside«, in: Israel Exploration Journal 46 (1996), S. 225 –242; Ann E. Killebrew, Biblical Peoples and Ethnicity, Atlanta: Society of Biblical Literature 2005, S. 197–246; Aron Maeir, »Philister-Keramik (Philistine ceramics)«, in: Michael P. Streck (Hrsg.), Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Bd. 10, Berlin / New York: de Gruyter 2005, S. 528 –536.

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es bislang kaum, und die vorhandenen liefern historisch auch nur wenige brauchbare In­for­ma­tionen.3 Die sogenannte Goliath-Inschrift, die vor wenigen Jahren bei den Gra­bungen in der philistäischen Ortslage Tell es-Safi / Gat gefunden wurde, nennt bei­ spiels­weise zwei nichtsemitische Personennamen; ob aber einer davon sprachlich wirklich mit Goliath gleichgesetzt werden darf, ist höchst umstritten.4 Allenfalls für die Früh­zeit der Geschichte der Philister haben wir Informationen durch ägyptische Textund Bildüberlieferungen.5 Aber auch diese müssen kritisch betrachtet werden, denn ebenso wie in den biblischen Quellen werden die Philister hier als Feinde angesehen – und altorientalische Texte sehen Feinde ebenso wenig objektiv wie moderne. Eine kri­ tische Darstellung der philistäischen Geschichte ist daher schwierig zu schreiben. Dies soll hier auch nur ansatzweise und in einem ersten Teil geboten werden. Viel in­teres­ santer ist im Zusammenhang mit der Wirkungsgeschichte der Philister in der deut­ schen Literatur die Sicht auf die Philister aus dem einseitigen Blickwinkel der Judäer und der Israeliten. Diese Sichtweise hat das europäische Verständnis der Philister nach­ haltig geprägt, denn die Bibel war über Jahrhunderte hinweg die einzige Quelle, die man überhaupt über die Philister besaß. Viele Details der biblischen Philister­be­schrei­ bung, die teils archäologisch bestätigt werden können, kehren in der neuzeitlichen Cha­rak­teristik der spießbürgerlichen ›Philister‹ wieder. Entscheidend scheint für die neu­zeitliche Rezeption des Stoffes die radikale kulturelle Differenz zu sein, die die biblischen Quellen artikulieren und die nach den archäologischen Befunden zwischen den Israeliten und den Philistern auch tatsächlich bestanden hat.

3 Frank M. Cross, »A Philistine Ostracon from Ashkelon«, in: Biblical Archaeologist Review 22.1 (1996), S. 64 f.; Joseph Naveh, »Writing and Scripts in 7th Century B. C. E. Philistia. The New Evi­ dence from Tell Jemmeh«, in: Israel Exploration Journal 35 (1985), S. 8 –21. 4 Vgl. hierzu jetzt Aron M. Maeir, Stefan J. Wimmer, Alexander Zukerman, Aaron Demsky, »A Late Iron Age I / Early Iron Age II Old Canaanite Inscription from Tell es-Safi / Gath, Israel. Palaeo­ graphy, Dating, and Historical-Cultural Significance«, in: Bulletin of the American Schools of Oriental Research 351 (2008), S. 39 –71. 5 Zur Frühzeit vgl. vor allem Albrecht Alt, »Ägyptische Tempel in Palästina und die Landnahme der Philister«, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 76 (1944), S. 1–20; Israel Finkelstein, »The Date of the Settlement of the Philistines in Canaan«, in: Tel Aviv 22 (1995), S. 213 –239; Seymore Gitin, Amihai Mazar, Ephraim Stern (Hrsg.), Mediterranean Peoples in Transition. Thirteenth to Early Tenth Centuries BCE, Jerusalem: Israel Exploration Society 1988; Gustav A. Lehmann, Die mykenischfrühgriechische Welt und der östliche Mittelmeerraum in der Zeit der »Seevölker«-Invasionen um 1200 v. Chr., Opladen: Westdeutscher Verlag 1985; ders., »Umbrüche und Zäsuren im östlichen Mittelmeerraum und Vorderasien zur Zeit der ›Seevölker‹-Invasionen um und nach 1200 v. Chr. Neue Quel­len­zeugnisse und Befunde«, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 1–38; Ed Noort, Die Seevölker in Palästina, Kampen: Kok Pharos 1994; Eliezer D. Oren (Hrsg.), The Sea Peoples and Their World. A Reassessment, Philadelphia: University of Pennsylvania Museum 2000; Nancy K. Sandars, The Sea Peoples. Warriors of the ancient Mediterranean, 2. Aufl., London: Thames and Hudson 1985.

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Zur Geschichte der Philister – ein Kurzüberblick Zunächst einige kurze Notizen über die Geschichte der Philister, soweit wir sie heute rekonstruieren können. Die Philister sind Teil einer größeren Bewegung, die sich vor allem im 13. und frühen 12. Jahrhundert v. Chr. nachweisen lässt, der See­völker­be­we­ gung. Neuere Forschungen zeigen, dass das 14. und 13. Jahrhundert v. Chr. eine Zeit einer allmählichen Klimaverschlechterung war, die zu großen Problemen bei der Nah­ rungs­mittelversorgung im ganzen östlichen Mittelmeerraum führte. Offenbar wurde es immer schwieriger, für die gesamte Bevölkerung Getreide anzubauen. Nach unterschiedlichen Quellen aus dem Nahen Osten verdingten sich Küstenbewohner Kleinasiens und des ägäischen Raums, die über Schiffe verfügten, zunächst als Söldner im Ausland, um sich so das Überleben zu sichern. Andere Stämme dieser Gruppierung wa­ren als Piraten im Mittelmeer aktiv und stellten so eine Gefahr für den Seehandel dar, der in der ausgehenden Spätbronzezeit den Mittelpunkt der internationalen Wirtschaft bildete. Irgendwann um 1200 v. Chr. scheinen sich die Rahmenbedingungen abermals ele­ mentar verschlechtert zu haben. Nun rotteten sich mehrere Seevölkergruppen zu­sam­ men und zogen gemeinsam zunächst an der Küste des Mittelmeeres entlang nach Osten und dann an der levantinischen Küste nach Süden. Der geballten militärischen Macht zur See konnten sich die dortigen Küstenstädte, die durch die Klimaveränderungen und die damit verbundenen Hungersnöte schon ausgezehrt waren, nicht erwehren. Sie brachen zusammen und wurden zerstört. Dabei scheint es sich nicht um einen ra­ santen Feldzug gehandelt zu haben. Das Ziel der Seevölker war eher die Suche nach einer neuen Heimat; sie dachten nicht an eine Expansion ihres Herrschaftsgebietes. Dafür spricht auch die Tatsache, dass bei diesem Feldzug nicht nur die Männer auf den Schiffen unterwegs waren, sondern begleitend sich auch die Frauen und Kinder auf dem Landweg auf Ochsenkarren bewegten (Abb. 1).

Abb. 1: Landfahrzeuge der Seevölkergruppen auf dem Weg nach Ägypten, die von ägyptischen Soldaten aufgehalten werden, dargestellt auf dem Totentempel von Ramses III. in Medinet Habu (aus: Dothan, The Philistines and their Material Culture (Anm. 2), Fig. 4 [Ausschnitt]).

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Abb. 2: Seeschlacht zwischen den Ägyptern und diversen Seevölkergruppen im Jahre 1179 v. Chr., dargestellt auf dem Totentempel von Ramses III. in Medinet Habu (aus: Dothan, The Philistines and their Material Culture [Anm. 2], Fig. 7).

Im Jahre 1179 v. Chr. kam es dann zu einer entscheidenden Auseinandersetzung. Die See­völker­gruppen waren bis zum östlichen Nildelta in Ägypten vorgedrungen. Der Pharao Ramses  III. versuchte, sie dort aufzuhalten und mit seiner ganzen Armada an Schiffen zu schlagen. Diese Schlacht ist auf dem Totentempel von Ramses III. in Medinet Habu dargestellt. Die ägyptischen Truppen stehen dort in Reih und Glied geordnet, die Seevölker sind mit ihren Schiffen in einer chaotischen Unordnung dargestellt (Abb.  2). Die Abbildungen zeigen uns aber auch deutlich, warum die Seevölker bis dahin so erfolgreich waren und viele levantinische Küstenstädte erobern konnten: Sie besaßen Langschwerter für den Nahkampf. Solche Schwerter waren eine Neuerung; sie wurden zu dieser Zeit im Donaubecken entwickelt und brachten große militärische Vorteile mit sich. Die Herstellung von Langschwertern war nur möglich, wenn man über gute Kenntnisse der Metallverarbeitung verfügte. Im Gegensatz zu Dolchen, die gegossen wurden, mussten die Schwerter nämlich geschmiedet werden. Die Ägypter haben die Seevölker besiegt, aber nicht vernichtet. Wen man nicht zum Feinde haben will, muss man sich zum Freunde machen: Unter diesem Motto scheinen die Ägypter versucht zu haben, den Seevölkern Siedlungsmöglichkeiten anzubieten, um sie so zu beruhigen. Bis dahin hatte Ägypten eine Oberhoheit über ganz Palästina ausgeübt. Nun siedelten die Ägypter die Seevölker entlang der Küste an.

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Die Philister bekamen das Gebiet zwischen der Gegend von Gaza und dem heutigen Tel Aviv, nördlich davon bis zum Karmelvorsprung siedelten die Tschekker. Was aus den weiteren Seevölkergruppen wurde, die sich damals dem gemeinsamen Feldzug an­ schlos­sen, entzieht sich mangels historischer Quellen unserer Kenntnis. Neuere For­ schungen machen es wahrscheinlich, dass sich auch im Jordangraben einige Seevölkergruppen ansiedelten. Die Ägypter beabsichtigten wohl, dass die Philister und die übrigen Seevölker­ grup­pen im palästinischen Raum als eine Art von Söldnern unter der ägyptischen Ober­herr­schaft siedelten. Aber zumindest die Philister waren mit dieser Unterordnung of­fen­bar nicht einverstanden. Sie versuchten zu expandieren, die Oberhoheit der Ägyp­ter abzuschütteln und eine selbstständige Macht zu werden – was ihnen auch gelang. Die ägyptische Oberherrschaft über den levantinischen Raum brach damit zusammen. Für über 200 Jahre waren die Ägypter nicht mehr in der Lage, ihre expansive Außenpolitik Richtung Palästina tatsächlich umzusetzen. Die Philister bildeten einen eigenen Machtblock, der für sie nicht mehr zu überwinden war. Die Zeit des späten 12. und 11.  Jahrhunderts v. Chr. nutzten die Philister, um ihre Macht zu etablieren. Sie eroberten von der Küstenregion aus immer mehr Ortschaften landeinwärts, bis sie auch die Kontrolle über das gesamte Bergland ausübten. Auch wenn in den letzten Jahren starke Zweifel an der historischen Rolle Sauls und Davids ausgesprochen worden sind, scheinen diese beiden frühen Könige Israels in der Auseinandersetzung mit den Philistern doch eine große Rolle gespielt zu haben. Insbesondere David gelang es, die Philister in ihrem Expansionsdrang zu bremsen und sie auf ihr Kernland an der Küste zurückzudrängen. In der Konsequenz seiner militärischen Erfolge gab es nach der Zeit Davids zwischen Israel beziehungsweise Juda auf der einen Seite und den Philistern auf der anderen Seite nur noch kleinere Grenzstreitigkeiten. Die grundlegenden Besitzansprüche scheinen von ihm geklärt worden zu sein und über Jahrhunderte hinweg Bestand gehabt zu haben. Eine besondere Rolle spielten die Philister dann noch einmal im 8. Jahrhundert v. Chr. Die Assyrer waren inzwischen die dominierende Macht im Vorderen Orient geworden und wollten auf ihrem Weg nach Ägypten, dem anderen großen Machtblock des Nahen Ostens, die Küste passieren. Durch das philistäische Gebiet lief die wichtigste Handels- und Militärstraße des Vorderen Orients. Die Assyrer unter­war­ fen die philistäischen Gebiete und bauten die ehemalige Philisterhauptstadt Ekron zu einem großindustriellen Zentrum für die Ölherstellung aus. Unter der Vorherrschaft der Babylonier und dann der Perser und Griechen bewahrten die philistäischen Ter­ri­torien ihre kulturelle Eigenständigkeit. Dies zeigt sich unter anderem in einer eigenen Münzprägung, die sich von der sonstigen Bildgestaltung auf Münzen völlig unterscheidet.6 6 Vgl. hierzu jetzt Haim Gitler und Oren Tal, The Coinage of Philistia of the Fifth and Fourth Centuries BC. A Study of the Earliest Coins of Palestine, Mailand / New York: Edizione Ennere 2006.

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Stadtbewohner versus Landbewohner: ethnische und kulturelle Differenzen Die militärischen Auseinandersetzungen mit den Philistern führten nicht gerade zu einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen Israel und seinen westlichen Nachbarn. Viel entscheidender als die vielen kleinen Grenzscharmützel während der Königszeit waren die großen kulturellen Unterschiede, die das Verhältnis der beiden Völker nach­ haltig trübten. Im Folgenden sollen einige charakteristische kulturelle Gegensätze zwischen Philistern einerseits und Judäern beziehungsweise Israeliten andererseits auf­ geführt werden. Die Unterschiede lassen sich mit der ethnischen Differenz zwi­schen Phi­lis­tern und Israeliten verbinden und auf die offenbar sehr unterschiedlichen Tra­ ditionen zurückführen, denen diese Gruppen entstammten. Sie gründen wesentlich in der unterschiedlichen Herkunft der Völker: einerseits Bewohner der Mittelmeerländer, andererseits Semiten. Bis heute ist nicht völlig geklärt, woher die Philister eigentlich ursprünglich stammen. Deutlich ist, dass sie in ihrer Heimat kulturellen Kontakt mit den me­tal­ lur­gischen Entwicklungen im Donaubecken gehabt haben müssen und dass sie auch an­sonsten über eine hoch differenzierte Kultur verfügten. Man hat an Kreta, Teile Grie­chen­lands oder aber an die türkische Küste gedacht, ohne jedoch sichere Anhaltspunkte zu haben. Neuerdings gibt es einige Hinweise, die auf eine Herkunft aus dem Raum Mykene hindeuten. Klar ist jedoch, dass die Philister kein semitisches Volk waren. Für sämtliche se­mi­ tischen Völker Syrien-Palästinas ist die Beschneidung eine Selbstverständlichkeit. Die Philister, aber auch die übrigen Seevölkergruppen, waren jedoch nicht beschnitten. Auch wenn dies kein äußerlich sichtbares Zeichen war, markiert die Beschneidung doch deutlich den großen ethnischen und kulturellen Gegensatz zwischen den Völkern. Als in nachexilischer Zeit griechisches Gedankengut allmählich auch in Palästina eindrang und es in ›aufgeklärten‹ Kreisen modern wurde, sich nicht beschneiden zu las­ sen, wurde von traditionell bestimmten Gruppierungen in Israel die Beschneidung zum äußeren Zeichen der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk in den Mittelpunkt gestellt. Damit waren die Philister, obwohl man inzwischen schon viele Jahrhunderte Seite an Seite mit ihnen wohnte, aus dem Judentum ausgegrenzt. Die Philister wurden zu typischen Vertretern derjenigen Kultur, die man in nachexilischer Zeit bekämpfte. Einer der wichtigsten Punkte, in denen sich Israeliten und Judäer auf der einen Seite und Philister auf der anderen Seite völlig unterschieden, ist die Siedlungsweise. Die neue Gesellschaftsform, die sich nach dem weitgehenden Zusammenbruch der kanaanäischen Stadtstaaten im 12. Jahrhundert v. Chr. allmählich herausbildete, war die einer weitgehend egalitären Gesellschaft. Über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten hinweg lebten die Israeliten und Judäer eigentlich durchweg (abgesehen von den Hauptstädten Jerusalem, Sichem und später Samaria) in relativ kleinen Ortschaften mit maximal einem Hektar Größe und rund 250 Einwohnern. Zwar gab

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es eine Spezialisierung auf bestimmte Produkte der Landwirtschaft, aber im Wesentlichen war jede Familie so weit wie möglich Selbstversorger und tauschte nur wenige Produkte ein, die man nicht selbst herstellen konnte. Erst im 9.  Jahrhundert entstand mit Samaria und dann im späten 8. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem jeweils eine größere Hauptstadt mit arbeitsteiliger Lebensstruktur. Dort gab es nun Bäcker, Handwerker et cetera. Trotzdem blieben auch in der Folgezeit (von den Palästen einmal abgesehen) die Wohnbauten alle in etwa gleich groß. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass man in Israel und Juda auch weiterhin eine egalitäre Gesellschaftsform beizubehalten versuchte. Ganz anders die Lebensweise in den philistäischen Städten. Schon im Kontext ih­ rer Ansiedlung hatten die Philister beschlossen, vornehmlich in fünf separaten Hauptstädten zu wohnen: Gaza, Aschkelon und Aschdod in der Nähe der Küste sowie Ekron und Gat im Landesinneren. Die Philister übernahmen damit das Siedlungs­ sys­tem der kanaanäischen Stadtstaaten, das zu dieser Zeit gerade im Zusammenbruch begriffen war. Vielleicht suchten sie aber auch lediglich eine Kontinuität zu der Siedlungsweise in ihren Heimatländern, in denen aller Wahrscheinlichkeit nach dieselben Stadtstaatenkulturen existierten wie im spätbronzezeitlichen Palästina. Auch dort siedelte man wohl jeweils in größeren, arbeitsteilig organisierten Stadtstaaten mit einer innerstädtischen Führungsschicht. Die philistäischen Siedlungen sind somit, obwohl die Philister Neuankömmlinge im Land waren, Bewahrer der spätbronzezeitlichen Stadtstaatenstruktur, während die größtenteils von der Stadtstaatenkultur geprägten Israeliten und Judäer die Neuerer waren, die mit ihren kleinen Ortschaften Stammesgebilde und dann auch Territorialstaaten entwickelten. Die Philister hatten an der Spitze eines jeden Stadtstaates einen politischen Führer (hebräisch ‫[ סרן‬särän], vielleicht von griechisch τύραννος), während in den judäischen und israelitischen Ortschaften ein weitgehend egalitäres Prinzip gelebt wurde. Die Unterschiede in der Siedlungsweise waren selbst für Fremde deutlich zu erkennen. Im philistäischen Gebiet gab es einige wenige größere Städte mit einem beachtlichen Abstand voneinander. Zwischen diesen Hauptstädten fanden sich vereinzelte kleinere Ansiedlungen. Im judä­ ischen und israelitischen Siedlungsgebiet reihten sich dagegen viele kleine Ortschaf­ten mit wenigen Einwohnern aneinander. Hier stießen offenbar zwei völlig unterschiedliche Kulturen aufeinander. Trotz dieser Differenzen gab es aufgrund der engen Nachbarschaft auch kulturelle Annäherungen, die sich allerdings mit Abgrenzungsbewegungen die Waage hielten. So hatten die Philister ursprünglich eine eigene Sprache, die sie mit ins Land brach­ten. Im Alten Testament gibt es gerade einmal vier oder fünf Lehnwörter aus dem Philis­ tä­ischen sowie einige Namen, die die Vermutung nahelegen, dass das Philistäische seine Wurzeln im anatolisch-ägäischen, vielleicht sogar illyrischen Raum hat.7 Mehr 7 Vgl. Maximilian Ellenbogen, Foreign Words in the Old Testament. Their Origin and Etymology, London: Luzac & Company 1962.

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kann man aber bislang nicht sagen. Allmählich übernahmen die Philister jedoch die hebräische oder phönizische Sprache. Trotzdem besaßen sie offenbar einen star­ken Dia­lekt, der sie deutlich als Philister erkennen ließ. In Nehemia 13,24 ist aus­drück­lich von dem aschdodidischen Dialekt die Rede. Also waren die Philister auch hin­sicht­lich ih­res Dialekts als ›Andersartige‹ leicht zu identifizieren. Äußere Zwänge brachten weitere Annäherungen mit sich: 587 v. Chr. wurden Jeru­ salem und Juda von den Babyloniern weitgehend dem Erdboden gleich gemacht. Viele Menschen flohen damals aus Juda. Das Land war zwar nicht völlig entvölkert, aber doch wesentlich dünner besiedelt als vorher. Die rapide gesunkene Einwohnerzahl hatte natürlich auch Folgen für das Zusammenleben der Menschen. Wollte man hei­ raten, so ergaben sich nun zwangsläufig eher Kontakte zu den philistäischen Gebieten als in früheren Zeiten. Es fehlte im Lande einfach oft an geeigneten Ehepartnern. So scheint es im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. eine deutliche Annäherung von Judäern und Philistern zumindest auf privatem Gebiete gegeben zu haben. Mit der Rückkehrmöglichkeit aus dem babylonischen Exil 538 v. Chr. und vor allem im 5. Jahrhundert, als Nehemia wieder eine Stärkung der jüdischen Eigenständigkeit betrieb, wurden diese Ehebande jedoch als problematisch angesehen. Wollte man ein judäisches ›Nationalbewusstsein‹ aufbauen, dann durfte es nicht zu viele Kontakte mit Nachbarvölkern geben. Dieses Nationalbewusstsein benötigte man nach Meinung Nehemias und Esras, zweier jüdischstämmiger Gesandter des persischen Königshauses im 5. und frü­ hen 4. Jahrhunderts v. Chr, um als eigenständige Nation wieder im Kontext der vielen Völ­ker des Perserreiches bestehen zu können. Daher untersagten sie die Ehen mit den Philistern (Esra 9 f.; Nehemia 10,30 f., 13,23 –27). Dies war ein bewusster Versuch, von politischer Seite her in Zeiten einer kulturellen Annäherung wieder die kulturelle und ethnische Eigenständigkeit Judas zu betonen und damit auch die Abgrenzung gegenüber den Philistern zu verschärfen.

Die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit der Philister Die durch die Ägypter vermittelte Ansiedelung der Philister führte nicht zu einem Bevölkerungswachstum in der südlichen Küstenregion Palästinas, sondern eher zu einem geringen Rückgang der Bevölkerungszahl, wie gründliche Auswertungen der Anzahl und Größe der Siedlungen zeigen. Dies kann eigentlich nur damit erklärt werden, dass durch die Ansiedelung der Philister andere, dort seit Jahrhunderten wohnende Sip­ pen vertrieben wurden. Der Boden war – zumal während der damaligen dramatischen Klima­veränderungen in der Region – nicht ertragreich genug, um eine Gruppe von Neu­einwanderern verkraften zu können. Zwar wird man sich die Zahl der hier an­ge­ siedelten Philister nicht zu groß vorstellen dürfen. Es dürften insgesamt kaum mehr als 1000 Personen gewesen sein, die sich hier niederließen, und auch diese Zahl ist schon recht hoch geschätzt. Trotzdem waren die Folgen klar: Gruppierungen, die sich nun

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nicht mehr ausreichend ernähren konnten, wurden verdrängt und siedelten sich wohl im Negev oder im judäischen Bergland an. Letztendlich behinderte die Erinnerung an diese Vertreibung aber auch ein friedvolles Zusammenleben in späteren Generationen. Die militärische Überlegenheit der Philister in der Folgezeit, also zumindest in der Zeit bis zum 10. Jahrhundert v. Chr., war sicherlich auch ein prägender Sachverhalt für die Differenzen zwischen den Philistern einerseits und den Israeliten und Judäern andererseits. In Israel und Juda kämpften jeweils die einfachen Bauern im Falle eines Krieges; das stehende Heer beschränkte sich auf kleinere Gruppen gut ausgebildeter Kämpfer. Die Philister werden sich, da sie über eine stärkere wirtschaftliche Macht ver­fügten, eher Söldnertruppen geleistet haben können, die auf ihrer Seite kämpf­ ten. Die militärische Überlegenheit der Philister wird in der Erzählung von David und Goliath (1 Samuel 17) deutlich. Hierbei handelt es sich sicherlich nicht um eine his­to­rische Erzählung, zumal nach 1 Sam 21,19 ein gewisser Elhanan aus dem Umfeld Davids den Goliath getötet haben soll. Vielmehr will die erfundene Erzählung in dem stilisierten Gegensatz zwischen mit allen damals bekannten Waffensystemen ausgerüsteten Kriegern und einem einfachen Hirtenjungen die militärische Überlegenheit der Philister verdeutlichen. Dass die Philister bereits um 1200 v. Chr. über Langschwerter und damit über be­son­dere metallurgische Kenntnisse verfügten, ist bereits erwähnt worden. Die Be­ ar­beitung von Eisen, die in jener Zeit gerade erst möglich wurde, erforderte be­son­ dere Fähigkeiten, über die die Israeliten zumindest teilweise nicht verfügten. Dies drückt sich auch in einem kulturgeschichtlichen Einschub in 1 Samuel 13,19 –21 aus, der in seinem jetzigen Kontext zwar nicht ursprünglich ist, aber doch auf alte Überlieferungen zumindest des 9. oder 8. Jahrhunderts v. Chr, vielleicht auch schon einer älteren Zeit zurückgehen dürfte: (19) Es war aber kein Schmied im ganzen Lande Israel zu finden; denn die Philister dachten, die Hebräer könnten sich Schwert und Spieß machen. (20) Und ganz Israel musste hinabziehen zu den Philistern, wenn jemand eine Pflugschar, Hacke, Beil oder Sense zu schärfen hatte. (21) Das Schärfen aber geschah für ein Zweidrittellot Silber bei Pflugscharen, Hacken, Gabeln, Beilen und um die Stacheln gerade zu machen. Der Sachverhalt wird hier sicherlich übertrieben dargestellt. Wir wissen inzwischen dank der Archäologie, dass ganz im Norden Israels nahe der heutigen Grenze zum Libanon bereits im 12.  Jahrhundert v. Chr. Eisen geschmiedet werden konnte, und die­ser Fund kann sicherlich nicht mit den Philistern in Verbindung gebracht werden. Auch im Ostjordanland gab es im Jordangraben im 12. bis 10.  Jahrhundert v. Chr. Metall­hand­werker, die ebenfalls diverse Techniken der Metallbearbeitung beherrschten. Aber all das war eine Ausnahme in der damaligen Gesellschaft, und zumindest die Judäer im Grenzbereich zu den Philistern werden zu einem philistäischen Schmied ge-

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gangen sein, um ihre Metallgerätschaften herstellen zu lassen. Die Angabe in Vers 19, die Philister hätten den Judäern die Ausübung des Schmiedehandwerkes unter­sagt, dürf­te eine judäische (Über‑)Interpretation des eigentlichen Sachverhaltes dar­stel­len. Denn das Metallhandwerk setzte besondere Kenntnisse voraus, die schwierig zu erlernen waren und die in der Regel nur im Familienkreis an den Nachfolger weitergegeben wurden. Gab es aber keine entsprechenden Schmiede in Israel, dann konnte das Wissen dort auch nicht an die nächste Generation weitergegeben werden. Der militärischen Überlegenheit der Philister über Israeliten und Judäer entspricht auch eine wirtschaftliche Vormachtstellung. Die wichtigste Handelsstraße, die Ägypten mit Mesopotamien beziehungsweise Kleinasien verband, verlief durch das philistäische Gebiet. Damit waren die Philister am gesamten Landhandel beteiligt. Als im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. der Handel auf der Weihrauchstraße, die von Saudiarabien her nach Palästina führte, intensiviert wurde, hatte dieser seinen Endpunkt am Hafen von Gaza und führte damit gleichfalls durch philistäisches Gebiet. Juda dagegen lag völlig ab­seits der großen Handelsstraßen und hatte daher kaum Anteil am überregiona­len Handel. Zudem lagen Gaza, Aschkelon, Aschdod, Jaffa und Tel Qasile am Mittelmeer oder hatten jeweils eigene Mittelmeerhäfen. Auch dadurch hatten die Philister ihren Anteil am lukrativen Handel jener Zeit. So konnte das philistäische Gebiet pro­ spe­rieren, während Juda im Schatten des damaligen Welthandels lag. Der damit verbundene Reichtum wird nicht zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen den Philistern und den Judäern beigetragen haben. Gesteigert wurde die wirtschaftliche Überlegenheit sicherlich während der assy­ri­ schen Epoche, als die Assyrer nicht nur die Straße nach Ägypten befestigten und ausbauten, sondern in Ekron auch noch ein Wirtschaftszentrum zur Olivenverarbeitung errichteten. Die Abhänge des judäischen Berglandes wurden genutzt, um dort Oliven anzubauen. Die Verarbeitung der Oliven und der Ölhandel brachten aber sicherlich höhere Renditen als der Olivenanbau. Auch damit hat sich die Diskrepanz zwischen Juda und den philistäischen Städten noch einmal verschärft.

Archäologische Funde: Keramik und Kultgegenstände Dank archäologischer Funde haben wir heute eine viel bessere Möglichkeit als auf der Grundlage der Textquellen, die kulturellen Unterschiede zwischen den Phi­lis­tern und den Israeliten beziehungsweise Judäern genauer zu erfassen. Hier zeigt sich, dass die Kultur der Philister eine größere Komplexität als die doch weitgehend recht be­schei­ dene Kultur Israels respektive Judas vom 12. bis zum 8. Jahrhundert v. Chr aufwies. Immer wieder scheint es Versuche einer Akkulturierung gegeben zu haben, auf die aber auch wieder Abgrenzungsbestrebungen folgten. Während die Israeliten und Judäer – wie schon gesehen – bewusst die spätbronzezeitliche Stadtstaatenkultur ab­schüt­teln

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wollten und neue Lebensmöglichkeiten suchten, standen die Philister in einer westlich geprägten städtischen Tradition, die sie weiterhin pflegten. Wichtigstes Kriterium in der Archäologie zur Bestimmung kultureller Unter­ schie­de ist die Keramik. Sie ist leicht herzustellen, aber auch leicht zerbrechlich und da­mit ein deutlicher Marker für Veränderungen und Entwicklungen. In der Zeit um 1175 v. Chr., also der Zeit der Ansiedlung der Philister an der südlichen Küstenebene Palästinas, können wir dort einen neuen Keramiktyp feststellen. Es handelt sich um bemalte Keramik, die von einer so hohen Qualität ist, wie man sie bisher nicht in Pa­ läs­tina gekannt hatte. Diese Keramik wurde wahrscheinlich von zyprischen Töpfern her­gestellt, die sich der Seevölkerbewegung anschlossen und an der südlichen Küstenebene eine neue Heimat fanden. Nun war die Keramik nicht ausschließlich im Phi­lis­ ter­gebiet verbreitet, sondern fand sich auch außerhalb des Territoriums. Es handelte sich schlichtweg um ein Luxusprodukt, das von reicheren Personen in der Umgebung gerne erworben wurde. Die Mehrzahl der gefundenen Gefäße stammt aber eindeutig aus dem philistäischen Gebiet und belegt somit eine kulturelle Eigenständigkeit und die höhere kulturelle Entwicklungsstufe der Philister. Diese Eigenständigkeit blieb auch in späteren Zeiten erhalten. Das 9. und 8. Jahrhundert waren eine Zeit, in der die sich zunehmend entwickelnden Territorialstaaten in der südlichen Levante allmählich eine eigenständige Kultur herausbildeten. Und auch hier lässt sich wieder beobach­ ten, dass die Philister, in diesem Fall besonders die Töpfer von Aschdod, einen eige­nen Kera­mik­typus entwickelten, den es sonst nicht gab, die sogenannte Aschdod-Ware. Mit Hilfe der Keramik grenzte man sich von den Nachbarn ab und betonte seine kul­ turelle Eigenständigkeit. Auch hinsichtlich anderer kultureller Gegenstände lässt sich diese Konstellation nach­zeichnen. In ihren Kultinstallationen und -gerätschaften unterschieden sich die Phi­lis­ter fundamental von den Israeliten und Judäern. Schon im 12. und 11.  Jahr­ hun­dert v. Chr. fand man vor allem in Ekron runde Herdanlagen, die wahrscheinlich im Kult eine besondere Rolle spielten und die aus dem Mittelmeerraum stammten. Solche Herdanlagen sind für Palästina außerhalb des philistäischen Territoriums bislang nicht belegt. In Tell Qasile im Bereich der heutigen Stadt Tel Aviv hat man einen philistäischen Tempel des 12.–10. Jahrhunderts v. Chr. entdeckt, der Kultgeräte aufweist, die hinsichtlich ihrer Qualität mit nichts anderem im ganzen Lande ver­gli­ chen werden können. Raffinierte Trickvasen und Libationsgefäße, in denen un­sicht­ bar Wasser gespeichert und anschließend in einem kultischen Akt ausgegossen werden konn­te, sind Zeugnisse der besonderen handwerklichen Fähigkeiten der philistäischen Töpfer jener Zeit. Offenbar waren die Philister im Bereich des Kunsthandwerks der judäischen und israelitischen Bevölkerung völlig überlegen. In Yavne lässt sich für das 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. ein ähnlicher Befund fest­ stellen. Hier sind in einer Opfergrube insgesamt über 7000 Kultgeräte gefunden wor­ den. Die rund 125 Architekturmodelle sind von einer Machart, für die es bislang im ganzen Lande, aber auch im gesamten Mittelmeerraum keine Parallelen gibt. In der

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Opfergrube hat man auch Räuchergeräte gefunden: Schalen, in denen Öl verbrannt wurde und deren Randzonen stark vom Ruß geschwärzt sind. Auch dafür gibt es bislang im gesamten Land keine Parallelen. Der gesamte Bereich des Kultes scheint somit sehr eigenständig geblieben zu sein; eine Akkulturation an die Bewohner des Landes unterblieb weitgehend. Diese Eigenständigkeit der Philister im Bereich des Kultes bestätigen schließlich ei­ni­ge Hinweise auf die Götter, denen sich die Philister zuwandten: Dank einer Inschrift aus Ekron wissen wir, dass die Philister noch im 7. Jahrhundert v. Chr. eine Göttin PTGYH verehrten, die vermutlich aus dem ägäischen Raum stammt. Daneben gibt es allerdings auch Inschriften, die die Verehrung der levantinischen Götter Astarte und Baal durch die Philister belegen. Die Philister griffen also durchaus vereinzelt kul­tische Traditionen der ursprünglichen Einwohner des Landes auf. So wurde auch der Hörneraltar, der sich im 12.  Jahrhundert v. Chr. als übliche Altarform in Israel all­mählich entwickelte, in abgewandelter Form von den Philistern übernommen. In der Opfergrube von Yavne fand man einen solchen Altar, der jedoch nicht wie sonst üblich aus Stein, sondern aus Ton gefertigt war. In Ekron wurde eine Vielzahl derartiger steinerner Altäre entdeckt, allerdings nicht – wie in Israel und Juda üblich – in Tempeln, sondern im Industriegebiet. Auch hier entwickelten die Philister offenbar ganz bewusst ihre kulturelle Eigenständigkeit. Sinnfällig werden die somit auf archäologischer Ebene bestätigten Gegensätze zwi­ schen dem Kultus der Israeliten beziehungsweise Judäer und der Philister schon im Alten Testament, namentlich besonders in 1 Samuel 5. Die militärisch über­le­ge­nen Phi­lis­ter haben in dieser wieder rein fiktiven und nicht historisch zuverlässigen Er­zäh­ lung die Lade der Israeliten erobert und in das Dagonheiligtum in Aschdod gestellt. Als die Bewohner von Aschdod am nächsten Tag in den Tempel Dagons kommen, liegt des­sen Statue ehrerbietend vor der Lade Jahwes. Damit soll deutlich gemacht wer­ den, dass der Gott der Philister den judäischen Gott durchaus als bedeutenderen Gott anerkennt und sich ihm unterwirft. Am nächsten Tag aber liegt die Statue Dagons zertrümmert vor der Lade. Dagon hat damit seine Wirkmächtigkeit verloren, Jahwe zeigt sich als der einzig wahre Gott.

Zusammenfassung Betrachtet man die Geschichte der Israeliten und Judäer beziehungsweise der Phi­lis­ter, dann war sie stets von kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ab­gren­zung ge­prägt. Die Philister waren im Alten Testament ein Feind, der im 12. bis 10. Jahr­hun­dert v. Chr. eine große militärische Gefahr darstellte, in der nachfolgenden mi­li­tä­risch schwä­che­ ren Periode aber immer noch als ein Volk verstanden wurde, das kulturell völlig eigenständig war und mit dem man möglichst wenige Beziehungen pflegte. Die kulturelle Andersartigkeit der Philister wurde über die Jahrhunderte hinweg stets stark betont

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und führte zu einer religiös, wirtschaftlich und politisch bestimmten Abgrenzungspolitik. Dies ist im Kontext der damaligen Zeit durchaus etwas Besonderes: Zwar ha­ ben viele Völker ihre kulturellen Eigenheit und Eigenständigkeit im Laufe der Zeit zu be­wahren versucht, aber die Gegensätze der Israeliten und Judäer zu den Philistern sind doch wesentlich markanter als etwa diejenigen zu den Aramäern, Moabitern oder Edomitern. Vielleicht liegt darin ein Grund dafür, dass gerade dieser Gegensatz bis in die Neuzeit hinein ein Paradigma kultureller Differenz abgeben konnte.

Bernhard Lang

Simson und die Philister Kurze Lektüre einer biblischen Geschichte

Fast will es uns bedünken, dass es mit der Ge­ schich­te Simsons, wie sie uns vorliegt, eine etwas an­de­re Bewandtnis habe als mit den übrigen israe­ li­tischen Heldensagen. Eduard Reuss1 Die Simsongeschichte, überliefert im Buch der Richter im Alten Testament, ist uns heu­te nicht mehr so vertraut wie unseren Vorfahren. Simson teilt das Schicksal der meis­ten biblischen Gestalten: Früheren Generationen geläufig und dem kulturellen Ge­dächt­nis fest eingeschrieben, sind sie heute verblasst und nur noch besonders ei­fri­ gen Bibel­lesern bekannt. Daher möchte ich meine Ausführungen mit einer knappen Nacherzählung eröffnen, um anschließend Interpretationen vorzustellen: ältere, heute kaum noch vertretene Deutungen der Erzählung als Naturmythologie oder Märchen; eine der volkskundlichen Forschung verpflichtete weitere Sicht; und schließlich eine eigene, auf vergleichender Sagenforschung beruhende Interpretation. – Ich beginne mit der Nacherzählung.

Die Geschichte von Simson Mit der Geburt des Heldenkindes verhält es sich also: Ein Engel Gottes erscheint ei­ ner bislang unfruchtbaren Frau aus dem israelitischen Stamme Dan und kündigt ihr Schwangerschaft und Geburt eines Knaben an. Er erlässt auch ein Gebot, das für den 1 Eduard Reuß, Die Geschichte der heiligen Schriften des Alten Testaments, Braunschweig: Schwetschke 1881, S. 126.

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Knaben lebenslang gelten soll: Kein Schermesser darf sein Haupt berühren. Als der Kna­be geboren wird, erhält er den Namen Simson. Der Knabe wächst heran. Da kommt die Zeit, da er heiraten soll, und er wählt sich, trotz elterlichen Widerspruchs, eine Philisterin – eine Frau aus jenem fremden Volk, welches, Israel benachbart, die Küstenebene am Mittelmeer bewohnt und in je­ nen Tagen über Israel herrscht. Die Ehe wird geschlossen, und alsbald lädt Simson dreißig junge Männer aus dem Volk seiner Frau ein, um mit ihnen sieben Tage lang fröhlich zu zechen. Ist er nicht einer von ihnen geworden? Simson gibt seinen Gästen ein Rätsel auf, und wenn es die junge Gesellschaft noch während des Festes lösen kann, will er zum Lohn jedem ein Festgewand schenken. Das Rätsel aber lautet: ›Vom Fresser kommt Speise, vom Starken kommt Süßes.‹ Niemand weiß damit etwas anzufangen; nur Simson selbst kennt die Lösung. Vor einiger Zeit ist er, durch die Fluren strei­fend, einem jungen Löwen begegnet; diesen hat er mit bloßen Händen, ohne Gebrauch ei­ ner Waffe zerrissen; den Kadaver hat er auf dem Feld liegenlassen. In diesem Ka­da­ver hat sich ein Bienenschwarm eingenistet, und Simson, dies bemerkend, hat sich an der Leckerei bedient. Das also wäre des Rätsels Lösung: Vom Löwen, dem Fresser, kommt Speise, nämlich Honig. Keinem hat Simson von der Begebenheit erzählt; also ist der Rätselspruch nicht zu lösen. Heimlich bedrängen die Gäste Simsons Frau, die Lösung von ihrem Manne zu erpressen. Tatsächlich gelingt es den Tränen der Frau, Simson die Geschichte zu entlocken, und der Verrat an die Gäste findet statt. Triumphierend überbringen die jungen Philister unserem Helden die Lösung. Nun muss er, von den Gästen überlistet, den versprochenen Lohn ausgeben. In rasender Wut eilt er in die näch­ste Philisterstadt, erschlägt dort dreißig Männer, beraubt sie ihrer Kleider und ent­lohnt damit seine Gäste. Altem Brauch folgend, bleibt Simsons Frau bei ihrem Vater wohnen, sodass unser Held seine Frau nur besucht, wenn er Lust verspürt – so auch, nachdem er sich von der Kränkung erholt hat, die ihm seine Frau durch jenen Verrat zugefügt hatte. Doch als Simson an die Tür seines Schwiegervaters pocht, bleibt ihm der Eintritt verwehrt: In der Meinung, die Ehe sei beendet, hat der Vater seine Tochter bereits einem anderen zur Gemahlin gegeben. Erzürnt sinnt Simson auf Rache. Er fängt junge Füchse, bindet ihnen Fackeln an die Schwänze, steckt diese in Brand und jagt die Tiere in die Kornfelder der verhassten Philister. Als ruchbar wird, dass Simson der Schuldige ist, stecken die Philister das Haus seines Schwiegervaters in Brand: Dieser und Simsons Frau kom­ men im Feuer um. Um sich des Unruhestifters zu entledigen, zieht ein Heer der Philister gegen die Judäer. Es kommt zur Verhandlung. Die Judäer sagen den Philistern die Auslieferung Simsons zu. Rasch ist der in einer Felsengrotte hausende Held aufgespürt. Tatsächlich lässt er sich fesseln und ausliefern. Doch im Augenblick der Übergabe ergreift ihn die Wut, er sprengt seine Fesseln, greift zu einem am Boden liegenden Eselsknochen (ein Gegenstand, dessen Form an das Sichelschwert erinnert) und erschlägt damit tausend Mann der Philister. Und entkommt.

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Von nun an lebt Simson ohne Weib, doch sucht er weiterhin Kontakt zu phi­lis­tä­ ischen Frauen, mit denen er Liebesnächte verbringt. In der Philisterstadt Gaza erfahren die Männer einmal von seiner Anwesenheit und lauern ihm auf. Doch sie verrechnen sich: Nicht erst am Morgen verlässt Simson die Stadt, sondern bereits um Mitternacht. Er zerbricht die Riegel des geschlossenen Stadttors, reißt Flügel samt Pfosten aus der Verankerung, schultert sie, und schleppt sie davon. Auf einen entfernten Bergesgipfel legt er sie ab. Körperkraft und List sind die Waffen des Helden. Eine Geliebte, Delila mit Namen, erfreut sich häufiger Besuche des Helden. Auch davon erfahren die Philister. Die Fürsten der Philister bedrängen Delila, Simson das Geheimnis seiner Kraft zu entlocken. Sie willigt ein und beginnt, auf Simson einzureden: Lass mich doch wissen, was das Geheimnis deiner Kraft ist. Womit muss man dich fesseln, um dich zu überwältigen? Simsons Antwort: Mit frischen Sehnen muss man mich fesseln, dann werde ich schwach. Rasch sind solche Sehnen gefunden, und der gefesselte Held schläft ein. Da weckt ihn Delila mit den Worten: ›Die Philister sind da, Simson!‹ Der gefesselte Held zerreißt die Sehnen, und die in der Kammer ver­steck­ ten Philister werden des Helden nicht habhaft. Ein weiteres Mal bedrängt ihn Delia. Wiederum gibt er eine Antwort: ›Mit neuen, ungebrauchten Stricken muss man mich fes­seln, dann werde ich schwach.‹ Rasch sind solche Stricke gefunden, und der gefesselte Held schläft ein. Da weckt ihn Delila abermals mit dem Ruf: ›Die Phi­lis­ter sind da, Simson!‹ Der gefesselte Held zerreißt die Stricke, und die in der Kammer lauern­ den Philister können ihn abermals nicht fassen. So versucht es Delila ein drittes Mal, und nun lautet die Antwort: ›Wenn du mein Haar mit den Fäden deines Webstuhls verwebst, dann kann ich mich nicht mehr wehren.‹ Doch auch diese Antwort entpuppt sich als falsch. Schließlich, von Neuem bedrängt, verrät Simson sein Geheimnis: ›Wird mein Haupthaar geschoren, verlässt mich die Kraft.‹ Als er in ihrem Schoß einschläft, ruft Delila einen Mann herbei, der ihm die sieben Strähnen seines Haupthaares mit einem Schermesser abschneidet. Wiederum geweckt, kann sich Simson nicht mehr wehren. Die Philister können ihn nun ergreifen und ihm die Augen ausstechen. (Mit dem Schermesser hat es eine besondere, dem ursprünglichen Leser der Geschichte bekannte Bewandtnis: Es handelt sich um einen Gegenstand aus Eisen; lange Zeit, so berichtet die Bibel,2 kennen die Israeliten die Eisenverarbeitung nicht; die kulturell überlegenen Philister dagegen besitzen Waffen und Werkzeug aus Eisen.3 Sie besiegen den hebräischen Helden mit einem kleinen Messer oder einer Schere. Damit werden ihm nicht nur die langen Haare abgeschnitten, sondern auch die Augen ausgestochen.) In Ketten gelegt, muss der besiegte Held, Sklaven gleich, den Mühlstein bewegen. Doch damit endet seine Geschichte noch nicht. Eines Tages feiern die Philister in ei­ nem ihrer Tempel ein Fest. Man holt Simson vom Mühlstein und führt ihn vor; mit dem blinden, gebrochenen Helden wollen die Philister ihren Spott treiben. Doch nun 2 3

1 Samuel 13,19 –22. Siehe den Beitrag von Wolfgang Zwickel in diesem Band.

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sinnt Simson auf Rache. In seinem Herzen fleht er zu Gott, er möge ihm noch ein letztes Mal Kraft verleihen. Von einem Knaben lässt sich der Blinde an die Säu­len füh­ren, die das Tempeldach tragen. Tatsächlich kann der Held die Säulen bewegen, sodass der Tempel einstürzt und Simson selbst den Tod findet. Mehr als dreitausend Männer und Frauen, die sich im Tempel und auf dessen Dachterrasse befinden, reißt er mit sich. So ist die Zahl derer, die er im Sterben tötet, größer als die Zahl jener, die er während seines Lebens erschlagen hat. – Damit endet die Erzählung im Buch der Richter. Das Ende mag man als tragisch bezeichnen, da der Held untergeht und der Feind triumphiert. Tatsächlich wird die Richterzeit in der Bibel als »schlechte Zeit« geschildert, in der es zwar einzelne Lichtblicke gibt, doch der große Sieg über die Feinde ausbleibt. Das Thema ›Israel und die Philister‹ wird in der Bibel jedoch noch einmal aufgegriffen und dann zu einem für das biblische Volk glücklichen Ausgang geführt. An die Stelle Simsons tritt der junge David. In der Auseinandersetzung zwischen den beiden Völkern einigt man sich auf einen Zweikampf, der die Fehde entscheiden soll. Der Riese Goliat, ausgerüstet mit Helm, Panzer, Sichelschwert und eiserner Lanze, vertritt die Seite der Philister; der Hirtenjunge David, nur mit einer Steinschleuder bewaffnet, Israel. Mit einem Feldstein streckt David den Riesen zu Boden, entreißt ihm das Schwert und trennt ihm den Kopf vom Rumpfe. So nimmt David »die Schande von Israel weg« und stellt seine Ehre wieder her.4 – Doch kehren wir zur Simsongeschichte zurück. Wie ist sie zu verstehen? Zunächst ein Hinweis auf traditionelle Deutungen.

Traditionelle Deutungen Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde die Meinung vertreten, Simson müsse eine his­ to­rische Persönlichkeit aus der Frühzeit der israelitischen Stämme gewesen sein: einer jener Kriegshelden, die in vorstaatlicher Zeit Israels Kriege gegen seine Feinde führten, um nach Beendigung des Kampfes wieder von der politischen Bühne abzutreten. Nur in Kriegszeiten habe man Führer benötigt, die, von Israels Gott berufen, das stets sieg­reiche Heer versammelten. Tatsächlich bietet das Buch der Richter, das uns die Simson-Erzählung überliefert, eine solche Deutung an. Zwanzig Jahre lang, heißt es im Richterbuch, habe Simson ein solches Amt innegehabt. Es bedurfte keiner auf­ wen­digen Forschung, um zu begreifen, dass der biblische Autor hier altes Erzählgut verwendet. Das mündlich Überlieferte gibt er weiter und formt es mit großem Geschick literarisch, doch versäumt er nicht, es in den starren Rahmen seiner Theorie von den Verhältnissen der Frühzeit einzufügen. Ihn stört offenbar nicht, dass sich eine Gestalt von der Art Simsons schwerlich eignet, in die Reihe angeblicher Volksführer gestellt zu werden. Nein, Simson kann kein Volksführer von stammesübergreifender 4 1 Samuel 17,26.

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Bedeutung gewesen sein; nicht einmal innerhalb des eigenen Stammes, der Daniten, kann er als Führergestalt gelten. – Doch hat sich die Forschung des von der Bibel gelieferten pseudohistorischen Rahmens einmal entledigt, bleibt die Frage nach einem tieferen Verständnis der Simsonerzählung offen. Im 19. und beginnenden 20.  Jahrhundert wurde versucht, der historisierenden Deu­tung eine Alternative an die Seite zu stellen. Diese erhielt zuerst die Gestalt einer natur­mytho­logischen Deutung, lag doch den Forschern jener Zeit nahe, die Mythologie aller Völker und Zeiten als verkleidetes Naturgeschehen zu verstehen, wobei der Sonne mit ihrer mächtigen Strahlkraft die größte Rolle zukam.5 Kein Wunder, dass auch die Simson-Erzählung in die Spekulationen über eine universal ver­brei­tete Sonnen­mythologie einbezogen wurde. Im Hintergrund der Simson-Erzählung steht nach dieser Auffassung der zu einer dramatischen Szenenfolge ausgebaute tägliche oder auch jährliche Lauf der Sonne, die in der Nacht und im Winter ihre Kraft einbüßt. Simson sei, etymologisch betrachtet, der Sonnenmann; Schimschon (so lautet der hebräische Name) sei verwandt mit schemesch, der Sonne. Dagegen repräsentiere Delila die Nacht; ihr Name erinnere an laila, das hebräische Wort für Nacht. Die Sonne sei am Tage siegreich, doch in der Nacht verliere sie ihre Kraft, ihre Strahlen verschwänden, die Herrschaft werde an die Mondgöttin, repräsentiert durch Delila, abgegeben. In der Erzählung sei das Verschwinden der Sonnenstrahlen im Bild der Rasur der Haare des Helden eingefangen. Doch am Morgen bezwinge die wieder Kraft schöpfende Sonne ihre mit der Nacht verbundenen Feinde. Dann komme es zu Tod und Wiedergeburt des Helden, und nun beginne die Geschichte wieder von vorne, mit der Ankündigung der Geburt des Helden. Viele Einzelzüge der Simsongeschichte seien nach diesem Muster auf Sonnenmythen zu beziehen. Simson zerreißt einen jun­ gen Löwen – der Löwe sei ein Sonnentier, und der Kampf zeige die Sonne in Kon­ flikt mit sich selbst, genauer: diese Szene spiegle den Konflikt zwischen der wär­men­ den und der versengenden Sonnenkraft wider. Simson begeht Selbstmord – die Sonne, mittags auf dem Höhepunkt ihrer Kraft stehend, verzehre sich selbst, um schließlich ganz dahinzusinken. Allerdings sei der alte mythische Sinn in der biblischen Fassung der Erzählung verwischt, denn Israels monotheistische Religion habe den Sonnengott entthront und als Simson in eine Sagengestalt verwandelt. Nur noch dem geschulten Blick des Forschers erschließe sich der ursprüngliche Sinn. Vorgeschlagen wurde diese Deutung von dem jüdischen Gelehrten Heyman Steinthal (1823 –1899), in den Jahren 1862 bis 1893 außerordentlicher Professor für Sprachphilosophie an der Universität Berlin.6 Steinthals mythologische Deutung lebt zwar immer wieder auf, doch ins­ge­ samt ist sie in Misskredit geraten und kann heute als obsolet gelten. 5 Werner Bies, »Sonnenmythologie«, in: Enzyklopädie des Märchens, hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich, Bd. 12, Berlin: de Gruyter 2007, Sp. 892 – 897. 6 Heyman Steinthal, »Die Sage von Simson«, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie 2 (1862), S. 129 –178. Diese Deutung findet sich auch bei Hermann Stahn, Die Simsonsage. Eine religions-

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Diese naturmythologische Deutung ersetzte Alexandre Krappe im Jahr 1933 durch die Auffassung der Simsonerzählung als Wandermärchen.7 Die Szene von Simson und Delila bewertet er als den Kern des Märchens, um sogleich mit dem Vorschlag aufzuwarten, die Sympathie habe ursprünglich nicht dem langhaarigen Simson, son­dern sei­ ner schönen Partnerin gegolten – nämlich in jener Zeit, als die Geschichte unter den Philistern heimisch war. Ihnen habe Simson als böser Geist gegolten, als Unhold übermenschlicher Herkunft. Zentrales Motiv sei »der Körper ohne Seele«: Simsons Seele, in sei­nem Haar verborgen, werde ihm geraubt, was sein Ende bedeute. Als das Mär­ chen von den Israeliten übernommen worden sei, habe es einen anderen Sinn er­hal­ten: Nun sei Simson zum bewunderten Helden avanciert, während Delila als Verräterin erscheine. Die Unstimmigkeiten der biblischen Erzählung werden von Krappe auf die doppelte Heimat des Wandermärchens zurückgeführt, das zugleich philistäische wie israelitische Züge behalten habe. In der Fachwelt blieb diese Interpretation ohne Anklang. Hätte Krappes Deutung nicht in Elisabeth Frenzels Stoffe der Weltliteratur Eingang gefunden,8 wäre auch sie längst vergessen. Doch wie soll die Simson-Erzählung verstanden werden, wenn sie sich weder als ein Stück Naturmythologie noch als Märchen verstehen lässt? Gewöhnlich wird gesagt, es müsse sich um eine Sage handeln, in der sich die konkreten historischen Verhältnisse der Frühzeit Israels spiegeln. Tatsächlich waren nämlich die Philister Nachbarn und Feinde des frühen Israel. Im 12. und 11.  Jahrhundert v. Chr. be­sitzen die Phi­lis­ter mehrere blühende Stadtstaaten an der Küste Palästinas; sie kontrollieren auch einen großen Teil des von den Hebräern bewohnten palästinischen Berglandes. Zum politischen Gegensatz zwischen Herrschern und Beherrschten tritt ein auf­fäl­ liger kultureller Unterschied. Die Philister sprechen eine indoeuropäische und keine semi­tische Sprache; ihre Kultur ist die der ägäischen Völker, nicht die des Vor­deren Orients; anders als die Hebräer kennen sie den Brauch der Beschneidung nicht; ihre materielle, militärische und politische Kultur ist weiter entwickelt als die der frühen Hebräer. Kurz: die Philister verkörpern eine überlegene, hoch entwickelte Kultur, de­ ren Errungenschaften – nicht zuletzt der Gebrauch von Eisen – die Stämme Israels ihre Unterlegenheit schmerzlich spüren lässt. Die verschiedenen Ortsangaben, die sich in der Simson-Überlieferung finden, verweisen auf das Grenzgebiet zwischen dem von Hebräern und Philistern besiedelten Land, jene Stelle also, wo sich beide Kulturen berühren. An solcher Stelle kommt es erwartungsgemäß zu kämpferischer Auseinandersetzung. Ebenso erwartungsgemäß ist die Anziehungskraft, die philistäische Frauen, aber auch die eleganten Kleidungsstücke der Philister auf hebräische Männer gehabt

geschichtliche Untersuchung über Richter 13 –16, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1908. 7 Alexandre H. Krappe, »Samson«, in: Revue archéologique 6.1 (1933), S. 195 –211. 8 Elisabeth Frenzel, »Simson«, in: dies., Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 10. Aufl., Stuttgart: Kröner 2005, S. 850 – 855.

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haben. Nicht Mythologie oder Märchen, sondern die geschichtliche Erinnerung liefert den Stoff der Sage. Innerhalb solcher Überlegung bleibt die Gestalt Simsons noch ohne Profil. Ihr verleiht Hermann Gunkel (1862 –1932), zu Beginn des 20. Jahrhunderts der bedeutendste Interpret alttestamentlicher Sagenüberlieferung, konkrete Züge. Sein Aufsatz aus dem Jahr 1913 deutet Simson als Idol der Jünglinge des Stammes Dan.9 Die danitischen Jüng­linge lockt es, von ihren Bergen herabzusteigen und den Kampf gegen die Philister auf eigene Faust zu führen. Ruhm und Ehre erwirbt, wer ihrer viele erschlägt. Und ist es nicht Mord, so mag es Brandstiftung sein. Falls der israelitische Bursche die Felder der Feinde nicht selbst zu betreten und zu verwüsten wagt, weiß er ein Mittel: Er schickt Füchse mit angebundenen Fackeln in die reife Saat. Der Einzelne, der solche Tat vollbracht hat, wagt es vielleicht nicht mehr, ins heimische Dorf zurückzukehren; er versteckt sich in den Schluchten des judäischen Gebirges, um von da aus seine Terroraktionen zu unternehmen – bis es den stammverwandten Judäern selbst unheim­lich wird, den Gewaltmenschen in ihrer Nähe zu dulden. Die Philister verlangen seine Aus­lieferung. Ähnliche Gestalten wie Simson, schreibt Gunkel, habe es »noch bis vor kurzem«, also bis um 1900, auch auf dem Balkan gegeben – kühne Abenteurer, die des Nachts in die türkischen Dörfer von Montenegro hinabsteigen und den Muslimen die Kehle durchschneiden, um anschließend in ihre Bergfesten zu flüchten. Nach Gunkel verkörpern diese Haiduken (wie sie genannt wurden) einen bestimmten sozialen Typ, der in Zeiten kolonialer Überfremdung entsteht und, aus seinem Versteck agierend, der fremden Macht durch waghalsige Terrorakte Widerstand leistet. Bis heute beherrscht Gunkels Vorschlag die wissenschaftlichen Bibelkommentare. Simson als eine Art Freibeuter zu denken scheint durch einen Blick auf David, eine andere Gestalt der Frühzeit Israels, an Plausibilität zu gewinnen: David wird als Anführer einer Räuberbande geschildert, die bedrängten Bauern zu Hilfe kommt, einen über­heblichen Herdenbesitzer in die Knie zwingt, den Herrscher einer mächtigen Phi­ lister­stadt überlistet und den Nachstellungen König Sauls entkommt. Über David er­ zählt die Bibel eine Geschichte voller Absurditäten, komischer Episoden und unterhalt­ samer Abenteuer  – eine klassische Banditengeschichte, die dem damals wie heute bekannten Muster folgt, nach dem populäre Rebellen wie Robin Hood, Jesse James und Pancho Villa mit Wagemut und Schläue die korrup­ ten, bru­talen Machthaber ihrer Zeit herausfordern. Die Heldentaten einiger 9 Hermann Gunkel, »Simson«, in: ders., Reden und Aufsätze, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1913, S. 38 – 6 4. Die neueren Kommentare zur Simsonerzählung stellen zumeist Fortschreibungen dieses Aufsatzes dar; ein Beispiel dafür bietet Susan Niditch, Judges. A Commentary, Louisville: Westminster John Knox Press 2008, S. 138 –172. Niditch hebt hervor (ganz im Sinne meiner eigenen, sonst abweichenden Deutung): »In many ways, he [Samson] embodies the antisocial« (S. 168).

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dieser Banditen sind im Laufe der Jahre verblasst und in Vergessenheit geraten, andere gewannen zunehmend Format und wurden immer mehr ausgeschmückt. Aus geringfügigen Ereignissen wurden Großtaten, persönliche Eigenschaften wurden mythisch überhöht.10 Folgen wir diesem Gedankengang, erscheint Simson – nicht anders als David – als ein Held der hebräischen Volksüberlieferung, der den Erzählern einen bunten, zur Ausschmückung einladenden Stoff bot. Gunkel bleibt der bedeutendste Ausleger alttestamentlicher Sagen im 20. Jahr­hun­ dert; keiner hat sein Werk ernsthaft überholt. Seine Stärke ist der Verweis auf kon­ krete Lebensverhältnisse, die zur Sagenbildung führen. Dennoch ist Gunkels SimsonDeutung meines Erachtens unvollständig. Daher mein Versuch einer neuen, Gunkels Ausführungen ergänzenden Interpretation. Dabei können wir für den Grund­ge­dan­ ken auf eine Anregung von Georges Dumézil zurückgreifen, der allerdings nicht über Simson, sondern über den griechischen Helden Herakles schreibt.

Ein neuer, von Dumézil inspirierter Deutungsversuch Wollen wir zu einem tieferen Verständnis der Simsonerzählung gelangen, müssen wir Schale und Kern unterscheiden: die unterhaltsame, durchaus amüsante Außenseite und den didaktischen Kern, den es zu erfassen gilt. Die Botschaft der Außenseite ist jedem Leser sofort ersichtlich: Simson wird als Nationalheld gefeiert, der Israels Geg­ner in verwegenen Einzelaktionen schadet und so die Überlegenheit des eigenen Volkes beweist. Auch als von den Philistern beherrschtes und unterdrücktes Volk vermag sich Israel zu wehren. Seine Überlegenheit über die Feinde zeigt sich bereits lange, bevor David die Philister endgültig besiegt und vertreibt. Diese Außenseite hat Gunkel treffend charakterisiert, ohne freilich zu bemerken, dass es sich nur um die Schale han­ delt. Die Schale nämlich umhüllt einen verborgenen Kern, der sich erst durch weitere sorgfältige Interpretation erschließt. Möglicherweise legten jene Schreiber, welche die Simsongeschichten sammelten und schriftlich festhielten, diesen noch einen weiteren, von uns nur mit Mühe zu eruierenden, gleichsam esoterischen Sinn bei. Die nach­fol­ genden Überlegungen wollen diesen Sinn freilegen. Wir gehen dabei in drei Schritten vor: Ein erster Schritt verweist auf eine archaische Kulturtheorie, deren Analyse mit dem Namen Georges Dumézils verbunden ist; dann erfolgt ein Hinweis auf den grie­ chi­schen Herakles-Mythos, in dem sich bereits unsere Deutung des inneren Sinnes der Simson-Geschichte abzeichnet; zuletzt gilt es, die innere Bedeutung der SimsonGeschichte selbst offenzulegen. 10 Israel Finkelstein und Neil  A. Silberman, David und Salomo. Archäologen entschlüsseln einen Mythos, München: Beck 2006, S. 32.

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Israel konnte sich, anderen frühen Gesellschaften gleich, als dreigliedriges Sozialgefüge auffassen, bestehend aus Intellektuellen (I), Kriegern (II) und land- und viehwirtschaftlichen Produzenten (III), wobei die Mitgliedschaft in einer Gruppe die in einer anderen nicht prinzipiell ausschloss.11 Der Bauer konnte  – zumal in Kriegszeiten – auch als Krieger auftreten, und zumindest ein Teil der Intellektuellen (Priester, Propheten und Schreiber) war auch in bäuerliche Arbeit eingebunden. Dennoch las­sen sich, zumindest idealtypisch, drei Gruppen unterscheiden, die schon Jeremia nennt: »Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit, der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums« (Jeremia 9,22). Der Prophet stellt die tragenden Säulen der Gesellschaft – Intellektuelle, Krieger und reiche Bauern – neben­ ein­ander, und zwar in absteigender Rangfolge. So vereinzelt dieser Spruch in der Bibel auch stehen mag, er legitimiert den Versuch, der archaischen Auffassung von der Gesellschaft als Gefüge aus Nährstand, Wehrstand und Lehrstand auch in Israel nach­ zu­gehen. Hat der französische Kulturhistoriker und Anthropologe Georges Dumézil (1898 –1986) auch gemeint, die Auffassung des Sozialkörpers als dreigliedriges Gefüge sei auf indoeuropäische Völker beschränkt, so ist dieser Auffassung zu widersprechen. Auch bei semitischen Völkern, einschließlich Israels, finden sich entsprechende Vorstellungen. Offenbar haben bestimmte biblische Überlieferungen und Bräuche ihre Prä­gung im Milieu von Kriegern, Intellektuellen oder Bauern erhalten. So werden drei verschiedene Ursprungsgeschichten des Volkes überliefert: eine kriegerische Ur­ sprungs­geschichte im Richterbuch und in der Davidsüberlieferung; eine in­tel­lek­tuelle Ur­sprung­sgeschichte, die Israel durch Offenbarung des Gesetzes und den am Sinai geschlossenen Bund seine Identität gewinnen lässt; und eine Ursprungsgeschichte, die das Volk als Gemeinschaft von Hirten und Bauern mit gemeinsamen Vorfahren versteht. Je nach Tradition bestimmen Krieg, Gesetz oder Nachkommenschaft (Fruchtbarkeit) das Wesen Israels. Eine sich an Dumézils dreifunktionalem Ansatz orientierende kulturanthropologische Betrachtungsweise eröffnet neue, von der Forschung bisher nicht er­probte Wege der Interpretation. Sie kann uns vor allem lehren, dass sich archaische Kulturen nicht ohne Kriegertum denken lassen. Tatsächlich ist das Buch der Richter, in dem die Simson-Erzählung zu finden ist, ein Buch der Kriege. Alles, was mit Kampf und Krieg zusammenhängt, wird ernst genommen und sorgfältig bedacht. Militärische Aktionen werden glorifiziert (so im Lied der Debora, Richter 5), lassen sie sich doch als Ausdruck trotziger Selbstbehauptung begreifen. Aber sie fordern auch zu kritischer Stellungnahme heraus. Die Simsongeschichte führt uns in eine archaische Welt mit charismatischen Kriegern, die sich lebenslang gesellschaftlicher Integration entziehen;

11 Diesen Ansatz habe ich ausführlich entwickelt in: Bernhard Lang, Jahwe der biblische Gott. Ein Porträt, München: Beck 2002.

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als Einzelkämpfer agierend, provozieren sie den Feind; immer wieder von unbändiger Kampfeswut ergriffen, fügen sie ihm unermesslichen Schaden zu.12 Für unseren Zusammenhang sind zwei der Theorie Dumézils geschuldete An­nah­ men wichtig. Die erste besagt: Kooperieren Produzenten (Bauern), Krieger und In­ tel­lek­tuelle (Priester, Schreiber) untereinander unter der Führung der Intellektuellen, kann soziale Harmonie und infolgedessen Wohlstand entstehen. Die zweite Annahme ist die Beobachtung kriegerischer Asozialität: Mitglieder der Klasse der Krieger neigen dazu, sich der Ordnung zu widersetzen, wodurch sie Harmonie und Frieden ge­fähr­ den. Das problematische Verhalten des Kriegers wird vorzugsweise mit Hilfe von Er­ zäh­lun­gen verdeutlicht. Eine solche von Dumézil erläuterte Erzählung liegt im griechischen HeraklesMythos vor.13 Auf Bitten des Königs von Argolis beauftragt der Göttervater Zeus Hera­ kles mit zwölf beschwerlichen Arbeiten. Der Held ist über die ihm gestellte Aufgabe empört. Er glaubt, seine göttliche Abkunft sei mit Dienstleistungen dieser Art nicht vereinbar. Doch sein murrender Protest gegen die göttliche Autorität ist ein schweres Vergehen. Herakles’ Unzufriedenheit ausnutzend, lässt ihn die Göttin Hera in Wut geraten; von dieser getrieben, tötet er im Wahnsinn seine eigenen Kinder und entlässt seine Gemahlin. Doch löscht dies den göttlichen Befehl nicht aus, und Herakles muss die zwölf Arbeiten ausführen. – Später verliebt sich Herakles in die Tochter des Eurytus. Dieser will seine Tochter nicht dem Mörder seiner eigenen Kinder geben. Aus Rache entführt der abgewiesene Herakles die Pferde des Eurytus. Iphytus, der Sohn des Eurytus, schöpft Verdacht. Er trifft sich mit Herakles, und die beiden be­stei­ gen einen Turm, um nach den Pferden Ausschau zu halten. Weit und breit sind keine Pferde zu sehen. Um Iphytus für die angeblich falsche Anschuldigung zu bestrafen, stürzt ihn Herakles vom Turm. – Wiederum später heiratet Herakles die Tochter des Königs Ormenius; doch seine Liebe zur Tochter des Eurytus ist noch nicht erloschen, weshalb er diese entführt. Diese Tat führt zu seinem dritten Verbrechen – dem Ehebruch, und dieser bleibt nicht ungestraft. Aus Verzweiflung über die Untreue ihres Ge­mahls salbt die Frau des Herakles dessen Festgewand mit etwas, was sie für einen Liebestrank hält. Tatsächlich handelt es sich jedoch um tödliches Schlangengift. Als Herakles sein Hemd anlegt, erwärmt sich das Gift und beginnt zu wirken. Als Herakles sein Ende kommen sieht, begeht er Selbstmord. 12 Der Typ des gesellschaftlich nicht integrierten Kriegers ist aus Tacitus, Germania 31 bekannt. Zur Kriegerwut vgl. Georges Dumézil, Horace et les Curiaces, Paris: Gallimard 1942, S. 11–33. 13 Georges Dumézil, Heur et Malheur du guerrier, 2. Aufl., Paris: Flammarion 1985, S. 99 –104. Den Heraklesmythos erzählt Diodorus Siculus, Bibliotheca historica, Buch 4. Was die Gestalt des Herakles angeht, so ist zu beachten, dass diese in der antiken Welt einer vielfältigen Deutung fähig war; so steht Herakles dem Frevler (Warnbild) Herakles der freiwillig Mühsal auf sich nehmende Mann (Vorbild) gegenüber (vgl. Bernd Effe, »Der Funktionswandel des Herakles-Mythos in der griechischrömischen Literatur«, in: Ralph Kray und Stephan Oettermann [Hrsg.], Herakles, Hercules I. Metamorphosen des Heros in ihrer medialen Vielfalt, Basel: Stroemfeld / Roter Stern 1994, S. 15 –23).

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Im Herakles-Mythos werden drei Hauptsünden des Helden hervorgehoben: Hera­ kles murrt gegen den Auftrag des Zeus – Ungehorsam gegen höhere göttliche Autorität; er stürzt Iphytus vom Turm – Feigheit, weil er seinen Gegner nicht zum ehrenvollen Zweikampf herausfordert, sondern hinterrücks ermordet; er entführt seine Geliebte – Ehebruch, weil er seiner rechtmäßigen Gemahlin nicht die Treue hält. In jedem Fall ver­letzt Herakles, wie Georges Dumézil zeigt, den Verhaltenskodex, der in einem der drei hierarchisch angeordneten Bereiche gilt: Autorität, Kriegführung und Familie. Es bedarf jeweils nur einer einzigen Sünde, um sich von einem jener Bereiche auszuschließen, die, zusammengenommen, die Ganzheit und Harmonie des gesellschaftlichen Lebens ausmachen. Damit isoliert sich der Held vom menschlichen Leben ins­ge­samt, sodass ihm nur noch der Tod bleibt. Anders gesagt: Tod ist die unausweichliche Folge des vollen Maßes an sündhafter Schuld. Das ist auch bei Simson der Fall.14 Herakles mit Simson zu vergleichen hat lange Tradition. Wie bereits Augusti­nus weiß, vollbringen beide Helden Taten, die eine menschliches Maß über­stei­gende Kör­ per­kraft erfordern.15 Wenig Aufmerksamkeit ist jedoch einem weiteren ge­mein­samen Zug der Helden geschenkt worden: ihrer Sündhaftigkeit. Wie Herakles begeht auch Simson eine dreifache Sünde. Bevor wir diese benennen, sei wenigstens kurz auf die wiederholte Verwendung der Zahlen drei, dreißig, dreihundert und dreitausend in der Simson-Erzählung hingewiesen: drei Frauengeschichten, drei Wanderungen des Hel­ den von Zora nach Timna, ein dreimaliges Lügenwort an Delila, dreißig Festgenossen des Helden, dreihundert Füchse, dreitausend getötete Philister – die Zahl drei und ihr Vielfaches bilden das Leitmotiv. Stellen wir die Vorliebe des biblischen Erzählers für die Dreizahl in Rechnung, kann es nicht überraschen, dass sich seine Geschichte für eine Interpretation anbietet, wie sie Dumézil für die Heraklessage vorschlägt – für eine Deutung nämlich, die Simsons Sünde den drei Bereichen des wirtschaftlichen, militärischen und politischen Lebens zuordnet. Tatsächlich lässt sich Simsons drei­ faches Vergehen ohne Mühe ausmachen. Zur ersten Sünde Simsons kommt es anlässlich jenes Festes, das Simson mit dreißig Genossen feiert. Während des Festes gibt Simson den Gästen ein Rätsel auf; wer es löst, soll ein Gewand als Lohn erhalten. Obwohl das Rätsel keine Lösung besitzt, die sich erraten lässt, gelingt es den Gästen, die Lösung durch Betrug zu finden, nämlich mit Hilfe von Simsons Frau. Erzürnt eilt der Held in eine Stadt der Philister, erschlägt dreißig Männer, nimmt ihre Gewänder zur Beute und verteilt sie unter seinen Gästen. Andere zu töten, nur um des eigenen Vorteils und der Beute willen, also für materiellen Gewinn, ist ein schweres Vergehen. Dieses besteht nicht im Akt des Tötens, sondern 14 Die nachstehende Interpretation ist ausführlich begründet in: Bernhard Lang, »The Three Sins of Samson the Warrior«, in: ders., Hebrew Life and Literature. Selected Essays, Farnham: Ashgate 2008, S. 129 –141. Vgl. auch Christophe Lemardelé, »Samson le nazir: un mythe du jeune guerrier«, in: Revue de l’histoire des religions 222 (2005), S. 259 –286. 15 »Simson, der, mit erstaunlicher Körperkraft ausgestattet, als Herakles gilt«: Augustinus, De civi­ tate Dei XVIII, 19.

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in der verbrecherischen Weise, sich Reichtümer zu verschaffen. – Eine weitere Episode beschreibt Simsons Ehe. Diese ist von besonderer Art, denn der Ehemann lebt nicht ständig in Hausgemeinschaft mit seiner Gattin, sondern hat lediglich das Recht, sie gelegentlich zu besuchen und mit ihr zu verkehren. Dass ein Krieger eine solche sogenannte beena-Ehe anderen Formen vorzieht, ist ohne Weiteres verständlich, hindert ihn doch sein Beruf daran, ein regelmäßiges, auf eigenem Haushalt beruhendes Eheleben zu führen. Als Simson an die Tür seines Schwiegervaters pocht, verwehrt ihm dieser den Zutritt zu seiner Tochter. »Diesmal bin ich frei von Schuld, wenn ich den Philistern Böses tue«, entgegnet der erzürnte Held. Und sogleich tut er Böses: Er fängt dreihundert Füchse, bindet ihnen brennende Fackeln an die Schwänze und verheert auf diese Weise korntragende Getreidefelder, vernichtet Ölgärten und zerstört Vorräte. Offenbar verstößt Simson auf diese Weise gegen den alten Kriegskodex, der das Fällen von Bäumen und die Verheerung der Felder untersagt. – Schließlich nehmen nicht nur die Philister, sondern auch die Israeliten selbst an Simsons Kriegführung Anstoß. Für seine Volksgenossen bildet Simson eine Last und keine Hilfe, provoziert er doch ständig einen Feind, der zwar das Land besetzt hält, aber das Volk in Ruhe lässt. Um weiteres Unheil zu verhüten, beschließen die Israeliten, Simson der Besatzungsmacht auszuliefern. Als die israelitische Armee – die Rede ist von 3000 Mann – auszieht, sich Simsons zu bemächtigen, stehen zwei Arten von Kriegern einander gegenüber: die geordnete Armee waffentragender Bürger und der unbewaffnete Einzelkämpfer, der auf seine Körperkraft baut. Simson lässt sich gefangennehmen und gibt vor, sich in sein Schicksal zu ergeben. Doch als er den Philistern überstellt wird, ergreift ihn Jahwes Geist; in Wut geraten, schüttelt er die Fesseln ab, greift nach einem beliebigen Gegenstand als Waffe (dem Backenknochen eines Esels), um damit tausend Philister zu töten. Auch in diesem Fall (wie in der ersten Episode) besteht seine Sünde nicht im Akt des Tötens, sondern in etwas anderem – im Ungehorsam des Helden gegenüber den israelitischen Autoritäten, die sich des Unruhestifters entledigen wollen. Statt sich zu beugen, setzt er sein aggressives Verhalten fort. Wie die Sünden des Herakles weisen auch jene Simsons ein bestimmtes Muster auf. Jede Sünde verletzt den Verhaltenskodex in einem der drei Bereiche sozialer Exis­ tenz: zuerst in der Wirtschaft die Regeln des legalen Erwerbs von Besitz, dann die Ge­ setze des Kriegs, schließlich die für das politische Leben gültige Ordnung. Indem er diese Regeln verletzt, vollzieht er seinen fortschreitenden Ausschluss aus der Gesellschaft: zuerst aus dem Wirtschaftsleben, dann aus dem Kriegsleben und zuletzt aus dem politischen Leben. Wie im Falle von Herakles bleibt ihm nur der Tod. Infolge seines dritten Vergehens verliert Simson den Verstand und ist nun töricht genug, das Geheimnis seiner Kraft Delila, einer loyalen Philisterin, zu offenbaren. Als Simson schläft, lässt sie ihm das Haupthaar abschneiden, sodass er seine Kraft einbüßt und von einer Frau den Philistern ausgeliefert werden kann (sodass es keiner 3000 Israeliten mehr bedarf, um dies zu vollziehen). Gefangen und geblendet, muss er nun den Mühlstein bewegen. Schließlich begeht er in einer spektakulären Aktion Selbstmord, wobei

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er dreitausend philistäische Männer und Frauen mit sich in den Tod reißt – alle, die im Tempel Dagons ein Fest begehen. Auch Herakles endet im Selbstmord: ein weiteres Zeichen dafür, dass das Schicksal dieser Helden einem gemeinsamen Muster folgt. Wie bereits erwähnt setzt das unseren Erzählungen gemeinsame Muster die Unterscheidung von drei Bereichen des sozialen Lebens voraus: Politik, Kriegführung und einen dritten Bereich, der entweder als häusliches oder wirtschaftliches Leben bestimmt wird. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als stelle dieser dritte Bereich für un­sere Analyse ein Problem dar: Während Herakles gegen die Regeln des häuslichen Lebens verstößt, liegt die Schuld Simsons auf dem Gebiet der Ökonomie. Folgen wir jedoch Georges Dumézils Interpretation der archaischen Dreiheit, umfasst die »dritte Funktion«, wie er sie nennt, alles, was mit Fruchtbarkeit zu tun hat – eheliche Fruchtbarkeit, die Fruchtbarkeit der Felder und Haustiere sowie den Besitz, der durch Handel oder auf andere Weise erworben wird; kurz, sie bezieht sich auf Frauen und Reichtum. Die Abfolge der Vergehen unterscheidet sich in den beiden Erzählungen. Die Sünden des Herakles weisen diese Abfolge auf: –  Verachtung der göttlichen Autorität (I),  –  Verletzung des militärischen Kodex (II),  –  Ehebruch als Sünde im familiären Bereich (III). Simsons Vergehen werden in umgekehrter Folge geschildert: –  Sünde gegen die wirtschaftliche Ordnung (III),  –  Verletzung des militärischen Kodex (II),  –  Verachtung der politischen Autorität (I). Die drei Bereiche von Dumézils analytischem System sind hierarchisch an­ge­ord­net, in Widerspiegelung der als richtig geltenden sozialen Ordnung, nach welcher der Au­ to­rität der erste, dem Militär der zweite, und dem bäuerlichen Produzenten der dritte und rangmäßig niedrigste Platz zukommt. Die Sünden des Herakles werden in absteigender Anordnung erzählt, wobei der Held die Liste seiner Vergehen gleichsam vervollständigt. Die Sünden Simsons beginnen quasi harmlos, um dann, immer gra­ vierender werdend, den Helden seinem Untergang näher zu bringen. Die aufsteigende Abfolge verleiht der Simsonerzählung größere Dramatik. Trotz ihrer großen Unterschiede im Einzelnen liegt den beiden Erzählungen das­ selbe Muster zugrunde. Sie dienen auch demselben Zweck: den Krieger, zumindest in seiner archaischen, durch Simson vertretenen Gestalt, als ein die Ordnung störendes und daher problematisches Mitglied der Gesellschaft darzustellen. Mögen auch seine Stärke und sein Mut die Grundlage der nationalen Verteidigung bilden, so ist der Krie­ ger doch zu sehr geneigt, sich in allen Bereichen des Lebens antisozial zu verhalten. Hat er einmal begonnen, den Weg des Frevels zu beschreiten, verfällt er alsbald der sünd-

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haften Existenz, die im Tod ihre gerechte Strafe findet. Demnach lässt sich die SimsonErzählung – zumindest ihrem inneren, gleichsam geheimen Sinne nach – als eine paradigmatische Geschichte verstehen, in der sich Bedenken gegen einen bestimmten Typ des die Feinde provozierenden, sich außerhalb gesellschaftlicher Ordnung bewe­gen­ den Kriegertums artikulieren. Ungezügeltes einzelgängerisches Kriegertum wird ge­ äch­tet. Empfohlen und narrativ vermittelt wird letztlich die verlässliche Einbindung des Menschen in die übergreifende, Frieden und Wohlstand garantierende gesellschaftliche Ord­nung. Eine solche Ordnung jedoch neigt – nach biblischem Zeugnis – stets mehr dem Frieden als dem Krieg zu.16

Zusammenfassung und Ausblick Von der heutigen Forschung wird Simson kaum mehr wie bei manchen älteren Auo­ren (Heyman Steinthal, Hermann Stahn) als Gestalt verstanden, deren Ge­schich­te einen Sonnenmythos widerspiegelt. Auch die Deutung als Märchen (Alexandre Krappe) wird nicht mehr vertreten. Die Mehrzahl der Ausleger folgt Hermann Gunkel, der in Simson einen Banditen und Freibeuter sieht, der, von jugendlichem Übermut und Abenteuerlust verleitet, gegen die Philister einen Privatkrieg führt. Dieser Ansatz lässt sich fortführen und ergänzen: Vergleichen wir die Simson-Erzählung mit der Herakles-Sage, dann zeigt sich eine weitere, dem Leser zunächst verborgene Sinnschicht. Oberflächlich betrachtet, erscheint Simson als Volksheld, dessen Kraft­taten die Er­zählung glorifiziert; genauer betrachtet, verkörpert Simson jedoch den archaischen Krieger, der sich mehrfach über die gesellschaftlichen Regeln hinwegsetzt und dadurch isoliert. Nach dem Verstoß gegen die Regeln von Erwerb, Krieg und Staatsordnung muss er die Gesellschaft verlassen, um dem Feind zu dienen und alsbald den Tod zu finden. In Literatur und Kunst hat die Simsonerzählung ein vielfältiges Echo gefunden.17 Gerne spielt die Literatur mit dem Helden, welcher an einer femme fatale scheitert. Oder sie überträgt den Gegensatz zwischen dem jugendlichen Helden und den Phi­ lis­tern witzig auf den Gegensatz zwischen Studenten und Bürgern, die, von den Strei­ chen des Simson erschreckt, nach der Polizei rufen: 16 Bernhard Lang, »Das Buch der Kriege. Eine kurze Lektüre der Bibel«, in: Peter Tepe (Hrsg.), Mythos No. 2: Politische Mythen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 66 – 81. 17 Zur Geschichte literarischer Adaptationen der Simsonerzählung gibt es eine Reihe von Arbeiten: Watson Kirkconnell, That Invincible Samson. The Theme of Samson Agonistes in World Literature with Translations of the Major Analogues, Toronto: University of Toronto Press 1964; David M. Gunn, Judges (Blackwell Bible Commentaries), Oxford: Blackwell Publishing 2005, S. 170 –230 (berücksichtigt vor allem volkstümliche englischsprachige Darstellungen des 19. und 20.  Jahrhunderts); Martin Bocian, Lexikon der biblischen Personen, Stuttgart: Kröner 1989, S. 478 – 485; Frenzel, Stoffe der Weltliteratur (Anm. 8), S. 850 – 855.

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Zu Gaza im kühlen Museumssaal  Die Philister schimpften und schalten: »Der Simson, der treibt’s allzu frech und brutal,  ’s ist nimmer auszuhalten. […]  Wie kann ein Philister noch ohne Gefahr  Mit Weib und Töchtern spazieren,  Wenn losgelassen und anstandsbar  Wütende Füchse grassieren! Verderbt ist der Ölbaum, das Korn, der Wein,  Was schreitet die Polizei nicht ein  Gegen solche Plagen des Landes?«18 Mit seinen ironisch scherzenden Versen hat Joseph Victor von Scheffel im Jahr 1861 die Spannungen zwischen den Studenten und Bürgern der Universitätsstadt Heidelberg ein­gefangen. Damals gab es noch genug bibelfeste Leser, denen Simson eine vertraute Gestalt war. Heute müssen wir uns die biblische Geschichte erst vergegenwärtigen, um die Verse goutieren zu können.

18 Joseph Victor von Scheffel, »Simson«, in: ders., Werke, hrsg. von Friedrich Panzer, Bd. 1, Leipzig: Bibliographisches Institut 1919, S. 248 –250.

Dagmar Börner-Klein

Die Simsongeschichte – jüdische Perspektiven

Als die Nachkommen Jakobs,1 das spätere Volk Israel, unter Moses Führung aus Ägyp­ ten auszogen,2 um das von Gott verheißene Land, das Land der Kanaaniter, Hethiter, Amoriter, Peresiter, Hiwiter und Jebusiter zu besiedeln,3 trafen sie zunächst nicht auf die in der Bibel in Exodus 3,8 genannten Bevölkerungsgruppen, sondern auf ›die Bewohner von Pleschet‹. In Moses Lobgesang, den er am Schilfmeer anstimmte, in dem die Ägypter umkamen, das die Israeliten aber trockenen Fußes durchschritten,4 heißt es (Exodus 15,14): »Als die Völker es5 hörten, erbebten sie; Angst kam über die Bewohner von Pleschet«. Das hebräische Wort ›Pleschet‹ (‫ )פלשת‬gibt die Septuaginta,6 die älteste Bibelübersetzung, die den Bibeltext ins Griechische überträgt, hier mit ›Παλαιστίνη‹ Palästina, wieder. Das Wort ›Pleschet‹ bezeichnet aber andererseits den Landstrich im Südwesten von Palästina, den die ›Plischtim‹ (‫)פלשתים‬, die ›Philistäer‹ beziehungs­ wei­se die ›Philister‹ bewohnten.7 Das Wort ›Plischtim‹ transkribiert die Septuaginta 1 Siehe Genesis 25,19 –34, Genesis 27,1–50,26. 2 Siehe Exodus 13,17–15,21. 3 Siehe Exodus 3,8 u. ö. 4 Siehe Exodus 15,1–18. 5 Gemeint ist die Geschichte von Israels Befreiung durch Gott. 6 Siehe Wolfgang Orth, »Ptolemais II. und die Septuaginta-Übersetzung«, in: Heinz-Josef Fabry und Ulrich Offershaus (Hrsg.), Im Brennpunkt, die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Be­deu­ tung der Griechischen Bibel. Beiträge Zur Wissenschaft vom Alten Und Neuen Testament, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 2001, S. 97–114; Emanuel Tov, »The Septuaginta«, in: Martin Jan Mulder und Harry Sysling (Hrsg.), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Ju­ da­­ism and Christianity, Assen: Van Gorcum 1990, S. 159 –188; Michael Tilly, Einführung in die Sep­ tua­ginta, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 7 »In biblical tradition, the Philistines came originally from Caphtor (Crete: Jer. 47:4; Amos 9:7: cf. Deut. 2:23). This tradition is buttressed by the fact that part of the Philistine coast was called […], ›the Negeb of the Cherethites‹ (I Sam. 30:14), and by the occurrence of Cretans in paral­lelism with Philistines (Ezek. 25:16; Zeph. 2:5), but there is no direct archaeological proof for it. The

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ins Griechische und behält dabei sogar die hebräische Pluralendung bei. So werden die Bewohner von ›Pleschet‹ in Ex 15,14 zu ›Φυλιστιιμ‹ (phylisti'im), zu Philistern. Das griechische Wort trägt keinen Akzent, was ein zusätzlicher Hinweis darauf ist, dass es als Fremdwort benutzt wird. Im biblischen Buch der Richter, das die Simsongeschichte enthält, übersetzt die Sep­tua­ginta das Wort ›Plischtim‹, Philister, aber mit ›Αλλόφυλοι‹ (allophyloi), das von dem Verb ›ἀλλοφυλέο‹ (allophyleo), fremde Sitten, Gebräuche, Religion annehmen, abgeleitet ist.8 Damit sind die Philister im Buch Richter der Septuaginta eine Gruppe, die fremde Sitten und Gebräuche, vielleicht sogar eine fremde Religion ›angenommen‹ hat.

Josephus, Antiquitates 5,8,1–12 Dies war offensichtlich für Josephus, den jüdischen Geschichtsschreiber zur Zeit Ves­ pa­sians (9 –79 n. Chr.),9 ein Problem. Aus seiner Sicht hatten die Philister eine eige­ne Kultur, als sie gegen Israel in der Zeit der Richter kämpften, denn die Bibel schil­dert sie nicht als ein Volk, das eine fremde Kultur angenommen hat. Um dies zum Ausdruck zu bringen, bezeichnete Josephus die Philister nicht als ›allophyloi‹, sondern als ›palaistinoi‹, ›Palästiner‹. Simson wächst nach Josephus im Land der Palästiner auf und schaut sich in Timna unter deren Töchtern um.

Philistines participated in the second wave of the ›Sea Peoples‹ who, according to Egyptian reports, ravaged the Hittite lands, Arzawa, the Syrian coast, Carchemish, and Cyprus, and threatened Egypt during the reigns of Merneptah and Ramses III. The excavations at Hattusas (Boghazköy) and Ugarit have shown that these cities were destroyed at the end of the Late Bronze Age (c. 1200) and tab­lets discovered at Ugarit and archaeological finds on Cyprus give evidence of this troubled period. Of the ›Sea Peoples‹ only the Philistines, who settled along the Palestinian coast, and the Tjeker, who occupied Dor according to the Wen-Amon story (c. 1050), can be positively identified. The others – Shekelesh, Denyen, Sherden, and Weshesh – have only been conjecturally identified. These peoples, displaced from their original homelands, assimilated the Minoan-Mycenean culture patterns of the Aegean world« (Jonas C. Greenfield, »Philistines«, in: Encyclopaedia Judaica 13 o. J., Sp. 99). 8 Franz Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. I.1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buch­gesellschaft 1983, Sp. 111. 9 Ausführlich Harold W. Attridge, »Josephus and his Works«, in: Michael E. Stone (Hrsg.), Jewish Writings of the Second Temple Period, Assen: Van Gorcum 1984, S. 185 –232; Shaye J. D. Cohen, Jo­ se­phus in Galilee and Rome. His Vita and Development as a Historian, Leiden: Brill 1979 (= Columbia Studies in the Classical Tradition, Bd. 8); Henry St. John Thackeray, Josephus. The Man and the His­ torian, New York: Jewish Institute of Religion, Ktav 1929; Tessa Rajak, Josephus. The Historian and His Society, London: Duckworth 1983.

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Josephus’ Erzählung der Simsongeschichte findet sich in den Antiquitates,10 den ›Jüdischen Altertümern‹, einer Geschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. Israel, so beginnt Josephus die Geschichte von Simson, war den Bewohnern von Palästina 40 Jahre lang tributpflichtig.11 Während dieser Zeit der Unterdrückung lebte Manoach, der Vater Simsons, der eine außergewöhnlich schöne Frau hatte. Sie übertraf alle ihre Altersgenossinnen an Statur, konnte aber keine Kinder bekommen. Der Engel, der der namenlosen Mutter Simsons erschien, um ihr die Geburt eines schönen und starken Sohnes zu verheißen, kommt zu der Frau, so Josephus, in Gestalt eines schlanken und schönen jungen Mannes, der die Frau mahnt, dem Sohn nicht die Haa­re zu schneiden und ihn kein anderes Getränk als Wasser trinken zu lassen. Die Beschreibung, die die künftige Mutter Simsons ihrem Mann von dem Engel gibt, schürt Mano­achs Eifersucht. Aber alles wendet sich zum Guten, nachdem er den Engel selbst gesehen hat und das Kind schließlich geboren ist. Das Kind wird ›Simson‹, oder, in Anlehnung an die Transkription des Namens in der Septuaginta und der lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, ›Samson‹, genannt. Da, so Josephus, Simson maßvoll lebte, wuchs er schnell heran. Dass er sein Haar nicht schneiden ließ, versteht Josephus als ein Zeichen, dass er ein Prophet werden sollte. Bei seiner Hochzeit mit dem Mädchen aus Timna wurden Simson 30 kräftige junge Männer zur Seite gestellt, die nur zum Scheine Zechgenossen waren, in Wirklichkeit aber Simson bewachen sollten. Josephus folgt der biblischen Simsongeschichte und fügt hier und da kurze Er­klä­ rungen ein. Nach der Episode in Gaza, wo Simson die Stadttore aushängt, ändert Jo­ se­phus allerdings den Charakter Simsons, wenn er fortfährt: »Später aber fiel er von den Gebräuchen seiner Väter ab, führte ein schlechtes Leben und äffte die Gewohnheiten fremder Völker nach, was gewöhnlich der Anfang allen Übels ist«.12 Hier deutet Josephus an, dass Simson angepasst, also assimiliert, lebte. Es folgt die Geschichte von Delilas Verrat,13 in der das geflügelte biblische Wort »Philister über dir« in indirekter Rede widergegeben wird: »dann weckte sie ihn und schrie ihm zu, die Feinde bedrohten ihn«.14 Zum Schluss findet Josephus anerkennende Worte für Simson:

10 Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, übers. und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, mit Paragraphenzählung nach Flavii Josephi Opera recognovit Benedictus Niese (Editio Minor), Wiesbaden: Marix 2006 [1888 –1895]. 11 Josephus, Jüdische Altertümer (Anm. 10) 5,8,1–12 (5,275 –317). 12 Josephus, Antiquitates (Anm. 10) 5,8,11 (5,306). 13 Über die Figur der Delila siehe Magda Motté, Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit. Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 94 –103. 14 Josephus, Antiquitates (Anm. 10) 5,8,11 (5,309).

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Bewundernswert ist er wegen seiner Tapferkeit und Stärke, wegen des Stark­ muts, mit dem er den Tod erlitt, und weil er bis zum letzten Atemzug seine Feinde hasste. Dass er sich von einer Frau überlisten ließ, ist auf Rechnung der menschlichen Natur zu setzen, die leicht der Sünde unterliegt. Jedenfalls muss man ihm das Zeugnis geben, dass er im Übrigen ein ausgezeichneter und tugendhafter Mann war.15

Die Simson-Geschichte in der rabbinischen Literatur Mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. beginnt eine Zeit, in der sich das Judentum als Religion ohne Tempelkult entwickelt. Wichtigstes Element wird nun, nach den Geboten der hebräischen Bibel zu leben. Die Geschichten und Erzählungen der hebräischen Bibel dienen zur religiösen Erziehung und Belehrung. Sie werden in den Schriften der rabbinischen Literatur, in Talmud und Midrasch, ausgelegt und erklärt. In der rabbinischen Literatur finden sich einige wenige Anmerkungen zur SimsonGeschichte. Micha Josef Bin Gorion16 hat sie in den Sagen der Juden (1913 –1927) im Wesentlichen zusammenstellt und folgendermaßen nacherzählt: Das Weib Manoahs gebar einen Sohn und hieß seinen Namen Simson, und der Knabe ward groß, und Gott segnete ihn. Womit segnete ihn Gott? Mit Man­nes­kraft. Sein Zeugungsglied war so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Sein Same floss einer Quelle gleich. […] Der Geist Gottes trieb Sim­son ins Lager Dan zwischen Zorea und Eschtaol.17 – Was soll das heißen: 15 Josephus, Antiquitates (Anm. 10) 5,8,12 (5,317). 16 Micha Josef Berdyczewski, später auch Micha Josef bin Gorion (geboren 7. August 1865 in Med­ schy­bisch, Russisches Reich, gestorben 18. November 1921 in Berlin) war ein hebräisch schreibender Schriftsteller. 17 Zur Lokalisierung der beiden Orte: »Die Simsonkomposition spielt in einer strategisch und verkehrsgeographisch günstigen Region, von der man nicht nur die nördliche Schefela über­wa­chen, son­dern auch den Aufstieg in das judäische Bergland kontrollieren konnte. Die Schefela ist eine Grenz­region zur Küstenebene und als solche grundsätzlich umstrittenes Gebiet. Naturgemäß bildet eine solche Konstellation den Hintergrund für die Auseinandersetzung mit Feinden und als solche kom­men die Philister in den Blick« (Erasmus Gass, »Simson und die Philister: Historische und ar­ chä­o­lo­gische Rückfragen«, in: Revue biblique 114.3 [2007], S. 372 – 402, hier S. 382 f.). Weiter heißt es: »Die Bezeichnung Philister ist in biblischer Redeweise also ein Feindterminus, der vermutlich irgendwelche paradigmatische Vorgänge als Ausgangspunkt hat. Die Stereotypik dieses Feindbegriffs, der sich von der Eingrenzung auf die philistäische Pentapolis löst und bereits in vorstaatlicher Zeit die Philister in den unterschiedlichsten Gebieten lokalisiert, trägt zu einer inflationären Verwendung des Begriffs Philister bei. Philister sind dann nicht mehr nur die westlichen Nachbarn, sondern die Nicht-Israeliten, von denen man sich abgrenzen sollte« (S. 385). Siehe auch John F. Brug, A Literary

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zwi­schen Zorea und Eschtaol? Simson riss zwei Berge aus und rieb sie an­ein­ ander, gleichwie einer zwei Scherben in die Hände nimmt und an­ein­ander reibt. Zu der Stunde, da der Heilige Geist über Simson ruhte, da stan­den sei­ne Haare hoch und schlugen aneinander wie Schellen; dieser Klang aber war zwischen Zorea und Eschtaol zu hören.18 – Andere meinen, die Majestät Gottes wäre ihm vorangegangen und hätte einer Glocke gleich geläutet. Der Raum zwischen den Schultern Simsons war sechzig Ellen breit. Heißt es doch von ihm, dass er um Mitternacht aufstand und beide Türflügel des Stadttors ergriff samt den beiden Pfosten, dass er sie aus den Riegeln hob, sie auf seine Schultern legte und hinauftrug auf die Höhe des Berges. Die Tore Gazas aber waren breit nicht weniger denn sechzig Ellen.19 Delila bedrängte ihn mit ihren Worten und zermürbte ihn. Wodurch zer­ mürb­te sie ihn? Wenn er zu ihr einging, so riss sie sich aus seinen Armen, kaum dass sie vereinigt waren, und so war seine Seele matt bis an den Tod. Ihre Seele aber ward nicht matt, denn sie stillte ihren Trieb an anderen Männern. Simson folgte Zeit seines Lebens der Lust seiner Augen; darum war auch sein Ende, dass die Philister ihm die Augen ausstachen. Und die Philister griffen Simson, stachen ihm die Augen aus, banden ihn mit zwei ehernen Ketten, und er musste im Gefängnis mahlen. – Mahlen, das bedeutet hier: Kinder zeugen. Jeder Philister brachte ihm sein Weib ins Gefängnis, damit sie von ihm schwanger würde. Es heißt im Segen Jakobs: »Dan wird eine Schlange sein auf dem Weg«. Damit ist Simson gemeint. Die Schlange sucht der Frauen Nähe, war sie es doch, die Eva verführt hat; so suchte auch Simson die Frauen. Alle Stärke der Schlange liegt in ihrem Kopf, und dasselbe war bei Simson der Fall, dessen Kraft in seinen Haaren hing. Und wie das Schlangengift seine tötende Wirkung behält, auch wenn das Reptil längst tot ist, so war es mit Simson: der Toten, die in seinem Tod starben, waren mehr denn derer, die bei seinem Leben gestorben waren.20

and Archaeological Study of the Philistines, Oxford: B. A. R. 1985; Eliezer D. Oren (Hrsg.), The Sea Peoples and Their World. A Reassessment, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2000. 18 Babylonischer Talmud, Traktat Sota 9b–10a. 19 Babylonischer Talmud, Traktat Baba Batra 91a. 20 Micha Josef bin Gorion (Hrsg.), Sagen der Juden zur Bibel, übers. von Rahel bin Gorion, Auswahl und Nachbemerkung von Emanuel bin Gorion, Frankfurt am Main: Insel 1980, S. 254 –256.

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Bei den nichtbiblischen Details, die diese Erzählversion bietet, fällt besonders die Größe Simsons auf und die Beschreibung seiner Manneskraft. Simson ist ungeheuer groß und ungeheuer potent und zwar derart, dass die Philister, davon beeindruckt, ihre Frauen zu dem geblendeten Simson bringen, damit er mit ihnen große, schöne und mächtige Kinder zeugt. Nimmt man die Beschreibung wörtlich, wird Simson als Riese geschildert. Seine Schultern sind 60 Ellen, also 30 Meter, breit. Sein Zeugungsorgan ist so groß wie ein normaler Mensch. Wenn die Erzählung dennoch davon ausgeht, dass Simson sich mit Frauen geschlechtlich vereinen konnte, mussten diese Frauen annähernd so groß gewesen sein wie er. Das wiederum würde erklären, warum die Philister wirkliche Todfeinde waren: Nach dieser rabbinischen Erzähltradition waren sie ein Volk von Riesen. Wenn Simson ihnen jedoch körperlich gewachsen, und darüber hinaus auch noch besonders schön und kraftvoll war, ist Simson eine Person, die sich unter den Feind mischen kann, um dort Unruhe zu stiften, ohne aufzufallen. Seine Verbindung mit den Philisterfrauen ist so gesehen fester Bestandteil eines göttlichen Planes. Nur scheinbar lässt sich Simson von seinen Augen verführen.

Mischna Nasir In der Mischna, dem im 3. Jahrhundert n. Chr. vorliegenden autoritativen jüdischen Religionsgesetz, findet Simson als ›Nasir‹ Erwähnung, als jemand, dem es obliegt, das Gelübde einzuhalten, sich nicht die Haare zu scheren und keinen Wein zu trinken.21 In Mischna Nasir 1,2 heißt es: Wer sagt, ›ich will wie Simson sein‹, oder [wer sagt], ›ich will wie der Sohn des Manoach sein‹, [oder wer sagt] ›wie der Mann der Delila‹, [oder] ›wie der, der die Tore von Gaza aushob‹, [oder] ›wie derjenige, dem die Philister die Augen ausstachen‹, so ist er ein Geweihter wie Simson. Was ist der Unterschied zwischen einem, der sich für die Zeit seines Lebens zum Nasir geweiht hat und einem Geweihten [wie] Simson? Jemand, der sich für die Zeit seines Lebens zum Nasir geweiht hat, darf, wenn sein Haar [zu] schwer geworden ist, [es] mit einem Schermesser lichten und bringt dann [drei Stück Vieh] für ein Opfer (Nu 6,14). Und wenn er sich [an einem Toten] verunreinigt, bringt er das Opfer wegen Verunreinigung dar.

21 Siehe Numeri 6,1–21; Hermann-Josef Stipp, »Simson, der Nasiräer«, in: Vetus Testamentum 44.3 (1995), S. 337–369.

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Ein Geweihter wie Simson darf, wenn sein Haar zu schwer geworden ist, [es] nicht lichten, und wenn er sich [an einem Toten] verunreinigt hat, bringt er das Opfer wegen Verunreinigung nicht dar. Simson, so die Erklärung von Simon Schlesinger, »war nicht in vollem Umfang ein Nasir, weil er nicht selbst ein Nasirat gelobt, sondern nur der Engel ihn als Nasir bezeichnet und hierbei nur von dem Verbote des Weingenusses und des Haarescherens gesprochen hat«.22

Simson als Angehöriger des Stammes Dan Die Figur des Simson ist wiederholt mythologisch gedeutet worden.23 Man verwies auf Parallelen zu König Nisus von Megara,24 dessen rote Haarlocke, »an die das Glück seines großen Reichtums gebunden war«,25 von seiner Tochter Skylla abgeschnitten wur­de, um ihn an König Minos von Kreta zu verraten. Auch den rätselliebenden Mopsos26 zog man zum Vergleich mit Simson heran.27 König Nisus und Mopsos aber sind Figuren aus der griechischen Mythologie. 22 Mischnajot. Die sechs Ordnungen der Mischna, hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, Bd. 3: Ordnung Naschim, Traktat Nasir, 3. Aufl., Basel: Goldschmidt 1968, S. 252, Anm. 19. – Siehe Richter 13,4 –5. 23 Siehe Abram Smythe Palmer, Samson Saga and Its Place in Comparative Religion, London: Pitman & Sons 1913. 24 Ovid, Metamorphosen VIII, 85 – 90. Im Folgenden zitiert nach folgender Ausgabe: Publius Ovi­ dius Naso, Metamorphosen, in deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text hrsg. von Erich Rösch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983 [Übertragung von 1952]. 25 Ovid, Metamorphosen VIII, 10 (Anm. 24). 26 Sohn des Kreters Rhakios und der Manto (Argonautica I, 65 – 68 u. 1502 –1536). »He is the son of Apollo, god of the sun, and a priestess. His life story is more particularly connected with the wan­ de­rings in Asia Minor, Phoenicia and Palestine, immediately after the Trojan War (twelfth century B.C.). At various places he founds cities which bear his name, and builds altars to Apollo. He is best known for his outstanding use of riddles. One of the stories connected with him records a riddle contest between him and the sooth-sayer, Calchas, in which Mopsos is victorious and causes the death of his rival. […] According to one source (Athenaeus VIII,37; C. & T. Mueller, Fragmenta Historiorum I, 38) he invaded Ashkelon which he conquered. According to Strabo, the Tribes of Mospsus invaded the eastern part of the Mediterranean and settled sections along the coasts of Cilicia, Syria and Phoenicia (Strabo XIV, IV, 3). According to one of the sources he died as a result of a snakebite« (Yigael Yadin, »And Dan, Why Did he Remain in Ships? [Judges 5:17]«, in: Australian Journal of Biblical Archaeology 1 [1968], S. 9 –23 hier S. 19). 27 Siehe auch Azzan Yadin, »Samson’s ›hîdâ‹«, in: Vetus Testamentum 52.3 (2002), S. 407–426. Yadin legt in seiner Interpretation zu Richter 14 dar, dass es bei dem Austausch zwischen Simson und den Philistern nicht um Rätsel, sondern um ein griechisches skolion geht, einen ›capping song‹, der für festliche Begebenheiten wie Hochzeiten belegt ist. Siehe auch Mira Morgenstern, »Samson and the Politics of Riddling«, in: Hebraic Political Studies 1.3 (2006), S. 253 –285; Lawrence  E.

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Dass auch der Stamm Dan, zu dem Simson gehörte, mit der griechischen Mythologie in Verbindung zu bringen ist, zeigte der israelische Archäologe Yigael Yadin, der einen seltsamen Satz aus dem Munde der Richterin Debora zu entschlüsseln versuchte. Nach einer schweren Schlacht, die Debora zusammen mit ihrem Feldhauptmann Ba­ rak gegen die Kanaaniter gewonnen hat, rügt die Richterin den bei der Schlacht feh­ len­den Stamm Dan mit den Worten (Richter 5,17): »Und warum weilt Dan bei den Schiffen«? Dieser Satz brachte Yadin ins Grübeln.28 Warum sollte ein Stamm Israels bei seinen Schiffen wohnen? Nach der biblischen Erzählung waren die Stämme Israels Wüs­ten­wanderer, Viehhirten, Nomaden, aber sicher kein seefahrendes Volk. Wie also war der Satz Deboras zu verstehen? Eine Antwort fand sich auf zwei Steinplatten, die 1943 bei einer Grabung bei Kara­ tepe in der Südtürkei gefunden wurden. Diese Steinplatten waren mit einer Inschrift versehen, die die Danuna erwähnte, ein Volk mit ägäischer Tradition. Die israelischen Archäologen Trude und Moshe Dothan berichten über den Fund: 1943 grub eine kleine Expedition von der Universität Istanbul einen Ort mit Namen Karatepe aus […]. Hier gruben sie eine kleine Burg aus der Eisenzeit aus, deren kunstvoll verzierte Mauer zwei Steinplatten mit Texten in hieroglyphischem Hetitisch [aufwies]. Die phönizische Inschrift von 61 Zeilen, die längste bis dahin ausgegrabene in einer semitischen Sprache, war im 9. Jahrhundert v. Chr. verfasst worden, und darin hieß es, dass der Gründer der al­ ten Stadt Karatepe, Azitawatas, den Titel eines ›Königs der Danunijim‹ beanspruche. Die Forscher erkannten darin die phönizische Form des Namens Danuna, einer Gruppe von Seevölkern, die als einer der Verbündeten der Philister in den Reliefs von Medinet Habu29 aufgelistet werden. Die Danuna sahen aus wie die Philister und die Sikeler: Alle trugen kurze Röcke, eine Rüstung und mit Federn besetzten Kopfschmuck. Andere Forscher verwiesen auf den ähnlichen Klang von Danuna und Danaer – eine der üblichen Bezeichnungen für die Griechen in der Ilias. Diese kulturübergreifende Gleichsetzung wurde lange als pure Spekulation ohne jeglichen Beweis abgetan. Die Inschrift von Karatepe jedoch lieferte ihre

Stager, »Biblical Philistines: A Hellenistic Literary Creation?«, in: Aaren M. Maeir und Pierre De Miroschedji (Hrsg.), I Will Speak the Riddles of Ancient Times. Archaeological and Historical Studies in Honor of Amihai Mazar, Bd. 1, Winona Lake: Eisenbrauns 2006, S. 375 –384. 28 Yadin, »And Dan, Why Did he Remain in Ships?« (Anm. 26), S. 9 –23. 29 Siehe Robert Drews, »Medinet Habu, Oxcarts, Ships, and Migration Theories«, in: Journal of Near Eastern Studies 59.3 (2000), S. 161–190.

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Bestätigung: Azitawatas besaß nicht nur den Titel des Königs der Danuijim, sondern leitete seine Herkunft auch stolz vom ›Haus des Mopsos‹ her.30 Dass aber auch der Stamm Dan mit den Danuna in Verbindung gebracht werden kann, zeigte Yigael Yadin, dem des Weiteren Unstimmigkeiten in der biblischen Darstellung des Stammes Dan aufgefallen waren.31 Nach Richter 18,1 heißt es, dass nach Samsons Tod der Stamm der Dan »einen Erbbesitz suchte, um sich anzusiedeln; denn bis dahin war ihm unter den Stämmen Israels kein Land als Erbbesitz zugefallen«. Das aber widerspricht Josua 19,40 – 48, wo beschrieben wird, dass dem Stamm Dan Land sowohl im Landesinneren als auch Ekron und andere Orte in der Gegend um Jaffa zugeteilt wurden  – ein Gebiet, in dem Archäologen Philister-Siedlungen gefunden haben. Da die Bibel aber den Daniten32 Gebiete der Philister zuordnet und Philister, Sekeler und Danuna auf den Reliefs von Medinet Habu ein iden­ tisches Erscheinungsbild aufwiesen, nahm Yadin an, dass sie eng verwandt wa­ren und sich wohl nah beieinander an der kanaanäischen Küste nieder­ge­ lassen hatten. Da die Philister zwischen Asdod und Gaza siedelten, die Sekeler weiter im Norden um Dor und die Sardana noch weiter nördlich im Küstengebiet bei Akko, blieb für die Daniten nur die Gegend von Jaffa übrig – eben jenes Land, das dem Stamm Dan bei Josua zuerkannt wird. Die archäologische Entdeckung der philistäischen Expansion ins Landes­in­ nere veranlasste Yadin zu der Vermutung, dass die Daniten möglicherweise unter den Druck der benachbarten Philister gerieten und dass sich Samson bei seinen Begegnungen mit den Philistern offenbar in dieser unter­ge­ord­ ne­ten Position befand. Damals waren die Daniten, wie aus den SamsonGeschichten hervorzugehen scheint, durch Sprache und Kultur mit den Phi­ lis­tern eng verbunden. Tatsächlich würden andere israelitische Stämme sie nie­mals als verwandtes Volk in Betracht gezogen haben. Als Samson vor den Phi­lis­tern nach Judäa floh, hatten dessen Einwohner keine Skrupel, ihn zu fesseln und den Philistern auszuliefern (Richter, 15). Erst nach Samsons Tod änderten die Daniten ihre Lebensweise voll­stän­ dig. Sie gaben die Kämpfe mit den Philistern auf und wanderten aus: »Die Kin­der aber und das Vieh und die wertvolle Habe stellten sie an die Spitze« (Richter 18,21) – verblüffend ähnlich dem Zug der Seevölker über Land, wie 30 Trude und Moshe Dothan, Die Philister. Zivilisation und Kultur eines Seevolkes, übers. von Chris­ ti­ane Landgrebe, München: Diederichs 1995, S. 232 –233. 31 Yadin, »And Dan, Why Did he Remain in Ships?« (Anm. 26), S. 10 –14. 32 Siehe Hermann Michael Niemann, Die Daniten. Studien zur Geschichte eines alt­israeli­ti­schen Stammes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985.

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er in Medinet Habu dargestellt ist. Weit im Norden errichteten sie eine neue En­klave in der frühen kanaanäischen Stadt Laish, der sie den Namen Dan gaben. Während dieser Wanderung könnten sie eine neue religiöse Iden­ti­ tät angenommen haben: Die Familie Jonathans, angeblich ein Enkel Moses, wurde zu offiziellen Priestern des Stammes Dan ernannt. Die Bibel überliefert keine ausführliche Genealogie des Stammes Dan, was mög­licher­weise auf seinen fremden Ursprung hindeutet. Yadin vermutet, dass die Feindschaft Samsons gegenüber den Philistern sich nur gegen die im­mer tyrannischer werdende Herrschaft ihrer Fürsten richtete und dass sein Volk mit dem der Philister dennoch eng verwandt gewesen sein könnte. Dann wäre der einzige Unterschied zu den traditionellen Feinden Israels der, dass sie möglicherweise ihre ägäischen Traditionen aufgaben und selbst Is­ raeli­ten wur­den. Diese denkbare allmähliche Vermischung und Assimilierung von Kul­tu­ren in Kanaan ist genau das, was unsere archäologischen Aus­gra­ bun­gen be­stätigten.33 Wenn aber der Stamm Dan mit den ägäischen Danuna eng verwandt war, dann ist auch erklärbar, warum Simson ähnliche Merkmale wie einige griechische Hel­den aufweist.34 Wenn zudem archäologisch zu belegen ist, dass die Philister als ur­sprüng­ lich ägäisches Seevolk in Palästina eine fremde Kultur, die Landeskultur, an­ge­nom­men haben, dann ist eine Erklärung dafür gefunden, warum die Septuaginta die Philister im Buch Richter als die bezeichnet, die fremde Sitten und Gebräuche angenommen haben. »Aus der Sicht der Bibel«, so Trude und Moshe Dothan, »waren die Philister eine Nation grober Barbaren […]. [D]urch die Reliefs von Medinet Habu und die Rui­nen der großen Philister-Städte aber konnten wir einen kurzen Blick auf die le­ ben­dige, fortschrittliche Kultur erhaschen, die sie von der alten in die neue Heimat

33 Dothan, Die Philister (Anm. 30), S. 234 –235. 34 »Another and far better-known Danaian hero whose ›history‹ is closely connected with our subject, is Perseus, who founded Tiryns (according to another tradition, Mycenae) whose principal hero was Hercules. Most of the legends about Perseus deal with his adventure near Jaffa and the familiar story of Andromeda, daughter of the King of Ethiopians, who was bound to a rock in the sea at Jaffa. On his return from slaying the Medusa, Perseus rescues her from a sea monster. This connection between the Jaffa coast and Perseus has always been regarded by scholars as a proof of some connection between the Greek Danai and this stretch of the Mediterranean coast. Among the many tales of Perseus, mention should be made of the remark by Pausanius that Mycenae obtained its name on account of the mushroom (mykes) from which water burst miraculously when Perseus was thirsty« (Yadin, »And Dan, Why Did he Remain in Ships?« [Anm. 26], S. 19). – Siehe hierzu auch den Beitrag von Bernhard Lang in diesem Band.

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mit­brach­ten. Ob sie jemals ihr negatives Image abschütteln können oder nicht – sie sind zumindest dem Geflecht der Mythen entkommen und haben die Bühne der Ge­ schichte betreten«.35

Simson-Geschichten in der modernen jüdischen Literatur Moses Samuel Zuckermandel (1836 –1917) verarbeitet die Simson-Geschichte zu ei­ nem Bühnenstück in vier Akten, das 1888 unter dem Titel ›Samsons Heldentum‹ auf­ ge­führt wird.36 In seinem Samson-Roman entwickelt Ze’ev Jabotinsky (1880 –1940), der eine bedeutende Rolle in der zionistischen Bewegung spielte, Samson als Helden, der Sitten und Gebräuche der Philister auskundschaftet, um dieses Wissen gegen die Philister zu wenden.37 Der Roman wurde Grundlage für den 1949 entstandenen Hollywood-Film Samson and Delilah unter der Regie von Cecil B. DeMille. Eine allegorische Auslegung der Simson-Geschichte aus jüdischer Perspektive stammt aus dem Jahre 1900. In diesem Jahr predigte Caesar Seligmann (1860 –1950) am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungstag, im is­ra­e­ li­tischen Tempel zu Hamburg. Die Predigt trägt die Überschrift: »Philister über dir, Juden­thum!« Caesar Seligmann war Rabbiner in Frankfurt am Main und Heraus­geber der Zeitschrift Liberales Judentum. Er floh 1939 nach London. Die Geschichte von Sim­son und den Philistern deutet er in seiner Ansprache auf die »Geschichtstragödie des Ju­den­tums in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«: Da schlich der Geist der Verführung an’s Judenthum heran und sprach: Sage, mir, worin deine große Kraft besteht, und womit man dir beikommen kann. Und das Judenthum antwortete: Wenn ihr mich fesselt an eure neue Kultur, dann würde ich schwach und wäre wie die anderen Völker.38 Wie Simson erhebt sich das Judentum dreimal aus der Gefahr: Und es geschah, wie die Verführung in das Judenthum drang und es quäl­ te mit ihren Reden, da wurde das Judenthum müde bis zum Sterben und es verriet ihr Alles und sprach: Nie ist ein Scheermesser auf mein Haupt 35 Dothan, Die Philister (Anm. 30), S. 272. 36 Siehe http://www.jewish-theatre.com/visitor/article_display.aspx?articleID=2436 [Stand: 16.8.2008]. – Samson und Delilah. A modern day tragedy verfasste Menasche Levin (1903 –1981). In dem erst 1985 veröffentlichten Stück geht es um die großen Gefühle Liebe und Loyalität, um Lug und Trug. 37 Ze’ev Jabotinsky, Samson Nasorei. Roman, Berlin: Slovo 1927. 38 Caesar Seligmann, »Philister über dir, Judenthum!« Rede, gehalten am Versöhnungstage im israeli­ti­ schen Tempel, Hamburg: Rothschild 1900, S. 9.

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gekommen, denn ein Gottgeweihter bin ich vom Mutterschoße an. Da nun die Verführung sah, dass es ihr gelungen sei, und dass das Judenthum alles an sie verraten habe, da schläferte sie es ein und ließ ihm die sieben Locken von seinem Haupte abscheren, bis seine Kraft von ihm wich. Dann rief sie: »Philister über dir, Judenthum!« Das Schermesser ist über das Haupt des Judenthums gekommen und hat das Judenthum kahl gemacht und matt und farblos und saftlos. Nicht den Freisinn schelte ich, nicht den Fortschritt, nicht die Entwicklung des Judenthums in diesem Jahrhundert. Aber die Gleichgültigkeit, die Begeisterungslosigkeit, die Kraftlosigkeit in unserer Mitte. Kalt sind sie geworden, frostig, ablehnend gegen jeden großen Gedanken. Kein Schimmer von Verständnis dämmert ih­nen auf für die klassische Größe des Judenthums und seine weltgeschichtliche Bedeutung. Erdrückt von der Bürde des Alltagslebens glauben sie an nichts, was die Alltäglichkeit überragt. Philister sind sie geworden. Wehe, wehe, Philister über dir, Judenthum! Das sind die grundgescheiten Leute, die überall sprechen: Was soll man tun? Es nützt ja doch nichts! Das sind die Achselzucker, die sich für nichts er­wär­ men, für nichts begeistern lassen. Sie wollen nicht, dass etwas Großes ge­ sche­he, und darum glauben sie an nichts Großes und treiben das Juden­thum der Auflösung entgegen. […]39 Wenn ihr mich aber fraget: Gibt es keine höheren Ideale für uns und unsere Kinder als das Judenthum? Ist ›Mensch‹ zu sein nicht das höhere Ideal und die ›Menschheit‹ ein edleres Ziel? – so sage ich euch: Lasst erst die Menschheit menschlich werden! Lasst Liebe, Treue, Wahrheit, Glauben, Begeisterung das Leben wie einen Gottesgarten schmücken, lasst alles Kleine, Enge, Nied­ rige, Gemeine wie Staub verwehen, lasst den Götzentempel der Philister zusammenstürzen, dann hat das Judenthum sein Ziel erreicht, dann, dann aber erst mag es sterbend rufen: »[Es] sterbe meine Seele mit den Philistern!« Denn dann blühest du auf, du großer Menschheitsfrühling, den des Juden­ thums Propheten zuerst im Geist geschaut: Die Nebel sinken, die Sonne des Messiasreiches bricht hervor und geht leuchtend auf über einer großen, hei­li­ gen, versöhnten Menschheit! Amen.40

39 Seligmann, »Philister über dir, Judenthum!« (Anm. 38), S. 12 –13. 40 Seligmann, »Philister über dir, Judenthum!« (Anm. 38), S. 15.

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Sind nach Caesar Seligman die Philister diejenigen, die im Alltäglichen gefangen sind, so lässt dies an eine ähnliche Beschreibung in den »Blüthenstaub«-Fragmenten des Nova­lis denken.41 1927 inspirierte der Ausruf der Delila Lazarus Goldschmidt (1871–1950), den gran­diosen Übersetzer des babylonischen Talmud ins Deutsche, zu einem Schlachtruf ge­gen einen Rezensenten, der behauptet hatte, Teile seiner Übersetzungen aus dem Hebräischen / Aramäischen ins Deutsche seien nicht sachgemäß. Nach einer mi­nu­ ti­ösen Widerlegung der Vorwürfe erschallt es gegen den Rezensenten: »Philister über Dich!«42 Ob diesem Ruf eine Kahlrasur des Rezensenten folgen sollte, lässt sich der Stel­lung­nahme Goldschmidts nicht entnehmen. Dass er den Rezensenten für blind hielt, geht aus dem Schreiben deutlich hervor. 1949 erschienen die Tagebuchaufzeichnungen von Uri Avnery, die er als Soldat 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskriegs niedergeschrieben hatte. In Buch­form veröffentlicht, tragen diese Aufzeichnungen in der deutschen Übersetzung den Titel In den Feldern der Philister.43 Die Kommandoeinheit, der Avnery zugeordnet ist, nennt sich ›Samsons Füchse‹,44 nach den Füchsen, die mit brennenden Fackeln über die Felder der Philister getrieben wurden, die nun die Felder der Araber sind. Die Simson-Geschichte ist bei Avnery kein Thema, dennoch tauchen, wie in der folgenden Erinnerung, immer wieder Gedankenfetzen aus ihr auf:45 An einem späten Abend erschien in der ›Villa‹ […] der Komponist Mordechai Zeira. Wir versammelten uns um eine brennende Kerze und lauschten den weichen Tönen, die er mit der Mundharmonika zauberte. Es war eine besondere Stimmung – die Dunkelheit, die Töne, die Gestalten der Kameraden, die Kameradschaft, die uns umgab. In meinem Kopf begannen sich Worte zu 41 »Philister leben nur ein Alltagsleben. Das Hauptmittel scheint ihr einziger Zweck zu seyn. Sie thun das alles, um des irdischen Lebens willen; wie es scheint und nach ihren eignen Äußerungen scheinen muß. Poesie mischen sie nur zur Nothdurft unter, weil sie nun einmal an eine gewisse Un­ ter­brechung ihres täglichen Laufs gewöhnt sind. In der Regel erfolgt diese Unterbrechung alle sieben Tage, und könnte ein poetisches Septanfieber heißen. Sonntags ruht die Arbeit, sie leben ein bißchen besser als gewöhnlich und dieser Sonntagsrausch endigt sich mit einem etwas tiefern Schlafe als sonst; daher auch Montags alles noch einen raschern Gang hat. Ihre parties de plaisir müssen konvenzio­ nell, gewöhnlich, modisch seyn, aber auch ihr Vergnügen verarbeiten sie, wie alles, mühsam und förm­lich […]« (Novalis, »Blüthenstaub« [1797   /   1798], Nr. 77, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2, München / Wien: Hanser 1978, S. 263 –265). 42 Lazarus Goldschmidt, Philister über Dich! [Ein Wort über das Cliquenwesen in der Wissenschaft und der Kritik], Berlin: Harz 1927. 43 Uri Avnery, In den Feldern der Philister, München: Diederichs 2005. 44 Avnery, In den Feldern der Philister (Anm. 43), S. 137–138, 148 –149, 169. 45 Als Erkennungszeichen wird in einer Phase das Losungswort ›Samson und Delila‹ verwendet (Avnery, In den Feldern der Philister [Anm. 43], S. 141).

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Versen zusammenzufinden. So entstand das ›Lied der Füchse‹. […] Später kam mir die Frage in den Sinn, ob wohl je einer darüber nachgedacht hatte, wie sich die Füchse fühlten, als die Fackeln an ihre Schwänze gebunden waren? Und wie endeten die Füchse? Dazu steht nichts im Alten Testament. Wir aber wurden ›Samsons Füchse‹ genannt […].46 1959 verfasste Nelly Sachs (1891–1970) die szenische Dichtung »Simson fällt durch Jahr­tausende«.47 Das Stück wurde nur einmal als Hörspiel48 in Rundfunkbearbeitung von Alfred Andersch am 23. September 1960 im Süddeutschen Rundfunk gesendet. Das dra­ma­tische Geschehen in vierzehn Bildern war aber ursprünglich für die Bühne vor­ge­sehen. Die Regieanweisungen, die Nelly Sachs zu Beginn des Stückes gibt, lauten: Die Schatten der Handelnden werden auf eine Leinwand geworfen, um den Abstand der Jahrtausende anzudeuten. Stimmen von hinter der Bühne. Delila schert den schlafenden Simson kahl. Sein Haupt ruht in ihrem Schoß. DELILA:

Philister über dir! Simson heißt Sonne! Aus jedem Haar zieht die Sonne aus  Schwarze Nachtstränge knistern, seufzen, sinken in Asche.  Wieviel Klafter tiefer schläfst du  Als andere Menschen,  mit Angeln ziehe ich deine Kraft aus deinem Haupt.  Philister über dir! Nun rauchts aus deinem Kopf – nun brennts –  Ich muß mich schützen – schnell deinen Kopf auf den Sand  46 Avnery, In den Feldern der Philister (Anm. 43), S. 178. 47 Nelly Sachs, »Simson fällt durch Jahrtausende«, in: dies., Zeichen im Sand. Die szenischen Dich­ tun­gen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962, S. 185 –238; im Folgenden wird zitiert: Nelly Sachs, Simson fällt durch Jahrtausende und andere szenische Dichtungen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1967, S. 43 –74. – Gabriele Fritsch-Vivié, »Biographische Aspekte in den Szenischen Dich­tun­ gen der Nelly Sachs«, in: Michael Kessler und Jürgen Wertheimer (Hrsg.), Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Mit Briefen und Erläuterungen der Autorin zu ihren Gedichten im Anhang, Tübingen: Stauffen­burg 1994, S. 271– 83; Alfred Bodenheimer, »Riesenhaftes Sterben. Die Figur des Simson bei Heinrich Heine und Nelly Sachs«, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 53 (2004), S. 33 – 43. 48 Zur Interpretation siehe Susanne Gillmayr-Bucher, »›Eigentlich wollte ich nur das Weltall ein bißchen anritzen‹. Intra- und intertextuelle Bezüge in Nelly Sachs’ szenischer Dichtung Simson fällt durch Jahrtausende«, http : / / computerphilologie . uni - muenchen . de / jg97 / gillmayr / Simson . html [Stand : 1.11.2008].

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Brenne da –  Ah – meine Finger versengt – habe ich deinen Gott angefasst? Zuviel brennbaren Gott angefasst? schreiend: Philister über dir! Nacht über dich!49 Die Nacht bricht über Simson, dann aber auch über Delila herein, weil Simsons Haar, das der Kraft der Sonne entspricht, vernichtet ist. Ohne das Licht der Sonne ist es Nacht. Nelly Sachs verweist mit diesem Bild auf eine klangliche Ähnlichkeit des hebräischen Namens ›Schimschon‹ für Simson und dem hebräischen ›Schemesch‹, Sonne.50 Das Motiv des Verrats der Frau an dem großen, starken Mann, dem Riesen, wiederholt sich in Nelly Sachs’ Geschichte. Der Schuldiener Manes, wohl in Anspielung auf die lateinische Bezeichnung in der römischen Mythologie für die Seelen geliebter Verstorbener (Manen) so genannt, wird von seiner Frau Nina betrogen. Zweites Bild: Manes, Schuldiener, und seine Frau Nina in der Wohnstube. Die Frau tänzelt hin und her, sieht zuweilen durch das Fenster. Der Schuldiener schwer, groß, müde und abgearbeitet.51 Und damit nimmt die Geschichte von Simson und Delila in Variation noch einmal ihren Lauf. Nina verkörpert die Delila-Figur als femme fatale. Manes ist der Mann,

49 Sachs, Simson fällt durch Jahrtausende (Anm. 47), S. 45. 50 »Vorspiel: Schattenspiel an der Wand, um den Abstand der Jahrtausende zu markieren. Delila = ›Kraftminderin‹: in dem Namen schon der Charakter. Simon = ›Sonne‹. Sie schert Simson – Neugier – Abscheu vor der Schwäche – Lust des Verrats. Brennt auf – hat zu viel ›Gott‹ angefasst. Soldat gibt den letzten Stoß dem schwach gewordenen Simson – Hebammendienst dem Tod. Manes-Simson fällt durch Jahrtausende. Hat die Fallsucht. Riese, kindlich. Füttert heimlich den Wolf, rettet Kinder aus der brennenden Schule. ›Mensch‹ unter den Standard-Leuten. Noch gespeist vom Geheimnis des nächtlichen Mutterleibes in einer Endzeit der Menschheit. Wie ein Ertrinkender erinnert sich Manes in verschiedenen Grenzszenen der Fallsucht an seine Vorzeit. Sein wahrhaftes Sein erlebt er in seinem ›Fall‹, im Hinwegsein (Totenszene). Abstrakte Szene geometrisch: Wir wandeln alle in Geheim­nissen! Fischauktion – fast stumm, aber Mimus. So wie es in den nordischen Fischauktionen her­geht. Zuschlag mit einem Blick Unterbewusstsein. Szene beim Barbier tragisch-komisch. Szene am Spiegel mit dem Rücken zum Publikum und dieses wie schlafwandlerisch ansprechend, dient zur besseren Beleuchtung der einzelnen Individuen unserer Zeit. Die letzten Szenen am Meer ganz transparent aus der Fallsucht. Nimmt den Felsen auf den Rücken – der ist auch nur aus Sterben gemacht« (Nelly Sachs, »Zu Simson fällt durch Jahrtausende«, in: dies., Simson fällt durch Jahrtausende [Anm. 47], S. 150).  – Zur klanglichen Ähnlichkeit zwischen ›Schimschon‹ und ›Schemesch‹ siehe auch den Beitrag von Bernhard Lang in diesem Band, S. 163. 51 Sachs, Simson fällt durch Jahrtausende (Anm. 47), S. 49.

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»›Mensch‹ unter Standardleuten«,52 der an die verführerische Frau erotisch gebunden ist, aber auch unter dieser Bindung leidet und letztlich an ihr zu Grunde geht. 1981 erschien die Dichtung Shimshonim, ›die beiden Simsons‹, von Shmuel Huppert (1936 –2006), welche die Monologe zweier Simson-Figuren wiedergibt.53 Simson A ist ein Reservesoldat, stationiert in Gaza, ein Überlebender des Holocaust. Simson B ist der biblische Held Simson, der nach seinem Tod als Unsterblicher in der Stadt, in der er zu Tode kam, unterwegs ist. Zu Beginn treffen sich die beiden am Strand. Der Held Simson rettet den Reservesoldaten Simson vor dem Tod. Sie ziehen beide Vergleiche zwischen ihren Leben. Der Reservesoldat erinnert sich an die Zeit der Nazis, der Held Simson erinnert sich an seinen eigenen Tod. Aus dem Jahr 2005 stammt Dwasch Arjot von David Grossman, der hier zuletzt zu nennende Beitrag, der 2007 in deutscher Übersetzung als Löwenhonig. Der Mythos von Samson erschienen ist. Zu dieser Ausgabe heißt es: Samson, der Held. Jedes Kind in Israel ist aufgewachsen mit diesem Mythos aus dem Buch der Richter. Vor dem Hintergrund der zweiten Intifada im Winter 2002   /   2003 liest David Grossman den alten biblischen Text Satz für Satz und Wort für Wort noch einmal. Bibliotheken im Rücken, Bilder von Rembrandt und van Dyck vor Augen, den Talmud zur Hand, ringt Grossman ihm eine Geschichte ab, die gegen Gott und gegen die Mär von der unerschütterlichen Stärke spricht: Wir müssen uns Samson als einen un­ glücklichen Menschen vorstellen. Samsons Kraft war seine Schwäche, er war ihr nicht gewachsen. So wurde er zum ersten Selbstmordattentäter der Ge­ schichte – zur Figur einer schicksalhaften, doppelten Frage: Wie geht Israel mit seiner physischen Überlegenheit und wie geht es mit seinem metaphy­ sischen Erbe um?54 Grossman erzählt eine gedeutete Simson Geschichte, er ringt ihr Schritt für Schritt für seine Perspektive Sinn ab. Simson ist in das Bewusstsein des jüdischen Volkes als Symbol, als jüdischer Held eingegangen. Der Grund dafür liegt, so Grossman, vielleicht darin, dass sich in Samsons Wesen – in seiner Einsamkeit und Verstoßenheit, in seinem starken Bedürfnis, seine Einzigartigkeit und Rätsel­ haftigkeit zu bewahren, aber auch in seiner großen Lust, sich unter Fremde zu mischen und sich mit ihnen zu vereinen – trotz allem sehr ›jüdische‹ Züge offenbaren. 52 Sachs, »Zu Simson fällt durch Jahrtausende« (Anm. 50), S. 150. 53 Siehe http://www.jewish-theatre.com/visitor/article_display.aspx?articleID=2438 [Stand: 17.8.2008]. 54 David Grossman, Löwenhonig. Der Mythos von Samson, übers. von Vera Loos und Naomi NirBleimling, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005, Klappentext.

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Natürlich kommt hinzu, dass Juden zu allen Zeiten stolz auf seine Heldentaten waren und sich danach sehnten, seine Körperkraft, seinen Mut und seine Männlichkeit zu besitzen. Und noch mehr bewunderten sie, dass er im Stande war, ohne Hemmungen oder moralische Vorbehalte Gewalt anzuwenden, eine Fähigkeit, die dem ›Würmlein Jakob‹ in Tausenden von Jahren bis zur Errichtung des Staates Israel verwehrt blieb.55 Simson ist in der Darstellung Grossmans aber gerade deshalb ein tragischer Held, weil er an seiner Kraft zu Grunde geht, die er als Mittel zum Zweck gebraucht, anstatt andere Reaktionsmöglichkeiten zu nutzen, die ihm mit seiner Schönheit und mit seinem körperlich bedingten Weitblick gegeben gewesen wären.

55 Grossman, Löwenhonig (Anm. 54), S. 82.

Genie und Philister   im 18. Jahrhundert Sektion III

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Werther und die Philister

Werther als Proto-Student Im Rückblick scheint es fast, Werther habe die Rolle eines unglücklichen Studenten gespielt. Mittlerweile nämlich gelten seine ›Leiden‹ als das ebenso moderne wie klas­ sisch gewordene Dokument einer verlängerten Adoleszenzphase, und diese verbindet sich seit 1800 fast automatisch mit der studentischen Existenz. Zudem sind Autor, his­ torisches Vorbild und Held dieser Liebesgeschichte allesamt nicht nur empfindsame, sondern auch studentisch gebildete Jünglinge: der dreiundzwanzigjährige Dr. juris Goethe, der fünfundzwanzigjährige examinierte Jurist Karl Wilhelm Jerusalem und auch der Homer und Klopstock lesende Werther. Ein Jahr nach dem Erscheinen des Werther hat Friedrich Nicolai in seiner Parodie über die »Freuden des jungen Werthers« bereits jene peer group von Lesern im Blick, die – neben Werther selbst – aus gerade fertig studierten Männern besteht: »euch junge Burschen […], die ihr eben flügge seid und anfangt, aus der hohen Schule in die Welt zu gucken.«1 In den auf die Leiden des jungen Werthers folgenden Jahrzehnten und Jahr­hun­ der­ten treten die literarischen Werther-Nachfolger deshalb fast ausnahmslos als Stu­ denten auf. Achim von Arnims Roman Hollin’s Liebeleben von 1802 ist genau nach den Leiden des jungen Werther modelliert, und selbstredend ist der Held ein Student, der – wie Achim von Arnim selbst – neben seinen Leiden das gesamte bildungsbürgerliche Pensum absolviert: ein Studium in Göttingen, eine romantische Wanderung auf

1 Christoph Friedrich Nicolai, »Freuden des jungen Werthers und Leiden und Freuden Werthers als Mann. Voran und zuletzt ein Gespräch«, in: ders., Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S. Ein Roman. Werther-Parodien, zeitgenössische Rezensionen und Schmähungen, hrsg. und mit einem Nachwort von Günter de  Bruyn, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1983, S. 153 –181, hier S. 157.

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den Brocken, zuletzt eine Anstellung in Berlin.2 Und noch einmal hundert Jahre später kommt der »verbummelte Student« in einem Roman des expressionistischen Dichters Gustav Sack zu literaturgeschichtlichen Ehren, indem er sich als lebensphilosophisch geprägte Werther-Imitation präsentiert.3 Ebenso entscheidend für die Nähe des Werther-Fiebers zur studentischen Existenz ist das Auftreten der Philister in Goethes Roman. Für Clemens Brentano bezeichnet »Philister« – in der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Satire »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« – den ›Studenten-Gegensatz‹4 schlechthin; er nimmt dabei auf eine sich im 18. Jahrhundert bildende Semantik Bezug, deren Ursprünge noch weiter zurückliegen.5 Für Heinrich Heine, einen weiteren unglücklich verliebten Jurastudenten und Brockenwanderer, sind die Einwohner Göttingens um 1820 deshalb bekanntlich in vier Kategorien eingeteilt: »Studenten, Professoren, Philister und Vieh«.6 Bereits in Goethes Roman selbst findet sich diese erst in der Wirkungsgeschichte des Werther vollends entfaltete Nähe des Helden zum Studenten. Es ist Werther, der sich als ›Philister-Gegensatz‹ und damit auch als Proto-Student inszeniert – im Brief vom 26. Mai, als er seinem Brieffreund ein »Gleichnis« gibt über die Liebe und die Kunst, wie sich der Liebende und der Künstler »verschwendet« und »hingiebt«, an ein Mädchen und an die Natur: Und da käme ein Philister ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: ›feiner junger Herr! lieben ist menschlich, nur müßt Ihr menschlich lieben! Teilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet eurem Mädchen. Berechnet euer Vermögen, und was euch von eurer Nothdurft übrig bleibt, davon verwehr’ ich euch nicht

2 Achim von Arnim, Hollin’s Liebeleben, Gräfin Dolores, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1989. 3 Gustav Sack, Ein verbummelter Student, Stuttgart: Klett 1987 (= Cottas Bibliothek der Moderne, Bd. 60). 4 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (= Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn, Bd. 11), S. 38 – 90, hier S. 59 f. 5 Vgl. Friedrich Kluge, »Philister«, in: ders., Wortforschung und Wortgeschichte, Leipzig: Quelle & Meyer 1912, S. 20 – 4 4. 6 Heinrich Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise«, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 6: Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder I  /  II, bearb. von Jost Hermand, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 84.

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ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen. Etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage‹ &c. (S. 20)7 Die Philister in den Leiden des jungen Werthers treten durchweg im Plural auf, bevor die Paraderolle schließlich an Albert übergeht, »einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen« (S. 25).8 Solche ›braven‹ Männer sind im Werther Legion – ob es sich um einen »fürstlichen Amtmann« (S. 16) handelt, einen »braven Kerl« (S. 16), oder um einen fast Gleichaltrigen, dem Werther noch vor allen anderen Figuren begegnet: »Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V[..] an, ein offner Junge, mit einer gar glücklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien, dünkt sich nicht eben weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich an allerley spüre, kurz, er hatt’ hüpsche Kenntnisse« (S. 16). Es handelt sich um einen jungen Gelehrten, der – eben noch Student – in Werther einen ebenso Gleichgestellten wie Gleichgesinnten sucht: »Da er hörte, daß ich viel zeichnete, und Griechisch konnte, zwey Meteore hier zu Land, wandt er sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winkelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie den ersten Theil, ganz durchgelesen, und besitze ein Manuscript von Heynen über das Studium der Antike« (S. 16). Unzweifelhaft gehört dieser junge Mensch nicht nur zu den »Akademien«, den ›schönen Wissenschaften‹ und zur Philologie, sondern auch in jenes semantische Feld der Philister, das in den Leiden des jungen Werthers so überaus aufwändig bestellt wird. Obwohl dieser Roman also die ästhetische Karriere des Begriffs ›Philister‹ nicht unwesentlich befördert hat, scheint die Opposition von Philister und Student in die­sem Fall jedoch aufgehoben: Die Philister befinden sich hier offensichtlich noch innerhalb der Universität; gerade der Student verfügt mit seinem »Wissen« und seinen »Kennt­nissen« über jenen Habitus, den Werther neun Tage später den phi­lis­trö­sen Männern im »öffentlichen Amte« zuschreibt. Wie kommt es, dass der Philister erst nach dem Erscheinen der Leiden des jungen Werthers gewissermaßen die akademischen Seiten wechselt? Und warum verwandeln sich die philiströsen fleißigen Jungen auf den Akademien bald darauf in empfindsame Studenten und Antiphilister, die nunmehr Anteil nehmend ihren Werther lesen? Hinter der groben Semantik des Philisters als »Studenten-Gegensatz« kommt dem­zufolge eine um 1800 höchst unterschiedlich gepflegte Semantik der deutschen Bildungs- und Universitätsgeschichte zum Vorschein. Erstaunlicherweise befindet sich 7 Goethes Die Leiden des jungen Werthers werden im Text fortlaufend mit der Seitenzahl nach der Erstausgabe zitiert: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (Leipzig 1774), hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 (= Bibliothek der Erstausgaben, Bd. 2676). 8 Alberts »philisterhafte Gestalt« gehört zu den Selbstverständlichkeiten auch der literaturwissenschaftlichen Werther-Rezeption, so z. B. bei Horst Flaschka, Goethes »Werther«. Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München: Fink 1987, S. 34.

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der Begriff in den Leiden des jungen Werthers auf einem selten beachteten Umweg: Der locus classicus über den Philister bezeichnet zwar den Auftakt einer ästhetisch-kultu­ rellen Begriffskarriere; als Topos der Bildungsgeschichte allerdings scheint seine Verwendung hier seltsam verdreht. Wie sein Briefpartner Wilhelm (»Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer«, S. 23) ist Werther ein gelehrter junger Mann, der sich von Akademien, Studien und Studenten zugleich energisch distanziert – obgleich das gelehrte und gelernte Wissen (siehe Homer, Klopstock und Ossian) nachweislich zum festen Bestandteil der Empfindsamkeit gehört. Ohne den im Roman ex­zessiv Briefe schreibenden und Literatur lesenden Werther deshalb allzu vorschnell und reichlich rigoros den Sozialisationsagenturen, Bildungsregiments und ödi­pa­len Drei­ecken des 18. Jahrhunderts zu- und unterzuordnen,9 möchte ich der hier eher verborgenen Bildungsgeschichte des Romans und seiner Wirkung nachgehen. Sie führt nicht nur zur Humboldt’schen Universitätsreform, sondern auf ebenso zentrale wie wenig beachtete Felder der Philistersemantik: auf die Metaphorik des Flüssigen und des Trockenen, die Schriftkultur und die Männlichkeit.

Scripturen und Philister Wirkungsmächtig wurde in Werthers Brief vom 26. Mai eine zweite Differenz, die den Gegensatz von Philister und Student mit der Entgegensetzung von Philister und Genie vertauscht: O meine Freunde! warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluthen hereinbraust, und eure staunende Seele erschüttert. – Lie­ ben Freunde, da wohnen die gelaßnen Kerls auf beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete, und Krautfelder zugrunde gehen würden, die die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen. (S. 21) Mit dem »Genie« etabliert diese Briefstelle – nach der Ansprache des fiktiven »Phi­ listers« über die Liebe – ein weiteres folgenreiches »Gleichnis«: Die »gelassenen Kerls« an beiden Seiten des Ufers und der überschwemmende »Strom des Genies« markieren den Gegensatz von zivilisatorischer Domestizierung und roher Naturkraft; das Bild der ›hohen Fluten‹ und reißenden ›Ströme‹ ist zugleich verbunden mit der kurz zuvor beschriebenen »Verschwendung« und »Hingabe« des Liebenden und des Künstlers. Diese 9 Vgl. hierzu Friedrich  A. Kittler, »Autorschaft und Liebe«, in: ders. (Hrsg.), Austreibung des Geis­tes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u. a.: Fink 1980, S. 142 –173; Philippe Forget, »Aus der Seele Geschrie(b)en? Zur Problematik des Schreibens (écriture) in Goethes ›Werther‹«, in: ders. (Hrsg.), Text und Interpretation, München: Fink 1984, S. 130 –180.

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Bild-Metaphorik verselbstständigt sich im Werther, aber auch in der Empfindsamkeit und der Genie-Ästhetik in auffallender Weise; sie initiiert – so Albrecht Koschorke – »eine große Ära literarischer Wassermetaphern«.10 Der Philister hingegen hat mit jenen Regeln, Ordnungen, Versorgungen, Ein­tei­ lungen und Berechnungen zu tun, die sich am ›Festen‹ und am ›Trockenen‹ orien­tie­ren. Philister, »die geordneten Köpfe«, »wahre Gelehrte«, »gründliche Encyklopädisten«11 – so wird es später Novalis formulieren – »leben nur ein Alltagsleben«, und dieses Alltagsleben besteht aus »lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen«.12 Bereits in den Leiden des jungen Werthers sind die ›braven‹ Männer vor allem mit dem Ordnen von Papieren und mit der Schrifttechnik vertraut. Als sich Werther in den Zimmern bei Lotte umsieht, entdeckt er »Alberts Scripturen« (S. 104). Demgegenüber steht Werthers Distanz zum geschriebenen Wort, seine eklatante Grammaphobie,13 mit der er den Gegensatz zu den Philistern und den Gelehrten bezeichnet und ver­ schärft. Werther ist immer schnell bei der Hand mit dem Vorwurf des »gestem­pel­ten Kunstworte(s)« (S. 97) und der »Wortkrämer« (S. 113), und wenn er den ironischen Gegen­satz zum Stil seiner eigenen Briefe umschreiben möchte, dann nennt er eine »Er­ zäh­lung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das aufzeichnen würde« (S. 88). Werthers Leiden an der »Gewalt des Buchstabens«14 mag sich auf die logo­zen­ trischen Illusionen der Empfindsamkeit gründen: auf einen von Goethe und Herder geteilten rousseauistischen Gestus, der das geschriebene Wort hintanstellt, lie­ber dem unverstellten Ausdruck des gesprochenen und noch mehr des gefühlten Wor­tes vertraut – und dann doch eine neue Buchstabenkultur inauguriert.15 Über die bil­dungs­ ge­schichtliche Verortung dieser empfindsamen Attitüde ist damit freilich immer noch wenig gesagt, obwohl Werthers anti-philiströse Leiden offenkundig auf eine histori­ sche Irritation im Bildungswesen, nämlich auf die undurchsichtigen Gegenläufigkeiten von Philister, Genie und Student verweisen. 10 Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2. Aufl., München: Fink 2003, S. 136. 11 Novalis, »Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub«, in: ders., Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hrsg. von Richard Samuel, Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 433. 12 Novalis, »Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub« (Anm. 11), S. 447. 13 So Inger Sigrun Brodey, »Masculinity, Sensibility, and the ›Man of Feeling‹: The Gendered Ethics of Goethe’s Werther«, in: Papers on Language & Literature. A Journal for Scholars and Critics of Language and Literature 35 (1999), S. 115 –140, hier S. 123. Ähnlich: Scott Abbott, »The semiotics of young Werther«, in: Goethe Yearbook 6 (1992), S. 41– 65; Christian Schärf, Goethes Ästhetik. Eine Genealogie der Schrift, Stuttgart: Metzler 1994, S. 150. 14 Jacques Derrida, Grammatologie, übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frank­ furt am Main: Suhrkamp 1974 [1967], S. 178. 15 Vgl. dazu Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, Stuttgart: Metzler 1988, sowie mit entsprechend poststrukturalistischer Verve: Jörg Löffler, Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe, Berlin: Schmidt 2005, S. 77–84.

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Werther möchte auf die »Scripturen«, die Buchstaben und die »Chroniken­schrei­ ber« am liebsten verzichten; diese hingegen gehören zu den Eigenschaften jenes »brauch­baren jungen Menschen«, den Werther in der Philister-Passage einem »Fürsten« emp­fehlen möchte: »ich will selbst jedem Fürsten rathen, ihn in ein Collegium zu sezzen« (S.  20). Schrifttechnik ist in den Verwaltungen und in den Universitäten zu Hause, und zwar in jenen modernen Universitäten, wie sie sich im 18. Jahr­hun­ dert unter dem Einfluss der Kameralwirtschaft, des staatlichen Einflusses und der absolutistisch-aufgeklärten Lenkung gerade erst entwickelt haben.16 Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wird die Oralität der Vorlesungen und Disputationen durch Schrift­ lich­keit ersetzt  – durch das Verfassen von Texten als Nachweis des wissenschaft­lich for­schenden Professors, durch die schriftliche Ausarbeitung von Themen durch die Stu­den­ten. Jener Student in den Leiden des jungen Werthers, der ein »Manuscript von Heynen über das Studium der Antike besitzt« (S. 16), ist genau darin ausgebildet und ge­hört im 18.  Jahrhundert gewissermaßen zur Avantgarde der Nachwuchs­wissen­ schaftler: Im philologischen Seminar der Universität Göttingen hat Christian Gottlob Heyne nach 1763 als einer der ersten die Praxis eingeführt, die Zulassung zum Seminar an schriftlich eingereichte Arbeiten zu koppeln und Seminare als Diskussions­räume für schriftlich vorgelegte Texte zu institutionalisieren.17 In diesem Sinne ist wohl auch Albert ein eben von den Akademien kom­men­der Wissenschaftler. In der mit Werther geführten Debatte über den Selbstmord ar­gu­men­ tiert er, wie er es dort gelernt hat oder hätte lernen können: Die von Werther an­ge­ führ­ten »Beyspiele« scheinen ihm »hierher gar nicht zu gehören« (S. 60), anderes wie­ de­rum ist ihm »zu allgemein gesprochen« (S. 61). In Werthers Beweisführung findet er ein »Paradox« (S. 61); eine spezifische »Vergleichung« ist ihm »noch nicht anschaulich« (S. 63) genug, anderes »könne er nicht begreifen« (S. 63). Albert argumentiert nach allen Regeln der universitären Kunst und »gerät sehr tief in Text« (S. 58); neben der Schrift, der ›Grammatik‹ und der ›Rhetorik‹, beherrscht er mit der ›Dialektik‹ augenscheinlich auch die dritte Kunst des akademischen triviums, die er als Gesandter am Hof und als Legationssekretär18 zugleich auf den Stand seiner Zeit zu bringen und für die eigene Karriere nutzbringend anzuwenden versteht: »In Ordnung und Emsigkeit in Geschäften hab ich wenig seines gleichen gesehen« (S. 56).

16 Vgl. William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago / London: University of Chicago Press 2006. 17 Clark, Academic Charisma (Anm. 16), S. 176 –179. 18 Dies zumindest ist die Berufsbezeichnung von Johann Christian Kestner, dem ›Vorbild‹ Alberts zu Goethes Wetzlarer Zeit: vgl. Flaschka, Goethes »Werther« (Anm. 8), S. 23 –30.

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Hydraulik der Männlichkeit Der schriftgelehrte »Philister« von der Akademie und das sich hingebende »Genie« sind zwei Prototypen der frühen Moderne, verbunden durch eine eigentümliche und über­aus sprechende Hydraulik und Strömungslehre: Während das Genie ›überfließt‹, ist der Philister am Vertrocknen. Albrecht Koschorke hat in einer umfangreichen Stu­ die die Körperströme und den Schriftverkehr des empfindsamen 18. Jahr­hun­derts unter­ sucht und damit auch erklärt, warum und wie ein Werther seinen Homer, seinen Klop­­stock und seinen Ossian liest, warum sein Herz dabei ›überläuft‹ und welche Schreib­art Werthers Briefe bestimmt: Der alteuropäisch ›fließende‹ Humoralkörper hat sich in ein geschlossenes System verwandelt, in dem nun – statt der Körpersäfte – kom­pen­sa­torisch die Seelen, die Tränen und die Schrift zu fließen beginnen.19 Zugleich jedoch – und dieser Aspekt wird von Koschorke ungleich weniger beachtet – erzeugt der Versuch einer auf diese Weise hergestellten Unmittelbarkeit (beziehungsweise ihrer ›medialen‹ Suggestion) die Vorstellung eines anderen Extrems und einer ›anderen‹ Moderne: eine ebenfalls durch die Schrift herbeigeführte ›Austrocknung‹, die den freigesetzten autonomen und ›emsigen‹ Mann des 18. Jahrhunderts zugleich vom un­mit­ telbaren ›Verkehr‹ der Herzen und der Gefühle abschneidet. Während Unmittel­bar­ keit, Ungeteiltheit und Ganzheit zunehmend auf die Anthropologie des weib­li­chen Ge­schlechts projiziert werden, entsteht das mit der Moderne gleichursprünglich ent­ stan­dene Bild einer Männlichkeit als Schattenseite funktionaler Differenzierung: als Verarmung, Vereinseitigung, Determiniertheit. Diese Geburt einer Negativen Andrologie im 18. Jahrhundert ist jüngst von Christoph Kucklick ausführlich rekonstruiert worden, und in ihrem Zentrum steht eine epochal wirksame »Männeraustrocknung«,20 von der nicht zuletzt die sich ausbreitende Semantik des Begriffs »Philister« erzählt. Die beiden Prototypen beschreiben zwei sich ausdifferenzierende, zwei kon­fli­gie­ ren­de und einander widersprechende Modelle der Moderne: auf der einen Seite ab­ strakte Kommunikation, mediale Vermittlung, Mechanisierung, gesellschaftliche In­ ter­de­pen­denz, auf der anderen Seite Unmittelbarkeit, Präsenz, Interaktion.21 Im Phi­lis­ter und im Genie scheinen Literatur und Kultur demnach zwei Reflexionsfor­ men und Simulationsmodelle hervorgebracht zu haben, mit denen die Extreme des Zivilisationsprozesses jeweils plastisch und fiktiv durchgespielt werden können. Beide Figuren übertreiben jeweils eine Konsequenz der Modernisierung: Das Genie treibt die Unbestimmtheit ins Extrem, der Philister die Bestimmtheit, das Genie steigert und

19 Koschorke, Körperströme (Anm. 10). 20 Christoph Kucklick, Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie, Frank­ furt am Main: Suhrkamp 2008, bes. S. 175 –184 (»Fabrikware, Charakterleihgabe, Hartherz: Männer­ austrocknung«). 21 Vgl. André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.

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übertreibt Interaktion, der Philister setzt auf interaktionsfreie Kommunikation und übertreibt Gesellschaft.22 Bezeichnenderweise ist Albert in Goethes Roman zunächst abwesend, Werther präsent. Albert schreibt ›Geschäftliches‹, argumentiert ›sachlich‹ und spricht ›trocken‹, Werther zerfließt in seinen Briefen, simuliert schreibend eine verlorene Mündlichkeit und verweigert sich der Kommunikation. Er hört Lotte »Klopstock« sagen und lenkt die Wassermetaphorik – in einer der berühmtesten Stellen des Romans – vom »Strom des Genies« in eine religiös überformte Physiologie der Gefühle: »Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie mit dieser Loosung über mich ausgoß« (S. 34). In der Rezeption und Forschungsgeschichte wurden die Figuren Albert und Wer­ ther meist auf einer Zeitachse von rückwärts gewandter ›Aufklärung‹ und vorwärts ori­en­tierter ›Empfindsamkeit‹ eingetragen; Albert rückte als Gegenfigur nicht nur aus dem Zentrum des empfindsamen Geschehens, sondern blieb – wie für Werther selbst – eine weitgehend festgelegte, honorige und doch blasse, eben ›philiströse‹ Fi­ gur.23 Der Philister und das Genie in Goethes Die Leiden des jungen Werthers sind den­ noch zwei gleich ursprüngliche Varianten moderner Männlichkeit, die ihre Besonderheit aus beiderseits neuen Gesellschafts- und Kommunikationsformen beziehen: aus der empfindsamen Briefkultur und der Aktenexpertise. Sie repräsentieren die in »Herz« und »Hirn« differenzierten Prototypen von zwei gleichermaßen epochalen »kon­kur­rie­ renden Schriftsystemen«,24 deren Geltung und Konsequenz in Goethes Roman fiktiv und mit verteilten Rollen auf die Probe gestellt werden. Werther und Albert bleiben gerade nicht starr oder geometrisch entgegengesetzt, sondern sind Einsätze in einem Text und einem dramatischen Geschehen, das die Gegensätze gegeneinander ausspielt. Am 3. November hat Werther die »Fülle der Empfindung« verloren: »Und dies Herz ist jezo todt, aus ihm fließen keine Entzükkungen mehr, meine Augen sind trok­ ken, und meine Sinne, die nicht mehr von erquikkenden Thränen gelabt werden, zie­ hen ängstlich meine Stirne zusammen« (S.  106). Der Gegensatz zwischen sozialen Grup­pen – zwischen Männern in ›öffentlichen Ämtern‹ und empfindsamen Einzel­ gän­gern – hat sich hier in den einzelnen Körper verlagert, in ein physiologisches Mo­ dell, in dem das ›fließende‹ Herz und das trockene Gehirn keine Verbindung mit­ein­ ander eingehen: Wenn ich zu meinem Fenster hinaus an den fernen Hügel sehe, […] und all die Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen kann, und der ganze Kerl vor Gottes Angesicht steht wie 22 Zur Unterscheidung von ›Interaktion‹ und ›Gesellschaft‹ vgl. Kieserling, Kommunikation (Anm. 21), S. 213 –256. Dort auch die Formulierung, ›Lesen‹ und ›Schreiben‹ seien »Interaktionsunterbrecher« (S. 235 u. 240). 23 Vgl. – die Forschung resümierend – Flaschka, Goethes »Werther« (Anm. 8), S. 125 –135. 24 Kucklick, Das unmoralische Geschlecht (Anm. 20), S. 189.

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ein versiegter Brunn, wie ein verlechter Eymer. Ich habe mich oft auf den Boden geworfen und Gott um Thränen gebeten, wie ein Akkersmann um Regen, wenn der Himmel ehern über ihm ist und um ihn die Erde verdürstet. (S. 106 f.) Werther verwandelt sich hier nicht in einen Philister, droht allerdings, dessen physiologische Grundausstattung zu übernehmen. Das nunmehr ›ausgetrocknete‹ Herz lässt allein die Verstandestätigkeiten übrig, auf die sich Werther nunmehr reduziert sieht: kein Wunder, dass er sich »das Gehirn einstoßen« (S. 105) möchte, also das buchstäblich eingekapselte Vermögen wieder öffnen oder auch zerstören möchte. Es handelt sich bei den Philistern und bei Werther gewissermaßen um eine latent gestörte Hydraulik in der Konstruktion moderner Männlichkeit, um einen zu­min­ dest potentiell ständig verfehlten Aggregatszustand zwischen ›Überfließen‹ und ›Ver­ trock­nen‹, oder – in der Terminologie der zeitgenössischen Medizin – zwischen den Krank­heits­zu­ständen der Melancholie und der Hypochondrie.25 Dementsprechend chan­giert Werther selbst zwischen zwei pathologischen Zuständen, und nahezu übergangslos und automatisch provoziert der Roman die Frage nach einem mittleren Zustand, einem ›Gleichgewicht‹26 und einem narrativen Übergang zwischen zwei zunächst nicht vermittelbaren Existenzen. Wie es die fiktiv ausgespielten Extreme des Genies und des Philisters programmatisch vorgeben, verweigern Die Leiden des jungen Werthers selbst einen solch ›mittleren‹ Zustand oder entsprechende ›Übergänge‹; der Roman entwirft jedoch – zwischen der ›Überfülle des Herzens‹ und der ›Männeraustrocknung‹ – imaginäre Projektionen eines Mediums, das von den Extremen jeweils wegzuführen verheißt.

Gelassenheit, Weiblichkeit, Mischungsverhältnisse »Ich sage dir […], wenn meine Sinne gar nicht mehr halten wollen« (S.  22)  – so be­schreibt Werther im Frühling (unmittelbar nach der Abgrenzung gegenüber dem ›Philister‹) das ›Ausfließen‹ seiner sinnlichen Natur: eine Gefahr, die gebändigt und wie der zuvor beschriebene »Strom« des Genies ›eingedämmt‹ werden muss. Dies geschieht bereits hier – noch vor Beginn der Romanhandlung – durch den Anblick eines »Weibe(s)« inmitten ihrer Kinder, »des Schulmeisters Tochter«, deren Mann gerade in der Schweiz unterwegs ist: »[S]o linderts all den Tumult, der Anblik eines solchen 25 Zum Kontext der Melancholie vgl. etwa Thorsten Valk, Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie, Tübingen: Niemeyer 2002. 26 So nennt es Joachim Heinrich Campe in seiner Warnung vor der ›Schwärmerei‹ des Sturm und Drang: »Von der nötigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichtes unter den menschlichen Kräften« (1785).

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Geschöpfs, das in der glüklichen Gelassenheit den engen Kreis seines Daseyns ausgeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht, und nichts dabey denkt, als daß der Winter kömmt« (S. 22). Die »Gelassenheit« war eben noch bei den Philistern, den »gelaßnen Kerls« (S. 21) aufgetaucht, und sie kehrt später bezeichnenderweise auch bei Albert wieder, dessen »gelassne Aussenseite« Werther selbst der »Unruhe« des eigenen »Charakters« (S. 53) gegenüberstellt. Im Vergleich der Män­ ner untereinander rückt die ›Gelassenheit‹ fast automatisch auf die Seite des Phi­lis­trö­ sen und scheint jenes Mischungsverhältnis zu verlieren, das der »Anblik« (S. 22) einer Weiblichkeit im Einklang mit der sich zyklisch regenerierenden Natur (»die Blätter abfallen sieht«) suggeriert. Mit diesem »Anblik« der weiblichen »Gelassenheit« ist jedoch ein Medium gefunden, das beide Extreme – das überfließende Herz und das ver­trock­ nete Hirn – von jeder Seite aus zu einem mittleren Zustand hinzieht. Als Werther sich im »Ceremoniel« (S. 84) der Gesandtschaft befindet, fühlt er sich umgekehrt bereits in eine Marionette verwandelt und durchläuft die entsprechend physiologische Ver­än­ derung: »Wie ausgetroknet meine Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fülle des Herzens, nicht Eine selige thränenreiche Stunde« (S. 85). Im Brief an Lotte benennt Werther erneut dasselbe Heilmittel, das offenbar identisch (und in der Mitte) bleibt, während die Extreme wechseln: »Ein einzig weiblich Geschöpf hab ich hier gefunden. Eine Fräulein von B… Sie gleicht Ihnen liebe Lotte« (S. 85). In der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, auf dem ersten Höhepunkt einer funk­ tio­nal ausdifferenzierten modernen Gesellschaft, ringen insbesondere die männlichen Figuren um das richtige Maß ihres unruhig gewordenen Innenlebens.27 In Fried­rich Schil­lers Die Räuber (1781) wird Karl Moor, der vom »Schatten meiner väterlichen Hayne« und den »Armen meiner Amalia«28 träumt, durch die Intrige des Bruders plötz­lich um seine wieder gewonnene physiologische Ruhe gebracht: »o so fange Feuer männliche Gelassenheit, verwilde zum Tyger, sanftmüthiges Lamm«.29 Die »männliche Gelassenheit« schützt das Genie vor dem reißenden »Strom«, den ›Kraftkerl‹ des Sturm und Drang vor dem ›verzehrenden‹ Feuer, sie bewahrt gleichzeitig auch vor dem ›Austrocknen‹ der ›Sinne‹, demgegenüber Werther die »Gestalt« und das »Andenken« von Lotte heraufbeschwört: »O Lotte! So heilig, so warm!« (S. 85) 27 Dies lässt sich deshalb – wie immer in solchen Fällen – auch als eine entsprechende ›Krise‹ der Männlichkeit lesen: Peter Uwe Hohendahl, »Die Krise der Männlichkeit im späten 18. Jahrhundert. Eine Problemskizze«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 12.2 (2002), S. 275 –286. Zu den Krisensymptomen männlicher Figuren in zeitgenössischen Dramen vgl. jetzt auch Martin Blawid, »Dieser männliche Mut …« Literarische Männlichkeitsentwürfe in deutschen und italienischen Dramentexten des 18. Jahrhunderts bei Lessing, Goethe, Schiller und Mozart / Da Ponte, Berlin / New York: de Gruyter 2011. 28 Friedrich Schiller, Die Räuber, hrsg. von Herbert Stubenrauch, Weimar: Hermann Böhlaus Nach-­ ­folger 1953 (= Schillers Werke. Nationalausgabe, hrsg. von Julius Petersen und Hermann Schneider, Bd. 3), S. 24. 29 Schiller, Die Räuber (Anm. 28), S. 31.

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Die ebenfalls physiologisch bestimmte mittlere Temperatur männlicher »Ge­las­sen­ heit«30 scheint in jedem Fall hergestellt durch die Anwesenheit oder die Ima­gi­na­tion der Weiblichkeit, und jenseits der Liebesgeschichte zwischen Werther und Lotte verweist die Geschlechter- und Männergeschichte dieses Romans damit auf ein Nar­ra­ tiv, das die extremen Männlichkeiten ausbalanciert: den Ehe- und Familienro­man.31 Werthers Leiden allerdings zeigen zugleich, dass dieser Weg höchst riskant bleibt. Die Berühmtheit des Werther’schen Liebesromans beruht nicht zuletzt auf der fort­dau­ ern­den Faszination der in der Liebe liegenden ›Maßlosigkeit‹,32 der Roman artiku­liert eben­so deutlich die mangelnde Passfähigkeit dieses Gefühls für die moderne Welt. Die ›romantische‹ Liebe ist von der zufälligen Verfügbarkeit des einzig Anderen ab­ hän­gig, sie reduziert die Handlungsfähigkeit des Mannes, sie lässt sich nicht mit ›Geschäften‹ vermitteln. Die von Niklas Luhmann anhand von Werthers Initialerlebnis als »Schwarzbrotsemantik«33 bezeichnete moderne Codierung von Intimität ist zudem auf einen knappen Zeitraum beschränkt, jenseits derer die Zumutungen der Männlichkeit warten: Vor der Ehe droht das Werther-Schicksal, das ›Überströmen‹ und ›Zerfließen‹ des ›unbestimmten‹ Jünglings; nach der Ehe verwandeln sich die Hausherren – in Geschäften unterwegs – unweigerlich in Philister. Wie aber vermeidet man Werthers Schicksal (»wenn meine Sinne gar nicht mehr halten wollen«) und wie ließe man Werther weiter leben und hielte ihn gleichzeitig da­ von ab, ein Philister zu werden? Wie stellt man – nach den Leiden des jungen Werthers – die »männliche Gelassenheit« her, ohne mit Friedrich Nicolai das eben erst in­thro­ ni­sierte Genie der Lächerlichkeit preiszugeben und das Werther-Gefühl durch die Bil­der wohlgeordneter Familien sogleich wieder ›einzudämmen‹?34 Ferner: Wie produ­ ziert man den mittleren Zustand als ein Aggregat der Männlichkeit, ohne ihn an die 30 In zeitgenössischen Wörterbüchern wird die »Gelassenheit« dementsprechend unter der Rub­ rik einer Physiologie, Pathologie und Diätetik von »Leidenschaften« abgebucht: »Die Abwesenheit starker Leidenschaften, und die Fertigkeit, sie zu vermeiden« (Johann Christoph Adelung, Gram­ma­ tisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Leipzig: Breitkopf 1796, S. 523; wörtlich wiederholt bei Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. von Helmut Henne, Hildesheim / New York: Olms 1969 [1807–1811], Bd. 2, S. 286). 31 Vgl. Walter Erhart, Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, Mün­chen: Fink 2001. 32 So Stefan Neuhaus, »Warum Werther sterben mußte«, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht   35 (2002), S. 287–308. 33 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 168. 34 Vgl. etwa die (ent‑)sprechende Stelle in Friedrich Nicolais »Freuden des jungen Werthers und Leiden und Freuden Werthers als Mann«, in der das ›feurige‹ Genie mit einem perfekten Ge­ schlechter- und Familienarrangement zurechtgerückt wird: »Wenn je in seinem feurigen Gemüte ein Tumult aufsteigen will, so lindert ihn unverzüglich der Anblick der glücklichen Gelassenheit die­ ser gesunden liebenswürdigen Geschöpfe, der Abdrücke der Stärke und Edelmut des Vaters und der Mun­ter­keit und Schönheit der Mutter« (Nicolai, »Freuden« [Anm. 1], S. 180).

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i­nstabile Projektion der Weiblichkeit zu delegieren? Fragen und Antworten sind Teil der modernen deutschen Literaturgeschichte; insbesondere die Gattung des Bildungsromans präsentiert eine erfolgsträchtige Antwort auf die im Werther durchge­spiel­ ten Extreme. Hegel aber hatte ihr von Anfang an die Diagnose gestellt, als PhilisterErzählung enden zu müssen,35 und die germanistische Literaturwissenschaft bemüht sich seit Langem, die Lösungen der entsprechenden Romane als reichlich konstruiert und dementsprechend brüchig zu demaskieren.36 Ich möchte eine andere Antwort auf das Werther-Syndrom und damit auf die Fra  ­ge nach der Vermittlung von Genie und Philister in den Blick rücken. Sie besteht in der Reflexion jener Position, die in der im Roman verhandelten Differenz unklar be­ setzt geblieben war: die des Studenten. Die bildungsgeschichtliche Antwort auf Wer­ thers Leiden – so möchte ich behaupten – liegt genau darin, aus Werther einen Stu­den­ ten zu formen, zugleich aber das akademische Studium zu verändern. Und die Hum  ­boldt’sche Universitätsreform erfolgt zuletzt auch auf dem Hintergrund der in Goethes Werther artikulierten und dokumentierten Probleme: als institutionelle Re­ak­tion auf eine zwischen Werther und den Philistern gleichermaßen ausgespielte Ver­feh­lung der männlichen Mitte.

Von Werther zu Humboldt Der noch vor Werthers (Liebes‑)Freuden und Leiden auftauchende »Junge« kommt eben erst von den »Akademien« und ist bereits ein Philister: Er ist »fleißig«, hat »hüb­ sche Kenntnisse« und »kramte viel Wissens aus« (S.  16). Der Gegen-Philister Wer­ ther re­a­giert angemessen: »Ich ließ das gut seyn« (S. 16). Werther besitzt bereits zu viel ›Genie‹, um mit ›Kenntnissen‹ und ›Wissen‹ nicht jenen ›ausgetrockneten‹ Zustand zu verbinden, der ihm bald in der Gestalt Alberts begegnen wird. Akademi­sches Wis­sen aber kann zugleich – wie zuvor der »Anblik« der Weiblichkeit – Schutz bieten vor dem physiologischen ›Überfließen‹ der Sinne. Es ist Lotte, die am Ende wieder 35 »Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn.  Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit sei­ nen Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird Philister so gut wie die anderen auch« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, 2 Bände, Berlin / Weimar: Aufbau 1984, Bd. 1, S. 567 f.). 36 Vgl. etwa (in direkter Anknüpfung an die romantische Kritik eines Novalis und Friedrich Schle­ gel an Goethes Wilhelm Meister): Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.

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auf die »Wissenschaft« zu sprechen kommt, um an die mögliche Rückbildung männlicher Extreme zu erinnern. Sie versucht Werther zu »mässigen«, indem sie ihn auf das therapeutische Potenzial von »Kenntnissen« und »Wissen« hinweist: »Ihr Geist, Ihre Wissenschaft, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für mannigfaltige Ergözzungen dar! seyn Sie ein Mann, wenden Sie diese traurige Anhänglichkeit von einem Geschöpfe, das nichts thun kann als Sie bedauren« (S. 123). Im einen Fall ist der Student zu früh Philister geworden und gewissermaßen an das eine Extrem verloren; im anderen Fall verliert er die wohltemperierte Mitte der Männlichkeit auf entgegengesetztem Weg. Neben der »Anhänglichkeit« an Familie und Weiblichkeit kommt hier allerdings eine andere Instanz ins Spiel, auf die gefährdete Männer programmiert werden könnten, und was liegt demzufolge näher, als das Studium und die Akademien in eine Institution zu verwandeln, in der das richtige Mischungsverhältnis zwischen Genie und Philister programmatisch hergestellt werden kann? Genau dies ist der Zweck der Humboldt’schen Universitätsreform, und von ihren Theoretikern wird das neue Bildungsideal exakt vor diesem doppelten Hintergrund des Philisters und des Genies entworfen: im Blick auf die akademische ›Brauchbarkeit‹ und Funktionalität einerseits, die sensualistische Öffnung des ›Herzens‹ andererseits. Die von Johann Jakob Engel, Friedrich August Wolf, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt um 1800 verkündete Idee der Universität37 verknüpft das moderne (Wissens‑)System der Effizienz mit dem Anspruch auf die Kunst und die Originalität des wissenschaftlich produktiven Menschen. Die Universität wird zu einem Ort, wo – wie Wilhelm von Humboldt 1793 es in einer Skizze zur »Theorie der Bildung des Menschen« entworfen hatte – sich »die blosse Gelehrsamkeit in eine gelehrte Bildung« und »das bloss unruhige Streben in eine weise Thätigkeit«38 verwandeln sollen. Die universitären Programmschriften von Fichte, Schleiermacher und von Hum­ boldt übertragen den in Goethes Roman explizierten Konflikt zwischen ›Genie‹ und ›Philister‹ in ein darauf abgestimmtes pädagogisches Programm. Goethes Werther befindet sich – bildungsgeschichtlich gesehen – selbst an einem entscheidenden Wendepunkt. Das »Akademikerpersonal«39 des Romans – allen voran der Griechisch le­sen­de Wer­ther – rebelliert aus dem eigenen gelehrten Stand heraus gegen die Standes­pri­vi­le­ gien; sie setzen der oberflächlichen Aneignung von ›antiquarischem‹ und ›nützlichem‹ 

37 Vgl. hierzu etwa die ausführliche Textsammlung: Gelegentliche Gedanken über Universitäten von J. J. Engel, J. B. Erhard, F. A. Wolf, J. G. Fichte, F. D. E. Schleiermacher, K. F. Savigny, W. v. Humboldt, G. F. W. Hegel, hrsg. von Ernst Müller, Leipzig: Reclam 1990. 38 So Wilhelm von Humboldt, »Theorie der Bildung des Menschen«, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1: Erste Abteilung: Werke I, Berlin: Behr 1903, S. 282 –287, hier S. 285. 39 Heinrich Bosse, »Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 32 (2008), S. 13 –37, hier S. 33.

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Wissen die inneren ›Quellen‹ des eigenen Selbst entgegen40 und favorisieren ›Genie‹ gegenüber ›Verdienst‹.41 Die wie Schleiermacher und von Humboldt in und nach der Genie-Epoche sozialisierten neuen ›Gelehrten‹ und Bildungstheoretiker  – WertherLeser allesamt42 – verwandeln die Universität in einen institutionell begrenzten Raum, in dem das ›Genie‹ Gelegenheit erhält, sich zu entfalten und gleichzeitig die Ex­tre­me auszubalancieren, in dem es ferner gelingt, die im Werther zunächst eher abfäl­lig prä­ sentierten ›hübschen Kenntnisse‹ und ›ausgekramten‹ Wissensbestände aus dem ›Her­ zen‹ und dem ›Selbst‹ heraus zu entwickeln und zu steuern – mit einem Wort: sich zu bilden. Statt der Nützlichkeit einzelner Wissensbereiche etabliert sich die Phi­lo­so­ phie als neue Leitdisziplin der Fakultäten; statt um ›Sammeln‹ und Wissensanhäufung geht es um die programmatische Transformation des eigenen Selbst. Das Studium soll den jungen Männern die Freiräume einer nicht-ständischen, ›ungebundenen‹ und ›unbestimmten‹ Existenz öffnen und sie vor der Spezialisierung, den Funktions­berei­chen, den Berufs- und Amtsgeschäften – kurz: vor dem ›Austrocknen‹ – bewahren. Die Universität bietet dem durch die moderne (Verwaltungs‑)Welt entstandenen Fach­mann eine neue Ausbildungsstätte; gleichzeitig soll ihm durch Bildung eine neue, künst­le­ risch und wissenschaftlich inspirierte Kreativität zuwachsen. Der »Staat« – so Schelling in seinen Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums (1802) – habe »Trennungen nötig«, nicht mehr die »Ungleichheit der Stände«, sondern »die weit mehr innerliche durch das Isolieren und Entgegensetzen des einzelnen Talents, die Unterdrückung so vieler Individualitäten, die Richtung der Kräfte nach so ganz ver­schie­denen Seiten, um sie zu desto tauglicheren Instrumenten für ihn selbst zu machen«.43 Zu diesen Erfordernissen einer arbeitsteilig funktionierenden Gesellschaft lie­fern die dafür zuständigen Universitäten in Form der philosophischen Wissen­schaf­ ten zugleich das notwendige Gegengift. Die akademischen »Regeln« lassen sich auf eine einzige reduzieren – »Lerne nur, um selbst zu schaffen«44 –, und die von Stu­den­ten zu lernende freie Selbsttätigkeit bewahrt vor den Zumutungen der Moderne: »durch

40 Charles Taylor, Die Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 (dort explizit zu Goethes Werther als einem neuen »Archetyp« des ›empfindsamen‹ Innenlebens: S. 524 f.). 41 Zum bildungsgeschichtlichen Kontext vgl. etwa Anthony J. La Vopa, Grace, Talent, and Merit. Poor students, clerical careers, and professional ideology in eighteenth century Germany, Cambridge, UK: Cambridge UP 1988, S. 249 –263. 42 »Wir frevelten wol […], aber es waren nur Wieland’s Gedichte und Göthe’s Werther, wonach wir lüstern waren« – so Friedrich Schleiermacher in seiner Selbstbiographie über seinen Aufenthalt im Seminarium in Barby / Elbe 1785   /   86 (zit. n. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002, S. 28). 43 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Stu­diums, hrsg. von Walter E. Ehrhardt, Hamburg: Meiner 1990, S. 30. 44 Schelling, Vorlesungen (Anm. 43), S. 35.

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dieses göttliche Vermögen der Produktion ist man wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine«.45 Wie hier bei Schelling folgen die meisten ›neuhumanistischen‹ Verlautbarungen zur Universität der zentralen Semantik des in den Leiden des jungen Werthers dar­ ge­stell­ten Konflikts zwischen dem Genie und dem Philister. Statt der phi­lis­trö­sen ›Maschinen‹ und ›Marionetten‹ wird das neu zu erwerbende Wissen nunmehr je­ nen inneren ingeniösen ›Kräften‹ der Seele anvertraut, die vor allem – so wiederum Schelling  – »in der früheren Jugend […] und nach unseren Einrichtungen im Anfang des akademischen Studiums« wirksam sind: »Von wem soll er diese Er­kennt­nis er­langen, und wem soll er sich in dieser Rücksicht vertrauen? Am meisten sich selbst und dem bessern Genius, der sicher leitet«.46 Das zu Beginn von Goethes Roman so programmatisch exkludierte Individuum – »wie froh bin ich, dass ich weg bin!« – erhält in Schleiermachers »Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn« (1808) einen Platz, an dem er als Student jeder ihn umgebenden und bedrängenden Gesellschaft explizit enthoben ist: »eine Periode, in welcher sie [die Studenten] sich frei fühlen von solchem Zwang, in welcher jeder, eine große Mannigfaltigkeit vor sich habend, seine eigenen Sitten sich frei bildet«.47 Diese ›freie‹ Bildung bezieht sich nicht allein und nicht vorrangig auf die Wissenschaft, sondern auf das Selbstverhältnis und die innere ›Fülle des Herzens‹, auf jene nicht zu beschränkenden, ungebundenen und freien ›Sinne‹, an denen Werther noch haltlos zugrunde geht. Der von den Akademien kommende Student in Goethes Werther wird als ein neu­er Typus des homo academicus entworfen: Statt eines ›fleißigen‹ Philisters, der Wissen ›auskramt‹, wäre er nun einer, der Wissen aus sich heraus produziert und die »Bil­dung sei­nes Selbst«48 betreibt – durch »inneres Streben«,49 mit »Lebendigkeit und Be­geis­ te­rung«,50 »in der Temperatur einer völligen Freiheit des Geistes«,51 im »Geist« ei­ner Wis­sen­schaft, die »verschiedene Erscheinungsformen des sich in ewig neuen Gestalten ver­jüngenden und wiedergebärenden Genius«52 repräsentiert.

45 Schelling, Vorlesungen (Anm. 43), S. 35. 46 Schelling, Vorlesungen (Anm. 43), S. 8. 47 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deut­ schem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende«, in: Gelegentliche Gedanken über Uni­ver­sitäten (Anm. 37), S. 159 –258, hier S. 226. 48 Johann Gottlieb Fichte, »Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe«, in: Gelegentliche Gedanken über Universitäten (Anm. 37), S. 59 –158, hier S. 118. 49 Wilhelm von Humboldt, »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«, in: Gelegentliche Gedanken über Universitäten (Anm. 37), S. 273 –283, hier S. 274. 50 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 193. 51 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 218. 52 Schelling, Vorlesungen (Anm. 43), S. 35.

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Nicht zufällig wird die Semantik des Genies, des Original-Künstlers und des sich selbst die eigenen Regeln gebenden Individuums53 auf die Idealform des Studenten übertragen: Die Studenten »haben in sich, was sie treibt, so viel zu tun, als sie können, und sie müssen sich selbst ihr Gesetz sein.«54 Der »letzte Zweck unsrer Anstalt« – so Fichte in seinem »Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt«, den er einem Brief an den Geheimen Kabinettsrat Karl Friedrich von Beyme am 29. September 1807 beigelegt hat – sei »keineswegs die Mitteilung eines Wissens, sondern die Entwicklung einer Kunst«;55 an der solcherart konzipierten Univer­si­tät entstünden »Künstler im Lernen«.56 Schelling stellt die neben der Philosophie rangie­ rende »Philologie« ausdrücklich auf eine Stufe mit der Kunst: »da jene ebenso sehr Kunst ist wie die Poesie, und der Philologe nicht minder als der Dichter geboren wird«.57 Damit wird ebenso programmatisch das an Homer (wie an Klopstock und Ossian) gebildete Künstler-Genie für das Studium des Altertums vereinnahmt und vorbereitet, ›veredelt‹ und gleichzeitig im übertragenen und wörtlichen Sinn dis­zi­pli­ niert: »[…] darum setzen wir voraus, jeder müsse am besten wissen, wie viel von die­ sen Anregungen er vertragen und sich aneignen könne; darum wollen wir gern Raum lassen allem, was jedem von innen kommt, als den ersten Spuren und Andeutungen dessen, was wir zu erreichen streben«.58 Die im wissenschaftlichen Bildungs­ge­dan­ken implizierte Umstellung von Fremd- auf Selbststeuerung verschafft dem ›Genie‹ eine in­stitutionalisierte Form; als Form der Selbstdisziplinierung markiert die Universität genau jene ›höhere Anstalt‹, die das Genie ordnungsgemäß lernen und den Philister genuine Kunst treiben lässt.59

53 Zu dieser Semantik vgl. ausführlich Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 –1945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, 2. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988 (dort explizit zum Werther  : S. 322 –336). 54 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 204. 55 Fichte, »Deduzierter Plan« (Anm. 48), S. 118. 56 Fichte, »Deduzierter Plan« (Anm. 48), S. 63. 57 Schelling, Vorlesungen (Anm. 43), S. 138. 58 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 119. 59 Vgl. Clark, Academic Charisma (Anm. 16), S. 169 –172 (»The Seminar as Disciplinary Site«), S. 172 –176 (»The Seminar as a Scholastic and Romantic Site«). Zur Funktion der Disziplinierung in der um 1800 entworfenen Theorie der Bildung vgl. die Skizze bei Suzanne Marchand, »Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung«, in: Thomas Mergel und Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München: Beck 1997, S. 323 –348.

Werther und die Philister

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Philistertum als Mnemotechnik: Die Universität Die Bildungsprogramme Fichtes, Schellings und Schleiermachers nehmen nicht nur die Emphase (und den Diskurs) der Empfindsamkeit in sich auf; Schleiermacher bezieht sich in seinen »Gelegentlichen Gedanken über Universitäten« zudem ausdrücklich auf die Begrifflichkeit von Philister, Genie und Student. In der Tatsache, dass »die Studenten alles Nichtstudentische in diesen einen großen Gegensatz als Philisterwesen zusammentreffen«, sieht Schleiermacher zunächst einen gänzlich neuen Sinn: Dieser herrschenden Stimmung liegt aber etwas sehr Wahres zum Grunde, nämlich der Gegensatz zwischen dem höchsten bildenden Prinzip, welches sie in sich zu entwickeln da sind, und der rohen, gemeinen, der Bildung widerstrebenden Masse, der sich ihnen desto stärker aufdrängt, je weniger sie selbst noch in dem lebendigen bildenden Verhältnis zu dieser Masse stehn.60 Mit dem Philister bezeichnet der solcherart neu instruierte Student nunmehr eine der Bildung entgegengesetzte Wesensform, die den vormals korporationsrechtlichen Stan­ des­unterschied zwischen dem Stadtbürgertum und den Studenten in ein ab­strak­tes kulturelles Gegensatzpaar übersetzt. Die Funktion dieses Gegensatzes besteht fortan in der beständigen Imagination eines »Prinzips«, dessen Kraft den gesell­schaft­lich zu­ vor isolierten (Bildungs‑)Zustand des Studenten auch in der späteren bürger­lichen Exis­tenz zu bewahren hilft: Man solle den Studenten diese im Begriff Phi­lis­ter zum Aus­druck kommende »Verachtung und Härte gegen die widerstrebende sittliche und geistige Roheit […] nur recht tief einprägen und es ihnen zum Ehrenpunkte machen, in dieser Hinsicht immer Studenten zu bleiben.«61 Das Philiströse wird zu einer Art Mnemo­technik (»recht tief einprägen«), um den ›genialischen‹ Zustand des Studenten auf Dauer zu stellen. Der Philister als »Prinzip« entspricht genau jener um 1800 litera­ risch etablierten, fiktiven und ›einprägsamen‹ Figur, deren Funktion nunmehr darin liegt, den Bildungsbürger gegen die philiströsen Effekte des poststudentischen Lebens zu immunisieren. Auf der anderen Seite beschreibt die Universität bei Schleiermacher auch einen Ort, an dem die idealtypischen Vertreter des Philisters und des Genies, die beiden in Goethes Werther dokumentierten (Männlichkeits‑)Zustände, sichtbar an­we­send sind und an dem sie sich begegnen. Die Universität bietet einen neu definierten Platz für das Potenzial des Wissenschaftlers als eines Künstlers und Originalgenies; zugleich entscheidet sich dort, bei wem und in welchem Maße diese Bildung gelingt, wer sich als Originalgenie oder als mehrheitlicher Proto-Philister zu erkennen gibt: »Ist doch auf jeder Universität bei weitem die größte die Anzahl der gar nicht genialischen oder 60 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 227. 61 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 227.

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sich eigentümlich und auszeichnend entwickelnden, aber doch treuen und fleißigen Jünglinge.«62 Die Universität im Sinne Schleiermachers entwirft auf diese Weise die innere biographische und die äußere räumliche Symbiose der in Goethes Werther so schmerz­ lich auseinandergezogenen Zustände. Der spätere Amtsinhaber soll sich stets an das ›Genie‹ des Studenten erinnern können, die Universität indes bietet Genies und Phi­lis­ tern glei­cher­maßen einen zeitlich begrenzten Aufenthaltsort. Die neu entstandene und pro­gram­ma­tisch vorgesehene akademische Freiheit dient der Entfaltung des ›Selbst‹ und der für die Wissenschaft unabdingbaren ›Unbegrenztheit‹; sie stellt zugleich eine mög­liche Gefahr für die weniger genialen Studenten dar, für deren Schicksal die Uni­ ver­si­tät nun allerdings Vorsorge trifft. »Wenn also Eltern und Pfleger Jünglinge zur Uni­ver­si­tät schicken, in denen sie den Genius vermissen«, so lassen diese sich trotz­dem durch die institutionelle Ordnung vor dem Schicksal der ›Unbestimmtheit‹ bewahren: In solchen Studenten ist »lebendig zu erhalten die Anhänglichkeit an das Haus, an den Staat, an den Beruf, den sie sich vorgesetzt haben, an alles, was Gesetz und Ordnung heißt«, und wenn dies erreicht ist, »so mögen sie nur dafür sorgen, sie hinzusenden aufs festeste gebunden durch alle diese schönen Bande. Die Universität kommt ihnen ja auf alle Weise zu Hilfe.«63 Und noch in einem dritten Punkt entspricht die neu interpretierte Universität dem Versuch, die in Goethes Roman vorgeführten Extreme in einem Bildungsprozess zu vermitteln: Die Universität wird einerseits zu einem neuen Ort der avancierten Schriftkultur (Forschen heißt seitdem Publizieren, Studieren heißt seit­dem ›Schreiben‹64), an­de­rer­seits jedoch zu einem Residuum der zumindest programmatisch freien und un­ ge­zwun­genen Interaktion unter Anwesenden: in der Form des Seminars und des Se­mi­ nar­gesprächs, als »fortlaufende Unterredung«, als »dialogische Form« und »wahrhafte Akademie, im Sinne der sokratischen Schule«.65 Die Humboldt’sche Universität erfindet demnach einen Ort für die äußere und in­ nere Begegnung von Philister und Genie, zwischen den von ›Vertrocknung‹ und von ›Überflutung‹ gleichermaßen bedrohten jungen Männern; sie garantiert einen be­grenz­ ten Zeitraum, der die Vermittlung beider Zustände langfristig sichert, Genies und Phi­ lis­tern die ihnen gemäßen Entfaltungsmöglichkeiten gewährt und gleichzeitig die ih­ nen immanenten Risiken und Extreme austariert. Die Leiden des jungen Werthers, in denen die Entgegensetzung von Philister und Genie zum ersten Mal programmatisch formuliert worden war, haben demnach zugleich auch die Richtung des spezifisch aka­ demischen Bildungsprogramms vorgegeben: Die im Roman auf beiden Seiten vor­ge­ 62 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 220. 63 Schleiermacher, »Gelegentliche Gedanken über Universitäten« (Anm. 47), S. 220. 64 Otto Kruse, »Zur Geschichte des wissenschaftlichen Schreibens«, in: Das Hochschulwesen. Forum für Hochschulforschung, -praxis und -politik 53 (2005), S. 170 –174 (Teil I), S. 214 –218 (Teil II). 65 Fichte, »Deduzierter Plan« (Anm. 48), S. 65.

Werther und die Philister

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führte Katastrophe – die des Philisters und die des Genies – verlangt nach einem Bil­ dungs­programm, in dem die sich gegenseitig durchaus schätzenden Helden Albert und Werther zu Bildungsanwärtern des 19. Jahrhunderts gleichsam jeweils herauf und he­rab gestimmt werden.66 Während die romantische Literatur – mit Friedrich Schle­ gels Lucinde – die ›Lehrjahre der Männlichkeit‹ in schneidendem Gegensatz zum stra­ pa­zier­ten Philister-Topos imaginiert und zu diesem Zweck be­zeich­nen­der­weise die ›roman­tische Liebe‹ auf Dauer zu stellen versucht, soll in der Humboldt’schen Universität bereits eine Art Doppelfiguration herangebildet werden: das Genie und der Philister in Personalunion, der deutsche Student und der deutsche Professor, fleißig und original, gelehrt und schöpferisch zugleich. Kurz: Man soll sich einen er­folg­ reichen, überlebensfähigen Werther nicht als Bürger und Philister, sondern als Stu­den­ ten vorstellen. In dieser idealen Form hat die Universität wohl nie existiert.67 Als bil­ dungs­philosophische Norm freilich ist sie nicht zu unterschätzen. Die Mnemotechnik scheint erfolgreich gewesen zu sein: Im 19. und 20. Jahrhundert lebt der ›Philister‹ hauptsächlich in der Personifizierung und in der Erinnerungskultur ›alter Herren‹, die mit burschenschaftlichen Liedern und den Reliquien studentischen Brauch­tums den Gegensatz zu sich selbst beschwören. Als literarischer Topos und als bildungspoli­ tischer Begriff hingegen scheint die Kennzeichnung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – trotz Friedrich Nietzsches Invektiven gegen den ›Philister‹ als ›Bildungsbürger‹  – allmählich verschwunden zu sein  – vielleicht auch deshalb, weil sich die Dif­fe­renz zwischen Philister und Student gewissermaßen rückzubilden begann und die in Goethes Werther exemplarisch übertriebenen Existenz- und Wissensaneignungs­ ent­würfe nunmehr fast zwanglos in einer einzigen, ›versachlichten‹ Institution inter­ agie­ren konnten. Das Genie freilich schien in der Universität nicht gerade heimisch ge­worden zu sein. An die Stelle des Humboldt’schen Ideals eines in erster Linie philosophisch gebildeten Universalgenies traten im 19. Jahrhundert der ›Fach­wissen­ schaftler‹ und die spezialisierten Disziplinen.68 Und die Rolle des nicht disziplinier66 Nicht ohne Grund haben die germanistischen Interpreten bei Werther das Defizit einer man­ geln­den Bildung oder eines verfehlten Künstlertums diagnostiziert und gewissermaßen angemahnt: Christian Wagenknecht sprach 1977 von der »Gefahr des Begabten« (»Werthers Leiden. Der Roman als Krankheitsgeschichte«, in: Text & Kontext 5 [1977], Heft 2, S. 3 –14, hier S. 11); Hans Rudolf Vaget 1985 von der »Gefahr einer versagenden Kreativität« (»Die Leiden des jungen Werthers [1774]«, in: Paul Michael Lützeler und James E. Mc Loed [Hrsg.], Goethes Erzählwerk. Interpretationen, Stuttgart: Reclam 1985, S. 37–70, hier S. 67). 67 Mitchell G. Ash (Hrsg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft deutscher Universitäten, Wien u. a.: Böhlau 1999; Sylvia Palatschek, »Verbreitete sich ein ›Humboldtsches Modell‹ an den deut­schen Universitäten im 19. Jahrhundert?«, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel: Schwabe & Co. 2001, S. 75 –104. 68 Vgl. etwa Rüdiger vom Bruch, »Vom Humboldt-Modell zum Harnack-Plan. Forschung, Dis­ zi­pli­nierung und Gesellung an der Berliner Universität im 19. Jahrhundert«, in: Jahrbuch des Histo­ rischen Kollegs 2007, S. 189 –214.

214 baren Genies übernahm wenig später der ›verbummelte Student‹: ein wiederum hochliterarischer Ty­pus, der die Humboldt’sche Utopie des selbst schaffenden Genius in genau dem Maße repräsentierte, wie die moderne Universität von ihrer Gründungsemphase abzuweichen begann.69 Das heute viel beschworene Ende der Humboldt’schen Universität scheint die in den Leiden des jungen Werthers durchgespielte Differenz von ›Philister‹ und ›Genie‹ – und damit auch eine Art Gründungsszene dieser Universität  – endgültig vergessen zu machen. ›Wissensvermittlung‹, ›Lernfabrik‹, ›Verschulung‹, ›Effizienz‹, ›Fach­hoch­ schule‹ – all die im Zusammenhang mit dem Bachelor-Studium gebrauchten Cha­rak­te­ ris­tika der ›neuen‹ Universität scheinen den B.A.-Studierenden wieder in jenen von den Akademien kommenden ›offenen Jungen‹ zurückzuverwandeln – mit »Kenntnissen« und »Wissen«, aber ohne (Selbst‑)Bildung und ohne sich selbst entwickelnden wissenschaftlichen Genius. Erscheint Werther rückwirkend in der Rolle eines Studenten, so kommt auch diese Wirkungsgeschichte derzeit vielleicht an ihr Ende. Der männ­liche und weibliche Bachelor-Studierende würde sich zumindest im Kontext der ›unterneh­ merischen‹ Universität70 nicht in Werther, sondern eher in Albert (wieder‑)­er­kennen: voller »Ordnung und Emsigkeit in Geschäften« (S. 56). Andererseits möchte derzeit kein Quality Management an deutschen Hochschulen auf den ›genialischen‹ wis­sen­ schaft­lichen Kopf verzichten – ein Widerspruch, der heute wohl neuen Anlass gibt zu einer einst im Gefolge der Leiden des jungen Werthers akut gewordenen Frage: Was ist eine Universität?71

69 Vgl. Walter Erhart, »Verbummelte Studenten. Literarische Beiträge zur Bildungskatastrophe«, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein und Franziska Schößler (Hrsg.), Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal, Heidelberg: Synchron 2008, S. 47–66. 70 Vgl. dazu Michael Huber, »Die Zukunft der Universität«, in: Soziologie 37 (2008), S. 275 –291, hier S. 285 f. 71 Ulrike Haß und Nikolaus Müller-Schöll (Hrsg.), Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution, Bielefeld: transcript 2009.

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Der Philister als komische Figur Die Leiden und Freuden des Friedrich Nicolai

Sichtet man Literatur zu Friedrich Nicolai, dann begegnet einem oft genug eine bissige und bornierte, altmodisch steife, bis zur Lächerlichkeit rechthaberisch eifrige Figur, die entweder gegen sich selbst in Schutz genommen werden oder als ignoranter Gegner der Stürmer und Dränger, der Klassik oder der Romantik herhalten muss.1 So weist Günter de Bruyn Nicolai als ein »Opfer der Vernunft« aus, welches an seiner Zopfmode beharrlich festhielt, auch wenn keiner mehr mit gefettetem und bemehltem Haar herumlief.2 Bis heute und bis in die Kommentare hinein ist Nicolai mit li­te­ ra­ri­schen Figuren wie dem ›Polykomikos‹ und dem ›Nestor‹ aus Tiecks Zerbino, dem ›Neugierig Reisenden‹ oder dem ›Proktophantasmisten‹ aus Goethes Faust ver­bunden. In der literaturwissenschaftlichen Abwertung macht Erich Schmidt den Anfang: Nico­ lais Schicksal sei es gewesen, »viel zu lange« gelebt zu haben.3 Dass er ein Anachro­ nismus gewesen sei, sollte zum Topos der Beschreibung des Verlegers, Schriftstellers, Buch­händlers und Geschichtsschreibers Friedrich Nicolai werden; immer wieder ist zu lesen, er habe seine Zeit überlebt.4 1 Die jüngste Forschung ist davon auszunehmen, siehe den Band von Rainer Falk und Alexander Košenina (Hrsg.), Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung, Hannover: Wehrhahn 2008. Al­ler­ dings ist hier der von der Forschung nicht geschätzte Nicolai noch präsent; insbesondere im Aufsatz von Horst Möller, »Wie aufgeklärt war die Aufklärungsforschung? Friedrich Nicolai aus historiogra­ phischer Perspektive«, S. 7–27. 2 Günter de Bruyn, »Ein Opfer der Vernunft«, in: Christoph Friedrich Nicolai, Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S. Ein Roman. Werther-Parodien, zeitgenössische Rezensionen und Schmähungen, hrsg. und mit einem Nachwort von G. d. B., Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1983, S. 249 –279, hier S. 253 f. 3 Erich Schmidt, »Lessing«, in: Lessing. Geschichte seines Lebens, hrsg. von E. S., Bd. 1, Berlin: Weid­mann 1884, S. 301 f. 4 So schreibt beispielsweise Dominique Bourel in seiner achthundert Seiten umfassenden Men­ dels­sohn-Biographie, Nicolai sei ein »verbissener Verteidiger der Aufklärung« gewesen, ja mehr noch, er »verkörpert die alternde Spätaufklärung« (Dominique Bourel, Moses Mendelssohn. Begründer des

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Es wird mir im Folgenden nicht darum gehen, gegen diese Urteile die Leistun­gen des historischen Friedrich Nicolai zu würdigen oder ihn gar zu rehabilitieren, auch wenn die Versuchung groß ist, sich an einer solchen Polarisierung5 zu beteiligen. Es geht mir bei ›Nicolai‹ als ›Philister‹ vielmehr um die invektivische und komische Anlage der Figur. Die antike rhetorische Gattung der Invektive ist – wie Severin Koster sie fasst – nicht so sehr als Form denn als Redeabsicht definiert, »eine namentlich genannte oder benennbare Person für sich allein oder auch stellvertretend für andere« mit allen geeigneten Mitteln »öffentlich […] im Bewußtsein der Menschen für im­ mer ver­nichtend herabzusetzen«.6 ›Nicolai‹ habe ich als exemplarischen Adressaten der In­vek­tive ›Philister‹ deshalb ausgewählt, weil er erstens als solcher adressiert worden ist, weil er zweitens die Invektive angenommen, aufgenommen und um­ge­schrie­ben hat und weil er drittens als Übergangsfigur fungiert, als eine, die sich in den Dis­kur­ sen der Zeit vom anerkannten Aufklärer an der Seite Gotthold Ephraim Lessings und Moses Mendelssohns zur burlesken Figur eines »Steiß-Geistersehers«7 (so de Bruyns Über­setzung des Proktophantasmisten) verwandelte. Der Figur des Philisters kommt dabei – so meine These – eine zentrale Funktion zu: Sie fungiert als Einsatz, als token, mit dem die Inszenierung eines Literaturstreits als Generationenkonflikt möglich wird. Die ›Stürmer und Dränger‹ respektive ›Originalgenies‹ leiten mit dem Phi­lis­ter als Fi­ gur die Absetzung der väterlichen Freunde (und Väter) der Aufklärung ein; ihre dy­na­ mi­sierte Neu- und Selbstsetzung führt damit die Ablösung von Generationen in die Literaturgeschichte ein. Nicolai wird dabei zum Typus des Philisters schlechthin befördert und kann so als überalterter, geschlechtsloser Widerpart einer sich selbst als jugendlich-männlich inszenierenden Dichtergeneration8 fungieren. Dem widerspricht modernen Judentums, übers. von Horst Brühmann, Zürich: Ammann 2007, S. 88). Aber auch Wolf­ gang Albrecht, der sich Friedrich Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern annimmt und eigentlich nicht Position beziehen will, schreibt Nicolai Erstarrung und Recht­ha­berei zu (Wolfgang Albrecht, Das Angenehme und das Nützliche. Fallstudien zur literarischen Spät­auf­klä­rung in Deutschland, Tübingen: Niemeyer 1997, darin besonders das Kapitel »Berliner Spätaufklärung offensiv. Friedrich Nicolais Kontroverse mit den Klassikern und Frühromantikern (1796 –1802)«, S. 233 –297, hier S. 243, 255 u. ö.). Zur historiographischen Wahrnehmung siehe grundsätzlich: Möller, »Wie aufgeklärt war die Aufklärungsforschung?« (Anm. 1). 5 Gegen Nicolai als Anachronismus schrieben beispielsweise schon früh an: Martin Sommerfeld, Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Aufklärung. Mit einem Anhang. Briefe aus Nicolais Nachlass, Halle an der Saale: Niemeyer 1921; Gustav Sichelschmidt, Friedrich Nicolai. Geschichte seines Lebens, Herford: Nicolaische Verlagsbuchhandlung KG 1971 (mit deutlichem Hang zur Gegenheroisierung) und Horst Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin: Colloquium 1974. 6 Severin Koster, Die Invektive in der griechischen und römischen Literatur, Meisenheim am Glan: Hain 1980, S. 354, aber auch S. 39 u. ö. 7 De Bruyn, »Ein Opfer der Vernunft« (Anm. 2), S. 273. 8 Wie sich im Folgenden auch zeigen wird, erweist sich diese Konstruktion der Stürmer und Drän­ger, der Frühromantiker und Klassiker als derart wirksam, dass dieser Blickwinkel bis heute in der Forschung insistiert, auch wenn schon in den 1920er Jahren eine Revision dieses Bildes ver-

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zunächst, dass Nicolai zu Beginn seiner Karriere als Philister – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – geradezu sündhaft attraktiv war.

Der Philister als Groteske: ›Friedrich Nicolai‹ aus der Sicht von Jung Stilling Als Anfang vom Ende des von den Zeitgenossen hoch geschätzten Aufklärers Nicolai und als Beginn seiner Karriere als Philister kann dessen Roman Das Leben und die Mei­nungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker betrachtet werden – oder genauer: Jung Stillings Antwort auf die ersten beiden Bände dieses Romans im Jahr 1775. Diese Antwort ist konzipiert als »Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohn­spre­chen­ den Philister, den Verfasser des Sebaldus Nothanker«. Damit schlägt Jung Nicolai in Personalunion mit Sebaldus Nothanker den Philistern zu. Er selbst versetzt sich in die Rolle des David; die Schrift soll als Wurfgeschoß fungieren, das Goliath, den hohnsprechenden Philister, vernichten sollte.9 Der Anspruch Jungs, gegen Nicolai  – in aller Gewalttätigkeit – vorzugehen, wird so unmittelbar deutlich. Jung stellt Nicolai schließ­lich gar vor das Jüngste Gericht: Gott tritt persönlich auf, um Nicolai zu verdammen. Die Verurteilung folgt Lukas 6,15: »Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen«. Was aber zeichnet jenen Hohn aus, mit dem der als philiströs gezeichnete Nicolai angeblich der Welt entgegentritt? Was sind seine Eigenschaften? Schließt man, wie Jung, von Sebaldus auf Nicolai, dann fällt zunächst die ironische Konzeption dieser Pfarrersfigur auf; ihre Darstellung orientiert sich an Sternes Tristram Shandy – auch Sebaldus hat ein hobby horse, die Apokalypseforschung. Die Figur wird im Verlauf des Romans gezielt in kommunikative Situationen versetzt, in denen sie sich als Vertreter des populartheologischen Diskurses der Zeit zu erkennen geben kann. Dieser Diskurs betreibt die Anpassung der christlich-protestantischen an die aufklärerische Denktradition. Der Roman partizipiert somit selbst an diesen Diskursen und gibt sie zugleich als Literatur über eine Vielzahl von Sprecherpositionen dem Leser zur Be-

sucht worden ist (vgl. Anm. 5); siehe auch Klaus L. Berghahn, »Maßlose Kritik. Friedrich Nicolai als Kritiker und Opfer der Weimarer Klassiker«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 8 (1987), S. 50 – 60, hier S. 51. 9 Interessanterweise wird hier auf den Kampf Davids gegen den Philister Goliath und nicht auf die Geschichte Simsons Bezug genommen: Simson bringt die hohnsprechenden Philister zum Schwei­ gen, indem er (unter Einsatz seines Lebens) das Gebäude zum Einsturz bringt, in dem sie sich versammelt haben, um sich an seinem Leid zu ergötzen. Die Simson-Geschichte könnte auf den Ein­ sturz des argumentativen Gerüsts von Nicolais Roman bezogen werden, die Geschichte Davids rich­tet sich jedoch direkt gegen Goliath, das heißt gegen den Verfasser Nicolai.

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obachtung frei.10 Dem Lächerlichen schreibt Nicolai dabei eine einzigartige Funktion zu, folgt man seiner ›Reisebeschreibung‹ aus dem Jahr 1781: Nicht als ob ich glaubte daß das Lächerliche der Probierstein der Wahrheit wäre, wie Shaftesbury mit einigen obgleich nicht ganz treffenden […] Grün­ den darthun wollte. Aber das Lächerliche möchte wohl ein sicherer Probierstein solcher Thorheiten seyn welche gegen Wahrheiten anstoßen, die der ge­sun­de Menschenverstand unwidersprechlich erkennt, sobald sie vor ihn gebracht werden; und so kann das Lächerliche, mit gesundem Verstande und Wohl­wol­len angewendet, einen Nutzen schaffen, der durch die subtilsten Ver­nunft­schlüsse, selbst aus reinen Vernunftwahrheiten gezogen, nicht zu er­ lan­gen ist. Daher finden auch gewisse kitzliche Leute, welche Erörterungen und Widerlegungen, sonderlich wenn sie etwas lang sind, allenfalls noch er­ tra­gen, den Spott ganz unerträglich, so daß sie ihn mit einem Scheiterhaufen ver­gleichen!11 Wo also selbst ›subtilste Vernunftschlüsse‹ und ›reine Vernunftwahrheiten‹ versagen, be­kommt das Lächerliche »beinahe Offenbarungscharakter«: »Wenn Torheit zum Impuls der Wahrheitsfindung und zum Erkenntnismedium wird, handelt es sich um eine ›Offenbarung des Lächerlichen‹.«12 Dass diese Offenbarung als vernichtend emp­ fun­den werden kann, deutet auf eine Verbindung von Komik und Aggression, von Lächer­lichem und Invektive. Dass nun in Nicolais Roman insbesondere die Figur des Pietisten über diesen ›Pro­ bier­stein‹ stolpert, traf Jung Stilling ungemein; die Preisgabe zentraler Glaubens­in­halte zur Beobachtung (und zum Gelächter) erschien ihm unerträglich. Jung sucht dem­ent­ sprechend die Komik der Nicolai’schen Darstellung zurückzunehmen. So fragt zum Bei­spiel Sebaldus in Nicolais Roman den Pietisten: »Sind Sie denn also ein Wiedergebohrner?« »Ja, antwortete er, mit sehr sanfter Stimme: das bin ich durch Gottes Gnade. Vor drey Jahren den 11ten September, Nachmittags um 5. Uhr, hatte ich zu10 Siehe dazu auch das Kapitel zu Nicolais Sebaldus in Phöbe Annabel Häcker, Geistliche Gestalten – gestaltete Geistliche. Zur literarischen Funktionalisierung einer religiösen Sprecherposition im Kontext der Neologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 187–228. Neologie definiert Häcker als »trans­formierende Anpassungsleistung der christlich-protestantischen an die aufklärerische Denktradition« (S. 28). 11 Friedrich Nicolai, »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. 11. und 12. Band«, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Bernhard Fabian und Marie-Luise Spieckermann, Bd. 20, Hildesheim u. a.: Olms 1994, S. XXXIX. 12 Häcker, Geistliche Gestalten (Anm. 10), S. 199. Siehe auch Albrecht, »Berliner Spätaufklärung offensiv« (Anm. 4), S. 240.

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erst das selige innere Gefühl der Gnade, die bey mir zum Durchbruch kam, seitdem habe ich an der Gnade beständig gehangen, bin nie der Gnade satt worden.« »Also glauben sie doch gewiß ewig selig zu werden?« »Ach ja! dessen bin ich gewiß: Denn ich will stets ein Bienelein  Auf des Lammes Wunden seyn  Und fahren so in’n Himmel nein.«13 Hier gewinnt der Sebaldus seine Komik aus dem Zusammenschluss von Gotteser­fah­ rung und profaner Buchhaltung. Dem hält Jung entgegen: Sebald fragt den Pietisten, ob er ein Wiedergebohrner sey? – Ja! antwortete dieser, vor drei Jahren den 11ten September, Nachmittags um 5 Uhr u. s. w. Elende unerträgliche Spötterey über die Bekehrung! Konnte denn Paulus nicht die Stunde anzeigen, wann er bekehrt worden? Mir sind viele der­glei­ chen Exempel bekannt, unter andern ein Schreiner, den ich [als Arzt] in der Cur gehabt.14 Jung antwortet mit dem Verweis darauf, dass der penible und akribische Umgang mit Daten nicht die Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit der Bekehrung angreife. So gilt denn auch in seiner Schrift nicht das Erbsenzählen, sondern vor allem die Fä­hig­ keit zur Assimilation als philistrisch. Letztlich nämlich sei nicht der ›falsche Glaube‹ Nothankers zu verdammen, sondern dessen Standpunktlosigkeit, seine Wetterwendigkeit: »Wir müssen entweder Christen […] oder Deisten sein. Diejenigen, welche zwi­ schen beiden den Mantel nach dem Winde hängen, sind Nothankers«,15 ergo Philister. Die Offenheit der Position von Sebaldus ist der Stein des Anstoßes. Jung Stilling versucht in seinem Angriff nicht nur die Differenz wahr / falsch wieder einzuziehen, son­ dern er sucht das zurückzunehmen, was die satirische Anlage von Nicolais Roman leistet, nämlich religiöse Positionen, Theoreme und Praktiken unter der Maßgabe des Prüf­steins der Torheit im Rahmen der Vernunft beobachtbar zu machen. Gilt für die Philisterfigur um 1800, sie hielte sich für »kulturell identisch, ohne dem Vergleich

13 Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, Kritische Ausgabe, hrsg. von Bernd Witte, Stuttgart: Reclam 1991, S. 166. 14 Johann H. Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister, den Verfasser des Sebaldus Nothanker«, in: ders., Asketische Schriften. Den Eichenbagischen Erben, Frankfurt am Main: Eichenbagischer Verlag 1775, S. 35. 15 Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 67.

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mit Anderem je eine Chance zu geben«,16 so klagt hier umgekehrt Jung Stilling gegen den Philister Nicolai religiöse Identität in ihrem Absolutheitsanspruch des Glaubens wieder ein. Die Beobachterposition Nicolais gibt Jung Stilling in einem »Gleichniß«17 als He­ te­ro­doxie eines »Viel Köpfe, viel Sinne«18 zum Abschuss frei. Das Gleichnis beginnt mit der Abwesenheit eines Fürsten, der auf eine längere Reise gehen muss und des­we­gen »Statuten und Gesetze« verfasst, nach denen Aristokraten die verschiedenen Viertel sei­ner Stadt in Ordnung zu halten haben.19 Diese jedoch legen die Gesetze unter­ schied­lich aus. Die offene Diskussion derselben führt letzten Endes zur Infragestellung der mo­nar­chi­schen Herrschaft sowie zur Selbstermächtigung der Bürger. Dass sich die Aris­to­kra­tie währenddessen in drei Fraktionen aufspaltet, schwächt ihre Wirkmächtigkeit zusätzlich. Im politischen Kampf zwischen demokratischen, freidenkerischen und mo­nar­chi­schen Bestrebungen erscheint sie mehr und mehr unnötig.20 Den Tiefpunkt ihres Ansehens erreicht sie, als man des Morgens […] ein Bild auf dem Markt entdeckte. Es stund am höchsten Orte, so daß Klein und Groß es von weitem und nahem sehen konnte. Es war eine strohene Statue in riesenmäßiger Größe, in Satyrengestalt, mit Geis­ füßen, Bockshörner auf dem Kopf, und das Gesicht war von Pappier oder Pappendeckel so geformt, daß es mit den Augen nach einem nach der Seite hinstehenden aristokratischen Hause schielte, und sein Maul dabey zum Lachen verzerrt war. […] Unter seinen Geisfüßen lagen verschiedne sinnbildische Figuren, deren Namen aus dem fürstlichen Gesetzbuche genommen waren, also: Gnade, Wiedergeburt &. Auch sahe man da das Wappen des Fürsten in der Hand eines Aristokratiers, wie er dem Strohmanne unter den Füßen lag; doch war das Wappen so gekehrt, dass es konnte mit Koth beworfen werden. Unten am Fußgestelle stand mit großen Buchstaben: Sebald Nothanker, ein Aristokratier. Knaben und Männer, Jünglinge und Jungfrauen stunden zu Tausenden um dieß Bild, lachten aus vollem Halse, klatschten, und wo sie hernach einen Aristokratier fanden, da warfen sie Kot auf ihn.21 Aus der Perspektive dieses Gleichnisses führt die Diskussion von Glaubensinhalten und das Tolerieren unterschiedlicher Positionen zu einem allgemeinen Sittenverfall, der ausgerechnet jene überflüssig macht, die von Gott als Bewahrer seiner Ordnung bestimmt wurden. Jungs »Schleuder« macht dagegen die Vorstellung eines identitären 16 17 18 19 20 21

Siehe die Einleitung in diesem Band, S. 16. Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 91. Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 82. Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 91. Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 93 – 97. Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 95 f. (Hervorhebung im Original).

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Absolutheitsanspruchs stark: »Die Gesetze sind da, und in denselben stehts, der Fürst der Stadt sey der Erbprinz des Kaisers; dieser und unser Fürst haben eine und dieselbe Regierung; was einem geschähe, geschähe auch dem andern.«22 Effekt der Auflösung des Absolutismus ist eine Groteske, die mit allen Insignien der triebhaften männlichen Sexualität – Satyr, Geißfüße und Bockshörner – aus­ge­ stattet wird. Sebaldus Entstellung treibt im Sinne des Grotesken als Medium kul­tu­ reller Trans­formation23 zunächst (männliche) Sexualität hervor, die bei Jung als Urübel allen Seins fungiert: »Nun hat aber die Erfahrung von jeher gelehrt, daß der Mensch, wenn er seiner Sinnlichkeit und ihren Reizen folgt, nicht vollkommener, sondern immer unvollkommener werde.«24 Flugs wird Nicolais Autorschaft mit Sinnlichkeit verknüpft: Nicht einmal am Geld sei Nicolai beim Verfassen des Romans interessiert gewesen, sondern allein der »Kitzel sticht«.25 Fragt man bei Nicolais Sebaldus auf der thematischen Ebene nach dem erotischen Kitzel, dann wird dieser allerdings eher ex negativo inszeniert. Schon im frühen Ehestand von Sebaldus und Wilhelmine (die aus Thümmels gleichnamigen Prosagedicht in den Roman eingewandert ist) merkt man von »girrender Zärtlichkeit« wenig, vielmehr bringt das ungleiche Brautpaar diese erste Zeit »in einer Art Kälte und Verlegenheit zu«.26 Die von Jung Stilling attestierte sinnliche Qualität des Romans liegt also weniger im Erotischen als in seinem Witz, in der körperlichen Reaktion der Lesenden, im Lachen. Diesem verfallen dann auch prompt »unsere deutschen Jünglinge«, indem sie lachen und damit zugleich sündigen.27 Von einer mangelnden Verführungskraft des Philisters kann hier also nicht die Rede sein. Der Philister Jung Stillings erweist sich bei genauer Lektüre als Delila, die, von den Philistern geschickt, Simson den Kopf verdreht, um ihm das Geheimnis seiner Kraft zu rauben. Der groteske Sebaldus mit seinem Papiergesicht eröffnet schließlich ein poeto­lo­ gisches Konfliktfeld, denn er verweist auf die Frage nach der Identität von Autor und Protagonist. Sebaldus ist nicht Nicolai, genauso wenig wie mit dem Pietisten Jung Stilling gemeint war. Jung jedoch begriff die lächerliche Darstellung des Pietisten als Ge­ne­ral­angriff auf seine eigene Person, seine Existenz.28 Seine »Schleuder« ist Effekt der Beleidigung. Schon hier zeichnet sich ein unterschiedliches Literaturverständnis ab, eine Diskrepanz, die sich in der Werther-Umschrift Nicolais noch steigert: Nicolais Kritik steht an der Schwelle zur Moderne, zwischen rhetorischer Tradition und mo­ der­nis­ti­schem Originalitätsbestreben. Seine Literatur ist nicht am Selbstausdruck, an 22 Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 97. 23 Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln u. a.: Böhlau 2001, S. 38. 24 Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 7. 25 Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 20. 26 Nicolai, Sebaldus Nothanker (Anm. 13), S. 11. 27 Jung Stilling, »Schleuder eines Hirtenknaben« (Anm. 14), S. 12. 28 Rainer Vinke, Jung-Stilling und die Aufklärung. Die polemischen Schriften Johann Heinrich JungStillings gegen Friedrich Nicolai (1775  /  76), Stuttgart: Steiner 1987, S. 135 u. 160.

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psychologischer Wahrscheinlichkeit und der Sakralisierung des Textes interessiert, son­ dern an Redeabsichten orientiert. Auch ist er dem Horaz’schen delectare et prodesse ver­pflichtet. Noch heute wird das hieraus erwachsende satirische Prinzip Nicolais ver­ kannt und mit einer Literaturauffassung kritisiert, die psychologische Figuren­kon­ zep­tion, Realitätsnähe und dergleichen mehr als Maßstäbe an den Text anlegt. An der Forschung zu Jung Stilling lässt sich dies ablesen. So konstatiert etwa Vinke, dass Jung Stilling sich getroffen fühlte durch die Figur des Pietisten, bindet aber diese Tat­ sache zurück an die (instinktive) Richtigkeit der Bewertung des Romans: Jung habe »die Schwä­chen des Nothanker-Romans ganz richtig erkannt.«29 Um die Vertreter von Ortho­doxie und Pietismus lächerlich zu machen, konstruiere Nicolai »realitätsferne Hand­lungs­ab­läufe und gefühllose, kalt und geradlinig nach Prinzipien handelnde Per­ sonen«.30 Die groteske Entstellung von Sebaldus durch Jung Stilling thematisiert, dem Vorwurf der erotischen Kitzelei zunächst entgegengesetzt, Nicolais Verweigerung ge­gen­ über einem mimetischen, ›emotional durchwärmten‹ Literaturprinzip: Sebaldus ist nichts als totes Papier, unwirkliche Ungestalt, mit kaltem Kalkül konstruiert. Das Bild­nis von Sebaldus aber zielt auf Nicolai und identifiziert die Figur mit dem Autor. Der­gestalt kann Nicolai in die Riege der grotesk entstellten weiblichen Figuren eingereiht werden, welche seit dem Ende der Aufklärung marktorientierte Unterhaltungsliteratur und weibliche Gelehrsamkeit verkörpern; ihre Ungestalt verweist auf die Unmöglichkeit, Weiblichkeit und schriftliche Produktivität organisch, das heißt: genial zu verbinden.31 Beiden wird mangelnde Originalität und ein heteronomer Litera­tur­ anspruch vorgeworfen. In den weiteren Auseinandersetzungen mit Klassikern und Ro­man­tikern wird Nicolai demgemäß nicht müde, vor der sich abzeichnenden Dis­ sozi­ation von breitem Publikum und literarischer Produktion für kleine intellektuelle Zirkel zu warnen.32 Dass Schiller »die trockensten Terminologieen [!] der Kantschen Philosophien sogar in Gedichten braucht«,33 ist aus Nicolais Sicht nicht nur komisch, sondern auch fatal.

29 Vinke, Jung-Stilling (Anm. 28), S. 151. 30 Vinke, Jung-Stilling (Anm. 28), S. 151; sowie Häcker: Geistliche Gestalten (Anm. 10), S. 211  f., Anm. 207. 31 Diese Figuren sind besonders prominent in Gottfried Kellers Erzählungen, beispielsweise Kätter Ambach aus den Missbrauchten Liebesbriefen oder die wunderbare Züs Bünzli aus Die drei gerechten Kammacher. Zu denken wäre auch an die Dichterin Blà aus Heinrich Manns Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy. 32 Siehe Berghahn, »Maßlose Kritik« (Anm. 8), S. 54 f.; sowie – allerdings mit Nicolai-kritischer Stoßrichtung – Klaus F. Gille, »Die undialektische Aufklärung. Bemerkungen zu Friedrich Nicolais Vertrauten Briefen an Adelheid B**«, in: Weimarer Beiträge 36.5 (1990), S. 777–792. 33 So seine Kritik an den Horen: Friedrich Nicolai, »Anhang zu Schillers Musenalmanach für das Jahr 1797«, in: ders., Ein kleiner feiner Almanach (1777–1778). Anhang zu Friedrich Schillers MusenAlmanach (1797), Hildesheim u. a.: Olms 1994 (= Gesammelte Werke [Anm. 11], Bd. 4), S. 12.

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Letztlich erwies sich das Wurfgeschoss des selbsternannten David alias Jung Stilling als Bumerang: Die Schrift schadete Jung mehr als Nicolai. Jung Stilling fühlte sich gezwungen, zur Selbsterklärung und ‑berichtigung eine Panacee und eine Theodicee nachzureichen. Sein Angriff führte nicht zur Destabilisierung der heterodoxen Posi­ tion Nicolais, sondern im Gegenteil zu dessen Stärkung. Jung Stilling hingegen be­ för­der­te sich selbst in eine Verteidigungsposition. Dieser Rückschlageffekt verdankt sich der agonalen und invektivischen Konzeption der Philister-Figur. In Anlehnung an Wolfgang Iser kann man von einem strukturellen Kipp-Phänomen sprechen. Iser geht davon aus, dass Komik vorwiegend über Oppositionsverhältnisse definiert worden [ist]. Der Kontrast von Einbildung und Realität, die Kollision von Normen sowie deren Verletzung, das Nichtigmachen des Geltenden sowie die plötzlich erscheinende Geltung des Nichtigen oder die Nivellierung des Verschiedenwertigen, aber auch weitertragende Formeln wie das Hereinholen des Ausgegrenzten […] mö­gen paradigmatisch für die Vielfalt von Definitionen stehen, die das Phä­ no­men des Komischen aus dem Widerspruch abzuleiten versuchen.34 Aus dieser oppositionellen Anlage der Komik ergibt sich die Möglichkeit, dass sich »die im Komischen zusammengeschlossenen Positionen […] wechselseitig negieren, zumindest aber in Frage stellen […]: Jede Position lässt die andere kippen.«35 Iser weist somit auf die strukturelle Instabilität »komischer Verhältnisse« hin.36 Sie bewirkt, dass die negierte Position in ihr Gegenteil kippen kann, dass also »die gekippte Position nun etwas an der anderen zu sehen erlaubt, durch das die scheinbar triumphierende ebenfalls zum Kippen gebracht wird.«37 Auch in Isers Argumentation erweist sich die Komik als Waffe – wenn auch als zweischneidige. Nicolai schreibt der Literarizität seiner Texte mittels Komik eine einzigartige Erkenntnismöglichkeit zu. Sein Sebaldus ist zwar einerseits einem aufklärerischen Bil­ dungs­impuls verpflichtet, setzt aber andererseits Glaubensinhalte als Literatur frei. Jung Stillings Wurf hingegen scheitert am Prüfstein der Torheit, da er die Literarizität des Sebaldus ignoriert und die Freigabe der Religion zur Beobachtung wieder einziehen will. Beide, sowohl Nicolai als auch Jung Stilling, sind mit Blick auf die Moderne Umbruchfiguren. Jung Stilling steht – trotz oder gerade wegen aller Orthodoxie – für die moderne emotionale und identifikatorische Aneignung von Literatur, wie sie die vielen Werther-Leser mit und nach ihm vollzogen. Aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts 34 Wolfgang Iser, »Das Komische: Ein Kipp-Phänomen«, in: Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (Hrsg.), Das Komische, München: Fink 1976 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 7), S. 398 – 402, hier S. 398. 35 Iser, »Das Komische« (Anm. 34), S. 399. 36 Iser, »Das Komische« (Anm. 34), S. 399. 37 Iser, »Das Komische« (Anm. 34), S. 399 f.

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würde ihn allerdings sein Absolutheitsanspruch, seine Negation von Differenzen für diejenige Figur qualifizieren, die er mit seinem Angriff kreierte, für die des Philisters.

Nicolais Werther: Das Genie als komische Figur Den eigentlichen ›Probierstein der Torheit‹ bildete für Nicolai zweifellos seine Umschrift der Leiden des jungen Werthers in die »Freuden des jungen Werthers« mit anschließenden »Leiden und Freuden Werthers des Mannes«,38 die im selben Jahr wie Jung Stillings »Schleuder«, 1775, erschienen. Auch hier erweist sich die Waffe der Komik als zweischneidig. Den Anfang macht Goethes Werther selbst, der den Begriff ›Philister‹ als Invektive setzt. Dort ist er dem Genie gegenübergestellt; im Gegensatz zu diesem bekleidet er erstens ein öffentliches Amt und hat zweitens – um es salopp zu formulieren – ein Attraktivitätsproblem: er versteht sich weder auf die Kunst noch auf die Liebe. In dem berühmten Brief Werthers vom 26. Mai heißt es zum Verhältnis von Regel und Natur, Philister und Künstler: Man kann zum Vortheile der Regeln viel sagen, ohngefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas abgeschmaktes und schlechtes hervor bringen, wie einer, der sich durch Gesezze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; da­ge­ gen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruk derselben zerstören! sagst du, das ist zu hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet geile Reben etc. Guter Freund, soll ich dir ein Gleichniß geben: es ist damit wie mit der Liebe, ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tags bey ihr zu, ver­schwendet all seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblik aus­zu­drük­ken, daß er sich ganz ihr hingiebt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagt zu ihm: feiner junger Herr, lieben ist menschlich, nur müßt ihr menschlich lieben. Theilet eure Stun­den ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet eurem Mäd­chen, berechnet euer Vermögen, und was euch von eurer Nothdurft übrig bleibt, davon verwehr ich euch nicht ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen. Etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage etc. – Folgt der Mensch, so giebts einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst jedem Fürsten rathen, ihn in ein Collegium zu sezzen, nur mit seiner Liebe ists’s am Ende, und wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. Auf den 38 Grundsätzlich zur Wertherwirkung siehe: Klaus R. Scherpe, Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert, Bad Homburg u. a.: Gehlen 1970.

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Punkt gebracht, bedeutet dies, dass philistrisch-ökonomischer Umgang mit allen Ressourcen und männlich-jugendliche Liebe und Kunst in ihrer Selbstverschwendung nicht miteinander vereinbar sind, ja mehr noch: Das eine schließt das andere aus.39 Nicolais Umschrift setzt an diesem Ausschlussverhältnis an und sucht die dichotome Polarisierung zwischen Genie und Philister zurückzunehmen; sein Text zieht al­so das Invektivische des Begriffs zurück. Zugleich sucht er den genialischen Werther wie­der in den bürgerlichen Kontext einzubinden, von dem dieser sich abgesetzt hatte.40 Der Roman beginnt mit einem Gespräch, in dem der väterliche Erzähler Martin, 41 Jahre, dem jungen Hanns, 22 Jahre, erklärt, was an Goethes Werther zu kritisieren sei und wie er deshalb den Handlungsverlauf ändern wolle. Letztlich sei nur das Ende nicht richtig, so Martin, der deshalb auch den Roman bis zu dem Zeitpunkt bestehen las­ sen möchte, an dem Werther Lotte zuletzt besucht, denn zu diesem Zeitpunkt sind »Albert und Lotte noch nicht verheiratet, nur so gut als verlobt, die Hochzeit sollte Weih­nachten seyn.«41 Mit eben jenem Hang zur Gründlichkeit, den Nicolai an der Figur des Pietisten im Sebaldus komisch ausbeutet, bindet Martin die darauf folgende Änderung des Handlungsverlaufs an den Schauplatz: »Du siehst, ich denk mir’s so, weil die Scene um Worms liegt, wo man sich nicht so leicht scheiden kann, wie in Brandenburg. Wär’s da, ändert’ ich auch dieß nicht.«42 Die fiktionale Ausgestaltung wird also zunächst an gesellschaftliche Verhältnisse und Bedingtheiten von Goethes Roman zurückgebunden. Der Bezug auf die Möglichkeit einer Scheidung ist ein ers­ ter Angriff, denn die Verbindung zweier Menschen erscheint somit nicht (mehr) als Sakrament, sondern als auflösbarer Vertrag. Damit macht Nicolai sich sogleich zwei Feinde, einen vormodernen – in der katholischen Religion – und einen modernen – im Genie, das seine Tragik aus der Unvereinbarkeit von funktionaler Differenzierung und individuellem Ganzheitsstreben bezieht und dessen Liebe daher notwendig tragisch enden muss. Was in Nicolais Adaption folgt, ist erstens eine Aufwertung Alberts gegenüber Wer­ther und zweitens eine Refiguration Lottes als »gutes Landmädchen, lustig und

39 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Studienausgabe, Paralleldruck der Fas­ sun­gen von 1774 und 1787, hrsg. von Matthias Luserke, Stuttgart: Reclam 1999, S. 26 (meine Her­ vor­hebung, A. K.). 40 So heißt es in dem Vorgespräch des Romans: »Stellst du dir aber Werthern vor, als einen Men­ schen, der in Gesellschaft lebt, so hatt’ er unrecht, daß er einzeln seyn, und die Menschen um sich, [!] als Fremde ansehn wollte« (Friedrich Nicolai, »Freuden des jungen Werthers – Leiden und Freuden Werthers des Mannes [1775]«, in: ders., Opera Minor I, Hildesheim u. a.: Olms 1995 [= Gesammelte Werke (Anm. 11), Bd. 12], S. 18. 41 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 19 f. (Hervorhebung im Original). 42 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 20.

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fromm«.43 Lotte gesteht Albert ihr Treffen mit Werther, wobei Albert wiederum Lotte erklärt, was eigentlich in der berühmten Szene vorgefallen ist, in der sie mit Wer­ ther »unter vier Augen in Büchern [ge]lesen« hat.44 Da nämlich habe sie Werthern schon längst »mit Augen«45 ihre Liebe gestanden. Allerdings hält er ihr vor, dass sie – »o Weiber« – Werther nicht aufs Canapee hätte bitten dürfen, wo der doch sein Versprechen, vor dem Weihnachtsabend nicht wiederzukommen, gebrochen habe – ge­ ra­de weil dergleichen Ermunterungen zum Bruch von Versprechen auch bei den »bes­ten Buben« zur Schädigung des Charakters führe.46 Nicolai schiebt hier Lotte eine mo­ra­li­sche Erziehungsfunktion im Sinne der Aufklärung unter; des Weiteren führt er gegen Goethes Werther die moralische Korruption des weiblichen Geschlechtscha­rak­ ters durch das Liebesverständnis Werthers in Feld. In der Erzählung der »Freuden« folgt Alberts ›weltläufiger‹ Vorschlag, von der Verlobung zurückzutreten und Freund zu bleiben. Nicolai inszeniert Albert als väter­li­ chen Freund und Ratgeber. Er restituiert den Freundschaftskult der Empfindsamkeit, indem er eine Dreierbeziehung vorsieht, wie sie beispielsweise auch Lord Rich, Lord Sey­mour und das Fräulein von Sternheim am Ende von La Roches gleichnamigen Ro­ man aus dem Jahr 1771 führen. Ironischerweise kommt Nicolais Lösung dem ›wirk­ lichen Leben‹, dem Verhältnis von Wolfgang Goethe, Johann Christian Kestner und Charlotte Buff sehr nah, wie Meyer-Krentler anhand der Briefe gezeigt hat.47 Sie sind »in der Tonlage herzlichen Einverständnisses« geschrieben und nach eben jenem Freund­schafts­konzept der Empfindsamkeit modelliert.48 Goethes unglückliche Liebe zu Charlotte Buff führte gerade nicht zum Bruch mit Kestner, sondern zu erhöhter Kommunikation: Kestner ist der Adressat der Briefe über Werthers unglückliche Liebe, ja mehr noch: Wolfgang Goethe betont dabei immer, wie sehr er sich doch durch diese Liebe Johann Christian Kestner verbunden fühle.49 Das homosoziale Schriftbündnis wird über Charlotte Buff gesichert, nicht Goethe ist der Dritte, sondern Charlotte Buff beziehungsweise Kestner. Allerdings mutet Nicolai der Freundschaft von Albert und Werther einiges zu, wenn er die Todesstunde Werthers ins Groteske wendet. Albert, der väterliche Freund, lädt die Pistolen eigenhändig, wohl wissend, was Werther vorhat, jedoch  – so die Pointe – mit Hühnerblut. Dieses Blut stammt ausgerechnet von dem Huhn, das für das anschließende Verlobungsessen von Werther und Lotte vorgesehen ist. Die groteske 43 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 48. 44 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 24. 45 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 25. 46 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 25. 47 Siehe grundlegend Eckhardt Meyer-Krentler, »›Kalte Abstraktion‹ gegen ›versengte Einbildung‹. Destruktion und Restauration aufklärerischer Harmoniemodelle in Goethes Leiden und Nicolais Freuden des jungen Werthers«, in: DVjs 56.1 (1982), S. 65 – 91. 48 Meyer-Krentler, »›Kalte Abstraktion‹ gegen ›versengte Einbildung‹« (Anm. 47), S. 67 f. 49 Meyer-Krentler, »›Kalte Abstraktion‹ gegen ›versengte Einbildung‹« (Anm. 47), S. 66.

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Entstellung des Heldentodes Werthers antwortet auf die in Goethes Werther als unangemessen und latent komisch ausgewiesene vernünftige Helfer-Pose des Philisters;50 sie wendet die dieser entgegengesetzte Helden-Pose ins Lächerliche: Trotz fehlender Ver­ letzung vermeint Werther zu sterben. In dieser Szene gibt er, mit »zu heftiger Stimme« für einen Schwerverwundeten, viel »unzusammenhängendes garstiges Ge­wä­sche« von sich »zum Lobe des süßen Gefühls der Freyheit diesen Kerker zu verlassen, wenn man will«. Albert führt ihn als »weichliche[n] Zärtling« vor, der sich nicht dis­zi­pli­nie­ren und der somit nicht nachdenken kann, oder, frei nach Albert, als einen, der, kaum gibt Mutter Natur kein Zuckerwerk mehr, sofort verzweifelt und denkt, »sie gibt dir nie wieder Zucker«.51 So übersetzt Nicolais Text das ›junge Herz‹ Werthers, sein Ungestüm, sein Leiden ins Kindliche, Weichliche und Wehleidige, was aus dieser Per­ spek­tive gleichzusetzen ist mit Unmännlichkeit. Zugleich verweist die Theatralik der Leiden auf den (noch) ungefestigten Charakter Werthers.52 Diese ›Entmannung‹ Werthers setzt sich in den »Leiden und Freuden Werthers des Mannes« fort. Während aus dem Philister Albert eine zum Wohle der anderen in­tri­gie­ rende väterliche Helferfigur wird,53 muss Werther in der Serialisierung des WertherSchemas die Position des betrogenen Ehemannes, sprich Alberts, selbst einnehmen. Lotte nämlich, dem lustigen häuslichen Landmädchen, steigt – wie oben schon angemerkt: geradezu zwangsläufig – die hohe »Weise« von »inniger Empfindung […], lauter starker Anspannung«, ohne »Einschränkung« und »Überlegung« in den Kopf »mit der Wonne eines einzigen, großen herrlichen Gefühls«.54 Auch sie will – wie laut Nicolai das weibliche Geschlecht im Allgemeinen – dieses Liebeswerben auf Dauer stellen: Sie »verschluckte« das Werther’sche Liebeskonzept »begierig, und hielt sich am glücklichsten, wenn’s im freundlichen Wahne so hintaumeln konnte.«55 Es kommt, wie es kommen muss, Nicolais Geschichte versetzt Werther in die Notwendigkeit, ein Amt zu übernehmen (das Albert ihm verschafft), und Lotte, nach ei­ ner Fehlgeburt ›unterbeschäftigt‹, wendet sich, von ihrem nun prosaischen und vielbeschäftigten Ehemann enttäuscht, einem jungen »Kerlchen, leicht und lustig« zu, das

50 Meyer-Krentler, »›Kalte Abstraktion‹ gegen ›versengte Einbildung‹« (Anm. 47), S. 73. 51 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 31. 52 Ende des 18. Jahrhunderts steht der (bürgerliche) Charakter dem Begriff der theatralen höfischen Maske gegenüber; so schreibt beispielsweise La Roches Fräulein von Sternheim: »Mehrere Charaktere kann ich Ihnen nicht bezeichnen, die meisten sehen einander ähnlich, insofern man sie in dem Vorzimmer der Fürstin, oder bei gewöhnlichen Besuchen sieht« (Sophie La Roche, Geschichte des Fräuleins von Sternheim, hrsg. von Barbara Becker-Cantarino, Stuttgart: Reclam 1983, S. 69). 53 Meyer-Krentler, »›Kalte Abstraktion‹ gegen ›versengte Einbildung‹« (Anm. 47), S. 85. 54 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 48 f. 55 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 49. Insofern Werthers Gleichnis Kunst und Liebe zusammenschließt, kann für die Korruption des weiblichen Charakters auch die Rezeption bestimmter literarischer Texte verantwortlich gemacht werden.

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einige Ähnlichkeiten mit dem jungen Werther aufweist. Als solches bietet es im Ge­ gen­satz zum gesetzten Ehemann einige Unterhaltung, denn es hat allerley gelesen, schwätzte drob kreuz und quer, und plaudert’ viel, neust’ auf­ge­brachtermaßen, vom ersten Wurfe, von Volksliedern, und von histori­ schen Schau­spielen, zwanzig Jährchen lang, jed’s in drei Minuten zusammen­ ge­druckt, wie ein klein Teufelchen im Pandämonium. Schimpft’ auch alleweil auf ’n Batteux, Werther konnts schier nicht besser. Sonst konnte der Fratz bey hundert Ellen nicht an Werthern reichen, hatte kein’ Grütz’ im Kopf und kein Mark in ’n Beinen. Sprang ums Weibsen herum, fispelte hier, faselte da, streichelte dort, gab’s Pfötchen, holt ’n Fächer, schenkt ’n Büchschen, und so gesellt’ er sich zu Lotten.56 Diese Kritik richtet sich an die Stürmer und Dränger, sie operiert jedoch mit den To­ poi, die in der bürgerlichen Literatur gegen Höflinge ins Feld geführt werden. Die ritualisierte Kommunikation, das dienende Werben, die hohe, schmeichelnde (femi­ nine) Stimme lassen sich als Korruption der als natürlich begriffenen (bürger­lichen) Differenzierung der Geschlechtscharaktere lesen, zugleich treiben sie den Körper und die Sinnlichkeit als Angriffspunkte aufklärerischer Literatur hervor.57 Doch Albert ist auch hier wieder die Retterfigur; durch seine pädagogische Intervention lernt Lotte, dass »Necken […] wider ’n Mann« geht und keine »gerümpfte Nase […] verlohrne Liebe zurück[bringt]«.58 Geheilt erfüllt sie im Fortgang der Geschichte muster­gül­tig die weibliche Bestimmung, treu sorgende, liebende Hausfrau und (doch noch) Mut­ ter zu sein. Werther muss sich dementsprechend in der bürgerlichen Welt als Ehe­ mann und Familienvater zurechtfinden, das heißt, auch er muss das »Lavieren« ler­ nen.59 Dem Segler gleich hängt er sein Mäntelchen in den Wind und kommt mit je­ner Wetterwendigkeit weiter, die Jung Stilling am Sebaldus Nothanker kritisiert hat. Pa­ra­digmatisch zeigt sich die an seiner Reaktion auf die Zerstörung seines ersten Gutes durch genialische Gartenarbeiten seitens des Nachbarn. Statt mit Empörung oder Ag­ gres­sion zu reagieren, nimmt Nicolais Werther die finanzielle Entschädigung an und baut damit andernorts ein neues Heim. Die sprichwörtlich schlechte Nachbarschaft des Genies beschreibt Nicolai in Anlehnung an die oben zitierte Stelle aus Goethes Werther. Hier wird das Motiv der regelrechten, guten und bürgerlichen Nachbarschaft (negativ) eingeführt. Anschließend an diese Ausführungen über das Ende der Liebe, respektive der Kunst, durch den phi­lis­ 56 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 43. 57 Siehe hierzu Annette Keck, Buchstäbliche Anatomien. Vom Lesen und Schreiben des Menschen. Literaturgeschichten der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 43 –72. 58 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 50. 59 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 41.

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trö­sen Lebenswandel, wird das Nachbarschaftsmotiv in einer »Deklamation«60 wieder aufgenommen: O meine Freunde! warum der Strom des Genies so selten aufbricht, so sel­ ten in hohen Fluthen hereinbraust, und eure staunende Seele erschüttert. Lie­ben Freunde [!], da wohnen die gelaßnen Kerls auf beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete, und Krautfelder zu Grunde gehen würden, und die daher in Zeiten mit dämmen und ableiten der künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.61 Der Philister Goethes weiß seine Fluten62 zu kanalisieren, zu dämmen und zu nut­ zen, die Nachbarschaft mit ihm funktioniert gefahrlos. Aus dieser Selbstbeschränkung schließt wiederum Nicolai, dass das Genie ein schlechter Nachbar sei: Denn als Wer­ ther sich ein Haus mit eben jenen Tulpen- und Krautbeeten erarbeitet hat, kommt »’n Kerl«, der »was originales« haben möchte und die Idee hat, »’nen orientalischen Garten« zu bauen, »wo kein Orient ist«: er kauft den Berg über Werthers Hüttchen, legt’ darauf große Dinge an, son­ der­lich und wunderlich, Schlangengänge, Abgründe, Tempel, Pagoden und Wildnisse. Als er fertig war, wolt’ er den Garten auch bevölkern, wie der Kai­ ser von China, daß’s recht natürlich wär’. Da schaft’ er sich Hunde, die verkleidet’ er als Wölfe, Cyperkatzen in Tieger, Lämmer gelb und braun gefärbt in Leoparden, und Spitzmäuse in Hermeline. Das Vieh lief über, in Werthers Obstgarten, und streift sich, zwischen den Bäumen, die hölzernen wilden Lar­ven ab, die ihm vorgebunden waren. Doch weil sich ’s noch scheuchen ließ achtet ’s Werther nicht. Aber nun wollte der Fratz was großes beginnen. Er hatte jenseits des Berges einen ziemlichen Fluß, den leitet’ er mit Mühlen in die Höhe, daß er disseits einen Wasserfall haben wollte, am gähen Ab­sturz des Berges. Da frohlockte das Kerlchen, und seine Seele ward erschüttert, wie das Wasser in hohen Fluthen herabbrauste, zwischen den hundert­jähri­gen Eichen, und über die Felsenstücken weg schäumte, aber eh’ man ’s sich versah, wars in Werthers Garten, spühlt’ die Bäume aus, riß das kleine Garten­ häus­chen um, und verheert’, [!] die fruchtbaren Krautfelder, und die lieb­ lichen Tulpenbeete. Lotte raufte sich die Haare, die Kinder weinten, aber Werther war durch Erfahrung gelassen geworden. Er staunte eine Weile, und sagte zu sich selbst:

60 Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (Anm. 39), S. 28. 61 Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (Anm. 39), S. 27 f. 62 Zur Flüssigkeitsmetaphorik siehe den Beitrag von Walter Erhart in diesem Band.

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Der Kerl ist traun ’n Genie, aber ich merks wohl, ein Genie ist ein schlechter Nachbar.63 Die Gestaltung des Gartens als Orient im Okzident und die Bevölkerung des­sel­ben mit ›verkleideten‹ Tieren samt hölzernen Masken weisen die Anstrengungen des Ge­ nies deutlich als grotesk aus. Damit folgt Nicolai Horaz, der das Groteske in seiner berühmten Epistula ad Pisones vom delectare et prodesse ausnimmt: Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so rei­zen­de Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kran­ ken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören.   »Und doch hatten Maler und Dichter seit je gleiche Freiheit, zu wagen, was sie nur wollen.« Ich weiß das, und diese Gunst erbitte ich selbst und gewähre sie andren, aber nicht so, daß sich Grimm mit Sanftmut verbindet, nicht so, daß Schlangen mit Vögeln sich paaren und Lämmer mit Tigern.64 Nicolais ›Genie‹ wird also keine Natürlichkeit attestiert, und es agiert zudem als »fürstlicher Despot«,65 dessen künstlerischer Alleingang gegen die Anforderungen der Gesellschaft verstößt. Aber auch darin, dass Goethes Briefroman, weder durch Herausgeberfiktion noch durch Polyperspektive gehemmt, alle erzählerischen Konventionen des Briefromans der Zeit im Namen der Natur durchbricht, sieht Nicolai den Vorwurf der schlechten Nachbarschaft begründet. Das Schlusstableau Nicolais restituiert Sozialität: Es zeigt Werther im Gras, auf der Wiese vor seinem (neuen) Haus, die Gottesgaben in Gestalt seiner acht Kinder samt Lotte neben ihm, die alle »gesellig fühlen, was er fühlt«.66 Der Garten ist nützlich und hübsch, die Krautfelder werden – ganz im Sinne des delectare et prodesse – mit Nar­ zissen und Hyazinthen umfasst. Das gute Ende im Sinne der Komödie zeigt: Werther ist sesshaft geworden, der ungestüme Jüngling zum Vater gereift. Der Text weist den Protestgestus der Werther-Figur, ihre Jugendlichkeit, Transgressivität und un­gestüme Vi­ri­li­tät nicht als Gegenkonzept zur saturierten Bürgerlichkeit aus, sondern, schlim­ mer noch, als postpubertäres Aufbegehren.67 Nicolai bettet Werther (wieder) ein in 63 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 53 –55. 64 Horaz, Brief an Lucius Calpurnius Piso und seine Söhne (Von der Dichtkunst), übers. von Eckart Schäfer, Stuttgart: Reclam 1972, V. 1–13. 65 Scherpe, Werther und Wertherwirkung (Anm. 38), S. 51. 66 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 59. 67 Vgl. hierzu den Beitrag von Heinrich Bosse in diesem Band (bes. S. 87).

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ein familial konfiguriertes Verstehenskonzept, das die Notwendigkeiten der bürgerlichökonomischen Existenz akzeptiert und – wichtiger noch – keinen (innerbürgerlichen) Generationenkonflikt kennt, sondern die höfische Kultur als Gegenwelt begreift. Das von ihm propagierte familiale Verstehenskonzept wirkt im wahrsten Sinne des Wortes generativ aufklärend, denn Lotte fungiert hierbei als mütterliches Medium, das mit der Geburt von acht Kindern Filiationen garantiert und dabei selbst fast verschwindet. Kaum eine Arbeit zu Nicolais »Freuden« kommt ohne den Verweis aus, dass Goethe von Nicolai ja eigentlich gar nicht gemeint gewesen sei,68 dass er ja den Autor in dem vorausgesetzten Gespräch ausdrücklich in Schutz genommen habe69 und der Text gegen die ›Werther-Fans‹ und die dementsprechenden ›Fan-Lektüren‹ gerichtet sei. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen war Goethe sehr beleidigt70  – und das, obwohl er selbst schon seinen Werther parodierte.71 Nimmt man die Kränkung Goethes ernst, dann erweist sich die Differenzierung von literarischem Text und Autor72 als das entscheidende Movens des Konflikts. Wie das Gespräch zwischen Martin und dem Werther-Fan Hanns zeigt, ist die Erzählung einer Mannwerdung Werthers darauf aus, die Differenz zwischen Buch und Wirklichkeit deutlich zu machen: Die Leiden des jungen Werthers, sagt Hanns, ’s dringt mir durch Mark und Bein, jede Ader schwillt dir, und ’s Gehirn funkelt dir, daß du gleich auf möchtest – Ja freylich, ’s so ein Buch, sagte Martin, wer ’s geschrieben hat, kann sich ruhig auf ’s Haupt legen, und fürcht nicht, daß über hundert Jahr ’n belesener Tölpel davon schwatze: ’s ist ein rares Buch, ihr Leute, seit neun und neunzig Jahren, hat kein Mensch davon was gehört und gesehn.73 Gegen die körperliche Aufnahme und Teilhabe am Schicksal Werthers werden die ru­ hi­ge Gelassenheit und das gesetzte Selbstvertrauen eines »Autors«74 und die Medialität der Literatur als Buch gesetzt. Hanns bindet diese Position im Lauf des Arguments an Alter und Kälte: »Da sieht man’s, bist ’n alter, kalter, weiser Kerl, der mit Werthern und seinen Leiden nicht sympathisieren kann, liebst nit ’n jungen braven Buben, voll 68 So u. a. Sichelschmidt, Friedrich Nicolai (Anm. 5), S. 100. 69 In den »Freuden« wird Goethe sogar von Martin, dem Erzähler, als »Held« gefeiert: »Ne, Hanns! Dein Held mag Werther seyn, mein Held ist der Autor« (Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« [Anm. 40], S. 7). 70 Möller, Aufklärung in Preußen (Anm. 5), S. 122; Sichelschmidt, Friedrich Nicolai (Anm. 5), S. 103. 71 Richard Friedenthal, Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München / Zürich: Piper 1963, S. 139. 72 Siehe hierzu auch: Sommerfeld, Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang (Anm. 5), S. 60. Sommerfeld zeigt, dass Wieland dagegen polemisiert, dass »Nicolai den Dichter vom Menschen trennen will«. 73 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 5. 74 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 8.

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Feu’r und Leben, und wilst ’n steifen, trocknen Altenkrämer loben, wie Albert.«75 Es zeigt sich, was auch in der Auseinandersetzung zwischen Nicolais Albert und Wer­ ther in der Selbstmordszene insistiert, nämlich die Opposition von »versengter Emp­ findung« und »kaltsinniger Abstraktion«;76 Albert steht – trotz aller Beteuerungen der Ganz­heitlichkeit – mehr auf der Seite der »kalten Vernunft«.77 Die kalte Vernunft im­ pliziert eine kalte, das heißt: distanzierte und reflektierte Lektüre, welche den Autor in seiner Kunstfertigkeit beurteilt, die jedoch nicht emphatisch dessen genialische Emer­ genz feiert und identifikatorisch aufnimmt. Strukturhomolog zum Angriff Jungs auf Nicolai stehen sich so zwei Literaturauffassungen gegenüber, die sich als unvereinbar erweisen. Denn was letzten Endes Nicolai zum Verhängnis fiel, war, dass er genau diese subjektiv identifikatorische und emotionale Aufnahme von Literatur und das damit verbundene Literaturverständnis ablehnte. Genauer: er verurteilte dessen Asozialität.78 »Die Freuden Werthers« zie­hen demgegenüber die Differenz und Polarisierung von Genie und Philister zugunsten eines kommunikativ vermittelbaren und lebbaren Gesellschaftskonzepts wieder ein, doch entkommen sie mit der Opposition von kalter Abstraktion (Albert) und heißer Empfindung (Werther) der in Goethes Werther präfigurierten Opposition von Ratio und Gefühl nicht. Indem Nicolai Albert der kühlen Abstraktion verschreibt und diese zugleich positiv wertet,79 positioniert er sich als Autor in der Wahrnehmung der ›Fans‹ als das Andere der jungen männlichen, heißblütigen Genies. So öffnet der Text das Einfallstor für polemische Angriffe auf Nicolai und so kann nun eben jener Generationenkonflikt zwischen Vätern und Söhnen am Autor Nicolai ausagiert werden, den dieser 75 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 8. 76 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 32. 77 Nicolai, »Freuden des jungen Werthers« (Anm. 40), S. 33; siehe hierzu auch Meyer-Krentler, »›Kalte Abstraktion‹ gegen ›versengte Einbildung‹« (Anm. 47). 78 Nicolai wird später in Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S** die identifizierende Lektüre sehr scharf verurteilen: »Werther ist nichts als ein Romanencharakter, und in der wirklichen Welt soll man nicht Romane spielen wollen. Der Charakter Werthers ist trefflich ge­ eig­net, um Wirkung in der Lektur zu thun, trefflich geeignet, daß der Leser äußerst erschüttert wer­de durch die Situationen, worein dieser Charakter voll Kraft, Edelmuth, tobender Leidenschaft, Müssig­gang und Starrsinn sich selbst ganz natürlich setzt. Aber wer im wirklichen Leben Wer­ thers Denkungsart und Handlungsweise nachahmen will, ist ein Narr« (Friedrich Nicolai, Leben und Meinungen Sempronius Gundiberts (1798). Vertraute Briefe von Adelheid  B** an ihre Freundin Juli S** (1799), Hildesheim / Zürich / New York: Olms 1987 [= Gesammelte Werke (Anm. 11), Bd. 10], S. 195). Wolfgang Albrecht beschreibt das Programm Friedrich Nicolais: »Als Verleger und Schriftsteller suchte er zu praktizieren, was er für die primäre Verpflichtung eines jeden aufgeklärten oder gebildeten Menschen ansah: Wirksamkeit zur Beförderung des Gemeinwohls.« Er sieht darin auch das grundlegende Konfliktpotenzial mit den Stürmern und Drängern, den Klassikern und den Frühromantikern (Albrecht, »Berliner Spätaufklärung offensiv« [Anm. 4], S. 234 u.  237); siehe auch: Sichelschmidt, Friedrich Nicolai (Anm. 5), S. 100. 79 ›Kälte‹ war für Nicolai die vorausgesetzte Grundeigenschaft eines Kritikers, siehe dazu Sommerfeld, Friedrich Nicolai (Anm. 5), S. 55.

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mit seinem familial-empfindsamen Freundschaftskonzept aus Goethes Werther zu es­ ka­motieren suchte. Albert wie Nicolai wird dabei auch jenes Moment der Attraktivität wieder ent­ wen­det, das beispielsweise in der homoerotisch aufgeladenen empfindsamen Männer­ freund­schaft zwischen Goethe und Kestner durchaus vorhanden war. Nicolai in Iden­ ti­fi­ka­tion mit seiner Schrift wird zur ältlichen und asexuellen Philister-Figur par ex­cellence umgeschrieben, der nun all der Hohn entgegen schallt, den ansonsten der Philister ausspricht. In diesem Sinne lässt Tieck ihn in seinem Stück »Der neue Her­ cules am Scheidewege, eine Parodie« als einen »Alten Mann« auftreten, der als Gegen­ spieler zur »heilgen Kunst« Nicolai’sche Positionen vertritt.80 Johann Gottlieb Fichte geht in seiner vatermörderischen Schrift »Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen« (1801) so weit, auf den fast siebzigjährigen Nicolai einen Nachruf zu Lebzeiten zu veröffentlichen.81 Er vermischt – wie Friedrich Schiller zu recht in einem Brief an Schelling moniert – satirischen und persönlichen Angriff, das heißt, er findet weder konsequent eine »poetisch[e]« Antwort, »ein Gegenstük zu Sebaldus Nothanker«, noch zeichnet er Nicolai als »Ur- und Grundcharakter des Philisters«, um ihn »ganz zum Genus [zu] erheben«.82 In der Konsequenz seines Vorgehens spricht Fichte Nicolai die menschliche Existenzberechtigung ab, befördert ihn zu einem »littera­ri­ schen Stinkthiere und [zu] der Natter des achtzehnten Jahrhunderts«83 schlechthin und schlägt ihn den Hunden zu.84 An anderer Stelle, in einem Distichon, fordert er Nico­lai auf, sich doch an dem Strick zu erhängen, an dem sich dessen depressiver Sohn Samuel ehedem erhängt hatte: »Sorglicher Hausvater, hast du den Strik, woran sich dein Sohn hing / Treulich bewahret, an den häng dich, den hast du umsonst«.85 Das aggressive Moment der Komik, das Nicolai selbst in seinen Überlegungen zum Of­ fenbarungscharakter des Lächerlichen mit einem Scheiterhaufen verglich (was er aller80 Ludwig Tieck, »Der neue Hercules am Scheidewege, eine Parodie«, in: Poetisches Journal 1 (1800), S. 81–164. Siehe auch Albrecht, »Berliner Spätaufklärung offensiv« (Anm. 4), S. 278. 81 Dass Fichte nicht allein dieser Ansicht war, zeigt das Vorwort von August Wilhelm Schlegel. 82 Brief an Friedrich Schelling v. 12. Mai 1801, in: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.1.1801–31.12.1802, hrsg. von Stefan Ormanns, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1985 (= Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 31), S. 34. Allerdings fällt Schillers abschließendes Urteil zugunsten Fichtes aus: »Jetzt ist sie nur eine verständige polemische Schrift, in der man sieht, daß Fichte für seinen Gegner zu gut und des Kampfes nicht werth ist.« 83 Johann Gottlieb Fichte, »Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen«, in: ders., Werke 1800 –1801, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1888 (=  J. G.  Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von dens., Bd. I.7), S. 327–463, hier S. 426. 84 Fichte, »Friedrich Nicolai’s Leben« (Anm. 83), S. 428. 85 Johann Gottlieb Fichte, »Spottgedichte auf Nicolai, Kettner und Biester«, in: ders., Nachgelassene Schriften 1800 –1803, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt: From­mann 1883 (= J. G. Fichte-Gesamtausgabe [Anm. 83], Bd. II.6), S. 21–29, hier S. 27; Albrecht, »Berliner Spätaufklärung offensiv« (Anm. 4), S. 285.

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dings nur für besonders empfindliche Charaktere gegeben sah),86 forciert Fichte, um Nicolai mundtot zu machen und die Bühne für die neue Generation freizumachen. Dass es sich bei letzterer um einen schlechten Nachbarn gehandelt hat, kann nicht geleugnet werden.

Komische Philister und lustige Kanaken Betrachtet man das ›Drama‹ um die Figur Friedrich Nicolai in dramentheoretischer und theatergeschichtlicher Perspektive, so kann man konstatieren, dass ihn strukturell dasselbe Schicksal ereilt, wie es dem Hanswurst, der lustigen Person auf der Bühne, bestimmt war. Letztere wandelte sich im 18.  Jahrhundert von einer Figur, die zum Lachen reizte, zu einer, die selbst verlacht und dann vertrieben wurde.87 Diese vielleicht etwas abwegig erscheinende Perspektive auf die Figur Nicolais verdankt sich Feridun Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot aus dem Jahr 2000. Zaimoglus Roman nimmt offen Bezug auf Goethes Werther, er teilt mit ihm darüber hinaus das Genre des Briefromans; auch der Name des Protagonisten, Serdar, ist lautmalerisch an Werther angelehnt.88 Die seelischen Leiden Werthers werden allerdings grotesk ge­ 86 Nicolai, »Beschreibung einer Reise« (Anm. 11), S. XXXIX. 87 Siehe dazu u. a. Beatrix Müller-Kampel, Hanswurst, Bernadon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert, Paderborn u. a.: Schöningh 2003; dies., »Disziplinierter Körper, reglementierter Spaß  – Zur politischen und zivilisatorischen Zurichtung des Hanswurst im 18. Jahrhundert«, in: Oswald Panagl und Robert Kriechbaumer (Hrsg.), Stachel wider den Geist. Kabarett, Flüsterwitze und Subversives, Wien u. a.: Böhlau 2004, S. 47–58; aus theatergeschichtlicher Perspektive siehe die sehr in­ teres­sante Studie von Daniela Weiss-Schletterer, Das Laster des Lachens. Ein Beitrag zur Genese der Ernst­haftig­keit im deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts, Wien u. a.: Böhlau 2005. Zwischen­auf­ tritte in romantischen Dramen, wie in Ludwig Tiecks Hans Wurst, der Emigrant (1795), halfen dem Hanswurst wenig. Denn dort ist der Improvisationsspielraum der Lazzi (und damit des Schau­spie­ lers) ausgeschrieben und für die Demontage des bürgerlichen Illusions- und Unterhaltungstheaters funktionalisiert. Die vom ausgehenden 18. Jahrhundert an sich vollziehende Bindung des Theaterspiels an die Textvorlage und die Aufwertung der Autorinstanz wird nicht (mehr) angegriffen. Siehe dazu auch: Stefan Scherer, Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik, Berlin u. a.: de Gruyter 2003, besonders das Kapitel »Re-entry des Hanswursts und fiktionsironischer Spiele ins Theater auf der Bühne: Literatur- und Theaterkomödien«, S. 291–326. 88 Die wenige Sekundärliteratur, die es zu diesem Roman gibt, nimmt diesen Bezug auf Werther zwar wahr, richtet jedoch das Augemerk auf die Interkulturalitätsthematik: Volker C. Dörr, »›N ge­ fäl­liger Kanaksta‹. Feridun Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot. Migrantenliteratur im ›transkul­tu­rel­ len‹ Kontext?«, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 15 (2005), S. 610 – 628; Tanja Reinlein, »›Gegen kulturhegemoniale Ansprüche‹. Körper und Fremdheit in Feridun Zaimoğlus Briefroman Liebesmale, scharlachrot«, in: Vittoria Borsò und Reinhold Görling (Hrsg.), Kulturelle Topographien, Stuttgart: Metzler 2004, S. 287–301; Kirsten Molly Søholm, »Konstruktion kultureller Identität in einer postnationalen Welt. Der türkische Macho als kulturelle Metapher in Jakob Arjounis Ein Mann, ein Mord und Feridun Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot«, in: Jean-Marie Valentin (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 6: Migrations-, Emigrations- und Remigra­

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wen­det: Serdar hat – aller erotischer Ausstrahlung zum Trotz – Erektionsstörungen. Seine künstlerischen Ambitionen zeigen sich in einer Sammlung von (vermeintlichen) Hai­kus, die er  – wohl nicht ganz zur Freude Nicolais  – unter dem Titel »Respekt vor dem Passanten ist zivilisiertes Verhalten«89 veröffentlichen möchte. Allerdings ist die Potenzkrise Serdars auch eine künstlerische Schaffenskrise, »zu eng ist die to­pi­ sche Kopplung von sexueller Potenz und poetischem Potenzial«.90 Kommentiert wer­ den Potenz- und Schaffenskrisen von seinem Freund, Hakan, der – ebenso wort­ge­ wal­tig wie sein Freund Serdar – alle zu hohen Töne postwendend kommentiert. Die Briefe der beiden zeichnen sich durch ein hohes Maß an grotesker Komik aus: So wird Hakan beispielsweise mit »Geschätzter Latrinenkumpel«,91 »Hochverehr­ter Kratzsack und Lümmel der niederen Schlamm-und-Schlick-Grade«92 oder als »Büschel­ohr­ sumpf­euliges«93 adressiert; Großsprecherei, derbe Schmähungen, Sex- und Prügel­ szenen so­wie Situationskomik94 finden sich zuhauf. Damit werden den Figuren jene Mo­mente der Körperkomik wieder zugeschrieben, die mit dem 18. Jahrhundert auf der Bühne und in der Literatur reglementiert und diszipliniert wurden.95 Zaimoglu nutzt das widerständige Potenzial, das die hanswurstige Komik mit den 1750er Jahren ge­winnt; wie Beatrix Müller-Kampel ausführt, wuchs ihr erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Funktion zu, »ein Stachel wider den Zeitgeist« zu sein: »wider Vernunft, Arbeit, Fleiß und Sparsamkeit, wider Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit und Gelassenheit, wider Beherrschtheit, Berechenbarkeit, Sittlichkeit.«96 Diente in den Texten von Jung Stilling und Nicolai das Groteske als Figur der Ausgrenzung, so nimmt Liebesmale, scharlachrot diese Ausgrenzungsfigur an und auf, um sie als lustvolle Möglichkeit der Selbstinszenierung einzusetzen. Der Roman beginnt mit der Flucht Serdars aus Kiel, er schreibt Hakan aus der Türkei: Hochverehrter Kumpel, mein lieber Hakan,   Sammler der heiligen Vorhäute Christi,

tionskulturen – Mulitkulturalität in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur, Bern u. a.: Lang 2007, S. 287–294. 89 Feridun Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002, S. 32. 90 Dörr, »›N gefälliger Kanaksta‹« (Anm. 88), S. 614. 91 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 28. 92 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 49. 93 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 99. 94 Zu denken wäre da beispielsweise an Hakans Versuch, einen Schwan zu erlegen, um endlich wie­der etwas Fleisch auf den Teller zu bekommen (Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot [Anm. 89], S. 41– 47). 95 Müller-Kampel, »Disziplinierter Körper, reglementierter Spaß« (Anm. 87), S. 57. 96 Müller-Kampel, »Disziplinierter Körper, reglementierter Spaß« (Anm. 87), S. 57.

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ich bin gesund und verspüre allerlei Munterkeiten, und ich bin heil und ohne Gram, ohne ein Gramm Verlust jener Transzendenz, die mein hoch körperliches Wesen in meiner kalten Heimat ausstrahlte, an der Westküste des tür­ ki­schen Festlandsockels angekommen. Und nicht eine Zähre wischt ich vom   trän’gen Auge, nicht einen Freudenstich versetzte mir meine Ankunft hier, nicht eine Sekunde beschleunigte mein Juwelenherz seinen Rhythmus, als ich hier eintraf. Du weißt, ich musste fliehen aus Kiel, weil mir die Frauen im Nacken saßen.97 Hakan kennt ›seinen‹ Goethe und antwortet aus Deutschland: Ali Hassan Hussein,  du werter Heimatkanonier,  mein alter Serdar. du, der du dort an der Türken-Beach deinen Kadaver ausgestellt hast, ich muss dir gleich in der ersten Atemluft was stecken: Hör auf mit der GoetheNummer, pfeif drauf und lass einfach die Wolken ziehn, derweil du durch die Sonnengläser faul und ölig blinzelst. Was musst du, Scheiße noch eins, da unten an deinem Astralleib rumfingern, ich glaub, du hast ein Projekt laufen von wegen: die Auswilderung des Türk ins Heimische, und wenn du irgendwelche Phänomene beschreibst, denk ich, der Jung hat n Riss inner Plane, er muss über Unebenheiten poltern oder geheimes Material sichten, das sich aber n Dreck kümmert, ob’s entdeckt oder anderswie verarztet wird.98 Werthers Konflikt mit den Philistern wird in Liebesmale, scharlachrot gedoppelt, in­dem Hakan als ›Kanake‹ so seine Schwierigkeiten mit den Deutschen hat und Serdar als ›Deutsch­länder‹ in Konflikt gerät mit der türkischen Gesellschaft. Aufgenommen wird also das schon bei Goethe ausgespielte transgressive Jugendlichkeitsideal, das sich seine (männ­lichen) Gegenfiguren in deutschen Spießern und türkischen Traditionalisten erschafft. Wie in Kanak Sprak nachzulesen, zeichnet sich die von Zaimoglu konstruierte Männ­lichkeitsfigur des ›Kanaken‹99 durch »gesellschaftliche Sprengkraft« aus.100 Die­ ses aggressive Potenzial der Antiphilister wird auch in Liebesmale, scharlachrot aus­ge­ 97 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 9. 98 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 18. 99 Siehe hierzu auch Annette Keck, »›Pop is ne fatale Orgie‹. Zu Konstruktion und Produktivität der Figur des ›Kanaken‹ in Gegenwartsliteratur und Populärkultur«, in: Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik 16 (2007), S. 103 –118. 100 Feridun Zaimoglu, Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Hamburg: Rotbuch 1995, S. 18.

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schrieben. Als Serdar sich in der Türkei in Rena verliebt (und diese Liebe auch er­wi­ dert wird), kommt es zum Kampf mit Baba. Letzterer steht in seiner Körpergröße dem philistrischen Goliath in wenigem nach; ihm wird sowohl Verschlagenheit als auch die »Herrenmoral eines Fettsacks«101 attestiert. Als Vertreter einer islamischen Patriarchenmoral greift Baba zu physischer Gewalt, um Serdars ›Übergriff‹ zu unterbinden, gerade weil »der Deutschländer […] unseren Sitten entfremdet« ist und er sich eben nicht an die religiösen und gesellschaftlichen Regeln hält.102 Letztlich aber reüssiert der »United Kanak Service«, Hakan eilt Serdar zu Hilfe, der »Widersacher« wird »hingekeult«:103 Du warst hinüber, dachte ich erst mal, und ich hab mich auf Baba gestürzt und mit ihm so lange Fratzenklopfen veranstaltet, bis er kein Mucks mehr von sich gab. Du hingegen sahst wirklich übel aus, Alter, zerschnitten, zerschlitzt und überall s Blut, da wollt ich noch mehr Rache, also hab ich die Rasierklinge aus Scheiß-Babas verkrampfter Hand gerissen und ihm s tür­ kische Wort »Bok« für Scheiße inne Stirn geschnitzt. Er wehrte sich nachm ersten Schnitt, also haute ich aus nächster Nähe rein, ich wollte, dass dieses Schwein Blut, viel Blut vergießt, ich wollte, dass sein fetter Kadaver vonnen Möwen zerhackt wird, und ich hab blitzschnell beide Nasenflügel durch­ge­ ritzt und hieb noch mal mit voller Wucht auf sein Maul. Dabei rissen mir die Knöchel auf, doch s war mir egal, ich hörte seine Zähn splittern, und erst dann hatt ich meine Hunnenwut unter Kontrolle und kümmerte mich um deine Versorgung.104 Dieser Auftritt Hakans steht dem eines Hanswurst in wenigem nach und so endet der Roman im Gegensatz zu Goethes Werther nicht mit Selbstmord, sondern mit der Rück­kehr Serdars nach Deutschland und einem Liebesbrief an Rena, der dem jugend­ li­chen Helden ein happy end setzt: Die letzten Worte lauten »Dein Mann Serdar«.105 Auch bei Zaimoglu wird Werther erwachsen, für die Philister aber ändert sich nichts.

101 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 271. 102 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 270. 103 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 284. 104 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 282. 105 Zaimoglu, Liebesmale, scharlachrot (Anm. 89), S. 297.

Die romantische Fassung des Philisterbegriffs Sektion IV

Stefan Nienhaus

Brentanos Philisterabhandlung und ihre Kommentierung im Rahmen der   historisch-kritischen Edition

Um nicht in philiströs-blinde Ernsthaftigkeit zu verfallen, ist es wohl angebracht, an das Attribut »scherzhaft« zu erinnern, das Brentano seiner Abhandlung beigesellt hat. ›Scherz‹ und ›Ernst‹ gehen im romantischen Text im ständigen Wechsel ineinander über, das heißt aber nun nicht, dass ihre Unterscheidung verwischt würde. Weder hebt die Parodie das Parodierte auf, noch soll dieses von jener erstickt werden. Wenn Arnim sagt, »[n]ichts sey ohne Scherz und Ernst«,1 so intendiert er damit keineswegs einen undifferenzierten Mischmasch. Man sollte daher die »scherzhaft« vorgebrachte »gesell­schaft­liche Fundamentalkritik«2 bezüglich ihrer ernsthaften Aggressivität nicht über­schätzen. Auch wenn ich selbst – allerdings auf Brentanos Judensatire gemünzt – dav­on gesprochen habe, dass die »schrankenlose Fröhlichkeit der Tischrede […] das Ent­setzen als ihre Konterbande mit sich«3 führe, so möchte ich doch gerade im Falle des Philisterscherzes das analytische Pathos etwas herunterschrauben: Ich befürchte, 1 So lautet ein Vers aus dem für die Tischgesellschaft verfassten Gedicht »Die Glockentaufe«, Hand­schrift (H): Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, Arnim-Nachlass (künftig angeführt unter der Sigle GSA) 03  /  262,6; die historisch-kritische Edition dieses Textes liegt nun im Rahmen der Ver­ öf­fent­lichung aller überlieferten Tischreden der deutschen Tischgesellschaft vor in: Ludwig Achim von Arnim, Werke und Briefwechsel, Bd. 11: Texte der der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (künftig mit Seitenangabe zitiert als WAA, Bd. 11), hier S. 107. Dieser Band der Weimarer Arnim-Ausgabe enthält auch den Text von Brentanos »Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung« (S.  38 – 89), da Brentanos Text gleichfalls auf einer der Versammlungen der Tischgesellschaft vorgetragen und – in einer gegenüber dem Vortrag deutlich erweiterten Fassung – auf deren Kosten gedruckt worden ist. Diese Edition bringt den kri­tisch edierten Text und einen Variantenapparat, ein Stellenkommentar ist hingegen erst für die Ver­öffent­lichung im Rahmen der Frankfurter Brentano-Ausgabe vorgesehen. Zitate aus Brentanos Philisterabhandlung beziehen sich im Folgenden auf die kritische Edition der Weimarer Arnim-Ausgabe und werden unter Angabe der Seitenzahl in Klammern im Fließtext nachgewiesen. 2 So die Organisatoren der diesem Band zugrunde liegenden Tagung in ihrem Exposé. 3 Stefan Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 203.

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dass wir den eventuellen Schrecken, der einen Tischgenossen vor dem Spiegel eigener Philistrosität überkommen mochte, sehr übertrieben, wenn wir die joviale Toleranz der nur mitunter auch sich selbst zufrieden verlachenden Gemeinschaft ignorierten. Die euphorische Reaktion auf den Vortrag, der reißende Absatz des Druckes werden darüber hinaus wohl kaum mit einem von Selbstzweifeln beunruhigten Publikum zu vereinbaren sein, sondern eher mit einer philiströs-biederen Selbstbejubelung als Antiphilister. Dies hatte ja schon Fichte scharfsinnig bemerkt, für den »die Philisterey« Bren­tanos und seiner Mitlacher eben darin bestand, sich ständig beweisen zu müssen, nicht zu sein »wie andre Leut«, das »Philisterthum« sitze dem Philister »gerade in dem Denken, daß ers nicht sey«.4 Nun war Fichte vielleicht schlicht der ewig gleichen Witze überdrüssig oder vermutlich überhaupt ein zu ernster Charakter, um die Philisterscherze goutieren zu kön­ nen, so wie er ja auch Arnims spaßhafte Bemerkung, dass man den Juden sogar an der Beschneidung nicht mehr identifizieren könne, habe sich doch der christliche Afrika­reisende Röntgen aus vorsorglicher Anpassung gleichfalls beschneiden lassen,5 als schlichten Unsinn ignorierte: »Den Juden zwar schiebt man sich wohl vom Leibe / Man ist nicht beschnitten – ergo ist man keiner«!6 Und eben in dieser körperlichen Unterscheidbarkeit, die eine rassistische Grenze zieht, über die man nicht einmal mehr reden oder scherzen sollte, liegt die Differenz zum Verlachen des Philisters, in dessen Gestalt man sich unter Umständen über sich selbst lustig macht. Die simple, brutale Feststellung der Zirkumzision als physisches Differenzmerkmal hält den Fremden, der einem – im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben Berlins, aber eben nicht in der Tischgesellschaft – auf den Leib rückt, auf Distanz. Und dies dürfte genau der Sinn des vierten »der Sätze, die verteidigt werden können«, in Brentanos Vortrag sein, dessen Umkehrung auch als Selbstvergewisserung gelten sollte: »Kein Jude kann ein Philister sein«, während es in der dieser These voraufgehenden Apostrophe »An die Herren Subskribenten« kaum missverständlich heißt, dass sich der Druck an »jeden« wende, »der sich über die Philister, oder sich selber, Rats erholen will«. Diesen interpretatorischen Rahmen gilt es im Auge zu behalten, wenn im Fol­gen­ den die Möglichkeiten eines Kommentars zum besseren Verständnis der Faktur der Brentano’schen Scherze ergründet werden.7 Brentanos Philisterabhandlung zu edieren ist zugleich leichter und schwieriger als das kritisch kommentierende Herausgeben ver­ gleich­barer anderer Texte aus demselben Zeitraum. Die textphilologische Kernarbeit der historisch-kritischen Edition ist zum Glück und leider recht einfach: Erstens ist keine handschriftliche Fassung des Vortrags über4 WAA , Bd. 11, S. 181; H: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (SPK), Berlin, A 48. 5 Vgl. Achim von Arnim, Ueber die Kennzeichen des Judenthums, WAA, Bd. 11, S. 109. 6 WAA, Bd. 11, S. 181. 7 Damit komme ich zur Beantwortung einer mir von Georg Stanitzek gestellten Frage, der in un­ se­ren Vorgesprächen zur Tagung »Brentanos Philisterabhandlung  – wie kommentieren?« als Titel mei­nes Beitrags vorgeschlagen hatte.

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liefert, sodass also nicht mehr festgestellt werden kann, was nun in der Überarbeitung für die veröffentlichte Variante hinzugekommen ist. Angesichts der Länge kann man allerdings davon ausgehen, dass es sich dabei um eine ganze Menge handeln muss, denn auf eine mehrstündige Tischrede hätten die versammelten Tischgenossen wohl eher erschöpft reagiert. Brentanos eigene Aussage über die Bearbeitung des Vortrags bestätigt bloß deren Ausmaß und lässt mit Sicherheit nur die letzten Seiten als eindeutig ergänzte identifizieren: Ich habe […] meine Abhandlung schier um das Doppelte erweitert, und ver­ dichtet, es ist nichts weggeblieben, sondern alle Magnete sind nur bewaff­ net, alle Pfeile haben ein Ziel, alle Ziele ihren Pfeil erhalten, das ernsthafte ist ernsthafter, das Scherzhafte parodierender geworden. Zugleich ist dem gan­ zen eine Tafel mit drei Figuren beigelegt.8 Arnim berichtete Bettina von Erweiterungen der Abhandlung, die Brentano viel­ leicht beabsichtigte, dann aber doch nicht ausführte: »Clemens ist eben beschäftigt, Reichardts Caviarhistorie, Kniedrücken, Faßausfressen, Lichterputzen noch in die Phi­ lis­ter­abhandlung einzutragen«.9 Brentano hat vermutlich auch aus älteren Arbeiten Text­ver­satz­stücke eingebaut, die im Ganzen der Satire eher störende Fremdkörper blei­ ben. Das auffälligste Beispiel dafür sind die an die übrigen »Philistersymptome« angehängten Bemerkungen über den »Zustand des Theaters in Deutschland«, eine ausführliche Klage über den Verfall des Schauspielerwesens, die im Erstdruck nicht weniger als drei Seiten umfasst. Diese Erörterung hat kaum satirischen, sondern durchweg noch den Charakter eines früheren, eher ernsthaften »Glaubensbekenntnis[ses] über das Thea­ter«, unter welchem Titel das meiste davon in Bettina von Arnims Clemens Bren­tanos Frühlingskranz veröffentlicht ist. Von der Forschung wird das »Glaubens­be­ kenntnis« auf einen Brief vom September 1803, wenn nicht gar auf einen in die Zeit der Jenenser Naturgeschichte des Philisters zurückverweisenden Einzelaufsatz datiert.10 Doch weder der Brief noch eine handschriftliche Quelle des Aufsatzes sind erhalten. Zweitens ein kurze Bemerkung zu dem durch die Brentano-Forschung geistern­ den Phantom dieser Naturgeschichte des Philisters, die möglicherweise 1799 in Jena vor­ getragen wurde. Als einziges Zeugnis für Brentanos Vortrag im Kreise Tiecks, Fichtes und der Brüder Schlegel und auch für die Reaktion Fichtes ist die späte Tieck-Biographie Rudolph Köpkes bekannt: 8 WAA, Bd. 11, S. 32; H: GSA 03  /  262,11. 9 Arnim an Bettina Brentano, Frühjahr 1811, H: Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt am Main, FDH 7334. 10 Vgl. Berthold Widmann, Zu Clemens Brentanos Briefwechsel vom Sommer 1812 bis zum Herbst 1903. Frühlingskranz, Brentano-Mereau und Angrenzendes, Borna-Leipzig: Noske 1914, S. 56 – 66; Bettina von Arnim, Werke, hrsg. von Heinz Härtl, Bd. 2: Die Günderode. Clemens Brentanos Frühlingskranz, Berlin / Weimar: Aufbau 1989, S. 774 –778.

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Brentano trug seine Naturgeschichte des Philisters vor, als auch Fichte zu­gegen war. Nach beendigter Vorlesung erhob sich dieser mit den Worten: ›Nun wer­de ich euch aus dieser Geschichte beweisen, daß eben der Brentano hier der erste und ärgste unter allen Philistern ist!‹ Worauf eine schlagende Kritik folgte.11 Bisher ist noch nirgendwo eine Bestätigung dieser Anekdote aufgetaucht, und Köp­kes Erzählung, die ja immerhin aus der Distanz von mehr als einem halben Jahrhun­dert erfolgt, sollte man mit Vorsicht genießen. Drittens ist die große Zahl der Subskribenten (um die 70, häufig mit der Bitte um mehrere Exemplare) der Grund dafür, dass von dem ursprünglichen Plan, die Phi­lis­ter­ abhandlung nur handschriftlich kopieren zu lassen (»weil«, wie Brentano meinte, »aller Druck von den Philistern ausgeht«12), Abstand genommen werden musste. Wie üblich wurde wohl die Manuskript-Vorlage nach dem Satz vernichtet. Es gibt also keine Handschrift, die dem Druck vorausgeht, und die vermeintlichen Entdeckungen ei­ner solchen haben sich bisher, aber man weiß ja nie, als zeitgenössische Abschriften des Drucks entpuppt (was schon auf den Titelseiten selbst bezeugt ist, wenn man auf die Stelle: »zum Besten einer armen Familie abgedruckt«13 stößt). Der Druck war teuer (ein Taler war viel Geld für eine Schrift von nur dreißig Seiten) und Doppeldrucke hat es wohl nicht gegeben. Einzige und für die Rezeptions- und Zensurgeschichte wichtige Variante bleibt daher ein gekürzter und überarbeiteter Nachdruck im Neuen Breslauer Erzähler, der einige Monate später erschien (und von dem sich zum Glück noch ein einziges Exemplar in der Universitätsbibliothek Wroclaw erhalten hat).14 Während also der Apparat der Variantendarstellung und zur Textgenese relativ knapp ausfällt, bedarf die Kommentierung des Entstehungs- und Rezeptionskontextes sowie die Erläuterung der Textstellen eines ungleich größeren Aufwands. Obgleich die Philisterabhandlung nicht der am 27. Februar 1811 vor der deutschen Tischgesellschaft gehaltenen Rede entspricht, ist doch der Druck keineswegs aus deren Kontext gelöst zu betrachten. Er gehört neben Arnims als Einblattdruck veröffentlichtem Stiftungslied zu den einzigen Publikationen dieser Vereinigung; ihm kommt daher im Rahmen ihrer öffentlichen Wirkungsintention eine herausragende, tendenziell programmatische Bedeutung zu, und er ist ohne eine Rekonstruktion der Verfassung, der Ziele und der sozial- und kulturgeschichtlichen Bedeutung der deutschen Tischgesellschaft und der spezifischen Rolle Brentanos in ihr nicht zu verstehen. Im vorliegenden Rahmen be-

11 Ludwig Tieck, Erinnerungen aus dem Leben des Dichters, hrsg. von Rudolph Köpke, Leipzig: Brock­haus 1855, Teil I, S. 251. 12 WAA, Bd. 11, S. 31. 13 WAA, Bd. 11, S. 39. 14 Neuer Breslauer Erzähler, Nr. 22 –25, 8.–29.6.1811.

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schränke ich mich dazu allerdings auf einige kurze, auf Brentanos Rolle zugeschnittene Bemerkungen.15 Die Gründung der deutschen Tischgesellschaft geht auf Achim von Arnim zurück, für eine Initiative Brentanos findet sich kein Hinweis. Auf der Mitgliederliste der ersten Versammlung am 18. Januar 181116 steht sein Name unter 46 genannten immerhin an fünfter Stelle (nach Arnim, Müller, Beckedorff und von Voß). Auf dieser Gründungsversammlung wurden in demokratischer Abstimmung die Vereinsstatuten beschlossen. Die Zulassungsbestimmungen waren einerseits sehr vage und andererseits entschieden restriktiv: wer von zehn Mitgliedern […] als der Gesellschaft wohlanständig und angemessen eingeführt wird, ist dadurch ordentliches Mitglied. Die Gesellschaft versteht unter dieser Wohlanständigkeit, daß es ein Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sey, unter dieser An­ ge­messenheit, daß es kein Philister, als welche auf ewige Zeiten daraus verbannt sind.17 Während das Bürgenprinzip den üblichen exklusiven Vereinsbestimmungen für den Zu­gang zur Mitgliedschaft entspricht, handelt es sich bei dem Ausschluss der Phi­lis­ ter und dem expliziten Anspruch auf eine christliche Herkunft um eine Besonderheit. In Arnims Zirkular hatte es ursprünglich nur geheißen: »christlicher Religion sey«, was durch Mehrheitsbeschluss als Ausschluss aller erst zum Christentum Konvertierten prä­zi­siert wurde, das heißt, es wurden nicht nur keine Juden akzeptiert, sondern auch alle getauften Juden von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Bedenkt man, dass in der Tisch­gesell­schaft bedeutende Vertreter aus den Eliten Berlins (des Regierungsbeamtentums, der Universität, des Militärs und auch des höheren Adels) versammelt waren, so kann dieser demonstrative Akt antisemitischer Diskriminierung in seiner Bedeutung für die sich in einer Umbruchs- und Modernisierungsphase befindende preußische Gesellschaft kaum überschätzt werden. Ideologiegeschichtlich kann hier von der Stiftung der fatalen Kombination von Nationalismus und Antisemitismus gesprochen werden. Brentanos Rolle in der Tischgesellschaft war bis zu seiner Abreise nach Böhmen am 16. Juli 1811 sehr aktiv. Ich habe versucht nachzuweisen, dass er und Arnim in der Tisch­gesellschaft ihre  – bereits im Vorwort zum Wunderhorn weitgehend entwickelten – kulturpolitischen Intentionen weiter verfolgten. Diese in die Geselligkeit der Tisch­gesell­schaft zu integrieren, wird nicht leicht gewesen sein, standen doch im

15 Ausführlicher siehe Nienhaus (Anm. 3), S. 7–74, S. 182 –203, S. 334 –348, sowie (dies ein Verweis in die Zukunft) den Kommentar in der Frankfurter Brentano-Ausgabe. 16 Vgl. WAA, Bd. 11, S. 5. 17 WAA, Bd. 11, S. 7.

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Zentrum der Treffen der Tischgesellschaft vor allem das gemeinsame Mahl (und nicht zuletzt natürlich auch das Trinken); so hatten etwa »Verhandlungen über die Gesetze […] nach der Suppe«18 zu geschehen. Arnim hatte allerdings zur Unterhaltung der Tisch­genossen von Anfang an zu Reden und »Mitheilungen an Kunstsachen, Büchern und Gesängen« aufgefordert. Bereits auf der zweiten Sitzung des Vereins am 30. Januar unterbreitete Bren­tano »Ideen zur aüßeren [!] Verzierung der Treffen«,19 das heißt zu deren kultureller Be­le­ bung durch Vortrag und Gesang, sowie zu deren Ritualisierung durch die Ein­füh­rung von Versammlungsrequisiten wie Trinkbechern und einem Schenkglas, wel­ches wie das­jenige der Zelter’schen Liedertafel von Schinkel hätte gestaltet werden kön­nen und auf dem ein patriotischer »altdeutscher« Trinkspruch eingraviert werden sollte. Auf Bren­tanos Initiative geht die Einführung des Amts eines Schreibers der Gesell­schaft zurück, das ihm selbst übertragen wurde. Von ihm stammt auch der Vorschlag, dass »jeder der einen unbekannteren Zug vaterländischer Treue und Tapferkeit oder überhaupt tüchtiger Gesinnung, oder einen guten ehrbaren Schwank wisse, solchen der Gesellschaft zu allgemeiner Ergötzung kürzlich mittheile«.20 In den Akten der Tischgesellschaft finden sich nicht nur Beispiele der kurzen Schwankerzählungen, die von Brentano und Arnim gemeinsam erstellt wurden, sondern darüber hinaus auch Hinweise auf den Vortrag von Anekdoten. Eine davon in ist der Handschrift Brentanos aufgezeichnet.21 Zumindest im Gründungsjahr zählte Brentano neben Arnim zu den produktiv­ sten Mitgliedern der Tischgesellschaft: Von den etwa 20 Texten des ersten Halbjahres 1811, unter denen die meisten von Arnim, aber auch einige von Staegemann und Becke­dorff sind, stammen immerhin fünf von seiner Hand, und unter allen Tisch­ reden stellt die Philister­abhandlung ohnehin die umfangreichste und die bedeu­tend­ ste dar. Nach Bren­tanos Abreise und auch dem langen Fernbleiben Arnims, der gleichfalls ab Au­gust bis Februar 1812 auf Reisen war, flachte das kulturelle Vereins­leben wohl deut­lich ab (erst 1816 schrieb Brentano noch einmal, inzwischen wieder nach Berlin zurück­ge­kehrt, ein patriotisches Blücher-Lied und ein Ecce quam bonum für die Tischgenossen).22 Brentanos Philisterrede knüpfte an jene Bestimmung der Vereinsstatuten an, dass kein Philister Mitglied werden dürfe. Das Ausschlussverdikt der ›Un­an­gemes­sen­heit‹ im Falle der Philister bezog sich nur auf die Tischgesellschaft und ihre besondere Geselligkeit selbst, während bezüglich der Juden eine soziale Deklassierung de­kre­tiert wur­de, die zumindest intentional über den Kreis der Vereinigung hinausgehen sollte. 18 19 20 21 22

WAA, Bd. 11, S. 6. Vgl. WAA, Bd. 11, S. 14 –16; H: GSA 03  /  262,11. WAA, Bd. 11, S. 15; H: Biblioteka Jagiellońska, Krakow, VS (Varnhagen-Sammlung) 35. Vgl. WAA, Bd. 11, S. 91; H: GSA 03  /  262,11. Vgl. WAA, Bd. 11, S. 211–213.

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Im Falle der Judensatire konnte daher das Publikum nur eine nach Außen gerichtete Stoß­richtung erwarten, während der Philisterscherz auf eine Erwartungshaltung rech­ nen durfte, die beim Lachen über philiströse Abweichungen vom Geselligkeitsziel der Gesellschaft  – wie ich schon eingangs meines Beitrags anzudeuten versucht habe  – auch die eigene Person nicht grundsätzlich ausnehmen musste und wollte. Aufgabe von Brentanos Tischrede war die explizite Darstellung eines Gruppenwertes. Neben dem Hass auf »alles Französische«23 und dem Verlachen der verachteten Juden festigte das eher gemütlich augenzwinkernde Lachen über den ausgeschlossenen Philister das Gemeinschaftsgefühl der Dazugehörenden. Vor diesem Hintergrund wird der Stellenkommentar zu verfassen sein. Bevor ich an einigen Beispielen die vertrackten Probleme nachzeichne, die die Stellen­kom­men­ tierung im Fall der Philisterrede aufwirft, sind allerdings einige allgemeine Hin­weise geboten: Bei den Stellenerläuterungen einer historisch-kritischen Ausgabe soll­te man sich hüten, im Kommentar die Grenze von Explikation mittels Quellen­nach­weisen, Hin­weisen auf intertextuelle Verknüpfungen et cetera zur deutenden Interpretation zu über­schreiten. Schon allein das Wissen um die geringe Zerfallszeit von Interpreta­tio­ nen sollte dem Kommentator als Monitum zur Zurückhaltung genügen, auch wenn es ihn oft noch so sehr reizen mag, seine Lesart gerade der multipel co­dier­ten ro­man­ ti­schen Texte im Editionsanhang zu verstecken. Es gibt für Leser späterer Gene­ra­tio­ nen wohl nichts Ärgerlicheres, als sich in einem Apparatband auf der Suche nach einer nütz­li­chen Sacherläuterung durch einen Wust von überholten Interpretationen hin­ durch­zuquälen. Selbstverständlich ist die Trennwand zwischen Erläuterung des De­ no­tats und der Auslegung einer rätselhaften Textstelle recht dünn, und es wird wohl kaum einen Kommentar geben, der, wenn er sich nicht auf die Angabe von Quellen und die Übersetzung fremdsprachiger Passagen beschränkt, nicht mitunter zum in­ter­ pretierenden wird. Ideologisch besetzte, zeitgebundene Auslegungen – das heißt, im Falle der so stark methologischen Modetrends beziehungsweise -jargons unter­lie­gen­ den Literaturwissenschaft: praktisch alle – sollten jedenfalls in einem Apparat keinen Raum haben. Ein Editor findet aber ohnehin, und damit komme ich zu den angekündigten Beispielen, immer wieder Möglichkeiten, beispielsweise ihm besonders liebgeworde­ne Textsegmente gebührend hervorzuheben, ohne selbst sein eigenes Ausrufe­zeichen an den Rand zu setzen: In der »Erklärung der Kupfertafel« etwa, die dem Druck der Re­de Brentanos beigegeben ist, findet sich zu »No. 4.« folgende Beschreibung (siehe Abb. 1):

23 Arnim in einer Tischrede von 1815, WAA, Bd. 11, S. 206; H: GSA 03  /  262,7.

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Abb. 1

Diese Kette, nicht von Feldhünern, sondern von Enten, ist die Parodie der sogenannten philosophischen und ästhetischen Cliquen aller Zeiten, sie ha­ ben sich alle an einer Angelschnur, woran etwas Speck, fressend und von sich gebend hinter einander eingefädelt, und sie werden so lange eine unendliche Entlichkeit sein, als der Speck noch die Reise aushält […]. Das rührende ist, daß diese Freiwilligen sich alle aus Enthusiasmus enrolliren ließen, und nun doch nichts, als den Faden im Leibe haben, sie sind die wahren Spekulanten, wenn ich dieses Wort in das deutsche Speck, das französische cul und das tirolische Anten für Enten zerlege. (S. 80) Im Kommentar ist in diesem Fall zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass diese Zeich­nung und ihre Erklärung eine Passage aus dem vorstehenden Text der Abhand­ lung variiert beziehungsweise illustriert.24 Sie fügt ihr aber im letzten Satz einen As­ pekt hinzu, der schon Jean Paul besonders gefallen hatte. Es ist pure Pflicht jedes Kom­ mentators, das in Bemerkungen über den »Wortspielerwitz« der zweiten Auflage von 1813 der Vorschule der Ästhetik ausgesprochene Lob anzuführen: 24

24 »[D]enn kein Philister kann etwas verdauen; was er geistig zu sich nimmt, liegt in ihm, wie Bal­ last, und bindet man ihnen die Brocken an Fäden, so kann man sie wie Hühner damit zusammen angeln. Wie manche schöne Guirlande philistrischer Anhänger großer Dichter oder Denker ist nur

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Z. B. in der witzigen kleinen Schrift über die Philister sind die Nachbeter der spekulativen Philosophie als eine Kette von Enten in Kupfer gestochen, wel­che sich am Faden eines Stückchen Speckes, den unverdaut jede wieder von der andern übernimmt, aneinanderfädeln. Diese Spekulanten schreibt der Verf. darauf so: Speck-cúl-anten.25 Noch etwas zur Erklärung der »Erklärung«: Brentano erläutert »No. 2.« der Zeich­nun­ gen wie folgt: Stellet eine aufgehängte Gans vor, der die Leber durch speishaftige Juden so groß gemästet worden, daß sie nicht weiß in großer Abstraktion, ob sie die Leber oder die Gans: die Strasburger Pasteten-Fakultät wird die Sache endlich entscheiden; schade, daß man philosophirende Philister, die in ähnlicher Lage sind, nicht auch unter die Leckerbissen zählen kann. (S. 79)

wie eine Heerde Enten an einen Faden eingefädelt, woran ein Stückchen Speck gebunden, den eine hinter der andern verschluckt, und der nächsten wieder hinten von sich giebt, und wäre eine solche unendliche Entlichkeit eine schöne Arabeske zur Verzierung mancher Propyläen. Ach, wer ist sicher, daß er nicht selbst bereits aufgereiht ist, und daß, wenn einst der Teufel die Schnur anzieht, er nicht mit andern Philistern wie eine Reihe Zwiebeln um den Hals von des Satans Großmutter gehängt wird« (S. 60 f.). Das Bild der an einem Faden aneinander aufgereihten Enten findet sich bereits in der letzten Nummer der Zeitung für Einsiedler (Nr. 37 vom 20. August 1808, Sp. 296) in Arnims Rubrik »Scherzendes Gemisch von der Nachahmung der Heiligen«: »Das Blatt enthielt eine Einladung zur großen Weinleseversammlung für alle Einsiedler, deren Gelübde angenommen, daß sich keiner aus der falschen Gesellschaft einschleiche, sollte jeder eine Probe seines Barts mitschicken, eine warnende Hyeroglyphe aus dem Tempel zu Sais stand dabey, die erklärte der Schulmeister: Sieben Vögel sind durch einen Faden so aneinander gekettet, daß er in den Schnabel des ersten hinein, aus ihm von Sterz zu Schnabel, durch alle sieben hindurch läuft. Die Vögel scheinen Enten; auch w〈e〉issen lose Gesellen, die sich darauf verstehen die Naturtriebe ihrer weniger schlauen Mitgeschöpfe zu ihrem Zwecke zu benutzen, daß wenn man ein Stückchen Speck an einen Bindfaden gebunden, unter einen Haufen Enten wirft, es sogleich von einer gierig verschluckt wird. In kurzer Zeit giebt sie es nach Entenart unverdaut auf natürlichen Wege wieder von sich. Eine zweyte wiederholt den Proceß, und so geht es fort so lange noch eine Ente da ist, die noch nicht von dem Leckerbissen gekostet hat. Der Speck, welcher von der nunmehr geschlossenen Gesellschaft unter immerwährendem Schnattern und  Watscheln durch alle Pfützen geschleppt wird, geht natürlich verloren, aber der mit Hülfe seiner ver­mittelte Verein besteht durch reinen Bindfaden zu großer Belustigung des Stifters und der Zuschauer. – So erklärte der Schulmeister dieses Bild« (vgl. dazu: Renate Moering, »›Begeisterung des Schrei­bens‹. Unveröffentlichte Texte Achim von Arnims zur Zeitung für Einsiedler«, in: Friedrich Strack und Barbara Becker-Cantarino [Hrsg.], 200 Jahre Heidelberger Romantik, Berlin / Heidelberg: Springer 2008, S. 183 –206, hier S. 196 f.). 25 Jean Paul, »Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit«, in: ders., Werke, hrsg. von Norbert Miller, Bd. 5, 4. Aufl., München: Hanser 1980, S. 7–514, hier S. 195.

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Auch in diesem Fall ist ein Bezug zu Jean Paul anzumerken, von dem, wie Heinz Röl­ le­ke gezeigt hat,26 das Bild der gemästeten Gans, auf deren überdimensionierter Leber »Ich = Ich« geschrieben steht, herrührt, und von dessen Clavis Fichtiana Bren­ta­nos Pa­ rodie auf Fichte inspiriert wurde. Allerdings macht die Erklärung zu der gleichfalls auf Fichte zu beziehenden Zeichnung No. 1 die romantische Parodie­auf­fassung Brenta­ nos deutlich, deren Totalität nichts und niemanden ausnimmt. Wer kein Phi­lis­ter sein will, muss die Fähigkeit besitzen, »über das Allertiefsinnigste […] von Herzen lachen« zu können, »aber nicht von Verstand« (S. 45), denn durch das Lachen auch über das »Allerheiligste« (S.  47) soll die Verehrung für dieses keineswegs Schaden nehmen. Denn, wie es in der »Erklärung« heißt: »Uebrigens ist es eine äußerst gefährliche Sache, über diese Kehrseite zu lachen, denn wer die undarstellbar herrliche Vorderseite dieser Figur nicht in tiefster Verehrung anbetet, kann über diese Kehrseite nicht lachen, ohne ein vollkommner Philister zu sein« (S. 79). Dementsprechend versichert Brentano etwa nach den gleich eingangs der Ab­hand­ lung Jakob Böhme gewidmeten Seiten keineswegs scheinheilig: »was ich gesprochen, das glaube ich, und das Lächerliche von Herzen ist nur, daß das Wort an allen En­ den zu kurz ist« (S. 49). Eben nicht die Wortartistik Brentanos, sondern die Sprache Böhmes selbst, jene, wie Brentano einleitend ankündigte, »seltsam klingenden Worte, die einer der heiligsten Denker gedacht« (S. 48). Nebenbei: »das Wort, das an allen Enden zu kurz ist«, gehört zu einer der zahlreichen intratextuellen Vernetzungen, die den »Papst, dem die Rockärmel so kurz sind, daß ihm die nackten Arme, wenn er die Hände nach dem Allerheiligsten hebt, so weit herausfahren, daß man alle Hieroglyphen und Keilschriften der Schröpfköpfe sehen kann, mit denen er sich neulich das böse Geblüht zwischen Haut und Fleisch weggezogen« (S. 47), mit Jakob Böhme und schließlich eben mit Fichte beziehungsweise mit dem sich selbst beschauenden Phi­lis­ ter verknüpft, dem »Alle irdischen Ermel und Ueberzüge […] zu kurz« werden, »in­dem er sich aufstreckt, das Licht, welches auf seinem Haupte in einer Wasserschüssel wie der Geist über den Wassern steht, zu putzen« (S. 79). Dass Brentanos Sprachartistik sich bei seiner Böhme-Parodie auch des Scheinzitats und der entlarvenden Paraphrase bedient, stellt den Kommentator vor schier unlösbare Probleme beim Nachweis direk­ ter Quellenbezüge. Die Sätze klingen wie authentische Böhme-Zitate, allerdings wird man nach einer direkten Einzelquelle vergeblich suchen: Brentano stellt seinen Text im Böhme-Ton aus Anklängen an verschiedene Schriften des Mystikers zusammen. Es gibt noch Problematischeres: Auf der inneren Titelseite, die nicht nur den Titel selbst wiederholt, sondern auch die Aufforderung zur Subskription enthält, findet sich ein Motto in italienischer Sprache:

26 Vgl. Heinz Rölleke, »Die gemästete Gänseleber«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1974, S. 312 –322.

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Ecco alfine il teschio orrendo: Come orribile m’apparve! Quanti mostri, quante larve! L’empio sangue nascer fè! Antonio Filistri. (S. 39) Die bisher einzigen vorliegenden, hervorragenden Stellenerläuterungen zur Philisterabhandlung, die von Friedhelm Kemp stammen und von der beneidenswerten Be­le­sen­ heit und Breite seiner Bildung Zeugnis ablegen, bieten hier bloß eine Übersetzung der Verse an.27 Die Verfasserangabe lassen sie unkommentiert, wohl aus der nahe­lie­gen­den Annahme, dass sich Brentano hier einen Scherz mit dem Italienisch klin­gen­den und latinisierten Philister macht. Doch Antonio Filistri de Caramondani hat es tat­säch­lich gegeben, und er war um 1800 den Besuchern des Berliner Opernhauses als Librettist, der unter anderem auch mit Reichardt zusammengearbeitet hatte, wohlbekannt. Das ihm von Brentano zugeschriebene Zitat konnte hingegen in keinem der von Filistri überlieferten Libretti entdeckt werden. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass es aus einem Text eines weniger bekannten und vielleicht verloren gegangenen Libretto stammt, mit gleichem Recht steht aber zu ›befürchten‹, dass Brentano selbst, der als Sohn eines Italieners diese Sprache ja bestens beherrschte, unter Nutzung einiger Verse aus Guarinis Pastor Fido28 das Motto selbst verfasst hat. Angesichts solcher Textzweifel ist der Kommentator versucht, selbst auszurufen: O wecke mich nicht Leben, Delila,  Rufe nimmer, »Simson! Brentanos Philister über dir!«

27 Clemens Brentano, Werke, hrsg. von Friedhelm Kemp, Bd. 2., München: Hanser 1963, S. 1210: »Sieh hier nun zu guter Letzt den grausigen Schädel; wie entsetzlich erscheint er mir! Wie viele Scheu­sale, wie viele Fratzen sind dem ruchlosen Blut entsprungen!« 28 »Ecco l’orribil teschio / che, cosí morto, par che morte spiri« (Giovanni Batista Guarini, Il pastor fido, tragicommedia pastorale, con annotazioni, Milano: Società Tipografica de’ Classici Italiani 1807 [1590] S. 323). Unter Umständen hat sich Brentano auch von einigen Versen des Dialogs zwischen Amleto und Evandro aus Glucks Alceste (dritter Akt, zweite Szene) anregen lassen: »Quant’ombre! / Quante larve! / Di terribile aspetto! / Di sembianza feroce, e minacciosa!« (Ranieri de’ Calzabigi, Alceste. Orfeo ed Euridice, hrsg. von Fabiana Licciardi, Palermo: Novecento 2000 [1767], S. 128).

Till Dembeck

Transzendentale Exklusionen Philister, Juden, Zigeuner und Deutsche bei Achim von Arnim, Clemens Brentano und Johann Gottlieb Fichte

Die Texte der Romantik wissen nicht so genau, was man den Philistern entgegen­set­ zen kann. Genauer: Unklar erscheint, wie erstens die Gegner der Philister auf einen Begriff gebracht werden können, und zweitens, wie man sich selbst als ein solcher Geg­ner positionieren kann. Der folgende Beitrag vertritt die These, dass Clemens Bren­tano und Achim von Arnim als herausragende Vertreter der antiphiliströsen Romantik zwei unterschiedliche Gegenfiguren zum Philister entwerfen, die es indes beide ausschließen, dass man sich als romantischer Autor oder als Verbündeter solcher Autoren mit ihnen identifizierte: die des ›Juden‹ und die des ›Zigeuners‹. Man kann davon ausgehen, dass beide Figuren – ebenso wie der Philister – von Bren­tano und von Arnim auf einer transzendentalphilosophischen Grundlage be­ schrie­ben werden, und sie sollen hier ausdrücklich nur insofern behandelt sein, als sie von Brentano und von Arnim konstruiert sind. Es handelt sich näherhin um eine Un­ter­schei­dung von Grundoptionen des Umgangs mit der transzendental­philo­so­ phi­schen Einsicht, dass jede Selbst- und Weltbeobachtung von der Be­schaffen­heit der eigenen Erkenntnisorgane abhängt. Brentanos und von Arnims anti­phi­lis­tröse Semantik ist von der Orientierung an diesen Grundoptionen durch­gän­gig ge­prägt, und zwar zunächst unabhängig davon, wem jeweils die Rolle des Juden, des Phi­lis­ters oder des Zigeuners zugewiesen werden kann. Die Flexibilität dieser Zu­wei­sung er­mög­ licht es, dass beispielsweise von Arnim zwar anfangs für den Ein­bezug kon­ver­tier­ter Juden in die ›Deutsche Tischgesellschaft‹ plädiert, später aber die berüchtigte Tischrede »Über die Kennzeichen des Judenthums« (1811) hält, die gerade die Unmöglichkeit jeder Assimilation der Juden behauptet.1 Eine apologetische Beschreibung des romantischen Antisemitismus kommt für die­se Argumentation nicht in Frage. Gewiss ist der romantische Antisemitismus 1 Siehe hierzu Stefan Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 237.

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nicht im luftleeren Raum entstanden und bleibt daher ohne die Berücksichtigung der sozial­his­to­rischen Rahmenbedingungen unverständlich.2 Diese Rahmenbedingungen kön­nen allerdings nicht erklären, warum gerade ein von romantischen Schriftstellern fre­quen­tier­ter beziehungsweise sogar initiierter Zirkel eine der Geburtstätten des mo­ der­nen, rassis­tisch begründeten Antisemitismus werden konnte.3 Wenn der vor­lie­ gen­de Bei­trag versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, so geht er da­von aus, dass die von der Forschung oft vollzogene Operation, den ›eigentlichen‹ Ge­halt ro­ man­ti­scher Theorie­bildung und Literatur von den politischen Tendenzen der Ro­man­ tiker zu tren­nen, zumindest problematisch ist.4  Gerade in der Theoriebildung sind die 2 Daher haben die meisten der vorliegenden Arbeiten zum Thema hier – bzw. an den bio­gra­phi­ schen Umständen – angesetzt, etwa Josef Körner, »Romantischer Antisemitismus«, in: ders., Philologische Schriften und Briefe, hrsg. von Ralf Klausnitzer, Göttingen: Wallstein 2001 [1931], S. 122 –126; Eckart Kleßmann, »Romantik und Antisemitismus«, in: Monat 21 (1969), Heft 249, S. 65 –71, der behauptet, die »Wurzeln des romantischen Antisemitismus« seien »nationaler Natur« gewesen (S. 68); Heinz Härtl, »Romantischer Antisemitismus: Arnim und die ›Tischgesellschaft‹«, in: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 1159 –1173, der den »Hauptgrund für die Intensität der Aversion« von Arnims ge­gen die Juden als einen »ökonomisch-finanzielle[n]« bezeichnet (S.  1166); Wolfgang Frühwald, »Anti­judaismus in der Zeit der deutschen Romantik«, in: Hans Otto Horch und Horst Denkler (Hrsg.), Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahr­hun­ dert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg, Tü­bin­gen: Niemeyer 1989, S. 72 – 91; Gunnar Och, »Alte Märchen von der Grausamkeit der Juden. Zur Rezeption judenfeindlicher Blutschuld-Mythen durch die Romantiker«, in: Aurora 51 (1991), S. 81– 94, demzufolge die Romantiker die Gleichstellung der Juden in erster Linie als »Bedrohung für den eigenen sozialen Status« (S. 87) empfanden. Vgl. auch Heinz Härtl, »Clemens Brentanos Verhältnis zum Judentum«, in: Hartwig Schultz (Hrsg.), Clemens Brentano, 1778 –1842, zum 150. Todestag, Bern u. a.: Lang 1993, S. 187–210. Der Vergleich mit dem sozialen Umfeld lässt für einige Arbeiten die Haltung von Arnims und Brentanos als vergleichsweise harmlos erscheinen, so in apologetischem Duktus bei Gisela Henckmann, »Das Problem des ›Antisemitismus‹ bei Achim von Arnim«, in: Aurora 46 (1986), S. 48 – 69: »Weder Arnims Äußerungen noch seine Einstellung zu den Ju­den lassen sich in seiner Zeit […] als extrem bezeichnen. Daß er dennoch in jüdischen Kreisen [!] in den Ruf der Judenfeindschaft geriet« (S. 52) bzw. überhaupt »geraten konnte« (S. 69), erklärt Henckmann insbesondere mit den Aktivitäten der Tischgesellschaft. Deutlich differenzierter Helmut Hirsch, »›Frauen, Franzosen, Philister und Juden‹. Zu den Ausschlußklauseln der Tischgesellschaft«, in: Heinz Härtl und Hartwig Schultz (Hrsg.), »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim, Berlin / New York: de Gruyter 1994, S. 153 –164. 3 Siehe Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 4. Aufl., München / Zürich: Piper 1995, S. 121 f., die behauptet, im Umfeld der Tischgesellschaft, insbesondere auch in Bren­ tanos Philisterrede, sei »zum erstenmal die Rede von dem Juden« schlechthin. Zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie siehe Jürgen Brokoff, »Gesellschaftlicher Antisemitismus und romantische Geselligkeit. Hannah Arendts Kritik des Gesellschaftsbegriffs und der klassische Begriff des Politischen«, in: Eva Geulen, Kai Kauffmann und Georg Mein (Hrsg.), Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, München: Fink 2008, S. 241–263, zu Arendts Thesen zum romantischen Antisemitismus siehe S. 250 –262. 4 Diese These vertritt auch Brokoff, der die Frage stellt (und bejaht), »ob die theoretisch postulierte und praktisch umgesetzte Geselligkeit der Romantiker nicht aufgrund ihrer inneren Anlage für eine

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Keim­linge jenes »Ideenschutt[s]« späterer Epochen zu suchen, von denen Joachim C. Fest gesprochen hat.5 Das eigentlich Fatale ist nämlich – so möchten wir behaupten –, dass die antiphiliströse Semantik romantischer Prägung, ja überhaupt bestimmte Vorannahmen der romantischen Erkenntnistheorie, wie sie Friedrich Schlegel und Novalis geprägt und von Arnim und Brentano übernommen haben, strukturell gesehen immer schon die Gefahr bergen, gerade aufgrund ihrer Anleihen bei der Transzendentalphilosophie Fichtes mit der ihr eigenen Emphase für die Souveränität des Subjekts jederzeit in eine erniedrigende Diskriminierungspolitik umzuschlagen. Es wird zu fragen und zu zeigen sein, wie man dieser Gefahr entgegenwirken kann – und wie einige ro­man­ tische Texte ihr tatsächlich entgegengewirkt haben. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in vier Teile. Die ersten drei Teile wid­ men sich jeweils den drei Gruppen, von denen sich die romantischen Antiphilister abgrenzen: zunächst den Philistern, dann den Juden, schließlich den Zigeunern. An­ hand der ›Philisterrede‹ Brentanos (1811), der bereits erwähnten Tischrede von Ar­ nims »Über die Kennzeichen des Judenthums« und des Aufsatzes »Von Volksliedern« (1806), den von Arnim dem ersten Band des Wunderhorn beigefügt hat, sowie anhand von Brentanos Erzählung »Die mehreren Wehmüller oder ungarischen National­ge­ sichter« (1817) wird die transzendentalphilosophische Bestimmung dieser Gruppen rekonstruiert. Es folgen im vierten Abschnitt Ausführungen zur Rolle Johann Gottlieb Fichtes für die romantische Philistersemantik. Sie dienen weniger dem Nachweis von Einflüssen, sondern sollen vor allem zeigen, dass die von Manfred Frank und Winfried Menninghaus herausgearbeitete realistische Transformation des Idealismus, wie sie die Romantik betreibt und wie sie bei Fichte allerdings bereits angelegt ist, nicht nur eine avancierte philosophische Leistung darstellt, sondern auch den Ausgangspunkt der ReEthnisierung6 der Philistersatire bildet.

Ein »transcendentaler Theeaufguß«: Philister nach der Geschichte »Der Nahme Philister ist für die jetzigen Philister, die ein transcendentaler Theeaufguß, ein übersinnliches Kofentbier, ein fader, idealer Nachgeschmack der alten, von der Ge­ schichte längst verdauten Philister, sind, ursprünglich von den hohen Schulen aus­ge­ gangen« – mit dieser Bestimmung beginnt in Brentanos Philisterrede der Abschnitt

ideologische Indienstnahme anfällig gewesen ist« (Brokoff, »Gesellschaftlicher Antisemitismus und romantische Geselligkeit« [Anm. 3], S. 255). Brokoff leitet sein Argument aus einer Lektüre der Schleier­macher’schen Geselligkeitstheorie ab. 5 Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt am Main: Ullstein 1987, S. 296. 6 Siehe Georg Stanitzek, »Starke Sozialgeschichte« (Rez. von Nienhaus, Geschichte [Anm. 1]), in: IASL-Online, 14.11.2006, http : // iasl . uni - muenchen .de / rezensio / liste / Stanitzek 3484321156_877.html, hier Abs. 20.

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»Der Philister nach der Geschichte«.7 Die posthistorischen Philister, also diejeni­gen, die seit den Jenaer Ursprüngen der modernen Philistersemantik so genannt werden können, kennzeichnet also nicht ihre ethnische Zugehörigkeit (wie die historischen Phi­lis­ter), sondern sie lassen sich nur aus einer transzendentalen Perspektive bestim­ men. Wie aber funktioniert diese Bestimmung? Der Titel von Brentanos Rede gibt das Programm der Darstellung vor: »Der Phi­ lis­ter vor, in und nach der Geschichte«. Soll der posthistorische Philister, wie gesehen, transzendental definiert werden, so wird der »Philister vor der Geschichte«8 mittels einer metaphysischen Konstruktion erfasst. In dem entsprechenden Abschnitt der Re­ de, den Brentano an die Lehre des »erleuchtete[n] Jacob Böhme«9 anlehnt, wird er als personifizierte »Eigenheit«, also als Gegensatz zu jeder umfassenden »Einheit«10 de­ fi­niert: »[A]ls die Eigenheit selbst, nur sich wollte und nach der Einheit nicht mehr frag­te, entstand der erste Philister, oder die Idee des Philisters, Luzifer«.11 Mit der teuf­ li­schen Möglichkeit, in die Einheit Eigenheit einzubringen, entsteht dieser Kon­struk­ tion zufolge aber auch die Welt, in der daher immer schon Einheit und Eigenheit zugleich am Werk sind – was bedeutet, dass von einem innerweltlichen Stand­punkt aus Einheit und Eigenheit in ihrer ursprünglichen Reinform jeweils nicht erfasst wer­den können. Einheit ist nurmehr im Unterschied zu etwas anderem und daher als Eigenheit zu beobachten, weshalb Brentano das eigene Unternehmen, den Philister als metaphysisches Prinzip vor der Geschichte zu konstruieren, von Vornherein ins Lächer­liche wenden muss. Er selbst hat nämlich im Entwurf seiner Kosmogonie »die Erde geschaffen, und das heruntergeworfen, auf das ich [den Philister] herunterwerfen wollte, und worauf ich eigentlich selbst sitze, und habe so wirklich den Ast heruntergehauen,

7 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (= Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn, Bd. 11), S. 38 – 90, hier S. 59. Die bislang umfassendste Interpretation der Rede hat Stefan Nienhaus (Geschichte [Anm. 1], S. 182 –203) vorgelegt. Siehe auch Günter Oesterle, »Juden, Philister und romantische Intellek­tu­ elle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik«, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 2 (1992), S. 55 – 89; Dieter Arendt, »Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhunderts oder der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation«, in: Orbis Litterarum 2 (2000), S. 81– 102; Konrad Feilchenfeldt, »Die Christlich-deutsche Tischgesellschaft als Thema interdisziplinärer Literaturwissenschaft. Zu Stefan Nienhaus’ archivarischen Studien – mit einem Seitenblick auf eine bisher unbekannte Handschrift von Clemens Brentanos Philister-Abhandlung«, in: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 17 (2005), S. 163 –179. 8 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 47. 9 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 49. 10 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 47. 11 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 48. Vgl. hierzu Johannes Barth, Der höllische Philister. Die Darstellung des Teufels in Dichtungen der deutschen Romantik, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1993, S. 96 –100.

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auf dem ich noch reite«.12 Mit anderen Worten: Jene ›Einheit‹, die Brentano als Urgrund alles Antiphiliströsen ausgibt, beschwört er von einer Position aus, die durch das philiströse Gegenbild der ›Eigenheit‹ überhaupt erst geschaffen worden ist. Die ›Eigenheit‹ als göttliches Nein erweist sich in der Konstruktion als derart unentbehrlich, dass das Philiströse in der Tat als unhintergehbare Bedingung allen Seins erscheint – als Bedingtheit, die jedem Streben nach Unbedingtheit immer schon entgegengesetzt sein muss. Wie kann vor diesem Hintergrund der posthistorische Philister bestimmt wer­ den? Brentano vergleicht seine eigene Situation mit derjenigen des »ehrwürdigsten Papst[es]«, dem beim Erheben der Hände zum »Allerheiligsten« die »Rockärmel« zu kurz werden und seine menschlichste Abhängigkeit in Form von »Schröpfköpfe[n]« offenbaren.13 Ebenso werde ihm selbst (und Böhme) beim Reden das Wort zu kurz und entblöße mit seiner Unfähigkeit, die Transzendenz zu erfassen, zugleich seine men­schliche Bedingtheit. Damit hat Brentano bereits eine transzendentale Perspek­ tive ent­faltet: Er gibt vor, einen gewissen Einblick in die Bedingungen der Möglichkeit des eigenen Erkennens genommen zu haben. Genau an dieser Stelle setzt nun die Beschreibung des posthistorischen Philisters an. Diesem nämlich wird vorge­worfen, ihm werde die Kleidung gerade nicht, wie Brentano selbst, zu kurz, sondern er ziehe sich umgekehrt als personifizierte Eigenheit immer zu weit in die Kleidung zurück. Der Philister ist dieser Konstruktion nach so sehr nur bei sich, dass er jenseits der Hülle, in der er sich behaglich eingerichtet hat, überhaupt nichts mehr wahrnimmt, ja nicht einmal bemerkt, dass dort etwas wahrzunehmen sein könnte. In diesem Sinne ist der Philister ›naiv‹: Nach Fichtes Terminologie ein ›dogmatischer Realist‹,14 nimmt er das unmittelbar Gegebene für bare Münze – und zwar nur dieses. Er ist also gekennzeichnet durch die gänzliche Unfähigkeit zu jeder Reflexion, die seine existentielle Abhängigkeit zutage fördern könnte: »[E]in Philister ist ein Kerl, vor dem alle Spie­gel, und so auch die Schöpfung, Gottes Spiegel, blind sind von Ewigkeit«.15 Das heißt im Umkehrschluss: Gegen die Philister profiliert man sich gerade durch die Fähig­keit zur transzendentalen Reflexion und die damit einhergehende Möglichkeit, über die Grenzen der Eigenheit hinaus Einheit zu sehen. Es ist in der Forschung  – etwa von Günter Oesterle, Robert  E. Sackett, Stefan Nien­haus und Georg Stanitzek – betont worden,16 dass das Bewusstsein der Schwierig­ 12 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 48. 13 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 47. 14 Siehe Johann Gottlieb Fichte, »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre«, in: ders., Werke 1793 –1795, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1969 [1794  /  95] (= J. G. Fichte – Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von R. L. und Hans Gliwitzky, Bd. I.2), S. 173 – 451, hier S. 310. 15 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 44. 16 Oesterle, »Juden, Philister und romantische Intellektuelle« (Anm. 7), S. 83; Nienhaus, Ge­schichte (Anm. 1), S. 185  f.; Stanitzek, »Starke Sozialgeschichte« (Anm. 6), Abs. 18  f.; Robert  E. Sackett,

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keit, wenn nicht der Unmöglichkeit, sich vollständig gegen jegliche Form von Phi­lis­ tro­sität zu profilieren, in den Texten der Romantiker auf Schritt und Tritt begegnet. Dies trifft auch für diejenige Variante der Philisterkritik zu, die sich der hier skiz­zier­ ten transzendentalen Argumentation bedient. Genauer gesagt wird die transzendentale Einsicht in die Unzulänglichkeit der eigenen (metaphysischen) Reflexionsfähigkeit ge­ nau dann zum Problem, wenn sie als empirisches Unterscheidungsmerkmal eingesetzt wird, wie es beispielsweise in den Exklusionsregeln der Tischgesellschaft vorgesehen ist. Unterschieden wird hier zwischen denjenigen, die erwiesenermaßen Philister sind,  und denjenigen, die erwiesenermaßen keine Philister sind.17 Entscheidend ist dabei der Rück­bezug auf das Sein der Personen, auf die die Unterscheidung Anwendung finden soll. Wer aber die eigene Fähigkeit zur transzendentalen Reflexion als substantiell gegebenes Strukturmerkmal seines Seins ansieht, vertraut einer empirischen Setzung und läuft dann Gefahr vorauszusetzen, dass etwas ist, ohne zu fragen, was die Bedin­gun­gen der Möglichkeit sind, dieses Sein zu erkennen. Die transzendentale Reflexion bricht dann in genau dem Moment ab, in dem sie als empirisch gegebene Fähigkeit aus­ ge­geben wird. Derjenige, der Antiphilistrosität für sich reklamiert, mag denn auch nach dem dreizehnten der »Sätze, die verteidigt werden können«, die der Philisterrede vorangestellt sind, selbst dem Philistertum verfallen. Denn: »Kein Philister kann glau­ ben, daß er einer sey; er kann überhaupt nur seyn, und nicht glauben.«18 Vorsichtshalber greift Brentano daher zum Mittel der Selbstdenunziation als Phi­ lis­ter: Das »Philistertum« bezeichnet er »als Blatterkrankheit, die ein jeder mehr oder weniger hat«;19 es heißt: »wer sich schuldlos fühlt, der werfe den ersten Stein auf – sich.«20 Und als Brentano die geistig verdauungsunfähigen Philister mit Enten vergleicht, die ein Speckstückchen, das an einen Faden gebunden ist, der Reihe nach auf­fressen und immer wieder unverdaut ausscheiden, muss er doch schließen: »Ach, wer ist sicher, daß er nicht selbst bereits aufgereiht ist, und daß, wenn einst der Teufel die Schnur anzieht, er nicht mit andern Philistern wie eine Reihe Zwiebeln um den Hals von des Satans Großmutter gehängt wird.«21 Wenn also als Gegenbild zu den Philistern der wahrhaft ›Studierende‹ aufgeführt wird, »im weitern Sinne […] eines Erkenntnißbegierigen, […] eines Menschen, der in der Erforschung des Ewigen, der Wissenschaft, oder Gottes, begriffen«,22 und wenn Brentano als einen »in seiner In­di­ vi­dualität vollendeten Studenten […], der auf allen Punkten seiner selbst gleich stark »Brentano in Berlin: the attack on the Philistines«, in: Oxford German Studies 24 (1995), S. 60 –79, hier S. 77: »The newest philistine is an incautious poet.« 17 Achim von Arnim, »Bericht«, in: ders., Texte der deutschen Tischgesellschaft (Anm. 7), S. 6 f., hier S. 7. 18 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 41. 19 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 60. 20 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 61. 21 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 61 f. 22 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 59.

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empfängt und gibt«, nur Goethe gelten lässt, so verbindet sich diese Zuschreibung mit einer massiven Abwertung aller anderen. Denn »[a]lle anderen haben mehr oder we­ ni­ger ein übertriebenes Einathmen und fatales Ausdünsten«23 und können das Ideal eines immer gleichstarken Empfangens und Abgebens, eines Oszillierens zwischen Selbst und Welt oder zwischen Eigenheit und Einheit, also ein ausgewogenes Selbstund Weltverhältnis, nicht erreichen.24 Brentanos Selbstdenunziation lässt sich als Konsequenz des tiefen Misstrauens ge­ gen die Geniesemantik des 18. Jahrhunderts lesen, die sich in vielen Texten der Ro­ man­tik – etwa bei Friedrich Schlegel und Novalis, aber auch schon bei Fichte25 – ar­ti­ ku­liert. Der Einzelne kann demnach keinesfalls sicher sein, dass er auf etwas Originales stößt, wenn er die Tiefe seines Gemüts sondiert: Er besitzt – darin besteht, wieder in Fichtes Terminologie formuliert, der transzendental gewendete ›realistische‹ Zug der romantischen Erkenntnistheorie26 – weder einen unmittelbaren Zugang zur Einheit der Welt, noch ist ihm die Eigenheit seiner selbst gänzlich eigen. Vielmehr ist sein Selbst- und Weltverhältnis durch ihm innewohnende ›fremde‹ Strukturen bedingt, die unabhängig von seinem Zutun immer schon da, der transzendentalen Selbst­reflexion aber unzugänglich sind. Daher kann sich jederzeit zeigen, dass man, ohne es zu merken, vermittels dieser dem Ich fremden, aber womöglich unerkannten Strukturen längst Teil einer Gruppe ist, der man keinesfalls angehören möchte: Erst wenn ›der Teu­fel die Schnur anzieht‹, merkt man dann, dass diese Gruppenzugehörigkeit dem ei­ ge­nen Sein immer schon zugrunde gelegen hat. In Anknüpfung an die Emphase, mit der Fichtes Transzendentalphilosophie auf den Souveränitätswillen des Subjekts ge­setzt hat,27 und diese auf den Prozess der Gemeinschaftsbildung übertragend, machen die Romantiker daher den Versuch, jeder durch das Sein vorgegebenen Gruppen­bil­dung durch alternative Formen der Vergemeinschaftung zuvorzukommen, etwa durch die 23 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 60. 24 Als erster in diesem Sinne nicht vollkommen Gebildeter wird übrigens Friedrich Schlegel genannt (Brentano, »Der Philister« [Anm. 7], S. 60). – In sozialgeschichtlicher Hinsicht ist die Etablierung der Unterscheidung gebildet / ungebildet um 1800 eine entscheidende Station auch für die Philistersemantik (vgl. hierzu Heinrich Bosse, »Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 32.1 [2008], S. 13 –37). 25 Johann Gottlieb Fichte, »Reden an die deutsche Nation«, in: ders., Werke 1808 –1812, hrsg. von Reinhard Lauth, Erich Fuchs, Peter K. Schneider, Hans Georg von Manz, Ives Radrizzani, Martin Siegel und Georg Zöller, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 2005 (= J. G. Fichte – Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von R. L., E. F. und Hans Gliwitzky, Bd. I.10), S. 1–296, hier S. 164 f. 26 Siehe hierzu Winfried Menninghaus, »Die frühromantische Theorie von Zeichen und Meta­ pher«, in: German Quarterly 62.1 (1989), S. 48 –58, hier S. 52; ders., Unendliche Verdoppelung. Die früh­romantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt am Main: Suhr­kamp 1987, S. 81– 96. 27 Siehe Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 263.

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Aufwertung gemeinschaftlichen Schaffens. So können Sympoesie, Symphiloso­phie28 oder auch Sympolemik29 als quasi-geniales Gegengewicht zur allgemeinen Phi­lis­tro­si­ tät der Gegenwart in Stellung gebracht werden. Nicht zuletzt vor diesem Hin­ter­grund entfaltet sich in der Tischgesellschaft und insbesondere im Ausgang von Bren­tanos Philisterrede der von Günter Oesterle beschriebene »Lachexorzismus«,30 der die versammelte Gemeinschaft zumindest für den Moment von der überall drohenden Phi­ lis­tro­sität reinigen soll. Das gemeinsame Lachen über die Philister, das immer auch ein Lachen über sich selbst ist, soll eine reflexive Erhebung über philiströse Eigenheiten und über die womöglich unhintergehbare eigene Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bewirken. Man muss dazu, wie es bei Brentano heißt, »über das Allertiefsinnigste […] von Herzen lachen«, wobei dieses Lachen ›von Herzen‹ von einem Lachen »von Verstande« abgegrenzt wird – »denn so lacht der Teufel«, also der Philister.31 Die Din­ge, über die man von Herzen lacht, sind gerade diejenigen, die der Verstand gar nicht mehr erfassen, über die er sich also auch nicht lachend erheben kann, etwa also die von Bren­tano beispielhaft angeführten Szenen, in denen jemandes Verhalten durch kon­tin­ gente Rahmenbedingungen bestimmt ist, die der Betreffende nicht als solche erkennt, sodass er sich lächerlich macht: [M]anches Philosophieren [ist] darum schon lächerlich, weil ein Kerl, der im Mittelpunkte steht und einen Spiegel gegen sich gekehrt an der Leine hal­ tend wie ein Pferd die Ronde machen läßt, ihn doch nie so schnell schwingen kann, daß ihm nicht ein ordinairer Feldhase durch das System laufen könne, und daß er am Ende sich doch immer mehr allein sieht, je schneller er dreht, und daß, will er gar eine Kugel schwingen, ihm das Ding leicht auf die Nase fällt; […] [auch] ist es sehr lächerlich, wenn ein Huhn in einem runden Git­ ter­korbe von Stab zu Stab herum kreiset, und weil das Gefängniß rund ist, sich nimmer überzeugt, daß es kein Loch zum Ausgang gebe, als den Tod; indes geht die Sonne ebenso über dem Korbe am Himmel herum.32 Es wird demnach einerseits eine bestimmte Spielart der Selbstreflexion, andererseits das gänzliche Fehlen der Selbstreflexion als lächerlich ausgewiesen. Letzteres liegt im 28 Kurt Röttgers, »Symphilosophieren«, in: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981), S. 90 –119; Remigius Bunia und Till Dembeck, »Freunde zitieren. Zum Problem wissenschaftlicher Verbindlichkeit«, in: Natalie Binczek und Georg Stanitzek (Hrsg.), Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie, Heidelberg: Winter, S. 161–195. 29 Günter Oesterle, »Schiller und die Romantik. Eine kontroverse Konstellation zwischen klassi­ zis­tischer Sympoesie und romantischer Sympolemik«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 401– 420. 30 Oesterle, »Juden, Philister und romantische Intellektuelle« (Anm. 7), S. 85. 31 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 45. 32 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 45.

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Falle der Philister vor, ist vor ihnen doch, wie bereits zitiert, ›jeder Spiegel blind‹. Und jede Selbstreflexion, also insbesondere jede Form der Transzendentalphilosophie wird lächer­lich, wenn sie ausschließlich den Spiegel des Selbstbewusstseins beachtet, wenn sie also, wie Fichtes zunächst ganz auf den Erweis subjektiver Souveränität aus­ge­rich­ tete Variante der Transzendentalphilosophie, meint, ihre eigene empirische Fä­hig­ keit zur transzendentalen Reflexion transzendental begründen zu können.33 Nur im Spiel mit den kontingenten Grundlagen der eigenen Erkenntnisfähigkeit, ja der ei­ge­ nen Exis­tenz, wie es die Philistersatire betreibt, mag ein Ausweg aus dieser Situation liegen – ein gegenüber der Fichte’schen Abstraktion zutiefst romantischer Ausweg, der einige Ähnlichkeit mit der von Novalis beschriebenen Operation des ›Romantisierens‹ der Welt aufweist, der ebenso spielerischen wie willkürlichen Manipulation der eige­ nen Ein­bil­dungs­kraft.34

›Staat im Staat‹: Die Juden der Tischgesellschaft Ich möchte im Folgenden zeigen, dass eine transzendentale Figuration, wie sie den Phi­lis­ter definiert, auch der Bestimmung der beiden Gruppen zugrunde liegt, die Bren­tano und von Arnim den Philistern entgegensetzen: die Juden und die Zigeuner. Für beide Gruppen ist behauptet worden, dass sie – wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise – Merkmale der romantischen Antiphilister teilen. So hat Günter Oesterle behauptet, die ›Lachexorzismen‹ der Tischgesellschaft hätten nicht nur dazu ge­dient, das Philiströse, sondern auch das Jüdische, das den Mitgliedern womöglich an­haf­tete, auszutreiben;35 und so haben Ingrid und Günter Oesterle gezeigt, dass die 33 Laut Nienhaus geht es Brentano darum, die »Absurdität des Fichteschen absoluten Ichs« zu de­ nun­zieren: »Die Beteuerungen eigener Unbeholfenheit gegenüber dem hohen Gegenstand […] ge­ra­ ten zu einer Binnensatire auf die Wissenschaftslehre Fichtes, die deutlich derjenigen des 1800 er­schie­ nenen ›Clavis Fichtiana‹ Jean Pauls verpflichtet ist. […] Es handelt sich um Anti-Fichte-Embleme, zu denen die subscriptio der Leibgeberschen Parodie vom Leser selbst zu ergänzen wäre« (Nienhaus, Geschichte [Anm. 1], S. 189). Siehe hierzu auch Dieter Arendt, »Das Philistertum des 19. Jahrhun­ derts«, in: Monat 21 (1969), Heft 248, S. 33 – 49, hier S. 38 f. 34 Siehe Till Dembeck, »Figur / Ornament: Romantische Poetik im Kontext von Akustik und Schall­aufzeichnung«, in: Bernhard Spies und Dagmar von Hoff (Hrsg.), Textprofile intermedial, München: Meidenbauer 2008, S. 143 –161. 35 Der »Schlüssel für das Junktim von Philister- und Judenverdammung« liegt laut Oesterle da­rin, dass »[b]eide, Philister und Juden, […] gleichermaßen den geistlosen Buchstaben« verkörpern (»Ju­ den, Philister und romantische Intellektuelle« [Anm. 7], S. 72). Beide Gruppen werden als »nicht wand­lungs­fähig« (S. 73) ausgeschlossen. Die Pointe von Oesterles Beitrag besteht nun in dem Nachweis, dass die Philister- und Judensatire »nicht nur eine exklusive, aggressive Identitätsbe­haup­tung nach außen« ist, sondern »zugleich Ausdruck eigener Selbstunsicherheit und Ambivalenz, eines ab­ge­ wehr­ten Philisterhaften und Jüdischen an sich selbst« (S. 83). Zur ›Selbstreinigung‹ verordnen Bren­ tano und von Arnim die »Initiierung eines Lachprogramms« (S. 84); Oesterle spricht, wie bereits zitiert, von einem »Lachexorzismus« (S. 85) und weist nach, dass sich der Philistervorwurf immer

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Zigeuner in ihrer Nichtsesshaftigkeit ein Muster der (geistigen) Beweglichkeit und der organischen Einheit darstellten, das den Romantikern als »Reflexionsmedium der ei­ ge­nen Dichterexistenz« dienen konnte.36 Was die Judensatire Brentanos und von Arnims angeht, hat Nienhaus Oesterles These angegriffen.37 Ich möchte Oesterle im Folgenden verteidigen, seiner These al­ ler­dings eine neue Begründung geben, indem ich behaupte, dass Brentano und von Arnim in der Judensatire implizit ein Problem der eigenen Gruppenbildung dis­ku­tie­ ren, ohne dies jedoch einzugestehen. Ist das Lachen über die Philister immer auch ein mehr oder weniger explizites Lachen über sich selbst, so bleibt diese Rück­kop­pe­lung im Falle der Judensatire also latent.38 Das Gruppenbildungsproblem, um das es hier geht, entsteht auf der Ebene ei­ner transzendentalen Argumentation. Es lässt sich recht präzise angeben, welche trans­ zen­den­talen Eigenschaften die Juden Brentano und von Arnim zufolge auszeich­nen und inwiefern diese Eigenschaften auch den antiphiliströsen Romantikern zukommen. Brentanos bereits zitierte Aufstellung der »Sätze, die verteidigt werden können« beginnt mit folgender Abgrenzung: 1. Was hier philistrisch genannt wird, ist nur, was jeder Philister von Herzen gern ist.

auch nach Innen wendet. Das gilt, so Oesterle, in verdeckter Weise auch für die Wendung gegen ›das Jüdische‹: Ein ›jüdisches‹ Moment romantischer Intellektualität liege laut aufklärerischer Polemik in den Lebensbedingungen des Schriftstellerstands, der sich in seiner Unproduktivität der angeblichen Lebensweise der Juden angleiche: »Juden und Romantiker eint aus der Sicht des Gegners die Vernachlässigung, ja Herabsetzung dessen, was zentral für die bürgerliche Gesellschaft ist: die Arbeit« (S. 86). Der entscheidende Satz des Aufsatzes von Oesterle, der diesen Punkt präzisiert, ist, wohl wegen eines Satzfehlers, leider nur unvollständig abgedruckt. Er sei hier dennoch zitiert: »Denn bei aller provozierenden Feindseligkeit nach außen gibt es letztlich keine klare Abgrenzung gegen­ein­ ander, keine Sekuritätsbasis, die ein Selbsttangiertsein ausschlösse, sondern eine unterschwellige, bis zur Umsetzbarkeit romantischen deutschen Schriftsteller, zeugt von seinem sozialen Gleichge­wichts­ mangel und seinem labilen gesellschaftlichen Selbstbewußtsein« (S. 88 f.). 36 Ingrid Oesterle und Günter Oesterle, »Die Affinität des Romantischen zum Zigeunerischen oder die verfolgten Zigeuner als Metapher für die gefährdete romantische Poesie«, in: Holger Helbig, Bettina Knauer und Gunnar Och (Hrsg.), Hermenautik  – Hermeneutik. Literarische und geistes­ wissen­schaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 95 –108, hier S. 97. Weiter heißt es: »Die den Zigeunern zugeschriebenen Eigenschaften des Schweifenden, Nichtfixierbaren, Sich-Entziehenden bleiben nicht an der motivischen Darstellungsoberfläche haften; sie durchdringen subkutan die gesamte romantische Poesie, so daß zugespitzt behauptet werden kann, das Romantische habe eine Affinität zum Zigeunerischen.« 37 Nienhaus, Geschichte (Anm. 1), S. 216. 38 Vgl. den Befund von Brokoff, »Gesellschaftlicher Antisemitismus und romantische Geselligkeit« (Anm. 3), S. 252: »Eine […] Fahndung nach dem ›Juden in sich selbst‹ gibt es in den Reden Brentanos und Arnims nicht.«

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2. Was hier als jüdisch aufgeführt wird, ist nur, was jeder Jude um alles in der Welt gern los würde, ausser ums Geld, und was ein edler Jude selbst an unedlen Christen verachtet.39 Nimmt man die bereits zitierte Bestimmung hinzu, ein Philister könne ›überhaupt nur sein‹, so kennzeichnet den Philister also eine umfassende Zufriedenheit mit die­ sem Sein, während die Juden nicht sein wollen, was sie sind. Die Philister wissen über die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe gar nichts, während die Juden unter dem Wissen leiden, dass sie ihrer Gruppe qua Sein angehören. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung ist es nur konsequent, wenn von Arnim in seiner berüchtigten Rede über die »Kennzeichen des Judenthums« behauptet, »daß auf ewige Zeiten kein Jude ein Phi­lis­ter werden kann; er mag sich ernsthaft anstellen, wie er will, der närrische Kerl sieht immer heraus«.40 Wer werden will, was er nicht ist, wird in der Tat nie in den absoluten Unschuldsstand des Philisteriums zurückfallen können, innerhalb des­sen die Freuden des bloßen Seins in keinster Weise durch die Erkenntnis, dieses Sein könne auch anders sein, getrübt werden. Entsprechend werden die Juden keineswegs al­lein auf­grund der Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe zum Gegenstand der Satire, sondern viel­mehr erst dadurch, dass ihnen unterstellt wird, sie wollten ihre Gruppenidentität durch Assimilation ablegen. Obwohl sich ihre Gruppe durch ein empirisch über­ prüf­bares Sein definiert, wollen die Juden, so die Unterstellung, nicht sein, was sie sein müssen. Nun artikulieren sich aber in von Arnims und Brentanos Texten unterschwel­lig durchaus Parallelen zwischen Antiphilistern und assimilierungswilligen Juden, die ge­ ra­de diese Unzufriedenheit mit dem eigenen Sein betreffen. Etwa findet eines der üble­ ren antisemitischen Klischees, die von Arnim in seiner Rede bemüht, bei Brentano mittelbar Anwendung auf die Mitglieder der Tischgesellschaft selbst: Von Arnim verweist auf ein Gesetz, das einmal bestimmt habe, »daß [die Juden] sich durch grü­ne Hüthe schon in der Entfernung deutlich machen sollten, um ihrem Geruch aus­wei­ chen zu können«.41 Ein solcher ›Geruch‹ kennzeichnet aber möglicherweise auch die Anti­philister. Es ist ja laut Brentano, wie bereits zitiert, letztlich allen Men­schen (außer Goethe) ein »mehr oder weniger […] übertriebenes Einatmen oder fatales Aus­dün­ sten« eigen. Insofern diese Metapher bei Brentano für Formen der Unausgewogenheit  39 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 40. 40 Achim von Arnim, »Ü b e r d i e K e n n z e i c h e n d e s Ju d e n t h u m s . Bericht von einem der Mitglieder des gesetzgebenden Ausschusses«, in: ders., Texte der deutschen Tischgesellschaft (Anm. 7), S. 107–148, hier S. 126.  – Die bislang gründlichste Interpretation der von Arnim’schen Rede hat Nienhaus vorgelegt (Nienhaus, Geschichte [Anm. 1], S. 216 –237). Nienhaus gibt auch einen sehr dif­feren­zierten Überblick zur vorangehenden Forschung (S.  324 –331). Siehe auch Ethel Matala de  Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Ro­ mantik, Freiburg: Rombach 1999, S. 377–383. 41 Arnim, »Kennzeichen« (Anm. 40), S. 111.

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von Selbst- und Weltverhältnis einsteht, stellt sich das philiströse ›Bei-sich-Blei­ben‹ und ›An-sich-Halten‹ als ›übertriebenes Einatmen‹ dar, während das jüdische Begehren,  etwas anderes zu werden als man ist, als ›fatales Ausdünsten‹ erscheint. Liegt nun aber ein solchermaßen als ›jüdisch‹ gekennzeichnetes gestörtes Weltverhältnis nicht ge­rade dem Projekt der Tischgesellschaft zugrunde, deren Mitglieder sich nicht mit dem­je­ni­ gen abfinden wollen, was sie bislang vielleicht gewesen sind? Immerhin sind die ›Lachexorzismen‹ der Tischgesellschaft ja nur deshalb nötig, weil der Verdacht besteht, dass man selbst der Gruppe der Philister vielleicht doch schon qua Sein zugehört. Ist bei ihren Mitgliedern also nicht dieselbe transzendentale Disposition zu konstatieren wie bei den assimilierungswilligen Juden? Man sieht: Auch hier ergeben sich Abgrenzungsprobleme. Genauer ergibt sich der Verdacht, dass die Tischgesellschaft im Sinne ihrer eigenen Schemata sowohl jü­disch als auch philiströs ist. Von Arnims Rede über die »Kennzeichen des Judenthums« ar­ ti­ku­liert daher nicht nur insofern ein Problem der eigenen Gruppenbildung, als sie als ihren Anlass die Gefahr vorspiegelt, die Tischgesellschaft könne von Juden unter­ wan­dert werden.42 Es könne sein, so suggeriert von Arnim, dass die Juden dank ih­ rer Assimilierungsfähigkeit längst dort sind, wo sie hinwollen, in diesem Falle also bei den selbst­er­nannten Antiphilistern, wenn von Arnim auch behauptet, dass sie deswe­ gen noch lange nicht geworden seien, was sie zu sein scheinen. Das Problem, das die Judensatire artikuliert, besteht aber darin, dass auch die Antiphilister noch lange nicht sind, was sie zu sein vorgeben, wenn sie sich und andere von ihrer Antiphilistrosität überzeugen. In ihrer Wendung gegen die eigene Zugehörigkeit zur Gruppe der Phi­lis­ ter macht sich die Tischgesellschaft also vielleicht – nach ihrem eigenen transzenden­ talen Schema – zu einer Judengemeinde, ohne sich jedoch diese Strukturparallele ein­ zu­gestehen. Letztlich können auch die Mitglieder der Tischgesellschaft immer nur ver­suchen, sich souverän aus ihrer philiströsen Umwelt herauszulösen, ohne dass je ge­währ­leistet wäre, dass diese Ablösung wirklich gelingen wird. So aber geriert sich die Tisch­gesell­schaft als eine ebensolche ›Verschwörung‹, wie sie sie den Juden vorwirft. In­dem sie gewissermaßen den ›Marsch durch die Institutionen‹ erfindet,43 läuft sie Ge­fahr, zu etwas zu werden, was spätestens seit Fichtes Revolutionsschrift von 1793 als Struk­tur auch des Judentums ausgegeben wird: ein ›Staat im Staat‹.44 42 »Juden […] haben: E r s t l i c h ; eine seltene Kunst sich zu verstecken und ihre Eigen­thüm­lich­ keiten sind noch keineswegs wissenschaftlich bestimmt: Zw e y t e n s , haben sie eine teuflische Neugierde, das Gute kennen zu lernen, um es schlecht, oder nach einem Sprichwort, sich unter Pfeffer wie ein – Rezensent zu mischen« (Arnim, »Kennzeichen« [Anm. 40], S. 109). 43 Siehe die Einleitung zu diesem Band, S. 17. 44 Johann Gottlieb Fichte, »Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die fran­zö­ sische Revolution«, in: ders., Werke 1791–1794, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob, StuttgartBad Cannstatt: Frommann 1964 (= Gesamtausgabe [Anm. 14], Bd. I.1), S. 193 – 404, hier S. 292 f. Zum historischen Stellenwert dieser Ausführungen Fichtes siehe Nienhaus, Geschichte (Anm. 1), S. 209; siehe auch Julius Carlebach, »The Forgotten Connection. Women and Jews in the Con-

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Die Judensatire projiziert also ein nur transzendental zu beschreibendes Problem der eigenen Gruppenbildung auf die Juden, vollzieht damit aber eine empirische Exklusion, von der dann behauptet wird, sie sei im (wenn auch im Einzelfall kontingenten) Sein der Ausgeschlossenen begründet – in einem Sein, gegen das man selbst gefeit zu sein glaubt. Verlässt schon die Anwendung der Philisterkategorie in den Ausschlusskriterien der Tischgesellschaft den Boden der transzendentalen Reflexion, so gilt dies also erst recht für die Judensatire. Sie unterschreitet das genuin romantische Reflexionsniveau und macht sich einer erniedrigenden Interessenpolitik dienstbar – mit höchst ernsthaften und keineswegs nur scherzhaften Wirkungsabsichten. Damit aber wird an der Judensatire die Schattenseite des gesamten romantischen Philisterdiskurses sichtbar. Keineswegs nämlich ist die Philistersatire mit dem einfachen Verweis auf ihre iro­ ni­sche Brechung gegenüber der Judensatire zu retten. Denn auch die Philistersatire soll politisch wirksam eingesetzt werden. Der ›Lachexorzismus‹ der Tischgesellschaft dient ja nicht zuletzt dem Nachweis, dass man das selbstreflexive Spiel der Philistersatire beherrscht, dass man es kann – auch wenn man weiß, dass dies nur kon­tin­genter­weise so ist. Letztlich konstituiert die Gemeinschaft der Tischgesellschaft nichts an­de­res als das kontingente Faktum, dass sie sich 1811 in dieser Besetzung zusammen­ge­fun­den und strenge Aufnahmebedingungen gesetzt hat, die ihr – trotz oder gerade wegen des Mangels an eindeutigen Kriterien – eine letztlich willkürliche Entscheidungsfreiheit lassen. Es ist ja auch ihr Ziel zu erweisen, dass, so von Arnim in einer Tischrede aus dem Jahre 1815, eine »gemischte Gesellschaft aus vielen treflichen, aber einander we­nig bekannten Menschen zur gemeinsamen Berathung über Gesetze«45 fähig sei. Die­ser de­mo­kra­tische Anspruch aber geht im Falle der Tischgesellschaft einher mit der For­de­ rung an die einzelnen Mitglieder, jeweils für sich bereits jene Souveränität zu besitzen, die der Gemeinschaft zukommen soll. Die ›trefflichen‹ Mitglieder stellen durch er­folg­ reiche ›Lachexorzismen‹ ihre Souveränität unter Beweis und versichern sich so ihres kontingenten Seins und umgekehrt der Tatsache, dass andere über diese Souveränität qua Sein leider nicht verfügen.

flict between Enlightenment and Romanticism«, in: Publications of the Leo Baeck Institute. Year Book XXIV (1979), S. 107–138, hier S. 132 –135. Zur Entstehung des Konzepts des Staates im Staat siehe Jacob Katz, Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 124 –153. 45 Achim von Arnim, »Rede von 1815«, in: ders., Texte der deutschen Tischgesellschaft (Anm. 7), S. 202 –209, hier S. 205. – Matala de Mazza schreibt hierzu treffend: »Es ist der Tischgesellschaft […] nicht um die bloße Affirmation einer unvordenklichen gemeinschaftlichen Substanz zu tun, son­dern um die eigene Ermächtigung zur constituante« (Matala de Mazza, Der verfaßte Körper [Anm. 40], S. 369). Allerdings beruhe diese Ermächtigung auf einem bereits vorgegebenen Einverständnis, was »die ›konstitutionelle Selbstbegründung‹ zu einem nachträglichen […] Akt« degradiere (S. 370). – Matala de Mazzas insgesamt sehr treffende Argumentation unterschätzt mit ihrem Fokus auf die or­ gano­logischen Modellen von Arnims und seiner Mitstreiter den Stellenwert, der genuin erkenntnistheoretischen Belangen bei der Konstitution der Tischgesellschaft zukommt.

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Das Fatale an der in der Philistersemantik transzendental hergeleiteten und in ei­ nem genuin romantischen erkenntnistheoretischen Realismus wurzelnden Einsicht in die kontingenten Grundlagen des Seins und der aus dieser Einsicht abgeleiteten For­ de­rung, mit diesen Grundlagen dennoch sein Spiel zu treiben, ist dann aber, dass sie es nahelegt, bestehende oder willkürlich erzeugte Machtverhältnisse als etwas aus­zu­ geben, was es nun einmal gibt – und was daher nicht weiter begründet werden muss. Es gibt eben, so das Argument, einen Unterschied zwischen denjenigen, die zum Spiel mit den kontingenten Grundlagen ihres Seins in der Lage sind, und denjenigen, die dazu nicht in der Lage sind, auch wenn sie es nicht zu verantworten haben beziehungsweise sogar vielleicht niemand es zu verantworten hat. Der ›Spaß‹ besteht dann da­rin, dies als »Verehrung gegen das Bewährte in der Geschichte«46 auszugeben, die nun einmal diese Konstellation in die Welt gesetzt habe. Die Exklusion der Juden, aber auch der Philister, torpediert demnach als Machtbeweis zwar den transzenden­ta­len Grün­ dungs­akt der Tischgesellschaft. Jedoch hat gerade die Reflexion auf die Gren­zen der Re­fle­xion dazu verführt, den Reflexionszirkel zu durchbrechen. Man stellt dann zu­ frie­den fest, dass die souveräne Gemeinschaftsbildung durch willkürliche Ex­klu­sion funktioniert.

Imitatio Christi: Die Zigeuner der Romantik Philister und Juden stellen also in der romantischen Philister- und Judensatire Bren­ tanos und von Arnims zwei Varianten eines transzendentalen Reflexionsdefizits dar: Die Philister kennzeichnet, dass sie die kontingenten Rahmenbedingungen ihrer Exis­ tenz selbstzufrieden für notwendig erachten. Die Juden hingegen versuchen, die ihnen gesetzten Rahmenbedingungen durch Dissimulation zu überwinden: Sie wollen wer­ den, was sie nicht werden können. Brentano und von Arnim begründen nun ge­gen beide aus dem Kreis der ›deutschen Tischgesellschaft‹ ausgeschlossenen Gruppen den Führungsanspruch dieses elitären Zirkels, indem sie ihn als fähig zum selbstreflexiven Spiel mit dem kontingenten Rahmen seiner Existenz charakterisieren. Wir haben bereits angedeutet, dass auch das romantische Bild der ›Zigeuner‹, wie es von Arnim und Brentano entwerfen, vor dem Hintergrund dieser Konstel­lation zu sehen ist. Es liegt nahe, die Zigeuner in ihrer konstitutiven Beweglichkeit den prin­ zi­piell sesshaften Philistern entgegenzusetzen.47 Und in der Tat kommen Brentano in sei­ner Philisterrede und von Arnim in seinem Aufsatz »Von Volksliedern« auch auf die 46 Arnim, »Rede« (Anm. 45), S. 206. 47 So beispielsweise bei Bettina von Arnim, die beschreibt, wie sie sich »am Mainufer« »mit den Zi­ geu­nern« ergötzt, »wenn’s Marktschiff Philister ausspeit« (Bettina von Arnim, Die Günderode, hrsg. von Elisabeth Bronfen, München: btb Verlag 1998 [1840], S. 108 f.; An die Günderode, Offenbach, Mai 1805).

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Zigeuner zu sprechen, wenn sie die Folgen der philiströsen Disziplinierungs­bemü­hun­ gen der jüngsten aufklärerischen Vergangenheit aufzeigen. Es muss daher zunächst re­kon­stru­iert werden, wie sie diese Disziplinierungsmaßnahmen im Einzelnen be­ schreiben. Der Vorwurf an die philiströse Aufklärung geht aufs Ganze. So heißt es ex­po­si­to­ risch in Brentanos Philisterrede: [Die Vollstrecker staatlicher Disziplinierungsmaßnahmen] verachten alte Volks­feste und Sagen, und was an einsamer Stelle, vor moderner Frechheit ge­si­chert in Alter ergraut ist. […] Sie vernichten, wo sie können, alte Sitten und Herkömmlichkeiten […]. Alles, was kein Geschick, was der Tod selbst nicht raubet, die hieroglyphischen Fußstapfen, in welche die Geschlechter ihren Nachkommen, den Bann der Liebe und Treue zu dem Flecke Landes, den sie bewohnen, vererben, wetzen sie aus, damit bald kein Philister mehr wisse, wo er zu Hause ist; das ist aber ihre Absicht nicht, sondern sie möchten nur die Individualität der Genialen zerstören […]. […] Arm wollen sie des Volkes Mund machen. Ihr höchster Plan, ein Land zu beglücken, ist, es in ein rein gewürfeltes Damenbrett zu verwandeln, es ist so leichter ins Kleine zu reduziren.48 Gegen Individualität und Genialität richtet sich die philiströse Gegenwart ebenso wie gegen Herkommen und Heimatbindung, die nur in einer philiströsen Schwundstufe erhalten bleiben. Die hier beschriebene Polizei von Philistern für Philister ergeht sich in einer Vielzahl von Maßnahmen zur zweckmäßigen Einordnung des Einzelnen (zum Beispiel im Militär), die, so von Arnim in seiner Schrift »Von Volksliedern«, schon da­zu geführt haben, dass »das Tätige und Poetische im Lehr- und Wehrstande all­mäh­lig aufgehoben« worden ist: »[N]ur der Nährstand konnte nicht so unumschränkt vernichtet werden […]. Darum finden wir auch das neuere Volkslied, wo es sich ent­wickelt, die­ sem angeschlossen in mäßiger Liebe, Gewerb- und Handelsklagen, Wetterwechsel und ge­pflügtem Frühling.«49 Doch die Disziplinierungsmaßnahmen richten sich nicht nur gegen das ›fahrende Volk‹,50 sondern führen überhaupt zu einer tief­grei­fen­den Ver­än­ de­rung des Verhältnisses zwischen Sesshaften und Nichtsesshaften: »Der Nährstand, der einzig lebende, wollte tätige Hände, wollte Fabriken, wollte Menschen die Fa­ bri­kate zu tragen, ihm waren die Feste zu lange Ausrufungszeichen, und Gedanken48 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 72 f. 49 Achim von Arnim, »Von Volksliedern«, in: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesam­ melt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Teil I, hrsg. von Heinz Röllecke, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1975 (= C. B., Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hrsg. von Jürgen Behrend, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders), S. 405 – 442, hier S. 418. 50 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 418 f., 421.

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striche, ein Komma, meinte der, hätte es wohl auch getan.«51 Und »weil der Nährstand eines festen Hauses bedarf, wurde jeder als Taugenichts verbannt, der umherschwärmte in unbestimmtem Geschäfte«.52 Der sesshafte ›Nährstand‹ ist also keinesfalls nur auf Kosten des ›fahrenden Volks‹ ermächtigt, sondern in seiner Welthaltung selbst ver­än­ dert worden: Er ist nun eingebunden in ein rationalisiertes Lebensprogramm, in dem jene spontanen und ungezwungenen Feste keinen Platz mehr haben, bei denen sich von Arnim zufolge das lebendige Volkslied vormals gewissermaßen organisch und in Rückbindung an den heimatlichen ›Boden‹ hat entwickeln können. Offenkundig unterscheidet von Arnim – und das ist für die in der Beschäftigung mit dem Volkslied entwickelte Philistersemantik entscheidend – zwei Arten der Sesshaftigkeit: Es gibt eine Form der Heimatbindung, die ein durch Tradition gestifteter ›Bann der Liebe und Treue‹, wie Brentano sagt, organisch erhält. Diese Form der Sesshaftigkeit prägt ein Grundvertrauen auf die bestehenden Verhältnisse, auf das irre­du­ zible Sein, das aber zugleich offen für unvorhergesehene Entwicklungen ist, insofern sie sich aus organischer Selbsttätigkeit ergeben – dafür steht das Geschehen der Volksfeste ein, die als eigendynamisches, nicht planbares Geschehen dargestellt werden. Da­ gegen setzt die zweite, philiströse Form der Sesshaftigkeit gerade auf Planbarkeit: Die Maßnahmen gegen das ›fahrende Volk‹ erfolgen, so von Arnims ideologiekritische Volte, aufgrund ökonomischer Überlegungen. Heimatbindung ist erwünscht, weil sie sich rechnet und übersichtliche Verhältnisse schafft, nicht weil sie Katalysator potentiell unkon­trollier­ter kultureller Produktivität sein kann.53 Vor dem Hintergrund dieser Konstellation fungieren in von Arnims Entwurf im­ mer wieder Erfahrungen von Fremdheit als antiphiliströses Gegenmittel. Die ent­schei­ denden Beispiele für ›lebendigen Volksgeist‹ im Lied, die von Arnim anführt, ste­hen fast alle im Zeichen einer Fremdheitserfahrung. Erstmals vernimmt von Arnim le­ben­ dige Volkslieder angesichts eines kolonialen Unternehmens, nämlich im Gesang von Regimentern, die nach Afrika aufbrechen.54 In der fulminanten Beschwörung eines ›Erwachens‹ der Volkskultur am Schluss des Textes55 deuten weitere Beispiele auf einen Zusammenhang zwischen interkultureller Verwerfung beziehungsweise Deplatzierung 51 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 420. 52 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 411. 53 Es ist zu betonen, dass es von Arnim um zukunftsoffene und eigendynamische Prozesse zu tun ist, gerade in seiner Applikation organologischer Modelle. Das Volksliederprojekt ist eher auf eine offene Zukunft ausgerichtet als auf eine (wieder herzustellende) Vergangenheit oder einen (ins­ge­ heim bestehenden) organischen Volkszusammenhang. So spricht auch Ricklefs vom »Futurische[n] des Volks­lieds­begriffs in Arnims Essay« (Ulfert Ricklefs, »Das ›Wunderhorn‹ im Licht von Arnims Kunst­pro­gramm und Poesieverständnis«, in: Walter Pape [Hrsg.], »Das Wunderhorn« und die Heidelberger Romantik. Performanz, Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 147–194, hier S. 160). Vgl. auch Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (Anm. 40), S. 340 –361. 54 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 409. 55 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 423 – 429.

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und lebendigem Gesang hin: Apostrophiert werden die »Taktschläge der Jarnitscharen« und »einer Kriegsflotte Anker-Lichten«,56 und als Vorboten des nationalen Erwachens gelten »die Zugvögel«, »die wackern Handwerksgesellen«57 auf ihrer Wanderung in die Fremde sowie der Gesang von Flüchtlingen: »So hörte ich über die Londonbrücke Hannöversche Flüchtlinge: ein freies Leben  – hinsingen«.58 Offenkundig erweckt unter den Bedingungen falscher, das heißt: philiströser Sesshaftigkeit gerade eine Erfahrung der Entfremdung und des Nomadentums die Kräfte der Volkskultur wieder zum Leben. Angesichts dieser Argumentation müssen Bevölkerungsgruppen, denen eine all­ sei­tige Fremdheit gewissermaßen zur Natur geworden ist, ein besonderes Interesse er­ wecken, denn bei ihnen dürfte es nie zu einem Erschlaffen der volkskulturellen ›leben­ digen Kraft‹ gekommen sein. Zwei Spielarten einer solchen absoluten Entfremdung werden in den Texten Brentanos und von Arnims von den Juden und den Zigeunern personifiziert, wobei allerdings, wie bereits gesehen, den Juden mit ihrem Willen zur Assimilation der Status kräftiger Lebendigkeit gerade nicht zukommt. Die Entgegen­ setzung von Zigeunern und Juden, die sich daraus ergibt, kann sich auf eine Legende und auf ein quasi-theologisches Deutungsmuster stützen.59 Die vor allem durch die Darstellung in Heinrich M. G. Grellmanns Buch über die Zigeuner60 verbreitete Le­ gen­de wird beispielsweise in von Arnims Isabella von Ägypten. Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe (1812) verarbeitet.61 Sie besagt, die Zigeuner seien die Nachfahren der­je­ni­gen Ägypter, die der Heiligen Familie auf ihrer Flucht vor den Häschern des 56 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 425. 57 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 426. 58 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 426. 59 Dem Begriff ›Zigeuner‹ wohnt um 1800 eine Spannung inne, vor deren Hintergrund auch das ro­mantische Interesse zu sehen ist: Zum einen etabliert er sich als polizeilicher Ordnungsbegriff, der weit mehr als Sinti und Roma umfasst (Leo Lucassen, Zigeuner. Die Geschichte eines polizei­li­chen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700 –1945, Köln u. a.: Böhlau 1996); zum anderen dient er als ›eth­ nische‹ Bezeichnung für diese beiden Volksgruppen – und wird hiervon ausgehend allzu oft in ras­sis­ tischen Argumentationen verwendet (siehe hierzu Nicholas Saul, Gypsies and Orientalism in German Literature and Anthropology of the Long Nineteenth Century, London: Modern Humanities Research Association and Maney Publishing 2007, S. 1–19). Die Romantiker verwenden den ›ethnologischen‹ Begriff und wenden sich damit gegen die polizeiliche Grenzziehung. 60 Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung Sitten und Schicksahle dieses Volks in Europa, nebst ihrem Ursprunge, Dessau / Leipzig: Buchhandlung der Gelehrten 1783. 61 Zu Entstehung und Verbreitung dieser Legende siehe Ines Köhler-Zülch, »Die verweigerte Her­ berge. Die Heilige Familie in Ägypten und andere Geschichten von ›Zigeunern‹ – Selbstäußerungen oder Außenbilder?«, in: Jacqueline Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt am Main / New York: Campus 1996, S. 46 – 86. Grellmann, dessen Buch von Arnim und Brentano als wesentliche Quelle der Auseinandersetzung mit den Zigeu­ nern diente, erwähnt die Legende, nimmt aber selbst an, dass die Zigeuner ursprünglich aus Indien kommen (siehe Saul, Gypsies and Orientalism [Anm. 59], S. 5).

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Herodes keine Unterkunft gewährten und dazu verurteilt worden seien, fortan ein Le­ben der Wanderschaft in beständiger Fremdheit zu führen  – und die damit das Schick­sal, das sie Jesus Christus beschert hätten, unaufhörlich am eigenen Leib erführen. Das quasi-theologische Deutungsmuster baut auf der darin liegenden un­frei­ willigen imitatio Christi auf. Es begegnet beispielsweise in dem Gedicht »Das Feuerbesprechen«62 aus dem Wunderhorn, das wahrscheinlich von Arnim verfasst hat. Hierin setzt der König der Zigeuner die Richtstätte, auf der er sterben soll, mit der Richtstätte Christi gleich. Damit werden zum einen die Zigeuner den Stadtbewohnern, also den Philistern entgegengesetzt, die den König verurteilt haben, andererseits geraten diese Philister zugleich in die Rolle der Juden, auf deren Wunsch Jesus Christus hingerichtet wurde. So radikalisiert sich die Idee einer imitatio Christi: Die Zigeuner opfern sich auf für das Heil derer, die sie verfolgen – und der ›lebendige Geist‹ Christi scheint so auf sie und ihre Wanderschaft übergegangen zu sein. Das Interesse von Arnims und Brentanos an den Zigeunern ist jedoch keinesfalls als eine Reaktion des Mitleids zu verstehen. Eine Passage aus dem Volkslieder-Aufsatz kann dies zeigen: Warum zieht es uns in Büchern an, was wir […] von dem wunderbaren Wan­ del des Zigeuner-Reichs lesen, im Kriege echte Soldaten, im Frieden zutrauliche Ärzte (dessen die gelernten sich jetzt fast alle entwöhnt) […]. Wie die kleinen Zwerge, wovon die Sage redet, alles herbeischafften, was sich ihre stär­keren Feinde zu Festen wünschten, sich selbst mit Brotrinden des Mahles begnügend, aber einmal für wenige Erbsen, die sie aus Not vom Feld nächtlich ablasen, jämmerlich geschlagen und aus dem Lande verjagt wurden […]: so danken wir die mehrsten unserer Arzneien den Zigeunern, die wir verstoßen und verfolgt haben: Durch so viel Liebe konnten sie keine Heimat erwerben.63 Zwar wird in dieser Passage insbesondere das Zutrauen der Zigeuner, das sie zu Opfern werden lässt, hervorgehoben, doch kann dieses Zutrauen allein die Anziehungs­kraft des ›Zigeuner-Reichs‹ gewiss nicht erklären. Die Verfolgungen, denen die Zi­geu­ner aus­gesetzt gewesen sind, werden aus einem anderen Grund erwähnt. Das eigentlich Fas­zi­nie­rende scheint nämlich – auch wenn von Arnim keine explizite Antwort auf seine Frage gibt – darin zu bestehen, dass sich die Gemeinschaft der Zigeuner trotz der Ver­fol­gung im ›Wandel‹ wundersam erhält. Offenbar verhindert die Nichtsess­ haftig­keit, zu der den ›Büchern‹ zufolge die Zigeuner verurteilt sind, einerseits, dass sie jemals in philiströse Erstarrung fallen: Die erzwungene Entfremdung und die ewige äußere Feindschaft, die sie trotz aller Liebe ›keine Heimat erwerben‹ lässt, führen den 62 »Das Feuerbesprechen«, in: Wunderhorn (Anm. 49), S. 18 –20. 63 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 420 f.

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Zigeunern fortwährend die Kontingenz und die Instabilität ihrer Lebensbedingungen vor Augen. Eine unreflektierte Zufriedenheit mit der jeweiligen Situation kann es für sie nie geben, vielmehr sind sie zu einem selbstreflexiven Umgang mit den Bedin­gun­ gen der Möglichkeit ihrer Existenz immer schon gezwungen. Ihrer nomadischen Exis­ tenz wohnt in diesem Sinne eine transzendentale Perspektive inne.64 Andererseits je­ doch führt die zigeunerische Bereitschaft, jederzeit die derart als kontingent erkannten äußeren Lebensbedingungen aufzugeben oder sich neuen Gegebenheiten anzupassen, keinesfalls zum Identitätsverlust. Das Zutrauen der Zigeuner ist nämlich verbunden mit dem – im Sinne der romantischen Erkenntnistheorie: realistischen – Vertrauen in das Vermögen eigendynamischer Selbstorganisation und ‑reproduktion, welches die Fortsetzung der eigenen Gemeinschaft auch unter feindlichen Bedingungen mit dem Mittel mehr oder weniger scheinhafter Anpassung gewährleistet. Nicht zuletzt die besondere medizinische Begabung der Zigeuner beweist ihre Vertrautheit mit Pro­zessen der organischen Selbstorganisation, die dem philiströsen Verstand, der sich auf den ›wunder­baren Wandel des Zigeuner-Reichs‹ nicht einlassen mag, verborgen bleiben müssen. Die Strategien zur Selbsterhaltung unter grundsätzlich feindlichen Lebens­um­stän­ den, die den Romantikern so faszinierend erschienen, lassen sich genauer stu­die­ren, wenn man die Darstellung zigeunerischer Lebensweisen etwa in von Arnims Isabella von Ägypten oder in Brentanos »Die mehreren Wehmüller und ungarischen Natio­nal­ ge­sichter«65 rekonstruiert. Beide Erzählungen sind voller Details, die mehr oder we­ ni­ger unmittelbar aus Grellmanns Beschreibungen übernommen sind und mehr oder weniger klischeehaft ›Zigeunerisches‹ signalisieren.66 Mir kommt es hier nur auf einige wenige Züge dieser reichhaltigen Darstellung an, wobei ich mich zudem auf Brentanos 64 An dieser Stelle muss auf Röttgers’ Überlegungen zum Gegensatz zwischen der (durch Immanuel Kant repräsentierten) offiziellen ›Grundsatzphilosophie‹ der Aufklärung und ihrer (durch Kants Kol­ le­gen Christian Jakob Kraus repräsentierten) »nomadische[n] Alternative« verwiesen werden (Kurt Röttgers, Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner, Heidelberg: Manutius 1993, S. 98). Kraus war, wie Röttgers rekonstruiert, mit umfassenden empirischen Forschungen zu den Zi­ geu­nern befasst, die allerdings (kaum zufällig) scheiterten. Röttgers nimmt dies zum Anlass, grundsätzlich nach den Bedingungen der Möglichkeit eines nomadischen, empiristischen Skeptizismus im Rahmen einer gleichsam sesshaft bleibenden und ihr Land vermessenden Transzendentalphilosophie zu fragen (S. 99 –121) und kommt zu dem Ergebnis, die Synthese beider Perspektiven sei erst der Ro­man­tik gelungen (S. 120). Seine Überlegungen kreisen auch um die Frage nach der Möglichkeit einer antiphiliströsen Philosophie: »Angesichts dieser traurigen Alternative einer entbehrungsreichen Sicherheit oder eines [zigeunerischen] Tanzens vor dem Galgen sinnt der Intellektuelle, ob man nicht reale Sicherheit einer bürgerlichen Existenz mit einem phantastischen Tanz vor einem simu­lier­ten Galgen verbinden könnte« (S. 109). 65 Ich zitiere nach: Clemens Brentano, »Die mehreren Wehmüller oder ungarischen Nationalgesichter«, in: ders., Erzählungen, hrsg. von Gerhard Kluge (= Sämtliche Werke und Briefe [Anm. 49], Bd. 19), Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1987, S. 251–311. 66 Siehe den Kommentar in der Frankfurter Brentano-Ausgabe (Anm. 49), S. 666 u. 677–696.

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Erzählung beschränke. Zwei Zigeuner treten hier auf, die Geschwister Michaly und Miti­dika, und beide zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, sich auf unerwartete Si­tu­a­ tionen spontan und passgenau einzustellen, ohne dabei ihre Souveränität ein­zu­büßen. Der Geiger Michaly ist jederzeit dazu in der Lage, »alle möglichen Tänze […] auf sei­ ner Violine zu erfinden und zu variieren«67 und mittels dieser virtuosen Im­pro­vi­sa­ tion in das jeweilige Geschehen einzugreifen.68 Michaly ist insofern ein rhetorisches Genie, als er kontingente kommunikative Entwicklungen sehr genau einschätzen und in seinem Sinne beeinflussen kann. Ganz ähnlich wird Mitidika, »ein wunder­schönes, frei, kühn, scheu und züchtig bewegtes Menschenbild«,69 dank ihrer Fähigkeit zur Camou­flage und dank ihrer Hellsichtigkeit – Mitidika kann sich überzeugend mas­kie­ ren und durchschaut zugleich die Masken der anderen – zur entscheidenden Figur in der Rahmenhandlung: Souverän bewerkstelligt sie insbesondere die Durchbrechung willkürlicher polizeilicher Grenzen.70 Den Geschwistern gelingt es also, gerade mittels ihrer (rhetorisch-musikalischen oder tatsächlichen) ›Maskenspiele‹, ihr unveräußer­li­ ches Sein zu bewahren – und zwar als den Nicht-Zigeunern letztlich unzugängliches Geheimnis.71 Wenn sie also gängigem Klischee entsprechend in ihrer ausgespro­che­ nen Schönheit eine ›natürliche‹ Lebensform verkörpern, dann nicht im Sinne einer idyllischen Beschränktheit, sondern im Sinne einer durch die grundsätzliche Offenheit für kontingente Rahmenbedingungen geprägten Fähigkeit, sich im Vertrauen auf die Selbstorganisationskraft des Lebens in jede eigendynamische Entwicklung unvermittelt einzufinden. Stellen die Zigeuner so ein Ideal lebendiger, selbstorganisierter Gemeinschaft dar, die im Geheimen auch unter den Bedingungen der philiströsen Gegenwart überleben kann, so können sie – allerdings wohl allenfalls in von Arnims und Brentanos Augen und wohl auch nur in ihrer literarischen Gestalt – zum Vorbild einer neuartigen, antiphiliströsen Gemeinschaft werden, wie sie die Tischgesellschaft anstrebt. Gegenüber

67 Brentano, »Die mehreren Wehmüller« (Anm. 65), S. 262. 68 Siehe z. B. Brentano, »Die mehreren Wehmüller« (Anm. 65), S. 263 f. 69 Brentano, »Die mehreren Wehmüller« (Anm. 65), S. 295. 70 Sie durchbricht, als Mann maskiert, den Pestkordon, der die in der Erzählung geschilderte Gesellschaft aufhält, und durchschaut schnell die Vervielfachung der Wehmüller. Mitidika wird in ihren Fähigkeiten übrigens als koloniales Subjekt ausgewiesen, wenn der Feuerwerker sie in seiner Er­ zäh­lung mit einer »indianische[n] Prinzessin, welche die Geschenke eines englischen Gouverneurs mustert«, vergleicht (Brentano, »Die mehreren Wehmüller« [Anm. 65], S. 294). Siehe hierzu Saul, Gypsies and Orientalism (Anm. 59), S. 34. 71 So verweigern die Geschwister die Beantwortung der Frage, ob es möglich ist, der Zigeunergemeinschaft durch Heirat beizutreten. Zwar ist für die Zigeunerin Mitidika eine Verbindung mit einem Nicht-Zigeuner angeblich ausgeschlossen (Brentano, »Die mehreren Wehmüller« [Anm. 65], S. 301  f.); dennoch erneuert sie am Schluß der Geschichte »zärtlich« ihre »Neigung« mit ihrem früheren platonischen Geliebten Devillier (S. 307). Gerade die Gleichzeitigkeit der Verheißung von Teilhabe und der Zurückweisung dieses Anspruchs bewirkt eine umso deutlichere Exklusion.

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den vom »lebendigen Blutumlauf«72 ausgeschlossenen Pfützen und fauligen Teichen, als die Philister und Juden in Brentanos Philisterrede gleich zu Beginn beschrieben wer­den, sind sie in einen organischen Kreislauf eingebunden, der sich unter der Oberfläche der gegenwärtigen Verhältnisse am Leben erhält. Auch diese Konstruktion stellt allerdings darauf ab, dass die Zigeuner gar nicht anders können, als ihrem Schick­sal zu folgen: Die Nicht-Sesshaftigkeit, die ihr Wunderreich überhaupt erst ent­ste­hen lässt, und die auf Dauer gestellte Entfremdung, die ihren organischen Zusam­men­halt, ihre organische Anpassungsfähigkeit erzwingt und ihre eigendynamische Kul­tur er­zeugt, sind der romantischen Konstruktion zufolge Bedingungen der Möglichkeit ih­rer Exis­ tenz, sie sind in ihrem Sein gegründet. Weil das so ist, spielt für die Zigeuner die Bestimmtheit ihrer Gruppe eigentlich keine Rolle. Insofern stellen die Zigeuner aber für eine Einrichtung wie die Tischgesellschaft und allgemein für jede Form der romantischen Gemeinschaft nicht nur ein Vorbild, sondern immer auch einen Vorwurf dar, solange sich diese Gemeinschaften nämlich zielgerichtet um die Bestimmung ihrer Grenzen nach Innen wie nach Außen sorgen müssen und auf willkürlich gesetzte Ausschlussmechanismen angewiesen sind. Die ro­ man­tischen Künstler, für die, wie Günter und Ingrid Oesterle schreiben, die Zigeuner zum Reflexionsmedium ihrer eigenen Existenz werden, werden die Lebendigkeit ihrer Kultur auf diese Weise nie erreichen können.73 Allerdings – dies sei ergänzend hinzugefügt – finden zumindest die Texte von Ar­ nims und Brentanos durchaus Mittel und Wege, dieser Herausforderung zu be­geg­ nen, indem sie sich nämlich dem Zigeunerischen ästhetisch annähern. Dies geschieht, nimmt man Brentanos Erzählung von den »mehreren Wehmüllern« als Beispiel, auf min­des­tens zweifache Weise: Zum einen wird die Darstellung der Zigeuner in ihrer mo­ti­vi­schen Struktur doppeldeutig. Die angeführten Motivstrukturen werden dabei um sol­che ergänzt, welche die zunächst eindeutig positive Darstellung um schillerndun­heim­liche Elemente bereichern und so den Verdacht erregen, hinter der maskenhaften Oberfläche des Zigeunerischen verbärgen sich abgründige Geheimnisse.74 Zum anderen aber – und das ist hier entscheidend – wird das Verfahren der motivischen 72 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 42. 73 Jede ›Zigeunerromantik‹ dürfte also, um eine mündliche Formulierung von Erhard Schüttpelz aufzugreifen, immer im Moment des tatsächlichen Kontakts scheitern. Das bestätigt eine briefliche Äußerung Brentanos, der sich negativ über seine Reiseerlebnisse in Böhmen äußert: »und doch mag ich nicht da leben, denn die Zigeuner sind alle zum Galgen reif und gar nicht romantisch« (Clemens Brentano, Briefe, Bd. 4: 1808 –1812, hrsg. von Sabine Oehring, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1996 [= Sämtliche Werke und Briefe (Anm. 49), Bd. 32], S. 281; Brief vom 3.11.1810 an Jacob und Wilhelm Grimm). 74 Unheimliche Elemente bietet insbesondere die Erzählung des Feuerwerkers, die die zi­geu­ne­ri­ sche Unterkunft Mitidikas und ihrer Großmutter regelrecht dämonisiert. (Bemerkenswert ist, dass Mitidikas Großmutter hier mit einem Bild beschrieben wird, das in der Philisterabhandlung auf die Philister Anwendung findet: der nur aus ihren Häuten bestehenden Zwiebel; Brentano, »Die mehre­ ren Wehmüller« [Anm. 65], S. 291; vgl. Brentano, »Der Philister« [Anm. 7], S. 52 f.) Eine schillernde

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Charakterisierung, dem auch unsere Rekonstruktion der Brentano’schen Erzählung bis hierher gefolgt ist, seinerseits ironisiert. Einen Hinweis darauf gibt schon der Titel der Erzählung, denn die Bezeichnung ›ungarische Nationalgesichter‹ lässt sich auf zwei­er­lei beziehen: Zunächst verweist sie auf jene Porträts, die der – ausgesprochen phi­lis­tröse75 – Maler Wehmüller auf Vorrat für den Verkauf ›von der Stange‹ anfertigt und auf denen jeweils das Gesicht einer Nation zu sehen ist. (Hinzugefügt werden dann kostenfrei einige »persönliche Züge und Ehrennarben, oder die Individualität des Schnur­bartes des Käufers« und kostenpflichtig die Uniform des Porträtierten in ih­rer ganzen Spezifik.76) Weiterhin aber liefert auch die Erzählung selbst nichts weiter als eine Vielzahl von Nationalgesichtern:77 Es treten unter anderem auf: ein »Feuerwerker, […] Venetianer von Geburt«, ein Franzose, ein pseudoromantischer Dich­ter aus Wien, »ein alter kroatischer Edelmann«, ein »Tiroler Teppichkrämer« und »ein Savo­yarden­junge, dem sein Murmeltier gestorben war«.78 Die satirische Zeich­nung des phi­lis­trö­sen Wehmüller, der sich übrigens selbst einer scheinbaren Ver­viel­fäl­ti­ gung der eigenen Person ausgesetzt sieht, lässt der Text somit auf sich selbst zurückfallen. Diese Selbstironisierung verleiht ihm eine spielerische Note, denn die Seins­fest­ legungen, die jede Charakteristik von Nationalgesichtern beinhaltet – Tiroler sehen so und so aus und haben diesen und jenen Akzent –, werden aufgelöst in Prozesse der Maskierung und Demaskierung. So wird einerseits deutlich gemacht, dass wir immer nur Masken und Klischees vorgesetzt bekommen und auf das Sein der dargestellten Personen nie unmittelbar zugreifen können; andererseits teilen die Zigeuner im Text und der Text selbst das Vertrauen darauf, dass die Markierung von Charakteristischem durch Masken dennoch gelingen kann und dabei durchaus Gestaltungsspielräume bestehen. So werden beispielsweise die Lieder der Zigeuner zunächst – in einer wie­de­ rum selbstironischen Wendung gegen das frühere Brentano’sche Volkslied-Projekt – als jeder Aufzeichnung unzugänglich dargestellt.79 Dann jedoch gibt der Text ein aus Grellmanns Buch übernommenes, aber von Brentano stark erweitertes und kunstvoll arrangiertes, seinerseits maskenhaft hintergründiges Lied wieder.80 Der Erzähler, der Qualität gewinnt das ›Zigeunerreich‹ insbesondere dank der erotischen Ambivalenz der Figur des Zigeunermädchens. 75 Vgl. Michael Böhler, »Clemens Brentanos Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter. Kunst, Kommerz und Liebe im Modernisierungsprozeß«, in: Aurora 54 (1994), S. 145 –166, hier S. 148 f. 76 Brentano, »Die mehreren Wehmüller« (Anm. 65), S. 254. 77 Siehe den Kommentar der Frankfurter Brentano-Ausgabe (Anm. 65), S. 665, sowie Hans-Jürgen Schrader, »Brentanos ›Die mehreren Wehmüller‹. Potenzieren und Logarithmisieren als Endspiel«, in: Aurora 54 (1994), S. 119 –144, hier S. 133. 78 Brentano, »Die mehreren Wehmüller« (Anm. 65), S. 262. 79 Brentano, »Die mehreren Wehmüller« (Anm. 65), S. 276. 80 Brentano, »Die mehreren Wehmüller« (Anm. 65), S. 288 f. Siehe hierzu Stefani Kugler, Kon­ struk­tionen des ›Zigeuners‹ in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, Trier: Wissen­schaft­licher Verlag 2004, S. 209 –215. Zum Lied Mitidikas siehe den Kommentar der Frank-

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sich in der Schlusswendung des Textes seinerseits als Improvisator gibt,81 erhebt hier – darin wieder dem Volksliedersammler ähnlich – den Anspruch, selbst gestaltend volkstümliche Tradition zu stiften.82 Gelänge diese Stiftung, so hätte der maskenspielende Erzähler sich einen Platz an der Seite der Zigeuner erarbeitet. Zugleich aber wäre damit dann auch eine Form der Souveränität gestiftet, die vielleicht jene nationalistischen Phantasien erfüllt, die etwa von Arnim, aber auch Fichte, im Zuge der französischen Besatzung Anfang des Jahrhunderts entfaltet haben.

furter Brentano-Ausgabe (Anm. 65), S. 691, sowie Schrader, »Brentanos ›Die mehreren Wehmüller‹« (Anm. 77), S. 143, der den Text des Lieds als Satire auf die österreichisch-ungarische Doppel­mo­nar­ chie entziffert hat. Mit Bezug auf Verfahren wie dieses behaupten Ingrid und Günter Oesterle, die entschei­dende Folge von Brentanos und von Arnims Beschäftigung mit den Zigeunern sei gewesen, »daß die romantische Poesie […] aus ihrer bedeutungsschweren didaktischen Ver­ant­wor­tung ent­ lassen und wieder freigesetzt wurde zum Spiel, zur Improvisation und zur Maskierung hinter­grün­ diger Wahrheiten« (Oesterle und Oesterle, »Die Affinität des Romantischen zum Zigeunerischen« [Anm. 36], S. 106). Demgegenüber kommt Schrader zu dem weniger überzeugenden Fazit, letztlich werfe die Erzählung alles, was sie zunächst ›romantisiert‹ habe, dann doch wieder »in die platteste Alltagswirklichkeit zurück« (Schrader, »Brentanos ›Die mehreren Wehmüller‹« [Anm. 77], S. 134) und nur die Figur Mitidikas bleibe davon verschont (S. 143). 81 »Die Erzählung, welche Devillier versprochen, eine andere des Tirolers, und eine des Savo­yar­ den, unterhielten an den folgenden Tagen, und ich werde sie mittheilen, wenn ich Lust dazu habe« (Brentano, »Die mehreren Wehmüller« [Anm. 65], S. 311). 82 Einen solchen (kultur‑)politischen Anspruch vertritt von Arnims Isabella von Ägypten sicherlich noch deutlicher (siehe etwa Saul, Gypsies and Orientalism [Anm. 59], S. 30 –32); dies hat teils dazu ge­führt, dass dieser Erzählung jene Selbstreflexivität abgesprochen wurde, die hier für Brentanos Er­zäh­lung behauptet wird. Sie wird dann als plump-nationalistisches und zudem antisemitisches Mach­werk dargestellt (etwa bei Kugler, Konstruktionen des ›Zigeuners‹ [Anm. 80], zusammenfassend S. 217–219). Solms hat gar die Frage gestellt, ob sie nicht eigentlich ein »Modell zur ›Endlösung der Zigeunerfrage‹« entwerfe (Wilhelm Solms, »Zur Dämonisierung der Juden und Zigeuner im Mär­ chen«, in: Susan Tebbutt [Hrsg.], Sinti und Roma in der deutschsprachigen Gesellschaft und Lite­ratur, Frankfurt am Main u. a.: Lang 2001, S. 111–125, hier S. 116). Simon hat allerdings, von der theologischen Bildlichkeit der Erzählung ausgehend, zeigen können, dass sich von Arnims Er­zäh­lung einer ganz ähnlichen Strategie bedient wie Brentanos: »ein theologischer Gehalt versucht sich ins Bild zu bringen, aber das Geschriebene zieht es zurück in die Verstricktheit textueller Ver­wei­sungs­ zusammenhänge, in die Lust am Textuellen, das seinen Gehalt so einfach nicht preisgeben will« (Ralf Simon, »Text und Bild. Zu Achim von Arnims Isabella von Ägypten«, in: Internationales Jahr­buch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 6  /  7 [1994  /  95], S. 168 –187). Dennoch: Die Nähe der äs­the­ti­schen Ent­würfe von Arnims, aber auch Brentanos, zur nationalistischen Theoriebildung ist nicht von der Hand zu weisen.

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Ein »Traum souveräner Selbsturheberschaft«: Fichtes und von Arnims nationalistische Idee Von Arnims Hypothese, dass der organische Zusammenhalt und die zukunftsoffene Selbsttätigkeit einer Gemeinschaft durch die Erfahrung von Fremdheit gefördert oder gar erst ermöglicht werden, nimmt Argumente vorweg, die kurze Zeit später Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« (1808) entfaltet. Fichte zufolge kann nur die vollständige Zerstörung der staatlichen Souveränität der Deutschen dazu führen, dass sich in der Rückbesinnung auf die deutsche Sprache, die, so Fichtes Hypothese, die einzige organisch gewachsene und damit im eigentlichen Sinne lebendige Sprache überhaupt darstellt, eine gänzlich neuartige Volksgemeinschaft und ein gänzlich neuartiger Staat bilden werden. Dieser Staat aber soll dann, ähnlich wie von Arnims »Zigeuner­reich«, von einer organischen, selbsttätigen Zukunftsoffenheit getragen sein. Diese Parallele ist insofern bemerkenswert, als von Arnim aus seiner Zigeunervision ganz ähnliche nationalistische Vorstellungen ableitet: Unmittelbar an die zitierten Bemerkungen zu den Zigeunern im Volkslieder-Aufsatz schließt sich ein Plädoyer für die Vaterlandsliebe an;83 und an späterer Stelle fordert von Arnim, »alle fremde Pestilenz von unsrer Heimat« auszuscheiden,84 um dann dem Künstler die Aufgabe zuzuweisen, das deutsche Volk, »wie es auch getrennt durch Sprache, Staatsvorurteile, Religionsirrtümer und müßige Neuigkeit, singend zu einer neuen Zeit unter seiner Fahne«85 zu sammeln. Es ist kein Zufall, dass umgekehrt Fichtes nationalistischer Entwurf die Gegenfigur zum Zigeuner aufruft und das innere und äußere Ausland insgesamt, auch wenn er den Begriff nicht verwendet, als Philisterium bezeichnet. David Martyn hat in einer Arbeit über »Fichtes romantische[n] Ernst«86 gezeigt, dass Fichte in den »Reden an die deutsche Nation« das Subjektivitätsmodell seiner »Wissenschaftslehre« adaptiert: In den Reden wird der Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich auf eine kollek­ tive Identität, das deutsche Volk, übertragen: Es geht Fichte nun nicht nur um Ich und Nicht-Ich, sondern um Deutsche und Nicht-Deutsche, um ein Wir, das dem Nicht-Wir des Auslandes entgegengesetzt wird.87

83 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 422. 84 »Große Kunst des Vergessens, in dir scheidet sich alle fremde Pestilenz von unsrer Heimat, fort mit dem Fremden im Fremden, die Welt klimatisiert sich uns, fort mit dem Fremden im Einhei­mi­ schen!« (Arnim, »Von Volksliedern« [Anm. 49], S. 437). 85 Arnim, »Von Volksliedern« (Anm. 49), S. 441. 86 David Martyn, »Fichtes romantischer Ernst«, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.), Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 76 – 90. 87 Martyn, »Fichtes romantischer Ernst« (Anm. 86), S. 86.

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Martyns Beobachtung legt es nahe, auch die in den »Reden« ausformulierte Philistersemantik systematischer als bisher geschehen auf Fichtes transzendentalphiloso­phi­ schen Ansatz zu beziehen. Dies zu tun verspricht insbesondere eine tiefenscharfe Er­fas­sung der potentiellen politischen Schlagseite der Fichte’schen Transzendental­phi­ lo­so­phie, wie sie auch die Romantik erbt. In Fichtes »Wissenschaftslehre« (zumindest in der für die Rezeptionsgeschichte entscheidenden Fassung von 1794  /  95) führt die Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich letztlich dazu, dass angesichts der irreduziblen Selbsttätigkeit des Ich – für das Ich ist nur existent, was es selbst setzt – erklärt werden muss, wie sich dieses Ich zugleich als sich mit dem Nicht-Ich wechselseitig bestimmend setzen kann. Fichtes Überlegungen zur theoretischen Wissenschaftslehre laufen dann darauf hinaus, die produktive Einbildungskraft als ein Vermögen auszuweisen, das dieses wechselseitige Bestimmungsverhältnis im Ich zur Anschauung bringt: Sie regelt gewissermaßen für das irreduzibel selbstbestimmte Ich dessen Weltverhältnis. Trotz der Tatsache, dass Fichtes Ausgangspunkt in der Tat, so Manfred Frank, ein »Traum souveräner Selbsturheberschaft«88 des Bewusstseins ist, erreicht die »Wissenschaftslehre« an dieser Stelle einen Punkt, an dem sie in einen – freilich romantischen – Realismus kippt.89 Denn die Einbildungskraft wird eben nicht bruchlos auf die setzende Selbsttätigkeit des Ich zurückgeführt, sie ist vielmehr in gewisser Hinsicht einfach da.90 Daraus folgt in der praktischen Wissenschaftslehre die ethische Maxime, das Ich solle danach streben, sich dieses unvermeidlichen fremden Anteils in sich selbst mehr und mehr zu bemächtigen.91 In Teilen wird dieser Argumentationsgang, der den Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre, das »Ich = Ich«, ja sogar das »A = A«, revidiert,92 in den »Reden« rekon­ struiert, und zwar in der für den hier interessierenden Zusammenhang entschei­den­ den siebten Rede. In Frage steht dort die Möglichkeit einer wirklichen Freiheit, ei­nes »Willens­entschlusses«, der im Bereich der Erscheinungen einen wesentlichen Unterschied macht. Fichte geht davon aus, dass die Erscheinungen als ein bruchloses Kau­ sali­täts­kontinuum aufzufassen sind: Ihre Abfolge ergibt sich eindeutig aus ihren Wech­ sel­wirkungen.93 Das Nicht-Ich, so ließe sich reformulieren, ist für sich vollständig 88 Frank, Einführung (Anm. 27), S. 263. 89 So heißt es in den »Grundlagen der gesammten Wissenschaftslehre« von 1794: »Die Wissenschaftslehre ist demnach realistisch. Sie zeigt, daß das Bewußtseyn endlicher Naturen sich schlechterdings nicht erklären lasse, wenn man nicht eine unabhängig von denselben vorhandne, ihnen völlig entgegengesetzte Kraft annimmt, von der dieselben ihrem empirischen Daseyn nach selbst abhängig sind. Sie behauptet aber auch nichts weiter, als eine solche entgegengesetzte Kraft, die von dem endlichen Wesen bloß gefühlt, aber nicht erkannt wird« (Fichte, »Grundlage« [Anm. 14], S. 411, siehe auch S. 355 u. 386). 90 Siehe Menninghaus, »Die frühromantische Theorie« (Anm. 26), S. 52. 91 Siehe Till Dembeck, »Fichte dem Buchstaben nach auslegen: Selbst-Lektüre bei Jean Paul«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 44 (2009), S. 113 –140. 92 Siehe Menninghaus, »Die frühromantische Theorie« (Anm. 26), S. 55 f. 93 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 191–193.

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bestimmt. Dennoch nimmt Fichte an, dass ein wirklich freier Willensentschluss in die­ sen Zusammenhang hineinwirken kann, um etwas zu erzeugen, was sich eben nicht aus dem geschlossenen Zusammenhang der Erscheinungen ableiten lässt. In diesem Falle ist jenseits des »aus der Erscheinung, als einem geschlossenen Ganzen erfolgende[n] […] noch ein Mehreres, ein anderer, aus jenem Zusammenhang nicht zu erklärender, sondern nach Abzug des erklärbaren übrig bleibender Bestandtheil«94 wahrnehmbar. Das Ich tritt dann im Nicht-Ich in Erscheinung, ohne dadurch aus dem Zusammenhang, den das Nicht-Ich darstellt, herauszufallen. Dies ist die Zumutung, der zu begegnen nur die produktive Einbildungskraft fähig ist: zu denken, dass Ich und NichtIch in ihrem qualitativen Gegensatz dennoch zugleich der Fall sein sollen.95 Auf der Basis dieser transzendentalphilosophischen Überlegungen schlagen Fichtes »Reden« eine empirische Unterscheidung vor. Unterschieden wird zwischen unter­ schied­lichen Arten und Weisen, die Frage nach der Freiheit des Menschen zu beant­ worten. Diese Unterscheidung stellt aber zugleich eine Einteilung der Menschen nach ihrem Sein dar: Und so trete denn endlich in seiner vollendeten Klarheit heraus, was wir in unsrer bisherigen Schilderung unter Deutschen verstanden haben. Der eigent­ li­che Unterscheidungsgrund liegt darin, ob man an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unsres Geschlechts glaube, oder ob man alles dieses nicht glaube, ja wohl deutlich einzusehen und zu begreifen vermeine, daß das Gegenteil von diesem allen stattfinde. Alle die […] die Freiheit wenigstens ahnden, und sie nicht hassen, oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche. Alle, die sich darein ergeben ein zweites zu seyn, und abgestammtes, […] sind, als Volk betrachtet, außerhalb des Urvolks, und für dasselbe Fremde, und Ausländer.96 In dieser Passage kommt es, so Martyn über die »Reden« insgesamt, zu einer folgenschweren Verwechslung, nämlich zur »heimlichen Gleichsetzung einer spezifischen, durch charakteristische Merkmale identifizierbaren nationalen Identität mit der unvergleichbaren kollektiven Subjektivität überhaupt« – in welcher »Subreption« Martyn »die rhetorische Struktur des modernen Nationalismus« begründet sieht.97 Doch geht Fichtes Anspruch noch weiter. Ganz ähnlich wie später Brentano die Philister be94 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 193. 95 In dieser Anforderung liegt laut Martyns präziser Rekonstruktion das ironische Moment der Fichte’schen Theorie im Friedrich Schlegel’schen Sinne (Martyn, »Fichtes romantischer Ernst« [Anm. 86], S. 82). 96 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 195. 97 Martyn, »Fichtes romantischer Ernst« (Anm. 86), S. 88.

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schreibt, sieht Fichte das Ausland als vom Kreislauf des Lebens bereits abgeschiedene, ja dem Tod verbundene Struktur. Nicht nur stellt er allen nicht-deutschen Sprachen einen sprachphilosophischen Totenschein aus, wenn er behauptet, in ihnen sei durch eine Art ›Überfremdung‹ der Zusammenhang zwischen den abstrakten Begriffen und der sinnlichen Wahrnehmung abgerissen, es handele sich mithin im Gegensatz zur ›leben­digen‹ deutschen Sprache bei allen anderen Sprachen um ›tote‹ Sprachen.98 Vielmehr tritt die Todesverbundenheit der Ausländer, die somit, ähnlich wie bei Bren­tano die Philister, zu Untoten99 werden, am unmittelbarsten in ihrer philiströsen Philosophie zutage, dem Rationalismus. Näherhin besteht das »innere Wesen des Auslandes, oder der Nichtursprünglichkeit«, das im Rationalismus zum Ausdruck kommt, in sei­ nem »Glaube[n] an irgend ein letztes, festes, unveränderlich stehendes«.100 Der Ra­tio­ na­lismus »will Einheit, […] Realität und Wesen – nicht bloße Erscheinung, sondern eine in der Erscheinung erscheinende Grundlage dieser Erscheinung«, die »ein festes Seyn« darstellt, »das da ist, was es eben ist, und nichts weiter, in sich gefesselt, und an sein eigenes Wesen gebunden«.101 Das Vertrauen des dogmatischen Realisten in das so und nicht anders gegebene Sein aber ist nach Brentanos Philisterrede der Ursprung aller Philistrosität – und der Philister ist jemand, der sich, wie Brentano behauptet, durch das Identitätsgesetz des »a = a«, näherhin des »Ich = Ich« absolut gebunden fühlt: Gewöhnlich aber gleichen [die Philister] jenen Hahnen, die irgend ein Philosoph schlechthin an die Erde legt, und ihnen einen Strich mit Kreide a = a quer über den Schnabel zieht, die sodann ruhig liegen bleiben und steif nach dem Strich als einem Strick sehen, von dem sie sich gebunden glauben. Von einer unendlichen, gleichzeitigen ewigen Bewegung des Erkennens und seiner Heiligkeit haben sie keine Idee.102 Demgegenüber setzen die Antiphilister der Tischgesellschaft und die von Fichte entworfenen ›Deutschen‹ ganz auf die Freiheit, auf die Möglichkeit der, wie Fichte zu Be­ ginn seiner Reden ausführt, »Erschaffung einer ganz neuen Ordnung der Dinge«.103 Das unreflektierte Vertrauen auf das Sein, so Fichte, ist immer schon ein Rechnen auf den Tod, der letztlich hinter jenem feststehenden Seienden lauert als das Gegenprinzip zur Selbsttätigkeit und zu einer organischen Eigendynamik, die sich so wie die von von Arnim beschriebene Volkskultur immerfort auf das Neue ausrichtet, radikal zukunfts98 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 150 –156, bes. S. 154. 99 Aichele spricht ausdrücklich davon, Fichte lasse die ›Ausländer‹ als »Zombies« erscheinen (Alexander Aichele, »Einleitung«, in: Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, hrsg. von A. A., Hamburg: Meiner 2008, S. VII–LXXXIX, hier S. LXIV). 100 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 184. 101 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 184 f. 102 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 75. 103 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 110.

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offen ist und an die Freiheit glaubt. Die philiströse Welt der Ausländer kann sich hingegen in ihrem Unglauben immer nur auf dasjenige beziehen, was sich immer gleich bleibt und daher bereits für tot angesehen werden kann. »Wer an ein festes, beharrliches, und todtes Seyn glaubt, der glaubt nur darum daran, weil er in sich selbst tod ist«104 – so schließt zumindest Fichte. Oder, in Brentanos Worten: »Ein Philister ist ein […] scheinlebendiger Kerl, der nicht weiß, daß er gestorben ist«.105 Auch Fichtes antiphiliströser Nationalismus entbehrt nicht der erniedrigenden Sei­ ten­hiebe, wie sie auch die Philistersatire der Romantiker kennzeichnen. Deren Ex­ klusionsverfahren, das am Unvermögen der Ausgegrenzten ansetzt, findet auch in den »Reden« Verwendung, etwa wenn es heißt, es komme »einem Wunder gleich«,106 wenn ein Sprecher einer ›toten‹ Sprache ›lebendiges‹ Denken an den Tag lege. Ja, die gesamte Rückbindung der Eigenschaft, ein ›Urvolk‹ zu sein, an die Muttersprache, die ein jeder ja nur kontingenterweise erlernt, stellt eine der romantischen Philistersemantik durchaus verwandte Operation der Exklusion dar. Gleichwohl lässt sich bei Fichte zugleich eine andere, der romantischen Re-Ethni­ sisierung des Philisterdiskurses durchaus zuwiderlaufende argumentative Stoß­rich­ tung ausmachen. Die antiphiliströsen Deutschen zeichnet es nämlich aus, dass sie – wie bereits zitiert – keinesfalls etwas »Abgestammtes« sein wollen, sondern für eine schlecht­hin neue Form der Vergesellschaftung, ja der Weltordnung einstehen. Daher zieht Fichte die Konsequenz, deutsch sei, »was an Geistigkeit, und Freiheit dieser Geistig­keit glaubt, […] wo es auch geboren sei, und in welcher Sprache es rede« – alles an­dere, »wo auch es geboren sey, und welche Sprache es rede«, sei »undeutsch«.107 Entsprechend sieht sich Fichte in seiner letzten Rede dazu gezwungen, die einzelnen Gruppen des deutschen Volks zu beschwören, den von ihm aufgezeigten Weg auch zu gehen, eine Beschwörung, der sich durch Fichtes Mund nicht nur die Vorfahren der zeitgenössischen Deutschen, sondern auch ihre Nachkommen und selbst das Ausland anschließen.108 Fast wirkt es, als könne sich Fichte nicht sicher sein, ob die zeitgenössischen Deutschen auch wirkliche Deutsche sind. In diesen Passagen, die zwischen den teils unerträglichen nationalistischen Phra­sen und dem fatalistischen Pathos der »Reden« allerdings zuweilen unterzugehen dro­hen, klingt noch die ethische Wendung der »Wissenschaftslehre« an, die sich aus der re­alis­ ti­schen Einsicht herleitet, dass die Selbstbegründung des Ich immer nur unvollständig sei kann, dass das Ich also durch eine ihm fremde Instanz – etwa die Einbildungskraft – in seinem Innersten bedingt ist. Diese ethische Wendung zielt auf ein immer unvollkommen bleibendes Streben, die darin liegende Ohnmacht des Subjekts zu ver104 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 194. 105 Brentano, »Der Philister« (Anm. 7), S. 44. 106 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 160. 107 Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 196. 108 Siehe Fichte, »Reden« (Anm. 25), S. 290 u. 292 –297.

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ringern und ihm Souveränität zu geben. Vielleicht nicht zuletzt im Sinne dieser Ethik setzt sich Fichte in seiner Zeit als Vorsitzender der Tischgesellschaft gegen eine Fortsetzung der Philister- und Judensatire ein109 – derselbe Fichte, dessen frühere Schrift über die französische Revolution, wie bereits erwähnt, einen der wirkmächtigsten antisemitischen Topoi ins Leben gerufen hat und dessen Schrift über Friedrich Nicolai, heraus­gegeben von August Wilhelm Schlegel (1801), eine der erniedrigenderen Va­rian­ ten der Philistersatire betreibt.110 Der bei Fichte einsetzende und bei den Romantikern weiter ausformulierte trans­ zen­dentale Realismus eröffnet allerdings zwei Alternativen, diese Ethik zur Entfaltung zu bringen: Er ermöglicht es einerseits, auf soziale Zusammenhänge übertragen, Gesellschaften in Analogie zum Bewusstsein als selbstorganisierte, aber in ihrer Grundlegung kontingent bleibende Prozesse vorzustellen. So wie etwa Novalis’ Ästhetik den Vorschlag macht, im Bewusstsein der eigenen existentiellen Abhängigkeit von der Ei­ gen­dynamik der Einbildungskraft die Welt zu ›romantisieren‹, indem man die Ein­ bil­dungs­kraft manipuliert,111 kann in der Geselligkeit das Spiel mit der Einsicht in die kontingenten Grenzen, die der eigenen Existenz und der Einsicht in die Grundlagen dieser Existenz gesetzt sind, die Fichte’sche Ethik umzusetzen versuchen. Es mag sich dann ergeben, dass ohne zielgerichtete Exklusionsmechanismen neue Formen der Vergemeinschaftung emergieren. Solche Programme modellieren beispielsweise Texte E. T. A. Hoffmanns und Jean Pauls, die sich der rigorosen Philistersatire anderer Ro­ man­ti­ker verweigern, um stattdessen, so Jean Paul, das Philiströs-Idyllische als Uto­pie von Gemeinschaft auszuweisen und in einer humoristischen Reflexion auf die Un­er­ reich­barkeit dieser Utopie dennoch eine menschheitliche Verständigung zu apo­stro­ phie­ren;112 oder um, so E. T. A. Hoffmann, die philiströse Existenz als solche mit dem Potenzial zur ›Romantisierung‹ auszustatten.113 Beide Autoren exponieren eben je­nes Kontigenzbewusstsein, mittels dessen sich auch die antiphiliströse Romantik aus­zeich­ nen möchte, schließen das Philiströse aber in ihre sozialen Entwürfe ein. Andererseits wird die Fichte’sche Ethik in genau dem Moment problematisch, in dem sie erneut die Selbsturheberschaft als Zielvorgabe auffasst. Denn dabei übersieht 109 Fichte möchte den »Universalverdacht« vermeiden, der sich aus der Philistersatire ergibt (siehe Nienhaus, Geschichte [Anm. 1], S. 91). 110 Johann Gottlieb Fichte, »Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen. Ein Beitrag zur Litteraturgeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts«, in: ders., Werke 1800 –1801, hrsg. von Reinhart Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt: From­ mann 1988 [1801] (= Gesamtausgabe [Anm. 14], Bd. I.7), S. 325 – 463. Siehe hierzu den Beitrag von Annette Keck in diesem Band, S. 233  f. 111 Siehe Dembeck, »Figur / Ornament« (Anm. 34). 112 Siehe Till Dembeck, Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin / New York: de Gruyter 2007, S. 388 – 405. 113 Siehe hierzu Thomas Althaus, »Romantischer Philistrismus. Die Notwendigkeit des Gewöhnlichen in Hoffmanns Texten«, in: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch 16 (2008), S. 52 – 69.

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sie, dass Selbstorganisation strukturell im Widerspruch zu teleologischer Pro­gram­ mie­rung steht: Sobald die Fichte’sche Ethik ihre Umsetzbarkeit in einen zielorien­ tier­ten Prozess annimmt, setzt sie eine Form von Souveränität bereits voraus, die sie eigent­lich doch erst erzeugen soll – nämlich die Fähigkeit, den Prozess der Annähe­ rung an das Ziel lenken zu können. Die Setzung dieser Souveränität mag in gewis­ sen Grenzen erfolgreich sein. Wenn sie jedoch eine Gruppe für sich reklamiert, so wendet sich ihr Anspruch leicht ins Totalitäre, denn die Behauptung, im Unterschied zu anderen kenne man den Weg, setzt voraus, dass man selbst am Ziel bereits teil­ hat. Hat man erfolgreich Führungsansprüche angemeldet, läuft man dann Gefahr, diese Führungsansprüche nicht in den kontingenten und veränderlichen Umständen, sondern im sich gleich bleibenden Sein der ›trefflichen‹ Gruppenmitglieder selbst begründet zu sehen. Dies geht – wie am Beispiel der Tischgesellschaft, aber auch der Fichte’schen »Reden« gesehen – mit der Exklusion derer einher, denen man vorhält, sie seien von ihren kontingenten Anlagen her eben nicht dazu in der Lage, an der Verwirklichung des Ziels, in diesem Falle also der Etablierung einer souveränen Gemeinschaft, mitzuwirken. Diese Argumentationsfigur ist alles andere als harmlos, denn sie war späterhin ei­ner Vielzahl totalitärer Bewegungen des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts ge­mein­ sam. Trotz aller regressiven Momente nämlich kennzeichnet viele dieser Be­we­gun­ gen ein gegenüber vormodernen Herrschaftsformen vergleichbar hohes Kon­tin­genz­ bewusstsein, das gerade dazu führt, ganz neue soziale Formationen für ›machbar‹ zu halten und die entsprechenden Zielvorstellungen zu totalisieren. Vielleicht liegt in die­sem Kontingenzbewusstsein der Grund dafür, dass sich Bewegungen, denen es – wie dem Nationalsozialismus – um die Herstellung einer neuartigen, hier also einer ›völkischen‹ Souveränität zu tun war, rassistische Begründungen gerne zu eigen mach­ ten. Die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer ›Rasse‹ wurde dann als unverfügbarer Seinsgrund angesehen, für den niemand verantwortlich zeichnet – insbesondere nicht die göttliche Providenz. So ließen sich Ausschluss und Vernichtung der Angehörigen einer als ›minderwertig‹ deklarierten Rasse als in ›Sachzwängen‹ liegende Vorgänge ausgeben, die um des Ziels einer souveränen ›Volksgemeinschaft‹ willen unvermeidlich seien – und dies unter Eingeständnis der Tatsache, dass die Klassifikation in jedem Einzelfall, aber auch insgesamt, kontingent war.114 Die zur Teilnahme an der ›Volksgemeinschaft‹ angeblich nicht Fähigen traten so als Personen gar nicht erst in Erschei­ nung, weil in ihnen nur eine von niemandem zu verantwortende kontingente ›Be­son­ 114 Vgl. die berüchtigte Rede Heinrich Himmlers bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943.  – Es ist das erklärte Ziel der Nationalsozialisten, »den Juden aus sich selbst zu ent­fernen« (Adolf Hitler, »Warum sind wir Antisemiten. Rede auf einer NSDAP-Versammlung am 13.8.1920«, zit. n. Brokoff, »Gesellschaftlicher Antisemitismus und romantische Geselligkeit« [Anm. 3], S. 253). Es liegt hier also genau jener ›Universalverdacht‹ vor, den Fichte in der ro­man­ ti­schen Philistersemantik am Werke sieht. Die ›Unruhe‹, die dieser Verdacht stiftet, bildet aber, so Brokoff, gerade die Grundlage totalitärer Gegenmaßnahmen.

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der­heit‹ der ›Natur‹ vernichtet wurde. Bei vielen Unterschieden finden sich ähn­lich gelagerte Argumentationsstrukturen in der gewissermaßen ›jakobinischen‹ Va­rian­te totalitären Denkens, die sich inbesondere im Sozialismus entfaltete – einer min­des­tens ebenso anti-philiströsen Bewegung wie dem Nationalsozialismus. Auch hier lag dem Herrschaftswillen die angebliche Einsicht in die Triebkräfte des Gangs der Ge­schich­te zugrunde. Man kannte das Ziel und errichtete, um es zu erreichen, eine »Orga­ni­sa­ tions­gesellschaft«, in der allerdings gerade nicht das kontingente Sein des Einzelnen, sondern vielmehr sein ›guter Wille‹ zur Mitarbeit und zur Mitgliedschaft zählte und daher jede Kommunikation hinsichtlich ihrer Konformität mit dem ›System‹ zweitcodiert wurde.115 Die Umsetzung dieses Programms führte aber – insbesondere im Sta­li­nis­mus – zu ähnlichen Formen des rassistischen Ausschlusses und der will­kür­li­ chen Vernichtung wie die nationalsozialistische Herrschaft. Letztlich verließ man sich nämlich nicht auf Bekundungen des guten Willens, sondern verlangte bereits vorab genau zu wissen, inwiefern auf guten Willen wirklich zu rechnen war. Fiel das Urteil – aufgrund welcher kontingenten Bedingungen auch immer – negativ aus, so konn­ten dem ganze Völker, etwa die Tschetschenen,116 und eben auch erklärte Kom­mu­nisten ›falscher‹ Herkunft zum Opfer fallen. Die beiden Bewegungen zugrunde liegende Kom­bination eines auf Selbstorganisation (des ›Volkskörpers‹ oder der Produktivkräfte) setzenden Kontingenzbewusstseins mit einer teleologisch gewendeten Seinslogik ist in den ostentativen Exklusionen der Tischgesellschaft angelegt, wenn auch keines­falls to­ta­li­siert. Wer daher in Anspielung auf den Nationalsozialismus schließt, der von der Ro­man­tik begonnene »Philister-Krieg« habe insofern »schmählich« ge­en­ det, »als der Phi­lis­ter zum Angriff überging und generalstabsmäßig Krieg führte, einen Krieg, der aus­wu­cher­te zum Weltkrieg«,117 macht sich die Unterscheidung zwi­schen den Phi­lis­tern und ihren Gegnern zu leicht: So einfach lässt sich die anti­phi­lis­tröse Se­ man­tik von ih­ren to­ta­li­tä­ren Im­plikationen nicht trennen.

115 Siehe Dirk Baecker, Poker im Osten. Probleme der Transformationsgesellschaft, Berlin: Kadmos 2004, S. 24 –26; den Begriff »Organisationsgesellschaft« übernimmt Baecker von Detlef Pollack. 116 Siehe Uwe Hallbach, »Nordkaukasien – vom Widerstand geprägt«, in: Informationen zur po­ litischen Bildung. Aktuell 2003, http : // www .bpb .de / publikationen / Z6XX3K ,0 ,Nordkaukasien_von_ Widerstand_gepr%E4gt.html [Stand: 29.1.2009]. 117 Dieter Arendt, »Brentanos Philister-Rede« (Anm. 7), S. 99 f.

Anja Oesterhelt

Der Simson im Bürger »BOGS der Uhrmacher« von Clemens Brentano und Joseph Görres

Das leere Gegenteil »In der izzigen Welt kann man nur unter zwei Dingen wählen, man kann entweder ein Mensch oder Bürger werden«, schreibt der 20-jährige Clemens Brentano an seinen Bruder und Vormund Franz Brentano, um zugleich mitzuteilen, dass er sein Studium der Medizin nicht fortsetzen, ja überhaupt keinen bürgerlichen Beruf mehr anstreben werde. »Die Bürger haben die ganze Zeitlichkeit besezzt, und die Menschen haben nichts für sich selbst, als sich selbst«, so Brentano, und weiter: »Ein Bürger werde ich wohl nicht werden, denn es ist mir zur Freude zum Besizz nichts aus meiner Erziehung geblieben als mein Herz mein Kopf und die Trümmer meines Charakters.«1 Er wolle ein Mensch werden, schreibt er, einer, der sich soviel als möglich zueigne von dem, was den Bürgern fehle. Der ›Mensch‹ verkörpert in diesem übersichtlichen Weltbild des jungen Brentano also das, was dem Bürger abgeht. Zeichnet sich der Bürger durch Besitz der ›Zeit‹ – also seine bürgerliche Ordnung –, durch Besitz von Bildung, von Grundsätzen und Meinungen aus, so bestimmt sich der ›Mensch‹ ex negativo: Er besitze nichts, außer sich selbst, heißt es – aber wohin führt das, wenn dieses ›Selbst‹ immer nur leeres Ge­ gen­teil ist? Im etwa zeitgleich mit dem Brief an den Bruder entstandenen Roman »Godwi« wird der Vorbehalt gegen die bürgerliche Welt literarisch: »Mit deinem Zwecke hat es wenig auf sich,« schreibt der Protagonist an den Kaufmannsfreund, »durchlaufe dein System, du kömmst nicht weiter, du stehst im Cirkel, und zwar in dem kleinsten – Arbeit um Geld, Geld um Brod, Brod um Nahrung, Nahrung um Stärke zur Arbeit; 1 Alle Zitate: Clemens Brentano, Brief vom 20. Dezember 1798, in: ders., Briefe I., hrsg. von Liese­ lotte Kinskofer, Stuttgart u. a: Kohlhammer 1988 (= Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Konradt Feilchenfeld, Jürgen Behrens und Anne Bohnenkamp, Bd. 29), S. 147 f.

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hier ist Arbeit Mittel und Zweck, indeß du der Zweck und nie das Mittel seyn müß­ test«.2 In ganz ähnlichen Worten so schon kurz zuvor von Novalis formuliert,3 setzt die Frühromantik dem zweckrationalen Alltagsleben des Philisters die Aufgabe entgegen, »ein Mensch zu seyn«.4 Wie beim Vorbild »Werther« wird der Philister als das personifizierte Misslingen von Kunst und Liebe5 allerdings von einem Standpunkt aus kritisiert, der »mehr in Ahndung und dunkler Begier, als in Darstellung und lebendiger Kraft«6 besteht. Im Bekenntnisbrief des Romanhelden Godwi fällt genauso wie im Brief an den Bru­der auf, dass das ›Menschliche‹ kaum je positiv bestimmt wird: Es heißt, sich nicht auf ein berechenbares Maß reduzieren zu lassen,7 nicht »[s]chneckenlangsam«8 die aus­ge­tre­tenen Pfade zu gehen, nicht dem »bürgerlichen Kalendertag«9 zu folgen. Es geht, soviel wird klar, um eine erhabene Lebensform, die das greifbare und bestimmbare Maß überschreitet, wenn Godwi »gränzenlose Aussichten« über den »Alpen des Lebens« finden will.10 Das Unbenennbare dieses Lebensentwurfs ist dabei Programm: »Ich kann nur Ahndungen folgen; ihr folgt auch Ahndungen, aber ihr nennt sie nicht so, ihr glaubt an sie und nennt sie Pflicht.«11 2 Clemens Brentano, »Godwi«, in: ders., Prosa I, hrsg. von Werner Bellmann, Stuttgart u. a.: Kohl­ hammer 1978 (= Sämtliche Werke und Briefe [Anm. 1], Bd. 16), S. 5 –576, hier S. 43. 3 »Unser Alltagsleben besteht aus lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen. Die­ ser Zirkel von Gewohnheiten ist nur Mittel zu einem Hauptmittel, unserm irrdischen Daseyn überhaupt – das aus mannichfaltigen Arten zu existieren gemischt ist. / Philister leben nur ein Alltagsleben. Das Hauptmittel scheint ihr einziger Zweck zu seyn« (Novalis, »Blütenstaub«, in: ders., Das philosophisch-theoretische Werk, hrsg. von Hans-Joachim Mähl, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999 [= Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von H.-J. M. und Richard Samuel, Bd. 2], S. 225 –285, hier S. 261 f.). 4 Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 44. 5 So die Formulierung von Gerd Stein, »Vorwort«, in: ders. (Hrsg.), Philister  – Kleinbürger  – Spießer. Normalität und Selbstbehauptung, Frankfurt am Main: Fischer 1985 (=  Kulturfiguren und Sozial­charak­tere des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4), S. 9 –18, hier S. 13. 6 Johann Wolfgang Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers«, in: Der junge Goethe 1757– 1775, hrsg. von Gerhard Sauder, München: btb Verlag 2006 (= Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 1.2), S. 196 –299, hier S. 203. Der Brief vom 22. Mai, der dieses Zitat enthält, ist zugleich die Quelle für Novalis’ und Brentanos Reformulierungen: »[W]enn ich sehe, wie alle Würksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern […]. Das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahndung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. […] Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinausläuft, […] ja! der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst, und ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist« (S. 203 f.). 7 Vgl. Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 42. 8 Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 41. 9 Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 42. 10 Alle Zitate: Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 42. 11 Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 44.

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Nicht nur in den frühen Briefen und Schriften Brentanos wird der Bürger meist konkret, der ›Mensch‹ dagegen als nebulöses Gegenteil bestimmt. Ähnliches ließe sich etwa bei Novalis zeigen. Indem die Eigenschaften des frühromantischen ›Menschen‹Ideals in der Schwebe bleiben und es sich vor allem in der Negation des Bürgerlichen bestimmt, bleibt es grundsätzlich auf den Bürger verwiesen. Erst durch ihn kann eine Selbstkonstitution des künstlerischen Subjekts – wenn man so die Figur des ›Menschen‹ übersetzen will – überhaupt stattfinden. Bezogen auf die frühen Briefe und Schriften Brentanos ist das paradoxe Bedin­ gungs- und Ausschließungsverhältnis von Mensch und Bürger jedoch noch radikaler zu bestimmen. Denn hier steht die Figur des Philisters nicht nur für das Engherzige und Kleingeistige, wie beispielsweise bei Novalis, sondern für das sozial definierbare Subjekt schlechthin. Diesem positiv bezeichenbaren Subjekt stellt Brentano in sei­nen Briefen, um mit Karl Heinz Bohrer zu sprechen, die eigene ästhetische Sub­jek­ti­vi­tät entgegen. Brentano, der Schauspieler seiner eigenen Gefühle, weiß um den äs­the­ti­ schen Status seiner Briefrede, die jeden Außenbezug kappt und immer nur auf sich selbst verweist.12 Natürlich gibt es weder eine tatsächlich autonome Ästhetik noch ei­ ne au­to­nome ästhetische Subjektivität und so schließt es sich nicht aus, dass der Bür­ ger nicht als Referenzgröße anerkannt wird und doch zugleich notwendige Bedingung der Selbstkonstitution bleibt. Brentanos Briefe thematisieren immer wieder die eigene Unfähigkeit, die Er­war­ tun­gen seiner Umwelt zu erfüllen, ja überhaupt nachzuvollziehen. Dies ist nicht nur Koketterie. Die Sehnsucht nach Überwindung der eigenen Isolation und nach der Hin­gabe an einen geliebten Menschen konnte Brentano wegen seiner totalen Un­fä­ hig­keit zur sozialen Integration ein Leben lang stets nur kurzfristig stillen.13 Dem ein­ sa­men Ich steht bei Brentano eine Außenwelt gegenüber, die verständig handelt und ver­stän­diges Handeln fordert, die aus definierenden und definierbaren – bürgerlichen –  12 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 62 – 6 4. 13 »Ich bin fest überzeugt, daß ich nichts kann, als lieben, daß meine Seele nicht in mir wohnt, und nicht in der Natur, sondern ihn [!] einzelnen Menschen. Wer mich zu mir selbst weißt tödet [!] mich, ich habe geliebt, und dem geliebten geglaubt, und da haben sie mir gesagt, warum gehst du nie in dein eignes Herz, und bildest deine eigne Seele aus, du hast eine recht hübsche Seele, das habe ich dann geglaubt, und bin traurig zurückgegangen in mich, aber ich konnte nichts thun, als die Stühle zurechtstellen, damit sie mich besuchen sollten, ich habe immer geglaubt, das wäre die Ausbildung, aber sie sind nicht gekommen, und wenn ich mich ans Fenster sezzte und auf meiner Laute sang, um sie an mich zu erinnern, und sie herbei zu locken, so haben sie mir herüber gerufen, sehen sie es geht, sie machen sicher einmahl ein artiges Hauß in der Stadt, das hat mir immer innerlich das Herz zerschnitten, dann machte ich die Fenster zu, und weinte, da meinten sie ich aplizire mich, und wenn ich in einsamer Traurigkeit an die Fenster hauchte, daß sie anliefen, und mit den Fingern die Nahmen meiner Geliebten hinein mahlte, standen sie unten und sprachen, jezt verarbeitet er das Leben zur Poesie, jezt ist er auf guten Wegen« (Clemens Brentano, Brief vom 8. September 1802, in: ders., Briefe I [Anm. 1], S. 500 f.).

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Subjekten besteht. Der Begriff des Bürgers ist damit bei Brentano denkbar weit gefasst: Es ist im Grunde jeder, der außerhalb der eigenen einsamen ästhetischen Subjektivität steht. Der Konfrontation der bodenlosen ästhetischen Existenz des ›Menschen‹ mit der gesicherten des Bürgers gewinnt Brentano immer wieder seinen Witz ab, etwa im »Godwi«: Die Frage an den Bruder war: was willst du denn endlich werden? Die Antwort: »ein Mensch.« Weiter: »Du bist Extravagant« – Die Antwort: »O du armer Bruder, du weißt nicht, was du sprichst; einstens wünschtest du, ich möge selbstständig seyn, und da haben wir es, ihr Leute könnt nie etwas ganz seyn, ihr könnt in nichts die Vollendung; da ich nun selbst­ständig bin, versteht ihr mich nicht mehr, weil ihr mit eurer Selbststän­ dig­keit nicht die Selbstverständigkeit verbindet. – Du hast damals gemeint, ich sollte Standselbstig seyn, und auch das bin ich so, wie ich bin, denn ich bin mein Stand selbst, weil das Ich selbst allein mein Stand ist, und ich nicht im Stande bin, in irgend einem anderen Stande zu seyn. Ihr aber seyd nicht in eurem Stande, noch auf eurem Standpunkte, sondern euer Stand ist in euch, und euer Standpunkt auf euch, so daß ihr übel steht, und euer Stand gut, denn er läßt euch keinen Platz in Herz und Kopf, und hat euch unter den Füßen. Was die Extravaganz angeht, hast du dich auch verschrieben, – o wäre ich ein wenig Extravagant, so wäre ich nicht allein Intravagant, so ging ich nicht in mir selbst herum, und räumte ängstlich auf. Ihr seyd Extravagant, denn ihr seyd aus euch heraus, in die Kaufmannschaft geschweift, und eure Seelen klettern wie Affen auf Kaffeebäumen herum.« etc.14 Die vermeintlich gesicherte Bürgerwelt gerät aus der Perspektive des aufmüpfigen Bru­ ders ins Wanken. Das geschieht im Wortspiel, das den Begriffen ihre geläufige Be­deu­ tung entzieht. ›Standpunkt‹, ›Stand‹ und ›Selbstständigkeit‹ etwa erscheinen in ihrem Wortsinn durch die bürgerliche Konvention verstellt. Selbstständigkeit wird dann entgegen der konventionellen Bedeutung nicht als Eintritt ins bürgerliche Leben ver­stan­ den, sondern als Bedürfnis und Fähigkeit, sich in seinem Mensch-Sein zu entfalten. Wieder ist dieses Mensch-Sein über eine negative Exklusivität bestimmt (›weil das Ich selbst allein mein Stand ist‹). Das geforderte kaufmännische Standes­be­wusst­sein wird in ein Bewusstsein der entfalteten Individualität umgedeutet. Dem Vorwurf der Extra­va­ganz wird mit einer erneuten Sinnverkehrung begegnet: Tatsächlich seien die14 Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 224 f.

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jenigen, die sich von äußeren bürgerlichen Konventionen leiten lassen, die Außen­ gesteuer­ten. Die Ausbildung der eigenen Individualität bedeutet demnach gerade, sich nicht festlegen zu lassen, kein sozial definiertes Subjekt zu sein. Die ›Intravaganz‹ besteht darin, in sich selbst ›herumzugehen‹ und ›ängstlich aufzuräumen‹. So wie der Stand­punkt des konventionsgebundenen Menschen nicht selbst gefunden und des­we­ gen keiner ist, ist der Standpunkt dessen, der ein ›Mensch‹ werden will, stets in Be­we­ gung. Der Standpunkt ist also überhaupt kein positiv besetzbares Konzept; es gibt nur einen falschen Standpunkt oder eine richtige Standpunktlosigkeit. Allerdings scheint der standpunktlose Mensch inneren Zwängen ausgesetzt zu sein. Denn die Se­man­ tik des ängstlichen in sich Herumgehens und Aufräumens enthält die Im­pli­ka­tion des Ge­fäng­nisses, aber auch der Pedanterie. Der standpunktlose Mensch befreit sich zwar von äußeren Zwängen, ist deshalb aber umso mehr in sich selbst gefangen. Zu dieser Verweigerung von Festlegbarkeit gehört elementar der Modus der Rede: Auf den Witz als Spiel mit dem Entzug des Definierten – das gleichwohl immer auf eben dieses angewiesen bleibt, um zu funktionieren – wird noch zurückzukommen sein. Das Verhältnis von Bürger und Künstler wird beim jungen Brentano oft als versteckte Abhängigkeit des Bürgers vom Künstler beschrieben: Im Brief an den Bruder Franz schreibt Brentano, er wolle »ein Mensch werden«, einer, »der sich soviel zu­eig­ net von dem waß den Bürgern fehlt daß sie ihn durch die Menge ihrer Bedürfniße gezwungen lieben und ehren müssen und ihn nicht entbehren können.«15 Auch im »Godwi« erscheint die Allgemeinheit vom künstlerischen Subjekt abhängig. Er gebe der Allgemeinheit, sagt Godwi, gerne seine Töne hin – und: »Das Allgemeine würde ohne meines gleichen über dem alten Adagio, das ihr von Ewigkeit zu Ewigkeit zum allgemeinen Besten aufspielet, vor Langeweile einschlafen«.16 Im Bild des Solisten, welcher der langweiligen und gelangweilten Masse aufspielt, verbirgt sich noch ein komplexeres Abhängigkeitsverhältnis. Denn insofern sich der Künstler hingibt, begibt er sich zugleich bewusst in die schwächere Position. Auch im Brief an den Bruder versteht Brentano seinen Entschluss, Dichter zu werden, als »Aufopferung«, die er »der Welt«17 bringe. Der für Brentanos Gesamtwerk zentrale Topos des Dichters als Dienender, ja als sich Opfernder – der noch eine eigene Arbeit verdient – lässt das (Selbst‑)Bild des Dichters als ambivalentes Gefüge aus Hybris und Demut erscheinen. Das Gefühl der eigenen Erhabenheit ist an den Wunsch nach Hingabe, ja gänzlicher Preisgabe des Selbst gekoppelt. Der Dichter konstituiert sich dann geradezu erst im Dienst an der Welt, die zum großen Teil als philiströs empfunden wird. Dieses im Bild des Selbstopfers enthaltene Spannungsverhältnis zwischen dem Bild des Heilsbringers und dem des Dieners bezeichnet zugleich eine Gespaltenheit

15 Alle Zitate: Brentano, Brief vom 20. Dezember 1798 (Anm. 1), S. 147 f. 16 Brentano, »Godwi« (Anm. 2), S. 45. 17 Brentano, Brief vom 20. Dezember 1798 (Anm. 1), S. 148.

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des Künstlerbilds, die wesentlich für Brentanos Werk ist. Das Kräfteverhältnis die­ser konträren Pole kehrt sich allerdings lebens- und werkgeschichtlich bei Brentano um. Analog dazu, das bisher Gesagte legt es nahe, verkehrt sich auch das Bild des Bürgers.

Wer ist die Gans? In Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl« wird der Er­ zähler nach seinem Beruf gefragt. Er weiß nicht, wie er erklären soll, dass er Schriftsteller ist. Er beschreibt »eine gewisse innere Scham«, »ein Gefühl, welches Jeden be­ fällt, der mit freien und geistigen Gütern, mit unmittelbaren Geschenken des Himmels Han­del treibt.« Es sei auch wirklich ein verdächtiges Ding um einen Dichter von Profession, der es nicht nur neben her ist. Man kann sehr leicht zu ihm sagen: mein Herr, ein jeder Mensch hat wie Hirn, Herz, Magen, Milz, Leber und dergleichen, auch eine Poesie im Leibe, wer aber eines dieser Glieder überfüttert, ver­füt­ tert oder mästet, und es über alle andre hinüber treibt, ja es gar zum Erwerbzweig macht, der muß sich schämen vor seinem ganzen übrigen Menschen. Einer der von der Poesie lebt, hat das Gleichgewicht verloren, und eine übergroße Gänseleber, sie mag noch so gut schmecken, setzt doch immer eine kranke Gans voraus. Alle Menschen, welche ihr Brod nicht im Schweiß ih­ res Angesichts verdienen, müssen sich einigermaaßen schämen, und das fühlt Einer, der noch nicht ganz in der Tinte war, wenn er sagen soll, er sey ein Schriftsteller. Schließlich fällt dem Befragten eine Erwiderung auf die Frage nach seinem Beruf ein: Ein »Schreiber« sei er. Die Demut dieser Antwort liest sich vor dem Hintergrund der vorangehenden Re­ flexion als grundsätzlicher Zweifel an der Berechtigung der Schriftstellerexistenz. Der Schreiber ist ein Diener, nicht aber mehr ein Erlöser. Die an den Schriftsteller ge­rich­ te­te Frage, ob er ein »Tagedieb« sei, einer, »der sich an die Häuser lehnt, damit er nicht umfällt vor Faulheit«,18 wird von der positiv gezeichneten Figur der ›Alten‹ aus­ge­spro­ chen. Im immer ambivalenten (Selbst‑)Bild des Dichters, das Brentanos Schriften von Anfang an kennzeichnet, überwiegt in der Kasperlerzählung die Selbstverachtung.19 18 Alle Zitate: Clemens Brentano, »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«, in: ders., Erzählungen, hrsg. von Gerhard Kluge, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1987 (= Sämtliche Werke und Briefe [Anm. 1], Bd. 19), S. 399 – 439, hier S. 410 f. 19 Den Wandel des Motivs von Müßiggang und Berufslosigkeit beschreibt Schaub anhand Bren­ tanos Parabel »Von dem traurigen Untergang zeitlicher Liebe« (vgl. Gerhard Schaub, Le génie enfant. Die Kategorie des Kindlichen bei Clemens Brentano, Berlin / New York: de Gruyter 1973, S. 218 –222).

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Was hier einer literarischen Figur in den Mund gelegt ist, entspricht lebens­ge­ schicht­lich einer Abkehr Brentanos von den eigenen frühromantischen Positionen. Die sich seit 1810 häufenden Vorbehalte gegenüber dem eigenen Dichterstatus führen Bren­tano schließlich in eine grundsätzliche Lebens- und Sprachkrise20 und ans Bett der stig­ma­ti­sie­rten Nonne Anna Katharina Emmerick. Brentanos Selbstverständnis nach er­füllt er in der Aufzeichnung ihrer Visionen ab 1818 die Rolle eines ›Schreibers‹. Mit dem Versuch der Abwendung vom eigenen Künstlerdasein werden auch neue Bilder des Bürgers notwendig: »Daß Sie ein Kaufmann sind und somit im bürger­li­chen Leben wurzeln«, schreibt Brentano etwa Ende der 1830er Jahre an Ferdinand Frei­lig­ rath, »mehrt meine Achtung für Sie, und ich würde es mit Betrübnis vernehmen, wenn Sie mit Ihrem Stande zerfielen und sich Ihrem Zustande (der Poesie) unbedingt preisgäben.«21 Die auffällige sprachspielerische Nähe zur Standpunktparodie im »Godwi« lässt freilich aufscheinen, wie sehr sich Brentano trotz aller gegenteiligen Behaup­tun­ gen und Selbstzweifel seinen Stand und Zustand der Poesie bewahrt hat, wenngleich er die Dichtung nicht mehr als Zweck an sich anerkennen möchte. In einer Existenz, die sich prinzipiell nicht poetisch begründet, soll sie nur noch dienende Funktion haben. Die Metapher, in der Brentano das Künstlerbild zweideutig werden lässt, ist die der übergroßen Gänseleber, die gut schmeckt, aber in einer kranken Gans steckt. Sie hat es literaturgeschichtlich zu einer gewissen Bedeutung gebracht. Denn noch der Brentano-­  Leser und Kenner der deutschen Romantik Kierkegaard notiert 1838 in seinem Tagebuch: »Die Ironie ist eine abnorme Entwicklung, die ebenso wie die Abnormität der Leber bei den Straßburger Gänsen damit endet, das Individuum totzuschlagen.«22 Kierkegaard greift die Metapher ganz im Sinne Brentanos als Kritik des romantischen Künstlers auf, indem er sie gegen einen Zentralbegriff der romantischen Ästhetik, die Ironie, wendet. Bei Kierkegaard geht die Kritik am rein ästhetischen Leben des romantischen Künst­lers mit dem Versuch einher, das bürgerliche vom spießbürgerlichen Leben ab­ zu­grenzen und ihm so einen positiven Sinn zu geben. Das gelingt, indem er das bür­ ger­liche im religiösen Leben aufhebt. Äußerlich nämlich unterscheidet sich der re­li­ giöse Mensch in nichts vom Spießbürger; keine »poetische Übermäßigkeit« und keine »Übermäßigkeit des Genies«23 ist bei ihm zu finden. Er freut sich wie der Spießbürger

20 Vgl. Wolfgang Frühwald, »Clemens Brentano«, in: Benno von Wiese (Hrsg.), Deutsche Dichter der Romantik, Berlin: Schmidt 1971, S. 280 –309, hier S. 294 –296. 21 Clemens Brentano, Brief an Ferdinand Feiligrath vom 3.9.1839, in: ders., Briefe, hrsg. von Friedrich Seebaß, Bd. 2, Nürnberg: Carl 1951, S. 385. 22 Sören Kierkegaard, Tagebucheintrag vom 1. Januar 1838 (II A 682), in: ders., Die Tagebücher, Bd. 1, hrsg. von Hayo Gerdes, Düsseldorf / Köln: Diederichs 1962 (= Gesammelte Werke, hrsg. von Emanuel Hirsch und H. G.; Anhang), S. 107. 23 Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, hrsg. von Emanuel Hirsch, Gütersloh: Gütersloher Verlag 1993 (= Gesammelte Werke [Anm. 22], 4. Abt.), S. 39.

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auf seinen Sonntagsbraten. Anders als dieser aber kann er auf den Braten verzichten.24 Der religiöse Mensch wäre also einer, der sein bürgerliches Leben zu leben und zu trans­zendieren vermag. Die Dialektik von Bejahung und Verneinung des bürgerlichen Lebens findet also eine Fortsetzung, die bis in die Metaphorik der Gänseleber hinein an Brentano anschließt. Deshalb soll die Wandlung, der diese Metaphorik bei Brentano selbst unter­ liegt, wenngleich sie von Heinz Rölleke und Günter Oesterle bereits umfassend untersucht wurde,25 noch einmal rekapituliert werden. Es kann hier gezeigt werden, wie sich die Polaritäten eines von Anfang an ambivalenten Künstlerbildes (das stets ein antagonistisches Bürgerbild im Schlepptau führt) werkgeschichtlich verkehren. Interessant ist zunächst eine frühere Variation der Metapher. So heißt es in »Ge­ schichte und Ursprung des ersten Bärnhäuters« (1808), dass der gemästeten Gans »die Leber so groß aus dem Leibe herauswächst, daß oft die Gans selbst in großer Me­lan­ cholei nicht weiß, ob sie die Leber oder die Gans ist.«26 Die kranke Gans ist also, das geht aus diesem Zusatz hervor, eine melancholische Gans, das entfaltete Problem nicht nur das einer (äußerlich wahrgenommenen) körperlichen Deformation, sondern das einer (selbst erfahrenen) Identitätskrise. Für unseren Zusammenhang ist nun in­teres­ sant, dass diese melancholische Gans zwei Köpfe trägt: den des Künstlers und den des Philisters. In der 1817 entstandenen Kasperlerzählung ist es der Schriftsteller, dessen Identitätskrise im Bild der übergroßen Gänseleber manifest wird. In der Philisterschrift27 von 1811 war die Metapher da­ge­gen auf den Philister angewandt worden. Dort ist eine Zeichnung, die eine Gans mit der Aufschrift A = A darstellt, mit den Worten kom­ men­tiert, ihre Leber sei »durch speishaftige Juden so groß gemästet worden, daß sie nicht weiß in großer Abstraktion, ob sie die Leber oder die Gans«. Im Folgenden ist die Gans auf »philosophierende Phi­lister« bezogen.28 Dass es sich bei der Gans um einen 24 Vgl. Kierkegaard, Furcht und Zittern (Anm. 23), S. 39. 25 Heinz Rölleke, »Die gemästete Gänseleber. Zu einer Metapher in Clemens Brentanos ›Ge­ schich­te vom braven Kasperl und dem schönen Annerl‹«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hoch­stifts 1974, S. 312 –322; Günter Oesterle, »Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Über­le­gun­gen zum Antisemitismus in der Romantik«, in: Athenäum 2 (1992), S. 55 – 89. 26 Clemens Brentano, »Geschichte und Ursprung des ersten Bärnhäuters«, in: ders., Werke, hrsg. von Friedhelm Kemp, Bd. 2, München: Hanser 1973, S. 936. 27 Zur Philisterschrift vgl. zuletzt: Stefan Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübin­ gen: Niemeyer 2003, S. 182 –203; sowie: Dieter Arendt, »Brentanos Philister-Rede am Ende des ro­ man­tischen Jahrhunderts oder Der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation«, in: Orbis litterarum 55 (2000), Heft 2, S. 81–102. 28 Alle Zitate: Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (= Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn, Bd. 11), S. 38 – 88, hier S. 79, siehe auch S. 75.

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Philister, genauer gesagt um ei­nen philosophierenden Philister, nämlich um Fichte mit seiner Setzung des ›Ich‹ durch sich selbst handelt,29 ist bezüglich des Verhältnisses von Künstler und Philister nicht uninteressant. Verwirrt sich doch die Frage nach der Gans noch mehr, wenn man weiß, dass Fichte den Spieß umkehrte und seinerseits Brentano des Philistertums bezichtigte. Ein Gelegenheitsgedicht Fichtes anlässlich der Übernahme des Sprecheramtes bei eben der Tischgesellschaft, der Brentano zuvor seine Philisterschrift vor­ge­tra­gen hat­te, ist unschwer als Reaktion auf Brentano zu entschlüsseln. Die betreffende Passa­ge lautet: Zudem sind die bisherigen Stoffe verbraucht;  Nicht Jude, nicht Philister mehr taugt,  Um an ihnen zu finden ein Körn’chen Spass,   Das nicht schon einige Male dawas! – Auch will es in der That was bedeuten,   Ueber dergleichen zu spotten vor Leuten,   Dass der Spott nicht auf uns selbst sitzen bleibe.   Den Juden schiebt man sich wohl noch vom Leibe,   Man ist nicht beschnitten; – ergo ist man keiner.   Mit dem Philister ist die Sache schon feiner.   Streng genommen, Keiner sich durchschaut,   So lang er steckt in der sündigen Haut,   In Unschuld Keiner soll waschen die Hände,   Wie Keiner selig ist vor seinem Ende! Ob wir durchaus nicht Philister waren,   Werden wir im ewigen Leben erfahren.   Doch giebt auch für sterbliche Augen  Kennzeichen, die zur Prüfung taugen,   Dass man sich orientieren kann.   Das Eine geb’ ich im Gleichnis an. Es geschieht wohl, dass Einer träume, er wache,   Und sich’s versichre, und glaublich mache,   Und ist doch gerade dies sein Traum! Wer wirklich wacht, kurzum der wacht,  29 Der Einfluss Jean Pauls auf Brentano macht sich auch hier bemerkbar, vgl. Jean Pauls Clavis Fichtiana. Schon Heinrich Heine hat in der philosophierenden Philister-Gans Fichte identifiziert: »Ich sah mal eine Karikatur, die eine Fichtesche Gans vorstellt. Sie hat eine so große Leber, daß sie nicht mehr weiß, ob sie die Gans oder ob sie die Leber ist. Auf ihrem Bauch steht: Ich=Ich«, schreibt Heine in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Darauf macht Rölleke aufmerksam, nach dem hier auch zitiert wird (Rölleke, »Die gemästete Gänseleber« [Anm. 25], S. 319).

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Und ist nicht weiter auf ’s Wachen bedacht.   So, wer in der That nicht Philister ist,   Der denket dessen zu keiner Frist;   Ohne seinen Dank und Willen, und schlechtweg er’s nicht ist.   Wer aber sich’s hin und her beweist  Und Gott am Morgen und Abend preist,   Dass er nicht ist, wie andre Leut,   Ist vom Philisterthum nicht weit;   Ja ihm sitzt die Philisterei  Gerade im Denken, dass er’s nicht sey! Da dieses sich so weit erstreckt  Und bringen kann gar schlimmen Ruhm,   So bleibt vor mir wohl ungeneckt  So Juden- wie Philisterthum!30 Die stets kolportierte Anekdote, nach Brentanos Vortrag seiner Naturgeschichte des Philisters (1799) im Jenaer Kreis der Schlegels (auf dem vermutlich Teile der späteren Phi­lis­ter­schrift beruhen31) hätte der anwesende Fichte in einer Gegenrede beweisen wol­len, Brentano selbst sei der Philister,32 findet hier einen Anhaltspunkt.33 Denn es liegt auf der Hand, dass Fichtes Angriff gegen Brentano gerichtet ist, dessen Philisterschrift eben die Koppelung von Juden- und Philistersatire unternahm, gegen die sich Fichte positioniert. Fichte wendet den Vorwurf des Philistertums gegen den Angrei­ fer selbst, indem er den Philister gerade in dem ausmacht, der sich selbst frei da­von glaubt.34 30 Johann Gottlieb Fichte, Am 18. Januar 1812, in: Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. VIII, Reprint Berlin: de Gruyter 1971, S. 470 f. Nun auch greifbar in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft (Anm. 28), S. 181 f. 31 Vgl. dazu ausführlich Ulrich Westerkamp, Beitrag zur Geschichte des literarischen Philistertypus mit besonderer Berücksichtigung von Brentanos Philisterabhandlung, Diss. o. O. 1941. 32 Sämtliche Forschungsbeiträge berufen sich auf Köpke. Hier heißt es, Brentano hätte im De­zem­ ber 1799 aus seiner »Naturgeschichte des Philisters« vorgetragen. Fichte hätte sich im Anschluß mit den Worten erhoben: »Nun werde ich euch aus dieser Geschichte beweisen, daß eben der Brentano hier der erste und ärgste unter allen Philistern ist« (Rudolf Köpke, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters von Rudolf Köpke, Leipzig: Brockhaus 1855, Bd. 1, S. 254). 33 Den Hinweis auf Fichtes Reaktion enthält Lohans Aufsatz zum Philister, ein lesenswerter, wenn auch aus vielen Gründen problematischer Text (vgl. etwa die Einschätzung der Romantiker als »ihrem Gemüt und Geblüt nach kerndeutsch. Fleisch und Blut von bestem Deutschtum von altersher« [Max Lohan, »Der Philister. Ein Beitrag zu seiner Naturgeschichte«, in: Deutsche Rundschau 192 (Juli 1922), S. 289 –301, hier S. 301]). Auch Westerkamp weist auf Fichtes Verse hin (vgl. Westerkamp, Beitrag zur Geschichte des literarischen Philistertypus [Anm. 31], S. 99 f.). Morgan zitiert Fichte nach Lohan (Estelle Morgan, »›Angebrentano‹ in Berlin«, in: German Life & Letters 28 [1974  /  75], S. 314 –326). 34 Auch Emil Ludwig Grimm bezeichnet Brentano als einen Philister. Hartwig Schultz berichtet von den näheren Umständen: Brentano schrieb einen Brief an Grimm, in dem er »mit pro­vo­zie­ren­

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Allerdings rennt Fichte mit seinem Vorwurf offene Türen ein. Denn Brentanos Phi­lis­terschrift weiß um die Möglichkeit, den Feind in den eigenen Reihen zu finden. Heißt es doch dort, »daß die Philister eine ungemeine Neugierde haben, daß sie gern in alle Res­sour­cen und geheimen Gesellschaften und Tischgesellschaften aufgenommen wären«.35 Sie weiß auch um den blinden Fleck des Angegriffenen: »Kein Philister kann glau­ben, daß er einer sey«.36 Dass dieser blinde Fleck auch ein eigener sein könnte, legen nicht nur einzelne Passagen (»wer sich schuldlos fühlt, der werfe den ersten Stein auf – sich«37), sondern vor allem die gesamte Anlage des Textes nahe, in dem es keinen sicheren Standpunkt gibt, von dem aus geurteilt werden könnte.38 Und schon in der wenige Jahre zuvor erschienenen Schrift »BOGS, der Uhrma­ cher«, die Brentano zusammen mit Joseph Görres verfasste, ist Fichtes Vorwurf vor­ weg­genommen, die Verhöhnung des Philisters kehre sich letztlich gegen den Angrei­ fer.39 Dieser 1807 entstandene und veröffentlichte Text kann werkgeschichtlich als das Schar­nier gelten zwischen dem Brentano, für den die melancholische Gans ein Phi­lis­ ter, und dem, für den sie ein Künstler ist. Denn, um das Kapitel mit der Gans abzuschließen: Brentanos Gänse sind immer melancholisch – ob Philister oder Künstler, sie entbehren ihren Widerpart. »BOGS« ist ein Versuch, die Gans gesund zu machen – natürlich nur im Scherz. der, aber zweifellos ernst gemeinter Genauigkeit Anweisung erteilte, wie Emil Grimm all den Kleinkram aus Brentanos Heidelberger Wohnung einpacken und nach Landshut nachschicken sollte. […] Grimm hat eine Notiz an den Rand des Briefes geschrieben, die seine Verärgerung verrät. Dort heißt es: ›Wer diesen Brief nicht lesen will, der hat es nicht nöthig, er ist von einem Philister, der den Phi­lis­ ter geschrieben hat.‹ Und von anderer, vermutlich Zimmers Hand, des Heidelberger Verlegers, steht  ebenfalls auf der Adressenseite: ›Ich hoffe nicht daß Sie eine von diesen 1000 Bestellungen aus­ge­ richtet haben‹« (Hartwig Schultz, Clemens Brentano und Joseph Görres. Anmerkungen zur Biographie einer Freund­schaft, Vortrag zum 200. Geburtstag Brentanos, Koblenz: Edition Plato 1980 [= Koblenzer Hefte für Literatur, 2], S. 14.). 35 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 28), S. 75. 36 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 28), S. 41. 37 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 28), S. 61. 38 »Es gibt nichts, was grundsätzlich nicht Gegenstand der Satire werden könnte. Niemand kann daher auch jemals sicher sein, nicht selbst unter das Philister-Verdikt zu fallen. Konsequenterweise kann auch der Autor selbst sich davon nicht ausschließen« (Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft [Anm. 27], S. 197 f.). 39 »BOGS« und die bekanntere Philisterschrift haben vieles gemeinsam. Die beiden Scherz­schriften von Jean Pauls und Schelmuffskys Gnaden nehmen auch aufeinander Bezug. So werden in der Phi­ lis­ter­schrift die Passage über das durchstochene Kartenblatt oder die über den Ast, den der da­rauf Sitzende abschlägt, aus »BOGS« übernommen. Beide Schriften behandeln ihr zentrales Thema, den Philister, strukturell als eine Seite eines dialektischen Wechselverhältnisses, das ein unsichtbares Drittes mit sich führt. In der Philisterschrift sind es Philister und Jude, die scherzhaft als zwei Seiten des einen Übels erscheinen (vgl. dazu Oesterle, »Juden, Philister und romantische Intellektuelle« [Anm. 25]). Der unsichtbare Dritte ist der scherzende Tischgesellschafter selbst, dessen Standpunkt allerdings stets gefährdet ist.

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»BOGS« Zwischen März und Mai 1807 erscheinen in der Badischen Wochenschrift drei An­zei­gen. Die erste kündigt die Besprechung eines in Heidelberg stattgefundenen Hornisten­ konzerts für die nächste Ausgabe an. Die zweite teilt mit, dass der Aufsatz als Sepa­rat­ druck erscheinen würde, da er durch verschiedene Nachsendungen zu sehr ange­wach­ sen sei. Die dritte informiert, dass die ›Konzertanzeige‹ schließlich erschienen und für 24 Kreuzer zu haben sei. Die drei Brentano zuzuschreibenden Vorankündigungen von der Scherzschrift »BOGS der Uhrmacher«, sind selbst schon poetische Fiktion und als integraler Bestandteil der Schrift zu lesen.40 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass es nie geplant war, ernsthaft ein Hornistenkonzert zu rezensieren, obwohl man dieser po­e­ tischen Fiktion vereinzelt bis heute auf den Leim geht. Als die Schrift im Mai 1807 erscheint, kann der aufmerksame Leser der Badischen Wochenschrift einen Teil des buchstäblich ausufernden Titels entschlüsseln. Hier ist er: Entweder / wunderbare Geschichte / von / BOGS / dem Uhrmacher, / wie er zwar das menschliche Leben längst verlassen,  / nun aber doch, nach   vie­len mu­sikalischen Leiden zu / Wasser und zu Lande, in die bürgerliche Schützen- / gesellschaft aufgenommen zu werden / Hoffnung hat, / oder / die über die Ufer der Badischen Wochenschrift / als Beilage ausgetretene / KONZERT-ANZEIGE / Nebst des Herrn BOGS wohlgetroffenem Bildnisse / und einem medizinischen Gutachten über dessen Gehirnzustand. Ausufernd ist der Text in der Tat, denn er sprengt nicht nur den Rahmen einer Wo­ chen­schrift, sondern überhaupt jede wohlgeratene Form. Er lebt von assoziationsreichen Wortspielen und von wörtlich genommenen Metaphern, deren Eigen­dy­na­mik den Bezug von Bezeichnetem und Bezeichnendem zweifelhaft macht. Systematisch wird gegen jede Form von Erzählbarkeit gearbeitet. Trotzdem soll die phantastische Gro­teske auf einen minimalen Plot gebracht werden, um bei den sich anschließenden Ein­zel­beobachtungen nicht vollständig den Überblick zu verlieren. Der Uhrmacher BOGS hat nicht nur qua Profession mit Uhren zu tun;41 auch das Leben ist ihm »schon in der Gestalt einer wohleingerichteten Uhr überkommen«.42 Er ist etwas beschränkt und hat sich umso wohnlicher in der bürgerlichen Ordnung 40 Vgl. Heinz Rölleke, »Neuentdeckte Beiträge Clemens Brentanos zur ›Badischen Wochenschrift‹ in den Jahren 1806 und 1807. Rezeption deutscher Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts in der Romantik«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. N. F. 14 (1973), S. 241–346, hier S. 254 –256. 41 Zum Uhrmotiv vgl. Christoph Prignitz, Bürgerliches Leben im Zeichen der Uhr. Bemerkungen zu einer literarischen Kontroverse um 1800 in Deutschland, Frankfurt am Main u.  a.: Lang 2005, S. 123 –159. 42 Clemens Brentano: »BOGS der Uhrmacher«, in: ders., Werke, hrsg. von Friedhelm Kemp, Bd. 2, München: Hanser 1973, S. 877.

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eingerichtet. Nur eine Schwäche für die Musik kann er sich beim besten Willen nicht austreiben.43 Da nun BOGS der bürgerlichen Schützengesellschaft beitreten will, muss er in einem Konzertbesuch Standhaftigkeit gegenüber der Musik und damit seine Zu­gehörigkeit zu den Philistern beweisen. Entgegen der Absicht verliert er die Kon­ trol­le über sich und erweist sich damit als gespaltenes Subjekt, dessen zweite Hälfte ein ve­ri­tabler ›Mensch‹ ist. BOGS muss sich daraufhin einer medizinischen Unter­su­ chung un­ter­ziehen, bei der eben diese Gespaltenheit ärztlich attestiert wird. In Folge der martialischen Untersuchungsmethoden der Ärzte werden die bei­den Tei­le ausein­ ander gerissen. Der diabolische entflieht ins Weite, der zahme wird in die Schüt­zen­ gesellschaft aufgenommen.

Theorie des Blödelns Was das über den Text sagt, ist noch nicht viel – wie es gesagt ist, nämlich im Scherz, verrät schon mehr. Denn Komik ist die primäre Sprechhaltung im »BOGS« – und zu­ gleich sein hermeneutischer Schlüssel. Die Form dieser Komik schwankt dabei zwi­ schen Witz und Blödelei. Folgt man Friedmar Apels »Theorie des Blödelns«,44 entfernt sich der Witz nur kurzzeitig vom rationalen Zusammenhang der Dinge, während das Blödeln gerade versucht, den Widerspruch zur Rationalität offen zu halten. Damit zeigt es Merkmale sozialer Verweigerung. In der Tat provoziert auch der »BOGS« Ermüdung beim Leser, weil sein zum Prinzip gemachter Unernst alles einschließt und dem Leser so jeden kurzfristig sicher geglaubten Standpunkt der Beurteilung entzieht. Die permanente Negation strengt an – aber sie hat Methode, und die Leseerfahrung ist deshalb durchaus in Kauf und zugleich ernst zu nehmen, will man der Frage nach dem Philister nachgehen. Der Zusammenhang zwischen komischer Vortragsform des Textes und der Be­stim­ mung des antipodischen Verhältnisses zwischen Philister und Künstler ist elementar. So wie nämlich nach Kants Definition das Lachen aus der plötzlichen Verwandlung einer ge­spannten Erwartung in Nichts resultiert,45 entsteht auch im Text Komik, in­dem sich die wechselseitig aufeinander verwiesenen Figuren Philister und Künstler ›an­nul­ lieren‹. Die Komik funktioniert im Text nicht – wie oft behauptet – nur auf Kosten des Philisters, sondern auch sein Widerpart ist ihr ausgeliefert. Dass die hier stattfindende 43 Parallelen zwischen einigen Versen aus Goethes Faust und den Auslassungen zur Kirchen­mu­ sik im »BOGS« beschreibt Gustaf E. Karsten, »Fauststudien«, in: Philologische Studien. Festgabe für Eduard Sievers zum 1. Oktober 1896, Halle an der Saale: Niemeyer 1896, S. 294 –313; zum »BOGS« S. 306 –308. 44 Vgl. Friedmar Apel, »Die Phantasie im Leerlauf. Theorie des Blödelns«, in: Sprache im technischen Zeitalter (1977), S. 359 –374. 45 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (= Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. X), S. 273.

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Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts nach Kants Formulierung »für den Verstand gewiß nicht erfreulich ist«,46 versteht sich von selbst. Der Text ist deshalb nicht primär als Satire zu lesen, wie das noch ganz über­wie­ gend getan wird,47 auch wenn er natürlich Elemente der Satire enthält und als solche rezipiert werden konnte.48 Denn, wie Apel unterscheidet, dort, wo sich die Ge­stal­ tungsmittel gegenseitig aufheben, sind sie nicht mehr wie in der Satire auf den Er­weis des Besserwissens aus, sondern machen den Gegenstand ebenso lächerlich wie sich selbst.49 Die Komik forciert also die Dialektik von Künstler und Philister. Nicht im Sinne eines Dritten, das sie hervorbrächte, sondern im Sinne einer Negation beider, was im Folgenden zu zeigen ist.

Abnorme Polarität BOGS muss sich, wie schon erwähnt, einer Untersuchung seines Gesundheitszustands,

insbesondere seines Gehirns unterziehen. Das ärztliche Gutachten berichtet, die Fachterminologie des Genres persiflierend, von den verschiedenen Stadien der Unter­su­ chung, der »Verification der […] Contusion«, der Aufhängung des Uhrmachers an ei­nen Faden »schwebend im Hypomochlion«,50 der »Ausmittlung des Indifferenzpunkts in dem Subjekt«,51 einer Untersuchung des Schädels, und schließlich von der In­spektion des Gehirns.

46 Kant, Kritik der Urteilskraft (Anm. 45), S. 273. 47 Vgl. z. B. Armin Schlechter: »Uhrmacher und Zifferfeinde. Nachwort«, in: Clemens Brentano und Joseph Görres, Entweder wunderbare Geschichte von Bogs, dem Uhrmacher. Nachdruck der Erstausgabe von 1807, Heidelberg: Winter 2006, S. 59 – 97, hier S. 59 f. Elisabeth Stopp plädiert als eine der wenigen dafür, den Text nicht als Satire zu lesen (vgl. Elisabeth Stopp, »Die Kunstform der Tollheit. Zu Clemens Brentanos und Joseph Görres’ ›BOGS der Uhrmacher‹«, in: Detlev Lüders [Hrsg.], Clemens Brentano. Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochstift 1978, Tübingen: Niemeyer 1980, S. 359 –376, hier S. 367). 48 Für die Zeitgenossen dechiffrierbare Elemente der Satire waren z. B. die Anspielungen auf den ›allgemeinen deutschen Bibliothekar‹ Nicolai oder auf Franz Joseph Gall, der sich übrigens im Ja­ nuar 1807 in Heidelberg aufhielt. Auch Johann Heinrich Voß bezog den Text auf sich: »Der Uhr­ ma­cher Bogs ist ein von Brentano und Görres (Bo, Brentano, Gs, Görres) zusammengesetzter trefflicher Wahnsinn. Voß glaubte, es sei ihm gemünzt, da er zwischen dem Bildniß des Uhremachers [!] vor der Schrift und dem seinen einige Aehnlichkeit wollte gefunden haben. Weder Görres noch Brentano sollen aber dazumal an Voß gedacht haben. Es erschien schon anno 1807 und es soll der erste Zunder zur bekannten Fehde gewesen sein« (Justinus Kerner, Brief an Ludwig Uhland, in: Karl Mayer, Ludwig Uhland, seine Freunde und Zeitgenossen. Erinnerungen von Karl Mayer, Bd. 1, Stuttgart: Krabbe 1867, S. 151). 49 Vgl. Apel, »Die Phantasie im Leerlauf« (Anm. 44), S. 366. 50 Beide Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 896. 51 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 897.

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All diese Untersuchungen fördern die erstaunlichsten Ergebnisse zutage. Die Ärzte, unter ihnen übrigens der aus Jean Pauls Titan entlaufene Doktor Sphex,52 ent­decken nämlich eine »merkwürdige Anomalie«, eine ›abnorme Polarität‹53 eine »totale Ver­ kehrt­heit« am Inspizienten, richtet er sich doch bei entsprechender Aufhängung nicht mit dem Kopf nach Norden und den Füßen nach Süden, sondern genau andersherum aus. Mehr noch: Es erweist sich, dass der Uhrmacher »ein anderes zweites, von dem ersten ganz abweichendes Angesicht«54 hat. In Verballhornung der Gall’schen Schädellehre55 wird der Kopf einer entsprechenden Untersuchung unterzogen: »Immer wurde eine Erhöhung am einen durch eine Vertiefung am andern wieder vernichtet; Hochsinn, Tiefsinn, Hoffart, Demut, Bedächtigkeit, Flatterhaftigkeit, Mordsinn, Taubensinn, Diebssinn und Diebfängersinn annullierten sich immer wechselseitig durch ein­ ander, so daß niemand über die eigentliche Natur und Beschaffenheit des Subjects klug werden konnte«.56 In BOGS ’ polarer Leiblichkeit materialisiert sich ein komplementäres Prinzip. Die damit verbundene Vorstellung der Steigerung durch wechselseitige Ergänzung ist indes ersetzt durch die der wechselseitigen Aufhebung, ›annullieren‹ sich doch die verschiedenen Eigenschaften von BOGS. Bei dessen ›abnormer Polarität‹ handelt es sich also nicht um die Überführung in eine höhere Einheit, sondern um die in die Nullität. Die BOGS kennzeichnende Dualität von Philister und Künstler verweist also gerade nicht auf Totalität,57 sondern auf deren Negation durch Persiflage. Beide, Philister wie Künstler, sind dem Gelächter preisgegeben. Das Prinzip des sich wechselseitig annullierenden Gegensatzes materialisiert sich im Körper des Protagonisten. Es liegt zugleich dem gesamten Text zugrunde. Am Spiel

52 Görres hatte den Roman in der Entstehungszeit des »BOGS« Brentano zur Lektüre empfohlen. Görres schreibt über Brentano: »Daß er den Titan liest, dazu haben wir ihn gebracht und amusiren uns nun höchlich, wie er abwechselnd in großer Erbosung und wieder in Erstaunen und Be­wun­ derung hingerissen ist« (Joseph von Görres, Brief an seine Schwiegermutter vom 5. März 1807, in: ders., Gesammelte Briefe, hrsg. von Marie Görres und Franz Binder, Bd. 1, München: Literarischartistische Anstalt 1858, S. 485). Görres kündigt Jean Paul im Jahr nach der Veröffentlichung des »BOGS« an, ihm ein Exemplar zu schicken (vgl. Joseph von Görres, Brief vom 1. Februar 1808, in: ders., Ergänzungsband 1. Leben und Werk im Urteil seiner Zeit [1776 –1876], hrsg. von Heribert Raab, Paderborn u. a.: Schöningh 1985 [= Gesammelte Schriften, hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft], S. 35). 53 Beide Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 896. 54 Beide Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 897. 55 Vgl. Sigrid Oehler-Klein, Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahr­ hun­derts, Stuttgart / New York: Fischer 1990, S. 257–271. Zu Gall aus literaturwissenschaftlicher Per­ spek­tive vgl. aber vor allem Stephan Pabst, Fiktionen des ›inneren Menschen‹. Die literarische Um­wer­ tung der Physiognomik bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, Heidelberg: Winter 2007. 56 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 898. 57 Von einer »integrated totality« in Bezug auf »BOGS« spricht Fetzer (vgl. John F. Fetzer, Romantic Orpheus. Profiles of Clemens Brentano, Berkeley u. a.: University of California Press 1975, hier S. 291).

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mit Autorschaft und Sprecherinstanzen, an semantischen Strukturen und am Textaufbau lässt sich das zeigen.

Anonyme Autoren, Gott, der Uhrmacher und andere Schöpfer Im doppelten Antlitz von BOGS verbergen sich die Autoren Joseph Görres und Cle­ mens Brentano: Eines der Gesichter ist mit schwarzen Augen, spitzer Nase und spit­ zem Kinn ausgestattet und von cholerischer Anlage – das andere, sanguinische, hat braune Augen, eine stumpfe Nase und ein rundes Kinn. Nicht nur in den ähn­li­chen Physiognomien und Temperamenten, auch schon im Namen ihrer Figur verbergen sich die beiden Autoren BrentanO und GörreS, wie Görres in einem Brief an Marie Christine Clementine Lassaulx aufdeckt.58 Indem die Autoren den je ersten und letz­ ten Buchstaben ihres Namens zusammenfügen, setzen sie sich und ihre literari­sche Figur auf mehrfache Weise mit Gott ineins. So wie Gott Anfang und Ende, Alpha und Omega ist, alle Gegensätze in sich vereint, ist auch die Figur BOGS Philister und ›Mensch‹ zugleich. Auch BOGS ’ Beruf verweist ironisch auf das Handwerk Gottes. Die Assoziation des Uhrmachernamens mit dem russischen Wort für Gott, bog,59 stellt sich nicht zuletzt wegen der Versalienschreibung ein. Möglicherweise wird auch auf Gavriil R. Deržavins seinerzeit berühmte Ode »Bog« angespielt.60 Nicht nur im Januskopf und im Namen des Uhrmachers, auch in Zitaten ei­ge­ ner Texte und Textbearbeitungen geistern die Autoren durch ihre Scherzschrift. Die Be­züge reichen von »Nächtliche Jagd«61 oder »Drei Wochen nach Ostern«62 aus Des Knaben Wunderhorn bis zum »May-Lied des Uhrmachers Bogs« aus Tröst Einsamkeit (Mai-Heft, 10. Stück).63 Gerade die intertextuelle Sättigung des Textes macht die Zu58 »Unser Uhrmacher ist abgedruckt […]. Der Name ist aus den Anfangs- und Endbuchstaben von Brentanos und meinem Namen zusammengesetzt, und das Ganze ist gehörig toll, so daß verehrungswürdige Leute bei Ansicht des ersten Bogens geglaubt haben, ein Verrückter habe das Ding geschrieben« (Joseph von Görres, Brief an seine Schwiegermutter vom 15. April 1807, in: ders., Gesammelte Briefe [Anm. 52], S. 489). 59 Vgl. Stopp, »Die Kunstform der Tollheit« (Anm. 47), S. 371 f. 60 Nach ihrem ersten Erscheinen 1784 gelangten die Verse zu großer Berühmtheit; allein achtmal wurden sie ins Deutsche übertragen. Die symmetrisch aufgebaute Ode stellt Gott und Mensch in ein antithetisches Verhältnis; die ersten fünf Strophen preisen Gott, in den letzten fünf Strophen wird der Mensch »als selbständiger Gestalter der Welt einerseits und unselbständiges Geschöpf Gottes andererseits« dargestellt. Ich zitiere weiter aus Kindlers Literaturlexikon: »Die sechste Strophe fungiert als Symmetrieachse, auf der von Gott zum Menschen, vom Du zum Ich übergeleitet und beider Verhältnis zueinander antithetisch umrissen wird« (Wilfried Schäfer, »Bog«, in: Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 2, Weinheim: Zweiburgen 1982, S. 1570). 61 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 893. 62 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 887. 63 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 892.

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schreibung von Autorschaft indes problematisch. Von der philiströsen Schützen­gesell­ schaft aus Jean Pauls Siebenkäs bis zu den einunddreißig Pumpelmäusen aus Christian Reuters Schelmuffsky sind zahlreiche literarische Figuren in den Text eingewandert; von Goethes »Schäfers Klagelied«64 bis zu Wackenroders Tonkünstler Joseph Berglinger65 wer­den zudem ganze Textpassagen mit ihrer jeweiligen Stillage variiert. Den Text charakterisiert der stete parodistische Bruch im Rhythmus und in der Dik­tion, sodass ein individueller Stil systematisch ausgehebelt wird. Der häufige Wech­ sel des Sprachstils geht zunächst mit dem eben so häufigen der Textgattungen ein­her, die der Text persifliert: öffentliches Plakat, Bekenntnis, Reskript der Schützenge­sell­ schaft, Bericht, bürokratischer Vermerk, Rede, Ankündigung, ärztliches Gutachten, Dekret. Viele dieser Gattungen sind stark konventionsgebunden und entbehren da­ mit ohnehin eines individuellen Sprechers, wie die Plakatannonce oder das Gut­ach­ ten.66 Aber auch die von BOGS stammenden Bekenntnisse und Berichte zeichnen sich durch die Unfassbarkeit der Sprecherinstanz aus. Der fortwährende Stand­punkt­ wechsel des Erzählers spiegelt den Antagonismus von philiströsem und künstle­ri­schem Menschen.67 Indem sich die Rede aber unmittelbar wieder zurücknimmt, neu­tra­li­siert sie sich selbst. Die Heterogenität der Rede führt letztlich zur Demontage der Erzählerinstanz. Den verschiedenen Strategien zur Verflüchtigung von Autorschaft und Erzählerstimme entspricht ein weiteres Detail: Der Text erscheint anonym. Alle Versuche, die antagonistischen Prinzipien in eine höhere Einheit zu überführen, scheitern. Sie enden, so wie der fehlende Autorname, im Nichts.

64 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 886. 65 Vgl. dazu John F. Fetzer, »›Auf Flügeln des Gesanges‹. Die musikalische Odyssee von Berglinger, BOGS und Kreisler als romantische Variation der literarischen Reise-Fiktion«, in: Steven Paul Scher (Hrsg.), Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin: Schmidt 1984, S. 258 –277. 66 Lubkoll sieht hier die Ausgrenzung von ästhetischer Phantasie durch die gesellschaftlichen Diskursinstanzen vorgestellt: Bürokratie, Ökonomie, Medizin, Jurisprudenz und, wie Lubkoll zeigt, auch die Literatur selbst sind daran beteiligt. In »BOGS« geht es demnach um die »Kanonisierung und Kana­li­sierung der bürgerlichen Idee des Musikalischen, wie sie durch Institutionen vo­ran­ge­trie­ ben wird« (Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg: Rombach 1995, S. 181–197, hier S. 183). Die ebenfalls diskursanalytisch inspirierte Arbeit von Stefan Metzger sieht »Eingliederungsdiskurse« am Werk (Stefan Metzger, »Lebensklangwelten. Musik als unbegriffliche Geschichtsimagination im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des Uhrmachers BOGS«, in: Almut Todorow, Ulrike Landfester und Christian Sinn [Hrsg.], Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne, Tübingen: Narr 2004, S. 225 –247, hier S. 240). 67 Vgl. auch Manfred Schmeling, »›Wir wollen keine Philister sein.‹ Perspektivenvielfalt bei Hoffmann und Tieck«, in: Arnim Paul Frank und Ulrich Mölk (Hrsg.), Frühe Formen mehrperspektivischen Erzählens von der Edda bis Flaubert. Ein Problemaufriß, Berlin: Schmidt 1991, S. 97–113.

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Der Simson im Bürger Auch die Semantik des Textes birgt das Prinzip des sich wechselseitig annullierenden Gegensatzes. Wie durch extreme Kontraste und abrupte Wechsel im komischen Ef­ fekt Sinn negiert wird, lässt sich beispielsweise anhand der Musikvisionen des außer Kontrolle geratenen Uhrmachers nachvollziehen. Der »Strudel« der Musik versetzt den Hörenden in seiner Phantasie auf ein Schiff. Alle Elemente dringen auf ihn ein, er sieht sich im Wasser versinken; »alle Leute waren Fische, ich selbst eine Art Hering«. Erst sitzt er mit Jonas im Walfischbauch, dann im Heidelberger Fass. Nahtlos wechseln die Wasser- in Feuervisionen: »im Hintergrund ging Ninive unter, Simson sprang rasselnd aus den Pauken und zuckte nieder, aus den Trompeten stürzten Füchse, Feuerbrände an den Schweifen, hervor, in die Ähren, alles brannte nieder.«68 Diese gewalttätigen Bilder wechseln zunächst ins Sentimentale, um danach unvermittelt zur Simsonszene zurückzukehren: Da saß ein Hirtenknabe, Klarin genannt, in der glimmenden Asche, und klagte rührend: »Wehe, wehe, ich verschmachte!« und hatte eine Wünschelrute, die schlug an, die Flöten gossen Ströme süßen Mandelöls, und auf ih­ nen schwamm eine liebliche, schlanke Sirene heran, sie näherte sich dem Hir­ten, und reichte ihm einen Trunk aus dem Becher von Thule, und wiegte und drehte das wunderschöne Haupt, schaute dann still und groß vor sich hin, und blickte den Hirtenknaben an, und sang zu ihm, und sprach zu ihm, da wuchs das Herz ihm sehnsuchtsvoll, wie bei der Liebsten Gruß, die Woge rauscht, die Woge schwoll, netzt ihm den nackten Fuß, sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm, da wars um ihn geschehn, halb zog sie ihn, halb sank er hin, und ward nicht mehr gesehn; und es stürzten tausend Flammen aus den Violinen, und tausend Salamander badeten sich in ihnen, und aus den Bratschen und Violoncellen stiegen tausend Philister, aber Simson sprang wieder aus den Pauken und erschlug sie mit dem Kinnbacken, und wie sie sanken, stand Abendrot am Himmel und erlosch, und Nordschein goß sich aus dem Basse und sang im Grabeston, und im Nordschein zog alles leise hinunter.69 In einem einzigen (!) rauschhaften Satz vermengen sich zwei Realitätsebenen: die äuße­re Realität des Konzerts, repräsentiert durch das Konzertpublikum und die In­stru­mente –  Flöten, Violine, Violoncello, Bratsche, Pauke, Bass  –, und die Phantasiebilder des Uhr­machers. In assoziativer Traumlogik werden einzelne Bilder miteinander verknüpft: Sirenen schwimmen in Mandelöl, das aus Flöten fließt, und auf eine idyllische 68 Alle Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 884. 69 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 884 f.

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Szenerie mit Hirtenknaben folgt, nur durch ein Semikolon getrennt, die Ermordung der Philister durch Simson. Nur in dieser Bibelanspielung ist übrigens im gesamten »BOGS« vom ›Philister‹ die Rede – aber wie auch anders, da alle Sprechinstanzen des Textes selbst philiströs sind, und sich ein Philister nie selbst als solcher erkennt, wie es in Brentanos Philisterschrift heißt. Assoziativ werden mit den Elementen Wasser und Feuer zusammenhängende, in­ ter­textuell aufgeladene Bilder aneinandergereiht.70 Der Becher aus Goethes »König in Thule« und eine Variation der vierten Strophe von Goethes »Fischer« verbinden sich in den Motiven von Sehnsucht, Rausch, Wasser und Tod. Es folgen vom Element Feuer be­stimmte Bilder aus dem Buch der Richter.71 Mit dem Wechsel der literarischen Zi­ tate ändert sich auch Stil und Rhythmus mehrmals innerhalb des Satzes. Dieser fortwährende, teilweise mit dem Wechsel der literarischen Referenz verknüpfte Modus­ wechsel zwischen Sentimentalität und Pathos führt das Ganze ins Absurde.72 Die ›abnorme Polarisierung‹ erweist sich auch auf der nächsthöheren Organisa­ tionsebene des Textes als Prinzip der Strukturierung, nämlich im abrupten Wechsel von Traum- und Realitätsebene. Ohne durch einen Absatz markiert zu sein, folgt den rausch­haften Visionen die Ernüchterung: Erst wird »der Kopf der Sphinx« wieder zum »Knopf der Baßgeige«, dann kommt BOGS zu sich: »ich selbst kam zu Verstand, meine um die Uhren geklammerten Fäuste taten sich auf, und zählten bange, wieviel Stück, und alle waren vorhanden«.73 Diese Verwandlung des hingerissenen ›Menschen‹ zurück in den habgierigen Händler, der noch in den Pausen versucht, seine Uhren zu verkaufen, vollzieht sich in jeder Konzertpause, wobei die Exaltierung von Pause zu Pause ein wenig länger anhält. Am Ende ist BOGS gar dermaßen gerührt, dass er eine Uhr herausreißt, um sie den Künstlern zum Geschenk zu machen, aber, glück70 Lubkoll interessiert hier die Eingebundenheit der Musik in fertige Diskurse: Es werde gezeigt, »daß die musikalischen Phantasien von vornherein sprachlich vorgeformt sind – sie sind ge­rade­zu auf banale Weise geprägt von literarischen Topoi und kulturell überlieferten (›alltags­mythischen‹) Klischees. […] Das vermeintlich subversive Potential des Musikalischen erweist sich als ein ›Phantom mit System‹: Es dient der Einbindung des Subjekts in einen (realen und verinnerlichten) Mechanismus von ›Überwachen und Strafen‹« (Lubkoll, Mythos Musik [Anm. 66], S. 183). 71 »Und Simson ging hin, und fing dreihundert Füchse, und nahm Brände, und kehrte je einen Schwanz zum andern, und tat einen Brand je zwischen zween Schwänze. Und zündete die Brände an mit Feuer, und ließ sie unter das Korn der Philister, und zündete also an die Garben samt dem stehenden Korn und Weinberge und Ölbäume« (Richter 15,4 f.). »Und er fand einen frischen Eselskinnbacken; da reckte er seine Hand aus, und nahm ihn, und schlug damit tausend Mann« (Richter 15,15). 72 Damit wird Lubkolls Beobachtung nicht ausgeschlossen, dass sich die musikalischen Visionen als sexuelle Phantasien entschlüsseln lassen, deren Grundthema die »Phantasie vom Verschlungenwerden des Mannes durch die Macht des Weiblichen« ist. Dieses Thema erfährt im Laufe der Phantasien eine Umkehrung: »die buchstäbliche Liquidierung der singenden Frau, die nun ihrerseits in den Fluten untergeht« (Lubkoll, Mythos Musik [Anm. 66], beide Zitate: S. 192). 73 Alle Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 885.

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licherweise, wie er später sagt, kommt er noch rechtzeitig zu Verstand und behält die Uhr doch noch für sich. Die unvermutete Rücknahme der rauschhaften Traum­sequen­ zen in die bürgerliche Borniertheit, der ernüchternde Wechsel vom Rausch der Musik zur Prosa der Uhr wiederholt sich im weiteren Verlauf des Textes, wie gleich gezeigt werden soll.

Der Philister im Künstler Kernstück des Textes ist neben dem Konzertbericht das ärztliche Gutachten. Beide Textteile tragen das Prinzip des Widerspruchs in sich, nicht nur der zwischen ge­nia­ lem Phan­ta­sie­rausch und philiströsem Kleingeist schwankende Konzertbericht, son­ dern auch das Gutachten. Sind es doch die Mediziner als Vertreter der bürgerlichen Ord­nung, denen die Phantasiewesen ihres Patienten leibhaftig erscheinen, und deren einer sich im Dunkel des Hirns verliert. Den Ärzten gelingt es nämlich mittels der »Bozzinischen Lichtleiter«,74 über die Nasenöffnung »das ganze innere Höhlenwerk im Kopfe völlig und hell und klar zu beleuchten«.75 Die Visitation der vierten Hirnhöhle76 allerdings scheitert an mangelnder Beleuchtung, bis Doktor Sphex sich entschließt, selbst in die Höhle hinabzusteigen. Durch verschiedene weitere Operationen der Mediziner kommt es indes zu der BOGS zerreißenden Explosion, die den diabolischen Teil samt dem bejammerungswürdigen Doktor abtrennt und ihn ins Unbekannte entfliehen lässt. Der gesamte medizinische Bericht liest sich als ›Kontrapunkt‹77 zum Konzert­be­ richt – komplementär sind die beiden Textteile also auch in Bezug aufeinander. Bei­de phantastischen Reisen, die des Musikrauschs und die medizinische Exploration des Ge­hirns, ironisieren die Vorstellung von ›Innerlichkeit‹ auf je eigene Weise. Im Musik­ erleb­nis ist BOGS nicht bei Verstand – und damit nach der emotionalen Musikästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts umso mehr bei sich. Die gesteigerte Innerlichkeit des Musikerlebnisses ist indes sowohl innerhalb der rauschhaften Passagen ironisiert – etwa, wenn sich BOGS als Hering sieht –, als auch im abrupten Wechsel der Pausen74 Vgl. dazu: Schultz, Clemens Brentano und Joseph Görres (Anm. 34), S. 13. 75 Beide Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 899. 76 Zu den gehirnphysiologischen Hintergründen vgl. Maximilian Bergengruen, »Schelmuffsky trifft Soemmerring. Brentanos und Görres’ ›Bogs‹ als teuflische Parodie«, in: Heidelberger Jahrbücher 51.2007 (2008), S. 369 –387. Auf weitere Arbeiten, in denen die medizinischen Kontexte von »BOGS« interessieren, wird dort verwiesen, vgl. S. 379. 77 Isler liest die Gehirn-Inspektion als »contrepoint« zur musikalischen Reise (Jean Isler, »L’homme au double visage. Ironie et jeu romantiques dans le ›Bogs‹ de Brentano et de Görres«, in: Jean-Marie Paul [Hrsg.], L’homme et l’autre. De Suzo a Peter Handke. Actes du colloque organisé par le Centre de Recherches Germaniques et Scandinaves de l’Univ. de Nancy II., Nancy: Centre de Recherches Germaniques et Scandinaves de l’Univ. de Nancy 1990, S. 143 –152, hier S. 144).

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ernüchterung. Die Gehirnexploration nimmt die Erforschung von ›Innerlichkeit‹ sehr wörtlich als Reise in den Körper.78 Die Suche nach einem greifbaren Kern bleibt aller­ dings erfolglos: Was vom Gehirn sichtbar wird, gleicht einer wirren Ansammlung ein­ zel­ner Gegenstände, deren Bezug aufeinander willkürlich ist. Der untersuchende Arzt verliert sich auf Nimmerwiedersehen im Dunkel des Innern. Übrigens treffen die Ärzte auf alte Bekannte: auf Klarin und Klarinette, auf die Sirene, süßes Mandelöl und Simson mit den Füchsen. Die Ärzte bemerken nämlich einen Hirtenknaben, der auf dem einen Sehhügel stand und bitterlich gran­ ste; nach Befragen um die Ursache des Gegranse gab er schluchzend zur Antwort, er heiße Klarin, und das garstige Mensch Klarinette habe ihm seine Butterbemme gestohlen, da drüben auf dem andern Hügel stehe sie und ver­ zehre das Gestohlene, aber: »Stehler, Dieb, gehangen Dieb, kömmst du mit­ ten in die Höll«, heulte er erbittert der kleinen Atzel zu. […] Ein Hirsch hatte sich mit dem Geweihe in dem Netze verfangen, und bel­ len­de, hinkende Liederfragmente zappelten wie Hunde hintendrein; weiter vorn hatte sich ein Klumpen Zinnoberschlangen hineinverfitzt, und ganz hin­ten hing eine verreckte Sirene, die vor Kummer über den Verlust ih­rer Frei­heit und den Mangel von süß Mandelöl umgekommen war; Simson mit seinen drei hundert Füchsen hielt am Eingang in die dritte Höhle, und die Füchse beschäftigten sich aus Langeweile, die brillantenen Eier, die die weißen Hasen bei der Zirbeldrüse legten, auszusaufen.79 Der Hirtenknabe Klarin ist zum infantilen Rotzbuben geworden, der das Mäd­chen Kla­ri­nette beschuldigt, ihm sein Butterbrot gestohlen zu haben. Alle Bilder des Musikrausches tauchen verfremdet und neu kombiniert wieder auf – auch die Zinnober­ schlan­gen,80 die brillanten Eier, die weißen Hasen81 und der Hirsch82 waren Teil der musikalischen Phantasien. In burlesker Verzerrung finden die Mediziner die Phantasie­ gestalten ihres Patienten während ihrer Gehirnexpedition wieder. Burlesk wirkt die Sze­nerie nicht nur, weil die Sprache derber geworden ist (›hineinverfitzt‹ et cetera) und mundartliche Anteile hinzukommen (›Atzel‹: Elster; ›granen‹: weinen), sondern auch, weil der schon im Musikrausch rein assoziative Zusammenhang vereinzelter Dinge durch die neue Zusammenstellung in seiner absurden Wirkung noch einmal gesteigert 78 Eine Szene, die bis in die Wortwahl hinein schon im »Godwi« auftaucht. Die Parallelen der ›Innenschau‹ als wörtlich genommener Blick ins Innere des Körpers reichen von der Bildlichkeit (undurchdringliches Dunkel; Personifikation von Empfindungen bzw. Tönen) bis in die Wortwahl (Ballsaal). Auch im »Godwi« geht es um eine Identitätsaufspaltung. 79 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 901. 80 Vgl. Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 884. 81 Vgl. Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 889. 82 Vgl. Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 893.

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wird. Die damit einhergehende Desillusionierung ist in Bilder der Zerstörung gefasst: Die Melodien werden von den Ärzten getötet, die Liebe zwischen Klarin und Kla­ri­ nette ist vergessen, die Hirsche, Liederfragmente und Zinnoberschlangen haben sich verfangen, die Sirene ist ›verreckt‹ – und Simson mit seinen Füchsen hat nichts zu tun. Die Vision der anarchisch-befreienden Gewalttätigkeit am Ende der Symphonie ist im Parallelbild ins Gegenteil verkehrt: Der Simson im Inneren des Bürgers hat sich zur Ruhe gesetzt. Die ganze Blödelei ist nicht zu verstehen, weil sie sich per se im Widerspruch zur Rationalität befindet. So wie die Blödelei zu nichts führt, hebt sich auch das wechselseitige Konstrukt von Philister und ›Mensch‹ gegenseitig auf. Die negative Dialektik deckt auf, dass beide Seiten inhaltsleer sind. Die Komik, die sich gegen sich selbst kehrt, verrät, dass, wenn im Bürger ein Simson lauert, wohl auch im Künstler ein Phi­ li­ster steckt. Womit der oft wiederholten These, das differenziertere Philisterbild des »Werther« sei durch die Romantiker vereinseitigt worden,83 widersprochen wäre.

Zum Schluss zu Görres »BOGS« wurde hier im Werkzusammenhang Brentanos gelesen, obwohl es sich um eine

Gemeinschaftsarbeit mit Görres handelt.84 Das ist legitim, weil Brentanos Handschrift motivisch wie stilistisch deutlich erkennbar ist. Der Anteil der Autoren lässt sich zwar nicht im Detail rekonstruieren, da Vorarbeiten oder andere Zeugnisse kaum erhalten sind. Ein Entwurf aus Görres Feder gibt allerdings Hinweise, welche Veränderung der Text während der Bearbeitung erfuhr. Heißt es im Entwurf, »eine Symphonie von Haydn«85 werde gespielt, ist es in der endgültigen Fassung eine »Haidnische Symphonie«.86 Dieses Wortspiel ist ein charakteristisches Merkmal des brentanoschen Stils. Auch das Bild der den Pauken entsteigenden biblischen Erzfeinde, wie es die Endfassung enthält, hat im Entwurf einen weit harmloseren Vorläufer. Hier heißt es: »aus den Pauken aber stiegen bey jedem Schlage zwey geharnischte Ritter auf, und versan­

83 Vgl. etwa Ulla Hofstaetter, »›Das verschimmelte Philisterland‹. Philisterkritik bei Brentano, Eichen­dorff und Heine«, in: Burghard Dedner und U. H. (Hrsg.), Romantik im Vormärz, Mar­burg: Hitzeroth 1992, S. 107–127; oder Dieter Arendt, »Das Philistertum des 19. Jahrhunderts«, in: Monat 21.1 (1968), S. 33 – 49. 84 »Wir haben viel dabei gelacht, Brentano und ich, wir hatten eben eine Concertanzeige in der Arbeit, die nun zum Büchelchen angeschwollen ist […]« (Görres, Brief vom 30. März 1807, in: ders., Gesammelte Briefe [Anm. 52], S. 485). 85 Joseph Görres, »Paralipomena. Aus dem ersten Entwurf zum Bogs«, in: ders., Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803 – 08), hrsg. von Günther Müller, Köln: Gilde-Verlag 1926 (= Gesammelte Schriften [Anm. 52], Bd. 3), S. 449 – 463, hier S. 449. 86 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 884.

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ken in den Zauberkessel wieder, wenn die Schläge verbrummten.«87 Der endgültige Text ersetzt die Ritter durch das antagonistische Paar von Simson und Philistern. Da­ mit verwandelt sich die Passage in einen nucleus des Gesamttextes, der das wechselseitige Bedingungs- und Ausschließungsverhältnis von Bürger und Künstler auf klein­ stem Raum enthält. Welchem der beiden Autoren die endgültige Version zuzuschreiben ist, kann natürlich nicht mit Gewissheit entschieden werden. Interessanter als eine Antwort auf die­se Frage ist ein Blick auf Görres’ Spätwerk, das eine erwähnenswerte Fortsetzung der Phi­lister­metaphorik enthält, die weit über die späten religiösen Schriften Brentanos hinaus­geht.88 Es handelt sich um die Wiederaufnahme eines Naturbilds, mit dem der »BOGS« eröffnet wird. »BOGS« beginnt mit der Klage der Philister über den »ungeschickte[n] Baum, den auszurotten bis jetzt alle Forstbeile ermüdeten, der in der Erde wurzelt und den Him­ mel trägt, und in dessen unendlichem Gezweige sich jene losen Vögel, Zifferfeinde und Ungeziefer eingenistelt«, der »mit seinem dumpfen mystischen Schatten uns die Sonne gänzlich entziehen und die Quartiere in Land und Staat ungesund und un­be­ quem machen möge«.89 Der Baum als Bild des organisch Ganzheitlichen und Ewi­ gen wird vom Philister auf die eigenen beschränkten Maßstäbe zurechtgestutzt. Die Cha­rak­teris­tik des Philisters als Baumbeschneider hat Tradition, etwa in Goethes und Schillers Xenien: »Nimmer belohnt ihn des Baumes Frucht, den er mühsam erziehet, / Nur der Geschmack genießt, was die Gelehrsamkeit pflanzt.«90 Im »BOGS« ist der Philister allerdings nicht nur für seine Genussunfähigkeit zu bemitleiden; die Bru­ ta­li­tät, mit der er seine Ordnungsvorstellungen durchsetzt, lässt ihn alles andere als harm­los erscheinen. Den Baum möchte er ausrotten, das in ihm wohnende »Ge­sin­ del schussrecht bekommen«. Statt Nachtigallen möchte er »einige geblendete und ge­täubte privilegierte Singevögel nach der besten Klassifikation in geschmackvollen Käfig­ten klassisch« aufhängen, »sobald der Baum etwas gereinigt und ihm das fatale Nach­wachsen ab­gewöhnt worden«.91 87 Görres, »Paralipomena« (Anm. 85), S. 450. 88 In Brentanos späten religiösen Schriften taucht der Philister im biblischen Kontext auf, wird aber, soweit ich sehe, nicht im übertragenen Sinn gebraucht. Vgl. etwa die Emmerich-Schriften, in denen die Peiniger Jesu mit den Philistern verglichen werden: »Die Philister, welche zu Gaza in der Rennbahn den blinden Simson bis zur Todesmüdigkeit herumhetzten, waren nicht so gewaltthätig und grausam, als diese Buben« (Clemens Brentano, »Das Bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich«, in: ders., Religiöse Werke V, hrsg. von Bernhard Gajek, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1980 [= Sämtliche Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 26.], S. 238). 89 Alle Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 876. 90 Johann Wolfgang Goethe, »Distichen der Sammelhandschrift«, in: ders., Wirkungen der Fran­zö­ si­schen Revolution I, hrsg. von Reiner Wild, München: btb Verlag 2006 (= Sämtliche Werke [Anm. 6], Bd. 4.1), S. 675 –753, hier S. 746. 91 Alle Zitate: Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 876.

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Nur indirekt, nämlich über die Negation, kommt 1807 zur Sprache, was ein ›men­ schli­cher‹ Zugang zur Natur bedeuten könnte. Görres »Wallfahrt nach Trier« von 1845 liest sich wie eine späte Einlösung dieser Leerstelle. Denn hier wird positiv bestimmt, wie ein angemessenes Verhältnis zur Natur aussehen könnte, und auch, wer dieses angemessene Verhältnis hat: der Katholik. Alle »grünen Waldbäume«, heißt es über die katholischen Rheinländer, »jeder Strauch und jedes Kraut und Gras und all blühendes Gewächs, […], es ist ihnen lieb und recht; sie meistern es nicht, schneiden es nicht und kürzen es nicht, sondern las­ sen es in seinem Naturtriebe gewähren.« Die unverdorbene Beziehung der Rhein­län­ der zur Natur ist ihnen, »selbst Naturkinder«, ein ursprünglicher Trieb, sie wandern »in Fußstapfen ihrer Väter von Jahrtausenden her«. Der Baum fungiert zugleich als Bild einer unverdorbenen Genealogie: »an ihrem historischen Stammbaume können sie je­ des Gefäß bis zur Wurzel verfolgen / und den Zusammenhang nachweisen: denn die Kirche hat darüber Buch gehalten, und ist dem alten Adel eine aufmerksame Hüterin gewesen.«92 Die nun folgende Beschreibung der Feinde dieser althergebrachten Einheit von Mensch und Natur entspricht dem seinerzeit im »BOGS« entworfenen Bild des Phi­ listers – mit dem ersten Unterschied, dass der Philister ein Protestant geworden ist; und mit dem zweiten, dass hier nichts mehr im Scherz gemeint ist: Indessen, die Natur ist weit und groß, ihr haus ist geräumig genug, alle Gat­ tun­gen von Kreaturen aufzunehmen. So finden sich auch Andere, die haben die Buchführerin entlassen, und ihre Bücher verbrannt. […] Auch die große, offene, freie Natur, wie sie gestaltet worden, um die Geschichte auf­zu­neh­ men, hat ihres Beifalls sich nicht des Vollen erfreut; sie haben sie daher gleichfalls umgeschnitzelt, die wilden Auswüchse amputirt, im Fehlenden nach­ ge­holfen, und also zu einem Kunstgarten sie umgepflanzt. […] Die Bäu­me haben sie geschickt zu grünen Wänden umgeschnitten, und allerlei Ge­thiers da­raus gedrechselt; die es am weitesten gebracht, haben selbst die Baumstämme weiß getüncht, und die Storchnester auf dem Dache mit sauber an­ ge­stri­che­nen Gehäusen umgeben. […] Gehen sie nun je einmal aus ihrem Ge­höfte in den Wald hinaus, wo sich das Leben der Geschichte regt; dann är­ gert sie das Rauschen in den Wipfeln und der Sang der Vögel, die weder Takt halten noch Mensur.93

92 Alle Zitate: Jospeh Görres, »Die Wallfahrt nach Trier«, in: ders., Schriften zum Kölner Ereignis. Vierter Teil, bearb. von Irmgard Scheitler, Paderborn u. a.: Schöningh 2000 (= Gesammelte Schriften [Anm. 52], Bd. XVII.), S. 1–180, hier S. 91. 93 Görres, »Die Wallfahrt nach Trier« (Anm. 92), S. 92.

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Der seiner eigentlichen Bestimmung entfremdete Mensch, der die eigene Be­schrän­ kung mit allen Mitteln verteidigt, ja, sie anderen aufzwingt, dieses Urbild des Philisters ist nun ein Synonym für den Protestanten geworden. Lädt im »BOGS« die bürger­li­che Schützengesellschaft zum »Vogelschießen« aller »losen Vögel, Zifferfeinde und Un­ge­ ziefer«94 – von ›Gezücht‹ und von ›ausrotten‹, von ›Gesindel‹, ›blenden‹ und ›hängen‹ ist die Rede –, so erklären nach Görres’ spätem Text nun die Protestanten den ka­tho­ lischen Pilger für »rechtlos und vogelfrei«.95 Der Text, der übrigens versteckt auf Bren­ tanos Philisterschrift Bezug nimmt,96 bleibt sich gegenüber früheren Texten in seiner Charakteristik des Philisters erstaunlich gleich. Zwar war die literarische Figur des Philisters schon immer die Karikatur des bor­ niert rationalistischen Aufklärers, und damit indirekt durchaus schon von Anfang an auch des Protestanten. Dass dies unausgesprochen blieb, war allerdings kon­sti­tu­ tiv für das frühromantische Philisterbild. Denn es hätte auch seinen Widerpart, den ›Menschen‹, konkret bestimmt – als Katholiken. Genau dies zerstört aber die Offenheit des Wechselspiels von sich gegenseitig hervorbringenden Selbst- und Fremd­bil­ dern, wie sie für die Frühromantik typisch ist. Der Schritt, die eigene Existenz aus dem leeren Gegenteil in eine positiv bestimmbare Form zu überführen, war le­bensge­schich­ tlich für Brentano und Görres notwendig. Dass sie spätestens mit diesem Schritt selbst zu Philistern werden würden, wussten ihre Texte schon vorher.

94 Brentano, »BOGS« (Anm. 42), S. 876. 95 Görres, »Die Wallfahrt nach Trier« (Anm. 92), S. 176. 96 »Aber die Philistim [hebräisch Mehrzahl von Philister] sind nicht dumm, er verrechnet sich mit ihnen; er meint, sie fürchteten sich vor ihm, aber ganz und gar nicht; es wäre ihm besser, wenn er Furcht vor ihnen hätte, denn sie sind ein kriegerisch Geschlecht, das sich, wie in der Lebens­be­schrei­ bung steht, sehr laut schnäuzt und dabei doch immer sehr aufmerksam auf Alles, was vorgeht, um sich sieht« (Görres, »Die Wallfahrt nach Trier« [Anm. 92], S. 175 f.). Mit der ›Lebensbeschreibung‹ ist Brentanos Philisterschrift gemeint, in der es über die Philister heißt: »Wenn sie sich schneuzen, trompeten sie ungemein mit der Nase« (Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« [Anm. 26], S. 66).

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Vom »aufgesteiften Leichnam des Vitruv« und »durchaus neuen Principien« Karl Friedrich Schinkel und die Nationalisierung des Philisters im Architekturdiskurs um 1800

Bis heute prägen die Bauten des preußischen Staatsarchitekten Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) die alte und neue Mitte Berlins. Schinkel war aber kein einseitiger Spe­ zia­list der Baukunst, sondern verstand sich als ein Künstler, dessen Aufgabe es ist, die gesamte Lebensumwelt des Menschen zu gestalten. In der Tat entstanden neben Bau­ ten und zahlreichen nicht verwirklichten Architekturentwürfen auch Gemälde, Buch­ vignetten, Herstellungsmuster für das Tuch-, Möbel- und Baugewerbe, Bilderrahmen, Bühnenbilder, Möbel, Dioramen und Denkmäler von der Hand Schinkels. Und so wun­dert es nicht, dass schon Fontane in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg konstatiert, bis um 1860 habe man in einer »Welt Schinkelscher Formen« gelebt.1 Im vorliegenden Beitrag soll die Bedeutung der Philistersemantik in Schinkels Theo­rie­werk analysiert werden. Den Begriff »Philisterei« verwendet Schinkel zwar nur an einer einzigen Stelle, doch er verbindet mit diesem Begriff Ideen über Kunst, Ästhe­ tik und Geschichte, die zentral für sein Denken sind. Schinkel desavouiert die Ver­ treter einer vermeintlich dogmatischen Antikenverehrung und propagiert eine Avant­ garde­rolle für die Deutschen, die vor dem Hintergrund seiner »Philisterei«-Definition als un- oder sogar antiphiliströse Nation erscheinen. Darüber hinaus bil­det die Phi­lis­ ter­semantik ein essentielles Element des Schinkelbildes, das Clemens Brentano in ei­ nem Gedicht entwickelt und das den preußischen Architekten als Paradigma des Anti­ phi­listers präsentiert.

1 Fontane widmet Schinkel ein ganzes Kapitel im Neuruppin-Abschnitt der Wanderungen (erste Buchausgabe 1862, das Kapitel wurde in den folgenden Auflagen ab 1864 stark verändert; Theodor Fontane, »Karl Friedrich Schinkel«, in: ders., Wanderungen durch die Mark Brandenburg, hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, 3., im Text und in den Anm. rev. Aufl., Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002 [= Werke, Schriften und Briefe, hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. II, Bd. 1], S. 107–129, hier S. 118, Emphase im Original).

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Ideen-Gebäude Wenn hier von Schinkels ›Theoriewerk‹ die Rede ist, so handelt es sich um einen heu­ ris­tischen Begriff, denn eine als solche ausgewiesene Theorie der Baukunst hat Schin­ kel nie ausgearbeitet. Vielmehr hat er neben dem architektonischen, malerischen und gestalterischen Werk zahlreiche Texte verfasst, in denen es um ästhetische, geschichtsphilosophische, soziale und politische Dimensionen seiner Kunst geht. Diese Schriften entstanden in unterschiedlichen Gebrauchskontexten; es handelt sich um offizielle Berichte und Eingaben des Beamten Schinkel, um Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, die auf privaten und dienstlichen Reisen des Architekten nach Italien, Westeuropa und in die preußischen Provinzen geschrieben wurden, schließlich um Exzerpte, Kon­ zepte und Bemerkungen, die der theoretischen Selbstvergewisserung des Bau­künstlers dienten. Letztere Texte waren vermutlich für ein zusammenfassendes architekturtheoretisches Werk bestimmt, wie entsprechende Bemerkungen Schinkels nahelegen.2 In der Forschung umstritten bleibt allerdings, welchen Charakter dieses nie voll­en­dete opus magnum angenommen hätte, wie weit die Arbeit daran beim Tode Schinkels 1841 gediehen war und welche der existierenden Vorarbeiten darin Aufnahme ge­funden hätten.3

2 Vgl. Gustav Friedrich Waagen, Karl Friedrich Schinkel als Mensch und als Künstler. Die erste Biografie Schinkels im Berliner Kalender von 1844, hrsg. von Werner Gabler, Nachdr. Düsseldorf: Werner 1980, S. 417; Alfred Freiherr von Wolzogen, »Schinkel als Architekt, Maler und Kunstphilosoph. Vor­trag gehalten im Verein für Geschichte der bildenden Künste zu Breslau«, in: Zeitschrift für Bauwesen 14 (1864), Sp. 61– 94, Sp. 219 –256, hier Sp. 68; Aus Schinkel’s Nachlaß. Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen, hrsg. von Alfred Freiherr von Wolzogen, Berlin: Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei (R. Decker) 1863 f., Nachdr. Mittenwald: Mäander 1981, Bd. 3, S. 153. 3 Der Architekturhistoriker Goerd Peschken entwickelte aus verschiedenen »Vorstufen« das Kon­ strukt eines »Architektonischen Lehrbuchs«, wie es Schinkel geplant haben soll (Goerd Peschken, Karl Friedrich Schinkel. Das Architektonische Lehrbuch, hrsg. von Margarete Kühn, Nachdr. der Ausg. von 1979, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2001 [=  Karl Friedrich Schinkel-Lebenswerk, hrsg. von Helmut Börsch-Supan und Gottfried Riemann, Bd. 14]). Ich zitiere Schinkel im Folgenden ge­le­gent­lich nach dieser Edition Peschkens, nenne aber angesichts der besonderen Editionslage nur Pesch­kens Namen in den Nachweisen. Andere Forscher – auch der Verfasser – plädieren hingegen für eine andere Lesart dieses Korpus von zumeist kurzen oder unvollständigen Theorietexten. Statt Schinkel das Projekt eines traditionellen Architekturtraktats in der Tradition des 18. Jahrhunderts zu unterstellen, lassen sich seine theoretischen Äußerungen dann im Kontext der zeitgenössischen aphoristischen Diskurse als Ausdruck eines fragmentarischen, potentiell unendlichen und quasidialogischen Nachdenkens über Baukunst, Geschichte, Politik und Ästhetik lesen. Für die Gegenpositionen siehe z. B. Norbert Knopp, »Rezension von Goerd Peschken: Karl Friedrich Schinkel. Das Architektonische Lehrbuch, Berlin: Deutscher Kunstverlag 1979«, in: Kunstchronik 36.8 (1983), S. 363 –367, hier S. 364 u. 367; Kurt W. Forster, »Notes on Schinkel’s Writings«, in: http://www. tc.umn.edu/~peikx001/forster.htm [Hinweis zum Erstelldatum: Santa Monica, CA, 13.9.1995; Stand: 27.9.2009].

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Unabhängig von solchen editionsphilologischen Fragen lässt sich aber Schinkels »Reich der Ideen«4 über seine Lektüren und Bekanntschaften gleichsam vermessen. Schon als junger Architektureleve hatte er Zugang zu den Bibliotheken David und Friedrich Gillys, in deren Haus er seine Ausbildung begann. Hier fanden sich nicht nur Klassiker der antiken Literatur, sondern auch grundlegende architekturtheoretische Publikationen, Dokumentationen der neuesten Reisen nach Griechenland und in den Orient sowie aktuelle literarische und philosophische Titel.5 So hatte Schinkel Texte von Johann Gottlieb Fichte im Gepäck, als er zu seiner obligatorischen Studienreise nach Italien aufbrach. Auch nach der Rückkehr 1806 nahm er von Berlin aus zentrale Texte und Denkströmungen der Zeit wahr. Die Lektüre von Johann Wolfgang von Goethes, Karl Philipp Moritz’ und Joseph Görres’ Werken ist belegt, gleiches gilt für den Besuch von Vorlesungen Fichtes und Alexander von Humboldts.6 Neben der Lektüre stellten zahlreiche Bekanntschaften mit bildenden Künstlern, Dichtern, Politikern und Gelehrten Schinkels Verbindung zur Ideenwelt der klassischromantischen Epoche her: Wilhelm von Humboldt  – dessen Renaissanceschloss in Tegel er klassizistisch umgestaltete – schätzte Schinkel als theoretisch versierten Architekten und protegierte ihn bei seinem Eintritt in den Staatsdienst.7 Goethe, den er mehrfach in Weimar besuchte, lobte seine Architekturentwürfe.8 In der Vorbereitung 4 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 32. 5 David Gilly’s Bibliothek. Reprint des Auktionskataloges von 1808, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus Jan Philipp, bearb. und komm. von Grit Herrmann, Berlin: Gebr. Mann 2000; Fritz Neumeyer, »Friedrich Gillys Bücher- und Kupferstichsammlung. Vorbemerkung und fak­simi­liertes Titelverzeichnis«, in: Friedrich Gilly, Essays zur Architektur 1796 –1799, hrsg. von Fritz Neumeyer, Berlin: Ernst 1997, S. 192 –230. 6 Schinkels Exzerpte zu Görres’ Die deutschen Volksbücher sind dokumentiert bei Fokke Christian Peters, Gedankenfluß und Formfindung. Studien zu einer intellektuellen Biographie Karl Friedrich Schinkels, Berlin: Lukas-Verlag 2001, S. 407–409, Notizen zu Fichte S. 390 –394. Zu Schinkels No­ tizen aus Goethes Wahlverwandtschaften vgl. Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 39. Die Beschäftigung Schinkels mit Karl Philipp Moritz’ Götterlehre wird analysiert von Jörg Trempler, Das Wandbildprogramm von Karl Friedrich Schinkel. Altes Museum Berlin, Berlin: Mann 2001. Zur Teilnahme Schinkels an Alexander von Humboldts Kosmos-Vorlesungen siehe Herbert Scurla, Wilhelm von Humboldt. Werden und Wirken, Düsseldorf: Claassen 1976 [zuerst Berlin (Ost): Verlag der Nation 1970], S. 577. Waagen, Schinkel als Mensch und als Künstler (Anm. 2), S. 347, erwähnt die Teilnahme Schinkels an den »berühmten Vorlesungen Fichtes«, die sein Nationalgefühl gesteigert hätten. 7 Vgl. Wilhelm von Humboldt, An Schinkel, Rom, 1. oder 2. Dezember 1803, in: Wilhelm von Humboldts politische Briefe, hrsg. von Wilhelm Richter, Berlin / Leipzig: Behr 1935 (= Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 16), S. 31 f.; ders., An Caroline, Berlin, 4. August 1810, in: ders., Weltbürgertum und preußischer Staatsdienst. Briefe aus Rom und Berlin-Königsberg 1808 –1810, hrsg. von Anna von Sydow, Berlin: Mittler & Sohn 1909 (= Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hrsg. von Anna von Sydow, Bd. 3), S. 454. 8 Zusammenfassend: Adolf Doebber, »Schinkel in Weimar«, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 10 (1924), S. 103 –130.

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des nie erfolgten Volksaufstandes gegen Napoleon ließ sich Schinkel zusammen mit Friedrich Schleiermacher, Friedrich Carl von Savigny und Fichte bei einer Landsturmeinheit einexerzieren.9 Schließlich zählten Achim von Arnim und Clemens Brentano zu seinen langjährigen und engen Freunden.

Clemens Brentano über einen bacchantischen Geheimen Ober-Baurat Mit dem romantischen Dichter verband Schinkel ungefähr seit der Zeit seines Eintritts in die Deutsche Tischgesellschaft eine langjährige Freundschaft.10 Die Bewunderung, die Brentano für den Baumeister, Maler und vor allem auch den Theoretiker Schinkel hegte, fand ihren Niederschlag nicht nur in mehreren Briefen – die bis in die Dül­ mener Zeit reichten11 –, sondern auch darin, dass Brentano sich von Schinkel kurzzeitig für ein Architekturstudium begeistern ließ.12 In verschiedenen Werkzusammenhängen manifestierte sich ebenfalls die enge Freundschaft der beiden unterschiedlichen Charaktere:13 Schinkel entwarf für Brentanos Sammlung Märchen von dem Märchen 9 Vgl. Helene  M. Kastinger Riley, Achim von Arnim, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 90  f.; Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 24; Mario Alexander Zadow, Karl Friedrich Schinkel, 3., verb. Aufl. Stuttgart / London: Edition Menges 2003, S. 79. 10 Vgl. zu Schinkel und Brentano Hartwig Schultz, Schwarzer Schmetterling. Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen Dichters Clemens Brentano, Berlin: Berlin-Verlag 2000, S. 273 –275, S. 282 –284; Zadow, Schinkel (Anm. 9), S. 19 –23; Michael Grus, Brentanos Gedichte »An Görres« und »An Schinkel«. Hist.-krit. Edition der bislang ungedruckten Entwürfe mit Erläuterungen, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1993, S. 173 –224. Zu Schinkels Mitgliedschaft in der Tischgesellschaft vgl. Stefan Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Monographie und Textedition, Habil.-Schr. Jena 2001, Bd. 1, S. 19; Bd. 2, S. 2, 6 f., 57, 154 u. 331. 11 Clemens Brentano, An Wilhelm Grimm, Berlin, Februar 1815, in: ders., Briefe 4. 1808 –1812, hrsg. von Sabine Oehring, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1996 (= Sämtliche Werke und Briefe. Histo­ risch-kritische Ausgabe, hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Jürgen Behrens und Anne BohnenkampRenken, Bd. 32), S. 126; Clemens Brentano, An Georg Brentano, Berlin, 16. Januar 1816, in: ebd., S. 153 –155; Clemens Brentano, An Achim von Arnim, Berlin, 14. August 1815, in: Clemens Brentano und Achim von Arnim, Freundschaftsbriefe. 1807–1829, hrsg. von Hartwig Schultz un­ter Mit­arbeit von Holger Schwinn, Frankfurt am Main: Eichborn 1998 (=  Achim von Arnim und Cle­mens Brentano, Freundschaftsbriefe, vollständige krit. Edition, hrsg. von Hartwig Schultz unter Mitarbeit von Holger Schwinn, Bd. 2), S. 722 f. Selbst in seiner Dülmener Zeit äußert sich Brentano in einem Brief an Arnim anerkennend über Schinkels intellektuelle Fähigkeiten (vgl. Brentano, An Achim von Arnim, Dülmen, 9. Januar 1824, in: ebd., S. 778). 12 Vgl. Wilhelm Grimm, An Jacob Grimm, Kassel, 5. Dezember 1814, in: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit, hrsg. von Herman Grimm und Gustav Hinrichs, 2., verm. und verb. Aufl. besorgt von Wilhelm Schoof, Weimar: Böhlau 1963, S. 384. 13 Vgl. zum Verhältnis der beiden Künstler neuerdings Birgit Verwiebe (Hrsg.), Schinkel und Bren­ tano. Wettstreit der Künstlerfreunde. Kat. zur Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin, Alte Na­tio­ nal­galerie 2008  /  2009, Dresden: Sandstein 2008.

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ein Titelbild,14 Brentano wiederum bildete die Figur des Bonascopa in seinem Roman­ fragment »Der schiffbrüchige Galeerensklave vom todten Meer« dem preußischen Archi­tekten nach.15 Ein herausragendes Beispiel für eine zugleich wetteifernde Zu­sam­ men­arbeit ist das Gemälde Schloss am Strom, das Schinkel – über zeitnah entstandene zeichnerische Zwischenstufen – als bildliche Umsetzung einer im Laufe einiger Abende ad hoc komponierten und leider nicht erhaltenen Erzählung Bren­tanos schuf. »Mit dem Ende der Woche war die Erzählung beendet, aber auch die Zeich­nung dazu«, heißt es in einem zeitgenössischen Bericht über diesen romanti­schen Paragone.16 Einen äußerst reflektierten Ausdruck der Schinkel-Wahrnehmung Brentanos bildet schließlich ein Widmungsgedicht »An Schinkel«.17 Zusammen mit einem zweiten Gedicht »An Görres« stellte Brentano es seinem 1816 erschienenen patriotischen Festspiel Victoria und ihre Geschwister18 voran. Mit diesem schon 1813 in Wien entstandenen Drama, das den alliierten Sieg in der Völkerschlacht von Leipzig feiert, wollte Brentano sich – letztlich erfolglos – an der patriotischen Dramenkultur im Kontext der anti-

14 Vgl. Helmut Börsch-Supan, »Eine Miniaturmalerei Karl Friedrich Schinkels für Clemens Bren­ tano«, in: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts (2001), Frontispiz, S. 164 –176, und auch Zadow, Schinkel (Anm. 9), Abb. 69, S. 168. 15 Vgl. Clemens Brentano, »Aus dem Roman Der schiffbrüchige Galeerensklave vom todten Meer«, in: ders., Erzählungen, hrsg. von Gerhard Kluge, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1987 (= Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Jürgen Behrens und Anne Bohnenkamp-Renken, Bd. 19), S. 227–249, Anm. S. 623 – 658, hier S. 229 u. 236, Anm. S. 631, 641 u. 646 f. 16 Die Beschreibung dieses Wettstreits stammt von Karl Gropius und ist abgedruckt in Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 2, Fußnote 1, S. 340 f. Dazu vgl. Hartwig Schultz, »Karl Friedrich Schinkel und die Brentano-Geschwister«, in: Verwiebe (Hrsg.), Schinkel und Brentano (Anm. 13), S. 29 – 49, hier S. 33; Birgit Verwiebe, »Karl Friedrich Schinkel und Clemens Brentano. Freundschaft und Wettstreit«, in: ebd., S. 9 –27, hier S. 21 f.; Gottfried Riemann, Kat.-Nr. 97, in: Karl Friedrich Schinkel. 1781–1841. Katalog zur Ausstellung im Alten Museum vom 23. Oktober 1980 bis 29. März 1981, wiss. Gesamtbearb., Konzeption von Kat. und Ausstellung sowie Red. Gottfried Riemann. 2., unveränd. Aufl., Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1982, S. 46 – 49; Linda Parshall und Peter Parshall, »A Twice-Told Tale. Brentano & Schinkel on Paper«, in: On Paper. The Journal of Prints, Drawings, and Photography 5.6 (2000  /  2001), S. 38 – 43. Die Episode spielt – bis hin zu Titel und Umschlagabbildung – auch in einem aktuellen historischen Roman über Schinkel eine prominente Rolle: Christoph Werner, Schloss am Strom. Die Geschichte vom Leben und Sterben des Baumeisters Karl Friedrich Schinkel, Weimar: Bertuch 2004. 17 Clemens Brentano, »An Schinkel«, in: ders., Gedichte 1816 –1817, hrsg. von Michael Grus und Kristina Hasenpflug, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1999 (= Sämtliche Werke und Briefe [Anm. 15], Bd. 3.1), S. 81– 85. Im Folgenden wird das Gedicht im Fließtext mit der Sigle  AS samt den entsprechenden Versangaben zitiert. Die historisch-kritische Edition mit den bisher ungedruckten Entwürfen liefert die Dissertation von Grus: Brentanos Gedichte (Anm. 10). 18 Clemens Brentano, Victoria und ihre Geschwister. Mit fliegenden Fahnen und brennender Lunte. Ein klingendes Spiel, Berlin: Maurer 1817 [recte 1816].

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napoleonischen Kämpfe beteiligen.19 In dem Widmungsgedicht inszeniert Brentano sowohl den katholischen Rheinländer Görres als auch den preußischen Protestanten Schinkel als paradigmatisch deutsche Künstler, deren Avantgarderolle von den Zeitgenossen aber nicht gewürdigt werde. Ausdrücklich als »Philister« bezeichnet Brentano dabei ein Publikum, das keinen Zugang zu einer neuen Ästhetik findet und stattdessen in seinen überkommenen Kunstansichten verharrt. Aber auch die Künstler seiner Zeit, die sich konsequent neuen Entwicklungen verschließen, lassen sich hier dem Begriff des »Philisters« zuordnen. Brentano kritisiert jedoch nicht nur Kritiker oder Künstler, sondern die ganze Epo­ che ist für ihn unfähig, die Visionen Schinkels zu erkennen. Im Gedicht verdeutlicht er dies durch den Verweis auf einen Domentwurf Schinkels, der lediglich von Görres verstanden wird, nicht aber von seiner »Zeit« (vgl. AS, V. 29 –32). Görres wiederum wird in Kontrast zum »dummen Philister« präsentiert, denn Brentano schreibt den bekannten Aphorismus »Architektur ist erstarrte Musik«20 Görres zu und konstatiert, dass über diese Sentenz »die Philister dumm gelacht« haben (AS, V. 33 –36). Schinkel erhält in Brentanos Augen seine große Bedeutung dadurch, dass er im Ge­gen­satz zu seinen Kollegen intuitiv die der Baukunst innewohnenden, allgemei­ nen Ge­setze erkannt habe. Indem ihr »Saitenklang« die »Seele« Schinkel getroffen und das »Schul­gerüst« zerbrochen hat, wird, was lediglich abstraktes »Gesetz« ge­ we­sen ist, nun »Zier und Pracht« (AS, V.  24, 39  f.). Die Arbeit Schinkels zeichnet sich für Brentano durch ein dynamisches, lebendiges Verständnis von Architektur­ ge­schichte und -schaffen aus. Dem grundsätzlich kreativen Baukünstler steht – nicht über­raschend – der »Philister« entgegen. Er verharrt »verblüfft« vor dem »aufge­steif­ ten Leich­nam des V i t r u v « und ist auf seine unreflektierte Hochachtung zudem noch »stolz« (AS, V. 17 f.). Deutlicher kann vor dem Hintergrund der Apotheose Schinkels die Disquali­fi­ zie­rung des zeitgenössischen Architekturdiskurses kaum ausfallen. Denn durch die Ver­bin­dung der negativ besetzten Philisterterminologie mit dem antiken Architek­ tur­theoretiker Vitruv, der zudem noch als »aufgesteifter Leichnam«  – mithin als statisch-unkreative Instanz per se – präsentiert wird, wendet sich Brentano gegen eine Alter­tums­rezeption, die in seinen Augen unzulässigerweise einem Dogma verhaftet bleibt. Tatsächlich bildete Vitruv, dessen um 30 v. Chr. verfasste De Architectura Libri Decem der einzige erhaltene Architekturtraktat aus dem klassischen Altertum ist, im ausgehenden 18. Jahrhundert eine zentrale Instanz beim Schreiben und Sprechen über 19 Vgl. Claudia Stockinger, »Das Drama der deutschen Romantik – ein Überblick (Tieck, Bren­ tano, Arnim, Fouqué und Eichendorff)«, in: Goethezeitportal, http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/ romantik/stockinger_drama.pdf [Hinweis zum Erstelldatum: 16.9.2004; Stand: 27.9.2009], S. 8. 20 Endgültig geklärt ist die Herkunft dieser Sentenz nicht. Ausführlich diskutiert werden die unterschiedlichen Zuschreibungen (Joseph Görres, Friedrich Schlegel, Friedrich Schelling) von Grus, Bren­tanos Gedichte (Anm. 10), S. 135 –138.

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Architektur. Vor dem Hintergrund der neuen Dokumentationen antiker Architektur in Griechenland und dem römischen Orient, die von britischen und französischen Ex­pe­ditionen vorgenommen wurden,21 glaubte man um 1800 mit Vitruvs Werk das theo­retische Fundament dieser neu entdeckten Baukunst zu besitzen. »In dem Drang, an­tike Architektur in ihrer Entwicklung und Gesetzmäßigkeit zu begreifen, mußte ein Studium der Werke des römischen Architekturtheoretikers Vitruv an erster Stelle stehen.«22 In Brentanos Gedicht bildet aber nun nicht Vitruv, sondern dessen doktrinäre Exegese durch die »Philister« die Negativfolie, vor der sich Schinkels Zugang zur Bau­ ge­schichte umso deutlicher abhebt. Die »Philister« verehren Vitruv, ohne die Be­deu­ tung der neuen Kunstauffassung, die ihren Niederschlag im Schaffen Schinkels eben­so wie in Görres’ ästhetischen Sentenzen findet, zu erkennen. Aus Brentanos Per­spek­ tive schreitet demgegenüber Schinkel mit seinen Ideen voran, indem er die wahre Bedeutung der Antike für die Gegenwart erkennt. Nicht die kompromisslose Fixierung auf einen römischen Text, sondern die schöpferische Anverwandlung des Griechentums und dessen Verbindung mit der Gotik zeichnen sein Schaffen aus. Und ob­gleich beide Epochenkonstruktionen  – das idealisierte Hellas ebenso wie das als originär deutsch apostrophierte gotische Mittelalter  – als rückwärtsgewandte Utopien der natio­nalkulturellen Identitätsdefinition der Deutschen um 1800 dienen, bleibt laut Bren­tano den meisten Zeitgenossen die Bedeutung von Schinkels Werk verschlossen. Bren­tanos Kritik an klassisch-romantischer Kunstwahrnehmung fällt hier deutlich aus: »mit Wort­posaunen / Bläßt sie Dein Bild des Griechenlebens an, / Und bleckt bei dem Gewitter­dom den Zahn« (AS, V. 57–59). Das Bild von Schinkel, das Brentano hier entfaltet, ist das Bild eines Malers und eines Theoretikers, denn als Architekt konnte jener bis dato noch kaum auf realisierte Bauten verweisen.23 Die »Gewitterdome« – dieser Neologismus ist dem Grimm’schen Wörterbuch ein eigener Eintrag wert24 – sind Gemälde, in denen Schinkel eine ganze 21 James Stuart und Nicholas Revett, The Antiquities of Athens, London: Haberkorn / Nichols / J.  Taylor 1762 –1816; Robert Wood, Les Ruines De Palmyre, Autrement Dite Tedmor, Au Desert, London: Millar 1753; Julien-David le Roy, Les Ruines des plus beaux Monuments de la Grece, Paris: Guerin & Delatour / Nyon 1758; Richard Chandler, Nicholas Revett und William Pars, Ionian Antiquities, London: Spilsbury & Haskell / Nicol 1769 –1915 [!]. 22 Wolfram Hoepfner und Ernst-Ludwig Schwandner, »Die Entdeckung der griechischen Bauten«, in: Willmuth Arenhövel (Hrsg.), Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei, Skulptur, Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Archäologischen Instituts Berlin im Schloß Charlottenburg, 22. April bis 22. Juli 1979, Katalogband, Berlin: Wasmuth 1979, S. 291–294, hier S. 292. 23 Erst 1817 wurde mit der Neuen Wache ein wichtiger klassizistischer Bau Schinkels begonnen, 1820 begann die klassizistische Umgestaltung Schloss Tegels und der Bau des Schlosses Neuhardenberg, 1822 entwarf Schinkel die Pläne für das Alte Museum. 24 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Nachdr. München: Deutscher Taschen­buch Verlag 1984, Bd. 6, Sp. 6407.

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mittelalterliche Welt präsentiert, in der sich Staffagefiguren, Landschaft und Bau­wer­ke zur historischen Utopie einer harmonischen Sozialordnung ergänzen. Deren archi­tek­ tonischer Ausdruck sind die alles überragenden, idealisierten und visionär weiter­ent­ wickelten Dome.25 Auch sein »Bild des Griechenlebens« hat Schinkel auf Leinwand dokumentiert, zunächst in Gestalt der Antiken Stadt an einem Berg (um 1805), dann aber vor allem in der Griechischen Landschaft mit einer Stadt und Aufgang zur Akropolis (1815). Dieses Gemälde ist als Gegenstück zum Gotischen Dom mit Pfalz und mittelalterlicher Stadt an einem Fluß (1815) konzipiert;26 ebenso wie bei den Dombildern han­delt es sich hier um eine geschichtsphilosophisch aufgeladene Szenerie, die nicht nur Bauwerke, sondern das Ideal einer ganzheitlichen Existenz des Menschen in der An­tike zeigt. Für Brentano bildet ergo Schinkels Vorstellung von zwei Epochen die Begründung für die Apostrophierung des Architekten als eines genialischen Charakters, dem seine Umwelt mit Unverständnis begegnet. Nicht die Wahl von Hellas und dem Mittelalter der Gotik, sondern die spezifische Ausdeutung und Aneignung dieser Epochen, die sich in Schinkels Gemälden manifestiert, unterscheidet seine Ideen von den Gedanken der Zeitgenossen, die ausdrücklich mit dem Verdikt des »Philisters« belegt werden. Brentano nutzt aber nicht nur den Begriff des Philisters, sondern integriert ›sei­ nen Schinkel‹ in die biblische Episode von Simson und den Philistern (Ri 13,1–16,31): trotz der kleinlichen Kritik der Zeitgenossen kann niemand baukünstlerisch ge­gen Schin­kel bestehen. In einem »griechschen Wettbau« würde Schinkel sonst »kräftig die Säulen S a m s o n über die Philister schütteln« (vgl. AS, V. 69 –72), mahnt Brentano. Er imaginiert hier eine Konfrontation zwischen dem Baumeister Schinkel mit seiner neuen Ästhetik und seinen engstirnigen Mitmenschen: Die Antikenrezeption dieser »Philister« besteht in der unhinterfragten Hochachtung vor Vitruv; die Anver­wand­ lung der Antike in der Gegenwart kann aber nur von Schinkel erfolgreich vollzogen werden. Seine Gegner dagegen werden wie die biblischen Philister untergehen, wobei Brentano in seinem Bild tunlichst ausblendet, dass Simson mit dem Umstürzen der Säulen nicht nur die Gegner vernichtet, sondern auch sich selbst tötet. Säulen sind nicht nur im gewalttätigen Finale dieser biblischen Erzählung ein tra­ gendes Element, sondern ebenso in der Baukunst und Architekturtheorie, gerade in der klassizistischen Phase. Und wie die Säulen in der biblischen Erzählung die nur ver­meintliche Übermacht der Philister auch architektonisch repräsentieren und ihr Herr­schaftsgebäude stützen, so standen sie im zeitgenössischen Architekturdiskurs für die kanonische Macht der Antike. Diese kann und muss in Brentanos Augen ge­ 25 Gotischer Dom am Wasser (1813  /  14), Gotische Kirche auf einem Felsen am Meer (1815), Mittelalterliche Stadt an einem Fluß (1815), Gotischer Dom mit Pfalz und mittelalterlicher Stadt an einem Fluß (1815). Titel und Datierung hier nach Zadow, Schinkel (Anm. 9), Tf. 20, 23, 25, und Ursula Riemann-Reyher, Kat.-Nr. 99a und b, in: Karl Friedrich Schinkel. 1781–1841 (Anm. 16), S. 50 –53. 26 Vgl. Riemann-Reyher, Kat.-Nr. 99a und b (Anm. 25), S. 50 –53, sowie Verwiebe, » Freundschaft und Wettstreit« (Anm. 16), S. 15 f.

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bro­chen werden, um den neuen Entwürfen Platz zu schaffen. Wenn Brentano androht, Schinkel würde genauso mit seinen Kritikern umgehen, wie Simson mit den Phi­lis­tern, so stellt er einen jungen Baukünstler vor, der bereit ist, von anderen Er­ bau­tes der eigenen Ideen wegen niederzureißen. Das destruktive Potenzial, das der Simson-Erzählung innewohnt, wird von Brentano um die produktive Dimension des ›Wett­baus‹ ergänzt. Sowohl das Zerstörte wie das zu Schaffende wird aber von der Säule geprägt, dem Architekturelement, das die Ästhetik horizontaler Tektonik be­ dingt. Dass dieser Prozess der Zerstörung und des Neuschaffens zu Schinkels Be­din­ gun­gen erfolgen würde, wird deutlich gesagt: Es ist ein »griechscher Wettbau« und damit eine Konkurrenz, die den Römer Vitruv von vornherein ausschließt. Schinkel, das legt Brentano nahe, ist mit seiner Kreativität dem nur zerstörerischen Wüten des säulenumreißenden Simson überlegen – und damit konsequenter im Kampf gegen die »Philister«. Ihren Höhepunkt erreicht Brentanos scharfsinnige Kritik des zeitgenössischen Ar­chi­tekturdiskurses indes in einer weiteren Anspielung auf die griechische Antike: Schin­kels »Meßstock«  – Signum des Architekten, das zur Aufnahme historischer eben­so wie zur Konstruktion neuer Bauten notwendig ist – ist »kein dürrer Stab«, son­ dern »grün und vollbetraubt« und Schinkel schwingt ihn wie »T h y r s u s « sei­nen Stab (AS, V.  85 – 87). In der Konsequenz soll man sich also den preußischen Geheimen Ober-Baurat als Bacchant in einem Zug ausgelassener Mänaden vorstellen. Spätestens in dieser Pointierung widerspricht das von Brentano evozierte Per­sön­ lichkeitsbild dem der zeitgenössischen Zeugnisse. Schinkels erster Biograph Gustav Waagen bemerkt, er habe außer bei Schinkel »nie […] eine so entschiedene, ja fast grau­same Herrschaft des Geistes über den Körper beobachtet«27 und der »vorbildliche Beamte« – »korrekt bis zur Selbstaufgabe« –, der auch den Zeitgenossen wohl »eher spießig als genialisch« erschien,28 wird selbst von Brentano nicht als dionysisch, son­ dern als »einfach, fleißig, bescheiden, und andern behülflich«29 charakterisiert. Unabhängig von der alltäglichen Erscheinung des Berliner Staatsdieners Schin­kel ent­wirft Brentano also das Ideal eines in seinen Gedanken und Entwürfen beispielhaft schöpferischen und dynamischen Baukünstlers und nutzt dieses Bild des genialen Archi­tekten, um die zeitgenössische Baukunst und Architekturtheorie zu disquali­fi­ zieren. Von ihr werde nicht auf der Grundlage des Alten wahrhaft Neues geschaffen, sondern lediglich kopiert. Diese Kritik am Umgang mit der Historie ist nicht neu, vielmehr schreibt Brentano hier für den Bereich der Architektur Winckelmanns Postulat der kreativen »Nachahmung« der Alten fort.

27 Waagen, Schinkel als Mensch und als Künstler (Anm. 2), S. 309. 28 Zadow, Schinkel (Anm. 9), S. 41. 29 Brentano, An Achim von Arnim, Dülmen, 9. Januar 1824, in: Brentano und Arnim, Freundschaftsbriefe. 1807–1829 (Anm. 11), S. 778.

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Das Gedicht »An Schinkel« ist aber nicht das einzige Zeugnis einer Verbindung von Architekturkritik und Philistersemantik in Brentanos Werk. Vielmehr unterstellt er schon in »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (1811) – zu dessen Subskribenten auch Schinkel zählte30  – den zeitgenössischen »Philistern« folgende Ansichten über die Baukunst: [E]in Stammbuchsaltar oder Tempelchen im griechischen Garten­ge­schmack sind ihre Bauideale. Das Unzählige, kunstdurchdrungene Allmächtige und doch Eine und überschwänglich Große in den Gebäuden begeisterter Chris­ ten nennen sie gotische barbarische Ausgeburten […].31 Die Vorliebe für diminutive Gartenarchitektur im antikischen Stil und die un­hin­ter­ fragte Übernahme der seit der Renaissance tradierten Kritik an der gotischen Baukunst als »barbarisch«32 sind hier Charakteristika des »Philisters«, dessen ästhetisches Be­wusst­sein deshalb über deutliche Defizite verfügt. Im Widmungsgedicht wird im Kon­trast dazu Schinkel gelobt, weil seine an Hellas orientierten Werke eben nicht nur dekorative Funktionen erfüllen, wie die kulissenhafte Gartenarchitektur, sondern archi­tektonischer Ausdruck eines neuen Kunstverständnisses sind. Dass Brentanos satirischer Angriff gegen eine Architekturbegeisterung um 1800, die einem Kanon von Bauwerken und -stilen mit festen und nicht weiter hinterfragten Vorstellungen von dessen ästhetischer Vorbildhaftigkeit huldigte, kein Nebenschauplatz des Kunstdiskurses war, dokumentiert das literarische Nachleben: Im Jahre 1878 erschien Theodor Fontanes Romanerstling Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, der über weite Strecken auch als kultur- und ideengeschichtliche Auseinander30 Die Subskriptionsliste vom März 1811 mit Schinkels Namen ist abgedruckt bei Nienhaus, Tischgesellschaft (Anm. 10), Bd. 2, S. 57. 31 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: ders., Godwi, Erzäh­ lungen, Abhandlungen, hrsg. von Friedhelm Kemp, 3., durchges. Aufl., 4.  Aufl., München: Han­ ser 2008 (=  Werke, hrsg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp, Bd. 2) [zuerst 1963], S. 959 –1016, hier S. 998. 32 Die Anfänge einer kritischen Beschäftigung mit der gotischen Kunst finden sich schon im 14. Jahr­hundert, aber erst Giorgio Vasaris Le Vite, in der wirkmächtigen revidierten und erwei­ter­ten zweiten Auflage 1568 erschienen (Giorgio Vasari, Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori, italiani da cimabue insion a’tempi nostri, Florenz: Torrentino 1550, 2., erw. und revidierte Aufl., Florenz: Giunti 1568), bildete einen weithin wahrgenommenen Beitrag zur Gotikdiskussion. Dort äußert Vasari hinsichtlich der Gotik den Wunsch, dass Gott jedes Land vor solchen Ideen und solch einem Baustil bewahren möge. Noch zwei Jahrhunderte später argumentiert Paolo Frisi terminologisch weniger drastisch, aber ebenfalls ›anti-gotisch‹ in seinem »Versuch über die Gothische Baukunst«, der 1766 erstmals publiziert wurde (Paolo Frisi, Saggio sopra l’architettura gotica, Livorno: Coltellini 1766) und 1773 in Herders Aufsatzsammlung Von deutscher Art und Kunst (Hamburg: Bode) auf deutsch erschien – in derselben Anthologie, in der auch Goethes »Von Deutscher Baukunst« als Dokument der beginnenden Gotik-Begeisterung veröffentlicht wurde.

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setzung Fontanes mit der Epoche der Befreiungskriege und Preußischen Reformen ge­lesen werden kann. Dies gilt bis in die Details hinein, wie die Beschreibung der Ein­rich­tung der Wohnung von Frau Hulen, der kleinbürgerlichen Berliner Zimmerwirtin des Protagonisten Lewin von Vitzewitz. Anlässlich einer nachbarschaftlichen Festlichkeit präsentiert Frau Hulen – im Verein mit zahllosen »Lichtern und Lichter­ chen [!]«, Räucherkerzen und einem markant positionierten Spiegel – die von ih­rem verstorbenen Gatten aus Pappe gefertigten Architekturmodelle. Mit der Auswahl mar­ kiert sie Eckpunkte des nationalkulturellen Diskurses um 1800. Während das genuin deutsche Theater durch ein Modell der Lagerszene aus Schillers Räubern symbolisiert wird, manifestiert sich das Selbstverständnis deutscher Baukunst im Pappentwurf eines dorischen Tempels und dem Nachbau des Straßburger Münsters.33 Im Unterschied zu Brentanos Philistersatire ist die Liebe zur Baukunst hier gleichwertig auf das Griechische und das Gotische gerichtet. Gleichwohl entspricht Frau Hulen – ohne dass der Begriff hier auftaucht – mit ihrer Verwendung von Architektur dem Bild des »Philisters«, das Brentano in »An Schinkel« und in »Der Philister vor, in und nach der Ge­schichte« entwickelt. Ohne den ›wahren‹ Gehalt der Baukunst zu erkennen, nutzt Frau Hulen die Architektur lediglich zur Verschönerung ihrer Wohnung und jene verkommt damit zur reinen Dekoration. Mit den kleinbürgerlich kontextuierten archi­tek­ tonischen Pappmodellen in Vor dem Sturm wird mithin aus der Perspektive der 1870er ein Umgang mit der Baukunst um 1800 dokumentiert, der schon in zeitgenössischen Texten Brentanos seinen Niederschlag gefunden hat und dort in pejorativer Absicht dem »Philister« zugeschrieben wird.

Schinkels Verdikt über die »Sclaverei der Regel« in der Kunst   und über den »Kohlstrunk« Aloys Hirt In Schinkels theoretischen Fragmenten findet sich der Begriff »Philisterei« lediglich an einer einzigen Stelle. Dort heißt es: Die für jedermann passende Nützlichkeit zum Princip erhoben und zu allgemeiner Anwendbarkeit befördert, ist der wesentliche Grund und Bo­ den der Philisterei. Den Bestrebungen wird dadurch die Mannigfaltigkeit geraubt, welche vom Ursprung an in der Natur aller menschlichen Dinge  

33 Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, hrsg. von Helmuth Nürnberger, 3., durchges. und im Anhang erw. Aufl., Lizenzausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002 (= Werke, Schriften und Briefe, hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd. 3), S. 333 f.

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geschaffen ist durch die Unendlichkeit der Individualitäten. Daher erzeugt sich durch jenes Princip das Uniformenwesen in jeglicher Art.34 Durchgängig findet sich in seinen theoretischen Schriften darüber hinaus aber eine unterschiedlich scharfe Kritik an Tendenzen der zeitgenössischen (Bau‑)Kunst, die den Kritikpunkten in der »Philisterei«-Passage ähnlich ist: Ästhetik und Kunst werden von Schinkel als unkreativ, unkritisch und dogmatisch wahrgenommen. Auch die Kunstund Architekturgeschichte um 1800, als deren Repräsentanten Schinkel den Berliner Altertumskundler Aloys Hirt ausmacht, wird dergestalt kritisiert.35 Die von Schinkel beanstandeten Gegenwartsentwicklungen entsprechen den Kri­ tik­punkten, die auch in Brentanos Widmungsgedicht und in dessen Philister­ab­hand­ lung vorgebracht werden. Schinkels eigene Ideen zur Ästhetik wiederum, die er als Al­ter­native zur von ihm kritisierten »Philisterei« entwickelt, sind in ihrer Betonung künst­le­ri­scher Autonomie den Gedanken Brentanos ebenfalls nahe. Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Analogien kann man sowohl Schinkels Angriffe als auch seine Gegenentwürfe in den zeitgenössischen Philisterdiskurs einordnen.36 Schinkel entwickelt seine Kritik vor dem Hintergrund einer geschichtsphilo­so­ phisch fundierten ästhetischen Grundüberzeugung. Danach verläuft Geschichte stets dynamisch,37 und innerhalb der allgemeinen Menschheitsgeschichte bildet die Kunstentwicklung eine Avantgarde.38 So erhält die Kunst in Schinkels gesamtem Denken eine besondere Position. Schinkel imaginiert und propagiert eine derart ideale Welt, wenn es heißt: 34 Karl Friedrich Schinkel, Briefe, Tagebücher, Gedanken, hrsg. von Hans Mackowsky, Reprint Berlin: Propyläen 1981 [zuerst 1922], S. 197 f. 35 Es geht Schinkel also nie um die »häusliche Beschränkung«, sondern stets um die »geistige Beschränktheit« des engstirnigen Zeitgenossen. Zu diesen zwei Komponenten des Brentano’schen Phi­ lis­ter­begriffs vgl. Dieter Arendt, »Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhun­derts oder Der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation«, in: Orbis Litterarum 55 (2000), S. 81–102, hier S. 85. 36 Vgl. für die Umrisse dieses Diskurses und seine Fortführung bis ins 20. Jahrhundert Arendt, »Brentanos Philister-Rede« (Anm. 35). 37 Vgl. paradigmatisch ein Fragment, das Peschken auf 1835 datiert (Peschken, Schinkels Lehrbuch [Anm. 3], S. 149): »[D]ie Geschichte hat nie frühere Geschichte copirt und wenn sie es gethan hat, so zählt ein solcher Act nicht in der Geschichte, die Geschichte hört gewissermaßen in ihm ganz auf. Nur das ist ein geschichtlicher Act, der auf irgend eine Weise ein Mehr, ein neues Element in die Welt einführt, aus dem sich eine neue Geschichte erzeugt und fortspinnt.« Und in einem theoretischen Text aus den 1820ern heißt es ganz ähnlich: »Historisches ist nicht das alte allein festzuhalten oder zu wiederholen, dadurch würde die Historie zugrunde gehen, historisch handeln ist das welches das Neue herbei führt und wodurch die Geschichte fortgesetzt wird« (S. 71). 38 Schinkel begründet dies damit, dass er der bildenden Kunst – anders als der an Begriffe ge­bun­ denen Sprache – das Potenzial zuschreibt, im Geschichtsverlauf neu auftretende »Ideen« zuerst und am vollständigsten zu erfassen (vgl. dazu Peschken, Schinkels Lehrbuch [Anm. 3], S. 31 u. 55 –57; Schinkel’s Nachlaß [Anm. 2], Bd. 3, S. 347).

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Es wäre vielleicht, die höchste Blüthe einer neuen Handlungsweise der Welt, wenn die schöne Kunst voran ginge, etwa so wie das Experiment in der Wissenschaft der Entdeckung vorher geht, und als ein eigenthümliches Ele­ ment der neuen Zeit angesehn werden kann.39 Um den historischen Fortschritt zu ermöglichen, fordert Schinkel von den Menschen nun konsequenterweise das Durchbrechen von »Gesetzen«,40 denn kein Gesetz sei für sämtliche Verhältnisse und historische Situationen angemessen. Mit Gesetzen meint er ästhetische Normen mit allgemeingültigem Anspruch, denn das Überschreiten der Gesetzesschranken erfolgt zunächst im ästhetischen Stadium einer neuen Idee. Zu diesem Ideal des Kunstschaffens und Weltgestaltens präsentiert Schinkel das ne­ga­tive Zerrbild und konturiert auf die Weise sein Denkmodell um so deutlicher: Reprä­sentant des unbedingt regelkonformen konservativen Denkens ist für ihn der Pedant, der »trockene Systematicus«, der, »um eine gewöhnliche Ordnung in allen Thei­len durchzuführen, zu einem höheren Gedanken nie kommen kann«.41 Die Nähe zu Schinkels Verständnis von »Philisterei« ist hier offensichtlich, denn diese »erhebt die für jedermann passende Nützlichkeit zum Princip und befördert sie zu allgemei­ ner Anwendbarkeit«; als Folge entsteht ertötende Gleichförmigkeit – »das Uniformenwesen in jeglicher Art.«42 Diese Auffassung entspricht im Wesentlichen zeitgenössischen Konzepten des Phi­ lis­ters. So wird der Hang zum Systematisieren als totale und einseitige Fixierung auf ein solitäres Gedankensystem auch von Brentano in seiner Philistersatire deutlich kri­ti­ siert: »[F]ür Brentano […] reichte bereits der philosophische Hang zur Systematik aus, um den Philister-Vorwurf zu begründen. […] Die spannungslose Einbildungskraft des Philisters webt ebenso wie die des Wahnsinnigen ein Spinnennetz, in dem sich der unbelehrbare Vernünftler ebenso wie der Wahnsinnige verfängt.«43 In die gleiche Richtung argumentiert Schinkels Freund Wilhelm von Humboldt, wenn er lange nach seiner Studienzeit in Göttingen – allerdings erklärtermaßen ohne pejorative Absicht  – seinen altphilologischen Lehrer Christian Gottlob Heyne als »wahres Vorbild aller Philisterei« bezeichnet:

39 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 71. Peschken datiert den Text auf die erste Hälfte der 1820er Jahre. 40 Vgl. Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 155. Schinkel spricht hier davon, dass die Genialität innerhalb der Grenzen der Vernunftgesetze walten muss, aus dem Kontext ergibt sich aber, dass es nicht um das exegetische Abarbeiten eines festen Korpus von Regeln geht. 41 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 119. 42 Vgl. Schinkel, Briefe, Tagebücher, Gedanken (Anm. 34), S. 197 f. 43 Jörg Paulus, Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800, Berlin / New York: de Gruyter 1998, S. 306 f. Brentanos Kritik war hier vor allem gegen Fichte gerichtet.

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Er [Heyne] ist gewiß sehr nützlich gewesen. Aber – ohne dass ich damit etwas Schlimmes meine – er ist das wahre Vorbild aller Philisterei und glänzt auch ordentlich in allen Philistertugenden. Auf Alexander und mich hat er aber viel Einfluß und immer guten gehabt.44 Für Humboldt ist Heyne ein Forscher, der um der Kohärenz seines wissenschaft­li­ chen Systems willen nicht zu einem freieren Umgang mit der Antike gelangte. Die »phi­lo­logische Ernsthaftigkeit« und nicht die bildende Kraft des Altertums be­stimm­ ten seinen Zugang zu den Alten.45 Humboldt setzt Heynes altertumswissenschaftliche Perspektive als »Philisterei« deutlich von seinen eigenen, seit der Studienzeit gewachsenen neuhumanistischen Ideen ab, er respektiert jene aber gleichwohl. Dessen un­geachtet ist für ihn »Philisterei« aber ein konsequent systematisches Vorgehen, und mit dieser Begriffsbestimmung entspricht er Brentanos und Schinkels drastischer Phi­ lis­ter­kritik. Gegen das beharrliche bis verbissene Systematisieren und Analysieren, gegen das Befolgen von Regeln und Gesetzen bis zum Dogma, und schließlich gegen das unkritische Verehren von Kanones und Leitgestalten setzt Schinkel in seinem ge­schichts­ phi­lo­sophischen und ästhetischen Denkmodell die Grenzüberschreitung und die Neu­for­mu­lierung von Regeln. Er spricht sich vehement gegen eine »S c l a v e r e i d e r R e g e l «46 in der Kunst aus, die den Fortschritt behindert. Eine solche »S c l a v e r e i « entsteht, wenn das ästhetische Regelsystem die unbedingt entscheidende Instanz ist. Deshalb dürfen Künstler – vor dem Hintergrund der Bedeutung von Traditionen und Rezeptionen in Kunst und Ästhetik – auch keinesfalls einer »antiquarischen Sucht« anheimfallen, die nichts anderes ist als eine dogmatische Akzeptanz begrenzter Regeln aus vergangenen Zeiten.47 Die Nähe zu Brentanos Charakterisierung des Philisters als Mensch, dessen »geistige Beschränktheit«48 durch keinerlei – weder wissenschaftliche noch religiöse noch geschichtsphilosophische – Erkenntnisinteressen gestört wird, weil er das »Haus seines Lebens […] zugeklebt«49 hat, ist hier offensichtlich. Für den Antikendiskurs um 1800 bedeutet Schinkels Postulat des grenzüber­schrei­ tenden Schaffens die konsequente Fortschreibung der Winckelmann’schen For­derung, die Griechen sich aneignend nachzuahmen und gerade nicht zu kopieren. Dass Schinkel über ein halbes Jahrhundert nach Winckelmanns Gedancken über die Nach44 Wilhelm von Humboldt, An Caroline, Burgörner, 24. April 1822, in: ders., Reife Seelen. Briefe von 1820 –1835, hrsg. von Anna von Sydow, Berlin: Mittler & Sohn 1916 (= Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hrsg. von Anna von Sydow, Bd. 7), S. 111. 45 Humboldt, An Caroline (Anm. 44), S. 111. 46 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 119 (Hervorhebung im Original). Ähnlich über die notwendige Dynamik des Kunstschaffens auch Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 2, S. 210 f. 47 Vgl. Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 154. 48 Arendt, »Brentanos Philister-Rede« (Anm. 35), S. 85. 49 Brentano, »Der Philister« (Anm. 31), S. 983.

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ahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst (1755) sein Denkmodell ausführlich und teilweise durchaus herausfordernd entwickelt, hängt damit zu­sam­men, dass in der Baukunst die Macht der Tradition größer war als in an­de­ ren Kultur­be­reichen, denn ein großer Teil der Architekturtheorie seit der Renaissance sah das zentrale Problem in der Korruption klassischer Prinzipien des Bauens. Da­ ge­gen musste Schinkel ein Modell in Stellung bringen, das den Idealstatus griechi­ scher Existenz bestätigt und zugleich ein unbedingt progressives Element enthält – die »Grenz­überschreitung«, die dem Archäologen und Architekturhistoriker mit der begrenzten Perspektive einer konservierenden oder rekonstruierenden Antikenrezeption nicht möglich ist.50 Nicht zuletzt Schinkels polemische Anmerkungen gegen das Hauptwerk Aloys Hirts, eines prominenten Altertumskundlers im klassisch-romantischen Berlin, do­ku­ men­tieren die Ausrichtung seines Denkmodells. In Schinkels Wahrnehmung huldigt Hirt einem geschlossenen System, in dem die klassische Antike das unhinterfragte Ideal bildet. Hirt verkennt die Bedeutung späterer Kunstepochen und bleibt mit seiner An­tiken­rezeption – wie Schinkel notiert – nur ein »Sklave der Nachahmung«.51 Eine solche Beschränktheit entspricht auch Brentanos Philisterbild, denn für ihn »[ist] ein Philister […] der ausgeborne Feind aller Idee, aller Begeisterung, alles Genies und aller freien [!] göttlichen Schöpfung«.52 Und obwohl Hirt als einer der letzten preußischen Altertumswissenschaftler gel­ ten kann, der danach trachtet, große Entwicklungslinien herauszuarbeiten,53 wur­de er auch schon von einigen Zeitgenossen als deutlich zu dogmatisch empfunden. Cha­ rak­teristisch dafür ist eine Rezension der Schlegels im Athenaeum. Darin werden die Ansichten Hirts über das »Charakteristische«54 in der griechischen Kunst als Tautologien disqualifiziert und absichtlich missverstanden  – was für die zeitgenössischen Leser offensichtlich war. In ihrem Artikel schrecken die Verfasser selbst vor persön-

50 Vgl. dazu besonders Alex Potts, »Schinkel’s Architecural Theory«, in: Michael Snodin (Hrsg.), Karl Friedrich Schinkel. A Universal Man. Published to coincide with the exhibition Karl Friedrich Schinkel: A Universal Man held at The Victoria and Albert Museum London, July 31st to October 27th 1991, London / New Haven, CT: Yale UP 1991, S. 47–55, hier S. 49 u. 51. 51 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28. Die Fokussierung der Philisterkritik auf einzelne Personen ist nicht ungewöhnlich, vgl. für weitere Beispiele (Brentano – Fichte, Nietzsche – Strauß) Arendt, »Brentanos Philister-Rede« (Anm. 35), S. 93. 52 Brentano, »Der Philister« (Anm. 31), S. 967. 53 Vgl. zusammenfassend Adolf Borbein, »Klassische Archäologie in Berlin«, in: Arenhövel (Hrsg.), Berlin und die Antike (Anm. 22), Aufsatzband, S. 99 –150, hier S. 109  f., sowie den Aufsatzband von Claudia Sedlarz (Hrsg.), Aloys Hirt – Archäologe, Historiker, Kunstkenner, Hannover: Wehrhahn 2004. 54 [August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Hofrath Hirt], in: Athenaeum 2.2 (1799). S. 331 f.

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lichen Angriffen nicht zurück. Auch Herder formuliert in einem Brief aus Rom an seine Frau drastisch, Hirt sei und bleibe ein »Kohlstrunk«.55 Etwas differenzierter dokumentiert eine Anmerkung Achim von Arnims, woran sich einige Zeitgenossen rieben, wenn es um Hirt ging: Anfang 1829, als Hirt Vorsitzender der Kommission zur Einrichtung des Neuen – heute: des ›Alten‹ – Museums war, schrieb Arnim an Jacob Grimm, dass Hirts Verhältnis zur Baukunst dem der »gelehrten Juristen« zur praktischen Gesetzgebung gleiche: Beide wollten die praktischen Bedürfnisse nicht kennen, »denn es könnte ihre Verehrung gegen die Anwendbarkeit jener Urweisheit alter Zeit schwächen.« Dagegen – so Arnim anerkennend weiter – sei Schinkel, der als verantwortlicher Architekt zu der Zeit ebenfalls Mitglied der Museums­kommission war, sowohl mit der antiken Baukunst als auch mit der Architektur folgender Zeiten und den Anforderungen der Moderne vertraut.56 Solche Bemerkungen Dritter verdeutlichen, dass es sich bei Schinkels im Folgenden zu analysierenden »Hirt-Polemik«57 nicht um eine Sammlung von Argumenten für einen persönlichen Streit handelt, sondern um Thesen, die in Abgrenzung zu einer herrschenden Lehre der zeitgenössischen Architekturtheorie formuliert wurden. In seinen Notizen geht Schinkel auf ausgewählte Positionen in der programmatischen Vor­rede von Hirts 1809 erschienener Baukunst nach den Grundsätzen der Alten ein und widerlegt sie mit architekturtheoretischen und geschichtsphilosophischen Ar­gu­ men­ten, wodurch ex negativo seine eigene Denkweise ersichtlich wird. Zur Veröffentlichung waren die Anmerkungen vermutlich nicht gedacht gewesen; sie zeigen umso deut­licher Schinkels Kritikpunkte. Dabei sticht zunächst die Rolle der Gotik in der Geschichte der Architektur und ihrer Theorie heraus. Mit der rhetorischen Frage, was die Baukunst »in den finsteren Jahrhunderten des Mittelalters« ausgemacht hat, wird die Bedeutung der mittelalterlichen Architektur von Hirt a priori festgelegt. Referenzpunkt für die Betrachtung der Architekturgeschichte ist bei ihm einzig die klassische Antike. Laut Hirt kann es nach dem Altertum keine vorbildliche Architektur mehr geben, die Qualität mittelalterlicher Bauten ist in keiner Weise mit der der Antike zu vergleichen. Die Frage, die Hirt in seiner Schrift beantworten will, nämlich wann und wo die Vollendung der Baukunst existiert hat, wird hinsichtlich der Antwortmöglichkeiten von vornherein be55 Johann Gottfried Herder, An Karoline Herder, Rom, 7. März 1789, in: ders., Briefe in einem Band, hrsg. von Regine Otto, 2., verb. Aufl. Berlin / Weimar: Aufbau 1983, S. 298. Vgl. auch den Hinweis auf die Unvereinbarkeit der Positionen Hirts und Schlegels in einem Brief Carl Friedrich Zelters, An Goethe, Berlin, Juni 1827, in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hrsg. von Max Hecker, Frankfurt am Main: Insel 1987, Bd. 2, S. 589 f. 56 Achim von Arnim, An Jacob Grimm, Berlin, 21. Januar 1829, in: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, hrsg. von Reinhold Steig, Stuttgart / Berlin: Cotta 1904 (= Achim von Arnim und die ihm nahestanden, hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm, Bd. 3), S. 584. 57 Dieser Titel stammt von Goerd Pescken, der Schinkels Notizen herausgegeben hat. Abgedruckt ist die »Hirt-Polemik« bei Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28 –30.

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schränkt. Nur in der klassischen Antike lässt sich nach Hirts Ansicht ein Ideal finden, das dann aber im Verlauf der Geschichte korrumpiert wurde. Nun gilt es deshalb, an dieses Ideal wieder anzuknüpfen.58 Schinkel setzt dem sein Konzept einer neuen Idee entgegen: Das Mittelalter ist für ihn keineswegs nur eine Stufe im Degenerationsprozess klassischer Baukunst, vielmehr haben sich im Mittelalter der »Anfang einer durchaus neuen Entwickelung« und ein »durchaus neues Princip« gezeigt.59 Auf den Inhalt des »neuen Princips«, den Schinkel in einem wenig später ausgearbeiteten Essay als christlich und der Vergeistigung zustrebend bestimmt,60 wird an der Stelle nicht eingegangen. Im Gegensatz zu Hirt wertet Schinkel um 1810 das Mittelalter nicht als »finstere Jahrhunderte«,61 sondern als eine Blütezeit in der Geschichte, in der – nach der Phase römischen Niedergangs – eine dem klassischen Griechenland ebenbürtige Kunst entstand. In Schinkels Umgebung war die Überzeugung, dass Hirt die Bedeutung des Mit­ tel­alters und besonders der Gotik falsch beurteilt habe, auch noch fast andert­halb Jahr­zehnte nach der Niederschrift der »Hirt-Polemik« virulent. Anlässlich eines Besuchs des Straßburger Münsters auf einer Reise nach Italien 1824 notierte der Architekt: »Kerll fand alles so über seine Erwartung und fiel, ohne dass wir anderen daran dachten, über Hirts Ausspruch, dass dies alles Barbarei sei, so entsetzlich her, dass es eine Lust war.«62 Ganz offensichtlich sympathisiert Schinkel mit der Hirt-Kritik sei­ nes Reisekollegen August Kerll, obwohl er selbst zu der Zeit die architekturhistorische und geschichtsphilosophische Bedeutung des Mittelalters schon deutlich reser­vier­ter bewertet als noch 1810, als er seine kritischen Anmerkungen zu Hirts Baukunst nach den Grundsätzen der Alten verfasst hat. Immer noch aber bildet die Ar­gu­men­ta­tion Hirts einen Ansatzpunkt für dessen Brüskierung, denn im Angesicht eines he­raus­ra­ gen­den Exempels gotischer Baukunst wird Hirts als dogmatisch und verengt emp­fun­ denes Theoriegebäude disqualifiziert. Im Gegensatz zu Hirt tritt Schinkel nicht nur für die ästhetische Bedeutung des Mittelalters ein, sondern er geht von grundsätzlich anderen geschichtsphilosophischen Grundannahmen aus. Für Schinkel entwickeln sich Kunst und Ästhetik als ein Teil der allgemeinen Geschichte stets dynamisch, »[d]ie Geschichte hat nie frühere Geschichte copirt und wenn sie es gethan hat, so zählt ein solcher Act nicht in der Geschichte«.63 Hirt dagegen möchte die Baukunst zu neuen Höhen führen, indem die Korruptionen

58 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28. 59 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28. 60 Vgl. Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 158 f. 61 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28. 62 Vgl. Karl Friedrich Schinkel: Tagebucheintrag, Straßburg, 20. Juli 1824, in: ders., Reisen nach Italien. Tagebücher, Briefe, Zeichnungen, Aquarelle, hrsg. von Gottfried Riemann, Berlin / Weimar: Aufbau 1994, Bd. 2, S. 38. 63 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 149.

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seit der Antike weitgehend rückgängig gemacht werden.64 Das impliziert jedoch, dass die Beschäftigung mit historischer Architektur allein auf Basis eines nicht hinterfragten Ideals erfolgen kann. So verkündet Hirt: »Die Betrachtung, daß die Architektur, die wir betreiben, nicht unsere Erfindung, sondern als ein Erbgut auf uns gekommen ist, überzeugt mich, daß ich vor allem die Geschichte um Rath fragen möchte.«65 Und während Hirt von »Gränzen« spricht,66 an die man im Streben nach einer vollkommenen Architektur stoßen kann, bestreitet Schinkel ausdrücklich die Existenz solcher Grenzen, die auf ein teleologisches Kunstverständnis verweisen. Die Vollendung der Baukunst ist für ihn nicht im Altertum erreicht worden, denn nur in der indefiniten historischen Reihe ist eine solche Vollendung prinzipiell denkbar. Die Frage nach dem historischen Ort einer Vollkommenheit der Architektur dokumentiert an sich schon »höchste Beschränktheit«, notiert daher Schinkel.67 Schinkel setzt Hirt entgegen, dass es um eine der Moderne angemessene Adaption der Antike gehen muss. Eine solche Adaption kann sich aber nicht in einer Anwendung der Regeln erschöpfen, die aus der Baukunst des Altertums abgeleitet werden. Die Bekenntniß, daß wir in der Architectur nicht eigenthümlich sind, sollte uns anregen, die unserer Eigenthümlichkeit entsprechende Architectur zu finden. Wer die Geschichte nur mit den Vorurtheilen der Spätzeit (Jetztzeit?) fragt, wird Sklave [!] der Nachahmung, welches der hohen Bestimmung einer ewigen Fortentwicklung des Menschengeschlechtes höchst unwürdig ist.68

64 Vgl. hierzu Elsa van Wezel, Die Konzeptionen des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewusstsein, Berlin: Mann 2003, S. 49 f. 65 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28. 66 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 29. 67 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28. 68 Peschken, Schinkels Lehrbuch (Anm. 3), S. 28 (Hervorhebung im Original). Mit dem Begriff der »Eigenthümlichkeit« bezeichnet Schinkel hier nicht den nationalen Charakter architektonischer Ent­ wicklung, sondern »eigenthümlich« ist die spezifische Epoche der Moderne innerhalb einer uni­ver­ sal­historischen Progression. Vgl. auch S. 29, wo es kritisch gegen Hirts Thesen heißt: »Damit ist ge­ sagt, die Kunst sey ein abgeschlossenes und von einzelnen Menschlichen Kräften […] in der Zeit zu er­schöpfendes in allen einzelnen Theilen, so daß von nun an von selbst denken nicht mehr die Rede sey, denn alles sey rein vorgearbeitet und man sole nur hinzugreifen. Die einzige Sclavenfreiheit [!], die hierbei noch denkbar wäre, ist ein manigfaltiges Zusammensetzen der schon bearbeiteten Ma­te­ ria­lien. Da aber jedes durch Menschen abgeschlossenes ein Endliches ist, so würde diese Zusammensetzung auch einmal ein Ende erreichen und nun ginge ein förmlicher Kreistanz an.« Und weiter, S. 29 f.: »Dasselbe Gebäude der Alten kann nicht für uns passen. Und man kann den tiefsten Geist der Alten nicht schlechter verstehn und wird dasjenige Theil des Alterthums, welches das ewige in sich trägt niemals einführen können in unsere Verhältnisse, wenn man zur gemeinen Nachahmung sich entschließt. Es ist ganz andres Ding das Nachahmen und der verflössen und ver… des Princips der Alten in die eigenthümlichen Principien der neuen Zeit ein.«

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Ohne dass der Begriff hier noch einmal auftaucht, wendet Schinkel seine De­fin ­ i­tion des Philisters, wonach die kompromisslose Unterordnung jeder Eigentümlichkeit un­ter ein allgemeines Prinzip die »Philisterei« ausmacht, implizit auf die historische und geschichtsphilosophische Dimension des Hirt’schen Denkmodells an. Hirt wird aus der Perspektive von Schinkels Ideengebäude, das auf stetiger Progression basiert, zum ›geschichtsphilosophischen Hemmschuh‹. Der nur exegetische und nie radikalkreative Umgang mit der Vergangenheit wird im Kontext der »Hirt-Polemik« sogar als anthropologische »Unwürdigkeit« apostrophiert und die antiphiliströse Grenzüberschreitung in der Kunst zur unbedingten Aufgabe des Architekten erhoben. Ein unbedingtes Festhalten an überkommenen ästhetischen Regeln und eine Präferenz für die »Imitation« hatte – für den Bereich der Literatur – auch Brentano in seiner Philisterabhandlung als untrügliches Kennzeichen des Philisters ausgemacht.69

Frankreich, Deutschland, Hellas –   Kollektive Philister und das antiphiliströse »Urvolk« Schon das letztgenannte Zitat, in dem von der »Jetztzeit« und dem »Menschengeschlecht« die Rede ist, deutet an, dass sich Schinkels Gegenwartskritik nicht nur gegen einzelne Protagonisten des zeitgenössischen ästhetischen Diskurses richtet. Viel­ mehr kann aus Schinkels geschichtsphilosophischer Perspektive »Philisterei« auch ganze Nationen und Epochen umschreiben. In diesem Zusammenhang wird der Kon­ trast zwischen einem Verhalten, das der Definition der »Philisterei« entspricht, und einem genuin kreativen Schaffen zudem eminent politisch aufgeladen, denn die Nähe einzelner Nationen zur »Philisterei« bestimmt ihre geschichtsphilosophische Position und Wertigkeit.70 Anhand von Schinkels eigenen Erläuterungen zu zwei architektonischen Pro­jek­ten aus unterschiedlichen Schaffensepochen lässt sich nachzeichnen, wie in seinem Den­ken die Zuschreibung der »Philisterei« auf der kollektiven Ebene funktioniert. Mitte der 1830er Jahre entwarf Schinkel einen Palast für den ersten neugriechischen König Otto, der – nach dem erfolgreichen Kampf der Griechen gegen die osmanische Be­satzung – in einer Residenz auf der Akropolis residieren sollte. Schinkels Entwurf wurde nicht realisiert; die Akropolis wurde nicht Bauplatz für einen Fürstensitz, sondern am Ende

69 Brentano, »Der Philister« (Anm. 31), S. 984. 70 Zum Philister als Hypostase einer überlegenen deutschen (Kultur‑)Nation nach der Reichs­grün­ dung 1871 vgl. Arendt, »Brentanos Philister-Rede« (Anm. 35), hier bes. S. 98; zu unterschiedlichen Richtungen der Philisterkritik in Hinblick auf Deutschland und Frankreich bei Brentano, Heine und Eichendorff siehe Ulla Hofstaetter, »›Das verschimmelte Philisterland‹. Philisterkritik bei Brentano, Eichendorff und Heine«, in: Burghard Dedner und U. H. (Hrsg.), Romantik im Vormärz, Marburg: Hitzeroth 1992, S. 107–127.

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wurde der Plan eines anderen Architekten verwirklicht und das Schloss in der Unterstadt errichtet.71 Schinkel begründet sein Konzept eines Palastes auf der Akropolis in Briefen und Erläuterungen ästhetisch und geschichtsphilosophisch. Ihm geht es bei seinem Ent­ wurf um eine kreative Weiterentwicklung des Vorhandenen – das Griechische soll in sei­ner Einzigartigkeit gewürdigt werden und Neues soll das Alte nicht kopieren, son­ dern unter den Bedingungen der Moderne fortschreiben. In Schinkels eigenen Wor­ ten, die einem 1834 entstandenen Brief an den bayerischen Kronprinzen Maximilian – den Bruder des griechischen Kronprätendenten Otto – entnommen sind, liest sich das wie folgt: Es folgt hieraus schon von selbst, daß das Streben nach dem Ideal sich in jeder Zeit nach den neueintretenden Anforderungen richten wird […] und daß, um ein wahrhaft historisches Werk hervorzubringen, nicht vergangenes und abgeschlossenes Historisches zu wiederholen ist, […] sondern ein solches Neue geschaffen werden muß, welches im Stande ist eine wirkliche Fortsetzung der Geschichte zu bilden und weiter zuzulassen.72 Schinkel fordert weiterhin das »Festhalten der geistigen Principien altgriechischer Bau­ kunst«, um diese dann »auf die Bedingungen unserer neuen Weltperiode [zu] er­wei­ tern.« In Hinsicht auf das konkrete Projekt der Palastanlage in Athen heißt dies, dass die Akropolis  – »als einer der leuchtendsten Punkte der Weltgeschichte«  – »für die Geschichte der folgenden Zeit wiederbelebt« werden muss.73 Das »Wiederbeleben« und das »Schaffen von Neuem« im Bewusstsein des Alten kennzeichnet für Schinkel eine freiheitliche Architektur, die eben nicht in dogmati­ schen Regeln befangen ist. Genau deshalb gilt es, die als restriktiv empfundenen fran­ zösischen und italienischen Vorbilder zu überwinden. Schinkel spricht von

71 Zum Plan siehe Karl Friedrich Schinkel, Ausland. Bauten und Entwürfe, hrsg. von Margarete Kühn, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 1989 (= Karl Friedrich Schinkel-Lebenswerk, hrsg. von Helmut Börsch-Supan und Gottfried Riemann, Bd. 15), S. 3 – 45; Gottfried Riemann, Kat.-Nr. 637– 640, in: Karl Friedrich Schinkel. 1781–1841 (Anm. 16), S. 353 –358; Rolf Bothe, »Antikenrezeption in Bauten und Entwürfen Berliner Architekten zwischen 1790 und 1870«, in: Arenhövel (Hrsg.), Berlin und die Antike (Anm. 22), S. 294 –333, hier S. 322 –324. Siehe außerdem Margarete Kühn, »Als die Akropolis aufhörte Festung zu sein. Stimmen der Zeit zur Frage der Errichtung neuer Bauten auf der Akropolis und zur Erhaltung ihrer nachantiken Monumente«, in: Detlef Heikamp (Hrsg.), Schlösser, Gärten, Berlin. Festschrift für Martin Sperlich zum 60. Geburtstag 1979, Tübingen: Wasmuth 1980, S. 83 –106; Rand Carter, »Karl Friedrich Schinkel’s Project for a Royal Palace on the Acropolis«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 38 (1979), S. 34 – 46. 72 Schinkel, An Kronprinz Maximilian von Bayern, Berlin, 24. Januar 1833, in: ders., Ausland (Anm. 71), S. 4. 73 Schinkel, An Kronprinz Maximilian von Bayern (Anm. 72), S. 4 f.

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den lange abgenutzten neuitalienischen und neufranzösischen Maximen […], worin besonders ein Mißverstand in dem Begriff von Symmetrie so viel Heuchelei und Langeweil erzeugt hat und eine ertödtende Herrschaft errang.74 Die Wendung gegen die romanischen Länder ist hier ästhetisch bestimmt; nicht die historisch-kulturellen Eigenheiten Frankreichs oder Italiens werden angegriffen, son­ dern ein Kunstverständnis, das als »Maxime« auch in Deutschland herrschend war. In dem Brief an den bayerischen Kronprinzen setzt Schinkel seine Antikerezeption als lebendig von einer klassizistischen Kunsttheorie ab, die als dogmatisch und letztendlich tot und leer begriffen wird – und die ihre bedeutendsten Vertreter Schinkel zufolge in Paris hat. Dieser Hinweis Schinkels lässt sich zwar noch als ›klassische Klassizismus­kritik‹ oder etwas verspätete ›à la mode‹-Rüge lesen, doch zwei Dinge fallen hier auf. Zum einen ordnet Schinkel seine kritischen Bemerkungen welthistorisch beziehungsweise geschichtsphilosophisch ein. Es geht ihm um nichts weniger als um die Gestaltung der »neuen Weltperiode« und die selektive, gleichwohl kreative, Anknüpfung an die »Weltgeschichte«. Außerdem wird die Absetzung von den als »Heuchelei«, »Langeweile« und »ertötend« kritisierten Charakteristika klassizistischer Architektur ausdrücklich mit Frankreich und Italien verbunden. Die Orientierung an diesen beiden Nationen erscheint als Manifestation eines statisch-unkreativen Umgangs mit der Vergangenheit – und dies entspricht der oben angeführten »Philisterei«-Definition Schinkels.75 Trotz der offensiven Wendung gegen den Klassizismus bewegt sich Schinkels Kritik in den Bahnen der Griechenbegeisterung des Deutschen Idealismus. Den Deutschen wurde dabei eine besondere Rolle zugemessen, denn allein ihnen wurde die Möglichkeit attestiert, als Nation das Griechentum – das seit Winckelmann als ›eigentliche Antike‹ von der ›römischen Kopie‹ unterschieden worden war – vollständig zu erfassen, indem sie es eben nicht dogmatisch nachahmten, sondern kreativ fortentwickelten. Paradigmatisch für das Selbstbild der Deutschen als ›neue Griechen‹ ist die folgende Behauptung Wilhelm von Humboldts: Die Deutschen besitzen das unstreitige Verdienst, die Griechische Bildung zuerst treu aufgefasst, und tief gefühlt zu haben […]. Andre Nationen sind hierin nie gleich glücklich gewesen […]. Deutsche knüpft daher seitdem ein ungleich festeres und engeres Band an die Griechen, als an irgend eine andere, auch bei weitem näher liegende Zeit oder Nation.76 74 Schinkel, An Kronprinz Maximilian von Bayern (Anm. 72), S. 4. 75 Siehe S. 321  f. 76 Wilhelm von Humboldt, »Geschichte des Verfalls und Untergangs der griechischen Freistaaten«, in: ders., Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus

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Humboldt räumt zwar auch den Franzosen die Übernahme gewisser griechischer Ei­ gen­schaften ein, doch diese entsprechen dem Bild einer eigentlich nur in der »Form« ihrer Kunst hochstehenden Nation.77 Ähnliches gilt für die neuzeitlichen »Italiäner«. Nur den Deutschen aber gesteht Humboldt zu, das Griechentum richtig und voll­stän­ dig aufgefasst zu haben.78 Diesem genuin idealistischen Denkmodell entspricht Schinkels Idee des Grie­ chen­tums und seiner Bedeutung für die Gegenwart. Während die ästhetischen »Maxi­ men« in der klassizistischen Ästhetik seiner Gegenwart ein Ausdruck des dog­ma­ti­ schen Umgangs mit dem Altertum sind und gleichsam die künstlerische Engstirnig­keit der französischen und italienischen Nation dokumentieren, ruft Schinkel die Deut­ schen auf, die Antike in allgemein-universalhistorischer Absicht weiterzuentwickeln. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund ist es dann für ihn nicht nur un­pro­ble­ matisch, sondern vielmehr geboten, die Akropolis nicht als archäologisches Denkmal zu konservieren. Schinkel möchte daher die historischen Bauten auf dem Burghügel durch moderne Palastgebäude ergänzen. Nur auf die Weise würde »eine wirkliche Fortsetzung der Geschichte«79 erreicht. Geschichtsphilosophisch und programmatisch noch deutlicher in seiner Kritik an einer als statisch und dogmatisch empfundenen Kunst und Ästhetik ist ein Text, der ein knappes Vierteljahrhundert zuvor entstand. Es handelt sich um einen Essay, der ei­nen Architekturentwurf Schinkels auf der Berliner Akademieausstellung 1810 be­glei­ tete. Dort präsentierte Schinkel in Form zweier Aquarelle seine Idee eines Mauso­le­ ums für die kurz zuvor jung verstorbene und von der Bevölkerung verehrte preußi­ sche Königin Luise.80 Indem die programmatischen Schlusspassagen des Essays im

Giel, 4. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986 (= Werke in fünf Bänden, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 2), S. 73 –124, hier S. 87. Vgl. auch S. 120 –122. 77 »Jene [die Franzosen] haben von ihnen [den Griechen] die Reizbarkeit, Beweglichkeit und das Dringen auf eine (nur bei ihnen bestimmte, fast conventionelle) Form« (Wilhelm von Humboldt, »Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum«, in: ders., Schriften zur Altertumskunde [Anm. 76], S. 25 – 6 4, hier S. 55). 78 Humboldt, »Latium und Hellas« (Anm. 77), S. 55. 79 Vgl. Schinkel, An Kronprinz Maximilian von Bayern (Anm. 72), S. 4. 80 Der Text findet sich in Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 153 –162. Dazu siehe Gottfried Riemann, Kat.-Nr.  103 –105, in: Karl Friedrich Schinkel. 1781–1841 (Anm. 16), S. 55 –57; Joachim Gaus, »Schinkels Entwurf zum Luisenmausoleum«, in: Aachener Kunstblätter 41 (1971), S. 254 –263; Georg Friedrich Koch, »Schinkels architektonische Entwürfe im gotischen Stil 1810 –1815«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 32 (1969), S. 262 –316, hier S. 262 –267; William Douglas Robson-Scott, The Literary Background of the Gothic Revival in Germany. A Chapter in the History of Taste, Oxford: Clarendon Press 1965, S. 233 –236; Andreas Haus, »Gedanken über Karl Friedrich Schinkels Einstellung zur Gotik«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 22 (1989), S. 215 –231, hier S. 215 –217. Zum Kontext der Akademieausstellung 1810 siehe Theodore Ziolkowski, Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 110 –139.

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Ausstellungs­katalog abgedruckt wurden, erreichten Schinkels Ansichten einen Großteil der Eliten im klassisch-romantischen Berlin. In Schinkels Bemerkungen geht es auch um den eigentlichen Bauentwurf – mehr Raum nimmt aber eine geschichtsphilosophische Begründung ein. Die Architekturbeschreibung wird erklärtermaßen zu einem Manifest, das besonders an diejenigen ge­richtet ist, »die das Gebrechen der Zeit fühlend, selbst schon weiter hinaus gedacht oder wenigstens geahnt haben«,81 denn ihnen ist nichts weniger aufgegeben, als sich von der einseitigen Fixierung auf ästhetische und historische Dogmen endlich zu ver­ ab­schieden. Gelingen kann dies allein den Deutschen. Sie ermahnt Schinkel, sich nicht länger den »fremden Einflüssen« hinzugeben, de­nen sie seit Jahrhunderten unkritisch gefolgt seien,82 denn dadurch sind sie zu einem Kollektiv engstirniger Dogmatiker geworden. Mit der unreflektierten Übernahme einer klassizistischen Ästhetik haben sie – legt man Schinkels Definition von »Philisterei« zugrunde – eine »für jedermann passende Nützlichkeit zum Princip erhoben und zu allgemeiner Anwendbarkeit befördert«. Sich selbst haben sie auf die Weise »die Mannigfaltigkeit geraubt« und sich als Nation einem »Uniformenwesen« gleichsam ausgeliefert.83 Es kann den Deutschen aber gelingen, diesen Zustand zu überwinden, sich der Kreativität und nationalen Eigenheit zu besinnen und auf die Weise wieder als schöp­ fe­rische Kraft in die Weltgeschichte einzutreten. In der Vergangenheit ist es den Deut­ schen schon einmal geglückt, in der Kunst des Mittelalters eine neue »Idee« – die des Christentums, das von Schinkel hier nicht religiös, sondern geschichtsphilo­sophisch und ästhetisch verstanden wird  – zu realisieren. Diese für die gesamte Kunst- und Kulturentwicklung bedeutsame Rolle konnten für Schinkel die Deutschen ein­nehmen, weil sie als »Urvolk« über eine nationale Genialität verfügen, die sie maßgeblich von anderen Nationen unterscheidet. Im Essay zum Luisenmausoleumsentwurf heißt es über die Deutschen und ihre Rolle in der Menschheitsgeschichte: Aber die durchaus Neues schaffende und die gesammte Menschheit auf eine ganz andere Stufe setzende Idee des Christenthums […] bemächtigte sich [im Mittelalter] endlich eines wahren Urvolks, der Deutschen […].84 Allein die Deutschen konnten nach der ›toten Epoche‹ der römischen Kopien grie­ chi­scher Kunst die Menschheitsgeschichte vorantreiben, weil sie – anders als andere

81 Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 153. Schinkel verweist hier auf sein Projekt eines umfassenden architektonischen Lehrbuchs. 82 Vgl. Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 159. 83 Vgl. Schinkel, Briefe, Tagebücher, Gedanken (Anm. 34), S. 197 f. 84 Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 157.

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Nationen85 – genuin Neues schaffen konnten. Was Schinkel in Bezug auf den vor­bild­ lichen Künstler festhält, der jeglicher »Philisterei« eine Absage erteilt und statt­dessen Grenzen überschreitet und neue Ideen formt, schreibt er hier dem deutschen »Urvolk« zu. Auch in der Gegenwart müssen sich die Deutschen ihrer »selbst­schöpferi­ schen Kraft wieder vollauf bewußt […] werden«86 und gleichsam als geschichtsphilosophische Avantgarde den nur exegetischen Umgang mit dem Erbe des Altertums be­enden. Essentiell ist dabei der Rückbezug auf die eigene Vergangenheit und die Ab­sage an ästhetische und geschichtsphilosophische Modelle, die ein nur vermeintlich objektives Ideal präsentieren, tatsächlich aber bloß ein unreflektiert-dogmatisches Nach­ahmen bezeugen und zu einem »Uniformenwesen« führen.87 In dieser offensiven Propagierung des geschichtlich Eigenen gegen das nur übernommene Fremde ähnelt Schinkels Argumentation, die im Herbst 1810 der Berliner Öffentlichkeit präsentiert wurde, der im März des folgenden Jahres in der Christlichdeutschen Tischgesellschaft vorgetragenen Philisterabhandlung Brentanos. Dort wird der Philister als jemand charakterisiert, der die deutschen »alten Volksfeste und Sagen verachtet«88 und – trotz ständigen undifferenzierten »Schwätzens« über die »Deutschheit« – davon überzeugt ist, »die Deutschen seien kein herrliches Volk, sie müßten von den Franzosen [!] gebildet werden.«89 Auch der von Schinkel verwendete Begriff des »Urvolks« dokumentiert die An­bin­ dung seines kulturkritischen Denkmodells an zeitgenössische Diskurse, denn Fichte liefert schon 1807  /  08 in der siebten seiner Reden an die deutsche Nation folgende De­ finition des »Urvolks«:90 Alle, die entweder selbst, schöpferisch, und hervorbringend das Neue, leben, oder, die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens entschieden fallen lassen […]: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlecht-

85 Hierzu schreibt Schinkel: »Oft leben ganze Nationen nur noch dadurch fort, daß ihre Vorfahren schöne Kunst hatten. […] Aber sobald ein Stillstand zum Princip geworden ist[,] wird man dennoch bald das innere Absterben empfinden u wenigstens gewiß, sobald einmal eine besondere Kraftäußerung durch die Umstände verlangt wird. Die neuere Geschichte hat von solchen Ereignissen u vom Gegentheil die kräftigsten Beispiele geliefert« (Peschken, Schinkels Lehrbuch [Anm. 3], S. 27 f.). 86 Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 159. 87 Schinkel, Briefe, Tagebücher, Gedanken (Anm. 34), S. 198. 88 Vgl. Brentano, »Der Philister« (Anm. 31), S. 998. 89 Brentano, »Der Philister« (Anm. 31), S. 991. 90 Es ist davon auszugehen, dass Schinkel Fichtes Reden hörte, weil zeitgenössische Biografien dies berichten, weil sich Nachschriften anderer Fichte-Vorlesungen in Schinkels Nachlass finden und weil auch Brentano mehrfach auf die Bedeutung von Fichtes Ideen für Schinkels Denken hinweist. Vgl. dazu die Literaturangaben oben, Anm. 2 und Anm. 29.

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weg, Deutsche. Alle, die sich darein ergeben ein Zweites zu sein, und Abgestammtes, […] sind […] ein vom Felsen zurücktönender Nachhall einer schon verstummten Stimme, sie sind, als Volk betrachtet, außerhalb des Urvolks, und für dasselbe Fremde, und Ausländer.91 Fichte definiert das Urvolk in geschichtsphilosophischer Absicht. Für ihn ist die deut­ sche Nation ein Urvolk; sie zeichnet aus, dass sie »selbst lebt«, indem sie »schöpferisch« ist und »Neues hervorbringt«. Nationen aber, die nur »Angestammtes« weitergeben – das ist nicht biologistisch-rassisch zu verstehen, sondern kulturell – sind in Fichtes Ar­ gu­mentation kein Urvolk. Eine solche Argumentation stimmt mit Schinkels Denkmodell überein, denn auch dieser sieht die Deutschen als die progressive Kraft bei der weiteren universal­his­to­ rischen Entwicklung. Sie setzen sich in seinen Augen von »ertödtenden«92 Maximen ab und verfügen über einen »Freiheitssinn« und über »selbstschöpferische Kraft«.93 Daher ist es ihnen in der Gegenwart aufgegeben, im Zeichen einer ›wahren‹ Antiken- und Mittelalterrezeption das Projekt einer ganzheitlichen und nachhaltig progressiven Umgestaltung der Welt zu realisieren. Ein solches Vorhaben kann aber nur gelingen, wenn die Nation keinesfalls eine »universelle Nützlichkeit« zum Prinzip erhebt und sich so einem »Uniformenwesen« ausliefert, denn das wäre nichts anderes als »Philisterei« auf der kollektiven Ebene.94 Als wahrhaft selbstbewusstes »Urvolk« dagegen würden sie die Welt vorantreiben, wie sie es als Anhänger einer kosmopolitischen und daher unpassenden Ästhetik nie könnten. Wie wichtig für den Philisterdiskurs die Idee des kollektiven Selbstbewusstseins – das Schinkel dringend bei den Deutschen anmahnt – ist, belegen abschließend zwei Anmerkungen aus Brentanos »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, die sich dort nicht auf die nationale, sondern auf die ethnische beziehungsweise soziale Ebene beziehen. Der »Mohr«, so heißt es dort, ist so lange kein Philister, wie er Mohr bleibt. Sobald er aber zum »Kammermohren« mutiert und auf die Kutsche springt, wird er zum »leibhaftigen Philister«. Gleiches gilt für den »reinen rohen Bauern«, der seine Existenz hinter sich lässt, denn damit betritt er die »Philister-Treppe«.95 Nicht nur bei Brentano, sondern auch bei Schinkel macht das Fehlen von Ori­ ginalität und Authentizität den Philister aus. Schinkels Rückgriff auf die Philister­ semantik dokumentiert darüber hinaus in exemplarischer Weise, wie sich im Archi­ tektur­diskurs um 1800 die Kritik an zeitgenössischer Antikenrezeption, idealistische

91 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, 5., durchges. Aufl. nach d. Erstdr. von 1808, Hamburg: Meiner 1978, S. 121. 92 Schinkel, An Kronprinz Maximilian von Bayern (Anm. 72), S. 4. 93 Schinkel’s Nachlaß (Anm. 2), Bd. 3, S. 159. 94 Vgl. Schinkel, Briefe, Tagebücher, Gedanken (Anm. 34), S. 197 f. 95 Brentano, »Der Philister« (Anm. 31), S. 1013.

336 Geschichtsphilosophie und nationalkulturelle Sinnstiftungsprojekte überlagern. Das persönlich und national anwendbare Negativbild der »Philisterei« dient dabei zur Fun­ dierung ex negativo eines ausdrücklich zukunftsgerichteten Programms, das nicht nur die Architektur, sondern in letzter Konsequenz das gesamte soziale und in­di­viduelle Leben umfassen soll.

Matthias Buschmeier

Der Philister als literaturgeschichtliche Reflexionsfigur Eichendorffs »Krieg den Philistern!« als Abgesang der Romantik

Nach Clemens Brentanos 1811 entstandener Philisterabhandlung Der Philister vor, in und nach der Geschichte bietet das Theater der sozialen Existenz des Philisters eine Heimat. Ist er eigentlich recht gern gemütlich bei Pfeife und Bier zu Hause, so ist das Theater die Institution, die ihm Öffentlichkeit behaglich macht und es ihm gestattet, sich während der theatralen Illusion von seiner beschränkten Existenz zu beurlauben und sie doch nicht verlassen zu müssen. Im Theater ist der Philister eine soziale Figur. Gerade diese Öffentlichkeit aber richtet das Theater und seine Schauspieler zugrunde. Kann nämlich der Philister bei Brentano qua Definition kein eigentliches Kunstverständnis aufbringen, begnügt er sich also stets mit ästhetischem Mittelmaß, so müssen das Theater und seine Schauspieler, die auf die finanzielle Zuwendung und moralische Zustimmung ihres philiströsen Publikums angewiesen sind, letztlich selbst philiströs werden. Auch in Bezug auf das Theater fungiert ›Philister‹ daher als Begriff zur Unterscheidung wahrer von unwahrer Existenz, echter Kunst von schlechtem Handwerk. Brentanos Philisterkritik beerbt die Dilettantismus-Kritik Goethes und Schillers.1 Der Philister wie der Dilettant hat gleichermaßen Sinn für den geselligen Kunstgenuss und doch keinen Begriff von wahrer Kunst. Die Mängelliste des Dilettanten, wie sie sich in Goethes und Schillers Schema ›Über den Dilettantismus‹ von 1799 findet, könnte auch auf den Philister übertragen werden: Flachheit, Gedankenleerheit, falsche Kennerschaft, Mittelmäßigkeit, Pedantismus, Patriotismus.2 Bei Brentano heißt es:

1 Darauf hat Frühwald aufmerksam gemacht: Wolfgang Frühwald, »Der Philister als Dilettant. Zu den satirischen Texten Joseph von Eichendorffs«, in: Aurora 36 (1976), S. 7–26. 2 Johann Wolfgang von Goethe, »[Über den Dilettantismus]. Allgemeines Schema«, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 54 (1. Abt., Bd. 47), München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 299 –317, hier S. 300 f.

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Alle Künste leiden mehr oder weniger unter dem Druck der Philisterei, je nachdem sie mehr oder weniger ihrer Natur nach in ihrer Ausübung einsam oder gesellig sein können. Die Malerei, die Musik, die Dichtkunst können von einsamer Begeisterung getrieben werden und können sich in einzelnen Berufenen von neuem an dem Lichte des Himmels entzünden, und solche wandelnde Geister begrüßen uns ja oft mit strahlendem Antlitz aus dem Getümmel des Marktes selbst heraus, wenn wir die Philistermütze nicht zu tief über die Augen gezogen; alle Künste aber, welche ihrer Natur nach gesellige sind, müssen notwendig mehr als jene mit der Geschichte der Menschen erkranken und genesen.3 Damit baut Brentano in seine Satire freilich nur ein, was als gängige Kritik selbst längst auf dem Theater formuliert wurde, man denke etwa an das »Vorspiel auf dem Theater« in Goethes Faust von 1807, vor allem aber an die romantischen Komödien Tiecks in den späten 1790er Jahren. Sei es in Der Gestiefelte Kater, in Verkehrte Welt oder im »Prinz Zerbino«: immer werden im Medium der Komödie die dramatischen Pro­duk­tionsund Rezeptionszwänge thematisiert und das philiströse Publikum selbst auf die Bühne geholt und der satirischen Kritik ausgesetzt.4 Dass vor allem der Humor, selbst der albernste, sich zur Philisterkritik eignet, hat vor allem damit zu tun, dass der Philister selbst keinen hat. Goethe vermutete, dass der deutsche Philister das Grotesk-Alberne nicht schätze, weil er es immer auf Empfindsamkeit oder Vernunft zurückzuführen versuche, anstatt sich ihm ganz hinzugeben. An Schiller schreibt er am 31. Januar 1798 über die Verbindung von Albernheit und Poesie: »Es geschieht dieses allein durch den Humor, denn dieser, selbst ohne poetisch zu seyn, ist eine Art von Poesie und erhebt uns seiner Natur nach über den Gegenstand. Dafür hat der Deutsche so selten Sinn, weil ihn seine Philisterhaftigkeit jede Albernheit nur ästimiren läßt, die einen Schein von Empfindung oder Menschenverstand vor sich trägt.«5 Aus dieser Perspektive erscheint es zunächst keineswegs ungewöhnlich, dass Joseph von Eichendorff noch 1824 in seinem dramatischen Erstling »Krieg den Philistern!« das Theater als Ort und die Komödie als Gattung einer großen Philisterkritik wählte. Schon der Titel legt nahe, dass ›Philister‹ – ganz in romantischer Semantik – als Begriff zur Abgrenzung der poetisch veranlagten Menschen, der ›Poetischen‹, wie es bei Eichen3 Clemens Brentano, Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung, Zürich: Manesse 1988, S. 64. 4 »Am stärksten findet sich das Philistertum bezeichnenderweise im Theater ausgeprägt […]. Da­ rum übrigens die Dominanz des Literarischen in der romantischen Satire, nicht nur bei Brentano, weil es als der prägnanteste Ausdruck des Zeitgeistes gilt« (Jürgen Brummack, »Komödie und Satire der Romantik«, in: Karl Robert Mandelkow und Klaus von See [Hrsg.], Europäische Romantik 1, Wiesbaden: Akademische Verlags-Gesellschaft Athenaion 1982, S. 273 –289, hier S. 285). 5 Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Briefe. 1798 (= Goethes Werke [Anm. 2], Bd. 106 [4. Abt., Bd. 13]), S. 50.

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dorff in Anlehnung an Tieck heißt, gegenüber den Prosaisten dieser Welt fungiert. Wird bei Brentano die frühromantische Vereinigungsphantasie aller gesellschaftlichsozialen Brüche und Unterschiede in eine Oppositionsstruktur überführt, die wahre und falsche Existenz klar benennt, wenngleich die personale Zuordnung nicht immer eindeutig erfolgen kann, zugleich aber auch nicht mehr an einer Aufhebung dieser Un­ ter­scheidung, an eine ›Poetisierung der Welt‹ (Novalis) geglaubt werden kann, dann ist es nur konsequent, das bilaterale Verhältnis als ›Kriegszustand‹ zu charakterisieren. Dazu passte denn auch, dass Eichendorff auf die seit Tieck bekannten und etablierten For­men romantischer Ironie im Drama zurückgreift. Zu lesen wäre Eichendorffs Stück dann als eine weitere Variante romantischer Komödien, in denen die andernorts peripher anzutreffende Philisterkritik zentral wird. Ich möchte im Folgenden eine andere Lesart vorschlagen. »Krieg den Philistern!«, so die These, macht sich die romantische Tradition zunutze, stellt sich aber nicht mehr in sie ein. Die romantische Form wird vielmehr selbst zum Gegenstand pa­ro­dis­ti­scher Kritik. Die Elemente des romantischen Dramas werden nicht allein dazu ge­nutzt, die  Philister gegen die Poetischen auszuspielen und bloßzustellen. Die se­man­tische Gren­ze, die der Philisterbegriff markiert, wird vielmehr aufgelöst, wenn auch um sie spä­ter  un­ter anderen Vorzeichen wieder nutzen zu können.6 In »Krieg den Philistern!« ist eine klare parteiische Zuordnung nicht mehr möglich:7 Die Poetischen offen­ba­ren sich, das erkennt jeder aufmerksame Leser rasch, als ähnlich philiströs wie die Phi­ lis­ter, gegen die sie zu Felde ziehen.8 Anders als bei Tieck, der vornehmlich mora­li­ sie­rende Aufklärungsliteratur und empfindsame Rührstücke im parodistischen Visier hatte, wer­den bei Eichendorff die romantischen Epigonen bekriegt. Die romantische 6 Eine Typologie der romantischen Philistersemantik bietet Lothar Pikulik, Romantik als Un­ge­nü­ gen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 141–147. 7 Dies ist zum Allgemeinplatz in der Forschung geworden, hier nur ein Beispiel: »Wenn man Krieg den Philistern näher untersucht, stößt man ziemlich schnell auf den Umstand, daß sowohl die angegriffene, als auch die angreifende altdeutsch-literarische Partei philiströse Züge hat, daß auch sie nicht als romantische Personifikation angeboten wird. Tatsächlich kämpfen hier Philister gegen­ein­ ander und die romantische Partei ist nur schwer auszumachen« (Cornelia Nolte, Symbol und his­to­ rische Wahrheit. Eichendorffs satirische und dramatische Schriften im Zusammenhang mit dem sozialen und kulturellen Leben seiner Zeit, Paderborn: Schöningh 1986, S. 25). 8 Brummack sieht im Philister weniger eine konkrete Sozialfigur, die anhand bestimmter Attri­ bute zu identifizieren sei; der Philister verrate sich vielmehr durch seine Attitüde. »Daraus folgt aber, daß es eigentlich keine äußeren Anzeichen für das Philisterum gibt, da es nicht auf Meinungen oder Stellungen in der Welt ankommt, sondern auf die Art, wie man sie im Leben vertritt; keine Position schützt vor Philistertum. Es ist zwar meist die ›Aufklärung‹, die als philisterhaft gilt, der Utilitarismus, Rationalismus, Konventionalismus des sich selbst für aufgeklärt haltenden Bürgers; aber die Gegenposition der Poesie ist, wenn sie als Poesie gesetzt wird, nicht weniger philistrisch« (Brummack, »Komödie und Satire der Romantik« [Anm. 4], S. 284). Ähnlich auch bereits Alfred Riemen, »Die reaktionären Revolutionäre? oder [!] romantischer Antikapitalismus?«, in: Aurora 33 (1973), S. 77–86, hier S. 81.

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Form, in der dies geschieht, weist, so mein Vorschlag, auf die philiströse Keimzelle dieses Epigonentums hin: Es ist die Romantik Tiecks selbst. »Krieg den Philistern!« entwirft im Philister eine Reflexionsfigur, die in Eichendorffs späteren literaturhistorischen Schriften beständig wiederkehrt. Das Ende der Ro­man­tik resultiert aus ihrer unwahrhaften, ästhetizistischen Form, die nur Spiel bleibt und der selbst die Religion nur Mittel zum ästhetischen Zweck ist. Eine solche un­wahre, uneigentliche Existenz offenbart, was des romantischen Pudels Kern für Eichen­dorff ist: ein Philister. Und so tritt auf einer zweiten Ebene der Philister erneut als Differenzierungs- und Diffamierungsbegriff auf: im Rahmen der Kritik ei­ ner un­wahr­haften, protestantisch-philiströsen und der Affirmation einer aufrichtig katholisch-poetischen Romantik. Diese These wird im Folgenden in drei Argumentationsschritten entfaltet. Zuerst werde ich die konkreten satirischen Angriffe des Stücks rekonstruieren, ohne alle Anspielungen auch nur annähernd erfassen zu können, was angesichts der guten Kom­ men­tar­lage auch unnötig ist (I). Zweitens werde ich ebenfalls exemplarisch die ro­ man­ti­sche Form des Stücks beschreiben (II). Abschließend wird die heraus­ge­ar­bei­tete Reflexionsfigur mit den literaturhistorischen Arbeiten Eichendorffs abgeglichen, um zu zeigen, dass der Philister bei Eichendorff keineswegs allein eine literatur­geschicht­ liche Reflexionsfigur bleibt, sondern vermittels ihrer geschichtlichen Deutungspotenz auch wieder zu einer Sozialfigur wird (III).

I. In der (überschaubaren) Forschung zu »Krieg den Philistern!« wird das Stück meist als »Literatursatire« oder »satirische Komödie« bezeichnet.9 Dabei bleibt offen, ob es sich um eine Satire über Literatur oder um eine literarische Satire handeln soll. Diese Offenheit ist insofern treffend, als ja in der Tat in einer literarischen Satire literarische Texte und Strömungen parodiert und satirisch angegriffen werden – zum Beispiel in den oben genannten Stücken Tiecks. Darüber hinaus sind schon diese angegriffenen Texte selbst eine Satire des zeitgenössischen Theaterbetriebes  – so wie auch »Krieg den Philistern!« Man hat es also zugleich mit der parodistischen Bezugnahme auf li­te­ ra­rische Vorlagen und mit satirischen Angriffen auf zeitgenössische sowie his­to­rische Fi­guren und Bewegungen zu tun.10 Ich werde meine Ausführungen im Folgenden 9 So etwa bei Gabriele Kuchler, »Die Literatursatire als Lösung einer Strukturkrise. Eichendorffs Beitrag zur satirischen Komödie im Wandel der Spätromantik«, in: Günter Blamberger, Manfred Engel und Monika Ritzer (Hrsg.), Studien zur Literatur des Frührealismus, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1991, S. 151–173. 10 Vgl. zur Differenz zwischen Parodie und Satire Max Bührmann, Johann Nepomuk Nestroys Paro­ dien, Diss. Kiel 1933. Daran anschließend auch jüngst Uwe Spörl, Basislexikon Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Paderborn: Schöningh 2006, S. 155 –158.

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nach diesen beiden Referenzebenen untergliedern.11 Ich beginne mit der satirischen Dimension des Textes.12 Die Forschung hat detailliert die unzähligen satirischen Anspielungen in Eichendorffs Stück rekonstruiert: Heyer13 hat in der Gestalt des Regenten im Lager der Poe­ tischen den liberalen Freiburger Professor Karl von Rotteck ausgemacht. Die ger­ mani­sierten Namen der poetischen Soldaten  – Godofred, Ringulf, Theuderich et cetera – verweisen auf die Altdeutschen, die im Nachgang der Befreiungskriege deu­ tsche Altertümelei zur Manier gemacht haben. In Hugos Anspielung auf die Gewerbefreiheit in Preußen14 und unmittelbar darauf in der Rede der Marketenderin Hegesa auf die Befreiungskriege15 werden gleich zu Beginn des Stücks die beiden (politischen) Hauptziele des satirischen Angriffs benannt, die in zahlreichen Facetten im Stück wieder begegnen: die entstehende liberale Bewegung einerseits und der zur Mode ge­ wor­dene altdeutsche Patriotismus andererseits. Beide Gegenstände der Satire wer­den auch in der ersten Rede des Regenten alias Rotteck ins Visier genommen: »Frei spie­ len mögen meines Volkes Kräfte,  / In Staatswirtschaft, Mechanik, Industrie,  / Ge­ werbe, Kunst und hoher Wissenschaft, / Ein beispielloses Volkstum neu gestaltend!«16 Dabei wird das Pathos der Rede vom Volkstum unmittelbar gebrochen, wenn die so 11 Unterscheidungskriterium ist demnach die jeweilige Referenz. Das Objekt der Parodie ist immer ein Ausgangstext, zum Objekt der Satire kann hingegen alles werden. Kritisiert wurde an dieser Unterscheidung vor allem, dass die meisten Texte beide Referenzebenen bedienen und daher über dieses Kriterium keine Gattungsnorm etabliert werden könne, die Unterscheidung die Texte also bis zur Unkenntlichkeit zerstückeln würde. Eine solche Kritik trifft freilich nur, wenn man an den Begriffen als Gattungsbegriffen festhält. 12 Genette hat in »Palimpseste« die Parodie von einer per se kritischen Intention freigestellt, da die Parodie nach seiner Bestimmung auch ein affirmatives oder rein spielerisches Verhältnis zum Hypotext haben kann (Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004). Allerdings hat Genette durchaus ein Gespür für die historischen Veränderungen, die sich vom 18. zum 19. Jahrhundert vollziehen. Für die Theaterparodien des 19. Jahrhunderts schlägt er daher den Begriff der »parodie mixte« vor, der in Rechnung stellt, dass sich eine klare Grenze etwa zur Travestie, zum Pastiche und der Satire nicht mehr ziehen lasse, und sich diese Formen intertextueller Referenz in den Texten vermischten, was dann zu einer insgesamt kritischen Positionierung zur Vorlage führe. Kai Kauffmann, »Literarische Manieren der Übergangszeit. Parodie bei Heine, Keller und Friedrich Theodor Vischer. Mit Seitenblicken auf Faust II«, in: Euphorion 100 (2006), S. 191–223, hat dies auch für Deutschland im 19. Jahrhundert nachgewiesen. 13 Ilse Heyer, Eichendorffs dramatische Satiren im Zusammenhang mit dem geistigen und kulturellen Leben ihrer Zeit, Walluf: Sändig 1973 [1931]. 14 »[A]chtet Ihr’s für nichts, entnommen / Dem niedern Treiben, kräftig mit zu weben / In göttlicher Gewerbe-Freiheit hier / Am Webstuhl der riesengroßen Zeit?« (Joseph von Eichendorff, »Krieg den Philistern! Dramatisches Märchen in fünf Abenteuern«, in: ders., Dramen, hrsg. von Hartwig Schultz und Wolfgang Frühwald, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1988 [= Werke, Bd. 4], S. 27–128, hier S. 29). 15 »Als vor der Schere mörderischem Stahle / Dahinsank meiner goldnen Locken Schmuck / Auf den Altar des Vaterlands […]« (Eichendorff, »Krieg den Philistern!« [Anm. 14], S. 29 –30). 16 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 32.

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adressierte Schiffsbesatzung erstaunt fragt: »Wer ist denn aber unter uns eigentlich das Volk?«,17 und den Aufklärungs- und Bildungsbemühungen des Regenten entgegenhält: »Wir wollen nicht glücklich sein, und nicht / gebildet sein, und auch nicht mehr in Versen sprechen! / He, Schnaps her, Fleisch, Freiheit, trallallerallera!«18 Die hier zu beobachtende Engführung von politischer Satire mit Stilparodien verschaltet die Bereiche politischer und literarischer Kritik, was zu einer gegenseitigen Verstärkung führt. So spricht etwa der Rottenmeister Theuderich »in vollständiger altdeutscher Rüstung« in holprigen Spondeen, wie sie von Klopstock und Fouqué zur Pathossteigerung genutzt wurden. Die gewollte Künstlichkeit, das Epigonale dieses Figurenstils wird überdeutlich, wenn die Figuren die Bemühtheit der Verse selbst erkennen: »ach hol’ der Teufel die Verse, / Das ist ja eine wahre Pferdearbeit, wenn man’s nicht gewohnt ist.«19 Die Verbindungslinie zwischen Liberalismus und Altdeutschen wird im Stück über den Deutschen Idealismus, insbesondere in den Versionen Fichtes und Hegels, ge­zo­ gen. Deren Denksysteme seien als Resultat der Aufklärung, so persifliert es der Narr, reine Gedankenspekulationen, die, ins Politische hinübergespielt, den phil­anthro­pi­ schen Liberalismus des Regenten als Luftnummer entlarven: Nun, Ich bin Ich, das heißt in der angewandten Philosophie nichts andres, als der Herr Regent dort ist der Herr Regent. Wenn es nun aber unumstößlich wahr ist, daß Ich gleich Ich, oder, was dasselbe, Er gleich Er, das heißt gleich dem Herrn Regenten ist, so ist folglich das Ich des Herrn Regenten wahr. […] Aus der Vielheit die Wurzel ausgezogen, damit diese Ichheit multipliziert, das gibt zuletzt einen großen Hut.20 Beschwert sich an anderer Stelle der Regent, die rohen Elemente des Windes scherten sich nicht um Kant und Kraus, sondern trieben ihr eigenes, unberechenbares Spiel, dann spielt er damit auf den Philosophen und Fichte-Schüler Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) an, der sich zur Aufgabe gemacht hatte, die rationalistische Naturrechtslehre in eine reindeutsche Sprache zu übersetzen, von der er hoffte, dass dieses deutsche ›Urworttum‹ als Volkssprache die abstrakte Philosophie auch dem einfachen Volk zugänglich machen könne. Bezeichnend sind hier seine 1816 erschienenen Schriften Von der Würde der deutschen Sprache und von der höheren Ausbildung derselben überhaupt, und als Wissenschaftssprache insbesondere und die Ausführliche Ankündigung eines neuen, vollständigen Wörterbuches oder Urwortthumes der deutschen Volkssprache. Hatte schon Tieck im fünften Akt des »Prinz Zerbino« über »altdeutsche Blitz-Wurzel-

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Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 32. Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 35. Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 30. Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 37.

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Wörter nebst ihren etymologischen Erklärungen«21 gespottet, so identifiziert der Be­zug bei Eichendorff die Aufklärung und die »Ideenjagd« des Idealismus mit der liberalen und der altdeutschen Bewegung als falsches politisches Epigonentum. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn im dritten Abenteuer der Starke Mann als ein weiterer Pro­ tagonist der liberalen Aufklärung und der Altdeutsche Jüngling aus der Truppe des Turnvater Jahns sich gegenseitig in ihren Reden bestärken und ihr Dialog als »ein verwirrtes Gesumse […] der Stimmen der Zeit«22 bewertet wird. All das würde wenig verwundern, wenn es diese Figuren wären, die den Poeti­schen im Krieg gegenüberstehen, stellen sie doch alles dar, was der Romantik als philister­ haft gilt. Und in der Tat werden sie von Eichendorff auch mit den bekannten At­tri­ buten des Philisters ausgestattet: So sehen wir den altdeutschen Godofred seine Pfeife klopfen und von einem »warmen Ofen«23 und dem Glas Bier zu Hause schwärmen, der Beamtenchor schreit nach mehr Papier und das Volk nach Schnaps und Fleisch. Das Lager, in dem wir uns hier befinden, ist aber das der Poetischen, nicht jenes der Philister. Es ist natürlich wiederholt bemerkt worden, dass die Poetischen bei Eichen­dorff nicht weniger philiströs sind als die Philister, eine klare parteiische Zuordnung also kaum mehr möglich ist.24 Mit dieser sehr einfachen Umkehrung unterläuft Eichendorff bereits die im Philisterbegriff angelegte romantische Oppositionsstruktur von Poeten und Philistern. Dagegen ließe sich freilich einwenden, dass schon in den Komödien Tiecks – die »Poetischen« sind aus dem »Prinz Zerbino« in Eichendorffs Stück immigriert – bereits eine falsche Literatur gegen eine romantisch echte ausgespielt wird, etwa wenn dort die Lessing’sche Mitleids- und Illusionspoetik, die Sturm-und-Drang-Kerls, die Idyllenmode seit Geßner, die Rührstücke Ifflands und Kotzebus und die aufklärerischen Reiseschriftsteller, insbesondere Nicolai, verspottet werden. Fast alle Genannten werden auch bei Eichendorff nicht geschont. Wenn im zweiten Abenteuer der Bote dem versammelten Philisterrat Bericht über das Treiben der Poetischen erstattet, dabei in einen hymnischen Sturm-und-Drang Stil verfällt und derart sogar die anwesenden Räte mit dem »poetischen Fieber« ansteckt, dann wird einmal mehr deutlich, dass es der subversiven Konspiration des poetischen Spions in der Figur des Narrs gar nicht bedürfte: Der Unterschied zwischen philiströsen Poetischen und poetischen Philistern ist denkbar gering. Philister und Poeten sind zwei Seiten derselben Medaille. So spricht der Narr im dritten Abenteuer:

21 Ludwig Tieck, »Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack«, in: ders., Schriften, Bd. 10, Berlin: Reimer 1828, S. 239. 22 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 81. 23 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 29. 24 So auch Nolte, Symbol und historische Wahrheit (Anm. 7), S. 25.

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Es sind leibhaftig unsre Doppelgänger,   Fideles Volk, nur mit ’nem Überwurf   Noch von anständiger Philisterei.   Wir andern haben vom damast’nen Schlafpelz,   Mit dem wir alle uns elendig schleppen,   Den alten Zeuch nach Innen gewandt   Und’s Rauche ’rausgekehrt. – So oder so,   ’S ist alles Einerlei, ’s bleibt doch ein Schlafpelz!25 Die Kategorisierung in ›Poetische‹ einerseits und ›Philister‹ andererseits entsteht denn auch vornehmlich in den Fremdimaginationen beider Seiten voneinander. Damit greift Eichendorff den längst zur Attitüde verkommenen Philisterhass an und legt einen philis­trösen Mechanismus offen, der das eigene soziale Selbstbild nur über die ne­ga­tive Abgrenzung erzeugen kann. Was aber nur aus der Differenz zum Anderen heraus entsteht, hat kein Eigenes, ist nicht bei sich, ist nicht wahrhaftig. Und wer nichts Eigenes hat, kann auch nichts Eigenes, Originäres aus sich heraus schaffen. Der Philister wie der Dilettant bleibt auf »wässrige Nachahmungen«,26 wie es bei Brentano heißt, angewiesen, ihr Dichten ist gleich der Arbeit von »Blutigeln an den Hintern«.27

II. Es wurde bereits angedeutet, dass die satirische Kritik durch parodistische Bezugnahmen – etwa in der Stilparodie auf die Altdeutschen in der pathetischen Rede des Regenten oder in der Schiller-Parodie in der Ansprache des Bürgermeisters – verstärkt wird, beziehungsweise ihr Ziel findet. Über die satirische Vermengung von Rationalismus, Idealismus, Liberalismus und altdeutscher Vaterlandstümelei hinaus etablieren die parodistischen Bezüge eine Kritik bestimmter literarischer Strömungen und Stile, die alle unter das Eichendorff ’sche Dilettantismusverdikt fallen.28 Der Dilettant ist die Figur, unter der poetische, philosophische und politische Philister zusammengefasst werden. Anders gesagt: der Philister wird zum Synonym für all jene, die mit sich selbst

25 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 72. 26 Brentano, Der Philister vor, in und nach der Geschichte (Anm. 3), S. 72. 27 Brentano, Der Philister vor, in und nach der Geschichte (Anm. 3), S. 69. 28 Heyer indes meint, Eichendorff koppele »zwei innerlich fremde Elemente äußerlich« zusammen, »worunter das Verständnis des Ganzen leidet« (Heyer, Eichendorffs dramatische Satiren [Anm. 13], S. 97). Gerade die Zusammenziehung scheinbar heterogener Elemente unter den Begriff des Philisters aber lässt die satirischen und parodistischen Einzelangriffe zu einer umfassenden Zeitkritik werden.

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nicht identisch sind,29 und gerade deswegen, so Eichendorffs wiederholt vor­ge­tra­gene Kritik, in einen Kult des materialistischen Individualismus verfallen. In »Die geist­liche Poesie in Deutschland« (1847) findet sich die berühmte Definition zuerst, nach der ein Philister ist, »wer mit Nichts geheimnisvoll und wichtig tut, wer die hohen Dinge materialistisch und also gemein ansieht, wer sich selbst als Goldenes Kalb in die Mitte der Welt setzt und es ehrfurchtsvoll anbetend umtanzt.«30 Sucht man nach Namen für die poetischen Philister, die Eichendorff im Sinn hat, dann dürften dies vor allem Fouqué, der Graf von Löben und der Dresdner Liederkreis sein, auf deren Werke und Wirken vielfach angespielt wird, etwa in der Großen Teegesellschaft im dritten Abenteuer.31 Ist die formale Einteilung in ›Abenteuer‹ bereits eine parodistische Übernahme aus Fouqués Der Held des Nordens von 1808  /  1810 und bezieht sich das Stück damit kritisch auf die Mittelaltermode,32 so wirft sein Untertitel »Ein dramatisches Märchen« größere Schwierigkeiten auf. Offenbar nimmt es den Untertitel »Kindermärchen in drei Akten« von Tiecks Gestiefeltem Kater auf. Wie aber ist dieser Bezug nun zu verstehen? Etwa ebenfalls parodistisch? Die Frage gewinnt an Brisanz, wenn zudem festgestellt werden kann, dass Eichen­ dorff nahezu sämtliche von Tieck für seine romantische Komödie genutzten Tech­ ni­ken in »Krieg den Philistern!« ebenfalls verwendet: Es finden sich gehäuft Durch­ brechungen der theatralen Illusion, etwa wenn der Verfasser des Stücks eingreift oder die Figuren über ihre Funktion im Stück diskutieren und der Narr gar ein Manuskript von »Krieg den Philistern!« hervorzieht, um seine Handlungen durch die Vorlage zu legitimieren.33 Im ersten Abenteuer wird durch den Auftritt des Publikums und im vierten Abenteuer durch das Hinauslaufen der Figuren aus der Handlung eine Spielim-Spiel-Struktur etabliert. Auch Elemente von Karnevalismus34 mit entsprechenden Entgrenzungen und Vermischungen sowie die Idee des Theaters als verkehrter Welt lassen sich bei Eichendorff finden. Stehen diese Elemente in der romantischen Ko­ mö­die Tiecks, wie Scherer in seiner Studie zum Drama der Romantik zeigt, für eine 29 Vgl. Ulla Hofstaetter, »›Das verschimmelte Philisterland‹. Philisterkritik bei Brentano, Eichendorff und Heine«, in: Burghard Dedner und U. H. (Hrsg.), Romantik im Vormärz, Marburg: Hitze­ roth 1992, S. 107–128, hier S. 121. 30 Joseph von Eichendorff, »Die geistliche Poesie in Deutschland.«, in: ders., Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte, hrsg. von Hartwig Schultz und Wolfgang Frühwald, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990 (= Werke, Bd. 6), S. 349 –368, hier S. 367. 31 Vgl. dazu Heyer, Eichendorffs dramatische Satiren (Anm. 13), S. 96 f. 32 Vgl. auch den Chor der Waffenschmiede im 3. Abenteuer (Eichendorff, »Krieg den Philistern!« [Anm. 16], S. 80 f.), der ein Lied aus Fouqués Roman Der Zauberring parodiert. 33 »NARR: Aber ich bitte Sie, nehmen Sie doch nur Räson an! das ist platterdings unmöglich, das liegt gar nicht in Ihrem Charakter. Sie stellen ja das prosaische Prinzip vor in dem Stücke« (Eichendorff, »Krieg den Philistern!« [Anm. 14], S. 86). »NARR: Faustrecht, dein Sitz ist in der rechten Faust! er zieht Papiere hervor Hier meine Rolle aus: Krieg den Philistern« (S. 106). 34 Vgl. zu diesem Begriff Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München: Hanser 1969.

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»experimentelle Selbstdarstellung literarischer Möglichkeiten«, um den traditionell wirkungsästhetischen Impuls dramatischer Rede in eine »szenische Selbst­re­prä­sen­ta­ tion von Kunst und Poesie«35 zu verwandeln, so ist dies bei Eichendorff nicht mehr der Fall. Zugespitzt formuliert, nimmt Eichendorff gerade diese darstellerische Funk­ tion der Tieck’schen Dramen mit seiner Formparodie ins kritische Visier. Zielt Tieck darauf, in der spielerischen »Agilität und der Phantasie des menschlichen Geists […] die Mannigfaltigkeit der Welt und deren innere Harmonie« zu spiegeln und als »Trans­ zen­den­taldrama auf die Bedingungen und Möglichkeiten szenischer Rede aufmerksam«36 zu machen, so wird die Verwendung eben dieser Form bei Eichendorff zum bewusst ausgestellten Zitat. Um den deiktischen Charakter des Formzitats zu markieren, etabliert Eichendorff eine zusätzliche parodistische Ebene. Allen fünf ›Abenteuern‹ ist – in Anspielung auf das frühneuzeitliche Drama etwa bei Wickram  – der Spruch einer Argumentator­ figur vorangestellt, die den Gang der weiteren Handlung vorausdeutend recht­fertigt. Eichendorff führt so eine vom restlichen Geschehen isolierte Instanz ein, wohin­gegen noch Tieck die Kommentatorfunktion konsequent an Figuren bindet, die auch an der restlichen Handlung teilhaben. Die Rechtfertigung des Argumentators zum fünften Abenteuer, die das Ende von »Krieg den Philistern!« betrifft, verweist nun auf den Ver­lust genau jener Agilität der dichterischen Phantasie, die Tieck in seinen Stücken evozieren und vorstellen will: »Hier gehen die Ideen aus, / Es platzt ein Turm, und das Stück ist aus.«37 Eichendorff zitiert aber auch die Tieck’sche Technik, wenn die Fi­ guren selbst den Stillstand des Stücks und die ihnen damit aufgezwungene Langeweile thematisieren und dem Regenten nur die Klage über den Verlust seiner poetischen Potenz bleibt, die sich auch durch Imitation eines anschwellenden poetischen Sprachduktus nicht wieder herstellen lässt. Feld, Wald durchflieg’ ich schäumend auf dem Roß,   Meer, Himmel, mit dem Blick – mir fällt nichts ein! Vergriffen, abgenutzt sind die Gedanken,   Die alles trieben, schnurrend stockt das Werk,   Es steht die Zeit auf einmal furchtbar still,   Rings an der eigenen Langweiligkeit   Verstirbt das Volk – und mir fällt doch nichts ein! Weh, weh! bin ich verhext denn? überreich sonst Kehrt’ ich stets heim von der Gedankenjagd! Falk, Falk, mein Falk, schwing’ Dich noch einmal auf,   35 Stefan Scherer, Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik, Berlin: de  Gruyter 2003, S. 50 f. 36 Scherer, Witzige Spielgemälde (Anm. 35), S. 50. 37 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 115.

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Nur diesmal noch aus tiefster Herzensangst! Hurra, frisch fort! – Mein Pferd für ’ne Idee!38 Thematisiert der Monolog vor allem die Ideenlosigkeit der Poetischen im Stück, so kann selbst die romantische Form, die hier am Ende nochmals stark hervortritt, das Stück, seinen Urheber, sein Personal und sein Publikum nicht mehr retten. Wenn der Kritikus und der Verfasser sich in die Dialoge mischen, jener auf die potenzierte Poesie der poetisch-Poetischen vergeblich wartet, um »als drittes Element, versöhnend« aufzutreten, und dieser sich so aus dem »Konzept gebracht«39 sieht, dann zeigt sich auch die romantische Form der Ironie als ›Konzeptdichtung‹ an, die zwar ein amü­santes, aber letztlich artifizielles Spiel bleibt und eben keine Harmonie, keine Versöhnung stiften kann.

III. Eichendorff hat damit in »Krieg den Philistern!« eine Gedankenfigur entwickelt, die in seinen literaturhistorischen Schriften immer wiederkehrt. Die Geschichte der neueren deutschen Literatur versteht Eichendorff als Ergebnis der Reformation, die Kritik und Reflexion gegen Dogma und Glaube gesetzt habe. Mit dem Sturm-und-Drang sei die Konsequenz der Reformation – der Kult des Individuums – literarisch offen zutage ­getreten. Von dieser Kritik werden selbst Goethe und Schiller nicht ausgenommen. 1851 wiederholt Eichendorff am Ende von »Der deutsche Roman des achtzehnten Jahr­ hunderts« leicht variiert seine berühmte Philisterdefinition aus »Die geistliche Poesie in Deutschland«: »[E]in Philister ist, wer im vornehm gewordenen sublimierten Ego­ ismus sich selbst als Goldenes Kalb in die Mitte der Welt setzt und es ehrfurchtsvoll anbetend umtanzt«.40 So geht die im Stück entwickelte Gedankenfigur zentral in Eichendorffs Literaturgeschichte ein. Die neuere deutsche Literatur aus dem pro­tes­tan­ti­schen Pfarrhaus erzählt er als die Geschichte poetischer Philister. Von dieser Geschichte nimmt Eichendorff die neuere Romantik, wie er sie nennt, nicht aus. Dabei bezieht er sich nicht nur auf den »Afterkultus«41 jener romantischen Epigonen, wie er sie in »Halle und Heidelberg« beschreibt, sondern auch auf die Frühromantiker, ins­beson­ dere Tieck. In »Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romanti­schen Poesie in Deutschland« erscheinen die Frühromantiker Schlegel, Novalis und Tieck 38 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 117. 39 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 127. 40 Joseph von Eichendorff, »Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum«, in: ders., Geschichte der Poesie (Anm. 30), S. 393 – 629, hier S. 628. 41 Joseph von Eichendorff, »Erlebtes. Halle und Heidelberg«, in: ders., Tagebücher, autobiographi­ sche Dichtungen, historische und politische Schriften, hrsg. von Hartwig Schultz und Wolfgang Frühwald, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1993 (= Werke, Bd. 5), S. 416 – 452, hier S. 435.

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zwar zunächst als die Protagonisten einer Romantik, die, so Eichendorff, vielleicht tat­ sächlich durch die Poesie jene neue, höhere Vereinigung des menschlichen Grund­kon­ flikts von Natur und Freiheit herbeiführen könne. In der Konzentration auf die ästhe­ tische Form, der diese Leistung angelastet worden sei, stäken aber bereits »die Sünde und der Tod der Romantik.«42 Die religiöse Begriffswahl ist bezeichnend. Die Ver­bin­ dung von Tiefsinnig-Mystischem mit Gewöhnlichem, wie sie in Tiecks Werk sichtbar werde, müsse, um diese Diskrepanz zu überblenden, überall durch »feine Ironie« be­gleitet werden. Wird dem »Gestiefelten Kater«, der »Verkehrten Welt« und dem »Zerbino« ihr satirisch-parodistischer Angriff gegen die »literarische Misére« zwar hoch angerechnet, so macht sich Tieck in Eichendorffs Augen doch insofern schuldig, als er durch die romantische Ironie einer entleerten Romanik den Boden bereitet hat. Dagegen ist diese feinzersetzende Ironie, wo sie ausschließlich gegen das Ge­ meine gerichtet, im ›Zerbino‹, dem ›Gestiefelten Kater‹ und in der ›Ver­kehr­ ten Welt‹, allerdings auf ihrem angeborenen Heimatsboden und vollkommen berechtigt. […] Jenes ironische Versteckspiel aber, das beständig durch die Blume spricht, hatte die schlimme Folge, daß Andere, weil sie nichts Sonderliches zu verstecken hatten, sich aus dem Ganzen eben nur das Spiel mit den Blumen herausmerkten. So leitete Tieck, wider Wissen und Willen, unvermeidlich auf Houwald und Fouqué über.43 Die romantische Ironie und ihre ästhetischen Implikate werden zum Signum der Ab­ kehr von einer wahren, eigentlichen, »ernst gemeinten Romantik«, wie Eichendorff sie zumindest Novalis attestiert. Bei Tieck hingegen zeige sich in der romantischen Iro­nie nur noch »das poetische Formen-Bedürfnis eines wähligen Talents«44 an. Der Ästhetizismus-Vorwurf verstärkt sich, wenn der rein formal-ästhetisch verstan­de­nen Ironie eine höhere Ironie entgegengehalten wird, die die Kunst – hier greift Eichendorff auf Solgers Ironie-Begriff zurück – wieder aufhebe, in sich selbst vernichte und zum Eigentlichen durchstoße, nämlich zur katholischen Religion. Tieck aber zeige, so Eichendorff, nirgends in seinem Werk »eine konfessionelle Entschiedenheit«.45 ›Romantik‹ ist bei Eichendorff ein Distinktionsbegriff, der, ganz analog zu ›Philister‹, eine klare Positionierung erfordert. Es gibt kein Nicht-Verhalten, keine Neutralität im Krieg gegen die Philister. Romantik ist die »Todfeindin aller Neutralität«, und jede Neutralität muss sie »notwendig an der Wurzel angreifen«.46 Den »Spott-Komödien« 42 Joseph von Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland«, in: ders., Geschichte der Poesie (Anm. 30), S. 61–280, hier S. 138. 43 Joseph von Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas«, in: ders., Geschichte der Poesie (Anm. 30), S. 633 – 804, hier S. 766 f. 44 Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung« (Anm. 42), S. 140. 45 Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung« (Anm. 42), S. 143. 46 Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung« (Anm. 42), S. 144.

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Tiecks wird dabei zugutegehalten, dass ihre Ironie sich zwar gegen »alles Ordinäre der Welt« wende und dieses sich in der »Lächerlichkeit seines eigenen Pathos«47 zeige. Zu­ gleich fehlt ihnen laut Eichendorff aber ein eigentlicher, religiös-ethischer Rückhalt, wie er etwa das katholische Drama in Spanien auszeichne: Nirgends ist wohl das Wesen der durch das Christentum bedingten neuern Poesie schärfer ausgeprägt worden, als im spanischen Drama. Wollen wir aber dieses Wesen präzis bezeichnen, so können wir es nur Romantik nennen; freilich nicht die um das Jahr 1796 künstlich gemachte, sondern die aus dem religiösen Bedürfnis der Völker erwachsene Romantik. Diese Romantik ist uralt und datiert eigentlich schon von Homer; aber erst das Christentum gab ihr den vollen, reinen Ausdruck.48 Eichendorff verpflichtet die Romantik auf eine Mission, die, als positives Christen­ tum verstanden, »die Kirche, in Leben, Kunst und Wissenschaft wieder frei und gel­ tend zu machen«49 habe. Tiecks Instrumentalisierung des ethisch-religiösen Gehalts zu ästhetischen Zwecken bereitet genau jenen Gegnern den Boden, die Eichendorff in »Krieg den Philistern!« so offensichtlich angreift: Nachdem dieser natürliche Boden einmal verschoben war, fing Jeder an, anarchisch sich selbst seinen Katholizismus nach eignem poetischen Gelüsten zuzustutzen; und so entstand, gleichwie beim babylonischen Turmbau, allmählich jenes wunderliche Gemisch von Mystizismus, katholischer Symbolik und protestantischer Pietisterei, jener konventionelle Jargon altdeutscher Redens­arten, spanischer Kontruktinne und welscher Bilder, der fast an des simplicianisch-deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepräng erinnert.50 Im Bild des deutschen Michels tritt hier der Philister wieder auf und in die Literaturgeschichte ein. Sei die Romantik, so schreibt Eichendorff in »Zur Geschichte des Dramas« (1854), einst gegen die richtigen Gegner angetreten, so habe sie sich die­ sen mehr und mehr anverwandelt und dem eigenen Epigonentum den Weg und der Romantik das Ende bereitet. Das war ungefähr die Lage der Akten, als unerwartet die Romantik dem mo­ der­nen Zeitgeist den Prozeß machte. Die Anklage lautete im All­ge­meinen auf Abgötterei mit dem Altertum, mit dem sogenannten gesunden Menschen47 48 49 50

Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung« (Anm. 42), S. 144. Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas« (Anm. 43), S. 657. Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung« (Anm. 42), S. 266. Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung« (Anm. 42), S. 266.

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verstand, und mit dem deutschen Michel. Sie wollten den Zeitgeist, der ihnen vor Altersschwäche schon gar zu kindisch geworden schien, unter die Kuratel der Religion stellen. Allein die Romantiker, da sie auf ihrem Kreuzzuge unwillkürlich von den Gegnern, gleichwie die frühern Kreuzfahrer von den Sara­zenen, Mancherlei gelernt und angenommen, haben ihre Sache schlecht ge­führt, und daher, trotz vieler sehr glänzender Plädoyers, den Prozeß verloren. Es wurde ihnen ewiges Stillschweigen auferlegt und ihre gesamt Habe unter die Epigonen verteilt, die sich nun das Empfangene, jeder nach seinem besonderen Geschmacke, zurechtmachten.51 Diese romantischen Philister, zu deren Ahnherr Tieck wird, führen eine uneigentliche Existenz, die an nichts mehr ernsthaft glaubt. Die romantische Ironie, die Tieck so meisterhaft beherrsche, zeige letztlich, »daß der Autor an alles das, womit er so geistreich spielt, eigentlich doch selber nicht glaube.«52 In »Zur Geschichte des Dramas« attestiert Eichendorff Tieck eine »Schwebereligion, die, zu ernst für gemeine Frivolität und doch auch zu weltlich und voll Angst, vor der Welt töricht zu erscheinen, sich beständig selbst belächelt, und wo man ihr eigentliches Anlitz zu erraten scheint, sogleich wieder in die künstlich drapierten Schleier der Ironie sich verhüllt, als schäme sie sich ihres wahrhaften Angesichts.«53 Eichendorff ist damit zu seinem Philister­be­ griff aus den 1820er Jahren zurückgekehrt: Philister sind all jene, denen eine eigentliche Überzeugung fehlt, die für Eichendorff sein radikaler Katholizismus ist. Hier hätte das Drama der Romantik mehr leisten müssen, so Eichendorff. Sei manche Schlacht zwar gewonnen worden, so sei doch der Krieg gegen die Philister letztlich ver­loren gegangen, weil die Romantiker selbst unbefestigte Charaktere gewesen seien. Die Romantik war vielmehr durchaus kriegerisch, sie hat die Philister geschla­ gen, und dann den Befreiungskrieg gerüstet. Begründeter ist der Tadel, daß die Romantik niemals eine eigentliche Bühne sich zu schaffen vermochte, was doch recht eigentlich ihres Berufes war, da sie eine Vermittelung von Poe­ sie und Leben durch die Religion erstrebte, wozu gerade das Drama als ein wirksames Organ sich eignet. Allein jene Vermittelung war in den Ro­man­ ti­kern selbst noch keineswegs vollendet. Daher ihr beständiges Spiel mit der Ironie, die allen Glauben ankränkelt, dieses ungewisse Haschen nach Sur­ ro­ga­ten, nach einer sublimierten Kunstreligion, nach einem ›geläuterten‹ Katho­lizismus.54

51 52 53 54

Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas« (Anm. 43), S. 754. Eichendorff, »Über die ethische und religiöse Bedeutung« (Anm. 42), S. 141. Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas« (Anm. 43), S. 766. Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas« (Anm. 43), S. 777.

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In dieser Frontstellung ist der Philister wieder eine Sozialfigur, die pars pro toto für den Zeitgeist steht.55 Eichendorff spricht der Romantik keineswegs die alleinige Schuld am kulturellen Niedergang zu. Vielmehr beschreibt er ein sich steigerndes Wechselspiel zwischen religiös-sittlichem und poetischem Verfall. Die Romantik aber misst Eichendorff an ihrem höchsten Anspruch an die Kunst, den etwa Arnim in »Von Volksliedern« als Vision einer poetisch-religiösen Vereinigung formuliert: »[S]ie [die Volkspoesie] kommt immer nur auf dieser einen ewigen Himmelsleiter herunter, die Zeiten sind darin feste Sprossen, auf denen Regenbogen Engel niedersteigen, sie grüßen versöhnend alle Gegensätzler unsrer Tage und heilen den großen Riß der Welt, aus dem die Hölle uns angähnt, mit ihrem Zeigefinger zusammen.«56 Dieses Versprechen habe die Romantik nicht eingelöst, vielmehr habe sie in ihrem Beginn bereits den Keim des Verderbens in sich getragen, »weil sie feig sich selbst aufgegeben« habe.57 Eichendorff sieht denn auch in der Afterromantik, wie übrigens Heine in »Die Romantische Schule« auch, eine Allianz mit der politischen Reaktion, die als Scheinkampf getarnt auftritt. Seien Romantik und Reaktion zwar eigentlich ›Todfeinde‹, so hätten sie sich doch gegenseitig, »ohne es zu wissen und zu wollen«, »großgesäugt und geschult«.58 Der Philister der Romantik  – in der Doppelbedeutung des genitivus objectivus wie des genitivus subjectivus, als philiströser Romantiker und romantischer Philister, wie er in »Krieg den Philistern!« zunehmend ununterscheidbar ist – lässt sich daher nicht für einen neuen Antagonismus von politischer Romantik und Reaktion einspannen. Vielmehr durchbricht die Philister-Semantik bei Eichendorff die Oppositionsstruktur und verweist, fast dialektisch, auf ein Drittes, Eigentliches. Politisch wie literarisch, das macht auch Der Adel und die Revolution deutlich, zielt Eichendorff auf eine neue kulturelle Elite des Geistes, die weder mit dem alten Adel noch mit dem liberalen Intellektualismus identisch ist. Dieses Ansinnen hat nichts mit den Adelsreformprojekten des späten 18. und frühen 19.  Jahrhunderts zu tun, sondern weist vielmehr auf einen ästhetischen Konservatismus als Aristokratie des Geistes bei Rudolf 55 So auch Siegfried Hajek, der aber den Philister als bloße Gegenfigur beschreibt, ohne zu bemerken, dass der Verfall auch im Lager der Poetischen allenthalben um sich greift. »Der innere Verfall eines brüchig gewordenen Lebensgefühls ist schon im Gang und wird auch ohne heftige Stöße von außen nicht mehr aufzuhalten sein. Nur auf dem Hintergrund dieser Position ›zwischen den Linien‹ ist Eichendorffs Werk zu verstehen. Mit sichtlicher, ja man muß sagen: mit verdächtiger Leidenschaft bleibt er dabei, daß der Philister, da er in dürftiger, kleinbürgerlicher Enge versinkt, für das wahre, freie Menschentum verloren ist« (Siegfried Hajek, »Der Wanderer, der Philister, der Scheiternde. Grundfiguren bei Eichendorff«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft [1975], S. 42 – 65, hier S. 52). 56 Ludwig Achim von Arnim: »Von Volksliedern«, in: Des Knaben Wunderhorn. Alte Deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Studienausgabe in neun Bänden, hrsg. von Heinz Rölleke, Bd. 1, Stuttgart: Kohlhammer 1979, S. 406 – 4 42, hier S. 430. Vgl. dazu Matthias Busch­ meier, »Theo-Philologie. Ludwig Achim von Arnims ›Von Volksliedern‹«, in: Sprache und Literatur 40 (2009), S. 77–92. 57 Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas« (Anm. 43), S. 791. 58 Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas« (Anm. 43), S. 791.

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Borchardt oder Stefan George voraus, etwa wenn Eichendorff in »Der deutsche Ro­ man des achtzehnten Jahrhunderts« für die Zukunft die alleinige Existenz »zwei[er] ver­schie­dene[r] Menschenrassen: eine[r] hohe[n] Geistesaristokratie neben ordi­närem Welt­futter«59 prognostiziert. Ist das Drama für Eichendorff »mehr als jedes andere poetische Erzeugnis ein Spie­ gel der Gegenwart«,60 wie er in der »Zur Geschichte des Dramas« schreibt, so ist es nur kon­sequent, dass die Philister allesamt im Drama auftreten. Es ließe sich dann aber Eichen­dorff vorwerfen, dass er in seiner formalen Inanspruchnahme der romantischen Ironie nicht über Tieck hinauskomme, und auch das brachiale Ende des Stücks kann hier wohl nicht als Entschuldigung vom Vorwurf des Epigonalen dienen: In der Zer­ schla­gung der Philister wie der Poetischen kommt nämlich selbst kein ethisches Prin­ zip mehr zum Ausdruck. Es bleibt bloße Negation, die aber »an sich nicht lebensfähig ist.«61 Es wäre also zu fragen, ob die Abkehr Eichendorffs von der poetischen Pro­duk­ tion nicht als Konsequenz dieser Einsicht zu verstehen ist. Ganz offenbar bietet sich am Übergang zwischen Romantik und Realismus keine poetische Form an, in der die Position Eichendorffs Artikulation finden kann.62 Eichendorff kann den neuen Adel nur postulieren, ihm aber selbst kein poetisches Gründungsdokument mehr an die Hand geben. Insofern erscheint dann aber auch der Katholizismus Eichen­dorffs als leer, da sowohl sein soziales als auch sein kulturelles Fundament weggebrochen ist und er nicht angeben kann, woraus er neu erwachsen soll. Der Terminus und das Pro­ gramm ›Romantik‹ steht für diesen Neuanfang nicht mehr zur Verfügung. Damit hat sich Eichendorff in ein Dilemma manövriert. Seine Idee des Katholizismus ist tief an die Vorstellung von Tradition gebunden, sieht sich nun aber einer Tradition ge­gen­ über, die als depraviert interpretiert wird. Diese »Strukturkrise«63 führt zu einer Ausweichbewegung in die Literaturgeschichte, die nun als Forderung bewahren muss, was in Realität wie Poesie verloren scheint. »Solange daher unsere Zeit nicht von großen Gedanken, die jetzt erst nur blitzartig hin- und her fahren, wieder dauernd durchleuchtet, und die große Abgötterei mit dem Materialismus gebrochen wird, solange wir in Religion und Politik nur experimentieren, so lange wird auch unser Drama ein bloßes Experiment bleiben.«64 Wenn man so will, ist dieser Satz eine frühe kultur59 Eichendorff, »Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts« (Anm. 40), S. 552. 60 Eichendorff, »Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts« (Anm. 40), S. 642. 61 Eichendorff, »Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts« (Anm. 40), S. 791. 62 Bernd Anton sieht in den satirisch-parodistischen Werken Eichendorffs noch ganz den Willen um die Rettung der Romantik verwirklicht. Für »Krieg den Philistern!« mit der Vernichtungsphantasie am Ende kann man das sicherlich nicht sagen. »Eichendorff will romantische Kunst in einer ihr ungünstigen Zeit erhalten und restituieren, neu zur Geltung bringen und sie gegen vielfachen Widerstand durchsetzen« (Bernd Anton, Romantisches Parodieren. Eine spezifische Erzählform der deutschen Romantik, Bonn: Bouvier 1979, S. 164). 63 Kuchler, »Die Literatursatire als Lösung einer Strukturkrise« (Anm. 10). 64 Eichendorff, »Zur Geschichte des Dramas« (Anm. 43), S. 803.

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kritische Flaschenpost, die aber kein poetologisches Zauberwort mehr enthält, das es zu treffen gilt, um die höhere Vermittlung zwischen Natur und Freiheit in der Menschwerdung Christi zu literarischer Erscheinung bringen zu können.65 Der letzte Vers des Narrs vertröstet uns in komödiantischer Tradition: »So spielet fort das Stück und spielt nie aus«.66 Doch war es genau das Ausweichen in den Spielcharakter der Poesie, die Eichendorff Tieck und der Romantik als Untergang einer ernstgemeinten Ver­ bindung von Katholizismus und Poesie vorgehalten hatte. Damit haben wir aber alles Recht, Eichendorff und seiner Philistersatire entgegen zu rufen, er selbst sei der größte aller Philister. Der alte Eichendorff beschwört einen Kulturkonservatismus, an dessen Realisierung er selbst kaum glaubt und den er literarisch nicht begründen kann. Er selbst agiert wie der Riese Grobianus im Stück und wie Simson in der bib­li­schen Überlieferung. Zerschlagen sind die Philister, doch der letzte Akt der mo­nu­men­talen Zerstörung nimmt den Zerstörer selbst nicht aus. Sein eignes Programm eines Katho­lizis­ mus, der sich auf nichts mehr gründen kann und aus dem Nichts nicht neu entstehen kann, fliegt wie der Pulverturm im Stück auseinander, und zurück bleibt der Verfasser, der sich nun selbst erkennt – als Narr.

65 Siehe auch den Schlusssatz von »Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts«: »Aber in Zeiten gärenden Kampfes kommt es darauf an, sich vor Allem seiner eigenen Stellung klar bewußt zu werden, gegen das erkannte Böse, unbekümmert um die Ordonnanzen des Journalismus, nach besten Wissen und Gewissen Einspruch zu tun, und so das ewige Banner, das die Nachwelt von uns fodern wird, wenigstens für eine bessere Zukunft unbefleckt über dem Getümmel aufrecht zu erhalten« (Eichendorff, »Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts« [Anm. 40], S. 628 f.). 66 Eichendorff, »Krieg den Philistern!« (Anm. 14), S. 128.

Um 1900 – Bildungsphilister / Politisierung / Bohème Sektion V

Eva Blome

Vom ungebildeten Philister zum Bildungsphilister Heinrich Heines Beitrag zu einer spannungsvollen Transformation

Von »Hautzuständen« und »Bildungs-Zuständen« Seit ihrer Neuerfindung in Jena um 1700 steht die Figur des Philisters im Kontext von Universitäts- und Bildungsdiskursen. So konnte sich Clemens Brentano nur gut hundert Jahre nach den berüchtigten Vorfällen in Jena – dem Mord an einem Stu­den­ ten und der Leichenpredigt über den Text »Philister über Dir Simson« (Richter 16,9) – in seiner satirischen Rede über den »Philister vor, in und nach der Geschichte«1 auf umfassende Zeugnisse zum Begriff des Philisters im Sprachgebrauch von und über Stu­denten stützen,2 wenn er formulierte: Philister […] wurden alle genannt, die keine Studenten waren, und nehmen wir das Wort Student im weitern Sinne eines Studierenden, eines Erkenntnisbegierigen, eines Menschen, der das Haus seines Lebens noch nicht wie eine Schnecke, welche die wahren Hausphilister sind, zugeklebt, eines Menschen, der in der Erforschung des Ewigen, der Wissenschaft oder Gottes, begriffen, der alle Strahlen des Lichtes in seiner Seele freudig spiegeln lässt, eines An1 Womöglich trug Brentano die 1811 im Rahmen der »Deutschen Tischgesellschaft« gehaltene – und im selben Rahmen veröffentlichte – Rede bereits um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer ersten Fassung und unter dem Titel »Naturgeschichte des Philisters« im Jenaer Salon um Caroline Schlegel vor. Vgl. dazu Stefan Nienhaus’ Kommentar zur Entstehungsgeschichte der ›Philister­rede‹ in: Ludwig Achim von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen: Niemeyer 2008 (= Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs und Christof Wingertszahn, Bd. 11), S. 344. 2 Zur Begriffs- und Ideengeschichte des Philisters vgl. Friedrich Kluge, »Philister«, in: ders., Wortforschung und Wortgeschichte. Aufsätze zum deutschen Sprachschatz, Leipzig: Quelle & Meyer 1912, S. 20 – 44.

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betenden der Idee, so stehen die Philister ihm gegenüber, und alle sind Phi­lis­ ter, welche keine Studenten in diesem weitern Sinne des Wortes sind.3 Mit dieser retrospektiv-aktualisierenden Definition bildet Brentanos Rede den vor­läu­ figen End- sowie Umbruchspunkt einer vom 17. bis ins 18. Jahrhundert do­mi­nie­ren­ den Begriffsgeschichte des Philisters. In dieser bezeichnet der Philister in einem all­ ge­meinen Sinn die nicht akademisch Gebildeten und dient damit zur Abgrenzung der breiten Masse der Bevölkerung vom studentisch-akademischen Milieu.4 Bei Brentano zeichnet sich nun eine Transformation dieser Semantik ab, insofern er von ihr aus­ gehend in seiner Rede das Philiströse in mehrere Richtungen ausweitet.5 Darauf weist schon der Tempuswechsel im zitierten Satz hin, dessen Konstruktion eine genaue Be­ trachtung lohnt. Denn es heißt bei Brentano: Philister »wurden alle genannt, die keine Studenten waren«.6 Diese Definition gilt also bis zum Zeitpunkt der Rede, in der der Gegensatz Philister / Student – und zwar dadurch, dass das rhetorische ›Wir‹ der Rede das Wort ›Student‹ im »weitern Sinne« nimmt – verschoben wird zum Gegen­ satz­topos Philister / Studierender. Strukturell wiederholt sich in dem Attributsatz da­ bei die Figuration des Gegensatztopos: Nachdem im ersten Teil des Attributsatzes der Stu­die­rende als ein »Erkenntnisbegierige[r]« charakterisiert wird, definiert ihn der zweite Teil ex negativo als einen »Menschen, der das Haus seines Lebens noch nicht wie eine Schnecke, welche die wahren Hausphilister sind, zugeklebt«7 hat. Im drit­ ten Teil des Attributsatzes wird nun emphathisch geschildert, womit sich der wahrhaft Stu­dierende tatsächlich beschäftigt: nämlich mit der »Erforschung des Ewigen, der Wissen­schaft oder Gottes«; er wird als »Anbetender der Idee« bezeichnet, wo­ bei die Lichtmetaphorik die Erhabenheit und generelle Wirkung dieser Tätigkeit zur Geltung bringt. Wenn sich der Philister gleich einer Schnecke in seinem – wie anzu­ nehmen ist: dunklen – Haus verkriecht, sich also nach außen abschließt, so spiegelt der nicht-philiströse Studierende im Gegensatz dazu das Licht in seiner Seele; bei ihm ist die Begrenzung von Innen und Außen in gewisser Weise aufgehoben. Das »noch« im zitierten zweiten Teil des Attributsatzes verweist jedoch auch auf die genauer in den 3 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte«, in: von Arnim, Texte der deutschen Tischgesellschaft (Anm. 1), S. 38 – 90, hier S. 59. 4 Vgl. dazu auch den Beitrag von Heinrich Bosse in diesem Band. 5 Vgl. hierzu auch die instruktiven Ausführungen Ulla Hofstaetters zur Charakteristik des Phi­ lis­ters bei Clemens Brentano (aber auch bei Joseph von Eichendorff und Heinrich Heine) in: dies., »›Das verschimmelte Philisterland‹. Philisterkritik bei Brentano, Eichendorff und Heine«, in: Burg­ hard Dedner und U. H. (Hrsg.), Romantik im Vormärz, Marburg: Hitzeroth 1992, S. 107–127. Einen abrissartigen Überblick über die Philistersemantik im Gefolge von Brentanos ›Philisterrede‹ gibt außer­dem Dieter Arendt, »Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhunderts oder Der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation«, in: Orbis Litterarum 55 (2000), S. 81–102. 6 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 59; meine Hervorhebung, E. B. 7 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 59; meine Hervorhebung, E. B.

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Blick zu nehmende prinzipielle Möglichkeit, dass sich der solcherart mit spezifischen Zuschreibungen versehene Student, der dem »Hausphilister« gegenübergestellt ist, im Laufe seiner Lebenszeit in einen (Haus‑)Philister verwandeln könnte. Zunächst lässt sich jedoch festhalten: Der Studierende ist der Antiphilister, das heißt aber auch: Der (Haus‑)Philister erscheint überhaupt erst und ausschließlich in Abgrenzung zum Antiphilister; und beide werden wesentlich durch ihr spezifisches Verhältnis beziehungsweise Nicht-Verhältnis zu einer idealisierten Form der Bildung charakterisiert.8 Brentanos Philistercharakterisierung lässt sich nicht auf eine am ständischen Sys­ tem orientierte Gleichsetzung des Philisters mit dem Nichtstudenten beschränken. Viel­mehr bezeichnet der Begriff des Philisters bei ihm in generalisierter Weise einen langweiligen, in sich gekehrten, allem Höheren abgewandten, kreativlosen, leb- und begeisterungslosen Menschen. Während der »Nichtphilister«9 – um in der Bildlichkeit Brentanos zu bleiben – ein licht- und luftdurchlässiges Wesen ist, »dessen Haut (um es ledern herauszusagen) in gleichem Maße einatmet und ausdünstet«,10 ist der Philister […] ein steifstelliger, steifleinener, oder auch lederner, scheinle­ben­ diger Kerl […]; ein Philister ist der ausgebohrne Feind aller Idee, aller Be­ geiste­rung, alles Genies und aller freien göttlichen Schöpfung […].11 Spricht Brentano von der »lederne[n]« Haut der Philister (und insbesondere der phi­lis­ trö­sen Dichter) sowie von deren diversen pathologischen »Hautzuständen«12 (der­glei­ chen: »örtliche Schweiße«, »krankhafter Schweiß an den Genitalien«, »Rheu­matis­men«, »Hizblattern«, »Gänsehaut« und der »Zustand der schottischen Por­cu­pi­ne­man«13), so sind damit die ekelerregenden und infektiösen »Bildungszustände« der Philister gemeint.14 8 Vgl. dazu: »Wenn ich nun das Studieren ein tätiges Leiden oder ein Empfangen aller Erkenntnis, als einer unendlich zusammenhängenden, ewigen, nenne, so könnte ich den in seiner Individualität vollendeten Studenten (heißt hier nur Nichtphilister) jenen nennen, der auf allen Punkten sei­ner selbst gleich stark empfängt und giebt, und diesen denke ich mir als eine Kugel, nenne ihn den Ge­ sunden, Natürlichen, den Gebildeten […]« (Brentano, »Der Philister« [Anm. 3], S. 59). 9 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 59. 10 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 59 f. 11 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 44. 12 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 60. 13 Vgl. zu den zitierten Krankheiten Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 60; mit dem »Zustand des schottischen Porcupineman« ist ein im Englischen so benanntes Phänomen gemeint, bei dem einem Menschen eine Schwimmhäuten ähnliche Verbindung zwischen der zweiten und dritten Zehe wächst (›webbed toes‹). 14 Vgl. die Textstelle, auf die ich hier rekurriere, in ihrer Vollständigkeit: »Man nehme diese Beispiele von allerlei Hautzuständen (hier Bildungs-Zuständen) ins Unendliche variierend an, so wird man sich dabei mehr oder weniger mit dem Philister in den Menschen berühren; je nachdem sie mehr reumathisch als transpirierend sind, ist der Philister mehr ein passiver als activer und so weiter.

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Neben dieser Verknüpfung der Philistersemantik mit dem Bildungsdiskurs fin­ det sich in Brentanos ›Philisterrede‹ eine bezeichnende Verbindung des Philis­trö­sen mit dem Jüdischen. Zwar rückt Brentano dem alttestamentarischen Bibelwort folgend Philister und Juden zu Beginn seiner Rede so weit wie möglich auseinander – »Kein Jude kann ein Philister sein«15 –, doch stellt er gleich darauf – gerade durch die Behauptung ihrer extremen Gegensätzlichkeit  – wieder eine Verbindung zwischen ih­ nen her. Der folgende Satz lautet: »Juden und Philister sind entgegengesetzte Pole; was bei den ersten in den Samen, ist bei den letzteren ins Kraut geschossen.«16 Juden und Philister erscheinen hier, wenn auch in polarisierender Hinsicht, durch eine sub­ stan­zielle Gemeinsamkeit – beim Juden eingelagert im Samen, beim Philister als überbordendes Wachstum veräußert – gekennzeichnet.17 Aber nicht nur das: Das zitierte Bild vom (Un‑)Kraut bringt zudem zum Ausdruck, dass Brentanos Philister als eine Art Veräußerung oder Übersteigerung des Jüdischen konzeptualisiert ist. Alle in der Rede vorgenommenen Attribuierungen des Philisters sind daher immer auch – teilweise explizite, teilweise implizite  – antisemitische Angriffe.18 Brentano stellt seine Rede in den Dienst des Kampfes gegen Juden wie Philister; das Bild vom Unkraut und die ihm implizite aggressive Ausrottungsmetaphorik richten sich gleichermaßen gegen beide gesellschaftlichen Gruppen.19 Besonders aber wüthet das Philisterthum als Blatterkrankheit, die ein jeder mehr oder weniger hat, und so wie die Blatter convex und ansteckend den activen Philister bezeichnet, so bildet die Narbe conkav den passiven, und diese laufen am häufigsten herum. Wir können die Fußstapfen dieser Trappen alle leicht in den Thälern unsrer eignen Herzen finden, wo oft noch tiefer Schnee liegt, wenn die Gipfel der Seele gleich Sonnenglänzend erscheinen. Dieses passive Philisterthum nun ist das philistrische Leiden, Ertragen, Dulden, Schweigen, Gutseynlassen, Fristsuchen, cras, cras, ja, ja, so gehts in der Welt (welches im ›ah ça ira‹ der Franzosen, das die köllnischen Kappesbauren ›ach Säuerei‹ aussprachen, als aktives Philisterthum erschien), und wer sich schuldlos fühlt, der werfe den ersten Stein auf – sich« (Brentano, »Der Philister« [Anm. 3], S. 60 f.). Vgl. zur selbstreflexiven transzendentalen Wendung von Brentanos Philisterkritik sowie zum »Mittel der Selbstdenunziation als Philister« und dessen problematischen Implikationen die Ausführungen von Till Dembeck in diesem Band. 15 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 41. 16 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 41. 17 An späterer Stelle, im Abschnitt »Der Philister nach der Geschichte«, bezeichnet Brentano »die Juden« als den »entgegengesetzte[n] Giftpol der Philister« (Brentano, »Der Philister« [Anm. 3], S. 61). Brentano bleibt dabei im – oben bereits angesprochenen – Bilderkontext der pathologischen Hautveränderungen, wenn er an derselben Stelle zur Bekämpfung von Juden- wie Philistertum vor­schlägt, »das Gift der Judenblatter durch ihnen zu inokulierende Schweineblattern zu neutralisieren und die­ ses Gift nun den Philistern zu inokulieren.« 18 Vgl. ausführlicher zum Juden und Philister in Brentanos Rede den Beitrag von Till Dembeck in diesem Band. 19 »[I]ch liefere hier nur eine Reihe von Symptomen des Philistertums, als einen Beitrag zur Wissenschaft, nach welchen jeder in seinem oder anderer Garten botanisieren kann; er mag die Exemplare ausrupfen und, zwischen Fließpapier getrocknet, der Gesellschaft zur Ergötzung vorlegen, so wird

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Indem Brentano auf diese Weise Philisterkritik und Antisemitismus mit­ein­ander verschränkt, entspricht seine Rede weitgehend den politischen Haltungen der Mitglie­ der der von Achim von Arnim mitbegründeten ›Deutschen Tischgesell­schaft‹, vor der Brentano im März 1811 seine Rede gehalten hat.20 Es überrascht nicht, dass Brentanos diskriminierende Ausführungen in diesem Kreis von Künstlern und In­tel­lek­tuel­len, von dem laut Satzung neben Juden und Frauen auch Philister aus­ge­schlossen waren, besonders viel Zuspruch fanden.21 Mit ihrer Kritik an kos­mo­po­li­tischen, aufklärerischen und revolutionären Ideen passt Brentanos Rede zu den Zielen der ›Deutschen Tischgesellschaft‹, die sich als ein Zusammenschluss von »Wohlan­stän­digen« verstand und sich unter anderem durch einen starken antifranzösischen Patriotismus auszeichnete. So diffamiert Brentano mit der Figur eines »aktiven Phi­lis­ters«22 eine weitere, vormals unbekannte Form des Philiströsen, nämlich Philister, die durchaus nicht träge, leblos und blutleer sind, sondern sich für ein Ziel, die re­vo­lu­tionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, begeistern, dabei aber, so Brentano, Gefahr laufen, sich am »Zündstrick der Aufklärung« auch gleich ihre »Köpfe an[zu]brennen«.23 Brentano nutzt den Begriff des Philisters also einerseits dazu, »das philistrische Leiden, Ertragen, Dulden, Schweigen, Gutseinlassen, Fristsuchen«24 des »passive[n] Philistertum[s]«25 zu schelten, und andererseits dazu, seiner Kritik an der Frankophilie und Revolutionsbegeisterung einer Vielzahl seiner Zeitgenossen Ausdruck zu verleihen.

Philisterkritik und Bildungsdiskurs Im diskursiven Kontext und im Gefolge von Brentanos Philisterschelte sind einige wei­tere auffällige Verschiebungen in der Philistersemantik zu beobachten, die den Phi­ lis­ter aus seiner begrenzten Bedeutung als Gegenbegriff zum Studenten herauslösen: So taucht ab etwa 1800 ein neues  – biographisches  – Philisterverständnis auf, das einen Übergang des anti-philiströsen Studenten zum Philisterdasein des ehemaligen das Unkraut getilgt, dem Acker geholfen und der Wissenschaft unter die Arme gegriffen« (Brentano, »Der Philister« [Anm. 3], S. 62). 20 Vgl. zur Entstehungsgeschichte von Brentanos ›Philisterrede‹ auch Anm. 1. 21 Vgl. zur ›christlich-deutschen Tischgesellschaft‹ als Forum des romantischen Antisemitismus auch das Kapitel »Romantischer Antisemitismus als messianische Mythologie (Achim von Arnim und Clemens Brentano)«, in: Wolf-Daniel Hartwich, Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 154 –204. 22 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 60; meine Hervorhebung, E. B. 23 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 66. Auf diese Widersprüchlichkeit innerhalb Bren­ta­ nos Philistercharakterisierung verweist bereits Ulla Hofstaetter, »Das verschimmelte Philisterland« (Anm. 5), S. 111. 24 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 61. 25 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 61; vgl. die zitierte Textstelle in ihrem Gesamtzusam­men­ hang in Anm. 14.

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Studenten vorstellbar macht.26 Es handelt sich dabei um ein semantisches Modell, das den studierenden Musensohn und den Philister als zwei Abschnitte ein und desselben Lebens konzeptionalisiert und die Institution der Universität selbst als Ort der Pro­duktion des späteren Philisters einsetzt. Damit einhergehend zeichnet sich be­reits an diesem ideengeschichtlichen Punkt  – zum Zeitpunkt der Bildungsreformen um 1800 – eine Tendenz ab, die sich im Laufe des 19. Jahrhundert noch verstärken wird: Der Philister figuriert nun nicht mehr als das ganz Andere der Bildung, vielmehr wird er in den Bereich der Bildung hineingenommen. In dieser neuen Form wird die Figur des Philisters genutzt, um das Bildungssystem und spezifische Bildungskonzepte der Zeit zu kritisieren.27 Viel auf »Brodstudien« zu halten, beschreibt Brentano in seiner Rede dieser seman­ tischen Verschiebung entsprechend als eines der typischen »Philistersymptome«.28 Er greift damit eine Unterscheidung auf, die einer seiner berühmten Vorredner in Jena be­reits vorformuliert hat. Denn 1789 unterteilte Friedrich Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universal­ge­schichte?« den gelehrten Stand in ›Brotgelehrte‹ einerseits und ›philosophische Köpfe‹ andererseits:29 Während letztere – die er als seine legitimen Studenten ansah – eine perma­ nente Selbstverbesserung zum Ziel hätten, strebten erstere lediglich eine Berufs­quali­ fikation an, was er deutlich verurteilt. Diese Unterscheidung zwischen philis­trö­sen ›Brotstudien‹ und ›wahrhafter Bildung‹ muss als eine Entwicklung angesehen wer­ den, im Zuge derer der gelehrte Stand das diskursive Kunststück vollbringt, sich in einer reflexiven Wendung selbst zu spalten:30 Aus der Mitte des gelehrten Standes und durch diesen selbst wird eine diskursive Grenze zwischen den Gebildeten und Un­ gebildeten – beziehungsweise nur funktional im Hinblick auf einen vermeintlichen Brot­beruf Ausgebildeten – gezogen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird ›Gelehrsamkeit‹ dann zunehmend nicht mehr als Standesmerkmal gesehen, sondern in Form der Bil­dung viel­mehr als ein individueller Prozess der Selbstoptimierung verstanden,31 26 Vgl. dazu auch den Beitrag von Heinrich Bosse in diesem Band. 27 Vgl. dazu die Ausführungen der Herausgeber in diesem Band. 28 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 65. 29 Friedrich Schiller, »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte«, in: ders., Historische Schriften, hrsg. von Peter-André Alt, München / Wien: Hanser 2004 (= Sämtliche Werke in fünf Bänden, hrsg. von Peter-André Alt, Alber Meier und Wolfgang Riedel, Bd. 4), S. 749 –767. Siehe dazu auch Heinrich Bosse, »Gelehrte und Gebildete  – die Kinder des 1.  Standes«, in: Das acht­zehnte Jahrhundert 32.1 (2008), S. 13 –37, hier S. 36. Zu Friedrich Schillers Bedeutung für die Philisterseman­tik des 18. Jahrhunderts vgl. auch Anm. 36. 30 »Die ständische Unterscheidung von Gelehrten und Bürgern wird aufgehoben – vergessen, un­ sicht­bar gemacht und fortgeführt – in der Unterscheidung von gebildeten Menschen und un­ge­bil­ deten Menschen« (Bosse, »Gelehrte und Gebildete« [Anm. 29], S. 32). 31 »Das heißt, der gelehrte Stand vollbringt das Münchhausensche Kunststück, sich am ei­ge­nen Schopf aus dem Sumpf der ständischen Unterscheidung zu ziehen« (Bosse, »Gelehrte und Gebildete« [Anm. 29], S. 33; vgl. auch S. 35).

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ent­sprechend macht man Kreativität und Bildungspotenziale nun bei einem immer größer werdenden Kreis von Menschen, quasi potentiell bei jedermann und jeder­frau, aus. In diesem Zusammenhang ist nun eine weitere bemerkenswerte Veränderung in der Semantik des Philisters feststellbar: Sich mit Brentanos ›Philisterrede‹ zu­spitzend – sowie in der Unterscheidung von ›Brotgelehrten‹ und ›philosophischen Köpfen‹ in Schillers Vorlesung bereits deutlich präfiguriert – erscheint gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr die ›nicht vorhandene Bildung‹ beziehungsweise akademi­sche Aus­bildung als Kennzeichen des Philisters, sondern im 19.  Jahrhundert dann zunächst bei Heinrich Heine und anderen Autoren des Vormärz, späterhin explizit ausgedrückt im Begriff des Bildungsphilisters bei Friedrich Nietzsche32 eine ›falsche, nur oberflächliche Bildung‹ und / oder ›verblendete Bildung‹. Während die frühe Phi­ lis­ter­semantik im Gefolge der Grabrede von Jena den öffentlichen Bildungsdiskurs mit seinen ständischen Klassifikationen perpetuierte, wird der spätere Begriff des Bil­ dungs­philisters im Gegensatz dazu nunmehr verwendet, um das Bildungssystem so­ wie ein Bildungsverständnis, das sich an Titel und Institutionen bindet, wenn auch nicht radikal zu kritisieren, so doch im Hinblick auf die als defizitär angesehene gesell­schaftliche Praxis zu problematisieren. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammen­hang die doppelte Rolle von ›Bildung‹ in der entstehenden Klassengesell­ schaft des 19. Jahrhunderts, namentlich ihre diskursive Fähigkeit, sowohl ein statisches, des­in­te­gra­tives als auch ein dynamisches, integrierendes Konzept zu sein. Denn das Kon­zept ›Bildung‹ kann sich sowohl auf den Prozess des Erwerbs von Kompetenzen be­zie­hen und damit einerseits die vermeintlich mögliche Emanzipation von einer be­ stimm­ten Schichtzugehörigkeit akzentuieren als auch das Ergebnis dieses Prozesses in Form eines mehr oder weniger festgeschriebenen Bildungskanons oder auch im Sinne des Bourdieu’schen Habitus33 bezeichnen und so andererseits zur Distinktion von Klassen oder gar Unterklassifikationen (etwa in der Unterscheidung von ›Bildungsbürgertum‹ und ›Wirtschaftsbürgertum‹) beitragen. 32 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller«, in: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870 –1873, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999 (=Sämtliche Werke. Kri­ ti­sche Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1), S. 157– 242, hier S. 165. 33 »Mit dem Habitus als inkorporierter Notwendigkeit, verwandelt in eine allgemeine und transponierbare, sinnvolle Praxis und sinnstiftende Wahrnehmung hervorbringende Disposition, er­fährt die den jeweiligen Lernsituationen imanente [!] Notwendigkeit über die Grenzen des direkt Ge­lern­ ten hinaus systematische Anwendung: Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Ak­teuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich syste­ matischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils« (Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 [1979], S. 278).

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Es stellt sich nun die Frage, welche Rolle die Figur des Bildungsphilisters in dem skizzierten kulturhistorischen Zusammenhang spielt. Der Einsatzpunkt einer solchen Fragestellung ist durchaus aktuell: Denn der literarische und intellektuelle Diskurs um den Philister und seine nur vermeintliche Bildung spiegelt schon frühzeitig gesell­ schaftliche Dynamiken, die bis heute die öffentliche und sozialwissenschaftliche Diskussion über Bildungschancen und Bildungsungleichheit insbesondere in Deutschland bestimmen. Verstärkt seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie der OECD im Jahr 2001 und verbunden mit Schlagworten wie denjenigen von der (intellektuellen) Prekarisierung und der Elite wird in den letzten Jahren die Diskussion über eine mög­liche »Wiederkehr der Klassengesellschaft«34 mit einer Reflexion des Bildungssystems verbunden. Dabei gilt bereits für das 19. Jahrhundert, dass Bildung als hu­ma­ nis­tische Idee und als spezifisch »deutsches Deutungsmuster«35 zwar einerseits einen individuellen gesellschaftlichen Aufstieg aufgrund von Leistung und eigenen Fähigkeiten verspricht, andererseits in der gesellschaftlichen Realität jedoch, was einige Autoren bereits früh erkannten und kritisierten, vorwiegend als Marker schichtspezifischer Identität fungiert.36 So klagt etwa Theodor Fontane, dass Bildung in seiner Zeit grassiere »wie Katarrh bei Ostwind«; Bildung sei zu einem »Massenartikel, billig und schlecht«37 degeneriert; und Friedrich Nietzsche kritisiert die vermeintliche Begeisterung des »Bildungsphilisters« für Klassiker, die vom Bürgertum als exklusiver Besitz beansprucht und für das Siegel der »patentierten deutschen Kultur« gehalten würden.38 Ähnlich warnt im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe kritischer Stimmen, 34 Michael Hartmann, »Elite  – Masse«, in: Stephan Lessenich und Frank Nullmeier (Hrsg.), Deutsch­land – eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt am Main: Campus 2006, S. 191–208, hier S. 207. 35 Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frank­ furt am Main / Leipzig: Insel 1994. 36 Eine sozialdistinktive Verwendung des Philisterbegriffs im Kontext des ständischen Denkens wurde von einigen Zeitgenossen ebenfalls bereits früh kritisiert und zurückgewiesen. Friedrich Kluge zeigt dies, indem er aus einem Brief von Heinrich Voß an Christian von Truchseß zitiert: »Über Phi­ lis­ter laß mich zur Ehre Schillers, der das Wort in Umlauf gesetzt, eine Bemerkung machen. Keinen Stand versteht man darunter, sondern den Linkischen, den Geistlosen in jedem Stande und Ge­schäft, der sich durch thörichte Anmaßung über seine Sphäre erhebt. Wer einen Handwerker Philister schel­ten wollte, weil ihm Wissen und Gelehrsamkeit abgeht, würde dadurch selber zum Philister«  (Zit. n. Kluge, »Philister« [Anm. 2], S. 41 f.). 37 Die vollständige Textstelle bei Fontane lautet: »Ich bin fast bis zu dem Satze gediehn: ›Bildung ist ein Weltunglück.‹ Der Mensch muss klug sein, nicht gebildet. Da sich nun aber Bildung, wie Katarrh bei Ostwind, kaum vermeiden läßt, so muß man beständig auf der Hut sein, daß aus der kleinen Affektion nicht die galoppierende Schwindsucht wird« (Theodor Fontane, Meine liebe Mete. Ein Briefgespräch zwischen Eltern und Tochter, Berlin: Aufbau 2001 [1895], S. 499). Deutlich wird hier, dass Fontane ähnlich wie Brentano die Vorstellung einer philiströsen Bildung beziehungsweise Existenz in das Bild einer ansteckenden Krankheit fasst, vor der sich prinzipiell niemand in Sicherheit wägen kann. 38 Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück« (Anm. 32), S. 166. Die Hinweise auf die zitierten Textstellen bei Nietzsche und Fontane (Anm. 37) verdanken sich Aleida Assmann, Arbeit am

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dass ›Bildung‹ zu einem rein äußerlichen Statusausweis verkomme; dabei gerinnt diese Klage selbst wieder zu einem Mittel der Distinktion, indem sie der Unterscheidung zwischen ›richtiger‹ und ›falscher‹ Bildung, zwischen Antiphilister und Philister, dient. Unter diesen Stimmen sticht nun diejenige Heinrich Heines besonders hervor, weil er sich des Begriffs des Philisters und seinen Bezügen zur Bildungsthematik beson­ ders häufig und besonders früh angenommen hat, auch wenn das – von Nietzsche geprägte – Kompositum des ›Bildungsphilisters‹ in seinem Werk noch keine Verwendung findet. Die im Folgenden unternommene exemplarische Analyse der Verwendungsweisen und Funktionen der Philisterfigur bei Heine nimmt ihren Ausgang von den bis hierher beschriebenen Entwicklungen der Philistersemantik: Zum einen wird untersucht, in welchem Verhältnis Heines Philisterkritik zur romantischen Ausprägung der Philisterschelte bei Brentano steht. Zum anderen widmet sich die Analyse dem Übergang vom ›ungebildeten‹ Philister zum ›falsch‹ oder nur ›scheinbar gebildeten‹ Philister und fragt nach den soziokulturellen Funktionen sowie diskursiven Fluchtpunkten dieser narrativen Formation bei Heine. Wenn nämlich etwa festzustellen ist, dass im 19. Jahrhundert als Gegenbewegung zur rein habituellen und distinktiven Verwendung von Bildungsattributen (wie sie von Nietzsche und Fontane kritisiert wird) die ›wahre Bil­ dung‹ von einigen Autoren genau dort ausgemacht wird, wo sie der dominante gesell­ schaftliche Diskurs gerade nicht verortete – Ludwig Börne (zu dem Heine bekann­ter­ maßen ein sehr gespaltenes Verhältnis besaß) notiert etwa in den »Briefen aus Paris« am 16. Februar 1831: »Ich finde wahre menschliche Bildung nur im Pöbel und den wahren Pöbel nur in den Gebildeten«39 –, so muss eine solche Haltung mit derjenigen Heines abgeglichen werden. Und schließlich gerät die Selbstreferentialität von Heines Philisterkritik in den Blick, denn auch seine Diffamierungs- und Distinktionsrhetorik muss auf ihre eigenen philiströsen Züge hin befragt werden. Die Darstellung untergliedert sich in drei Teile; jeder dieser Teile nimmt eine struk­ tu­relle Ausprägung der Philisterfigur bei Heine in den Blick und betrachtet sie hin­ sicht­lich der zwei genannten Untersuchungsperspektiven. Es geht dabei erstens um den Philister als Figur des Gegensatzes, zweitens um das Philistertum als Übergangs­ phä­no­men und drittens um eine transgressive und verwirrende Philisterfigur, die sich stark mit solchen Phänomenen wie der Täuschung, der Illusion und der Camouflage nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt am Main: Campus 1993, S. 64 f. 39 Ludwig Börne, »Briefe aus Paris. 34. Brief«, in: ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von Inge Ripp­ mann und Peter Rippmann, Düsseldorf: Melzer 1964 [1831], Bd. 3, S. 174 –183, hier S. 181. In ähnlicher Weise äußerte sich auch Georg Büchner (siehe dazu Anm. 95). Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem den viel früheren Ausspruch Don Quixotes’, er nenne Pöbel nicht »nur das niedrige und gemeine Volk«, vielmehr müsse auch »jeder Unwissende, er sey Graf oder Fürst«, dazu gerechnet werden (Miguel de Cervantes, Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Zweiter Teil, Berlin: Rütten und Loennig 1966 [1615], S. 102).

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verbindet. Natürlich lassen sich zwischen diesen aus heuristischen Gründen unterschiedenen Tendenzen in der Gestaltung der Philisterfigur bei Heine etliche Überschneidungen feststellen.

Der Philister als Gegensatzfigur Philister in Sonntagsröcklein   Spazieren durch Wald und Flur;   Sie jauchzen, sie hüpfen wie Böcklein,   Begrüßen die schöne Natur. Betrachten mit blinzelnden Augen,   Wie alles romantisch blüht;   Mit langen Ohren saugen   Sie ein der Spatzen Lied. Ich aber verhänge die Fenster   Des Zimmers mit schwarzem Tuch;   Es machen mir meine Gespenster   Sogar einen Tagesbesuch. Die alte Liebe erscheinet,   Sie stieg aus dem Totenreich;   Sie setzt sich zu mir und weinet,   Und macht das Herz mir weich. 40 In diesem frühen Gedicht Heines erscheint der Philister als eine kleinbürgerliche Ge­ gen­satzfigur zu dem wahrhaft und tief empfindenden Melancholiker, aus dessen Per­ spek­tive das Gedicht verfasst ist. Im Kontrast zu diesem betrachten Heines Philister »mit blinzelnden Augen, / wie alles romantisch blüht« und saugen dabei mit »langen Augen« letztlich nur »der Spatzen Lied« ein. Für wirkliche Gefühle und echtes Leid ist alleinig das lyrische Ich zuständig. Es sitzt hinter schwarz verhängten Fenstern und gibt sich der Trauer um die verlorene Geliebte hin, die ihm einen gespenster­glei­chen »Tagesbesuch« macht. In scharfem Kontrast zur Darstellung der Leiden des un­glück­ lichen Liebenden steht die Kennzeichnung der Philister als leichtfüßig Ge­nießen­de,  40 Das titellose Gedicht erschien erstmals in Heinrich Heine, Trägödien nebst einem lyrischen Intermezzo, Berlin: Ferdinand Dümmler 1823, S. 98. Hier wird zitiert nach Heinrich Heine, Buch der Lieder [1827], bearb. von Pierre Grappin, Hamburg: Hoffmann und Campe 1975 (=  Historischkritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd.  I.1), S. 130 –203, hier S. 169.

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die sich an den Oberflächenerscheinungen einer frühlingshaften Natur ergötzen. Heine  nutzt die Philisterfigur in diesen Gedichtzeilen als eine Art Kontrastfolie, vor de­ren Hintergrund er den spezifischen poetisch-emotionalen Gehalt entwickeln kann, den er für sein melancholisches lyrisches Ich beansprucht. Nimmt man weitere Darstellungen des Philisters im literarischen und pu­bli­zis­ti­ schen Werk Heines hinzu, wird dieser erste Eindruck um zusätzliche Facetten er­wei­ tert, ohne sich in grundsätzlicher Weise zu verändern. Immer fungiert der Philister als vielfältige und variantenreiche Gegenfigur, so erscheint das »Kränzchen sanftmüthiger Philisterlein« in Kontrast gesetzt zu den in einer »wilden Kneipe zechenden Bur­ schen«.41 Eine gewisse Blutleere des Philisters steht dabei in Opposition zu der im­ pul­siven Authentizität der jungen Burschen und intensiviert sie zugleich. Schließlich figuriert der Philister bei Heine als humorloser, geistig eingeengter und be­schränk­ ter Zeit­genosse.42 Heines Philister pflückt die Blume der Romantik;43 er ist kleinlich, er versteht keinen Spaß, seine emotionalen Regungen sind bloß »anempfunden[er]« Schmuck.44 Steht Heine mit dieser Philisterkennzeichnung noch ganz in der romantischen Tra­ dition von Brentanos Beschreibungen des Philisters als eines nur »scheinlebendige[n] Kerl[s], der nicht weiß, daß er gestorben ist, und ganz unnötigerweise sich länger auf der Welt aufhält«,45 so unterscheidet sich Heines Philistersemantik im Hinblick auf nationale Konnotationen in deutlicher Weise von derjenigen Brentanos. Während näm­lich das Philistertum bei Brentano, wie bereits erwähnt, auch »aufklärerische und kos­mo­politische Bestrebungen«46 umfasst und sich seine Philisterschelte mit einem anti-französischen Patriotismus verbindet, dient Heine  – als einem der wichtigsten Autoren des innereuropäischen Kulturtransfers des 19. Jahrhunderts – die Philister41 Heinrich Heine, »Albert Methfessel« [1823], in: ders., Shakespeares Mädchen und Frauen und Kleinere literaturkritische Schriften, bearb. von Jan Christoph Hauschild, Hamburg: Hoffmann und Campe 1993 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 10), S. 223. 42 »Die Philister, die Beschränkten,  / Diese geistig Eingeengten,  / Darf man nie und nimmer necken.« Heinrich Heine, »An einen ehemaligen Goetheaner« [1832] (Apparat), in: ders., Neue Gedichte, bearb. von Elisabeth Genton, Hamburg: Hoffmann und Campe 1983 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 2), S. 695. Die hier zitierte Passage wurde später von Heine aus dem Gedicht wieder gestrichen. 43 »Doch die Blume der Blumen ward endlich gepflückt,  / Vom dürren Philister, dem reichen Wicht« (Heinrich Heine, »Der Kirchhof« [1822], in: ders., Buch der Lieder [Anm. 40], S. 40 –50, hier S. 46). 44 »Mir imponiert nicht der Seelenadel, / Den du dir anempfunden sehr geschickt, / Obgleich er glänzt wie eine Demantnadel, / Die des Philisters weißes Brusthemd schmückt« (Heinrich Heine, »An Edward G.« [1854], in: ders., Romanzero. Gedichte. 1853 und 1854. Lyrischer Nachlass, bearb. von Frauke Bartelt, Hamburg: Hoffmann und Campe 1992 [=  Historisch-kritische Gesamtausgabe (Anm. 40), Bd. 3.1], S. 403). 45 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 67. 46 Hofstaetter, »Das verschimmelte Philisterland« (Anm. 5), S. 110.

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figur dazu, den von ihm beobachteten und beschriebenen kulturellen und na­tio­na­ len Gegensatz zwischen dem republikanischen Frankreich und seinem Heimatland Deutsch­land ganz entgegengesetzt zu bewerten: Während Frankreich für Heine das »Land der Freiheit« ist, bezeichnet er Deutschland – beziehungsweise zumindest das »alte, offizielle Deutschland« – im Kontext seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland als das »verschimmelte Philisterland«.47 Und bereits in seinen »Englischen Fragmenten« von 1828 schrieb Heine den von ihm konstatierten Gegensatz von Frankreich und Deutschland direkt in den biblischen Kontext ein; er formuliert so: Die Franzosen sind […] das auserlesene Volk der neuen Religion, in ihrer Sprache sind die ersten Evangelien und Dogmen verzeichnet, Paris ist das neue Jerusalem, und der Rhein ist der Jordan, der das geweihte Land der Freyheit trennt von dem Lande der Philister.48 Frankreich als Heines »gelobtes Land« ist vom »verschimmelten Philisterland« durch eine natürliche Grenze, durch den Rhein beziehungsweise den Jordan, getrennt. Dies unterstreicht ein weiteres Mal die Bedeutung des Philisterbegriffs als eines re­la­tio­na­ len Oppositionsbegriffs, der nur durch eine Differenzierung, das heißt durch eine (hier durch die Flussmetapher bildlich gefasste) Grenzziehung zu einem Bereich des NichtPhiliströsen – in diesem Fall dem »auserlese[n] Volk« der Franzosen – funktioniert. Die Transformation einer antirevolutionären Philistersemantik in der Romantik zu einer der Französischen Revolution verbundenen Philisterkritik bei Heine wird be­son­ ders deutlich, wenn man Heines Position versuchsweise aus der Perspektive Bren­ta­nos betrachtet. Heine wird dann selbst zum Philister, denn Brentano behauptet in sei­ner Rede von den Philistern nachgerade: »Sie glauben, die Deutschen seien kein herr­liches Volk, sie müssten von den Franzosen gebildet werden.«49 Diese philiströse Auf­fassung weist in der Tat so manche Ähnlichkeit zu Heines Standpunkt auf: Heines große Hoffnung richtet sich auf das »Deutschland des deutschen Volkes«,50 dessen re­vo­lu­tio­ närer Geist erst noch durch das Nachbarland Frankreich erweckt werden müsse. Die Kritik am »alte[n], offizielle[n] Deutschland« verbindet sich für Heine mit einem – wenngleich durchaus ambivalenten – Wunsch nach revolutionärer Veränderung der 47 Heinrich Heine, »Vorrede zur zweiten Auflage« [1852], in: ders., Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule, bearb. von Manfred Windfuhr, Hamburg: Hoffmann und Campe 1979 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 8.1), S. 496 – 499, hier S. 497. 48 Heinrich Heine, »Englische Fragmente. 1828«, in: ders., Reisebilder III  /  IV, bearb. von Alfred Opitz, Hamburg: Hoffmann und Campe 1986 (=  Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 7.1), S. 207–269, hier S. 269. 49 Brentano, »Der Philister« (Anm. 1), S. 66. 50 Heine, »Vorrede zur zweiten Auflage« (Anm. 47), S. 497.

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Verhältnisse in seinem Heimatland, worauf im Zusammenhang mit dem Philistertum als Übergangsphänomen noch genauer einzugehen sein wird. Zunächst einmal bleibt im Hinblick auf den Philister als Gegensatzfigur im Kon­ text des zeitgenössischen Bildungsdiskurses jedoch zu ergänzen, dass der Philister im Werk Heines in scheinbar unkritischem Gefolge der Philistersemantik des 18.  Jahr­ hun­derts auch als Gegenpart zur akademischen Bevölkerungsschicht auftaucht. Dies lässt sich an der satirischen Kennzeichnung der Einwohner Göttingens zu Beginn seiner »Harzreise«, die 1824  /  25 geschrieben wurde, erkennen: Neben dem Vieh, das die größte Bevölkerungsgruppe und den bedeutendsten von vier Ständen ausmache,51 leben in Göttingen, so Heine, nicht nur Professoren und Studenten, sondern vor allem Philister: Die Zahl der göttinger Philister muß sehr groß seyn, wie Sand, oder besser gesagt, wie Koth am Meer; wahrlich, wenn ich sie des Morgens, mit ihren schmutzigen Gesichtern und weißen Rechnungen, vor den Pforten des aka­ de­mi­schen Gerichtes aufgepflanzt sah, so mochte ich  kaum begreifen, wie Gott nur so viel Lumpenpack erschaffen konnte.52 Die Philister erscheinen hier zunächst einmal – auf den ersten Blick analog zu Bren­ ta­nos Philistersemantik – als das Andere der akademischen Welt (verkörpert in den Stu­denten und Professoren). Zugleich unterläuft Heines Philisterschelte den star­ ken Ge­gen­satz­topos Philister / Student aber auch, indem sich die zitierte Textstelle im 

51 Vgl. Heinrich Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise« [1826], in: ders., Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder  I  /  II (Prosa), bearb. von Jost Hermand, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 6), S. 81–138, hier S. 84. In einem Brief vom 31. Juli 1825 an seine Schwester Charlotte bezeichnet Heine Göttingen auch als einen »gelehrten Kuhstall« (Heinrich Heine, Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse, bearb. von Fritz H. Eisner, Berlin: Akademie 1975 [= Heine-Säkularausgabe, Bd. 20], S. 208, Brief Nr. 141). 52 Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise« (Anm. 51), S. 84. Das hier zitierte »Lumpenpack« Heines steht dem von Marx so genannten »Lumpenproletariat« diametral gegenüber, das unter anderem »verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler« umfasst (Karl  Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin: Dietz 1972 [1851  /  1852], S. 115 –207, hier S. 161). Während also, wie Georg Stanitzek während eines Workshops zum Thema »Klassen-Bildung« (Universität Konstanz, Dezember 2009) ausführte, das Marx’sche »Lumpenproletariat« als »Masse, die die Franzosen la bohème nennen« aus denjenigen besteht, die in das Klassensystem der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft gerade nicht integriert sind und deshalb den »Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen« (S. 161) bilden, verkörpert das »Lumpenpack« Heines gerade im Gegensatz dazu die (spieß)bürgerliche Gesellschaft und ihre spezifischen Funktionsweisen in Reinform (vgl. zu Heines Sichtweise auf das Volk als einen »König in Lumpen« auch Anm. 94).

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Kontext seiner Stadt-Satire durchaus auch als parodistische Replik auf die ältere Se­ man­tik der studentischen Philisterkritik à la Brentano lesen lässt. Fungiert der Philister im Werk Heines also einerseits als Differenzfigur, die zum Bei­spiel den Nationengegensatz Frankreich / Deutschland gestalten hilft und stets in Opposition zu anders codierten Figurentypen steht – dem Burschen, dem Studenten, dem Melancholiker, dem Musensohn und dem politisch engagierten Schriftsteller –, so wird sie zugleich zu einem Gefäß mannigfaltiger Attribuierungen, die sich zum Teil mit denjenigen, die Brentano vornimmt, treffen, ihnen zum Teil aber auch widerspre­ chen. Es gilt also auch, den Täuschungscharakter des Philisters und seine Wandelbarkeit zu betrachten.

Das Philistertum als Übergangsphänomen Aus der Studentenwelt sollte […] das Buch hervorgehn, welches den deut­ schen Geist aus seiner Schlafsucht weckte, Leben und Literatur wohltätig erfrischte und der alten Apathie ein Ende machte; auch trug seine Sprache das Merkmal der burschikosen Opposition gegen das Hervorgebrachte, gegen den Schlendrian, gegen das akademische Zopftum, gegen das Philistertum in allen seinen Erscheinungen.53 Hier – im Vorwort zu einer französischen Ausgabe von Heines Reisebildern – ist eine weitere Ausprägung des Philisterbegriffs bei Heine angesprochen: Das Philistertum erscheint als zu überwindendes Übergangsphänomen. Es wird als kulturgeschichtlich überkommen gekennzeichnet, als ein Zustand, gegen den sich eine neue Bewe­gung der »burschikosen Opposition«, wie es heißt, wenden wird: ein Zusammenschluss junger Männer, die sich selbst als gesellschaftspolitische wie schrift­stelle­ri­sche Avant­ garde verstehen und damit die in Heines »Lutezia« späterhin, nämlich in den 1850er Jahren, den Philistern unterstellte Ansicht, dass praktische Funktionen mit »artis­ti­ scher Begabnis«54 unvereinbar seien, durch Wort und Tat entkräften. Gemeint ist die Bewegung des ›Jungen Deutschlands‹, deren Ursprung Heine im Spannungsfeld von Phi­lis­ter­tum und Studentenschaft ausmacht.55 Das ›revolutionäre‹ Buch,56 von dem Heine in der oben zitierten Textstelle spricht, nämlich seine Reisebilder, habe dann

53 Heinrich Heine, »II. Préface de la dernière édition des Reisebilder« [1855], in: ders., Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder I  /  II (Prosa) (Anm. 51), S. 355 –359, hier S. 358. 54 Heinrich Heine, »Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben« [1854], in: ders., Lutezia, bearb. von Volkmar Hansen, Hamburg: Hoffmann und Campe 1989 (= Historisch-kritische Gesamt­ ausgabe [Anm. 40], Bd. 13.1), S. 13 –158, hier S. 69. 55 Vgl. Heine, »II. Préface de la dernière édition des Reisebilder« (Anm. 53), S. 358. 56 Vgl. Heine, »II. Préface de la dernière édition des Reisebilder« (Anm. 53), S. 358.

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auch, wie er weiter ausführt, »in der Tat wie ein Gewitter ein[ge]schl[a]g[en] in die Zeit der Fäulnis und Trauer«.57 Heines Reisebilder, insbesondere die italienischen Reisebilder (die »Reise von Mün­ chen nach Genua« von 1830; »Die Bäder von Lukka« von 1830, »Die Stadt Lukka« von 1831), müssen sicherlich als einer der wichtigsten Beiträge zur Philistersemantik des 19. Jahrhunderts betrachtet werden.58 Heines literarische Philisterkritik verfolgt da­bei immer auch politische Ziele. Während in Brentanos Rede – wie bereits dar­ge­stellt – eine aktive Variante des Philisters geschildert wird, die »recht lebendig und re­vo­lutio­ när, sogar begeistert für ein bestimmtes Ziel, allerdings das falsche«,59 daherkommt und dafür heftigst kritisiert wird,60 ist Heines Philister der Aufklärung sowie dem halb­wegs positiv besetzten vormärzlichen Revolutionär auf den ersten Blick ent­gegen­ gesetzt. Zu beachten ist jedoch, dass etwa auch der begeisterte Revo­lu­tio­när Ludwig Börne für Heine ein Philister ist und als solcher beschimpft wird – ein Umstand, der im letzten Teil der vorliegenden Darstellung genauere Beachtung finden wird. Als Signatur des zu überwindenden Alten ist das Philiströse in den Reisebildern zu­nächst vor allem in den Nationenvergleich eingebettet und kommt hier ganz un­ dia­lek­tisch, jedoch gleichwohl als Verlaufsfigur zur Geltung. Denn wie Frankreich erscheint Heine auch Italien als ein positives Gegenbild zu Deutschland, da hier das phi­ lis­tröse Zeitalter bereits zu einem Ende gekommen sei: »Nirgends Philister­ge­sichter. Und gibt es hier auch Philister, so sind es doch italienische Orangenphilister und

57 Vgl. Heine, »II. Préface de la dernière édition des Reisebilder« (Anm. 53), S. 358. Unter den Autoren des Vormärz fordern nicht nur so bekannte Autoren wie Heine, sondern auch bisher weniger beachtete Schriftsteller wie Wolfgang Müller von Königswinter (auch W. M. Königswinter; eigentlich: Peter Wilhelm Karl Müller, 1816 –1873) angesichts der Etablierung von Bildung als Dis­tink­tions­ merkmal und leerer Worthülse: »Mit den Philistern nieder!« (in dem Gedicht »Philister über uns«, in: Deutsches Bürgerbuch für 1845, hrsg. von Hermann Püttmann, Darmstadt: Leske 1845, S. 341 f.) – und verbinden diesen Ruf mit der Aufforderung, ein jeder Mann möge kämpfen wie Simson. Diese frühe Identifizierung mit Simson als einer Figur des gerechtfertigten, gewaltsamen Wider­stands in den literarischen Protestbewegungen des 19. Jahrhunderts bedarf im Rahmen der ›Philister­forschung‹ noch einer genauen Analyse, die die Widersprüche und die recht sperrige Analogiebildung zur bibli­schen Vorlage aufzudecken vermag. Zitiert sei hier die im Zusammenhang mit der Bildungsthematik einschlägige dritte Strophe des sechsstrophige Gedichts von Königswinter: »Philister über uns! Halloh!  / In die Gelehrten-Rumpelkammer,  / Sie dreschen nichts wie leeres Stroh,  / In vorzeittrübem Katzenjammer. / Der Philosoph und Pietist / Umtastet der Scholastik Mieder, / Zum Teufel, wer das Zeug noch frisst, / Mit den Philistern nieder!« 58 Vgl. dazu den einschlägigen Aufsatz von Walter Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation. Hein­ rich Heines Attacken gegen die ›Bildungsphilister‹«, in: Gunter E. Grimm, Ursula Breymayer und Walter Erhart, »Ein Gefühl von freierem Leben«. Deutsche Dichter in Italien, Stuttgart: Metzler 1990, S. 156 –172. 59 Hofstaetter, »Das verschimmelte Philisterland« (Anm. 5), S. 111. 60 Brentano, »Der Philister« (Anm. 3), S. 72 f.

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keine plumpen deutschen Kartoffelphilister.«61 Vor dem Hintergrund der Differenz zwischen italienischen und deutschen Philistern wird das Philisterhafte der Deutschen wiederum als ein überkommener und zu überwindender Zustand charakterisiert. Für Heine löst, so Walter Erhart, »Italien bereits ein Versprechen ein, das der politische Dichter sonst an die Zukunft delegiert.«62 Insgesamt lässt sich feststellen, dass der spezifische Beitrag der Reisebilder zur deut­ schen Italienliteratur gerade darin besteht, das von seinen literarischen Vorläufern – von Goethes Italienischen Reise (1813 –1817) bis zu Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1822  /  23)  – gestaltete Italienbild einem Vergleich mit der Realität zu unter­ziehen und so dessen idealistisches Potenzial in Frage zu stellen. Im Ergebnis cha­ rak­te­ri­siert Heine die deutsche Italienbegeisterung dabei selbst als philiströs, ins­be­son­­ dere in der »Reise von München nach Genua«.63 Fortan steht kon­sequenter­weise we­ niger das Land selbst im Mittelpunkt seines Interesses, denn für Heine gibt es nichts Langweiligeres auf dieser Erde, als die Lektüre einer italienischen Reise­beschreibung – außer etwa das Schreiben derselben – und nur dadurch kann der Verfasser sie einigermaßen erträglich machen, daß er von Italien selbst so wenig als möglich darin redet.64 Vom Reiseschriftsteller wird Heine so zum Ethnographen der Reisenden seiner eige­ nen Kultur und zwar unter der Prämisse, dass es sich bei diesen um typische lang­ wei­lige Philister handle, die unter Umständen ebensolche Reisebeschreibungen ver­ fassen könnten. Statt Italien, dem ursprünglichen Sehnsuchtsland der Deutschen, stellt Heine den reisenden Philister in den Mittelpunkt seines Berichtes, eine »bieder­ meier­liche Vorform des modernen Touristen«,65 anhand derer er die Auswüchse der zeit­ge­nös­si­schen bildungselitären Reisewut kritisiert und in einer erstaunlich aktuell wir­kenden Variante zeigt, »wie der Tourismus die Reisegebiete und Nationalkulturen selbst verändert und zerstört«.66 So gibt ein Philister, der bei der bloßen Erwähnung

61 Heinrich Heine, »Die Stadt Lukka« [1830], in: ders., Reisebilder III  /  IV (Anm. 48), S. 157–206, hier S. 163. 62 Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation« (Anm. 58), S. 171. Walter Erhart betont weiter: »Das ›Hier und Jetzt‹ der italienische Idylle scheint sich bei Heine jedoch immer schnell zu verflüchtigen, um stattdessen dem ›Hier und Jetzt‹ einer auch in Italien spürbaren gesellschaftlichen Misere Platz zu machen.« 63 Heinrich Heine, »Reise von München nach Genua« [1830], in: ders., Reisebilder III  /  IV (Anm. 48), S. 13 – 80, hier S. 13. 64 Heinrich Heine, »Die Bäder von Lukka« [1831], in: ders., Reisebilder III  /  IV (Anm. 48), S. 81– 152, hier S. 113. 65 Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation« (Anm. 58), S. 162. 66 Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation« (Anm. 58), S. 162.

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Italiens zu einem dreifachen »Tirily! Tirily! Tirily!« ansetzt, den letzten Ansporn zur Reise nach Italien: Morgen reise ich, beschloß ich auf der Stelle. Ich will nicht länger zögern, ich will so bald als möglich das Land sehen, das den trockensten Philister so sehr in Ekstase bringen kann, daß er […] plötzlich wie eine Wachtel schlägt.67 Nicht die Neugier auf Italien steht, wie hier deutlich wird, an vorderster Stelle, sondern vielmehr ein gesellschaftskritisches Interesse an der Vorliebe der bildungsbürgerlichen Deutschen für Italien, wobei diese Vorliebe bei Heine von vornherein unter dem Verdacht des Philisterhaften steht. Aber nicht nur am Beispiel der Deutschen, sondern auch am Typus des englischen Touristen führt Heine das Konglomerat von Reisewut und Bildungsbeflissenheit vor, das sich in einer halsstarrigen Versenkung in den »Guide de voyageurs« zeigt, welche die Wahrnehmung der Umgebung eher verhindert als befördert. So bemerkt etwa ein solcherart textgläubiger, das von seinem Reiseführer vorgegebene Pflichtprogramm absolvierender englischer Tourist nicht, dass er eine Reihe von Statuen in der Innsbrucker Hofkirche nicht in der vom »Guide« vorgegeben, sondern in der umgekehrten Reihenfolge abschreitet, was »die ergötzlichsten Verwechselungen«68 zur Folge hat. In den »Bädern von Lukka« taucht dann schließlich die Figur des reisenden Bil­ dungs­philisters in der Reinform des Hamburger Geschäftsmannes Christian Gumpel auf, der sich selbst  – die Anverwandlung in einen Italiener wünschend  – gern als »Markese Christophoro di Gumpelino« bezeichnen lässt. Bei Gumpelino erscheint Bildung als Besitz und damit als ein Distinktionsmerkmal, das für ihn gegenüber dem Geld den Vorteil besitzt, von Dauer zu sein: »Was ist Geld? Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt.«69 Wird hier einerseits Bildung dem rein Monetären entgegengesetzt, so bleibt sie doch auf den gegenständlichen Besitz bezogen. Diese Vorstellung von Bildung als Besitz geistiger Güter, die seit der Mitte des 19. Jahrhun­derts bestimmend wird und den Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten in Ana­logie zum Unterschied zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden sieht,70 ist der Aussage Christian Gumpels als Subtext eingeschrieben. Dass für die bürgerliche Gesellschaft – auch in den »Bädern von Lukka« – weniger die Inhalte der Bildung wich­ tig sind als vielmehr die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu den ›Gebildeten‹, zeigt Heine, indem er die kunstbeflissene Bildung Gumpels als eine Haltung ent­larvt, die auf ›Namedropping‹ und lediglich Auswendiggelerntem, nicht aber auf echtem  67 Heine, »Reise von München nach Genua« (Anm. 63), S. 26. 68 Heine, »Reise von München nach Genua« (Anm. 63), S. 30. 69 Heine, »Die Bäder von Lukka« (Anm. 64), S. 94. 70 Vgl. Rudolf Vierhaus, Art. »Bildung«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-soziale Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart: Klett 1972, S. 508 –551, hier S. 547.

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Genuss und Verständnis beruht. So liest sich die Ankündigung Gumpels, seinen ›Kunstverstand‹ unter Beweis stellen zu wollen, so: Sie sollen mir die Augen zubinden und mich in der Galerie zu Florenz he­ rum­führen, und bei jedem Gemälde, vor welches Sie mich hinstellen, will ich Ihnen den Maler nennen, der es gemalt hat, oder wenigstens die Schule, wozu dieser Maler gehört. Musik? Verstopfen Sie mir die Ohren und ich höre doch jede falsche Note. Poesie? Ich kenne alle Schauspielerinnen Deutschlands und die Dichter weiß ich auswendig.71 Bildung erscheint hier lediglich als Anhäufung ›blinden‹ Wissenskapitals; vom eman­ zi­pativen Potenzial einer zweckfreien und individuellen Bildung kann nicht mehr die Rede sein.72 Nicht nur der sinnliche und wahrhafte Zugang zur Kunst, sondern auch derjenige zur Natur bleibt Gumpel versperrt, denn vorgefertigte Bilder blockieren seine Wahrnehmung, sodass jeder natürliche Gegenstand nur noch durch den Vergleich mit dem Theater oder der Kunst gewertschätzt werden kann: Wie gefällt Ihnen hier diese Naturgegend? Welche Schöpfung! Sehen Sie mal die Bäume, die Berge, den Himmel, da unten das Wasser – ist nicht alles wie gemalt? Haben Sie es je im Theater schöner gesehen? Man wird so zu sagen ein Dichter!73 Derart zum Dichten verleitet lässt sich Gumpel zu einem Gedicht über »der Abend­ dämmrung Schleier« hinreißen, während er zugleich »mit überschwellender Rührung […] wie verklärt, in das lachende, morgenhelle Tal«74 blickt. Für den Lesenden enthüllt sich so quasi hinter dem Rücken und jenseits des Bewusstseins des sprechenden Sub­ jekts die durch Bildungsbeflissenheit verdeckte eigentliche Beschränktheit von Gum­ pels geistigem Horizont.75 Auf diese Weise wird ein Zeittypus sichtbar, den Aleida Assmann in ihrem Buch Arbeit am nationalem Gedächtnis als »geistigen Capitalisten« bezeichnet, ein Typus, der die Trias vom Wahren, Guten und Schönen mit der von Geld, Macht und Erfolg verbindet.76 Heine stellt hier also aus, wie Bildung als ein Statussymbol Karriere macht, das Zugehörigkeit zu jener gesellschaftlichen Schicht

71 Heine, »Die Bäder von Lukka« (Anm. 64), S. 94. 72 Vgl. dazu auch Erhart, »Weltschmerz und Emanzipation« (Anm. 58), S. 172. 73 Heine, »Die Bäder von Lukka« (Anm. 64), S. 94. 74 Heine, »Die Bäder von Lukka« (Anm. 64), S. 94; meine Hervorhebung, E. B. 75 Heine wendet damit ein Verfahren an, wie es auch Georg Büchner knapp ein Jahrzehnt später in seinem Drama Woyzeck zur Kennzeichnung der bildungsbürgerlichen Gegenfiguren zur Titelgestalt, dem Doktor und dem Hauptmann, in Anschlag bringt. 76 Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis (Anm. 38), S. 64 f.

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signalisiert, die die Geschichte auf ihrem bürgerlichen Höhepunkt anhalten will.77 Dabei gilt für die Figur des Gumpelinos bereits bei Heine, was Nietzsche später expliziert, dass sich nämlich der »Bildungsphilister« von »der allgemeinen Idee der Gat­ tung Philister durch einen Aberglauben« unterscheidet, der darin besteht, dass er selber wähnt, »Musensohn und Kulturmensch zu sein«.78 Es stellt sich nun jedoch die Frage, von welcher gesichert nicht-philiströsen Posi­ tion sich die Verblendung der Philister beschreiben lässt, wenn doch jegliche Position, die sich für nicht-philiströs hält, immer schon in den Verdacht gerät, gerade des­halb philiströs zu sein.79 Gibt es in Heines Werk Momente, in denen das Verhältnis von Philistertum und Philisterkritik in diesem Sinne als ein sich selbst re­pro­du­zie­ren­des Bezeichnungs- und Diffamierungssystem reflektiert wird? Mit der nun folgenden Betrachtung einer sich selbst in Frage stellenden Philisterfigur verbindet sich der Ver­such einer Beantwortung dieser Frage. Zudem gerät abschließend aber auch noch ein­mal das Verhältnis von Revolution und Philistertum bei Heine in den Blick.

77 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Gerhard Höhn: »In parodistischer und grotesker Übertreibung erteilt das bürgerliche Nützlichkeitsdenken Gumpelinos und Hyazinths den Prinzipien bür­ ger­lichen Aufstiegs eine deutliche Absage. Seit dem 18. Jahrhundert verdankt sich der Aufstieg des Bürger­tums primär der Bildung und erst sekundär dem Besitz […]. Zu dem Träger der Emanzipations­ bewe­gung, der bürgerlichen Intelligenz, trat erst mit Beginn der Industriellen Revolution die neue Schicht der Kaufleute und Unternehmer, denen es bis dahin an Bildung und an der materiellen Basis mangelte, um politisch tätig werden zu können. Dagegen zeigt die satirische Darstellung von Gumpelinos Aufstieg das Umschlagen der geschichtlichen Entwicklung: Dem reichen Bankier fällt Bildung als Privileg zu, das er nicht mehr im Sinne des Fortschritts zu nutzen gedenkt. An seinem Verhalten werden neue Gefahren für eine humane Entwicklung erkennbar« (Gerhard Höhn, HeineHandbuch. Zeit, Person, Werk, Stuttgart: Metzler 1987, S. 199). 78 Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück« (Anm. 32), S. 165. 79 Stéphane Mallarmé hat diese Gefahr in deutliche Worte gefasst. Sie lässt sich nachgerade lesen als Kritik an Heines Philistersemantik: »Es ist angebracht, hier zu bemerken, daß manche Schriftsteller, linkisch in ihrer Beherztheit, falsch daran tun, von der Menge Rechenschaft zu verlangen über die Unzulänglichkeit ihres Geschmacks und das Unvermögen ihrer Vorstellung. Abgesehen davon, dass ›wer die Masse beschimpft, sich selbst verpöbelt‹, wie Charles Baudelaire richtig sagt, muß der Inspirierte diese Ausfälle gegen den Philister verschmähen: die Ausnahme, so ruhmreich und heilig sie sein mag, lehnt sich nicht auf gegen die Regel, und wer wird leugnen, daß die Abwesenheit des Ideals die Regel ist? Hinzu kommt, daß nicht allein die Heiterkeit der Verachtung solche Anklagen zu meiden rät; auch die Vernunft lehrt uns, daß sie nur unnütz und schädlich sein können: unnütz, wenn der Philister sie beachtet; schädlich, wenn verärgert über eine Dummheit, die das Erbteil der Mehrheit ist, er von den Dichtern Besitz ergreift und die Armee der falschen Bewunderer vergrößert« (Stéphane Mallarmé, Sämtliche Dichtungen. Französisch und deutsch. Mit einer Auswahl poetologischer Schriften, München / Wien: Hanser 1992, S. 269 f.; siehe hierzu auch die Ausführung der Herausgeber zu diesem Band, S. 42).

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Täuschung und Selbsttäuschung des Philisters Erscheint der Philister im Werk Heines zum einen als Gegensatzfigur und zum anderen als Übergangsphänomen, so beinhaltet die Figur des Philisters bei Heine immer auch schon ein Moment der (Selbst‑)Täuschung. Auf diese Weise sprechen etwa aus einem Brief, den Heine am 26. Januar 1822 in Berlin schrieb, eine gewisse Verwirrung und Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit, den Philister zu identifizieren. In diesem Brief wird geschildert, wie der Blick des tagträumenden »Musensohns« durch das Fenster hindurch und damit aus der Welt des sterilen, »düsteren« und »unfreundlichen« Hörsaals der Universität heraus und auf die Straße »Unter den Linden« wandert und dort gefesselt wird von einem »pittoresken Schauspiel der leuchtenden Equipagen, der vorüberziehenden Soldaten und der dahinhüpfenden Nymphen und der bunten Menschen­woge, die sich nach dem Opernhaus wälzt«.80 Unter den vielen Menschen, die die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf sich ziehen, befinden sich auch »Mitglieder des Kollegiums«, ein »Schwarm Studenten«: »Gehen denn so viele Philister ins Kollegium?« lautet die rhetorische Frage des Briefschreibers, auf die umgehend fol­ gende Antwort gegeben wird: Still, still, das sind keine Philister. Der hohe Hut à la Bolivar und der Überrock à l’Anglaise machen noch lange nicht den Philister. Eben so wenig wie die rote Mütze und der Flausch den Burschen macht. Ganz im Kostüm des letzteren geht hier mancher sentimentaler Barbiergesell, mancher ehr­gei­zi­ ger Laufjunge und mancher hochherziger Schneider. Es ist dem anständigen Bur­schen zu verzeihen, wenn er mit solchen Herren nicht gerne verwechselt wird.81 Der Begriff des Philisters bezeichnet hier also ebenso wenig wie andere Klassifikationsbegriffe des 19. Jahrhunderts (wie der »Bursche« nach dem Grimm’schen Wörterbuch: ›Student‹ und ›Handwerksbusche‹82) eine Reduktion von Komplexität, sondern er erzeugt mittels der Möglichkeit zur Camouflage eine gewisse Unordnung und Uneindeutigkeit, die dann wiederum mit Hilfe des Begriffs geordnet wird. Heines Rede ist dabei zugleich von einer gewissen Klage wie von einer spitzbübischen Freude darüber untermalt, dass sich tradierte Klassifikationen verwirren und in einer Gesellschaft, in der das ständische Ordnungssystem in ein individualisiertes Ordnungsmuster überführt wird, neue kulturelle Verunsicherungen auftauchen: Nun gehen die Stu­den­ 80 Heinrich Heine, »Briefe aus Berlin«, in: ders., Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder I  /  II (Prosa) (Anm. 51), S. 7–54, hier S. 12. 81 Heine, »Briefe aus Berlin« (Anm. 80), S. 13. 82 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999 [1854], Bd. 1, S. 546 –550.

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ten selbst als Philister durch und Mitglieder der niedersten Schichten erscheinen als Studenten. Eine entsprechende Täuschung findet sich – neben der bereits zitierten ein­deu­ tigen Zuschreibung des Philisterhaften an das kleinbürgerliche »Lumpenpack« Göttin­ gens – auch in der »Harzreise«. In dieser erteilt Heine der Annahme, beim Brocken, dem höchsten Berg des norddeutsche Mittelgebirges, handele es sich um einen »philis­ tröse[n]« Berg, die in den zitierten Worten Matthias Claudius’ aus dem »Rheinweinlied« (1777) zum Ausdruck kommt – »Der Blocksberg ist der lange Herr Philister« –, eine klare Absage: »das ist Irrtum«.83 Motiviert bei Claudius die Größe beziehungsweise Höhe des Brocken den Vergleich zum Philister,84 so dient Heine als vorder­grün­ diges Vergleichsmoment zwischen Berg und Philister zunächst einmal die Tatsache, dass sich der Brocken »zuweilen mit einer weißen Nebelkappe« umgebe,85 die ihm ei­ nen »Anstrich von Philiströsität«86 verleihe. Doch, so Heine, geschehe dies »wie bei man­chen andern großen Deutschen […] aus purer Ironie«.87 Heine spitzt zu: Es ist sogar notorisch, daß der Brocken seine burschikosen, phantastischen Zeiten hat, z. B. die erste Mainacht. Dann wirft er seine Nebelkappe jubelnd in die Lüfte, und wird, eben so gut wie wir übrigen, recht echtdeutsch ro­ man­tisch verrückt.88 Der Philister wird hier als eine zutiefst unsichere Figur konturiert und nicht als wesenhafte Identität. Damit werden aber diejenigen Zuordnungskriterien fragwürdig, die Heine etwa in Bezug auf Christian Gumpel und die anderen (Bildungs‑)Philisterfiguren in seinem Werk in Anschlag bringt. Das Philisterhafte kann so auch nur übernommener Gestus sein, der der Entkleidung harrt, wobei darunter nicht immer, wie bei Gumpel, Leere zum Vorschein kommen muss  – wie etwa das Beispiel Goethe lehrt, den Heine als einen »alten Räuberhauptmanne«89 sieht, »der sich vom Handwerk zurückgezogen hat, unter den Honoratioren eines Provinzialstädtchens ein ehrsam bürgerliches Leben führt« und »bis aufs Kleinlichste alle Philistertugenden zu erfüllen strebt«, jedoch »in die peinlichsten Verlegenheiten gerät, wenn zufällig irgend ein wüster Wandergeselle aus Calabrien mit ihm zusammentrifft, und alte Kamerad-

83 Alle Zitate: Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise« (Anm. 51), S. 118. 84 Vgl. dazu Kluge, »Philister« (Anm. 2). 85 Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise« (Anm. 51), S. 118. 86 Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise« (Anm. 51), S. 118. 87 Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise« (Anm. 51), S. 118; meine Hervorhebung, E. B. 88 Heine, »Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise« (Anm. 51), S. 118. 89 Heinrich Heine, »Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel« [1828], in: ders., Shakespeares Mädchen und Frauen und Kleinere literaturkritische Schriften (Anm. 41), S. 238 –248, hier S. 248.

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schaft nachsuchen möchte.«90 Heines ambivalente Haltung gegenüber Goethe, die in die »Romantischen Schule« (1836) zur Geltung kommt,91 deutet sich hier bereits an. Zudem erscheint das Philistertum bei Heine nicht nur – wie bereits dargestellt – als ausgemachter Feind jeglicher Begeisterung und revolutionärer Idee. Vielmehr führt Heines letztlich durchaus ambivalente und skeptische Haltung gegenüber den ra­di­ka­ len Republikanern in Paris sowie gegenüber dem ›Jungen Deutschland‹ und seinem Ver­trauen in den revolutionären Pöbel dazu, dass der Philister nicht nur die vor­revo­ lu­tionären Verhältnisse verkörpert, sondern womöglich gleichermaßen den Zustand der Gesellschaft nach der Revolution.92 Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Heine  – ganz anders als etwa seine Schriftstellerkollegen Georg Büchner und Ludwig Börne – dem Volk keine besonderen Sympathien entgegenbrachte.93 Anders als in zeitgenössischen Versuchen einer sozialromantischen Verklärung des Volkes in rousseauistischer-jakobinischer Tradition ist das Volk für Heine in weiten Teilen »bestialisch dumm« und »sehr hässlich«;94 entsprechend verhalten äußert er sich über die vormärzliche Vision einer Gesellschaft, in der das Volk zur Herrschaft kommt.95 90 Heine, »Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel« [1828] (Anm. 89), S. 248. 91 Vgl. Heinrich Heine, »Die romantische Schule« [1836], in: ders., Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule (Anm. 47), S. 121–249. 92 Vgl. zum Folgenden auch Hofstaetter, »Das verschimmelte Philisterland« (Anm. 5), S. 121–124. 93 »[D]ie Emanzipation des Volkes war die große Aufgabe unseres Lebens und wir haben dafür gerungen und namenloses Elend getragen in der Heimath wie im Exile – aber die reinliche, sensitive Natur des Dichters sträubt sich gegen jede persönlich nahe Berührung mit dem Volke, und noch mehr schrecken wir zusammen bey dem Gedanken an seine Liebkosungen, vor denen uns Gott bewahre! Ein großer Demokrat [Ludwig Börne] sagte einst: er würde, hätte ein König ihm die Hand gedrückt, sogleich seine Hand ins Feuer halten, um sie zu reinigen. Ich möchte in derselben Weise sagen: ich würde meine Hand waschen, wenn mich das souveraine Volk mit seinem Händedruck be­ehrt hätte« (Heinrich Heine, »Geständnisse« [1854], in: ders., Geständnis, Memoiren und kleinere autobiographische Schriften, bearb. von Gerd Heinemann, Hamburg: Hoffmann und Campe 1982 [= Historisch-kritische Gesamtausgabe (Anm. 40), Bd. 15], S. 9 –58, hier S. 30 f.). Vgl. zu Heines »Dis­ tan­zierung vom ›Pöbel‹« auch Olaf Hildebrand, Emanzipation und Versöhnung. Aspekte des Sensua­ lismus im Werk Heinrich Heines unter besonderer Berücksichtigung der ›Reisebilder‹, Tübingen: Max Niemeyer 2001, S. 271–274. 94 »O das Volk, dieser arme König in Lumpen, hat Schmeichler gefunden, die viel schamloser als die Höflinge von Byzanz und Versailles, ihm ihren Weihrauchkessel an den Kopf schlugen. Diese Hoflakayen des Volkes rühmen beständig seine Vortrefflichkeiten und Tugenden, und rufen begeistert: wie schön ist das Volk! Wie gut ist das Volk! Wie intelligent ist das Volk! – Nein, ihr lügt. Das arme Volk ist nicht schön, im Gegentheil, es ist sehr häßlich« (Heine, »Geständnisse« [Anm. 93], S. 31). 95 Heines in Anteilen positiv besetzter Bildungsbegriff lässt sich kontrastieren mit anderen Bestimmungen von Bildung, die von seinen Zeitgenossen vorgenommen wurden. So diagnostiziert etwa Georg Büchner nicht etwa in den bürgerlichen Schulen, sondern gerade im – unverbildeten – Volk selbst die »Bildung eines neuen geistigen Lebens«, während er der »gebildeten Klasse« eine Absage erteilt und »die ganze abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen will« (Georg Büchner an Karl Gutzkow, Straßburg 1836, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Henri Poschmann, Frankfurt

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Aus diesem Grund kommt der Bildung bei Heine eine besondere Rolle als Motor sozialpolitischer und habitueller Veränderungen zu: Neben öffentlichen Bädern, die der Hygiene dienen sollen, erscheinen Heine vor allem Schulen als probates Mittel, um das Volk in einen zivilisierteren Zustand zu versetzen. Heine propagiert also einen Assimilationsprozess in aufsteigender Richtung auf der Grundlage von Bildung. Er steht damit ganz im Einklang mit den Zielen der zumeist von demokratisch gesinnten Bürgerlichen gegründeten Arbeiterbildungsvereine, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Arbeitern eine »allgemeine und moralische Bildung« zu geben, um sie so zum Eintritt in die Staatsbürgergesellschaft zu qualifizieren. Wir haben es also bei Heine mit zwei Fassungen des Bildungskonzeptes zu tun: das eine betont sozial ausgleichende, das andere sozial differenzierende Aspekte. Erscheint nunmehr einerseits das Philistertum als ein durch Bildung zu bekämp­ fen­des Übel, so fürchtet sich Heine zugleich vor den Folgen einer ›Revolution von unten‹. Befeuert wird diese Furcht nicht zuletzt durch seine Enttäuschung über die Ent­wicklungen in Frankreich, wie sie etwa in den folgenden Versen des »Wintermärchens« Ausdruck findet: Ich habe sie immer so lieb gehabt,   Die lieben kleinen Französchen –  Singen und springen sie noch wie sonst? Tragen noch weiße Höschen? […] O fürchte nicht, mein Vater Rhein,   Den spöttelnden Scherz der Franzosen;   Sie sind die alten Franzosen nicht mehr,   Auch tragen sie andere Hosen. am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999, Bd. 2, S. 353 – 468, hier S. 440). Man könnte viel­leicht behaupten, dass Büchners Wunsch nach einer derartigen Gesellschaftsveränderung sich in einer theo­retischen Fassung im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels von 1847 formuliert findet. Hatte Marx bereits 1843 in seiner »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« Geld und Bildung als die Hauptkriterien für die Unterschiede in der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet (vgl. Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin: Dietz 1976 [1843], S. 203 –333, hier S. 284), so erscheint die bürgerliche Bildung im Kommunistischen Manifest als ›Klassenbildung‹, das heißt als Er­zeug­nis der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse: »Alle Einwürfe, die gegen die kommunistische Aneignungs- und Produktionsweise der materiellen Produkte gerichtet werden, sind ebenso auf die Aneignung und Produktion der geistigen Produkte ausgedehnt worden. Wie für den Bourgeois das Aufhören des Klasseneigentums das Aufhören der Produktion selbst ist, so ist für ihn das Aufhören der Klassenbildung identisch mit dem Aufhören der Bildung überhaupt« (Karl Marx und Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: dies., Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1972 [1848], S. 459 – 493, hier S. 477).

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Eva Blome

Die Hosen sind rot und nicht mehr weiß,   Sie haben auch andere Knöpfe,  Sie singen nicht mehr, sie springen nicht mehr,  Sie senken nachdenklich die Köpfe. […] Sie werden Philister ganz wie wir   Und treiben es endlich noch ärger;   Sie sind keine Voltairianer mehr,   Sie werden Hengstenberger.96 Wenn Heine hier zum Ausdruck seiner Unzufriedenheit mit den Entwicklungen in Frankreich auf den vermeintlich philisterhaften Charakter der Deutschen hinweist, so wird deutlich, dass er für das Frankreich nach der Julirevolution ähnliche Zustände wie für sein Heimatland konstatiert. Die Franzosen werden – so die Befürchtung – »ganz wie wir«. Aus dieser Beobachtung leitet sich Heines »Angst vor einer philisterhaften Gesellschaft der Zukunft«97 ab. So zeigt er sich etwa in seiner 1840 veröffentlichten Börne-Denkschrift mehr als skeptisch gegenüber der Wirkung einer revolutionären »Radikalkur«98 auf den Patienten Deutschland. Eine solche wirke »am Ende doch nur äußerlich«; sie vertreibe »höchstens den gesellschaftlichen Grind […], aber nicht die innere Fäulnis«.99 Weiter heißt es: Gelänge es ihnen [den Radikalen] auch, die leidende Menschheit auf eine kurze Zeit von ihren wildesten Qualen zu befreien, so geschähe es doch nur auf Kosten der letzten Spuren von Schönheit, die dem Patienten bis jetzt geblieben sind; häßlich wie ein geheilter Philister, wird er aufstehen von seinem Krankenlager, und in der häßlichen Spitaltracht, in dem aschgrauen Gleichheitskostüm wird er sich all sein Lebtag herumschleppen müssen.100 Vor der Revolution ist nach der Revolution – zumindest befürchtet Heine, dass es so sein könnte. Allerdings dient ihm diese Haltung zuvorderst dazu, missliebige Dichterkollegen  – allen voran Ludwig Börne  – zu diskreditieren, indem er diesen unter96 Heinrich Heine, »Deutschland. Ein Wintermärchen« [1844], in: ders., Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Deutschland. Ein Wintermärchen, bearb. von Winfried Woesler, Hamburg: Hoffmann und Campe 1985 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 4), S. 89 –160, hier S. 102. 97 Hofstaetter, »Das verschimmelte Philisterland« (Anm. 5), S. 124. 98 Heinrich Heine, »Ludwig Börne. Eine Denkschrift«, in: ders., Ludwig Börne. Eine Denkschrift und kleinere politische Schriften, bearb. von Helmut Koopmann, Hamburg: Hoffmann und Campe 1978 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 11), S. 9 –132, hier S. 129. 99 Heine, »Ludwig Börne. Eine Denkschrift« (Anm. 98), Bd. 11, S. 129. 100 Heine, »Ludwig Börne. Eine Denkschrift« (Anm. 98), Bd. 11, S. 129.

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stellt, dass »die zügellos trotzigsten Freiheitssänger, beim Licht betrachtet, meist nur bornierte Naturen sind, Philister, deren Zopf unter der roten Mütze hervorlauscht«.101

Fazit Heine stellt das Philistertum also in mehrfacher Hinsicht als ein Phänomen dar, das häufig seine eigentliche Gestalt verbirgt, als ein Phänomen, vor dem man sich nie gänz­lich in Sicherheit wägen sollte. Heines Warnungen vor dem – häufig versteckten – Bil­dungs­philistertum erscheinen dabei insofern problematisch, als sich die von Heine kon­sta­tierte ›falsche und scheinhafte Bildung‹ des Philisters und die Kritik an der idea­ listi­schen Kunstepoche mit einer Fortschreibung bürgerlicher Bildungsideale ver­ bin­det. Denn sich selbst bezieht Heine nicht in die Diagnose des Philistertums ein. Statt­dessen liefert (seine) »Bildung« den identitären Bezugspunkt, von dem aus eine Tren­nung von ›falscher‹, ›philisterhafter‹ und ›wahrer‹ Bildung vorgenommen wird. Inso­fern bildet das Deutungsmuster des Bildungsphilisters ein semantisches Gefängnis, dem Heine ebenso wenig wie Brentano entkommt: Die Kritik am Philister gerät nur allzu schnell selbst philiströs. Machten spätere Autoren gerade dies zum Ausgang ihrer Kritik an der Philisterkritik,102 so muss für Heine festgestellt werden, dass er – etwa mit Italien als vermeintlich philisterfreiem Sehnsuchtsland – in die Nähe seiner eigenen Phi­lis­ter­figuren (wie etwa Christian Gumpel aus den Reisebildern) gerät: Ge­ nauso wenig, wie dieser Kunst und Landschaften Italiens wahrzunehmen oder zu beschreiben vermag, taugt Heines Befund einer philiströsen Gegenwart daher letztlich als zeitgeschicht­liche Diagnose. Vielmehr muss an Heines Beitrag zur spannungs­vol­ len Transformation des ›ungebildeten Philisters‹ zum ›Bildungsphilister‹ selbst der Verdacht der Philistrosität herangetragen werden. Doch stellt sich, wenn wir eine solche Kritik auch nur vor­sich­tig andeuten, sogleich die Frage, von welchem Standpunkt aus wir in der Lage sein sollten, einen solchen Vorwurf zu formulieren. Befinden wir uns dann nicht schon wie­der selbst im Zirkel des Philiströsen?

101 Heinrich Heine, »Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Zweiter Theil« [1843], in: ders., Lutezia, bearb. von Volkmar Hansen, Hamburg: Hoffmann und Campe 1990 (= Historischkritische Gesamtausgabe [Anm. 40], Bd. 14.1), S. 9 – 98, hier S. 48. 102 Für Robert Walser zeigt dies Georg Stanitzek in seinem Beitrag in diesem Band.

William Rasch

Wissenschaftsphilister Nietzsche über das moderne Bildungswesen

I. Die US-amerikanischen Geisteswissenschaften kennzeichnet seit geraumer Zeit eine Kluft, die zwar nur sporadisch sichtbar wird, aber doch sehr weitreichende Folgen hat: die Kluft zwischen Intellektuellen, die eine allgemein gebildete Öffentlichkeit an­spre­ chen und für Zeitschriften mit hoher Auflage schreiben, und reinen Universitätswissen­ schaftlern, die in Fachzeitschriften publizieren  – und damit größtenteils nur ihres­ gleichen erreichen. Erstere bescheinigen Letzteren angesichts ihrer arkanen Themen und ihrer unlesbaren, jargongeprägten Sprache die gänzliche Bedeutungslosigkeit. Schlim­mer noch: die Universitätsintellektuellen, so heißt es, hätten das ehemals allgemeine Ansehen der Geisteswissenschaften zerstört und sie einer zersetzenden er­ kennt­niskritischen und politischen Kritik ausgesetzt. Die öffentlichen Intellektuellen gerieren sich demgegenüber als Retter der sozialen Funktion von Kunst und Schöngeistigkeit. Sie glauben weiterhin an ›ewige Wahrheiten‹ und vor allem daran, dass die Kunst und ihre Wissenschaften den Menschen in seiner Menschlichkeit ansprechen sollten. In Reaktion darauf beharren die Universitätswissenschaftler auf ihrem Recht zu the­matischer und methodischer Spezialisierung, auf dem politisch dringlichen Er­ for­dernis, die ideologischen Grundlagen der Rede von den ›ewigen Wahrheiten‹ zu ent­larven, und auf der intellektuellen Notwendigkeit einer philosophisch anspruchsvollen Sprache, die allein den Gegenständen gerecht werden könne. Unangefochten von komplexeren methodologischen und theoretischen Bedenken auf der Klarheit und Transparenz von Sprache und Ideen zu bestehen führe schlicht, so behaupten sie, zur fortgesetzten Wiederholung trivialer und banaler Plattitüden. Dem Vorwurf der Überspezialisierung steht so die Verachtung für das Oberflächliche und Abgedroschene gegenüber.

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Das Wort ›Philister‹ wird von beiden Seiten kaum bemüht – und in einer demokratisch verfassten Gesellschaft würde ein solcher Vorwurf den elitären Angreifer wahrscheinlich auch mehr beschädigen als den Angegriffenen. Dennoch kann man in den Auseinandersetzungen Strategien beobachten, die der Art und Weise entsprechen, wie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert der Philistrositätsvorwurf als Waffe ein­ge­ setzt wurde. Der Vorwurf, der ›oberflächliche‹ Bildungsbürger und all diejenigen, die ihren Interessen folgen, seien Philister, ist dort ein Gemeinplatz: Ein solcher Musterbürger bildet sich nur, um in einer ›Gesellschaft‹ besser agieren zu können, der die Bewertung von Kunstwerken oder Opernaufführungen gleich viel gilt wie die Wertschätzung der besten Jahrgänge eines guten Weins. ›Bildung‹ ist für ihn nur ein Mittel zu dem Zweck, sich in die Konturen der modernen Gesellschaft einpassen und so gesellschaftlich aufsteigen zu können. Aus dem ›Menschlichen‹ wird so das ›Gesellschaftliche‹. Bildung wird inflationär und zum bloßen Instrument sozialer Konformität. Ihren klassischen Ausdruck hat diese Auffassung bei dem englischen Germanophilen Matthew Arnold gefunden. In »Culture and Anarchy« (1869) widmet sich Arnold den ›Krankheiten‹ der britischen Klassengesellschaft. Deren Extreme bilden die Adeligen – Arnold nennt sie ›Barbaren‹ – und die Arbeiterklasse – der ›Pöbel‹. Arnolds größte Verachtung aber gilt der Mittelschicht, ihrem Fleiß und ihrem wirtschaftlichen wie politischen Liberalismus. Ihre Mitglieder bezeichnet er als ›Philister‹. In einer fast perversen Vorwegnahme des Lukács’schen Verdinglichungsbegriff definieren sich die Philister über dasjenige, was sie tun, und nicht über dasjenige, was sie sind, also nicht über die harmonische Entwicklung ihrer Persönlichkeit, sondern über Waren, die überdies von den Händen des ›Pöbels‹ gefertigt und nur dank der Eigentumsverhältnisse von den Philistern vertrieben werden. Die Folge der Klassenteilung und der menschlichen Selbstbeschränkung, die sie begleitet, die Folge der Reduktion des Allgemeininteresses auf bloße Klasseninteressen, der Zerstörung verbindlicher Standards und überhaupt der ›maschinellen‹ Einrichtung der liberalen Gesellschaft ist jene ›Anarchie‹, die Arnolds Titel anspricht. ›Kultur‹, der große Gegenbegriff zu allem, was Arnold verachtet, befähigt demgegenüber wenige Auserwählte dazu, sich über die Eigeninteressen aller Klassen zu erheben und ihre »best selves« durch »right reason« zu modellieren. Kultur lässt diese Auserwählten zu ›Außenseitern‹ im besten Sinne werden, zu gütigen »aliens«, die sich über ihre Klasse und ihr bloß partikulares, vom Klassenbewusstsein geprägtes Selbst erheben.1 Es fällt nicht schwer, in Arnolds Ausführungen das Echo des großen ›Bildungsideals‹ des 19. Jahrhunderts zu hören, und in der Tat sucht Arnold im Deutschland Humboldts und Schleiermachers Inspiration.2 Wichtiger noch: Arnold findet auch in 1 Matthew Arnold, »Culture and Anarchy. An Essay in Political and Social Criticism«, in: ders., Culture and Anarchy and other writings, hrsg. von Stefan Collini, Cambridge, UK: Cambridge UP 1993, S. 53 –211, hier S. 110. 2 Arnold, »Culture and Anarchy« (Anm. 1), S. 118 u. 123 –124.

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den sozialen Institutionen Preußens um die Jahrhundertmitte konkrete Vorbilder, besonders im preußischen Schulsystem mit seinen »Crown patronage schools«, die »by the Sovereign himself out of his own revenues« unterhalten werden. In der Figur des Souveräns macht Arnold die Autorität aus, die allein zur Bildung des ›best self‹ anleiten kann. Er setzt dabei auf die Unparteilichkeit des Staates – eine Argumentationsfigur, die häufig allein dem deutschen Denken des 19.  Jahrhunderts zugeschrieben wird: »The Sovereign, as his position raises him above many prejudices and littlenesses, and as he can always have at his disposal the best advice, has evident advantages over private founders in well planning and directing a school.« Und mehr noch: »[A] Sovereign with the advice of men like Wilhelm von Humboldt and Schleiermacher may, in this matter, be a better judge and be nearer to right reason.« Denn schließlich gilt: »[W]hat we want is to make right reason act on individual reason, the reason of individuals; all our search for authority has that for its end and aim«.3 Arnold ist Dichter und ›öffentlicher‹ Intellektueller, kein Universitätswissen­schaft­ ler, doch lässt sich in seinen Argumenten ein Gefühl des Triumphs fortgeschrittener Bildung über den oberflächlichen Diskurs der Massenmedien ausmachen. Der Vorwurf der Philistrosität ist einseitig – er richtet sich gegen die Mittelschicht als Ganze. Arnold sperrt sich gegen das Ideal einer allgemeinen Zugänglichkeit von Bildung und gegen jene für ihn belanglosen Freiheiten, die es jedem von uns erlauben, in seiner Mittelmäßigkeit zu glänzen. Ihm geht es um eine Hierarchie von Geschmack und Wert, und daher sieht er es als Aufgabe des Staates an, durch die Erziehung einen Stan­ dard zu etablieren, auf dem fortan die Urteile der wahrhaft Kultivierten zu gründen hätten. Die Institutionen, derer es für eine solche Erziehung bedarf, sind das staatliche ›Gymnasium‹ und die Universität. Mit einigen dieser Argumente wäre sicherlich auch der junge, frisch berufene Pro­ fessor Friedrich Nietzsche einverstanden gewesen. Auch er stößt sich am liberalen und demokratischen Zeitalter und dessen Begeisterung für Freiheit  – einschließlich der aka­demischen Freiheit; auch er sehnt sich nach einer hierarchischen Ordnung, in der wenige brillante Köpfe die Standards setzen. Man sollte meinen, Nietzsche hätte sich auch vom Rande der deutschsprachigen Welt in Basel aus von den Institutionen gesegnet fühlen müssen, die Arnold preist: dem deutschen Gymnasium und der Universität. Bekanntlich tut er dies jedoch nicht. Wie Arnold führt er Krieg gegen die Feinde von Kultur und Bildung. Doch es besteht ein gewichtiger Unterschied. Denn auch wenn Nietzsche keinerlei Sympathien für den durchschnittlichen deutschen Bil­ dungsbürger hegt, reserviert er den Terminus ›Philister‹ in seinen Fragmenten über die höhere Bildung für den Akademiker als den Erzfeind wahrer Bildung, und hier insbesondere für den klassischen Philologen. Im Herzen eben jener Institution, aus der Arnold Hoffnung und Inspiration schöpft, sieht Nietzsche gerade kein Heilmittel für die Krankheit des Zeitalters, sondern vielmehr deren Ursache: den philologischen 3

Arnold, »Culture and Anarchy« (Anm. 1), S. 117 f., 122.

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›Wissenschaftsphilister‹. Seinen Krieg gegen das Philistertum führt Nietzsche also an zwei Fronten: Zum einen wendet er sich gegen die liberalen Anbeter des Fortschritts und der ›Maschinerie‹ des Alltags, gegen die sich auch Arnolds Verachtung richtet; zum anderen aber führt er einen Bürgerkrieg gegen seinen eigenen Berufsstand. Ich möchte mich diesem zweiten Krieg zuwenden und dazu zwei frühe Texte Nietzsches in den Blick nehmen: die Serie von Vorträgen, die Nietzsche 1872 »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten« hielt, und jene Fragmente von 1875, die, zusammengestellt unter dem Titel »Wir Philologen«, ursprünglich die fünfte Unzeitgemäße Betrachtung bilden sollten. In beiden Texten richtet sich Nietzsche gegen das moderne Gymnasium und die Universität, wobei er insbesondere an der Rolle, die der Philologe für die Erziehung spielt, kein gutes Haar lässt. Ich werde zeigen, dass sich die vielen einzelnen Sünden, die den universitären Missetätern zugeschrieben wer­ den, bequem unter dem Label »Verrat« zusammenfassen lassen. Die moderne hö­here Erziehung, so Nietzsches feste Überzeugung, hat ihre wissenschaftlichen wie päda­ gogischen Pflichten vernachlässigt und sich einem anderen Dienst zugewandt als dem­ jenigen, den sie ausüben sollte. Es wird sich zeigen, dass Nietzsche nicht der einzige ist, der diesen Vorwurf erhebt, und dass in dem gemeinsamen Versuch, diesem Missstand zu begegnen, eine verkappte Verbindung zwischen dem deutschen Philosophen und dem amerikanischen Dichter Ezra Pound besteht, für den der Ausdruck »Deutsche Universität« um 1917 eine düstere weltgeschichtliche Bedeutung hat: Die Erlösung der Welt erfordert die Abkehr von deren Prinzipien und damit nicht nur eine neue Philologie, sondern eine neue paideuma, eine gänzlich neue Art und Weise, Erziehung zu denken.

II. In guter akademischer Manier stellt Nietzsche seine These der »Einleitung« sei­nen Vor­lesungen geradlinig voran: »Zwei scheinbar entgegengesetzte […] Strö­mun­gen,« so schreibt er, »[beher]rschen in der Gegenwart unsere ursprünglich auf ganz an­de­ ren Fundamenten gegründeten Bildungsanstalten: einmal der Trieb nach mög­lich­ster E r w e i t e r u n g d e r B i l d u n g , andererseits der Trieb nach Ve r m i n d e r u n g u n d A b s c h w ä c h u n g d e r s e l b e n «.4 Nietzsches Vorwurf reagiert auf tief­lie­gen­de so­ ziale Veränderungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Mit der steigenden Nach­ frage nach spezialisierten Universitätsabsolventen in der Staatsverwaltung und in der  4 Friedrich Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten«, in: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870 –1873, 2., durchges. Aufl., München u.  a.: Deutscher Taschenbuch Verlag / de  Gruyter 1988 (=  Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1), S. 641–752, hier S. 647.

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Wirtschaft hat sich die Universitätserziehung verbreitert, und zwar nicht nur zahlen­ mäßig, sondern auch hinsichtlich der Wissensbereiche, die als nützlich für die ge­bil­ deten Schichten angesehen werden, von denen die intellektuelle und unternehme­ rische Infrastruktur der Gesellschaft getragen wird. Die Universität reagiert auf den po­li­ti­schen, sozialen und vor allem wirtschaftlichen Druck, die dazu notwendigen, gut ausgebildeten und disziplinierten Individuen hervorzubringen. Während sich also die Rede von einer ›Erweiterung der Bildung‹ in Nietzsches These in erster Linie auf de­ mo­graphische Entwicklungen bezieht, insbesondere also auf die gestiegene Zahl Stu­ die­render aus einer größeren Vielfalt von Schichten und mit zunehmend unterschied­ licher intellektueller Vorbereitung, richtet sich die Rede von der ›Verminderung und Ab­schwächung‹ der Bildung auf ein Absinken der intellektuellen Qualität, eine Nachlässigkeit in Strenge und Disziplin – von ›Zucht‹ – und einen Verlust an Tiefe, den die Vervielfachung der Oberfläche mit sich bringt. Das Wesen von Nietzsches Klage sollte uns allen bekannt sein – denn selbst dann, wenn wir ihr nicht selbst an irgendeinem Punkt unserer wissenschaftlichen Laufbahn in ähnlicher Form nachgehangen haben, dürften wir gehört haben, wie andere Nietz­ sches Begriffe benutzen. Nicht im Sinne einer Klage, sondern zur Rechtfertigung des modernen Erziehungssystems vernehmen wir sie beispielsweise oft aus dem Munde unserer Politiker und Universitätsleitungen. In Nietzsches verächtlicher Beschreibung lässt sich bereits erkennen, was Bill Readings die ›University of Excellence‹ genannt hat5 und worin andere schlicht ein zum bloßen Geschäftsmodell verkommenes Verständnis ›höherer Bildung‹ sehen. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft, so heißt es oft, sei es ›selbstverständlich‹ – übrigens ein Begriff, den Nietzsches giftigste Ver­ach­tung trifft  –, dass im Prinzip ein jeder Zugang zur Universität hat und dass die Universität die Eignung ihrer Absolventen für sozial nützliche Berufe zertifiziert. Auf diese ›selbstverständlichen‹ Zumutungen antwortet Nietzsche mit einem eben­so wütenden wie zerstörungsfreudigen analytischen Befund. Die »Erweiterung und Ver­ brei­tung der Bildung«, so Nietzsche, »gehört unter die beliebten nationalöko­no­mi­ schen Dog­men der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntniß und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß – daher möglichst viel Glück: – so lautet etwa die For­mel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn«.6 Auf diesen Einstieg folgen bekannte In­vek­tiven: »Der ›Bund von Intelligenz und Besitz‹, […] gilt geradezu als eine sittliche An­forderung. Jede Bildung ist hier verhaßt, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht«.7 All dies macht den Fachgelehrten

5 Bill Readings, The University in Ruins, Cambridge, MA: Harvard UP 1996. 6 Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten« (Anm. 4), S. 667. 7 Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten« (Anm. 4), S. 668.

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»dem Fabrikarbeiter ähnlich, der, sein Leben lang, nichts anderes macht als eine bestimmte Schraube oder Handhabe«.8 Letztlich richtet sich Nietzsches Klage gegen die zeitgenössische Umfunk­tio­nie­ rung des Bildungsbegriffs. Welchem idealen Ziel die Bildung auch einst gedient ha­ ben mag – in der modernen Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sie auf ein Mittel zum Zweck reduziert worden und eine »nutzbar[e] Magd« geworden, »die sich mitunter auch ›die Bildung‹ nennt, aber nur die intellektuelle Dienerin und Beratherin der Lebensnoth, des Erwerbs, der Bedürftigkeit ist. Jede Erziehung aber, welche an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brodgewinn in Aussicht stellt, ist keine Erziehung zur Bildung, wie wir sie verstehen, sondern nur eine Anweisung, auf welchem Wege man im Kampfe um das Dasein sein Subjekt rette und schütze«.9 Kurz, die einstmals scharfe Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung ist verwischt worden. Bildung, vormals ein Ziel an und für sich, ist zum bloßen Mittel für mehr oder weniger lukrative berufliche Zwecke geworden. Sie ist zur bloßen ›Vorbereitung‹ verkommen und zum Berechtigungsnachweis für die Eingliederung in dasjenige, was Arnold die ›Maschinerie‹ der Gesellschaft nennt. Nietzsches Prosa ist vergnüglich zu lesen  – und zu zitieren!  – und man dürfte noch viel farbenfrohere Passagen finden, die seinen Ekel vor dem ›Gattungswesen‹ ver­mitteln, das das Gymnasium und die Universität beschmutzt. Als Geisteswissen­ schaft­ler, also als Vertreter der hier kritisierten Spezies im 20. und 21. Jahrhundert, haben wir gelernt, den Angriff nicht persönlich zu nehmen, sondern Nietzsches Stim­ mungs­lage vor dem Hintergrund einer großen geistes- oder sozialgeschichtlichen Er­ zählung zu verstehen. Um Nietzsches Giftigkeiten zu erklären, beschwört bei­spiels­ weise der Systemtheoretiker die Umstellung von einer stratifikatorischen auf eine funk­tionale Differenzierung der Gesellschaft und verweist auf die Ausdifferenzierung so­zia­ler Systeme, Professionen sowie – im Rahmen der Universität – Methoden und Dis­zi­plinen. So lässt sich die Wertschätzung einer Erziehung, die das vorgeblich ge­ niale In­di­viduum isoliert, mit der Entwicklung einer Individualitätssemantik in Ver­ bin­dung bringen, die auf die Pluralisierung gesellschaftlicher Funktionen reagiert und die Teilnahme der Einzelnen an den verschiedensten Sozialsystemen erleichtern soll. Der Marxist schreibt diese Pluralisierung, die er romantisch als ›Fragmentierung‹ bezeichnet, dem Kapitalismus zu und der ihn begleitenden Kommodifizierung und Ver­ ding­lichung, die schließlich zur Herrschaft einer allumfassenden Kulturindustrie führt. Aus dieser Perspektive lässt sich dann Nietzsches Klage als Teil der ›bürgerlichen Ideologie‹ für irrelevant erklären. Norbert Elias hätte die Bedeutung der Universität für den Aufstieg der Mittelschicht in Deutschland hervorheben und darauf verweisen kön­ nen, dass sie den Hof als Schauplatz einer genuin bürgerlichen Iden­titäts­kon­struk­tion ersetzte: Während die Intelligenzia des 18. Jahrhunderts noch teils ihren Fürsten an 8 Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten« (Anm. 4), S. 670. 9 Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten« (Anm. 4), S. 715.

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den vornehmlich französischsprachigen Höfen diente (so wie Goethe in Weimar oder Voltaire und Mirabeau in Potsdam), fühlten sich ihre Nachfolger im 19. Jahrhundert nicht mehr dazu angehalten, die Hofetikette zu meistern – sie gründeten ihr Selbstbewusstsein vielmehr im Stolz auf die intellektuelle Leistung, wie ihn die Universität institutionalisierte. Diese ›neuen Intellektuellen‹ passten sich so ein, dass sie dem Staat und seiner Bürokratie dienen und sich praktischen Berufen widmen konnten. Als moderne Intellektuelle haben wir gelernt, den einstigen Bildungsansprüchen mit einem hohen Maß an Vorsicht entgegenzutreten. Es bedarf keiner Hegel’schen Tele­ologie, um in den soeben rekonstruierten sozialgeschichtlichen Prozessen eine »List  der Vernunft« am Werk zu sehen: Das Streben nach Erkenntnis um der Er­kennt­nis willen, die ›Interesselosigkeit‹, die die Entscheidung für Altgriechisch als wich­tig­stes Studienobjekt impliziert, und die auf intensiver Lektüre gründende Form des ›lernen Lernens‹ – all dies befähigte die gebildete Elite nicht nur zur Kontemplation Pla­to­ nischer Ideen, sondern bereitete sie auch für jene ›schöne neue Welt‹ vor, die sie als Preußische Staatsbeamte, als urbane, internationale Bankiers und als Großindus­tri­ elle erwartete. Wir haben, mit anderen Worten, gelernt, auch das scheinbar NichtFunktionale als funktional aufzufassen und den sozialen Nutzen auch desjenigen zu erkennen, das jenseits jedes bloßen Nutzens zu liegen scheint. In einer Zeit wie dieser – handele es sich nun um das 19., das 20. oder das 21. Jahrhundert – und angesichts solcher Erklärungen bleibt Nietzsche keine andere Wahl, als unzeitgemäß zu sein. Die Behauptung, Nietzsches Invektive stelle eine Kritik an der Moderne dar, ist daher zugleich offenkundig richtig und trifft doch nur teilweise zu. Nietzsche dürfte sich nämlich auch mit einer Kritik der unterschiedlichen Arten und Weisen, Mo­der­ nität kritisch zu beschreiben, einverstanden erklärt haben – also mit einer Kritik nicht nur der rechtfertigenden Selbstbeschreibung von Moderne als Emanzipation und Fort­ schritt, sondern auch mit einer Kritik an der ›postmodernen‹, neutral selbst­ge­fäl­li­ gen Modernitätsbeobachtung zweiter Ordnung und hier insbesondere an der Auf­fas­ sung, in der immanenten Selbstüberwindung der Moderne bestünde das Telos der Ge­schichte. All diese Entwürfe nämlich – und zwar auch der letzte, obgleich er den Wunsch nach einem kollektiven Geschichtssubjekt impliziert  – vernachlässigen das Be­dürf­nis, unsere persönliche Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Genau be­se­hen stellen wir Intellektuelle, die wir jene Erzählungen von Prozessualität, Fortschritt und der Unausweichlichkeit des Geschehens produzieren, keineswegs eine Dia­ gnose, sondern sind selbst Symptome jener Krankheit der Moderne, von der Nietzsche spricht. Schlimmer noch: Wir verbreiten sie überhaupt erst. Anstatt zu fragen: »[W]as ist uns die Wissenschaft?«, und sie so unseren Interessen zu unterwerfen, fragen wir: »[W]as sind wir der Wissenschaft?«10 So gliedern wir uns selbst in den historischen und sozio­lo­gischen Prozess ein, den wir beschreiben. Wir werden also eher von unseren 10 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879, 2., durchges. Aufl., München u. a.: Deutscher Taschenbuch Verlag / de Gruyter (= Kritische Studienausgabe [Anm. 4], Bd. 8) S. 34.

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eigenen Beschreibungen getragen, als dass wir sie wirklich vollziehen. Und unsere Analysen garantieren letztlich nur unseren beruflichen Erfolg, also unsere Anpassung an die akademische und damit an die ›große‹ Welt, der die akademische zu Diensten ist. Nietzsche zufolge verhindert diese unsere Akkomodation an unser soziales Umfeld die Entwicklung einer ›Arznei‹ gegen die Krankheit der Moderne: Mitschwimmend auf der Welle der historischen und evolutionären Veränderungen stammeln wir in einer barbarischen Sprache, die nur noch uns selbst verständlich ist. Es ist bemerkenswert, dass Nietzsche zur Beschreibung des Zustands des mo­der­ nen Erziehungssystems das Wort ›Barbarei‹ verwendet: »Die allerallgemeinste Bildung ist eben die Barbarei«;11 und, als spreche Matthew Arnold durch ihn: »[D]ie formale Bildung aber, die durch den besagten deutschen Unterricht erreicht wird, erwies sich als das absolute Belieben der ›freien Persönlichkeit‹ d. h. als Barbarei und Anarchie«.12 Doch diese Barbarei wird keineswegs von Außen – wie durch marodierende Horden – in das Bildungssystem hineingetragen, sondern von ihm selbst produziert. Nietzsche entwirft eine Szenerie des inneren Bildungszerfalls, wobei diejenigen, die eigentlich der Bildung verpflichtet sein sollten, diesen Verfall vorantreiben und sie mithin verraten. Wir, die Intellektuellen, sind die Philister oder doch zumindest deren Verbündete. So, wie die Philister einstmals die Kinder Israels in Fremdherrschaft schlugen, usur­pie­ren wir die Stelle, die einer authentischen Bildungsmacht vorbehalten wäre, und sind so die Ursache jener Verwilderung, die Nietzsche beschreibt. Kein beruhigender Hin­weis auf die unpersönlichen Kräfte der Geschichte kann über diesen Verrat der In­tel­lek­tu­ ellen hinwegtäuschen. Obgleich alle Wissenschaftler gemeint sind, macht Nietzsche als Haupt­schul­digen in erster Linie den Philologen aus, den er explizit als ›Philister‹ bezeichnet. Satz für Satz zeichnet er ein trostloses Bild. So heißt es etwa: »Der objective-kastrirte Philolog, der im übrigen Bildungsphilister und Kulturkämpfer ist, und daneben reine Wissenschaft treibt, ist freilich eine traurige Erscheinung«.13 Der Wissenschaftler, der Wissenschaft in ›Reinform‹ betreibt, gilt Nietzsche als Spross des Christentums, sieht er doch in der Geschichte dieser Religion nichts anderes als die Geschichte der Verharmlosung der Antike, die sie für Europa erst verdaulich gemacht habe. »Es ist der Kirche im Gan­ zen gelungen«, so schreibt er, »den klassischen Studien eine unschädliche Wendung zu geben: der Philologe wurde erfunden, als Gelehrter, der im Übrigen Priester oder sonst so etwas ist: und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castriren«.14 Ausgerechnet dieser erbitterte Eunuch aber, der den Namen der Antike im Krieg gegen die Kultur missbraucht, ist zum wichtigsten Erzieher der Jugend berufen worden. Dabei ist gerade er als Erzieher, wie Nietzsche unaufhörlich wiederholt, 11 12 13 14

Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten« (Anm. 4), S. 668. Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten« (Anm. 4), S. 683. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 69. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 68.

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gänzlich ungeeignet. Es herrscht nämlich ein fundamentales Missverständnis der Rolle des Wissenschaftlers vor: »In den sogenannten ›Lebensberufen‹«, schreibt Nietzsche, und er meint dabei auch die Wissenschaften, »liegt eine rührende Bescheidenheit der Menschen: sie sagen damit, wir sind berufen unseresgleichen zu nützen und zu dienen, und der Nachbar ebenfalls und dessen Nachbar auch; und so dient jeder dem andern, keiner hat seinen Beruf, seiner selbst wegen da zu sein, sondern immer wieder an­de­ rer wegen […]. Wenn jeder seinen Zweck in einem anderen hat, so haben alle keinen Zweck in sich, zu existiren«.15 Die mangelnde Unabhängigkeit des Philologen, die sich in seiner angeblichen ›Objek­tivität‹ manifestiert, zeigt sich vollends in seinem Umgang mit Geschichte. Histo­rische Objektivität ist für Nietzsche bekanntlich nicht nur unmöglich, sondern letzt­lich nichts anderes als die Selbstbestätigung der Vorurteile der Gegenwart. Anstelle solch selbstgefälliger Schmeichelei fordert Nietzsche, das Studium des Altertums der kritischen Betrachtung der Gegenwart dienlich zu machen. Es solle als kontrastie­ren­ der Hintergrund und nicht als Spiegel dienen, als eine alternative Vorstellung da­von, wie eine moderne Welt aussehen könnte, die jede gegenwärtige Realität »zu einem iro­nischen Dinge«16 mache. Indes ist es nicht einfach, sich radikale Differenz vor­ zu­stellen. In der Tat scheint ein unangenehmer Zirkelschluss unvermeidbar. Die­sem Zirkel­schluss spürt die folgende Passage aus »Wir Philologen« nach: Die Philologie als Wissenschaft um das Alterthum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accommodation jeder Zeit an das Alterthum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittelst des Alterthums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige. – Dies ist die Antinomie der Philologie: man hat das Alterthum thatsächlich immer nur aus der Gegenwart verstanden – und soll nun die Gegenwart aus dem Althertum verstehen?17 Hier liegt in der Tat ein Problem: Man liest die Gegenwart in die Vergangenheit hinein – insbesondere anscheinend dann, wenn man ›objektiv‹ arbeitet – und ver­wen­ det dann die Vergangenheit als Grundlage zur Beurteilung der Gegenwart. Ist es dann noch ein Wunder, dass die griechische Antike der deutschen Moderne des 19. Jahr­hun­ derts schmeichelt? Nietzsche sucht angesichts dieser Problematik nach einer neuartigen Vermittlung zwischen Antike und Moderne. Zunächst scheint es, als könne der Begriff des ›Erlebnisses‹ diese Vermittlung leisten:

15 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 32. 16 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 56. 17 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 31.

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Richtiger: aus dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen Alterthum hat man sich das Erlebte taxirt, abgeschätzt. So ist freilich das Erlebniss die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen – das heist doch: erst Mensch sein, dann wird man erst als Philolog fruchtbar sein.18 Es zeigt sich allerdings, dass dies eine problematische Lösung ist, denn Philo­lo­gen wer­den in jungem, zu jungem Alter ausgebildet, um die Menge und den Typ von Er­ fahrung erwerben zu können, die Nietzsche als notwendig für das Studium der An­tike erachtet. Hier stoßen wir auf eine zweite Antinomie: »Daraus folgt, dass ältere Män­ner sich zu Philologen eignen, wenn sie in der erlebnissreichsten Zeit ihres Lebens nicht Philologen waren.« So schlägt Nietzsche schließlich ›Erkenntnis‹ als vermittelnden Ter­ minus vor: »Überhaupt aber: nur durch Erkentniss des Gegenwärtigen kann man den Trieb zum klassischen Alterthum bekommen. Ohne diese Erkentniss – wo sollte da der Trieb herkommen?«19 Die Antinomie, die sich hier verbirgt, bleibt unbenannt, aber man kann ihre Umrisse leicht erkennen: Wir haben bereits gehört, dass eine Erkenntnis der Gegenwart, die mehr ist als die bloße Bestätigung bestehender Vorurteile, nur zustande kommen kann, wenn man durch das Studium der Antike ein Gegenbild zur Gegenwart geformt hat; nun aber erfahren wir, dass man das brennende Verlangen danach, einen solchen kritischen Hintergrund der Betrachtung zu gewinnen, nur entwickeln kann, wenn man die Gegenwart bereits erkannt hat. Diese Antinomie verfolgt Nietzsche nicht weiter. Sein Fazit aber ist ernüchternd: »99 von 100 Philologen sollten keine sein«.20 Der Fehler des Philologen liegt nun nicht darin, dass er die Antinomien des his­ to­rischen Studiums nicht lösen kann, sondern darin, dass er sie nicht einmal wahrnimmt. Diese Unfähigkeit, das Grundproblem der eigenen Wissenschaft zu erken­nen, macht ihn zum kleinkarierten Bürokraten im Wissenschaftssystem – und das heißt: zu einer modernen Variante des christlichen Priesters. Wer aber kann uns dann von der Herrschaft der Philister befreien  – wenn man von Nietzsche selbst einmal absieht, dessen Schrift sich ja an die zukünftigen »E r z i e h e r« und ›Befreier‹ richtet.21 Die wahren Befreier, so zeichnet sich ab, werden »Philologen-Poeten« sein, eine Art von Wesen, das Nietzsche zufolge im zweiten Jahrhundert untergegangen ist,22 des­ sen Rückkehr uns aber durch Goethe, Leopardi und vor allem Wagner bereits an­ ge­kün­digt wird. Nietzsche gibt nur wenige Hinweise darauf, worin genau das Werk der Philologen-Poeten bestehen wird. Er weiß nur, dass ihre Aufgabe eher die Neu18 19 20 21 22

Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 31. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 31. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 20. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 47. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 44.

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schöpfung denn das Bewahren von Erkenntnis sein wird: »Man denke, was Goethe vom Alterthum verstand; gewiß nicht soviel als ein Philologe und doch genug, um fruchtbar mit ihm zu ringen. Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte«.23 Zum Schluss dieses Aufsatzes wende ich mich denn al­ so einem Beispiel für einen Nietzscheanischen Philolologen-Poeten aus dem 20. Jahrhundert zu, dem amerikanischen Dichter Ezra Pound.

III. In »Provincialism the Enemy«, einem Essay, den er 1917 in London geschrieben hat und der auf den ersten Blick wie ein konventionelles Stück Kriegspropaganda wirkt, stellt Pound die deutsche Universität, die deutsche Auffassung von ›Kultur‹, das Preußische Junkertum und den Militarismus als einen Verbund dar, der für das Übel des deutschen ›Provinzialismus‹ symptomatisch ist und der französischen und eng­li­schen Zivilisiertheit gegenübersteht. Auch wenn als ›Feind‹ zunächst Deutschland beziehungsweise das deutsche Universitätssystem genannt wird, richtet sich Pounds Groll mindestens ebenso sehr gegen die amerikanische Universität als die er­ bärm­lichste Umsetzung der deutschen Idee. Indem er seine Verwunderung da­rüber zum Ausdruck bringt, dass man im Allgemeinen keine Verbindung zwischen Philologie und Junkertum sehe, erklärt Pound das deutsche Universitätssystem für böse.24 Dieses System nämlich schreibe vor, ein jeder, der mit Intelligenz begabt sei, habe seine intellektuellen Kapazitäten auf Spezialfragen zu konzentrieren: »on to some particular problem […] some minute particular problem unconnected with life, unconnected with main principles (to use a detestable, much abused phrase).« Auf diese Weise könne  ein intelligenter Mann seine gesamte Aufmerksamkeit beispielsweise auf »ablauts, hairlength, forminifera«, richten. So aber könne nur Gelehrsamkeit, nicht aber Hu­ma­ni­tät propagiert werden (»an ideal of ›scholarship‹, not an ideal of humanity«). Ein Ge­lehr­ter sei dann jemand, dem es obliegt, Wissen zu erwerben, damit weiteres Wissen er­wor­ben werden kann (»acquire knowledge in order that knowledge may be acquired«) – mit dem Resultat, dass sein Gegenstand ihn in seine Gewalt nimmt und ihn entmenschlicht: so werde er zum »bondslave of his subject«, zur »gelded ant« und zum bloßen, »compiler of data«.25 In einer besonders vergnüglichen Passage stellt Pound das Idealbild des Gelehrten zusammenfassend vor, das er ablehnt: »I have no objection to any man making himself into a tank or refrigerator for as much exact information as he 23 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875 –1879 (Anm. 10), S. 89. 24 Ezra Pound, »Provincialism the Enemy«, in: ders., Selected Prose 1909 –1965, hrsg. von William Cookson, New York: New Directions 1973, S. 189 –202. S. 191: »People see no connection between ›philology‹ and the Junker […] the ›university system‹ of Germany is evil. It is evil wherever it penetrates.« 25 Pound, »Provincialism« (Anm. 24), S. 191.

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e­ njoys holding. There may even be a sensuous pleasure in such entanking. But a system which makes this entanking not only a sine qua non, but a fetish, is pernicious«. Denn es kultiviert die Gewohnheit unkritischen Denkens: »[an] uncritical habit of mind [that] spreads from the university to the Press and to the people«.26 Im Laufe seiner gesamten Karriere als Dichter, Propagandist des literarischen Mo­ der­nis­mus, Kritiker und politischer Störenfried fand Pound eine Vielzahl von For­mu­ lie­rungen für sein Gegenmodell zu jenem wissenschaftlichen Unternehmen, das er hier so rüde mit der Konstruktion menschlichen ›Stauraums‹ in Verbindung bringt. In den späten 1920er Jahren stieß Pound auf Leo Frobenius’ Ethnographie und ›Kultur­ phi­lo­sophie‹ und lernte dessen Vorstellung von einer »neuen Lehre« oder paideuma wertzuschätzen.27 Auch wenn er sich nicht als systematischer Denker verstand, ver­ such­te Pound systematisch zu beschreiben, worin für ihn der Reiz der wissenschaft­ lichen Methode von Frobenius lag: »The word Paideuma has been given the sense of the active element in the era, the complex of ideas which is in a given time germinal, reaching into the next epoch, but conditioning actively all the thought and action of its own time«.28 Anders formuliert habe Frobenius: »in especial seen and marked out a kind of knowing, the difference between knowledge that has to be acquired by particular effort and knowing that is in people, ›in the air‹ […] This is not mere utilitarianism, it is a double charge, a sense of two sets of values and their relation«.29 Was hier gewürdigt wird, ist der Gebrauchswert der Frobenius’schen Methode, jedoch nicht im Sinne ihrer professionellen Anwendbarkeit, sondern im Hinblick auf die Verbreitung von Kultur – in Pounds Fall: die Erfindung eines modernen poetischen Idioms – und im Hinblick auf die Durchsetzung einer neuen und besseren sozialen Ordnung. Das historische Erbe, etwa in Gestalt von Frobenius’ archäologischen und mythologischen Aufzeichnungen aus Afrika, Australien und anderen Teilen der Welt, hat seinen Wert für Pound darin, dass es dazu dienen kann, die Gegenwart in markanten Details neu zu gestalten. Für dieses Verfahren seien hier einige sehr kurze Beispiele genannt: Pound versuch­te im Rahmen seiner Übersetzungen – aus dem Provençal, aus dem Chine­si­schen, aus dem Altenglischen, aus dem Lateinischen und natürlich aus dem Griechischen –, das Englische als poetische Sprache zu erneuern und von seinen Viktorianischen und Edwardianischen Verkrustungen zu reinigen. Als er beispielsweise das angelsächsische Gedicht »The Seafarer« übersetzte, versuchte er mit Absicht, mehr den Klang denn den Sinn des Originals wiederzugeben – aus der Sicht des Fachphilologen machte er also Fehler. Aber Pound interessierte sich eher dafür, seine eigene poetische Sprache 26 Pound, »Provincialism« (Anm. 24), S. 197. 27 Leo Frobenius, Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Sittenlehre, Düsseldorf: Diederichs 1953 [1921]. 28 Ezra Pound, »For a New Paideuma«, in: Selected Prose 1909 –1965 (Anm. 24), S. 284 – 89, hier S. 284. 29 Ezra Pound: Guide to Kulchur, New York: New Directions 1970 [1938], S. 57.

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zu bereichern, indem er etwa Techniken der Alliteration erlernte, um sie anschließend in anderen Werken benutzen zu können, als dafür, die literarische Übersetzung eines Originals daran auszurichten, wie es vor tausend Jahren oder mehr verstanden worden wäre. Ähnlich führte er die Übersetzung der lateinischen Gedichte von Properz mit dem Ziel durch, die Kritik dieses Dichters am römischen Imperialismus als Kom­men­ tar zum Niedergang des britischen Empire erscheinen zu lassen. Schließlich nutzte Pound die Notizen und Ideen des amerikanischen Sinologen Ernest Fenollosa, um chi­ ne­sische Dichtung in ein amerikanisches Idiom zu übersetzen, das mit seiner kargen, aber kraftvollen Bildlichkeit die Bürde der Gefühls- und Sinnvermittlung übernehmen sollte. Diese Vorübungen Pounds in der Verwendung zeitlich und sprachlich entfernten Materials – dem Grundkapital philologischen Wirtschaftens – zur Erschaffung einer neuen literarischen Sprache gingen später in das größte poetische Projekt Pounds ein, die Cantos. Hier versuchte Pound, für die Gegenwart das »tale of the tribe« (Michael Andre Bernstein) zu schreiben, die Geschichte des eigenen Zeitalters. Das Material aus der Vergangenheit wird hier weniger zur Gestaltung von Details bemüht als zur Orga­ ni­sation und Strukturierung des Ganzen – so wie in anderen bahnbrechenden Werken von Pounds Zeitgenossen. Man kann sich gut vorstellen, dass sowohl Pound als auch Nietzsche James Joyce’ Ulysses als den großen zeitgenössischen Kommentar zu Homers Odyssee zu würdigen gewusst hätten; und man kann sich vorstellen, dass Pound hoffte, seine Cantos würden Dantes unter dem Namen der ›göttlichen‹ Komödie bekannt ge­ wor­denes politisches Projekt aktualisierend doppeln. In diesen Texten dürften in der Tat, um Nietzsche zu paraphrasieren, Aneignungen von Vergangenheit vorliegen, die auf der Basis gegenwärtiger Erkenntnis ein kritisches und unzeitgemäßes Bild der Ge­ gen­wart darbieten. Nimmt man Nietzsche ernst – und Pound so ernst, wie er sich sel­ ber nahm –, so mögen sie beide uns glauben machen, Philologen-Poeten wie Pound, Joyce, William Carlos Williams, Charles Olsen und andere hätten ihre poetische Wel­ ten tatsächlich auf diese Weise gestaltet – und zwar nicht nur zum Zwecke ihrer pro­ fes­sionellen Selbstvermarktung. Ihr Ziel sei es gewesen, nicht die Vergangenheit so zu sehen, wie sie war, sondern die Gegenwart so, wie sie sein könnte. Nietzsche war nun allerdings immer auch Ironiker. Ihm wäre die Ironie der Situa­ tion, in der wir uns heute befinden, sicherlich nicht entgangen: »The ultimate goal of scholarship is popularization«, schreibt Pound. Und weiter: »[T]he scholar’s ultimate end is to put the greatest amount of the best literature […] within the easiest reach of the public; free literature as a whole from the stultified taste of a generation«.30 The Cantos sollten in eben diesem Sinne populär sein, sie sollten den größten Teil der Weltkultur, von Homer bis Konfuzius, von australischen Felsritzungen bis zu afri­ka­ ni­schen Mythen, in die unmittelbare Reichweite des ›Stammes‹ rücken, dessen ›Sage‹ sie werden sollten. Sie sollten so jener paideuma dienen, für die Frobenius ­eintrat, 30 Pound, »Provincialism« (Anm. 24), S. 198.

396 der ›neuen Lehre‹. Doch was ist davon geblieben? Paideuma ist heute der Name ei­ ner Zeit­schrift, die sich der Pound-Forschung widmet. Um The Cantos zu lesen, be­ nö­tigt man einen jener umfassenden Kommentare, die hingebungsvolle Wissen­ schaft­ler zusammengestellt haben und die jeden noch so obskuren Bezug aufspüren, chinesische Ideogramme oder griechische Phrasen übersetzen und dem interessierten Leser die zahlreichen anekdotischen und historischen Anspielungen erhellen – wobei es nur sehr wenige interessierte Leser gibt, und zwar in der Regel entweder Stu­die­ rende oder Wissenschaftler. Doch auch der Zugang zu Nietzsches eigenen Frag­men­ ten wurde von niemand anderem eröffnet als von Philologen, von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, um sie namentlich zu nennen. Auch wenn viele, die über Nietz­sche schreiben, dies mit dem Enthusiasmus adoleszenter Jungen und Mädchen tun, die gerade den Sex entdeckt haben, verbirgt sich hinter den Namen Nietzsche und Pound in erster Linie eine florierende akademische Industrie, die jedem jungen Wissen­schaftler – oder Wissenschaftler mittleren Alters – von Nutzen ist, der sich eine un­be­fristete Stelle an einer Universität oder die notwendige Reputation wünscht, um Ein­la­dun­gen zu internationalen Konferenzen zu erhalten. Was, so fragt man sich, hätte Nietzsche zu all dem wohl gesagt?

Übersetzt von Till Dembeck

Maren Lehmann

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»Wladimir Iljitsch sah müde aus. Er meinte mit einem Lächeln: ›Es ist ein schroffer Übergang von der Illegalität [...] zur Macht. Es schwindelt.‹   – Die letzten Worte ›es schwindelt‹ sagte er, ich weiß nicht weshalb, auf deutsch; er machte dabei eine wirbelnde Handbewegung nach dem Kopfe hin.«1 »Der Hereinfall des Schwindels ist der letzte Witz, der einer verstimmten Kultur einfällt.«2

Die Komödie des Zorns: Marx Es sei blamabel, jenseits der Grenzen Deutschlands als Deutscher erkannt zu werden, aber es sei auch erhellend, »eine Offenbarung, wenngleich eine umgekehrte«, weil es die »Komödie des Despotismus, die mit uns aufgeführt wird«, vor Augen stelle: »eine Wahrheit, die uns zum wenigsten die Hohlheit unseres Patriotismus, die Unnatur un­se­res Staatswesens kennen und unser Angesicht verhüllen lehrt«.3 In heutigen 1 Leo Trotzki, Über Lenin. Material für einen Biographen, Essen: Arbeiterpresse 1996, S. 86 u. 63. 2 Karl Kraus, »Nach dem Erdbeben«, in: ders., Untergang der Welt durch schwarze Magie. Schriften, hrsg. von Christian Wagenknecht, Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 S. 132 –139, hier S. 137. 3 Karl Marx, M. an R. [an Arnold Ruge] im März 1843, in: ders., »Briefe aus den ›DeutschFranzösischen Jahrbüchern‹«, in: Marx Engels Werke (im Folgenden: MEW), Bd. 1, 11.  Aufl., Berlin: Dietz 1977 S. 337–338, hier S. 337.  – Der Beitrag verzichtet hier und im Folgenden aus

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Begriffen lässt sich die Beschreibung, die Karl Marx hier Arnold Ruge anbietet, als Invisibilisierung von Selbstreferenz verstehen; wir verhüllen unseren Blick, um nicht zu sehen, was ›mit uns‹ – also: mit unserer Beteiligung – ›aufgeführt‹ wird; aber wir verhüllen einen Blick, der bereits gesehen hat und also nicht vergessen kann. Die Exal­tation des dadurch sowohl möglichen als auch unmöglichen Rückzugs nennt Marx »Scham«, »eine Art Zorn« (der in sich gekehrt ist), ein »Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht«,4 während um ihn herum die Dinge weiterlaufen. Die Darsteller der staatlichen Komödie schauen sich selber zu, munitionieren sich mittels ihrer Introversions›spirale‹ immer weiter und erscheinen sich selbst umso explosiver, je länger die Komödie dauert.5 Das, so bemerkt Marx mit einem sehr genauen Sinn für die Komik der Ununterscheidbarkeit von Lethargie und Energie in jeder unter diesen Umständen denkbaren Rolle, »ist schon eine Revolution«.6 Unnötig zu bemerken, dass die Introversion erneut gekippt werden kann zu dem nicht minder komischen Bild eines sorglos treibenden Schiffs in sich aufbauendem Wellengang. Auch die unter ihrer »Nebelkappe«7 trocken dahintrudelnden »Narren« entgehen ihrem Schicksal nicht: »Dieses Schicksal ist die Revolution, die uns [!] bevorsteht.«8 Ruge zitiert in seiner postwendenden Antwort Hölderlin, um glaubhaft zu ma­ chen, dass es für Scham und Zorn längst zu spät sei. »Ihr Mut entmutigt mich nur noch mehr.«9 Hat Marx eben noch leichthin alttestamentlichen Furor mit neu­testa­ ment­licher Demut verknüpft, verwendet Ruge jetzt eine pietistische Formel in re­pu­ bli­ka­nischem Pathos depressiver Färbung: »[I]ch nenne Revolution die Umkehr aller Herzen und die Erhebung aller Hände für die Ehre des freien Menschen, für den freien Staat, der keinem Herrn gehört, sondern das öffentliche Wesen selbst ist, das nur sich ökonomischen Gründen völlig auf die Hinzuziehung der Marx-und der Lenin-Rezeption, die die Probleme der Doppelbödigkeit des Revolutionsbegriffs und erst recht die Ironien der Verberuf­li­ chung revolutionären Handelns durch deren präferierte organisationale Systemreferenz überdies über­raschend deutlich vernachlässigt hat; speziell dazu wurden hier einige Verweise aufgenommen. 4 Marx, M. an R. im März 1843 (Anm. 3), S. 337. Zu dieser Unterscheidung (gefasst als »Zorn« und »Schmerz«) vgl. Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 181. 5 Vgl. zur »Spiralmetapher« der Revolution Reinhart Koselleck, »Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Semantik eines einst emphatischen Worts« [1985], in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 240 –251, hier S. 249. 6 Marx, M. an R. im März 1843 (Anm. 3), S. 337. 7 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, 20. Aufl., Berlin: Dietz 2001 (= MEW, Bd. 23), S. 15. 8 Marx, M. an R. im März 1843 (Anm. 3), S. 338. 9 Ruge an Marx im März 1843, in: Karl Marx. Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner 1971, S. 156 –160, hier S. 156 (in MEW, Bd. 1 [Anm. 3] nicht enth.). Das Zitat ruft die Schlachtfeldszenerie (II.2) auf aus Friedrich Hölderlin, »Hyperion oder Der Eremit in Grie­chen­ land«, in: ders., Sämtliche Gedichte und Hyperion, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt am Main /  Leipzig: Insel 1999, S. 477–640, hier S. 633 f.

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angehört. Soweit bringen es die Deutschen nie.«10 Die Despotie sei kein Aufreger für »unsere Spießbürger und ihre unvergängliche Schafsgeduld«; sie pflegten ihren indi­ vi­duellen »Unwillen« genau so wie ihr Desinteresse an einem »allgemeinen Schrei der Entrüstung«.11 Das Schiff, auf das Marx anspiele, sei doch längst untergegangen. »Ich weiß, dass ich dazu gehöre«, ergänzt Ruge, den Motivverdacht geradezu herauf­be­ schwö­rend, »glauben Sie nicht, dass ich mich der allgemeinen Schmach entziehen will. Werfen Sie mir vor, dass ich es nicht besser mache als die anderen, [...] sagen Sie mir jede Bitterkeit, ich bin darauf gefasst.«12 Es ist dieser »atemversetzende Grabgesang«, auf dessen Larmoyanz Marx mit sei­ nem ›Philister-Brief‹ antwortet.13 Im Grunde spottet er nur über die Idee, den Narren in ihr nasses Grab hinterher zu springen, wenn es die Möglichkeit gibt, stattdessen »lebendig ins neue Leben ein[zu]gehen«.14 Die sich selbst verstärkende Intro­ver­sion des ob seiner Teilhabe beschämten Beobachters übersetzt er jetzt in eine ihr eige­nes Substrat zerstörende Subversion der »Philisterwelt« durch die »Gesellschaft dieser Herren«, eben der Philister;15 Ruges Klagelied ist ihm ein Beispiel dafür. Wie das intro­ ver­tierte Individuum, so hat auch diese subvertierte Welt die Revolution schicksalhaft vor sich und ist doch ›schon eine Revolution‹. Vordergründig polemisiert Marx nur. Die Philister sind »entmenschte« Zuchtgewächse (»Sklaven«, »Tiere«) einer »erb- und eigentümlich[en]« Welt, die sie »[ausfüllen] wie die Würmer einen Leichnam«.16 (Diese Subversion wird Lenin zur Grundlage seines Organisationsprogramms machen; darauf komme ich zurück.) Zu Narren werden sie, weil sie sich selbst mit der ›Eigentümlichkeit‹ der Welt verwechseln, sobald es ihnen nur gelingt, in dem toten Körper einen noch so engen Platz zu okkupieren – das schließt, wie Marx in aller Klarheit zeigt, auch jede Spitzenposition ein. Die ›Philisterwelt‹ ist ein Haushalt, in dem Sklaven sich für Herren halten, Menschen sich wie Tiere aufführen. Sie ist eine Ökonomie der Degradierung »dieser ganzen Gesellschaft« zum »Material« ihrer eigenen Inszenierung:17 Menschen, »Hüte«, »Ideen«.18 Die Philister halten sich für die Herren dieser Welt (und für Souveräne ihrer selbst) ausgerechnet dann, wenn sie ihr definitiv anheim ge­ fallen sind; sie sind »Realisten«.19 In einem derart »kopflose[n] System« hat und will 10 Ruge an Marx im März 1843 (Anm. 9), S. 157. 11 Ruge an Marx im März 1843 (Anm. 9), S. 158. 12 Ruge an Marx (Anm. 9), S. 160. 13 Marx, M. an R. im Mai 1843, in: MEW, Bd. 1 (Anm. 3), S. 338 –343, hier S. 338. 14 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 338. 15 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 339 u. 338. 16 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 339 u. 338. 17 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 339 u. 341. 18 Karl Marx, »Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ›Philosophie des Elends‹ [Misère de la philosophie. Reponse a ›La philosophie de la misère‹ de Proudhon]«, übers. von Eduard Bern­stein und Karl Kautsky, mit einem Vorwort und Noten von Friedrich Engels, in: MEW, Bd. 4, 6. Aufl., Berlin: Dietz 1977, S. 63 –182, hier S. 83 u. 125. 19 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 339.

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niemand »Proben davon, dass er problematisch wäre«; ohne Anfechtungen kann hier jede »Laune an ihrem Platz bleib[en]«; »ich nehme«, stellt Marx daher bündig fest, »die Assekuranz des Narrenschiffes nicht auf mich«.20 Das Substitut der unmöglichen Versicherung gegen den Untergang ist die Revo­lu­ tion. Sie bietet sich an als eine Möglichkeit, die ›kopflose Laune‹ zu problematisieren und ihr den ›Platz‹ zu entziehen. Von diesem Moment an oder zumindest in diesem Moment wäre die »verkehrte Welt« nicht mehr »die wirkliche«,21 weil sie nicht mehr selbstverständlich wäre. Mit dieser Überlegung geht Marx, so sehr er sie hier noch im Hintergrund belässt, über die Polemik hinaus. Er ergänzt zunächst, wie gesehen, die Unterscheidung von Scham und Zorn durch die Unterscheidung von Welt und Gesellschaft. Beide Unterscheidungen entwirft er als Rekursion (semantisch variiert in For­ mu­lierungen wie ›in sich gekehrt‹ oder ›umgekehrt‹, in den ökonomischen Schriften als ›Zirkulation‹22), sodass beide Seiten der Unterscheidung einander implizieren, ob­wohl sie einander doch zugleich negieren: Scham ist nicht Zorn (Nichtzorn), aber Scham impliziert – als ihre unvermeidliche andere Seite – Zorn (der insoweit viel­leicht als schamlos zu bezeichnen wäre). Das gleiche gilt für die Unterscheidung von Welt und Gesellschaft: Die Welt kann als Material der Gesellschaft und ihrer Ökonomien nie von der Gesellschaft getrennt und vor allem auch nie von der Gesellschaft be­herrscht werden, sondern bleibt deren unbeherrschte, unordentliche Seite und wird sogar im­ mer unordentlicher, je ordentlicher die Gesellschaft sie sich zu eigen zu machen versucht. Dadurch lassen sich beide Unterscheidungen als mediale Räume inszenieren – sie bilden ihren eigenen Kontext, die Ressourcen ihrer eigenen Formbildungen, was nichts voraussetzt als die Akzentuierung der Implikation der einen durch die je andere Seite –; und beide Unterscheidungen bilden zugleich das Potential von Brüchen und Rissen dieser ihrer eigenen Kontexte (semantisch variiert in Spannungs- und Unterdrückungsmetaphern), was nichts voraussetzt als die Akzentuierung der Negation der einen durch die je andere Seite. Überdies können beide Unterscheidungen in grif­fi­gen Einheitsformeln gebündelt werden: dem Menschen auf der einen Seite (der Re­kur­ sion von Scham und Zorn der »geistigen Wesen«: der »Freiheit«23), dessen Ressource immer eine seltsame – nämlich jenseits des Kontextes so erstaunliche wie unbegreif20 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 340. 21 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 340. 22 Vgl. ausführlich Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band, 11. Aufl., Berlin: Dietz 2003 (=  MEW, Bd. 24). Vgl. aber schon zur These der Verknüpfung von »unend­ li­che[m] Progress« und »Kreisbewegung« (»die ganze sogenannte Weltgeschichte«) ders., »Öko­no­ misch-philosophische Manuskripte«, in: MEW Ergänzungsband: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844, 1. Teil, Berlin: Dietz 1968, S. 465 –588, hier S. 545 f., und noch deutlicher S. 584, die Beschreibung der »absoluten Verkehrung«: »das absolute Subjekt[...] als sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sie zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt und das Subjekt als dieser Prozess; das reine, rastlose Kreisen in sich« (Hervorhebung im Original). 23 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 338.

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liche – Leidenschaft ist, dem Staat auf der anderen Seite (der Rekursion von Welt und Gesellschaft der »hirnlosen Wesen«: des »Philistertums«24), dessen Ressource immer eine nicht minder seltsame ökonomische Unerschütterlichkeit ist. So stehen sich dann mit dem Menschen, der sich daran erkennt, dass er immer zwischen Scham und Zorn oszilliert und an der dadurch entstehenden Unruhe heiß leidet, und dem Staat, der sich daran erkennt, dass er immer zwischen Welt und Gesellschaft oszilliert und mit der dadurch entstehenden Unruhe kalt rechnet, zwei Kontrahenten gegenüber, die ein­ an­der so ähnlich und zugleich so fremd sind, dass sie sich nur im Modus der Feindschaft begegnen können. Philiströs ist dann aber einfach die Fähigkeit, jede Unruhe in Kalkül zu übersetzen (anstatt in Rage zu geraten), also die Fähigkeit, mit der Freiheit (mit dem Menschen, mit dem Geist, mit schlechthin allem) zu rechnen (anstatt zu leiden). Schon unter diesem Aspekt gewinnt Marx ein dramaturgisch leistungsfähiges Ar­ range­ment, das sich noch zuspitzen lässt, indem auch diese Feindschaft als rekur­sive Unterscheidung ernst genommen wird. Dann treffen Geist (»alle leidenden und alle denkenden Menschen«25) und Leere (die ›Hohlheit‹ und ›Unnatur‹ des ›kopflosen Systems‹ der Philister) aufeinander, dann tritt der Zorn in der »Harlekinade« des Staa­ tes auf,26 dann spukt die Leidenschaft im Kontext des Kalküls: sie ist jenes »Gespenst«, das Marx in seinen politischen Programmen zu beschwören versucht.27 Er ist sich im Klaren darüber, dass diese Situation inszeniert werden muss, dass die »Kata­strophe herbeizuführen« ist.28 Denn gelingt das nicht (der ganze Briefwechsel ist immerhin von der Rhetorik des Scheiterns grundiert), setzt sich in der Rekur­sion nichts weiter durch als ein entweder auf der Seite der Scham / Zorn-Introversion – das heißt: im Me­ dium der Moral – oder auf der Seite der Welt / Gesellschaft-Subversion – das heißt: im Medium der Ordnung – ausgetragener Konflikt, eine stabile Instabilität. Wenn Marx den Raum seiner Unterscheidungen schließlich vereinfacht zum »Antagonismus« von Kapital und Arbeit29 (mithin einem »Gegensatz«, der sich im »Widerspruch« re­pro­du­ ziert30 und die Rollen entwirft, die das Personal der Revolution bilden), dann ergeben sich auf beiden ›antagonistischen‹ Seiten philiströse Formen: »der asketische, aber wu­ chernde Geizhals« hier, »der asketische, aber produzierende Sklave« da, alle im Streit

24 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 339 u. 342. 25 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 342. 26 Marx, M. an R. im März 1843 (Anm. 3), S. 338. 27 Karl Marx und Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: MEW, Bd. 4 (Anm. 18), S. 459 – 493, hier S. 461. 28 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 342. 29 Karl Marx, »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, in: MEW, Bd. 13, 8. Aufl., Berlin: Dietz 1978, S. 3 –160, hier S. 9. 30 Marx, »Das Elend der Philosophie« (Anm. 18), S. 182.

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miteinander und untereinander.31 Überdies gerät die Differenz selbst zur philiströ­ sen Form, weil sie immer neue »Mittelklassen« bildet, die sich in ihrer »philister­haften Mittelmäßigkeit« als Heimat absteigernder Kapitalisten und aufsteigender Arbeiter an­ bieten32 und zum »mesquine[n]« Konkurrenten der Revolution werden.33 Fast durch­ gängig, sicher aber in seinem Brief an Ruge liest Marx sich so, als habe er diese Si­tua­ tion gegenüber der Katastrophe – dem »salto mortale«34 – bevorzugt oder sie doch zumindest für hinnehmbar gehalten. Die Alternative von »Krieg unter den Hab­süch­ tigen« und philiströser Langeweile (eigentümlich lapidar spricht Marx von »dieser gan­ zen Entfremdung«)35 ist ihm unbedingt interessanter, eben buchstäblich lebendiger als die (von Lenin dann ebenso unbedingt bevorzugte) Alternative »blutiger Krieg oder das Nichts«, auch wenn er letztere mit diesem expliziten Zitat George Sands pathetisch beschwört.36 Er sieht keinen Grund, das Narrenschiff zu entern, um es umsteuern zu können oder mit ihm unterzugehen; er sieht aber auch keinen Grund, es (wie Ruge vorschlägt) für bereits untergegangen zu halten und in die Finsternis zu starren, in der es verschwunden sein muss. An die Stelle dieser Finsternis und damit zugleich an die Stelle des Untergangs setzt Marx die Revolution – aber er versteht sie nicht als Zerschlagung oder Zer­stö­ rung (denn die Gesellschaft ist »kein fester Kristall, sondern ein umwandlungs­fähi­ger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus«37), sondern als eine Art Eigenwert der Gesellschaft selbst, als Verkörperung des Nichtwissens ihrer selbst. Die Revolution ist Ereignis der Evolution  – eine aktuelle und doch zugleich an­schlussfähige, Variabilität öffnende Katastrophe  –, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.38 Philiströs ist dann schlicht der Versuch, diesem Ereignis auszu­wei­ chen. Als evolutionäres Ereignis ist die Revolution die existentiell einzige Mög­lich­keit, sich »als Mensch [zu] fühlen«,39 daher ist sie Inbegriff der »allgemein menschliche[n]

31 Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte« (Anm. 22), S. 549 (vgl. S. 527 f. als Be­schrei­ bung der wechselseitigen Diskreditierung von Grund- und Kapitalbesitzern im Rahmen der Kon­kur­ renz um den größten ›Geizhals‹: zwei Seiten voller Philistervokabeln). 32 Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: MEW, Bd. 1 (Anm. 3), S. 378 –391, hier S. 389. 33 Friedrich Engels, »Revolution und Konterrevolution in Deutschland«, in: MEW, Bd. 8, 6. Aufl., Berlin: Dietz 1978, S. 3 –108, hier S. 98 –102 (»Die Kleinbürger«), zit. S. 99. 34 Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Anm. 32), S. 386. 35 Marx, »Philosophisch-ökonomische Manuskripte« (Anm. 22), S. 511. 36 Marx, »Das Elend der Philosophie« (Anm. 18), S. 182. 37 Marx, Das Kapital I (Anm. 7), S. 16. 38 Vgl. die berühmte Schlussbemerkung in Marx, »Das Elend der Philosophie« (Anm. 18), S. 182: »Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, wer­ den die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein« (Hervorhebung im Original). 39 Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 339.

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Emanzipation«,40 aber sie ist oder hat kein Telos, denn – das ist der vielleicht entscheidende Aspekt – sie ist immer schon da und steht zugleich immer noch bevor.41 Das aber heißt: Gerade weil sie ultimatives, »totale[s]« Ereignis ist,42 hat die Re­vo­ lution Zeit; so wie jedes Ereignis eben Form (Stelle) der Zeit ist und damit Ereignis im Temporalkontext der Welt, so ist auch die Revolution als Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft zugleich Verkörperung von Vergangenheit und Zukunft und damit Verkörperung der Zeit selbst. Man muss den Umsturz nicht überstürzen. (In nichts, darauf komme ich zurück, unterscheidet sich Marx so vollkommen von Lenin wie in diesem Punkt. Beide nehmen ja durchaus an, dass es auf »den Zusammenstoß Mann gegen Mann« hinauslaufen wird.43 Aber Marx fehlt in dieser Hinsicht jede »Zielstre­ bigkeit«.44) Die Revolution entwirft den Zeitraum, in dem sie auftritt, durch ihr Auftreten immer wieder neu, und sie verteilt sich in der Zeit als ihrem eigenen Raum, sodass immer ungewiss bleibt, in welcher Variante sie an welcher Zeitstelle auftritt. Gewiss ist aber immer: Sie tritt auf, sie ereignet sich unvermeidlich. Der Antagonismus ist, so gesehen, eine sehr gelassene soziale Form; Kapital und Arbeit arrangieren sich jedenfalls. Wenn sich in diesem Sinne davon ausgehen lässt, dass in Marx’ Revolutions­be­ griff die Evolutionstheorie über die Konflikttheorie triumphiert, dann kann es in die­ sem Konzept keinen besonderen Beruf zur Revolution geben, weil es keinen Bedarf und keinen Ort für diesen Beruf gibt. Wenn jedes evolutionäre Ereignis selbst re­vo­ lu­tio­näres Ereignis ist, fehlt die distinkte Aufgabe oder ›Funktion‹, die den Beruf als solchen definieren würde (soweit man nicht die Evolution selbst oder, lapidar for­mu­ liert, das Problem, dass die Zeit vergeht, verberuflichen würde). Die Revolution kann ihre Zurechnungsformen (ihre Identitäten, ihre Rollen, ihr Personal) nur durch den Anta­gonismus entwerfen, dem sie selbst sich verdankt. Gegen den Triumph der Zeit bzw. der ›evolutionären‹ Gelassenheit müsste der Beruf zur Revolution laufend die­ sen Antagonismus einwenden. Er wäre ein Beruf zum Konflikt, zur ärgerlichen Zuspitzung alles dessen, was doch warten kann, auf etwas, das keinesfalls warten kann, eine stressige Hektik; und er wäre ein Beruf zum Aktionismus, ein alles in allem nerv­ tötender Habitus der Tat, des eingreifenden Handelns, der Umkrempelei. Er müsste die Unterscheidung von Kapital und Arbeit in die Unterscheidung von Ka­pi­talisten und Arbeitern (einschließlich aller möglichen Derivate auf beiden Seiten) über­setzen – und er würde damit der Revolution als evolutionäres Ereignis, als seinen eigenen Kontext 40 Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Amn. 32), S. 388. 41 »So gibt es kaum einen geschichtlichen Grundbegriff, der so sehr Einmaligkeit und Wiederholbarkeit, diachrone und synchrone Aspekte in sich versammelt wie der Begriff ›Revolution‹«. »Der Begriff enthält einen historischen Sog zur Neuerung, aber ebenso zahlreiche Aspekte von stiller Dauer oder Wiederholbarkeit« (Koselleck, »Revolution« [Anm. 5], S. 245). 42 Marx, »Das Elend der Philosophie« (Anm. 18), S. 182 (»totale Revolution«). 43 Marx, »Das Elend der Philosophie« (Anm. 18), S. 182. 44 Trotzki, Über Lenin (Anm. 1), S. 30 u. 55 (u. ö.).

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entwerfender Zeitpunkt des Umbruchs, immer im Wege stehen. In Marx’ Konzept erfasst die Rekursivität der Form ›Revolution‹ (das heißt die Anwendung des Antagonismus auf jede seiner Seiten, sein Wiedervorkommen als Antagonismus sowohl auf der Seite des Kapitals als auch auf der Seite der Arbeit) jeden Handelnden, jede Aufgabe, jede Position, jede Person und damit schlechthin jede Rolle, und ›erfasst‹ heißt hier in einem sehr ernst zu nehmenden Sinne: Das ›und‹ der Unterscheidung von Kapital und Arbeit triumphiert, weil es evolutionäres Ereignis ist, über das ›oder‹ der beiden Seiten dieser Unterscheidung, und zwar auch und gerade dann, wenn dieses ›und‹ durch die Zurechnung auf Handeln als Antagonismus auf den Punkt gebracht wird – denn nur so, nur im Medium des ›und‹, kann die Revolution ihr eigenes Auftreten über­leben, und nur so überlebt also auch das Personal der Revolution seine eigenen Aktionen. Der Triumph des ›oder‹ wäre kein Bruch, sondern das Ende der Zeit (genau dafür hat bekanntlich Trotzki optiert). Das ›und‹ ist die soziale Ressource schlechthin der Revolution und ihres Personals (in ihm wird deutlich, dass Marx’ Revolutions­theorie eine Zeittheorie ist, und zwar – wenn man den Bruch als Negation der Zeit­pro­gres­ sion versteht – eine negative Zeittheorie). Wird der Antagonismus als Implikation von ›und‹ und ›oder‹ verstanden, und wird diese Implikation als Form der Revolution verstanden, dann ist klar: die Revolution entwirft keine auf sie selbst kaprizierte Sonderrolle, keinen ›Revolutionsberuf‹ und keine ›revolutionäre Identität‹; der Mensch selbst (der freie Geist) ist revolutionär, aber eben deshalb kein Revolutionär.45 Deshalb kennt Marx keinen ›Revolutionär‹ (man beachte seine deutlich distanzierende, scharf spöt­ ti­sche Verwendung dieses Terminus in der Auseinandersetzung mit dem russischen Anar­chis­mus Bakunins46), oder genauer: er kennt nur einen, und der ist niemand an­de­res als der mittelmäßige Philister. Sein direktes Gegenüber, sein alter ego, wäre nicht der Revolutionär, sondern der Mensch selbst. Aber dieser wäre – insofern jedenfalls, als sich die Rekursivität der Differenz von Kapital und Arbeit in der Differenz von Philister und Mensch wiederholen würde und der Mensch also seiner Freiheit nie teilhaftig werden kann, ohne sich mit dem Philiströsen als seiner anderen Seite zu infizieren – immer ebenso sehr revolutionär wie Revolutionär. Nur im Ereignis selbst – und um dies zu wiederholen: nur das Ereignis selbst, nichts als das Ereignis, ist für Marx die Revolution – ist der Mensch frei und nicht philiströs. Wann immer aber etwas dauert, ist diese Freiheit verloren; wann immer etwas dauert, wird es philiströs. Eine Revolution, die auf den Konflikt setzt und das ›und‹/›oder‹ ihrer selbst ausagiert, kann demnach nur gelingen, wenn sie die Dauer und damit ihre eigene Philistrosität erträgt; die Revolution wäre sonst nicht nur immer sofort zu Ende, sondern sie wäre 45 Vgl. Koselleck, »Revolution« (Anm. 5), S. 250. 46 Karl Marx und Friedrich Engels, »Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation. Im Auftrage des Haager Kongresses verfasster Bericht über das Treiben Bakunins und der Allianz der sozialistischen Demokratie«, in: MEW, Bd. 18, 6. Aufl., Berlin: Dietz 1976, insbesondere Abschnitt VII, S. 406.

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das Ende. Marx hat mit dergleichen Argumenten bekanntlich die Maschinenstürmerei und den anarchistischen Terrorismus kritisiert und spricht nicht zufällig, wie erwähnt, nur hier und hier eben nur abfällig vom ›Revolutionär‹ (wie vom ›Philister‹). Ein Platz für charismatische Berserker (Max Weber47) ist die Revolution darum in Marx’ Konzept nicht. Der Ort des Revolutionärs ist die Implikation von ›und‹ und ›oder‹, sein Ort ist die Differenz von Kapital und Arbeit, also die Differenz als Differenz; er kann aus ihr keine Identität errechnen oder erarbeiten, und er kann folglich weder Kapitalist noch Arbeiter (oder in den Formulierungen des Ruge-Briefes: weder beschämt noch zornig, weder blind noch sehend, weder Herr noch Sklave, weder Mensch noch Tier) sein. Seine Askese an diesem Ort – der nichts als ein Ereignis ist – muss vollkommen sein; er verkörpert die Revolution nur in dieser prekären Form. Als Beruf verstanden, wäre diese Askese eine Aufgabe von existentieller Schwierigkeit; denn in seinem weder / noch-»Zwischenreich«48 muss der Revolutionär seine Nichtidentität ertragen können – das heißt auch und vor allem: seine Ununterscheidbarkeit vom Philister. Diese Schwierigkeit ist konzeptionell nur zu lösen, wenn die basale Gegen­über­ stellung von Moral (Scham / Zorn) und Ordnung (Welt / Gesellschaft) als Hintergrund der abstrakten Unterscheidung von Kapital und Arbeit memoriert und zu­gleich modifiziert wird. Angesichts einer zersetzten Ordnung kann von Moral keine Rede mehr sein, weil ihr die Referenz fehlt. Die Scham / Zorn-Unterscheidung kann also aus ihrer lähmenden Introversionsspirale gelöst und in einen aktivistischen extrovertierten Modus umgesetzt werden, der sich  – das ist bald schon Lenins Pointe  – moralisch nicht rechtfertigen muss (auch nicht vor sich selbst), weil er angesichts der zersetzten Welt immer schon gerechtfertigt ist. Diese Extroversion muss nicht emphatisch oder pathetisch mit der Freiheit des Menschen unterfüttert werden; sie kann vollkommen kalt sein. Das heißt: Das revolutionäre Ereignis muss seinen letzten Halt nicht in der Emanzipation des Menschen haben, und wenn dieser Verzicht möglich ist, müsste – da nun alle Rücksichten fallen und die Revolution nicht mehr nur ein Spiel mit der Zeit, sondern ein Spiel mit dem Ende ist – dieses Ereignis höchste gesellschaftliche Sprengkraft und größte soziale Beweglichkeit inszenieren können. Marx hat gegen diese Mög­ lichkeit – über die Komödie des Zorns im Rahmen der Ordnung, das durchaus ag­gres­ sive Spiel mit der Leere, dem Nichts, der Ungewissheit hinaus – scharfe Reserven; er ist, müsste man schlussfolgern und ihn dadurch explizit von Lenin unterscheiden, kein Terrorist. Die Bestimmung des Menschen als Einheit von Leiden und Denken erfüllt ihm bereits das Versprechen seiner Emanzipation. Und angesichts der komplexen Subversion von Welt und Gesellschaft, die für ihn ja keine Zersetzung, sondern eine im­ mer neu sich auflösende Ordnung darstellt, wäre jeder zerstörerische Akt trivial (im genauen Sinne: idiotisch). Insofern wäre, und Marx selbst sucht nach dieser anderen 47 Vgl. dazu d. A., »Philiströse Differenz«, in diesem Band. 48 Sloterdijk, Zorn und Zeit (Anm. 4), S. 228.

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Möglichkeit, ein nichtmenschlicher Akteur zu suchen, ein vom Pathos des Denkens und Leidens entlasteter Quasi-Revolutionär, der den Zorn, den die Ord­nung laufend reproduziert, »in Form von Individuen« rekrutieren könnte49 – Indi­vi­duen im Wortsinne, also elementaren Letzteinheiten, die von der Zersetzung der Ord­nung nicht verletzt werden könnten. Dieser Akteur böte sich als eine Art Hybrid von Mensch und Staat, Moral und Ordnung, Arbeit und Kapital an; deren Differenz selbst wäre, so war das ja gedacht, revolutionär und könnte dennoch selbst auch Re­vo­lu­tio­när sein. Aber er müsste Individuum sein. Lenins Partei-Konzept wird dieser Mög­lich­keit folgen, indem es den hybriden Akteur, der die Revolution verkörpert, als mit indi­vi­du­ellen Letzt­elementen rechnende formale Organisation entwirft. Marx zieht eine andere Mög­lich­keit in Betracht. Auch er kokettiert zwar mit der Möglichkeit, mittels eines ri­ gi­den Programms, das »theoretisch«-philosophisch entworfen und kontrolliert wer­den könnte, einen Quasi-Revolutionär zu entwerfen: das ist niemand anderes als »der Phi­ lo­soph, in dessen Hirn die Revolution beginnt«50 (und, müsste man sagen, auch möglichst instantan endet; denn ließe dieses Ende auf sich warten, müsste der Philosoph einsehen, dass er – sein Hirn – philiströs wird, die Welt also nur mehr ›interpretiert‹, anstatt sie zu ›verändern‹). Die politische Ökonomie entwirft Marx durchaus in diesem auch zurechenbaren (jedenfalls mit einer Vielzahl personalisierter wissenschaftlicher Referenzen jonglierenden) Sinne als Theorie der Revolution. Aber eben: als Theorie. Von daher leuchtet schließlich auch seine Überlegung ein, die Mehr­deutig­keit der Revolution (das ›und‹ ihrer Differenz) als ein Medium aufzufassen, das die Zersetzung des sozialen Körpers produktiv auffangen und ablösen kann, ohne zu neuen Verfestigungen zu führen, das also evolutionsfähig ist; und das zugleich lei­dens­fähig ist, ohne dadurch unbeweglich zu werden. Dieses Medium – Marx: diese »Sphäre«51 – wäre eine Entsprechung sowohl des Menschen als auch der Gesell­schaft und damit der genaueste denkbare Begriff und die perfekte soziale Form der Re­vo­lu­tion.Von heute aus müsste man sagen: dieses Medium ist nichts anderes als die Zeit selbst; Marx’ Revolutionstheorie ist, wie erwähnt, eine Zeittheorie. Mit Blick auf das Individuum als das abstrakte Korrelat des Ereignisses – Medium des Ereignisses ist die Zeit, so wie Medium des Individuums die Masse ist  – diskutiert Marx dieses Problem anders. Wenn gilt: das Ereignis ist revolutionär und kann als solches mit der Freiheit des Menschen identifiziert werden, und wenn gilt: diese Freiheit verdankt sich einer Dif­ ferenz und ist deshalb immer mit der einschränkenden Ordnung (also immer phi­lis­ trös) infiziert, sodass die Revolution sich nur ereignen kann, wenn ein nichtinfek­tiö­ser, abstrakter, nichtmenschlicher Revolutionär gefunden wird, dann gilt: das Indi­vi­duum 49 Niklas Luhmann, »Organisation«, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel / Stuttgart: Klett-Cotta 1984, Sp. 1326 –1328, hier Sp. 1327; vgl. Marx, M. an R. im Mai 1843 (Anm. 13), S. 342. 50 Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Anm. 32), S. 385. 51 Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Anm. 32), S. 390.

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ist dieser gesuchte Quasi-Revolutionär. Die Position dieser jetzt in vorher nicht gekannter Schärfe eingeführten Möglichkeit besetzt Marx mit dem Proletariat: be­stehend aus Elementen, die gesellschaftlich so wertlos sind, dass selbst der Lohn­arbei­ter nicht konkurriert, und doch immerhin so wertvoll, dass sie als ›Material‹ in Frage kommen; ein reines Produkt der Ökonomie, das der regulären Staats- (Welt-, Gesell­schafts‑) ordnung so unverständlich ist, wie diese ihm unzugänglich ist. Die »Ketten«, die die Elemente dieses Mediums verknüpfen und dadurch im Grunde dieses Medium selbst bilden, wären in der Tat »radikal«,52 weil sie Integrationen im Modus der Desintegration wären. Das proletarische Individuum ist reine Abstraktion, Element und Ereignis zugleich, nichts als eine Differenz, ein Revolutionär von eruptiver Schlagkraft und doch völlig leidenschaftslos: kein Zorn, keine Scham. Und nur darin besteht auch die Komplikation des Konzepts, die Marx auch genau sieht. Das Proletariat ist die andere Seite der Ordnung in der Ordnung, eben eine ›Sphäre‹ in der so mürben wie engen Welt. Es ist dieser Ordnung viel weniger verpflichtet als diese sich selbst, aber diese Ungebundenheit (sein Elend im genauen Sinne) ist keine Freiheit. Das Pro­le­ta­ riat kann die Komödie des Zorns nicht spielen,53 obwohl es (einen anderen Effekt kön­nen Desintegrationen im Modus der Integration gar nicht haben) für seine bürgerlich-ordentlichen Beobachter oder Bewunderer ein unerschöpfliches Zornpotential hat;54 sein Zorn ist nichts als Energie, und die kann es nur einfach ausagieren. Um Freiheit zu gewinnen – das hieße: Handlungsspielräume, zu denen das revo­lu­tio­näre Rollenspiel des weder–noch gehören würde –, müsste es Bindungen eingehen, und da­ zu dürfte es nicht nur sphärisch-loses Medium der Ordnung bleiben, sondern müsste rigide Form der Ordnung werden: Klasse.55 Dennoch würde es weiterhin kei­ner an­ deren Form der Ordnung konkurrenzwürdig erscheinen – denn wie können Indi­vi­ duen, die nichts sind als Element und Ereignis, in diesem regulär-ökonomischen Sinne attraktiv werden? Auf diese Chance setzt Marx seine Hoffnungen, weil das Proletariat als solche konkurrenzlose Klasse auch als Ordnungsform nicht zu korrumpieren wäre; seine Medialität würde sich in Eruptivität umsetzen und den »völlige[n] Verlust des Menschen« riskieren, um »die völlige Wiedergewinnung des Menschen« zu ermög­li­ chen.56 Aber genauso wahrscheinlich ist eben doch, dass diese in der Gesellschaft von der Gesellschaft ausgeschlossene ›Sphäre‹ sich arrangiert. Sie braucht sich dafür nur die Zeit zu nehmen, die die Revolution selber einräumt. Und sie räumt sie ein, sobald sie 52 Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Anm. 32), S. 390. 53 Vgl. explizit Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Anm. 32), S. 382: »Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie … Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.« 54 Sloterdijk, Zorn und Zeit (Anm. 4), S. 208 –220, entwickelt daraus das Konzept einer spezifisch revolutionären ›Kapitalsorte‹. 55 Vgl. dazu bereits das Koalitionsargument in Marx, »Das Elend der Philosophie« (Anm. 18), S. 180 f. 56 Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Anm. 32), S. 390.

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die Differenz von Kapital und Arbeit evoziert; denn mit dieser Differenz tauschen Re­ kursionsmöglichkeiten auf, dann kann mit der Arbeit gerechnet und am Kapital gearbeitet werden, und dann taucht die Frage der Klassenlage auf (etwa die Frage, wie sich denn »revolutionäre Kühnheit« und »bescheidener Egoismus« zueinander verhalten57). Diese Frage zu stellen, heißt, Zeit (und mit ihr: die Revolution) zu »vertrödel[n]«.58 Dieses Arrangement ›philisterhafter Mittelmäßigkeit‹ ist die andere Seite des Proletariats in der Form der Revolution und sein bleibender Konkurrent.

»Entweder-oder. Ein Mittelding gibt es nicht«:59 Lenin Ohne zu zögern übersetzt Lenin die Konkurrenz von Proletariat und Mittelschicht in die Konkurrenz von Revolution und Demokratie. Dass die Mittelschicht der Kleinbürger die andere Seite des Proletariats im Proletariat beziehungsweise dass die Demokratie die andere Seite der Revolution in der Revolution ist, ist ihm deutlich; Trotzki wird sogar von »Zwillinge[n]« sprechen.60 Darüber hinaus sieht Lenin sehr klar das Problem der Zeitknappheit, der Notwendigkeit ständiger Tempoforcierung angesichts der sonst unvermeidlichen Philistrosität des Revolutionärs. Auf diese Forcierung baut deshalb sein Revolutionsbegriff (und in nichts als der Verunsicherung jeder zeit­lichen und damit schließlich jeder sozialen Stabilität liegt denn auch die Diktatur, die die Re­ vo­lution einrichtet). Der Antagonismus der Stunde ist deswegen für Lenin auch nicht mehr der von Arbeit und Kapital, sondern der von Revolution und Demokratie selbst oder kurzerhand: von Revolution und Konterrevolution, wobei der Konterrevolu­tio­när dann derjenige ist, der zögert, der unentschlossen ist – nicht der, der zu­wider­han­delt. Der Demokrat – und zwar, bei Lenin immer, der »kleinbürgerliche« »Sozial­demo­krat«, der »Sozialrevolutionär« – ist folglich nichts als ein »Renegat«, der »phi­lis­ter­hafte[n] Reformismus gegen die proletarische Revolution« in Stellung bringt.61 Das Narrenschiff, auf dem die Philister wie »alle zwischen d[en] Klassen [...] stehenden sozialen 57 Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (Anm. 32), S. 389. 58 Engels, »Revolution und Konterrevolution« (Anm. 33), S. 101. 59 Wladimir I. Lenin, »Wertvolle Eingeständnisse Pitirim Sorokins«, in: ders., Ausgewählte Werke in drei Bänden (im Folgenden AW), Bd. 3, 8. Aufl., Berlin: Dietz 1970, S. 59 – 67, hier S. 63 (bezogen auf Sorokins Bekanntgabe seines Rückzugs aus der Politik mit der Begründung, er wolle dem ›Rezeptegeben‹ entsagen [paraphr. S. 59]). Das Zitat legt die Bezeichnung der deutschen Revolution als eines »›Mittelding[s] zwischen Traum und Komödie‹« Georgi W. Plechanow, einem der ersten russischen Marx-Übersetzer, in den Mund (S. 61). 60 Leo D. Trotzki, Ihre Moral und unsere, hrsg. von Bernward Vesper, Berlin: Voltaire 1967, S. 7 u. ö. 61 Wladimir  I. Lenin, »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«, in: ders., AW, Bd. 3, (Anm. 59), S. 69 –163. Der Traktat beschäftigt sich im Jahr ihres Erscheinens (1918) mit Karl Kautskys »Die Diktatur des Proletariats« und, im Nachsatz, mit Emil Vanderveldes »Le socialisme contre l’état« und schließt mit folgenden Antithesen: »kleinbürgerlicher Eklektizismus gegen den Mar­xis­mus, Sophistik gegen die Dialektik, philisterhafter Reformismus gegen die proletarische Re­

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Elemente, die ökonomisch unter die Kategorie Kleinbürgertum fallen, unvermeidlich [...] hin und her« und damit ihrem Untergang entgegen »schwanken«, ist die Demokratie.62 Es handele sich um »Spielarten« einer »Strömung«,63 die der »revolutionären Flut«64 schlechthin nichts entgegenzusetzen habe als nur dieses ›Schwanken‹ selbst. Der polemische Aufwand zeigt, dass Lenin und Trotzki wohl mehr als nur eine Ah­nung davon haben, wie durchsetzungsstark solches ›Hin und Her‹ historisch sein würde; Lenin diskutiert jedenfalls mit einigem Aufwand die Möglichkeit, das kleinbürger­ li­che ›Schwanken‹ in »Neutralität« umzumünzen, die sich als Potential der »Unterstützung« ausnutzen ließe.65 Die ›Elemente‹ wissen fortan, wie sie sich darzustellen ha­ben: so neutral wie möglich, so loyal wie nötig. Aus der Komödie des Zorns wird eine Komödie der Angst (ein Spiel also, dessen Regeln die Elemente, denen mitgespielt wird, selbst sehr zuverlässig beherrschen), und das – darauf hat Niklas Luhmann mit dem Begriff der »Unpersönlichkeit« als der »persönlichsten Strategie, die [man] wäh­ len kann«, hingewiesen66 – ist ein Effekt der Platzierung des schlechthin erfolg­reich­ sten Pa­ra­siten der Moderne: der formalen Organisation, bei Lenin: der Partei. Die per­ fek­te Dar­stel­lung der Neutralität als Medium der Revolution in Form dieser Partei ist die per­so­ni­fi­zierte Entscheidung nicht für die Organisation, sondern der Organisation selbst. Der Beruf des Revolutionärs ist ihr Beruf. Komplementär zu Marx’ Konzept der Evolution durch Revolution (das heißt, wie gezeigt: in Form rekursiv vernetzter revolutionärer Ereignisse) im Medium des Pro­le­ ta­riats entwickelt Lenin diesen Gedanken im Rahmen eines Konzepts der Revolu­tion durch Organisation im Medium der sozialen Stellenordnung. Beide Konzepte sind re­ kur­siv gebaut; das Proletariat bei Marx verkörpert selbst die Revolution, die sich in ihm abspielt, und die Organisation bei Lenin verkörpert selbst die soziale Stellen­ord­ nung, in der sie Raum greift. In beiden Konzepten ist die Revolution perfekt kon­ti­ nent;67 sie enthält die Gesellschaft, die sie stürzt, und den Umsturz selbst (also sich selbst); es kann keine externe Position geben, keinen Angriff auf das Gelingen der Re­ vo­lu­tion von außen, sondern nur von innen. Das produziert die Kontrastierung von Re­vo­lu­tio­när und Philister, die sich durch die russische Revolutionsprosa zieht, weil sehr schnell unübersehbar wird, dass nicht nur die Klassengesellschaft, sondern auch die Parteiorganisation in sich selbst ›Zwischenreiche‹ ausdifferenziert, die jeden noch so vo­lution« (S. 163; »kleinbürgerlich« und »Sozialdemokrat« passim; »Sozialrevolutionär« ist die Selbstbezeichnung der russischen Sozialdemokratie). 62 Lenin, »Wertvolle Eingeständnisse« (Anm. 59), S. 60 (Hervorhebung im Original). 63 Lenin, »Wertvolle Eingeständnisse« (Anm. 59), S. 60. 64 Trotzki, Ihre Moral und unsere (Anm. 60), S. 52. 65 Lenin, »Wertvolle Eingeständnisse« (Anm. 59), S. 64 (vgl. S. 64 f.). 66 Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog, 4.  Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1995 [1994], S. 390; vgl. zur Umsetzung von Zorn und Scham in Angst auch Sloterdijk, Zorn und Zeit (Anm. 4), S. 244 u. ö. 67 Vgl. George Spencer Brown, Laws of Form, London: Allen & Unwin 1969, S. 1.

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scharfen Bruch zu moderieren, jeden Steuerungsversuch zu unterlaufen, jede Ge­hor­ sams­zu­mu­tung zu ironisieren vermögen. Gerade weil eine Revolution »nichts wei­ter [ist] als der Versuch, die Komplexitätsperspektive der Organisation be­zie­hungs­weise die Komplexitätsperspektive der Theorie mit den entsprechenden Vereinfachungen als Gesellschaft zu realisieren«,68 machen solche Versuche auch anschaulich, worin eigentlich die Folgeprobleme solcher Konzepte liegen können. Was heißt es etwa, wenn ein Unternehmen sich selbst als ultimativen Neubeginn versteht und dann diesem ei­ge­ nen Anfang als unentrinnbarer Tradition anhängt? Was heißt es, wenn seine Grenze so scharf wie möglich und also so exklusiv wie möglich gezogen wird und es dann mit nichts beschäftigt ist als mit Kontrollen dieser Exklusivität anlässlich jedes noch so ge­ ring­fügigen internen Ereignisses? Warum sind die richtigsten Entwürfe immer die unbrauchbarsten? Das sind Fragen, die die Organisationstheorie schon seit dem frühen 20. Jahrhundert zu stellen gelernt hat – nicht zuletzt angesichts der Erfahrungen dieses Jahrhunderts mit sich selbst.69 Das Konzept des Berufsrevolutionärs, wie Lenin es um die Jahrhundertwende im eu­ro­päischen Exil als Programmschrift für die Partei in der Illegalität entwirft,70 ver­ traut der Plan- und Steuerbarkeit von Organisationen zunächst vollkommen. Vor­ge­ schla­gen wird die Etablierung der Grenze der Organisation (der Partei) durch Un­ ter­wan­derung der staatlichen Ordnung  – eine Subversion der Gesellschaft mit dem Ziel, die »Periode der Zerfahrenheit, des Zerfalls, der Schwankungen« (Lenin datiert: »1898–?«) in der Organisation zu beenden: »[Wir] können […] auf die Frage: Was tun? die kurze Antwort geben: [diese] Periode liquidieren«71 (»die Schwankenden um­mo­ del[n], umerzieh[en], sie sich unterordne[n] und allmählich einen immer größeren Teil von ihnen für sich gewinn[en]«, notiert Lenin später und vorsichtiger72). Die Aus­ gangs­annahme ist, dass schlechthin jeder Platz, jede Position der Staatsordnung die Stelle sein kann, an der die Revolution sich ereignet, wenn sich an dieser Stelle ein der Idee der Revolution verpflichtetes Individuum befindet (ein revolutionäres ›Ele­ ment‹).73 Der Beruf des Revolutionärs besteht folglich darin, geeignete Stellen zu er-

68 Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 309. 69 Und nicht zuletzt auch deshalb, weil unübersehbar geworden ist, dass weder der Revolutionär noch der Philister diese Fragen jemals stellen werden, so sehr beide diejenigen sind, die solche Fragen beschäftigen. Ich danke Remigius Bunia für diese Ergänzung. 70 Wladimir  I. Lenin, »Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung«, in: ders., AW, Bd. 1, 8. Aufl., Berlin: Dietz 1970, S. 139 –314. 71 Lenin, »Was tun?« (Anm. 70), S. 304 f. 72 Wladimir I. Lenin: »Die große Initiative (Über das Heldentum der Arbeiter im Hinterland. Aus Anlass der ›kommunistischen Subbotniks‹)«, in: AW, Bd. 3 (Anm. 59), S. 241–268, hier S. 259. 73 Von ›Stellen‹ ist hier im rechnerischen Sinne die Rede, gesetzt, Rechnen sei selbstreferen­tielles Beobachten selbstreferentiellen Beobachtens. In Frage kommen dann neben den oben genannten Ereignissen (zeitlich) und Elementen (sachlich) auch Positionen (sozial, hier als ›Grenzstellen‹ [Luhmann] von Organisation und Gesellschaft). Vgl. zum Begriff Dirk Baecker, »Rechnen lernen:

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kennen und absolut »unverzüglich« zu besetzen;74 er ist die Verkörperung der re­vo­lu­ tio­nä­ren Gelegenheit als eines unbedingt auszunutzenden Zufalls.75 Lenin nimmt ohne Wei­te­res an, dass der Garant dieser Fähigkeit zu ereignishaft verknüpftem Erkennen und Handeln die »berufsmäßig geschult[e]« Kenntnis der Theorie wäre,76 die als In­ spi­ra­tion und Konspiration zugleich fungieren könne; er nennt diese Identität von In­ spi­ra­tion und Konspiration »Bewusstheit«.77 Die »Organisation der Revolutionäre« ist folglich einerseits nichts als ein fluides Netz von ›bewussten‹ Individuen in ge­eig­neten Stellen, »so ›frei‹, so locker, so lose« gebaut wie möglich; eine »Organisation ohne Mitglieder«.78 Andererseits aber soll sie unbedingt ein »Zirkel von Koryphäen« blei­ben, eine »Avantgarde«79 – wobei alle Sorgfalt darauf zu verwenden sei, sich nicht ein­fach bloß »Vortrupp« von »Durchschnittsmenschen aus der Masse« »zu nennen« und sich damit dem »homerischen Gelächter« »jede[s] einigermaßen gescheite[n] Ra­di­kale[n]« auszusetzen.80 Das Problem dieser Organisation ist insofern ihre eigene Grün­dungs­ idee: So wie sie mit der Identifikation von ordentlichen Positionen und tu­mul­tua­ri­ schen Chancen rechnet, um sich in der Gesellschaft zu platzieren, so muss sie eben auch mit der Wiederanwendung dieser Strategie auf ihre eigenen Positionen rechnen; die Berufsrevolutionäre sind schließlich ausdrücklich auf nichts anderes geschult. Man müsse jedenfalls verhindern, fordert Lenin, dass die ›Koryphäen‹ mit ›Durchschnittsmenschen‹ »verwechselt« würden, vor allem: dass sie sich selbst damit verwechsel­ten und sich im Fall der Fälle in die ›Masse‹ zurückzögen. Dazu aber würden sie nei­gen; sie würden immer gerade dann, wenn ihr Pflichtbewusstsein gefragt sei, wie­der zu ›schwan­ken‹ beginnen (so gut wie sämtliche Schriften Lenins nach 1917  /  18 beschäf­ti­ gen sich daher mit dem Kontrollproblem;81 die Organisation exaltiert in dieser Hinsicht ganz genau so, wie Lenin es dem anarchistisch-»extremen Revolutionarismus [...]

Soziologie und Kybernetik«, in: Claus Pias (Hrsg.), Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946 –1953, Bd. 2: Essays & Dokumente, Zürich / Berlin: diaphanes 2004, S. 277–298. 74 Wladimir I. Lenin, »Marxismus und Aufstand / Die Krise ist herangereift. Briefe an das Zentralkomitee der SDAPR«, in: ders., AW, Bd. 2, 8. Aufl., Berlin: Dietz 1970, S. 424 – 429, S. 433 – 441, hier S. 427. 75 Vgl. dazu ausführlich Dirk Baecker, »Lenin’s Void: Toward a Kenogrammar of Management«, in: Soziale Systeme 8.2 (2002), S. 294 –306. 76 Vgl. Lenin, »Was tun?« (Anm. 70), S. 252 (vgl. S. 161 f.: »ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben«, das heißt, »dass die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortschrittlichen Theorie geleitet wird«). 77 Lenin, »Was tun?« (Anm. 70), S. 164 –187. 78 Lenin, »Was tun?« (Anm. 70), S. 241 u. 247. 79 Lenin, »Was tun?« (Anm. 70), S. 236 u. 238. 80 Lenin, »Was tun?« (Anm. 70), S. 215 f. 81 Vgl. nur Wladimir I. Lenin, »Werden die Bolschewiki die Macht behaupten?«, in: AW, Bd. 2 (Anm. 74), S. 443 – 490.

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wild gewordene[r] Kleinbürger« vorwirft82). Wie jede andere Organisation konn­te auch Lenins Partei zwar zuverlässig Unsicherheit absorbieren, aber nur um den Preis der Reproduktion von Unsicherheit: Die Intelligenz der Revolutionäre ist durch die Organisation der Revolutionäre zu einer »technology of foolishness« geformt wor­ den.83 Das ganze Vorhaben erzieht, wenn es Revolutionäre erzieht, auch Philister – in­ tel­li­gente Philister, die mit den Schwankungen, denen sie unterliegen, zu spielen gelernt haben (»elements of varying reliability«84); »eine Art Circulus vitiosus«, wie Lenin selber feststellt85 und deshalb schon 1917  /  18 geflissentlich auf den Begriff des Berufs­ re­vo­lu­tio­närs verzichtet. Offensichtlich gelingt die Ausnutzung der eigens inszenierten Neutralität nicht, weil die Organisation ein Revolutionär ist, der in sich Revolutionäre entwirft, die eben­falls Neutralität inszenieren, um sie – sachgerecht! – auszunutzen. Die Or­ga­ni­sa­ tio­nen der Revolution sind, da sie sich ausnahmslos »dem Opportunismus an­pas­sen, wahre Augiasställe des Philistertums, der Engstirnigkeit, des Renegatentums …«.86 Unter dem Namen »Opportunist«87 tritt der Philister, der Konkurrent des Pro­le­ta­ riats, in der Organisation als Konkurrent des Revolutionärs wieder auf – und zwar  als ein ebenso leistungsfähiger Konkurrent, weil seine Form exakt abgestimmt ist auf  die Subversionsidee der Revolution einerseits – Gelegenheiten erkennen und aus­nut­ zen –, und der Organisation andererseits – Möglichkeiten in Alternativen zu über­ setzen, um Entscheidungen zu forcieren. (Man lese Luhmanns Hinweis, Organisatio­ nen seien Inbegriff der Chance, Entscheidungen und Entscheidungsprämissen laufend  zu ändern, unter diesem Gesichtspunkt.88) Was den philiströsen Opportunisten vom ›професио­нальный революционер‹ unterscheidet (›profesionalny' revolûcioner‹, so Lenins russische Bezeichnung für den Berufsrevolutionär), ist die Zögerlichkeit, eben das unschlüssige ›Schwanken‹, der Mangel an Unverzüglichkeit. Die Mahnung zur Eile ist angebracht, weil eine Gelegenheit, die zur Situation gedehnt wird, immer Platz für mehr als einen Beobachter bietet, mehr als einen – hier passt Serres’ Ausdruck

82 Wladimir  I. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, in: ders., AW, Bd. 3 (Anm. 59), S. 389 – 485, hier S. 403. 83 Vgl. für diese Begriffe hier nur James G. March, »The Technology of Foolishness«, in: ders. und Johan  P. Olsen (Hrsg.), Ambiguity and Choice in Organizations, 4.  Aufl., Oslo: Scandinavian UP 1994, S. 69 – 81. 84 Philip Selznick, The Organizational Weapon. A Study of Bolshevik Strategy and Tactics, Santa Monica: The Rand Corp. 1952, S. 84. 85 Lenin, »Die große Initiative« (Anm. 72), S. 260. 86 Lenin, »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky« (Anm. 61), S. 97. 87 Vgl. schon Lenin, »Was tun?« (Anm. 70), S. 146 f. und wieder S. 305; dann ders.: »Staat und Revolution«, in: AW, Bd. 2, (Anm. 74), S. 315 – 419, hier S. 404 – 419 (ein Abschnitt, auf den Lenin zur Kennzeichnung des ›Renegats Kautsky‹ eigens verweist, vgl. dort S. 75). 88 Vgl. Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen / Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000.

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wörtlich so, wie Lenin ihn nutzt: polemisch – »Parasiten«;89 in Lenins Horizont ist dieser Platz eine Art Ansteckungsgefahr des Schwankens, ein Impuls, der die mühsam gefügte Ordnung destabilisiert. Der Opportunist lässt sich Zeit und spielt damit dem ›Bourgeois‹ in die Hände. Und wer, wenn nicht die ›Koryphäe‹ in der ›Avantgarde‹, sollte die Möglichkeit sehen, sich – aber nicht den anderen! – Zeit zu lassen und da­ mit Vor­teile, Freiräume in einem ganz wörtlich zu nehmenden Sinn zu er­wirt­schaf­ten? Diesem Verdacht ist geschuldet, dass sich alle Revolutionäre gegenseitig unter Zeitdruck setzen, und jeder vermeidet den Eindruck, er genieße irgendeine Ruhe. Gerade der je eigene Standort, das je eigene Selbst muss als aktuose Unverzüglichkeit vor­ge­ führt werden, um dadurch buchstäblich alle Zeit der Welt zu gewinnen. Tatsächlich hat also die Revolution nur die eine Chance, sich vollkommen im aktuellen Mo­ment zu ereignen; es ist ihr einziger Weg in Spielräume gedehnter Zeit; nur der un­be­dingt ei­li­ge Revolutionär kann philiströser ›Opportunist‹ sein, mithin beruflicher, ›pro­fes­ sio­neller‹ Revolutionär – niemand sonst. »Warten darf man nicht!«, mahnt Lenin deshalb, »denn einen [...] Augenblick verpassen« (oder nicht aufpassen) wäre »voll­en­de­te Idio­tie oder vollendeter Verrat«.90 Im Schatten seiner Eile lässt sich der Re­vo­lu­tio­när Zeit, verliert seinen »Kampfgeist« und gewöhnt sich daran, »zwischen zwei Stüh­len zu sitzen«.91 Die Bequemlichkeit dieser Lage unterschätzt zu haben, gesteht Lenin sich schließ­lich ein.92 Unter dem Eindruck der Politik Stalins stehend, verliert schließlich Leo Trotz­ki ganz das für Lenin so kennzeichnende Vertrauen in die Organisation. Die or­ga­ni­ sierte Revolution restauriere die bürokratische Ordnung, und sie produziere daher den alten Philister neu; aus dem Sozialdemokraten (dem Sozialrevolutionär) werde der Funktionär. Das Vertrauen in die Technik dagegen teilt Trotzki mit Lenin. Hat al­ler­dings Lenin seine Steuerungs- und Kontrollstrategien in einer technisch-ma­schi­ nell verstanden Organisation verwirklicht und die Revolution durch diese Or­ga­ni­sa­ tion verkörpert gesehen, so bindet Trotzki diese Erwartungen jetzt ganz an die Per­son Lenins. »Dieser größte Maschinist der Revolution war [...] immer be­herrscht von ein 89 Wladimir I. Lenin, »Wie soll man den Wettbewerb organisieren?«, in: ders., AW, Bd. 2 (Anm. 74), S. 586 –595, hier S. 591 u. 593 (»Tagediebe«, »Hysteriker«) u. ö. Auch für Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, geht es – auch wenn er völlig auf Polemik verzichtet, und nun gar in dem forciert aktivistischen Sinne, auf dem es Lenin ankommt – nicht zuletzt um Konkurrenz. 90 Lenin, »Marxismus und Aufstand / Die Krise ist herangereift« (Anm. 74), S. 428 u. 439. Die für jeden Beobachter lächerliche, aber auch alarmierende Eile ist daher der »Charakter«, auf den sich in einer solchen Organisation ein »Streber« festzulegen hätte (Luhmann, Funktionen und Folgen [Anm. 66], S. 394). Trotzki, Über Lenin (Anm. 1), stellt insofern Lenin als den ›Streber‹ der Revolution vor: Er habe darauf beharrt, »dass man keine Zeit verlieren durfte. Eine revolutionäre Situation kann man nicht willkürlich [...] konservieren« (S. 74); »man darf keine Minute Zeit verlieren – das war [...] die Methode Lenins, so war das organische Wesen seines politischen Charakters, seines revolutionären Geistes« (S. 85); »Keine Aufschiebung!« (S. 100). 91 Lenin, »Was tun?« (Anm. 69), S. 178. 92 Wladimir I. Lenin: »Lieber weniger, aber besser«, in: ders., AW, Bd. 3 (Anm. 59), S. 876 – 890.

414 und derselben Idee – dem Ziel. Er war wohl der angespannteste Utilitarist, den das Laboratorium der Weltgeschichte jemals zu Tage gefördert hat.«93 »Und die re­vo­lu­tio­ nären Philister94 fragten sich: Wer ist das? Was ist das? Einfach ein Besessener? Oder ein historisches Geschoss von unerhörter Explosivkraft?«95 Gerade weil hier im Me­ dium der Technik auf die Semantik des Genies, der Askese und des Charismas angespielt wird, bietet sich die Überlegung an, ob die Technik als Sozialform bar jeder Phi­lis­tro­sität in Frage kommt, umso mehr dann, wenn die formale Organisation und mit ihr der gesamte Raum der traditionellen europäischen Ökonomie diskreditiert ist. Aber diese Überlegung muss – wie die Revolution – für den Moment vertagt werden.

93 Trotzki, Über Lenin (Anm. 1), S. 32. 94 Nämlich die ›Sozialrevolutionäre‹, die Sozialdemokraten, die ›Menševiki‹; aber wie wir jetzt sehen können: auch die Berufsrevolutionäre, die ›Bolševiki‹. 95 Trotzki, Über Lenin (Anm. 1), S. 63.

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Wider das bedingte Leben? Die Frauen der Philister und die Freiheit der Kunst   in Romantik und Dandyismus

Auch wenn es bislang nicht ausdrücklich versucht wurde, die verschiedenen Attri­bu­ te und charakteristischen Habseligkeiten des Philisters zusammenzutragen, so dürfte doch klar sein, dass Tabakspfeife, Nachtmütze, Regenschirm und Tageszeitung un­be­ dingt dazu zu rechnen sind. Es handelt sich dabei um Dinge des täglichen Gebrauchs, über die der Philister, glaubt man seinen kritischen Beobachtern, gerade nicht sou­ve­ rän verfügt, sondern die ihm vielmehr ihren Stempel aufdrücken, die ihn hinabziehen in das Reich der geistlosen Routinen und begrenzten Horizonte. Kurz, die ihn verdinglichen. Über die genannten Attribute hinaus ist hier ein weiteres zu erwähnen, das den Philister vielleicht mehr als andere über die Epochen hinweg zu kennzeichnen scheint: seine Frau, genauer: seine Ehefrau. Mit einigem Recht lässt sich behaupten, dass es sich bei der wieder und wieder anzutreffenden Versicherung, dass der Philister verheiratet sei, um einen Topos der Philister-Literatur handelt. Ihm ist also nachzuspüren, will man die eigentümliche Existenzweise dieser Sozialfigur gründlich erforschen. Was die Frau des Philisters mit seiner Nachtmütze und seiner Pfeife gemein hat, ist zunächst ihre Tendenz, Behaglichkeit zu stiften und dabei den vielleicht ursprünglich wachen männlichen Geist in der wohligen Beschränktheit der häuslichen Idylle zu ermüden. Ein weniger glücklicher Philister gerät anstelle der treusorgenden Gattin womöglich an eine Nachfahrin der Xanthippe, die ihn in andauernde häusliche Gefechte verwickelt. Der Effekt ist jedoch derselbe: er erschöpft sich im Nahen und Alltäglichen. Die Existenz einer Ehefrau zwingt außerdem, zumal wenn sich, womit zu rechnen ist, noch Kinder einstellen, dazu, alle Anstrengungen und Selbstäußerungen dem Ziel einer materiellen Lebens(ver)sicherung unterzuordnen – wiederum mit dem Effekt, dass sich das philiströse Subjekt nicht mehr über die materiellen Bedingungen des Seins hinaus entwerfen oder entwickeln kann, sondern in ihnen befangen bleibt. Wie die Pfeife tendiert auch die Ehefrau dazu, den Philister zu bestimmen, anstatt von ihm bestimmt zu werden. Kurzum: dass der Philister als (ehelich) gebunden vorgestellt

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wird, ist symbolisch zu lesen für sein Gebundensein überhaupt: seine Verstrickung in das Materielle, sein Ausgeliefertsein an Regeln und Routinen. Bereits die Bereitschaft, die eigene Verehelichung als Teil des Lebensplans auf­zu­ fassen, muss in diesem Sinne als zutiefst philiströs gelten: »Daß solche Philister, die da meinen, nun sei es Zeit, sich nach einer Lebensgefährtin umzusehen oder umzuhören – vielleicht gar in einer Zeitung! – daß sie sich ein für alle Mal von der ersten Liebe ausgeschlossen haben, und daß ein solcher philiströser Zustand nicht der rich­ ti­ge ist und der ersten Liebe nicht den Weg bereitet, das ist doch wohl einleuchtend«, weiß etwa Søren Kierkegaard.1 Die erste Liebe, die hier in einen kategorialen Gegensatz zur Philisterehe gesetzt wird, wird dabei einem nicht-kalkulierbaren und deshalb umso erschütternderen und ewig dauernden Eindruck assoziiert, den ein Fremdes auf ein dafür empfängliches Subjekt macht. Sie entspricht, wie Kierkegaard ausdrücklich betont, der Anrufung der Muse, die immer an einen zufälligen Anlass geknüpft bleibt, der sich nicht herbeiziehen oder berechnen lässt. Der Kontrast zwischen Künstler und Philister wird also hier über einen anderen Kon­trast verhandelt: den zwischen Liebe als Passion und Ereignis einerseits, Liebe als Pro­gramm und soziale Regel andererseits. Die Ehe und damit die Ehefrau, so lässt sich aus dieser Parallelschaltung schließen, gebiert unkreative Philister, während um­ ge­kehrt die unkalkulierbare erste Liebe, der coup de foudre, Erleuchtung und In­spi­ra­ tion über alles Vorgefundene hinaus bedeutet. Dieses Schema ist das aus vielen Tex­ten der Romantik vertraute,2 wobei diese noch deutlicher als bei Kierkegaard erkennbar die echte ästhetische Schöpfung als weibliche figurieren. Deutlich wird dies etwa in Eichen­dorffs Sonett »Der Wegelagerer« (1839): Es ist ein Land, wo die Philister thronen,  Die Krämer fahren und das Grün verstauben,  Die Liebe selber altklug feilscht mit Hauben –  Herr Gott, wie lang willst du die Brut verschonen! Es ist ein Wald, der rauscht mit grünen Kronen,  Wo frei die Adler horsten, und die Tauben  Unschuldig girren in den kühlen Lauben,  Die noch kein Fuß betrat – dort will ich wohnen! Dort will ich nächtlich auf die Krämer lauern  Und kühn zerhaun der armen Schönheit Bande,  Die sie als niedre Magd zu Markte führen. 1 Søren Kierkegaard, Entweder – Oder. Ein Lebensfragment, übers. von Alexander Michelsen und Otto Gleiß, Leipzig: Richter 1885, S. 370 f. 2 Vgl. hierzu Dieter Arendt, »Das Philistertum des 19.  Jahrhunderts«, in: Monat 21 (1969), S. 33 – 49, hier S. 42.

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Hoch soll sie stehn auf grünen Felsenmauern,  Daß mahnend über alle stillen Lande  Die Lüfte nachts ihr Zauberlied verführen.3 Die zu Markte geführte Schönheit deutet ebenso wie die Hauben, mit denen die Liebe feilscht, auf die Verknüpfung der philisterhaften Institution der Ehe mit öko­no­mi­ schem Zweck- und Nützlichkeitskalkül – Inbegriff also auch hier einer un­schöp­fe­ri­ schen Lebensform. Wer ›der armen Schönheit Bande‹ zerhauen kann, wird in Eichendorffs »Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands« ausdrücklich benannt, denn dort heißt es, die Poesie solle »keine Magd, weder der Religion noch der Mo­ral, sein, sondern durch ihre eigentümliche Zauberformel die S c h ö n h e i t , wie und wo immer sie verborgen leuchtet, aus den Banden der […] pfiffigen Philister er­lö­sen.«4 Noch deutlicher freilich wird die Kontrastierung in Texten, in denen sich der Held zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen sieht, der idealen Schönheit und der weltlichen (potentiellen) Ehefrau, die an Vergänglichkeit, philisterhafte Enge und Monotonie geknüpft wird. Erinnert sei nur an die Figur des Christian in Tiecks Runenberg, der sich immer wieder getrieben sieht, Frau und Kinder, die bezeichnenderweise in der Ebene leben, zu verlassen, um im Gebirge der Poesie die mächtige ideale Frau zu suchen. Erzählungen wie diese dramatisieren jenes Paradox, mit dem die bürgerliche Gesellschaft konfrontiert ist, seit sie bemüht ist, sich selbst durch die Verschränkung von Idealität und Sozialität zu begründen und zu legitimieren: Die Beschwörung von »Liebes­ehe und ehelicher Liebe als Prinzip der natürlichen Vervollkommnung des Men­schen«5 ist deutlichstes Indiz für diesen diskursiven Umbau: Emotion und Lei­ den­schaft werden nun nicht mehr im Gegensatz zur gesellschaftlichen Organisationsform der Ehe konzeptualisiert, sondern als deren natürliche Bedingung. Entsprechend wird der häusliche Binnenraum – der Raum der Haus- und Ehefrau – als Ort höchs­ ten Glücks und natürlicher Ungeschiedenheit hypostasiert, die der Welt der po­li­ti­ schen und sozialen Differenzierungen entgegengesetzt ist, die gleichwohl auf die­sen be­zo­gen bleiben. »Voilà la mission de la femme«, schreibt Jules Michelet, »c’est de refaire le cœur de l’homme«6 – sie hat also das Herz des Menschen / Mannes immer wieder aufs Neue herzustellen. Die beiden zentralen Figurationen des Weiblichen um 3 Joseph von Eichendorff, »Der Wegelagerer«, in: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 1.1: Gedichte, hrsg. von Harry Fröhlich und Ursula Regener, Stuttgart: Kohlhammer 1993, S. 116. 4 Joseph von Eichendorff, »Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands«, in: Sämtliche Wer­ ke des Freiherrn Joseph von Eichendorff (Anm. 3), Bd. 9, hrsg. von Wolfram Mauser, Regensburg: Habbel 1970, S. 206. 5 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 5. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 185. 6 Jules Michelet, L’Amour, Paris: Hachette 1858, S. 17.

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1800, die Ehefrau und das Naturideal, werden also miteinander verschränkt, sodass sie sich wechselseitig stützen und legitimieren. Dass dies eine nicht unerhebliche Diskursakrobatik erforderte, davon legt die Philisterrhetorik dieser Zeit ein deutliches Zeugnis ab. Der Philister ist derjenige, der an der Vermittlung der beiden Sphären scheitert, indem er die Ehefrau (wie alle anderen Attribute der Häuslichkeit) bereits als Ein­lö­ sung eines Versprechens auf Selbstvervollkommnung begreift. Gerade diesem (Miss‑) Verständnis von Häuslichkeit und Ehe nicht nur als Bedingung sozialer und ma­te­riel­ ler Existenzsicherung, sondern als Garant einer glücklichen Überwindung von Mangel und Differenz leistet aber natürlich jener Diskurs der Liebesheirat ausdrücklich Vorschub. Bereits die Vorstellung einer weiblichen Verkörperung des idealen Bezugs- und Legitimationshorizonts, auf den hin sich die bürgerliche Gesellschaft entwirft, und all­ gemein die Verschränkung von Immanenz und Transzendenz, Materiellem und Ide­el­ lem, sozialem Ort und ideellem Anspruch bergen in sich die Quelle der dem Philister zugeschriebenen Fehllektüren. So bringen die Versuche, ihn klar zu definieren, abzugrenzen und dingfest zu machen, immer auch die Widersprüche dieses Diskurses zum Vorschein. Dies lässt sich sehr gut in Brentanos Philisterrede nachvollziehen.7 Zunächst greift diese Rede die gängige Philisterkritik auf und spinnt sie fort, indem sie die Frau des Philisters als dessen besonders symbolträchtiges Requisit immer wieder am Rande auf­ treten lässt. Der Philister hat eine Philisterfrau und Philisterkinder, bei deren Er­zie­ hung es vor allem darauf ankommt, dass dem äußeren Schein Genüge getan wird.8 Im Alltag braucht der Philister die routinehaft wiederkehrenden Aufforderungen und Ermahnungen seiner Frau, etwa den Kaffee zu trinken, um sich zu orientieren und sich seiner selbst zu vergewissern.9 Die Ehe wird, ganz wie von Kierkegaard perhorresziert, von vornherein in Betracht gezogen, Liebe mithin durch die Institution in Dienst genommen.10 Untrügliches Philistersymptom ist deshalb jenes Beispiel von einem, der, als er sich eine Bettstelle von Mahagoni machen ließ, gleich eine zweite dazu bestellte, damit, wenn er einmal heiratete, beide gleich braun seien. Die philistertypische Hochzeitsnacht schließlich ist ganz der ehelichen Nutznießung gewidmet, was der Text anschaulich ins Bild der unablässig niesenden Gattin und des ihr alles Gute wünschenden Ehemanns setzt.11

7 Zu einer ausführlichen Lektüre dieser Rede vgl. auch den Beitrag von Till Dembeck in diesem Band. 8 Clemens Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung«, in: Werke, hrsg. von Friedhelm Kemp, Bd. 2, München: Hanser 1963, S. 959 –1016, hier S. 987. 9 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 988. 10 Typisch ist daher jener Fall, in dem ein Philister seine Braut in einem Prozess kennenlernt und einen alten Prokurator schickt, um für ihn zu freien (vgl. Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 988). 11 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 989.

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Zuletzt jedoch mündet der Text in eine Betrachtung der Frage, ob die Frau selbst Philister sein könne. Diese Frage aber kehrt die Philisterkritik in gewisser Weise ge­ gen sich selbst, sofern sie die Kontrastbildung zwischen der Ehefrau als bin­den­dem At­tri­but des Mannes und der Frau als Verkörperung eines (auch ästhetischen) Ideals unterläuft, das ihn in seinen stets unvollkommenen Versuchen, es darzustellen und zuzueignen, über sich hinaustreibt. Wenn die Frau selbst Philisterin sein kann, dann ist prinzipiell die Möglichkeit eröffnet, dass sie es wird, dass sie also bestimmte Chan­ cen nutzen oder ungenutzt lassen kann, sich selbst in Bezugnahme auf ein NichtGebundenes, Zeitloses, ›kunstdurchdrungenes Allmächtiges‹ hin zu entwerfen. Diese Möglichkeit scheint nun der Text durch die rigorose Behauptung einer ›natür­li­chen‹ Geschlechterdichotomie selbst zurückzuweisen: Vor dem Philistertum gefeit ist die Frau gerade nicht als dichterisch oder philosophisch Schöpferische, sondern in der Ver­ mei­dung all solcher Aspirationen. »Kein Weib als weiblich ist Philister«, und das heißt, dass dasjenige Weib, das seiner ›natürlichen Bestimmung‹ gemäß das empfangende Prin­zip verkörpert, konkret, das fruchtbar allenfalls ist, indem es Kinder gebiert, ge­ eig­net ist, das Gegenbild des Philistertums zur Anschauung zu bringen. Tatsächlich evo­ziert Brentano hier ausdrücklich die Vorstellung, dass gerade die Ehe der Hort sei, der den Begrenzungen der bürgerlichen Welt entzogen ist: »das Empfangen ist das Ge­ niale, das Ja im Weibe, und so ist die Ehe das Heiligtum und der Tempel des Ja, um es vor der philistervollen Welt zu schützen.«12 Das Weib im Naturzustand, das in bereits einigermaßen ironischer Ableitung über den Vergleich mit dem Tier, dem Blödsinnigen und schließlich dem ›Wilden‹ beschrieben wird, lässt sich aber gerade von einer Kritik, die es als Abgrenzungs­figur vom Philister zu profilieren versucht, nicht greifen. Denn zum einen erscheint die Frau, wie die angehängte Kupfertafel besonders augenfällig werden lässt, geradezu als Allegorie des Philistertums, das sie permanent aus sich zu gebären scheint, womit sie durchaus als empfänglich, aber eben für das Philistertum, ins Bild gesetzt wird. Die Szene der »bequem in der Mutterloge« lebenden Philister-Embryonen, die allein bedauern, dass sie dort »keine Zeitungen und Journale« hereinbekommen,13 hebt den Gegensatz zwischen weiblich-mütterlichem Idealort und Philisterstube vollends auf. Zum anderen deuten gerade die Hinweise auf eheliche Untreue seitens der Frau und insbesondere die Spuren fremden Einflusses in der Nachkommenschaft darauf hin, dass die Ehe kaum als Hort heiliger Ganzheit hypostasiert werden kann, es sei denn aus der Perspektive des Philisters, der die Spuren der Differenz nicht wahrnehmen kann oder will. Damit aber scheint auch die moralistische Unterscheidung von echter und philisterhaft korrumpierter Weiblichkeit problematisch zu werden. Wenn die Rede am Schluss noch einmal das Philistertum der Frau an ihre Abkehr vom Natürlich-Weib-

12 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 1013. 13 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 1011.

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lichen durch Prostitution oder weibliche Gelehrsamkeit knüpft,14 so nicht ohne dass zugleich auf Ausnahmen und Abweichungen vom Gesetz – und das heißt wohl auch vom Moralgesetz – verwiesen würde. Indem jedoch zugestanden wird, dass gerade auf diesen abweichenden Wegen zuweilen Außerordentliches und poetisches Ver­mö­gen (etwa einer Sappho) angetroffen werden könne, stellt sich die moralisierende Rede ge­ gen die Philister selbst als philisterhafte zur Schau. Nicht zufällig steht am Ende der Rede noch einmal der explizite Versuch, das Weibliche im Verhältnis zum Philisterhaften zu bestimmen – als ob hiervon abhinge, ob dieses überhaupt eindeutig ins Bild zu setzen, zeichenhaft zu verkörpern wäre. Nachdem alle Versuche, im Weiblichen die Produktion der Bilder vom Philister oder aber seinem Gegenbild, die immer wieder von ihrem vermeintlichen Gegenteil infiziert erscheinen und die darin stets über sich hinaus weisen, stillzustellen und zu einem Abschluss zu bringen, gescheitert sind, muss auch dieser Schluss, der diesen Versuch noch einmal deutlich in Szene setzt, als offen gelten. Dass zuletzt die Frage zu beantworten blieb, ob die Frau Philisterin sei, führt auf die Ausgrenzungsregeln der Deutschen Tischgesellschaft, vor deren Mitgliedern die Rede gehalten wurde. Hatte Arnim zunächst vorgeschlagen, dass Frauen ausdrücklich von der Mitgliedschaft ausgeschlossen werden sollten, so fiel diese Klausel in der endgültigen Fassung der Konstitutionsschrift weg, offensichtlich weil bereits die For­mu­ lie­rung, lediglich »ein Mann von Ehre und guten Sitten« sei zuzulassen, dies ›selbst­ verständlich‹ implizierte.15 Indem der Redner sich zwischendurch an »meine Her­ren Philister«16 wendet, reproduziert er diese stillschweigende Ausgrenzung noch in der ironischen Vertauschung von Adressaten und Objekten seiner Ausführungen. Ge­ ra­de mit diesem Stillschweigen und der Selbstverständlichkeit der Vorstellung, dass Frau­en lediglich als Attribute und Verkörperung des Philiströsen oder im Gegenteil als Ver­kör­perung der Idee, der Schönheit et cetera in Betracht kommen, die gerade aus dem Philisterdasein hinausführen, bricht aber offensichtlich der Schluss der Rede. Die Notwendigkeit einer Bestimmung des Weiblichen drängt sich dem Redner hier regelrecht auf, wodurch er genötigt ist, sie in allen ihren Paradoxien und Bildbrüchen vorzuführen. Dass die Philisterrhetorik Weiblichkeitsbilder als Bilder hervortreibt und in Bewegung bringt, lässt sich im 19. Jahrhundert auch weiterhin beobachten. Vor allem im Phänomen des Dandytums, das mit einer ausdrücklichen Ästhetisierung der Lebenswelt gegen den profanen, utilitaristischen Philisteralltag verknüpft ist, lassen sich viele 14 Vgl. Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 1013. Zur Tradition der Herabsetzung der weiblichen Gelehrsamkeit seit der Aufklärung vgl. Alexander Košenina, Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire nach der Aufklärung, Göttingen: Wallstein 2003, bes. S. 85 –109 (»Gelehrte und die Frauen – gelehrte Frauen«). 15 Vgl. hierzu Stefan Nienhaus, Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 10. 16 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 999.

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Elemente der romantischen Philisterkritik wiederfinden. Allerdings sind die Ver­schie­ bun­gen zugleich bemerkenswert, da nun der Bezug auf eine weiblich konnotierte Na­ tur als Kor­rek­tiv zur Philisterwelt grundsätzlich in Frage gestellt wird. In gewisser Weise kann man sagen, dass der Dandyismus eine Tendenz, die sich schon bei Bren­tano beobachten lässt, radikalisiert: die Tendenz, den künstlerischen Prozess der Ab­gren­zung derart in den Vordergrund treten zu lassen, dass die Pose der Selbst­be­haup­tung gegenüber der inhaltlichen Bestimmung des Eigenen und des philiströsen An­de­ren do­mi­ niert. Der Dandyismus kultiviert eine antibürgerliche, aris­to­kra­tische Hal­tung, indem er sich der Masse verweigert und sich gegen die Forderungen der Arbeits­ethik ebenso abgrenzt wie gegen reproduzierbare Güter und Erscheinungsweisen. Baudelaire hat Dandys als Vertreter all dessen charakterisiert, »was das Beste am mensch­ lichen Stolz ist, des bei den Heutigen allzu seltenen Bedürfnisses, die Trivialität zu bekämpfen und sie zu vernichten. Dem entspringt, bei den Dandys, diese hochmütige Attitüde einer herausfordernden Kaste«.17 »Ein Dandy kann niemals ein gewöhnlicher Mensch sein.«18 Der Dandyismus, der sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zuerst in England ausprägte, um dann etwa seit der Mitte des Jahrhunderts von französischen Intellektuellen und Künstlern nachgeahmt, reflektiert und literarisiert zu werden, ist zum einen ein soziales Phänomen, insofern er die Existenz einer Gruppe voraus­setzt, die es sich tatsächlich (noch) leisten konnte, die Eleganz und den Kult des Schö­nen in ihrer Person zu ihrem einzigen Beruf zu machen.19 Er ist aber eben zum ande­ren auch ästhetisches Programm, sofern er sich einem radikalen Antirealismus ver­pflich­ tet sieht: Der künstlerische Akt bezieht sich nicht auf irgendein Anderes, außer­halb sei­ner eigenen Inszenierung Gegebenes, sondern bringt sich allein in dieser Selbst-­ Inszenierung unablässig selbst hervor. Bemerkenswert ist dabei, dass er Originalität und Distinktion gerade durch den obsessiven Einsatz von Accessoires sowie durch Ri­tu­ale und Routinen gewinnt, die denen der ›Spießbürger‹ durchaus nicht un­ähn­lich sind. Indem sie diese aber überzeichnen, isolieren sie sie und stellen sie als solche zur Schau. In Brentanos Abhandlung etwa ist von einem Philister die Rede, der, wenn er zu sei­nen Geschäften ausgeht, »Schmierstiefeln an[zieht], wozu er eine große Leidenschaft« habe, oft auch Sporen, ohne je zu reiten; »Wichsstiefeln spiegeln, und ein Spiegel ist schon etwas Transzendentales«, heißt es an dieser Stelle weiter in offenkundig ironischer Geste.20 Die Dinge des täglichen Gebrauchs, Kleidungsstücke, Stiefel, Accessoires, wer­den, wie schon erwähnt, zu den privilegierten Gefährten des Philisters. Nicht nur er­zeu­gen sie einen Glanz, der nach außen hin Geltung prätendiert, sie werden regel17 Charles Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens«, in: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke / Briefe in acht Bänden, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, in Zusammenarbeit mit Wolf­ gang Drost, Bd. 5, München / Wien: Hanser 1989, S. 213 –258, hier S. 244. 18 Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens« (Anm. 17), S. 243. 19 Vgl. Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens« (Anm. 17), S. 241 f. 20 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 988.

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recht zum Spiegel, in dem sich das ganz und gar dem Materiellen verhaftete Sein des Philisters ausdrückt. Spiegel aber spielen auch für die Selbstinszenierung des Dandys eine zentrale Rolle. So formuliert Max Beerbohm, Dandy und Theoretiker des Dan­ dy­is­mus um 1900, einmal das Desiderat, dass die ästhetische Vision des Dandys von sei­nem eigenen Spiegel begrenzt sein sollte.21 Auch die peinliche Beachtung eines ge­nauen Tagesablaufs imitiert den bürgerlichen Arbeitsalltag, indem es zugleich die ihm eigene Ritualität als solche zur Aufführung bringt. Beerbohm berichtet von ei­ nem Dandy, der sich jeden Morgen um sieben von seinem Diener wecken lässt, an­ schließend ausführliche Körperpflege betreibt, in einen Morgenmantel aus weißer Wolle gehüllt Briefe und Zeitungen studiert, um sich dann bei einer Zigarette allmählich über seine Stimmung zu orientieren, die den Ausschlag dafür geben wird, welche Farbe und Form seine Kleidung an diesem Tage haben wird. Gegen Mittag gelangt er dann in das Ankleidezimmer, wo die Zeremonie ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht et cetera.22 Es liegt auf der Hand, dass hier eine aristokratische Form der Lebensführung und Selbstinszenierung imitiert wird, die von den Zwängen geregelten Broterwerbs und bürgerlicher Arbeitsmoral befreit ist. Deutlich ist dabei jedoch auch, dass die Abgrenzung gegenüber dem bürgerlichen ›Spießer‹ selbst mit dessen Attributen operiert, stellen doch die Zeitung und die Zigarette (als moderne Weiterentwicklung der Tabakspfeife) genuin bürgerliche Accessoires dar. Insofern ist der Dandyismus eine Erscheinungsform bürgerlicher Moderne, deren Unterscheidungen und Setzungen er vorführt und unterläuft.23 Die Struktur dieser verschobenen Wiederholung und Inszenierung bürgerlicher Rou­ti­nen und Dingfixierungen hat eine Entsprechung auch im Bezug des Dandys zum Weiblichen. Dies mag ein weiterer Blick auf Beerbohms exemplarischen Dandy il­lus­trie­ren. Eine (Ehe‑)Frau kommt für ihn schon deshalb nicht in Frage, weil sie ihn von der totalen Konzentration auf die eigene Selbstschöpfung ablenken würde. Auch ist der unvergleichliche Sitz seiner Hose unverdorben durch das Hocken irgendeines kleinen Kindes auf seinen Knien. Und nun, da er mit siebzig Jahren geschlagen ist, kennt er nichts von der Bitternis des Alters, denn sein Toilettentisch »is an imperishable altar, his wardrobe a quiet nursery and very constant harem«.24 Die Accessoires und Requisiten jenes Kultes, den der Dandy um sein Äußeres treibt, treten an die Stelle der 21 Max Beerbohm, »Dandies and Dandies«, in: The Works of Max Beerbohm, hrsg. von dems., Bd. 1, London: William Heinemann 1922, S. 3 –25, hier S. 14. 22 Beerbohm, »Dandies and Dandies« (Anm. 21), S. 21. 23 Vgl. hierzu auch Elisabeth Lenk: »Wie Georg Simmel die Mode überlistet hat«, in: Silvia Boven­ schen (Hrsg.): Die Listen der Mode, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 415 – 437. Dort heißt es, der Dandy sei der »lebende Protest gegen die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. […] Der Dandy dokumentiert nach außen unzweideutig die totale Unterwerfung unter eine soziale Norm. In Wirklichkeit geht es ihm aber darum, die Regeln zu verletzen, ohne mit ihnen zu brechen« (S. 427). 24 Beerbohm, »Dandies and Dandies« (Anm. 21), S. 21.

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Familie; dabei ist die künstliche Selbst-Reproduktion der natürlichen deutlich überlegen, insofern sie auf die Überwindung der eigenen Vergänglichkeit ausgerichtet ist, die eine nachfolgende Generation unablässig vor Augen führen würde. Bereits Baudelaire betont, dass das Projekt der Selbstästhetisierung, welches der Dandy verfolgt, »die Suche nach dem Glück zu überdauern vermag, das in einem anderen Menschen, ei­ner Frau zum Beispiel, zu finden wäre«.25 Auch hier bildet die privilegierte so­zi­ale Stel­lung die Voraussetzung für eine Form der Liebe, die sich von der als philister­haft zurückgewiesenen Ehe abhebt: »Es ist leider nur allzu wahr«, schreibt Baudelaire, »daß, ohne Muße und Geld, die Liebe nicht mehr sein kann als eine spießbürgerliche Orgie oder die Erfüllung einer ehelichen Pflicht. Statt einer glühenden oder träumerischen Caprice wird sie eine Verrichtung von abstoßender Zweckhaftigkeit.«26 Dabei ten­diert die Liebe jedoch dazu, sich von jedem Objekt außerhalb des permanent zu schaf­fen  ­den Ich zu lösen, sie kommt nicht mehr als ein der (menschlichen) Natur inne­woh­ nendes Prinzip in Betracht, das Ich und Anderes verbindet und Gegensätze versöhnt, sondern im Gegenteil als Selbst-Liebe, deren Objekt sich gerade in Abgrenzung und maximaler Ferne von der Natur als künstliches konstituiert. Der Philister oder Spieß­ bür­ger erscheint nun als derjenige, der sich seiner Verstrickung in niedrig-naturhafte Verrichtungen nicht bewusst beziehungsweise ohne Mittel ist, sich aus die­ser Ver­strickung zu befreien. Nicht immer wird der Begriff ›Philister‹ dabei aus­drück­lich ver­wen­det, zumal in denjenigen Dokumenten des Dandyismus, die sich vor allem auf in England und Frankreich sich ausprägende soziale Phänomene und ästhe­ti­ sche Tra­ditionen beziehen. Die Begriffe philistin und philistine gibt es zwar durchaus, allerdings sind sie nicht so deutlich profiliert und werden häufig durch andere, of­fen­bar mehr oder weniger synonym verwendete Begriffe ersetzt. Inwiefern der ver­ brei­tete französische Kampfruf »épater le bourgeois« tatsächlich ›dasselbe‹ meint wie etwa Eichen­dorffs ›Kampf den Philistern‹, wäre im Einzelnen genauer zu prüfen. Die struk­tu­rel­len Ähnlichkeiten sind jedoch mehr als offensichtlich und sie werden auch von denjenigen Autoren, die beispielsweise petit bourgeois und philistin synonym verwenden, gestützt. Anzuführen ist hier etwa Thomas Carlyle, der sich besonders intensiv mit der deut­ schen Romantik beschäftigt hat und dessen Sartor Resartus. The Life and Opinions of Herr Teufelsdröck (1831) eine Hommage an E. T. A. Hoffmann oder Jean Paul darstellt, wie schon der Titel vermuten lässt. Sartor Resartus gewährt einem Philister einen kurzen und unrühmlichen Auftritt, der aber gleichwohl im Hinblick auf die Frage nach der Virulenz von Weiblichkeitskonstruktionen besonders sprechend ist.27 Be­ zeich­nenderweise ist es nämlich gerade der Sieg, den der Held Teufelsdröckh über 25 Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens« (Anm. 17), S. 243. 26 Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens« (Anm. 17), S. 242. 27 Thomas Carlyle, Sartor Resartus. The Life and Opinions of Herr Teufelsdröckh in Three Books, hrsg. von Mark Engel und Rodger L. Tarr, Berkeley / Los Angeles: University of California Press 2000.

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einen Mann erringt, welcher mit seinen enervierenden Philistrositäten eine ganze ›er­ le­sene Gesellschaft‹ stört, der ihn seiner ersten und einzigen Liebe, der Engelsgestalt Blumine, näher bringt. Kaum hat der rhetorisch unterlegene Philister den Schauplatz verlassen, kann Blumine als idealisierte Lichtgestalt auftreten. Dass die ›Herzenskönigin‹28 nie zur Ehefrau wird und Teufelsdröckh auch später niemals heiratet, ist dabei nur die konsequente Fortführung der dieser ersten Begegnung zugrunde lie­gen­ den Konstellation. Nur wenn der romantisch Liebende das angebetete Ideal nicht zur Ehefrau macht, entgeht er der Gefahr, »ein Philister so gut wie die anderen auch« zu werden,29 und nur so kann er dauerhaft Frauen als ›Kunstwerke einer himm­li­schen Kunst‹30 betrachten. Teufelsdröckhs Verhältnis zu Frauen wird aber nicht nur – in ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber dem Philister – als auf exemplarische Weise durch ein romantisches Liebesideal bestimmt beschrieben, er wird darüber hinaus auch zum Dandyismus in Beziehung gesetzt. Tatsächlich lässt Carlyles Text Elemente der deut­ schen Romantik und solche des englischen Dandyismus auf komplexe und viel­stim­ mige Weise miteinander kommunizieren, ist er diskursive Schaltstelle und Über­set­ zungs­medium zwischen verschiedenen Sprachen und kulturellen Kontexten zugleich. Wie wohl kein anderer Text markiert Sartor Resartus die Anschlussstellen zwischen einer romantisch-idealistischen Philisterkritik und derjenigen des Dandyismus und Ästhe­ti­zismus. Dabei funktioniert die Figur des Teufelsdröckh, deren Leben, In­ter­es­ sen und (wissenschaftliche) Erkenntnisse durch die Herausgeberfiktion als ver­meint­ lich un­ver­mit­telte präsentiert werden, nicht einfach als Scharnier zwischen beiden. Denn dieser romantisch Liebende ist nicht zugleich auch Dandy, er macht ihn le­dig­ lich zu sei­nem privilegierten Forschungsobjekt. Indem das Lebenswerk des Ge­lehr­ ten da­rin be­steht, eine ›Philosophie der Kleider‹ zu verfassen, wird abstraktes Ge­dan­ ken­werk schon durch den Gegenstand immer auch verknüpft mit der Frage nach den Din­gen, Materialien, Stoffen, kurz den Bedingtheiten des Menschen. Bereits der idea­ lis­ti­sche Aspekt der Frauenanbetung und Ehelosigkeit des Professors wird durch den Hin­weis gebrochen, dass jene »divine blumine« offensichtlich weit mehr Phi­lo­sophie be­ses­sen habe als ihr Verehrer, wenn sie einen Reicheren geheiratet habe.31 Da­rüber hi­ 28 Vgl. Carlyle, Sartor Resartus (Anm. 27), S. 206. 29 So Hegel in seiner häufig zitierten Kritik des deutschen Bildungsromans (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp [=Werke, Bd, 14], S. 220). Dort heißt es: »Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch; die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ungefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.« 30 Vgl. Carlyle, Sartor Resartus (Anm. 27), S. 104. 31 Vgl. Carlyle, Sartor Resartus (Anm. 27), S. 110. Dort formuliert der Herausgeber an die Adresse von Teufelsdröckh: »Thou foolish ›absolved Auscultator‹, before whom lies no prospect of capital, will any yet known ›religion of young hearts‹ keep the human kitchen warm?«

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naus wird aber auch die pedantische, detail- und dingversessene Art des Professors, sich sei­nem For­schungs­thema zu nähern, durchaus als philiströse lesbar, womit der Un­ ter­scheid­bar­keit zwischen Wahrheitssuche und Dingfetischismus, zwischen Selbst­er­ kennt­nis und »Self-Worship«32 in dem Maße der Boden entzogen wird, in dem sich der Wissen­schaft­ler mit seinem Gegenstand identifiziert. Dieser Gegenstand aber ist das Verhältnis von Sein und Kleid, weshalb der Dandy, bei dem beides zur Deckung gelangt zu sein scheint, einen besonderen Stellenwert bekommt: »A Dandy is a Clotheswearing Man, a Man whose trade, office, and existence consists in the wearing of Clothes. [H]e is inspired with Cloth, a Poet of Cloth.«33 Das Antiphiliströse dieser ves­ti­men­tä­ren Selbstschöpfung wird durch den Verweis auf die Genialität und Schöp­ fer­kraft des Dandys deutlich akzentuiert. Dabei erinnert diese Beschreibung doch zugleich an typische Wendungen der romantischen Philisterkritik, wenn diese ge­ra­de die Fixie­rung auf Gegenstände des täglichen Gebrauchs sowie auf Klei­dungs­stücke als In­ di­zien eines unschöpferischen, begrenzten Bewusstseins markieren. Man denke nur an Bren­tanos Charakterisierung eines typischen Philisters, der sich tagtäglich selbst zu­ sam­men­zu­setzen scheint, indem er erstens eine Jacke auf bloßem Leib, dann eine ro-  te Bauch­binde, Unterhosen, dann Unterhemd, weiter Unterweste, dann Ober­hemd, Hosen, Weste, Überhosen (worunter drei Paar Strümpfe), Rock, Überrock, Wild­schur, Pelzstiefel, baumwollne Mütze, Perücke, Lederkäppchen, Pudelmütze, Fußsack usw. trägt.34 Dem Redner erscheint dieser Philister als »ein in krankhafter, ab­nor­mer Hauterzeugung ertapptes Zwiebelnaturspiel.«35 Denn Zwiebeln, so hatte er bereits zu­vor festgestellt, haben etwas von einem Philister, sofern sie »aus unzählig über­ein­an­der ge­ zo­ge­nen Häuten bestehen, in denen sich nichts weiter befindet.«36 Der Dandy, so lässt sich also folgern, macht die ironische Haltung gegenüber der Kleidung, die nichts ver­ birgt als sich selbst, zum eigentlichen Inhalt seiner Inszenierungen. Die Hülle verweist nicht auf einen in ihr geborgenen lebendigen Körper, vielmehr zeigt sie allein auf sich selbst als totes, das Lebendige in seiner Sterblichkeit und Differenz überbietendes Ob­ jekt, was die Kälte des Dandys erklärt, die als wesentliches Charakteristikum seiner Er­ schei­nungs­weise gilt. Andreas von Balthesser fasst dieses emphatische Verhältnis zur Hülle und zum äu­ ße­ren Accessoire einmal in den Aphorismus, symptomatisch für die Kultur der Ge­gen­ wart sei die »Vervollkommnung der Surrogate«.37 Andreas von Balthesser ist Dandy 32 Carlyle, Sartor Resartus (Anm. 27), S. 202. Zuvor wird erwogen, ob der Glaube jener ›Secular Sect‹ der Dandys in die Klasse der ›Fetishworship‹ gehört. 33 Carlyle, Sartor Resartus (Anm. 27), S. 200. 34 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 976. 35 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 976. 36 Brentano, »Der Philister vor, in und nach der Geschichte« (Anm. 8), S. 976. 37 Richard von Schaukal, Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, Stuttgart: KlettCotta 1986 [1907], S. 70. Auch Balthesser spricht von seiner Erscheinung als äußerer Zwiebelschale (S. 17).

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und literarische Figur, die ihren Auftritt ausnahmsweise in der deutschsprachigen Li­te­ ra­tur hat: er ist eine Erfindung des österreichischen Fin-de-Siècle-Autors Richard von Schaukal. Unter dem deutlich an Carlyle angelehnten Titel Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser beschreibt sich der fiktive Verfasser selbst ausdrücklich als Dandy, indem er sich gegen den Gentleman abgrenzt: Der Dandy stilisiert (geschmackvoll, leicht) seine bewußte Korrektheit und – ironisiert sein Bewusstsein. Der Gentleman ironisiert weder sein Bewußt­sein noch irgend etwas auf der Welt. Der Gentleman ist so korrekt, daß er der Iro­nie einfach unfähig ist, wie einer, der zum Beispiel – nicht schwimmen kann[.] Der Gentleman »kann nicht schwimmen«: er würde entweder unter­ ge­hen […] oder auf dem Wasser obenauf bleiben, wenn er sehr substanziös ist. Der Dandy ist jederzeit bereit zu schwimmen.38 Bei Schaukal findet auch der Philister als Gegenfigur ausdrücklich Erwähnung. Sein unmittelbares Gegenstück ist hier der Dilettant, der gleichwohl mit dem Dandy­is­mus eng verknüpft wird: beide bringt das Ich zu seiner Selbstbeschreibung ins Spiel, bei­de werden profiliert durch Abgrenzung, wobei die Gegenbegriffe Philister und Gentle­man ihrerseits austauschbar werden. Die dem Gentleman zur Last gelegten ›Substan­tia­li­tät‹ findet ihre Entsprechung in der Neigung des Philisters, seine Systeme stets durch Anfang und Ende zu begrenzen: »Man erkennt den Philister daran, daß er niemals um Gründe verlegen ist und immer Zwecke fordert«, heißt es etwa. »Der Dilettant ist [dagegen] der unbegründet Zwecklose.«39 Wenn Andreas von Balthesser als Autor eines Stückes mit dem Titel Androgyne vor­gestellt wird, so wird er im Kontext jenes Diskurses um 1900 situiert, der Zwei­ ge­schlecht­lichkeit zur Mode werden lässt. Dabei ist das Spiel mit der Geschlechts­ iden­tität zugleich ein herausragendes Merkmal des Dandyismus. Denn die Zurückweisung der (Ehe‑)Frau hat hier ihr Komplement in der Feminisierung des Dandys, der in seiner gesteigerten Aufmerksamkeit auf seine äußere Erscheinung ästhetische Zuschreibungen unterläuft, die das Interesse für Kleidung und Schmuck gerade mit dem weiblichen Geschlechtscharakter in Verbindung gebracht haben.40

38 Schaukal, Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser (Anm. 37), S. 18. 39 Schaukal, Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser (Anm. 37), S. 68. Vgl. auch S. 59: » Ich nenne mich stolz einen Dilettanten. Der Dilettant ist der Freie. Über Eingeschworene und Eingeborene hat der Reisende das Übergewicht der Leichtigkeit.« 40 Vgl. Georg Simmel, »Exkurs über den Schmuck«, in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Ramm­stedt, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 414 – 421. Zur Femininität des Dandys bzw. die durch ihn ins Werk gesetzt Sub­version der bürgerlichen Geschlechterordnung vgl. etwa Barbara Vinken, Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 20 –34.

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Wenn eine (Ehe‑)Frau im Leben des Dandys keinen Platz hat, so hat dies offenkundig noch andere Gründe als den, dass sie ihn in seinen Ritualen behindern könnte. Er selbst hat ›das Weibliche‹ absorbiert, der Kult um die eigene Erscheinung ist an die Stelle einer Idealisierung des Weiblichen getreten, wie sie sich im späten 18. Jahrhundert ausprägt, wenn die Frau als Figur der Wahrheit, Harmonie, Humanität et cetera modelliert wird. Bei Baudelaire lässt sich diese Verschiebung – weg von einer Hypo­stasierung des Anderen, Weiblichen als Verkörperung einer substantiellen Ganzheit hin zu der Vorstellung, dass das vermeintlich Natürliche gemacht, rhetorisch inszeniert und also (auch auf das männliche Geschlecht) übertragbar sei – deutlich nachvollziehen. Im selben Aufsatz, in dem Baudelaire den Dandyismus als Signatur der Mo­derne beschreibt, finden sich auch Abschnitte über ›die Frau‹ sowie ein »Lob der Schminke«.41 Weiblichkeit wird hier nicht als das natürliche Urbild der Schönheit oder als Muse beschrieben, die männliches Kunstschaffen inspiriert. Vielmehr wird ›die Frau‹ selbst als Effekt einer durch und durch künstlichen  – und damit in ge­ wis­ser Weise auch künstlerischen – Anstrengung in den Blick genommen. Ganz im Sinne eines romantischen Ideals von Weiblichkeit beschwört auch Baudelaire die Frau noch als »ein harmonisches Ganzes«.42 Sie ist dies nun aber gar nicht mehr als Na­ tur­wesen, sondern als kunstvolles Arrangement von Hüllen, die auf keine göttliche Sub­stanz mehr durchsichtig sind, sondern den Eindruck einer solchen überhaupt erst her­vor­bringen. Harmonisch ist die Frau gerade »in den Musselinen, den Gazen, den weiten und schillernden Gewölken von Stoffen, die sie umhüllen und die gleich­sam die Attribute und das Piedestal ihrer Göttlichkeit sind.«43 Weiblichkeit und Gött­ lich­keit sind also herstellbar – eine Einsicht, die sich die Dandys in der Folge kon­ se­quent zunutze machen. »Das Scheinen ist das Sein, dieser Spruch gilt für Dandys wie für Frauen«,44 vermerkt Jules Barbey d’Aurevilly in einer Fußnote zu seinem be­ rühm­ten Buch über das Dandytum. Anlass und Hauptfigur dieses zwischen 1845 und 1879 in verschiedenen Versionen publizierten Textes ist der historische George Bryan Brum­mell, der zu Beginn des Jahrhunderts allein durch sein dandyhaftes Auftreten die ersten Londoner Clubs in Atem hielt und der – nicht zuletzt wegen seiner Be­ schrei­bung durch Barbey und andere – als Urbild des Dandys gilt. Zwar genießt es der Dandy, von allen, auch von Frauen, bewundert und begehrt zu werden, er selbst aber braucht weder Ehefrau noch Mätresse. Das vielleicht extremste Beispiel für einen solchen dem Geschlechtlichen schließlich völlig entsagenden Dandy ist sicherlich Jean des Esseintes aus Huysmans Dekadenz-Roman A Rebours.45 41 Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens« (Anm. 17), S. 306 –309, S. 310 –317. 42 Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens« (Anm. 17), S. 246. 43 Baudelaire, »Der Maler des modernen Lebens« (Anm. 17), S. 308. 44 Jules Barbey d’Aurevilly, Über das Dandytum und über George Brummel. Ein Dandy ehe es Dandys gab, übers. von Gernot Krämer, Berlin: Matthes & Seitz 2006, S. 73, Anm. 45 Vgl. Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, übers. und hrsg. von Walter Münz und Myriam Münz, Stuttgart 1992. Des Esseintes entstammt einer Familie, die sich durch eine fortschreitende

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Nicht Wärme und Leidenschaft bestimmt die dandyistische Konstitution, sondern Distanziertheit, Stoizismus und Kälte. Brummell sei kein Libertin oder Don Juan gewesen, versichert Barbey d’Aurevilly, »seine Eitelkeit rührte nicht an heißes Blut«. Viel eher sei er zu vergleichen gewesen mit den »Sirenen, Meertöchter[n] mit betörenden Stimmen«, da er wie sie in einen Panzer gekleidet sei, der sie unverwundbar und zugleich umso bezaubernder macht.46 Bemerkenswert ist hier offenbar, dass der Dandy zwar einerseits – wie das Genie um 1800 – mit einem Fließenden in Verbindung gebracht wird – Schaukals Bild vom Schwimmen spricht dafür ebenso wie Barbeys Sire­ nenvergleich. Andererseits ist das Gleiten und Fließen nichts Lebenswarmes, son­dern lediglich an die permanenten Operationen und Medien der Selbstveränderung sowie an den Stil geknüpft, der Künstliches als Natürliches erscheinen lässt und damit die Schöpfung überbietet.47 Es erscheint deswegen auch nicht mehr im Gegensatz zum Trockenen, wie in der Philistersemantik um 1800,48 sondern geht mit diesem eine Ver­bindung ein, wie entsprechende Bemerkungen bei Barbey ausdrücklich belegen.49 Dass die Wahrheit einzig eine Frage des Stils sei, hat im 19. Jahrhundert neben Baudelaire vermutlich kein anderer immer wieder so explizit zum Thema gemacht wie Oscar Wilde. In seinem Essay »The Decay of Lying«,50 der eine Streitschrift für eine in diesem Sinne antirealistische Kunst ist, formuliert er angesichts einer von Geschäftsgeist und Mangel an Phantasie geprägten Gesellschaft folgende Prognose: Gelang­weilt vom ermüdenden und belehrenden Geschwätz derer, die kein dichterisches Genie besitzen, deren Aussagen durch Wahrscheinlichkeit begrenzt werden, die sich jederzeit der Bestätigung durch den erstbesten Philister sicher sein können, wird die Gesellschaft bald zur Wertschätzung und Feier der Lüge zurückkehren.51 Wilde benutzt tatsächlich den Philisterbegriff immer wieder in deutlicher Abgrenzung seines Kunst­ ver­ständnisses zu dem bornierten, weil moralisierenden und instrumentalisierenden

»Verweiblichung der männlichen Sprosse« (S. 29) auszeichnet und auch er selbst hat angesichts ei­ner ihm männlich erscheinenden Frau den Eindruck, »daß er selbst verweiblichte« (S. 132). Zu Frau­en selbst unterhält er keine Beziehungen mehr, nachdem er alle Arten geschlechtlicher Begegnung durch­gespielt hat und ihrer überdrüssig geworden ist (S. 35 f.). Stattdessen gibt er Diners zur Anteilnahme an seiner »verstorbenen Manneskraft« (S. 42). 46 Alle Zitate: Huysmans, Gegen den Strich (Anm. 45), S. 49. 47 Vgl. Huysmans, Gegen den Strich (Anm. 45), S. 58: »So erreichte er den Gipfel der Kunst, wo sie der Natürlichkeit die Hand reicht.« 48 Vgl. dazu den Beitrag von Walter Erhart in diesem Band. 49 Vgl. Barbey d’Aurevilly, Über das Dandytum (Anm. 44), S. 50: »Affektiertheit führt zu Trockenheit. Obwohl ein Dandy zu viel Geschmack hat, um sich nicht durch Einfachheit hervorzutun, ist er immer auch ein bißchen affektiert.« 50 Oscar Wilde, »The Decay of Lying«, in: The Complete Works of Oscar Wilde, Bd. 4: Historical Criticism. Intentions. The Soul of Man, hrsg. von Josephine M. Guy, New York: Oxford UP 2007, S. 72 –103. 51 Vgl. Wilde, »Decay of Lying« (Anm. 50), S. 88.

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Kunst­begriff seiner Umgebung. Dass dieser Abgrenzung durchaus eine entsprechende Stig­ma­ti­sie­rung und Kriminalisierung seiner Person (und Kunstauffassung) entsprach, belegt vor allem seine im Gefängnis verfasste Schrift »De Profundis«.52 In dieser vergleicht er seine eigene Zeit, deren Gesetze ihn zum Verbrecher machen, mit der Zeit von Christus, womit er sein Leid natürlich zugleich als imitatio Christi stilisiert. Be­ mer­kens­wert ist jedoch, dass er beide als Opfer der Philister beschreibt: Philistinism was the note of the age and community in which he lived. In their heavy inaccessibility to ideas, their dull respectability, their tedious orthodoxy, their worship of vulgar success, their entire preoccupation with the gross materialistic side of life, and their ridiculous estimates of themselves and their importance, the Jews of Jerusalem in Christ’s day were the exact counterpart of the British Philistine of our own.53 Diese Bestimmung der Philister entspricht nun manchen anderen und vor allem frü­ her formulierten und ist insofern nicht spezifisch. Sie macht aber deutlich, dass der Begriff bei Wilde durch die verschiedenen Phasen seines Schaffens hindurch präsent war und stellt sein gelegentliches Auftauchen in früheren Texten in einen weiteren Kontext. Im Dorian Gray beispielsweise ist nur ein einziges Mal von einem Philister die Rede, dort aber in einer sehr spezifischen Wendung. Unter dem Einfluss von Lord Henry, dem prototypischen Dandy des Romans, äußert sich Dorian einmal über jenen Maler, bei dem sich beide ursprünglich kennengelernt hatten. Derselbe hat auch das Bildnis Dorians, das dann in seinen Besitz kommt und sein unheimliches Doppel wird, gemalt. »Oh, Basil is the best of fellows, but he seems to me to be just a bit of a Philistine. Since I have known you, Harry, I have discovered that.«54 Lord Henry antwortet, dass Basils Problem gerade nicht in der Unzulänglichkeit seiner Kunst liege – tatsächlich wird ja die Qualität des Bildes immer wieder als exzeptionell gerühmt –, vielmehr liege sie in der Trennung von Leben und Kunst: Good artists exist simply in what they make, and consequently are perfectly uninteresting in what they are. A great poet, a really great poet, is the most unpoetical of all creatures. But inferior poets are absolutely fascinating. The

52 Oscar Wilde, »De profundis«, in: The Complete Works of Oscar Wilde, Bd. 2: De Profundis. Epistola: In Carcere et Vinculis, hrsg. von Russell Jackson und Ian Small, New York, NY: Oxford UP 2005, S. 157–193. 53 Wilde, Oscar: »De profundis« (Anm. 52), S. 182. 54 Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray, hrsg. von Russell Jackson und Ian Small, New York, NY: Oxford UP 2005 (= The Complete Works of Oscar Wilde, Bd. 3), S. 217.

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worse their rhymes are, the more picturesque they look. The mere fact of having published a book of second-rate sonnets makes a man quite irresistible. He lives the poetry that he cannot write. The others write the poetry that they dare not realize.55 Wahre Künstlerschaft, die allein der Philisterei entgegengesetzt werden kann, be­misst sich also nicht am geschaffenen Kunstobjekt, sondern manifestiert sich allein in je­ nem lebendigen Kunstwerk, das der Mensch aus sich selbst machen kann. Genau hier­ für steht Dorian, der, zunächst von Henry angeleitet, später aus eigenem Antrieb zum Dandy wird. Er macht sich selbst, seinen Körper zum Kunstwerk, das Ver­gäng­lich­ keit und Mangel überwindet. Ähnliche Motive finden sich übrigens auch in anderen Tex­ten zum Dandyismus, so etwa bei Max Beerbohm, der von einem Lord, Paradefall eines Dandys, erzählt, dessen Nervosität bei einem Pferderennen sich darin äußert, dass das Leinen seiner Kleidung errötet, die Stiefel ihren Glanz verlieren, die Haare des Fracks ergrauen und schließlich an seinem Hut Furchen der Verzweiflung sichtbar werden.56 Die Dinge beleben sich, treten an die Stelle des menschlichen Körpers, indem sie Gefühle und Alterungsprozesse zu zeigen scheinen, denen der Kunstkörper ent­zo­gen wird. Es lässt sich also festhalten, dass der Dandy gerade darin souverän ist, dass er über die (Geschlechter‑)Differenz gebietet, was seine deutlichste Ausprägung darin fin­det, dass er wie eine Frau erscheint.57 Das Begehren des Weiblichen, sei es im ge­schlecht­ lichen Sinne, sei es als Selbstentwurf auf ein vom Anderen verkörpertes Ideal hin, gilt ihm als trivial, unvollkommen und ist insofern zu überwinden. Es ist Sache der »Pe­ dan­ten und Biedermänner[]«,58 mithin der Philister, die noch an einer Zweiheit und Spaltung laborieren, über die sich der Dandy als selbstgeschaffenes quasi-göttliches Kunst­werk erhebt. Diese Zweiheit betrifft nicht nur die Differenz der Geschlechter, sondern auch, wie gezeigt, den Gegensatz von Idealität und Materialität, wobei letz­tere im weiten Sinne für alle konkreten sozialen Formen, Regeln und Institutionen ste­hen kann, in denen sich menschliches Leben realisiert. Dieser Gegensatz aber findet sich in der Gegenüberstellung von Ehefrau und idealer Weiblichkeit gleichsam verkör­pert, welche die Philisterrhetorik um 1800 wesentlich organisiert. Der Dandyismus kann als Symptom dafür gelesen werden, dass die Vermittlung dieser beiden spätestens seit dem 18. Jahrhundert weiblich figurierten Prinzipien – eine

55 Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray (Anm. 54), S. 217 f. 56 Beerbohm, »Dandies and Dandies« (Anm. 21), S. 24. 57 Vgl. Barbey d’Aurevilly, Über das Dandytum (Anm. 44), S. 50 f.: »Der König der Mode hatte also offiziell keine Mätresse. […] Keine Einbildung des Herzens, keine Erregung der Sinne milderte oder unterband sein Urteil. Er war vollkommen souverän.« Sowie S. 76: »er verhielt sich wie eine stolze Kokette«. Und S. 82 (Anm.): »ein Dandy ist in gewisser Hinsicht eine Frau«. 58 D’Aurevilly, Über das Dandytum (Anm. 44), S. 37 (vgl. auch S. 39, 34, 61 u. 80).

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Vermittlung, wie sie die Liebesehe ja beschwört – nicht gelingt. Sie kann wohl auch aus strukturellen Gründen nicht gelingen, die mit dem Ausschluss des Weiblichen zu tun haben, das lediglich als zeichenhafte Verkörperung und orientierender Horizont der männlichen Selbstentwürfe in Dienst genommen wird. Beide Prinzipien lassen sich aber offenbar auch nicht gegeneinander ausspielen, denn der Körper, das Materielle, die Dinge, Kleidungsstücke, Stoffe, Accessoires treten ja gerade im Dandyismus ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gerade er radikalisiert aber zugleich die Philisterkritik, insofern er jede organische Einheit oder orientierende Substanz jenseits der Zeichenketten und Inszenierungen leugnet. Indem der Dandy die Frau als Anderes gleichsam absorbiert, erklärt er einerseits das / die Andere gleichsam zum Nichts – womit er bereits auf die entsprechende Bestimmung des Weibes durch Otto Weininger am Beginn des 20.  Jahrhunderts vo­ raus­weist. Andererseits stellt die vom Dandy betriebene Ablösung von Attributen und Ri­tu­a­len von der Verknüpfung mit einem (biologisch oder ontologisch gedachten) Ge­ schlecht auch die Voraussetzung dafür dar, dass Frauen nicht mehr bloß als (Körper‑) Zeichen für bestimmte Existenzweisen in den Blick kommen, sondern selbst als (sich) inszenierende, und das heißt nicht zuletzt: als kulturschaffende. Interessanterweise wird der Dandy immer wieder mit weiblicher Autorschaft identifiziert: Barbey d’Aurevilly publiziert zunächst unter weiblichem Pseudonym, von George Brummell heißt es einmal, sein ›home‹ gliche dem einer Frau, die Dichterin werden möchte.59 Eine Verlagerung des Schwerpunktes auf weibliche Kreativität erfordert aber si­ cher­lich andere Narrative als das des Philisters, der ja schon in der biblischen Ge­ schichte mit der unheilbringenden Frau in Verbindung gebracht wird – und in Fin-deSiècle-Entwürfen der femme fatale wiederum mit zerstörerischer Weiblichkeit as­so­zi­iert wird. Und hat der Dandy in seinem Versuch, das Andere zu sein und zu­gleich aus­zu­lö­ schen, nicht auch Ähnlichkeit mit Simson und dessen ebenso verzweifelt wie pa­ra­dox anmutendem Bemühen, alle Kraft durch sein (frauenähnliches?) Haar zu be­wah­ren, während er zugleich immer wieder das Fremde (die Frauen der Philister) aufsucht und sich mit ihnen verbindet? Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Dandyismus zum einen die seit dem späten 18. Jahrhundert virulente Philisterkritik fortschreibt, zum anderen aber jene Grenzziehung am Ort des Weiblichen, durch die sich emphatische Kunst- und Geniekonzepte von bürgerlichen Bedingtheiten zu unterscheiden suchen, über­windet. Indem der Dandy jeden Bezug auf die Frau zurückweist, um sich in per­ma­nen­ter Inszenierung selbst zu schaffen, absorbiert er das Weibliche und verweist Idealität auf materielle und rhetorische Verfahren der Selbstsetzung. Treibt die Philisterkritik, die sich typischerweise als Kritik an der Gebundenheit und Materialität des bürger­li­chen Ehe-Lebens hervorbringt, endlose Ding-Reihen und Rituale der Selbst­schöp­fung her­

59 D’Aurevilly, Über das Dandytum (Anm. 44), S. 55.

432 vor, so lässt sie im Dandyismus die Untrennbarkeit von idealem Selbst-Entwurf und bedingter Realisierung zutage treten. In jedem Fall scheint der Versuch einer unbe­ ding­ten Selbstsetzung, die das Andere, Bedingte, Philiströse, Weibliche ganz und gar von sich abzutrennen sucht, gerade die Verstrickung mit demselben hervorzutreiben.

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»›Jugend! Philister über Dir!‹« Jugendkultur und Altersresignation als Hintergrund der modernen Gesellschafts- und Literaturkritik bei Walter Benjamin

Stets sei man zu alt oder zu jung, um ein richtiges Urteil fällen zu können, schreibt Pascal. In der Malerei sei es hingegen viel einfacher. Wer nach den richtigen Pro­por­tio­ nen für ein Bild suche, müsse lediglich eine Kenntnis von den Gesetzen der Zentral­ per­spek­tive erwerben und sie entsprechend umsetzen. Bedauerlicherweise gäbe es in der Philosophie, so Pascal weiter, einen solchen Fixpunkt, von dem aus sich moralische oder epistemologische Fragen mit ähnlicher Leichtigkeit beantworten ließen, nicht.1 Das von Pascal beschriebene Problem gilt auch für das Bild der Erinnerung, dessen Proportionen häufig nicht stimmen, weil es zu nah oder zu fern vor seinem Betrachter steht, welcher entweder zu jung oder zu alt ist, um die Ereignisse der Vergangenheit in eine richtige Beziehung zueinander setzen zu können. In Walter Benjamins Memoiren wird die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses the­ ma­ti­siert, die als eine besondere Herausforderung für das erinnernde Subjekt an­ge­ se­hen wird. In dem autobiographischen Fragment »Die Landschaft von Haubinda« (ca. 1913/14) blickt der Student Walter Benjamin auf die »1 ¾ wichtigen Jahre«2 seiner Kind­heit zu­rück, die er von 1905 bis 1907 im Landesschulheim Haubinda verbrachte. Auf einer sehr sanften Höhe steht ein Haus, es wird wohl im Frühling sein. […] Das Haus ist Haubinda, wo Schüler leben. Man nennt es einen Fachwerkbau, seine gleichgültige Höhe, die blicklos über den Wäldern der Ebne steht, ist der Thron. Der Weg von der Haustür senkt sich zum Garten, dann bewegt er sich nach links und bege〈g〉net der schwarzen Landstraße, die er begleitet. Beete liegen zu Seiten des Weges, die braune Erde liegt offen, dahinter steht dann (nie darfst Du ihn vergessen) der Wald. Sehr schwer von Regen. 1 Vgl. Blaise Pascal, Pensées, Paris: Garnier 1976, B381–L21, S. 55. 2 An Ludwig Strauß (10.10.1912), in: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 69 –73, hier S. 70.

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[…] Vor der Erinnerung weicht diese Nähe. Sie verbirgt sich in uns, das Haus und die herrlichen 〈V〉ierzehnjährigen mit den roten Mützen sind zu nahe[,] um sie zu sehen. Die Flammen einer Nacht schlagen über den Wäldern in der sehr fernen Ebne. […] Morgen am Sonntag werden die Jungen mit den ro­ten Mützen in alle Winkel dieser Landschaft wandern. Zwischen den Bäumen wer­den sie allein sein. […] Der Mond stand über dem Wald von Haubinda, über keinem andern. Damals traten die Gelieben aus der Hütte von Col, wo sie Limonade getrunken hatten. Sie hatten sie aus erweichten Bonbons bereitet und sie schmeckte süß und fade.3 Landschaft und Limonade sammeln in sich die Vergangenheit, ihre Genüsse und Sehn­ süchte. Nichtsdestotrotz wird die Distanz zur Erinnerung als befremdlich wahr­ge­nom­ men: »Vor der Erinnerung weicht diese Nähe. Sie verbirgt sich in uns«.4 Der Grün­der des Landschulheims ist der Pädagoge Gustav Adolf Wyneken, dessen re­form­pä­da­go­ gi­schen Ideale Benjamin bis in die Studentenzeit hinein begleiten. Wynekens Lebensphilosophie verdankt Benjamins spätere Kritik des Philisters ihre bestimmende Frühprägung. In den nachfolgenden Ausführungen möchte ich mich der Transfor­ma­tion zuwenden, welche die Figur des Philisters in seinen Schriften durchläuft. Diese Funk­ tionsänderung besteht darin, so lautet meine These, dass ihre originäre Bedeutung im Sinne eines Gegenentwurfs zu einem emphatischen Konzept von ›Jugend‹ insofern modifiziert wird, als der Philister in den späteren Texten als die Per­so­ni­fi­ka­tion der modernen Bürokratie beziehungsweise der bürokratischen Moderne überhaupt in Er­ scheinung tritt. Anhand dieser Figur lässt sich somit die Entwicklung und Neu­aus­rich­ tung von Benjamins Denken weg von der Lebensphilosophie hin zu einer von Marx inspirierten Gesellschaftskritik paradigmatisch nachvollziehen. Welche Elemente aus der früheren Philisterschelte erhalten und welche verloren gegangen sind und wie das Spannungsverhältnis zwischen Philister und Nicht-Philister gedacht wird, gilt es dabei aufzuzeigen. Von 1912 bis 1914 engagiert sich Benjamin in Freiburg und Berlin für die frei­ studentische Bewegung. Zum Bruch mit Wyneken kommt es, als dieser im Jahre 1914 eine Rede hält, mit der er die Jugend für den Krieg zu begeistern versucht.5 Be­ kannt geworden ist der charismatische Pädagoge unter anderem, weil er den Begriff 3 Walter Benjamin, »Die Landschaft von Haubinda«, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 195. Wenn nicht anders an­ge­ge­ ben, werden Benjamins Texte aus dieser Ausgabe unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 4 Benjamin, »Die Landschaft von Haubinda« (Anm. 3), S. 195 (meine Hervorhebung, K. C.). 5 Vgl. für eine biografische Darstellung zu Benjamins Teilnahme an der Jugendbewegung JeanMichel Palmier, Walter Benjamin. Le Chiffonnier, l’Ange et de le Petit Bossu, Paris: Klincksieck 2006, S. 100 –113. Vgl. zu Benjamins Frühphase Astrid Deuber-Mankowsky, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung, Berlin: Vorwerk 2000,

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der ›Jugendkultur‹ ent­schei­dend mitprägte, wenn nicht sogar erfand. Jugend ist, so Wyneken, nicht länger als ein bloßer Übergang anzusehen, sondern sie stellt einen schöpferischen Zustand dar, der den Sinn des gesamten Lebens in sich trägt.6 Eine Jugend, die sich ernst nimmt und ernst genommen werden will, hat sich um ihre allereigenste Sache zu bekümmern. Eine Jugend, die hier versagt, versagt an der entscheidenden Stelle, versagt bei der ersten Probe, sie hat nicht das Recht , den Willen zur Tat für sich in Anspruch zu nehmen. Die Schule beherrscht den größten Teil des jugendlichen Lebens: ohne Wiedergeburt der Schule aus dem Geiste der Jugend keine Jugendkultur.7 In dem Bestreben, die Jugend von der sie bevormundenden Erwachsenenwelt zu befreien, entwirft Wyneken das abschreckende Bild des Philisters,8 in den sich die Ju­ gend­lichen zu verwandeln drohen, wenn sie den Weg des wilhelminischen Erziehungsideals beschreiten. »Jugend! Philister über dir!« lautet der programmatische Titel einer Rede, in der der Warnruf lautstark widerhallt.9 In burschenschaftlichen Vereinigungen erreicht der Student den Status des Phi­lis­ ters, der auch ›Alter Herr‹ genannt wird, nach dem Studium. Wyneken, dessen Jugendreformbewegung ansonsten keine Berührungspunkte mit Burschenschaften auf­weist, verwendet die Figur des Philisters als Gegenbegriff zur Jugend. Der Philister ist das Synonym eines saturierten bürgerlichen Lebens, bestimmt durch Beruf, Familie und nicht zuletzt durch ein Quäntchen Gemütlichkeit. Benjamin übernimmt die Philisterschelte von Wyneken und stimmt in das Hohelied der Jugend mit ein. In seinen frühen Texten zur Schul- und Bildungsreform, in der die studentische Lebensform philosophisch idealisiert wird, kritisiert er die bur­ S. 299 –312; Peter Dudek, Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld. Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn, Obb.: Klinkhardt 2002. 6 Heinrich Kupffer, Gustav Wyneken 1875 –1964, Stuttgart: Klett 1970, S. 192. Mit dieser lebensphilosophischen Auffassung steht Wyneken nicht allein. Die Idee, dass es sich bei der Jugend um eine autonome Lebensphase handelt, findet in den Dezennien um 1900 allgemeine Verbreitung (vgl. ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos der Jugend, hrsg. von Frank Trommler, Rolf-Peter Janz und Thomas Koebner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985). Vgl. zu Benjamins Jugendkonzeption Birgit Dahlke, Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900, Köln: Böhlau 2006, S. 228 –247. 7 Gustav Adolf Wyneken, »Reformphilistertum oder Jugendkultur?«, in: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, hrsg. von Arthur Kracke, Jena: Diederichs 1913, S. 166 –169, hier S. 169. 8 Gustav Adolf Wyneken, Schule und Jugendkultur, Jena: Diederichs 1919, S. 46, 55 u. 69; ders., Der Kampf für die Jugend. Gesammelte Aufsätze, Jena: Diederichs 1919, S. 119. 9 Gustav Adolf Wyneken, »Jugend! Philister über dir!«, in: ders., Jugend! Philister über dir!, Frank­ furt am Main: dipa 1963, S. 11–17. Vgl. zum Philister im selben Band ders., »Wie es dann weiter­ ging …«, S. 17–21, bes. S. 17.

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schen­schaftlichen Studentenvereinigungen.10 Der »Korpsgeist«, der »noch immer […] sichtbarste Träger des studentischen Jugendbegriffes«,11 trägt die Idee der Jugend zwar in sich, doch erliegt er einer Täuschung. Was an der burschenschaftlichen Auf­fas­sung von Jugend verdächtig erscheint, ist die Akzeptanz des als unvermeidbar an­ge­sehe­nen Philisteriums. Die Studenten der Gegenwart verdienen das Prädikat der Jugend da­ her nicht. »Denn die Studenten sind nicht die jüngste Generation, sondern die Al­ter­ nden.«12 Längst hat die Jugend einen Pakt mit dem Philisterium geschlossen, um von ihm die Lizenz zum befristeten Genießen zu erwerben. Das deutsche Studententum ist, bald mehr bald minder, von der Idee be­ses­ sen, es müsse seine Jugend genießen. Jene ganz irrationale Wartezeit auf Amt und Ehe mußte irgendeinen Inhalt aus sich herausgebären, und das mußte ein spielerischer, pseudo-romantischer, zeitvertreibender sein. […] Weil man dem Bürgertum die Seele verkauft hat, samt Beruf und Ehe, hält man streng auf jene paar Jahre bürgerlicher Freiheiten. Dieser Tausch wird im Namen der Jugend eingegangen. Offen oder heimlich – auf der Kneipe oder in be­täu­ benden Versammlungsreden wird der teuer erkaufte Rausch erzeugt, der ungestört bleiben soll. Es ist das Bewußtsein verspielter Jugend und verkauften Alters, das nach Ruhe dürstet, und an ihm sind die Versuche der Beseelung des Studententums zuletzt gescheitert.13 Die »Beseelung des Bürgertums« und die »Beseelung des Studententums« schließen sich also aus. Was Jugend in Wirklichkeit ausmacht, ist der Gegenwart nach Benjamin noch weit­gehend verborgen geblieben. In den Köpfen der Studenten muss daher der wahre »Geist«14 der Jugend erst noch erweckt werden. Die Differenz zwischen der Ju­ gend­be­we­gung Wynekens und den burschenschaftlichen Studentenvereinigungen besteht für Benjamin offensichtlich darin, dass letztere die Jugend zu einer transitorischen Phase de­gradieren. Des Weiteren empfiehlt Benjamin, das Studentendasein aus dem in­sti­tu­tio­nellen Rahmen der Hochschule,15 innerhalb derer die Jugend verzweifelt, heraus­zu­lösen. 10 Vgl. für eine Gesamtinterpretation der frühen Schriften Thomas Regehly, »Schriften zur Jugend«, in: Burkhardt Lindner (Hrsg.), Benjamin-Handbuch, Stuttgart / Weimar: Metzler 2006,  S. 107–117. 11 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 85. 12 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 85. 13 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 85. 14 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 56. 15 Der Gedanke einer Universitäts-Reform treibt auch satirische Blüten. Von 1918 bis 1923 verfasst Benjamin zusammen mit Scholem Glossen zum Universitätssystem. Darunter befinden sich Pläne für die Phantasieuniversität namens Muri (vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften [Anm. 3], Bd. 4, S. 441– 4 48). Zu ihrem Lehrplan gehören Seminare wie etwa Von Leibniz bis Bahlsen. Im Ankündigungstext heißt es: »Die neue Werbepackung der geschätzten Kakesfabrik mit Nachbildung der

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Es ist ein heroischer Entschluß, das Alter zu erkennen, für solche, die ihre Jünglingsjahre auf deutschen Schulen verloren, und denen das Studium endlich das Leben des Jünglings zu eröffnen schien, das sich von Jahr zu Jahr ihnen versagte.16 Dem ersten Vernehmen nach klingt Benjamins Philister-Schelte wie ein lebens­phi­lo­ sophisch angereichertes Überbleibsel aus dem romantischen 19.  Jahrhundert. Al­ler­ dings grenzt er sich von der Romantik bewusst ab und kappt vorsorglich die Ver­bin­ dungslinien zu allen romantischen Verklärungen der Jugend,17 die hypochondrische Züge trägt, weil sie an einer Weltschmerzüberempfänglichkeit leidet.18 Die Romantik ist hinter ihren eigenen Anspruch zurückgefallen und hat die Idee der Jugend ver­ra­ten. An ihrer Stelle wird eine Neo-Romantik eingefordert, in der der Gedanke des Phil­is­ te­riums keinen Platz mehr finden darf. In Romantik. Eine nicht gehaltene Rede an die Schuljugend (1913  /  14) heißt es, der Jugend droht das Schicksal, »die Generation der späteren Philister« zu werden. ›Allein denen, die glauben eine zeitlose Jugend vor sich zu haben, eine ewig ro­man­tische, die ewig sichere, die den ewigen Weg ins Philisterium geht. Wir sagen ihnen: Ihr belügt uns und Euch. Mit Euren väterlichen Gesten, mit Eurer weihräuchernden Verehrung raubt Ihr uns das Bewußtsein. Ihr er­hebt uns in rosige Wolken, bis wir den Boden unter den Füßen verloren ha­ben. Dann gewärtigt Euch immer mehr eine Jugend, die in narkotischem In­di­vi­ dua­lismus schläft. Das Philisterium lähmt uns, damit es allein die Zeit beherrsche; wenn wir uns aber lähmen lassen, von den idealischen Narkosen, dann sinken wir ihm schnell nach, und die Jugend wird die Generation der späteren Philister‹ Ich weiß nicht, Kameraden, aber ich fürchte, damit bin ich bei der Romantik. Nicht bei der Romantik, bei keiner wahren, aber bei einer sehr mächtigen und gefährlichen. Es ist genau dieselbe, die uns Schillers Philosophen in Bäckerei. Bei Schopenhauer wäre – angesichts des ausgesprochenen Pessimismus – Schokoladenguß am Platze gewesen« (S. 448). 16 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 85. 17 Vgl. zum romantischen Jugendkonzept Günter Oesterle und Alexander von Bormann (Hrsg.), Jugend, ein romantisches Konzept?, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997. 18 Vgl. den Text »Der Hypochonder in der Landschaft« (1906 – 1913), in dem Wilhelm Hauffs Gedicht »Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod« persifliert wird: »Ein im reifen der Jahre ergrauter Mann und ein Jüngling bewegten sich als lautlose Punkte durch die Stille. Sie trugen eine leere Bahre. Von Zeit zu Zeit fiel ein Blick des Jüngern auf die Krankenbahre und seine Augen füll­ ten sich mit Tränen. Nicht lange und trauriger Gesang entquoll seinem Munde und hallte tausendfach schluchzend von den Bergwänden zurück. ›Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod.‹ […] Der Ort war geschaffen, zum Genusse jeglichen Leidens … Besonderer Wert war auf die abendliche Melancholie gelegt worden, die von 7–8 Uhr stattfand« (Benjamin, Gesammelte Schriften [Anm. 3], Bd. 7, S. 641 f.).

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keusche weltbürgerliche Klassik zersetzt in bequeme Gemütlichkeitspoesie für Bürgertreue und Partikularismus.19 Von dieser romantischen Jugendkonzeption muss man sich verabschieden. Beruf und Familie, die beiden Säulen der philiströsen »Berufsideologie«,20 haben den Ge­dan­ken an die Jugend zum Traumfetisch verkommen lassen. Ihre Eindämmung oder Aus­trei­ bung zeichnet sich vor allem in jenem Lebensbereich ab, in dem sie über einen un­ein­ hol­baren Vorsprung gegenüber dem Alter verfügt: der Sexualität.21 Auf dem Altar des Philisteriums hat die Jugend, um Eintritt zu erlangen, die sexu­ el­le Freiheit opfern müssen. In »Erotische Erziehung. Anläßlich des letzten stu­den­ti­ schen Autorenabends in Berlin« (1914) wird dargelegt, wie die Sexualität zur Privatsache reduziert wurde, wie sie sich in den Intimbereich der heimischen vier Wände, sicher vor den Blicken der anderen, zurückzog, um dann doch ihre geheimen Wege nach draußen zu suchen und zu finden. Wichtiger als die Binsenwahrheit vom Mangel einer erotischen Kultur ist die Tatsache der doppelten erotischen Unkultur: der familialen und der Pro­sti­tu­ tion. Vergeblich der Versuch, diese beiden Geistlosigkeiten sich durchdringen zu lassen in der Gloriole jugendlichen Philisteriums: dem Verhältnis.22 Das prickelnde Verhältnis: in Wirklichkeit nichts mehr als ein fauler Kompromiss, ein graues Mittelding zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, eine Mischung von fa­mi­li­ ä­rer Sicherheit und kommerziellem Sex. Ein öffentliches Bekenntnis zur Lust, wie es beispielsweise der Flirt23 darstellt, dessen getraut sich der Philister nicht, wie im Prosastück »Wettannahme« aus der Einbahnstraße illustriert wird: Das Philisterium proklamiert restlose Privatisierung des Liebeslebens. So ist ihm Werbung zu einem stummen, verbissenen Vorgang unter vier Augen geworden, und diese durch und durch private, aller Verantwortung entbundene Werbung ist das eigentlich Neue am ›Flirt‹. Dagegen sind der proletarische

19 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 43. 20 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 83. 21 Vgl. zum Eros Sigrid Weigel, »Eros«, in: Erdmut Wizisla und Michael Opitz (Hrsg.); Benjamins Begriffe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 299 –340. 22 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 71 f. 23 Der öffentliche ›Flirt‹ ist ein kulturgeschichtliches Phänomen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im Diskurs der Sexualmoral spielt er eine wichtige Rolle, da die freizügige Sexualität, nicht zuletzt wegen ihres öffentlichen Charakters, als ein pathologisches Dekadenzphänomen be­ur­ teilt wird (vgl. Auguste Forel, Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische, hygienische und soziologische Studie für Gebildete, München: Reinhardt 1905, S. 89 f.).

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und der feudale Typ sich darin gleich, daß in der Werbung sie viel weniger die Frau als ihre Konkurrenten überwinden.24 Die freie Zirkulation enthemmter Leidenschaften fasziniert Benjamin noch in späteren Jahren. In Fourier und seiner sozialistischer Utopie einer freien Liebe findet er einen Gewährsmann, der der Öffentlichkeit ebenfalls die Lust an der Sexualität zurückgeben will. Im Passagen-Werk zi­tiert er des Weiteren Karl Marx’ Verriss von Karl Grüns Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, einem Werk, in dem das offensichtliche Unverständnis ge­gen­über Fouriers Ideen die wahre Philisternatur des Autors offenbart. ›Fouriers Behandlung der Liebe kann Herr Grün sehr leicht kritisieren, indem er dessen Kritik der jetzigen Liebesverhältnisse an den Phantasien mißt, in denen Fourier sich eine Anschauung von der freien Liebe zu geben sucht. Herr Grün nimmt diese Phantasien ernsthaft als ächter deutscher Philister. Sie sind das Einzige, das er ernsthaft nimmt.‹25 Benjamin ist der Ansicht, dass die antilibidinöse Haltung nicht nur auf das Leben, son­dern auch auf die Kunst des Philisters maßgeblich Einfluss nimmt. In der be­ton­ ten makellosen Unfruchtbarkeit des Jugendstils wird beispielsweise Jugend einer­seits erotisiert und gleichzeitig sterilisiert.26 Jugendstil verklärt die Natur zur Unfrucht­ba­ ren.27 Die er­sehnte Regression in den Naturzustand, wie sie der Jugendstil vortäuscht, ist eine Il­lu­sion, denn in Wirklichkeit wird die Sexualität im Kunstwerk petri­fi­ziert und der Fortpflanzungstrieb trockengelegt. In Bild und Statue trifft man also ledig­lich jugendliche Götzenkörper an, die zu unfruchtbaren Fetischen erstarrt sind. Es ist der Jugendstil; mit andern Worten der Stil, in dem das alte Bürgertum das Vorgefühl der eignen Schwäche tarnt, indem es kosmisch in alle Sphä­ren schwärmt und zukunftstrunken die ›Jugend‹ als Beschwörungswort miß­braucht. Hier taucht, zunächst nur programmatisch, zum ersten Mal die Re­gres­sion aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität auf, wel­che seitdem wachsend sich als Symptom der Krise bestätigt hat.28

24 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 4, S. 144. 25 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 5, S. 771. Benjamin gibt die folgende Quelle an: Karl Marx: »Karl Grün als Geschichtsschreiber des Sozialismus«, in: Die neue Zeit, Stuttgart 1900 XVIII, 1, S. 137 f. Es handelt sich um einen Abdruck eines Artikels aus dem August- und Septemberheft 1847 des ›Westphälischen Dampfboots‹. 26 Den Gegenpol dazu bilden die Texte von Karl Kraus, in denen sich Geist und Sexus in einer »Geste der Zweideutigkeit« vereinen (Benjamin, Gesammelte Schriften [Anm. 3], Bd. 2, S. 350). 27 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 5, S. 692 [S 8 a, 2]. 28 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 5, S. 686.

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Benjamins Kritik des Philisters betrifft dessen Haltung zur Jugend. Ängste und ungelöste Konflikte schwelen un­ter­halb der bürgerlichen Oberfläche. Tief versteckt in der beharrlichen Trägheit des narkotisch-philiströsen Lebens wird die Sorge um die Zukunft vermutet. »Es ist Angst vor dem Kommenden«, so Benjamin in »Das Leben der Studenten« (1915), »zugleich ein gemütsruhiges Paktieren mit dem unvermeid­li­ chen Philistertum, das man sich als ›alten Herrn‹ sehr gerne vor Augen hält«.29 Die harmlosen Träumereien sind das selbst verordnete Quietiv, um die ›Gemütsruhe‹ zu erhalten. In seinem unter dem Pseu­do­nym Ardor verfassten Text mit dem Titel »Erfahrung« (1913  /  14) entlarvt er den Selbsthass als Quelle des Ressentiments. Der Angst vor dem Neuen entspricht dem Hass auf die Jugend. Was sich nach Außen als sen­ti­ men­ta­lisches Zurückstreben in die Vergangenheit präsentiert, ist in Wirk­lich­keit eine Mimikry des Selbsthasses. Nichts haßt der Philister mehr als die ›Träume‹ seiner Jugend. (Und Sen­ti­ men­talität ist meist die Schutzfärbung dieses Hasses.) Denn was in diesen Träu­men ihm erschien, war die Stimme des Geistes, die auch ihn einmal rief, wie jeden Menschen. Dessen ist die Jugend ihm die ewig mahnende Erin­ne­ rung. Darum bekämpft er sie.30 Um die Mumifizierung des einst jugendlichen Selbst zu beschreiben, bedient sich Ben­ jamin der Metapher der Maske, die, sowohl Panzerung als auch künstliche Patina der Resignation in einem, des Ausdrucks des Lebendigen entbehrt. Unseren Kampf um Verantwortlichkeit kämpfen wir mit einem Maskier­ten. Die Maske des Erwachsenen heißt ›Erfahrung‹. Sie ist ausdruckslos, un­durch­ dringlich, die immer gleiche. Alles hat dieser Erwachsene schon erlebt: Ju­ gend, Ideale, Hoffnungen, das Weib. Es war alles Illusion. […] Aber wir wol­ len versuchen, die Maske zu heben.31 Die Lebenserfahrung erscheint als Totenmaske jener Jugendträume, die bereits vor dem physischen Ableben des Individuums zu Grabe getragen werden. Und hier liegt auch das Geheimnis des Philisters begraben. Und hier liegt das Geheimnis: weil er niemals zum Großen und Sinnvollen emporblickt, darum wurde die Erfahrung zum Evangelium des Philisters. Sie wird ihm die Botschaft von der Gewöhnlichkeit des Lebens. […] Warum also ist für den Philister das Leben trost- und sinnlos? Weil er nur die Erfahrung 29 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 85. 30 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 56. 31 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2 S. 54.

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kennt, nichts weiter. […] [D]enn das Leben, die Summe der Erfahrungen, wäre trostlos.32 In der stilisierten Auseinandersetzung zwischen der Jugend und dem Philisterium geht es Benjamin um die wahre (Lebens‑)Erfahrung und vor allem um die Frage, wer ein Anrecht auf sie erheben darf. Die Gegenargumente des Feindes werden dabei keineswegs unterschätzt. Es wird darauf hingewiesen, dass der Philister die Attacken der Ju­ gend ohne große Mühe mit dem Hinweis auf seine angesammelten Erfahrungen und den mit ihnen verbundenen Wissensvorsprung parieren kann. »Oft sind wir ein­ge­ schüchtert oder verbittert. Vielleicht hat er [d. i. der Philister] recht. Was sollen wir ihm er­wi­dern? Wir erfuhren noch nichts.«33 Dieser rein rhetorische Einwand dient aber nur als Vorlage, um den Streit um die wahre Erfahrung zu einer Wertediskussion zu steigern. Wenn das Philisterium nicht die unausweichliche ›Endstation Hoffnung‹ sein soll, so muss die Lebensphilosophie der Jugend der Erfahrung eine neue Sinn­di­ men­sion verleihen. Die Philosophie der Jugend beabsichtigt allerdings nicht, dem Ni­ hi­lis­mus das Wort zu reden oder die Erfahrung als Lebensorientierung abzuschaffen. Viel­mehr geht es um die Entdeckung der anderen Erfahrung als der Erfahrung eines an­deren Lebens. In der Kritik des Philisters avanciert ›Erfahrung‹ auf diese Weise zu einem zentralen Kampfbegriff. Nochmals: eine andere Erfahrung kennen wir. […] Man erlebt immer nur sich selber, so sagt Zarathustra am Ende seiner Wanderung. Der Philister macht seine ›Erfahrung‹, es ist die ewige Eine der Geistlosigkeit. Der Jüngling wird den Geist erleben, und je weniger er Großes mühelos erreichen wird, desto mehr wird er überall auf seiner Wanderung und in allen Menschen den Geist finden. Der Jüngling wird gütig sein als Mann. Der Philister ist intolerant.34 Geistlosigkeit und Wiederholungscharakter – dies sind die beiden Merkmale der phi­ lis­trö­sen Erfahrungswelt. In dem Zitat wird Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen dazu benutzt, die Gleichförmigkeit der Erfahrungen des Philis­ters zu qualifizieren. Was dem Philister fehlt, so könnte man Benjamins Ausführungen in­ ter­pretieren, ist die auf Lebensintensivierung ausgerichtete Kontingenzerfahrung. Der Philister »begriff nie, daß es etwas anderes gibt als Erfahrung, daß es Werte gibt – un­ er­fahrbare –, denen wir dienen.«35

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Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 55. Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 55. Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 56. Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 55.

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Die paradoxale Struktur der ›unerfahrbaren Erfahrung‹ verdient hier besondere Auf­merksamkeit.36 Die ›wahre‹ Erfahrung wird bei Benjamin von der Lebensdauer ent­kop­pelt, sodass sie nicht länger für das Kontinuum einer graduellen Akkumulation ein­steht, sondern für ein singuläres Ereignis, einen erfüllten Augenblick (καιρός), in dem der Kreislauf der Wiederholung unterbrochen wird. Hier wird ein prospektiver, ad­ven­tistisch aufgeladener Erfahrungsbegriff vorgeschlagen, für den die Retrospektion nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Tragödie des Philisters besteht in der Selbstblindheit und dem Beharren auf dem status quo ante. Für die Jugend kann Wahrheit aber nicht alt sein, denn sie muss immer wieder von Neuem entdeckt werden. Die Erfahrung der Wahrheit liegt nicht in einem Haben, sondern in dem Prozess der Wahr­ heits­findung selbst. Das Thema der Erfahrung wird Benjamin in späteren Schriften be­glei­ten. Darin hält er fest: das Problem, zu wissen, was unter einer »wahren Erfahrung im Gegensatz zu einer Erfahrung, welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt«,37 zu verstehen ist, hat in der Philosophie »seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts«38 an Bedeutung gewonnen. In dem über zehn Jahre nach »Erfahrung« verfassten Text »Erfahrungsarmut« ist die einstige Euphorie einem Krisenbewusstsein gewichen.39 Der Grund dafür ist ein historisches Ereignis: der Erste Weltkrieg. Nicht die Jugend selbst, sondern die Geschichte erbringt den un­zweifelhaften Nachweis, dass die »Autorität des Alters«40 ihre Legitimität eingebüßt hat. Wenn Erfahrung vormals eine Form der Weisheit gewesen ist, weitergereicht von Ge­ne­ration zu Generation im Bewusstsein, dass es etwas gibt, was der Überlieferung wert ist, so hat der Krieg diesen Pakt zwischen Eltern und Nachkommen aufgekündigt. Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Ge­ neration, die 1914 – 1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltge­ schichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint. Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen ver­ 36 In den Arbeiten von Yasuo Imai, Thomas Weber und Bernhard Sommerfeld wird meines Erachtens Benjamins Idee einer ›unerfahrbaren Erfahrung‹ zu wenig oder keine Beachtung geschenkt. Sommerfeld, der sich als einziger mit der Figur des Philisters beschäftigt, geht auf Benjamins Idee der Jugend nicht ein (Yasuo Imai, »Benjamin und Wyneken. Zur Entstehung des pädagogischen Den­ kens bei Walter Benjamin«, in: Neue Sammlung 36 [1996], S. 35 – 49, hier S. 43; Bernhard Sommer­ feld, Symphilosophie und Praxis. Studien zum Frühwerk Walter Benjamins, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 43 – 4 4, S. 165 –173; Thomas Weber, »Erfahrung«, in: Erdmut Wizisla und Michael Opitz [Hrsg.], Benjamins Begriffe [Anm. 21], S. 230 –259). 37 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 1, S. 608. 38 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 1, S. 608. 39 Nach Burkhardt Lindner, »Zur Traditionskrise, Technik, Medien«, in: ders. (Hrsg.), BenjaminHandbuch (Anm. 10), S. 451– 464, nimmt Benjamin hier vor allem auf die technologischen Um­wäl­ zungen der Erfahrungswelt Bezug. 40 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 214.

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stummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. […] Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die In­fla­ tion, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation […] stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Men­schen­körper.41 Die Erfahrungsarmut spiegelt sich vor allem in den Gesichtern der »Spießbürger« (II 215). »Wer wird auch nur versuchen, mit der Jugend unter Hinweis auf seine Erfahrung fertig zu werden?«42 Allgemein gilt, dass der Mensch ein »um seine Er­fah­rung betrogener Mann, ein Moderner« sei.43 Die konstatierte Erfahrungsarmut besitzt zwei Seiten: Zum einen markiert die Mo­ derne eine radikale Zäsur, die die traditionsgebundene Erfahrung von den gegen­wär­ tigen Lebensbedingungen abgeschnitten hat. Dass es so weitergehen kann wie bisher, ist daher auszuschließen. Zum anderen ist ein empfindliches Vakuum entstanden. In dieser Krise ist eigentlich, so könnte man vermuten, die Zeit der Jugend gekommen, die mit der Idee einer ›unerfahrbaren Erfahrung‹ einen neuen Zukunftshorizont he­ rauf­beschwören kann. Dem ist aber eindeutig nicht so, nicht zuletzt deshalb, weil die Jugend ihr Grab auf den Schlachtfeldern gefunden hat. Pointiert gesagt erscheint die Moderne als eine Epoche ohne Jugend und da­mit ohne Hoffnung auf Wandel. Präzise benennt Benjamin mit Arnold van Genneps 41 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, 214. Vgl. auch S. 439. Bei der Erfahrung des Ersten Weltkriegs handelt es sich um eine neue, nicht antizipierbare Erfahrung, die einen radikalen Bruch mit der Tradition repräsentiert. Es stellt sich nun die Frage, welche Auswirkungen der Erste Weltkrieg auf die Idee der Erfahrung in Benjamins späterem Werk besitzt. Es ließe sich die These aufstellen, dass sie in der Veränderung der Zeitstruktur besteht. Während die ›Erfahrung‹ in seinen frühen Schriften das Medium des Kommenden ist, sie also im Horizont einer offenen Zukunft steht, welche sich auf die Gegenwart, die auf sie wartet, zubewegt, zeichnet sich die Idee der Erfahrung in seinen späteren Texte durch eine umgekehrte Vergangenheitsorientierung aus. Das heißt, die Erfahrungsstruktur verbindet die Gegenwart nicht mehr mit der Zukunft, sondern mit der Vergangenheit. Diese zeitliche Umkehrung hängt vermutlich mit der theologischen Aufladung der Erfahrungsidee zusammen, die zwei größere Themenkomplexe miteinander verbindet, die erst im Spätwerk ihre volle Bedeutung entfalten: die Idee des Gedächtnisses und des Messianischen. Die messianische Erlösung der Vergangenheit ereignet sich dann, wenn sich die Vergangenheit in der Gegenwart wiederentdeckt. Auf diesen sehr komplexen Zusammenhang kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. 42 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 214. 43 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 636.

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ethno­graphischem Modell der rites de passage die Qualität jener Erfahrung, die der Mo­derne verloren gegangen ist:44 »Rites de passage: Schwellenerfahrungen sind sel­ ten ge­worden. Wir sind arm an Schwellenerfahrungen geworden.«45 Die Moderne gebiert Spießbürger, die nie jung gewesen sind, die nie die Erfahrung gemacht ha­ben, auf ei­ner Schwelle zwischen Alt und Neu zu stehen. Die folgende Satire porträtiert die Kindheit eines solchen Philisters, dessen sub­al­terne Bürokratenexistenz keine Veränderung aufweist und keine Phase adoleszenten Aufruhrs durchläuft. Eine Groteske: Das Leben eines ganz kleinen Kindes autobiographisch unter den Gesichtspunkten, mit denen Begriffen darstellen, die ihn [es] später als Philister beherrschen. Kommt er mit einem andern Kinde im Spiel­park zu­sam­men, dann hätte es also z. B. zu heißen: da begegnete mir nun der Kanzlei­gehilfe Frankweiler. Er saß im Kinderwagen und ließ an einer Schnur ein Pferd­chen neben dem Wagen herlaufen. Es war nach dem schäbigen Aussehen des Pferdchens zu schließen, im Ausverkauf bei Jonas und da erstan­ den, wo ja Frankweiler auch heut noch alljährlich seinen Wäschebedarf zu decken pflegt. Von den pommerschen Frauen – sein Kinderfräulein stammte aus Stargardt – ist er später infolge eines schmerzlichen Ehekonflikts völlig abgekommen. U. s. w.46 Die hier vorgenommene Gleichsetzung von ›Philisterium‹ und ›bürokratischem Ar­ beits­leben‹ betont die entwicklungsgehemmten und quasi ab ovo neurotischen Cha­rak­ ter­züge des Philisters, die sich bereits in seiner Kindheit abzeichnen. Die Philistersatire ist im zeitlichen Umfeld der im Auftrag der Zeitschrift für Sozialforschung verfassten Studien zu situieren. In diesen Arbeiten nimmt sich Benjamin eines für die damalige Soziologie wichtigen Themas an. Ausgehend von Max Webers klassischer Analyse des modernen Berufslebens,47 untersuchen diese soziologischen Studien die durch ökonomische Ordnungssysteme hervorgerufenen professionellen Deformationen des Pri­ vat­lebens. Wie die soziologischen Studien hervorheben, zielen bürokratische Ver­wal­ tungs­systeme darauf ab, klar abgetrennte und regulierte Arbeitsabläufe einzurichten, die sich aufgrund ihrer Veränderungsresistenz erhalten. Voraussetzung dafür ist ein ›an­ trainiertes Unvermögen‹ des Angestellten, ein Unvermögen, von konditionierten Verhaltensmustern abzuweichen.48 44 Arnold van Gennep, Les rites de passage, Paris: Nourry 1909. 45 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 5, S. 617. 46 Sammlung Scholem, Jerusalem, Pergamentheft, S. 9, 6, in: Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 7, S. 850. Der Entwurf wurde um 1933 verfasst und gehört einem Buchprojekt mit Kurz­geschichten an, das allerdings nicht ausgeführt wurde. 47 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr 1922, bes. S. 650 – 678. 48 Daniel Warnotte, »Bureaucratie et Fonctionnarisme«, in: Revue de l’institut de sociologie 17 (1937), 245 –260; Robert K. Merton, »Bureaucratic Structure and Personality«, in: Social Forces 18.4 (1940),

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Benjamin stellt dem Bürokraten nun jene Außenseiterfiguren außerhalb des Be­ rufs­lebens zur Seite, die gleichermaßen den verformenden Einflüssen moderner Ge­ sell­schaftsstrukturen unterstehen. In Benjamins Kafka-Essays bietet der Philister etwa die Vorlage für die Beamten und tumben Sekretäre, und in den Baudelaire-Studien ver­körpert er die bürgerliche Bürokratengesellschaft, deren Trägheit das re­stau­ra­tive Bollwerk darstellt, hinter dem sich das Leben zum Tode wiederholt. Inner­halb sei­ner quasi-soziologischen Typologie einer düster-melancholischen Moderne tritt der Phi­lis­ ter als die Gegenfigur zum Spieler, Lumpensammler und Flaneur auf. Doch sind auch offen­sichtliche Gemeinsamkeiten zwischen den anti-bürgerlichen Figuren und dem Phi­lis­ter zu konstatieren. Wie beispielsweise der Flaneur darf auch der Philister als ein »um seine Erfahrung betrogener«49 Mensch gelten – mit einem wesentlichen Unterschied: die Erfahrungsarmut des Philisters, die dieser gerade für Erfahrung hält, ist das er­wün­schte Resultat eines Verweigerungsprogramms, er ist, mit anderen Worten, die Ver­kör­perung der bürgerlichen Gesellschaft par excellence. Ein weiterer Unterschied zu seinen früheren Schriften zur Bildungsreform zeich­ net sich hier deutlich ab: Die Figur des Philisters findet als ein Instrument der po­li­ ti­schen Gesellschaftskritik Verwendung. Karl Marx, mit dessen Philisterkritik Ben­ jamin wohl vertraut ist,50 und Friedrich Engels stehen im gedanklichen Hintergrund dieser Assoziation von Philisterschelte und politischer Gesellschaftskritik. Im »Kom­ mu­nis­tischen Manifest« wird die Bezeichnung des Philisters synonym mit derjenigen vom »deutschen Spießbürger«51 gebraucht. In seiner Einleitung zu »Der Bürgerkrieg in Frankreich« warnt Engels den deutschen Bürger: Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken ge­ra­ ten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.52 Noch schärfer fällt die Kritik des Philisters in den »Deutsch-Französischen Jahr­bü­ chern« aus.53 Die »Philisterwelt« wird darin von Marx als die »entmentschte Welt« be­ S. 560 –568; Everett C. Hughes, »Institutional offices and the person«, in: American Journal of Socio­ logy 43 (1937), S. 404 – 413; Ernest Theodore Hiller, »Social structure in relation to the person«, in: Social Forces 16 (1937), S. 34 – 40. 49 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 1, S. 636. 50 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 5, S. 771. 51 Karl Marx und Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: dies., Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1959, S. 459 – 493, hier S. 487. 52 Friedrich Engels, »Einleitung zu Der Bürgerkrieg in Frankreich von Karl Marx« (Ausgabe 1891), in: Marx und Engels, Werke (Anm. 51), Bd. 22, S. 199. 53 Karl Marx, »Deutsch Französische Jahrbücher«, in: ders./ Engels: Werke (Anm. 51), Bd. 1, S. 337– 346, hier S. 339.

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zeich­net, als eine »politische Tierwelt«, in der Herren auf dem Nacken der zu Tieren de­ gra­dierten Menschen stehen. Der Philister ist ein politisches Tier, weil er »›untertan, hold und gegenwärtig‹ zu sein« hat.54 In seinen zahlreichen polemischen Äußerungen zu subalternen Existenzen lässt Marx keinen Zweifel darüber aufkommen, dass das Ausbleiben po­li­ti­scher Veränderungen vom Philister verschuldet ist. In der Philisterwelt hat, so wie­de­rum Engels, die Familie ihren privaten Charakter endgültig erlangt, sich zusammensetzend aus »Sentimentalität und häußlichem Zwist«, was schließlich zum Rückzug aus der gesellschaftlichen Sphäre geführt hat.55 Benjamins Philister-Kritik unterscheidet sich bei allen Gemeinsamkeiten in­so­fern von derjenigen bei Marx und Engels, als letztere der Jugend nicht den Rang einer politisch-philosophischen Kategorie einräumen. Dagegen fordert Benjamin noch in den 1930er Jahren, dass »die ›Sprache der Jugend‹ im Mittelpunkt«56 der gemeinsamen Bestrebungen auf Veränderung stehen muss. Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Jugend in Benjamins späteren Schriften eine geringere Rolle spielt. Die Euphorie der frühen Schriften, in denen jugendliches Selbstvertrauen ohne Selbsterfahrung triumphiert und Selbstsuggestion sich gegen Wahrnehmung durchsetzt, ist verschwunden. Teilweise liegen die Gründe dafür in einer tiefgehenden Resignation. Es wird offensichtlich stillschweigend akzeptiert, dass die bürgerliche Moderne gealtert ist und damit ihren jugendlichen Elan eingebüßt hat. Wie es an einer Stelle aufschlussreich heißt, repräsentiert die Moderne »in Wahrheit das Bild des Veralteten«.57 ›Alt‹ ist eine Epoche nach Benjamin wohl dann, wenn die Niederlagen der Vergangenheit die Zukunftsprojektionen immer schon eingeholt haben, bevor sie ihr Hoffnungspotenzial ent­fal­ten können. Wenn in der frühen Phase von der lähmenden Wirkung des Philisteriums auf die Jugend gesprochen worden ist,58 so gilt dies nun auch und vor allem in Bezug auf die ausbleibenden politischen Veränderungen in der Moderne. Eine »spezifische ›Ge­müt­ lichkeit‹« hat sich in der Jahrhundertmitte festgesetzt, die »mit diesem wohl­be­grün­­de­ ten Erlahmen der gesellschaftlichen Phantasie [des Bürgertums] zusammenhängt.«59 Es ist daher nur konsequent, wenn Benjamin den Dandy zum tragischen »Heros«60 der Moderne kürt, auf dessen ennui die allgemeine Trägheit abgefärbt hat. Das letzte Aufbäumen der einstigen »Übermenschen-Jugend«61 kann nur noch in der Wende ge­gen sich selbst bestehen, wenn schon die äußere Abfuhr in Form politischer Um­wäl­zun­ 54 Marx, »Deutsch Französische Jahrbücher«, S. 339. 55 Friedrich Engels, »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats«, in: Marx und Engels, Werke (Anm. 51), Bd. 21, S. 36 – 84, hier S. 61. 56 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 6, S. 478. 57 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 1, S. 593. 58 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 43. 59 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 1., S. 661. 60 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 1, S. 599. 61 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 2, S. 45.

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gen verhindert wird. Die Moderne erscheint als eine Tragödie, deren Held die Ju­gend ist. Tragisch ist das Leben, weil nur noch der Selbstmord als die letzte Mög­lich­keit zur Verfügung steht, um die Passionen zu verwirklichen. Die Widerstände, die die Moderne dem natürlichen produktiven Elan des Menschen entgegensetzt, stehen im Mißverhältnis zu seinen Kräften. Es ist verständlich, wenn er erlahmt und in den Tod flüchtet. Die Moderne muß im Zeichen des Selbstmords stehen, der das Siegel unter ein heroisches Wol­ len setzt, das der ihm feindseligen Gesinnung nichts zugesteht. Dieser Selbstmord ist nicht Verzicht sondern heroische Passion. Er ist die Eroberung der Mo­derne im Bereiche der Leidenschaft.62 Wie ist diese paradoxe Denkbewegung zu verstehen? Selbstmord begehen, um seine Leidenschaften zu verwirklichen? Vermutlich liegt diesem Gedanken eine trieb­öko­ nomische Vorstellung zugrunde. Wenn die beste Reaktion die Aktion ist, der ju­gend­  liche Held der Moderne aber den Gedanken einer Einwirkung auf die ver­än­de­rungs­ resistente Außenwelt aufgeben muss, dann ergibt sich das Problem, dass die in­ter­na­ li­sier­ten, weil nicht ausgelebten Passionen sich erhalten oder sogar an Intensität zunehmen. Als Ausweg bleibt dann nur noch, die Aggression gegen sich selbst zu lenken, sich selbst zu ihrem Objekt zu machen und damit sein eigenes Ende zu be­siegeln. Mit anderen Worten: Gehemmte, weil nicht entäußerbare Produktivität schlägt in Auto­ destruktion um. Das Werk der Zerstörung, das im Ersten Weltkrieg beginnt, als die Hoffnungen der Jugend ihr Existenzrecht verlieren, setzt sich fort. Jugend, alt ge­wor­ den, schafft sich endgültig selbst ab. Kurz, was einst Lebenslust war, ist Todestrieb geworden. Als Benjamin im Jahre 1932, er ist vierzig Jahre alt, auf seine eigene Jugend zu­ rück­blickt, ist er sich darüber im Klaren, dass einige seiner früheren Standpunkte der Ab­mil­de­rung und einige gar der Korrektur bedürfen. In seiner Erinnerung, in der ju­ gend­licher Elan sich in gereiften Trotz verwandelt hat, gedenkt er des einstigen En­ gage­ments in der freistudentischen Bewegung: Es war ein äußerster, heroischer Versuch, die Haltung der Menschen zu ver­än­dern[,] ohne ihre Verhältnisse anzugreifen. Wir wußten nicht, daß er schei­tern mußte, aber kaum einer war unter uns, den solches Wissen um­zu­ stim­men vermocht hätte. Und heute so gut wie damals, wenn auch aus sehr andern Überlegungen heraus, verstehe ich, daß die ›Sprache der Jugend‹ im Mittelpunkt unserer Vereinigungen stehen mußte.63

62 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 1, S. 578. 63 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 6, S. 478.

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Mit den »Verhältnisse[n]« meint Benjamin zweifelsohne die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, denen er vor der materialistisch-marxistischen Kehre seines Den­ kens noch keine Beachtung geschenkt hat. Wie gezeigt werden sollte, verändern sich Bedeutung und Funktion der Figur des Philisters bei Benjamin gemäß seinen sich wandelnden philosophischen und po­li­ti­ schen Interessen. Zunächst dient er als der Gegenbegriff der Jugend; seine Funktion bleibt noch auf die Schulen und Universitäten beschränkt. Mit der Abkehr von der Lebensphilosophie und der Hinwendung zu sozialpolitischen Fragen steht der Phi­lis­ ter für die subalterne Existenz des revolutionsresistenten Spießbürgers ganz in Marx’ Sinne. Spricht nun aus dem ›alten‹ Benjamin ein Philister, der die Jugend und ihre Hoffnung als einen Traum abtut? »›Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter in Fülle.‹«64 Benjamin zitiert diesen Satz aus Goethes Dichtung und Wahrheit mit großer Vorliebe. Weder auf Resignation noch, was schlimmer wäre, auf Zynismus läuft der Befund einer alten Moderne hinaus, sondern auf eine andere Erfahrung. In dieser anderen Erfahrung wird der Verlust der Jugend als solcher überhaupt erfahrbar. Jugend wird erst dann sichtbar, sobald ihr Verlust ins Bewusstsein dringt. Dann aber – in diesem Innewerden – erscheint ihr utopischer Gegenentwurf umso strahlender. Diese Erfahrung kann der Philister nicht machen, da ihn sein Selbsthass daran hindert. Es geht also nach Benjamin mitnichten darum, die Vergangenheit ad acta zu legen, sondern darum, im Akt des Eingedenkens die Träume der Vergangenheit auf ihre Ak­ tualität hin zu überprüfen, also zurückzugehen in die Vergangenheit, wo sich eine al­ ter­native Zukunft bereits andeutet. Kurz, Zukunft beginnt nicht in der Gegenwart, son­dern in der Vergangenheit, weil in ihr die Gegenwart noch ›jung‹, das heißt für Veränderungen offen ist. »›Niemand, sagt Pascal, stirbt so arm, daß er nicht irgend etwas hinterlässt.‹«65 Ben­ ja­min zitiert Pascal, um anzudeuten, dass der moderne Mensch, selbst wenn seine Su­ che nach der ›wahren Erfahrung‹ bislang wenig erfolgreich gewesen ist, einen Gewinn aus der Akzeptanz dieses Mangels ziehen kann. Zum Gedenken, zur Trauerarbeit ohne (Selbst‑)Hass und ohne Idealisierung zeigt sich der Philister dagegen außerstande.

64 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 3), Bd. 4, S. 774. 65 »Gewiß auch an Erinnerung – nur daß diese nicht immer einen Erben finden. Der Romancier tritt diese Hinterlassenschaft an, und selten ohne tiefe Melancholie. Denn wie es in einem Roman von Arnold Bennett der Toten nachgesagt wird – ›sie hatten überhaupt nichts vom wirklichen Leben gehabt‹– so pflegt es um die Summe aus der Hinterlassenschaft bestellt zu sein, die der Romancier antritt« (Benjamin, Gesammelte Schriften [Anm. 3], Bd. 2, S. 454).

Konsequenzen und Erbe der Philistersemantik Sektion VI

Georg Stanitzek

Regenschirmforschung Robert Walsers Bildungskritik   im Zusammenhang der moralistischen Tradition

Robert Walsers verspäteter Eintritt in den literarischen Kanon hat mit den von ihm gewählten Publikationsmedien und deren Formen zu tun. Die Mehrzahl seiner Ar­ bei­ten – üblicherweise als ›Kleine Prosa‹ bezeichnet – ist verstreut, in Zeitungen und Zeitschriften aller Art erschienen, oft peripher, etwa in Prager Feuilletons; Arbeiten, mit denen sich Walser seine immer gefährdete ökonomische Existenz erwirtschaftet hat; Arbeiten, von denen aber auch viele unpubliziert liegen geblieben sind. Zeit sei­ ner schriftstellerischen Laufbahn hat er nur wenige, meist schwerverkäufliche Bücher mit kleinen Auflagen publiziert. Insgesamt handelt es sich um eine Produktion, die zu Walsers Lebzeiten zwar von Autoren wie Hermann Hesse, Robert Musil, Walter Ben­ jamin und insbesondere von Franz Kafka geschätzt wurde, aber lange art for the artist’s sake geblieben ist, Kunst eines »Schriftsteller[s] für Schriftsteller«.1 In dieser Perspek­ ti­ve lässt sich behaupten, dass das Werk Robert Walsers erst durch die Arbeit sei­nes post­hu­men Herausgebers Jochen Greven gebündelt, damit aber allererst recht eigentlich hervorgebracht worden ist.2 Für die Literaturwissenschaft ist dies ein bedenklich aufschlussreicher Befund. Zeugt er doch von einem Unvermögen, die Qualitäten von Texten dort bemerken, lesen, schätzen und beantworten zu können, wo sie auftreten, vorkommen, sich finden; in Feuilletons, in Zeitungen und Zeitschriften zum Bei­spiel. Man ist ganz einfach auf zusätzliche Beglaubigungen angewiesen, auf die Einbin­ dung in mit Buchdeckeln verbundene Institutionen, die Buch- und Werkförmigkeit in ei­nem kaum auflösbaren Bedingungsverhältnis koppeln, das die Wahrnehmung von Tex­ten strikt vorsteuert. Die damit gegebene Wahrnehmbarkeitsschwelle hat Robert 1 Dierk Rodewald, »Sprechen als Doppelspiel. Überlegungen zu Robert Walsers Berner Prosa«, in: Bernd Hüppauf (Hrsg.), Provokation und Idylle. Über Robert Walsers Prosa, Stuttgart: Klett 1971 (= Der Deutschunterricht, Beiheft I zu Jg. 23  /  1971), S. 71– 92, hier S. 72. 2 Michael Niehaus, »Ich, die Literatur, ich spreche …« Der Monolog der Literatur im 20. Jahr­hun­ dert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 287 f.

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Walsers verstreute Produktion in der zweiten Hälfte seines Schaffens systematisch un­ ter­schritten. Als handelte es sich objektiv um einen Test auf die Unwahrscheinlichkeit, ohne die Vorlage von Büchern und vorzüglich von Romanen zur »Literatur« bei­ zu­tragen. Diese Dimension des Walser’schen Werks ist erst in Ansätzen bedacht.3 Sie bleibt ihm nämlich zugehörig, auch wenn es jetzt buchförmig vorliegt und auf dieser Basis, wie hier, gelesen wird. Lektüren hätten dem in der einen oder anderen Weise Rechnung zu tragen4 – auch wenn es natürlich unmöglich ist, die Buch- ex post wieder in die Feuilletonform aufzulösen. Die Nachzeitigkeit einer ernsthaften Rezeption von Texten, die stattdessen nur als leicht konsumierbare journalistische Ware kursierten, gibt Walsers Werk in der uneinholbar verspäteten Lektüre jedenfalls einen Aspekt von Unwirklichkeit und hat ihm insofern geschadet, als vom Reichtum der Anschlüsse, die es bietet, bis heute vieles verdeckt geblieben ist. Ein solcher Anschluss wird im Folgenden thematisiert. Unser Vorschlag geht da­ hin, Robert Walser als Moralisten und Bildungskritiker zu begreifen, als Moralisten der Bildung also. In der Walser-Forschung sind seine Rückbezüge auf die moralisti­ sche Tra­di­tion allenfalls am Rande beachtet worden. Das ist verständlich. Denn auf den ers­ten Blick wirkt nichts weiter entfernt von der Pointierung und Konzision der be­kann­ten moralistischen Stillagen als Walsers Prosa. Es ist auch nur eine Handvoll Aphorismen im Wortsinn von Robert Walser überliefert. Wohl finden sich immer wie­ der sehr pointierte Formulierungen, sie sind jedoch eingelagert in einen digressiven Erzähl- und Argumentationsduktus, der insbesondere der französischen Moralistik im Stil eines La Rochefoucauld oder Chamfort fremd ist. Trotzdem fallen Konver­gen­ zen auf, an erster Stelle thematische. Auffällig sind: die besondere Aufmerksamkeit, die Walser auf soziale und psychische Verhältnisse richtet; seine obsessive Beo­bach­ tung von Konversationssituationen; der spielerisch entlarvende Blick auf das Durchschlagen persönlicher Interessenlagen in solchen Situationen. Und ebenso kenntniswie facettenreich tritt die Thematik der Eigenliebe und ihrer Maskierungen hervor.5 Es gibt ein starkes Interesse an sozialen Ungleichgewichten, an Machtverhältnissen und ihrer Inversion: der Macht, die die Übermächtigten den Mächtigen gegenüber ent­ 3 Siehe aber Fritz Hackert, »Robert Walser, Feuilletonist«, in: Hüppauf (Hrsg.), Provokation und Idylle (Anm. 1), S. 7–27; Peter Utz, Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998; Bernhard Echte, »Nachwort«, in: Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Mikro­gramme, hrsg. von B. E. und Werner Morlang, 6 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 –2000, hier Bd. 6, S. 568 –584 (diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle AdB zitiert). 4 Im Folgenden soll dies – wie immer unzulänglich – dadurch geschehen, dass jeweils die von Jochen Greven (Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, 20 Bde., Zürich / Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 –1986 [auf diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle SW Bezug genommen]) und den ihm nachfolgenden Walser-Editoren ermittelten ursprünglichen Publikationsdaten mit angeführt werden. 5 »Das wahre Gesundsein gipfelt in einem Sichwillkommenheißen« (Robert Walser, »Revolvernovelle« [Frankfurter Zeitung, Oktober 1926], SW XVIII, S. 33 –38, hier S. 36).

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falten.6 Und es findet sich, besonders prägnant, die für die europäische Moralistik so typische – laut Hugo Friedrich: »ihre wichtigste negative Bestimmung«7 – Distanz zu jedweder ›moralisierenden‹ Moral: »[E]s kann mit ungünstigem, unberechtigtem Mo­ ra­li­sieren Übles angestiftet werden und ist sicher auch schon vielfach angefacht und an­ge­zet­telt worden.«8 Oder knapper, maximenförmiger noch: »Was man verachtet, das unterschätzt man.«9 An Stelle dessen setzt Walser auf eine Moral der Biegsamkeit, der situativen Achtsamkeit – beiläufig hat er sie folgendermaßen formuliert: »Man spielt dadurch zum eigenen wie zum Vorteil der andern, daß man mit sich spielen läßt, in ein Spiel einwilligt. Einige werden mir erklären wollen, das sei unmoralisch, ich aber bin von der Moral in der Biegsamkeit und vom Biegsamen in der Moral überzeugt. Nach mir würde es sich um Aufstellung einer Moral handeln, die sich dehnbar erweist, die Elastizität hat, die nicht starr ist, sondern sich unseren Spielen, dem Spiel des Le­ bens anbequemt, anpaßt.«10 Und diese Distanz zu einer moralisierenden Moral findet sich ebenso gegenüber dem Moralisieren in der Politik: »›Mir kommt es philiströs vor, den Staat mit moralischen Ansprüchen zu molestieren. […] Die Moral muß die Angelegenheit des Individuums bleiben.‹«11 Sparen wir weitere Belege ein, um vorläufig festzuhalten: Robert Walser – ein Moralist der deutschsprachigen Literatur.12 Das naheliegende Argument, Robert Walsers marginale literaturhistorische Stel­ lung ent­spreche nur zu genau der im Deutschen unterbelichteten moralistischen  Tra­di­tion, sollte allerdings relativiert werden. Dass die europäische Moralistik – sei es 6 »[D]aß die angeblich Starken und Triumphierenden in Wahrheit die Schwachen sind, die pa­ ra­do­xerweise das Steuer der Regierung in der Hand haben« (Carl Seelig, Wanderungen mit Robert Walser, Leipzig: Reclam 1989, S. 60 [25.10.1944]). 7 Hugo Friedrich, Montaigne, 2. Aufl., Bern / München: Francke 1967, S. 168. 8 Robert Walser, Der Räuber. Roman, SW XII, S. 68. 9 Robert Walser, »Leben eines Malers« [Neue Rundschau, Januar 1916], SW  VII, S. 7–31, hier: S. 17. – Oder, wie Walser einen Arzt seiner Patientin mitteilen lässt: »Verachten aber ist ein Unrecht« (ders., »Die Kranke« [Hessischer Volksfreund, 23.3.1926], in: ders., Feuer. Unbekannte Prosa und Gedichte, hrsg. von Bernhard Echte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 70 –71, hier S. 71 [dieser Band wird im Folgenden mit der Sigle F zitiert]). 10 Robert Walser, »Hamlet-Essay« [Prager Presse, Mai 1926], SW XVIII, S. 184 –189, hier S. 187 f. 11 Seelig, Wanderungen (Anm. 6), S. 19 [23.4.1939]. 12 Zwar sieht er selber das Wort für Moralisierende vor: »Alle Moralisten halten sich im Großen und Ganzen für fast alleinwissend; sie denken nicht daran, daß andere auch an ziemlich viel denken« (Robert Walser an Frieda Mermet [nach 20.10.1925], in: ders., Briefe, hrsg. von Jörg Schäfer unter Mit­arbeit von Robert Mächler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 235 [diese Ausgabe wird im Fol­gen­den mit der Sigle B zitiert]). Das Argument jedoch wiederholt eine moralistische Gedankenfigur: »On n’a plus de raison, quand on n’espère plus d’en trouver aux autres« (La Rochefoucauld, »Maximes«, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von Louis Martin-Chauffier, Paris: Éditions Gallimard [Bibliothèque de la Pléiade] 1964, S. 291– 498, hier: S. 490, Nº 586). – »Man hat keinen Verstand mehr, wenn man anderen keinen mehr zutraut« (ders., Reflexionen oder Sentenzen und moralische Maxi­men, übers. von Helga Bergmann und Friedrich Hörlek, Frankfurt am Main: Röderberg 1976, S. 70). – Auch bei Nietzsche finden sich entsprechende pejorative Wortverwendungen.

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mit ihren bevorzugten Genres, sei es mit ihren Themen – in der deutschsprachigen Lite­ra­tur kein Glück hat, ist ein Topos. An ihre Stelle, so Odo Marquards bekannte Ein­schät­zung, trete in Deutschland der Diskurs der philosophischen Anthropologie sowie später derjenige der historischen Geisteswissenschaften; als gemeinsames Drittes die­ser beiden semantischen Formationen lässt sich unschwer die deutsche Bil­dungs­ kon­zeption angeben.13 Diese pointierte Diagnose ist allerdings nur um den Preis ei­ ner gewissen Vereinfachung zu haben. Sie übersieht ein Spezifikum des Bildungs­dis­ kurses selber: die Tatsache nämlich, dass Bildung immer auch einen bildungskriti­schen Aspekt besitzt  – und in bildungskritischen Figuren Äquivalente zur mo­ra­lis­ti­schen Des­illusionierung und Relativierung hervorbringt. Will man Robert Walsers Beitrag zur bildungskritischen Moralistik skizzieren, wäre zunächst festzuhalten, dass er sich an den zeitgenössischen Diskussionen, soweit sie sich auf die Institutionen der Bildung im Erziehungssystem beziehen, keineswegs beteiligt. Die um 1900 florierenden schul- und studienreformerischen Bestrebungen liegen ihm fern.14 Zwar ist Walsers erstes Buch, Fritz Kochers Aufsätze von 1904, wie schon sein Titel andeutet, aus der Perspektive eines Schülers erzählt; doch bei aller ironischen Dis­tanz und gelegentlichen Ausfällen des Fritz Kocher überwiegt doch eine keineswegs nur ironische Affirmation. Die Affirmation ist schon mit der Form der in diesem Buch versammelten Texte gegeben: fingierte Schulaufsätze des Protagonisten, der die »Aufsatzstunde« als »die schönste und anziehendste« empfindet.15 Walsers Opposition richtet sich nicht dezidiert auf das Schulwesen, sondern ist grundsätzlicherer Art: »Da gibt es z. B. eine Sorte sehr gebildeter Menschen, die ihre Umwelt total verachten und es mit einer Ungezwungenheit aussprechen, die mir beinah als etwas Strafbares erscheint. Diese Menschen […] besitzen eine gewisse Geschicklichkeit im Ausfindigmachen heiterer Wohnlichkeiten, und dann liegen sie auf ihren Sofas und verachten die Zeit und die Gesellschaft, denen sie angehören.«16 Diesen Typus von Bildungsvertretern konfrontiert Walser umstandslos mit den Worten: Eines möchte ich wissen, wofür sie sich verantwortlich fühlen, aber sie mei­ nen wahrscheinlich, es genüge vollkommen, in ihren Jugendtagen Gedichte von Verlaine geschlürft, genossen, gelesen und nach ihrem ganzen Umfang 13 Vgl. Odo Marquard, »Verspätete Moralistik. Bemerkungen zur Unvermeidlichkeit der Geistes­ wissen­schaften«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.1987, Nr. 65, S. 33; Rainer Warning, »›Edu­ ca­tion‹ und ›Bildung‹. Überlegungen zum Ausfall des Bildungsromans in Frankreich«, in: Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Lebensläufe um 1800, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 121–140. 14 Insofern ist nachvollziehbar, dass Robert Walser in einer neueren Untersuchung zur Schulkritik um 1900 ausgespart bleibt: York-Gothart Mix, Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne, Stuttgart / Weimar: Metzler 1995. 15 Robert Walser, Fritz Kochers Aufsätze, SW I, S. 24 –26 (»Freithema«), hier S. 25. 16 Robert Walser, »Es gibt Leute, die einem übel nehmen, daß man die und die Dame liebt und nicht eine andere« [1924  /  25], AdB I, S. 225 –233, hier: S. 226.

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hin verstanden zu haben. Da sitzen sie dann, trinken den Kaffee aus sehr hüb­ schem, möglichst auf altertümliche Art bemaltem Geschirr […]. Schönere Begeisterungen, ich meine solche, die sich auf die Mitwelt beziehen, fehlen ihnen. Immer ist ihnen etwas Fernliegendes viel schöner, viel wertvoller als das Nahegelegene, d. h. ihre Umgebung. Ihre Umgebung wagen sie nicht zu loben, aus Furcht, für ungebildet gehalten zu werden.17 Hier sind einige wichtige Motive der Walser’schen Kritik versammelt: Ihn interes­sie­ ren Habitus und Selbstverortung der Gebildeten; ihn stört die Kopplung von kunstund literaturhistorischer Bildung mit selbstgefälliger Kulturkritik; und ihn beschäf­tigt schließ­lich immer wieder der Gebrauch oder vielmehr Missbrauch von Bildung als sozialem Distinktionskriterium. »Wie sie sich verkennen in der engbegrenzten Über­ zeu­gung, mehr wert zu sein als der andere. Ganz naiv nennen sie sich gebildet, die hochgestülpte Nase rümpfend übereinander. Die Armen. Wenn sie wüßten, wie ungebildet und ungeschult der Hochmut ist, wie schlecht erzogen man ist, beherrscht von der Unfähigkeit, sich selbst zu beurteilen.«18 Nicht zufällig ist es ein mit »Moralpredigt« überschriebener Text, in dem er den »Begriff der Bildung« streng von dem unterscheidet, was er »Gebildetheit« nennt.19 Bildung erscheint bei Walser nur von Wert, solange sie »noch eine ungelöste Aufgabe« darstellt: »[W]ir wollen in aller­ers­ ter Hinsicht, wenn es sich um Gebildetheit handelt, nicht mit derselben rund um uns werfen. Im Grund ist ja immer nur der gebildet, der sich stets um Bildung bemüht, der ganz einfach bloß versucht, es zu sein, weil das nämlich gar nicht so leicht ist.«20 Bildung als Zustand oder ›Bildungsbesitz‹ hingegen ist ihm suspekt – und wird entsprechend kritisch beobachtet. Diese Beobachtung ist also nicht vorrangig von Res­ sen­timents gegen Arrivierte gesteuert. – Auch wenn solche Ressentiments gelegentlich mitspielen mögen; etwa in der anekdotisch überlieferten Rede, die Walser in einem Salon an Hugo von Hofmannsthal gerichtet haben soll: »Könnten Sie nicht ein we­nig vergessen, berühmt zu sein?«21 – Walsers Beobachtungen gehorchen vielmehr einer ebenso unhintergehbaren wie problematischen Annahme, die in prägnanter For­mu­ lierung lautet: »Einer, der als gebildet gelten will, muß insofern in Übereinstimmung mit sich sein, als er sich eigentlich nie sehr hoch einschätzt. Es ist dies die tiefste und 17 Walser, »Es gibt Leute« (Anm. 16), S. 226 f. 18 Robert Walser, »Bedenkliches« [Deutsche Monatshefte (Die Rheinlande), Januar 1910], SW XV, S. 116 –121, hier S. 118. 19 Robert Walser, »Moralpredigt« [Prager Presse, April 1926], SW XVIII, S. 157–159, hier: S. 157. – »Zwischen Gebildetheit und Geistigkeit ist ein Unterschied« (Robert Walser, »Das Kind (III)«, SW   VIII: Die Rose [1925], S. 74 –79, hier S. 78). 20 Robert Walser, »Beitrag zur Conrad Ferdinand Meyer-Feier« [Prager Presse, Oktober 1925], SW  XVII, S. 69 –72, hier S. 72. 21 Zit. n. Robert Mächler, Das Leben Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 107.

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feinste Art von Anmaßung, die sich denken läßt.«22 (Es ist wohl angebracht, in diesem Zusammenhang ein Diktum Montesquieus anzuführen, das damit variiert erscheint: »Je disois: ›Ceux qui on peu de vanité sont plus près de l’orgueil que les autres.‹«)23 Wie ist diese Position – die sich in eine Vielzahl ähnlicher moralistischer Paradoxa in Walsers Werk einreiht – zu verstehen? Man kann diese paradoxe Position als Aufnahme und Variation eines zentralen Mo­tivs auch der deutschen Bildungssemantik lesen. Denn in einer bestimmten Per­ spek­tive ist diese Semantik mit Bildungskritik gleichursprünglich. Und sie teilt darin, schon im 18.  Jahrhundert, Argumente der moralistischen Tradition  – vor allem in der Kri­tik des gelehrten Pedanten. Der merkwürdige Satz des gelehrten Lessing, »ich möchte nicht gelehrt sein«,24 bezeichnet die Ausgangskonstellation. Diese Fi­gur wird sich in der Folge in den unterschiedlichsten Konfigurationen wiederholen. So wie­der­ holt sie sich etwa bei Goethe, wenn er den Wilhelm Meister schließlich einen ganz  par­ti­ku­lären – und in seiner gesellschaftlichen Stellung wenig angesehenen – Beruf wäh­len lässt: den des Wundarztes; sie wiederholt sich in Hegels Bestimmung von »Bildung« als »Geschicklichkeit«, einer Bildung, die »in der Arbeit liegt« und aus ihr her­vor­geht;25 und sie wiederholt sich  – für unseren Zusammenhang be­son­ders wichtig – nicht zuletzt in Nietzsches Bildungskritik, so wenn er eingangs von »Über die Zu­kunft un­se­rer Bildungsanstalten« als »wichtigste« Forderung an den Leser auf­ stellt: »nicht im­mer sich selbst und seine ›Bildung‹ dazwischen [zu] bringen«. Statt­des­ sen, so Nietzsche weiter, »wünschen [wir] vielmehr, er möge gebildet ge­nug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja verächtlich zu denken«.26 In Formulierungen dieser Art bezeugt sich eine heikle Verfassung des Bildungskonzepts, eine Spannung, die der Bildungssemantik inhärent – und für die Dy­na­mik ihrer Evolution von entscheidender Bedeutung ist. Man kann diese pro­ble­ma­tische Verfassung in zwei aufeinander bezogene Momente auseinanderlegen. Jedes dieser Mo­mente besteht in einer Selbst-Durchstreichung, Selbst-Durchkreuzung: Einerseits 22 Walser, »Moralpredigt« (Anm. 19), S. 159. 23 Montesquieu, »Mes pensées« [VI. Psychologie, 3. Amour-propre], in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von Roger Caillois, Bd. 1, Paris: Éditions Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 1949, S. 1276, Nº 1053; in der Übersetzung von Fritz Schalk: »Wer wenig Eitelkeit besitzt, steht dem Dünkel näher als andere« (Fritz Schalk [Hrsg.], Die französischen Moralisten, Bd. 1: La Rochefoucauld, Vauvenargues, Montesquieu, Chamfort, neubearb. Aufl., Bremen: Schünemann 1962, S. 241). 24 Gotthold Ephraim Lessing, »Selbstbetrachtung und Einfälle«, in: ders., Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 5: Literaturkritik, Poetik und Philologie, München: Hanser 1973, S. 788 –792, hier S. 788. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819  /  20 in einer Nachschrift, hrsg. von Dieter Henrich, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 157–161. 26 Friedrich Nietzsche, »Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vor­träge« [1872], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 641–763, hier S. 648 ff. (Vorrede).

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zer­stört Bildung sich selbst in ihrer Ostentation, wenn sie etwa als sozial-dis­tink­tive Qua­li­tät behauptet und so gewissermaßen eingefroren wird. Andererseits aber, dem­ ge­gen­über, vollzieht sich Bildung darin, dass man sie hintanstellt, von ihr absieht, sie ge­ring­schätzt. Diese doppelte Durchstreichung lässt sich in den genannten Termini Robert Walsers zusammenfassen: Bildung hat ihre Existenz in der Vermeidung des ›Gebildet­seins‹ oder der ›Gebildetheit‹. Die Schwierigkeit des Versuchs, diese Ver­ meidung oder Durchstreichung operativ einzulösen, ist jedoch nicht zu unterschätzen. Man kann sie sich an der Problematik der Abgrenzung von philiströsen Bildungs­phä­ no­menen gut vor Augen führen. Begriffsgeschichtlichen Studien zum sogenannten »Bildungsbürgertum« zufolge ist der Befund festzuhalten, dass sich die Bedeutung von »Bildung« im 19. und 20. Jahrhundert weitgehend verengt: in Richtung auf den Erwerb von Bildungspatenten in staatlichen Ausbildungsinstitutionen nämlich; so dass ›der Gebildete‹ mehr oder we­ni­ ger gleichbedeutend wird mit dem ›Studierten‹. Gleichzeitig aber – und hierin schlägt sich die genannte Spannung im Bildungsdiskurs nieder – proliferiert im selben Zeit­ raum eine scharfe Kritik des ›Philisters‹, der im 19. Jahrhundert zum ›Bildungs­phi­ lister‹ mutiert.27 Beide stehen für das Außen, Jenseits, das Andere der Bildung ein. In der Wandlung vom Philister zum Bildungsphilister kommt es freilich zu einer sig­ni­ fi­kanten neuen Akzentuierung. Meint der Philisterbegriff zunächst den Bürger jenseits des Akademischen, so zielt ›Bildungsphilister‹ gerade auf denjenigen, der Bil­dung mit ihren akademischen und verwandten konventionellen Insignien verwechselt. Es han­delt sich also um eine Abgrenzung von Bildung innerhalb der Bildungswelt.28 Die da­mit gegebene Differenz wird als unaufgebbare behandelt; und das heißt: Der Phi­lis­ter­begriff ist im Bildungsdiskurs nur zur pejorativen Fremdbezeichnung, nicht zur Selbst­be­zeich­nung freigegeben. Entsprechend liest man schon in Clemens Bren­ tanos Scherz­hafter Abhandlung über den »Philister vor, in und nach der Geschichte«: »Kein Phi­lis­ter kann glauben, dass er einer sei; er kann überhaupt nur sein und nicht glau­ben.«29 Die Rede vom Philister sensu Bildungs­phi­lis­ter meint eine struk­ tu­relle Blind­heit, Verblendung oder Abweichung, die als solche aufzudecken und zu ­de­nun­zieren ist. In diesem Sinn stiftet Brentanos Aussage zugleich eine Diskurs­ 27 Ulrich Engelhardt, »Bildungsbürgertum«. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 130 ff. 28 Vgl. allg. Reinhart Koselleck, »Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung«, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 105 –154, insbesondere S. 131 ff. und 138; zur Immanenz der Abgrenzung auch: Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deu­ tungs­musters, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 27; zur Literaturgeschichte des »Philisters« vgl. im übrigen Dieter Arendt, »Das Philistertum des 19. Jahrhunderts«, in: Monat 21 (1969), Heft 248, S. 33 – 49, sowie die vom zitierten Verfasser damit eingeleitete Serie einschlägiger Publikationen. 29 Clemens Brentano, Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung [1811], Zürich: Manesse 1988, S. 13.

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regel.30 Entsprechend ist es Friedrich Theodor Vischers Versuch einer apologetischaffirmativen Selbstbezeichnung als Philister, der von Nietzsches ›Erster Unzeit­gemäßer Betrachtung‹ als intellektueller Sündenfall schlechthin abgewehrt wird.31 Und dies ge­ schieht in einem Kontext, der »eine wirkliche ächte […] Bildung« als »den Gegensatz [von] Gebildetheit« festzuhalten sucht, genau jenen Gegensatz mithin, an den Walser dann anschließen wird.32 Somit kann festgehalten werden: die Philisterdiagnose soll zur Bezeichnung für die der Selbstbeobachtung unzugängliche Verfehlung re­ser­viert bleiben und damit das Außen, das Andere, die Korruption der Bildung – in der Bil­ dung – markieren; moralistisch gesprochen: die ›Eigenliebe‹ der Bildung. Für die hier zu diskutierende Problematik ist dies ein besonders gutes Bei­spiel. Denn es ist ja keineswegs evident, dass für die Unterscheidung vom Bildungs­phi­lister prinzipiell anderes gelten sollte als für die Unterscheidung des Gebildeten vom Un­ gebildeten überhaupt. Im Gegenteil, gerade die Handhabung der Differenz von Bil­ dung und Bildungsphilistrosität läuft Gefahr, in der automatisierten An­wen­dung einer Unterscheidungskonvention zu erstarren, also selbstvergessen – philiströs – zu wiederholen, was eigentlich abgelehnt wird. Robert Walser verhält sich in dieser Frage auf irritierende Weise differenzierend. Weder beschränkt er sich auf die Durch­führung bloßer Philister-Satiren, noch vollzieht er die tabuisierte Umkehrung der Unterschei­ dung. In einem »Philister« überschriebenen Text wählt er die dis­tan­zie­rende persona, um beide Optionen trotzdem anzudeuten: Ein Philister schrieb: Ich freue mich, daß ich philiströs bin, da das etwas Amü­santes hat. Inwiefern bin ich philiströs? Weil es an und in mir nicht groß­städtelt, ich nicht eines bißchen Elans fähig bin. […] Ich bin in meinen Au­gen weder total unintelligent noch ausnehmend klug, aber vielleicht bin ich um solcher Meinung willen verhältnismäßig unvorsichtig. Hier scheint ir­gend etwas nicht zu stimmen, doch nun weiß ich plötzlich, inwiefern ich phi­lis­trös bin, ich bin dies deshalb, weil ich, was ich bin, wie gesagt, immer nur ein klein wenig bin.33 30 Positive oder wenigstens nicht-pejorative Wortverwendungen, wie sie sich beispielsweise in Brie­ fen Wielands und Goethes finden (Friedrich Kluge, »Philister«, in: ders., Wortforschung und Wort­ geschichte. Aufsätze zum deutschen Sprachschatz, Leipzig: Quelle & Meyer 1912, S. 20 – 44, hier S. 37 u. 39), erhalten damit den Status von Varianten, denen eine Stabilisierung versagt bleibt. Aufschluss­ reich für die damit gegebene Problemlage: E. T. A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder [1819], hrsg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht (= Sämtliche Werke in sechs Bänden, hrsg. von Hartmut Steinecke und W. S., Bd. 4), Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2001, S. 70. 31 Friedrich Nietzsche, »David Strauss der Bekenner und Schriftsteller« (= Unzeitgemässe Betrach­ tungen. Erstes Stück, 1873), in: ders., Sämtliche Werke (Anm. 26), S. 157–242, hier S. 171 ff. 32 Nietzsche, »David Strauss« (Anm. 31), S. 161. 33 Robert Walser, »Der Philister« [unveröffentl., vermutl. 1928  /  29], SW  XX, S. 231–234, hier S. 231 f.

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Führt man sich die vielen Apologien des Mediokren und der Humilität in Walsers Werk vor Augen, wird man diese Ethopöie für keine reine Fremdbeschreibung hal­ten. Walsers moralistische Fragehaltung ist zu konsequent und zu neugierig, um sich dem genannten Reflexionsverbot zu beugen. In einem Charakter-Porträt mit dem Titel »Der Spießer« wird es auf raffiniert lapidare Weise außer Geltung gesetzt: Traf [der Spießer] einen Nachbarn an, der ihm ein Spießer zu sein schien, so belächelte er ihn, oder er nahm sich heraus, ihn ironisch aufs schöne Wetter aufmerksam zu machen, damit der Betreffende seine Belanglosigkeit einsähe. Belanglos sein ist unter Umständen ein Glück. Der unter keinen Umständen ein Unbemerkenswerter sein Wollende zeigte sich scheinbar gerade hiedurch von seiner schwachen Seite. Hie und da erkannte er dies klar. Dann jedoch wieder nicht. War’s ihm wohl ums Herz, so redete er sich ein, er schade sich. Man müsse unruhig sein, war seine denkbar spießerhafte, weil antispießbürgerliche Ansicht. Komische Person, nicht wahr?34 Auch hier wird die Unterscheidung nicht etwa umgewertet. Das entscheidende Vorzeichen: »Nun, man soll nicht philistern«,35 bleibt erhalten. Wohl aber erfährt die Un­ ter­scheidung eine Anwendung auf sich selbst. Damit entsteht eine Reflexionsspirale; sie führt den Bildungsdiskurs an seinen äußersten Rand, in die Paradoxie. Was wäre dann Bildung? Wohl nichts anderes als jene ›Elastizität‹, die es gestattet, das Paradox

34 Robert Walser , »Der Spießer« [ unveröffentl., vermutl. 1931  /  32 ], SW  XX, S. 398 –  400, hier S. 399 f. – Damit ist eine Parallele zu seiner Kritik des ›Blaustrumpfs‹ gegeben: »Was ich hervorgehoben haben möchte, ist, daß es nach meiner Meinung sowohl weibliche wie männliche Blaustrümpfe gibt. So kenne ich beispielsweise einen Blaustrumpf in Herrenform, der insofern blau­ strümpflig veranlagt ist, als er überall Blaustrümpfeleien anzutreffen fürchtet, mit andern Worten, er wittert allenthalben Taktlosigkeit, vor der er in einem fort zittert. Meines Erachtens nach können bedeutende Menschen auffallend starke Blaustrümpfe sein. Gab es nicht seinerzeit einen verhältnismäßig großen Schriftsteller, der so sehr Blaustrumpf war, daß er anläßlich eines Diners zu einer Dame, die einen Blaustrumpfeindruck auf ihn machte, sagte: ›Sie irritieren mich!‹ Keine andere Gat­ tung verstimmt den Blaustrumpf so rasch wie die, die Ähnlichkeit mit ihm hat« (ders., »Der Blaustrumpf« [Berliner Tagblatt, März 1927], SW IX, S. 202 –205, hier S. 203 f.). – Vgl. zum PhilisterWettergespräch Heinrich Heine, »Italien 1828 I: Reise von München Nach Genua«, in: ders., Werke, Bd. 2: Reisebilder – Erzählende Prosa – Aufsätze, hrsg. von Wolfgang Preisendanz, Frankfurt am Main: Insel 1968, S. 236 –306, hier S. 236 –239. 35 Robert Walser, »Über das russische Balet« [Kunst und Künstler, Juni 1909], SW XV, S. 69 –73, hier S. 72.

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zu entfalten; und: es in der dünnen Luft solcher Paradoxien auszuhalten.36 Das ist Walsers Anspruch, damit ist es ihm ernst, damit konfrontiert er seine Leser. Mit ei­ gen­sinniger Radikalität hält er an diesem Reflexionsniveau fest; und er stellt damit das Kriterium eines, man muss wohl sagen: ›Bildungsniveaus‹ auf, das nicht un­ter­bo­ten werden soll. Dieser höchst prinzipielle Anspruch ist zu diskutieren. Auf den ersten Blick könnte man einwenden, dass die Traditionen der Bildungskritik und Moralistik sozial­ historisch anders zu verorten sind. Denn die Kritik der Bildung rührt regelmäßig aus sol­chen Kreisen, an deren gehobenem Bildungsstatus keinerlei Zweifel bestehen kann – um nur noch einmal einige der bereits gefallenen Namen zu erwähnen: Goethe, Bren­ tano, Nietzsche … Und erst recht kann dies für die europäische Moralistik im all­ ge­meinen gelten. Gehört doch zur literaturhistorischen Doxa, dass es sich um eine Ober­schichtensemantik handelt, eine Semantik, die ihre Formen zudem in engem Kon­takt mit einer entwickelten Konversationskultur dieser Oberschichten aus­bil­det. Den idio­syn­kra­tischen Einzelgänger Robert Walser als Teilnehmer an dieser Tra­di­tion be­haup­ten, einen verarmten, proletaroiden Intellektuellen, wie ihn Hans G Helms plau­sibel charakterisiert hat?37 Das wirkt vorderhand nur zu skurril. Man muss sich die­ser Frage stellen, man muss sie konkretisieren: Welche Autorität sind wir be­reit einem Autor zuzugestehen, dessen eigene Bildungskarriere sich auf die Ab­sol­vie­rung des Schwei­zer Progymnasiums beschränkt hat, mehr noch: dessen Bibliothek zeit sei­nes Lebens erklärtermaßen über »einen Stoß Reclamheftchen«38 nicht hinaus­ge­kom­men ist?39 (Weshalb wir nicht einmal sein originales Nietzsche-Studium belegen können.)40 36 Dünne Luft – Höhenluft? Man sollte das nicht als Abschlussfigur missverstehen; sondern zu Rate ziehen, was in einer von Robert Walsers Gipfelreflexionen festgehalten wird: »Da hoch oben, da ist nichts mehr. Den oberen Regionen ist sonderbarerweise die Entfaltung untersagt. Man kommt nicht weiter, und daher heißt es zurückgehen – auch das gibt zu Bedenken Anlaß« (Walser, »Bedenkliches« [Anm. 18], S. 106). 37 Hans G Helms, »Zur Prosa Robert Walsers«, in: Robert Walser, Basta. Prosastücke aus dem Steh­ kragenproletariat, hrsg. von H. G H., Köln / Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 5 –33. 38 Seelig, Wanderungen (Anm. 6), S. 69 (9.4.1945) – »Für ihn selbst sei Biel gleichsam ein Er­ho­ lungs­heim gewesen, um sich nach den Berliner Großstadtstrapazen wieder zu kräftigen. Mit einigen Franken in der Tasche sei er als verlachter, erfolgloser Autor dorthin zurückgekehrt, wo er sich als Banklehrling mit dem ersten selbstverdienten Geld eine Reclambibliothek der Klassiker angelegt […] habe« (Ebd., S. 80 [29.12.1946]). 39 »Ich kann übrigens Bücher bewundern und sie nachher wegwerfen, sie sind ja in Buch­hand­ lungen immer wieder zu haben« (Robert Walser, »Von einigen Dichtern und einer tugend­haf­ten Frau«, SW VIII: Die Rose [1925], S. 65 – 67, hier S. 66). 40 Wenn gelegentlich ein ›Übermensch‹ oder ›Wille zur Macht‹ durchs Werk geistern – und keineswegs wohlwollend behandelt werden –, dürften sie durchaus sekundärer Provenienz sein; vgl. Robert Walser, »Das letzte Prosastück« [Die Rheinlande, Oktober 1919], SW XVI, S. 321–327, hier S. 326; ders., »Der Spaziergang« [2.  Fassung], in: ders., Seeland [1920], SW  VII, S. 83 –151, hier S. 104; ders., »Das Bild des Vaters« [Schweizerland, August 1916], SW VII, S. 152 –172, hier S. 154; Seelig, Wanderungen (Anm. 6), S. 62 (24.7.1944); zu Walsers Nietzsche-Rezeption: Dieter Borchmeyer,

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Woran misst man Bildung; wie bemisst sich moralistische Intelligenz? Nach allem bisher Gesagten wäre es naheliegend und einfach, solche Fragen als ihrerseits phi­lis­trös ab­zu­tun. Hier steckt jedoch ein vertracktes Problem, dem nachzugehen bleibt.41 Al­ ler­dings haben wir bislang im Wesentlichen nur Walsers Abhängigkeit von bil­dungs­ kri­ti­schen Positionen aufgewiesen. Für die Parallelen zur Moralistik gilt Ähnliches: Schließ­lich sind die beschriebenen Reflexionsschleifen keineswegs seine Erfindung, son­dern gehören selbstverständlich zur subtilen Intellektualität dieser Tradition.42 Und die Engführung von Bildungskritik und Moralistik ist spätestens mit Nietzsche ge­ge­ ben und im literatur- und bildungsgeschichtlichen Wissen als solche kanonisiert. Walsers besonderer Beitrag lässt sich nur im Kontext seiner Schreibweise dis­ku­ tie­ren. Er ist vorzüglich an seiner Handhabung von Begriffen und Namen zu er­läu­ tern. Um der beschriebenen Forderung einer doppelten Selbstdurchstreichung des Be­ zugs auf Bildung zu entsprechen, engagiert sich Walsers Prosa erstens im fliegenden Wechsel der Bewertung begrifflicher Oppositionen; sowie zweitens in der Variation und – schließlich – fast gänzlichen Vermeidung von Namen überhaupt. Sein Stil erreicht damit eine Form der Beweglichkeit, die es gestattet, jene semantischen Stillstellungen zu vermeiden, die den Gebildeten im Unterschied zum Ungebildeten oder den Suchenden im Unterschied zum Philister markieren – und mit dieser Markierung doch ihr Ziel verfehlen müssen. Will man seine Behandlung der Philister-Frage in dieser Hinsicht erläutern, emp­ fiehlt sich zunächst die Beobachtung des Gebrauchs einer metonymischen Figur. Das Utensil der Philister ist der Regenschirm – spätestens seit Brentanos Abhandlung, in der es bündig heißt: »Nie hat sie der Regen ohne Regenschirm getroffen.«43 Insofern leuchtet es ein, dass Walser die Philisterkategorie selten verwendet, sondern häufig auf Dienst und Herrschaft. Ein Versuch über Robert Walser, Tübingen: Niemeyer 1980, S. 62 ff.; Utz, Tanz auf den Rändern (Anm. 3), S. 170 –191. – Übrigens wurden Nietzsches Werke erst 1931 (seit diesem Jahr nachdruckfrei) in der Universal-Bibliothek verlegt (Dietrich Bode [Hrsg.], 150 Jahre Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte 1928 –1978, Stuttgart: Reclam 1978, S. 149). 41 Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wie kann man als kritischen Parodisten von »Halbbildung« (Thomas Horst, »Probleme der Intertextualität im Werk Robert Walsers«, in: Dieter Borch­ meyer [Hrsg.], Robert Walser und die moderne Poetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 66 – 82, hier S. 79 f.) einen Autor charakterisieren, in dessen Texten es heißt: »Schadet denn die Halbbildung viel?«, und der obendrein anfügt: »Ihr Erwähnen schadet meines Empfindens nach viel mehr als sie selbst« (Robert Walser, »Montag früh ist’s«, AdB V, S. 67–70, hier S. 69). Hierbei dürfte es sich um mehr als nur um ein technisches Problem handeln. 42 Vgl. nur Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, hrsg. von Jean-Yves Tadié, Bd. 1, Paris: Éditions Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 1987, S. 201, sowie die Interpretation und literaturhistorische Einordnung von Ulrich Schulz-Buschhaus, »Gemeinplatz und Salonkonversation bei Marcel Proust«, in: ders., Moralistik und Poetik, Hamburg: Lit 1997, S. 233 –246, hier S. 244  f.; »contre des Philistins« als Topos im Salon: Proust, Recherche, Bd. 3, 1988, S. 207; in England: Thomas Carlyle, Sartor Resartus, hrsg. von Kerry McSweeney und Peter Sabor, Oxford / New York: Oxford UP 1999, S. 109. 43 Brentano, Der Philister (Anm. 29), S. 59.

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diesen Tropus ausweicht.44 Verfolgt man ihn durch Walsers Werk, erhält man einen Eindruck von seinem Verfahren. So lautet der Anfang des Romans Der Gehülfe: »Eines Morgens um acht Uhr stand ein junger Mann vor der Türe eines alleinstehenden, anscheinend schmucken Hauses. Es regnete. ›Es wundert mich beinahe‹, dachte der Dastehende, ›daß ich einen Schirm bei mir habe.‹ Er besaß nämlich in seinen früheren Jahren nie einen Regenschirm.«45 Keinen Regenschirm zu tra­gen, gehört zur Jugend; es bedeutet durchaus diese Jugend selbst. Es gehört in anderer Weise auch zur Kindheit  – und zwar innerhalb eines Codes, den schon Kinder beherr­schen: »Ein Kind grüßte mich und fragte mich ernsthaft, warum ich keinen Schirm habe. Es hatte nämlich wieder zu schneien begonnen. […] Ich erwiderte: ›Du hast ja auch keinen.‹ Es sagte: ›Dafür hab’ ich einen Mantel.‹ ›Nun, ich habe auch einen‹, gab ich ihm zur Antwort.«46 Nur zu oft geht es in Walsers Werk in der einen oder an­de­ren Weise um die Frage ›Schirm ja / Schirm nein‹. Diese Frage bleibt jedoch un­ent­schie­den. Geht unter dem »üppigen, bauchigen Regenschirm«47 nicht der Phi­lister? Die Frage steht zwar dauernd zur Entscheidung, aber dabei wandert das Philisterattribut ruhelos von Hand zu Hand. Und das kann auch die des Autors oder einer seiner vielfältigen ihm nahen personae sein; allerdings nur gelegentlich, denn der prekäre Status des Instruments – der vom Regenschirm angezeigte prekäre Status – bleibt stets prä­ sent. Für ein »­Regenschirm-Geschenk« der Freundin Frieda Mermet ist »herzlich zu danken«, denn: »Der Regenschirm scheint sich für mich ganz vortrefflich zu eignen, liebe Frau Mermet, und ich muß bekennen, daß Sie eine ebenso nette und liebenswürdige wie gescheite und nützliche Idee gehabt haben. Regenwetter, das einen Regenschirm dienlich macht, haben wir in letzter Zeit ja genug und es wird immer von Zeit zu Zeit regnen, so lange wir leben.«48 In einem anderen Brief liest man: »[E]s regnet, 44 Der als solcher um 1900 ganz konventionell ist; um nur wenige prominente Autoren anzuführen: André Gide, Paludes, Paris: Gallimard 1991, S. 52; Proust, Recherche (Anm. 42), Bd. 1, S. 91, wo Bloch mit bohemienhafter Attitüde gegen Uhr und Regenschirm als schlechthin bourgeoise Instrumente vom Leder zieht; Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman, Frankfurt am Main: Fischer 1981 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Peter de Mendelssohn), S. 971, wo Naphta das Schirmaufspannen als Symbol für den »bürgerlichen Sicherheitsstaat« bezeichnet. – Aus der Perspektive personifizierter, nämlich gekränkter Regenschirme formuliert: Siegfried Kracauer, »Falscher Untergang der Regenschirme« [1926], in: ders., Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 119 –121, hier S. 120 f. 45 Robert Walser, Der Gehülfe. Roman [1908], SW X, S. 7. – Über den Buchumschlag des Bruders Karl Walser: »Die Gehilfenfigur mit dem über Kopf und Hut aufgespannten Regenschirm sah ja beinahe possierlich aus« (Robert Walser, »Abhandlung« [Prager Presse, November 1925], SW XVII, S. 144 –147, hier S. 147). 46 Robert Walser, »Kinder und kleine Häuser« [Berliner Börsen-Courier, 27.9.1925], F, S. 68 – 69, hier S. 68. 47 Robert Walser, »Helblings Geschichte« [März, August 1913], SW IV, S. 56 –72, hier S. 65. 48 Robert Walser an Frieda Mermet, Dezember 1915, B, S. 93; der Gebrauch wird allerdings aufgeschoben (vgl. ders. an Mermet, vor 15.3.1916, B, S. 94). – »In Berlin gibt es momentan Straßenkämpfe […]. Die Schweiz ist fest […]. Gestern hauste in den Straßen ein tolles Unwetter, das für

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wobei es interessant ist, zu merken, wie es einigen Leuten schwer fällt, beim Verlassen der Lauben den Regenschirm zu öffnen, fast lieber naß werden als die geringe Arbeit ausführen.«49 In einer der morgendlichen rush hour gewidmeten Skizze heißt es über zur täglichen Arbeit Strebende, dass sie sich, »bevor sie von zu Hause fortgingen, gefragt haben [werden], ob sie den Schirm mitzunehmen hätten.«50 Regen betrifft alle – »[w]ir alle sind wie die andern« –; ein Unterschied besteht nur darin, dass er diejenigen »eilig laufen [macht], die keinen Schirm bei sich haben.«51 Warum keinen Regenschirm tragen? In einer sogenannten »Naturstudie« heißt es: »Besser ist noch immer besser gewesen, und wenn es regnet, so spanne ich den Re­ gen­schirm auf, damit ich möglichst trocken bleibe. Es ist ja so wundervoll be­hag­lich, recht­schaffen sein Metier auszuüben, sechs Tage lang zu arbeiten und am sie­ben­ten Tage auszuruhen, wie andere unkluge, solide Leute.«52 Walser kennt nur zu genau die demgegenüber ›kluge‹ Scheu und Scham, den Regenschirm mit sich zu führen und zu benutzen. »Aus meiner Jugend« berichtet: »Meine Tätigkeit bestand in systematischem Geduldüben und Papierbekritzeln auf hochangesehenem Kontor. Ich wollte nur leider immer keinen Stehkragen tragen, und wenn es regnete, hatte ich immer keinen Re­ gen­schirm.«53 Zum entgegengesetzten, zum Status des Genies nämlich gehört es, ganz ohne Schirm auszukommen – das bleibt bei Walser dem Dramatiker Lenz vor­be­hal­ ten, den er in einem Dramolett sagen lässt: »Ich verkomme. Kein Fingerzeig. Die Il­ lusio­nen schwinden. Kein Traum mehr. […] Muß es denn gerade jetzt regnen? Wozu ist überhaupt der Regen? Der Regen ist dazu da, daß es Regenschirme und nasse Straßen in der Welt gibt.«54 Eine eindeutig identifizierte Parteinahme für den Regen­ schirm­losen scheint allerdings nicht in Betracht zu kommen, würde wohl selbst als  Regenschirme und Frisuren gefährlich war, aber ich fand es lustig« (ders. an Mermet, vor 29.12.1918, B, S. 158 ; vgl. Alfred Döblin, »Überfließend von Ekel« [ November 1920 ], in: ders., Der deut­ sche Mas­ken­ball von Linke Poot. Wissen und Verändern!, Olten / Freiburg: Walter 1972, S. 106 –114, hier S. 107 f.). – Zum Walser-Mermet-Briefwechsel im Besonderen, aber zugleich grundsätzlicher zu Walsers Autorschaft: Peter von Matt, »Wer hat Robert Walsers Briefe geschrieben?«, in: Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.), »Immer dicht vor dem Sturze …« Zum Werk Robert Walsers, Frankfurt am Main: Athenäum 1987, S. 99 –105. 49 Robert Walser an Ernst Morgenthaler, Herbst 1922, B, S. 204. 50 Robert Walser, »Acht Uhr« [Berliner Tageblatt, 17.4.1908], F, S. 77–79, hier S. 78. 51 Robert Walser, »Regen« [Neue Zürcher Zeitung, September 1918], SW XVI, S. 368 –370, hier S. 369 f. 52 Robert Walser, »Naturstudie« [u. d. T. »Naturschilderung«: Deutsche Monatshefte (Die Rheinlande), Januar 1916], SW VII, S. 60 – 82, hier S. 74. – »Es ist für gewisse Menschen furchtbar angenehm, zu sehen, daß es regnet, und zugleich fühlen zu dürfen, daß man selber nicht naß wird« (ders., »Auf der Elektrischen« [Berliner Tageblatt, 28.4.1908], F, S. 42 – 44, hier S. 42). 53 Robert Walser, »Aus meiner Jugend« [Saturn, September 1919], SW  XVI, S. 249 –251, hier S. 250. 54 Robert Walser, »Lenz« [Die Schaubühne, April 1912], SW III: Aufsätze [1913], S. 109 –114, hier S. 111; hierzu Jochen Greven, »Erdichtete Dichter«, in: ders., Robert Walser. Figur am Rande, in wechselndem Licht, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1992, S. 35 – 63, hier S. 53 f.

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philiströs empfunden. So wandert der Schirm hin und her, und zur Ruhe kommt er erst bei jenem späten Walser, der aufgehört hat zu schreiben; der, nun völlig mar­gi­na­ li­siert, die Nervenheilanstalt bewohnt und auf Spaziergängen mit seinem ›Eckermann‹ Seelig, wie dieser ein wenig befremdet bemerkt,55 den Regenschirm nicht mehr loslassen wird. Selbst dann noch wirkt es wie eine – und sei es unfreiwillige – Suspension der einen Stellungnahme. Soweit die Befunde einer kursorischen Lektüre von Walsers Texten. Will man ge­ nauer werden, also die Probe aufs Exempel des zunächst nur am Leitfaden des Mo­tivs erfolgten Durchgangs durch das Werk machen, empfiehlt es sich aus zwei Gründen, eines der letzten Bücher Robert Walsers zu lesen: Poetenleben von 1917. Zum einen, weil sich sagen lässt, dass im Zentrum dieses Buchs der Regenschirm steht. Zum an­ deren deshalb, weil dieses Buch nur zu genau die sich im Rahmen unserer Ab­hand­lung stellenden Probleme der Literaturwissenschaft mit Robert Walser – und vice versa –  seinerseits aufwirft, verhandelt und in gewisser Weise auch entscheidet. Denn nicht nur handelt das in diesem Buch zu findende Prosastück »Zimmerstück« aufschlussreich von der Herstellung eines Prosastücks über einen Regenschirm. Da­rüber hi­naus stellt vielmehr der titelgebende, den Band beschließende Text »Poetenleben« einen denk­bar beziehungsreichen Kommentar zu möglichen Kommentaren dar. Kei­nes­ wegs nur in seinem Abschnitt »Der neue Roman« – in dem es um dessen Ausblei­ ben geht56 – behandelt das Buch Poetenleben insgesamt die eingangs unserer Ab­hand­ lung skizzierte Problemlage eines konventioneller Grundlagen er­man­geln­den Werks. Hat Walser später seine disperse Prosaproduktion mit einem inzwischen viel­zi­tier­ten Wort »als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch« und in­so­fern als »Roman« bezeichnet, dessen »Romankapitel« die einzelnen Prosastücke bil­de­ten,57 so nimmt Poetenleben sowohl operativ als auch reflexiv diese Konzeption vor­weg. Ist das Buch doch im Wesentlichen auf der Basis von in den Jahren 1915 und 1916 pu­bli­zier­ ten Zeitungstexten entstanden; sie sind in ihm zusammengestellt. ›So sähe ein diesen Texten entsprechendes Werk aus …‹, ist das mit diesem Buch durch­ge­führte Pro­ gramm. Und dessen letzter, es charakterisierender Text resümiert nicht nur das Buch, 55 Seelig, Wanderungen (Anm. 6), passim. – Eine Art Selbstgespräch eines Anstaltsinsassen bietet die in einer Mischung aus Bern- und Zürichdeutsch gehaltene Notiz, die auf den Ausruf zuläuft: »Herrje, es chunt cho rägne. / Wo isch mi Rägeschirm?« (Robert Walser, AdB VI, S. 687; Vinzenz Hediger ist für seine freundliche Verständnishilfe zu danken, G. S.). 56 Robert Walser, »Der neue Roman« [Neue Zürcher Zeitung, März 1916], SW  VI: Poetenleben, S. 93 – 95. 57 Robert Walser, »Eine Art Erzählung« [unveröffentl., 1928  /  29], SW  XX, S. 322 –326, hier S. 322 – in der Forschung gelegentlich auch in eine Art methodisch-hermeneutischen Kanon um­ ge­münzt: Dieter Roser, Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift. Zur Sprachproblematik in Robert Walsers späten Texten, Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 10; vgl. die Überlegungen von Christoph Bungartz, Zurückweichend vorwärtsschreiten. Die Ironie in Robert Walsers Berner Prosa, Frankfurt am Main u. a.: Lang 1988, S. 64 ff.

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sondern fasst überdies paradigmatisch zusammen: ›… und so würde es von Li­te­ra­tur­ wissen­schaft behandelt.‹ Zugleich macht die mit dem Prosastück »Poeten­leben« im Buch gegebene Coda auf die durchdachte Komposition des Ganzen auf­merk­sam. Der Leser wird instruiert, die Komplexität des Gebotenen nicht zu unter­schätzen. The­men, Motive und Darstellungsweisen sind untereinander verwoben; und in der Schluss­coda wiederholt sich dies in der Art eines Überblicks, Wegweisers, launigen Re­gis­ters. Auf den Regenschirm des »Zimmerstücks« wird in Form der Rede von »Nägeln« verwiesen; an einem »Nagel« aufgehängt wird er sich im Zimmer finden.58 »Zimmerstück«: Bereits der Titel macht klar, dass hier eine Konvention be­dient und im Bewusstsein einer Tradition formuliert wird. Denn ganz parallel zum Ter­mi­ nus »Seestück«, der ein malerisches Genre bezeichnet,59 wird damit eine genau umrissene Form von ›Kunststück‹ annonciert; das Prosastück also an- und eingereiht in überkommene rhetorische Kunstübungen. Deren Typus wäre mit Friedrich Schlegel auf den Begriff einer ›Epideixis über und aus Nichts‹ zu bringen.60 Es handelt sich um eine Variante epideiktischen Sprechens und Schreibens, die die Nichtigkeit oder doch Geringfügigkeit ihres Sujets als Ausgangspunkt wählt. Ganz in diesem Sinn lei­tet das »Zimmerstück« im Poetenleben-Zusammenhang eine Serie ent­spre­chen­der Übungen ein. Dass der klassischen rhetorischen Systematik zufolge die epi­deik­ti­sche Rede in die Realisierungen von einerseits Lob, andererseits Tadel zerfällt, rufen die vom »Zimmerstück« eingeleiteten Stücke in fast pedantisch dogmatischer Manier in Er­in­ne­rung: Scheltrede »Rede an einen Ofen«, Lobrede »Rede an einen Knopf«; diese mit »Der Arbeiter« gefolgt vom Bericht über dessen Herstellung zweier Texte, die ihrerseits als utopische Phantasien dem Genre gehorchen. Bereits aus dem ersten Satz des »Zimmerstück[s]« geht allerdings hervor, dass die­ ser Text überdies in Beziehung zu, um nicht zu sagen in Wettbewerb mit einer li­te­ ra­rischen Vorlage tritt: »Ich kenne einen Schriftsteller, der, nachdem er sich durch Wo­chen hindurch vergeblich abgemüht hatte, einen geeigneten Stoff aufzutreiben, end­lich auf den possierlichen Gedanken kam, eine Entdeckungsreise unter seine Bettstelle zu ver­anstalten.«61 Im Stil »unverhüllte[r] Intertextualität«62 startet das 58 Robert Walser, »Poetenleben« [Die weißen Blätter, Oktober 1916], SW VI: Poetenleben, S. 120 – 130, hier S. 121; ders., »Das Zimmerstück« [Schweizerland, September 1915, S. 642], SW VI: Poetenleben, S. 104 –106, hier S. 105. 59 Dessen Name andernorts titelgebend Verwendung findet: Robert Walser, »Das Seestück«, SW V: Prosastücke [1917], S. 81– 83; vgl. allg. Erich Unglaub, »›Auf dem Meere etwas Unheimliches …‹ Seestücke in der Literatur«, in: Martin Faass, Felix Krämer und Uwe M. Schneede (Hrsg.), Seestücke. Von Caspar David Friedrich bis Emil Nolde, München: Prestel 2005, S. 119 –130. 60 Friedrich Schlegel, »Zur Poesie und Litteratur II«, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, 2. Abt., Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur, 1. Teil, mit Einleitung und Kom­ mentar hrsg. von Hans Eichner, Paderborn u. a.: Schöningh 1981, S. 288, Fragment 426. 61 Walser, »Zimmerstück« (Anm. 58), S. 105. 62 Monika Lemmel, »Robert Walsers Poetik der Intertextualität«, in: Borchmeyer (Hrsg.), Robert Walser und die moderne Poetik (Anm. 41), S. 83 –101, hier S. 85.

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»Zimmerstück« als radikal komprimierende Paraphrase von Voyage autour de ma chambre, jenes ori­gi­nel­len ›Reiseberichts‹, mit dem Xavier de  Maistre am Ende des 18.  Jahr­hun­derts zum arabesk-empfindsamen Roman in der Nachfolge Laurence Sternes bei­ge­tra­gen hat. Wie Robert Walsers Prosa ist auch dieser Prätext autobio­ gra­phisch ein­ge­färbt. In 42  kurzen Kapiteln wird über eine auf wenigen Quadratmetern unter­nom­mene Ex­pe­di­tion berichtet, »de découvertes en découvertes«, von Ent­deckung zu Entdeckung schreitend.63 Mag es auch Zufall sein, dass Walsers verschlankende Va­ria­tion die­ser 42  Kapitel mit 21  Sätzen auskommt, so dürfte ent­ge­ gen der gelegentlich in der Lite­ra­tur zu findenden Annahme, dass Walser mehr oder weniger beliebige Vor­lagen für seine Paraphrasepraktiken verwendet hat, in diesem Fall seine Wahl alles andere als zu­fällig sein. Vielmehr ist das »Zimmerstück« als vielsagende Antwort auf die drei Ka­pitel zuvor gestellte Frage nach dem ausbleibenden – »neuen«, »große[n]«, »großkalibrige[n]«, »erfolgreichen«, »umfangreichen«, »guten«, »res­pek­table[n]«, »ebenso schö­ne[n] wie spannende[n] und langfädige[n]«64 – Roman zu nehmen: Hier habt ihr ihn. Das meint erstens: wenn überhaupt, dann einen Roman in dieser Tradition;65 es meint zwei­tens: gegeben wird er nur in äußerst kondensierter Form. Diese Kondensation kann wie gesagt auch unter dem Aspekt eines Wett­be­werbs mit dem Vorlagetext gesehen werden. Es handelt sich um eine überbietende Para­phrase insofern, als Überbietung unter dem genannten epideiktischen Vorzeichen die Form einer Unterbietung der Unterbietung annehmen kann. Dazu stimmt, dass die Entdeckungsreise, die die Erzählung »Voyage« im Zimmer stattfinden lässt, im »Zimmerstück« gewissermaßen noch einmal eingeschränkt wird, nämlich stracks auf den »Bo­ den«, unter die »Bettstelle« führt. Es ist damit, als sollte hier de Maistres Er­zäh­lung auf jene eine Episode im 28. Kapitel reduziert werden, in der dem ›Reisenden‹ ein Un­fall widerfährt, bei dem er mit seinem Postkutschen-Sessel zu Boden stürzt. Im »Zimmerstück« ist die Reise des Schriftstellers unter das Bett durch die Suche nach einem »Aufsatzstoff« motiviert; das Ergebnis ist »gleich Null«.66 Die luxurierenden Be­ schrei­bungen, die de Maistre allein dem Bett, seiner Wärme, der Farbe der Bett­wäsche, sei­nen Matratzen widmet, werden damit ebenso weggekürzt wie – mit einer einzigen, sig­ni­fi­kan­ten Ausnahme, von der noch die Rede sein wird – fast sämtliche jener Be­ 63 Xavier de Maistre, Voyage autour de ma chambre [1794], Paris: Éditions mille et une nuits 2000, Nº 15, S. 26; ders., Reise um mein Zimmer, übers. von Caroline Vollmann, Frankfurt am Main: Gerd Haffmans bei Zweitausendeins 2005, S. 46. – Zur Tradition der Zimmerreiseliteratur: Bernd Stiegler, Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt am Main: Fischer 2010. 64 Walser, »Der neue Roman« (Anm. 56). 65 Die in der deutschsprachigen Literatur nach hoffnungsvollen Anfängen ins Hintertreffen geraten ist; vgl. die klassische Studie: Peter Michelsen, Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts, 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972. 66 Walser, »Zimmerstück« (Anm. 58), S. 104.

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züge, mit denen es sich de Maistres Beschreibung erlaubt, gleichsam imaginativ denn doch das Zimmer zu verlassen: indem die Voyage nämlich die im Zimmer ent­halt­ene Bibliothek und Bildersammlung thematisiert. Die Abkürzungen, die das »Zimmerstück« gegenüber der Voyage kennzeichnen, bedeuten freilich keine Distanz­nahme ge­ gen­über der Tradition des Vorlagetextes. Mit der Wahl dieser Vorlage erfolgt vielmehr durchaus selbst eine poetologische Stellungnahme, die Einschreibung in eine Li­te­ratur der Digression – deren Lizenzen in extremer Weise in Anspruch zu nehmen zu den Eigenheiten von Walsers Prosa gehört. In der Art eines sequel hat de Maistre der Voyage später die »Expédition nocturne autour de ma chambre« folgen lassen; darin fin­det sich eine aufschlussreiche Charakteristik seines Erzählens: J’avais une vieille parente de beaucoup d’esprit dont la conversation était des plus intéressantes; mais sa mémoire, à la fois inconstante et fertile, la faisait passer souvent d’épisodes en épisodes, et de digressions en digressions, au point qu’elle était obligée d’implorer le secours de ses auditeurs: ›Que voulais-je donc vous raconter?‹ disait-elle, et souvent aussi ses auditeurs l’avaient oublié, ce qui jetait toute la société dans un embarras inexprimable. Or, l’on a pu remarquer que le même accident m’arrive souvent dans mes narrations, et je dois convenir en effet que le plan et l’ordre de mon voyage sont exactement calqués sur l’ordre et le plan des conversations de ma tante; mais je ne demande main-forte à personne, parce que je me suis aperçu que mon sujet revient de lui-même, et au moment où je m’y attends le moins.67 Diese Charakteristik ließe sich durchaus auch für die Walser’sche Schreibweise mit ih­rer ›Geschwätzigkeit‹, ihren an Gedankenflucht grenzenden Abschweifungen und ih­ren Tautologien in Anschlag bringen; und auch er selbst hat sich innerhalb der 

67 Xavier de Maistre, »Expédition nocturne autour de ma chambre« [1825], in: ders., Nouvelles, hrsg. von Pierre Dumas, Piero Cazzola und Jacques Lovie, Genève: Editions Slatkine 1984, S. 81–126, hier Nº 34, S. 118 – »Ich hatte eine alte, sehr geistreiche Verwandte, deren Unterhaltungen höchst interessant waren; aber ihr Gedächtnis, das gleichzeitig unzuverlässig und erfinderisch war, ließ sie häufig von Episode zu Episode und von Abschweifung zu Abschweifung eilen, so daß sie gezwungen war, ihre Zuhörer um Hilfe zu bitten: ›Was wollte ich euch erzählen?‹ fragte sie, und häufig hat­ten ihre Zuhörer es ebenfalls vergessen, was die ganze Gesellschaft in eine unaussprechliche Ver­wir­rung stürzte.« – »Nun, man hat bemerken können, daß das gleiche Unglück bei meinen Erzählungen zustößt, und ich muß tatsächlich zugeben, daß der Plan und die Ordnung meiner Reise dem Plan und der Ordnung der Unterhaltungen meiner Tante genau nachgebildet sind; aber ich bitte nie­man­ den um Beistand, weil ich gesehen habe, daß mein Gegenstand ganz von selbst und in dem Augenblick, wo ich dies am wenigsten erwarte, wieder auftaucht« (ders., »Nächtliche Expedition um mein Zimmer«, in: ders., Reise [Anm. 63], S. 124 –217, hier S. 202 f.); vgl. in der ersten ›Reise‹ fernerhin: »Je ferais même les zigzags« (ders., Voyage [Anm. 63], Nº 4, S. 11); zur Digression bei de Maistre: Ross Chambers, Loiterature, Lincoln / London: University of Nebraska Press 1999, S. 94 ff.

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damit gegebenen Topik hinreichend erklärt.68 Überdies ist im Zusammenhang un­se­ rer These eines wesentlichen Verhältnisses Robert Walsers zur Tradition der Mo­ra­lis­ tik festzuhalten, dass er mit de Maistre den Bezug auf einen Autor einbringt, in dessen Profil sich digressive Schreibweise und moralistische Reflexion prägnant verbinden. In dieser Hinsicht wartet die Erzählung Voyage unter anderem mit einem »système de l’âme et de la bête« auf,69 einer ›Lehre‹, der zufolge jeder Mensch als Interaktion seiner Seele mit seinem ›Tier‹ aufzufassen wäre. Damit wird nicht nur eine originelle Fußnote zu den anthropologischen influxus physicus-Debatten des 18. Jahrhunderts geboten; das Argument hat eine reflexive Pointe darin, dass mit der Selbstvergessenheit dieses ›Tiers‹ auch die Verfassung des digressiven Textes thematisiert erscheint. Allerdings steht de Maistres Reflexion, ebenso wie sein Schreiben, nun wirklich ganz im Zeichen einer aristokratischen Oberschichtenkultur. Wenn man ihn unter die wunderlichen Sonderfälle der Weltliteratur einreihen will, so ist dies nur aus der Außen­perspektive einer bürgerlichen Moderne auf diese Kultur sinnvoll. De Maistre entspricht den Kriterien eines adligen Amateurs70 oder Dilettanten, jener Figur also, in der die vormoderne Oberschicht an den Künsten teilhat. Zur Literatur trägt er im starken Sinn des Wortes: gelegentlich bei, beweist sich dabei en passant als Mann von Phantasie und Urteilskraft. Es gibt hier keinen Ehrgeiz auf professionelle Autor­schaft; die Publikation der Voyage erfolgt denn auch anonym und durch Fremd­heraus­ge­ber­ schaft (seitens des Bruders Joseph de Maistre) vermittelt. Xavier de Maistres Theo­ rie und Praxis der Digression wären auch in diesem Sinn zu lesen: als Ar­ti­ku­la­tion des glück­lichen Selbstbewusstseins, dass das von ihm Begonnene schon auf be­frie­di­ gende Weise enden werde. Die Ausnahme von der Regel setzen und dazu stehen zu kön­nen, dies unterscheidet ja den guten Geschmack und die guten Sitten der Ober­ schich­ten­kon­ver­sa­tion von pedantisch-regelgerechtem Verhalten, und in diesem Sinn ist die ›Lizenz zum Digredieren‹ besonders geeignet, aristokratische Souveränität zu sym­bo­li­sieren. Mit der gebotenen Lässigkeit erfüllt die Voyage des adligen Offiziers das De­ko­rum seines Standes. Robert Walsers Bezug auf sie akzentuiert den Kontrast. De Maistres Zimmerreise ist – wie immer stilisiert71 – durch einen 42-tägigen Hausarrest motiviert, den er sich durch ein im übrigen wiederum standesgemäßes Duell ein­gehandelt hat, es ist ein Zeitvertreib, der an die Stelle anderer Vergnügungen tritt, ein Luxusunternehmen.72 Pascals berühmtes Wort, dem zufolge »tout le malheur des 68 »Schwatzhaftigkeit«? – »[E]in Versuch zu feiern, wie z. B. ja auch bei Dienstmädchen und Hausfrauen bei Treppen-Übereinkünften« (Walser, Der Räuber [Anm. 8], S. 85). 69 De Maistre, Voyage (Anm. 63), Nº 4, S. 14. 70 Werner Morlang, »Erkundungen eines Amateurs«, in: ders., So schön beiseit. Sonderlinge und Son­ der­fälle der Weltliteratur, Zürich: Nagel & Kimche 2001, S. 101–105. 71 Vgl. jene Anmerkung, in der – metaleptisch, unter Inkaufnahme eines Fiktionsbruchs – über die ›tatsächliche‹ Entstehung informiert wird: de Maistre, Voyage (Anm. 63), Nº 32, S. 50. 72 Wie der Erzähler mit seinen den Armen gewidmeten Zeilen in den Kapiteln Nº 29 –31 selbst festhält.

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hommes vient d’une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre«,73 erfährt eine ironische Bestätigung: Notfalls vermag die menschliche Unruhe die gesuchten Zerstreuungen eben auch im Zimmer zu finden. Dem­ge­gen­über ist die Lage jenes »Schriftsteller[s]«, über den das »Zimmerstück« berichtet, eine fundamental andere. Seine »Entdeckungsreise« erfolgt aus wirklicher Not. Dieser pro­fes­sio­ nelle Schriftsteller sucht zusammen mit seinem »Stoff« und »Thema« seinen drin­gend notwendigen Lebensunterhalt: »›Was fange ich nun an und womit, um der tausend Gottes willen, verdiene ich mir in Zukunft mein armseliges, karges tägliches Brot?‹ fragte er sich voll Sorgen und Bangen.«74 Ist sich der müßige, mit seinen überschüssigen intellektuellen Kräften spielende Dilettant seines Themas ebenso wie der Durchführbarkeit und Durchführung dessen von vornherein sicher, so bringt der arbei­tende Held des Walser’schen »Zimmerstücks« seine ›Reise‹ mit letzter Kraft zu Ende, mit klammen, »während des Schreibens in der Kälte steif gewordenen« Hän­den in einer ungeheizten Kammer.75 Handelt die Prosa des Aristokraten von einer Zimmer­reise, so diejenige des Walser’schen Poeten von der Herstellung eines Prosastücks. Man vergleiche im übrigen de Maistres übermütigen Aufruf zur Faulheit: »Que tous les paresseux se lèvent en masse !«76 mit der in Poetenleben vom »Arbeiter« gedichteten Prosastück-Utopie einer Welt der »Trägheit« und des »Müßiggang[s]«,77 um einerseits die beiden gemeinsame exterritoriale Stellung gegenüber dem bürgerlichen Tugendkanon, andererseits jedoch den kaum größer denkbaren Abstand zu ermessen, der in den unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen dieser Haltung liegt. Walsers Buch thematisiert diese Gemeinsamkeit ebenso wie diesen Abstand. Dem »Zimmerstück« geht in Poetenleben das Prosastück »Frau Wilke« voraus; in manchem ant­wor­ tet es ihm. Zum Beispiel darin, dass jenes möblierte Zimmer, das sich der erfolglose Poet von der sterbensarmen Frau Wilke untervermieten lässt, durchaus dasjenige des »Zimmerstücks« sein könnte. Dieses Zimmer weist zwar »einen gewissen Grad von Zerlumptheit und Verwahrlosung« auf, doch zu seinem verwohnten Charme gehört, dass es den Mieter spekulieren lässt: »›Ein Graf, dünkt mich, könnte hier wohnen‹, plauderte ich« – und: »Wie ich gern glauben möchte, hat hier einst ein Baron gehaust,

73 Blaise Pascal, »Pensées«, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von Jacques Chevalier, Paris: Éditions Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 1954, S. 1079 –1345, hier Nº 205, S. 1138 f. 74 Walser, »Zimmerstück« (Anm. 58), S. 104. 75 Walser, »Zimmerstück« (Anm. 58), S. 106. 76 De Maistre, Voyage (Anm. 63), Nº 2, S. 9 – »Daß sich die Faulen erheben in MASSEN!« (ders., »Reise durch mein Zimmer«, in: Thorsten Becker, Mitte, darin die vollständige Übersetzung von Xavier de Maistres »Voyage autour de ma Chambre« aus dem Jahre 1794, Berlin: Volk & Welt 1994, S. 105 –195, hier S. 109). 77 Robert Walser, »Der Arbeiter« [Wieland, August 1915], SW  VI: Poetenleben, S. 110 –116, hier S. 114.

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Offiziere haben hier vielleicht Champagner getrunken.«78 Gut möglich, dass so der proletarische Poet sein Bewusstsein andeutet, mit seinen bescheidenen Mitteln eine nur zu vornehme Tradition zu beerben.79 Als aristokratischen Weltmann bekümmert die Frage der Philistrosität de Maistre kaum; er thematisiert sie in einer seinen ständisch-sozialen Voraussetzungen ent­spre­ chend abgeschwächten Weise. Das wird deutlich, wenn er als abenteuerliches Tempe­ra­ ment sein stilistisches Zickzack gleichsam selbstverständlich vom bürgerlichen ›Mann nach der Uhr‹ absetzt: »Je n’aime pas les gens qui sont si fort les maîtres de leurs pas et de leurs idées, qui disent: ›Aujourd’hui, je ferai trois visites, j’écrirai quatre lettres, je finirai cet ouvrage que j’ai commencé.‹«80 Es wird noch deutlicher, wenn er jene Zen­tral­ szene der modernen Philisterkritik in sein Buch einbringt, die sich in Goethes Werther findet. Das geschieht ohne Textbezug auf den Brief vom »26. May«, in dem der Phi­ lis­ter als solcher genannt – und zugleich neu definiert – wird. Der Philister be­geg­net vielmehr in Form eines Bildes, das als Kupferstich unter anderen Gemälden hängt und dem sich der Reisende auf dem Weg zu seinem Schreibtisch nähert. Was sähe der Leser, wäre er zugegen, auf diesem Bild? »Il y verrait la malheureuse Charlotte, essuyant lentement, et d’une main tremblante, les pistolets d’Albert«, der Leser sähe Lotte, das kommende Unglück vorausahnend, tandis que le froid Albert, entouré de sacs de procès et de vieux papiers de toute espèce, se tourne froidement pour souhaiter un bon voyage à son ami. Combien de fois n’ai-je pas été tenté de briser la glace qui couvre cette estampe, pour arracher cet Albert de sa table, pour le mettre en pièces, le fou78 Robert Walser, »Frau Wilke« [Neue Zürcher Zeitung, 18.7.1915, Nr. 942, Sonntagsblatt, S. 1], SW  VI: Poetenleben, S. 98 –104, hier S. 99 f. 79 Gut möglich weiterhin, dass in dem das Buch beschließenden »Poetenleben«-Stück nicht nur auf Hölderlin (vgl. Robert Walser, »Hölderlin« [Vossische Zeitung, September 1915], SW VI: Poetenleben, S. 116 –120) angespielt wird, wenn der Poet den »Herren Vorgesetzten«, die ihm seine Büro-Stelle gekündigt und das Münchner Bohemeleben empfohlen haben, frech antwortet: »daß, ehe ich nach Mün­chen schwämme und ginge, ich wahrscheinlich viel lieber oder wenigstens fast noch ebenso schnell und gern in den Kaukasus ruderte und spazierte« (ders., »Poetenleben« [Anm. 58], S. 124). Zwar gibt es in Hölderlins Hymne (deren Titel mit dem ersten der im Buch zusammenge­stell­ten Stücke gleichlautet:) »Die Wanderung«  – mit ihrer Entgegensetzung von verhauster Schwaben»Treue« und freien »Dichter«-»Schwalben« – den heroischen Vers: »Ich aber will dem Kaukasos zu!« (Friedrich Hölderlin, »Die Wanderung«, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, hrsg. von D. E. Sattler, Bd. 11: 1804.1805 Nürtingen · Homburg, München: Luchterhand 2004, S. 123 –126, S. 124). Es kann dabei jedoch auch an Xavier de Maistre gedacht sein, den 1810 seine internationale militärische Laufbahn in russischen Diensten tatsächlich in den Kaukasus geführt hat (vgl. Alfred Berthier, Xavier de Maistre. Etude biographique et littéraire. Nombreux documents rares ou inédits, deux portraits, Genève / Paris: Slatkine Reprints 1984, S. 105 ff.). 80 De Maistre, Voyage (Anm. 63), Nº 4, S. 11 – »Leute, die so sehr Herr über ihre Schritte und ihre Ideen sind, daß sie sagen: ›Heute werde ich drei Besuche machen, vier Briefe schreiben und dieses begonnene Werk vollenden‹, mag ich nicht« (ders., Reise [Anm. 63], S. 23).

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ler aux pieds! Mais il restera toujours trop d’Alberts en ce monde. Quel est l’homme sensible qui n’a pas le sein, avec lequel il est obligé de vivre et contre lequel les épanchements de l’âme, les douces émotions du cœur et les élans de l’imagination, vont se briser comme les flots sur les rochers? […] – Heureux celui qui possède un ami!81 Scheint hier zunächst viel Affekt im Spiel, so ist doch letztlich alles ganz im Stil eines empfindsamen Humanismus gezügelt gedacht und gesagt. Albert, der kalte Phi­lister, das ist bei de Maistre einfach der schlechte Freund. Eine sozialkritische Dimen­sion, wie sie die einschlägige Semantik häufig kennzeichnet, fehlt ebenso wie eine ästhe­ tisch-moralische Zuspitzung. Die in der Goethenachfolge der deutschen Ro­man­tik und über sie hinaus forcierten Entgegensetzungen zur philiströsen Existenz er­schei­ nen von vornherein durch moralistische Reflexion entschärft. Fast beiläufig wird die mögliche Implikation des Beobachters ins beobachtete Geschehen bedacht: Jeder trägt seinen eigenen ›Albert‹ mit sich umher. Das heißt, hier äußert sich weniger eine Kritik des Philisters als vielmehr eine Klage über seine Unvermeidlichkeit. Diese Klage führt über in Freundschaftslob, konkret das Lob eines verstorbenen Freundes, dem sich die Voyage im nächsten Kapitel widmen wird,82 um sodann die Beschreibung wei­te­rer Kupferstiche folgen zu lassen. Mit dem Philister ist weder das zentrale Motiv der Bil­ der­sammlung noch dasjenige der Voyage insgesamt gegeben. An zentraler Stelle ist bei aller Digressivität des de Maistre’schen Textes viel­mehr ein ›Gemälde‹ platziert. »Les estampes et les tableaux dont je viens de parler pálissent et disparaissent au premier coup d’œil qu’on jette sur le tableau suivant«:83 Es ist der Spiegel. Er wird, im Kontext der moralistischen Literatur mehr oder weniger 81 De Maistre, Voyage (Anm. 63), Nº 20, S. 32 f. – »[Der Leser] würde darauf die unglückliche Lotte sehen, wie sie langsam und mit zitternder Hand die Pistolen von Albert abwischt […]; während sich Albert, ungerührt, umgeben von Aktenbündeln und alten Papieren aller Art, kühl umwendet, um seinem Freund eine gute Reise zu wünschen. Wie viele Male war ich nicht schon versucht, das Glas zu zerbrechen, das den Stich bedeckt, um diesen Albert von seinem Tisch zu zerren, um ihn in Stücke zu reißen, ihn mit Füßen zu treten! Aber es wird immer zu viele Alberte auf der Welt geben. Welcher empfindsame Mensch trüge den seinen nicht in sich, mit dem er leben muß und an dem sich die Seelenergüsse, die süßen Herzensregungen und die Aufschwünge der Phantasie wie Wellen an Felsen brechen? […] – Glücklich, wer einen Freund besitzt!« (ders., Reise [Anm. 63], S. 55 f.; vgl. Johann Wolfgang Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers« [1774], in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 1.2: Der junge Goethe 1757–1775, hrsg. von Gerhard Sauder, München: Hanser 1987, S. 196 –299, hier S. 294 f.). 82 Als allographe Anmerkung (seitens des Herausgebers Joseph de Maistre) zu einer Rechtfertigung dieses traurigen Kapitels erfolgt noch ein weiterer Werther-Hinweis, nunmehr auf den Text, nämlich jenen Brief vom »12. Aug.«, der nahelegt, dass Albert nur zu gut um Werthers Gefährdung hätte wissen können … (de Maistre, Voyage [Anm. 63], Nº 22, S. 35; vgl. Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers« [Anm. 81], S. 232 ff.). 83 De Maistre, Voyage (Anm. 63), S. 41 – »Die Stiche und Gemälde, von denen ich eben sprach, verschwinden beim ersten flüchtigen Blick auf das folgende Gemälde« (ders., Reise [Anm. 63], S. 69).

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konven­tionell, einerseits als Ratgeber, als in diesem Sinn wünschenswerter mo­ra­li­scher Spiegel, Spiegel der Selbsterkenntnis eingeführt, um andererseits sogleich als un­er­ reich­bar, weil immer nur durch das Prisma des »amour-propre« erblickbar be­zeich­ net zu werden.84 Genau diese Stelle, die des Spiegels, ist es, die Robert Walsers ra­di­ kal reduzierende Kontrafaktur im »Zimmerstück« dem Regenschirm einräumt. Nach seiner gescheiterten Suche unter dem Bett sah [der Schriftsteller] plötzlich vor seiner Nase ein so seltsames, in­ter­es­se­ einflößendes Schauspiel, wie er es nicht von weitem zu hoffen gewagt ha­ben würde, je in seinem Leben anzutreffen. In der Wand, die grau, schwarz und schimmelig war, stak nämlich ein alter, rostiger Nagel, woran ein Regenschirm hing. »Was muß ich sehen«, rief der entzückte Schriftsteller froh und laut aus, »das ist ja unglaublich. Bei der Unsterblichkeit meiner Seele: Ich habe das gedankenvollste, schönste Thema gefunden.«85 Dieser Spiegel ist ›blind‹, aber doch ein Gegenstand der Reflexion. Gibt er eine Mo­ral? Zunächst einmal ist es ein ebenso gelungener wie traurig-ironischer Un­ter­bie­tungs­ witz, dieses faltige Ding an die Stelle des planen de Maistre’schen Topos zu platzieren. Man könnte denken, dass indirekt auch dessen Pointe, das Eigenliebe-Prisma-Argument aufgenommen wird – geht es beim Regenschirmsymbol, wie wir gezeigt haben, doch tatsächlich um die Reflexion der eigenen Befindlichkeit, nämlich um die vertrackt schwierige Selbstsituierung in einer Welt der Bildungsdistinktionen. Dieser Auftritt des Regenschirms ist innerhalb der Komposition von Poetenleben wiederum vorbereitet, auch in diesem Fall durch den unmittelbar vorhergehenden Text »Frau Wilke«. Darin kommen »Sonnen- und Regenschirm«86 als Elemente der Gar­de­robe einer Dame vor, der kurz zuvor hungers gestorbenen Untervermieterin Wilke nämlich. Damit ist ein anderer Code im Spiel; und insofern ist hier wenig­ stens kurz die Stellung von Frauen im Zusammenhang der Philistersemantik an­zu­ spre­chen. »Philister« kennt schon grammatisch kein weibliches Geschlecht. Ne­ben anti­phi­lis­trösen Helden und Philistern stellen Frauen eine dritte Kategorie dar.87 Sie sind Gegenstand der begehrenden Phantasie und zugleich gefährliche Kontakt84 De Maistre, Voyage (Anm. 63), S. 43. 85 Walser, »Zimmerstück« (Anm. 58), S. 104 f. 86 Walser, »Frau Wilke« (Anm. 78), S. 103. Dieses Prosastück bietet ein gutes Beispiel für die Komponiertheit von Poetenleben: Plauderte die Feuilletonfassung (›unter dem Strich‹ der Neuen Zürcher Zeitung) gleich eingangs das unglückliche Ende aus, hat Walser den Buchtext in dieser Hinsicht revidiert. 87 Aufschlussreich zum Begriffsgebrauch um 1900 etwa Ellen Key, Mißbrauchte Frauenkraft. Ein Essay, übers. von Therese Krüger, Paris u. a.: Langen 1898, S. 40; Ricarda Huch, »Studium und Beruf

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medien, da doch Ehe und Familienstand den Übergang in die Philisterexistenz bedeuten würden. Lässt man sich einerseits gern mit ihnen ein, so kommt es anderer­seits darauf an, diese als separat vorgestellte Welt der Frauen nur zu streifen, einer dauerhaften Verbindung mit ihnen auszuweichen. Genau so verhält es sich auch mit dem sein »Poetenleben« lebenden Poeten. »Die Indianerin«: Mit der als solche Ima­gi­nier­ten gibt es zwar eine wunderbare Bootspartie – aber man wird doch keine Ver­ab­re­dung mit ihr einhalten, wenn es regnet: »›Regen und prächtige Schleppen passen nicht zusammen‹, philosophierte ich, und im übrigen waren plötzlich andere Dinge für mich wichtiger geworden.«88 »Der Wanderbursche« wird sich zwar gern eine zeit­lang von einer vornehmen Dame bekochen lassen; aber ihre Aufforderung zu bleiben ist ihm Anlass zu gehen. »Sommerleben«: Zeit für Abenteuer mit Mädchen, am besten mit ei­ner Prostituierten. »Das Pfarrhaus« wird man aufsuchen, um bei den Pfarrers­leuten nach ihrer einem bis dato persönlich ganz unbekannten Tochter nachzufragen, natürlich erfolglos. »Marie«, die ›Waldfrau‹, oder lieber die intellektuelle Frau Bandi lieben? Unentscheidbar, dann lieber verreisen. Dass »Hölderlin« schließlich, dieser »Held […] in Ketten«, dieser »[gefesselte] Löwe […] im Käfig«, sich als Erzieher in die Frau des Hauses verliebte, war kein guter Einfall, vermutlich auch nur Einbildung …89 Das ist das Schema. (Durchbrochen wird es in Poetenleben nur im Märchen, »Dornröschen«.) Besonders schmerzlich erscheint es in der Geschichte der Frau Wilke und ih­res poe­ti­ schen Untermieters. Besonders schmerzlich deshalb, weil die »hagere, magere, große Frau«90 als Liebesobjekt und damit in der genannten gefährlichen Dimension von Weib­lichkeit für den Dichter gar nicht in Betracht kommt – und dennoch jede ihr so notwendige auch nur freundschaftliche Hilfe seinerseits ausbleibt.91 Der erfolg­lo­se Poet vermag nicht mehr, als ihr Verarmen, Verhungern und Erkalten gleichsam aus den Augenwinkeln zu beobachten. Die Darstellung dessen ist selbst von bestürzender Kälte. Erst »kurz nach ihrem Tode« betritt der poetische Mieter Frau Wilkes Wohnbereich, um ihre Sachen, darunter jenen »Sonnen- und Regenschirm«, im nun »vom Abendsonnenlächeln verherrlichte[n] Zimmer« zu betrachten, erst deprimiert, dann »befriedigt und beruhigt«.92 Das im »Zimmerstück« gefundene und geschriebene Pro­sa­stück bietet insofern einen Kommentar zur in »Frau Wilke« verfehlten Freund­ lich­keit und Solidarität, allegorisch im Medium der Dingwelt, in der emblematisch der Frau« [1902], in: Frauenarbeit und Beruf, hrsg. von Gisela Brinker-Gabler, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1979, S. 237–244, hier S. 240 f. 88 Robert Walser, »Die Indianerin« [Die Schweiz, März 1915], SW VI: Poetenleben, S. 50 –52, hier S. 52. 89 Walser, »Hölderlin« (Anm. 79), S. 117 (Zitat) und f. – die Attribute rufen die alttestamentliche Simson-Delila- und damit die Urszene der Philistersemantik auf. 90 Walser, »Frau Wilke« (Anm. 78), S. 98. 91 Insofern liest sich »Frau Wilke« als böses Gegenstück zu: Robert Walser, »Das Dichterzimmer« [Vossische Zeitung, 21.6.1913], F, S. 51–52. 92 Walser, »Frau Wilke« (Anm. 78), S. 103 f.

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wirkenden Konstruktion der Beziehung zwischen einem »alte[n], müde[n], fast aus dem Loch […] herabfallenden Nagel« und einem »alte[n] und abgenutzte[n] Regenschirm«, mit der subscriptio: Zu sehen, wie Schwaches in seiner Schwachheit anderes Schwaches noch stützte, bevor es selber völlig in die Kraftlosigkeit zusammenbrach, und wie das Erbärmliche in seiner bejammernswürdigen Erbärmlichkeit dem andern Erbärmlichen wenigstens noch so lange geringfügigen Halt bot, als bis es endlich selber gänzlich abgewirtschaftet haben würde: rührte und erschütterte mich tief, und ich habe nicht zögern mögen, es hier aufzuschreiben.93 Es mag sich hier um die Formulierung einer minimalistischen Utopie handeln, bleibt aber insofern nur eine wenig tröstliche Betrachtung, als sie in ihrer ganzen Sen­ti­men­ ta­lität ein Stück an die Zeitung zu verkaufender Arbeit darstellt. Sollte man dies psychologisch interpretieren? Das könnte man zweifellos tun. Aber führte man damit nicht nur eine jener Möglichkeiten durch, die einem im letzten, mit »Poetenleben« betitelten Stück des Bandes angeboten werden? Wird dort nicht nach »Vater und Mutter« gefragt, nach »Schule und Elternhaus« und ihrem »Einfluß« auf den Poeten – wird dort nicht auch erwogen, diese Dinge »unberührt« zu lassen? Und ist dieses Stück nicht dasjenige, das nun, ohne ihn zu erwähnen, ganz eigentlich und eingehend vom Philister handelt? Oder wer sonst wäre dieses »Wir«, das sich da an­ti­zipierend nachgeäfft hören muss? Wird dort nicht zum Beispiel gleich eingangs auch unsere oben aufgeworfene Frage gestellt: »Woher schöpfte er das unerläßliche biß­chen Bildung, das nach unserem Dafürhalten ein Poet notwendigerweise besitzen muß?«94 Ist dort nicht bereits von einem »proletarischen Poetenleben« die Rede? Wer macht sich da gemein mit jenen philiströsen Instanzen, die dem kündigenden Poe­ten Ar­beitszeugnisse und Empfehlungsschreiben ausstellen? Wer nutzt diese Do­ku­mente mit ih­ren Normalannahmen für eine Charakteristik des Dichters? All diese po­siti­vis­ ti­schen Er­kun­dungen und Befunde, diese routinierten Mahnungen zu phi­lo­lo­gi­scher  Ephe­xis, diese Hypothesen und vorsichtig formulierten Desiderate – stellen sie nicht eine wahre Allegorie des literaturwissenschaftlichen Lesens dar? Eine große Apostro­ phe an die Philologie: tua fabula narratur?95 Und lässt sie sich ganz von der Stimme des Poeten selber trennen? Genug. 93 Walser, »Zimmerstück« (Anm. 58), S. 105 f. 94 Antwort: »Es gibt ja Lesesäle voll Lesestoff in der Welt.« – »Haben wir nicht außerdem gefälligst Stadtbibliotheken […]?« (Walser, »Poetenleben« [Anm. 58], S. 120). 95 Walser, »Poetenleben« (Anm. 58); insofern ist »Poetenleben« ein ausgeklügelter Vortrag des von Eva Geulen beobachteten Verfahrens einer antizipierenden »Integration möglicher Deutungen« (Eva Geulen, »Autorität und Kontingenz der Tradition bei Robert Walser«, in: Jürgen Fohrmann, Ingrid Kasten und Eva Neuland [Hrsg.], Autorität der / in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997, Bd. 2, Bielefeld: Aisthesis 1999, S. 805 – 818, hier S. 813).

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Von der oben beschriebenen Art sind die Reflektiertheit, Beweglichkeit und Dis­ kre­tion der Walser’schen Schreibweise – Korrelat seiner ›Moral in der Biegsamkeit‹. Diese ist es auch, die ihn resistent macht gegen alle vitalistischen Figuren, in denen nicht selten die Bildungs- und Philisterkritik der Nietzsche-Nachfolge um 1900 re­ sul­tiert. Die Entgegensetzung von Leben und Bildung erscheint Walser nur als »fixe Idee«; ihr gegenüber setzt er auf Bildung: »Die Sehnsucht nach dem Leben ist eine mir ohne weiteres verständliche Spezialzuständlichkeit bei Menschen, die das Leben für zu lebendig, die Erziehung dagegen für zu reizlos halten, was nicht die Ansicht derjenigen ist, denen Schulung und Bildung ebenso unerläßlich wie vergnügenspendend zu sein scheinen«.96 Dem Lebens- und dem Erlebnisbegriff,97 so kann man zusammenfassen, ergeht es bei Walser nicht anders als dem Regenschirm; wie dieser ist ›Leben‹ einmal hier und einmal da situiert. Das Leben für sich zu reklamieren, sich auf seine Seite zu schlagen, ist durchaus mit der Geste derjenigen zu vergleichen, die mit ihrem Regenschirm auf den der anderen weisen. In dieser Bewegung des Rückzugs und der Verweigerung semantischer Stellungnahmen geht Walser sehr weit. Und das insbesondere ist es, was für die Literaturwis­ senschaft den Umgang mit seinen Texten so problematisch macht: Seine Scheu und Diskretion in Bildungssachen geht so weit, dass er der Philologie nur zu oft eines ih­ rer üblichen Orientierungsmittel vorenthält, nämlich die Namen. Walser beschreibt seine Praxis so: »Das Weglassen eines Namens, einer Benennung ist keine Lüge und wirkt ermunternd, weil alle Bezeichnungen gleichsam alt sind und uns ermüden.«98 Für Walser haust allein im Gebrauch von Namen bereits die ›Gebildetheit‹; als ballte sie sich in ihnen zu ›schweren Zeichen‹ zusammen. Dagegen entwickelt er eine spezifische Disziplin: »jede Namensnennung aufs Gewissenhafteste [zu] vermeide[n], die […] meinem Schriftstellergeschmack gar nicht zusagt. Nur auf eine zu bequeme Art will sich die Menschheit, wie mir vorkommt, auf große Namen stützen, anstatt dass sie darauf hinaus ginge, sich eindringlicher als je auf sich und ihre wichtigsten Interessen zu besinnen, auf die Arbeit, die sie zu tun hat«.99 In dieser Perspektive besteht die 96 »Städte scheint es zu geben, deren Einwohner in die fixe Idee hineinspaziert sind, in andern Städ­ ten esse, schlafe, schaffe, dichte, sterbe, bummle und atme es sich besser als in der eigenen« (Robert Walser, »Potpourri« [unveröffentl., 1926], SW XVIII, S. 214 –220, hier S. 216). – »Gerade, als ob das Leben ein großer, staubichter Teppich wäre, der jetzt in diesem unserm Zeitalter über die Stange gehängt und tüchtig geklopft werden sollte« (ders., »Lüge auf der Bühne« [Die Schaubühne, Juli 1907], SW XV, S. 34 –35, hier S. 35). – Vgl. auch seine Kritik der ›Artistik‹-Kritik: ders. an Christian Morgenstern [18.1.1907], B, S. 50. 97 Vgl. die sarkastische Kritik der Erlebniskategorie in Termini von ›Brauchbarkeit‹ und »Arbeit«: Robert Walser, »Aus Tobolds Leben« [Neue Zürcher Zeitung, April 1915], SW  VI: Poetenleben, S. 83 – 91, hier S. 87 f. – Tobold mit Schirm findet sich in: ders., »Spazieren« [Neue Rundschau, März 1914], SW IV: Kleine Dichtungen, S. 76 –78, hier S. 76. 98 Robert Walser, »Ferien (I)« [unveröffentl., 1928  /  29], SW XX, S. 25 –27, hier S. 26. 99 Robert Walser, »Brief an einen Verleger« [Individualität, Juli 1927], SW XVIII, S. 153 –156, hier S. 154.

476 von Walser geleistete Arbeit in einer exzessiven Verwendung des Tropus Antono­ma­ sie: im Ersatz der Namen durch Periphrase, und speziell der Eigennamen durch ge­ läu­fige allgemeine Ausdrücke.100 Im Effekt allerdings führt das zu einer Ver­ken­nung, die Walser folgendermaßen konstatiert hat: »Daß mich einige für geistig arm hal­ten, kommt zweifellos nur daher, weil ich geistreich bin«.101 Das zwingt aber den Phi­lo­­ logen zu Rückübersetzungen, zum Aufweis ›namhafter Genealogien‹, so wie wir Robert Walser im Zuge der hier durchgeführten Argumentation einer Reihe höchst nam­haf­ ter Autoren angeschlossen haben: Montesquieu, X. de Maistre, Brentano, schließ­lich Nietzsche. Unter den Prämissen Walsers setzt man sich damit immer schon ins Un­ recht; doch diese Untreue Walsers Verfahren gegenüber dürfte der Preis sein, der zu ent­rich­ten ist, wenn man sein Werk charakterisieren will, wie es hier versucht wurde.

100 Vgl. Hackert, »Robert Walser, Feuilletonist« (Anm. 3), S. 24. – Als hätte Lichtenberg mit einem konjunktivischen Argument Walsers Prosa antizipiert: »Was würde das für ein Gerede in der Welt geben, wenn man durchaus die Namen der Dinge in Definitionen verwandeln wollte!« (Georg Christoph Lichtenberg, »J 1806«, in: ders., Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, Bd. 2: Sudelbücher II, Materialhefte, Tagebücher, 2. Aufl., München: Hanser 1975, S. 327); »überdefiniert beschreibende […] Verfahrensweise« nennt es Kerstin Gräfin von Schwerin, »›Kolossal zierliche Zusammengeschobenheiten von durchweg abenteuerlichem Charakter‹. In den Regionen des Bleistiftgebiets«, in: Text + Kritik 12  /  12a: Robert Walser, 4. Aufl. (Oktober 2004), S. 161–180, hier S. 176. 101 Robert Walser, »Tagebuchblatt (II)« [Vers und Prosa, März 1924], SW  VIII: Die Rose [1925], S. 86 – 88, hier S. 87.

Remigius Bunia

Vom Philister zum Fundamentalisten Mit guten Absichten Gewalt für alle –   der 11. September nach Schlingensief und Sloterdijk

Abgrenzungsfreiheit ohne Definitionshoheit In der Geschichte der Philistersemantik gibt es ein rekurrentes Motiv, das  – wenn die Metapher erlaubt ist – Sprengkraft besitzt. Wer nämlich nicht Philister ist, kann, darf oder gar muss Simson dafür bewundern, viele Philister bei seinem Selbstmordanschlag getötet zu haben. Auf den Künstler, den Gegner alles Philisterhaften, übt es Fas­zi­na­tion aus, wenn so viele Philister auf einen Schlag beseitigt werden. Doch ist zu­gleich der Künstler Botschafter der guten Sache; denn seit geraumer Zeit sind Künstler und Phi­lo­sophen als Kritiker und Mahner Teil des Establishments. Sie wer­ den gefördert und von den Massenmedien im Prinzip unterstützt – beispielsweise im französischen Mo­dell des Intellektuellen. Schon seit der romantischen Erfindung des ›Marsches durch die Institutionen‹ kann jeder Nichtphilister daher Aspirant auf eine einfluss­rei­che Beamtenstelle sein. Der 11. September brachte die Spannungen innerhalb dieser Semantik zu Bewusstsein. Karlheinz Stockhausen äußerte kurz nach dem Attentat folgenden Satz: »Was da geschehen ist, ist – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat.«1 Stockhausen erklärt seine eigenwillige Bemerkung damit, dass auch der Künstler versuche, »über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen«,2 doch dabei immer diesseits dieser Grenze bleibe. Etwas irritierend vergleicht er die Insassen der Flugzeuge mit Konzertbesuchern und sieht die zentrale Differenz im Einverständnis, das die Konzertbesucher erteilen, wenn sie eine Eintritts1 Karlheinz Stockhausen, in: Frankfurter Rundschau, 19.9.2001, Nr. 218, S. 19. Ich selbst habe eine Aufzeichnung wie folgt transkribiert: »Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.« Zitiert nach einem auf http:// www .danskmusiktidsskrift .dk / doku / stockhausen-16 sep2001 .mp3 abgelegten Tondokument. Die Aufzeichnung ist schon 2009 nicht mehr verfügbar gewesen. 2 Stockhausen (Anm. 1).

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karte kaufen.3 Stockhausen schwächt mit diesen Erläuterungen die Brutalität seiner ursprünglichen Äußerung keineswegs ab. Denn er macht darauf aufmerksam, dass ein Konzertbesucher zwar sein Einverständnis gibt, ein Konzert zu hören, aber mit dem Kauf der Eintrittskarte noch nicht verspricht, sich von der Darbietung hinreißen zu lassen. Erst bei der gelingenden Inszenierung, bei einem Kunstwerk, das Perfektion erreicht, so ließe sich idealisierend formulieren, wird ihm Gewalt angetan: Er wird genötigt, einem unabweisbaren Imperativ zum Genuss des Werkes zu folgen. Es liegt in der Tradition der Kunst der letzten 200 Jahre, dass ihr immer wieder eine Provokation der ›breiten Bevölkerung‹ gelungen ist, dass also ›die Menschen‹ zur Beschäftigung mit Phänomenen genötigt worden sind, denen sie nicht aus­ge­ setzt sein wollen. So wie es im Fußball oder im Sadomasochismus ein Einverständnis in be­stimmte mögliche Körperverletzung gibt, nimmt man daher als Besucher eines Konzerts seit dieser Zeit ein heftiges Erregtwerden – sei es aus Begeisterung, sei es aus Wut – in Kauf. In der Tat besteht also eine Strukturverwandtschaft der Alladres­sie­ run­gen in Kunst und in terroristischer Gewalt. Dies hat der 11. September plötz­lich sichtbar werden lassen: Kunst signalisiert durch eine antiphiliströse Selbst­be­stim­mung Gewaltbereitschaft, insofern sie sich bewusst ist, dass die von ihr ausgeübte, ihr ei­ge­ ne Gewalt an andere physische und psychische Formen der Gewalt grenzt. Das heißt, dass die Gewaltbereitschaft darin besteht, sich in der Nähe dieser Grenze aufzuhal­ ten und ein Umschlagen in nicht einwilligungsfähige Formen der Gewalt vielleicht in Kauf zu nehmen. Zugleich verpflichtet sie sich (meistens), diesseits dieser Grenze zu ver­bleiben. Was Stockhausens Diktum seine Unbehaglichkeit verleiht, ist einerseits seine all­ zu konkrete Gewaltbejahung und andererseits seine Gleichsetzung sehr unterschiedlicher Formen von Gewalt, der nicht einwilligungsfähigen des Mordes und der ein­ willigungsfähigen der Kunst. Die künstlerische Gewalt erscheint ihm als ›gute‹ Ge­walt, und sie bezieht aus dieser ethischen Qualität ihre Legitimation – nicht aus der Einwilligungsfähigkeit. Hierhinter verbirgt sich ein klassisches Problem jeder Macht- und Gewaltkritik: Ist die Gewalt im Namen des Guten gerechtfertigt? Auch der Ethik ist eine Gewaltnähe zu bescheinigen, die der Kunst ähnelt. Denn sowohl Kunst als auch Ethik adressieren wahllos alle Personen und fordern diese zu einem kon­for­men Ver­hal­ ten auf. Auch die Ethik berührt die Grenze zu nicht einwilligungs­fähiger Gewalt, um ihre Ziele durchzusetzen, wenn sie Legitimationsfiguren der Revolution, des Pro­testes und des Widerstandes gegen Unrecht aufruft. Jedem ethisch noch so gerechtfer­tigten Imperativ – mag er auch ohne psychische Nötigung und ohne physische Gewalt­an­ wendung auskommen – wohnt ein Moment des Zwanges inne. 3 Stockhausen: »Ein Verbrechen ist es«, gemeint ist der Terroranschlag, »deshalb, weil die Men­ schen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das ›Konzert‹ gekommen. Das ist klar« (Stockhausen [Anm. 1]). Er stellt in einer späteren Stellungnahme klar, dass er den Terroranschlag für eine »Untat« hält (Frankfurter Rundschau, 21.9.2001, Nr. 220, S. 21).

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In dieses Adressierungsschema klinkt sich auch das Attentat ein; aber es erzielt das konforme Verhalten durch physische und nicht einwilligungsfähige Gewalt. Auch das Attentat beruft sich auf gute Gründe und grenzt sich so etwa vom Amoklauf ab. Für das Problem der erschöpfenden Adressierung und der Verknüpfung von guten Absich­ ten und Gewalt hat die Philistersemantik Lösungen geboten. Simson ermordet mit ei­ nem Schlag eine Vielzahl unmittelbar unschuldiger Menschen – in einem Akt wahllosen Tötens, bei dem anwesende Philister nur aufgrund ihres Philisterseins zum Op­fer werden. Die Philistersemantik wird daher implizit aufgerufen, aktualisiert und auf ihre heutige Anwendbarkeit befragt, wenn Kunstwerk und Attentat miteinander ver­gli­chen werden. Die Semantik lässt die konkrete Zuordnung zum Philister volatil und verbie­ tet sogar die stabile Selbstzuordnung zum Antiphilistertum, aber sie gestattet die aus einem Grundsatz heraus betriebene Auslöschung aller Philister. Dabei wird indessen umso deutlicher, dass die Philistersemantik in eine Krise geraten ist. Schon der Ausdruck ›Philister‹ scheint immer weniger in Gebrauch zu sein. Für sein Verschwinden gibt es zwei strukturelle Gründe. Der erste liegt darin, dass  eine Adressierung qua Sein sich als grundsätzlich willkürlich entpuppt hat. Jede Adres­ sie­rung dieses Typs – ›als Jude (als Frau, als …) verhält man sich so und so‹ – birgt die Ge­fahr, ungerechte Grausamkeit zu legitimieren. Der zweite liegt darin, dass der all­zer­ stö­rende, sich auf Rechtschaffenheit berufende Impetus des Simson selbst zur phi­lis­ trö­sen Selbsteinsetzung herabgesunken ist. Die göttliche Einsetzung Simsons zum Zerstörer des Philisterbaus gleicht allzu sehr der göttlichen Mission eines Attentäters, der die Twin Towers zerstört.4 Die Selbstsicherheit, auf der richtigen Seite zu kämpfen, ist nunmehr selbst verdächtig geworden. Dass Grausamkeit gerecht sein kann, erscheint überhaupt fragwürdig.5 Der der Philistersemantik eingelassene Knoten von guten Absichten und Gewalt hat sich längst zu lösen begonnen. Im vorliegenden Beitrag sollen die beiden Ursachen für die Krise der Philistersemantik genauer in den Blick genommen werden. Es soll diskutiert werden, inwie­ weit es in Schriften der Gegenwart Anzeichen dafür gibt, dass Alladressierung, ethi­ sche Imperative und die Trennung von guten Absichten und Gewalt unmöglich – oder eben ›fundamentalistisch‹ – geworden sind. Unsere These ist, dass der Fundamentalist 4 Vgl. etwa John Carey, »A work in praise of terrorism? September 11 and Samson Agonists«, in: Times Literary Supplement, 6.9.2002, S. 15 f. Im World Wide Web findet sich die Diskussion an vie­len Stellen (vgl. etwa Neil Forsyth, »Suicidal Revenge«, in: The Literary Magazine 1.1 (2005), http://litencyc.com/theliterarymagazine/milton.php; Terry Glavin, »Samson as Suicide Bomber«, in: The Thyee, 6.4.2007, http://thetyee.ca/Entertainment/2007/04/06/Samson (mit Blick schwächer auf den 11. Sep­tem­ber und stärker auf die häufigen palästinensischen Selbstmordattentate in Israel); Stand: April 2009). Weitere Belege liefert Dagmar Börner-Klein in ihrem Beitrag in diesem Band (vgl. S. 190). 5 Die Tradition, sich sowohl eine »inumana crudeltà« als auch eine »pietosa crudeltà« vorstellen zu können, ist durch die Machiavelli-Rezeption befestigt worden (Niccolò Machiavelli, Il Principe / Der Fürst, übers. und hrsg. von Philipp Rippel, Stuttgart: Reclam 1995, S. 132 [Kap. XVII] u. 174 [Kap. XXI]).

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als Sozialfigur den Philister beerbt, da er derjenige ist, der nach wie vor alle adressiert, ethische Imperative ausgibt und aus guten Absichten heraus Gewalt anwendet. Modern ist der Fundamentalist, weil auch er weiß, dass Letztbegründungen nicht mehr möglich sind. Denn der Fundamentalist taugt zwar genauso wenig als Identi­ fi­ka­tionsfigur wie der Philister, aber der Fundamentalist lässt den Philister plötzlich in sanfterem Licht erstrahlen: als denjenigen, der sicher in sich und in seinem Phi­ lister­sein ruht. Dagegen befindet sich nicht nur der Fundamentalist in ständiger Be­ we­gung und muss sich in Höhlen verstecken, sondern auch der gegenwärtige Nichtfundamentalist muss sein Leben auf Mobilität – räumliche und soziale – einstellen. Doch die Asymmetrien gehen viel weiter. Ist Simson als Richter Israels derjenige, der Häuser zum Einsturz bringen darf, und als Gegner der Philister (der Palästinenser) als Held verehrt wird, ist es nun der Fundamentalist, der genau diese Position übernimmt und um der guten Sache willen zerstört und mordet oder zumindest aufwiegelt, damit aber für eine Tat verurteilt wird, zu der er selbst wieder seine Opfer nötigt, nämlich zur Verteidigung gegen ihn und damit zur neuerlichen Anwendung von Gewalt mit guten Absichten. Auf dieses intrikate Verhältnis von guten Absichten und Gewalt haben Chris­toph Schlingensief und Peter Sloterdijk einen Blick geworfen.6 Beide haben sich nach dem 11. September der Gewaltbereitschaft der Kunst, den Aporien der Alladressierung und der Unmöglichkeit einer imperativen Ethik zugewandt.7 Sie sehen, dass sowohl Gu­an­ ta­namo als auch Pazifismus nichts anderes als ein vergeblicher Versuch sind, alte Lö­ sun­gen zu aktualisieren. Schlingensief und Sloterdijk leugnen nicht den Philister in sich, sondern sie beginnen gerade umgekehrt, seinen Verlust in sich zu bedauern. Schlingensiefs Aktionen instruieren dabei vor allem deshalb, weil es ihm im­mer wieder gelingt, sie so zu gestalten, dass es zu öffentlichen Protesten kommt, dass also die künstlerisch erzeugte Erregung tatsächlich provoziert. Dabei vermeidet er je­doch einen direkten Übergriff der Kunst auf das Leben, markiert also die künstlerische Kom­munikation als Kunst. Er signalisiert sogar die Erdung seiner Kunst in einer Zu­ge­hö­rig­keit zum Establishment. Schlingensief weiß darum, dass seine Kunst als Kunst zwar nur wenige erreicht, aber seine Provokationen dennoch eine un­be­stimmte Öffentlichkeit berühren. In der Aktion Atta Atta verarbeitet Schlingensief nicht nur

6 Dass Sloterdijk den Zeitgeist genau beobachtet, ist selbst schon ein Topos (vgl. Christoph Ernst, Essayistische Medienreflexion. Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien, Bielefeld: tran­ script 2005, S. 406 – 416). 7 Damit liegt unser Schwerpunkt an einer anderen Stelle als an derjenigen ›kulturellen Zäsur‹, als die der 11. September 2001 zu werten sei, weil Gewaltdarstellung sich geändert habe. So jedenfalls Sandra Poppe, Thorsten Schüller und Sascha Seiler: »Vorwort«, in: dies. (Hrsg.), 9  /  11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009, S. 7.

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den 11. September, sondern auch das Adressierungsproblem von Kunst, also die Frage, wen die Kunst und wen die Provokation anspricht.8 Unter Schlingensiefs Kommentatoren wiederum ist Sloterdijk hervorzuheben, weil er nicht bloß wie viele andere eine Epochenschwelle im 11. September für mög­lich hält, sondern vielmehr auch er um seine Nähe und gleichzeitige Ferne zum Establish­ment weiß und dahinter ein Problem der Selbstklassifikation vermuten muss. Die Unter­ schei­dung von Affirmation und Kritik, die, wie wir noch sehen werden, die Phi­lis­ ter­semantik unauffällig grundiert, lässt sich auch aus seiner Sicht längst nicht mehr leichtfertig aufrechterhalten.9 Lautet sein neuer Imperativ Du mußt dein Leben ändern, so geht es ihm um eine Änderung, die Bewahrung verspricht.

Schlingensief Erste Spuren, die zu Schlingensiefs Projekt Atta Atta hinführen, finden sich in der Do­ ku­men­tation Nazis raus von 2002. Ein kleiner Teil der dort versammelten Dokumente ist auf Zeitpunkte nach dem 11. September 2001 datiert. Darunter findet sich ein Tage­ buch­eintrag von Carl G. Hegemann, in dem von dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center die Rede ist. Der Name »Atta« – Mohammed Atta – fällt nicht, aber Schlingensiefs Projekt wird durch zwei ähnlich klingende Ausdrücke ein­ge­kreist, nämlich atavistisch und attisch, die Hegemann auf auffällige Weise fallen lässt: Er beschreibt die Entwicklung der Protestbewegungen der 1960er Jahre, die sich gegen Kapi­ta­lis­mus und Bürgertum richteten, und konstatiert ihr Ende: »Der französische sog. Poststrukturalismus und die amerikanische (!) phänomenologische Soziologie wa­ ren Instanzen, über die sich dieser atavistische Glaube«, nämlich dass »Sozialismus =

8 Die Aktion selbst misslingt an ihrer Oberfläche, was, wie sich zeigen wird, nur folgerichtig ist. In einer Rezension zu Atta Atta heißt es abschließend: »Christoph Schlingensief, längst ein routiniert kalkulierender Berufsprovokateur, begnügt sich mit ein paar geborgten Gags und serviert ansonsten satte Langeweile. Die Waffe der Kunst ist hier höchstens ein Zahnstocher« (Irene Bazinger, »Sogar die Geranien sind trauriger Kunststoff«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.2003). 9 Dass dies so ist, wird inzwischen gemeinhin anerkannt. »Norm und Abweichung, Konformität und Dissidenz, Affirmation und Kritik sind Schlüsselbegriffe, um das Verhältnis zu beschreiben zwi­ schen den Dispositiven der Machtausübung und den Anstrengungen, sich ihnen zu widersetzen[.] […] Was aber, wenn die ›Anti-Disziplin‹ inzwischen selbst zur Norm geworden wäre?« (Marion von Osten, »Einleitung«, in: dies. [Hrsg.], Norm der Abweichung, Wien / New York: Springer 2003, S. 7–18, hier S. 7). Den »Drang, der uns treibt, das Zweideutige eindeutig zu machen«, beschreibt 1964 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt am Main / Basel: Stroem­ feld / Roter Stern 2002 [1964], S. 102. Heinrich analysiert die Logik des Neinsagens, die als völlige Ablehnung nichtssagend wird (vgl. S. 59 – 61).

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Wissenschaft = Wahrheit« sei, »langsam verflüchtigte.«10 Die Selbstinfragestellung der Bewegung wurde nach und nach Notwendigkeit – eine langsam gewachsene Not­wen­ dig­keit, die aber schlagartig spürbar wurde. Hegemann wendet sich dann dem 11. Sep­ tem­ber zu und konstatiert eine Gefährdung der Fähigkeit des Westens, sich selbst in Frage zu stellen, einer Fähigkeit, die man, wie er weiter ausführt, dem Theater ver­ dankt. Denn dieses sei »in der attischen Polis, wo es entstand, auch zu Kriegszeiten ge­pflegt«11 worden. Erfindet später Schlingensief das Wort ›attaistisch‹, so schwingen beide ähnlich klingenden Wörter mit. Der Titel Atta Atta erinnert einerseits an eine ata­vis­tische Sprachstufe, an eine Tier‑ oder noch im Bestfall an Kindersprache.12 Der Atta­is­mus ist andererseits lautlich unweit vom Attizismus, dem attischen Stil. Diesen zeichnet aus, dass er, so Quintilian, pressus und integer ist: knapp, dicht, eindeutig, ohne Schwulst, leicht verständlich. Wie ein Attentat? Ausgehend von diesen ersten Beobachtungen könnte man meinen, dass eine Analyse von Atta Atta über das Verhältnis von Aktion, Kunst und Selbstmordan­schlag Auf­schluss geben könnte. Doch trotz zweier Webseiten und einem Dokumentationsband – auf die wir uns hier stützen werden – findet sich über die Performance selbst keine Information.13 Das ist kein Zufall. Werden noch Schlingensiefs Nazis raus oder Chance 2000 in Büchern genau dokumentiert, so betreiben der Webauftritt von Atta Atta und das von Hegemann herausgegebene dokumentierende Buch dagegen eine Cha­rade. Die Webseite atta-atta.org ist eine einzige Zumutung – sowohl optisch als auch inhaltlich. Man muss nicht Philister sein, um sich an den schrillen Farben und an den fehlerhaften Verlinkungen zu stören. Gelb auf schwarz heißt es dort: »Diese Seite wird ständig aufgefüllt!«14 Gemeint sein dürfte, die Seite werde dereinst durch weiteres Ma­terial ergänzt. Nichts dergleichen indes ist in den vergangenen Jahren geschehen. Lo­bende Pressestimmen sagen aber nicht, was sie loben.

10 Torsten Lemmer in Nazis raus (im selben Band Christoph Schlingensiefs Nazis rein), hrsg. von Thekla Heineke und Sandra Umathum, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 153 (alle drei Zitate­ stücke). Die sic-Markierung ist von Hegemann. 11 Torsten Lemmer in Nazis raus (Anm. 10), S. 154. 12 Dies konstatiert auch Schlingensief, der »Atta Atta« mit dem »Dada« »aus der französischen Infantilsprache« vergleicht (vgl. Ausbruch der Kunst, hrsg. von Carl Hegemann, Berlin: Alexander 2003, S. 57; im Folgenden wird der Band mit der Sigle AA im Fließtext zitiert). 13 Hinzu kommen (wenige) Rezensionen der Aktion. »In einer rund neunzigminütigen Per­for­ mance rekonstruiert Christoph Maria Schlingensief, zweiundvierzig Jahre alt, als ›Sohn‹ seine kleinbürgerlichen Wurzeln, das elterliche Wohnzimmer samt Sofa, Stehlampe, Perserteppich sowie ›Mama‹, ›Papa‹, ›Onkel Willi‹, gespielt von Irm Hermann, Josef Bierbichler und Michael Gempart. In der Zeltstadt eines Campingplatzes überlegt er außerdem, ob es nach dem 11. September 2001 noch Kunst geben kann, ob Künstler Terroristen sind und wenn nein, warum nicht« (Bazinger, »Sogar die Geranien sind trauriger Kunststoff« [Anm. 8]). 14 Frame: http://atta-atta.org/html/header_defaultmasterborder.html [Stand: Juni 2007 u. September 2009].

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Dieser Zustand ist keine Panne, sondern dokumentiert den bizarren Zustand der Aktionskunst und veranschaulicht, dass sie ihr wichtigstes Weiterleben in der auf sie folgenden diskursiven Auseinandersetzung hat. Ähnlich wie Borges’ Erzählungen häu­ fig von Erzählungen handeln, die bloß skizziert werden, deswegen aber intensiver prä­ sent sind, so entfällt gerade in der Aktionskunst die Präsenz des Werks zugunsten sei­nes medialisierten Fortlebens. Genau dieser Frage wendet die Atta-Atta-Diskussion – auf rein ›akademische‹ Weise – ihre Aufmerksamkeit zu. Peter Weibel deutet es in Ausbruch der Kunst an: In der Radikalisierung wird die Aktion von der Handlungsanleitung zur Aktion ersetzt.15 Die Aktion ist in ihrem Vollzug nicht präsent. Es scheinen viele Parallelen zwischen Terrorakt und Aktionskunst zu bestehen, denn auch der Terrorakt entfaltet den Großteil seiner Wirkung nur dank seines me­ dia­len Nachlebens.16 Der Unterschied zur Aktionskunst scheint zunächst in der phy­ si­schen Wirkung der Gewalt zu liegen. Zwar kann auch Kunst diskursiv Schaden anrichten, doch es ist ihr untersagt, in ihrer Umsetzung selbst etwas zu zerstören oder je­manden zu verletzen.17 Wenn also das Atta-Atta-Buch Ausbruch der Kunst die Mög­ lich­keit thematisiert, von der Theaterbühne aus auf den Zuschauer zu schießen, wird diese Option einhellig zurückgewiesen. Dennoch kommt es bei der Philisterse­man­ tik auf diesen zunächst so wichtig scheinenden Unterschied nicht an.18 Worauf es ankommt, ist ganz allein der Adressierungserfolg, wie Schlingensief bemerkt: Darum geht es bei diesem »ATTA ATTA«, um die Idee des Verrats[.] Also selbst zu der Einsicht kommen: Ich wollte Millionen erreichen und bin mit 50 zufrieden. Ich bin sogar allein vorm Spiegel zufrieden. Habe ich mich jetzt verraten oder habe ich mich gefunden? Ich habe das Recht auf eigene Bilder, aber muss ich deshalb auch noch in den Jumbo-Jet steigen? (AA 22) Der Attentäter erreicht ein Milliardenpublikum, der Künstler versammelt nur 50 Zu­ schauer.19 Der Künstler muss angesichts dieser Publikumsbilanz ganz ehrlich zu sich sein, indem er sich selbst verrät. Freilich könnte ein Künstler die Aufmerksamkeit der 15 »Wir nehmen die Gebrauchsanweisung, lassen aber den Gebrauchsgegenstand weg. Kunst besteht nur aus Handlungsanweisungen: […] Das war schon 1960 so. […] Erst der Akt selbst, die Ausführung der Gebrauchsanweisung durch den Betrachter, ist das Kunstwerk« (AA 100 f.). 16 Zu Marcel Duchamp vgl. AA 96. 17 Dabei lassen sich Fälle nennen, in denen Künstler zu persönlichen Angriffen übergingen (z. B. im Streit zwischen Heinrich Heine und Ludwig Börne) oder andere Personen bloßstellten (z. B. Maxim Biller in seinem Roman Esra). 18 Kunst verpflichtet sich spätestens seit Baudelaire immer wieder auf Amoralität. Bei Adorno schließ­lich heißt es: »Der Amoralist dürfte endlich sich gestatten, so gütig, zart, unegoistisch und auf­ ge­schlos­sen zu sein, wie Nietzsche damals schon« (Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 [1951], S. 122). 19 Bei Stockhausen erscheinen auch die Ermordeten als erste Rezipienten: »Da sind also Leute, die sind so konzentriert auf eine Aufführung, und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt,

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Massenmedien (für einige Tage) auf sich ziehen, wenn er anfinge, seine Zuschauer zu erschießen; weil die künstlerische Gewaltbereitschaft in tatsächliche Gewalt umschlüge, der Mord die Kunst verriete und außerdem das verbleibende potenzielle Pu­ bli­kum sich nicht mehr der eigenen Gefährdung aussetzte, verlören die Kunstwerke des Künstlers diejenige Aufmerksamkeit, die der Künstler als öffentliche Person mit kunstwidrigen Mitteln absorbierte. Diese Einsicht ist weniger banal, als auf den ers­ten Blick scheinen mag. Denn sie verweist darauf, dass der Grat zwischen Publikums­er­ folg und künstlerischem Anspruch schmal ist, dass ähnlich wie der Gegensatz zwischen Kritik und Affirmation derjenige zwischen wahrer Kunst und ›bloßer Unterhaltung‹, zwischen Anspruch und Klamauk weniger scharf ist, als mancher ›Kunstkonsument‹ gelegentlich hoffen mag. Selbstverrat und Selbstfindung liegen viel enger beieinander, als die Selbstbeschreibung der Kunst eingesteht. Dass die Kunst sich allein durch ihre Adressierung potenziell aller mit der ethi­ schen Zulässigkeit jedes Imperativs beschäftigt – auch des Imperativs, sich der Kunst auszusetzen –, stellt die Werbung für Atta Atta klar. In der Aufführung sollen, so erklärt die Werbung, Kunst und der 11. September behandelt werden.20 Doch es schließt sich an diese Bemerkungen eine grundsätzliche Notiz an, mit der konstartiert wird, dass ein wichtiger Pfeiler der westlichen21 Ethik schiefsteht: Campingplatz-Weisheit: Bitte verlassen sie die Campingplatztoilette so, wie sie sie vorzufinden wünschen. – Ein Vergnügen für alle Säue, die sagen: ich lebe gerne im Schmutz. Ich liebe den Schmutz und die Scheiße. Wunderbar! Das verspreche ich doch gerne. Ich schmiere die Campingplatztoilette gerne ein, und verlasse sie, wie ich sie gerne hätte! (Mit diesem Satz, einmal ausgesprochen, ist die ökonomische Rationalität am Ende!)22 Die Verbindung zwischen dieser Einlassung und der Frage der Kunst lässt sich nur einsehen, wenn man sich noch einmal vor Augen hält, dass Alladressierung (»alle Säue«, meine Hervorhebung, R. B.) und die Verbindung von guten Absichten und Gewalt in einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten« (Stockhausen [Anm. 1]). 20 »Campingplatz – Lageplan: Über die spezifischen Waffen der Kunst gibt es unendliche Kon­tro­ versen, auch darüber, ob Kunst überhaupt über Waffen verfügt. Ist nicht gerade waffenlose Wehrlosigkeit eins ihrer wichtigsten Merkmale, ist Kunst nicht eine Art von ›Blödigkeit‹, wie Hölderlin vermutete? Hat Kunst einen klaren Rahmen, der es verbietet, etwa das Ereignis des 11. September als Kunst zu bezeichnen?« (www.schlingensief.com/projekt.php?id=t039 [Stand: 3.4.2009]). 21 Das Wort westlich ist alles andere als unproblematisch. Speziell die Annahme eines ›kohärenten Kulturraumes mit mehr als 2000-jähriger Geschichte‹ lässt sich mit sehr guten Gründen angreifen (vgl. Yoko Tawada, »Ist Europa westlich?«, in: Trajekte 12 [2006], S. 34 –38). Aber man kann sich auf die – ja durchaus beobachtbare – Semantik des Westlichen beziehen, ohne dass man das Westliche ontologisiert und seine Funktionalisierung ignoriert. 22 www.schlingensief.com/projekt.php?id=t039 [Stand: 2.6.2008].

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genau diejenigen Topoi sind, die Kunst und Terrorakt teilen. Geht Schlingensief auf die Ethik ein, so weicht er dem Thema nicht aus, sondern benennt den Nexus. Es ist keineswegs so, dass Schlingensief mit seiner Provokation auch um bloß einen Deut den kategorischen Imperativ vereinfacht oder verfälscht.23 Er berücksichtigt vielmehr, dass Individualität grundsätzlich auch heißt, dass man individuell unterschiedliche Imperative ans Kollektiv formulieren kann,24 zumal weder klar ist, ob bestimmte Gesetze den gewünschten Effekt hervorbringen können,25 noch, ob überhaupt ein bestimmter Effekt als kollektiv erwünscht anzusehen ist.26 Der kategorische Im­pe­rativ ig­noriert die Individualisierung der Präferenzen völlig, obwohl der Rationalismus, der diese radikale Individualisierung der vergangenen zwanzig Jahre hervorgebracht hat,27 vor zweihundert Jahren auch die Kant’sche Ethik ermöglicht hat. Schlingensief, als »Berufsprovokateur«28 bezeichnet, verkörpert in besonderem Maße die gesellschaftlich geschätzte Subversion29 und betreibt sie als ethisches Projekt: 23 Für die schon klassische Kritik am kategorischen Imperativ, die das nüchternere Pendant zu Schlin­gen­siefs ist, vgl. Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart: Reclam 2003 [1953], S. 41 f. – Die totale Adressierung von Kants Ethik problematisiert und analysiert ausführlich David Martyn, Sublime Failures. The Ethics of Kant and Sade, Detroit: Wayne State UP 2003. 24 Seit dem 18. Jahrhundert fordert und fördert man nicht nur Bildung für alle, sondern »auch die Möglichkeit der devianten Sozialisation und der Nichtübertragung von Kulturgut« (Niklas Luh­ mann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 149 –258, hier S. 164). Im Beitrag von Walter Erhart in diesem Band wird deutlich, dass die De­ vianz­produktion mit der Genieästhetik eng verbunden ist und das Humboldt’sche Bildungsideal nicht weniger hervorzubringen sucht als den individuell devianten und gleichzeitig dem Kollektiv ver­ ant­wortlichen Staatsbeamten. Schlingensief zeigt – am Ende der Philistersemantik und am Ende des Humboldt-Ideals –, wie ein solcher Beamter aussieht. 25 Die Rechtswissenschaft bemerkt diesen Sachverhalt sehr spät, wie Towfigh zeigt (vgl. Emanuel Vahid Towfigh, »Komplexität und Normenklarheit – oder: Gesetze sind für Juristen gemacht«, in: Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods 22 [2008]). 26 Dieses Paradox wird von Ralf König in seinem Cartoon Archetyp diskutiert. Noah erscheint als islamistisch markierter Fundamentalist, der von Gott die Vernichtung aller Menschen außer seiner Familie fordert – um der Menschheit willen. 27 Für den Zusammenhang von radikaler Individualisierung und auf Dauer gestelltem Protest vgl. Martin Doll, »Für eine Subversion der Subversion. Über die Widersprüche eines politischen In­di­vi­ du­alismus«, in: Thomas Ernst (Hrsg.), SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2008, S. 47–68, hier S. 59 f. 28 Bazinger, »Sogar die Geranien sind trauriger Kunststoff« (Anm. 8). 29 »Subversion« lässt sich als Begriff der politischen oder theologischen Theorie schon seit dem 18.  Jahrhundert regelmäßig finden. Als Bezeichnung für praktische Umsturzversuche ist er aller­dings seit dem 14. Jahrhundert im Englischen gelegentlich belegt (vgl. Doll, »Für eine Subversion der Sub­ version« [Anm. 27], S. 47). Mit dem Begriff sind zunächst Umsturz und Untergang (etwa des rö­ mi­schen Reiches oder – nach der Revolution – der französischen Monarchie) konnotiert. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts spätestens ist er beliebt, um auch positive Umsturzbewegungen sei es der kapitalistischen, sei es der kommunistischen Regimes anzuzeigen, vor allem solche, die im Un­ter­grund operieren. Der Begriff der Subversion bezeichnet das von einem sozialen Programm

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»Provokation ist ein Mittel für Doofe.«30 Schlingensief wendet sich mit dieser im Interview zu Ausländer raus geäußerten Bemerkung eigentlich gegen die Taktiken von Österreichs FPÖ, lässt aber doppeldeutig durchscheinen, dass sich nicht nur Doofe der Provokation bedienen, sondern Provokation das Mittel der Wahl ist, um die Doofen zu adressieren. Auch hierin ist er doppelbödig, denn indem er eine Adressierung der Doofen ausspricht, adressiert er ja gerade die Nichtdoofen, die meinen, das Spiel zu verstehen. So hat er sich beispielsweise in dem Projekt Chance 2000 an der Bundestagswahl 1998 beteiligt und damit eine Verunglimpfung des bundesdeutschen Parlaments billigend in Kauf genommen. Doch es hat trotz der Provokation nicht nur Schlingensiefs künstlerische Reputation keinen Schaden davongetragen, sondern er ist nach der Inszenierung des Parsifal in Bayreuth sogar auf bildungsbürgerliche, ja bourgeoise Weise geadelt. Die ethische Alladressierung gelingt nicht in dem Sinne, dass alle Schlingensiefs ethischen Rat zur Kenntnis nehmen. Aber sie verschafft Re­pu­ ta­tion, denn sie richtet sich auf eine Öffentlichkeit, die auf kritische Lektüre geeicht ist und die kaum anders kann, als auf die doppelbödige Kritik affirmativ zu reagieren. Insofern überraschen die Ehrungen für Schlingensief wenig, da in ihnen, geradezu symbolisch in einer Biographie verdichtet, die Entwicklung der Semantik westlicher Freiheit und ihrer Aporien ihren Ausdruck findet. Die noch aus Sicht der Frankfurter Schule anwendbare Unterscheidung zwischen Affirmation und Kritik kollabiert, weil Kritik insofern affirmativ ist, als sie westliche Kulturtechnik geworden ist,31 und weil legitimierte Streben nach Umsturz durch das Individuum; umso mehr verwundert es, dass es keine Bezeichnung für die entsprechende Sozialfigur gibt, denn der – eigentlich naheliegende – Re­vo­lu­ tio­när fügt sich traditionell ausschließlich dem kommunistischen Programm (vgl. Maren Lehmann über »Revolution als Beruf« in diesem Band). Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Subversion schließlich den Charakter einer universell alle westlichen ›Bürger‹ verpflichtenden Praxis an­ge­ nommen. Dass ›Subversion‹ ein mit ›Kritik‹ verwandter Begriff ist, zeigt ein Aufsatz, in dem es um Kulturkritik geht, dessen Titel aber ›Affirmation‹ und ›Subversion‹ gegenüberstellt: Richard Münch, »Zwischen Affirmation und Subversion. Populärkultur im globalen System«, in: Caroline Y. Robert­ son und Carsten Winter (Hrsg.), Kulturwandel und Globalisierung, Baden-Baden: Nomos 2000, S. 137–152. – Eine andere Gegensemantik ist diejenige des Anarchismus, die allerdings zugleich eine politische Richtung mit konkreten Zielen und Programmen ist. Der Anarchismus ist im Gegensatz zur Subversion spezifisch. 30 Schlingensiefs ausländer raus. Dokumentation von Matthias Lilienthal und Claus Philipp, Frank­ furt am Main: Suhrkamp 2000, S. 100. 31 Die Paradoxie der affirmativen Kritik hat auch Luhmann erahnt und beschrieben, als er sich 1986 mit ›gewöhnlicher‹ antiphiliströser (kritischer) Kritik beschäftigt hat (vgl. Niklas Luhmann, »Alter­native ohne Alternative. Die Paradoxie der ›neuen sozialen Bewegungen‹«, in: ders., Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hrsg. von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 [1986] , S. 75 –78, S. 76). Mit besonderer Berücksichtigung der BRD: »Wozu wir Adornos Versuche, ein ungemildertes Bewußtsein der Negativität festzuhalten, verwenden konnten, das war eben dies: Nein zu sagen, Negation überhaupt erst zu formulieren. Und weiter: Negation als zentralen Mechanismus, sagen wir ruhig: der Sozialisation in der Bundesrepublik zu etablieren. Daran haben die nicht abreißenden Jugend- und Protestbewegungen fortgewirkt: das fatale Schema zu zerstören,

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Affirmation insofern immer auch andere ›Diskursteilnehmer‹ schilt, indem sie die Kri­ ti­ker unsachgemäßer Kritik zeiht.

Sloterdijk In der Atta-Atta-Dokumentation erklärt der Kunstprofessor und Philosoph Peter Slo­ ter­dijk, die Kunst sei nach dem 11. September in der Pflicht: »Man muss wieder ein­mal versuchen, angesichts einer von dem kollektiven Wahnsinn erfassten Durchschnittspresse, das, was Künstler wissen, zum Ausdruck zu bringen. Man sollte noch einmal den Versuch dieser Konstellation von Vernunft und Verzweiflung unternehmen« (AA 57). Vernunft und Verzweiflung schließen einander keineswegs aus, sondern die Ge­schichte der Vernunft ist immer auch eine der Verzweiflung über die Welt, wie sie ist. Die Verzweiflung bringt den politischen Willen zur Veränderung hervor. Das von allen Diskutanten, auch Sloterdijk, immer wieder beschworene griechische Theater führt seit alters vor Augen, dass bisweilen Schicksal und Götter entscheiden – doch die Men­schen gerade in ihrer Verzweiflung sich der Vernunft nicht verschließen dür­fen. Auf dem Spiel steht der Erhalt einer plausiblen ethischen Gesinnung, die der ra­tio­na­ lis­ti­schen Tradition entspringt und die nicht aufgegeben werden kann, selbst wenn sie sich inzwischen herausgefordert sieht. Sloterdijk leugnet keineswegs, dass der 11. September zuvörderst einen Einschnitt in die politische Geschichte des Westens bedeutet, nur sieht er diesen Einschnitt in der Veränderung des westlichen Selbstverständnisses (und deshalb konstatiert er einen Ef­fekt auf die Kunst). Genauer ist der 11. September ein Datum, das für ihn auf einschneidende Weise keinen epochalen Einschnitt bedeutet.32 Seiner Auffassung nach än­derte sich nämlich nicht, wie Politik und Massenmedien verkündeten, die Be­dro­ hungs­lage der Welt, sondern das Selbstverständnis des Westens wurde an einem entscheidenden Punkt berührt, nämlich in der Selbstsicherheit, das Richtige im Namen des Guten tun zu können. Damit vermutet Sloterdijk, dass die Gegenwart vor dem ethi­schen Problem steht, das auch Schlingensief herausgestellt hat: Wie lässt sich ein Im­pe­ra­tiv formulieren, wenn sich ein Imperativ ethisch aber verbietet? Gerade wich­ tige Ergebnisse von Vernunft und nicht von Verzweiflung, nämlich die Freiheits­garan­ tien und der Habeas-Corpus-Schutz, die am sinnfälligsten in Guantanamo verletzt daß Erwachsenwerden bedeute, sukzessive vollkommen einverstanden zu sein (die ›Identität‹, die da­ bei herauskäme, läßt sich ohne Mühe pathologisch nennen)« (Michael Rutschky, »Erinnerungen an die Gesellschaftskritik«, in: ders., Zur Ethnologie des Inlands, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 [zuerst im selben Jahr im Merkur erschienen], S. 182 –194, hier S. 188). 32 Zu den Eigentümlichkeiten der westlichen Art und Weise, sich zu historisieren, vgl. Bruno Latour, Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique, Paris: La Découverte 2006 [1991  /  1997]; Frank Kermode, The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction, Oxford: Oxford UP 2000 [1966].

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worden sind, suchen plötzlich händeringend nach Verteidigern unter den Demo­kra­ ten selbst.33 Mehr noch: Sloterdijk sieht eine alltägliche Bedrohung der Denk­frei­ heit in etwas anderem. Eigenwillig vergleicht er die Künstler, die im Ersten Welt­krieg desertiert haben, mit denjenigen, die sich heute der gedanklichen Kontrolle ent­zie­ hen, und versucht, die Instanzen zu benennen, die diese Kontrolle ausüben, die also Imperative ausgeben: Nun muss man sich fragen: Was sind heute die Einberufungsbefehle? Sie wer­ den nicht in Form von Briefen vom Kreiswehrersatzamt verschickt, son­dern kommen z. B. aus dem Mund des Innenministers, der Intellektuelle de­nun­ ziert, wenn sie nicht den gewünschten amerikafreundlichen Ton treffen. Sie kommen von dieser sich doch mehr und mehr gleichschaltenden Presse und aus vielen anderen, subtileren Instanzen. (AA 85) Doch was sind die vielen anderen, subtileren Instanzen? Und wenn es so viele In­ stan­zen sind, die man vielleicht gar nicht so leicht bemerkt, wie kann man noch da­ von sprechen, dass man in eine bestimmte Richtung gelenkt wird? In welcher Armee kämpft man, wenn man viele Einberufungsbefehle zugleich erhält? Wie denkt Sloter­ dijk eine ›Gleichschaltung‹, die aber nicht von einem Reichs­pro­paganda­minis­te­rium, sondern von vielen ungleichen Stimmen initiiert wird? Sloterdijk sieht, dass zu klä­ren ist, wie ethische Imperative sich adressieren. In diesem Zusammenhang unterstellt er hier zunächst die Existenz subtiler Instanzen, ohne sie zu benennen oder be­nen­nen zu können. Zwar ist diese seine Bemerkung eine Ungenauigkeit – insofern ist mehr Verzweiflung als Vernunft im Spiel –, da Sloterdijk allzu schlicht zwischen den Guten und den Bösen scheidet und Ausdrücke wie ›Gleichschaltung‹ mit allzu wenig Um­sicht ver­wen­det. Doch verdeutlicht er, dass viele Imperative nebeneinander bestehen, ohne dass gesagt werden kann, wer sie kontrolliert. Auch Sloterdijk wird wissen, dass der Innenminister nicht dekretieren kann, was affirmiert und was kritisiert wird. Und er weiß an anderen Stellen durchaus, dass auch über amerikakritische Denker gesagt wer­ den kann: »Die Intellektuellen lassen sich einladen und zitieren sich gegenseitig.«34 So heißt es in der Abhandlung Zorn und Zeit, die sich mit den Folgen des 11. September und des Falls des Kommunismus beschäftigt. In Zorn und Zeit geht Sloterdijk nicht länger davon aus, dass Vernunft und Verzweiflung sich gegenüberstehen, sondern beleuchtet das Verhältnis, das Vernunft und Zorn zueinander unterhalten. Er verfährt damit deutlich subtiler als in der Do­ku­men­ 33 »Das kann übrigens auch Ihnen allen hier passieren, weil in diesen neuen Rechtsvorschriften vorgesehen ist, dass aus jedem Land auf dieser Erde Leute, die die Vereinigten Staaten von Amerika gar zu wenig lieben, ohne Angabe von Gründen, ohne Konsultation der Alliierten herausgegriffen und nach Guantanamo gebracht werden können« (AA 62 f.). 34 Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 283; im Folgenden wird das Buch mit der Sigle ZZ im Fließtext zitiert.

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ta­tion zu Atta Atta, weil er diejenigen Strategien der Vernunft benennt, die ermöglichen, Zorn zu bündeln und einzusetzen. Seine Analyse behandelt auf diese Weise die Schwierigkeit, zwischen Affirmation und Kritik zu unterscheiden. Nicht zu­fäl­lig taucht der Philister in diesem Zusammenhang wieder auf, um einen bloß ehe­ma­li­ gen Feind zu bezeichnen: den Kommunismus. Der Kommunismus ist nämlich ein massives Experiment, im Namen der guten Sache Gewalt auszuüben; der Kommunismus hat alle, die Proletariat sind,35 gleichermaßen adressiert und die Kopplung von guten Absichten und Gewalt fast offen praktiziert. Sloterdijk setzt sich intensiv mit der Frage auseinander, wie mit Zorn, Gewalt­ bereit­schaft und tatsächlicher Gewalt ›gehaushaltet‹ wird. Sein Blick richtet sich auf die Ökonomie des Zorns und auf die Möglichkeiten, Zorn zu sammeln. Dies wird not­wen­dig, wenn man den gespeicherten Zorn – als eine Art Kapital für radikale Gewalt – zur Veränderung der Welt ohne Rücksicht auf Partikularbefindlichkeiten nut­ zen will. Eine langfristige Anlagemöglichkeit für Zorn bot über einen großen Zeit­raum hin­weg der Kommunismus, und der Islamismus, der Terrorismus sowie sämt­liche ak­tu­elle Varianten des Fundamentalismus lösen ihn ab. Allerdings sind sie nicht in  der Lage, wie der Kommunismus einen dauerhaften Zornspeicher zu schaffen. Sie un­ter­scheiden sich grundlegend in ihrer Ökonomie der Zornessammlung, indem sie schnell in­ves­tie­ren und die Verschwendung nicht scheuen. Sie agieren im Namen des Guten, aber sie streben keine Utopie und überhaupt keine sehr konkrete politische For­de­rung an; die Gewalt selbst wird zum Ausdruck des Guten, das sein Symbol im Mär­ty­rer­tod findet. Sloterdijk behauptet damit, dass derzeit der Fundamentalist den Kommunisten – und das heißt: den Philister – ablöst, aber dessen Erbe ausschlägt und sich der alteuropäischen Ökonomie verweigert. Der Ausdruck ›Philister‹ begegnet bei Sloter­dijk zwei Male. An der einen Stelle verweist er »auf die historischen Quellen und Bestandteile des realsozialistischen Philistertums« (ZZ  209), nämlich Lenins Begeisterung für preußische Bürokratie.36 An der anderen heißt es: »Dem Kommunismus an der Staats­macht war die Befriedigung des philisterhaften Enteignungsrauschs im ganzen stets viel wichtiger als die Freisetzung der Wertströme« (ZZ 58). Der Kom­mu­nis­mus ist – da­ran hat Sloterdijk keinen Zweifel – eine Variante des westlichen tech­ni­sier­ten Modernismus (vgl. ZZ 348, aber auch ZZ 333). Er kann sogar als dessen Radi­ka­li­sie­ rung begriffen werden, insofern er alle Lebensbereiche der Politik und einer ver­nünf­ tigen Sprache zu unterwerfen versucht hat. Wenn sich Sloterdijk vom phil­is­ter­haf­ ten Kommunismus distanziert, dann richtet er sich – in einer Denkbewegung, die in vergleichbarer Weise Nietzsche oder den Romantikern eigen ist – auch gegen die Annahme, mit scharfem Nachdenken und guter Bürokratie ließen sich zentrale Pro­bleme des Gemeinwesens lösen; und gerade die rationalistische Moderne hat kein über35 Vgl. hierzu den Beitrag von Maren Lehmann über »Revolution als Beruf« in diesem Band. 36 Vgl. auch hierzu den Beitrag von Maren Lehmann über »Revolution als Beruf« in diesem Band.

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zeugendes ethisches Denkgerüst aufbieten können. Genauso wenig favorisiert Sloter­ dijk die Förderung genialischer punktueller Einfälle als Strategie. Auch liegt ihm ein Lob des Anti-Rationalismus fern. Will man diese Kritik in anderen Worten als denjenigen Sloterdijks fassen, so ließe sich formulieren, dass die rationale Urteilsfähig­keit eine unter mehreren kognitiven Fähigkeiten bildet, eine, die nicht nur die Markt­wirt­ schaft und die Wissenschaft beherrscht, sondern gleichermaßen die Katholische Kirche und den Kommunismus,37 dass sie aber, wenn sie zur Ideologie gerinnt, das Reali­täts­ prinzip verletzt und die menschlichen Fähigkeiten zu außervernünftiger Kognition nicht beansprucht – mit fatalen Folgen. Sloterdijk sieht auf diese Weise eine Konvergenz zwischen politischer und künstlerischer Praxis auf der einen Seite und philisterhaftem und antiphiliströsem Im­pe­ tus auf der anderen Seite. Wenn er Groys’ Studie Gesamtkunstwerk Stalin (ZZ 265) anführt und den Islam als religiöses Ready-Made bezeichnet (ZZ 345), dann rücken beide in die Nähe der Aktionskunst, dann konkurrieren Kommunismus und Islamismus mit der Kunst. Sie sind insofern beide philiströs, als sie sich selbst formale Regeln auferlegen (im Falle von Kunst und Religion) oder Bürokratie schaffen (im Falle von Politik); sie sind insofern aber auch gegen alles Philisterhafte gerichtet, als sie gelegentlich ihre eigenen formalen Regeln zu brechen haben und in vielen Fällen die eigens errichtete Bürokratie zu übergehen – wenn nicht: zu eliminieren – gezwungen sind. Ohne sie ausdrücklich zu benennen, setzt Sloterdijk in seinen Überlegungen eine Veränderung gegenüber der Philistersemantik voraus. Dabei geht es ihm um die­je­ nige Differenz, die spürbar wird, wenn die moderne Kunst sich (mit guten Absichten) ethisch und politisch auflädt, aber den Terrorismus verurteilt. Der Verweis auf den Kommunismus stellt klar, dass eine beständige Kritik an der Welt, wie sie ist (nämlich kapitalistisch), zu einer genauso beständigen Selbstaffirmation werden kann. Das Antiphilistertum des Kommunismus schlägt in Philistertum um. Gleiches gilt für die Kunst seit 1800 bis ins späte 20. Jahrhundert hinein: sie predigt eine kritische Hal­ tung gegen alles und affirmiert darin sich und den ›Kunstbetrieb‹. Selbst wenn die Ro­ man­tiker und Nietzsche gesehen haben, dass der Antiphilister selbst philiströs wer­den muss, besteht erst mit dem 11. September der Zwang dazu, diese – ohnehin seit dem ›real existierenden Sozialismus‹ im Niedergange begriffene – Semantik endgültig abzulösen. Denn der Terrorakt zeigt, dass Kritik ohne Anerkennung der ihr inhä­ren­ten Affirmation immer noch möglich ist; ein Politiker wie der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily demonstriert, dass Affirmation ohne die ihr inhärente Kritik immer noch präsentiert werden kann. Die Kunst bietet sich als Ausweg an, gerade weil sie in der romantischen und nietzscheanischen Tradition gelernt hat, diese Inhärenz – diese Aporie – zu reflektieren. Erhebt sie aber die Inhärenz zum Programm, kann sie sich nicht mehr leichtfertig zum Antiphilistertum bekennen, sondern lässt es hinter

37 Zur Nähe zwischen Kommunismus und Katholizismus in Sloterdijks Denken vgl. ZZ 333.

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sich zurück. Aus einer Aporie wird ein Programm: Affirmation muss kritisch sein, und Kritik muss die Gesellschaft affirmieren. Wenn Kunst, Religion und Politik der Philistersemantik zugunsten einer Semantik der affirmativen Kritik und kritischen Affirmation überwänden, bestünden weit we­ni­ ger ethische Probleme. Dies ist Sloterdijks Vision einer dezidiert nicht-utopischen und nicht-ideologischen Zukunft, die allerdings gegenwärtig durch Fundamentalismen be­ droht ist, sei es in radikalislamischer, sei es in radikalkapitalistischer Form. Als Fun­da­ men­talist geriert sich dabei derjenige, der an kritischer Kritik oder affirmativer Af­fi r­ mation festhält.38 Sloterdijk deutet dabei den Fundamentalismus als die »Bereitstel­lung von Rollen, durch welche große Zahlen potentieller Akteure in den Stand ver­setzt wer­ den, […] von der Theorie zur Praxis überzugehen – eher noch von der Frustration zur Praxis« (ZZ 343). Was soll fundamentalistische Praxis sein? Wo verortet Sloterdijk die Grenze, an der Meinungsbeschränkung als Praxis anfängt? Wenn er über ›amerikafeindliche‹ Töne und über Innenminister spricht, zeichnet er die Fronten schärfer, als er es an anderen Stel­len ausführt. Die Meinungsbeschränkungen, die die Amerikafreunde und die die Amerikafeinde ausüben, die die Globalisierungsgegner und die die Innenminister erwirken, gleichen einander, gerade das wird bei Sloterdijk sichtbar, strukturell. Denn jede Meinungsbeschränkung ist fundamentalistisch insofern, als sie eine Meinungskundgabe und damit eine Lebensäußerung aus guten Absichten heraus mit Gewalt oder ihrer Androhung unterdrückt. Die Ethik – jede gute Absicht – verlangt eine ver­ nünf­tige Erklärung39 und wird in ihren Begründungsfiguren totalitär.40 Auch der Fun­ da­men­talist braucht in diesem Sinne eine Theorie; gerade das Bemühen um Le­gi­ti­ mation ist der Schritt von der Praxis zur Theorie. Falls der Fundamentalist tat­säch­lich als Nachfolger des Philisters antritt, dann kann er jedenfalls nicht schlicht als der­je­ nige beschrieben werden, der von der Theorie zur Praxis übergeht. Im Folgenden wol­ len wir uns einer Auseinandersetzung mit der Semantik des Fundamentalismus wid­ men, die sich zwar auf die Lektüren von Schlingensief und Sloterdijk einlässt, ihnen aber nicht mehr folgt.

38 Daher ist Doll zu widersprechen, der behauptet, eine Subversion der Subversion sei nötig, um wie­der zu authentischem Protest zu kommen (vgl. Doll, »Für eine Subversion der Subversion« [Anm. 27], S. 66). 39 Nur das Recht erlaubt eine andere Option: »Weder Ethik noch Vernunft können diese Tiefenlage der Rechtsfunktion je erreichen, weil sie beide sich zu stark mit erwünschten Resultaten solidarisieren müssen« (Niklas Luhmann, »Konflikt und Recht«, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 [1981], S. 92 –112, hier S. 105). Die Ethik kann das Böse nicht ›resozialisieren‹ und »kann es nicht verbessern, man hat es auszuschalten« (Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 251). 40 Vgl. Martyn, Sublime Failures (Anm. 23), S. 167 u. 203.

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Fundamentalismus Der Fundamentalist betritt die Bühne der Sozialfiguren am Anfang des 20. Jahr­hun­ derts, genauer in den 1920er Jahren.41 Mit diesem Ausdruck bezeichnet zuerst ein ra­di­kal­konservatives protestantisches Milieu in den USA sich selbst. Recht bald gerät jedoch der Fundamentalist ins Zwielicht. Der Ausdruck verallgemeinert sich und wird auf vielfältige religiöse Strömungen anwendbar, später aber auch benutzt, um etwa Stefan George einen ästhetischen Fundamentalismus42 zu attestieren. Die philo­ so­phi­sche Strömung des Fundamentalismus, die seit den 1960er Jahren existiert und der analytischen Schule zugerechnet werden kann, wird aus post­struk­tu­ra­lis­ti­scher Per­spek­tive als ›fundamentalistisch‹ abgetan.43 In solch unterschiedlichen Kon­tex­ten schlägt der Fundamentalismus von einer positiven Selbstbeschreibung in eine ne­ga­tive Fremd­be­schrei­bung um. Insgesamt ist der Fundamentalismus als moderne Variante des Antimodernismus beschrieben worden.44 Er trägt so einen Selbstwiderspruch in sich, der strukturell dem ›alten‹ antiphiliströsen Impetus entspricht. Im Kern richtet er sich gegen etwas, auf dem er selbst beruht. Der Fundamentalismus zeichnet sich nun durch die Art und Weise seines Umgangs mit dem Selbstwiderspruch aus, also dadurch, welches Paradoxiemanagement er wählt. Der Fundamentalist verbirgt oder verbietet die Paradoxie; der Antifundamentalist hingegen gewährt ihr die semantische Entwicklung: die Paradoxie darf sich sozusagen ausleben. Der Fundamentalist beerbt sowohl den Phi­lister als auch den Antiphilister, indem er die Möglichkeit von Setzungen (nicht zuletzt Seins­ setzungen) annimmt; er ist daher auf das angewiesen, was man bis heute mit ei­ni­gem Recht als Ideologie bezeichnet. Der Antifundamentalismus hat hingegen das Problem, sich nicht nach strengen Regeln abgrenzen zu können (auch nicht gegen den Fun­da­ men­ta­lis­mus), da jede strikte Setzung einer Grenze wieder unter Fun­da­men­ta­lis­mus­ ver­dacht stünde. So darf der Antifundamentalist nicht nur nicht den Philister beerben,

41 Für den ausführlichen Austausch zum westlichen Fundamentalismus im Rahmen eines ge­ plan­ten Forschungsprojektes danke ich meinen ehemaligen Kollegen von der Zeppelin-Universität Marian Adolf, Alexandra Hausstein, Markus Rhomberg und Ulrich Ufer. Für einen Überblick vgl. Nancy T. Ammermann, »North American Protestant Fundamentalism«, in: Martin E. Marty und Scott R. Appleby (Hrsg.), Fundamentalisms Observed, Chicago: University of Chicago Press 1991, S. 1– 65. 42 Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. 43 Vgl. Rebekka Reinhard, Gegen den philosophischen Fundamentalismus. Postanalytische und de­kon­ struktivistische Perspektiven, München: Fink 2003. 44 Der Fundamentalismus ist »eine moderne Bewegung gegen die Moderne« (Wolfgang Schluchter, Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg, Weilerswist: Velbrück 2003, S. 40).

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sondern auch nicht den Antiphilister, da dieser sich gerade in seinem Nichtphilistersein setzt.45 Dem Fundamentalisten gelingt durchaus die Einsicht, dass jede Gegnerschaft ge­ gen­über dem Philistertum selbst philiströs ist, aber es zugleich gilt, die dieser Ein­sicht implizite, auf Dauer gestellte Selbstinfragestellung zu vermeiden. Er sieht ein, dass er auf die Rückführung auf stabile Begründungen verzichten muss, und rekurriert da­her auf Setzungen, die oft als ›Ideologien‹ bezeichnet werden. Jede Rückführung auf ein Moment stabiler Begründung ist zum Scheitern verurteilt; eine In­frage­stel­lung kann jederzeit erfolgen, und da nichts nicht in Frage gestellt werden kann, hebt die In­frage­ stel­lung nicht die Erlaubnis auf, die diskriminierte Idee weiter auf die Welt an­zu­wen­ den. Der Fundamentalist ist so in der Lage, das Risiko eines ›Kollateralschadens‹ mutwillig in Kauf zu nehmen. Der Fundamentalismus und der Antifundamentalismus gehen an dieser Stelle aus­ ein­ander; sie gehen insbesondere mit den eingangs genannten Problemen der Adres­sie­ rung und der Gewalt mit guten Absichten unterschiedlich um. Der Anti­fun­da­men­ta­ list hält zwar gleichermaßen eine Rückführung auf stabile Begründung für un­mög­lich. Allerdings richtet er sich in den Kontingenzen und in den Aporien der Welt ein. Da­bei ist jede Form von Willkür oder Beliebigkeit verdammenswert, denn auch ein any­thing goes gepaart mit einem anarchistischen laissez faire wäre ja fun­da­men­ta­lis­tisch, weil die ab­so­lute Freiheit schlicht gesetzt und die Aporie der absoluten Freiheit – sie ist im­mer Gewalt gegen andere, nicht zuletzt gegen Schwächere – ignoriert würde. Der Anti­fun­ da­men­ta­lis­mus muss sich also auf eine prekäre Balance einlassen, die bis­wei­len als De­ kon­struk­tion bezeichnet wird46 und die nicht nur den Kategorischen Imperativ, son­ dern bereits die ursprüngliche Frage der praktischen Philosophie, wie man leben solle, als nicht wohlgeformt zurückweist.47 Sowohl die Fundamentalismus‑ als auch die Philistersemantik reagieren auf das­ selbe Problem, nämlich darauf, dass seit dem 18. Jahrhundert soziale Mobilität und die Veränderung der gesellschaftlichen Hierarchien als permanente Möglichkeit ge­dacht werden müssen, aber die Entwicklung der Ordnung sich nicht nach einer Ord­nung vollzieht (deswegen besteht vielleicht die Faszination für teleologische Geschichtsmodelle vor allem im 18. und 19. Jahrhundert). Wären sie gegeben, wären sie bloße 45 Robert Walser bildet nicht nur die Ausnahme, sondern ist auch exemplarisch dafür, wie un­wahr­ scheinliche Vorkehrungen zu treffen sind, um sich hier auszunehmen. Vgl. dazu den Beitrag von Georg Stanitzek in diesem Band. 46 Vgl. ZZ 291 f. Vgl. ferner Anonymus, »Post-modernism is the new black«, in: The Economist, 19.12.2006, www.economist.com/world/PrinterFriendly.cfm?story_id=8401159. 47 Der fundamentalistische Terrorismus lässt sich in der Tat auch als Widerstand gegen Fröhlichkeit und Frivolität der Normsetzung in der modernen Gesellschaft deuten (vgl. Dirk Baecker, »Kulturelle Orientierung«, in: Luhmann und die Kulturtheorie, hrsg. von Günter Burkart und Gunter Runkel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 58 – 90, hier S. 66; Baecker verweist auf Klaus P. Japp, »Zur Soziologie des fundamentalistischen Terrors«, in: Soziale Systeme 9 [2003], S. 54 – 87).

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Umsetzung des aktuell die Gesellschaft regierenden Programms; damit wären sie also nicht Möglichkeit einer Veränderung, sondern einer bloßen Perpetuierung. Das Modell des Philisters bietet hier noch eine vergleichsweise einfache Lösung. Es ist in der Einleitung in diesem Band angemerkt worden, dass diese Sozialfigur zu ei­ nem Zeitpunkt erwacht, zu dem soziale Mobilität zu einer Option wird, auf die man strategisch hinarbeiten kann.48 Der längere oder kürzere Marsch durch die In­sti­tu­tio­ nen ist möglich geworden, weil man nicht darauf festgelegt ist, zu bleiben, was man ist; während ja der Philister ist, wer er ist, und dieses Sein so wenig abstreifen kann wie seine gesellschaftliche Stellung. Deswegen haben dem Antiphilister auch immer so­ wohl ein hohes Staatsamt als auch die anarchistische Bohème offen gestanden (wenn auch bis in die 1980er Jahre nicht zugleich). Dennoch ist der antiphiliströse Marsch durch die Institutionen von einer Semantik der absoluten Kritik begleitet gewesen: Das höchste Staatsamt zu erreichen hat immer zugleich bedeutet, dass der Staat nicht bleiben kann, was er bislang gewesen ist. Diese Art der Kritik formiert sich ab­so­lut, in­ sofern sie jede Art der Affirmation abstößt. Sie realisiert sich als kritische Kri­tik, weil sie immer ihre eigene Fehlbarkeit mitbedenkt und sich damit gegen jede Kri­tik im­ mu­ni­siert. Der Antiphilister ist der kritische Kritiker, derjenige, der weiß, dass er seine ei­gene per­mis­sive Neigung zur Affirmation kritisch beäugen muss. Den Philister hin­ gegen zeichnet eine affirmative Affirmation aus. Der echte Philister vollzieht ja sein Phi­lis­ter­tum insbesondere ohne jedes kritische Bewusstsein seiner affirmativen Hal­ tung. Schon die romantische Strategie, das Philistertum in Schranken zu weisen, beruht darauf, dass der Nichtphilister das Philisterhafte in sich selbst bemerkt – was der ›wirkliche‹ Philister nicht kann, weil er nur Philister ist. Das reine Sein ist der Ma­ kel derer, die ihr So-Sein nicht reflektieren können. Soziale Mobilität bedeutet, zwi­ schen denen zu unterscheiden, die bloß sind, und denen, die in der Lage sind, alles zu werden. Die Umstellung vom Philister auf den Fundamentalisten beruht nun auf einer tie­ fer greifenden Veränderung der sozialen Semantik. Seit spätestens dem 20. Jahr­hun­dert setzt sich nämlich eine Beschreibung sozialer Phänomene durch, die Sein zu­rück­stellt und Prozessualität priorisiert.49 Dies betrifft sowohl die Fremd- als auch die Selbstbeschreibungen. Die Umstellung von einer Seinssemantik zu einer Pro­zess­seman­tik zeigt sich an vielen Stellen: an dem Interesse der Naturwissenschaften für dy­na­mi­ sche Formulierungen von Gesetzmäßigkeiten,50 aber auch der übrigen Wissenschaf­ten

48 S. 17 in diesem Band. 49 Der Beginn dieser Entwicklung liegt schon im späten 18. Jahrhundert (vgl. Reinhart Koselleck, »Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen Verfassung« [1965], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 87– 104, hier S. 89 f.). 50 Beispielsweise ist das Elementarteilchen nicht etwas, das schlicht ist, sondern etwas, das mit gewisser Wahrscheinlichkeit an gewissen Orten gewisse Wechselwirkungen eingehen könnte.

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am Wie und nicht am Was,51 an breiter Ablehnung rassistischer Seinszuschreibung,52 im Strafrecht,53 an der Aufwertung von Entscheidungsprozessen gegenüber den Entscheidungsträgern oder an der Umstellung in Organisationen von Positionen auf Abläufe. Entscheidend an der Umstellung von Seins- auf Prozesssemantik ist für den vorliegenden Zusammenhang vor allem, dass man Philister qua Sein, Fundamentalist aber qua Tat ist. Dass man kein Philister ist, lässt sich als Gnade deuten, jedenfalls nicht begründen. Wenn der Philister ganz Vollzug im Sein ist, so ist auch der Fundamentalist – speziell der Terrorist  – ganz Vollzug im Prozessualen. Zum genannten Problem der mo­dernen Gesellschaft  – nämlich der Frage, wie Veränderung als beständig möglich, Gesellschaft aber trotzdem als stabil gedacht werden kann – bietet die Semantik­ umstellung eine Lösung an: sie gestattet es nämlich, Veränderung von ihrem Effekt her (als ex post) ›pragmatisch‹ zu begreifen. Der Erfolg zählt, und Erfolg hat, was wie­de­ rum Effekte zeitigt.54 Der Erfolg darf auch bloß punktuell und ephemer sein, denn die Fortschrittssemantik selbst steht längst unter Fundamentalismusverdacht; eine dauer­ hafte ›Verbesserung‹ der Welt anzustreben setzt eine universelle Bewertungsskala vo­ raus, die ein solches Urteil erlauben würde, doch diese Skala ist, das zeigt das Argument von Kelsen und Schlingensief gegen Kant, nicht erhältlich. Der Fundamentalist  – sei er linksautonom, nationalistisch, papistisch, ra­tio­na­ lis­tisch oder marktradikal – verurteilt, indem er Gegnern ihre Gleichwürdigkeit abspricht und ›Kritik‹ nur von denjenigen akzeptiert, die schon längst auf seiner Seite sind.55 Er hat immer schon damit recht, dass er denjenigen angreift, den er angreift – denn das Angegriffenwerden zeichnet den Gegner schon aus. Dagegen ist der Anti­ funda­men­talist nicht festzulegen; er ist nach seinem Erfolg zu beurteilen und nach dem Gelingen seines Lavierens durch die Fährnisse der Zustimmung und Ablehnung 51 »Deswegen kann man im unmittelbaren Sinnbereich der Theorie zwar ›Was‹-Fragen stellen; aber auf der Ebene der second order cybernetics, beim Beobachten der Beobachtungen der Theorie, muß man von ›Was‹-Fragen auf ›Wie‹-Fragen umstellen. Anders als im von Kant entwickelten Theorietypus liegt die Lösung des Problems nicht in einem transzendentalen Bereich ohne empirische Re­ fe­renz« (Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 [1990], S. 408). 52 Speziell hierzu vgl. den Beitrag von Till Dembeck in diesem Band. 53 Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Tätertypenlehre Einfluss auf die Gestaltung des Strafrechts gehabt; eines ihrer letzten Überbleibsel ist die Formulierung des Mordparagraphen (»Mör­ der ist, wer […]«). 54 Auf dieser Idee gründet die calvinistisch-protestantische Ethik, die enttheologisiert die Grundlage der modernen Marktwirtschaft geblieben ist. Sie will ›Leistung‹ und ›Leistungsträger‹ belohnen, identifiziert die Leistungsträger aber zirkulär am quantitativen Erfolg (Geld in der Wirtschaft, Länge der Publikationsliste in der Wissenschaft, Anzahl der Verurteilungen im kriminellen Milieu). 55 Die Ideologiekritik nach Vorbild der Frankfurter Schule, so wird schon 1975 kritisiert, hat sich immer gegen Personen gerichtet und sich nicht mit Sachfragen auseinandergesetzt (vgl. Alfred Heuß, »Ideologiekritik«. Ihre theoretischen und praktischen Aspekte, Berlin / New York: de  Gruyter 1975, S. 49 f. und passim).

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von Positionen – und auch der Zustimmung und Ablehnung von Gewalt im Na­men des Guten.56 Wie schon bei Schlingensief und vor allem bei Sloterdijk ausgeführt, wird hingegen für den Antifundamentalisten zum neuen Imperativ (der sich dann zu Recht auch nicht mehr als imperativer Imperativ begreifen kann), affirmative Kritik und kri­ ti­sche Affirmation zu betreiben. Im Vollzug dieses nichtimperativen Imperativs, in dem zugehörigen Paradoxiemanagement liegt die Aufgabe des Antifun­da­men­ta­listen. Hier eröffnet sich die Frage, was an die Stelle der alten Opposition zwi­schen Af­fi r­ ma­tion und Kritik treten kann. Beide Beurteilungsmuster, zur af­fi r­ma­ti­ven Affirmation und zur kritischen Kritik geronnen, stehen ja unter Fundamentalismus­verdacht. Es liegt aber nicht auf der Hand, von welcher Semantik Kritik und Affirmation ab­ge­löst werden könnten, denn das pragmatische oder realistische Modell einer af­fi r­ma­ti­ven Kritik oder kritischen Affirmation degradiert Ethik zum semantischen (und rhe­to­ri­ schen) Jonglierwettbewerb. Eine neue Semantik – wie soll sie entstehen? – müsste in der Lage sein, Gelassenheit mit Veränderungswillen zu kombinieren und die Re­sig­na­ tion, dass ›Verbesserung‹ vielleicht gar nicht planbar ist, mit Engagement ver­söh­nen. Die Umstellung von Sein auf Prozess reicht nicht aus, um eine gewisse Stabilität zu schaffen, da sie zwar – wie gesagt – kein anything goes erlauben will, aber genauso wenig deutlich macht, inwieweit nicht schon Pragmatik alles ist. Pragmatik – die Politik der ruhigen Hand – behindert den Willen zur Veränderung oder gar zur Verbesserung. Empfehlen Schlingensief und Sloterdijk die Kunst, so bietet diese zwar Hilfe, aber keine Lösung. Indem der Fundamentalist gegen jedes Vollzugsdefizit demonstriert, greift er auch dasjenige der ›modernen‹ Kunst an. Dass der fundamentalistische Terrorakt Stockhausen fasziniert, übersetzt also nicht die Sympathie für Simsons Gewaltexzess in die Gegenwart. Zwar sympathisiert die Kunst im 20. Jahrhundert des Öfteren mit der Gewalt – beispielsweise mit der stalinistischen oder der kubanischen –, aber am Ende des 20. Jahrhunderts nimmt sich die Gewaltbejahung kritisch zurück und kann sogar Pazifismus und UdSSR-Nostalgie recht mühelos in Einklang miteinander

56 Der moderne Antifundamentalismus strebt zwar gleichermaßen den Marsch durch die In­sti­tu­ tionen und eine Veränderung der Gesellschaft an, doch erscheint ihm eine Umwertung aller Werte allzu fundamentalistisch. Seine Ikone ist Joschka Fischer, dessen Karriere zu einem Zeitpunkt begann, als das Antiphilistertum noch ein letztes Mal laut propagiert wurde – und als das Philister­hafte in jedem Antiphilistertum längst bekannt und anerkannt war. Der moderne Antifundamentalist über­nimmt wie Fischer in der Visa-Affäre ›die politische Verantwortung‹, aber damit ist keine grundlegende kritische Haltung verbunden, denn die politische Verantwortung kann nur derjenige übernehmen, der weiß, dass sein Ministerium bis zu einem gewissen Grad hinreichend selbstorganisiert ist, sodass es tut, weil es meint, tun zu müssen. Die Grünen sind diejenige Partei, die diese seman­ti­ sche Umwertung am ›nachhaltigsten‹ betreibt: nicht umsonst heißen die Anhänger des einen Flügels »Realos«, die Anhänger des anderen »Fundis« (für ›Fundamentalisten‹). Die fundamentalistische Strö­ mung bei den Grünen ist in den 1980er diejenige gewesen, die eine Regierungsbeteiligung ablehnte und stattdessen »Fundamentalopposition« betrieb.

Vom Philister zum Fundamentalisten

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bringen.57 Was Stockhausen am 11. September beeindruckt, ist der reine Vollzug des Aktes, der ehemals künstlerisch gewesen ist und der in der Aktionskunst seine deutlichste Ausprägung gefunden zu haben geglaubt hat.58 Der doppelte Perfekt unserer Formulierung deutet es schon an: die Formen der künstlerischen Unmittelbarkeit des 20. Jahrhunderts haben Anforderungen an die Übersetzung künstlerischer Artefakte hervorgebracht, die dazu führen, dass Kunst sich, überspitzt gesagt, erst in ihrer Dokumentation und in ihrer Aufbereitung im Universitätsseminar, in den Massenmedien und in den privaten Kunstzirkeln vollzieht. Kunst, die bloß abbildet, die bloß ist, ist für die Kunsttheorie das Philiströse. Gombrich lässt dem Philister, der für ihn derjenige ist, der Kunst herstellt, die bloß abbildet, sogar Hiebe verabreichen: »Here [in the reactions to impressionism] was another convenient stick with which to beat the Philistine who wanted paintings to look like nature.«59 Auch Adorno sieht in den Resten einer Annäherung an reine Abbildung den Grund dafür, dass der Kunstunkundige Kunst als albern empfindet: »Albernheit ist das mimetische Residuum in der Kunst, Preis ihrer Abdichtung. Der Philister hat gegen sie immer auch ein schmähliches Stück Recht auf seiner Seite.«60 Deswegen fühlt sich die Kunst in der Rolle eines westlichen Bollwerks gegen die Fundamentalisten nicht wohl. Sie ist überfordert, weil Terrorismus und Fundamen­ta­ lis­mus sie an ihre eigenen uneingestandenen Widersprüche erinnern. Denkt man an Karikaturen-Streit oder Theo van Gogh, so sind dies keine Angriffe der Kunst auf ei­ nen Islamismus, sondern in erster Linie journalistische Ereignisse und Krisen der Mas­ sen­medien. Umgekehrt zeigt der Skandal um Maxim Billers Roman Esra, wie anfällig Kunst selbst für Fundamentalismus ist und dass sie dort am interessantesten – wenn auch vielleicht nicht am besten  – ist, wo sie die Grenzen zwischen fun­da­men­ta­lis­ ti­scher und nicht-fundamentalistischer Kommunikation verwischt. Doch das Miss­ verhältnis bei Billers Provokation liegt darin, dass die Provokation genau zwei Personen 57 So in der Gründungserklärung der Partei ›Die Linke‹. »Als mit dem Zusammenbruch der Sowjet­union das größte Gegengewicht wegfiel, konnten sich die zerstörerischen Tendenzen des un­ge­ hemmten kapitalistischen Marktes immer mehr entfalten. Heute bestimmen transnationale Kon­zerne und die Kapital- und Finanzmärkte zunehmend die gesellschaftliche Entwicklung« (Program­ma­ti­ sche Eckpunkte – Programmatisches Gründungsdokument der Partei DIE LINKE. Beschluss der Par­tei­ tage von WASG und Linkspartei.PDS am 24. und 25. März 2007 in Dortmund, http://die-linke.de/ fileadmin/download/dokumente/programmatische_eckpunkte.pdf, 4.4.2009, S. 3). »Deutsche und euro­ pä­ische Außenpolitik muss Friedenspolitik werden: Wir bekämpfen den Krieg und lehnen die Mi­li­ta­ri­ sie­rung der deutschen Außenpolitik ab« (S. 15). Dass hier kritische Kritik betrieben wird, lässt sich schon daran ersehen, dass man den Krieg bekämpfen will. 58 Für ein ähnliches Urteil zu Stockhausen vgl. Walter Benn Michaels, The Shape of the Signifier. 1967 to the End of History, Princeton / Oxford: Princeton UP 2004, S. 174 f. 59 Ernst Hans Gombrich, Art & Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London  / New York: Phaidon 2002 [1960], S. 252. 60 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frank­ furt am Main: Suhrkamp 1998 [1970].

498 betrifft – und damit nicht wahllos adressiert. Sein Regelbruch steht nicht in der Tra­ di­tion autonomer Kunst, gleicht nicht dem politischen Terrorakt, son­dern dem heim­ tücki­schen Mord aus privaten Gründen. Immerhin: dieser Privatakt ist ganz Vollzug.61 Der Antifundamentalist verweigert sich dem Fundamentalismus nicht mehr, indem er den Fundamentalisten in sich kritisch entdeckt und damit bändigt, sondern indem er jeden Imperativ – speziell wie Schlingensief den Kantischen – ablehnt. Erkennt man Idealismus in sich, so hat man, um nicht zynisch zu werden, ihn als Kuriosum an sich selbst bei der Selbstfindung oder vielmehr ‑gestaltung zu berücksichtigen,62 aber wenn man kämpft, so hat man à la Rorty zu wissen, dass man bereit sein muss zu sterben, ohne Letztbegründungen liefern zu können.63 Der Film Muxmäuschenstill (D 2004) von Regisseur Marcus Mittermeier und Drehbuchautor Jan Henrik Stahlberg reflektiert dieses Versäumnis, indem er – bei aller Antipathie gegen den Helden – darauf hinweist, dass der Idealist von heute den eigenen Tod in Kauf nimmt, um für seine Ideale einzustehen, ohne seine Ideale begründen oder auch nur setzen zu kön­ nen. Ideale können lediglich beobachtet werden. Regelbefolgung kann sich dabei als Devianz entpuppen und Devianz als adäquates Verhalten.64 Der Held des Films, der in Eigenjustiz und unter Einsatz von Gewalt Menschen im Alltag wegen nichtiger Vergehen stellt, kurzerhand in einem Akt hypertropher Zivilcourage verurteilt und das Urteil sogleich vollzieht, der also die perfekte Synthese von guten Absichten und Gewalt praktiziert und dabei wahllos alle ›Menschen‹ katholisch als Sünder adres­siert, aber unkatholisch sich selbst nicht vergibt, formuliert leichter: »Denn auch Sie sind ein potenzieller Straftäter. Und ich glaube, dass es den Menschen in Deutschland gut tut, zu sehen, dass da einer ist, der bereit ist, für seine Ideale einzutreten.«65 Und er stirbt am Ende des Films. Vielleicht als derjenige Philister, der sich wie Simson selbst opfert und der in persona zum Fundamentalisten geworden ist.

61 Vgl. Remigius Bunia, »Fingierte Kunst. Der Fall Esra und die Schranken der Kunstfreiheit«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 32.2 (2007), S. 161–182. 62 Zu Selbstfindung / Selbsterfindung siehe Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main: Campus 2005, S. 221–236. 63 »The fundamental premise of the book is that a belief can still regulate action, can still be thought worth dying for, among people who are quite aware that this belief is caused by nothing deeper than contingent historical circumstance« (Richard Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge, UK: Cambridge UP 1999 [1989], S. 189). 64 Zur Analyse der Nähen zwischen Anarchisten und Polizisten am Ende des 20. Jahrhunderts vgl. die Textbeispiele bei Georg Stanitzek, Essay – BRD, Berlin: Vorwerk 8 2011, S. 331–334. 65 http://de.youtube.com/watch?v=Y9XIrfUn2mw [Stand: 6.6.2008]; unsere Transkription.

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Der Professor Ein Sittenbild

I. Mit Clemens Brentanos Rede gegen die Philister gerieten die Professoren an den Universitäten in eine Klemme, aus der sie sich bis heute nicht recht befreit haben. Als ›Phi­lis­ter‹ gelten die nicht-akademischen Bewohner einer Stadt, die der Le­ben­dig­keit, dem Rausch, der Begeisterung der Studenten feindlich gegenüberstehen und sich diese Stu­den­ten mithilfe einer Scharwache buchstäblich mit Spießen (daher die Rede von den ›Spießern‹) vom Leibe halten. Die Professoren mussten sich angesprochen füh­ len, so­weit sie ihr eigenes Studium hinter sich hatten und jenen bürgerlichen Sta­tus ei­ner nicht zuletzt am eigenen Wohl orientierten Einsicht in das Notwendige er­reicht hat­ten, den die Studenten in ihrem Sturm und Drang den Philistern vorwarfen. Die Pro­fes­so­ren konnten jedoch auch versuchen, sich eher als Forscher denn als Lehrer zu ver­ste­hen, so auf die Seite der Studenten zu schlagen und deren Lebendigkeit, Rausch und Be­geiste­rung mit ihnen zu teilen. Nur wenig ist wohl für die deutsche Universitätsstadt des 19. Jahrhunderts bis weit in das 20. Jahrhundert hinein typischer als die Weinstube, der Bierkeller und der Konvent der Burschenschaften, in denen sich die Professoren und die anderen alten Her­ren nicht allzu häufig, das bekam der Gesundheit nicht, aber doch regelmäßig unter die Studenten mischten beziehungsweise noch einmal Studenten spielten, um sich dem Glauben hinzugeben, dass sie nach wie vor einen Sinn für die Idee, ein Gefühl für die Liebe und den Mut zur Schöpfung haben. Freilich ging das nur singend, denn so­bald sie sprachen, die alten Herren, rutschten sie entweder, den Theaterzettel in der Hand, in jene Sprache der Humanität, der Aufklärung und der Ästhetik ab, die Brentano für die ›zivilisierten‹ Juden reserviert hat, oder sie wurden ›moralisch‹ und damit so stocksteif und mausetot wie die Philister.1 1

So die Eingangsunterscheidung zwischen Juden, die »civiliter«, Philistern, die »moraliter«, und

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Vermutlich ist kaum ein Topos für die deutsche Geistesgeschichte innerhalb und außerhalb der Universität so bezeichnend wie der Versuch der Professoren, sich der klaren Unterscheidung zwischen Studenten und Philistern zu entziehen und zwar das geschützte, weil verbeamtete Leben eines Philisters zu führen, aber doch die Be­geis­ te­rung der Studenten für das Leben, die Liebe und die Wahrheit zu teilen.2 Letzteres ist zwar vergeblich, denn irgendwann tritt das Wissen an die Stelle der Begeisterung, doch nur dieser immerhin unternommene Versuch befähigte sie, jene mit der Er­fah­ rung der Bibellektüre beseelten und begeisterten Studenten zu unterrichten, die das sprichwörtliche deutsche Pfarrhaus auf die Universitäten schickte, ohne dass ihnen das kleinfürstliche Deutschland andere Berufsaussichten bieten konnte als die des Lehrers, des Beamten und allenfalls noch des Hauslehrers und Dichters.3 Der Versuch musste überzeugend wirken, damit man durchhaltefähig genug den bescheidenen, jedoch im­ mer­hin ehrlichen Verhältnissen gewachsen war, die auf die Absolventen der deut­schen Universität warteten; und er musste zugleich erkennbar vergeblich sein, damit man nicht allzu überrascht war, wenn man sich nach dem Abschluss des Studiums in genau die­sen Verhältnissen wiederfand. In dieser Ambivalenz eines vergeblichen Versuchs spielen die Professoren in den deut­schen Verhältnissen ihre Rolle in einem Übergangsritus,4 der in der modernen Gesellschaft für die Schulung individueller Karriereerwartungen auf Seiten der Studenten so wichtig ist wie je ein Übergangsritus vom Jugendlichen zum Erwachsenen in einfacheren Gesellschaften. Dementsprechend unsichtbar ist die Figur des Professors je­ doch selbst in ihrer dreifachen Rolle als ehemaliger Student, als Erzieher und als Gelehrter.5 Feiert er sich als ehemaligen Studenten und feiert man ihn als Gelehrten, so ist es insbesondere der Erzieher und damit der Sachwalter universitärer Zwänge, Erwartungen und Versprechen, der im Sittenbild der deutschen Verhältnisse seltsam blass bleibt. Dagegen half auch nicht eine der größten unter allen deutschen Reformen, die Studenten, die »lebendig« leben, in Clemens Brentano, Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung, Zürich: Manesse 1988, S. 18. 2 Bezeichnend ist die von Heinrich Heine, »Die Harzreise«, in: Heines Werke in fünf Bänden, hrsg. von Helmut Holtzhauer, Bd. 2, Berlin: Aufbau 1974, S. 209 –279, hier S. 212, vorgenommene Einteilung der Bewohner Göttingens in »Studenten, Professoren, Philister und Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind.« Siehe zur Entwicklung der Philistersemantik den Über­blick bei Dieter Arendt, »Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhunderts oder Der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation«, in: Orbis Litterarum 55.2 (2000), S. 81–102. 3 Siehe zum Stellenwert und zum sozialen Umfeld der Philisterrede Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, 2.  Aufl., München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007, bes. S. 54 –56 u. 68 f. 4 Mit dem Begriff von Arnold van Gennep, Übergangsriten, übers. von Sylvia M. SchomburgScherff, 3., erw. Aufl., Frankfurt am Main: Campus 2005. 5 »[U]nd unter den Professoren«, ergänzt Heine, »Die Harzreise« (Anm. 2), S. 212, die genannte Aufzählung, »sind manche, die noch gar keinen Namen haben.«

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Reform der deutschen Universität durch Wilhelm von Humboldt und andere, die Wis­senschaft als einen Beitrag zur Bildung zu verstehen versuchte.6 Sie half nicht, weil diese Bildung mit ihrer Betonung von Reflexion und Konstruktion Aspekte der Er­zie­hung eher ausblendet.7 Die Gleichsetzung des Lehrers mit dem Forscher spielt dem Selbstverständnis des Professors als ewigem Studenten, als immer wieder neu Be­ geister­tem und kraftvoll und produktiv im Wissen um die Wahrheit und die Schönheit Ge­bil­de­tem in die Hände,8 blendet aber jene Aspekte der Prüfung und Übernahme realer Verhältnisse aus, die die Bedingung dafür sind, es nicht nur mit Wahrheiten, son­dern auch mit Wirklichkeiten zu tun zu bekommen.9 Vermutlich half es bei der Installation des Professors als Kippfigur zwischen Lehrer und Forscher, dass der Philister auch als eine Figur des Teuflischen galt, denn so konnte man Abstand halten und sich faszinieren lassen zugleich.10 Am teuflischen Philister studierten die Studenten und die Dichter und mit ihnen die Professoren, was es hieß, nur Nein sagen zu können und nicht auch Ja,11 und befähigten sich so zu einem Idealismus, dem der Materialismus nie wirklich fremd wurde,12 so sehr Letzterer freilich da­ rauf angewiesen war, immer wieder idealistisch recodiert zu werden, um überhaupt in den Blick genommen werden zu dürfen.13 Darin schließlich gipfelt eine Romantik, die 6 Siehe Wilhelm von Humboldt, »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«, in: Ernst Müller (Hrsg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig: Reclam 1990, S. 273 –283. 7 So nach wie vor Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963; Jürgen Mittelstraß, Die unzeitgemäße Universität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; und dagegen kritisch Niklas Luhmann, »Per­spek­tiven für Hochschulpolitik«, in: ders., Universität als Milieu. Kleine Schriften, hrsg. von André Kieserling, Bielefeld: Haux 1992, S. 80 – 89. 8 Wie sagt es Goethe? »Solche Männer und ihresgleichen […] sind geniale Naturen mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind.« So in Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 1994, S. 691. Ich danke Georg Stanitzek für den Hinweis auf diese Stelle. 9 Dass innerhalb des Erziehungssystems mit dem Auftreten einer Reihe von Paradoxien zu rech­ nen ist, weil nur so die Einheit der Differenz der Umwelten des Erziehungssystems im System ab­ge­ bildet und bearbeitet werden kann, betont Niklas Luhmann, »Das Erziehungssystem und seine Umwelten«, in: ders. und Karl Eberhard Schorr, Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 14 –52. 10 Siehe speziell dazu Johannes Barth, Der höllische Philister. Die Darstellung des Teufels in Dich­tun­ gen der deutschen Romantik, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1993, bes. S. 96 –100. 11 So Brentano, Der Philister (Anm. 1), S. 25 –31, in einer genauen Parodie der Philosophie Fichtes. 12 Brentano, Der Philister (Anm. 1), S. 31–33. 13 Deshalb kann Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 3), S. 130, mit einer glücklichen Formulierung Marx und Büchner für Deutschland als »das intellektuelle Zentrum des 19. Jahrhunderts« bezeichnen: Die Ideologiekritik des einen und der Bruch mit literarischen Konventionen des anderen, die Schlaffer herausstellt, betonen eine nach wie vor idealistische Einheit der Differenz von Idealismus und Materialismus. – Jacques Derrida, L’Université sans condition, Paris:

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in der Lage war, einen Bildungsgedanken zu formulieren, der nicht darauf an­ge­wie­ sen war, Erfolge im Geschäft oder am Hofe zum Kriterium der individuellen Karriere werden zu lassen, sondern sich ganz auf das geistige Durchdringen ebenso empfindsamer wie volksnaher Lebensumstände konzentrieren konnte.14

II. Vier Thesen können in dieser groben Skizze die Rolle des Philisters für das Selbst­ver­ ständnis und die Institutionalisierung des Professors an der deutschen Universität beleuchten.15 Wir lassen die Frage offen, inwieweit die beschriebene Konstellation auch für Professoren in Universitäten anderer Länder gültig sein kann, und kon­zen­trie­ren uns stattdessen auf die für Deutschland typische und immer wieder neu zu ver­mei­ dende Verwechslungsgefahr des Professors mit einem Philister. Die erste These adressiert den Professor einerseits als Akademiker, der schon als sol­cher kein Philister sein kann, und andererseits als Dozenten und somit als Kom­ple­ ment des Studenten, der auf die philiströse Außenseite der studentischen Leben­dig­keit gerät. Der Professor ist kein Student, aber ein Akademiker und somit inner­halb der Universität ein Philister, der keiner sein will; denn sein bürgerlicher Status markiert ihn als Philister, seine Begeisterung für die Idee als Gegenteil des Philisters. In diesem doppeldeutigen Status wird der Professor zum idealen Erzieher. Er interpretiert den Übermut der dem Elternhaus entronnenen Studenten als Begeisterung, begreift diese Begeisterung im Sinne des Humanismus, der Aufklärung, der Franzö­si­ schen Revolution und der deutschen Nation als der Sache ebenso wie den Zeiten anGalilée 2001, S. 37–50, stellt diese idealistische Einheit wieder in Frage, wenn er darauf hinweist, dass der merkwürdige Versuch der Universität, die Arbeit der Forschung und die Unbedingtheit der Lehre zusammen zu denken, sowohl zu Lasten der Arbeit geht, die ohne eine gewisse Passivität nicht zu denken ist (S. 48 f.), als auch die Unbedingtheit in Frage stellt, da diese viel und wenig zugleich mit Verantwortung zu tun hat, die mit der Profession des Professors verbunden ist (S. 50). Doch auch die Dekonstruktion muss arbeiten. Ihre unmögliche Unbedingtheit stellt sich als ein Versuch heraus, sich den Idealismus idealistisch und den Materialismus materialistisch vom Leibe zu halten. Als ihren gemeinsamen Fluchtpunkt bestimmt Derrida mit Austin das Performativ und als das Thema der Universität: ihre eigene Geschichte inklusive der Geschichten des Professors (S. 64 –72). 14 Siehe zu dieser Topologie von ›Bildung‹ und ›Kultur‹ Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main: Insel 1994; Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München: Hanser 2006; und bereits Thomas Mann, »Deutsch­land und die Deutschen«, in: ders., Schriften zur Politik, hrsg. von Walter Boehlich, Frank­ furt am Main: Suhrkamp 1970, S. 162 –183. 15 Der vorliegende Text ist eine knapp gehaltene Ausarbeitung meines Beitrags zur Tagung. Für eine hilfreiche Diskussion danke ich den Teilnehmern der Tagung, insbesondere Karlheinz Barck, Doerte Bischoff, Lutz Ellrich, Annette Keck, Maren Lehmann und Georg Stanitzek und für weitere Hinweise den Herausgebern dieses Bandes.

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gemessen und lenkt sie in die Bahnen dessen, was von den Staatsbeamten und Lehrern, deren Ausbildung die Universität überwiegend gewidmet war, zu erwarten ist. Freilich kann der Professor diese Aufgabe der Erziehung des Studenten nicht al­ lein erfüllen. Er ist auf die Mithilfe der Stadt angewiesen, die noch in der Form der Ab­wehr des studentischen Leichtsinns die Studenten mit einer Wirklichkeit ver­traut macht, auf die sie sich einlassen müssen werden, ohne je ganz mit ihr ein­ver­stan­den sein zu können. In der Kneipe erlebt der oft noch eher dörflichen Verhältnissen entstammende Student ein Zuhause, das bereits als städtisch markiert ist, da es mit einer Beobachtung durch Unbekannte, aber auch mit der Möglichkeit, neue Bekannt­schaf­ ten zu machen, konfrontiert.16 In der Stadt sind andere Bünde möglich als auf dem Dorf, im Kloster oder in der Armee. Selbst wenn sich die ›Nationen‹ im Sinne der Landsleute gemeinsamer Herkunft in der Stadt wiederfinden, verbünden sie sich dort doch anders und mit anderen, als sie es zu Hause getan hätten. Diese Medialisierung der sozialen Verhältnisse, von denen die Soziologie sowohl Max Webers als auch Georg Simmels berichtet,17 die Übersetzung fester in lose Kopp­ lun­gen, in denen wiederum neue und andersartige feste Kopplungen möglich wer­ den,18 wird von den Studenten ebenso ausgenutzt wie von den Professoren. Ge­schult am abschreckenden Beispiel des Philisters, der die lose Kopplung in der Tat leicht dia­ bo­lisch (wenn ›diabolisch‹ im Gegensatz zu ›symbolisch‹ heißen darf, die Verhältnisse auseinander zu bringen) mit den bereits gelungenen Verhältnissen gleichsetzt, setzen Studenten wie Professoren nicht nur auf die neuen Kontingenzchancen der Mo­derne, indem sie ihrem Interesse an der Wahrheit freien Lauf lassen, sondern zugleich und min­destens ebenso emphatisch auf den neuen Bund, sei es den Bund der For­schung oder der Freiheit oder beider gemeinsam in dem, was dann politisches Projekt ge­nannt

16 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen: Mohr 1990, S. 727, definierte die Stadt als Ansiedlung, in der »die sonst dem Nachbarverband spezifische, persönliche gegenseitige Be­kannt­schaft der Einwohner miteinander fehlt«, und unterstrich so die Bedeutung der Stadt für den Übergang von der Stammesgesellschaft zunächst zur antiken und dann zur modernen Gesellschaft. Siehe zu diesem Thema auch Dirk Baecker, »Miteinander leben, ohne sich zu kennen«, in: Soziale Systeme 10 (2004), S. 257–272; und Rolf Lindner, »Urban Anthropology«, in: Helmuth Ber­ king und Martina Löw (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Städte, Baden-Baden: Nomos 2005 (= Soziale Welt, Sonderbd. 16) , S. 55 – 66. – Treffsicher bezieht Heine, »Die Harzreise« (Anm. 2), S. 212, seine Schilderung der Staffage Göttingens auf die Behauptung zurück, die Stadt sei schon zur Zeit der Völkerwanderung erbaut worden und habe aus jedem Stamm ein »ungebundenes Exemplar« zurückgelassen, das sich noch heute »auf den blutigen Walstätten« der Göttinger Kneipen und der Fechtböden der Burschenschaften mit den anderen Exemplaren schlage. 17 Siehe von Georg Simmel vor allem: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. Von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 116 –131. 18 So die Begrifflichkeit von Fritz Heider, Ding und Medium, Neuausgabe, Berlin: Kadmos 2005.

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zu werden verdient und im deutschen Vormärz einen ersten und nicht den letzten Höhepunkt erlebt. Erziehung heißt unter diesen Bedingungen etwas anderes als Bildung. Erziehung heißt, sich Verhältnissen zu unterwerfen, dem Hörsaal, dem Seminarraum, dem Textstudium und der Prüfung, die nicht die eigenen Verhältnisse sind, und diese Un­ter­ werfung als einen Schritt auf dem Weg nicht etwa zur Selbstverwirklichung, son­dern zur Übernahme von Verantwortung in noch unbekannten neuen Verhält­nis­sen zu begreifen. Die Selbstverwirklichung ist ebenso wie die Bildung nur der Köder für je­nes Abenteuer einer Ausrichtung des Individuums an der Möglichkeit mehr oder min­der offener Karrieren, ohne die die moderne Gesellschaft nicht zu denken ist.19 Am Pro­ fes­sor als Erzieher studiert der Student eine immerhin erfolgreiche, aber in der Regel bereits abgeschlossene Karriere: einen begeisterten Philister, der zwar prüft, aber auch noch mit sich reden lässt, und der in genau dieser Ambivalenz mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse operiert. Unsere zweite These adressiert den Professor als einen Kritiker der Aufklärung im doppelten Sinne des Wortes: als einen kritischen Überprüfer der Grundlagen der Auf­ klä­rung im Sinne des Kant’schen Kritikbegriffs und als einen Kritiker der allzu op­ ti­mis­ti­schen Erwartungen in die vernünftige Gestaltbarkeit der Verhältnisse, der als Be­amter nicht übersehen kann, wie der Staat funktioniert, und mit Hegel die Wirk­ lich­keit des Staates für vernünftig halten muss. Das klingt kritischer, als es gemeint ist, sind damit doch mindestens zwei für al­les Weitere nicht unerhebliche zivilisatorische Errungenschaften verbunden: die Auf­wer­ tung der Skepsis, die sich im Schatten der mit ihren Problemen ringenden, weil auf Begeisterung verpflichteten Geisteswissenschaften die Naturwissenschaften zu eigen ma­chen, die im 19. Jahrhundert in Deutschland eine beispiellose Erfolgsgeschichte er­ leben,20 und die Ausdifferenzierung der Kunst, die in ihre eigene Autonomie ge­zwun­ gen wird, um dem Verdacht, letztlich singe auch sie innerlich ergriffen nur das Loblied des Schöpfers, sowohl ausweichen als auch diesen Verdacht bedienen zu können.21 An dieser Stelle wird die Rolle, die in diesem bald über Deutschland hinaus uni­ ver­sa­li­sier­baren Sittenbild dem Professor zugedacht ist und die wohl niemand über­ zeu­gender geschildert hat als Thomas Carlyle,22 etwas undankbar. Wer zugleich auf wissen­schaftliche Skepsis und auf Zurückhaltung gegenüber der Kunst ver­pflich­tet 19 Siehe dazu Maren Lehmann, »Negieren lernen: Vom Rechnen mit Individualität«, in: Soziale Systeme 13 (2007), S. 468 – 479. 20 Siehe dazu Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740 –1890, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984; ders., Wissenschaft, Uni­ver­ sität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 21 Siehe zur »dubiosen Vorgeschichte der Kunst« (S. 107) Schlaffer, Eine kurze Geschichte der deut­ schen Literatur (Anm. 3), S. 103 –108. 22 Siehe Thomas Carlyle, Sartor Resartus. Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdröckh, übers. von Peter Staengle, Zürich: Manesse 1991. Siehe zur Brauchbarkeit der Figur auch außerhalb der Uni­ver­

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wird, gerät leicht in den Ruf, ein Philister zu sein, scheint er doch in seinem ekla­tan­ ten Man­gel an Begeisterung der Wahrheit so fremd gegenüberzustehen wie der Schön­ heit. Nichts wäre jedoch falscher, unverdienter. Dem Skeptiker ist die Wahr­heit ge­ nauso wichtig wie die Unwahrheit, und wer die Kunst zurückhaltend beo­bach­tet, der ist davor gefeit, die Schönheit mit ihrer Idee zu verwechseln. Beides ver­dankt sich nicht dem philiströsen Beharren auf den zufriedenen Verhältnissen der losen Kopp­ lung, sondern einer präzisen Beobachtung der Unwahrscheinlichkeit der Über­gänge zwi­schen loser und fester Kopplung.23 Es sind die Lebensumstände des Professors, die philiströs wirken, seine Arbeit und sein Geist jedoch sind es nicht. Er muss auf Abstand bedacht sein, wird jedoch – in einem Ausmaß, das Kants Kritik ebenso viel verdankt wie Fichtes Setzungen und He­ gels Staat – zu einer Figur des kritischen Denkens institutionalisiert, ohne die in der Folge in Deutschland weder die Naturwissenschaften noch die Geisteswissenschaften denkbar sind. Die Revolution ist ihm in Deutschland verwehrt, deshalb sucht er sich die Wissenschaft als Feld der Wirklichkeitserfahrung. Die dritte These schließt hieran an. Der Professor ist nicht nur Erzieher und Kri­ ti­ker, sondern auch Forscher. Im Kontext von Universität und Wissenschaft ist die For­schung jedoch kein begeistertes Studium der Geheimnisse der Natur, keine ideenreiche Neulektüre aller überlieferten Schriften und auch keine erfindungsreiche Neugestaltung des technischen Zugriffs auf die Welt, sondern geduldige und pe­dan­ti­sche, sich selbst und der Welt misstrauende Arbeit. Das kann man den Blicken der Öf­fent­ lich­keit nur entziehen, da es den Erwartungen genialischen Wirkens so sehr widerspricht, dass in der Tat nur die Bilder des Philisters und Beamten den Sachverhalt zu tref­fen scheinen. Das muss man den Blicken der Öffentlichkeit jedoch zugleich auch prä­sen­tieren, da sie andernfalls kein Vertrauen in die Wissenschaft als ein bürger­li­ches Geschäft unter anderen gewinnen könnte. Es ist diese Arbeit des Forschers, die Brentanos Bild einer Philosophie, die sich nicht im Kreise dreht und damit nicht ins Nichts zurückdreht,24 am besten erfüllt. Denn der Forscher analysiert und synthetisiert und ist für beides an jene harten Be­ din­gungen einer Limitationalität des Möglichen gebunden, die möglicherweise den eigentlichen Erkenntnisgegenstand jeder Wissenschaft darstellen.25 Denn die Gren­zen sität Paul Valéry, »Monsieur Teste«, in: ders., Œuvres, hrsg. von Jean Hytier, Bd. 2, Paris: Gallimard 1960, S. 9 –75. 23 Der Kunstskepsis, die im Kunstgelehrten gipfeln muss, hat William Gaddis, The Recognition, New York: Harcourt, Brace & Co. 1955, ein Denkmal gesetzt. 24 So Brentano, Der Philister (Anm. 1), S. 20 –24. 25 Siehe zur Limitationalität als Kontingenzformel der Wissenschaft Niklas Luhmann, »Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese von Wissenschaft«, in: Nico Stehr und Volker Meja (Hrsg.), Wissenssoziologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1980 (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 22), S. 102 –139; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frank­ furt am Main: Suhrkamp 1990, S. 392 –397 u. 401– 406.

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des Möglichen sind weder qua Schöpfung noch qua Geschichte noch qua Vernunft gegeben, sondern korrelieren mit dem theoretischen und methodischen Geschick des Forschers, ohne dass es für dieses Geschick andere Anhaltspunkte gäbe als die der Wirk­lichkeit selber. Ohne den mal intuitiven, mal gesteuerten, in jedem Fall jedoch erst anschließend methodologisch überprüften Wechsel vom Ja zum Nein und vom Nein zum Ja, von der festen Kopplung zur losen Kopplung und wieder zurück zur festen Kopplung wüsste Forschung nicht, was sie tun und wie sie vorgehen sollte.26 Auf die Existenzform des Philisters lässt der Professor sich nur ein, weil er Zeit braucht, um Abstand zu seinen eigenen Vorurteilen sowie, fast noch wichtiger, zu den Vorurteilen seiner Kollegen zu gewinnen.27 Aber diese Existenzform sichert ihn auch ab. Immerhin ist es angesichts der Wirklichkeit der Wirklichkeit gut möglich, dass seine Forschung zu keinem Ende führt. Dann bleibt ihm nur, die Geste der Forschung zu habitualisieren und immerhin dies den Studenten mitzuteilen. Der Abstand zum Philister wird dann immer kleiner, doch dies schützt den Forscher vor seinen eigenen überspannten Erwartungen und es macht ihn zum vertrauenswürdigen Partner eines Studenten, der letztlich nicht die Augen davor verschließen kann, dass dieses Schicksal eines Lebens nach der Begeisterung auch ihn erwartet. Es sei denn, vierte These, der Professor wechselt ein weiteres Mal das Feld und wird vom Erzieher, Kritiker und Forscher zum Universitätsverwalter. Auch das ist ja möglich und auch auf diesem Feld kann er versuchen, sich vom Verdacht des Phi­lis­ trö­sen, des Geistlosen, des ewigen Neins, des behaglichen Materialismus zu befreien, indem er, später auch sie, die Universität als Ort der Unruhe definiert und Ver­wal­ tung als Reform betreibt. Jetzt geht es um das Ja zu den Grundlagen, zum Kanon, zum Curriculum und zur Prüfung und um das Nein zu allem, was die Selektion, die hier vorgenommen wird, auch als Selektion beschreibt. Deshalb sind die Verwaltung eben­ so wie die Reform der Universität so sehr auf den Bildungsgedanken angewiesen: Der Bildungsgedanke negiert den Automatismus, den die Universität als Anstalt den­noch zu ihrer Sache machen muss. Und deshalb feiert die Universität im Geiste Humboldts so sehr die Einheit von Forschung und Lehre: In dieser Einheit bleibt das Lernen ausgeblendet, und es kann so getan werden, als richte sich die Lehre – in unmittelbarer Verlängerung der Forschung – an einen studentischen Verstand, der mindestens so frei ist wie der des Professors.

26 Damit stimmt nicht nur die Wissenschaftstheorie überein, siehe nur Karl Popper, Logik der For­ schung, 11. Aufl., hrsg. von Herbert Keuth, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, Kap. 1, sondern auch die Wissenschaftsforschung, siehe etwa Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, und Bruno Latour, Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Social Science Stu­ dies, Cambridge, MA: Harvard UP 1999. 27 Siehe zur konstitutiven Rolle der Aufdeckung von Vorurteilen zugunsten neuer Vorurteile Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tü­ bin­gen: Mohr Siebeck 1990, bes. S. 271–275.

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Er ist es nicht, kann man dagegen nur betonen. Der Student muss lernen. Er ist besetzt von der Notwendigkeit des Lernens und von der Auseinandersetzung mit der Selektion der Grundlagen, des Kanons, des Curriculums und der Prüfung. Und ein weiteres Mal schlägt der Professor sich auf die Seite des Studenten. Als Verwalter und Reformer, soweit er dieses Thema überhaupt verfolgt, nimmt er den Berufs- und Arbeitsmarkt in den Blick und reformuliert von dort aus den Bildungsgedanken als Ausbildungsgedanken. Das war lange Zeit nicht sehr schwer, waren doch vor allem Schulen, Behörden und Labore die Abnehmer der Universitätsabsolventen und sorgten Armeen, Unternehmen, Kirchen und politische Parteien für ihren Nachwuchs lieber selber. Jedoch hatte auch dieser Fokus auf den nicht sehr freien Markt den Vorteil, den Akzent auf die Lehre legen zu können und das Lernen den Studenten zu überlassen: als ersten Schritt zur Einsicht in die Notwendigkeit einer eigenen Sorge um das eigene Leben, die eigene Biographie, die eigene Karriere, der jedoch als dieser erste Schritt noch als ein freier Schritt verstanden werden konnte, während das Notwendige sich einerseits außerhalb der Universität abspielt und andererseits auch dort als Verlängerung des freien Spiels des Möglichen unter härteren Bedingungen dar­ge­ stellt werden kann. Als Verwalter und Reformer akzentuiert der Professor das Nein der Selektion des Prüfungsstoffs als Ja zur Selektion des Studenten durch den Beruf und des Berufs durch den Studenten. Der Automatismus wird installiert, weil anders Erziehung nicht möglich scheint;28 und das Philiströse wird negiert, indem das Studium in jedem seiner Schritte als Aufbruch zu neuen Ufern gefeiert wird. Begeistert vertieft der Student sich in die Texte, die Experimente und die Übungen, die der Professor für ihn ausgesucht hat. Er, später auch sie, lernt, ohne dass man wissen müsste, wie er, später auch sie, das macht. Vielleicht machen beide es ganz unterschiedlich. Immerhin unterscheiden sich ja die Perspektiven.

III. Inwieweit dieses Sittenbild des deutschen Professors heute noch Gültigkeit besitzt, ist schwer zu sagen. Immerhin ist das Bild nicht nur von der Rede gegen die Philister, in der der Professor bezeichnenderweise nicht vorkommt, sondern auch von zwei Jahrhunderten deutscher Universitätsgeschichte gezeichnet. Der Professor ist als Er­zie­her, Kritiker, Forscher und Verwalter eine tragende Figur der deutschen Geistes­geschichte, die jedoch als Einheit der Differenz und damit in ihrer Ambivalenz von Philister und Antiphilister blass bleibt und letztlich dem Lehrer, dem Kulturkritiker, dem ge­nia­len 28 Siehe zur Kultivierung von Freiheit unter der Voraussetzung von Zwang: Immanuel Kant, »Über Pädagogik«, in: ders., Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 691–761.

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Forscher und dem Verwaltungsbeamten je für sich genommen das Feld überlässt. Als Ort der Erziehung zu einem universalen, das heißt nichts ausschließenden Wissen, das zugleich Diskurs und Macht ist und damit höchst spezifischen Zwecken folgt,29 ist die Universität, für die der Professor steht, nur undeutlich erkennbar, und dies nicht zuletzt deshalb, weil eine Gesellschaftstheorie, wie sie Karl Marx als Theorie des Ka­ pi­ta­lismus entworfen und Georg Büchner am buchstäblich zum Subjekt, zum Un­ter­ wor­fenen werdenden Individuum erprobt hat, noch nicht in der Form zur Ver­fü­gung steht, dass sie auch auf Bildung und Erziehung, Forschung und Lehre ange­wandt wer­ den könnte. Allenfalls zur Mitte des 19. Jahrhunderts, um die Wende vom 19. zum 20. Jahr­hundert und dann noch einmal in den 1960er Jahren wird der Professor etwas auf­fäl­liger, weil er das Katheder nutzt, um mit Blick auf die entstehenden Massenmedien und revolutionäre Bewegungen rund um den Klassenkampf für und wider den So­zia­lis­mus zu predigen. Seitdem begleitet nicht nur der Philister-, sondern auch der Dema­gogen­verdacht den Professor, ohne dass man genau wüsste, wie vor allem der zweite Verdacht in Berufungskommissionen und in Ministerien, die einer Berufung zu­stimmen müssen, gehandhabt wird. Auffällig ist immerhin, dass Professoren nach wie vor im blinden Fleck der Universitätspolitik zu agieren scheinen. Studenten, Forscher und Verwalter erfreuen sich hoher Aufmerksamkeit, doch der Professor, der Forschung, Lehre und Verwaltung in einer Figur vereint, ist bemerkenswert abwesend. Fast hat man den Eindruck, dass sich an ihm und nur an ihm (und natürlich: an ihr und nur an ihr) die Prophezeiung Humboldts erfüllt, dass die reformierte Universität in der Einsamkeit und Freiheit des Pro­fes­sors ihren Zielpunkt hat. Es gibt also keinen Grund, sich zu beschweren. Und in der Tat geht es mir auch nicht darum, mich zu beschweren. Es geht mir darum, darauf hinzuweisen, dass wir heute nur undeutliche Bilder vom Hochschullehrer haben und dass er im Sittenbild deutscher Befindlichkeiten allenfalls als Autor und Adressat von Zeitungsartikeln im Feuilleton sowie hier und da als Berater ehrgeiziger Politiker eine Rolle spielt. Selbst der Deutsche Hochschulverband versteht sich als »Berufsvertretung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern«30 in Deutschland, so als sei mit der Zugehörigkeit eines Professors zu einer wissenschaftlichen Disziplin bereits alles gesagt. Auffällig ist dies deshalb, weil dem Professor damit nur noch als Mitglied einer Profession und hier der Profession der Wissenschaft, nicht einmal der Erziehung, gesellschaftliche Aufmerksamkeit widerfährt. Sein Anteil am Übergang der jungen Erwachsenen vom Nicht-Akademiker zum Akademiker bleibt ausgespart, so als sei die­ ser Übergang tatsächlich nichts anderes als das Ergebnis eines Studiums, in dem die Studenten selbsttätig die Flausen der Jugend ablegen und sich das Verantwortungsgefühl des Erwachsenen überstreifen. 29 Im Sinne des Diskursbegriffs von Michel Foucault, Was ist Kritik?, übers. von Walter Seitter, Berlin: Merve 1992, etwa S. 31–33. 30 So http://www.hochschulverband.de/cms1/.

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Das ist auch das Ergebnis einer systemischen Strukturaufstellung unter der Lei­tung von Matthias Varga von Kibéd, an der ich an der Universität Witten / Herdecke im Mai 2001 einmal das Vergnügen hatte teilzunehmen.31 Aufgestellt wurde der beabsichtigte Diplomabschluss eines Studenten. Mit aller Sorgfalt wurden die vom Studenten, dem Fallbringer, für erforderlich gehaltenen Bestandteile der Struktur benannt, mit menschlichen Stellvertretern versehen, im Raum aufgestellt und zueinander positioniert: der Student, die Kommilitonen, das Diplom, die Eltern, der Präsident der Universität, der Arbeitsmarkt. Irgendwann unterbrach der Therapeut die Aufstellung und wandte sich mit der Frage zunächst an den Fallbringer und dann an das studentische Publikum, ob die Struktur für sie vollständig sei oder ob sie vorschlagen würden, das eine oder andere Element zu ergänzen oder auch zu entfernen. Die Struktur erschien allen vollständig. Dann wandte sich der Therapeut mit derselben Frage an die drei begleitenden Professoren, die ebenfalls keine Ergänzungs- oder Streichungsvorschläge machten, sich jedoch erlaubten, darauf hinzuweisen, dass es offenbar für keinen Beteiligten einen Bedarf gab, einen Professor oder auch mehrere Professoren aufzustellen. Die Struktur eines Diplomstudiums an einer Universität war auch ohne Professoren vollständig. Vor dem Hintergrund des in diesem Beitrag entworfenen Sittenbildes ver­wun­dert (und kränkt) das Ergebnis der Strukturaufstellung an der Universität Witten / Herdecke mich nicht. In der Dialektik von Student und Philister ist für den Professor zum einen kein Platz, muss der Professor als Supplement einer ebenso notwendigen wie un­ mög­lichen Unterscheidung doch zugleich so unsichtbar wie irgend möglich gehalten werden.32 Der Professor ist das lebende Beispiel dafür, dass aus Studenten Philister werden und Philister Studenten bleiben können. Die Unterscheidung ist falsch ge­ setzt und bezieht vermutlich gerade daraus einen Teil ihrer sozialen Dynamik. Der Raum dieser Unterscheidung strukturiert den Übergang vom Jugendlichen, der die Eier­schalen seiner Familie, seines Dorfes oder seiner Straße noch hinter den Ohren kle­ben hat, zum Städter, der dann jedoch primär kein Akademiker ist, sondern Leh­rer und Beamter, Wissenschaftler und Angestellter. Das Akademische hat in diesem Sittenbild nur als Erinnerung an die studenti­ schen Zeiten und als kaum reflektierte theoretische und methodische Kompetenz im 31 Siehe zum Verfahren Matthias Varga von Kibèd, Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und an­ de­re Grundformen Systemischer Strukturaufstellung – für Querdenker und solche, die es werden wollen, 2., korr. Aufl., Heidelberg: Carl-Auer-Verlag 2000; und vgl. Dirk Baecker, »Therapie für Erwachsene: Zur Dramaturgie der Strukturaufstellung«, in: Torsten Groth und Gerhard Stey (Hrsg.), Poten­ziale der Strukturaufstellung. Innovative Ideen und Anwendungsbereiche, Heidelberg: Carl-Auer-Verlag 2007, S. 14 –31. 32 Siehe zum Begriff und Konzept des Supplements Jacques Derrida, Grammatologie, übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 [1967], S. 248 – 251; und Jean-Pierre Dupuy und Francisco J. Varela, »Kreative Zirkelschlüsse: Zum Verständnis der Ursprünge«, in: Paul Watzlawick und Peter Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Kon­ struk­tivismus, München: Piper, 1991, S. 247–275.

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Be­ruf ihren Platz. Alles Wichtige, davon geht man im Land der Handwerker und Gewerbetreibenden sowieso aus, lernt man erst on the job beziehungsweise ›in der Praxis‹, wie man so schön sagt, als seien Forschung, Lernen und Wissenschaft nicht mit Praxis verbunden. Einmal im Beruf angekommen, erinnert man sich an einige der ei­ge­nen Professoren, an ihre Skurrilitäten und Verlegenheiten, zuweilen auch an die eine oder andere ihrer Weisheiten, doch das bedeutet nicht, dass irgendeiner ihrer methodischen und theoretischen Kniffe irgendjemandem im Gedächtnis geblieben wäre. Eine be­ stimmte, zuweilen auch als ›Theorie‹ verstandene akademische Haltung nimmt man mit, ebenso ein gewisses methodologisches Handwerkszeug in der Kunst der Ar­gu­ men­tation, der Inhaltsanalyse und der Datenauswertung, aber damit erschöpft sich auch bereits die Erinnerung an die Universität und an die Professoren, die sich dort so hin­gebungsvoll um die Einheit von Forschung und Lehre kümmern. Ich teile diesen Befund hier nur als ein weiteres empirisches Datum zur Einschät­ zung des institutionellen Rahmens der modernen Gesellschaft mit.33 So unverzicht­ bar die Universität in diesem Rahmen als Ort eines nicht einzuschränkenden, eben universellen Wissens ist, so marginal ist dabei die Rolle der Professoren. Denn nicht sie gelten als die Träger dieses universellen Wissens, sondern ihre Texte und ihre Fa­ kul­tä­ten sowie der Streit dieser Texte und der Fakultäten untereinander. Und auch von diesem Streit bekommt man oft nur mit, was die Lehrbücher über ihn be­rich­ten. Denn den Studenten mutet man sicherheitshalber nur die Texte, Experimente und Übun­gen zu, die Antworten geben, nicht jene, die Fragen aufwerfen. Mit den Professoren gerät jedoch auch das Handeln an den Universitäten aus dem Blickfeld. Wenn Professoren in ihren deshalb so bezeichneten ›Vorlesungen‹ nur Leser bereits geschriebener Texte und wenn diese Texte nur Protokolle einer erlebten Wirklichkeit sind, dann in der Tat ist es gerechtfertigt,34 das Handeln sowohl der Wissenschaftler wie der Hochschullehrer auszublenden. Das Interesse am begeisterten Übermut der Studenten sowie an der steifen Behäbigkeit der Philister mag dazu beigetragen haben, einen emphatischen Handlungsbegriff, den die einen übererfüllen und dem die anderen nicht genügen, zu pflegen. Das werden wir uns jedoch nicht länger leisten können. Auch die Universität mit ihren Professoren ist ein ›Format‹, wie man heute 33 Es würde sich lohnen, der spezifischen Überschätzung der Universität und der Wissenschaft für die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft nachzugehen, mit der Talcott Parsons zu­nächst Hei­del­berg und dann Harvard beobachtet hat (siehe Talcott Parsons und Gerald M. Platt, The Ame­ ri­can University, Cambridge, UK: Cambridge UP 1973). 34 Siehe zur Attribution von Kommunikation im Medium Wahrheit auf das Erleben sowohl des Mitteilenden wie des Empfängers, so als sei auf beiden Seiten Handeln, also Performanz (siehe Derrida, L’Université sans condition [Anm. 12], S. 23 f. u. ö.), nicht im Spiel, Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft (Anm. 25), S. 140 –147 u. 221–223. Dass sich die Attribution von Wissenschaft auf Erleben nicht von selbst versteht, unterstreicht unter Berufung auf Novalis auch Remigius Bunia, »Lite­ra­tur­wissenschaft als kontrollierter Weltkontakt: Novalis’ universale Poetik und das Wesen der Philologie«, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 18 (2008), S. 15 –50, hier bes. S. 39 f.

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sagt, der Dingpolitik,35 aber auch der Sozialpolitik36 und der Zeitpolitik37 und damit daraufhin zu überprüfen, was sie sichtbar macht und unsichtbar macht, wem sie einen Blick auf die Dinge gönnt und wem sie diesen Blick vorenthält, wie viel Zeit sie sich nimmt, um das eine zu betrachten und das andere zu übersehen, und vor allem: was sie jeweils praktisch tut, um das eine zu ermöglichen und das andere zu lassen.38 Der Professor gehört zum kognitiven Format der Universität. Er ist nicht das einzige, aber doch ein Nadelöhr der Erkenntnisproduktion. Er ist ein Philister und er ist kein Philister. Es wäre wichtig herauszufinden, ob es eine Semantik gibt, die ihn bes­ ser trifft als die des Philisterverdachts und die es erlaubt, ihn daraufhin zu beobachten, was er tut und was er nicht tut. Andernfalls greift die Universitätsverwaltung zu, unter­ wirft seine Arbeit modischen ökonomischen Kriterien, kühlt ihren hoch­schul­po­li­ti­ schen Mut an ihm und weiß nach kurzer Zeit nicht mehr, was sie einmal an ihm – und ihr – hatte. Unser Sittenbild erweist den Professor als eine Figur, die offenbar grundsätzlich auf dem falschen Bein erwischt wird. Er soll lehren, obwohl seine Kompe­tenz 35 Im Sinne von Bruno Latour, Von der Realpolitik zur Dingpolitik oder Wie man Dinge öffentlich macht, übers. von Gustav Roßler, Berlin: Merve 2005. 36 Auch im Sinne von Bill Readings, The University in Ruins, Cambridge, MA: Harvard UP 1996, S. 190 f., der sich ein Überdenken des »social bond« wünscht, das die Gelehrten ebenso wie die Schü­ ler und Lehrer innerhalb ihrer »community of dissensus« untereinander anders verbindet als in an­de­ ren Institutionen der Gesellschaft: »[T]he University will have to become one place, among others, where the attempt is made to think the social bond without recourse to a unifying idea, whether of culture or of the state. In the University, thought goes on alongside other thoughts, we think beside each other. […] There is no property in thought, no proper identity, no subjective ownership.« 37 Der von Rektoren europäischer Universitäten 1988 initiierte und von europäischen Bildungsmi­ nistern 1999 bekräftigte so genannte Bologna-Prozess zielt in erster Linie auf den Ausbau der Uni­ver­ sitäten, die Garantie der Freiheit von Forschung und Lehre und den verstärkten Austausch von Stu­ dierenden und Lehrenden zwischen den Universitäten und den Kulturen, in die sie eingebettet sind. Die diesem Zweck dienende Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen bewirkt jedoch in zweiter Linie eine deutliche Verkürzung der Studienzeiten, dank derer die Absolventen der Univer­ si­täten nicht nur dem Arbeitsmarkt früher zur Verfügung stehen, sondern auch auf eine knappere Taktung ihres Arbeitsmodus vorbereitet werden, die, so hofft man, dem gewachsenen Problem­druck angemessener ist als die fachbezogene Ausbildung in den Diplomstudiengängen früherer Zeiten. Kür­zere Studienzeiten garantieren im Verbund mit lebenslanger Weiterbildung eine risikobewusste und flexible sowie in den einzelnen Inhalten wiederauflösbare, das heißt nach Möglichkeit keine Pfad­ab­hängigkeiten bildende Aneignung von Wissen. Siehe zum Ausgangspunkt die Magna Charta Uni­ver­sita­tum, abrufbar unter http://www.magna-charta.org, und vgl. zum gegenwärtigen Stand der Dis­kus­sion das Jahresgutachten 2008 des Aktionsrats Bildung, veröffentlicht unter: Vereinigung der bayeri­schen Wirtschaft e. V. (Hrsg.), Bildungsrisiken und ‑chancen im Globalisierungsprozess. Jahres­ gut­achten 2008, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, bes. S. 26 –38. Das ist der endgültige, die gesamte Kompetenz der versammelten Bildungsadministrationen in Anspruch nehmende Triumph über die Philister. Jetzt zählt nur noch die Begeisterungsfähigkeit. 38 Ein Seminar an der Universität Witten / Herdecke erkannte man seinerzeit unfehlbar daran, dass die Studenten zu Beginn die Tische und Stühle so verrückten und zueinander schoben, dass eine Diskussion aller mit allen möglich war.

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als Forscher darin besteht, Fragen zu stellen. Er soll forschen, obwohl er gelernt hat, den Studenten beizubringen, auf bekannte Fragen bekannte Antworten zu geben. Er soll sich an seine Fachdisziplin halten, obwohl seine Fragen keine Disziplin und seine Problemstellungen keine Fachgrenzen kennen. Er soll die Universität verwalten, obwohl er sie dauernd verändern möchte. Und er soll die Universität verändern, ob­wohl er nichts nötiger hat als unauffällig stabile Verhältnisse. Am Ende ist er, aus­ge­rech­net er – und sie natürlich – die Unruhe im System, die weder auf Innovation noch auf Tra­ dition festgelegt werden kann.

Personenregister

Abälard  56 Abbott, Scott  199 Adelung, Johann Christoph  25, 56, 62, 132, 205 Adolf, Marian  492 Adorno, Theodor W.  18, 48, 434, 483, 486, 497 Aichele, Alexander  279 Albrecht, Wolfgang  215–218, 232 f. Alenfelder, Klaus Michael  57 Alt, Albrecht  146 Althaus, Thomas  281 Amann, Wilhelm  32 Ammermann, Nancy T.  492 Andersch, Alfred  188 Anton, Bernd  352 Apel, Friedmar  297 f. Apinus, Siegmund Jacob  56, 60 Archimedes  62 Arendt, Dieter  93, 256, 261, 283, 292, 306, 322, 324 f., 329, 358, 416, 457, 500 Arendt, Hannah  31, 254 Aristoteles  99 Arndt, Ernst Moritz  68 Arnim, Achim von  26, 31 f., 87, 123, 195 f., 241–249, 253–258, 261–276, 279, 292– 294, 301, 314, 316, 319, 326, 351, 357–361, 420 Arnim, Bettina von  siehe Bettine Arnold, Matthew  51, 384–386, 388, 390 Ascher, Saul  32 f. Ash, Mitchell G.  213

Assmann, Aleida  364, 374 Attridge, Harold W.  176 Augustin, Christian Friedrich Bernhard  69 Augustinus  169 Avnery, Uri  187 f. Bab, Julius  91 f. Bachtin, Michail M.  345 Baecker, Dirk  16, 50, 116, 283, 410 f., 493, 503, 509 Bärnstein, Adolf Pernwerth von  72 Bahr, Hermann  97 f. Bakunin, Michail Alexandrowitsch  404 Balzac, Honoré de  39 Barbey d’Aurevilly, Jules  427 f., 430 f. Barck, Karlheinz  502 Bardeleben, Heinrich  67 Barnard, Chester I.  115 Bartels, Adolf  133 Barth, Johannes  33, 256, 501 Bateson, Gregory  112 Batteux, Charles  197, 228 Baudelaire, Charles  375, 421, 423, 427 f., 445, 483 Bazinger, Irene  481 f., 485 Becher, Tony  51 Beckedorff, Georg Philipp Ludolph  245 f. Becker, Sabina  139 Beech, Dave  39 Beerbohm, Max  422, 430 Ben-Shlomo, David  145

514 Benjamin, Walter  46, 68, 94 f., 433–448, 451 Benn, Gottfried  98 f. Bennett, Arnold  448 Berdyczewski, Micha Josef  siehe Bin Gurion, Micha Josef Berend, Alice  18, 132–141 Berg, Leo  127 Bergengruen, Maximilian  304 Berghahn, Klaus L.  216 f., 222 Bergmann, Benjamin von  68 Bettine  41, 44, 89 f., 243, 254, 266 Beutel, Albrecht  105, 107 Beyme, Karl Friedrich von  210 Bies, Werner  163 Biller, Maxim  483, 497 Bin Gurion, Micha Josef  178 Bischoff, Doerte  47, 502 Blackwell, Thomas  86 Blanckenburg, Friedrich von  81 Blawid, Martin  204 Blechschmidt, Stefan  82 Boas, Eduard  90 Bocian, Martin  172 Bodenheimer, Alfred  188 Bödeker, Hans Erich  67 Böhler, Michael  274 Böhme, Jakob  250, 256 f. Börne, Ludwig  44 f., 365, 371, 378–380, 483 Börner-Klein, Dagmar  24, 479 Börsch-Supan, Helmut  315 Bohrer, Karl Heinz  48, 287 Bollenbeck, Georg  41, 364, 457, 502 Borbein, Adolf  325 Borchardt, Rudolf  352 Borchmeyer, Dieter  460 Borges, Jorge Luis  483 Bormann, Alexander von  437 Bosse, Heinrich  20, 26, 37, 40, 58, 61, 56, 74, 82, 85 f., 96, 138, 207, 230, 259, 358, 362 Bothe, Rolf  330 Bourdieu, Pierre  363 Bourel, Dominique  215 Brecht, Martin  103–107 Brentano, Bettina  siehe Bettine Brentano, Clemens  26, 29, 31 f., 35 f., 40, 47, 87–90, 101, 105–118, 123–130, 134, 138, 196, 241–251, 253–283, 285–309, 311–

Personenregister 325, 329, 334 f., 337–339, 344 f., 351, 357– 371, 381, 418–421, 425, 457–461, 476, 499–501, 505 Brentano, Franz  285, 289 Breuer, Stefan  492 Brodey, Inger Sidrun  199 Bröckling, Ulrich  79 Brokoff, Jürgen  254 f., 262, 282 Brug, John F.  178 Brummack, Jürgen  338 f. Brummell, George  427 f., 431 Bude, Heinz  116 Büchmann, Georg  14 Büchner, Georg  365, 374–379, 501, 508 Bührmann, Max  340 Bülow, Frieda Freiin von  133 Bürger, Christa  25 Buff, Charlotte  226 Bungartz, Christoph  464 Burdajewicz, Mariusz  145 Busch, Wilhelm  72, 91 Calzabigi, Ranieri de  251 Campe, Joachim Heinrich  203–205 Campe, Rüdiger  104 Carey, John  479 Carlebach, Julius  264 Carlyle, Thomas  423–426, 461, 504 Carter, Rand  330 Celtis, Konrad  63 Cervantes, Miguel de  365 Cha, Kyung-Ho  46, 95 Chambers, Ross  467 Chamfort  452 Chandler, Richard  317 Cicero  62, 64 Clark, William  110, 200, 210 Claudius, Matthias  377 Clauren, Heinrich  68, 495 Cohen, Shaye J. D.  176 Colli, Giorgio  396 Croitoru, Joseph  24, 126 Cross, Frank M.  146 Cruciger, Mauritius  86 Dahlke, Birgit  435 Dallago, Carl  44 Dante  395 Danto, Arthur C.  96

Personenregister Darwin, Charles  91 de Bruyn, Günter  215 f. Demand, Christian  39 DeMille, Cecil B.  185 Demsky, Aaron  146 Derrida, Jacques  199, 501 f., 509 f. Deržavin, Gavriil R.  300 Deuber-Mankowsky, Astrid  434 Diderot, Denis  79 Diodorus Siculus  168 Doebber, Adolf  313 Döblin, Alfred  136, 462 Dörr, Volker C.  234 f. Dohm, Hedwig  126, 129, 133, 140 Doll, Martin  485, 491 Dothan, Moshe  145, 182–185 Dothan, Trude  145, 147 f., 182–185 Drews, Robert  182 Duchamp, Marcel  483 Dudek, Peter  434 Dumézil, Georges  23, 166–172 Dupuy, Jean-Pierre  509 Dutt, Carsten  15 Echte, Bernhard  452 f. Eckermann, Johann Peter  19 f., 35, 87, 501 Edschmid, Kasimir  135 Effe, Bernd  168 Ehrlich, Carl S.  145 Eichendorff, Joseph von  36, 61, 88–90, 306, 316, 329, 337–353, 358, 372, 416 f., 423 Eilenberger, Rudolf  83 El-Akramy, Ursula  134 Ellenbogen, Maximilian  151 Elliott, Dorice Williams  132 Ellrich, Lutz  502 Emmerick, Anna Katharina  291 Engelhardt, Ulrich  41, 457 Engel, Johann Jakob  207 Engels, Friedrich  44 f., 378, 397–408, 445 f. Erasmus von Rotterdam  63 Erhart, Walter  20, 26 f., 122, 205, 214, 229, 371–374, 428, 485 Erikson, Erik H.  76 Ernst, Christoph  480

515 Fabricius, Wilhelm  71 Falk, Rainer  215 Feilchenfeldt, Konrad  256 Felwinger, Johann Paul  60 Fengcheng, Sun  51 Fenollosa, Ernest  395 Ferber, Johann Carl Christoph  62 Fest, Joachim C.  255 Fetzer, John F.  299, 301 Feyerabend, Paul  506 Fichte, Johann Gottlieb  27, 32, 36–39, 75 f., 84, 88 f., 207–212, 233 f., 242–244, 250, 253–261, 264, 275–282, 293–295, 313 f., 323–325, 334 f., 342, 501, 505 Filistri da Caramondani, Antonio de  251 Finkelstein, Israel  145 f., 166 Fischer, Joschka  496 Flaschka, Horst  197, 200, 202 Fleißer, Marieluise  135 Flemming, Jens  92 Fögen, Marie Theres  17 Förster, Christian Otto  35 Förster, Ernst  35 Follen, August Ludwig  90 Fontane, Theodor  311, 320 f., 364 f. Forel, Auguste  438 Forget, Philippe  198 Forster, Kurt W.  312 Forsyth, Neil  479 Foucault, Michel  10, 46, 95, 508 Fouqué, Friedrich de la Motte  316, 342, 345, 348 Fourier, Charles  439 Francke, August Hermann  103–113 Frank, Manfred  255, 259, 277 Freiligrath, Ferdinand  291 Frenzel, Elisabeth  164, 172 Friedenthal, Richard  231 Friedrich, Hugo  453 Frisi, Paolo  320 Fritsch-Vivié, Gabriele  188 Frobenius, Leo  394 f. Frühwald, Wolfgang  254 f., 291, 337 Fuß, Peter  221 Gadamer, Hans Georg  506 Gaddis, William  505 Gall, Franz Joseph  298 f. Gass, Erasmus  178

516 Gaus, Joachim  332 Gebauer, Christian August  35 Geitner, Ursula  18 f., 127 Genette, Gérard  133, 341 George, Stefan  352, 492 Geßner, Salomon  343 Geulen, Eva  474 Gide, André  462 Giese, Fritz  131, 134 f. Gille, Klaus F.  222 Gillmayr-Bucher, Susanne  188 Gilly, David  313 Gilly, Friedrich  313 Giseke, Nicolaus Dietrich  61 Gitin, Seymour  146 Gitler, Haim  149 Glaßbrenner, Adolf  47 Gluck, Christoph Willibald  251 Gmelin, Otto  134 Görres, Johann Joseph  36, 285–309, 313–317 Goethe, Johann Wolfgang  13, 19 f., 24–30, 35, 44, 48, 73–87, 93–97, 122, 195–214, 215, 224–237, 241, 259, 263, 286, 297, 301–303, 307, 313–316, 320, 326, 337 f., 347, 367, 372, 377 f., 389–393, 448, 456– 460, 470 f., 501, 516–518 Götze, Alfred  97 Goldschmidt, Lazarus  187 Golz, Jochen  85 Gombrich, Ernst Hans  497 Gottsched, Johann Christoph  74, 107 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie  107 Greenfield, Jonas C.  175 Gregorius  56 Greiner, Bernhard  16 Grellmann, Heinrich M. G.  269, 271, 274 Greven, Jochen  451 f., 463 Grimm, Emil Ludwig  110, 294 f., 376 Grimm, Jacob  56, 62, 110, 273, 314, 317, 326, 371, 376 Grimm, Wilhelm  56, 62, 110, 273, 314, 317, 376 Gropius, Karl  315 Großheim, Michael  49 Grossman, David  190 f. Groys, Boris  49, 490 Grün, Karl  439 Grus, Michael  314–316

Personenregister Guarini, Giovanni Batista  251 Günther, Johann Christian  65 Gunkel, Hermann  165 f., 172 Gunn, David M.  172 Hackert, Fritz  452, 476 Häcker, Annabel Phöbe  218, 222 Härtl, Heinz  254 Hagedorn, Friedrich von  61 Hagen, Hermann  72 Hagen, Kirsten von  47 Hajek, Siegfried  351 Hallbach, Uwe  283 Hamacher, Bernd  86 Hammerstein, Notker  78 Happel, Eberhard Werner  64 f. Hardenberg, Friedrich von  siehe Novalis Hartmann, Michael  364 Hartwich, Wolf-Daniel  361 Haß, Ulrike  214 Hauff, Wilhelm  437 Haus, Andreas  332 Hausmann, Otto  99 Hausstein, Alexandra  492 Haydn, Joseph  306 Hediger, Vinzenz  464 Heer, Georg  71 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  18, 40, 44, 73, 91, 101, 121–126, 131, 137, 141, 206 f., 342, 378 f., 389, 402 f., 406–408, 424, 455 f., 504 f. Hegemann, Carl  49, 481 f. Heidegger, Martin  118 Heider, Fritz  503 Heine, Charlotte  369 Heine, Heinrich  29 f., 32, 39 f., 44–46, 64, 188, 196, 293, 306, 329, 341, 345, 351, 357–381, 459, 483, 500, 503 Heinrich, Klaus  481 Heinz, Andrea  82 Heisig, Karl  132 Hellbach, Johann Christian von  57 Helms, Hans G  140, 460 Helvétius, Claude-Adrien  74 f., 79, 87 Henckmann, Gisela  254 Henne, Helmut  76 Hennis, Wilhelm  109, 112–115 Herder, Johann Gottfried  81, 199, 320, 326 Herder, Karoline  326

Personenregister Herrmann, Elsa  129–131 Herrmann, Ulrich  78, 95 Hesse, Hermann  451 Heun, Carl  siehe Clauren, Heinrich Heuß, Alfred  495 Heyer, Ilse  341, 344 f. Heyne, Christian Gottlob  83, 197, 200, 323 f. Hildebrand, Olaf  378 Hiller, Ernest Theodore  444 f. Himmler, Heinrich  282 Hinrichs, Carl  104–108 Hirsch, Helmut  254 Hirt, Aloys  321–329 Hitler, Adolf  255, 282 Höge, Helmut  49 Höhn, Gerhard  375 Hölderlin, Friedrich  118, 398, 470, 473, 484 Hoepfner, Wolfram  317 Hörbrand, Maria  129, 131 Hörisch, Jochen  206 Hoffmann, E. T. A.  33 f., 281, 299, 301, 339, 423, 458 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich  45, 92 Hofstaetter, Ulla  306, 329, 345, 358, 361, 367, 371, 378, 380 Hohendahl, Peter Uwe  204 Holbach, Paul Henri Thiry de  74 Homer  69 f., 86, 195, 198, 201, 210, 349, 395, 411 Honigsheim, Paul  38 Honneth, Axel  116 Horatius Lucius  59 Horaz  222, 230 Horst, Thomas  461 Huber, Michael  214 Huch, Ricarda  127, 472 Huelsenbeck, Richard  129, 131, 135 Huerkamp, Claudia  18 Hughes, Everett C.  444 Humboldt, Alexander von  313, 323 f. Humboldt, Caroline von  313, 324 Humboldt, Wilhelm von  20 f., 27, 89, 94, 198, 206–214, 313, 323 f., 331 f., 384 f., 485, 501, 506–508 Huppert, Shmuel  190 Huysmans, Joris-Karl  427 f.

517 Iffland, August Wilhelm  343 Imai, Yasuo  442 Imgart, Otto  72 Iser, Wolfgang  223 Isler, Jean  304 Jabotinsky, Ze’ev  185 Jacob, Heinrich E.  130 f. Jacobi, Juliane  105 Jaeggi, Rahel  498 Janitschek, Maria  126 f. Janz, Marlies  128 Japp, Klaus P.  493 Jean Paul  34 f., 61, 73, 114, 248–250, 261, 277, 281, 293, 295, 299, 301, 423 Jeismann, Karl-Ernst  89 Jenisch, Daniel  81 Jerusalem, Karl Wilhelm  195 Josephus, Flavius  177 Joyce, James  395 Jung-Stilling, Johann Heinrich  27 f., 217– 224, 228, 232, 235 Kablitz, Andreas  124 Kafka, Franz  445, 451 Kajetzke, Laura  19 Kant, Immanuel  63, 222, 271, 297 f., 485, 495, 498, 504–507 Karsten, Gustaf E.  297 Kastinger Riley, Helene M.  314 Katz, Jacob  264 f. Kaube, Jürgen  19 Kauffmann, Kai  341 Kautsky, Karl  399, 408, 412 Keck, Annette  27 f., 36, 48, 228, 236, 281, 502 Keller, Gottfried  40, 206, 222, 341 Kelsen, Hans  485, 495 Kemp, Friedhelm  251 Kerll, August  327 Kermode, Frank  487 Kerner, Justinus  298 Kestner, Johann Christian  200, 226, 233 Key, Ellen  128–131, 472 Kierkegaard, Søren  291 f., 416, 418 Kieserling, André  201 f. Killebrew, Ann E.  145 Kindleben, Christian Wilhelm  56, 69 f. Kirkconnell, Watson  172

518 Kittler, Friedrich  198 Klaj, Johann  64 Kleinheins, Peter  141 Kleßmann, Eckart  254 Kletter, Raz  145 Klopstock, Friedrich Gottlieb  195, 198, 201 f., 210, 342, 361 Kluge, Friedrich  14, 29, 55 f., 64, 66, 77, 101–107, 114, 196, 357, 364, 377, 458 Kluge, Gerhard  32 Knopp, Norbert  312 Koch, Georg Friedrich  332 Köhler-Zülch, Ines  269 König, Ralf  485 Königswinter, Wolfgang Müller von  371 Köpke, Rudolf  243 f., 294 Körner, Josef  254 Kollmann, Franz  141 Konersmann, Ralf  15 Konfuzius  395 Koschorke, Albrecht  26, 199, 201 Koselleck, Reinhart  9, 15, 28, 41, 66, 80, 398, 403 f., 457, 494 Košenina, Alexander  215, 420 Koster, Severin  216 Kotzebue, August Friedrich Ferdinand von    34 Kracauer, Siegfried  131, 462 Krappe, Alexandre H.  164, 172 Kraus, Christian Jakob  271 Kraus, Karl  41–43, 66, 397, 439 Krause, Karl Christian Friedrich  342 Krausser, Helmut  48 Krebs, Johann Philipp  58, 64 Kreuzer, Helmut  38, 296 Krische, Paul  130 Krüger, Gustav  56 Kruse, Otto  212 Kuchler, Gabriele  340, 352 Kucklick, Christoph  201 f. Kühn, Margarete  330 Kugler, Stefani  274 f. Kupffer, Heinrich  435 La Roche, Sophie von  227 La Rochefoucauld, François de  452 f., 456 La Vopa, Anthony J.  208 Laermann, Klaus  95 Landmann, Richard  63

Personenregister Lang, Bernhard  23, 167, 169, 172, 184, 189 Lassaulx, Marie Christine Clementine  300 Latour, Bruno  487, 506, 511 le Roy, Julien-David  317 Lehmann, Gustav A.  146 Lehmann, Johannes F.  74 f., 146 Lehmann, Maren  21, 46, 104, 114, 486, 489, 502, 504 Lemardelé, Christophe  169 Lemmel, Monika  465 Lenin, Wladimir Iljitsch  46, 397–414, 489 Lenk, Elisabeth  422 Lenz, Jakob Michael Reinhold  27, 70, 74, 86, 110 Leo, Heinrich  89 Leopardi, Giacomo  392 Lepenies, Wolf  502 Lessing, Gotthold Ephraim  83, 204, 215 f., 343, 456 Levin, Menasche  185 Lichtenberg, Georg Christoph  10, 476 Lindner, Burkhard  442 Lindner, Rolf  436, 442, 503 Link, Jürgen  75, 141 Löben, Otto Heinrich Graf von  345 Löffler, Jörg  199 Lohan, Max  134, 294 Lohmeier, Anke-Marie  65 Lubkoll, Christine  301, 303 Lucassen, Leo  269 Ludovici, Jakob Friedrich  59 Ludwig, Walther  62 Luhmann, Niklas  9, 16, 21, 27, 29, 34, 43, 101–120, 128, 205, 406–413, 417, 485 f., 491, 493, 495, 501, 505, 510 Lukács, Georg  384 Luserke, Matthias  74, Luther, Gabriel  64 Machiavelli, Niccolò  479 Mächler, Robert  455 Maeir, Aron M.  145 f. Maistre, Joseph de  468, 471 Maistre, Xavier de  466–472, 476 Mallarmé, Stéphane  42, 375 Mann, Erika  136 Mann, Heinrich  93, 220 Mann, Thomas  45, 206, 462, 502 March, James G.  412

Personenregister Marchand, Suzanne  210 Margalith, Othniel  145 Marquard, Odo  454 Martyn, David  276–278, 485, 491 Marx, Karl  45 f., 91 f., 101, 369, 379, 397– 409, 434, 439, 445–448, 501, 508 Matala de Mazza, Ethel  263, 265, 268 Matt, Peter von  79, 462 Maximilian von Bayern  330–335 Mazar, Amihai  145 f. Meier, John  65, 71 Meighörner, Wolfgang  141 Meiners, Christoph  57 Melanchthon, Philipp  63 Mendelssohn, Moses  215 f. Menninghaus, Winfried  255, 259, 277 Merck, Johann Heinrich  97 Mermet, Frieda  453, 462 Merton, Robert K.  444 Metzger, Stefan  301 Meyer, Herman  41, 89 f. Meyer-Krentler, Eckkardt  226 f., 232 Michaelis, Heinz  133, 136 Michaels, Walter Benn  497 Michelet, Jules  417 Michels, Robert  110 Michelsen, Peter  466 Miller, Johann Peter  69 Mirabeau, Honoré Gabriel Riqueti de  389 Mittelstraß, Jürgen  501 Mittermeier, Marcus  498 Mix, York-Gothart  454 Möller, Horst  215 f., 231 Moering, Renate  249 Montesquieu  456, 476 Montinari, Mazzino  396 Morgenstern, Christian  475 Morgenstern, Mira  181 Morgenthaler, Ernst  463 Moritz, Karl Philipp  313 Morlang, Werner  468 Motté, Magda  177 Mühsam, Erich  38 Müller, Adam Heinrich  245 Müller, Günther  135 f. Müller, Peter Wilhelm Karl  siehe Königswinter, Wolfgang Müller von Müller-Bahlke, Thomas  105 Müller-Kampel, Beatrix  234 f.

519 Müller-Schöll, Nikolaus  214 Münch, Richard  486 Musil, Robert  451 Napoleon I.  314–316 Naveh, Joseph  146 Neubart, Christoph  64 Neuhaus, Stefan  205 Neumeyer, Fritz  313 Neumeyer, Harald  20, 61, 85 f. Nicolai, Christoph Friedrich  27 f., 36, 195, 205, 215–237, 281, 298, 343 Niditch, Sudan  165 Niehaus, Michael  451 Niemann, Hermann Michael  183 Nienhaus, Stefan  31 f., 47, 101, 241, 245, 253–257, 261–264, 281, 292, 295, 314, 357, 420 Nietzsche, Friedrich  20, 41–48, 90–94, 109, 116, 140, 213, 325, 363–365, 375, 383– 396, 441, 453, 456–461, 475 f., 483, 489 f. Nolte, Cornelia  339, 343 Noort, Ed  146 Norberg, Jakob  41 Novalis  25, 30 f., 187, 199, 206, 255, 259, 261, 281, 286 f., 339, 347 f., 510 Nowak, Kurt  208 Obama, Barack  100 Och, Gunnar  254, 262 Oehler-Klein, Sigrid  299 Oesterle, Günter  44, 256 f., 260–262, 273– 275, 292, 295, 437 Oesterle, Ingrid  262, 273–275, Olsen, Charles  395 Ompteda, Georg Freiherr von  92 Opitz, Martin  64 Oren, Eliezer D.  146, 149 Origines  56 Ort, Nina  34 Orth, Wolfgang  175 Osten, Marion von  481 Ovid  181 Pabst, Stephan  299 Palatschek, Sylvia  213 Palm, Gabriele  131 Palmer, Abram Smythe  181 Palmier, Jean-Michel  434

520 Parker, Patricia  15 Parshall, Linda  315 Parshall, Peter  315 Pars, William  317 Parsons, Talcott  109 f., 116, 119, 510 Pascal, Blaise  104, 433, 448, 468 f. Passow, Franz  176 Paulus, Jörg  323 Perels, Christoph  61, 85 Peschken, Goerd  312–314, 322–328, 334 Peters, Fokke Christian  313 Petrarca  62 Petrus Rebuffus  59–61 Pikulik, Lothar  339 Piles, Roger de  197 Pinthus, Kurt  135 Platt, Gerald M.  510 Platz, Wilhelm  138 Plechanow, Georgi W.  408 Pompe, Hedwig  41 Poppe, Sandra  480 Popper, Karl  506 Posselt, Gerald  15 Pott, Alex  325 Pound, Arthur  131 Pound, Ezra  386, 393–396 Preisendanz, Wolfgang  137 Prignitz, Christoph  296 Proust, Marcel  461 f. Pufendorf, Samuel Freiherr von  58 Rajak, Tessa  176 Rasche, Ulrich  55 Raumer, Friedrich von  26 Reading, Bill  387, 511 Regehly, Thomas  436 Reinhard, Rebekka  492 Reichardt, Johann Friedrich  243, 251 Reinhardt, Max  97 Reinhardt-Becker, Elke  130 Reinlein, Tanja  234 Reinwald, Georg Ernst  60 Remer, Paul  99 Reuß, Eduard  159 Reuter, Christian  301 Revett, Nicholas  317 Rhomberg, Markus  492 Richter, Johann Paul Friedrich  siehe Jean Paul

Personenregister Ricklefs, Ulfert  268 Riehl, Wilhelm Heinrich  45, 139 Riemann, Gottfried  315, 330, 332 Riemen, Alfred  339 Riemer, Friedrich Wilhelm  29 Rilke, Rainer Maria  127, 133 Roberts, John  39 Robson-Scott, William Douglas  332 Rodewald, Dierk  451 Rölleke, Heinz  250, 292 f., 296 Röntgen, Wilhelm Conrad  242 Röttgers, Kurt  260, 271 Rohner, Isabel  133 Rorty, Richard  498 Roser, Dieter  464 Ross, Jan  49 Rotteck, Karl von  341 Rousseau, Jean-Jacques  84, 199, 378 Rübe, Werner  99 Ruge, Arnold  92, 397–399, 402, 405 Rutschky, Michael  49, 486 Sachs, Nelly  18, 188–190 Sack, Gustav  196 Sackett, Robert E.  29, 257 Sagittarius, Kaspar  107 Sagittarius, Thomas  58, 64 Sand, George  402 Sand, Karl Ludwig  34 Sandars, Nancy K.  146 Sappho  420 Saul, Nicholas  269 Savigny, Friedrich Carl von  314 Schäfer, Wilfried  300 Schärf, Christian  199 Schalk, Fritz  456 Schapire, Anna  129 Schaub, Gerhard  290 Schaukal, Richard von  425–428 Scheffel, Joseph Victor von  173 Scheffler, Karl  135 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  208– 211, 233, 316 Schelsky, Helmut  501 Scherer, Stefan  234, 345 f. Scherpe, Klaus R.  224, 230 Schiller, Friedrich  60, 77–93, 204, 222, 233, 241, 260, 273, 307, 321, 337–347, 362–364, 427, 437

Personenregister Schily, Otto  490 Schinkel, Karl Friedrich  36, 246, 311–335 Schlaffer, Heinz  115, 500 f., 504 Schlechter, Armin  298 Schlegel, August Wilhelm  281, 294, 325 f. Schlegel, Caroline  357 Schlegel, Friedrich  31, 82, 206, 213, 243, 255, 259, 278, 294, 316, 325 f., 347, 465 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst    76–81, 87–90, 207–212, 254, 314, 384 f. Schlesinger, Simon  181 Schlingensief, Christoph  49, 477–498 Schluchter, Wolfgang  492 Schmeling, Manfred  301 Schmidt, Erich  215 Schmidt, Jochen  210 Schmitt, Carl  49 Schneider, Hans  102 Schneider, Ulrich Johannes  22 Scholem, Gershom  436, 444 Schopenhauer, Arthur  124–126, 131, 139, 436 Schoppe, Gerd  56 Schrader, Hans-Jürgen  274 Schüller, Thorsten  480 Schüttpelz, Erhard  22, 273 Schultz, Hartwig  294 f., 304, 314 f. Schultze, Friedrich  80 Schwab, Gustav  77 Schwandner, Ernst-Ludwig  317 Schwarzbauer, Franz  82 Schwerin, Kerstin von  476 Scurla, Herbert  313 Sedlarz, Claudia  325 Seelig, Carl  453, 460, 464 Seigel, Jerrold  38 f. Seiler, Sascha  480 Seligmann, Caesar  185 f. Selznick, Philip  412 Serner, Walter  42 Serres, Michel  108, 412 f. Sethe, Christian  39 Shai, Itzhaq  145 Shannon, Claude E.  112 Sichelschmidt, Gustav  216, 231 f. Silberman, Neil A.  166 Simmel, Georg  127–130, 133, 422, 426, 503 Simon, Ralf  275

521 Sloterdijk, Peter  49 f., 398, 405–409, 477–498 Søholm, Kirsten Molly  234 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand  26, 34, 348 Solms, Wilhelm  275 Sommerfeld, Bernhard  442 Sommerfeld, Martin  216, 231 f. Sontag, Susan  48 Sorokin, Pitirim Alexandrowitsch  408 Spencer Brown, George  34, 106, 409 Spoerhase, Carlos  15 Spörl, Uwe  340 Staegemann, Friedrich August von  246 Stager, Lawrence E.  181 Stahlberg, Jan Henrik  498 Stahn, Hermann  163, 172 Stalin, Josef  413, 490 Stein, Gerd  19, 92, 286 Steinthal, Heyman  163, 172 Stern, Ephraim  146 Sterne, Laurence  217, 466 Stichweh, Rudolf  17, 504 Stiegler, Bernd  466 Stierle, Karlheinz  15 Stipp, Hermann-Josef  180 Stirner, Max  45, 140 Stockhausen, Karlheinz  49, 477 f., 483, 496 f. Stockinger, Claudia  316 Stollberg-Rilinger, Barbara  59 Stopp, Elisabeth  298, 300 Stoppe, Daniel  66 Strauß, Botho  49 Strauß, David Friedrich  43, 93, 363, 458 Strauß, Ludwig  433 Stuart, James  317 Stymmel, Christoph  63 Suhr, Susanne  129 Szarota, Tomasz  19 Tacitus  168 Tal, Oren  149 Tawada, Yoko  484 Taylor, Charles  208 Thackeray, Henry St. John  176 Thomasius, Christian  103–105, 108, 113 Tieck, Ludwig  26, 32, 44 f., 86, 215, 233 f., 243 f., 294, 301, 316, 338–353, 417

522 Tilly, Michael  175 Tov, Emanuel  175 Towfigh, Emanuel Vahid  485 Trempler, Jörg  313 Trotzki, Leo  397–414 Trowler, Paul R.  51 Truchseß, Christian von  83, 364 Tscherning, Andreas  64 Ufer, Ulrich  492 Uhland, Ludwig  298 Unglaub, Erich  465 Uslar, Moritz von  49 Utz, Peter  452, 461 Vaget, Hans Rudolf  213 Valéry, Paul  504 Valk, Thorsten  203 van Gennep, Arnold  443 f. van Gogh, Theo  497 Vandermeersch, Peter A.  20 Varela, Francisco J.  509 Varga von Kibéd, Matthias  509 Vasari, Giorgio  320 Verwiebe, Birgit  314 f., 318 Viebig, Clara  133 Vierhaus, Rudolf  373 Vihavainen, Timo  46 Vinke, Rainer  221 f. Vinken, Barbara  426 Vischer, Friedrich Theodor  341, 458 Vitruv  311, 316–319 Volkening, Heide  131 Voltaire  389, 408 vom Bruch, Rüdiger  213 von der Lühe, Irmela  136 Voß, Johann Heinrich  83, 86, 245, 298, 364 Waagen, Gustav Friedrich  312 f., 319 Wackenroder, Wilhelm Heinrich  301 Wagenknecht, Christian  213 Wagner, Richard  361, 392 Walser, Karl  462 Walser, Robert  44, 381, 451–476, 493 Warning, Rainer  454 Warnotte, Daniel  444 Weaver, Warren  112 Weber, Marianne  110

Weber, Max  21, 108–116, 405, 444, 503 Weber, Thomas  442 Wedekind, Frank  96–98 Wegmann, Nikolaus  199 Weibel, Peter  483 Weick, Karl E.  107 Weigel, Sigrid  438 Weiss-Schletterer, Daniela  234 Wengraf, Richard  133 Wergin, Ulrich  42 Werner, Christoph  315 Westerkamp, Ulrich  294 Wezel, Elsa von  328 Widmann, Berthold  243 Wieland, Christoph Martin  25, 35, 208, 231, 281, 458 Wiesenthal, Helmut  116 Wilde, Oscar  428–430 Williams, William Carlos  395 Wilpert, Gero von  60 Wimmer, Stefan J.  146 Winckelmann, Johann Joachim  197, 319, 324, 331 Wittelsbach, Otto Friedrich Ludwig von    329 f. Wobeser, Wilhelmine Karoline von  122 Wolf, Friedrich August  207 Wolff, Christian  103–108 Wolzogen, Alfred Freiherr von  312 Wood, Robert  317 Wrege, Reinhold  72 f. Wyneken, Gustav Adolf  46, 95, 434–442 Yadin, Azzan  181 Yadin, Yigael  24, 181–184 Young, Edward  27 Zadow, Mario Alexander  314 f., 318 f. Zahn, Ernest  32 Zaimoglu, Feridun  234–237 Zedler, Johann Heinrich  80 Zelter, Carl Friedrich  246, 326 Ziffer, Irit  145 Ziolkowski, Theodore  26, 332 Zuckermandel, Moses Samuel  185 Zukerman, Alexander  146 Zwickel, Wolfgang  23, 145, 161

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dirk Baecker ,  Soziologe, Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Veröffentlichungen zuletzt: Form und Formen der Kom­ mu­ni­kation (2005), und Studien zur nächsten Gesellschaft (2007). Internet: http: // www.dirkbaecker.com.

Doerte Bischoff  ist Professorin für neuere deutsche Literatur an der Universität

Hamburg, wo sie außerdem die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exil­ literatur leitet. Sie beschäftigt sich mit kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf die Literatur (z. B. im Hinblick auf Fetischdiskurse, Ritual, Mode u. a.), mit deutschjüdischen Literaturbeziehungen und Aspekten der literarischen Holocaust-Re­prä­sen­ ta­tion, mit Literatur und Exil, mit Briefkultur und Briefroman sowie mit der Materia­ lität von Zeichen (z. B. bei Kleist, Büchner, Stifter, Sacher-Masoch). Mit Fragen der Genderforschung hat sie sich immer wieder intensiv beschäftigt, z. B. im Kontext eines Forschungsprojekts zu Gender und Rhetorik, aus dem eine Reihe von Publikationen hervorgegangen ist, z. B. die Sammelbände Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit (2003) und Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt (2007).

Eva Blome  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster Kulturelle Grund­

lagen von Integration an der Universität Konstanz. Derzeit vertritt sie die Assis­ten­tin­ nen­stelle am dortigen Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft. Aktuell beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit aus literatur- und kulturgeschichtlicher Perspektive. Weitere Ar­beitsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Kolonialliteratur und Post­ko­loniale Theorie, Literatur und Wissenschaft, Gendertheorien, Körperpolitiken. Zuletzt erschienen: Reinheit und Vermischung. Literarisch-kulturelle Entwürfe von »Rasse« und Sexualität (1900 –1930), Köln u. a. 2011; mit Patrick Eiden-Offe und Man­fred

524

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Weinberg: »Klassen-Bildung. Ein Problemaufriss«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 35.2 (2010).

Dagmar Börner-Klein  ist Professorin für Jüdische Studien an der Heinrich

Heine Universität Düsseldorf. Promotion in Judaistik an der Universität Wien, Habili­ ta­tion an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkt: Rabbinische Literatur. Ver­öf­fent­lichungen: Josippon. Jüdische Geschichte vom Anfang der Welt bis zum Ende des ersten Aufstandes gegen Rom. Hebräisch-deutsche Textausgabe. Aus dem Hebrä­ i­schen übersetzt von D.  B.-K. und Beat Zuber, Wiesbaden 2010; Gefährdete Braut und schöne Witwe. Hebräische Judit-Geschichten, Wiesbaden 2007; Das Alphabet des Ben Sira. Hebräisch-deutsche Textausgabe mit einer Interpretation, Wiesbaden 2007; Pirke de Rabbi Eliezer. Nach der Edition Venedig 1544 unter Berücksichtigung der Edition Warschau 1852 aufbereitet und übersetzt, Berlin / New York 2004; Sifre Zuta über­setzt und erklärt, Stuttgart / Berlin / Köln 2002; Der Midrasch Sifre zu Numeri. Übersetzt und erklärt, Stuttgart / Berlin / Köln 1997; Eine babylonische Auslegung der Ester-Geschich-te. Der Midrasch in Megilla 10b – 17a, Frankfurt am Main u. a. 1991.

Heinrich Bosse ,  geb. 1937 in Riga / Lettland, Studium der Germanistik, Ge­

schichte und Anglistik in Göttingen, Exeter / England und Berlin, Lektor in Turku /   Finnland (1967–1970) und Montreal / Canada (1970 –1973), Akademischer Rat an der Universität Freiburg, pensioniert seit 2002. Publikationen zu J. M. R. Lenz, zur Geschichte der Autorschaft und zur Bildungs- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhun­ derts – verzeichnet in: Roland Borgards und Johannes F. Lehmann (Hrsg.), Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse, Würzburg 2002.

Remigius Bunia  ist an den Universitäten in Siegen, Bonn, Mainz und Friedrichs­ hafen beschäftigt gewesen und arbeitet seit 2009 am Peter-Szondi-Institut für Allge­ meine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Pub­li­ kationen zur Fiktionstheorie, Zitattheorie, deutschen Frühromantik, Zeichentheorie und zur vergleichenden Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Internet: http://litwiss.bunia.de.

Matthias Buschmeier  studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Ge­

schichte in Hagen, Bielefeld und an der University of California, Santa Barbara. Von 2003 bis 2006 war er Stipendiat des Gießener DFG-Graduiertenkollegs Klassizismus und Romantik. 2007 Promotion mit der Arbeit Poesie und Philologie der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft, Tübingen 2008. Pu­bli­ ka­tio­nen zur deutschen und europäischen Literatur- und Wissensgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts sowie zur Literaturtheorie. Jüngst erschienen die Einführung in die Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik, Darmstadt 2010 (mit

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

525

Kai Kauffmann), sowie der von ihm herausgegebene Sammelband Pragmatismus und Hermeneutik, Hamburg 2011. Matthias Buschmeier lehrt als akademischer Rat a. Z. Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld.

Kyung-Ho Cha ,  Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der

Uni­versität Bayreuth. Studium an der Universität Bonn, der Oxford University, der Columbia University New York und der Freien Universität Berlin; Promotion an der Tech­nischen Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Evolutionsbiologie, Walter Benjamin und Wissenschaftsgeschichte, Migration in Literatur und Film. Zuletzt erschienen: Humanmimikry. Poetik der Evolution, München 2010; Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie, München 2008 (hrsg. mit Markus Rautzenberg); »›Das Walten dieser Boten‹. Zur Wissensgeschichte vormoderner Medien und der Ethik der Neigung bei Walter Benjamin«, in: Daniel Weidner (Hrsg.), Profanes Leben. Zur Dialektik der Säkularisierung bei Walter Benjamin, Frankfurt am Main 2010.

Till Dembeck   ist nach Tätigkeiten an den Universitäten Hagen, Gießen, Siegen

und Mainz sowie am DAAD-Informationszentrum Riga seit Oktober 2011 Collaborateur scientifique am Laboratoire de linguistique et de littérature allemandes der Université du Luxembourg. Publikationen zur Literatur und zur ästhetischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, zur Text- und Kommunikationstheorie, zur Phonographie, zum Zitat und zum Kulturbegriff.

Walter Erhart ,    geb. 1959, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschich­

te in Tübingen und St. Louis / USA. Promotion in Tübingen, Habilitation in Göt­tin­ gen. 1997–2007 Professur für Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Greifswald, seit 2007 Professur für germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie von der Antike bis zur Gegenwart, Wissenschaftsgeschichte (Geschichte der Germanistik, Literatur und Medizingeschichte, Geschichte der Geistes- und Literaturwissen­schaf­ ten), Reiseliteratur, Gender Studies, Ch. M. Wieland, W. Koeppen. Seit 2010 Herausgeber des Internationalen Archivs für Sozialgeschichte der deutschen Literatur.

Ursula Geitner  lehrt seit 1996 als Akademische Rätin, dann Akademische Oberrätin am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte (und entsprechend zahlreiche Aufsätze u. a. zu): Rhetorikgeschichte, Sozialfigur ›Schauspielerin‹, Physiognomik, Fragen der Autorschaft, Autobiographik, Historische Semantik.

526

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Annette Keck  ist Professorin für Kulturtheorie, Gender Studies und Neuere deut­

sche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Schwerpunkte sind: Serial Killers, Poetologien des Wartens, geschlechterdifferent kodierte Autorschaftsfigurationen, literarische Anthropologien und Generationen des Grotesken. Sie hat ebenfalls gearbeitet zum Verhältnis von Unterhaltung und Geschlecht in den  1850er, 1950er und den 1990er Jahren, zur Komik und zur Historisierung gen­der­ theoretischer Körperfassungen. Ihr derzeitiges Projekt lautet: Figurationen der Lücke.

Bernhard Lang ,    geb. 1946 in Stuttgart, lehrte 1978 bis 2011 als Professor für

Altes Testament und Religionswissenschaft an den Universitäten Tübingen, Mainz, St. Andrews und Paderborn. 2008 Ehrendoktor der Universität Aarhus. Seine Bücher behandeln neben Themen der Bibel (Jahwe der biblische Gott. Ein Porträt, 2002) auch die Kulturgeschichte des Christentums von der Bibel bis heute. Bekannt geworden sind seine Studien zum Himmelsglauben (Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewi­ gen Lebens, mit Colleen McDannell, 1998 [1988]; Himmel und Hölle. Jenseitsglaube von der Bibel bis heute, 2003; Meeting in Heaven. Modernising the Christian Afterlife, 1600 –2000, 2011), zum Kult (Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes, 1998) und zur Rezeptionsgeschichte der Bibel (Joseph in Egypt. A Cultural Icon from Grotius to Goethe, 2009). Er lebt als freier Autor in Berlin.

Maren Lehmann , Assistentin am Lehrstuhl für Kulturtheorie der Zeppelin-Uni-

versität Friedrichshafen. Privatdozentin für Soziologie an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten / Herdecke. Publikationen zuletzt: Theorie in Skizzen, Berlin 2011; Mit Individualität rechnen: Karriere als Organisationsproblem, Weilerswist 2011.

Stefan Nienhaus  lehrt Deutsche Literatur an der Universität Foggia (Italien). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Literatur der Goethezeit und ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Wichtigste Veröffentlichungen Das Prosa­gedicht im Wien der Jahrhundertwende. Altenberg – Hofmannsthal – Polgar (1986); Eichen­dorffs Wiederholungsstil. Eine Untersuchung des Erzählwerks (1991); Geschichte der deut­schen Tischgesellschaft (2003) und Texte der deutschen Tischgesellschaft (Hrsg. 2008). Aufsätze u. a. zum Werk Ludwig Tiecks, Hans Falladas und zu Rhetorik und interkultureller Kommunikation. Internet: http://www.deutschstudium.it. Anja Oesterhelt ,  wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deut­ sche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ausgewählte Publikationen: Perspektive und Totaleindruck. Höhepunkt und Ende der Multiperspektivität in Christoph Martin Wielands »Aristipp« und Clemens Brentanos »Godwi«, München 2010; Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Oldenbourg Textausgaben (Text, Kommentar und Materialien), München

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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2009; »›Verfasser unbekannt?‹ Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines ›Loreley‹«, in: Stephan Pabst (Hrsg.), Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Berlin / New York 2011; »Anachronistische His­to­ rio­graphie? Zur Metapher des Standpunkts in der Historiographie des 18. Jahrhunderts und ihrer Bedeutung für Wielands Aristipp«, in: Walter Erhart und Lothar van Laak (Hrsg.), Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk, Berlin / New York 2010.

William Rasch  ist Professor of Germanic Studies an der Indiana University, Bloom-

ington,  IN (USA). Er ist Autor von Niklas Luhmann’s Modernity. The Paradoxes of Differentiation (2000); Konflikt als Beruf. Die Grenzen des Politischen (2005 [2004]); Herausgeber von Niklas Luhmann: Theories of Distinction. Redescribing the Descriptions of Modernity (2002); Observing Complexity. Systems Theory and Postmodernity (2002; mit Cary Wolfe); Bombs Away. Representing the Air War over Europe and Japan (2006; mit Wilfried Wilms); German Postwar Films. Life and Love in the Ruins (2008; mit Wilfried Wilms). Er arbeitet gegenwärtig zur Rechtstheorie, insbesondere zu Carl Schmitt.

Felix Saure ,  Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Pädagogik in Mar­

burg, Madison, NJ und Wien; 1. Staatsexamen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter in Marburg, Promotion mit einer Untersuchung zu Karl Friedrich Schinkels Theoriewerk, 2. Staatsexamen, Studienrat in Hamburg. Publikationen zu Wilhelm von Humboldt, Karl Friedrich Schinkel, Ideengeschichte des Sports, An­ tiken­rezeption und Nationalidentität. Internet: http://www.felixsaure.de.

Georg Stanitzek ,  Jahrgang 1953, lehrt seit 2000 Germanistik und Allgemeine

Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Verschiedene Publikationen zur His­ to­rischen Semantik, insbesondere zur Literatur-, Sozial- und Diskursgeschichte des In­di­viduums seit dem 18.  Jahrhundert (Projektemacher, Genie, Autodidakt, Gebildeter, Dilettant). Sein Beitrag »Regenschirmforschung. Robert Walsers Bildungskritik im Zusammenhang der moralistischen Tradition« ist zuerst in der Zeitschrift für deutsche Philologie (2007) erschienen. In letzter Zeit hat er zusammen mit Natalie Binczek den Band Strong ties / Weak ties: Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie (2010) herausgegeben.

Wolfgang Zwickel ,  geb. 1957, Studium der Evangelischen Theologie, Altorien­

talistik, Ägyptologie, Vorderasiatischen Archäologie in München und Tübingen. Dissertation 1989, Habilitation 1993. Seit 1998 Professor für Altes Testament und Bib­ li­sche Archäologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Beteiligt an den Aus­grabungen bzw. deren Publikation von Kinneret / Tell el-Oreme, Yavne, Jaffa und Akko. Forschungsschwerpunkte: Profan-, Kultur- und Religionsgeschichte der südlichen Levante.